Die Weimarer Republik 1929-1933: Herausgegeben:Puschner, Uwe [5 ed.] 3534268091, 9783534268092

Die bewegten 14 Jahre der Weimarer Republik stellen eines der zentralen Themenfelder der Geschichtswissenschaft dar. Ins

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German Pages 187 [188] Year 2018

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Deutschland und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabilität
I. Deutschland und die Weltwirtschaftskrise
2. Zyklische Wirtschaftskrise oder große Depression?
3. Gesellschaft in der Krise
a) Soziale Fragmentierung
b) Politische Radikalisierung
II. Der Bruch der Großen Koalition im März 1930: Abschied vom Parlamentarismus?
1. Parteienkoalition oder „Kabinett der Persönlichkeiten"?
2. Außenpolitischer Erfolg und innenpolitische Hypothek: Der Young-Pian 1929
2. Der Streit über die Arbeitslosenversicherung und das Ende der Großen Koalition 1930
III. Die „Ära Brüning" 1930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?
1. Pläne für ein „Hindenburg-Kabinett"
2. Brünings Innenpolitik 1930-32: Krisenbewältigung durch Krisenverschärfung?
a) Vom Regierungsantritt bis zur Reichstagsauflösung im Juli 1930
b) Tolerierung durch die SPD
c) Brünings Deflationspolitik und ihre prozyklische Wirkung
d) Die Deflationspolitik und ihre Kritiker
3. Brünings Außenpolitik 1930-32: Primat der Reparationspolitik?
a) Brünings außenpolitisches Programm
b) Die deutsch-österreichische Zollunion
c) Das Ende der Reparationen
d) Die Forderung nach militärischer Gleichberechtigung
4. Brünings Sturz im Mai 1932: „Hundert Meter vor dem Ziel"?
a) Kampf mit verkehrten Fronten: Die Reichspräsidentenwahl im März 1932
b) Das SA-Verbot
c) Die Ostsiedlungsnotverordnung
d) Brünings Entlassung
IV. Der Aufstieg der NSDAP zur „Volkspartei"
1. Führerprinzip und Weltanschauung
2. Partei und Bewegung
3. Mitglieder und Wähler
4. Finanziers und Förderer
V. Die Präsidialregierung Papen 1932: Abgesang auf die Republik
1. „Kabinett der Barone": Regierung gegen das Volk
3. Der „Preußenschlag"
4. Die Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 und ihre Folgen
5. „Neuer Staat" und „Staatsnotstand"
VI. Das Präsidialkabinett Schleicher 1932/33: „Querfront" gegen Hitler?
1. „Auf Bajonetten sitzend, regiert's sich schlecht": Das „Querfront"-Konzept
2. Verfassungsbruch zur Rettung der Verfassung?
3. 30. Januar 1933: Das „Kabinett der nationalen Konzentration"
4. „Machtergreifung", „Machtübernahme" oder „Machtübertragung"?
VII. Schlussbetrachtung
Auswahlbibliographie
Personen- und Sachregister
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Die Weimarer Republik 1929-1933: Herausgegeben:Puschner, Uwe [5 ed.]
 3534268091, 9783534268092

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GESCHICHTE KOMPAKT

geb. 1 960, ist nach Lehrtätigkeit in Dresden seit 2007 Profes­ sor für deutsche und europäische Geschichte an der Universität Lothringen.

Reiner Marcowitz,

Zudem ist er Kadirektor des Zentrums für deutsch-französische Studien an der Universität Lothringen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der deut­ schen Geschichte des 1 9 . und 20. Jahrhunderts sowie der deutsch-französi­ schen Beziehungen. Außerdem beschäftigt er sich mit Fragen der europäischen Integration und der Amerikanisierung/Europäisierung/Globalisierung. Herausgegeben von Kai Brodersen, Martin Kintzinger, Uwe Puschner, Volker Reinhardt Herausgeber für den Bereich 1 9./20. Jahrhundert : Uwe Puschner Beratung für den Bereich 1 9./20. Jahrhundert : Walter Demel, Merith Niehuss, Hagen Schulze

GESCHICHTE KOMPAKT

Reiner Marcowitz

Die Weimarer Republik 1929-1933 5., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage

wbgAcademic

Abbildungsnachweis: akg-images: S. 32, 56, 111, 157, 166; bpk Berl i n : S. 79, 91, 142

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ü bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Academic ist ein lmprint der wbg 5., bibliographisch aktualisierte Auflage 2018 © 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

1. Auflage 2004 Die Herausga be dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVI S, Seeheim Einbandbild: Propaganda im Vorfeld der Reichstagswahlen Anfang 1933. Foto: akg-images Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Pa pier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26809-2 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF) : 978-3-534-74399-5 eBook (epub) : 978-3-534-74400-8

In haltsverzeichnis Geschichte kompakt

. . . . . . . . . . . . . . .

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7 8

Einleitung

I. Deutschland und die Weltwirtschaftskrise

1929/30:

Das Ende trügerischer Stabilität ........................ ...................................

.

11

1 . Der New Yorker Börsenkrach und seine Folgen für Deutschland .

11

2. Zyklische Wirtschaftskrise oder große Depression? .. 3. Gesellschaft in der Krise..........

16

.

..............

27

a) Soziale Fragmentierung ............. .................... .....................

.

27 34

b) Politische Radikalisierung II. Der Bruch der Großen Koalition im März

53

1930: Abschied vom Parlamentarismus? ..

1 . Parteienkoalition oder "Kabinett der Persönlichkeiten"?. ............. .

54

2. Außenpolitischer Erfolg und innenpolitische Hypothek: Der Young-Plan 1 929 ................................................. ............... 2. Der Streit über die Arbeitslosenversicherung und das Ende der Großen Koalition 1930 . 111. Die "Ära Brüning"

59 63

1930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise? ................

.

72 73

1 . Pläne für ein "Hindenburg-Kabinett"............ ............. 2. Brünings Innenpolitik 1 930-32: Krisenbewältigung durch . .

Krisenverschärfung? ................................................................. .

79

a) Vom Regierungsantritt bis zur Reichstagsauflösung im Juli 1930 ...............................................................................

79

b) Tolerierung durch die SPD....................................... c) Brünings Deflationspolitik und ihre prozyklische Wirkung........ d) Die Deflationspolitik und ihre Kritiker..

83

3. Brünings Außenpolitik 1 930-32: Primat der Reparationspolitik? ....

89

83 86

a) Brünings außenpolitisches Programm.. ................... b) Die deutsch-österreichische Zollunion ..........................

89

c) Das Ende der Reparationen................

94

.

92

.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

d) Die Forderung nach militärischer Gleichberechtigung ............. 4. Brünings Sturz im Mai 1 932: "Hundert Meter vor dem Ziel"? .

98 100

a) Kampf mit verkehrten Fronten: Die Reichspräsidentenwahl 100

im März 1932 . b) Das SA-Verbot..........

..................

c) Die Ostsiedlungsnotverordnung ...................... ..................... d) Brünings Entlassung ........

.

102

.................. .

103 105

6

Inha ltsverzeichnis

IV. Der Aufstieg der NSDAP zur "Volkspartei#................................. ................

109

................ 1 . Führerprinzip und Weltanschauung ...... 2. Partei und Bewegung ................................... ......................

110

3. Mitglieder und Wähler.... ............

............ ..................

119 127

4. Finanziers und Förderer V. Die Präsidialregierung Papen

117

1932: Abgesang auf die Republik ..

...............

131

........... ....

132

3. Der "Preußenschlag"................................................. ................

136

4. Die Reichstagswahl vom 3 1 . Juli 1 932 und ihre Folgen ...................

140

5. "Neuer Staat" und "Staatsnotstand" ............................ ................

145

1 . "Kabinett der Barone": Regierung gegen das Volk

VI. Das Präsidialkabinett Schleicher

1932/33: "Querfrontl/ gegen Hitler? ............

150

1 . "Auf Bajonetten sitzend, regiert's sich schlecht": Das "Querfront"-Konzept ....................

..........................

150

2.Verfassungsbruch zur Rettung der Verfassung? .............................

159

3. 30. Januar 1933: Das "Kabinett der nationalen Konzentration".

163

4. "Machtergreifung", "Machtübernahme" oder "Machtübertragung"?. .............................. ................................ VII. Schlussbetrachtung ......................... .................... ......................

166 169

Auswahlbibliographie

174

Personen- und Sachregister . .......................................................................

184

Gesch ichte kom pa kt Das Interesse an Geschichte wächst in der Gesellschaft unserer Zeit. His-

i n der Geschichte,

torisehe Themen in Literatur, Ausstellungen und Filmen finden breiten Zu-

wie auch sonst,

spruch. Immer mehr junge Menschen entschließen sich zu einem Studium der

dürfen Ursachen nicht

Geschichte und auch für Erfahrene bietet die Begegnung mit der Geschichte stets vielfältige, neue Anreize. Die Fülle dessen, was wir über die Vergangenheit

man muss sie suchen.

wissen, wächst allerdings ebenfalls: Neue Entdeckungen kommen hinzu, ver-

(Mare Bloch)

änderte Fragestellungen führen zu neuen Interpretationen bereits bekannter Sachverhalte. Geschichte wird heute nicht mehr nur als Ereignisfolge verstanden, Herrschaft und Politik stehen nicht mehr allein im Mittelpunkt, und die Konzentration auf eine Nationalgeschichte ist zugunsten offenerer, vergleichender Perspektiven überwunden. Interessierte, Lehrende und Lernende fragen deshalb nach verlässlicher Information, die komplexe und komplizierte Inhalte konzentriert, übersicht­ lich konzipiert und gut lesbar darstellt. Die Bände der Reihe "Geschichte kom­ pakt" bieten solche Information. Sie stellen Ereignisse und Zusammenhänge der historischen Epochen der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Globalgeschichte verständlich und auf dem Kenntnisstand der heutigen For­ schung vor. Hauptthemen des universitären Studiums wie der schulischen Oberstufen und zentrale Themenfelder der Wissenschaft zur deutschen und europäischen Geschichte werden in Einzelbänden erschlossen. Beigefügte Er­ läuterungen, Register sowie Literatur- und Quellenangaben zum Weiterlesen ergänzen den Text. Die Lektüre eines Bandes erlaubt, sich mit dem behandel­ ten Gegenstand umfassend vertraut zu machen. "Geschichte kompakt" ist da­ her ebenso für eine erste Begegnung mit dem Thema wie für eine Prüfungsvor­ bereitung geeignet, als Arbeitsgrundlage für Lehrende und Studierende ebenso wie als anregende Lektüre für historisch Interessierte. Die Autorinnen und Autoren sind in Forschung und Lehre erfahrene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Jeder Band ist, trotz der allen ge­ meinsamen Absicht, ein abgeschlossenes, eigenständiges Werk. Die Reihe "Ge­ schichte kompakt" soll durch ihre Einzelbände insgesamt den heutigen Wis­ sensstand zur deutschen und europäischen Geschichte repräsentieren. Sie ist in der thematischen Akzentuierung wie in der Anzahl der Bände nicht festge­ legt und wird künftig um weitere Themen der aktuellen historischen Arbeit er­ weitert werden. Kai Brodersen Martin Kintzinger Uwe Puschner Volker Reinhardt

postuliert werden,

Ei n leitung Seit Jahrzehnten beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft mit Entste­ hung und Entwicklung der Weimarer Republik. Insbesondere deren Endphase war "stets eine Determinante der historischen Forschung" (Andreas Wir­ sching) . Das erklärt sich nicht nur mit dem Wissen um die verhängnisvollen Folgen des Untergangs der ersten deutschen Demokratie - dem Aufkommen des Nationalsozialismus und der Geschichte des "Dritten Reiches" -, sondern auch aus dem verständlichen Wunsch nach 1 945 heraus, aus der Vergangen­ heit lernen zu wollen, um sicherzustellen, dass sich Vergleichbares nicht wie­ derholt. Ein solcher rein negativer Bezug auf das Menetekel Weimarer Repub­ lik legitimierte vor allem in der alten Bundesrepublik Deutschland die Wei­ mar-Forschung, die in ihrer Intensität allenfalls noch durch die Beschäftigung mit dem "Dritten Reich" übertroffen wurde. Indes dürfte mittlerweile hinreichend erwiesen sein, dass nicht nur "Bonn", sondern auch "Berlin" nicht "Weimar" ist, um ein bekanntes Diktum des Schweizer Publizisten Fritz Rene Allemann ( 1 9 1 0-96) aus den 1 950er-Jah­ ren aufzugreifen: Die Bundesrepublik Deutschland erweist sich trotz ökonomi­ scher und politischer Krisen bis heute als ein äußerst stabiles Gebilde. Dennoch hat die Erforschung der deutschen Geschichte der Jahre 1 9 1 8 / 1 9 bis 1 932/33 aus mehrerlei Gründen nichts von ihrer Relevanz eingebüßt: Erstens spiegelt sie eindrucksvoll die zeitlosen Gefährdungen liberaler Demokratien. Zweitens ist sie gerade in letzter Zeit zu Recht als eine "Krisenzeit der klassischen Moderne" (Detlev Peukert) entdeckt worden, deren janusköpfigen Symptome - techni­ scher Fortschritt und sozialstaatlicher Ausgleich, aber auch technokratische So­ zialdisziplinierung und menschliche Entwurzelung - zum einen eine Brücke ins "Dritte Reich" schlagen, deren Tragfähigkeit es weiter zu untersuchen gilt, und zum anderen auch unserer Gegenwart nicht gänzlich fremd sind. Drittens lässt sich am Beispiel der Weimarer Republik besonders gut die Verschränkung struktureller und personaler Faktoren im historischen Geschehen nachweisen. Dies gilt gerade auch für die hier interessierenden Jahre zwischen dem Be­ ginn der Weltwirtschaftskrise im Herbst 1 929 und der Berufung Adolf Hitlers ( 1 889-1 945) zum Reichskanzler Ende Januar 1933: Die weltweite ökonomi­ sche Krise Ende der zwanziger/ Anfang der dreißiger Jahre führte in Deutsch­ land zur umfassenden Staatskrise, deren Symptome die Delegitimierung des parlamentarischen Systems, ein damit einhergehendes Anwachsen extremisti­ scher, fundamentaloppositioneller Kräfte von links und rechts sowie deren ge­ walttätiger Agitation und schließlich der schleichende Übergang von der De­ mokratie zur faktischen Präsidialdiktatur waren. Indes wäre es falsch, aus dem offensichtlichen Zusammenhang von wirtschaftlicher Verelendung und politi­ scher Radikalisierung das zwangsläufige Scheitern der Weimarer Republik ab-

Einleitung

zuleiten. Vielmehr soll im Folgenden erörtert werden, inwieweit die unleugba­ ren strukturellen Belastungen der Republik von Weimar vor allem in ihrer Endphase von einzelnen sowie gesellschaftlichen Gruppen gezielt für ihre je­ weiligen republikfeindlichen Zwecke ausgenutzt wurden und erst dadurch ihre verhängnisvollen Wirkungen zeigten. Die Gliederung orientiert sich an strukturellen wie an chronologischen Aspekten des Themas. Das erste Kapitel behandelt die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Deutschland seit dem Herbst 1 929, weil sie als ein we­ sentlicher Katalysator, wenn nicht sogar als eine notwendige Voraussetzung für den Untergang der ersten deutschen Demokratie erscheinen. Analysiert werden einerseits Ausmaß und Entwicklung der ökonomischen Krise, die vor dem Hintergrund einer trügerischen wirtschaftlichen Erholung in den Jahren zuvor gesehen werden muss, andererseits die zeitgenössischen Konzepte zu ihrer Behebung. Ferner interessieren die psychosozialen Folgen der Massenar­ beitslosigkeit und die hieraus resultierende verstärkte soziale Fragmentierung der deutschen Gesellschaft ebenso wie deren wachsende politische Desorien­ tierung und Radikalisierung, durch die sich die Wirtschaftskrise in Deutsch­ land zur umfassenden Staatskrise auswuchs. Das zweite Kapitel schildert die Entwicklung der Großen Koalition Ende der 1 920er-Jahre, der letzten demokratisch legitimierten Regierung der Wei­ marer Republik. Zunächst wird - in einem notwendigen zeitlichen Rückgriff ­ ihre Entstehung im Jahr 1 928 untersucht, weil sich an ihr bereits jene struktu­ rellen Divergenzen zwischen den beteiligten Parteien ablesen lassen, die später zum Bruch der Koalition führten. Es folgt eine Darstellung der Verhandlungen über den Young-Plan, der erstmals Höhe und Dauer der deutschen Reparati­ onszahlungen festlegte. Dies bedeutete zwar einen großen Erfolg der deut­ schen Außenpolitik, erwies sich hingegen innenpolitisch als eine schwere Be­ lastung, weil die lange Zahlungsdauer der nationalistischen Rechten einen neuen Anlass für ihre aufhetzende Agitation gegen die Weimarer Republik bot. Schließlich werden unmittelbarer Auslöser und tiefere Ursachen des Bruchs der Großen Koalition sowie dessen zeitgenössische und historische Be­ wertungen analysiert. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht die Regierungszeit des ersten Präsidialkanzlers, Heinrich Brüning ( 1 885-1 970): Als Erstes wird die Bedeu­ tung seines Regierungsantritts für das politische System der Weimarer Repub­ lik untersucht. Dann werden jeweils Innen- und Außenpolitik der Jahre 1930 bis 1 932 erörtert, wobei die Verzahnung beider Bereiche herausgearbeitet wird, insbesondere im Hinblick auf den Zusammenhang von strikter Deflati­ onspolitik im Innern und forcierter Revision der Reparationsverpflichtungen nach außen. Dabei wird auch auf die bis heute andauernde Kontroverse über Brünings Politik eingegangen und - im Zusammenhang mit seinem Sturz im Mai 1932 - sein Anteil am Untergang der Weimarer Republik ausgelotet.

9

10

Ein leitung

Das vierte Kapitel ist dem Aufstieg der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) zur "Volkspartei" gewidmet, der sich in der Regie­ rungszeit Brünings abzeichnete. Allerdings werden in diesem Kapitel auch die wesentlichen Strukturmerkmale des Nationalsozialismus - der Dualismus von Führerprinzip und Weltanschauung sowie die Ambivalenz von Partei und Be­ wegung - herausgearbeitet und lange strittige Aspekte des Themas - Zusam­ mensetzung von Mitglieder- und Wählerschaft sowie die Frage der Finanzie­ rung der Partei - untersucht, zu denen die Forschung gerade in den letzten Jahren wichtige neue Erkenntnisse geliefert hat. Das fünfte Kapitel behandelt Entstehung und Entwicklung des Präsidial­ kabinetts Papen. Aufgrund seiner kürzeren Lebensdauer wird es zwar ungleich knapper abgehandelt als die vorherige Regierung Brüning. Dennoch liegt die­ ser Darstellung die Prämisse zugrunde, dass die Monate von Juni bis Dezem­ ber 1 932 nicht nur einen einfachen chronologischen Appendix der vorange­ gangenen Jahre darstellen, sondern ihnen ein Eigenwert zukommt. Die Regie­ rung Papen brach mit dem bisherigen politischen System, indem sie gezielt die Grundlagen des Weimarer Verfassungsstaates aushöhlte: Dazu gehörte sowohl der illegale "Preußenschlag" vom 20. Juli 1 932 - die Absetzung der geschäfts­ führenden preußischen Regierung - als auch die Ausschreibung von Neuwah­ len auf Reichsebene, die kurz darauf den radikalen Parteien von links - der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) - und vor allem von rechts der NSDAP - endgültig die Möglichkeit zur Blockade des Reichstags eröffne­ ten, sowie schließlich die Pläne für einen "Neuen Staat", die auf einen offenen Verfassungsbruch hinausliefen. Im Mittelpunkt des sechsten Kapitels steht das Präsidialkabinett Schlei­ cher, das gleichfalls nicht als ein kurzes Intermezzo verstanden wird, dem zwangsläufig die nationalsozialistische Regierungsübernahme folgen musste, sondern gerade als eine retardierende Phase, die noch einmal Spielräume zur Abwendung dieser Entwicklung eröffnete: Dazu gehört zum einen das "Quer­ front"-Konzept des neuen Reichskanzlers, also der Versuch, eine Koalition vor allem der Gewerkschaftsflügel von der Sozialdemokratischen Partei Deutsch­ lands (SPD) bis hin zur NSDAP zu schmieden. Besondere Aufmerksamkeit ha­ ben in der Forschung der letzten Jahre zum anderen aber auch die Staatsnot­ standspläne des Generals gefunden als einer letzten Möglichkeit zur Abwen­ dung einer Kanzlerschaft Adolf Hitlers. Dass diese dann am 30. Januar 1933 dennoch zustande kam, erscheint folglich nicht als eine unvermeidliche Ent­ wicklung, sondern als ein Ereignis, das noch einmal besonders deutlich jene unselige Verkettung struktureller und personaler Elemente in der Endphase der Weimarer Republik belegt, deren Nachweis im Mittelpunkt dieser Unter­ suchung steht und die in einer abschließenden Schlussbetrachtung noch ein­ mal resümiert wird.

I. Deutsch land und die Weltwi rtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

m Zuge einer Überproduktionskrise kam es

los waren. Die gerade erst geschaffene Ar­

im Herbst 1929 in den USA zu einem

beitslosenversicherung konnte dies nur un­

Börsencrash. Wegen ihrer finanziellen und

zureichend abfedern. Zudem argumentierte

wirtschaftlichen Verflechtung wurde hiervon

die herrschende wirtschaftswissenschaftliche

I

auch

Europa

betroffen,

insbesondere

Meinung, dass es sich wie schon in der Ver­

Deutschland, das seit Mitte der 1920er-Jahre

gangenheit um eine zyklische Krise han­

gerade auch von amerikanischen Banken er­

delte, die allein durch die selbstheilenden

hebliche Kreditleistungen erhalten hatte, die

Kräfte der Wirtschaft, nicht aber mittels

nun nicht mehr verlängert wurden. Die Folge

staatsinterventionistischer Maßnahmen über­

hiervon war eine zunehmende Verschlechte­

wunden werden könnte. Derart entwickelte

rung der wirtschaftlichen Lage vieler Deut­

sich in Deutschland die Wirtschafts- zuneh­

scher, von denen auf dem Höhepunkt der

mend auch zu einer umfassenden Staats­

Krise Anfang 1932 über 6 Millionen arbeits-

krise.

Zeittafel 30. 1 1. 1923

Einberufu n g eines I nternati onalen Sachverständigena ussch usses zur U ntersuchung der deutschen Za h l u n gsfä h i g keit u nter Vorsitz des Amerikaners Charles G . Dawes

16.7.- 16.8.1924

Londoner Konferenz n i m m t Dawes- Pian a n

29.8.1924

Annahme d e s Dawes-Pians i m Reichstag

16.7.1927

Gesetz über Arbeitsvermitt l u n g und Arbeits l osenversicherung

24. 10. 1929

N ew Yorker Börsenkrach

Februar 193 1

4,972 M i l l ionen Arbeitslose

1 1.5. 193 1

Zusa m m enbruch der Österreichischen Credit-Ansta lt

13.7. 193 1

Beg i n n der Banken krise i n Deutschland d u rch den Zusammen bruch der Darmstädter u n d Nationa lbank

Februar 1932

6, 128 M i l l ionen Arbeitslose in Deutschland

1 . Der N ew Yorker Börsen krach u n d seine Folgen fü r Deutsch land A m 24. Oktober 1 929, einem Donnerstag, brachen an der New Yorker Börse die Aktienkurse ein. Am folgenden Tag - dem "Schwarzen Freitag", wie

"Schwarzer Freitag"

12

I.

Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

er in Deutschland genannt wurde - setzte sich dieser bis dahin größte Crash der Börsengeschichte fort und hielt auch noch Anfang der folgenden Woche an. Seine Ursachen lagen in den übermäßigen Investitionen und Aktienkäufen der letzten Jahre, in denen die USA aufgrund ihrer konkurrenzlosen Situation auf dem Weltmarkt eine andauernde Phase der Hochkonjunktur erlebt hatten. Im Oktober 1 929 stellte sich dann immer mehr heraus, dass das Angebot an Gütern deren Nachfrage bei weitem überstieg. Folge dieser Überproduktions­ krise waren Kurseinbußen von Konzernen wie General Electric und von In­ vestmentfirmen wie der Goldman Sachs Trading Company. Dies wiederum löste eine Panik unter den Aktionären aus, die durch ihre Aktienverkäufe schließlich den eigentlichen Crash provozierten. Dessen Folgen wurden noch durch den Umstand verschlimmert, dass viele Anleger ihre Wertpapiere auf Kredit gekauft hatten und diese nun nicht mehr zurückzahlen konnten. Das New Yorker Geschehen führte auch überall auf dem europäischen Kontinent zu wirtschaftlichen Krisenerscheinungen; in Deutschland jedoch bewirkte es geradezu eine ökonomische und politische Katastrophe. Dabei hatte sich die deutsche Wirtschaft in den letzten Jahren zumindest vorder­ gründig überraschend schnell von den Auswirkungen der Hyperinflation des Jahres 1 923 erholt. Ausländische - insbesondere amerikanische - Kredite in Höhe von über 20 Milliarden Reichsmark, die seit Unterzeichnung des Dawes­ Plans 1 924 stetig ins Land geflossen waren, hatten die Investitionsbereitschaft der Unternehmer nachdrücklich angeregt. Stichwort

Dawes-Pian

I m Vers a i l l e r Vertrag vom 28. Juni 1 9 1 9 m usste sich Deutschland gegen ü ber den Siegerm ächten des Ersten Weltkrieges zur Za h l u n g von Repa rationen verpfl ichten. Deren Höhe wurde zwei J a h re später erstmals auf 1 32 M i l l ia rden Goldmark festge­ l egt. ln Deutschland em pörte sowoh l die Höhe der S u m m e - die auf die Za h l u ngs­ fä h i g keit des La ndes keinerlei Rücksicht nahm - a l s auch deren moral ische Be­ g r ü n d u n g - d ie a l leinige Kriegssc h u l d des Deutschen Reiches u n d seiner Verb ün­ deten - u n d der ultimative Druck - bis h i n zur Besetzung des R u h rgebietes 1 923 -, m it dem die Al l i ierten i h ren Anspruch d u rchzusetzen versuchten. Daher wa r die Beendigung der Repa rationsza h l u ngen, zu m i ndest aber deren deutliche Absen­ ku ng, eine zentra l e Forderung der deutschen Außenpol itik i n den zwa nziger J a h­ ren. Der Dawes-Pian vom August 1 924, der nach dem a m erika n ischen B a n kier Cha rles G. Dawes (1 865-1 95 1 ) - auf dessen G utachten er zurückg i n g - bena n nt wu rde, bedeutete i nsofern einen Fortsch ritt in d ieser Frage, a l s er erstmals j ä h rl i­ che deutsche Za h l u ngen in Höhe von 2,5 M i l l ia rden Goldmark festl egte. Ü berdies wurden sie i n vol l e r Höhe erst a b dem fü nften Jahr fä l l i g . Sch ließl ich wurde fü r den Tra nsfer ein Reparationsagent, der Amerikaner Pa rker G i l bert ( 1 892-1 938), be­ nan nt, der i n Berl i n saß und über die Sta bil ität der deutschen Wä hrung sowie ge­ nere l l die wirtschaftliche Entwickl u n g Deutsch lands wachte. Zur Sicherung der Za h l ungen wurden Reichsbank und Reichs bahn als sel bständige Org a n isationen

1. Der N ew Yorker Börsen krach und seine Folgen fü r Deutsch land

13

u nter i nternationaler Kontro l l e belastet. Ü berdies wurden die E i n n a h m e n von Zöl­ len und Verbrauchssteuern verpfändet und der deutschen I n d u strie der Zinsen­ dienst von Obl igationen über fü nf M i l l iarden Goldmark a uferlegt. Sch ließl ich er­ hielt das Reich a l s Sta rthilfe eine Auslandsanleihe von 800 M i l l ionen Ma rk. Der Da­ wes-Plan stel lte zum einen Deutschlands Kreditwürdig keit wieder her, wodu rch das La nd in den kom menden vier J a h ren weitere a m erika n ische Anleihen in Höhe von über 20 M i l l iarden Mark a ufnehmen kon nte. Zum anderen l eitete er eine Ent­ s p a n n u n g des Verhältn isses Deutsch lands zu den Siegerm ächten, insbesondere zu Fran kreich ein, dessen Reg ierung die Rä u m u n g des 1 923 besetzten R u h rge­ biets binnen eines J a h res zusagte.

Angesichts dieser günstigen ökonomischen und politischen Lage wurden in Deutschland seit Mitte der zwanziger Jahre technische Anlagen in Industrie und Landwirtschaft im größeren Umfang modernisiert und die Produktion er­ heblich gesteigert. Insbesondere die Städte und Gemeinden entfalteten seit 1 924 eine fieberhafte Bautätigkeit und errichteten Straßen, kommunale Ver­ sorgungseinrichtungen, Schulen, Schwimmbäder und vor allem Wohnungen. Gleichzeitig wurde der private Konsum angekurbelt. Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht ( 1 877-1 970) warnte zwar wiederholt vor den schlimmen Fol­ gen der wachsenden öffentlichen Verschuldung, die in keinem Verhältnis zu den geringen Gold- und Devisenreserven des Landes stehe. Doch er konnte sich gegenüber den verschiedenen Reichsregierungen und dem Parlament nicht durchsetzen, die selber dem parallelen Anstieg von Löhnen und Sozial­ leistungen zugestimmt hatten und vor unpopulären Sparmaßnahmen zurück­ schreckten.

Zudem

argumentierte

Außenminister

Gustav

Stresemann

( 1 878-1 929) erfolgreich, dass durch das finanzielle Engagement ausländischer Gläubiger in Deutschland, Amerikaner und Westeuropäer am Schicksal des Reiches interessiert blieben und man daher auch auf ein wachsendes Entge­ genkommen in der Frage einer Revision der drückenden Reparationslasten hoffen dürfe. Doch nach dem "Schwarzen Freitag" Ende Oktober 1929 erwies sich diese Politik als fatal, zumal die deutsche Wirtschaft bereits in den beiden Jahren zuvor erste Anzeichen einer Rezession gezeigt hatte und mit weit über einer Million Arbeitslose in die Weltwirtschaftskrise ging. Insbesondere auf dem Agrarsektor waren die Krisensymptome schon seit einiger Zeit unübersehbar gewesen: Auslöser der Misere waren weltweite Überproduktions- und Absatz­ probleme vor allem der Getreideanbieter. Sie erklärten sich aus der Erschlie­ ßung neuer Nutzflächen sowie einer Intensivierung von Anbau und Ertrag. Dies führte wiederum zu hohen Lagerbeständen und sinkenden Erlösen. Spek­ takuläre Symptome dieser Agrarkrise waren sowohl die systematische Ver­ nichtung landwirtschaftlicher Erzeugnisse als auch eine dramatisch anstei­ gende Zahl von Zwangsenteignungen, weil die betroffenen Bauern aufgenom­ mene Kredite nicht mehr zurückzahlen konnten. Dies führte gleichzeitig zur

Verschuldu n g in Deutschland

14

I.

Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

verstärkten Abwanderung bäuerlicher Wähler von den traditionell national-li­ beralen oder autoritär-konservativen Parteien Deutsche Volkspartei (DVP) und Deutschnationale Volkspartei (DNVP) zu regionalen Sondergruppen, zu­ nehmend aber zur NSDAP. Zudem kam es zum offenen sozialen Massenpro­ test, der vielfach bereits mit völkisch-nationalistischen Argumenten sowie einer Fundamentalkritik am gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftli­ chen System von Weimar einherging und auch nicht vor Gewalt zurück­ schreckte. Politische

Insofern erklärt sich die wachsende politische Radikalisierung in Deutsch-

Radikalisieru n g

land Anfang der dreißiger Jahre wesentlich vor dem Hintergrund der Weltwirt­ schaftskrise: Dies zeigte sich nicht nur im Anstieg der Stimmen für die radikalen Parteien auf der Linken und der Rechten - KPD und NSDAP -, sondern auch an einem veränderten politischen Meinungsklima innerhalb der deutschen Ge­ sellschaft: Angesichts der allgemeinen ökonomischen und politischen Verunsi­ cherung entwickelte sich nun in größeren Bevölkerungsteilen ein Überdruss am bisherigen parlamentarisch-demokratischen System der Weimarer Repub­ lik, das sich anscheinend als unfähig zur Lösung der Probleme erwies. Selbst in­ nerhalb des demokratischen Lagers ertönte nun der Ruf nach durchgreifenden Reformen der politischen Entscheidungsabläufe, und die radikalen Gegner von links bis rechts sahen jetzt ihre Chance, dem ihnen verhassten Weimarer "System" endgültig den Garaus machen zu können. Was man bereits in den Jah­ ren zuvor auf dem Agrarsektor und lokal bzw. regional begrenzt beobachten konnte - den Zusammenhang von sozialer Krise und politischer Radikalisie­ rung -, wuchs sich daher im Laufe der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1 930er­ Jahre zur umfassenden Staats- und Wirtschaftskrise in Deutschland aus.

Abzug auslä ndischer

Nach dem "Schwarzen Freitag" zogen die amerikanischen Banken ihre

Kredite

kurzfristigen Anleihen sukzessive ab, um selber liquide zu bleiben. Allein dies bereitete den deutschen Schuldnern schon erhebliche Probleme, denn viele von ihnen - insbesondere die Kommunen - hatten die kurzfristig gewährten Anleihen langfristig angelegt, sodass sie lediglich mit Hilfe neuer Schuldenauf­ nahmen rückzahlbar waren. Zudem schwanden nun die ohnehin schon be­ grenzten Absatzmöglichkeiten für die deutsche Wirtschaft weiter, denn die materiellen wie die psychologischen Auswirkungen des Börsenkrachs dämpf­ ten die Auslandsnachfrage ebenso wie die Binnenkonjunktur. Gleichzeitig sollte Deutschland nun erstmals die vollen Raten des Dawes-Plans bezahlen. Selbst die im Zuge eines neuen Reparationszahlungsplans, des Young-Plans, 1929 beschlossenen geringeren finanziellen Verpflichtungen brachten faktisch keine Erleichterung: Die nominelle Entlastung um einige hundert Millionen Reichsmark wurde aufgezehrt durch die Einnahmeverluste in Folge der gerin­ geren Exporterlöse. Wollte das Deutsche Reich seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem Ausland - Zahlung von Reparationen und Rückzahlung bzw. Verzinsung

1. Der N ew Yorker Börsen krach und seine Folgen fü r Deutsch land

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der Kredite - nachkommen, musste es endlich seinen Haushalt sanieren: Zwi­ schen 1925 und 1930 waren die öffentlichen Ausgaben um etwa 50 Prozent ge­ stiegen, die Steuereinnahmen hingegen nur um ungefahr 38 Prozent. Dement­ sprechend hatte sich die staatliche Verschuldung im selben Zeitraum auf über 2 1 Milliarden Reichsmark verdoppelt. Folglich strebte bereits die Große Koali­ tion Ende der zwanziger Jahre eine Haushaltskonsolidierung an, scheiterte da­ bei allerdings an den widerstrebenden Interessen ihrer beiden Flügelparteien Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und Deutsche Volkspartei (DVP). Erst das Kabinett Brüning konzentrierte sich in den Jahren 1 930 bis 1932 ganz auf den Haushaltsausgleich und bediente sich hierzu auch drastischer

Brü nings Deflationspolitik

Sparmaßnahmen. Ungeachtet der offensichtlichen sozialen Härten und der krisenverschärfenden Wirkung dieser Deflationspolitik berief sie sich darauf, keine andere Wahl zu haben: Haushaltsdefizite mussten nach dem Verbrauch der Reserven sofort zu Kassenproblemen führen, zumal Reichsanleihen weder im In- noch im Ausland zu erträglichen Bedingungen unterzubringen waren und auch eine Inanspruchnahme der Reichsbank wegen der internationalen Kontrollen nur in engen Grenzen möglich war. Überdies saß die Erfahrung der Inflation in den frühen zwanziger Jahren bei den maßgeblichen Politikern noch tief und ließ sie befürchten, dass jede Geld- oder Kreditschöpfung zugunsten des Staates zu erneuter Entwertung der Mark und zu unkalkulierbaren psychologischen und politischen Verwerfungen in der Bevölkerung führen werde. Allerdings waren nicht nur Sachzwänge die Ursache für Brünings Deflationspolitik, sondern sehr bald auch die Überzeugung des Reichskanzlers, den Siegermächten des Ersten Weltkriegs durch die wachsende Verelendung in Deutschland die Unmöglichkeit weiterer finanzieller Leistungen demonstrieren und damit eine endgültige Revision der Reparationsfrage erreichen zu können. Die folgenden Regierungen unter den Reichskanzlern Pranz von Papen ( 1 879-1 969) und Kurt von Schleicher ( 1 882-1 934) brachen schließlich 1932 als erste mit dem bisherigen strikten Sparkurs. Indes betrieben sie die Ankurbelung der Wirtschaft immer noch nicht derart, wie es angesichts der mittlerweile vereinbarten Beendigung der Reparationszahlungen möglich und im Sinne einer durchgreifenden Verbesserung der Wirtschaftslage nötig gewesen wäre. Zudem beschränkte sich insbesondere Papen auf eine rein indirekte Ar­ beitsbeschaffung durch Kredite und Prämien für die Privatwirtschaft mittels Steuergutscheinen. Diese Gutschriften auf bereits gezahlte Steuern konnten zu einem späteren Zeitpunkt mit neuen Steuerforderungen verrechnet, aber auch bereits vorher wie ein Wertpapier beliehen oder veräußert werden, sodass sie zur sofortigen Beschaffung von Bargeld für Investitionen geeignet waren und damit die Wirtschaft ankurbeln konnten. Erst die "Regierung der nationalen Konzentration" mit Adolf Hitler an der Spitze praktizierte dann seit 1933 in

Arbeitsbeschaffu n gsmaßnahmen

I.

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Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

einem völlig anderen innen- und außenpolitischen Kontext Arbeitsbeschaf­ fungsmaßnahmen im großen Stile. Die wirtschaftspolitische Unentschlossen­ heit der verschiedenen Regierungen in der Endphase der Weimarer Republik erklärt sich auch aus der Tatsache, dass die Weltwirtschaftskrise zunächst in ihren Auswirkungen allgemein unterschätzt wurde und sich selbst die führen­ den Wirtschaftswissenschaftler der Zeit in ihren Empfehlungen für eine adä­ quate Krisenstrategie uneins waren. Abb.1 Entwick l u n g der Arbeits l osenza h l en

Arbeitslose in Prozent aller Angestellten und Arbeiter

zwischen 1929 u n d

(absolute Zahl der Arbeits l osen in Mio. in Klammern)

1933.

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1929

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1930

1931

1931

1932

1932

1933

1933

2. Zykl ische Wi rtschaftskrise o d e r g roße Depression? WirtschaftsIiberaiismus

Die etablierte neoklassische Nationalökonomie in der Zeit der Weimarer Republik, die - bei allen Unterschieden im Detail - Wirtschaftswissenschaftler wie Alfred Amonn ( 1 883- 1 962), Gustav Cassel ( 1 866-1 945), Friedrich August von Hayek ( 1 899- 1 992), Werner Sombart und Altred Weber repräsentierten, war vom Wirtschaftsliberalismus des 1 9 .Jahrhunderts geprägt. Dementsprechend zeichnete sie ein schier unerschütterliches Vertrauen in die selbstregulieren­ den bzw. selbstheilenden Kräfte der Wirtschaft aus, zumal die ökonomische Konsolidierung der Weimarer Republik Mitte der 1 920er-Jahre und der Wirt­ schaftsboom in den USA im gleichen Zeitraum ja anscheinend die Richtigkeit dieser Annahme belegte. Diese Erfahrung schien auch die Bedeutung der be­ sonderen Belastungen der deutschen Wirtschaft durch die Kriegsniederlage und die Reparationen zu relativieren, auf die Einzelne - vor allem Politiker -

2. Zyklische Wirtschaftskrise oder große Depression?

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durchaus hinwiesen. Folglich lehnte die herrschende Meinung in den Wirt­ schaftswissenschaften staatliche Eingriffe in die Wirtschaft strikt ab und ver­ neinte entschieden die Möglichkeit staatlicher Lenkungsmöglichkeiten des Marktgeschehens. Stichwort

Werner Somba rt

( 1 863-1 94 1 ) studierte nach dem j u ristischen Staatsexamen noch Gesch ichte, P h i­ losophie u n d Wirtschaftswissenschaften in Berl in, Pisa u n d Rom. Zwischen 1 890 und 1 906 l e h rte er Nationalökonomie i n Bresl a u, d a n n von 1 906 bis 1 9 1 7 an der Handelshochsch u l e Berl i n u n d danach - a l s Nachfolger des National ökonomen Gustav Sch m o l l e r ( 1 838-1 9 1 7) - bis zu seiner Emeritierung 1 93 1 a n der U n iversität Berl in. Sombart veröffentlichte za h l reiche Werke, vorwiegend zu Themen der eu­ ropäischen Wirtschaftsgesch ichte sowie dem Verhältnis von Ka p ita l i s m u s und So­ zialism us, dessen bekan ntestes seine dreibä ndige Studie "Der moderne Ka pita l is­ m us" (2. Aufl . 1 924-27) ist. Dabei entwickelte er sich vom " Kathedersozialisten", der dem Marxismus nahesta nd u n d d rastische Sozi a l reformen verl angte, zum Gegner m a rxscher Ansätze. Sch l ießl ich n a h m er nach 1 933 vorübergehend auch einen national sozial istischen Sta n d p u n kt e i n . Trotz seiner tei lweise abrupten u n d widersprüch l ichen Positionswechsel genoss Sombart aufgrund s e i n e r orig i n e l l e n Beto n u n g ästhetischer Elemente u n d s e i n e s a l s bri l l a nt e m pfu ndenen Stils im l n ­ u n d A u s l a n d höchste Anerke n n u n g .

Stichwort

Alfred Weber

( 1 868-1 958), der j ü n g ere Bruder von Max Weber (1 864-1 920), h a b i l itierte sich 1 899 i n Berl in i m Fach Nationalökonomie und bekleidete seit 1 904 eine entspre­ chende P rofess u r in Prag sowie von 1 907 bis 1 933 in Heidel berg . Wissenschaftlich beschäftigte er sich m it der Entwickl u n g ind ustrieller Sta ndorte i n Deutschland, seit dem Kriegsende und den d a m it e i n h e rgehenden pol itischen sowie gesel l­ schaftlichen U mwä lzungen d a n n sta rk m it Krisenphä nomenen u n d der Frage der Neugesta ltung Eu ropas, wobei kultursoziolog ische Aspekte d o m i n ierten . Ü ber­ d ies war er 1 9 1 8 einer der M itbeg ründer der l i n ks l i bera l e n Deutschen Demokrati­ schen Partei (DDP) und beka n nte sich auch i n der Folgezeit zur neugewon nenen Demokratie i n Deutsch l a n d . Seine Emeritierung 1 933 besch ützte den b ü rgerl ich­ l i bera l e n Vernu nftre p u b l i kaner vor Ü berg riffen seitens der neuen nationalsozial is­ tischen Machthaber.

Die Ende der 1920er-Jahre einsetzende Weltwirtschaftskrise bzw. die sich bereits einige Jahre zuvor abzeichnenden wirtschaftlichen Krisensymptome in Deutschland ordnete eine Mehrheit der Nationalökonomen- und mit ihnen zahlreiche Zeitgenossen, einschließlich der meisten Politiker, - in die damals geläufigen Zyklentheorien ein, welche die konjunkturellen Bewegungen der Wirt-

Zyklentheorien

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I.

Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

schaft mit Wellen verschiedener Länge zu erklären versuchten und gerade in den zwanziger Jahren Thema einer Vielzahl empirischer Untersuchungen waren: Da gab es die "langen" Wellen des "Kondratieff-Zyklus", der 48 bis 60 Jahre umfas­ ste; es gab "mittlere" Wellen, die so genannten "Juglars", mit einer angenomme­ nen Länge von 8 bis 10 Jahren oder die fast zeitgleichen "Normalzyklen" von 7 bis 1 1 Jahren; schließlich existierte auch noch das Modell der "Kitchins", kurzer Wellen von etwa 40 Monaten. Dabei wurden die Ursachen etwaiger Wirtschafts­ krisen durchaus unterschiedlich erklärt: Überinvestitions- und Überprodukti­ onsansätze waren ebenso geläufig wie Überspar- und Unterkonsumtionstheo­ rien oder der Hinweis auf monetäre und psychologische Probleme. Entscheidend war, dass die herrschende Meinung in der deutschen, aber auch der internationalen Nationalökonomie davon ausging, dass einem kon­ junkturellen Aufschwung notwendig ein Abschwung folgen müsse, aus dem sich aber auf ebenso natürliche Weise auch wieder ein Aufschwung ergeben würde: In der Marktwirtschaft, so der Glaubenssatz, drückten die Arbeitslosen in der Krise auf die Löhne; bei niedrigeren Löhnen aber würden die Unterneh­ mer wiederum erneut Leute einstellen. Damit verschwände sowohl die Ar­ beitslosigkeit als auch der damit einhergehende Rückgang der Massenkauf­ kraft Es käme zu einem neuen Wirtschaftsaufschwung. Insofern seien "Reini­ gungskrisen", in denen die Selbstheilungskräfte des Marktes zum Tragen kämen, geradezu notwendig, um Überkapazitäten abzubauen, überhöhte Preise und Zinssätze zu mindern sowie eine überzogene Lohnentwicklung zu regulieren. Staatliche Eingriffe in den Wirtschaftsprozess hingegen muteten unnötig, ja schädlich und letztlich ursächlich für Krisen an. Die traditionellen Ökonomen und die ihnen folgende Mehrzahl der han­ delnden Politiker der Zeit fühlten sich in diesen Annahmen durch den Verlauf der Weltwirtschaftskrise Ende der zwanziger/Anfang der dreißiger Jahre gera­ dezu bestätigt. Tatsächlich schien sich der aktuelle Abschwung zunächst nicht wesentlich von dem bisher Bekannten zu unterscheiden, ja er mutete sogar we­ niger dramatisch an als die vorherigen Konjunktureinbrüche der zwanziger Jahre: Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte es bereits eine erste "welt­ wirtschaftliche Krise" gegeben - 1 920/2 1 -, die vor allem Westeuropa, die USA und Japan betroffen hatte - Deutschland blieb wegen der Inflation verschont ­ und zunächst ungleich stärker in die Tiefe gezogen hatte als jene von 1 929/30. Zudem war der damalige Absturz bereits nach einem halben Jahr beendet, und auf der Basis der durch die Krise bereinigten Situation entwickelte sich ein neuer Aufschwung. 1 925/26 erlebte dann auch Deutschland einen fast gleich­ zeitigen Einbruch von Investitions- und Verbrauchsgüterindustrieproduktion binnen acht Monaten um fast ein Drittel. Doch hiervon erholte sich die Wirt­ schaft ebenfalls rasch und erlebte danach einen umso lebhafteren Aufschwung. Diese Erfahrungen schienen sich zunächst auch in der Weltwirtschaftskrise zu bestätigen, denn nach dem ersten Konjunktureinbruch gewann die deutsche

2. Zyklische Wirtschaftskrise oder große Depression?

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Wirtschaft im Frühjahr 1 9 3 1 wieder an Fahrt, was viele auf ein glimpfliches Ende der Krise schließen ließ - eine Hoffnung, die dann allerdings durch die bald darauf einsetzende Bankenkrise und den sich nun rapide beschleunigen­ den wirtschaftlichen Absturz widerlegt wurde. Interessanterweise deckte sich die bürgerliche Konjunkturtheorie in der Zeit der Weimarer Republik mit den Reaktionen von SPD und Gewerkschaf­ ten auf die Weltwirtschaftskrise. Hier hing man seit dem Kaiserreich der mar­ xistischen "Zusammenbruchstheorie" an, der zufolge die kapitalistische Wirt­ schaft aufgrund der unzureichenden Entlohnung der Arbeiter und des daraus resultierenden Kaufkraftmangels zwangsläufig in eine große (Absatz-)Krise steuere und letztlich untergehen werde. Zwar waren die meisten sozialdemo­ kratischen Theoretiker in der Weimarer Republik von ihrer ursprünglichen Annahme eines nahen Endes des Kapitalismus mittlerweile abgerückt. Gleich­ wohl erwarteten sie weiterhin regelmäßig wiederkehrende Wirtschaftskrisen, gegen die man nichts ausrichten könne. Prägend wurden die entsprechenden Ausführungen

Rudolf H i lferdings,

der die konjunkturellen Abschwünge als die

Folge zwangsläufiger Disproportionalitäte il sowohl innerhalb einzelner Pro­ duktionszweige als auch vor allem im Verhältnis von Produktion und Kon­ sumtion darstellte. Er ging davon aus, dass jede Aufschwungphase über kurz oder lang in eine Überproduktionskrise münde, weil den "Verwertungsbedin­ gungen des Kapitals" in der kapitalistischen Wirtschaftsform ein Primat zu­ komme: "Steigt [...] die Nachfrage nach Arbeitern durch die Akkumulation so stark, dass eine Verminderung der Profitrate eintritt, sodass (als äußerste Grenze) das vermehrte Kapital keinen größeren Profit abwerfen würde als das unvergrößerte, so muss die Akkumulation unterbleiben, da ja der Zweck der Akkumulation, Vergrößerung des Profits, nicht erreicht würde. An diesem Punkt tritt eben die eine notwendige Voraussetzung der Akkumulation, die nach Erweiterung der Konsumtion, in Widerspruch mit der anderen Bedin­ gung, der nach Realisierung des Profits. Die Verwertungsbedingungen rebel­ lieren gegen die Konsumtionserweiterung, und da sie die entscheidenden sind, steigert sich der Widerspruch zur Krise. " Stichwort

Rudolf H i lferding

( 1 877-1 94 1 ) studierte i n Wien Medizin u n d schloss sich i n d ieser Zeit der sozial isti­ schen Studentenschaft an. Nach seiner Promotion 1 90 1 praktizierte er als Ki nder­ a rzt. G l eichzeitig beschäftigte er sich intensiv m it National ökonomie sowie F i n a nz­ wissenschaft und a rbeitete p u b l izistisch a l s einer der Herausgeber der Zeitsch rift ,.Ma rx-Studien", a l s Reda kte u r des ,.Vorwä rts" und a l s Verfasser seines 1 9 1 0 er­ scheinenden wichtigsten Werkes ,. Das Fina nzkapitel". Wä h rend des Ersten Welt­ krieges praktizierte er als Arzt i n der Österreichischen Armee. 1 9 1 7 trat er der U S P D bei. 1 9 1 9 erwa rb er die deutsche Staatsangehörigkeit. Von 1 922 bis 1 933 gehörte H i lferd ing der S P D a n . Er saß fü r seine Partei von 1 924 bis 1 933 i m Reichs-

Sozialdemokratische Wirtschaftstheorie

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I.

Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

tag und wa r auch zwe i m a l - August bis Oktober 1 923 und J u n i 1 928 bis Dezem­ ber 1 929 - Reichsfi n a nzm i n ister. Vor a l l e m aber wa r er der bedeutendste sozial de­ mokratische Wirtschaftstheoretiker seiner Zeit. 1 933 e m i g rierte H i lferd ing zu­ nächst i n die Schweiz, dann 1 938 nach Fra n kreich. I m Ansch l uss a n dessen Ka p itu­ lation wurde er a n die Gestapo ausgeliefert und sta rb u nter bis heute ungeklärten U m ständen i m Pariser Gefä n g n i s La Sa nte.

",rganisierter

Dieses Krisenszenario wurde im Zeichen der wirtschaftlichen Konsolidie­

Kapitalismus"

rung Mitte der zwanziger Jahre zwar in Teilen der SPD vom Vertrauen in die selbstregulierenden Kräfte des von Hilferding so genannten "organisierten Ka­ pitalismus" überlagert. Demzufolge wurde die "Anarchie des Kapitalismus der freien Konkurrenz" im Zuge des sich seit dem Ersten Weltkrieg vollziehenden ökonomischen Konzentrationsprozesses zunehmend durch innerwirtschaftli­ che Lenkung und Planung einiger weniger dominierender wirtschaftlicher Ak­ teure - Großbanken und Großkonzerne sowie staatliche Institutionen - einge­ dämmt. Für die Einschätzung der 1 929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise machte dies indes keinen Unterschied: Traditionalisten wie Reformer lehnten gleichermaßen staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ab - die einen, weil sie weiterhin an die Unvermeidbarkeit ökonomischer Krisen im Kapitalismus glaubten, die anderen, weil sie nun neue Hoffnung in die selbstheilenden Kräfte des "organisierten Kapitalismus" setzten. Überdies prägte auch Sozialdemokraten und Gewerkschaftler noch das Trauma der Hyperinflation Anfang der 1920er-Jahre. Entsprechend tolerierten sie zehn Jahre später die Brüning'sche Deflationspolitik und polemisierten scharf gegen alle Appelle zur Abkehr von der bisherigen Finanz- und Wirt­ schaftspolitik, weil dies eine Inflation und damit Reallohnsenkungen für die Arbeitnehmer heraufzubeschwören schien. Stattdessen konzentrierten sich die sozialdemokratischen Vorschläge zur Lösung der ökonomischen Krise auf die Stärkung staatlicher Kontrollmöglichkeiten in den verschiedenen Wirtschafts­ sektoren oder aber - beim linken Parteiflügel - auf die Forderung, nun die Ge­ legenheit zum vollständigen - sozialistischen - Umbau des Wirtschaftssystems zu nutzen.

Forderung

Die Kritiker der konjunkturpolitischen Dogmatiker bürgerlicher und

nach Staats-

marxistischer Provenienz sowie der forcierten Sparpolitik der Regierung Brü-

interventionismus

ning zogen hingegen aus der Beschleunigung des ökonomischen Abschwungs Anfang der dreißiger Jahre die Konsequenz, dass die Weltwirtschaftskrise auf einer tiefgreifenden Störung der nationalen und internationalen Wirtschafts­ ordnung beruhe und deshalb auch nicht aus sich heraus wieder "heilen" werde. Dabei stimmten diese Reformer in der grundsätzlichen Beschreibung der Krise durchaus mit der "herrschenden Meinung" überein: Produktion und Konsum hatten sich auseinanderentwickelt - wobei die Ursachen umstritten waren -, sodass eine Überproduktion eingetreten war. Doch sie zogen hie-

2. Zyklische Wirtschaftskrise oder große Depression?

raus im Gegensatz zu den meisten Politikern und Wirtschaftswissenschaftlern der Zeit den Schluss, das Nachfragedefizit durch gezielte Eingriffe des Staates in den Wirtschaftsprozess zu beheben. Entsprechende Forderungen erhoben zunächst verschiedene Journalisten, Verbandsfunktionäre und einige überwie­ gend jüngere Wissenschaftler. Mit der Verschärfung der Depression im Zuge der Bankenkrise im Sommer 1 9 3 1 wuchs dieser Kreis immer weiter, und im Winter 193 1/32 bekannten sich auch bedeutende liberale Ökonomen, wie Wil­ helm Röpke ( 1 899-1 966) und Joseph Schumpeter ( 1 883- 1 950), öffentlich zur Forderung ihres britischen Kollegen John Maynard Keynes nach einer expan­ siven Geldpolitik und der Aufgabe der Deflationspolitik Stichwort

J o h n Maynard Keynes

( 1 883-1 946) war seit 1 920 Professor fü r Nationalökonomie a n der U n iversität Cambridge, deren Leh rkörper er bereits seit 1 909 angehörte. Neben seiner pol iti­ schen Tätigkeit fü r die l i bera l e Partei i n Großbrita n n ien beschäftigte er sich vor a l ­ lem m it Fragen der Geldtheorie und dem Problem der Arbeitslosigkeit. Anges ichts von deren dramatischem Anstieg wä h rend der Weltwirtschaftskrise stel lte er die Grundlagen der bisherigen ökonom ischen Theorie rad i ka l i n Frage u n d plädierte statt des geläufigen l a issez fa i re fü r staatl iche I nterventionen - ein teilweise a l s revo l utionär e m pfu ndener Ansatz, der eine neue Richtung der Nationalökonomie - den Keynesia n i s m u s - beg ründete. Obwohl sein H a u ptwerk "General Theory of E m p l oyment, l nterest and Money" ("Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes") erst 1 936 ersch ien, war sein Autor a l s ein frü her a l l i ierter Kriti ker der Reparationsbestim m u ngen des Versa i l l e r Vertrags gerade i n Deutsch­ land schon lange vorher a uch über den engen Kreis der Fachwissenschaft be­ ka n nt. Er galt bereits in den zwa nziger J a h ren als ein Sachverständiger i n Fragen der Geld- und Konj u n ktu rpol itik, u n d seine frü hen Ansätze einer a ntizykl ischen Konj u n kturpol itik wurden d u rchaus reg e rezipiert, zumal Keynes a l s Berater der b ritischen Reg ierung auch a n der i nternational beachteten Entscheidung zur Ab­ wertu ng des britischen Pfunds i m Septem ber 1 93 1 beteil igt war, die i n G roßbri­ ta n n ien den Beg i n n einer a ktiven Konj u n kturpolitik e i n l e itete. Wä h rend des Zwei­ ten Weltkrieges entwa rf er Pläne fü r eine internationale wirtschaftliche Neuord­ n u ng, die sich jedoch n icht d u rchsetzten.

Anfang der dreißiger Jahre gesellten sich den wirtschaftswissenschaftli­ chen Reformern auch zunehmend einzelne Funktionäre, ja teilweise sogar die gesamte Führung der großen Wirtschaftsverbände hinzu, von den verschiede­ nen Gewerkschaften über die Beamten bis hin zu den Arbeitgebern, und selbst einzelne Regierungsvertreter entwarfen Alternativen zu Brünings Deflations­ politik. Zu letzteren zählte Wilhelm Lautenbach ( 1 89 1 - 1 948), der als Ministe­ rialrat im Grundsatzreferat des Reichswirtschaftsministeriums arbeitete. Er trat seit dem Frühsommer 1 9 3 1 sowohl in internen als auch in veröffentlichten Arbeiten für eine antizyklische Konjunkturpolitik ein und plädierte für eine

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I.

Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise

1 929/30:

Das Ende trügerischer Stabil ität

staatliche Ankurbelung der Beschäftigungspolitik, die - mangels langfristiger Kredite - auch mit kurzfristigen Anleihen auf den in- und ausländischen Ka­ pitalmärkten finanziert werden sollte. Eine solche Politik hielt er deshalb für besonders vertretbar, da ja sonst Milliarden Reichsmark völlig unproduktiv für Sozialleistungen, vor allem für die Arbeitslosenhilfe, ausgegeben würden. Auch Hermann Warmhold ( 1 876- 1 976) hatte bereits Anfang August 1 9 3 1 - zwei Monate bevor er Reichswirtschaftsminister wurde - in seiner Funktion als Vorstandsmitglied der IG Farben AG Maßnahmen zur Ankurbelung der Pro­ duktion mittels verstärkter Inlandskredite vorgeschlagen. Dabei wurde er von dem führenden Ruhrindustriellen Paul Silverberg ( 1 876-1 959) unterstützt. In­ des scheiterte er mit seinem Vorstoß ebenso wie Reichsfinanzminister Her­ mann Dietrich ( 1 879-1 954) und Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald ( 1 874- 1 945), die im Februar/März 1932 ebenfalls für eine Lockerung der De­ flationspolitik und eine begrenzte Kreditausweitung eintraten. Stichwort

Gewerkschaften

Seit der N ove m berrevo l ution waren die Gewerkschaften die staatl ich anerka n nten Vertreter der Arbeitnehmerschaft I h re Aufwertung spiegelte die Zusa m m e n a rbeit m it den Arbeitgebern i n der Zentra l a rbeitsgemei nschaft - bis 1 924 - und das 1 920 g eschaffene Betriebsrätegesetz. Anges ichts i h rer gewachsenen Bedeutu ng verzeichneten u nter den weiterhin nach welta nschaul ichen Richtu ngen d ifferen­ zierten Gewerkschaften insbesondere die 1 890 gegründeten sozialdem okratisch orientierten Freien Gewerkschaften und der von ihnen getragene Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsb u n d (ADGB) einen starken Zuwachs: 1 9 1 9 betrug die Mitgl iederza h l 4,6 M i l l ionen, 1 922 7,8 M i l l ionen. Die ebenfa l l s i n den 1 890er-Jah­ ren entsta ndenen Ch ristlichen Gewerkschaften ka men h i ngegen 1 922 n u r auf 1 M i l l ion, die l i bera l e n H i rsch-Du nckerschen Gewerkvereine sog a r ledigl ich auf 230 000. Ein ä h n l iches B i l d bot sich bei den Ang estel ltenorg a n isationen. Auch hier wuchs der m it dem ADGB verb undene Allgemeine freie Angestellte n b u n d in den ersten J a h ren der Wei m a rer Repu b l i k a m stä rksten: 1 922 umfasste er 600 000 M it­ g l ieder, wä h rend der m it den Ch ristl ichen Gewerkschaften zusa m m e n a rbeitende deutseh-nationale Gesamtverband deutscher Ang estel lten-Gewerkschaften n u r ü b e r 400 000 M itg l ieder verfügte u n d d e r m it den H i rsch-Du nckerschen Gewerk­ vereinen verbundene Gewerkschaftsb u n d der Angestel lten ledigl ich 300 000 M it­ g l ieder hatte. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise verloren die Gewerkschaften je­ doch an Ei nfl uss wie an M itg l iedern, z u m a l die entsprechenden extrem istischen U nterorgan isationen der KPD - die Revo l utionäre Gewerkschaftsop position (RGO) - u n d der NSDAP - die Nationa l sozial istische Betriebsze l l enorg a n isation (NS BO) ­ in den Betrieben z u m i ndest langsam an Boden g ewa n n e n . Ende 1 932 hatte der ADGB n u r noch 4, 1 M itg l ieder, die Ch ristlichen Gewerkschaften 1 ,3 M i l l ionen und die H i rsch-Dunckerschen Gewerkvereine 1 00 000.

Vor diesem Hintergrund entschloss sich ein hoher Regierungsbeamter, der Leiter des Statistischen Reichsamtes und des Instituts für Konjunkturfor-

2. Zyklische Wirtschaftskrise oder große Depression?

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schung, Ernst Wagemann ( 1 884-1 956), im Januar 1932 mit einem umfassen­ den Reformplan an die Öffentlichkeit zu treten. Er sah eine Neuordnung des Banken- und Währungssystems vor und räumte der Reichsbank größeren Spielraum für etwaige Kreditvergaben ein. Doch wie schon im Vorfeld schei­ terte er auch dieses Mal am erbitterten Widerstand Brünings und des Reichs­ bankpräsidenten Hans Luther ( 1 879- 1 962). Bereits im Dezember 1 93 1 war der Leiter des statistischen Büros des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Wladimir Woytinsky ( 1 885-1 960),

zusammen

mit

dem

Gewerkschaftsführer

Fritz

Tarnow

( 1 880- 1 95 1 ) und dem Leiter der gewerkschaftlichen Forschungsstelle für land­ wirtschaftliches Marktwesen, Fritz Baade ( 1 893-1 974) , im so genannten WTB-Plan für eine produktive Arbeitsbeschaffung und eine "antizyklische Konjunkturpolitik" eingetreten. Immerhin machte sich der ADGB diese Forderungen nach einigem Zögern auf seinem außerordentlichen "Krisenkongress" im April 1 932 zu eigen, womit sich nun erstmals auch eine Massenorganisation offiziell für ein Arbeitsbeschaffungsprogramm einsetzte. Entsprechende Vorschläge unterbreitete im Sommer 1 932 auch die Stu­ diengesellschaft für Geld- und Kreditwirtschaft, ein Zusammenschluss von verschiedenen Unternehmern und Wissenschaftlern unter Führung des Lübe­ cker Fabrikanten Heinrich Dräger ( 1 898- 1 986) . Eine am 10. August 1 932 der Regierung Papen überreichte Denkschrift forderte Arbeitsbeschaffungsmaß­ nahmen, die durch Kredite finanziert werden sollten. Dabei unterschieden die Verfasser zwischen einem Sofortprogramm in Höhe von 1 bis 2 Milliarden Reichsmark und langfristigen Maßnahmen, die 1933 5 Milliarden und in den folgenden Jahren jeweils 3 bis 5 Milliarden Reichsmark umfassen sollten. Hauptnutznießer sollte die Privatwirtschaft sein. Eine etwas andere Vorstel­ lung lag verschiedenen Plänen zugrunde, die der Deutsche Landgemeindetag auf Initiative seines Präsidenten Günther Gereke ( 1 893-1970) im Sommer 1 932 vorlegte. Sie plädierten für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Ge­ meinden, die mit Hilfe des durch die Wiedereinstellung von Arbeitslosen ver­ stärkten Steueraufkommens und einer großzügigen Kreditschöpfung finan­ ziert werden sollten. Ende November 1 932 trat dann auch der Deutsche Städ­ tetag für ein öffentliches Arbeitsbeschaffungsprogramm ein. Letztlich sahen sich alle diese Reformvorschläge massiver Kritik, ja einer geziehen Diskreditierung ausgesetzt, zumal sie sowohl die bürgerlichen als auch die marxistischen Nationalökonomen herausforderten: Einerseits wider­ sprachen sie dem wirtschaftsliberalen Credo des laisser faire und wurden des­ halb von bürgerlich-liberaler Seite als Vorläufer eines Staatssozialismus be­ zeichnet. Andererseits schienen sie durch den Hinweis auf die staatlichen In­ terventionsmöglichkeiten auch die sozialdemokratische These von der Systemimmanenz der Krisen im Kapitalismus ebenso wie die Annahme von den selbstregulierenden Kräften im "organisierten Kapitalismus" zu widerle-

WTB-Pian

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Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

gen. Hinzu trat gerade aus sozialdemokratischer Perspektive die Sorge vor einem Zerfall der Einheit mit den Gewerkschaften, aber auch vor einem Sturz der Regierung Brüning als dem letzten Bollwerk gegen den Nationalsozialis­ mus. Solche Ausgrenzungsversuche waren umso erfolgreicher, als zu den wirt­ schaftspolitischen Reformern zunächst kaum prominente, allgemein aner­ kannte Nationalökonomen zählten. Und selbst als sich der Kreis der Kritiker seit dem Sommer 1 93 1 zunehmend ausweitete, übernahm doch keine der eta­ blierten Parteien ihre Forderung nach einer Abkehr von der Deflationspolitik Dadurch gewannen die Reformvorschläge keine politische Durchschlagkraft Wirtschaftsprogramm

Als einzige politische Partei machte sich die NSDAP die Forderung nach

der NSDAP

staatlichen Maßnahmen zur Konjunkturbelebung Anfang der dreißiger Jahre zu Eigen: Angesichts des Aufstiegs zur Massenpartei erkannte ihre Führung die Notwendigkeit, ein eigenes wirtschaftspolitisches Profil zu gewinnen. An die Stelle der unausgegorenen Ideen des 25-Punkte-Parteiprogramms von 1920 - Bodenreform, "Brechung der Zinsknechtschaft", Mittelstandsförde­ rung und Verstaatlichungen -, die von dem NS-Wirtschaftsideologen Gott­ fried Feder ( 1 883- 1 94 1 ) stammten, sollte ein umfassendes Konzept treten. Dies schien umso dringlicher, als die NSDAP in den Reichstagswahlen vom September 1930 sensationelle Zuwächse verbuchte und nun auch für den Fall einer Regierungsübernahme planen musste. Entsprechend wurde bei der Münchner Reichsleitung die "Organisationsabteilung II" gegründet, zu der auch eine "Wirtschaftspolitische Abteilung" gehörte. Diese stand unter der Leitung Otto Wageners ( 1 888- 1 97 1 ) , eines ehemaligen Generalstabsoffiziers und Baltikumkämpfers, der eine Nähmaschinenfabrik besaß und 1 923/24 auch wirtschaftswissenschaftliche Vorlesungen an der Handelshochschule in Karlsruhe und an der Universität Würzburg gehalten hatte. Die neue Abtei­ lung knüpfte in den beiden folgenden Jahren engere Kontakte zur Wirtschaft und bemühte sich erfolgreich, die NSDAP als ernst zu nehmenden wirtschafts­ politischen Gesprächspartner darzustellen. Zudem erarbeitete sie in enger Ab­ stimmung mit Hitler und Gregor Straßer ( 1 892- 1 934), dem damaligen Reichs­ organisationsleiter der Partei, verschiedene Vorschläge zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise in Deutschland. Bezeichnenderweise entwickelte die NSDAP allerdings bis zum Frühjahr 1932 kein wirklich überzeugendes Konzept zur Bekämpfung der Massenar­ beitslosigkeit Vielmehr kam sie zunächst nicht über ebenso konventionelle wie belanglose Forderungen nach Importbeschränkungen, einer Verminde­ rung der Frauenarbeit und der Einführung einer Arbeitsdienstpflicht hinaus. Letztlich standen die nationalsozialistischen "Wirtschaftsexperten" der Welt­ Wirtschaftskrise genauso ratlos gegenüber wie die meisten Regierungsberater, zumal sie auch noch ideologische Scheuklappen trugen: Gleich den kommu­ nistischen Ökonomen behaupteten die Theoretiker der NSDAP, dass die ak­ tuelle Krise eine Folge des bestehenden Wirtschaftssystems sei. Werde dieses

2. Zyklische Wirtschaftskrise oder große Depression?

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erst einmal durch die Einbeziehung "nationalsozialistischen Denkens" von Grund auf umgestaltet, verschwinde auch die Krise. Erst im Vorfeld der neuen Reichstagswahl rückten Arbeitsbeschaffungs­ maßnahmen, die bisher auch in den nationalsozialistischen Überlegungen nur eine marginale Rolle gespielt hatten, in den Vordergrund, wohl auch als das Ergebnis einer intensiven Rezeption der mittlerweile kursierenden wirtschafts­ reformerischen Vorstellungen: Am 1 0. Mai 1 932 legte Straßer in einer Rede im Reichstag ein detailliertes Arbeitsbeschaffungsprogramm mittels öffentlicher Aufträge vor. Straßers Vorschläge gingen in ein ausführlicheres "Wirtschaftliches Sofortprogramm" der Partei ein. Dessen Prämisse war die Feststellung, dass die ökonomische Krise in Deutschland zwar weltwirtschaftliche Gründe habe, indes auch hausgemacht sei und daher durchaus erfolgreich im nationalen Rahmen bekämpft werden könne. Ein Mittel hierzu sei die Stimulierung des großen deutschen Binnenmarktes. Im Inland sei genügend Kaufkraft vorhanden, um einen großen Teil der deutschen Industrieproduktion und die gesamte Agrarproduktion abzusetzen. Voraussetzung hierfür aber sei, dass die Massenarbeitslosigkeit beseitigt werde, um wieder ausreichend Kaufkraft zu schaffen. Dies sollte mittels staatlicher Arbeitsbeschaffung gelingen. Im Einzelnen sah das nationalsozialistische Konzept Hoch- und Tiefbau­ maßnahmen, wie Entwässerungsarbeiten, die Kultivierung von Moor- und Ödflächen, Flurbereinigungen und Eindeichungen, sowie den Bau von Eigen­ heimsiedlungen, Straßen und Kanälen vor. Die genauen Kosten dieses Pro­ gramms wurden nicht genannt, allerdings waren allein für die Meliorationen und Bodenverbesserungsarbeiten 10 Milliarden Reichsmark veranschlagt. Diese sollten durch Einsparungen in der Arbeitslosenversicherung und verbes­ serte Steuereinnahmen im Zuge des zu erwartenden Aufschwungs sowie durch staatliche Kredite finanziert werden. Alles in allem mussten diese Vorschläge insbesondere den mittelständischen Unternehmern, die von der Verwirk­ lichung unmittelbar profitieren konnten, einleuchten, aber es waren hiervon auch durchaus positive Effekte für die gesamte Wirtschaft zu erwarten, zumal das Finanzvolumen ausreichend anmutete, auch wenn die Dauer der Maßnah­ men unklar blieb.

Mmf§IIM G regor Stra ßer am 1 0. Mai 1 93 2 im Reichstag Quelle: Verhandl ungen des Reichstags. Stenographische Berichte, Sitzung vom 1 0. Mai 1 932, S. 251 0-2521 .

"Der Aufstieg des Nationalsozia l is m u s ist d e r P rotest des Vol kes gegen einen Staat, der das Recht a uf Arbeit und die Wiederherste l l u n g des natürlichen Ausko m m e n s verweigert. [ ] I nteressant und wertvol l a n d ieser Entwickl ung i s t die g roße a nti­ ka p ital istische Sehns ucht - wie ich es nennen m öchte -, die d u rch unser Vol k g eht, d i e heute vie l l e icht schon 9 5 P rozent u n seres Vol kes bewußt u n d u n bewußt . . .

"Wirtschaftliches Sofortprogramm"

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erfa ßt hat. [ . . . ] Ich habe die Arbeitslosig keit u n d die Arbeitsbeschaffu ng a l s das vordringl ichste Problem erkl ä rt, und ich erg reife gerne die Gelegenheit, die Pläne und Geda n ken, die wir u n s i n monatelanger Arbeit darüber gem acht ha ben, von dieser Ste l l e zur Ken ntnis des deutschen Vol kes zu bringen. Wir haben seit J a h ren i m m e r gepredigt, daß folgende P robleme i n Deutschland zur Rettung stehen: die Rettung der Bauernwirtschaft - ich sage ausdrücklich Bauernwirtschaft -, die N ot­ wend igkeit der Bin nensied l u ng, der Abbau des Städtezustromes, die Ges u n d u n g v o n Handel und Geldwirtschaft, die Steigerung d e s I n l a ndertrages Hand i n H a n d m it dem Beke n ntnis zum g esch l ossenen Wirtschaftsra um, die Sicherung der Vol ks­ ernä h rung, die Org a n isation der nationalen Arbeit, der Aufbau des Binnenma rktes u nter E i n g l iederu ng der I n d u strie, die Erneuerung u n seres Boden rechtes u n d a l s das Wichtig ste fast die Erklärung dessen, w a s ich Arbeits- u n d N ä h rpfl icht nenne, d . h . die Verpfl ichtung des deutschen Vol ksgenossen, seine Arbeitskraft im Rah­ men der gesamten Nation zur Erze u g u n g von lebenswichtigen Gütern a u szuwer­ ten . [ . . . ] Des h a l b darf bei der Frage der Arbeitsbeschaffu ng der Staat nie fragen: ,Habe ich dafü r Geld?', sondern es g i bt n u r eine einzige Frage: Wo ist das Geld ein­ zusetzen ? F ü r Arbeitsbeschaffu ng m u ß es i m m e r Geld geben u n d der l etzte Weg ist der einer vol kswi rtschaftlich absolut berechtigten prod u ktiven Kred itschöp­ fu ng. [ . . . ] [W] i r m üssen die ersten g roßen Arbeitsbeschaffu ngsa ufträge vom Staat her machen, weil kei n P rivatu nternehmer heute i n der Lage ist, ein dera rtiges Problem a nzu packen. Wen n die g roßen Arbeitsaufträge ang ekurbelt s i nd, d a n n bin ich überzeugt, daß wir i n zwei J a h ren einen norm a l e n A b l a u f der Dinge a uto­ matisch wieder haben werden."

Propagandistische

Die NSDAP vertrat ihre neue Forderung nach einem staatlichen Arbeits­

Wirkung

beschaffungsprogramm mit großem propagandistischen Aufwand: Das "Wirt­ schaftliche Sofortprogramm" wurde während des Juli-Wahlkampfs 1 932 in einer Auflage von mehreren Hunderttausend gedruckt und war auch ein fester Bestandteil der Reden nationalsozialistischer Wahlkämpfer und von Veröffent­ lichungen in der Parteipresse. Gerade angesichts des wirtschaftspolitischen Dogmatismus der SPD, durch den die Partei in der öffentlichen Wahrneh­ mung nur noch als eine "Säule der Deflationspolitik" (Heinrich August Wink­ ler) wahrgenommen wurde, konnten sich die Nationalsozialisten erfolgreich als einzige "Arbeitsbeschaffungspartei" stilisieren. Zwar wurde das "Sofortpro­ gramm" aufgrund industrieller Kritik nach den Reichstagswahlen offiziell wie­ der zurückgenommen. Doch zu den Neuwahlen vom November 1932 trat die NSDAP erneut mit der Forderung nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an, wobei sie hierfür nun 3 Milliarden Reichsmark veranschlagte. Unabhängig davon, ob die Parteiführung, namentlich Hitler, die Forde­ rung nach einem staatlichen Arbeitsbeschaffungsprogramm aus echter Über­ zeugung oder nur aus reinem Opportunismus vertrat, besteht kein Zweifel da­ ran, dass die NSDAP damit den Wählern ein äußerst attraktives Angebot machte, indem sie den mittlerweile stark verbreiteten Wunsch nach einem wirtschaftspolitischen Wechsel aufgriff. Dafür war man durchaus bereit, die immer noch verbreitete Skepsis im Arbeitgeberlager gegenüber staatlichen In-

3. Gesellschaft in der Krise

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terventionen zu ignorieren, obwohl gerade Hitler sonst immer auf Wünsche aus der Industrie Rücksicht nahm. Allerdings gab es ja auch durchaus einzelne Industrielle, die für eine Beendigung der strikten Deflationspolitik eintraten. Überdies enthielt die nationalsozialistische Vision von einer den Klassen­ kampf überwindenden "Volksgemeinschaft" und einer von Tarifkonflikten freien wirtschaftlichen Entwicklung gerade für die Unternehmer weiterhin sehr viel Verlockendes. Gleichzeitig erklärte sich die größere Aufgeschlossenheit der NSDAP, aber auch von anderen rechten Gruppen, wie Teilen der DNVP, des "Stahlhelms" sowie des Tat-Kreises aus zwei Gründen: Zum einen aus der Geringschätzung der internationalen Verpflichtungen Deutschlands, wie sie sich in der Forde­ rung nach einem Abgehen vom Goldstandard und der Änderung der beste­ henden Reichsbankstatuten spiegelte. Zum anderen aus der guten Vereinbar­ keit wirtschaftsreformerischer Forderungen nach Staatsinterventionen und Dirigismus mit traditionell-konservativen Obrigkeitsstaatskonzepten sowie dem antidemokratischen Totalitarismus des Nationalsozialismus. Dieses Ge­ dankengut aber ließ sich angesichts der verheerenden sozialen und politischen Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Deutschland zunehmend erfolgreicher vermitteln.

3 . Gesellschaft i n d e r Krise a)

Soziale Fragmentierung Die Weltwirtschaftskrise stellte die Weimarer Republik vor besondere

ökonomische und soziale Probleme. Bereits in der Vergangenheit hatte der Staat in Deutschland mehr als in anderen Industrieländern immer eine wichtige Rolle im Wirtschaftsprozess gespielt. Die Industrialisierung hatte hier erst relativ spät eingesetzt, war dann aber umso schneller vorangeschritten. In der Folge entstanden binnen einer Generation eine Vielzahl neuer, bislang unbekannter kultureller und sozialer Antagonismen. Dazu gehörte auch der Gegensatz zwischen einer Arbeiterbewegung, die zur stärksten und bestorganisierten der Welt wurde, sowie einer Unternehmerschaft, deren Vertreter - insbesondere in der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr - so viel politische und wirtschaftliche Macht besaßen, wie dies in kaum einem anderen Land der Fall war. Die hieraus resultierenden Konflikte zu moderieren, aber auch die mentalen und sozialen Verwerfungen der forcierten Industrialisierung zu harmonisieren, blieb der staatlichen Sozialpolitik vorbehalten, die zwar einen stark pater­ nalistisch-autoritären Zug trug, Deutschland bis 1 9 1 4 aber auch zum fort­ schrittlichsten Sozialstaat in Europa machte.

I ndustrialisieru n g in Deutschland

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Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

Weimarer Repu blik

Dieser traditionellen Rolle des Staats im Wirtschaftsprozess kam nach der

als Sozialstaat

Novemberrevolution noch größere Bedeutung zu: Insbesondere die SPD ver­ stärkte den Trend zum Staatsinterventionismus weiter, indem sie einen ge­ rechteren sozialen Ausgleich forderte. Durch gezielte Eingriffe in die Autono­ mie des privatwirtschaftliehen Unternehmers wurde dessen "Herr-im-Haus­ Standpunkt" konterkariert. Entsprechend mussten die Arbeitgeber bereits im "Stinnes-Legien-Abkommen" vom 1 5 . November 1 9 1 8 die Gewerkschaften als gleichberechtigte Partner anerkennen. Überdies entsprach der "Rat der Volks­ beauftragten" weiteren zentralen Forderungen der Gewerkschaften: Die am 23. Dezember 1 9 1 8 erlassene Verordnung über "Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten" bestimmte, dass Tarifverträge künftig nur noch kollektiv ausgehandelt werden durften. Ebenso wurde hier die Einrichtung von Betriebsräten in Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten vorgesehen. Alle diese Maßnahmen führten zur besseren Ausbalancierung von Arbeit­ geber- und Arbeitnehmerinteressen und legitimierten damit die junge Repub­ lik in den Augen weiter Bevölkerungsteile. Gleichzeitig produzierten sie aber auch neue Enttäuschungen - vor allem bei jenen, die sich ein Rätesystem wünschten - bzw. zusätzliche Konflikte - insbesondere mit den Unterneh­ mern, die ihrerseits schon bald der neuen Verpflichtungen überdrüssig wur­ den. Die Gefahr, zwischen die Mühlsteine der Ansprüche von Arbeitnehmer­ und Arbeitgeberseite zu geraten, verstärkte sich, als staatliche Organe durch eine Verordnung vom 30. Oktober 1 923 auch das Recht zur Zwangsschlich­ tung von Tarifkonflikten erhielten. Parallel hierzu übernahm der Staat zusätzliche sozialpolitische Aufgaben: Bereits die Weimarer Reichsverfassung (WRV) garantierte in Art. 1 63 dem Einzelnen einen Anspruch, seinen Unterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen und widrigenfalls Vorsorge "für seinen notwendigen Unterhalt zu treffen". Er­ gänzend versprach Art. 1 6 1 umfassende Versicherungsleistungen "zur Erhal­ tung der Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, zum Schutz der Mutterschaft und zur Vorsorge gegen die wirtschaftlichen Folgen von Alter, Schwäche und Wechselfällen des Lebens". Art. 1 5 1 resümierte die wirtschaftspolitische Ziel­ vorstellung der neuen Republik mit den Worten: "Die Ordnung des Wirt­ schaftslebens muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Ge­ währleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen." Konkret bedeutete dies in den ersten Jahren nach dem Krieg vor allem die staatliche Fürsorge für die Opfer von Krieg und Inflation. Dabei entwickelte sich die tra­ ditionelle Armenfürsorge sukzessive zur modernen Sozialhilfe, der ein gesetz­ lich verankerter Anspruch des Bedürftigen zugrunde lag. Die Jahre 1 924 bis 1929 standen dann im Zeichen eines Ausbaus des Sozialversicherungswesens: Zum einen wurde die Anspruchsgrundlage der schon im Kaiserreich beste­ henden Alters-, Kranken-, Invaliden- und Unfallversicherung verbreitert, in-

3. Gesellschaft in der Krise

dem beispielsweise auch Familienangehörige nun im Rahmen der Krankenver­ sicherung freie Heilbehandlung erhielten oder aber die Unterschiede zwischen Invaliditäts- und Altersversorgung in der Rentenversicherung aufgehoben wurde. Zum anderen entstand 1 927 mit dem "Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung" (AVAG) eine völlig neue Arbeitslosenversiche­ rung. Auf ihrer Grundlage wurde die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung gegründet und flächendeckend ausgebaut. Stichwort

Arbeitslosenversicherung

Sie besta nd seit dem 1 . Oktober 1 927 und war eine der g rößten sozial pol itischen Erru ngenschaften der Wei m a rer Repu b l i k. Bis d a h i n waren Arbeitslose a uf die staatliche F ü rsorge angewiesen gewesen, was i m Ernstfa l l dem ütigende Befra g u n ­ gen und den N achweis e i g e n e r M ittel losigkeit erfordert hatte. Die neue Versiche­ rung fi nanzierte sich h i n g egen a u s Beiträgen, die Arbeitg eber und Arbeitnehmer zu g l eichen Tei l e n za h l e n m u ssten. Pfl ichtversichert wa r jeder m it bis zu 8400 RM J a h rese i n ko m m en, daneben g a b es freiwi l l ig Vers icherte. D a m it hatte der Versi­ cherte n u n erstmals einen Rechtsa nspruch auf U nterstützu ng, wen n er a rbeits los wurde. Voraussetzung h ierfü r war, dass er erstens arbeitsfä h ig, arbeitswi l l ig und u nfreiw i l l i g a rbeitslos war, dass er zweitens die Anwartschaftszeit erfü l lte - bei erst­ m a l iger I nanspruch n a h m e m i ndestens 52 Wochen in einer versicheru ngspfl ichti­ gen Tätig keit i n den letzten zwei J a h ren, bei erneuter I nanspruch n a h m e m i ndes­ tens 26 Wochen - und d rittens den Anspruch a uf Arbeits losenu nterstützung noch n icht ausgeschöpft hatte. Dieser wa r norm a l e rweise auf 26 Wochen und i n Ausnah­ m efä l l e n bei über 40-j ä h rigen auf höchstens 39 Wochen beschrä n kt und besta nd a u s der H a u ptu nterstützung fü r den Vers icherten, die zwischen 75 % - i n der u nter­ sten Loh n klasse - u nd 3 5 % - in der obersten Loh n klasse - des D u rchschn ittsver­ dienstes der letzten 6 Wochen va riierte. H i nzu ka men gegebenenfa l l s Zuschläge fü r u nterhaltsberechtigte Fa m i l ienangehörige i n Höhe von jeweils 5% des erm ittel­ ten "Einheits lohnes", wobei bestim mte Höchstsätze jedoch nicht ü bersch ritten werden d u rften . Wer die Anwartschaft auf die Arbeitslosenu nterstützung noch n icht erfü l l te, aber wä hrend der l etzten zwei J a h re m i n d estens 1 3 Wochen eine ver­ sicherungspfl ichtige Tätigkeit ausgeübt hatte, oder aber seinen Anspruch a uf Ar­ beitslosenu nterstützung bereits erschöpft hatte und desha l b "ausgesteuert" wor­ den war, kon nte in Zeiten anda uernd u n g ü nstiger Konj u n ktur maxi m a l 39 Wochen - 52 Wochen fü r die über Vierzigj ä h rigen - eine " Krise n u nterstützung" erhalten, so­ fern das Arbeitsa mt i m Ra h m e n einer Prüfu n g der jeweil igen Vermögensverhä lt­ n isse eine entsprechende "Bedü rftig keit" feststel lte. Von einer Bed ü rftigkeitsprü­ fu ng d u rch die städtischen oder l ä n d l ichen F ü rsorgeverbände hing es auch a b, ob m a n notfa l l s nach dem Ausla ufen der Krisen u nterstützung oder - fa l l s hierauf kei n Anspruch besta nd - a lternativ hierzu Woh lfa h rtsu nterstützung erhielt, die s i c h n u r n o c h a m Existenzm i n i m u m orientierte.

Mit der Arbeitslosenversicherung, die in der Zwischenkriegszeit neben Deutschland nur noch Großbritannien einführte, übernahm der Staat nun auch die Verantwortung für konjunkturelle Krisen und hieraus entstehende

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Erwerbslosigkeit. Das war ein bemerkenswerter sozialpolitischer Fortschritt, bürdete der Republik jedoch auch eine finanzielle Last auf, die sie schon bald nicht mehr tragen konnte, da die Sozialpolitiker bei Einrichtung der Arbeits­ losenversicherung nur eine durchschnittliche Zahl von 700 000 bis 800 000 Ar­ beitslosen unterstellt hatten. Angesichts der im Zuge der Weltwirtschaftskrise einsetzenden Massenarbeitslosigkeit in Deutschland reichten die vorgesehe­ nen Mittel der Arbeitslosenversicherung daher schon bald nicht mehr aus: Be­ reits im Frühjahr 1 929, also rund ein halbes Jahr vor Ausbruch der Weltwirt­ schaftskrise, belief sich das Defizit der Reichsanstalt auf über 349 Millionen Reichsmark. Über die Frage, wie die notwendige Deckung herzustellen sei innere Sanierung mittels Kürzung der Versicherungsleistungen oder eine Er­ höhung der Versicherungsbeiträge bzw. der staatlichen Zuschüsse - zerfiel 1930 die Große Koalition. Aber auch die folgenden Präsidialkabinette fanden keine befriedigende Antwort auf die Frage, wie die gesetzlich verankerten An­ sprüche der Versicherten mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten vereinbar gemacht werden konnten. Spätestens jetzt wurde die "Überforderung der Wei­ marer Republik als Sozialstaat" (Jürgen von Kruedener) offensichtlich. Zusammen bruch

Der faktische Zusammenbruch der Arbeitslosenversicherung Anfang der

der Arbeitslosen-

dreißiger Jahre erklärte sich aus dem dramatischen Anstieg der Arbeitslosen-

versicherung

zahlen: 1930 betrug die Durchschnittszahl nach der amtlichen Statistik über 3 Millionen Erwerbslose. Sie wuchs 1 9 3 1 auf gut 4,5 Millionen und 1932 auf mehr als 5,6 Millionen. Besonders beunruhigend war dabei, dass die geläufige saisonal bedingte Abnahme der Arbeitslosenzahl nur noch gering ausfiel, wie die Jahre 193 1/32 belegten: Im Winter 1 9 3 1/32 betrug die Höchstzahl der Ar­ beitslosen fast 6 1 3 0 000, im Mai/Juni 1932 ging sie nur um rund 600 000 zu­ rück. 1 932, dem schlimmsten Jahr der Wirtschaftskrise in Deutschland, sank die gesamte industrielle Produktion auf etwa 60 % des Standes von 1 928. Dem­ entsprechend erfasste die damalige Arbeitslosenzahl von fast 6 Millionen auch nur die offiziell bei den Arbeitsämtern gemeldeten Erwerbslosen, die noch ein Anrecht auf Unterstützung hatten. Daneben ging man 1 932 von mindestens 1,5 Millionen, wenn nicht sogar - so eine andere Berechnung - 2,5 Millionen nicht gemeldeten Arbeitslosen aus.

Kommunale Wohlfahrtsu nterstützung

Gleichzeitig wurden insbesondere von der Regierung Brüning zwischen 1930 und 1 932 die Leistungen sowie die Dauer der Zahlungen aus der Arbeits­ losenversicherung drastisch gekürzt. Auf diese Weise wuchs die Zahl der nicht mehr unterstützten "Ausgesteuerten" sowie jener, die überhaupt keine Mög­ lichkeit hatten, Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung zu erwerben. Sie fielen der kommunalen Fürsorge anheim, die sich aber ebenfalls bald nicht mehr in der Lage sah, jene Last, die das Reich auf sie abgewälzt hatte, zu tragen. Peinliche Überprüfungen, die von den Betroffenen oft als schikanös und will­ kürlich empfunden wurden, die Leistung der Unterstützung in Sachmittel, eine partielle Arbeitspflicht und generell die Forderung nach einer späteren

3. Gesellschaft in der Krise

Rückzahlung der Unterstützung waren die Folgen. Einige Zahlen belegen die wachsende Verlagerung des Arbeitslosenproblems von der regulären Arbeits­ losenversicherung hin zur kommunalen Wohlfahrt: Bereits Ende Dezember 1 930 bekamen fast 24 % der über 3,7 Millionen unterstützten Arbeitslosen Wohlfahrtsunterstützung, während nur 1 8 % Krisenunterstützung erhielten. Immerhin bezogen noch über 58 % Leistungen aus der regulären Arbeitslosen­ versicherung. In den kommenden beiden Jahren schrumpfte dieser Prozent­ satz jedoch bei weiter stark steigenden Arbeitslosenzahlen auf knapp 34% ( 1 9 3 1 ) bzw. auf gut 16% ( 1 932). Gleichzeitig stieg der Anteil der gemeindli­ chen Wohlfahrtsfürsorge auf 35 % ( 1 9 3 1 ) , ja schließlich sogar auf über 5 7 % ( 1 932) und wurde damit zum wichtigsten Unterstützungszweig überhaupt. Welche Folgen diese Belastungen für einzelne Städte hatte, verdeutlichen zwei Beispiele: 1932 war die Zahl jener, die von der Hamburger Wohlfahrtsbe­ hörde finanziell unterstützt wurden, fast 1 3 -mal so hoch wie 1 925. Sie umfasste über 22 % der Gesamtbevölkerung von gut einer Million Menschen. Dabei bildete die Gruppe der Wohlfahrtserwerbslosen die größte Teilgruppe: Im Juli 1 928 waren es etwa 13 von 100 gewesen, im Juli 1 929 bereits 2 1 , im Dezember 1 930 dann 36, im Januar 1 932 gut 49 und schließlich im Dezember 1932 sogar 61 von 1 00. Parallel hierzu wuchs auch das Personal der zuständigen Behörde, wenngleich nicht proportional: 1 925 hatte die Wohlfahrtsbehörde 726 Vollbe­ schäftigte, 1 930 waren es 1 006. Beide Entwicklungen führten dazu, dass die Aufwendungen für die öffentliche Wohlfahrt in Harnburg in die Höhe schnell­ ten: 1 9 1 3 hatte die Stadt 3,8 % ihres Budgets hierauf verwendet, 1930 waren es 1 7 , 1 %. In anderen deutschen Städten war die Situation ähnlich, und dement­ sprechend katastrophal war ihre finanzielle Lage: In Duisburg-Hamborn lagen die Ausgaben für die Wohlfahrtspflege bei 3,2 Millionen Mark, während die Stadt gleichzeitig nur Steuereinnahmen in Höhe von 1 Million Mark hatte. In Bochum standen den 22,5 Millionen Mark Ausgaben für Unterstützungsleis­ tungen nur Steuereinkünfte in Höhe von 1 8,6 Millionen Mark gegenüber. Allerdings konnten die wachsenden Aufwendungen der Städte und Ge­ meinden für die Arbeitslosen deren materielle und ideelle Not oft nur unzurei­ chend lindern. Die langen Schlangen trostloser Männer und Frauen vor den Arbeitsämtern, wo sie auf einen Schein warteten, der sie zum Bezug von Er­ werbslosenunterstützung berechtigte, gehörten nun zum gängigen Alltagsbild in den Industriestädten - vor allem im Rheinland, in Brandenburg und Berlin, in Sachsen und in Schlesien, deren traditionelle Wirtschaftszweige am stärks­ ten von der Krise betroffen waren. Arbeiter sowie jüngere Männer und Frauen im Alter von 18 bis 30 Jahren verloren am ehesten ihren Arbeitsplatz. Ihre materielle Unterstützung nahm im Zuge einer zunehmend restriktiveren Gesetzgebung und Überprüfung immer weiter ab. Im Dezember 1932 erhielten sogar über 22 % der Arbeitslosen über­ haupt keine Unterstützung. Insbesondere Jugendliche fielen als Erste aus der

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Abb. 2 Wartende vor dem Arbeitsa mt H a n n over, Anfa n g der 1930er J a h re.

staatlichen Unterstützung. Zudem verdoppelte, ja verdreifachte sich mit den Fa­ milienangehörigen die Zahl der von der Krise Betroffenen. Aber selbst viele Be­ rufstätige mussten in permanenter Sorge um ihren Arbeitsplatz leben und wur­ den überdies laufend mit Kurzarbeit, Lohn- oder Gehaltssenkungen sowie stei­ genden Steuersätzen und Sozialversicherungsbeiträgen konfrontiert, was einem realen Kaufkraftschwund gleichkam, da die Preise weit langsamer fielen. Psychosoziale

Die immateriellen Folgen dieser Entwicklung waren eine wachsende Des-

Auswirkungen

Orientierung und Verunsicherung. Mit den psychologischen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit beschäftigte sich bereits eine zeitgenössische Studie: 1933 veröffentlichten die drei Wiener Sozialpsychologen Marie Jahoda ( 1 907200 1 ) , Paul Lazarsfeld ( 1 90 1- 1 976) und Hans Zeisel ( 1 905-1 992) eine Unter­ suchung über "Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Ver­ such über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit". In ihrem Mittel­ punkt stand das niederösterreichische Industriedorf Marienthal, im dem die gesamte Bevölkerung arbeitslos geworden war, nachdem 1 929 eine Textilfabrik geschlossen worden war, die den Ort bisher ernährt hatte. Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel hatten mehrere Monate lang das Leben in Marienthal beobachtet. In ihrem Buch schilderten sie zum einen die drastischen Auswirkungen der materiellen Verarmung der Bewohner von Marienthal, insbesondere die ver­ schlechterte Ernährung und die dadurch bedingte Abnahme der körperlichen Widerstandskraft bei Kindern wie Erwachsenen. Zum anderen verwiesen sie aber auch auf die gravierenden immateriellen Folgen, die seelischen Verände-

3. Gesellschaft in der Krise

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rungen, die mit der Langzeitarbeitslosigkeit einhergingen und den Einzelnen ebenso wie die ganze Gemeinschaft beeinträchtigten. Ihren Gesamteindruck umschrieben die drei Wiener Psychologen mit den Worten "abgestumpfte Gleichmäßigkeit". Dazu gehörte auch ein allgemei­ nes "Einschrumpfen der Lebensäußerungen", das sich an der Halbierung der Zahl der Ausleihen aus der Marienthaler Arbeiterbibliothek und dem Rück­ gang der Zeitungslektüre ebenso zeigte wie an den geringeren Mitgliederzah­ len von politischen Parteien und Vereinen. Überdies war aber auch eine Zu­ nahme gegenseitiger persönlicher Gehässigkeit zu verzeichnen, wie sie die zahlreichen anonymen - oft unbegründeten - Anzeigen wegen unbefugter Ge­ legenheitsarbeiten dokumentierten. Zentrales Problem der Betroffenen war der Zuwachs an freier Zeit, für die man letztlich keine Verwendung hatte. Ins­ besondere die Männer verloren außer den drei Orientierungspunkten - Auf­ stehen, Mittagessen, Schlafengehen - einen sinnvollen Tagesinhalt, während Frauen den Verlust des Arbeitsplatzes oft durch mehr Hausarbeit kompensier­ ten. Insgesamt unterteilten Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel die Marienthaler in drei Gruppen: Bei den meisten - 69 % - schien ihnen "Resignation", "ein gleichmäßig erwartungslose [ s] Dahinleben" vorzuherrschen; "ungebrochen" wirkten 23 % der Familien, während 8 % als "Gebrochene" bezeichnet wurden, womit sowohl "Verzweifelte" als auch völlig "Apathische" gemeint waren. Eine vergleichbare Untersuchung liegt für das Deutsche Reich zwar nicht

Arbeitslosigkeit in

vor. Dennoch lassen verschiedene zeitgenössische Berichte ähnliche Schlüsse

den Städten

zu, wie sie die Wiener Psychologen für Marienthal gezogen haben: Auch hier führte der Verlust der Arbeit bei den Betroffenen zu Apathie und Depression ebenso wie zu Flucht in den Alkohol, steigender Aggressivität und Kriminalität - insbesondere die Vermögens- und Gewaltdelikte nahmen zu - sowie Ver­ wahrlosung, was sich bei Kindern und Jugendlichen auch in der vermehrten Bildung von Banden - den "wilden Cliquen" - zeigte. Viele Menschen hunger­ ten trotz öffentlicher Notküchen und bekamen Mangelkrankheiten, wovon wiederum die Kinder von Arbeitslosen besonders stark betroffen waren. Auch verloren mehrere hunderttausend Menschen ihre Wohnungen und mussten in provisorischen Laubenkolonien am Rande der Großstädte oder sogar in Asy­ len und Herbergen unterkommen, zumal notgedrungen die Zahl der Wander­ arbeiter stieg: Anfang November 1 93 1 schätzte die "Vossische Zeitung" sie auf 400 000. Viele Betroffene übernahmen Aushilfstätigkeiten zu Niedrigstlöhnen. Schließlich stieg die Zahl jener, die ihren letzten Ausweg aus der persönlichen Misere nur noch im Selbstmord sahen - im Vergleich der Zahlen von 1928 und 1932 bei Männern um 14% und bei Frauen um 1 9 % . Damit verbuchte Deutschland im internationalen Vergleich einen traurigen Rekord für sich. Letztlich war die Situation der meisten deutschen Arbeitslosen sogar noch schlimmer als die der Bewohner von Marienthal, denn die dort vorherr­ schende allgemeine Erwerbslosigkeit schuf eine atypische Harmonie. Der Nor-

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malfall in Deutschland war hingegen das konfliktreiche Nebeneinander von den einen, die noch einen Arbeitsplatz besaßen und überwiegend die vielfälti­ gen Konsum-, Unterhaltungs- und Vergnügungsangebote nutzten, die natür­ lich auch in der Zeit der Weltwirtschaftskrise weiter bestanden, und den ande­ ren, die ihren Arbeitsplatz bereits verloren hatten und ihren Lebensstandard radikal einschränken mussten. Zudem gab es selbst innerhalb der letzteren Gruppe noch eine Hierarchie, je nach Art und Umfang der materiellen Unter­ stützung, die der Einzelne erhielt: An der Spitze standen die Empfänger von regulärer Arbeitslosenunterstützung. Es folgten die Empfänger der Krisenfür­ sorge. Die unterste Gruppe bildeten die Wohlfahrtserwerbslosen, die nicht nur die geringste Unterstützung erhielten, sondern auch noch in der Öffentlichkeit als arbeitsscheu und asozial galten, weswegen viele Anspruchsberechtigte lange davor zurückschreckten, sich beim Wohlfahrtsamt zu melden. Lä ndliche

Auf dem Land sah es nicht besser aus, weil sich die Strukturprobleme der

Arbeitslosigkeit

letzten Jahre im Zuge der Weltwirtschaftskrise noch verschärften: Die von Ar­ beitslosigkeit und Einkommenseinbußen betroffenen Städter schränkten ihren Konsum stark ein, sodass die landwirtschaftlichen Erzeugerpreise für Fleisch, Getreide und Kartoffeln und damit auch die Einkommen der Bauern weiter sanken. Gleichzeitig mussten die bereits aufgenommenen Kredite abbezahlt oder sogar neue Schulden gemacht werden, um die notwendigen Betriebsmit­ tel wie Maschinen, Düngemittel, Elektrizität und Treibstoff bezahlen und so überhaupt weiter wirtschaften zu können. Am Ende dieses Teufelskreises stand für etliche Betriebe die Zwangsversteigerung: Von der gesamten land­ wirtschaftlichen Nutzfläche in Höhe von knapp 37 Millionen Hektar wechsel­ ten 1 930 über 1 30 400 Hektar zwangsweise den Besitzer, 1 9 3 1 waren es sogar fast 1 78 000 Hektar und 1 932 noch einmal annähernd 1 54 000 Hektar.

b)

Politische Radikalisierung

Wirtschaftskrise

Die mit der ökonomischen Misere einhergehende Verelendung vieler

als Staatskrise

Menschen sollte sich als ein guter Nährboden für den politischen Radikalis­ mus in Deutschland erweisen. Im Gegensatz zu den USA und den übrigen be­ troffenen Ländern in Europa weitete sich die Wirtschaftskrise hier zur Staats­ krise aus. Nun zeigte sich, wie instabil die innenpolitischen Verhältnisse tat­ sächlich waren, wie sehr der verbreitete Eindruck getrogen hatte, die letzten Jahre hätten nach den Erschütterungen des Krieges, der Revolution und der frühen Krisen endlich die Lage beruhigt. Schuld daran war die Tatsache, dass die Republik weiterhin unversöhnliche Gegner besaß, die angesichts der sozia­ len Verelendung von Millionen Menschen nun ihre Chance witterten. Anders als in Nordamerika und den westeuropäischen Demokratien trafen die Aus­ wirkungen der Weltwirtschaftskrise ein Land, in dem es keinen breiten demo­ kratischen Konsens gab, sondern in Teilen der Bevölkerung - insbesondere in-

3. Gesellschaft in der Krise

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nerhalb der militärischen und der wirtschaftlichen, aber partiell auch der poli­ tischen Elite - erklärte Gegner des Weimarer Staates. Diese nutzten die ökono­ mische Krise, um nun ebenso hemmungslos wie offen gegen Regierung, Parla­ ment und Parteien, ja das "System" schlechthin, zu agitieren, als den vermeint­ lich Schuldigen dafür, dass man der Krise nicht Herr wurde. In dem solcherart initiierten "Hexenkessel der politischen Phobien" (Hans-Ulrich Wehler) er­ hielt die linke und rechte Fundamentalopposition wiederum großen Zulauf aus den Reihen der Entlassenen, Verarmten und Entwurzelten. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch den Umstand, dass das parlamentarisch-demokratische System sich angesichts der Wirtschaftskrise schon bald nicht mehr voll handlungsfähig zeigte und nun jene zum Zug kamen, die auf eine autoritäre, wenn nicht diktatorische Veränderung drangen. Bis Ende der 1920er-Jahre wurde die Mehrheitsfähigkeit der wechselnden Regierungen im Reichstag und damit auch die zumindest vordergründige Funktionstüchtigkeit der parlamentarischen Demokratie in Deutschland durch ein variables Koalitionssystem gesichert. Das Bekenntnis von Sozialdemokratie und bürgerlichen Parteien zur Weimarer Reichsverfassung ermöglichte ausreichende Mehrheiten für parlamentarisch legitimierte Regierungen auf Reichs- und Landesebene; zudem etablierte sich als Notbehelf in Ausnahmefallen bereits frühzeitig das System der "tolerierten Minderheitsregierung". Seit Ende der zwanziger Jahre erstarkten dann jedoch radikale Bewegungen, die nicht bereit waren, in einer Regierungskoalition mitzuwirken oder aber den anderen Parteien nicht als koalitionsfähig galten. Damit wurde die Bildung stabiler Mehr­ heitsregierungen immer schwieriger. Die

Große Koalition

schien diese Entwick-

lung im Frühjahr 1 928 zunächst noch einmal zu konterkarieren, bis auch sie im Frühjahr 1 930 wieder zerfiel. Stichwort

G roße Koa lition

Seit dem Verlust der Meh rheit fü r die .,We i m a rer Koa l ition" aus S P D, Zentru m und DDP nach den Reichstagswa h l e n vom Juni 1 920 g a b es i n der Wei m a rer Repu b l i k n u r zwei sta b i l e Reg ierungsvaria nten, die g e m ä ß den Vorste l l u ngen der Wei m a rer Nationa lversa m m l ung über eine echte Mehrheit i m Parlament verfügten und n icht n u r, wie die verbreiteten Minderheitskabinette, d a n k der vorü bergehenden Tolerierung d u rch eine za h l e n m ä ß i g stä rkere Opposition im Amt waren: Entweder eine G roße Koa l ition a u s S P D, D D P, Zentrum, DVP u n d eventuell auch noch Bayeri­ scher Vol kspartei (BVP), wie sie von August bis N ovember 1 923 u nter dem d a m a l i­ gen Reichskanzler Strese m a n n (DVP) u n d d a n n von J u n i 1 928 bis März 1 930 u nter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann M ü l l e r ( 1 876--1 93 1 ) besta nd, oder der ., Bürgerblock" aus D D P, Zentrum, BVP, DVP und DNVP, der von J a n u a r bis Dezem ber 1 925 m it dem Partei losen H a n s Luther a n der Spitze und von J a n u a r 1 927 bis J u n i 1 928 u nter der Leitung d e s Zentru mspolitikers Wi l h e l m Marx ( 1 863-1 946) reg ierte. All erdings waren sich die Partner des ., Bürgerbl ocks" in der Gesta ltung der Außenpol itik oft uneins. Kitt einer G roßen Koa l ition waren h i n g e-

Regierungsbildung

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I.

Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

gen gerade die gemeinsamen außenpolitischen Ansichten der beteil igten Par­ teien, die sich einvern e h m l ich an Stresem a n n s Kurs einer e u ropäisch eingebette­ ten moderaten Revisionspol itik orientierten . Mögl ichen Sprengstoff fü r den Be­ sta nd einer solchen Reg ierung bot indes die I n n e n-, speziell die Sozia l- und Wi rt­ schaftspol itik. Der l atente Dissens in diesem Bereich fü h rte dazu, dass eine Große Koa l ition von Beg i n n a n m it der Opposition des l i n ken F l üg e l s der a rbeitnehmer­ fre u n d l ichen S P D und dem rechten F l ü g e l der a rbeitgeberorientierten DVP leben m usste. Dieser kon nte sich l eicht zur ernsten Reg ierungskrise auswachsen, zumal i n allen Parteien die Bereitschaft gering wa r, i h re jeweiligen Reg ierung svertreter auch bei schwierigen Entscheidungen zu u nterstützen . Dementsprechend zer­ brach die Große Koa l ition jeweils im November 1 923 bzw. im März 1 930 letztlich i m Streit über sozial- und wirtschaftspol itische Entscheid u n g e n .

Präsidialkabinette

In der Folgezeit gab es im Reich "Präsidialkabinette", die mit Hilfe von Not­ verordnungen des Reichspräsidenten vorbei am Parlament regierten. Aber auch in vielen Ländern amtierten nur noch Minderheitskabinette oder perma­ nente geschäftsführende Regierungen. Vor diesem Hintergrund verbreitete sich weit über das radikale Lager hinaus der Eindruck, dass die offensichtlichen Kri­ sensymptome nicht vorübergehende Fehler des politischen Betriebs und Perso­ nals offenbarten, sondern Ausweis eines strukturellen Defizits seien. In der politischen Öffentlichkeit wie in der zivilen Gesellschaft griff "die totalitäre Ver­ suchung" (Detlev Peukert) um sich. Die schon seit längerem laufende Diskussi­ on über eine "Reichsreform", also eine Umgestaltung des Verhältnisses von Bund und Ländern, eine Auflösung des Dualismus von Reich und Preußen so­ wie eine territoriale Neugliederung des Deutschen Reiches, deren Pressure­ group der 1 928 gegründete Bund zur Erneueru ng des Reichs aus Industriellen, Bank­ iers und Großgrundbesitzern unter Vorsitz des ehemaligen Reichskanzlers und späteren Reichsbankpräsidenten Luther wurde, verquickte sich nun mit einer grundlegenden Skepsis gegenüber den politischen Institutionen und Formen der Weimarer Republik. Die Frage nach der Regierbarkeit und der Topos einer "Krise des Parlamentarismus" dominierte jetzt endgültig den Verfassungsre­ formdiskurs. Parteienübergreifend wurde erörtert, wie man die Exekutive stär­ ken und ihre Abhängigkeit von der Legislative mindern könne. Dabei verdeut­ lichten spätestens die Vorstellungen der Regierung Papen von einem "Neuen Staat", dass zumindest starke rechtskonservative Kräfte unter dem Vorwand der - weithin akzeptierten - Notwendigkeit einer Verfassungsreform einen ver­ itablen - verfassungsfeindlichen - Systemwechsel anstrebten. Stichwort

B u n d zur Erneuerung des Reichs

Anfang J a n u a r 1 928 g ründete eine Gruppe fü hrender Vertreter von Verwa ltung, Wirtschaft und Wissenschaft den ,. Bund zur Erneuerung des Reichs" a l s einer über­ parteil ichen Vere i n i g u n g zur Förderu ng der Bem ü h u n g e n um eine Reichsreform.

3. Gesellschaft in der Krise

Den Vorsitz übernahm zunächst der ehemalige Reichskanzler H a n s Luther. Nach­ dem dieser 1 930 das Amt des Reichsbankp räsidenten ü bernahm, folgte ihm als Vorsitzender der frü h e re Staatssekretär Siegfried G raf von Roedern ( 1 870-1 953) und dann - von 1 93 1 bis 1 933 - der ehemalige Reichswehrm i n ister Otto Gess ler ( 1 875-1 955). Der " Lutherbund", wie er auch g e n a n nt wu rde, lancierte etl iche wis­ senschaftl iche Studien und kon krete Reformvorsch läge fü r die Neuord n u n g des Deutschen Reiches, ins besondere fü r das Bund-Länder-Verhältnis.

Letztlich hatten sich solche Tendenzen aber schon weit vor der großen Krise in der Endphase der Weimarer Republik angedeutet: Während der gan­ zen zwanziger Jahre war vor allem innerhalb der bürgerlichen und der Rechts­ Parteien wiederholt diskutiert worden, wie die Autorität der Regierung auf Kosten des Parlaments verstärkt werden könne. Selbst die Variante des Präsi­ dialregimes wurde bereits Jahre vor ihrer erstmaligen Anwendung erwogen: So Ende 1 926, als das bürgerliche Minderheitskabinett des Zentrumspolitikers Marx die stille Unterstützung der Sozialdemokraten verlor und Reichspräsi­ dent Paul von H i ndenburg, beraten durch seinen Staatssekretär Otto Meißner, mit dem Dauergebrauch des Notstandsartikels 48 der Weimarer Reichsverfassung drohte, um eine ihm genehme Rechtsregierung zu installieren. Dies belegte, dass "der parlamentarische Kurzschluss" nie unmöglich war und "die antipar­ lamentarische Zerrüttungspolitik seit 1930 [ ... ] nicht aus heiterem Himmel [kam] " (Michael Stürmer) . Stichwort

Paul von Beneckendorff u n d von H i n d e n b u rg

( 1 847-1 934) n a h m a l s j u n g e r Offizier bereits an den "Reichse i n i g u n g s kriegen" von 1 866 und 1 870/7 1 teil. l n den J a h rzehnten danach wechselten sich Tru ppen­ kom m a ndos m it Sta bsste l l u ngen ab. Nach erfo l g reicher, g l eichwohl uns pektaku­ l ä rer Laufb a h n trat er 1 908 als General der I nfa nterie i n den Ruhesta nd. Bei Aus­ bruch des Ersten Weltkrieges 1 9 1 4 wu rde er rea ktiviert und Anfa n g November zum Oberbefe h l s h a ber der deutschen Streitkräfte a n der Ostfront ernan nt. l n d ie­ ser F u n ktion erlangte er einen fast mythischen N i m bus, wei l es dem u nter seinem Kom m ando stehenden Heer gela ng, die nach Ostpreußen eindringenden, za hlen­ mäßig weit ü berlegenen russischen Truppen zu rückzuwerfen. Dieser Sieg brachte ihm n icht nur den Ehrentitel "Held von Ta n n e n berg" ein, sondern auch die Beför­ derung zum Generalfe l d m a rsch a l l . Im August 1 9 1 6 wurde H i ndenburg zum Chef der 3. Obersten Heeresleitung (O H L) ernan nt. l n den kom m enden beiden J a h ren bestim mte er u nter dem sta rken Ei nfl uss seines Genera l q u a rtiermeisters Erich Lu­ dendorff ( 1 865-1 937) weitgehend die deutsche Krieg spol itik. Dennoch gelang es ihm 1 9 1 8, sich der Vera ntwortu ng fü r die deutsche N iederlage zu entziehen. Über­ d ies wurde er ein entschiedener Vertreter der Dol chstoßlegende, wonach die Ka­ p itu l ation nicht Ergebnis m i l itä rischen Scheiterns, sondern Folge der i n neren Wü h l a rbeit von Sozia ldemokraten und a n deren demokratischen Pol itikern g ewe­ sen sei. Dementsp rechend leh nte er auch die Gründung der Wei m a rer Repu b l i k

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Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

ab u n d blieb bekennender Monarchist. Als er jedoch im Frühj a h r 1 925 a l s Ka ndi­ dat der Rechts parteien zum Reichspräsidenten gewä hlt worden war, sol lte er zu­ nächst diejenigen enttä uschen, die erwa rtet hatten, er wü rde n u n einen entschie­ denen Rechtsku rs i n der deutschen I n n e n po l itik ei nsch lagen. Vie l m e h r fü hlte sich der 78-J ä h rige a n seinen Eid auf die Verfassung gebunden und bemü hte sich, sein Amt verfassungskonform zu fü hren.

Stichwort

Otto M e i ß n e r

( 1 880-1 953) war nach J u rastud i u m, Kriegsd ienst und Tätig keit a n der deutschen Gesa ndtschaft i n der U kra ine 1 9 1 9/20 Vortragender Rat i m Büro des Reichspräsi­ denten geworden. Seit 1 920 l eitete er die Präsid i a l ka nzlei, seit 1 923 i m Range eines Staatssekretärs. Aufg ru n d seiner fachl ichen Fähigkeiten u n d seines persö n l i­ chen Gesch icks, aber auch seiner pol itischen Anpassungsfä h i g keit behielt er sein Amt auch nach dem Wechsel von Friedrich Ebert (1 8 7 1 - 1 925) zu Paul von H i nden­ b u rg u n d wurde insbesondere i n den l etzten J a h ren der Wei m a rer Repu b l i k - als "Gra u e E m i nenz" u n d M itg l ied der so g e n a n nten Ka m a r i l l a - einer der wichtigsten Berater des Reichspräsidenten. Seine Kompetenz und Wen d i g keit ermögl ichten i h m, sein Amt auch i m " D ritten Reich" zu beha lten.

Verfassun gsreform­

Die Gefahr, vom Geist, wenn nicht sogar vom Wortlaut der Reichsverfas-

diskussion

sung abzuweichen, verstärkte sich angesichts der Ende der zwanziger Jahre einsetzenden ökonomischen und politischen Krise auf dramatische Weise: Bis dahin hatte es in der Verfassungsreformdiskussion zwei Tendenzen gegeben: 1. jene Vorschläge aus dem demokratischen Lager unterschiedlicher parteipo­ litischer Couleur, die das Ziel der Vollendung der - so die enttäuschten Kriti­ ker - unvollendeten Reichsverfassung hatten. Vorgeschlagen wurden Dezen­ tralisierungsbestrebungen, eine Neugliederung des Reichsgebiets, die Aufhe­ bung des Dualismus von Reich und Preußen, eine Wahlrechtsreform, die auf die Einführung von Elementen des Mehrheitswahlrechts abzielte, sowie eine Neuordnung des Notverordnungsrechts der Exekutive. 2. Vorstöße der radika­ len Linken und der Rechten, die auf eine Fundamentalkritik an der Weimarer Reichsverfassung hinausliefen und "Verfassungsreform als Verfassungsüber­ windung" (Christoph Gusy) betrieben. Dabei orientierte sich die KPD ganz an sowjetischen Vorstellungen, während die DNVP und andere rechtsextreme Gruppen Ideen von einem "Ständestaat" bzw. einem "autoritären" oder "tota­ litären", manchmal aber auch nur schlicht einem "Neuen Staat" propagierten.

Sozialdemokratische Positionen

Mit der doppelten Wirtschafts- und Staatskrise erfuhr der bisherige Verfassungsdiskurs eine qualitative Änderung: Selbst entschiedene Anhänger des demokratisch-parlamentarischen Verfassungsstaats erörterten nun offen Er­ scheinungsformen und Gründe der eingetretenen Systemkrise sowie die Mög­ lichkeiten einer tiefgreifenden politischen Reform, die vor allem die Exekutive

3. Gesellschaft in der Krise

auf Kosten der Legislative stärken sollte. Entsprechende Stimmen gab es sogar in der SPD, für die die Weimarer Republik offiziell noch sakrosankt war. Doch jüngere Funktionäre und Intellektuelle sowohl vom linken wie vom rechten Parteiflügel wichen Anfang der dreißiger Jahre deutlich von dieser Parteilinie ab. Der Darmstädter SPD-Reichstagsabgeordnete

Carlo Mierendorff

veröffent­

lichte im September 1932 in den "Sozialistischen Monatsheften" eine scharfe Kritik an der bisherigen Verfassungsentwicklung: Durch die tiefe Kluft zwi­ schen Reich und Ländern werde die Exekutive gelähmt; das "unglückselige Li­ stenwahlsystem" fördere die politische Zersplitterung und das entstandene "Durcheinander der widerstrebenden Kräfte" werte wiederum den Reichsprä­ sidenten über Gebühr auf. Deshalb mahnte Mierendorff seine Partei, nicht die Augen vor der notwendigen Verfassungsrevision zu verschließen und damit nicht jenen Kräften den Weg frei zu machen, die eine "Verfassungsrevision [ . ] in reaktionärem Geist" beabsichtigten. .

.

Stichwort

Carlo M i e rendorff

( 1 897-1 943) war nach der Tei l n a h m e am Ersten Weltkrieg und dem Stud i u m der Vol kswirtschaft von 1 922 bis 1 926 i m Tra nsportarbeiterverband tätig, d a n n zwi­ schen 1 926 und 1 928 Parlamentssekretä r der SPD i m Reichstag und sch l ießl ich von 1 930 bis 1 933 sozialdemokratischer Reichstagsabgeord neter. 1 93 1 vera n l ass­ te er die Veröffentl ichung der " Boxheimer Doku m ente", hochverräterischer Pläne hessischer National sozia l isten, die i m " Boxheimer Hof" bei Worms ausgea rbeitet worden waren. Zwischen 1 933 u n d 1 938 saß Mierendorff in verschiedenen Kon­ zentrationslagern. Nach seiner Entlass u n g beteil igte er sich a m Widersta nd gegen den National sozia l is m us, bis er bei einem Luftang riff sta rb.

Ein weiterer Aufsatz Mierendorffs in den "Sozialistischen Monatsheften" vom Dezember 1932 zeigt, wie sehr die linke Kritik an der aktuellen Verfas­ sungsentwicklung jene historischen Vorbehalte spiegelte, welche Teile der SPD immer schon gegen den Verfassungskompromiss von 1 9 1 9 empfunden hatten und wie schmal der Grat zwischen "arbeitsfähiger Demokratie" und staatli­ chem Zwangssystem war:

MI!iM Carlo Mierendorff i n den "Sozi a l i stischen Monatsheften" i m Dezem­ ber 1 93 2 Quelle: Win kler: Weg, 5 . 803.

"Die Wei m a rer Demokratie ist fü r uns nie das Ziel unseres staats pol itischen Ka m pfs g ewesen. Sie wa r fü r u n s i m m e r n u r ein zeitbed ingter Kom prom i ß, ein D u rch­ g a n g sstad i u m . U nser Ziel heißt sozia l i stische Demokratie. Die Wei m a rer Demokra­ tie ist ein Prod u kt typisch l i beral istischer Ideen. Diese l i bera l e Vorste l l u n g swelt, die

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Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

sich den Staat n u r a l s einen schwachen Staat d e n ken ka nn, ist der Wei m a rer Demo­ kratie zum Verh ä n g n i s geworden. Die Aufga be, die u n s zuwächst, ist: das B i l d einer demokratischen Staatsorgan isation zu schaffen, die den Staat a l s einen starken Staat w i l l und die Verfassung n icht als eine Org a n isation von H e m m u ngen zur Si­ cheru ng der I n d ivid ualsp häre betrachtet, sondern als die straffe Organ isation des Kol l e ktivwi l l ens m it dem Ziel der Beherrsch u n g und Lenkung der Wirtschaft d u rch die staatlichen Machtm ittel."

Ähnliche Ideen fanden sich im Herbst 1 932 auch in verschiedenen Arti­ keln der "Neuen Blätter für den Sozialismus", wobei in einem Aufsatz von Hans Simons ( 1 893-1 972), einem Vertreter des rechten SPD-Flügels, der Regierungs­ präsident in Liegnitz war, sogar die Forderung nach einer "Zweiten Kammer", einer berufsständisch gegliederten Wirtschaftsvertretung, auftauchte. Das war bisher eine klassische Forderung der politischen Rechten gewesen, welche das politische Gewicht der Arbeitnehmer mindern und den Einfluss der ,,produkti­ ven Stände" stärken sollte. Natürlich wollten die sozialdemokratischen Refor­ mer das genaue Gegenteil, doch sie stimmten bemerkenswerterweise durchaus mit reaktionären Politikern wie dem damaligen Reichskanzler Papen und sei­ nem Innenminister Wilhelm von Gayl ( 1 879- 1 950) darin überein, dass eine Aufwertung korporativer Interessen zu Lasten der allgemeinen Volksvertretung die Gesetzgebungsarbeit entpolitisieren und versachlichen könnte. Insofern gab es also bei allen sonstigen Unterschieden ,,ein Stück ,autoritärer' Gemein­ samkeit von konservativer und sozialistischer Liberalismuskritik" (Heinrich August Winkler) . Liberale Reform-

Aber selbst im liberalen Lager wurde die vermeintliche Dominanz des

vorschläge

Reichstags beklagt und eine Stärkung der Regierung verlangt. Ein beredtes Beispiel dafür lieferte der liberaldemokratische Nationalökonom und Kultur­ soziologe Alfred Weber in einem Vortrag aus dem Jahr 1 93 1 mit dem Titel ,,Das Ende der Demokratie". Darin beklagte er zwar einerseits die mittlerweile im Zuge der Präsidialregime eingetretene Ausschaltung des Parlaments, die le­ diglich ein ,,Zwischenzustand" sein dürfe. Andererseits kritisierte er aber auch den seiner Meinung nach schon vorher zu beobachtenden "Parlamentsabsolu­ tismus", der der eigentliche Auslöser der aktuellen Krise sei: Die verschiedenen Volksvertretungen auf Reichs-, Landes- und kommunaler Ebene hätten sich ihnen nicht zustehende exekutive Befugnisse angemaßt und damit ,,die Regie­ rung usurpiert". Da das Parlament jedoch ein ,,notwendig regierungsunfähiges Kollektiv" sei, habe es ,,überall versagt" - von der Reichs- bis hinunter auf die lokale Ebene. Folglich müssten sich die Volksvertretungen zukünftig "auf Kontrolle, Auslese, Anregung, Mitberatung" beschränken und sich gegenüber der Exekutive zur ,,Erteilung von Regierungsvollmachten ziemlich weitgehen­ der Art" bereit erklären. Weber bezeichnete das ihm vorschwebende System selber als eine ,,autoritäre Demokratie".

3. Gesellschaft in der Krise

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Natürlich beabsichtigten Linksliberale wie er nicht eine Unterminierung der Weimarer Demokratie, sondern gerade deren Stärkung, um dadurch die bei den rechten Parteien verbreiteten Ressentiments gegen die Republik zu be­ kämpfen. Staatliche "Autorität" meinte nicht einen "autoritären Staat" und die Ausschaltung demokratischer (Kontroll-)Institutionen, wie auch die deutliche Ablehnung von Papens "Neuem Staat" durch die Linksliberalen belegte. Diese plädierten in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre von ihrer Warte aus nur für notwendige Reformen des bestehenden politischen und sozialen Systems. Ihr Ziel war, "von der unvollkommenen zur vollkommenen Republik" zu ge­ langen, wie es in einem DDP-Flugblatt zu den Reichstagswahlen von 1928 hieß. Konkret ging es dabei sowohl um eine Reichsreform als auch eine Wahl­ rechts- und eine Finanzreform; in der Parteiausschusssitzung vom 30. Juli 1 930 in Berlin forderte der Partei- und Fraktionsvorsitzende Erich Koch-We­ ser ( 1 875-1 944) sogar ein noch umfangreicheres Paket, das eine Reichs-, eine Wahl- und eine Bildungsreform sowie eine Reform des Gemeinde- und des Wirtschafts- und Finanzwesens umfassen sollte. Ungeachtet seiner guten Absichten musste ein solcher Aktionismus die Anfang der dreißiger Jahre ohnehin eingetretene Krise des Vertrauens in die bestehenden Institutionen zumindest ungewollt noch fördern und damit die politische Stabilität der Weimarer Republik weiter gefährden. Zudem konnte es, wenn auch wider Willen, Wasser auf die Mühlen der politischen Rechten leiten, wenn nun auch im linksliberalen Verfassungsdiskurs die Forderung nach dem "starken Staat" in den Vordergrund rückte und nicht mehr - wie bisher - die Erweiterung demokratischer Mitbestimmungsmöglichkeiten, son­ dern deren Einengung gefordert wurde, um die staatliche Effizienz zu erhöhen und die Einheit der nun auch von Linksliberalen propagierten Geschlossenheit der "Volksgemeinschaft" zu stärken - eine Vision, die mittlerweile zunehmend Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs gefunden hatte und den Überdruss an der fragmentierten modernen Gesellschaft ebenso wie an dem pluralisti­ schen politischen System reflektierte. Das Unbehagen an den herrschenden politischen Verhältnissen, das sich selbst bei überzeugten Anhängern der Weimarer Republik fand, fiel verständlicherweise umso stärker bei jenen Vertretern einer Konservativen Revolution aus, die seit Jahren das Bewusstsein einer umfassenden kulturellen und moralischen Dekadenzkrise pflegten und unter dem Signum "Neuer Staat" eine organische Fortentwicklung der Verfassung weg von der parlamentarischen, hin zur konstitutionellen Demokratie anstrebten. Stichwort

Konservative Revolution

Das pol itische Schlagwort wurde d u rch die Rede Hugo von Hofm a n nsthai ( 1 874-1 929) über "Das Sch rifttum a l s geistiger Ra u m der Nation" von 1 927 be-

"Neuer Staat"

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Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

ka n nt und von Arm i n Mohler 1 949 in seiner g l eich namigen Dissertation zur U m ­ schreibung versch iedener völkischer, j u n g konservativer, nationa l revol utionärer und bünd ischer Gruppen sowie der Landvo l k-Bewegung verwa ndt. Diesen wa r demnach gemeinsam, dass sie sich sowo h l von den l i beraldem okratischen Ideen der Französischen Revol ution von 1 789 u n d des 1 9.J ahrhunderts u n d d a m it ebenso der Wei m a rer Repu b l i k a bzug renzen suchten a l s auch von einer bloßen Resta u ration u n d Reaktion ei nsch l ießl ich des 1 9 1 8 u ntergeg angenen Ka iserrei­ ches, weswegen sie sich sel bst auch als " revo l utionär" begriffen . I ndes hat die j ü n­ gere Forschung die H eterogen ität der fra g l ichen Gruppen betont, aber auch die Zuord n u n g zum Konservatismus negiert u n d stattdessen von einem "neuen Na­ tional ismus" (Stefan Breuer) gesprochen. Auf jeden Fa l l wurden manche Vertreter und Gruppierungen d u rch i h re sozi a l roma ntischen, antiparl a m e ntarischen u n d antidem okratischen Tendenzen d i rekt o d e r i n d i rekt zu Weg bereitern des National­ sozia lismus.

In der neokonservativen Publizistik war die Wendung zum autoritären Regime schon seit längerem durch die Schriften von Oswald Spengler ( 1 880-1 936) und Artbur Moeller van den Bruck ( 1 876-1 925) verbreitet und innerhalb des etablierten Parteienspektrums zumindest auch auf dem rechten Flügel der DNVP fest verankert. Überdies wurden solche Ideen im außerparla­ mentarischen Raum durch den nationalkonservativen aber auch vom elitären Deutschen Herren kl u b .

Tat-Kreis

aufgegriffen,

Stichwort

Tat-Kre is

Die bereits 1 909 gegründete Zeitsch rift " D I E TAT' entwickelte sich a b Herbst 1 929 u nter i h rem d a m a l igen Herausgeber u n d Chefreda kteu r Hans Zehrer ( 1 899-1 966) zu einer ei nfl ussreichen Monatsschrift, die ein el itä res Selbstverstä ndnis pflegte und sich vor a l l e m a n die national istische I ntel l igenz wandte. I h re Auflage wuchs zwischen 1 929 und 1 932 von 800 auf 30 000 Exe m p l a re. Die Artikel der "TAT' for­ derten zum " Ka m pf gegen Versail les und Wei m a r" a uf. Carl Schm itts Abl e h n u n g d e s parl a m e ntarischen Systems wurde hier ebenso verbreitet w i e ein nationaler Sozi a l i s m u s i n Abg renzung zum ka p ita l istischen Westeu ropa. G l eichzeitig kulti­ vierte der Tat-Kreis ein Krisen bewusstsein, vor dessen H i nterg rund er die B i l d u n g einer nationalen Gemeinschaft propagierte. M ittels einer "konservativen Revo l u­ tion" sol lte an die Ste l l e der Parteienherrschaft ein a utoritärer Machtstaat treten, der, gestützt auf Südosteu ropa, eine wirtschaftliche Autarkie erringen sol lte. Der Tat-Kreis unterstützte 1 932 Schleichers Versuch einer Spaltung der N S DAP. Seine Fehleinschätzung des National sozia l is m u s und seine Diskred itierung des Weima­ rer "Systems" machten i h n - wen n auch teilweise wider Willen - zum g eistigen Weg bereiter des " Dritten Reiches".

3. Gesellschaft in der Krise

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Stichwort

Deutsch er Herre n k l u b

Der Deutsche Herrenkl u b konstituierte sich i m Novem ber 1 924 i n Berl i n a l s Nach­ folger des "J u n i k l u bs", der im Juni 1 9 1 9 von Repräsentanten der Neuen Rechten aus Protest gegen die U nterzeich n u n g des Versa i l l e r Vertrages gegrü ndet worden war. Dem Herren kl u b gehörten fü h rende Vertreter von Schwerindustrie, G roß­ g rund besitz, höherer Bea mtenschaft, Offizierskorps, Wissenschaft und extrem kon­ servativer P u b l izistik a n . Verb i n d u n g e n besta nden zur DVP und zur DNVP, zum Tat­ Kreis, aber auch zu völ kischen Gruppen. 1 932 g a b es etwa 20 Herren kl ubs oder Herrengese l l schaften in Deutschland m it etwa 5000 M itg l iedern. Diese leh nten die Wei m a rer Rep u b l i k entsch ieden ab. Stattdessen pflegten sie einen aristokratischen El iteged a n ken und orientierten sich a m Ideal des pre u ß ischen Obrigkeitsstaats, teilweise aber auch a n Moeller va n den Brucks Idee eines " D ritten Reiches". Dem­ entsprechend forderten sie die B i l d u n g eines a utoritären, hiera rch isch gegl ieder­ ten nationalen Staates. Der Herre n kl u b hatte starken Anteil am Ka m pf gegen die Reg ierung Brü n i n g u n d bei der Bildung des Ka binetts Papen i m Frühj a h r 1 932.

Hier paarten sich unterschiedliche Formen von Antiliberalismus mit einem vehementen Antibolschewismus. Gemeinsamer Nenner dieser konser­ vativen Kritik am politischen System der Republik war die angebliche "Herr­ schaft der Parteien", der damit einhergehende Verfall von Autorität und Füh­ rung und die Geißelung des überhandnehmenden Partikularinteresses. Des­ sen Überwindung war seit der Gründung der Weimarer Republik von neokonservativen Autoren ebenso wie von katholischen Ständetheoretikern unablässig gepredigt worden, ohne dass diese aber praktikable Gegenkonzepte vorgelegt hätten. Es blieb bei der Vorstellung von einer berufsständischen Ordnung, letztlich aber vor allem bei der Forderung nach einem autoritären Staat und einem ge­ horsamen Untertan, der sich als Teil einer größeren Gemeinschaft oder eines Organismus verstehen und einer sachgerechten und wohltätigen Führung frei­ willig unterordnen sollte. In der Endphase der Weimarer Republik schien diese alte Kritik umso plausibler, als der Staat anscheinend außerstande war, der öko­ nomischen und politischen Krise Herr zu werden. Entsprechend lauter er­ schallte im rechten Lager nun der Ruf nach einer Stärkung der Exekutive und vor allem der Rechte des Reichspräsidenten, der zum Symbol von Einheit, Staatswohl und Überparteilichkeit stilisiert wurde. Dabei wurde unter Berufung auf die Lehre vom Staatsnotrecht selbst ein Verstoß gegen zentrale Bestimmun­ gen der Verfassung erwogen: Demzufolge ging die Verfassung in Art. 48 WRV nur von äußeren Störungen aus, sagte aber nichts über den Fall einer inneren Erosion des Staates aus. Folglich müsste hier ein ungeschriebenes, überpositives Staatsnotrecht greifen. Dessen Träger wäre jedes Staatsorgan, das nicht von der "Lähmung" betroffen sei - sei dies nun der Reichspräsident oder das Volk.

lehre vom Staatsnotrecht

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I.

Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise

1 929/30:

Das Ende trügerischer Stabil ität

Die Anhänger einer solchen Meinung konnten sich auf den konservativen "Kronjuristen"

Carl Schmitt

berufen, der Anfang der dreißiger Jahre ebenfalls

für einen grundlegenden Verfassungsumbau plädierte. In seiner Schrift "Lega­ lität und Legitimität", die im Juli 1 932 abgeschlossen wurde, verlangte er, den ersten Teil der Weimarer Reichsverfassung, also die Vorschriften über die Ver­ fassungsorgane, zugunsten des zweiten Teils, der die Grundrechte umfasste und damit seiner Meinung nach den eigentlichen Kern der ursprünglichen Verfassungsentscheidung bildete, zur Disposition zu stellen, da sich die Staats­ organe angeblich selber außer Kraft gesetzt hätten. Eine entsprechende Reform "von oben" sollte dem Reichspräsidenten obliegen, der für Schmitt der eigent­ liche "Hüter der Verfassung" war und dessen plebiszitäre "Legitimität" für ihn der bloß formalen "Legalität" des pluralistischen Parteienstaats übergeordnet war. Stichwort

Carl Schm itt

( 1 888-1 985) studierte Rechtswissenschaft i n Berlin, M ü nchen und Stra ß b u rg, wo er 1 9 1 1 auch promoviert wurde u n d sich 1 9 1 4 fü r Staats- u n d Verwa ltungsrecht, Völ kerrecht und Staatstheorie h a b i l itierte. Nach P rofess u ren in G reifswa l d ( 1 92 1 ) und Bonn (1 922) erhielt e r 1 926 einen Ruf a n die Handelshochsch u l e Berl in. Schm itt war ein extrem konservativer I ntel lektue l l e r, dessen Wirku ng weit über sein Fach h i n a u s reichte. Bereits i n seiner erstmals 1 923 ersch ienenen g r u n d l egen­ den Abha n d l u n g "Die g eistesgeschichtliche Lage des heutigen Parl a m e nta rism us" erwies er sich als ein scha rfer Kriti ker der Wei m a rer Repu b l i k. Aufgrund seiner a nti­ l ibera l en, ja a utoritären Ges i n n u n g warf er ihr feh l ende pol itische Homogenität und einen Mangel a n staatliche Ein heit verbü rgender Su bsta nz vor. Gleichzeitig setzte er sich fü r die pleb iszitä r legitimierte Gewa lt des Reichspräsidenten ein, in dessen Amt er die wa h re Souverän ität verkörpert sah, weil es m it dem Recht über die Verh ä n g u n g des Aus n a h m ezusta nds verbunden war. Dementsprechend ver­ trat er auch die Reichsreg ierung im Staatsgerichtsverfa h ren um den so genan nten Preußenschlag, die Absetzung der g eschäftsfü h renden preußischen Reg ierung a m 20. Juli 1 932, und begrü ßte auch die Errichtu ng des nationalsozial istischen Herrschaftssystem s nach 1 933 sowie die spätere Expansionspolitik des " D ritten Reiches", wenng leich er sich seit Ende 1 936 aus dem öffentlichen Leben zurück­ zog .

Bewunderung

Für manche hatte das parlamentarische System der Weimarer Republik

Mussolinis

Ende der zwanziger/Anfang der dreißiger Jahre sogar derart abgewirtschaftet, dass sie den Wunsch nach einem starken Mann äußerten. Symptomatisch hierfür war die Bewunderung, die dem italienischen Diktator Benito Musso­ lini ( 1 883-1 945) damals bis weit in das demokratische Milieu hinein entgegen­ gebracht wurde. In keinem anderen europäischen Land wurde bis 1933 so viel über den italienischen Faschismus geschrieben und gesprochen wie in Deutschland. Und eben längst nicht nur Nationalsozialisten zeigten sich be-

3. Gesellschaft in der Krise

eindruckt vom faschistischen System, das nicht nur eine effektivere Alternative zum parlamentarischen Parteienstaat zu bieten schien, sondern dessen korpo­ rativistisches Wirtschaftssystem auch den Klassenkampf und damit den Mar­ xismus, ja soziale Konflikte überhaupt, überwunden zu haben schien. Wäh­ rend SPD und KPD in klarer Gegnerschaft zum faschistischen Staat standen, seine Gefahr aber unterschätzten, weil sie aufgrund der eigenen marxistischen Überzeugung von der Gesetzmäßigkeit des Klassenkampfes eine Übertragung auf deutsche Verhältnisse ausschlossen, zeigten sich Angehörige der bürgerli­ chen Mitte, des politischen Katholizismus und der politischen Rechten sehr wohl offen für die Parole des "Italia docet", die der jungkonservative Publizist Moeller van den Bruck bereits unmittelbar nach Mussolinis Marsch auf Rom im November 1 922 ausgegeben hatte. Hiervon konnten sich selbst zwei so prominente liberal-demokratische Publizisten wie Emil Ludwig ( 1 88 1 - 1 948) und Theodor Wolff ( 1 868- 1 943) nicht freimachen: Auch sie kehrten nach Gesprächen mit Mussolini begeistert aus Rom zurück und feierten den "Duce" sowie dessen autoritäres System, das ihnen auch ein Ausweg aus der aktuellen deutschen Krise zu sein schien. Die Tragweite dieser Äußerungen wurde nicht dadurch gemindert, dass beide hier­ mit keinerlei Sympathie für den Nationalsozialismus verbanden, ja diesen ge­ rade schwächen wollten. Unternehmer wiederum empfanden zumindest nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zunehmend Sympathien für das faschistische Modell einer korporativ organisierten Gesellschaft. Politiker und Journalisten aus dem Lager von Zentrum und BVP ihrerseits machten seit dem Konkordat zwi­ schen dem faschistischen Staat und dem Vatikan im Februar 1 929 ihren Frie­ den mit Mussolini, den sie zunächst wegen seines diktatorischen Charakters, aber auch aufgrund seiner Südtirolpolitik abgelehnt hatten. Schließlich schwanden angesichts der ökonomischen und politischen Krise im eigenen Land dann auch die ursprünglichen Vorbehalte der nationalkonservativen Rechten gegen den italienischen Faschismus, die sich ursprünglich ebenfalls aus den entgegengesetzten Interessen in der Südtirolfrage ergeben hatten. Nun stellte man hier die bisherigen nationalistischen Ressentiments hintan und schätzte den antidemokratischen und antisozialistischen Charakter des autori­ tären Systems in Italien. Alles in allem reflektierte das in größeren Teilen der deutschen Gesell­ schaft Ende der zwanziger/ Anfang der dreißiger Jahre verbreitete "philofaschi­ stische Meinungsklima" die zunehmend virulenten antidemokratischen Res­ sentiments am Ende der Weimarer Republik, und gleichzeitig trug es auch zur weiteren autoritären Entwicklung der ersten deutschen Demokratie, ja "zu­ mindest indirekt zur Ermöglichung Hitlers" bei (Wolfgang Schieder) . Ausgangs der Weimarer Republik zeigte sich, dass weit über die politi­ schen Parteien hinaus generell in der deutschen Gesellschaft der republikani-

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Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

sehe Grundkonsens verloren zu gehen drohte. Dieser war ja 1 9 1 8/ 1 9 ohnehin schwer zu stiften gewesen. Der Verlust der Mehrheit jener die Verfassung uneingeschränkt bejahenden "Weimarer Koalition" in den Reichstagswahlen vom Juni 1 920 hatte dann bereits frühzeitig gezeigt, wie fragil die gesellschaft­ liche Basis der jungen Republik war. Immerhin hatte die zumindest vorder­ gründige politische und wirtschaftliche Erholung Deutschlands zwischen 1 924 und 1 929 die Stimmen jener vorherrschen lassen, die die Republik eindeutig bejahten oder sich zumindest mit ihr arrangiert hatten. Seit Beginn der Welt­ wirtschaftskrise und deren Übergang in eine umfassende Staatskrise schwand diese Akzeptanz jedoch sukzessive, gewannen die Kritiker der Weimarer Re­ publik von Tag zu Tag wieder mehr Bedeutung und Gehör, seien es nun jene Republiktreuen, die sich von ihren Reformvorschlägen eine Stärkung der De­ mokratie erhofften, oder jene, die nun endgültig den Weg für eine Fundamen­ talrevision des ihnen verhassten Staatswesens frei sahen. Rechtsruck in bürger-

Ein weiteres Symptom dieser Krise, in die der deutsche Parlamentarismus

Iichen Parteien

damals geriet, war der Rechtsruck, der in allen Parteien der bürgerlichen Mitte zu verzeichnen war: Bereits im Oktober 1928 wurde der ehemalige Krupp-Di­ rektor und Medienzar

Altred Hugenberg

zum neuen Parteivorsitzenden der

DNVP gewählt. Damit einher ging eine tiefgreifende politische Kursänderung hin zur radikal nationalistischen Obstruktionspolitik: Die DNVP verweigerte sich fortan nicht nur jeder Regierungskoalition, sondern attackierte auch vehe­ ment die Stresemann'sche Verständigungspolitik. Im Dezember 1928 bekam dann auch das Zentrum mit dem Prälaten

Ludwig Kaas

einen neuen Vorsitzen­

den, der nicht nur wieder stärker den Katholizismus als einigendes Element der Partei betonte, sondern auch für tiefgreifende Änderungen des Parlamentaris­ mus eintrat. Im Jahr darauf vollzog schließlich die DVP ebenfalls einen Rechts­ schwenk: Dem verstorbenen Parteivorsitzenden Stresemann folgte mit Ernst Scholz ( 1 874-1 932) ein Mann, der sich deutlich von den bisherigen Grundlagen volksliberaler Politik entfernte: Kompromissbereitschaft gegenüber der SPD im Innern, Verständigungspolitik gegenüber den Siegermächten nach außen. Stichwort

Alfred H u g e n be rg

( 1 865-1 95 1 ) war J u rist u n d Vol kswirt u n d gehörte bereits 1 890 zu den Gründern des extrem national istischen All deutschen Verbandes. 1 909 schied er aus dem Staatsdienst a u s u n d wurde Vorsitzender der Fried rich Kru pp KG. Ü berdies ba ute er schon bald einen eigenen Pressekonzern auf. 1 9 1 9 gab er sein Amt bei Kru pp auf u n d wurde Reichstagsabg eordneter der DNVP. 1 928 übernahm er den Partei­ vorsitz und fü h rte die DNVP noch weiter nach rechts. Mit der Parole ,. Block, n icht Brei" betrieb er eine Funda menta l o p position und bekäm pfte auch m it H i lfe seines Presseim peri u m s rücksichtslos das parl a m e ntarische System der Wei m a rer Repub­ l i k u n d deren angebl iche ,. Erfü l l ungspolitik" gegen ü ber den Siegermächten.

3. Gesellschaft in der Krise

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Stichwort

Ludwig Kaas

( 1 88 1 -1 952) g i n g nach dem Besuch des Priestersem i n a rs i n Trier nach Rom, wo er 1 906 zum Priester geweiht wurde. 1 9 1 8 wurde er Professor fü r Kirche n recht i n Trier, 1 9 1 9 fol gte eine Berufu n g n a c h Bonn. Mit s e i n e r Wa h l i n die Verfassungge­ bende Nationa lversa m m l ung im selben J a h r fü r die kathol ische Zentru mspartei, deren Fraktion er d a n n auch i n den folgenden Reichstagen bis 1 933 angehörte, beg a n n Kaas eine pol itische Ka rriere. Er konzentrierte sich in seiner parlamentari­ schen Arbeit a uf die Sicherung und Wa hrung der Rechte und P rivi legien der ka­ thol ischen Kirche. 1 928 wurde er als Kom p rom isskand idat der g e m ä ß igten Rech­ ten gegen den Gewerkschaftsfl ügel der Pa rtei zum Vorsitzenden des Zentru ms g ewä h lt. D u rch verstä rkte Anlehnung a n die kathol ische Kirche versuchte er, die Position der eigenen Partei zu festigen. Gleichzeitig trat er fü r ein Zusa m m enge­ hen m it der NSDAP ein. Dementsprechend bemü hte er sich nach der national so­ zial istischen Reg ieru ngsüberna h m e i m J a n u a r 1 933 auch - vergebl ich - u m eine Bete i l i g u n g a n der Reg ieru n g s koa l ition. Anfa n g April 1 933 g i n g Kaas i n den Vati­ ka n nach Rom, wo er bis zu seinem Tod bl ieb.

Den verbreiteten Trend zur Abkehr vom hergebrachten politischen System der Weimarer Republik und die Hinwendung zur neuen Zeit, die vermeintlieh eine andere politische Ordnung forderte, spiegelt selbst die Entwicklung der linksliberalen DDP, also einer Partei, die einst die Trägerin der Weimarer Republik schlechthin gewesen war: Angesichts der zunehmenden Verluste von Mitgliedern und Wählern und mit Blick auf die anstehenden Reichstagswahlen schloss sie sich im Juli 1 930 mit der aus dem Orden

Jungdeutschen

hervorgegangenen Volksnationalen Reichsvereinigung zur Deutschen

Staatspartei zusammen. Stichwort

J u ngdeutscher Orden

Die a uch .,J u ngdo" g e n a n nte nationale Vere i n i g u n g wurde 1 920 von dem konser­ vativen Pol itiker Art h u r Mahraun ( 1 890-1 950) a l s nationaler Weh rverband gegrün­ det. Er hatte zwischen 1 925 und 1 929 zwischen 1 50 000 und 200 000 M itg l ieder, die ü berwieg end aus dem M ittelsta nd ka men u n d d u rch das ., Fronterlebn is" i m Ersten Weltkrieg geprägt waren. Der J u ngdeutsche Orden pfl egte eine dem m it­ tel a lterlichen Deutschen Ritterorden nachempfu ndene Org a n isation und Lebens­ weise - Mahraun n a n nte sich ., Hochmeister" - und setzte sich fü r einen j u n g deut­ schen Vol ks- und F ü h rerstaat ein. Trotz seiner antiparl a m e ntarischen und antikapi­ tal istischen Ziele leh nte er die Monarchie a b u n d beka n nte sich seit M itte der zwa nziger J a h re zur präs idial-dem okratischen Repu b l i k. Ü berdies trat er fü r eine deutsch-fra nzösische Aussö h n u n g e i n . I m Juli 1 930 fusionierte der parteipol itische Arm des J u n g deutschen Ordens - die Vol ksnationale Reichsvere i n i g u n g - m it der DDP zur Deutschen Staatspartei, trat a l lerd i n g s wenige Monate s päter aus Enttä u­ schung über den Misserfolg der neuen Partei bei der Reichstagswa h l i m Septem­ ber 1 930 wieder aus u n d u nterstützte i n der Folgezeit Reichspräsident H i nden-

Deutsche Staatspartei

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Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

b u rg und die von i h m i n itiierten Präsi d i a l reg ieru ngen. Im J u n i 1 933 wurde der J u n g deutsche Orden von den neuen nationalsozial istischen Machthabern verbo­ ten .

Die Deutsche Staatspartei bekannte sich zwar einerseits weiterhin zur Weimarer Reichsverfassung, betonte indes andererseits allein schon durch ihre Namensgebung jene verbreitete Wendung von individueller Freiheit hin zur Stärkung des Staates. Dazu passte auch ihre Kritik an der bisherigen Partei­ politik, der sie vorwarf, nicht die zur Überwindung der Krise notwendige "volksnationale Geschlossenheit" geschaffen zu haben. Die Staatspartei löste sich zwar bereits bald wieder auf, weil die ihr innewohnenden Tendenzen auf Dauer nicht zusammenpassten. Dennoch kommt der Konversion der DDP pa­ radigmatische Bedeutung zu für jene damals verbreitete Neigung zur Abkehr vom bisherigen politischen System und der Suche nach einer anderen politi­ schen Ordnung, die Deutschland scheinbar besser anstünde als der westliche Parlamentarismus. Solche Überzeugungen fanden sich eben beileibe nicht nur bei den alten Gegnern der Republik oder den enttäuschten Verlierern der Wirtschaftskrise, sondern weit darüber hinaus auch in einem Kreis von Intel­ lektuellen, Politikern und Wissenschaftlern, die sich entweder von Beginn an oder zumindest in den letzten Jahren zur Weimarer Republik bekannt hatten. Autoritäre Wende

Die "Politik der autoritären Wende" (Detlev Peukert) der Präsidialkabinette in den Jahren 1 930 bis 1933 förderte diese negative Entwicklung zusätz­ lich, indem sie den Parlamentarismus durch ihre fehlende Anbindung an den Reichstag sukzessive aushöhlte und durch unpopuläre ökonomische Entschei­ dungen den radikalen Parteien weitere Anhänger zutrieb: Dem "stillen Verfas­ sungswandel" seit der ersten Regierung Brüning folgte spätestens mit der Be­ rufung Papens im Frühjahr 1932 ein faktisches "Hinübergleiten in die Präsi­ dialdiktatur"

(Jürgen Falter) .

Parallel hierzu erstarkten

die radikalen

Republikgegner von links und von rechts immer mehr. Das belegen die ent­ sprechenden Wahlergebnisse eindeutig: Im Dezember 1 924 hatten extreme Linke und Rechte zusammen rund 12 Prozent, im Mai 1 928 kamen sie kaum darüber hinaus, während sie dann im September 1930 fast 32 % der Reichstags­ mandate auf sich vereinigten, ihren Anteil im Juli 1932 sogar auf rund 52 % steigerten und auch im November 1 932 nur unwesentlich auf 50 % absanken.

Mmf!li!W Reichs i n n e n m i n iste r Carl Severing im Dezember 1 929 Quelle: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 8 (1 960), S. 281-289.

"Seit der N ichterneuerung des Repu b l i ksch utzg esetzes [28. J u n i 1 929] verg eht ka u m ein Tag, a n dem n icht irgendwo i n Deutschland, zumeist a n m e h reren Stel­ len, auf pol itisch Andersde n kende g eschossen, eingesch lagen oder eingestochen wird. Der Zusta nd staats b ü rgerlicher Sicherheit hat einen beklagenswerten Tief-

3. Gesellschaft in der Krise

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p u n kt erreicht und s i n kt täg l ich m e h r. Die U rsache d ieser betrü benden Erschei­ n u n g ist hem m u n g slose Verhetzung d u rch Wort und Sch rift, die von den Geg nern der Repu b l i k auf der äußersten Linken u n d auf der ä u ßersten Rechten getrieben wird. [. . . ] Im folgenden wird eine Auswa h l von Beispielen fü r die von rechts u n d l i n ks beliebte H etze, die i n den letzten Monaten d u rch kein Rep u b l i kschutzgesetz gezügelt werden kon nte, gegeben. [ . . . ] Am 1 6. 8 . bezeichnete der Kom m u n ist Ro­ g a l l a in einer öffentlichen Versa m m l u n g der National-Sozial isten in Wa n n e-Eikel (Westfa len) die Rep u b l i k a l s einen ,Sa u- und Schweinesta l l '. [ . . . ] Gelegentlich des Sta h l h e l mtages i n Brandenburg a m 3 1 . 8. bezeichnete der La ndwirt Oswa l d Herter die Reichsfa rben öffentlich als ,schwarz-rot-scheiße'. [ . . . ] l n einer öffentlichen kom­ m u n istischen Versa m m l u n g i n Freiheit (Kreis Osterode, Reg .-Bez. H i l desheim) a m 1 4. 9 . rief der Arbeiter Schubert i n bezug a u f die M i n ister Severing und Wisse l l : ,Hä ngt s i e a n den B a u m ! ' [. . . ] D i e F o l g e solcher beschim pfenden, verhetzenden Äußerungen, deren Steigerung nicht m e h r m it M itte l n der Sprache, sondern nur noch m it denen der Gewa lt mögl ich ist, ist eine Aufwü h l u n g der pol itischen Lei­ denschaften, die d a n n letzten Endes i n der Beg e h u n g von Gewa lttätig keiten i h re Entl a d u n g fi ndet. Eine kei neswegs l ü cken l ose Zusa m m enste l l u n g von Zusa m men­ stößen in der letzten Zeit mag a l s Beweis dafür folgen: [ . . . ] Am 25.8. wurden in Essen vier von einer Vera nsta ltung des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold kom­ mende M itg l ieder d ieses Verbandes a uf i h rem H e i mwege von Nationalsozial isten ü berfa l l e n . Die Nationalsozial isten rissen ihnen die Abzeichen des Reichsbanners ab u n d zerfetzten zum Tei l i h re Kl eidung. Die m itg efü h rten Musikinstrum ente wur­ den zertrü m m e rt; ein Reichsba nnermitgl ied erhielt m it einem Schlagring einen H ieb über den Kopf. Am 1 . 9. 1 929 ü berfielen i n Köl n e i n i g e Kom m u n isten zwei der H itlerjugend ang ehörende j u n g e Leute u n d verl etzten einen d u rch Messerstiche i n die H a n d . [ . . . ] Am 6. 9. wurde i n Köl n ein Angehöriger der Lützowjugend von Kom m u n isten schwer m isshandelt. Am g l eichen Tag ka m es in Ora n i e n b u rg zu einer Schlägerei zwischen 25 Nationa l sozial isten, die i n ein von der KPD ben utztes Versa m m l u ngslokal ei nzutreten beg e h rten, und Anhängern der KPD. Dabei fa n­ den Messer, Spaten und andere g efä h rl iche Werkzeuge Verwendung, sodass ver­ schiedene Personen verletzt wurden. Am 8. 9. wurden in Berl i n am Witten berg­ Pi atz j ü d isch aussehende Passanten von Anhäng ern der N S DAP ü berfa l l e n und ge­ sch lagen. [ . . . ] Am 1 7. 1 1 . wurden M itg l ieder der SPD in Breslau, a l s sie die auf den B ü rgersteigen fü r i h re Partei angebrachten u n d von den Kom m u n isten abgeänder­ ten Wa h l a ufsch riften wiederherste l l e n wol lten, von etwa 30 Kom m u n isten a n g e­ g riffen. Der Sozia ldemokrat Fischer wu rde dabei m it einem Ka l kpinsel ins Gesicht g esch lagen und der Kel l ner Schröter d u rch einen Tritt vor den Leib so schwer ver­ l etzt, dass er später daran sta rb. [. . . ] ."

Die starke Stellung der systemfeindlichen Kräfte im Reichstag aber zerstörte jene parlamentarische Kultur der Kommunikation und Kooperation, die sich hier über die Parteigrenzen hinweg sowie ungeachtet politischer Mei­ nungsverschiedenheiten in den letzten Jahren herausgebildet hatte, und legte die Arbeit der wichtigsten Volksvertretung in der Weimarer Republik vollends lahm: "Nach 1 930 erschienen [die] Momente der institutionellen Kommunikation sozusagen im Negativbild. Gerade das Fehlen von Normalität, das Nicht-Gelingen und die Verweigerung von Kommunikation, der Zusammenbruch der Regelgeflechte lässt Schlüsse zu auf die Bedingungen ihres Funktio-

Parlamentarische Kultur

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Deutsch land und die Weltwirtschaftskrise 1 929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

nierens. Während ,draußen' mehrere nebeneinander bestehende politische Kulturen minorisiert wurden oder die Sprachfähigkeit verloren, gilt im Reichs­ tag, dass hier eine hegemoniale Kultur zerstört wurde. Ab 1 930 zeigte sich die Zerstörung der Republik als Kollaps der parlamentarischen Kommunikation. [ . ] Dass der Reichstag in der Krise ab 1 93 1 seine Funktion aufgab, ist mithin . .

nicht nur dem Umstand zuzuschreiben, dass ihm diese von außen genommen wurde, sondern auch, dass er kein gemeinsames Regelverständnis mehr her­ stellen konnte. Die Kommunikationstaktik der systemfeindlichen Parteien führte zu einem Verlust der konsensuellen Sprache und von Praktiken, die und sei es nur als Prozedur - regelhafte Politik möglich machten" (Thomas Mergel) . Bürgerkriegsähnliche Zustände

Parallel hierzu entartete die politische Auseinandersetzung seit Ende der zwanziger Jahre zunehmend zur hemmungslosen Diskreditierung politisch Andersdenkender, die überdies im Zuge eines immer blutigeren Straßenkamp­ fes, der fast täglich neue Opfer forderte und bald bürgerkriegsähnliche Züge annahm, im wahrsten Sinne des Wortes als "Feinde" empfunden und dement­ sprechend rücksichtslos bekämpft wurden. Die Konflikte nahmen in den Jahren 1 93 1 und 1 932 noch einmal dras­ tisch zu: Im Sommer 1 9 3 1 zählte man allein in Preußen 300 Todesopfer; im Jahr darauf eskalierte die Gewalt weiter, weil das politische Klima durch die rasche Abfolge von Wahlkämpfen (Reichspräsidentenwahl und zwei Reichs­ tagswahlen sowie etliche Landtags- und Kommunalwahlen) zusätzlich aufge­ heizt wurde: Auf dem Höhepunkt wurden in Preußen nur im Juli 86 Men­ schen getötet und über 1 1 00 verletzt. Dabei agierten vor allem jene paramilitä­ rischen Verbände offensiv, die sich die links- und rechtsradikalen Parteien hielten - seitens der KPD der

Rote Frontkämpferbund,

seitens der NSDAP Stur­

mabteilung (SA) und Schutzstaffeln (SS ) . Gemeinsamer Gegner beider Forma­ tionen wiederum waren neben der Polizei das republiktreue Reichsban ner ,,Schwarz- Rot-Gold"

sowie die hieraus entstehende

Eiserne Front.

Stichwort

Roter Frontkä m pferbund

Erste Ortsg ruppen d ieses kom m u n istischen Ka m pfverbandes wurden im Mai 1 924 i n Th üringen und Sachsen gegründet. 1 928 zäh lte der R F B etwa 1 00 000 M it­ g l ieder. Nebenorgan isationen waren die " Rote J u ngfront", die " Rote Marine" und der " Rote Fra uen- und Mädchenbu nd". An der Sp itze des R F B sta nd seit 1 925 der KP D-Vorsitzende Ernst Thä l m a n n ( 1 886-1 944) . Dieser richtete seine Pa rtei Ende der zwa nziger J a h re ganz a m sowjetischen Vorbild aus u n d vollzog auch die 1 928/29 von der Kom i ntern angeordnete Wiederaufn a h m e des verschä rften Klas­ senka m pfes. Zum " H a u ptfeind" wurde nun die SPD erkl ä rt, die 1 9 1 8 die Arbeiter verraten habe sowie eine H a u ptstütze des Ka pita l i s m u s und fol g l ich a uch des Fa­ schismus sei. Dementsprechend g riff der RFB nun verstä rkt die "Sozialfaschisten" sowie die von i h n e n in der Zeit der Großen Koa l ition auf Reichsebene und i m Rah-

3. Gesellschaft in der Krise

men der "Weimarer Koa l ition" i n Preußen g etragene Staatsgewa lt an. Er wurde zwa r i m Frühj a h r 1 929 nach b l utigen Ausschreitungen bei Ku ndgebungen zum 1 . Mai i n Berl i n verboten, doch wi rkte er i l l e g a l weiter oder g a b Männer u n d Waffen an Nachfolgeorg a n isationen wie den " Ka m pfb u n d gegen den Fasch ismus" ab.

Stichwort

Reichsba n n e r "Schwa rz-Rot-Gold"

Die repu b l i ka n ische Sel bstsch utzorg a n isation wurde i m Februar 1 924 von sechs Magdeburger Sozia ldem okraten und je einem M itg l ied der DDP und des Zen­ trums gegründet. Sie erfu h r i n den folgenden J a h ren einen starken Z u l a uf, auch von etl ichen pro m i n enten Pol itikern der Wei m a rer Repu b l i k, sodass sie 1 932 schließl ich 3,S M i l l ionen M itg l ieder u mfasste und d a m it den za h l e n m ä ß i g stärks­ ten pol itischen Ka m pfverband der Wei m a rer Rep u b l i k darstel lte. All erdings feh lte es dem Reichsbanner aufg ru n d seiner parteipol itischen H eterogen ität a n i n nerer E i n heit. Daru nter l itten auch Einsatzbereitschaft und Ka m pfstärke der bis zu 400000 Angehörigen seiner Sch utzform ationen. Dennoch hat das Reichsbanner i n der zweiten Hälfte der zwa nziger J a h re d u rch seine Propag anda zur Stä rku ng der Wei m a rer Demokratie beigetragen u n d d iese Anfang der dreißiger J a h re auch a ktiv gegen die g ewaltsa men Ü berg riffe von KPD u n d N S DAP verteidigt.

Stichwort

Eiserne Front

Das Reichsba n n e r "Schwarz-Rot-Gold" rief zusa m m e n m it S P D, ADGB und dem Ar­ beitersportb und am 1 6. Dezember 1 93 1 in Berl i n die Eiserne Front ins Leben. Ziel war die Koord ination der pol itischen Aktionen der beteil igten Organ isationen, um den rep u b l i ka n ischen Widersta nd zu stä rken. Dies gelang jedoch nur unzurei­ chend: Zum einen geriet die Eiserne Front aufgrund der sozia ldemokratischen Do­ m i nanz i n F ü h rung und Mitg l iedschaft sch n e l l i n den Verdacht, ein "roter Ver­ band" zu sein. Das schwächte i h re Akzepta nz in der Öffentlichkeit. Zum anderen wurde sie einseitig abhängig von den Entscheidungen der S P D-F ü h rung, die wie­ derum i n der Endphase der Wei m a rer Repu b l i k davor zu rückschreckte, die Ka m pf­ bereitschaft der Eisernen Front zur offensiven Verteidigung der Demokratie zu n utzen .

Obwohl man sich vor jedem historischen Determinismus hüten und die Offenheit der historischen Entwicklung in der Endphase der Weimarer Re­ publik betonen sollte, bleibt festzuhalten, dass die erste deutsche Demokratie seit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise auf die abschüssige Bahn geriet und ihr Bestand extrem gefährdet war. Das lag nicht nur an den objektiven vor allem ökonomischen - Schwierigkeiten, mit denen sie nun zu kämpfen hatte, sondern auch an den verbreiteten antidemokratischen, antiparlamen­ tarischen und antirepublikanischen Ressentiments in weiten Teilen der deut-

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I.

Deutsch land und die Weltwi rtschaftskrise 1 929/30: Das Ende trügerischer Stabil ität

sehen Gesellschaft, die letztlich bereits in den Jahren vorher zumindest latent vorhanden gewesen waren, dann angesichts der Wirtschafts- und Staatskrise vollends manifest und schließlich von den Weimarer Systemfeinden skrupellos ausgenutzt wurden.



Auf einen Blick Die Weltwirtschaftskrise u n d die dadurch eingetreten e Verelendung größerer Tei l e der Gese l l schaft war zweife l los eine weitere sta rke Belastu n g der noch jungen Weimarer Demokratie. U m stritten ist dabei zum einen, inwiefern die Krise i n Deutsch land d u rch "ungesundes" Wirtschaftsgebaren i n den Jahren zuvor - zu hohe Ausgaben, wachsende Versch u l d ung, überproportiona l e Steigerung von Löh­ nen u n d Sozia l l eistu ngen - verstä rkt worden ist u n d ob eine a ntizyklische Konj u n ktu rpol itik i n der Krise - m itte ls Arbeitsbeschaffu ngsprogrammen u n d expansiver Geldpolitik - die verheerenden Auswirku ngen der Massena rbeits l osigkeit entscheidend hätten a b m i l dern können. Zum anderen wird kontrovers diskutiert, inwiefern die ökonom ische Krise der Weimarer Repu b l i k den fi nalen To­ desstoß versetzt hat oder ob die sich hieraus ergebende Staatskrise d u rchaus noch hätte überwu n ­ den werden können.

Literatu rh i nweise Fritz Blaich: Der Schwarze Freitag. I nflatio n u n d Weltwirtschaftskrise. M ü nchen 3 1994. D i rk Blasius: Wei mars Ende. Bürgerkrieg und Pol itik 1930-1933. Götti ngen 2005. David F. Crew: Germans on Welfare. Fro m Wei mar to H itl er. N ewYork-Oxford 1998. Jan-Otmar H esse/Roman Köster/Werner Plum pe: Die Große Depression. Die Weltwirtschaftskrise

1929-1939. Fra n kfurt 2014. Harold James: Deutschland in der Weltwi rtschaftskrise 1 924-1 936. Stuttgart 1988.

II. Der Bruch der Großen Koa l ition im März 1930: Absch ied vom Pa rlamenta rismus?

i e Entstehung der Großen Koalition nach

itiierte Volksentscheid, doch bedeutete dies

den Reichstagswahlen vom Mai 1928 of­

am Ende nur einen Pyrrhussieg für die junge

fenbarte einmal mehr die strukturellen

Demokratie, denn deren innenpolitisches

D

Schwächen von Parteiensystem und Parla­

Klima hatte sich durch die neuerliche rechte

mentarismus in der Weimarer Republik. Die

Hetze gegen die Republik weiter verschlech­

Verhandlungen zogen sich nämlich über Wo­

tert. Überdies zeigte die Polemik um den

chen hin und die hieraus resultierende Re­

Young-Pian auch, dass die internationale

gierung war eher ein "Kabinett der Persön­

Verständigungspolitik der letzten Jahre an

lichkeiten" als ein von den beteiligten Par­

ihr Ende zu kommen drohte. Schließlich bra­

teien - SPD, DDP, Zentrum, BVP und DVP -

chen

solidarisch getragenes Bündnis. Gleichwohl

auch die finanz- und wirtschaftspolitischen

angesichts

der Weltwirtschaftskrise

gelang der neuen Regierung mit der Verab­

Gegensätze zwischen den Regierungspartien

schiedung des Young- Pians noch einmal ein

aus: Während die arbeitnehmerorientierte

wichtiger

SPD die unter Druck geratene Arbeitslosen­

außenpolitischer

Erfolg.

Diese

neue Reparationsregelung bot Deutschland

versicherung vor allem durch Beitrags- und

erhebliche Vorteile im Vergleich zum bisheri­

Steuererhöhungen liquide halten wollte,

gen Dawes- Pian. Indes gab seine lange Lauf­

plädierte die arbeitgeberfreundliche DVP für

zeit - bis 1988 - der Agitation der radikalen

eine Verringerung der Zuwendungen für Ar­

Rechten gegen die Republik willkommenen

beitslose. Hierüber kam es im März 1930

Nährstoff. Zwar scheiterte der von ihr in-

zum Bruch der Großen Koalition.

Zeittafel 20.5 . 1 928

Wahlen zum Reichstag

28.6. 1 928

Bildung einer Großen Koa l ition unter Reichskanzler Herma n n M ü l l er

Okt.-Dez.1 928

Ruhreisenstreit

1 1 .2.-7.6. 1 929

Sachverstä ndigen konferenz zur Revision des Dawes-Pians i n Paris unter Vorsitz des Amerikaners Owen D. Young

7.6.1 929

U nterzeichnung des Young-Pians

9.7. 1 929

Bildung eines "Reichsausschusses fü r das deutsche Volksbegehren" gegen den Young-Pian

6.-3 1 .8.1 929

Erste Konferenz i n Den Haag über den Young-Pian

3 . 1 0.1 929

Tod von Außenminister Gustav Stresemann

22. 1 2 . 1 929

Scheitern des Vo l ksbege h rens gegen den Young-Pian

54

II.

Der Bruch der Großen Koa l ition im März 1 930: Abschied vom Pa rlamentarismus?

3 .-20. 1 . 1 930

Zweite Konferenz i n Den Haag über den Young-Pian

1 2 .3 . 1 930

Annahme des You ng-Pians d u rch den Reichstag

27.3.1 930

Rücktritt des Ka binetts M ü l l er

1 . Parteienkoa l ition oder "Ka b i n ett der Persö n l ichkeiten"? Entstehung und Scheitern der Großen Koalition sind als "ein republikani­ sches Lehrstück" (Hagen Schulze) bezeichnet worden. Und in der Tat: Die Ent­ wicklung dieser letzten demokratisch legitimierten und parlamentarisch getra­ genen Regierung der Weimarer Republik ist ein "Lehrstück", allerdings kein zur Nachahmung empfohlenes. Denn alle Gebrechen des damaligen deutschen Parlamentarismus und seiner Akteure kulminierten noch einmal in dieser Re­ gierungszeit. Deren beeindruckende Dauer von 637 Tagen, immerhin die längste, die einem Kabinett zwischen 1 9 1 9 und 1932 beschieden war, täuscht nur vordergründig darüber hinweg, wie innerlich zerrissen, latent zerbrechlich und potentiell handlungsunfähig diese neue Große Koalition war. ReichstagsWahlergebnis

Zunächst schien 1 928 alles für die erfolgreiche Neuauflage eines solchen Regierungsbündnisses zu sprechen: In den Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 legte die SPD im Vergleich zu 1 924 um fast vier Prozent zu und errang mit knapp 30 % und über 1 50 Mandaten ihr zweitbestes Ergebnis seit den Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung im Januar 1 9 1 9 . Dabei profitierte sie von der starken Mobilisierung ihrer Anhängerschaft, ein Um­ stand, der umso mehr zu Buche schlug, als bei dieser Reichstagswahl die nied­ rigste Wahlbeteiligung seit 1 9 1 9 zu verzeichnen war. Den sozialdemokrati­ schen Gewinnen standen deutliche Verluste der Parteien der vorherigen "Bür­ gerblock"-Regierung gegenüber, insbesondere bei der DNVP (6,3 % ) , etwas schwächer bei Zentrum ( 1 , 5 % ) , BVP (0,6 %) und DVP ( 1 ,4 % ). Ebenfalls Stim­ meneinbußen erlitt die bisher oppositionelle DDP ( 1 ,4 % ) . Gewinner war ne­ ben der SPD die KPD, die auf über 1 0 % der Stimmen kam, und etliche klei­ nere Interessengruppen, wie die Wirtschaftspartei, die Landvolk-Partei und die Bauernpartei, die der Weimarer Republik eher feindlich gegenüberstanden und nun 8 % der Stimmen erreichten. Dementsprechend verfügte weder die vorangegangene Mitte-Rechts-Koalition noch die alte Weimarer Koalition aus SPD, DDP und Zentrum über eine Mehrheit. Als Alternativen boten sich ein Minderheitskabinett, eine um die BVP erweiterte Weimarer Koalition oder aber eine Große Koalition von SPD, DDP, Zentrum, BVP und DVP an. Für letztere Kombination schien die deutliche Mehrheit von mehr als 60 % der

Regieru ngsbildung

Reichstagssitze zu sprechen. Dennoch stellten sich die Verhandlungen über die Regierungsbildung als äußerst schwierig heraus: Eigentlich wollten nur SPD und DDP eine solche

1 . Parteienkoal ition oder "Kabinett der Persönlich keiten"?

Koalition. Die DVP hingegen war hierzu lediglich bereit, wenn auch das preu­ ßische Staatsministerium, wo seit 1925 als Sonderfall im Reich eine Weimarer Koalition regierte, entsprechend umgebildet wurde. Das Zentrum wiederum forderte mehr Ministerien, als ihm aufgrund seines Stimmenanteils zustanden. Hinzu kamen sachliche Differenzen in verschiedenen Einzelfragen. Schließlich versuchte der DVP-Vorsitzende Streseman n den gordischen Knoten zu zer­ schlagen, indem er dem SPD-Vorsitzenden Hermann Müller am 23. Juni 1928 in einem Telefonat sowie einem anschließenden Telegramm aus dem Sanato­ rium Bühlerhöhe im Schwarzwald statt einer klassischen Parteienkoalition zu­ nächst die Bildung eines Kabinetts der Persönlichkeiten vorschlug: "Ich glaube nach wie vor, dass ein Zusammenwirken von Sozialdemokraten bis Volkspar­ tei notwendig und möglich ist. Dieses Zusammenwirken wird am besten zum Erfolge führen, wenn Persönlichkeiten aus den Fraktionen der Großen Koali­ tion sich über das Programm klar werden, mit dem sie vor den Reichstag tre­ ten, und ihrerseits mit diesem Programm stehen und fallen. Eine solche Kabi­ nettsbildung entspricht auch dem Geiste der deutschen Reichsverfassung, die nur die persönliche Verantwortlichkeit der Reichsminister, aber nicht die Ver­ antwortlichkeit von Fraktionen kennt." Stichwort

G u stav Stresemann

( 1 878-1 929) wa r erstmals 1 907 a l s Vertreter der Natio n a l l i bera l e n Partei in den Reichstag geko m m e n . Wä h rend des Ersten Weltkriegs war er l a n g e einer der vehe­ m entesten Vertreter eines a n n exion istischen .,Siegfriedens" g ewesen. Des h a l b leh nte i h n auch die neugegründete l i n ks l i bera l e D D P E n d e 1 9 1 8 ab. Daraufh i n g r ü n ­ dete Stresem a n n die natio n a l l ibera l e DVP. I m Laufe der kom m enden J a h re wa ndelte sich der Pa rteivorsitzende vom ., Herzensmonarchisten" zum .,Vernu nftre p u b l i ka­ ner", der den N utzen des neuen Staatswesens anerka n nte und auch bereit war, sich fü r die Rep u b l i k einzusetzen . I m Sommer 1 923 wurde er Reichska nzler und Außen­ m i n ister. Er hatte den M ut, den ebenso erfo l g l osen wie kostspieligen ., passiven Wi­ dersta nd" gegen die fra nzösische Besetzung des Rheinlands zu beenden und eine zwa r schmerzhafte, aber notwendige Wä hrungsreform d u rchzufü h ren. Auch nach dem Verl ust der Ka nzlerschaft Ende 1 923 blieb er bis zu seinem Tod sechs J a h re spä­ ter Auße n m i n ister. in d ieser Zeit, die als .,Ära Stresem a n n " bezeichnet worden ist, fü h rte er Deutsch l a n d an die Westmächte heran, insbesondere auch an den bisheri­ gen ., Erbfeind" Fra n kreich. Er versuchte erstm a l s, das deutsche Revisionsverlangen m it den Sicherheitsbed ü rfn issen der deutschen Nachba rn zu verkn ü pfen. Diesen a u ße n p o l itischen Neuansatz spiegelten die a m 1 6. Oktober 1 925 geschlossenen Verträge von Loca rno, m it denen Deutschland seine Westg renzen anerka n nte und dafü r einen ersten a l l i ierten Tei l a bzug aus dem besetzten Rheinland erreichte. F ü r s e i n e Bem ü h u n g e n erhielt Stresem a n n 1 926 zusa m m e n m it seinem fra nzösischen Amtskol legen Aristide Briand ( 1 862-1 932) den Friedensnobe l p reis. Auch i n der deutschen I n n e n po l itik trat Stresem a n n fü r einen a l l m ä h l ichen Ausg leich der ge­ gensätzl ichen pol itischen Kräfte auf dem Boden der Verfassung e i n .

55

II.

56

Der Bruch der Großen Koa l ition im März 1 930: Abschied vom Pa rlamentarismus?

"Schuss von

Der "Schuss von Bühlerhöhe", wie die Presse Stresemanns Initiative nach

Bühlerhöhe"

Bekanntwerden nannte, brachte die festgefahrenen Koalitionsverhandlungen wieder in Gang und nach einigen weiteren Wirren endlich auch zum glückli­ chen Abschluss. Am 28. Juni 1930 ernannte Hindenburg das neue Kabinett unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Mül ler.

Abb. 3 Das Ka binen M ü l ler I I , eine Erweite­ rung der ,,Weimarer Koa l ition" a u s S P D, Zentrum u n d DDP u m D V P u n d B V P, amtierte vom 28. J u n i 1928 bis z u m 27. März 1930 (sitzend 2. v. I. Reichs­ kanzler Herm a n n M ü l l er, Gustav Stresemann feh lt).

Stichwort

Herma n n M ü l l e r

( 1 876-1 93 1 ) hatte s i c h i n der S P D, der er s e i t 1 893 angehörte, hochgearbeitet: Von 1 903 bis 1 906 wa r er Stadtverord neter in Görl itz g ewesen . Danach wa r er i n den Reichsvorsta nd s e i n e r Partei a ufg erückt und dort fü r die P ressearbeit u n d die Auslandsverb indungen der Partei zustä ndig gewesen. 1 9 1 6 wurde er M itg l ied des Reichstags. 1 9 1 9 gehörte er der Verfassunggebenden Nationalversa m m l u n g an, seit 1 920 d a n n dem neugewäh lten Reichstag, wo er zeitweise Vorsitzender der so­ zialdemokratischen Fra ktion war. Als Reichsa ußen m i n ister u nterzeichnete er am 28. J u n i 1 9 1 9 den Versa i l l e r Friedensvertrag. Von März bis J u n i 1 920 sta nd er erst­ m a l s an der S pitze einer Reg ierung der "We i m a rer Koa l ition" aus S P D, Zentru m und D D P. Von 1 9 1 9 bis 1 929 war er a uch Vorsitzender seiner Partei. M ü l l e r wa r ein bewä h rter F u n ktionär und Org a n isator, dem indes jedes Charisma a b g i n g . Das hätte sein innerparteil icher Kon ku rrent, der pre u ß ische M i n isterpräsident Otto Bra u n (1 872-1 955), d u rchaus gehabt. Ü berdies hatte er bei den para l l e l zur Reichstagswa h l stattgefu ndenen Landtagswa h l e n i n Preußen einen noch deutli­ cheren Sieg erru ngen a l s seine Partei auf Reichsebene. Doch Bra u n kon nte sich gegen M ü l l e r n icht d u rchsetzen, weil er der eigenen Partei zu u n bequem und machtbewusst war.

1 . Parteienkoal ition oder ,.Kabinett der Persönlich keiten"?

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Weitere SPD-Politiker im Kabinett waren Innenminister Carl Severing ( 1 875- 1 952), Finanzminister Rudolf Hilferding und Arbeitsminister Rudolf Wissell ( 1 869-1 962 ) . Für die DVP traten Gustav Stresemann, erneut als Außen­ minister, und Julius Curtius ( 1 877- 1 948), als Wirtschaftsminister, dem Kabi­ nett bei, vom Zentrum Theodor von Guerard ( 1 863- 1 943) als Minister für Ver­ kehr und die besetzten Gebiete, für die BVP Postminister Georg Schätze! ( 1 874-1 934) und schließlich für die D D P Justizminister Erich Koch-Weser und Ernährungsminister Hermann Dietrich ( 1 879- 1 954) . Dazu kam der parteilose Reichswehrminister Wilhelm Groener ( 1 867-1939). Wie gesagt, dies war ein "Kabinett der Persönlichkeiten", mit der bizarren Konsequenz, dass zumindest Zentrum und DVP erklärten, dass sie sich an die Regierungsvereinbarung nicht gebunden fühlten und sich eine Opposition gegen etwaige Regierungsbe­ schlüsse vorbehielten. Zu Recht bezeichnete das "Berliner Tageblatt" daher be­ reits damals die Große Koalition als "ein Kabinett mit eingebauter Dauerkrise". Tatsächlich drohte die Koalition in den beiden folgenden Jahren wiederholt auseinander zu fallen. Im Februar 1 929 trat das Zentrum sogar vorübergehend aus der Regierung aus, um seiner ultimativen Forderung nach zwei weiteren Ministerposten Nachdruck zu verleihen. Hierin glaubte Reichskanzler Müller bereits ein unheilvolles Menetekel für das politische Klima in Deutschland zu sehen: "Der Austritt des Zentrums aus der Regierung hat im deutschen Bürger­ tum diejenigen Strömungen gestärkt, die in Anbetracht von Uneinigkeiten der auf dem Boden der Verfassung stehenden Parteien und der dadurch bedingten Ohnmacht des Reichstages das Heil von einer überparteilichen starken Regie­ rung erwarten." Erneut war es Stresemann, der seine ganze Autorität einsetzte, um den Widerstand gegen diese Forderung vor allem in der eigenen Partei der DVP - zu überwinden. Am Ende konstituierte sich die Große Koalition im April 1 929 erneut - mit drei Zentrumsministern und immerhin nunmehr mit der formellen Zustimmung aller vier beteiligten Parteien zu dieser Regierung. Das spätere Scheitern der Großen Koalition lässt sich zwar keineswegs zwangsläufig aus ihren Geburtswehen ableiten, dennoch bleibt der Tatbestand, dass sich die erklärte Distanz der Parteien und deren Reichstagsfraktionen zu den Ministern aus ihren eigenen Reihen als eine schwere Hypothek für ihren Bestand erweisen sollte. Das latente Spannungsverhältnis zwischen Kabinett und Parlamentariern selbst der Koalitionsparteien trieb bereits im Sommer/ Herbst 1 928 eigenartige Stilblüten - beispielsweise bei der Entscheidung über den Bau des so genannten Panzerkreuzers A. Stichwort

Panzerkreuzer A

I m Versa i l l e r Vertrag vom 28. J u n i 1 9 1 9 hatten die Siegerm ächte des Ersten Welt­ krieges Deutschland erhebliche Rüstu ngsbesch rä n kungen a uferlegt. Dazu zäh lten neben einem 1 00 000-Man n-Heer aus Berufssoldaten auch eine Begrenzung der

Distanz der Regierungsparteien

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II.

Der Bruch der Großen Koa l ition im März 1 930: Abschied vom Pa rlamentarismus?

Marine auf 1 5 000 M a n n, deren Bewaffn ung, einschließl ich der zugelassenen Er­ satzbauten fü r vera ltete Sch iffe, genau festgel egt war. Nachdem die Marinelei­ tung zunächst verschiedene kleine Kreuzer, Zerstörer und Torpedoboote d u rch neue Mode l l e ersetzt hatte, entschied sie sich i n der zweiten Hälfte der zwa nziger J a h re a uch zur Erneuerung der veralteten g rößeren Kriegssch iffe der i m Friedens­ vertrag erl a u bten 1 0 000-Tonnen-Kiasse. Als Ersatz fü r das außer Dienst g estel lte Lin iensch iff " P reußen" (Bauj a h r 1 903) sol lte die erste Einheit der neuen Sch iffsse­ rie, das Panzersch iff A, im Hausha ltsj a h r 1 928/29 auf Kiel g e l egt werden.

Der militärische Nutzen eines solchen Schiffs - dessen vorgebliche Befähi­ gung zum Küstenschutz in der Ostsee - war durchaus umstritten. Auch war die Finanzierung zunächst ungeklärt. Hinzu traten Sorgen wegen etwaiger ne­ gativer außenpolitischer Auswirkungen dieser rüstungspolitischen Maß­ nahme. Dementsprechend hatte bereits die vorherige Reichsregierung Marx 1927 zwar den Bau beschlossen, ihre Entscheidung aber wegen finanzieller Probleme nicht mehr umsetzen können, zumal auch der Reichsrat unter Füh­ rung des sozialdemokratisch dominierten Preußens Einspruch gegen den Bau erhob. Das Kabinett Müller indes schob alle Einwände beiseite und entschied am 10. August 1 928 überraschend, die alte Regierungsentscheidung zugunsten des neuen Schlachtschiffs nun umzusetzen, zumal die Finanzierung mittler­ weile durch Umschichtungen im Wehretat gesichert war. Abstimmung im Reichstag

Allerdings zog ihr das erheblichen Protest zu: Während die bürgerlichen Parteien DDP, Zentrum und DVP den Bau billigten, opponierten SPD und KPD entschieden. In der SPD bestritt man nicht nur die Notwendigkeit eines solchen Panzerkreuzers, sondern fürchtete auch, der KPD -Propaganda in die Hände zu spielen: Kommunisten und Sozialdemokraten hatten den Wahl­ kampf im Frühjahr 1 928 gemeinsam mit der demagogischen Parole "Kinder­ speisung statt Panzerkreuzer" geführt und damit die Frage des Panzerkreuzer­ Baus gegen die populärere Forderung nach einer kostenlosen Kinderspeisung an Volksschulen ausgespielt. Stimmte die SPD der Regierungsvorlage jetzt doch zu, drohte ihr der Vorwurf der Wahlkampflüge. Kippen konnte sie sie indes nicht, weil sie außer in der KPD in dieser Frage keinen Verbündeten hatte. Letztlich stimmte denn auch Mitte November 1928 eine bürgerliche Mehrheit im Reichstag dem Bau des Panzerkreuzers zu. Allerdings zwang die SPD-Fraktion Reichskanzler Müller und die übrigen SPD-Minister, in der entscheidenden Abstimmung von der Regierungsbank aufzustehen, ihre Ab­ geordnetensitze einzunehmen und dann gegen die Vorlage zu stimmen, die sie eigentlich mit initiiert und für deren Annahme sie in der vorherigen Debatte plädiert hatten. Es war dies ein ebenso entwürdigendes wie lächerliches Schau­ spiel, das jene in ihren Ressentiments bestätigen musste, die das Parlament für eine Schwatzbude und die Regierungsvertreter für willenlose Werkzeuge ein­ seitiger Parteieninteressen hielten.

2. Außen politischer Erfolg und innenpol itische Hypothek:

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2 . Au ßen pol itisch er Erfolg u n d i n n e n p o l itische Hypothek: Der You n g-Pian 1 929 In den kommenden Monaten brachte die Große Koalition immerhin den Young-Plan über die parlamentarischen Hürden - der größte außenpolitische Erfolg, ja der größte Erfolg dieser Regierung überhaupt und eigentlich der ein­ zige Kitt der heterogenen Koalition. Stichwort

Young-Pian

Er wurde a m 7. Juni 1 929 i m Ra h m e n einer i nternationalen Sachverstä ndigenkon­ ferenz i n Paris m it Vertretern aus Großb rita n n ien, Fra n kreich, Belg ien, Ita l ien, Japan u n d den U SA, die seit Februar getagt hatte, u nterzeichnet u n d wa r, wie bereits der Dawes-Pian von 1 924, erneut nach einem a m e rikanischen Ban kier, Owen D. You n g ( 1 874-1 962) - dem Vorsitzenden der Pariser Konferenz - benan nt. Objektiv be­ trachtet bedeutete er fü r Deutsch land einen Fortschritt: Die endg ü ltige Repa rati­ onss u m m e wurde n u n auf 1 1 2 M i l l ia rden Mark festg el egt, za h l b a r i n 58 J a h resraten bei deutlich gering eren Beträgen, als sie der Dawes-Pian vorgesehen hatte: Von 1 ,7 M i l l iarden Goldmark sol lten sie langsam auf 2,4 M i l l ia rden steigen, um gegen Ende der La ufzeit wieder a uf 1 ,7 und zul etzt sogar auf 0,9 M i l l iarden zu fa l l e n . Zudem ver­ teilten sich die j ä h rl ichen Za h l u ngen auf einen "gesch ützten" u n d einen " u n g e­ schützten" Tei l . Wä h rend letzterer u n bedingt u n d fristgerecht zu beza h l e n war, kon nte die Reichsreg ierung bei ersterem notfa l l s einen Aufsch u b von zwei J a h ren beantragen. Geriet Deutschland i n Za h l u n g sschwieri g keiten, kon nte es ü berdies einen i nternationalen Sachverstä ndigenausschuss a n rufen. Dieser m u sste i m Fa l l e e i n e r deutschen Za h l u ngsu nfä h i g keit Vorschläge fü r eine Revision d e s Young-Pians u nterbreiten. Sch ließl ich war vorgesehen, dass bei einem a m erika n ischen Sch ul­ denerlass gegenüber den i ntera l l iierten Sch uld nern der USA h iervon zwei D rittel auf die deutsche Reparationslast angerech net werden sol lte. Dies a l les m usste die p rekä re fi na nzie l l e und wirtschaftliche Lage Deutsch lands sta bil isieren u n d seine i nternationale Kreditwürd i g keit erhalten. G l eichzeitig verzichteten die A l l i ierten a uf a l l e Wirtschafts kontro l l e n und verpfl ichteten sich auf einer Folgekonferenz in Den Haag, das Rheinland vorzeitig zum 30. J u n i 1 930 zu rä u m e n .

Trotz seiner Vorzüge erwies sich der Young-Plan als eine schwere innenpolitische Hypothek: Die endgültige Regelung der Reparationsfrage wurde nämlieh von der innenpolitischen Agitation und Hetze in Deutschland überlagert. Besonders die lange Laufzeit des Plans lieferte einem "Reichsausschuss für das Volksbegehren" gegen den Young-Plan aus DNVP, dem Frontkämpferverband "Stahlhelm", der aufsteigenden NSDAP und weiteren Rechtsgruppen Munition für seine Agitation gegen diesen "Neuen Plan". Er formulierte den Entwurfeines "Gesetzes gegen die Versklavung des deutschen Volkes", das Reichsminister und ursprünglich sogar den Reichspräsidenten mit Zuchthausstrafen bedrohten, sollten sie den Young-Plan unterzeichnen und überhaupt noch weiter Repara-

Volksbegehren gegen den You ng- Pian

60

II.

Der Bruch der Großen Koa l ition im März 1 930: Abschied vom Pa rlamentarismus?

tionen bezahlen. Zudem wurde die Nichtanerkennung des Artikels 23 1 des Ver­ sailler Vertrags, des "Kriegsschuldartikels", und die bedingungslose Räumung aller besetzten Gebiete gefordert. Mittels eines eigenen Pressedienstes, verschie­ dener Kampfschriften und zahlreicher Flugblätter, Handzettel sowie Broschü­ ren und sogar eines besonderen Werbefilms verbreitete der "Reichsausschuss" unter Führung des DNVP-Vorsitzenden Bugenberg seine Hetzpropaganda. Bugenberg und der NSDAP-Vorsitzende Adolf Hitler mussten zwar ge­ genüber den Hindenburg-Anhängern in der DNVP zurückstecken und die Strafandrohung zumindest gegen den Reichspräsidenten zurückziehen. Auch spaltete sich nun ein pragmatischer Flügel um den Vorsitzenden der Reichs­ tagsfraktion, Kuno Graf von Westarp ( 1 864-1 945), von der DNVP ab, weil er nicht nur das Reichsgesetz ablehnte, sondern auch Bugenbergs Fundamenta­ lopposition gegen die ihm verhasste Republik sowie seinen autokratischen Führungsstil. Doch der "Reichsausschuss" war dennoch nicht gänzlich erfolg­ los: Immerhin stimmten am 2. November 1 929 gut zehn Prozent der stimmbe­ rechtigten Bevölkerung für den Gesetzesentwurf und machten damit den Weg für einen entsprechenden Vol ksentscheid frei. Stichwort

Vol ksentsch eid

Art. 73 WRV u n d ein s päteres Ausfü h rungsg esetz sahen die Mög lichkeit eines Vol ksentscheids vor. Dabei kon nte die I n itiative h ierd u rch einerseits vom Vol k - i m Zuge e i n e s Vol ksbegehrens - ausgehen, andererseits v o m Reichspräsidenten, dem Reichsrat oder einem Drittel des Reichstags. Letzteres blieb jedoch eine theo­ retische Mög l ichkeit. Tatsächl ich fa nden Vol ksentscheide i n einer Reihe von Fä l l e n n u r a ufgrund eines Vol ksbegehrens statt. D a b e i m u sste ein Zeh ntel der Sti m m be­ rechtigten beantragen, dass der Reichstag einen von den Antragste l l ern ausgear­ beiteten Gesetzesentwu rf u nverä ndert a n n e h m e n sol lte. Leh nte eine Meh rheit der Abgeordneten dies a b oder nahm den bea ntragten Entwu rf nur i n verä nderter Form an, fa nd ein Vol ksentscheid statt. Dessen Erfolg wa r a l l erdings ang esichts der geforderten Mehrheiten von vornherein unwa h rscheinl ich: Zwa r reichte nor­ malerweise eine ei nfache Mehrheit der abgegebenen Sti m m e n a u s, sol lte jedoch m it dem Vol ksentscheid ein Besch l uss des Reichstags außer Kraft gesetzt werden, m usste überhaupt erst eine Meh rheit der Sti m m berechtigten a n der Absti m m u n g tei l nehmen. D a s betraf n a c h der herrschenden staats rechtlichen Leh re fa ktisch a l l e Fä l l e eines Vol ksentscheides. D a m it brauchten dessen Gegner i h re Anhänger jeweils n u r a ufzufordern, nicht a n der Absti m m u ng teilzunehmen, u m diese schei­ tern zu lassen, zumal es ja o h n e h i n i m m e r eine relativ g roße Za h l von pol itisch Passiven gab. Entsprechend endeten auch a l l e d rei Versuche eines Vol ksent­ scheids m it einem M isserfo l g : 1 926 der kom m u n istisch-sozialdemokratische An­ trag auf entschädig u n g s l ose Enteig n u n g der F ü rstenvermögen, 1 928 der kom m u­ n istische Vol ksentscheid gegen den Bau des Panzerkreuzers A - bereits wegen feh l ender Zusti m m u n g i m Vol ksbeg e h ren - u n d 1 929 sch l ießl ich auch der Ver­ such, die A n n a h m e des Young-Pians zu verh indern.

2. Außen politischer Erfolg und innenpol itische Hypothek:

Der relative Erfolg der rechten Agitatoren des "Reichsausschusses" er­ klärte sich aus der Tatsache, dass auch im Regierungslager, einschließlich der SPD, der Eindruck vorherrschte, Deutschland werde selbst die im Vergleich zum Dawes-Plan geringeren Jahresraten auf Dauer nicht erbringen können, zumal sich Deutschland auf den Haager Folgekonferenzen gegenüber verschie­ denen Staaten - vor allem Polen - zum Verzicht auf die Herausgabe der Liqui­ dationserlöse hatte bereit erklären müssen, die sie bei der Verwertung des im Ersten Weltkrieg beschlagnahmten deutschen Eigentums erzielt hatten. Ent­ sprechend verlasen die deutschen Vertreter in Paris vor der Ratifizierung auch eine Erklärung, in der bereits auf die Revisionsmöglichkeiten des Young-Plans und die noch offenen deutschen Revisionsziele hingewiesen wurde, ohne de­ ren Verwirklichung der Friede in Europa nicht gesichert sei. Reichsbankpräsi­ dent Hjalmar Schacht hatte sogar öffentlich seine Vorbehalte verdeutlicht. Stichwort

Hja l m a r Schacht

( 1 877-1 970) wurde Ende 1 923 Reichswä h rung sko m m issar und Reichsban kpräsi­ dent. in d ieser F u n ktion sp ielte er auch i n den Reparationsverh a n d l u ngen eine wichtige Rolle: Bereits 1 924 hatte er a n den Konferenzen über die Dawes-Pia n-An­ leihe tei l g e n o m m e n . Auf der Pariser Sachverstä ndigenkonferenz 1 929, die das Da­ wes-Abkommen zug u n sten des Young-Pians revidierte, l eitete er die deutsche De­ legation. Allerdings trat er i m März 1 930 demonstrativ von d ieser F u n ktion zu rück, um so gegen die seiner M e i n u n g nach zu g roße Konzessionsbereitschaft der Reichsreg ieru ng zu p rotestieren. Einen Monat später l egte er auch das Amt des Reichsbankp räsidenten n ieder u n d heizte d a m it die i n nenpol itische Kontroverse über die Reparationsza h l u ngen weiter a n . in der Folgezeit rückte Schacht, der 1 9 1 8 M itbeg ründer der D D P g ewesen wa r, a uch pol itisch weiter nach rechts u n d betei­ l igte sich a n der B i l d u n g der " H a rzburger Front", eines B ü n d n isses von "Sta h l he l m ", D NVP und NS DAP. Ü berdies fü h rte er H itler in die Kreise von Großfinanz u n d G roß­ ind ustrie ein und machte ihn d a m it weiter sal onfä h i g . in der Zeit des " Dritten Rei­ ches" wurde er erneut Reichs bankpräsident - 1 933 bis 1 939 - und zusätzlich noch Reichswirtschaftsm i n ister - 1 934 bis 1 93 7 -, bevor er m it den nationalsozial isti­ schen Machthabern brach und Konta kte zu Widersta ndskreisen aufn a h m . 1 947 wurde er i m Ra h m e n eines Entnazifizieru ngsverfa h rens zu acht J a h ren Haft verur­ teilt, jedoch 1 950 vorzeitig entlassen. Danach arbeitete er a l s Privatb a n kier.

Die verbreitete Kritik am Young-Plan unterschlug, dass Deutschland in dem Maße, wie es international kooperierte, bereits in der Vergangenheit zu­ nehmend von den Einschränkungen und Belastungen des Friedensvertrags be­ freit worden war. Insofern war ein Ende der Zahlungen wenn auch noch nicht definitiv, so doch prinzipiell absehbar. Vielleicht scheiterte auch deshalb der Versuch der Rechten, die Annahme des Young-Plans zu verhindern, letztlich doch deutlich: Nachdem der Reichstag wie erwartet mit Mehrheit den Gesetz­ esentwurf des "Reichsausschusses" abgelehnt hatte, wurde für den 22. Dezem-

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II.

Der Bruch der Großen Koa l ition im März 1 930: Abschied vom Pa rlamentarismus?

ber 1 929 ein Volksentscheid angesetzt, der aber mit nur 13,8 % der Stimmen deutlich an der geforderten 50 %-Hürde scheiterte. Repu blikanische

Dennoch verriet die offene, persönlich diffamierende Hetze der Rechten

Außen politik

einen erneuten innen- und außenpolitischen Klimawechsel in Deutschland: Stresemanns Politik internationaler Aussöhnung und Kooperation, die auch der deutsche Beitritt zum Briand-Kellogg-Pakt, einem weltweiten Kriegsäch­ tungsabkommen, Ende August 1928 dokumentiert hatte, wurde in Deutsch­ land zunehmend weniger akzeptiert. Seine "republikanische Außenpolitik" (Peter Krüger) beruhte auf drei Prinzipien: 1. Die Interessen der übrigen Mächte wurden als gleichberechtigte Größen neben dem eigenen Nationalin­ teresse ins außenpolitische Kalkül einbezogen. 2. Deutschland band sich nicht einseitig an den Westen oder den Osten, sondern unterhielt gute Beziehungen sowohl zu den Westmächten als auch zur Sowjetunion, wobei allerdings finan­ zielle Abhängigkeiten und ideologische Gemeinsamkeiten im Zweifelsfall für eine stärkere Orientierung nach Westen sprachen. 3. Die deutsche Außenpoli­ tik bemühte sich, Spannungen zu vermeiden oder durch gegenseitige Kompro­ misse zu beseitigen. Dementsprechend stützten sich ihre Revisionsforderun­ gen auch nicht auf militärische Gewalt, sondern auf die eigene Finanz- und Wirtschaftskraft Insofern praktizierte Stresemann zwar durchaus auch Macht-, ja Hegemonialpolitik, doch nicht in der traditionellen Variante von militärischer Drohung und kriegerischem Einsatz, sondern mit den neuen Mitteln ökonomischer Abhängigkeit und Durchdringung. Prämisse dieser Politik war die Einsicht in die internationale Interdependenz und die daraus resultierende Notwendigkeit des Multilateralismus: Zwischenstaatliche Koope­ ration und umfassende Vernetzung sollten die Verfolgung des nationalen In­ teresses international verträglich machen. Stresemanns außenpolitischer Kurs hatte Deutschland in den letzten Jah­ ren wieder in den Kreis der europäischen Mächte zurückgeführt, ihm neue in­ ternationale Reputation eingebracht und auch erste revisionspolitische Erfolge beschert. Indes schien selbst dem Außenminister und erst recht seinen deut­ schen Kritikern die Suspendierung der Bestimmungen des Versailler Vertrags nicht schnell genug voranzuschreiten. Gleichzeitig machte sich im westlichen Ausland Ende der zwanziger Jahre der Verdacht breit, Deutschland strebe zu rasch nach einer vollständigen Liquidation des Krieges und einer Rückkehr zur Normalität. Bereits die Ergebnisse von Locarno in der Hochphase der deutsch-französischen

Verständigungspolitik waren

in

Frankreich

und

Deutschland gänzlich unterschiedlich interpretiert worden: in Frankreich als ein Mittel, die begonnene Aushöhlung des Versailler Vertrags zu stoppen, in Deutschland hingegen gerade als ein Ausgangspunkt für eine weitere und nun sogar beschleunigte Revision der Pariser Nachkriegsordnung. Auch für Stresemann drohte die Harmonisierung von deutschen Forde­ rungen und ausländischer Konzessionsbereitschaft bzw. von andauerndem

2. Der Streit über die Arbeitslosenversicherung und das Ende der Großen Koa lition 1 930

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deutschen Großmachtanspruch und neuer europäischer Friedensordnung ge­ gen Ende seiner Amtszeit immer schwerer zu werden. Vor diesem Hinter­ grund mutet eine Frage des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, bert,

Carl von Sch u­

an die britische und französische Regierung vom Juli 1 928 fast wie eine

implizite Drohung an: "Wollt ihr die Locarnopolitik tatkräftig weiterführen oder nicht?" Stichwort

Carl von Schu bert

( 1 882-1 947) sta m mte aus einer sehr vermögenden Fa m i l ie. 1 906 trat er in den di­ plomatischen Dienst ein und d u rchl ief verschiedene Auslandsstationen. Nach dem Krieg bestim mte er maßgebl ich die Reorgan isation des Auswärtigen Amtes und wu rde i m Dezem ber 1 924 Staatssekretä r. l n den folgenden fü nf J a h ren war er aufg ru n d seiner herausrag enden beruflichen Qual ifi kation der wichtigste Mitar­ beiter von Außen m i n ister Stresem a n n, dessen Verstä n d i g u ngspol itik m it dem Westen er weitgehend i n iti iert hat. Nach Stresem a n n s Tod verlor er rasch a n Ein­ fl uss gegen ü ber den Kritikern der bisherigen Außenpol itik u n d wurde i m J u n i 1 930 a l s Staatssekretär abgel öst und a u f d e n Botschafterposten nach R o m a bge­ schoben. I m September 1 932 erfolgte die Versetzung i n den einstweiligen u n d i m J u l i 1 933 i n den endg ü ltigen Ruhesta nd.

Der Außenminister selber musste die Probe auf die Beständigkeit seiner Politik nicht mehr antreten, denn er starb am 3. Oktober 1 929 nach einem

Tod Stresemanns

Schlaganfall, der auf seine völlige Überarbeitung und die dauernden Ausei­ nandersetzungen mit innenpolitischen Gegnern sogar innerhalb der eigenen Partei zurückzuführen war. Kurz darauf brach die Weltwirtschaftskrise aus und erfasste bald auch Deutschland, wo sich Innen- und Außenpolitik infolgedessen weiter radikalisierten. Damit einher ging eine endgültige Absage an die von Stresemann praktizierte verständigungsbereite Revisionspolitik. Die Folgezeit stand im Zeichen forcierter Revisionsforderungen und der Geringschätzung einer multilateralen Einbindung Deutschlands in das europäische Mächtesystem.

2 . D e r Streit ü b e r d i e Arbeits l osenversicheru n g u n d d a s Ende der Großen Koa l ition 1 930 Noch während die Regierung Müller mit der Beilegung des Streits über den Panzerkreuzer A innerhalb der Koalition beschäftigt war, wurde sie mit einem Tarifkonflikt in der westdeutschen Eisen- und Stahlindustrie konfrontiert. Hier war es in der Lohnrunde 1928 zu keiner Einigung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern gekommen. Einen Schiedsspruch im Rahmen des Schlichtungsverfahrens erklärte Reichsarbeitsminister Wissell gegen den erbit-

"Ruhreisenstreit"

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II.

Der Bruch der Großen Koa l ition im März 1 930: Abschied vom Pa rlamentarismus?

terten Widerstand von Reichswirtschaftsminister Curtius am 3 1 . Oktober 1928 für bindend. Stichwort

Schlichtungsve rfa h ren

Anknü pfend a n ältere Besti m m u ngen aus dem H i lfsd ienstgesetz von 5. Dezem ber 1 9 1 6 u n d einer Verord n u n g des Rats der Vol ksbea uftragten vom 23. Dezember 1 9 1 8 schrieb eine Verord n u n g der Reichsreg ierung vom 30. Oktober 1 923 fü r den Fa l l eines Arbeitskam pfes den Einsatz staatlicher Schl ichtu ngsbehörden vor: Die zu­ ständigen Schl ichtu ngsausschüsse wurden i n der Regel von den obersten La ndes­ behörden i m Ei nvernehmen m it dem Reichsarbeits m i n ister fü r bestim mte Bezirke gebildet. i n ihnen saßen pa ritätisch jewe i l s Beisitzer aus dem Kreis der Arbeitg eber und der Arbeitnehmer. Den u n p a rteiischen Vorsitzenden bestim mte die oberste La ndesbehörde nach Anhörung der beiden Berufsverbände im betreffenden Be­ zirk. Die fü r g rößere Wirtschaftsbezirke vom Reichsarbeits m i n ister bestel lten Schl ichter wurden bei Arbeitsstreitigkeiten tätig, die fü r das Wirtschafts leben von besonderer Bedeutung waren. Das Schl ichtu ngsverfa h ren endete entweder m it der E i n i g u n g zwischen den Ta rifpartnern - oder, wenn sich d ies a l s u n m ög l ich er­ wies, - m it der Verbindl ichkeitserklärung des gefä l lten Schiedsspruchs d u rch den Schl ichter sowie - i n bedeutenderen Arbeitskonfl i kten - den Reichsarbeits m i n ister.

Die Metallindustriellen verweigerten im Herbst 1 928 ihre Zustimmung zum Schiedsspruch, weil sie die vorgesehene Lohnerhöhung angesichts rück­ läufiger Konjunktur für zu hoch ansahen. Sie hatten bereits am 1 3 . Oktober allen ihren Arbeitern zum 1. November gekündigt. Dementsprechend sperrten sie an diesem Tag 230 000 Beschäftigte aus. Gleichzeitig legten sie Widerspruch gegen den ergangenen Schiedsspruch ein. Daraufhin griff die Regierung zum damals üblichen Mittel der Zwangsschlichtung: Reichsinnenminister Severing unterbreitete als neu eingesetzter Oberschlichter am 2 1 . Dezember 1928 einen eigenen Vorschlag, der zwar geringere Lohnerhöhungen als der von den Ar­ beitgebern kritisierte erste Schiedsspruch vorsah, jedoch zum Ausgleich hier­ für eine Kürzung der Arbeitszeit beinhaltete. Letztlich bedeutete diese Empfehlung einen ausbalancierten Kompromiss zwischen den Forderungen von Industrie und Arbeiterschaft. Gleichzeitig ent­ täuschte er jedoch die unmittelbar Betroffenen auf beiden Seiten, die von ihren jeweiligen Maximalforderungen Abstand nehmen mussten. Indes ging die Be­ deutung des "Ruhreisenstreits" weit über den unmittelbaren Anlass hinaus: Er belegte, wie sehr sich das sozialpolitische Klima angesichts der sich abzeich­ nenden Wirtschaftskrise verschlechterte: Insbesondere die Arbeitgeber ver­ suchten nun, jene Konzessionen auf dem Lohn- und Arbeitszeitsektor endlich entscheidend zu revidieren, die sie in der Revolutionszeit und der Frühphase der Republik notgedrungen gewährt hatten, und die aufgrund eines überhöh­ ten Kapazitätsausbaus entstandene Selbstkostenkrise durch Senkung der

2. Der Streit über die Arbeitslosenversicherung und das Ende der Großen Koa lition 1 930

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Löhne zu überwinden. Im Streit der beiden Tarifparteien lief die Regierung wiederum Gefahr, zerrissen zu werden, spiegelten sich die unterschiedlichen Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern doch unmittelbar in der Zu­ sammensetzung der Großen Koalition: hier die den Arbeitgebern naheste­ hende DVP, dort die der Arbeiterschaft verbundene SPD. Die sich hier abzeichnenden Bruchlinien in der Großen Koalition sollten sich in den kommenden Monaten noch weiter verstärken, denn seit Anfang

Krise der ArbeitsIosenversicherung

1 929 kämpfte Deutschland mit großen wirtschaftlichen Problemen: Im Februar 1 929 waren 2,5 Millionen Menschen arbeitslos und auf finanzielle Unterstützung angewiesen. Indes war die 1 927 geschaffene Arbeitslosenversicherung nur für höchstens 800 000 Menschen konzipiert, notfalls konnten weitere 600 000 Betroffene durch Reichsdarlehen unterstützt werden. Das war schon damals angesichts von 1 ,3 Millionen Arbeitslosen sehr knapp gerechnet. Zwei Jahre später erwies sich diese Kalkulation aufgrund der fast doppelt so hohen Arbeitslosenzahl als völlig unrealistisch. Die entstandene Deckungslücke zu schließen, erwies sich zudem als umso schwieriger, als gleichzeitig der seit der ersten amerikanischen Anleihe 1 924 stete Fluss ausländischen Kapitals nach Deutschland stockte und auch die Steuereinnahmen deutlich geringer als erwartet ausfielen. Diese negative wirtschaftliche Entwicklung verschärfte sich in den folgen­ den Monaten dramatisch. Der New Yorker Börsenkrach am 24. Oktober 1 929 löste einen noch stärkeren Abzug kurzfristiger amerikanischer Kredite aus. Daraufhin kam es in vielen europäischen Ländern, vor allem aber in Deutsch­ land zu Firmenzusammenbrüchen, Bankenschließungen und Massenentlas­ sungen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg weiter an und belief sich im Januar 1 930 auf 2,8 Millionen Menschen. Gleichzeitig wies der Haushalt eine De­ ckungslücke von 1 ,4 Milliarden Reichsmark auf. 700 Millionen, die man durch die geringeren Raten des Young-Plans einsparte, ließen sich davon abziehen. Bei den restlichen 700 Millionen schlug vor allem der Anteil für die Reichsan­ stalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitssicherung in Höhe von 250 Millionen Reichsmark zu Buche. Es war klar, dass die bestehende Finanzierung der Ar­ beitslosenversicherung hinten und vorne nicht ausreichte. Über das "Wie" der erforderlichen Sanierung sollte die Große Koalition zerbrechen. Es zeigte sich nun, wie sehr ein solches Regierungsbündnis, das

oder "in nere Sanie-

von der arbeitnehmerorientierten SPD bis hin zur unternehmerfreundlichen

rung"

DVP reichte, latent Gefahr lief, sich über sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen zu zerstreiten, zumal in einer Zeit tiefgreifender finanzieller und wirtschaftlicher Probleme: Während die DVP und die Arbeitgeberverbände für eine Erhöhung der indirekten Steuern, vor allem aber einen Abbau der Versicherungsleistungen plädierten - eine "innere Sanierung", wie ihre Vertreter es nannten, - traten SPD und Gewerkschaften für eine Erhöhung der Beiträge, die Heranziehung der Beamten zu den Beiträgen der Arbeitslosenver-

Beitragserhöhung

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II.

Der Bruch der Großen Koa l ition im März 1 930: Abschied vom Pa rlamentarismus?

sicherung sowie eine Erhöhung der direkten Steuern und ein "Notopfer" der Bezieher höherer Einkommen sowie der Besitzer größerer Vermögen ein. Bereits Ende 1 929 schien die Regierung am Ende: Reichsbankpräsident Schacht verweigerte ihr weitere Darlehen, und der Reichstag billigte den von Finanzminister Hilferding eingebrachten Haushalt nur mit knapper Mehrheit. Die DVP drang erfolgreich auf die Entlassung des Ministers und seines Staats­ sekretärs Johannes Popitz ( 1 884-- 1 945). Nachfolger Hilferdings wurde der DVP-Politiker Paul Moldenhauer ( 1 876- 1 947) , der auf eine entschiedene Re­ form der Arbeitslosenversicherung drang. Im Februar 1 930 entschied die Reichstagsfraktion seiner Partei, die von der SPD geforderten Zugeständnisse bei der Arbeitslosenversicherung und dem Notopfer für Beamte abzulehnen. Die Abgeordneten waren sogar bereit, hierüber notfalls die Koalition platzen zu lassen. Auch Zentrumspolitiker drangen auf eine langfristige Sanierung der Reichsfinanzen. Reichskanzler Müller legte seinerseits Anfang März über­ raschend einen neuen Plan für den Reichshaushalt 1 930 vor. Dieser sah Steuer- und Zollerhöhungen, aber auch eine Anhebung der Beiträge zur Ar­ beitslosenversicherung vor. Gegen Letzteres opponierte die DVP entschieden: Auf ihrem Mannheimer Parteitag bekräftigten die Delegierten am 22./23. März 1 930 ihre Haltung und drohten notfalls mit einem Austritt aus der Gro­ Kompromiss­

ßen Koalition. Am Ende ging es in diesem Streit nur noch um ein halbes Prozent, ja der

vorschlag Brünings

Zentrums-Fraktionsvorsitzende Brüning schlug am 27. März bei einer neuerli­ chen Besprechung der Parteiführer sogar eine Vertagung der endgültigen Ent­ scheidung vor, um zu sehen, ob nicht weitere Einsparungen und etwaige zu­ sätzliche staatliche Zuschüsse zur Sanierung der Reichsanstalt ausreichten. Aber das erbitterte Ringen lässt sich nur verstehen, wenn man bedenkt, dass der Streit um Prozente lediglich vordergründig war. Dahinter verbarg sich ein fundamentaler Meinungsunterschied in Sachen Ökonomie: Auf der einen Seite fürchtete die SPD, dass ein Einlenken in dieser Frage der KPD weitere Wähler aus der Arbeiterschaft in die Arme treiben würde. Zudem unterstellte sie, dass es der DVP um weit mehr als nur eine Sanierung der Arbeitslosenver­ sicherung ginge. Vielmehr, so der sozialdemokratische Verdacht, wollten die Arbeitgeber und ihre politische Pressure group - die DVP - den erreichten so­ zialpolitischen Standard generell wieder herunterfahren. Das war sicher nicht falsch. Tatsächlich forderten die Unternehmerverbände angesichts der schwie­ rigen wirtschaftlichen Lage mittlerweile eine Neubewertung der getroffenen Maßnahmen. Dabei hoffte mancher auch durchaus, über den Appell an die ökonomische Vernunft die eine oder die andere ihm lästige Beschränkung sei­ ner innerbetrieblichen Machtbefugnisse abschütteln zu können und eine um­ fassende Wirtschaftsdemokratie mit noch größeren Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer, wie sie den Freien Gewerkschaften vorschwebte, zu verhin­ dern. Doch daneben gab es auch ernste Sorgen, dass die Finanz-, Sozial- und

2. Der Streit über die Arbeitslosenversicherung und das Ende der Großen Koa lition 1 930

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Wirtschaftspolitik so nicht weitergehen könne und die SPD zur Sanierung des Haushalts auch ihrer Klientel Opfer zumuten müsse. Dem wirtschaftspolitischen Credo der DVP, Stärkung der Investitionsfa­ higkeit der Unternehmer durch Erhaltung ihrer Finanzkraft, setzten die fi­ nanz- und wirtschaftspolitischen Experten der SPD den Glauben an die not­ wendige Stärkung der Kaufkraft der Massen durch die Garantie der geltenden Sozialleistungen entgegen. Dabei trugen personelle Wechsel an der Spitze der bürgerlichen Parteien das Ihrige dazu bei, dass sich die jeweiligen Positionen verhärteten und nun der "Klassenkampf im Kabinett" (Heinrich August Winkler) ausgetragen wurde: Im Zentrum war der bisherige konziliante Vorsit­ zende Marx bereits Ende 1 928 durch den konservativeren Prälaten Kaas abge­ löst worden, und dem verstorbenen Stresemann, der sich immer wieder für den Zusammenhalt der Großen Koalition eingesetzt hatte, folgte im Oktober 1 929 mit Scholz ein erklärter Vertreter der Arbeitgeberinteressen. Es zeigte sich nun, wie der ehemalige Finanzminister Moldenhauer feststellte, dass "nach Fortfall der Klammer, die der Kampf um den Young-Plan bedeutet hatte, [ . . . ] die Flügel [der Regierung] nicht mehr zusammenarbeiten wollten". Gleichzeitig bekam die Frage der Arbeitslosenversicherung über das Ökono­ mische und Tagespolitische hinaus eine grundsätzliche Bedeutung: Hierbei handele es sich - so der Ernährungsminister Dietrich von der DDP - "um die endgültige Entscheidung im Kampf um die Republik". Vor diesem Hintergrund weitete sich die Wirtschaftskrise in Deutschland im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern zur allgemeinen Staatskrise aus: Am 28. März 1 930 trat die "Große Koalition" zurück, weil zwar Zentrum, DDP und DVP sowie immerhin drei der vier sozialdemokratischen Minister - nur Arbeitsminister Wissell votierte dagegen - Brünings Kompro­ missvorschlag zugestimmt hatten, aber die überwiegende Mehrheit der SPD­ Reichstagsfraktion ihn abgelehnt hatte. Ihre Entscheidung hat der SPD bei vielen Zeitgenossen wie auch etlichen späteren Historikern den Vorwurf zugezogen, sie habe leichtfertig die Regierung gestürzt. Bereits die liberale "Frankfurter Zeitung" kritisierte die Entscheidung der sozialdemokratischen Abgeordneten am 28. März 1 930 in scharfer Form:

Die " F ra n kfurter Zeitung" zum Bruch der G roßen Koa l ition Quelle: Schulze, Weimar, S. 3 1 6 f.

"Es g i bt ein Maß von Eins ichtslosigkeit, das zur Sch u l d wird. Diese Sch u l d einer wirklich unerlaubt g roßen Einsichtslosigkeit hat gestern die Meh rheit der sozia lde­ mokratischen Reichstag sfra ktion auf sich geladen. Denn auch wenn man, wie wir, d u rchaus in Rech n u n g stel lt, was der Sozia ldem okratie in den ga nzen e i n d reivier­ tel J a h ren des Besta ndes der g roßen Koa l ition das Zusa mmena rbeiten m it der Deutschen Vol kspartei wirklich nicht leicht gem acht hat, wen n m a n die l ntran-

Ende der Großen Koalition

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II.

Der Bruch der Großen Koa l ition im März 1 930: Abschied vom Pa rlamentarismus?

sigenz der Deutschen Vol kspartei jetzt bei der Frage i n der Arbeitslosenversiche­ rung als dem letzten Streitobjekt schon i n An betracht der Kl ein heit d ieses Objek­ tes n ichts weniger a l s g roßartig fi ndet - so bleibt u n a bweisbar, daß gerade darum die sozia ldemokratische Fraktion dem gestern sch l ießl ich g efundenen Kom prom i ß hätte zusti m m e n m üssen, u m G rößeres, Wichtig eres zu bewa h ren. [ ] Die Sozial­ demokratie hat m it der Spreng ung der Koa l ition gestern das Spiel i h rer Gegner ge­ spielt." . . .

Doch auch innerparteiliche Kritiker meldeten sich zu Wort: Der preußi­ sche Ministerpräsident Otto Braun, ein Vertreter des rechten Parteiflügels, ver­ urteilte das Verhalten der SPD-Minister und der sozialdemokratischen Reichs­ tagsfraktion im Frühjahr 1 930 nachdrücklich, weil er den vorhandenen Streit als nichtigen Grund für einen gefahrliehen Regierungswechsel ansah. Er war der Meinung, dass die starre Haltung der SPD allein schon sachlich falsch war, da nach Maßgabe der Wirtschaftslage "die Sanierung der Arbeitslosenversi­ cherung sich nicht einseitig nach der gewerkschaftlichen Doktrin durchführen ließe". Überdies hielt er diese Politik auch unter taktischen Gesichtspunkten für verfehlt, weil die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse die Durchset­ zung der sozialdemokratischen Forderungen unmöglich machten. Ohne Not hatte sich die Partei, seiner Ansicht nach, ihrer Mitgestaltungsmöglichkeiten in der Reichspolitik entledigt: "Man kann auf den Kurs des Wagens keinen Einfluß nehmen, wenn man nebenher läuft, man muß auf dem Kutschbock sitzen bleiben." Stichwort

Otto Bra u n

( 1 872-1 955) w a r gelernter Stein- u n d Buchdrucker. Seit 1 889 gehörte er der S P D seiner Heimatstadt König sberg a n, w o er a u c h b a l d den Ortsvorsitz übern a h m . E r erwies s i c h a l s ein s e h r g uter Organisator ohne a l lzu g roßes I nteresse a n theoreti­ schen Fragen. 1 9 1 1 bis 1 9 1 7 war er M itg l ied des S P D-Parteivorsta ndes und von 1 9 1 3 bis 1 9 1 8 auch M itg l ied des preußischen Landtages. Die N ove m berrevol ution von 1 9 1 8 erlebte Bra u n als M itg l ied eines Arbeiter- und Soldaten rates. Er gehörte 1 9 1 9 der Wei m a rer Nationalversa m m l u n g an und bekleidete sch ließl ich von März 1 920 bis J u l i 1 932 - m it kurzen U nterbrech ungen - das Amt des pre u ß ischen Mi­ n isterpräsidenten. Dabei sta nd er überwiegend a n der S pitze einer "We i m a rer Ko­ a l ition" aus S P D, D D P u n d Zentru m u n d ba ute a l s " roter Zar" Preußen zum demo­ kratisch-re p u b l i ka n ischen "Bol lwerk" im Reich aus. Nach seiner Absetzung i m Zuge d e s "Pre u ßensch lages" i m J u l i 1 932 z o g sich Bra u n a u s der Pol itik zurück und e m i g rierte Anfang März 1 933 i n die Schweiz, wo er bis zu seinem Tode b l ieb.

Aber selbst so ein prominenter Vertreter des linken Parteiflügels wie Hil­ ferding hat das Verhalten seiner Partei im Frühjahr 1 930 kritisiert. Bereits im Mai-Heft der von ihm herausgegebenen theoretischen Zeitschrift "Die Gesell­ schaft'' wies er das Hauptargument der Parteimehrheit zurück, eine Zustim-

2. Der Streit über die Arbeitslosenversicherung und das Ende der Großen Koa lition 1 930

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mung zu Brünings Vertagungsvorschlag hätte den befürchteten Leistungsab­ bau der Arbeitslosenversicherung nur auf den Herbst verschoben: "Gerade vom Standpunkt der Sicherung der Arbeitslosenversicherung erscheint der Rücktritt aus der Regierung zumindest als kein Gewinn. Die Befürchtung, im Herbst wäre es doch zur Verschlechterung gekommen, erscheint für einen so schwerwiegenden Schritt nicht ausreichend; es ist nicht gut, aus Furcht vor dem Tode Selbstmord zu verüben." Das Fehlverhalten seiner Partei wog für Hilferding umso schwerer, weil sich hieraus für die weitere Entwicklung der Weimarer Republik gefährliche Konsequenzen ergaben:

emnw Rudolf H i lferd i n g z u m Ende der G roßen Koa lition Q u e l l e : Win kler: Weimar, S. 372.

"Es unterliegt keinem Zweifel, daß, wenn das Parlament i n seiner g rund legenden u n d wichtigsten F u n ktion versagt, n ä m l ich eine Reg ierung zu b i l den, die Macht des Reichspräsidenten sich auf Kosten und d u rch Sch u l d des Parl a m e nts erweitert u n d der Reichspräsident F u n ktionen a u s ü ben m u ß, die zu erfü l len sich der Reichs­ tag versagt. N i m mt man h i nzu, daß die Lä h m u n g des Parl a m e nts von sehr starken Gruppen d i rekt g ewünscht und g efördert wird, so wird man verstehen, daß die ei­ gentliche Gefa h r fü r die Zuku nft des deutschen Parl a m e ntarism u s n icht von au­ ßen, n icht von einem g ewaltsa men Putsch her d roht, sondern von innen her [. .. ] Gerade d iese Gefa h r zu vermeiden, war ja stets ein zwingendes Moment fü r die Sozialdemokratie, i n den schwierigsten Situationen die Verantwortung zu über­ nehmen."

Tatsächlich sollte die Große Koalition das letzte parlamentarisch legitimierte Kabinett der Weimarer Republik sein. Gerade wegen der Folgen dieses Rücktritts, nämlich der Bildung undemokratischer Präsidialkabinette, schließlich der Regierungsübernahme Hitlers im Januar 1933, haben sich auch viele Historiker der zeitgenössischen Kritik am sozialdemokratischen Regierungsaustritt angeschlossen. So hat Hagen Schulze dem damaligen Reichskanzler Müller vorgeworfen, angesichts der Nichtigkeit des Streitgegenstandes nicht noch stärker um das Regierungsbündnis gekämpft zu haben, von dessen Notwendigkeit er persönlich ja durchaus weiterhin überzeugt gewesen sei. Für Müller hätte es ungeachtet des negativen Votums des Gewerkschaftsflügels seiner Partei und sogar trotz dessen Unterstützung durch die Mehrheit der Reichstagsfraktion durchaus noch Alternativen zum Rücktritt gegeben: entweder der Versuch, im Parlament durch eine Kampfabstimmung doch noch eine Mehrheit für seine Politik zu finden, also jene "offene Feldschlacht" zu suchen, die Innenminister Severing empfahl, oder aber notfalls die Bildung einer rechtsgerichteten Koalition mit ihm an der Spitze - eine Lösung, die der britische Labour-Premierminister Ramsay MacDonald ( 1 866- 1 937) im Jahr darauf in einer vergleichbaren Situation in Großbritannien wählte.

Alternativen zum Regierungsrücktritt

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II.

Der Bruch der Großen Koa l ition im März 1 930: Abschied vom Pa rlamentarismus?

Es ist sicher äußerst fraglich, ob dies eine Regierung gerettet hätte, aus der ja neben der SPD zumindest noch ein weiterer Partner austreten wollte, näm­ lich die DVP. Auch war bekannt, dass mittlerweile einflussreiche Kreise Hin­ denburg drängten, ein neues Kabinett zu bilden, vorbei am Parlament und nur vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhängig. Allerdings hätte Müller alles unternehmen müssen, um Hindenburg keinen Anlass zu seinem Manöver zu geben, zumal dieser einen offenen Verfassungsbruch weiterhin scheute. Zu­ dem hätte der Reichskanzler so verdeutlichen können, dass nicht er und die kompromissbereiten Mitglieder seiner Partei, sondern die Rechtskoalitionäre und ihre Hintermänner die Regierung gesprengt hatten. Indes gab es im Früh­ jahr 1930 bis ins demokratische Lager hinein so etwas wie die Sehnsucht nach einem Ende der "Fraktionswirtschaft" und einer starken Führung. Diese Nei­ gung erfasste teilweise selbst jene, die die Macht innehatten: Sollte sich der Reichspräsident doch eine andere, notfalls auch autoritäre Regierungsvariante überlegen. Zudem war Müller nicht nur durch eine akute Erkrankung geschwächt, sondern auch grundsätzlich kein Mann überraschender Schachzüge. Er war ein aufrechter Sozialdemokrat, erzogen zur Disziplin gegenüber seiner Partei, unfähig, sich einen Bruch mit ihr vorzustellen - ein hervorragender Organisa­ tor, aber kein kämpferischer Führer. Disziplin, Organisationsfähigkeit und Zu­ verlässigkeit - das waren in den Jahren der Verfolgung bis 1 9 1 4/ 1 8 die Tugen­ den gewesen, mittels derer sozialdemokratische Funktionäre das Überleben ihrer Partei gesichert, ja sie groß gemacht hatten. Es waren nicht mehr die Tu­ genden, deren die SPD als verantwortliche Regierungspartei allein bedurfte. Ungeachtet der taktischen Fehler der SPD im Frühjahr 1930 darf man indes nicht die strukturellen Schwächen der Weimarer Republik - die ausgeprägten gesellschaftlichen Gegensätzen, das eingeschränkte systemloyale Parteienspek­ trum und die unzureichende Kooperation zwischen Regierungen einerseits, Parteien und Parlamentsfraktionen andererseits - vergessen sowie die Tatsa­ che, dass die ursächliche Schuld am Zerfall der Großen Koalition bei jenen Kreisen um den Reichspräsidenten lag, die seit längerem auf eine Ablösung des sozialdemokratischen Kanzlers und auf eine Kabinettsbildung ohne Betei­ ligung der SPD drangen.



Auf einen Blick Die Geschichte der Großen Koa l ition der J a h re 1 928 bis 1 930 bündelt noch einmal wie in einem Brennglas die stru ktu rellen Belastu ngen der Weimarer Demokratie: den parteipolitischen Dogmatis­ mus sowie die hieraus resu ltierende feh l ende Konsensbereitschaft sel bst i m dem okratischen Spek­ trum; die sich dadurch ergebende Schwäche l etztlich a l l e r Reg ierungen der Weimarer Repu b l ik, von denen die l etzte Große Koa lition mit i h ren knapp zwei J a h ren noch die längste Lebensdauer hatte. Auch offenbarte die erbitterte Polemik gegen den Young-Pian, wie sehr die deutsche Niederlage im Ersten We ltkrieg und der folgende Versa i l l e r Vertrag i m m e r noch eine schwere a u ßenpol itische Hy-

Literaturh i nweise

pothek fü r die junge Rep u b l i k wa ren. Insofern wa r es i n gewisser Weise von a l l e n Beteiligten fa h r­ lässig, die demokratisch legiti mierte Große Koa lition im Frühja h r 1 930 wegen einer ökon omischen Deta ilfrage, fü r die es bei gutem Willen eine ei nverne h m l iche Lös ung h ätte geben können, zu op­ fern. Obwo h l dies keineswegs zwangslä ufig wa r, gab es dem Reichspräsidenten u n d seiner Entou­ rage die Möglichkeit, die von ihnen seit l ä ngerem schon verfo l gten Pläne einer Schwächung der "Parlaments he rrschaft" n u n m e h r umzusetze n .

Litera tu rh i nweise Franz Knipping: Deutschla nd, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1 928-3 1 . München 1987. Kolb, Eberhard: Gustav Stresemann. München 2003. Peter Krüger: Die Außenpolitik der Republik von Weimar. Darmstadt 1985. Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Wei marer Republik. Pol itische Kom m u n i kation, sym boli­

sche Politik und Öffentlichkeit i m Reichstag. Düsseldorf 2002. Heinrich Aug ust Winkler: Weimar 1 91 8-1 933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München

42005.

71

II I. Die "Ära Brüning" 1930-32:

Präsidia l kabinett als Weg aus der Krise?

MIHT!ftb!H* as Scheitern der Großen Koalition er­

len und ein autoritäreres System zu etablie­

möglichte Reichspräsident Paul von Hin­

ren. Verschärft wurde diese Entwicklung

denburg, eine neue Regierung mit dem Zen­

durch die zunehmende Unpopularität des

D

trumspolitiker Heinrich Brüning als Reichs­

neuen Reichskanzlers, denn Brünings strikte

kanzler zu berufen. Es handelte sich hierbei

Sparpolitik verstärkte die negativen Auswir­

um ein Präsidialkabinett, das allein von der

kungen der Weltwirtschaftskrise in Deutsch­

Gunst Hindenburgs abhing. Mittels der von

land. Gleichzeitig weckte sein unverhohle­

ihm erlassenen Notverordnungen und der

nes Streben nach einer raschen Revision des

Drohung mit Neuwahlen verhinderte er et­

Versailler Vertrags, insbesondere von dessen

waige Misstrauensvoten gegen die Regie­

Reparationsbestimmungen, das Misstrauen

rung. Damit wandelten sich Instrumente,

der ehemaligen Siegermächte des Ersten

die die Weimarer Verfassung zur Stabilisie­

Weltkrieges, vor allem jenes von Frankreich,

rung der Demokratie in Ausnahmesituatio­

und verschlechterte damit weiter die inter­

nen vorgesehen hatte, zu einem Mittel, um

nationalen Beziehungen.

den Parlamentarismus sukzessive auszuhöh-

Zeittafel 29.3 . 1 930

Bildung des ersten Präsidia l kabinetts unter Reichska nzler Heinrich Brü n i n g

16 7 . 1 930

Reichstag verlangt Aufhebung der N otverordnung zur B e h e b u n g fi nanziel ler, wirtschaftl icher u n d sozia ler N otstä nde Reichstagsauflösung

1 4.9.1 930

Reichstagswa h l e n ("Erbitterungswa h l en")

1 . 1 2 . 1 930

"Erste N otverord n u n g zur Sicherung von Wirtschaft u n d Finanzen"

2 1 .3 . 1 93 1

Reichsregierung veröffentlicht deutsch-österreich ischen Zol l u n ionsplan

5.6.1 931

"Zweite N otverord n u n g zur Sicherung von Wirtschaft u n d Fina nzen"

5.9. 1 931

Haager Gerichtshof verkü ndet U nzu l ässigkeit des Zo l l u n ionsplans

6.7.1 931

Erklärung des H oover-Moratoriums

6. 1 0. 1 93 1

"Dritte N otverordn u n g zur Sicherung von Wirtschaft u n d Fina nzen"

9.1 0. 1 93 1

Zweites Ka binett Brü ning

8.1 2 . 1 93 1

"Vierte N otverordnung zur Sicherung von Wirtschaft u n d Fina nzen"

2.2.1 932

Eröffn u n g der i nternati onalen Abrüstu ngskonferenz i n Genf

1 0.4.1 932

Wiederwa h l Hindenburgs zum Reichspräsidenten

1 3 .4. 1 93 2

Verbot von SA und SS

30.5 . 1 932

Entlassung des Ka binetts Brü ning

1 . Pläne fü r ein ,.Hindenburg-Kabin ett"

73

1 . Pläne fü r ein " H i n d e n b u rg-Kabinett" Bereits am Abend des 27. März 1 930 bat Reichspräsident Hindenburg den Zentrumspolitiker Brüning inoffiziell, eine neue Regierung zu bilden, weil er "die letzten Jahre seines Lebens nicht mit einer liberalen, sondern einer staats­ konservativen Lösung arbeiten" wolle. Binnen drei er Tage stand dann das neue Kabinett fest. Diese Schnelligkeit verweist darauf, dass der Reichspräsident und seine Berater seit längerem für den Fall eines Regierungswechsels vorgesorgt hatten: Seit Ostern 1 929 und dann verstärkt zur Jahreswende 1 929/ 30 wurde hier eine Ablösung der Großen Koalition und die Bildung eines so genannten Hindenburg-Kabinetts erörtert, also einer Präsidialregierung, die unabhängig von den Mehrheitsverhältnissen im Reichstag gebildet werden und allein vom Vertrauen des Reichspräsidenten abhängig sein sollte. Mit der Unterzeichnung des Young-Plans waren nicht nur die einzigen Gemeinsamkeiten der alten Regierungskoalitionäre aufgebraucht, sondern auch die letzten Skrupel der bürgerlichen Rechten vor einem offenen Bruch mit der Sozialdemokratie verschwunden. Das neue Kabinett sollte ebenso anti­ parlamentarisch wie "antimarxistisch" sein. Folglich wurde Brüning der erste Reichskanzler der Weimarer Republik, der seine Regierung ohne jede Rück­ sichtnahme auf die Mehrheitsverhältnisse im Reichstag bildete. Er berief ein Minderheitskabinett, in dem die bisherigen sozialdemokratischen Minister durch Politiker aus Zentrum, DDP, DVP und Wirtschaftspartei ersetzt wur­ den. Außer ihm traten neu in die Regierung ein: Johann Viktor Bredt ( 1 879-1 940) von der Wirtschaftspartei als Justizminister; Martin Schiele ( 1 870- 1 939), der im Juli 1930 die DNVP verließ, als Reichsernährungsminis­ ter und Gottfried Reinhold Treviranus ( 1 89 1 - 1 9 7 1 ) , der bereits im Dezember 1 929 aus der DNVP ausgetreten war, für das Ministerium für die besetzten Ge­ biete. Für Brüning war nun "die Autorität der Regierung gegenüber dem Par­ lament wiederhergestellt". Die neue Regierung wollte ohne Berücksichtigung der Mehrheitsverhältnisse im Reichstag und ohne Verhandlungen mit den Par­ teien und Fraktionen regieren. Etwaiger Widerstand der Abgeordneten sollte mit Hilfe von Notverordnungen des Reichspräsidenten nach Art. 48 WRV und notfalls sogar mit der Parlamentsauflösung nach Art.

25,

also unter skrupelloser

Ausnutzung jener der parlamentarischen Verfassung innewohnenden präsi­ dialen "Reserveverfassung", gebrochen werden. Stichwort

Art. 25 WRV:

Der Reichspräsident ka n n den Reichstag a uflösen, jedoch n u r e i n m a l aus dem g l eichen Anlass. Die Neuwa h l fi ndet s pätestens a m sechzigsten Tag e nach der Auf­ lösung statt.

,.HindenburgKabinett"

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

74

Stichwort

Art. 48 WRV:

Wen n ein Land die i h m nach der Reichsverfassung oder dem Reichsg esetz obl ie­ genden Pfl ichten n icht erfü l lt, ka n n der Reichspräsident es dazu m it H ilfe der be­ waffneten Macht a n h a lten . Der Reichspräsident ka nn, wen n i m Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ord n u n g erhebl ich gestört oder gefä h rdet wird, die zur Wiederherste l l u n g der öffentlichen Sicherheit und Ord n u n g nötigen Maßnah­ men treffen, erforderl ichenfa l l s m it H i l fe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorü bergehend die i n den Artike l n 1 1 4, 1 1 5, 1 1 7, 1 23, 1 24 und 1 53 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Tei l außer Kraft setzen. Von a l l e n gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 d ieses Artikels g etroffenen M a ß n a h m e n hat der Reichspräsident u nverzügl ich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die M a ß n a h m e n sind auf Verlangen d e s Reichstags außer Kraft zu setzen. Bei Gefa h r i m Verzuge ka n n die Landesreg ierung fü r i h r Geb iet einstwe i l ig e Maßnahmen der i n Abs. 2 bezeich neten Art treffen . Die M a ß n a h m e n sind auf Verl angen des Reichspräsiden­ ten a u ßer Kraft zu setzen . Das Nähere besti m mt ein Reichsg esetz.

Damit bekam insbesondere Art. 48 der Reichsverfassung eine Bedeutung, die ihm so ursprünglich nicht zugedacht gewesen war: Als sich 1 9 1 9 die Natio­ nalversammlung konstituiert hatte und ihre Verfassungsberatungen begann, war Deutschland nicht nur durch die Folgen des gerade zurückliegenden Krie­ ges und der Revolution gezeichnet. Vielmehr prägten andauernde bürger­ kriegsähnliche Zustände das innenpolitische Bild. Vor diesem Hintergrund stellte sich die Frage, welche zusätzlichen Möglichkeiten der Staat haben sollte, wenn die normale Polizeigewalt nicht ausreichte, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Insofern war Art. 48 WRV ausdrücklich für den Fall politi­ scher Unruhen gedacht. Keineswegs beabsichtigte die Nationalversammlung, "mit der Ausnahmegewalt auch ein umfassendes Notverordnungsrecht in die Notverordnungen

Verfassung einzuführen" (Peter Blomeyer) . Die ersten Notverordnungen bewegten sich ausdrücklich in diesem Rahmen. Doch bereits in den Jahren 1 922 bis 1 924 kam es dann zur umfassenden Ausweitung des Art. 48 im Sinne einer Anwendung auf wirtschaftliche, finan­ zielle und soziale Probleme, weil die damaligen Regierungen der Meinung wa­ ren, der normale parlamentarische Gesetzgebungsweg garantiere keine raschen und umfassenden Maßnahmen. Zwar blieben dies "nur Notbehelfe" (Ernst Ru­ dolf Huber) , doch es entstand immerhin eine gewisse gewohnheitsrechtliche Akzeptanz: Die zusätzliche Anwendung des Ausnahmeartikels erschien den Politikern als ein wenn nicht optimales, so doch durchaus legitimes Mittel der Verfassung. In der Bevölkerung wiederum führte diese Praxis dazu, dass das Bewusstsein für den qualitativen Unterschied zwischen wünschenswerter par­ lamentarischer Gesetzgebung und notfalls zu akzeptierendem Notverord­ nungsrecht des Reichspräsidenten frühzeitig unscharf zu werden drohte.

1 . Pläne fü r ein ,.Hindenburg-Kabin ett"

75

Im Zuge einer zumindest relativen Stabilisierung der innenpolitischen Lage in Deutschland wurde Art. 48 in den ersten fünf Jahren der Reichspräsi­ dentschaft Hindenburgs nicht angewendet. Allerdings versäumten es die Par­ lamentarier auch in dieser Zeit, Gründe und Umfang des präsidialen Notver­ ordnungsrechts klar zu definieren und damit endlich jenes Anwendungsgesetz zu schaffen, das auszuarbeiten die Verfassungsväter dem Gesetzgeber aufgetra­ gen hatten. So blieb es bei den vagen Umschreibungen des Art. 48, denen zu­ folge der Reichspräsident in fast allen politischen Bereichen tätig werden konnte. Wo und wie dies geschah, lag in seinem Ermessen. Außer richterlichen Urteilen konnten letztlich alle staatlichen Handlungen betroffen sein, soweit die formale Voraussetzung - eine erhebliche Störung oder Gefährdung der öf­ fentlichen Sicherheit und Ordnung - vorlag. Mit der Bildung des Präsidialkabinetts Brünings spielte der Reichspräsi-

Stellung des

dent erstmals seine ganze Machtfülle aus. Die Verfassung hatte ihn nicht nur

Reichspräsidenten

mit zahlreichen Kompetenzen ausgestattet, sondern auch die Tür zu etlichen und ganz unterschiedlichen Erwartungen an die Rolle des jeweiligen Amtsinhabers geöffnet: Je nach Standpunkt erschien der Reichspräsident als Inhaber einer "neutralen Macht", "Hüter der Verfassung", "Vermittler", "Nothelfer", "Ersatzkaiser" oder "Gegengewicht zum Reichstag". Bereits kurz nach Verabschiedung der Verfassung empfanden ihn Juristen als das "merkwürdigste Lebewesen, das je die deutsche Erde betreten hat" (Leo Wittmayer) . Als Hindenburg 1925 zum Reichspräsidenten gewählt worden war, fürchteten seine innenpolitischen Gegner dementsprechend auch zunächst um den Bestand der Republik. Doch erst mit der zunehmenden Finanz- und Wirtschaftskrise 1 929 entstand im Kreis der "Grauen Eminenzen", wie Staatssekretär Meißner und General

Kurt von Schleicher

sowie verschiedenen agrarischen und industriellen

Interessenvertretern, von deren Rat Hindenburg abhängig war, der Gedanke an ein vermeintlich überparteiliches und nur dem Staatswohl verpflichtetes Präsidial- oder Hindenburg-Kabinett. Stichwort

Ku rt von Schleicher

( 1 882-1 934) war n icht nur Berufsoffizier, sondern wurde aufg rund seines Org a n i­ sationsta l ents und seines g roßen Verh a n d l u ngsgesch icks sowie seiner Wen d i g keit i n den zwa nziger J a h ren auch ein besonders ei nfl ussreicher pol itischer Akteu r. 1 929 übernahm er u nter seinem Mentor, dem Reichswehrm i n ister G roener, die Leitu ng des M i n istera mtes, was dem Rang eines Staatssekretärs g l eichka m . Den Höhepunkt seines pol itischen Ei nfl usses erreichte er i n der Zeit der Präsid i a l kabi­ nette, da diese besonders auf eine U nterstützung d u rch die Reichswehr angewie­ sen waren. 1 934 wurde er von den Nationalsozial isten ermordet.

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

76

Hindenburg selber war von der Idee eines bürgerlichen Minderheitskabi­ netts, das nur von seinem Vertrauen abhängig sein sollte, zunächst keineswegs überzeugt. Erst der Bruch der Großen Koalition spielte den Ränkeschmiedern in seinem Umfeld in die Hände, zumal der Reichstag durch den Rückzug der SPD und die Fundamentalopposition der DNVP unter ihrem im Oktober 1928 gewählten Vorsitzenden Hugenberg nicht in der Lage war, eine mehr­ heitsfähige Regierung zu bilden. Schleicher warnte den Reichspräsidenten nun vor der Gefahr eines absehbaren Bürgerkriegs und mahnte ihn, zur Konsoli­ dierung des konservativen Lagers beizutragen. Vor diesem Hintergrund erschien jetzt auch dem Reichspräsidenten eine außerparlamentarische Beamtenregierung auf Basis von Notverordnungen die einzige Alternative. Entsprechend hat Hindenburg den Zerfall der Regierung Müller nicht bewusst herbeigeführt, aber er hat das Kabinett in den entschei­ denden Tagen Ende März 1 930 auch nicht im Amt zu halten versucht, indem er beispielsweise Müller erlaubt hätte, an der Spitze eines Minderheitskabinetts mit Hilfe von Notverordnungen weiter zu regieren. Dass er damit durchaus einer breiten populären Stimmung entsprach, die angesichts der akuten Wirt­ schaftskrise nach einem "starken Mann" an der Regierungsspitze verlangte, Gründe für die Berufu ng Brünings

nimmt ihm nichts von seiner Verantwortung. Hindenburgs Entscheidung, den 44-jährigen Heinrich Brüning zum neuen Kanzler zu bestimmen, konnte nicht überraschen: Von seiner Biographie und seinen politischen Überzeugungen her stand der Zentrumspolitiker dem Reichspräsidenten nahe. Stichwort

H e i n rich B r ü n i n g

( 1 885-1 970) wu rde a l s Sohn eines Essigfa b ri ka nten u n d Wei n h ä n d l ers geboren. Nach dem Stu d i u m der Gesch ichte, P h i l osophie und Nationalökonomie mel dete er sich 1 9 1 5 als Krieg sfreiwi l l iger. Er wurde I nfa nterieoffizier und sta nd noch in den letzten Kriegstagen a n der Sp itze einer El itee i n h e it, die d i rekt der 3 . O H L un­ terstel lt wa r u n d die Revol ution n iederschlagen sol lte. Die Kriegsj a h re sol lten Brü­ n i n g entscheidend prägen: Sie befreiten i h n aus seiner bisherigen Orientieru ngs­ losig keit und verschafften i h m erstmals eine praktische Bewä h r u n g . Gleichzeitig erhielt er sich aus dieser Zeit das Ideal einer ü berparteil ichen und u n po l itischen Ka meradschaft und Zusa m mena rbeit, die eingebunden i n eine strenge Diszi p l i n e i n e m übergeordneten Staatsi nteresse diente. 1 9 1 9 wurde er M itg l ied der Zen­ tru mspartei und trat ins pol itische Leben ein. Aufg ru n d seiner Sozial isation i m El­ tern haus und seiner Kriegserfa h rungen ging es ihm darum, Kath o l izismus und Preußenturn auszusöhnen u n d g l eichzeitig das katholische Zentru m a n den preu­ ßischen Konservatis m u s heranzufü h ren. Folgerichtig wurde Brüning 1 920 Refe­ rent des ch ristl ich-nationalen Gewerkschaftsfü h rers und preußischen Woh lfa h rts­ m i n isters Adam Stegerwa l d ( 1 874--1 945), der fü r die Gründung einer i nterkonfes­ sionellen ch ristl ichen Partei warb. Brü n i n g machte i n den zwa nziger J a h ren rasch Ka rriere, zumal er als asketischer J u nggese l l e ganz i n seiner Arbeit aufg i n g : 1 920

1 . Pläne fü r ein ,.Hindenburg-Kabin ett"

77

wurde er Geschäftsfü h rer der Vereinigung ch ristl icher Gewerkschaften; 1 924 er­ oberte er ein Reichstagsmandat, u n d 1 929 übernahm er sog a r den Vorsitz der Zentru m sfra ktion i m Reichstag. Bis dahin hatte Brüning sich einen Namen als Hausha lts- und F i n a nzexperte gemacht. All erdings m ied er mögl ichst den öffentli­ chen Auftritt, sodass er einer breiten Öffentlichkeit erst d u rch die Ü berna h m e der Reichskanzlerschaft i m Frühj a h r 1 930 beka n nt wurde. 1 934 emig rierte er i n die U SA. l n Deutschland blieb i h m auch nach 1 945 weiterer pol itischer Einfluss ver­ sagt.

Brüning hat in seinen 1 970 erschienenen Memoiren betont, er sei von der Berufung durch Hindenburg im Frühjahr 1930 völlig überrascht worden. Tat­ sächlich hatten ihn die Berater des Reichspräsidenten bereits Monate zuvor zumindest grundsätzlich auf diese Möglichkeit vorbereitet. Damit ist aller­ dings noch nicht belegt, dass Brünings Vermittlungsvorschlag vom 27. März 1 930 nicht ernst gemeint gewesen sei, ja sogar auf das Scheitern der Großen Koalition abzielte. Faktisch war der Zentrumspolitiker wohl durchaus gewillt, an die Spitze eines Präsidialkabinetts zu treten, wollte den Bruch der Großen Koalition aber zunächst noch verhindern, allein schon mit Blick auf das Aus­ land und die Bereitschaft der ehemaligen Siegermächte des Ersten Weltkrieges, ihre letzte Besatzungszone im Rheinland im Sommer zu räumen. Zudem fühlte er sich Reichskanzler Müller freundschaftlich verbunden. Die dramati­ sche Zuspitzung der Regierungskrise Ende März 1930 hat ihn offensichtlich selbst überrascht. Ausschlaggebend für seine Bereitschaft, Hindenburgs Auf­ trag zur Bildung eines Präsidialkabinetts anzunehmen, waren letztlich die Sorge vor einem direkten Eingriff der Reichswehr und sein soldatisches Pflichtgefühl. Immerhin war ihm aufgrund seiner fachlichen Kompetenz durchaus zuzutrauen, die akute Finanzkrise zu beseitigen, zumal er über gute Kontakte sowohl zum konservativen Lager und zum Militär als auch zur So­ zialdemokratie verfügte. Manchem Historiker mutet er selbst aus dem Rück­ blick zumindest noch als die "zweitbeste Lösung" (Hagen Schulze) an. Auch die meisten Zeitgenossen glaubten zunächst, dass die Berufung Brü­ nings nur Ausdruck eines vorübergehenden "notstandsrechtlichen Interims" (Ernst Rudolf Huber) sei, wie man es aus den ersten Jahren der Weimarer Re­ publik kannte. Noch schien keineswegs ausgemacht, dass nicht bereits in Kürze wieder eine arbeitsfähige parlamentarische Regierung im Amt sein würde. Insofern wurde das erste Präsidialkabinett von etlichen sogar als eine positive Entwicklung gewertet, die helfen konnte, die unübersehbaren Defizite des parlamentarischen Betriebs der Weimarer Republik zu überwinden. Brüning selber gab sich in seiner ersten Regierungserklärung am 1. April 1 930 ebenso kämpferisch wie selbstbewusst. Er präsentierte sich als ein Politi­ ker, der gewillt war, die akuten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme Deutschlands zu meistern. Dabei ging er zunächst auf die Außen-

Brü nings Regierungs­ erkläru n g

78

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

politik ein: "Die neue Regierung wird Deutschlands Lebensinteressen in orga­ nischer Weiterentwicklung der bisherigen Außenpolitik aktiv vertreten. Natio­ nales Selbstbewusstsein, Vertrauen in die innere Kraft des eigenen Volkes sind die Grundlagen ebenso wie die Erkenntnis, dass der Wiederaufstieg Deutsch­ lands nur im friedlichen Zusammenwirken mit allen Völkern erreichbar ist. " Mit Blick auf die aktuelle Wirtschaftskrise suggerierte er, dass er sich nicht im täglichen Krisenmanagement erschöpfen wolle, sondern ein umfassendes Lö­ sungskonzept besitze: "Neue Steuerlasten zur Sanierung der Kassenlage sind nur tragbar, wenn sie im Rahmen eines auf weite Sicht gestellten, Schritt für Schritt durchzuführenden Gesamtprogramms stehen." Bestandteile seines Planes zur Sanierung der Wirtschaft waren neben Steuererhöhungen eine Vereinfachung der öffentlichen Verwaltung, eine zeit­ gemäße Sozialpolitik sowie die Überwindung der Agrarkrise durch ein land­ wirtschaftliches Hilfsprogramm, wobei Brüning insbesondere die Osthilfe er­ wähnte. Diese wirtschaftspolitischen Maßnahmen ordnete der neue Reichs­ kanzler in eine umfassende Beruhigung der innenpolitischen Lage ein. Er deutete das Anwachsen einer Fundamentalopposition auf der Linken wie der Rechten nicht als eine tiefgreifende Krise des politischen Systems, sondern le­ diglich als eine Folge der sozialen und wirtschaftlichen Krise. War die erst ein­ mal beigelegt - und das traute er sich durchaus zu -, würden auch die radika­ len Parteien wieder an Boden verlieren. Insofern war für ihn eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik die beste Innenpolitik. Zuckerbrot und Peitsche kennzeichneten Brünings abschließenden Appell an die anwesenden Parlamentarier, ihn zu unterstützen. Ausdrücklich betonte er, dass " [d] as neue Reichskabinett [ . . . ] entsprechend dem mir vom Herrn Reichspräsidenten erteilten Auftrag an keine Koalition gebunden [sei] ". Den­ noch wolle er die Abgeordneten nicht gänzlich ausschalten, allerdings - so Brünings Warnung - sei dies "der letzte Versuch [ . . . ] die Lösung mit diesem Reichstage durchzuführen". Damit hatte der neue Reichskanzler hinreichend verdeutlicht, dass er notfalls auch mit Hilfe von Notverordnungen des Reichs­ präsidenten nach Art. 48 WRV zu regieren gedachte.

B r ü n i n g s Reg ieru ngserklä rung vom 1 . April 1 93 0

Quelle: Verh a n d l u n g e n des Reichstags. Stenograph ische Berichte, Sitzung vom 1 . April 1 930, S. 4730. "Die Reichsregierung wird an diesen Vorschlägen und an ihrer schnellsten Durchführung unter al len Umständen festha lten. Sie ist gewillt und in der Lage, alle verfassungsmä ßigen Mittel hierfür einzusetzen. Das Werk des ver­ söhnenden Ausgleichs zwischen den einzelnen Berufsständen und Schichten der Bevöl kerung verträgt keinen Ver­ zug. Diesem Gedanken m u ß auch der Reichstag in seiner Stellungnahme zur neuen Reichsregierung Rech nung tragen. Parteipolitische Erwägungen m üssen in dieser Stunde in den Hintergrund treten . Sachliche Einstellung zu diesem Programm des Kabinetts a l lein sichert die Zukunft des deutschen Vol kes."

2. Brünings I n nenpol itik 1 930-32: Krisen bewä ltigung durch Krisenverschä rfung?

79

Abb.4 Nachdem die Koa l ition u nter Herm a n n M ü l ler im März 1930 zerbrochen war, beauftragte Paul von H i n d e n b u rg Hein rich Brü n i n g (Zentru m) m i t der B i l d u n g einer neuen Regieru n g ( h ier wä h rend der Regierun gserklärung).

2. Brü n i ngs I n n e n po l itik 1 930-32: Krisenbewä ltig u n g d u rch Krisenverschärfu n g ? a)

Vom Regierungsantritt b i s z u r Reichstagsauflösung im Juli 1 930 Brünings Regierungserklärung provozierte im Reichstag teilweise scharfe

Kritik: In der Debatte über die Regierungserklärung am 2. und 3. April 1930 griff der SPD -Redner Rudolf Breitscheid ( 1 874- 1 943) vor allem die Drohung des Reichskanzlers mit dem Gebrauch von Notverordnungen auf und kün­ digte in einem solchen Fall den Widerstand der Arbeiterschaft an. Noch hefti­ ger fielen die Angriffe des kommunistischen Redners Wilhelm Pieck ( 1 876-1 960) aus. Aber auch der NSDAP-Redner Ernst Graf zu Reventlow ( 1 869- 1 943) verweigerte dem Kabinett jede Unterstützung. Die DNVP-Frak­ tion sprach sich hingegen nicht eindeutig aus: Das lag zum einen daran, dass man hier zwar den Bruch der Großen Koalition begrüßte, hingegen Brünings Ankündigung, am Young-Plan festzuhalten, kritisierte und auch seine Finanz­ und Wirtschaftspolitik ablehnte. Überdies hatte der neue Kanzler die stärkste bürgerliche Rechtspartei bei der Regierungsbildung wegen der Fundamen­ talopposition ihres Vorsitzenden Bugenberg bewusst übergangen. Dennoch

Parlamentarische Debatte

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

80

stimmten die deutschnationalen Abgeordneten schließlich am 3. April gegen die von SPD und KPD eingebrachten Misstrauensanträge, um die angekündig­ ten Hilfsmaßnahmen für die Landwirtschaft, vor allem in den besonders unter der Agrarkrise leidenden Ostgebieten - ihrer eigenen Klientel -, nicht zu ge­ fährden. Auch in den folgenden Monaten schien Brünings Taktik von Lockung und Abschreckung, das Angebot parlamentarischer Mitwirkung an der Regie­ rungsarbeit bei gleichzeitiger Drohung mit Notverordnungen, zunächst zu funktionieren. Tatsächlich erhielt der Reichskanzler für seine Haushaltssanie­ rungspolitik zunächst die Zustimmung des Reichstages. Nun war an der Not­ wendigkeit einer solchen Politik auch kaum zu zweifeln: Seit 1 925 hatte der Reichsetat regelmäßig ein Defizit aufgewiesen. 1 929 waren dann erstmals mas­ sive Zahlungskrisen entstanden, die sich in den folgenden Jahren weiter ver­ schärften. Ungeachtet der andauernden Differenzen über den richtigen wirt­ schaftspolitischen Kurs stimmten deshalb auch wechselnde Mehrheiten Mitte April 1930 für das von der Reichsregierung geschnürte Paket zur Sanierung der Finanzen, das vor allem Steuererhöhungen vorsah, aber auch Unterstüt­ zungszahlungen für die Landwirtschaft. Spaltung der DNVP

Dabei profitierte das Kabinett Brüning auch von der bereits in der Auseinandersetzung über den Young-Plan absehbaren, nun aber unüberbrückbaren Spaltung der DNVP in einen fundamentaloppositionellen Flügel um den Partei­ vorsitzenden Hugenberg und einen gemäßigten Teil in der Reichstagsfraktion um deren ehemaligen Vorsitzenden

Kuno Graf von Westarp.

Letzterer war ent­

schlossen, die Anfang April eingeleitete Tolerierungspolitik fortzusetzen, wäh­ rend eine Minderheit in der Fraktion um Hugenberg - der wiederum die Mehr­ heit des Parteivorstands hinter sich wusste - bald schon erneut ihren Willen zur im Jahr zuvor beschlossenen Maxime der unbedingten Opposition bekundete. Stichwort

Ku no G raf von Westa rp

( 1 864-1 945) war nach dem J u ra-St u d i u m zunächst La n d rat i n Posen, dann i n Pom­ mern, 1 903 wurde er Pol izeipräsident i n Schöneberg und Wilmersdorf bei Berl i n, 1 908 zog er fü r die Deutschkonservativen in den Reichstag, wo er 1 9 1 2 den Frak­ tionsvorsitz seiner Partei übern a h m . Gleichzeitig war er Oberverwa ltungsgerichts­ rat i n Berl in. Im Ersten Weltkrieg trat Westarp fü r Annexionen e i n . 1 920 zog er er­ neut in den Reichstag, d ieses Mal fü r die DNVP, zu deren Fraktionsvorsitzender er 1 925 gewä hlt wurde. 1 926 fol gte die Ü berna h m e auch des Parteivorsitzes. Nach­ dem er d ieses Amt bereits i m Oktober 1 928 a n Alfred Hugen berg verloren hatte, l egte er im Dezem ber 1 929 ebenfa l l s den Fra ktionsvorsitz n ieder und verl ieß i m J u l i 1 930 sog a r die D NVP aus Protest g e g e n H ugen bergs rad i ka l e n Ku rs. Danach wurde Westarp M itbeg ründer der Konservativen Vol kspartei, fü r die er bis 1 932 i m Reichstag saß. Danach trat er pol itisch n icht m e h r hervor.

2. Brünings I n nenpol itik 1 930-32: Krisen bewä ltigung durch Krisenverschä rfung?

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Am Ende wuchsen sich die tiefgreifenden Meinungsunterschiede zur ech­ ten Zerreißprobe für die DNVP aus: Im Juli 1930 verloren die Gemäßigten auch in der Reichstagsfraktion ihren Rückhalt und mussten deshalb die Partei verlassen. Sie schlossen sich kleineren Rechtsparteien an - darunter auch der Volkskonservativen Vereinigung, die bereits früher ausgeschlossene Hugen­ berg-Gegner Ende Januar gegründet hatten. Indes gelang es weder ihnen noch den verbleibenden Hugenberg-Anhängern, an den Erfolg der alten DNVP an­ zuknüpfen: Diese war noch wenige Jahre zuvor ein großes Sammelbecken für das nationale Bürgertum mit starkem Anhang im Bauerntum und in der christlich-sozialen Arbeiterbewegung gewesen. Mit ihrem Zerfall verlor die Weimarer Republik ein wichtiges Gegengewicht zur neuen rechtsradikalen Kraft, der NSDAP, die in den kommenden Wahlen von der zunehmenden politischen Marginalisierung der DNVP profitierte. Das relative Einvernehmen von Regierung und Reichstag änderte sich mit dem 16. Juli 1930: An diesem Tag lehnte der Reichstag mit 256 zu 193 Stimmen die Deckungsvorlage der Regierung für den Reichshaushalt des Rechnungsjahres 1 930/3 1 ab, die angesichts einer Finanzierungslücke im laufenden Haushalt von 500 Millionen Reichsmark verschiedene unpopuläre Steuererhöhungen, einschließlich einer "Reichshilfe" des öffentlichen Dienstes, vorsah. Nun kam es zur offenen Machtprobe zwischen Regierung und Parlament: Brüning hielt an seinem Haushaltsentwurf fest und ließ ihn als Notverordnung des Reichspräsidenten in Kraft treten. Daraufhin stimmte eine Mehrheit der Abgeordneten - insbesondere aus SPD und KPD - am 1 8 . Juli für eine Aufhebung dieser Maßnahme. Doch für einen solchen Fall hatte sich Brüning von Hindenburg bereits eine Auflösungsordre erbeten, von der er nun Gebrauch machte, um sich der ihm unbequemen Abgeordneten zu entledigen. Zudem wurde die vom Reichstag verworfene Notverordnung einige Tage später, am 26. Juli, in erweiterter Form erneut verkündet. Sie sah nicht nur die bereits angekündigten umfangreichen Steuererhöhungen, sondern auch verschiedene Osthilfe-Leistungen, eine Reform der Arbeitslosen- und Krankenversicherung, Anti-Kartell-Verordnungen zur Verhütung wirtschaftlicher Preisbindung sowie Maßnahmen zur "Regelung des Reichshaushalts 1 930" vor, die der Reichsregierung wirtschaftsdiktatorische Rechte einräumten. Über die harten wirtschaftlichen Eingriffe hinaus gewann diese Notver­ ordnung ihren zensierenden Charakter aus der Tatsache, dass sie den Über­ gang von der parlamentarischen Demokratie zum System des Präsidialkabi­ netts als einem antiparlamentarischen Kampfkabinett vollzog. Erstmals in der Geschichte der Weimarer Republik wurde ein Etat nicht durch den Reichstag, sondern in Form einer Notverordnung veröffentlicht. Das bedeutete einen "verhängnisvollen Wendepunkt" in der Geschichte der Weimarer Republik und den Beginn eines "bürokratischen Verordnungsregimes" (Karl Dietrich Bracher) .

Reichstagsauflösung

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

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Reichstagswahl-

Brüning selbst hat den Reichstagswahlkampf des Sommers 1 930 als ein

ergebnis

"Plebiszit über die Notverordnung" bezeichnet. Gemessen daran bedeutete das Wahlergebnis vom September 1930 eine vernichtende Niederlage für seine Politik, aber auch für ihn persönlich: Zwar konnte das Zentrum mit 14,8 % seine Stellung knapp ausbauen, doch die übrigen bürgerlichen Mittel- und Rechtsparteien und auch die SPD erlitten teilweise harte Verluste. Vor allem aber zeigte das Anwachsen der NSDAP-Fraktion im Vergleich zur letzten Reichstagswahl 1928 von 12 auf 107 Sitzen und die nicht ganz so deutliche Stärkung der KPD, die statt 54 nun 77 Mandate gewann, die wachsende Radi­ kalisierung des innenpolitischen Klimas in Deutschland. Auch deshalb hatte keine der bisherigen Regierungskoalitionen - weder die "Weimarer Koalition" noch der "Bürgerblock" oder auch eine Große Koalition - im neuen Reichstag eine Mehrheit. Doch ungeachtet dieses beunruhigenden Ergebnisses hielten Kanzler und Minister daran fest, dass ihr "sachliches Notprogramm" (Joseph Wirth) alternativlos sei und unabhängig von der aktuellen politischen Konstel­ lation im Reichstag durchgeführt werden müsse.

Mmf!jiiM Ha rry G raf Kess ler z u m Reichstagswa h lergebnis vom 1 4. September 1 93 0 Quelle: Harry Graf Kessler: Tagebücher 1 9 1 8-1 937, Fran kfurt 1 982, S. 677 f. ( 1 5 . September 1 930).

"Ein schwarzer Tag fü r Deutsch land. [ . . . ] Die Nazis haben i h re Mandatsza h l fast ver­ zeh nfacht, sind von zwölf auf h u ndertsieben Mandate geko m m e n u n d so die zweitstä rkste Partei des Reichstags g eworden. Der Eind ruck i m Ausland m u ß katas­ trophal sein, die Rückwi rku ng außenpolitisch und fi nanziell verheerend. Wir ste­ hen d a m it (bei h u n dertsieben Nazis, e i n u ndvierzig H ugen bergern und über sieb­ zig Kom m u n isten, also etwa zweihundertzwanzig Abgeordneten, die den heuti­ gen deutschen Staat radikal verneinen und revolutionär beseitigen wol l en) vor einer Staatskrise, die n u r d u rch die straffe Zusa m m e nfassung a l l e r die Rep u b l i k be­ jahenden oder wenigstens tolerierenden Kräfte ü berwunden werden ka n n, wen n diese Kräfte a u ßerdem noch d a s Ta lent a ufbringen, die wirtschaftliche u n d fi nan­ zie l l e Lage bis zur nächsten Reichstagsauflösung zu san ieren. Allerdings wird das nächste Resu ltat woh l (fa l l s kei n P utsch kom mt) die Bildung einer ,Großen Koa l i­ tion' zwischen den jetzigen Reg ieru n g s pa rteien u n d den Sozia ldemokraten sein m ü ssen, da anders die Reg ierung überhaupt n icht fortg efü h rt werden ka n n . Ein beunruh igendes Deta i l ist der Mißerfol g der Staatspartei, die n u r zwa nzig Man­ date, also weniger a l s die Demokraten i m vorigen Reichstag, a ufgebracht hat trotz des Zugangs des J u ngdo. Das deutsche Bürgertum (in ,Staatspartei' u n d Vol kspar­ tei verkörpert) scheint e n d g ü ltig im Aussterben, pol itisch. Es wird bald zwischen all den a ufgeregten Leuten u n d den sozia ldemokratischen Arbeitern überhaupt keine Rol l e m e h r spielen. [. .. ] Der Nationa l sozia l is m u s ist eine F ieberersche i n u n g des sterbenden deutschen kl einen M ittelsta ndes; d ieser Giftstoff seiner Kra n kheit ka n n aber Deutsch l a n d und Europa auf J a h rzeh nte hin verelenden. Zu retten ist diese Klasse n icht; sie ka n n a b e r ungeheures neues Elend ü b e r Europa bringen i n i h rem Todeskam pf".

2. Brünings I n nenpol itik 1 930-32: Krisen bewä ltigung durch Krisenverschä rfung?

b)

83

Tolerierung durch die SPD Da die alte Regierung auch im neuen Reichstag nicht über eine Mehrheit

verfügte, war sie auf eine Tolerierung durch Teile der Opposition angewiesen. Entsprechend suchte Brüning auch das Gespräch mit Hitler - erstes Anzeichen für jenen schwankenden Kurs der bürgerlichen Rechten zwischen Abgrenzung von den Rechtsextremen und dem Versuch zur Einbindung ihrer vermeintlich "guten" Elemente -, um die Unterstützung der NSDAP auszuloten. Indes lehnte der NSDAP-Vorsitzende dieses Ansinnen ab. Hingegen sagte die SPD­ Führung Brüning Ende September 1 930 in zwei geheimen Gesprächen gleich in mehrerlei Hinsicht ihre Mithilfe zu: Sie versprach, etwaige Misstrauensvoten sowie Anträge zur Außerkraftsetzung der Notverordnungen nicht mitzutragen, ebenso dem Reichskabinett unerwünschte parlamentarische Aussprachen zu ersparen. Damit stärkte die SPD der Regierung wesentlich den Rücken, indem sie die Opposition entscheidend schwächte. Das trug der Parteiführung den nachdrücklichen Tadel ihres linken Flügels ein, auch riskierte sie, dass die Wähler sie zukünftig für die von ihr zwar nicht formell gebilligte, de facto aber mit getragene Politik Brünings haftbar machen würden. Doch der eigentliche Grund der Tolerierungspolitik wog schwerer: die Aufrechterhaltung der "Weimarer Koalition" in Preußen unter dem sozialde­

Gründe für Tolerierungspolitik

mokratischen Ministerpräsidenten Braun. Brüning sicherte der SPD im Ge­ genzug zu deren Tolerierungspolitik nämlich zu, das Zentrum nicht aus der preußischen Regierungskoalition herauszuführen und entsprechende Offerten von DVP und DNVP zu ignorieren. Diese Zusage war umso bedeutsamer, als sich nicht zuletzt am Bestand der preußischen Regierung die Hoffnung auf ein Überleben der parlamentarischen Regierungsform in Deutschland festmachte. Überdies war die SPD-Führung überzeugt, dass auch ihre Partei, obwohl sie weiterhin die stärkste Fraktion im Reichstag stellte, keine eigene Regierung bil­ den konnte, weil ihr die Koalitionspartner und die Unterstützung des Reichs­ präsidenten fehlten. Schließlich fürchteten die Sozialdemokraten etwaige Neu­ wahlen, die den radikalen Kräften von links und rechts - auch auf eigene Kos­ ten - nur weiteren Zulauf bringen würden. Insofern praktizierte die SPD eine "legalistisch-etatistische Defensivpolitik" (Klaus Schönhoven) , die auf Zeit setzte sowie sich im Zuge der wirtschaftlichen Erholung auch eine parlamen­ tarische Normalisierung erhoffte und bis dahin ihre Bastionen in den Ländern schützen wollte.

c)

Brünings Deflationspolitik und ihre prozyklische Wi rkung Die ohnehin kritische finanzielle Lage des Reiches verschärfte sich nach

den Wahlen vom September 1 930: Aufgrund des beunruhigenden Ergebnisses zogen ausländische Anleger weitere Kredite ab. Das Haushaltsdefizit stieg nun

Haushaltsdefizit

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

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auf 900 Millionen Reichsmark, für das Haushaltsjahr 193 1/32 beliefen sich die entsprechenden Berechnungen sogar auf eine 1 Milliarde Reichsmark. In die­ ser Situation erwies sich ein Kredit des amerikanischen Bankhauses Lee, Hig­ ginson

&

Cie. über 125 Millionen Dollar als ein rettender Strohhalm. Er er­

folgte zwar nicht ausdrücklich unter politischen Auflagen, war inoffiziell aber durchaus mit der Erwartung einer Finanzreform verbunden. Vorübergehend mochte man nun in Deutschland auch hoffen, das Schlimmste hinter sich zu haben, denn Anfang 1 93 1 gab es Hinweise darauf, dass ein neuer Aufschwung einsetzte und sich damit die bisherige Krise tat­ sächlich nur als eine jener zyklisch wiederkehrenden ökonomischen Ab­ schwünge entpuppte, die man bereits aus der Vergangenheit kannte. Von Ja­ nuar bis April 1 93 1 signalisierten wichtige Indikatoren, darunter auch die Pro­ duktion von Verbrauchsgütern, wieder einen deutlichen Anstieg; überdies sanken die Arbeitslosenzahlen zwischen Februar und Juni 1 93 1 um eine Mil­ lion. Indes machte die Bankenkrise im Frühjahr/Sommer 1 9 3 1 wieder alle Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Erholung zunichte: Im Mai 1 93 1 schloss die größte Wiener Bank, die Österreichische Creditanstalt, ihre Schalter. Dies verunsicherte auch in- und ausländische Gläubiger in Deutschland weiter. Sie zogen ihre Einlagen nun massiv ab: Von Ende Mai bis Anfang Juli 1 9 3 1 gab die Reichsbank Gold und Devisen im Wert von fast zwei Milliarden Reichs­ mark ab. Bankenkrise

Angesichts der dramatischen Abflüsse verweigerte sie der Darmstädter Nationalbank im Juli 1 93 1 weitere Kredite. Diese Bank hatte sich im Zuge einer sehr riskanten Expansionspolitik besonders hoch im Ausland verschul­ det und war auch vom Zusammenbruch des Bremer Nordwolle-Konzerns be­ troffen. Nun sah sie sich unter extremem Druck ihrer Gläubiger, die ihre Ein­ lagen abziehen wollten. Am 13. Juli musste sie schließlich ihre Schalter schlie­ ßen und ihre Zahlungen einstellen. Obwohl die Reichsregierung nun doch noch eine Ausfall-Bürgschaft für die anstehenden Verbindlichkeiten über­ nahm, kam es zum allgemeinen Sturm der Anleger auf die Banken. Den völli­ gen Zusammenbruch des deutschen Bank- und Kreditwesens konnte die Reichsregierung nur durch eine vorübergehende allgemeine Bankschließung und die Erklärung von Bankfeiertagen am 14. und 1 5 . Juli verhindern. Den­ noch verschärfte der Bankenkrach die Wirtschaftskrise in Deutschland und trieb die Arbeitslosenzahlen weiter in die Höhe. Zu diesem Zeitpunkt war die Wirtschaftslage durch eine Kontraktion aller ökonomischen Prozesse geprägt: rückläufige Produktion, Investitionen, Volkseinkommen, Preise, Löhne, Ge­

Deflationäre

winne, Einkommen aller Art, Steuereinnahmen, verbunden mit einer deflato­ rischen Wertsteigerung der nationalen Währung. Trotzdem hielt die Reichsregierung an ihrer strikten Deflationspolitik

"Parallelpolitik"

fest, die versuchte, die Ausgaben durch immer drastischere Einsparungen den sinkenden Einnahmen anzupassen und sich neue Einnahmequellen zu er-

2. Brünings I n nenpol itik 1 930-32: Krisen bewä ltigung durch Krisenverschä rfung?

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schließen. Mit Hilfe mehrerer "Notverordnungen zur Sicherung von Wirt­ schaft und Finanzen" wurden auch Länder und Gemeinden zu einem solchen Vorgehen gezwungen. Folglich prägten die Amtszeit Brünings zum Teil mehr­ fache Erhöhungen von Lohn-, Einkommens-, Umsatz-, Kraftfahrzeug-, Zu­ cker- und Biersteuer sowie zahlreicher Zölle und sonstiger Abgaben. Überdies wurden Sonderzuschläge zur Lohn- und Einkommenssteuer von Ledigen, eine besondere Umsatzsteuer für Warenhäuser und Konsumvereine, Getränke­ und Mineralwassersteuern eingeführt sowie alle Lohn- und Gehaltsempfanger zu einer "Krisensteuer" zugunsten der Arbeitslosen herangezogen. Schließlich kam im Dezember 1 9 3 1 noch eine "Reichsfluchtsteuer" zur Abwehr des Kapitalexports hinzu, den Angehörigen des öffentlichen Dienstes wurde eine Sonderabgabe auferlegt, die später durch Gehaltskürzungen ersetzt wurde, und den Gemeinden das Recht eingeräumt, eine "Bürgersteuer", fak­ tisch eine nach dem Einkommen gestaffelte Kopfsteuer, zu erheben. Doch auch diese Abgabenflut reichte nicht aus, die staatlichen Einnahmenverluste auszugleichen und die stetig wachsenden Ausgaben der öffentlichen Hand, insbesondere für soziale Zwecke, wie die Versorgung der Arbeitslosen, zu de­ cken. Deshalb wurden im Zuge einer "Parallelpolitik" zusätzlich alle anderen Sachausgaben so drastisch gesenkt, dass Reich, Länder und Gemeinden als Ab­ nehmer von Gütern und Dienstleistungen weitgehend ausfielen: Seit Oktober 1 9 3 1 durften keine öffentlichen Gebäude mehr errichtet, Reparaturen und Anschaffungen nur vorgenommen werden, wenn unmittelbare Gefahr für Menschenleben drohten. Gleichzeitig wurden Stellen abgebaut, um auch die Personalkosten zu senken. Den verbleibenden Angestellten, Arbeitern und Be­ amten im öffentlichen Dienst wurden die Gehälter um bis zu 25 % gesenkt. Überdies wurden Pensionen, Kriegsopfer-, Kranken- und Arbeitslosenversi­ cherung deutlich gesenkt. Parallel zu dieser restriktiven Finanzpolitik ver­ suchte die Regierung, durch konsequente Deflation Preise und Löhne auf dem Wege behördlicher Verordnungen zu senken. Die teilweise drastischen Einkommenseinbußen zwangen die Betroffenen, ihre Einkäufe erheblich zu drosseln. Der Rückgang der öffentlichen wie der privaten Nachfrage aber führte zu dramatischen Produktions- sowie Beschäf­ tigungsrückgängen und wirkte damit prozyklisch: Das Bruttosozialprodukt sank zwischen 1 928 und 1 932 um fast 40 %, die Industrieproduktion ging auf 58 % und die Investitionsgütererzeugung sogar auf 38 % des ursprünglichen Standes zurück. Dies lag auch daran, dass sich selbst der Export nicht so entwickelte wie von der Regierung erwartet: Das Aktivsaldo stieg zwar zwischen 1 930 und 1932 tatsächlich auf 2,8 Milliarden Reichsmark, doch dies war nur darauf zurückzuführen, dass die Einfuhren im Zuge der Deflation noch stärker zurückgingen als der gleichfalls kontinuierlich abnehmende Export. Eine Steigerung der Ausfuhr war trotz stark gesunkener Preise nicht zu erreichen, weil die deutschen Handelspartner ihrerseits ihre Märkte gegen fremde Waren

Prozyklische Wirkung

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

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abschlossen und die eigene Produktion mit allen Mitteln förderten. Völlig ob­ solet wurde diese Hoffnung dann, als Großbritannien am 2 1 . September 1 93 1 das Pfund abwertete und dreißig weitere Währungen in den kommenden Mo­ naten folgten, sodass schließlich die wichtigsten deutschen Konkurrenten ihre Güter und Dienste etwa 20 % billiger anbieten konnten als deutsche Firmen. Folglich stieg die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland immer weiter an: von 1,3 Millionen im September 1 929 über 3 Millionen im September 1 930 auf 4,3 Millionen im September 1 9 3 1 und schließlich zur Jahreswende 1 932/33 auf sechs Millionen. Auch das einjährige Schulden-Moratorium des amerikanischen Präsiden­ ten Herbert Hoover ( 1 874-- 1 964) vom Sommer 1 93 1 änderte an dieser Ent­ wicklung zunächst nichts. Das lag daran, dass Brüning trotz der erheblichen finanziellen Entlastung Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen größeren Stils weiter­ hin kategorisch ablehnte, weil er sie für inflationstreibend und mit den Be­ stimmungen des Young-Plans nicht vereinbar hielt. Daran änderten auch Stüt­ zungsmaßnahmen zugunsten von Landwirtschaft und Industrie - insbeson­ dere der Exportwirtschaft - nichts, da der Versuch, den Verfall der Preise für Agrarprodukte zu stoppen, ebenso an den gegenläufigen Tendenzen des Welt­ marktes scheiterte wie das Bemühen, den Außenhandel zu stimulieren. Letztlich wollte Brüning zumindest seit dem Sommer 1 9 3 1 die katastro­ phalen ökonomischen und politischen Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Deutschland als Argument gegenüber den Siegermächten gebrauchen, um diese zum Verzicht auf die für Deutschland offensichtlich ruinösen Reparati­ onszahlungen zu zwingen. Dabei kam ihm zustatten, dass er unabhängig vom Parlament allein gestützt auf das Vertrauen des Reichspräsidenten arbeiten konnte. Unter den Bedingungen parlamentarischer Mehrheitssicherung wäre seine "harte" Politik nicht durchsetzbar gewesen, denn spätestens seit dem Winter 193 1/32 herrschte der Wunsch nach einer Änderung der Finanz- und Wirtschaftspolitik in der öffentlichen Meinung vor, da nun klar war, dass der vermeintlich vorübergehende Konjunktureinbruch tatsächlich eine umfas­ sende Strukturkrise war.

d)

Die Deflationspolitik und i h re Kritiker

Kritiker der

Mit seiner strikten Deflationspolitik geriet Brüning zumindest seit der

Deflationspolitik

zweiten Hälfte des Jahres 1 93 1 , als die Wirtschaftskrise in Deutschland mit dem Bankenzusammenbruch eskalierte und die Hoffnung auf einen nur vor­ übergehenden zyklischen Konjunkturabschwung widerlegte, immer mehr un­ ter Beschuss. Zu diesen Kritikern gehörten Wirtschaftswissenschaftler, Ge­ werkschaftler, Vertreter der Angestellten- und Beamtenverbände, einzelne Un­ ternehmer, ja selbst Angehörige der Reichsregierung, wie der Staatssekretär im Finanzministerium, Hans Schäffer ( 1 886-1 967), der sich mittlerweile fragte:

2. Brünings I n nenpol itik 1 930-32: Krisen bewä ltigung durch Krisenverschä rfung?

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"Kann man es verantworten, an einer richtigen und zweckmäßigen Lösung, die sozial entlastend und politisch beruhigend wirkt, aus taktischen Gründen vorbeizugehen?" Damit spielte Schäffer auf die zu diesem Zeitpunkt kursieren­ den Pläne zur staatlichen Wirtschaftsankurbelung an, die von verschiedenen Institutionen, Verbänden und Ökonomen, aber auch Mitarbeitern von Reichs­ ministerien vorgelegt wurden. Ausschlaggebend war hierbei die Einsicht in das verheerende Ausmaß der Wirtschaftskrise. Deren bedrohliche Konsequenzen führte Arbeitsminister Stegerwald auf einer Ministerbesprechung am 4. März 1932 dem Reichskanz­ ler und seinen Ministerkollegen vor Augen: "Wenn wir dieses Frühjahr nicht den Leuten durch Arbeitsbeschaffung eine seelische Ablenkung geben, halten wir bestimmt nicht durch. Dann halten wir aber nicht einmal bis zum Juli durch." Das zielte vor allem auf die Argumentation des Reichskanzlers, der be­ fürchtete, dass jede aktive Bekämpfung der Arbeitslosigkeit seitens der Regie­ rung deren Position in den laufen Reparationsverhandlungen verschlechterte. Dabei ging auch er mittlerweile davon aus, dass sich eine endgültige Lösung erst im März 1 933, nach den Präsidentschaftswahlen in den USA und der Amtseinführung des siegreichen Kandidaten, ergeben würde. Obwohl die damals kursierenden Vorschläge für eine aktive Arbeitsmarkt­ politik durchaus durchdacht waren und nicht von Phantasten stammten, ver­ warf Brüning sie. Dabei betonte er zum einen die Gefahr einer Inflation, die bei jedem Abgehen von seinem Sparkurs drohe - ein Argument, das geschickt die besondere Inflationsfurcht der Deutschen aufgriff, allerdings auch von vie­ len Fachleuten geteilt wurde. Zum anderen verwies er auf die kontraprodukti­ ven Wirkungen jeder Kreditausweitung nicht nur im Hinblick auf die soziale Reformbereitschaft der Arbeitnehmer, sondern auch in puncto Reparations­ politik. Gerade Letzteres aber spielte für ihn eine entscheidende Rolle: Brü­ nings Wirtschaftspolitik speiste sich aus politischer Überzeugung, und das heißt vor allem aus seinem eisernen Willen, von den Siegermächten des Ersten Weltkrieges eine Beendigung der deutschen Reparationszahlungen zu erzwin­ gen. Indes isolierte sich der Reichskanzler mit seiner rigiden Sparpolitik immer mehr. Zuletzt hatte er keinen gesellschaftlichen Rückhalt mehr: Arbeitnehmer, Beamten und Arbeitgeber opponierten mittlerweile, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, gegen ihn. Der Wunsch nach einer aktiven Be­ kämpfung der Wirtschaftskrise war seit dem Winter 193 1/32 fast in der gesamten Bevölkerung verbreitet. Dass die demokratischen Parteien sich diese Stimmung nicht zu Eigen machten, entschuldigt nicht Brünings Intransigenz: Aufgrund ihrer faktischen Entmachtung im Zeichen des Präsidialsystems wa­ ren ihre Vorschläge letztlich bedeutungslos; damit aber fehlte ihnen auch jeder Anreiz, die eigenen Positionen zu überdenken und neue Konzepte zu entwi­ ckeln. Allerdings hätten sie wohl kaum gegen einen wirtschaftspolitischen

Selbstisolieru n g Brü nings

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Kurswechsel der Reichsregierung opponiert, zumal die Stützung Brünings an­ gesichts der drohenden Gefahr einer nationalsozialistischen Regierungsüber­ nahme für alle demokratischen Parteien, insbesondere die SPD, oberste Prio­ rität besaß. Da der Kanzler aber an seiner Deflationspolitik festhielt, fanden die ar­ beitslosen Massen sowohl in der Regierung als auch im demokratischen Par­ teienspektrum keine unmittelbaren Verbündeten für ihre verständliche Forde­ rung nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, sondern wurden hierzu auf die erklärten Republikgegner vor allem von rechts, in der NSDAP, verwiesen, die sich ihr Anliegen zynisch zu Eigen machten. Damit waren sie umso erfolgrei­ cher, als Brünings Wirtschaftspolitik weit hinter den selbst gesetzten Zielen zu­ rückblieb: Weder gelang es ihm in seiner zweijährigen Regierungszeit, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen noch Bruttosozialprodukt und Volksein­ kommen zu steigern oder die Arbeitslosigkeit abzubauen. "Borchardt-

Über die Notwendigkeit oder Unabänderlichkeit dieser Deflationspolitik

Kontroverse"

hat die Forschung vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren im Zuge der "Borchardt-Kontroverse" diskutiert. Ausgangspunkt war eine These des Wirt­ schaftshistorikers Knut Borchardt, die das bis dahin vorherrschende Verdikt über Brünings Wirtschaftspolitik in Frage stellte: Für Borchardt hatte Brüning aus finanziellen wie politischen Gründen keine Erfolg versprechende Alterna­ tive zur Hand, zumal die deutsche Wirtschaft bereits in den zwanziger Jahren "krank" und von einer Lohn- sowie Sozialquote geprägt gewesen sei, die in wachsendem Missverhältnis zur Produktivität gestanden habe. Diese revisio­ nistische Interpretation bestritt wiederum Carl-Ludwig Holtfrerich: Seiner Meinung nach hätte die Regierung in der zweiten Jahreshälfte 1 9 3 1 erfolgreich ein Arbeitsbeschaffungsprogramm auflegen können, das eine weitere Ver­ schlechterung der wirtschaftlichen Lage mit ihren verheerenden politischen Auswirkungen verhindert hätte. Zu diesem Zeitpunkt wurde eine solche anti­ zyklische Wirtschaftspolitik, wie sie der britische Ökonom Keynes theoretisch entwickelt hatte, durchaus auch in Brünings Umgebung erwogen. Doch der Reichskanzler, so Holtfrerich, verweigerte sich solchen Ratschlägen, weil er auf die Revision des Versailler Vertrages fixiert war und dem die wirtschaftliche

lnstrumentalisierung

Erholung Deutschlands nachordnete. Tatsächlich hat Brüning die Wirtschaftskrise in Deutschland wohl nicht

der Wirtschaftskrise

vorsätzlich verschärft, aber er hat sie als Mittel der Reparationsrevision billigend in Kauf genommen. Insofern mag man einen echten Primat der Reparations­ politik, dem der Reichskanzler die wirtschaftliche Erholung gänzlich unterge­ ordnet habe, bezweifeln. Doch zweifellos war auch eine rasche wirtschaftliche Erholung für ihn nicht vorrangig. Hierzu motivierte Brüning nicht nur die Ver­ schärfung des innenpolitischen Klimas in Deutschland, die eine "nationale" Ak­ zentuierung der Außenpolitik zur Voraussetzung des eigenen politischen Über­ lebens machte. Vielmehr verordnete er den Deutschen guten Gewissens und

3. Brünings Außenpolitik 1 930-3 2: Primat der Reparati onspolitik?

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aus echter Überzeugung eine wirtschaftliche Rosskur, in der Hoffnung, dass sie ihnen mittel- und langfristig zum Vorteil ausschlagen werde - sei es durch einen Wegfall der Reparationen, sei es durch die Beseitigung tatsächlicher oder ver­ meintlicher struktureller Defizite, vor allem aber durch eine Haushaltssanie­ rung. Eine vorzeitige Abkehr von diesem Kurs lehnte er trotz Massenarbeitslo­ sigkeit und auch hieraus erwachsender politischer Radikalisierung bis zuletzt ab. Dabei hätte eine wirtschaftspolitische Kurswende noch in der Endphase der "Ära Brüning" unabhängig von ihren - schwer zu kalkulierenden - ökonomi­ schen Auswirkungen auf jeden Fall eine psychologische Wende und damit eine innenpolitische Klimaverbesserung gebracht, die dem Reichskanzler eine größere Popularität und damit vielleicht sogar eine längere Amtszeit beschert und auch die späteren Pläne einer nationalsozialistischen Regierungsbeteili­ gung im Umfeld des Reichspräsidenten obsolet gemacht hätten. Überdies bemühte Brüning sich völlig unzureichend, für seine Politik eine Mehrheit im Reichstag zu gewinnen. Spätestens mit der Reichstagsauflö­ sung vom Juli 1 930 erwies sich, dass seine Berufung nicht einfach dem Zweck gedient hatte, eine stabile Regierung und damit eine kontinuierliche Regie­ rungsarbeit sicherzustellen, vielmehr sollte das parlamentarische System tief­ greifend verändert werden. Dementsprechend wurden in der gesamten Regie­ rungszeit Brünings 109 präsidiale Notverordnungen erlassen, aber nur 29 or­ dentliche Gesetze durch den Reichstag verabschiedet. Dieser konnte überdies seine Kontrollrechte allein schon deshalb nicht ausüben, weil er immer selte­ ner zusammentrat: Von Oktober bis Jahresende 1 930 fanden 14 Sitzungen des Reichstags statt, 1 93 1 dann 42 und 1 932 bis zu Brünings Sturz Ende Mai sogar nur 8. Die völlige politische und soziale Zerrüttung nutzten wiederum die un­ versöhnlichen Gegner der Republik, vor allem Kommunisten und Nationalso­ zialisten, zur hemmungslosen Agitation gegen die Regierung und das Weima­ rer "System". Dabei erhielten sie angesichts der verbreiteten Katastrophen­ stimmung großen Zulauf aus den Reihen der Entlassenen, Verarmten und Verunsicherten.

3 . Brü n i ngs Außen politik 1 930-32: Pri mat der Reparationspol itik? a)

Brünings außenpolitisches Programm Als Brüning i m März 1 930 das Amt des Reichskanzlers übernahm, hatte

sich die internationale Lage im Vergleich zur vorangegangenen "Locarno-Ära" deutlich verändert: Aufgrund der Weltwirtschaftskrise nahmen viele Staaten wieder Zuflucht zu traditionellen Mitteln der Machtpolitik. Die neue Reichs-

Außen politischer Stilwandel

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

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regierung passte sich diesem Trend bis in die Sprachregelungen hinein an: Au­ ßenminister

J u l i us

Curtius

und sein Staatssekretär Bernhard von Bülow

( 1 885-1 936) wiesen die eigenen Diplomaten an, das Wort "Verständigungs­ politik" fortan aus dem internen Vokabular zu streichen. Gleichzeitig drückte sich hier aus, dass man sich zukünftig auch substantiell vom Kernelement der Stresemann'schen Außenpolitik, dem Ausbau multilateraler Beziehungen und internationaler Verflechtungen, lösen wollte. Zwar blieben die alten Ziele Gleichberechtigung und Rückgewinnung der deutschen Großmachtstellung -, doch sie wurden nachdrücklicher und gewissermaßen ultimativer als früher vorgetragen. Deutschland, so Curtius am 10. Februar 1 93 1 im Reichstag, ver­ lange ,,Sicherheit, und zwar denselben Grad von Sicherheit, den die anderen Staaten für sich in Anspruch nehmen können". Dabei war Brüning klar - wie er später selber in seinen Memoiren bekundete -, dass die "Streichung der Re­ parationen [ . . . ] das erste Streben der Außenpolitik der Regierung sein [müsse] " . Stichwort

J u l i u s C u rtius

( 1 877-1 948) gehörte von 1 9 1 9 bis 1 932 dem Zentra lvorsta nd u n d dem g eschäfts­ fü h renden Ausschuss der DVP a n . Von 1 920 bis 1 932 saß er a l s Abg eord neter der DVP sowie zuletzt der Deutschen Staatspartei i m Reichstag. Von 1 926 bis 1 929 wa r er Reichswi rtschafts m i n i ster. Nach dem Tod Stresem a n n s übernahm er d a n n 1 929 das Außen m i n isterium u n d b e h i e l t d ieses A m t auch i m ersten Ka binett Brüning. Seiner eigenen Aussage zufolge versta nd er sich a l s "Testa mentsvo l l ­ strecker Stresem a n ns". Tatsächlich b i l l igte er jedoch die Abke h r der neuen Sp it­ zenbea mten des Auswä rtigen Amts von der verstä ndnisbereiten Loca rno-Po l itik seines Vorgängers z u g u n sten einer "national eren" Revisionspolitik. All erdings be­ wegte sich die deutsche Außenpol itik u nter C u rtius weiter i n den Bahnen des be­ stehenden Mächtesystems und des Völ kerrechts, was anges ichts des wachsenden i n n e n p o l itischen Drucks der Rechts parteien d u rchaus Mühe bereitete. Letztlich gelang es C u rtius n icht, geg e n ü ber dem a u ßenpol itisch a m bitionierten Brüning ein eigenes Profi l zu g ewi n n e n . Seine einzige bedeutsa me I n itiative - das Projekt einer deutsch-österreichischen Zol l u n ion - sol lte sich a l s ein völ l iger Fehlschlag erweisen u n d i h n letztl ich sein Amt kosten . Danach zog er sich ins Privatleben zu­ rück.

Primat der Außen politik

Ob man im Hinblick auf die Außenpolitik der Regierung Brüning im Allgemeinen und die Reparationsfrage im Besonderen von einem regelrechten Pri­ mat sprechen kann, ist in der Forschung umstritten. Auf jeden Fall konzen­ trierte sich die deutsche Außenpolitik unter Brüning verstärkt auf eine endgül­ tige Revision der Beschlüsse des Versailler Vertrags, seien sie nun territorialer, finanzieller oder militärischer Art. Die vorzeitige französische Räumung des Rheinlands am 30. Juni 1930 verstärkte diesen Trend eher noch, als dass sie ihn

3. Brünings Außenpolitik 1 930-3 2: Primat der Reparati onspolitik?

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abgeschwächt hätte. Bereits der Ab­ lauf der "Befreiungsfeiern" im Som­ mer 1 930 verdeutlichte den eingetre­ tenen

Stilwandel:

Entgegen

dem

französischen Vorschlag einer ge­ deutsch-französischen meinsamen Zeremonie als Zeichen der Versöh­ nung in der Tradition des Geistes von Locarno wurde der Abzug der Besat­ zungstruppen in fast allen Städten und Gemeinden des Rheinlands de­ monstrativ bejubelt. Vertreter der Reichsregierung nahmen an den wichtigsten Feiern teil, der Reichsprä­ sident unternahm eine Rundreise durch das Rheinland, die Reichswehr führte in Berlin einen großen Zap­ fenstreich durch, schließlich wurde ein "Befreiungstaler" mit der provo­ zierenden - auf Ernst Moritz Arndt ( 1 769-1 860), den Dichter der antina­ poleonischen "Befreiungskriege", zu­ rückgehenden

-

Umschrift

"Der

Rhein, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze" geprägt. Über­ dies tauchten nun auch nationalistische Verbände wie der "Stahlhelm" und

Abb. 5 Reichskanzler

selbst nationalsozialistische Gruppen links des Rheins auf. Ebenso kam es zu Übergriffen gegen das Eigentum von ehemaligen Separatisten und von Rhein­

Heinrich Brü n i n g und

ländern, die in irgendeiner Form für die französischen Besatzungsbehörden ge­

J u l i u s C u rtius

arbeitet hatten. Die deutsche Außenpolitik hatte nun erstmals seit 1 9 1 8 einen guten Teil ihrer Handlungsfreiheit wiedererlangt, und die Regierung Brüning zeigte sich bereit, den gewachsenen Aktionsspielraum umgehend zu nutzen. Entspre­ chend tauchten auch wieder traditionelle Mitteleuropa-Pläne auf: Durch eine verstärkte wirtschaftliche Durchdringung des Donau-Balkan-Raumes hoffte man, sich neue Absatzmärkte zu erschließen und damit die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu mildern. Schließlich wurde insbesondere von der Reichswehr die alte Frage nach der militärischen Gleichberechtigung Deutsch­ lands verstärkt gestellt. Dabei wurde zunehmend für nationale Alleingänge plädiert und eine Abkehr von der multilateralen zur bilateralen Methode so­ wie zum traditionellen Machtegoismus favorisiert.

Außen m i n ister

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

92

b)

Die deutsch-österreichische Zollunion

Ökonomische u n d

Im Laufe des Jahres 1 930 rückte der Plan einer deutsch-österreichischen

politische Gründe

Zollunion in den Mittelpunkt der operativen Außenpolitik Deutschlands. Ent­ standen war er bereits in der Amtszeit Stresemanns, wobei seine Verwirk­ lichung für die Zeit nach Abschluss der Westrevision und der Regelung der Reparationen sowie nach Maßgabe günstiger internationaler Rahmenbedin­ gungen und auf jeden Fall im Zuge einer Verständigung mit den übrigen Mächten vorgesehen war. Unter Curtius geriet die Initiative indes zur isolier­ ten deutsch-österreichischen Aktion, die wegen der unzureichenden interna­ tionalen Absicherung und dem Wankelmut des Partners scheitern sollte. Da­ bei lagen die ökonomischen Gründe auf der Hand, wie Curtius am 3 1 . März 193 1 im Reichsrat betonte: "Wirtschaftssorgen sind es, die die Österreichische und die deutsche Regierung zusammengeführt haben. [ . ] Wir erwarten . .

beide, durch Angleichung unserer zoll- und handelspolitischen Verhältnisse, durch freien Wirtschaftsverkehr beide Volkswirtschaften zu beleben, zu heben und zu erweitern." Gleichzeitig war das Zollunionsprojekt eine Antwort auf den Europaplan des französischen Außenministers Briand vom September 1929: Er sah die Schaffung der "Vereinigten Staaten von Europa" als einen Bund souveräner Staaten vor. Bereits Stresemann hatte distanziert auf Briands Vorschlag reagiert. Erst recht unterstellte sein Nachfolger Curtius, dass die französische Regierung lediglich den territorialen Status quo in Europa si­ chern wolle. Das aber schien für Deutschland unannehmbar. Insofern diente das Zollunionsprojekt auch dazu, die Absichten der französischen Diplomatie zu konterkarieren und insbesondere den Einfluss Frankreichs im Donau- und Balkanraum zu mindern. Dementsprechend empfahl das Auswärtige Amt im Juli 1930 den Zusam­ menschluss mit Österreich, das aufgrund seiner Geschäfts- und Bankverbin­ dungen das Tor zum Donauraum bildete. Erstmals wurde eine engere wirt­ schaftliehe Verbindung im Januar 1930 auf der Haager Konferenz über den Young-Plan zwischen Curtius und dem Österreichischen Bundeskanzler Jo­ hannes Schober ( 1 874-1 932) erörtert, einen Monat später bei einem Besuch Schobers in Berlin auch zwischen ihm und Reichskanzler Müller sowie Curtius in Form einer Zollunion. Brüning selber wurde erst im Sommer informiert. Er zeigte sich nicht besonders glücklich über das Projekt, billigte es aber prinzipi­ ell. Der Versailler Vertrag hatte 1 9 1 9 einen offiziellen "Ansch luss" Österreichs an das Deutsche Reich verboten. Deshalb bemühten sich die deutsche und die Österreichische Seite, den Zollunionsplan so lange wie möglich geheim zu hal­ ten. Zu einem geeigneten Zeitpunkt hoffte man, ihn auch den Nachbarn schmackhaft machen zu können, zumal er grundsätzlich für eine Beteiligung andere europäischer Staaten offen war.

93

3. Brünings Außenpolitik 1 930-3 2: Primat der Reparati onspolitik?

Stichwort

Anschluss

Als sich der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn a m Ende des Ersten Weltkrieges auf­ löste, beschlossen die Deutsch-Österreicher sponta n den Ansch l uss an das Deut­ sche Reich. Auch die WRV eröffnete i n Artikel 6 1 Abs. 2 a usd rückl ich die Mög l ichkeit eines Anschl usses Deutsch-Österreichs. I ndes u ntersagten die Siegerm ächte 1 9 1 9 sowoh l Deutsch l a n d i m Versa i l l e r Vertrag a l s auch Österreich i m Friedensvertrag von Saint-Germ a i n-en-Laye eine solche Verb i n d u n g . Die Reichsreg ierung wurde g ezwungen, den "Ansch l uss-Artikel" 6 1 WRV fü r u nwi rksa m zu erklären. Die n u n entstehende Rep u b l i k Österreich wiederum m usste i h re wirtschaftlichen und sozia­ len Strukturen ganz neu aufbauen und war dabei auf die H i lfe der A l l i ierten und deren Kred ite a n g ewiesen . Diese E i n m isch u n g der Siegermächte wurde von a l l e n deutschen Parteien u n d der g esamten öffentlichen Meinung a l s eine ungerechtfer­ tigte Diskri m i n ierung u n d ein eklatanter Verstoß gegen jenes nationale Sel bstbe­ sti m m u n g s recht g ewertet, das die A l l i ierten einst sel bst prokl a m iert hatten.

Anfang März 1931 führten Curtius und der Staatssekretär der Reichskanzlei, Hermann Pünder ( 1 888-1 976), letzte Gespräche über die Zollunion in Wien. Über die Richtlinien eines entsprechenden Vorvertrages einigte man sich schnell. Hingegen gab es Differenzen im Hinblick auf die Bekanntgabe des Projekts: Während die Österreichische Regierung für ein bedächtiges Tempo eintrat, zog die deutsche Diplomatie ein rasches Vorgehen vor. Letztlich wurde der Abschluss der Zollunionsverhandlungen dann auf deutsches Betreiben hin am 2 1 . März publik. Die Tatsache, dass Deutsche und Österreicher hinter dem Rücken ihrer Nachbarn verhandelt hatten, empörte vor allem die französische Regierung. Sie sah in dem Projekt eine erhebliche Belastung und Gefährdung der deutsch-französischen Beziehungen und in seiner propa­ gandistischen Verknüpfung mit Briands Europaplan lediglich eine taktische Camouflage. Überdies war sie gewillt, das Projekt zu Fall zu bringen, weil sie widrigenfalls eine zu starke Aufwertung Deutschlands und eine Begrenzung der eigenen Einflusssphäre in Europa befürchtete. Unterstützt wurde die französische Diplomatie dabei von anderen euro­ päischen Staaten einschließlich Großbritanniens. Die britische Regierung führte zwar keine sachlichen Einwände gegen das Zollunionsprojekt ins Feld, fürchtete aber um die laufende Vorbereitung der Abrüstungskonferenz und die europäische Zusammenarbeit generell. Überdies war man in London wie auch in den anderen europäischen Hauptstädten über den deutschen Allein­ gang verstimmt. Dieser breite internationale Konsens ermöglichte es der fran­ zösischen Regierung, "alle Hebel in Bewegung [zu setzen] und durch finanziel­ len und politischen Druck die ganze Initiative zum Scheitern [zu bringen] " (Peter Krüger) . Dabei erwies sich der französische Druck als umso effektiver, als Österreich im Mai 1 93 1 in große finanzielle Schwierigkeiten geriet und da-

Internationale Reaktionen

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

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her auf ausländische Kredite angewiesen war, die wiederum politisches Wohl­ verhalten voraussetzten. Ebenso gab die Reichsregierung den Zollunionsplan am 20. Juli 1 9 3 1 aufgrund der sich verschärfenden Finanzkrise auf. Somit war das Projekt bereits gescheitert, als der Internationale Gerichtshof in Den Haag Anfang September schließlich ebenfalls seine Zustimmung verweigerte.

c)

Das Ende der Reparationen

Reparationspolitische

Für die Regierung Brüning wurde das Problem der Reparationen und

Doppelstrategie

seine endgültige Lösung seit dem Frühjahr 1 9 3 1 immer dringlicher. Dabei be­ diente sie sich einer Doppelstrategie: Einerseits bemühte sie sich, durch ihre Bereitschaft zu Einsparungen und einer rigiden Deflationspolitik ihre prinzi­ pielle Bereitschaft zur Erfüllung der Bedingungen des Young-Plans zu doku­ mentieren. Andererseits sollte den Siegermächten demonstriert werden, dass dies letztlich einen völligen Zusammenbruch der deutschen Wirtschaft provo­ zierte mit unabsehbaren Konsequenzen für die internationalen Wirtschaftsbe­ ziehungen, was nicht im Interesse der Staatengemeinschaft liegen könnte. Am 6. März 1 93 1 gab Brüning im Kabinett offiziell seinen Entschluss be­ kannt, die Reparationsfrage einer abschließenden Behandlung zuzuführen. Daraufhin erntete er von verschiedenen Seiten Widerspruch: Finanzstaatsse­ kretär Schäffer glaubte nicht an ein Entgegenkommen der deutschen Gläubi­ ger, zumal angesichts des gerade angelaufenen deutsch-österreichischen Zoll­ unionsprojekts und befürchtete deshalb einen Misserfolg. Ebenso opponierten die Vertreter von Auswärtigem Amt und Reichsbank. Doch Brüning sah sich wegen der Deckungslücken im Reichshaushalt und der Zuspitzung der innen­ politischen Lage unter Handlungszwang. Vor diesem Hintergrund eröffnete er mit seinem Aufruf zur zweiten Notverordnung vom 5. Juni 1 93 1 den offenen Kampf gegen die "Tributzahlungen":

Mmf!ji!M B r ü n i n g s "Tributa ufruf" vom 5. J u n i 1 93 1 Quelle: Schu lthess' Europäischer Geschichtska lender, S . 1 2 (5. Juni 1 93 1 ).

"Wi r haben a l les angespan nt, um u n seren Verpfl ichtu ngen aus dem verlorenen Kriege nachzuko m m e n . Auch ausländ ische H ilfe haben wir hierfü r i n weitem Aus­ maße i n Anspruch genommen. Das ist n icht mehr mögl ich. Die Einsetzung der l etz­ ten Kräfte u n d Reserven a l l e r Bevö l kerungskreise g i bt der deutschen Reg ierung das Recht und macht es i h r dem eigenen Vol ke gegenüber zur Pfl icht, vor der Weit a us­ zusprechen: Die G renze dessen, was wir u n serem Vol ke an Entbehrungen aufzuerle­ gen vermögen, ist erreicht! Die Erleichterung, die der neue P l a n nach der Absicht a l l e r Beteil igten dem deutschen Vol ke bringen sol lte und fü rs erste auch zu bringen versprach, hat er n icht gebracht. Die Reg ierung ist sich bewusst, dass die aufs äußer­ ste bed rohte wirtschaftliche u n d fi na nziel l e Lage des Reichs geb ieterisch zur Entla­ stung Deutschlands von untragbaren Reparationsverpfl ichtungen zwi ngt."

3. Brünings Außenpolitik 1 930-3 2: Primat der Reparati onspolitik?

Reichsbankpräsident Luther hatte vor einem solchen Schritt gewarnt, weil er dann einen weiteren Abzug ausländischer Kredite erwartete. Genau dies ge­

95

Weiterer Abzug ausländischer Kredite

schah denn auch: Die Reichsbank verlor zwischen dem 6. und 1 1 . Juni 1 9 3 1 Devisen i n Höhe von 400 Millionen Reichsmark. A m 1 1 . Juni bezifferte der Reichsbankpräsident die Verluste seit dem 26. Mai auf 600 Millionen Reichsmark, vier Tage später bereits auf eine Milliarde. Damit war der Devisenbestand der Reichsbank binnen eines Jahres von 3 auf 1 , 7 Milliarden Reichsmark geschrumpft. Folglich sah sich die Reichsbank außerstande, die Verpflichtungen aus dem Young-Plan zu erfüllen. Ihre praktische Zahlungsunfähigkeit erwies sich als fatal in einem Moment, als es zu einer umfassenden Bankenkrise kam: Anfang Mai 1 93 1 erklärte zunächst eine der größten europäischen Banken, die Österreichische Kreditanstalt, ihre Zahlungsunfähigkeit. In anderen Ländern geschah Ähnliches: In Frankreich befürchtete man den Zusammenbruch der Banque Adam in Boulogne-sur-Mer und die Pleite der Banque Nationale de Credit, zur Rettung der Banque de !'Union Parisienne wurde belgisches Kapital benötigt. In Deutschland wiederum setzte ebenfalls ein Sturm auf die Banken ein - es wurden allein 288 Millionen Reichsmark ausländische Kredite kurzfristig gekündigt. Sehr bald musste auch die Danatbank Konkurs anmelden, womit die Bankenkrise komplett war. Vor diesem Hintergrund erwies sich der "Tributaufruf' vom 5. Juni als fa­ tal, aber auch der Inhalt der damit verbundenen "Zweiten Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen" rief in der Bevölkerung und bei allen Parteien Empörung hervor: Mit den dort vorgesehenen weiteren öffentlichen Sparmaßnahmen schien das Maß des Erträglichen überschritten. Indes kam Brüning die Welle der Empörung, die sich gegen ihn richtete, nicht ungelegen. Schließlich wollten er und Außenminister Curtius gerade auf den Landsitz der britischen Regierung, nach Chequers, reisen, um sich dort die Rückendeckung des britischen Premierministers Ramsey MacDonald und des Gouverneurs der Bank von England Montagu Norman ( 1 871-1 950) für eine Gesamtlösung der Reparationsfrage zu sichern. Das Bild der protestierenden Volksmenge in Bremerhaven, wo Brüning nach England übersetzte, verfehlte nicht seinen Eindruck auf die britischen Gesprächspartner des Reichskanzlers, zumal die­ ser die wirtschaftliche Misere Deutschlands in drastischen Farben malte und vor einem Umschlag der Wirtschaftskrise in ein allgemeines politisches Chaos warnte. Insbesondere dem Premierminister erschien Brüning als ein Politiker, der auch bereit war, unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen, um die internatio­ nalen Verbindlichkeiten Deutschlands zu erfüllen, und der deshalb Entgegen­ kommen verdiente. In den kommenden Monaten blieben Amerikaner und Engländer auf internationalem Parkett die Hauptansprechpartner der Reichsregierung. Insbesondere hoffte Brüning auf ein Entgegenkommen der USA, des Hauptgläubigers der Siegermächte des Ersten Weltkrieges. Zwar verweigerte Präsident Hoo-

Hoover-Moratorium

96

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

ver zunächst noch jede Änderung der amerikanischen Schuldenpolitik als einer wichtigen Voraussetzung für einen etwaigen Erlass der deutschen Reparatio­ nen. Doch immerhin gelang es der Reichsregierung Mitte 1 93 1 , die Reparati­ onsfrage wieder auf den ersten Platz der internationalen Agenda zu hieven. Schließlich lenkte Hoover zumindest teilweise ein, nachdem ihn auch der in den USA hoch angesehene Reichspräsident Hindenburg in einem Brief am 1 9 . Juni darauf hingewiesen hatte, dass " [d] ie Möglichkeiten, ohne Entlastung von außen durch innere Maßnahmen die Lage zu verbessern, [ . . . ] erschöpft [seien] . Diese Entlastung muß sofort einsetzen [ . . . ] , wenn nicht schweres Unheil über uns und andere hereinbrechen soll": Am 20. Juni 1 9 3 1 regte der amerikanische Präsident ein zwölfmonatiges

Zahlungsmoratorium

an, das am 1. Juli beginnen

sollte: "Die amerikanische Regierung schlägt einen einjährigen Aufschub aller Zahlungen [ . . . ] vor [ . . . ] unter der Bedingung, dass die wichtigeren Gläubiger­ staaten ebenfalls alle ihnen geschuldeten Zahlungen auf Regierungsschulden für ein Jahr aufschieben." Dieser Zahlungsaufschub sollte "den Schuldnern Zeit zur Wiedererlangung ihrer nationalen Prosperität [ . . . ] geben. " Stichwort

Hoove r-Morator i u m

Dieses umfasste sowoh l jene Anleihen aus dem Ersten Weltkrieg, welche die euro­ päischen Großm ächte Fran kreich und Großbrita nnien an die U SA zurückza h l e n m ussten, a l s auch die deutschen Reparationen. Am 2 0 . J u n i 1 93 1 erg i n g ein ent­ sprechendes amerika n isches Angebot, dem sich die deutsche u n d die britische Reg ierung u m g ehend sowie das fra nzösische Ka binett - das sich d u rch den a me­ rika n ischen Alleingang d ü p iert fü h lte - einige Wochen später a nschloss. Aller­ d i n g s verlangte die Pariser Reg ierung, dass Deutschland zu m i ndest die u nge­ sch ützten A n n u itäten aus dem Young-Pian za h l e n m usste, wobei vier F ü nftel des Betrags aber als verzinsl iches Darlehen von der Bank fü r I nternationalen Za h l u ngs­ ausg leich i n Basel fi n a nziert werden sol lten. Sch ließl ich ein igten sich die beteil ig­ ten Lä nder dara uf, dass Deutschland wä h rend des Sch uldenfreij a h res zwa r den u n g esch ützten Tei l der Repa rationen weiterza h l en, jedoch die notwendigen M ittel vol lstä ndig von der Bank fü r I nternationalen Za h l u ngsausgl eich erha lten sol lte und i m kom m enden J a h r wie die aufgeschobenen Za h l u ngen zinspfl ichtig zu­ rückza h l e n m u sste. D a m it war der Weg fü r die förm l iche Verkü n d u n g des Morato­ riums d u rch H oover am 6. J u l i 1 93 1 frei.

Verständlicherweise kommentierte die Reichsregierung Hoovers Initiative besonders positiv. Aus ihrer Perspektive war das Moratorium "ein ganz großer Erfolg der Politik Brünings", wie Staatssekretär Pünder am 24. Juni 193 1 in seinem Tagebuch festhielt Der Kanzler selbst hatte bereits in einer Rede im Deutschlandsender einen Tag zuvor betont, dass "das deutsche Volk und die deutsche Regierung [ . . . ] mit herzlicher Dankbarkeit die Vorschläge des Präsi­ denten Hoover angenommen [haben] ", wobei er jedoch gleichzeitig vor der

3. Brünings Außenpolitik 1 930-3 2: Primat der Reparati onspolitik?

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Annahme warnte, man sei nun bereits "über die Gesamtheit der uns bedrän­ genden Nöte hinweg". Tatsächlich begann mit dem Hoover-Moratorium der Anfang vom Ende der deutschen Reparationen. Doch trotz dieser finanziellen Erleichterung hielt der Reichskanzler strikt an seiner Deflationspolitik fest. Er wollte die finanzielle Atempause nicht nutzen, um seine eiserne Sparpolitik mit ihren gravierenden sozialpolitischen Folgen zu lockern. Das würde nur dazu führen - wie Brüning bereits im Oktober 1 930 in einem Gespräch gegen­ über Hitler ausgeführt hatte -, "dass wir nach anderthalb Jahren nicht mehr als eine kleine Herabsetzung der Reparationen oder ein zwei- bis dreijähriges Moratorium bekommen würden. Das sei aber keine Lösung, man müsse aufs Ganze gehen, da man nach zwei oder drei Jahren dem deutschen Volke un­ möglich den Leidensweg erneut zumuten könne". Als die Rezession mit der Bankenkrise im Juli 1 9 3 1 einen neuen Höhe-

Brü nings

punkt erreichte, erließ der Reichspräsident auf Betreiben Brünings am 6. Ok-

Dogmatismus

tober 1 93 1 eine "Dritte Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen", die weitere Einsparungen der öffentlichen Hand vor allem mittels zusätzlicher sozialer Einschnitte ermöglichen sollte. Ganz offensichtlich war Brüning gewillt, eine Politik des Alles oder Nichts zu betreiben. Das verweist auf ein "Moment des Dogmatismus" (Herbert Hömig) , das in seiner Politik enthalten war. Brüning verkörperte weniger einen parlamentarisch versierten Politiker des 20.Jahrhunderts als vielmehr einen Kabinettspolitiker der Metternich-Ära - und das gleich in zweierlei Hinsicht: Zum einen wurde Politik bei ihm weitgehend mit Außenpolitik gleichgesetzt, zum anderen war sie "das Spiel kluger und schweigsamer Männer, ein aristokratisches Metier" (Hagen Schulze) . Daher war er auch ungeachtet seiner wachsenden Unpopularität bereit, an seinem primären Ziel einer endgültigen Regelung der Reparationsfrage festzuhalten und dem auch eine rasche Wiederherstellung von Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum unterzuordnen. Einen Hebel für eine Beendigung der Reparationszahlungen bot eine Be­ stimmung des Young-Plans, der zufolge Deutschland eine Einstellung der Zahlungen aufgrund erwiesener Zahlungsunfähigkeit beantragen konnte. Das entsprechende Gutachten einer internationalen Kommission pflichtete dieser Einschätzung im August 1 93 1 bei und empfahl die vollständige Streichung der Reparationen. Daraufhin trat im Dezember 1 93 1 der Sonderausschuss der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel zusammen. Zwischen den verschiedenen Delegationen herrschte Einvernehmen, dass weitere Repa­ rationen aufgrund der zerrütteten Weltwirtschaft nicht vertretbar seien. Aller­ dings lehnte die französische Regierung noch eine völlige Streichung der deutschen Zahlungen ab. Brüning wiederum wollte eine Teillösung verhin­ dern und betrieb daher eine Verschiebung der vereinbarten Reparations­ konferenz, weil er auf einen Regierungswechsel in Frankreich und eine wei­ tere Verschlechterung der Wirtschaftslage in Deutschland setzte. Dement-

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

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sprechend trafen sich die Vertreter der betroffenen Staaten England, Frank­ reich, Italien, Belgien und Japan sowie Deutschland erst vom 16. Juni bis 9. Juli 1 932 in Lausanne, wo sie eine Beendigung der deutschen Zahlungen be­ schlossen. Zu diesem Zeitpunkt war Brüning allerdings schon längst nicht mehr im Amt.

d)

Die Forderung nach militärischer Gleichberechtigung

Allgemeine

Eine weitere zentrale Forderung der deutschen Revisionspolitik war neben

Abrüstung

einer Veränderung der territorialen Bestimmungen des Versailler Vertrags so­ wie der Frage der Reparationen immer auch die Forderung nach militärischer Gleichberechtigung gewesen. Der Friedensvertrag von 1 9 1 9 hatte ausdrücklich festgestellt, dass die Deutschland einseitig aufgezwungene Entwaffnung dazu dienen solle, "den Anfang einer allgemeinen Beschränkung der Rüstung zu er­ möglichen". Dementsprechend tagte erstmals von 1 926 bis 1930 eine vorberei­ tende Abrüstungskonferenz, die eine Konvention ausarbeiten sollte. Stichwort

Abrüst u n g s konferenz

Art. 8 der Völ kerbundsatzung postu l ierte ein Prog ra m m a l lgemeiner Abrüstu ng gemäß dem Grundsatz, "daß die Aufrechterhaltung des Friedens eine Herabset­ zung der nationalen Rüstu ngen auf das M i ndestmaß erfordert, das m it der natio­ nalen Sicherheit und m it der Erzw i n g u n g i nternationaler Verpfl ichtu ngen d u rch gemeinschaftl iches Vorgehen vereinbar ist". I n nerh a l b d ieses Ra hmens forderte Deutschland Rüstu ngsgleichheit, besonders nachdem eine Botschafterkonferenz a m 1 6. Novem ber 1 925 festgestellt hatte, dass der Kriegsverl ierer seine Abrüs­ tung sverpfl ichtu ngen aus dem Vers a i l l e r Vertrag erfü l lt hatte. Im Februar 1 926 trat dann ein Vorbereitender Aussch uss der Abrüstungsko m m ission des Völ ker­ bunds einsch l ießl ich eines deutschen Vertreters - J o h a n n H e i n rich G raf von Berns­ torff ( 1 862-1 939) - zusammen, u m über die Ausrichtu ng einer Abrüstungskonfe­ renz zu beraten. Diese "Vorbereitende Genfer Abrüstu ngskonferenz" stel lte im September 1 928 fest, dass das i n Europa erreichte Maß an Sicherheit n u n m e h r g e n üge, u m eine a l lgemeine Abrüstung einzuleiten . Doch es sol lte bis zum 2. Fe­ bruar 1 932 dauern, bevor zum ersten Mal die Abrüstungskonferenz des Völ ker­ bunds in Genf tagte.

Die deutsche Delegation in Genf strebte die "restlose Beseitigung" der deutschen Rüstungsbeschränkungen und eine Ausdehnung der Abrüstungs­ forderung auf alle Staaten an. Ziel sollte ein militärisches Kräfteverhältnis sein, das die Verteidigungsfähigkeit des Deutschen Reiches gewährleistete. Brüning gab den Tenor der deutschen Argumentation in Genf vor, wenn er bereits am 2. November 1930 in einem Interview mit der französischen Zeitung "Petit Pa­ risien" ausführte, dass "alle Staaten gleiches Recht auf Sicherheit [hätten] und

3. Brünings Außenpolitik 1 930-3 2: Primat der Reparati onspolitik?

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wir [...] [nicht] verstehen [...] , warum hier mit zweierlei Maß gemessen wer­ den soll". Faktisch lief dies angesichts der Intransigenz der übrigen Mächte in der Abrüstungsfrage auf einen Freibrief zur eigenen Aufrüstung hinaus. Aller­ dings stand die Konferenz von Beginn an unter keinem guten Stern, zumal sich die deutsche Verhandlungsdelegation wenig flexibel zeigte. Dies wiede­ rum erklärte sich durch den Druck, den die Reichswehr auf die zivile Führung ausübte und der im Laufe der Konferenz immer stärker wurde, da das politi­ sche Gewicht der Militärs nach der Ablösung Brünings durch Papen noch wuchs. Letztlich ging die deutsche Delegation in Genf davon aus, dass eine Ei­ nigung mit Frankreich nicht möglich sei und man deshalb "Frankreich durch Isolierung verhandlungswillig zu machen" versuchen müsse. Da der gewünschte Erfolg ausblieb, verließ die deutsche Delegation im Spätsommer 1932 die Konferenz, die somit platzte - eine Option, welche die

Rückzug

deutsche Diplomatie offensichtlich bereits frühzeitig erwogen hatte, sollte sie

von der Genfer

sich mit ihren Forderungen nicht durchsetzen, wohl wissend, dass dies den Völkerbund und das Prinzip kollektiver Sicherheit weiter schwächen würde.

Abrüstungs­

Deutschlands

Konferenz

Dementsprechend hatte sie schon in einer Erklärung vom 22. Juli 1 932 offen ihre Unzufriedenheit mit dem Gang der Verhandlungen ausgedrückt: "Mit dem Gefühl nationaler Ehre und internationaler Gerechtigkeit wäre es nicht vereinbar, wenn die Konferenz die Regeln und Grundsätze für die allgemeine Abrüstung der Staaten festlegen wollte, aber gleichzeitig Deutschland [...] an diesen allgemeinen Regeln und Grundsätzen nicht teilnehmen ließe, sondern [...] einem diskriminierenden Ausnahmeregime unterwerfen würde. [...] Die Deutsche Regierung [...] muss deshalb darauf bestehen [...] , dass die Gleich­ heit der Staaten hinsichtlich der nationalen Sicherheit und hinsichtlich der Anwendung aller Bestimmungen der Konvention ohne weiteren Verzug zur Anerkennung gelangt." Erst in der Regierungszeit Schleichers kehrte Deutsch­ land an den Verhandlungstisch in Genf zurück. Am 1 1 . Dezember 1 932 wurde ihm schließlich in einer Vereinbarung der fünf Mächte formell Gleichberechti­ gung gewährt "in einem System, das allen Nationen Sicherheit bietet". Vordergründig betrachtet zahlte sich Brünings Außenpolitik aus, auch wenn der Zentrumspolitiker selber die Früchte seines Erfolges nicht mehr im Amt des Reichskanzlers genießen konnte. Doch dieser vermeintliche Erfolg war teuer erkauft: Vor allem die Behandlung der Reparationsfrage in der Re­ gierungszeit Brünings bündelt nur wie in einem Brennglas die neuen Tenden­ zen deutscher Außenpolitik seit 1 930: Diese unterschied sich nicht unbedingt im Inhalt von der "Ära Stresemann". Weiterhin ging es um das Streben nach außenpolitischer Souveränität und einer neuen europäischen Großmachtstel­ lung, der größtmöglichen Suspendierung der Auflagen des Versailler Vertrags und letztlich der internationalen Gleichberechtigung Deutschlands. Allerdings praktizierte das Kabinett Brüning hierbei einen gänzlich anderen Stil: Statt der von Stresemann erfolgreich verfochtenen Kooperation ging es wieder zur Kon-

Fazit von Brü nings Außen politik

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

1 00

frontation von Anfang der zwanziger Jahre zurück. Die Siegermächte erschie­ nen erneut als Gegner und nicht mehr - wie bei Stresemann - als notwendige Partner. Folglich wurden Forderungen nun wieder einseitiger vorgetragen, versuchte man, die Gegenseite auszutricksen, negierte zunehmend jene Ver­ ständigungsbereitschaft, die Stresemanns Politik ausgezeichnet hatte. Natürlich waren Desintegrationstendenzen in der internationalen Politik bereits vor 1 930 erkennbar, und aufgrund der Weltwirtschaftskrise griff bei­ leibe nicht nur Deutschland auf die "herkömmlichen Rezepte der überlieferten Machtpolitik" (Klaus Hildebrand) zurück. Dennoch bleibt der Eindruck, dass die neue deutsche Konfrontationspolitik alles in allem lediglich durch das Be­ wusstsein gedämpft wurde, finanziell abhängig vom Ausland zu sein und des­ sen Unterstützung nicht völlig entbehren zu können. Immerhin unterschied sich die Außenpolitik der Regierung Brüning durchaus noch von jener der fol­ genden Präsidialkabinette Papen und Schleicher, von der nationalsozialisti­ schen ganz zu schweigen. Brüning betonte zumindest grundsätzlich "den auf­ richtigen Willen [ ... ] , mit allen Regierungen an die Lösung der Fragen heran­ zugehen, die für die Beruhigung Europas von Bedeutung sind". Sein "gemäßigter evolutionärer Verhandlungsrevisionismus" unterschied sich zwar einerseits - negativ betrachtet - von Stresemannns "Verständigungsrevisionis­ mus", aber andererseits - positiv betrachtet - auch vom "chauvinistischen Konfrontationsrevisionismus" der extremen Rechten (Andreas Rödder) .

4. Brü n i ngs Stu rz im Mai 1 932: " H u n d ert Meter vor dem Ziel"? a) Neuwahl des Reichspräsidenten

Kampf mit verkehrten Fronten: Die Reichspräsidentenwahl im März 1 932 Im März 1 932 stand die Neuwahl des Reichspräsidenten an. Hindenburg

selber hätte sich aufgrund seines fortgeschrittenen Alters wohl gerne zurück­ gezogen, wurde aber von Brüning, Schleicher und auch dem Sozialdemokraten Braun bedrängt, noch einmal zu kandidieren. Insbesondere Brüning setzte sich massiv für eine Wiederwahl des greisen Hindenburg ein. Allerdings fand er hierbei nur Unterstützung bei den republikanischen Kräften im parteipoliti­ schem Spektrum, also von der Sozialdemokratie über das Zentrum bis zur DVP, die einen Erfolg des nationalsozialistischen Kandidaten Hitler verhin­ dern wollten. Hingegen verweigerten die Rechtsparteien, denen sich der Reichspräsident eigentlich persönlich verbunden und zugehörig fühlte, ihre Zustimmung. Daher scheiterte Brüning auch mit seinem ursprünglichen Ver­ such, bei den übrigen Parteien eine verfassungsändernde Mehrheit für eine parlamentarische Verlängerung der Amtszeit Hindenburgs zu gewinnen - wie dies schon einmal 1 922 geschehen war -, um dem greisen Reichspräsidenten die Strapazen eines Wahlkampfs zu ersparen.

4. Brünings Sturz im Mai 1 932: .,Hun dert Meter vor dem Ziel"?

Hindenburg selber verbitterte in der Folgezeit besonders der Umstand, dass nicht nur die NSDAP - wie zu erwarten gewesen war - ihn nicht unter­ stützte, sondern der "Stahlhelm", dessen Ehrenvorsitzender er war, ebenfalls einen

eigenen

Kandidaten,

den

Vorsitzenden

Theodor

Duesterberg

( 1 875-1 950), aufstellte, den wiederum auch die DNVP unterstützte. Der Reichspräsident fühlte sich gewissermaßen zu einem Wahlkampf mit verkehr­ ten Fronten gezwungen. Als schmachvoll musste er auch empfinden, dass Hit­ ler ihn nach einem ersten Wahlgang am 1 3 . März 1 932 noch in einen zweiten Wahlgang zwang, den Hindenburg dann am 10. April 1 932 mit 53 % der Stim­ men gewann, weil die demokratische Linke, insbesondere die SPD, für ihn stimmte. Stichwort

Sta h l h e l m

I m November 1 9 1 8 g rü n d ete Franz Sel dte i n Magdeburg einen pol itischen Weh r­ verband zur N iedersch l a g u n g l i n ker U n ruhen. I h m gehörten zunächst n u r ehema­ l ige Frontsoldaten a n, seit 1 924 d a n n auch so genan nte national gesinnte Männer a b 23 J a h ren. M it seinen etwa 400 000 ( 1 925) und sch l ießl ich sog a r rund 500 000 M itg l iedern ( 1 930) - einsch l ießl ich des .,J u ngsta h l he l m s" und des "Sta h l h e l m-Stu­ dentenrings La ngemarck" war der Verband neben den Gewerkschaften die g rößte a u ßerpa rlamentarische Org a n isation der Wei m a rer Repu b l i k. Wegen seiner offen repu b l i kfeindl ichen Haltung erließ die preußische Reg ierung bereits 1 922 ku rzzei­ tig ein Verbot. Auch nach dessen Aufhebung d iffa m ierte der .,Sta h l h e l m " weiter das Wei m a rer .,System " sowie die es tragenden Pa rteien und Politiker, aber auch die kathol ische Kirche u n d die J uden. Dements prechend beteil igte er sich auch 1 929 zusa m m e n m it DNVP u n d NSDAP a m Vol ksbegehren gegen den Young-Pian u n d 1 93 1 a n der B i l d u n g der " H arzburger Front". 1 933 trat Seldte a l s Reichsar­ beits m i n ister in das Ka binett H itler e i n . Der .,Sta h l h e l m " sel bst wurde sch l ießl ich 1 935 a ufgel öst.

Stichwort

Harzburger Front

Am 1 1 . Oktober 1 93 1 traf sich die "nationale Opposition" zu einer G roßveranstal­ tung i n Bad H a rzburg. Dazu zäh lten neben der N S DAP und der DNVP auch Sta h l ­ h e l m, Reichslandbu nd, Alldeutscher Verba nd sowie wichtige Persönl ichkeiten der rechtskonservativen Szene, daru nter der ehemalige Reichs bankpräsident Schacht und der frühere Chef der Heeresleitung, General Hans von Seeckt ( 1 866-1 936). Trotz des beeind ruckenden organisatorischen Aufwa nds und einem umfa n g rei­ chen Prog ra m m m it M i l itärm usik, U mzügen, Feldgottesdienst, Reden und den Aufm ä rschen u n iformierter Verbände endete das Treffen ohne g reifbare Ergeb­ n isse und ein gemeinsames Prog ra m m der beteil igten Gruppen. Deren andau­ ernde Zerstrittenheit belegte auch das a m b iva l ente Verha lten der N S DAP: Einer­ seits demonstrierte H itler d u rch seine Anwesenheit seine E i n b i n d u n g in die Front der eta b l ierten Rechtsparteien, andererseits achtete er dara uf, sich a u s reichend

1 01

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

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von dem ihm als ü berlebt erscheinenden traditionellen Konservativen zu d ista n­ zieren, indem er die Vera nsta ltung bereits nach dem Vorbei m a rsch der SA verließ, ohne die ebenfa l l s geplante Parade des Sta h l he l m s a bzuwa rten.

Spätestens seit dem Frühjahr 1 932 trat eine tiefe Verstimmung zwischen dem Reichspräsidenten und Brüning ein. Hindenburg warf dem Kanzler vor, zu eng mit der SPD zu kooperieren, und auch ihn dadurch seinen eigentlichen politischen Freunden entfremdet zu haben, zumal er bereits seit dem Herbst 193 1 auf eine "Wende nach rechts" gedrängt hatte, ohne dass er allerdings Brü­ ning hätte sagen können, wer dem Kabinett denn die notwendige Tolerier­ ungsmehrheit hätte sichern sollen, wenn nicht die Sozialdemokraten. Das Ver­ trauensverhältnis zwischen beiden war nun zerstört. Überdies kamen in den folgenden Wochen Regierungsentscheidungen hinzu, die beim Reichspräsi­ denten bzw. bei seinen intriganten Ratgebern aus Ostelbiern, Reichswehroffi­ zieren und rechtsnationalen Parteienvertretern den Verdacht weiter erhärte­ ten, der Kanzler mache nicht Politik gegen links, wie von ihm erwartet worden war, sondern agiere im Gegenteil mit Hilfe der Linksparteien gegen rechts.

b) Putschpläne der SA

Das SA-Verbot Anfang der dreißiger Jahre kam es in Deutschland zu bürgerkriegsähnli-

chen Zuständen. Straßenschlachten zwischen gegnerischen politischen Grup­ pen gehörten zur Tagesordnung. Dabei taten sich die rund 400 000 Mann der paramilitärischen Verbände der NSDAP, SA und SS, besonders hervor. Am 1 7. März 1932 ließ die preußische Regierung sämtliche nationalsozialistische Par­ teigeschäftsstellen durchsuchen. Das dort gefundene Material enthielt Hin­ weise auf Putsch- und Mobilmachungspläne der SA. Dennoch zögerte die Reichsregierung, gegen die NSDAP vorzugehen. Erst auf Druck verschiedener Landesregierungen unter Führung Preußens erging am 1 3 . April doch noch eine Verordnung des Reichspräsidenten, die alle nationalsozialistischen Wehr­ verbände im Reich verbot. Hierzu hatte sich Hindenburg nur widerwillig be­ reit erklärt, weil er unzufrieden damit war, dass nicht auch das sozialdemokra­ tische Reichsbanner verboten werden sollte. In seiner skeptischen Haltung gegenüber dem Verbot wurde der Reichs­ präsident auch durch die Reichswehrführung bestärkt: General von Schleicher, der Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium, fürchtete, dass die Ar­ mee im Konfliktfall nicht in der Lage sei, gegen die äußerste Rechte vorzuge­ hen. Vor allem aber verfolgte er seit längerem den Plan, die "wertvollen Teile" der SA in eine von ihm geplante Volksmiliz aufzunehmen. Das ordnete sich in seinen übergreifenden Plan, Hitler mittels eines rechtsgerichteten Präsidialka­ binetts in die Regierungsverantwortung zu zwingen und ihn so zu "zähmen". Diese Konzeption sah er durch das Verbot von SA und SS gefährdet. Folglich

4. Brünings Sturz im Mai 1 932: .,Hun dert Meter vor dem Ziel"?

1 03

schien ihm eine Ablösung Brünings notwendig. Dementsprechend konspi­ rierte er seit Mai 1 932 zunehmend gegen seinen einstigen Förderer, den Reichswehr- und Innenminister Wil helm Groener, sowie den Reichskanzler. Stichwort

W i l h e l m Groener

( 1 867-1 939) wa r i m Ersten Weltkrieg zunächst Leiter des 1 9 1 6 errichteten Kriegs­ a mtes i m pre u ß ischen Krieg s m i n isterium gewesen, das die Rüstungspro d u ktion u n d Arbeitskräftebeschaffu ng org a n isierte. I m Oktober 1 9 1 8 wurde er dann Nach­ folger Ludendorffs a l s Erster Genera l q u a rtiermeister i n der Obersten H eeres lei­ tung. Er hatte wesentl ichen Anteil a n der Abda nkung Ka iser Wi l h e l m s I I . ( 1 859-1 94 1 ) a m 9. Novem ber 1 9 1 8. Einen Tag s päter schloss er einen i n n e n pol iti­ schen ., Pakt" m it Fried rich Ebert (1 8 7 1 - 1 925), dem sozia ldemokratischen Vorsit­ zenden des ., Rats der Vol ksbea uftragten", der der neuen Reg ierung die U nterstüt­ zung der Armee sicherte und diese wiederum vor einer weiteren Revo l utionierung bewa hren sol lte. 1 928 wurde der parteilose frü h e re General auf Wu nsch H i nden­ b u rgs zum Reichswehrm i n ister berufen. 1 93 1 ü berna h m er auch das Amt des Reichs i n n e n m i n isters. Er versuchte, Staat u n d Armee vor einem Zug riff d u rch die Nationalsozial isten zu sch ützen.

Groener wurde das erste Opfer von Schleichers Intrigen: Als er am 1 0.

Groeners Entlassu n g

Mai das SA-Verbot im Reichstag verteidigte, kam es zu Tumulten auf dem rechten Flügel, gegen die sich der gesundheitlich angeschlagene Minister nur unzureichend behaupten konnte. Am Ende der Debatte erklärte Schleicher seinem Vorgesetzten, dass dieser nach Ansicht der militärischen Führung für die Reichswehr untragbar geworden sei. Daraufhin reichte der Minister zwei Tage später seinen Rücktritt als Reichswehrminister ein, verblieb aber im Amt des Innenministers. Dieser "halbe Rücktritt" (Ernst Rudolf Huber) stellte keine überzeugende Lösung dar. Das SA-Verbot hatte Groener ja gerade als Innenminister ausgesprochen, wobei er sich allerdings der Unterstützung der Reichswehr sicher glaubte. Indem der ehemalige General nun die vermeintlichen Stützen seiner Politik - Reichswehr und Reichspräsident - verlor, war auch die Basis der gesamten Regierung gefahrdet.

c)

Die Ostsiedl ungsnotverordnung I m Zuge der Weltwirtschaftskrise waren auch etliche ostelbische Grundbe-

sitzer in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Vor diesem Hintergrund entwickelte die Regierung Brüning unter Federführung des zuständigen neuen Reichskommissars Hans Schlange-Schöningen ( 1 886-1 960) ein Osthilfe-Programm. Dessen Hauptziel war die Entschuldung der großen Güter, soweit diese Iebens- und leistungsfahig schienen. Dafür sollten kurzfristige in langfristige Kredite umgewandelt werden, wobei die Zinsdifferenz zu Lasten des Reichs-

Osthilfe-Programm

1 04

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

haushalts sowie des preußischen Staatsbudgets ging. Im Umkehrschluss sollten allerdings Güter, deren Bewirtschaftung ökonomisch nicht mehr sinnvoll schien, vom Staat durch Zwangsversteigerung erworben werden, um sie dann parzelliert an ländliche Kleinsiedler zu geben, worauf auch Arbeitsminister Ste­ gerwald angesichts der andauernden Massenarbeitslosigkeit drängte. So sah es der kabinettsreife Entwurf einer Siedlungsverordnung vom 20. Mai 1 932 vor. Dieses aufwendige Programm stand im klaren Gegensatz zu Brünings Deflati­ onspolitik, ordnete sich aber in eine Reihe vorangegangener Interventionen der Regierung zu Gunsten der Landwirtschaft ein, die neben dem Wehretat der ein­ zige Sektor war, in dem trotz Deflationspolitik nicht gespart wurde. Dabei ver­ mischten sich vorrangige innenpolitische Überlegungen, nämlich die Angst der Regierung vor den beiden mächtigen Interessengruppen Großagrariern und Reichswehr, mit der Überzeugung von einem vermeintlichen Staatsinteresse an einer "Festigung deutschen Volksbodens" im Grenzraum sowie wirtschaftli­ chen Autarkiebestrebungen und schließlich einer verbreiteten diffusen Zivilisa­ tionskritik, welche die ländliche Siedlung idealisierte. Dennoch traf die geplante Ostsiedlungsverordnung auf den erbitterten Widerstand der großagrarischen Interessenverbände - darunter vor allem der Reichslandbund -, die sich bereits im Frühjahr 1929 zur "Grünen Front" zusam­ mengeschlossen hatten. Deren Meinung nach nutzte die Regierung ihre Not­ lage ohne rechtliche Grundlage aus, indem sie die verschuldeten Güter weit unter Wert ersteigerte. Auch Hindenburg übernahm eine solche verzerrende Sicht der Dinge, zumal er seit einigen Jahren aufgrund einer Schenkung eben­ falls landwirtschaftlichen Besitz in Ostpreußen hatte - Gut Neudeck -, wo er sich auch im Frühjahr 1932 öfters aufhielt und von seinen empörten Nachbarn beeinflussen ließ. Wohl unterstützt von Schleicher, Staatssekretär Meißner und seinem Sohn Oskar ( 1 883-1 960) verweigerte Hindenburg Brüning die Unterschrift unter die "Fünfte Notverordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen", in der auch die Osthilfe enthalten war. Stichwort

Reichsl a n d b u n d

Die g rößte l a ndwirtschaftliche I nteressenvertretung der Wei m a rer Repu b l i k ent­ sta nd 1 92 1 aus einem Zusa m mensch l uss des Bu ndes der La ndwirte m it dem Deut­ schen La ndbund. Er wa r dezentra l in 30 reg ionale La ndbünde organis iert u n d hatte 1 928 etwa 5 M i l l ionen Mitgl ieder. H ierzu zä hlten zwa r n u r 1 ,5 M i l l ionen La nd­ besitzende, den noch vertrat der Reichs l a n d b u n d vor allem g roßagrarische I nteres­ sen. Dazu gehörte die Forderung nach Sch utzzöl len, aber auch nach a bsatz- und preisreg u l ierenden M a ß n a h m e n . Pol itisch sta nd er zunächst der DNVP nahe, radi­ ka l isierte sich aber gegen Ende der Wei m a rer Repu b l i k, was die Bete i l i g u n g des Reichsl a n d b undes a n der " Harzburger Front" 1 93 1 ebenso bel egte wie seine U nter­ stützung von H itlers Ka ndidatur fü r das Amt des Reichspräsidenten im J a h r dara uf.

4. Brünings Sturz im Mai 1 932: "Hun dert Meter vor dem Ziel"?

1 05

Stichwort

Grüne Front

Im März 1 929 schlossen sich m e h rere l a ndwirtschaftliche I nteressenverbä nde der Reichslandbu nd, die Deutsche Bauernschaft u n d die Vere i n i g u n g der christli­ chen Bauernvereine - zu einem i nteressenpol itischen Zweckbü n d n i s zusa m m e n . I h r gemeinsames Z i e l waren eine A n h e b u n g der Ag ra rzö l l e zum Sch utz der eige­ nen Prod u ktion gegenüber b i l l igeren I m porten aus dem Ausland u n d eine Stüt­ zung bäuerlicher G roß betriebe. Die Wi rksa m keit der "Grünen Front" blieb auf i h r G rü n d u n g sj a h r beschrä n kt. l n der F o l g e zeigten s i c h die i n i h r zusa m m enge­ schlossenen Verbände m it i h rer idea l isierten Zielvorste l l u ng eines national-a uta r­ ken Bauerntu m s anfä l l ig fü r die nationalsozial istische "Bi ut-u nd-Boden"-ldeolog ie, was i h re spätere Ü berfü h rung i n das " D ritte Reich" erleichterte.

d)

Brünings Entlassung Das Vertrauensverhältnis zwischen Reichspräsident und Reichskanzler

war nun offensichtlich endgültig zerstört. Insofern war es nur konsequent, dass Hindenburg kurz darauf - am 29. Mai - Brüning in einem Gespräch de­ monstrativ seine Unterstützung entzog. Damit war dem Reichskanzler jede Möglichkeit zum weiteren Regieren genommen. Dementsprechend demissio­ nierten er und sein Kabinett einen Tag später. Das Vorgehen des Reichspräsi­ denten empfand Brüning als ebenso unwürdig wie ungerecht, zumal er sich in seiner Außenpolitik auf den "letzten hundert Metern vor dem Ziele" wähnte, wie er noch kurz zuvor - am 1 1 . Mai - im Reichstag verkündet hatte. Dabei bezog er sich auf die absehbare Lösung der Reparationsfrage, der er in seiner Politik zunehmend Priorität beigemessen hatte, weil sie ihm auch als eine un­ abdingbare Voraussetzung für die Überwindung der Wirtschaftskrise er­ schien. Das mochte aber auch als eine Warnung an den Reichspräsidenten und seine Umgebung gemeint sein, die - wie Brüning ahnte - auf seinen Sturz hinarbeiteten. In der Forschung ist zumindest Brünings nachträgliche Nutzung der For­ mel von den " 1 00 Metern" zum Zwecke seiner Selbststilisierung als einem Op­ fer politischer Intrigen als eine "bescheidene Legende" (Hagen Schulze) kriti­ siert worden. In der Reichstagsrede vom 1 1 . Mai hatte sich der Zentrumspoli­ tiker nämlich auch der eigenen "Kühle" gegenüber innenpolitischen Anwürfen gerühmt, die er weiterhin bewahren wolle, weil sie "das absolut Wichtigste" sei. Letztlich war es dieser eigentümliche politische Stil, der Brü­ ning seine Kanzlerschaft kostete und der seiner Politik eine so verhängnisvolle Bedeutung gab: Er war unfähig und unwillig, den Deutschen sein Vorgehen mitzuteilen, ihnen konkrete Hoffnungen zu machen und damit die politische Demagogie, vor allem der NSDAP, erfolgreich zu bekämpfen. In völliger Ver-

Brü nings politischer Stil

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

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kennung der eingetretenen Staatskrise in Deutschland hatte sich Brüning auf die Lösung eines außenpolitischen Problems - die Reparationsfrage - konzent­ riert, das längst keine zentrale Bedeutung mehr besaß. Überdies hatte er sich in den Jahren seiner Kanzlerschaft primär dem scheinbar unparteiischen Reichspräsidenten verpflichtet gefühlt und gestützt auf dessen Vertrauen tatkräftig die Bedeutung von Parlament und Parteien als Organen politischer Willensbildung minimiert. Er huldigte einem "Begriff des Politischen, der die Bedingungen und Möglichkeiten politischen Planens und Handeins in der modernen Massengesellschaft verkennt [ . ]" und stand "in . .

der Tradition einer deutschen Staatsauffassung, die auf der qualitativen Tren­ nung von Parteipolitik und Staatspolitik, auf dem Vorrang des Staates vor der Demokratie beruht" (Karl Dietrich Bracher) . Allerdings musste er erfahren, dass der von ihm als überparteilicher Hüter des reinen Staatsinteresses angese­ hene Hindenburg geistig und körperlich zunehmend verfiel und in seinen Entscheidungen immer mehr von einer intriganten Kamarilla abhängig wurde, sodass er zum Vehikel zutiefst partikularer Interessen einzelner rechts­ nationaler und ostelbischer Gruppen verkam. Insofern war seine Entlassung auch das "Resultat einer von Brüning selbst verantworteten und vorangetrie­ benen Entparlamentarisierung" (Andreas Wirsching) . "Bracher-ConzeKontroverse"

Unter den zwölf Reichskanzlern der Weimarer Republik ist Brüning bis heute der umstrittenste: Bereits die Zeitgenossen belegten ihn wegen seines eisernen Sparkurses mit dem Namen "Hungerkanzler". Nach 1 945 wurde er in der westdeutschen Forschung zwar zunächst durchaus milder beurteilt. Insbesondere Werner Conze ( 1 9 1 0- 1 986) betonte, dass Brüning angesichts der Krise des deutschen Parteiwesens die letzte Chance zur "Rettung der De­ mokratie" und seine Politik angesichts der eingetretenen Staats- und Wirt­ schaftskrise alternativlos gewesen sei. Dem widersprach jedoch Mitte der 1950er-Jahre Karl Dietrich Bracher in seiner bahnbrechenden Studie über die Endphase der Weimarer Republik: Für ihn bildete Brünings Politik der Ausschaltung des Parlamentarismus und sein rücksichtsloser Sparkurs den Ausgangspunkt für jene verhängnisvolle Entwicklung, die schließlich in Hit­ lers Kanzlerschaft mündete. Deshalb war Brüning für Bracher nicht "der letzte Kanzler vor der Auflösung der Weimarer Republik, er war der erste Kanzler im Prozess dieser Auflösung der deutschen Demokratie". Die sich hieran entzündende Forschungskontroverse erhielt durch die 1970 posthum erschienenen Memoiren Brünings weitere Anstöße, denn in ihnen stellte sich der ehemalige Reichskanzler als wesentlich antiparlamentarischer, monar­ chistischer und nationalistischer dar, als er in den zeitgenössischen Quellen erscheint. Die Diskussion dauert bis heute an, zumal der Quellenwert von Brünings Erinnerungen mittlerweile stark relativiert worden ist. Dennoch lässt sich festhalten, dass Brüning die NS-Diktatur zweifellos nicht gewollt, ihr aber

4. Brünings Sturz im Mai 1 932: .,Hun dert Meter vor dem Ziel"?

gleichwohl den Boden bereitet hat. Er wollte auf jeden Fall die Republik in ihrer bisherigen Form abschaffen, ohne dass seine letzten Ziele sicher bekannt sind. Hinzu kam sein Selbstverständnis einer elitären Führung, die Wider­ stände souverän ignorierte. Vermeintlich distanzierte er sich von jeder Partei­ politik und reklamierte für sich die Orientierung allein an einem angeblichen überparteilichen Staatsinteresse. Dazu gehörte auch die bewusste Entmach­ tung des Reichstages und damit sowohl der Parteien als auch des durch sie repräsentierten Souveräns, des deutschen Volkes. Diese vordergründig "unpo­ litische Politik" (Karl Dietrich Bracher) knüpfte an vordemokratische, autori­ täre Verfassungstraditionen an und bedeutete damit eine nachdrückliche Ab­ kehr, wenn nicht vom Buchstaben, so doch vom Geist der Weimarer Verfas­ sung. Gleichzeitig leitete sie eine Phase der "Diktaturgewöhnung" (Manfred Funke) ein. Dahinter steckte die Idealisierung der Weltkriegserfahrung durch den ehemaligen Frontoffizier, der das Bild der parteien- und schichtenübergreifen­ den Existenz im Schützengraben hochhielt Doch diese Haltung hatte gleich­ zeitig auch "einen ausgeprägt neurotischen Grundzug": "Der katholische Kanzler aus Westfalen litt darunter, dass Katholiken in den Augen nicht nur des Reichspräsidenten von Hindenburg, sondern vieler Protestanten Deutsche zweiter Klasse waren. Also fühlte sich Brüning herausgefordert das Gegenteil zu beweisen. [ . . ] Die Opfer, die er den Deutschen auferlegte, waren ein Dienst .

an der nationalen Größe und damit gerechtfertigt. Was er im Krieg als Front­ offizier von seinen Soldaten gefordert hatte, das konnte und musste er jetzt in der Krise dem ganzen Volk abverlangen: Disziplin. Es war die soldatische Hal­ tung, die dem lebenslangen Junggesellen inneren Halt gab" (Heinrich August Winkler) . Vor diesem Hintergrund praktizierte Brüning eine äußerst unpopuläre Deflationspolitik, die die Wirtschaftskrise zwar nicht absichtlich verschärfte, doch eine solche Entwicklung billigend in Kauf nahm, um das Reparations­ problem zu lösen. Seine Ignoranz gegenüber den verheerenden sozialen Aus­ wirkungen der Massenarbeitslosigkeit entfremdete die Deutschen immer mehr der Demokratie, die offensichtlich ihre Probleme nicht löste, und machte sie zu willigen Opfern politischer Rattenfänger, die einfache Lösun­ gen komplizierter Probleme versprachen. Damit förderte Brüning den politi­ schen Radikalismus in Deutschland. Insofern bedeutete seine Regierungszeit einen wichtigen Schritt hin zur nationalsozialistischen Regierungsüber­ nahme. Ein Kanzler, der die Republik in ihrem Grundbestand verändern, wenn nicht sogar abschaffen wollte, konnte nicht deren letzte Chance sein, zumal er letztlich den erklärten Republikgegnern - wenn auch teilweise wi­ der Willen - zuarbeitete, denn in seiner Regierungszeit gewann nicht nur die NSDAP an Boden, sondern kamen auch die adligen Funktionseliten in Militär, Bürokratie und Diplomatie wieder in Schlüsselstellungen. Dass Brü-

1 07

1 08

1 1 1 . Die "Ära Brüning" 1 930-32: Präsidialkabinett als Weg aus der Krise?

ning dann selber durch dieses "Alt-Preußentum" gestürzt wurde, wie sein Vizekanzler und Finanzminister, der liberale Hermann Dietrich, im Frühjahr 1932 beklagte, gehört zur bitteren Ironie seiner Reichskanzlerschaft



Auf einen Blick Die Bildung des Präsidia l kabinetts u nter Reichskanzler H e i n rich Brüning respektierte n u r noch vor­ dergründig die Weimarer Reichsverfassung. De facto bedeutete sie den Ü bergang vom System de­ m okratisch leg iti mierter Reg ierungen, die sich auf eine M e h rheit i m Parlament stützen konnten, zu einem nur noch vom Wohlwo l l e n des Reichspräsidenten a b hängenden Ka bin ett. Dies gab den Geg­ nern der Weimarer Rep u b l i k weiter Auftrieb, wei l die Protagon isten dieser neuen Reg ierungsva­ ria nte, a l l e n voran Hindenburg, die Repu b l i k in i h rer bisherigen Form dau erhaft beseitigen wollten. I nwiefern dann Brü nings kon krete pol itische Maßnah men, insbesondere seine Deflationspol itik, a l ­ ternativlos waren o d e r ob der Reichska nzler a l les e i n e m Primat der Reparationspol itik u nterordnete bzw. sogar bewusst einer Auflösung der Weimarer Demokratie zua rbeitete, ist i n der Forschung bis heute u m stritten . Tatsache ist in des, dass diese unpopuläre Politik zumin dest fa ktisch der Agitation der Repu b l i kgegner von l i n ks und von rechts weiteren Auftrieb gab.

Literatu rh i nweise Hermann Graml: Zwischen Stresemann und H itler. Die Außenpo l itik der Präsidia l kabinette Brü n i n g, Papen

und Schleicher. Mü nchen 2001. Cari-Ludwig Holtfrerich : Zur Debatte über die deutsche Wi rtschaftspolitik von Weimar zu H itler. l n :

Viertelja h rshefte fü r Zeitgeschichte 4 4 (1996), S. 119-132. Herbert Hömig: Brüning. Kanzler in der Krise der Republik. Paderborn 2000.

2

William L. Patch Jr.: Hei nrich Brüning and the Dissolution of the Weimar Republic. Cambridge 2006.

IV. Der Aufstieg der NSDAP zur "Vol kspa rtei" Mi!!mn!ft•

D

ie NSDAP war bei ihrer Gründung 1919

politischen Versenkung verschwinden. Aller­

eine rechtsextreme Splitterpartei neben

dings gelang es Hitler, sich nicht nur an der

anderen. Immerhin erwarb sie dank des agi­

Spitze der NSDAP zu halten, sondern dieser

tatorisch-rhetorischen Geschicks Adolf Hitler,

durch sein während der Haft geschriebenes

der sich wegen seines politischen Geschicks

Buch "Mein Kampf' auch eine ideologische

bald an ihre Spitze stellte, und der alle Re­

Basis zu geben und gleichzeitig innerpartei­

publikgegner begünstigenden Turbulenzen

lich ungeachtet verschiedener Machtkämpfe

in den Anfangsjahren der Weimarer Repub­

das "Führerprinzip" und damit sein Herr­

lik rasch eine gewisse Prominenz, von der

schaftsmonopol durchzusetzen. Die doppelte

auch die Beteiligung am sog. "Hitler-Luden­

Staats- und Wirtschaftskrise der Weimarer

dorff-Putsch" 1923 in München zeugte. Des­

Republik

Ende

der

1920er/Anfang

der

sen Scheitern und die anschließende Stabili­

1930er-Jahre ermöglichte der NSDAP dann,

sierung der Weimarer Republik ließ die Par­

eine "Volkspartei" zu werden und von Wahl

tei indes zunächst einmal wieder in der

zu Wahl weiter zu erstarken.

Zeittafel 5.1 .191 9

Gründung der Deutschen Arbeiterpartei

1 8.8. 1 9 1 9

Ei ntritt Hitlers

24.2.1 920

U m benennung der Partei i n NS DAP; Verkü ndung der 25 Punkte des Parteiprogra m m s

29.7 . 1 921

Wahl Hitlers zum Pa rteivorsitzenden

8./9. 1 1 . 1 923

H itler-Ludendorff- Putsch in M ü n chen, Verbot der N S DAP

1 .4.1 924

Verurte i l u n g Hitlers zu fü nf Jahren Festu ngshaft

1 .4.1 924-20.1 2 . 1 924

I n h aftierung Hitlers i n La ndsberg; N iedersch rift von "Mein Kam pf"

26.2.1 925

Neugründung der N S DAP

1 8.7.1 925

1 . Band v o n "Mein Kam pf" erscheint

1 4.2.1 926

Bam berger "Führertagung" festigt Hitlers Machtste l l u n g

J u l i-Dez. 1 929

Bete i l i g u n g der N S DAP a m Volksbegehren g e g e n den Young-Pian

1 4.9.1 930

Starke Sti m m e n gewi n n e der N S DAP bei den Reichstagswa h l e n

1 1 . 1 0. 1 93 1

N S DAP beteil igt s i c h a n der Bildung der "Harzburger Front"

24.4. 1 932

Große Sti m m engewi n n e der N S DAP bei La n dtagswa h l e n in Preußen, Bayern, Württemberg, Anhalt und H a rn burg

3 1 .7.1 932

N S DAP wird stä rkste Pa rtei bei Reichstagswa h l e n

6.1 1 . 1 93 2

Deutl iche Verluste der N S DAP bei Neuwa h l e n zum Reichstag

110

IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur ,.Volkspartei"

1 . F ü h rerpri nzip u n d Weltanscha u u n g Parteigründung

Die NSDAP kann man als die Aufsteigerpartei schlechthin der Weimarer Republik bezeichnen. Sie war im Januar 1 9 1 9 von dem Werkzeugschlosser An­ ton Drexler ( 1 884-1 942) als eine rechtsextreme Splitterpartei unter dem Na­ men Deutsche Arbeiterpartei (DAP) in Bayern gegründet worden und zu­ nächst nicht über einige wenige Dutzend Mitglieder hinausgekommen. Das lag auch daran, dass vergleichbare antisemitische, radikal-nationalistische und völkische Gruppen zu der Zeit in Deutschland stark verbreitet waren. Dement­ sprechend griff die DAP in ihrem 25-Punkte-Programm vom 24. Februar 1 920 auch die gängigen Themen der Zeit auf: die Ablehnung des Versailler Vertrags und die Vision eines "Großdeutschlands", den Kampf gegen das "System" von Weimar und die Errichtung einer "völkischen" Ordnung, die Beseitigung jüdi­ schen Einflusses in Staat und Wirtschaft durch Einführung rassischer Krite­ rien in Gesetzgebung und Kulturpolitik sowie Enteignungen und Verstaatli­ chungen. Überdies blieben alle Aussagen letztlich ambivalent und vage. Indes konnten sie gerade dadurch zum Kristallisationspunkt für die Überzeugungen und Wünsche vieler werden. Der politische Kopf der DAP wurde schon bald der berufslose ehemalige Gefreite Adolf Hitler. Stichwort

Adolf H itler

( 1 889-1 945) wurde a l s Sohn eines Österreichischen Zol l beamten in Bra u n a u a m l n n geboren. N a c h dem Tod d e s Vaters brach er 1 905 s e i n e Rea lsch u l a u s b i l d u n g ab. Sein Versuch, i n die W i e n e r Ku nsta kademie aufgenommen zu werden, schei­ terte zwe i m a l wegen n icht a u s reichender Befä h i g u n g . ln der Österreichischen H a u ptstadt bewegte sich H itler vorwieg end i m M i l ieu der Männerwohnheime. Er lebte von seiner Wa isen rente u n d dem Verka uf einiger Bilder. G l eichzeitig wurde er m it den sozialen u n d nationalen Problemen der Vorkrieg szeit konfrontiert. D u rch die Lektüre von Zeitu ngen und tendenziösen Sch riften schuf er sich eine völ kische Weltansch a u u n g m it starker a ntisem itischer Akzentuieru ng. 1 9 1 3 sie­ delte H itler nach M ü nchen über, u m sich dem Österreich ischen M i l itä rd ienst zu entziehen. Am Ersten Weltkrieg nahm er dann a l s Krieg sfreiw i l l iger i n einer bayeri­ schen E i n heit tei l . Er brachte es bis zum Gefreiten und wurde m e h rfach verwundet sowie m i l itärisch ausgezeichnet. Nach dem Krieg diente er dem M ü nchner Reichs­ wehrko m m a ndo wegen seiner red nerischen Beg a b u n g zunächst als Sch u l u n g s­ red ner, später d a n n auch a l s V-M a n n . Dabei lernte er die neu gegründete DAP kennen.

Ursprünglich war Hitler von der Reichswehr als Beobachter zur DAP ge­ schickt worden, um deren Gefährlichkeit einzuschätzen. Doch Mitte Septem­ ber 1 9 1 9 übernahm er den Posten des Werbeobmanns der Partei. Hierfür

111

1 . F ü h rerprinzip und Weltanschauung

wurde er eigens vom Dienst freigestellt, und es war auch die Reichswehr, die ihm für seine Arbeit Geld, Material und Räume zur Verfügung stellte. Ihr Mo­ tiv war der Versuch, politischen Einfluss zu gewinnen, vor allem einen Zugriff auf die Arbeiterschaft, um diese den Linksparteien abspenstig zu machen. Für Hitler wiederum bot sich hier die Möglichkeit, eine berufliche Alternative zu entwickeln, für den Fall, dass er in der nach dem Versailler Vertrag verkleiner­ ten Armee keinen Platz mehr haben würde. Insgesamt zeigen gerade die ersten Jahre seines Aufstiegs innerhalb der

Hitlers Förderer

NSDAP - wie sich die Partei seit Ende Februar 1920 nannte -, dass Hitler neben seinen unzweifelhaften agitatorischen Fähigkeiten von den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und Kraftfeldern in der Umbruchzeit am Ende des Kaiserreichs und zu Beginn der Weimarer Republik profitierte. Nicht nur dank eigenen Geschicks, sondern auch durch die Unterstützung etlicher

Abb. 6 Aus der

Sympathisanten in den Münchener Behörden, wie dem Polizeipräsidenten

Fotoserie "Adolf H itler

Ernst Pöhner ( 1 870- 1 925) und dem Leiter der Politischen Polizei, Wilhelm

spricht", entstanden

Frick ( 1 877- 1946) , aber auch Justizminister Franz Gürtner ( 1 88 1- 1 94 1 ) , und

in der zweiten Hälfte

einigen Vertretern der Gesellschaft der bayerischen Hauptstadt, wie dem ver-

der 1920er J a h re.

mögenden völkisch-antisemitischen Dichter und Publizisten Dietrich Eckart ( 1 868- 1 923), gelang es Hitler, seinen innerparteilichen Rivalen Drexler aus der NSDAP zu drängen und im Juli 1 9 2 1 selbst deren Vorsitz zu übernehmen. Er vermochte die Partei innerhalb kurzer Zeit zu reor­ ganisieren, indem er nun eigene Ge­ treue in die wichtigsten Ämter ein­ setzte, und gleichzeitig das Bild der NSDAP von Grund auf zu verändern. Dabei gewann er Mitglieder und Sympathisanten

vor

allem

durch

seine rednerische Begabung. Aller­ dings war es weniger der Inhalt seiner Äußerungen, als vielmehr seine rhe­ torische Wirkung, welche die Men­ schen anzog. Überdies

zeichnete

sich

die

NSDAP durch einen starken Aktio­ nismus aus: Allein zwischen März 1 920 und Ende Januar 1 92 1 führte sie 46 große Versammlungen mit über 60 000 Besuchern durch. Hinzu

112

IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur ,.Volkspartei"

kam eine rege Presseagitation, vor allem im "Völkischen Beobachter", einer Zeitung, die die Partei im Dezember 1 920 samt dem Pranz-Eher-Verlag, in dem sie erschien, aufkaufte, wobei auch hier wieder Gönner, wie Eckart, hal­ fen. Trotz Inflation und Wirtschaftskrise erschien der "Völkische Beobachter" seit Februar 1 923 als Tageszeitung, ab August zusätzlich noch in einem größe­ ren Format. Auch die Mitgliederentwicklung belegt den Aufstieg der NSDAP in den ersten Jahren: Von einigen Hundert 1 9 1 9/20 stieg sie in den kommen­ den Jahren bis zum Herbst 1 923 kontinuierlich auf über 50 000 an. SA

Überdies verfügte die Partei mit der SA über eine schlagkräftige Schutztruppe. Sie war im August 1 92 1 als "Turn- und Sportabteilung" gegründet wor­ den und erwies sich rasch als eine äußerst wirksame Werbemaschinerie für die NSDAP. Ihre uniformierten Aufmärsche wurden zum Sinnbild der nationalsozialistischen Bewegung. Bereits auf dem ersten Reichsparteitag der NSDAP im Januar 1923 in München traten über 5 000 SA-Männer auf. Im Laufe des Jahres wuchs die Organisation dann sogar auf 1 5 000 Mann an. Ihr oblag vor allem der Saalschutz für die NSDAP, daneben sollte sie aber auch die Bestimmungen des Versailler Vertrags unterlaufen. Dementsprechend wurde die SA im Febru­ ar 1 923 auch in die "Arbeitsgemeinschaft der vaterländischen Kampfver­ bände" aufgenommen, die der Münchner Reichswehrgeneral Ernst Röhm ( 1 887-1 934), ein weiterer Förderer Hitlers, ins Leben gerufen hatte. Damit er­ hielt sie den offiziellen Status als Wehrergänzung. Ausbildung und Ausrüstung erfolgten ab sofort durch die Reichswehr, und auch die Hierarchie orientierte sich nun an ihr: Aus der SA-Standarte wurde das Regiment, und die SA-Führung hieß nun Oberkommando.

Hitler- ludendorff­

Im November 1 923 unternahm Hitler zusammen mit General Erich Lu-

Putsch

dendorff ( 1 865- 1 937), dem ehemaligen Generalstabschef Hindenburgs, einen Putschversuch, indem er mit einer Hand voll Gleichgesinnter auf die Feld­ herrnhalle in München marschierte. Dank des konsequenten Einschreitens der bayerischen Polizei scheiterte das dilettantische Unternehmen. Allerdings weigerte sich die Münchner Regierung, die Putschisten an den Berliner Staats­ gerichtshof auszuliefern, der 1 922 eigens für Hochverratsprozesse und für die Anwendung des neu geschaffenen Republikschutzgesetzes geschaffen worden war. Stattdessen wurde Hitler von einem sehr einseitig besetzten Volksgericht in München lediglich zu einer fünfjährigen Festungshaft verurteilt. Diese Strafe belegte erneut, dass die deutsche Justiz in der Weimarer Republik auf dem rechten Auge oft blind war, denn die Festungshaft galt im Gegensatz zur Gefängnisstrafe als ehrenvoller. Zudem wurde Hitler bereits Ende 1 924 vorzei­

,.Mein Kampf"

tig entlassen. Während der Haft in Landsberg diktierte Hitler einem Mitgefangenen, Rudolf Heß ( 1 894-1 987), sein erstes Buch, "Mein Kampf' betitelt, eine ideolo­ gische Kampfschrift, die 1925 in überarbeiteter Form im Pranz-Eher-Verlag er­ schien. Hierin beschrieb Hitler den Nationalsozialismus als stark nationalis-

1 . F ü h rerprinzip und Weltanschauung

tisch und expansionistisch sowie radikal antisemitisch. In seinem Mittelpunkt stand der sozialdarwinistische Glaube an die "germanische Herrenrasse", die neuen "Lebensraum" im Osten benötige und vor dem tödlichen Bazillus des "Weltjudentums" beschützt werden müsse. Überdies entwarf er die Vision eines "nationalen Sozialismus", der sich ausdrücklich vom internationalisti­ schen Marxismus abgrenzte: An die Stelle des Sieges der Arbeiterklasse durch den erfolgreichen Klassenkampf trat die Umwandlung der in unterschiedliche Interessengruppen zersplitterten Gesellschaft in eine "Volksgemeinschaft", in der alle Mitglieder nach ihren jeweiligen Möglichkeiten dem Gemeinwohl dienten. Damit präsentierte sich die NSDAP letztlich "zugleich antimodern und dynamisch, antikapitalistisch und antisozialistisch, reaktionär und revolu­ tionär" (Jürgen Kocka) - eben als "eine ideologische ,Omnibuspartei' [ . . ] die von allem etwas, bei Bedarf aber auch nur dies oder jenes programmatisch ver­ .

kündete" (Wolfgang Schieder) . Nach seiner Haftentlassung Ende 1 924 zog Hitler eine "dreifache Lehre" (Eberhard Kolb) aus seinem misslungenen Putsch: 1 . Das Bekenntnis zum strik­ ten Legalitätskurs, wohl wissend, welche Möglichkeiten die Weimarer Republik einem ebenso demagogischen wie skrupellosen Politiker wie ihm bot. 2. Die Konzentration auf eine straffe Organisation der Regionen und Länder unter Ausschluss anderer Gruppierungen mit rechtem und völkischem Gedankengut. 3. Der konsequente Ausbau der NSDAP, die in den letzten Jahren in rivalisie­ rende Gruppen zerfallen war, zu einer Partei, die allein ihrem Vorsitzenden un­ terstand. Er sollte der charismatische Führer sein, dem sich alle anderen unter­ ordnen mussten. Diese eindeutige personale Ausrichtung auf Hitler als dem "Führer" verlieh der Partei ihren Charakter sui generis im deutschen wie im eu­ ropäischen Maßstab. Selbst die faschistischen Bewegungen in anderen Ländern pflegten keinen derartigen Personenkult wie die NSDAP. Insbesondere Joseph der in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zum nationalsozialisti­

Goebbels,

schen Chefpropagandisten aufstieg, überhöhte Hitler geradezu ins Göttliche, wenn er ihn als "Erlöser", "Heiland" oder "Propheten" bezeichnete. Stichwort

Joseph Goebbels

( 1 897-1 945) war weg en eines verkrüppelten Fußes i m Ersten Weltkrieg m i l itär­ dienstunta u g l ich u n d kon nte daher in d ieser Zeit ein German istikstud i u m beg in­ nen, das er 1 92 1 m it der P romotion beendete. Nachdem er sich zunächst erfo l g l os a l s Sch riftste l l e r versucht hatte, wurde Goebbels 1 924 Redakteu r eines völ kischen Bl ättchens. I m Jahr dara uf übernahm er die Geschäftsfü hrung i m "Gau Rheinland­ Nord" der noch u n bedeutenden NS DAP. I n nerh a l b der Partei zäh lte er zunächst zum l i n ken a ntika p ital istischen F l ügel, was a uch seiner Verachtu ng b ü rgerlicher Werte entsprach. H itler sta nd er zunächst kritisch gegenü ber. Er wa ndelte sich aber zu dessen g l ü hendem Bewu nderer, a l s sich H itlers zunehmender Erfolg ab­ zeich nete. Dementsprechend stieg er 1 926 zum G a u l e iter von Berl i n auf. Als g l ä n -

113

114

IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur ,.Volkspartei"

zender Propagand ist und gesch ickter Org a n isator l egte er die Basis fü r den Auf­ stieg der bis d a h i n darn iederl iegenden Partei. Im April 1 930 wurde er von H itler zum ,. Reichspropag andaleiter" ernan nt. l n d ieser F u n ktion hatte er wesentl ichen Anteil a n den g roßen Wa h l e rfolgen der N S DAP zwischen 1 930 u n d 1 932. I m ,. Drit­ ten Reich" setzte er seine ebenso fa natische wie g ewissenlose Agitation a l s Reichs­ m i n ister fü r Vol ksaufkl ärung und Propaganda fort.

Hitlers Rhetorik

Wie kein Zweiter in seiner Zeit schaffte es Hitler in seinen unzähligen Auftritten, das Publikum bis zur Ekstase in seinen Bann zu schlagen. Er be­ herrschte die Kunst, die Bedürfnisse der breiten Masse zu erkennen und ebenso emotional wie subjektiv genau so in Worte zu kleiden, dass jeder Ein­ zelne sich verstanden fühlte: "Er sprach aus, was sie insgeheim dachten und wollten, bekräftigte ihre noch unsicheren Sehnsüchte und Vorurteile und ver­ schaffte ihnen dadurch eine tief befriedigende Selbstbestätigung und das Ge­ fühl, einer neuen Wahrheit und Gewissheit teilhaftig zu werden" (Martin Bros­ zat) . Dabei war der Inhalt von Hitlers Reden verblüffend banal: Extremer Nationalismus, radikaler Antisemitismus, entschiedene Gegnerschaft zum "System", kontrastiert mit der Verheißung einer besseren Zukunft, und das Ganze mit gängigen rhetorischen Stilmitteln aufbereitet - stete Wiederholun­ gen bestimmter Parolen, die häufige direkte Ansprache seiner Zuhörerschaft und ein Redner und Publikum verbindendes Frage-Antwort-Ritual. Allerdings war bis Ende der zwanziger Jahre überhaupt noch nicht ersicht­ lich, dass die NSDAP zur bestimmenden Kraft im rechten Parteispektrum auf­ steigen sollte. Im Gegenteil: Nach dem gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch schienen die NSDAP und ihr Parteivorsitzender zunächst einmal am Ende. Die bayerische Regierung schloss sich dem in Preußen verhängten Verbot der Partei an, viele Funktionäre flohen ins Ausland oder schieden aus der Bewegung aus. Überdies zerfiel die NSDAP in eine Reihe unterschiedlicher Fraktionen, die stark miteinander rivalisierten. Der Führungsanspruch im völkisch-nationalis­ tischen Milieu schien zunächst verloren. Das hielt auch nach der frühzeitigen Haftentlassung Hitlers zunächst noch an, zumal diesem ein öffentliches Rede­ verbot auferlegt war und er somit seiner Agitationsmöglichkeiten weitgehend beraubt war. Wenn es ihm dennoch gelang, erneut die uneingeschränkte Füh­ rung der Ende 1925 wiederbegründeten Partei an sich zu reißen, lag dies zum einen an seiner unleugbaren charismatischen Wirkung, zum anderen aber auch daran, dass es etliche äußerst fahige Funktionäre in der NSDAP gab, welche Hitlers bohemienhafte Züge und seine Abneigung gegenüber bürokratischer Organisation konterkarierten. Dazu zählten die Brüder Gregor und Otto ( 1 897-1974) Straßer, Goebbels und Pranz Pfeffer von Salomon ( 1 888-1 967) . Ihrer musste sich Hitler allein schon deshalb bedienen, weil die Münchner Par­ teiführung nicht in der Lage war, den reichsweiten Ausbau des Parteiapparats zu betreiben, geschweige denn diesen unmittelbar zu kontrollieren.

1 . F ü h rerprinzip und Weltanschauung

Natürlich barg diese Delegation von Kompetenzen auch Gefahren für den uneingeschränkten Führungsanspruch des Parteivorsitzenden. Dementspre­

115

I n nerparteiliche Machtkämpfe

chend kam es in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre bis zum Vorabend des 30. Januar 1933 auch immer wieder zu innerparteilichen Friktionen, ja zu Machtkämpfen oder regelrechten Putschversuchen. Dazu gehörte auch der Ge­ gensatz zwischen den west- und norddeutschen Parteigliederungen - die Gregor Straßer 1925 zu einer "Arbeitsgemeinschaft" zusammengefasst hatte - einerseits und den bayerisch-fränkischen Teilen der NSDAP andererseits. Hierbei spielten nicht nur persönliche Rivalitäten eine Rolle, sondern auch deutliche program­ matische Unterschiede. Straßer und die nordwestdeutschen Gauleiter standen vor der Notwendigkeit, die NSDAP in starker Konkurrenz zu SPD und KPD aus­ zubauen. Dementsprechend verlangten sie neben einem schlagkräftigen Partei­ apparat auch eine inhaltlich fundierte Politik, die über den Radau-Antisemitis­ mus der süddeutschen Parteilinie hinausging. Allerdings war die zukünftige ideologische Ausrichtung der Partei selbst innerhalb der "Arbeitsgemeinschaft" durchaus umstritten. Doch immerhin gab es einen starken Flügel um Otto Stra­ ßer, dem zunächst auch sein Bruder Gregor und Goebbels angehörten, die eine betont sozialistische Linie vertraten und sich ebenso antikapitalistisch wie anti­ bürgerlich gebärdeten. Über ein eigenes Publikationsorgan, die "Nationalsozia­ listischen Briefe", wurden diese Gedanken in der Partei verbreitet. Stichwort

G regor Straßer

( 1 892-1 934) gehörte seit 1 92 1 der N S DAP an, nachdem er zuvor a m Ersten Weit­ krieg teilgenommen und Pharmazie studiert hatte. Er org a n isierte zunächst die n iederbayerische SA, die er seit 1 923 leitete. Wegen seiner Tei l n a h m e a m H itler­ P utsch wurde er zu 1 8 Monaten Gefä n g n i s veru rtei lt. Nach der Neugründung der N S DAP ernan nte i h n H itler zum Leiter der Arbeitsg emeinschaft der nordwestdeut­ schen G a u l e iter. Diese Position n utzte Stra ßer u m sich eine von der M ü nchner Par­ teifü h rung rel ativ u n a b h ä n g i g e Ste l l u n g aufzubauen. ln der Fol gezeit p ropagier­ ten er u n d sein j ü n g erer Bruder Otto eine .,l i n ke", stärker antikap ita l istische Auffas­ sung vom National sozia l i s m u s und begaben sich d a m it i n einen offenen Gegensatz zu H itler u n d seinen Anhängern. Anges ichts der U n e i n i g keit i n den ei­ genen Reihen g a b Stra ßer seine i n nerparteil iche Opposition jedoch i m J a n u a r 1 926 a uf. Daraufh i n ernan nte H itler i h n zum Reichspropagandaleiter der N S DAP u n d kurz darauf auch zum G a u l e iter von Oberpfa lz-N iederbayern. Als sich sein Bruder Otto i m Mai 1 930 m it H itler überwarf u n d die NSDAP verließ, verh ielt sich G regor Stra ßer gegenüber dem Pa rteivors itzenden loya l . Erst zwei J a h re später ka m es auch zwischen ihm und H itler zum Bruch. 1 934 wurde G regor Stra ßer dann von einem 55-Ko m m a ndo ermordet.

Die Straßer-Gruppe war durchaus bereit, Hitlers Führung zu akzeptieren, verlangte jedoch eine Richtungsänderung. Konkret sollte sich die NSDAP vom kapitalistischen System ebenso distanzieren wie von dessen Vertretern im her-

Straßer-Gruppe

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IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur ,.Volkspartei"

gebrachten nationalistischen Milieu - DNVP, Reichslandbund und "Stahl­ helm". Für diese Kursänderung glaubten Gregor und Otto Straßer, Hitler durchaus gewinnen zu können, vorausgesetzt es gelang, ihn von seiner Münchner Kamarilla zu isolieren, unter deren Einfluss er zu stehen schien. Dieses Kalkül verkannte, dass Hitler allein auf seinen intuitiven Messianismus setzte und eindeutige politische Festlegungen bewusst vermied. Dement­ sprechend vertagte er auf einer kurzfristig nach Bamberg einberufenen "Füh­ rertagung" am 14. Februar 1 926 auch jede weitere programmatische Diskussi­ on, band aber gleichzeitig führende Vertreter der innerparteilichen Fronde ein: Der Wirtschaftstheoretiker Feder wurde mit Programmfragen betraut, Gregor Straßer sogar als neuer Propagandaleiter unmittelbar in die Parteilei­ tung berufen und Goebbels - der in Bamberg ein überzeugter Anhänger Hit­ lers wurde - zum Gauleiter von Berlin ernannt. Damit war vordergründig die Einheit der Partei wiederhergestellt, wenn­ gleich unterschwellig die Differenzen fortlebten. Entscheidend aber wurden in den kommenden Jahren zunächst der Aufbau einer schlagkräftigen Organisa­ tion und einer zugkräftigen Propaganda, eine Aufgabe, die insbesondere Gre­ gor Straßer beschäftigte, der Anfang 1928 zum Reichsorganisationsleiter und zweiten Mann in der Partei nach Hitler aufstieg. Da Hitler sich für organisato­ rische Fragen und Routineentscheidungen nicht interessierte und sich statt­ dessen auf Koalitionsfragen sowie die Verhandlungen mit der bürgerlichen Rechten konzentrierte, funktionierte die Arbeitsteilung zunächst. Erst in der ersten Jahreshälfte 1 930 kam es wieder zum offenen Konflikt zwischen dem Parteivorsitzenden und dem sozialistischen Flügel um Otto Straßer, der angesichts der nationalsozialistischen Regierungsbeteiligung in Thüringen und der unübersehbaren Annäherung Hitlers an die traditionellen bürgerlichen und kapitalistischen Kräfte im rechten Lager im Zuge der ge­ meinsamen Agitation gegen den Young-Plan ultimativ ein Bekenntnis zum so­ zialistischen Ideengut der NSDAP verlangte. In dem nun einsetzenden kurzen Machtkampf mit Hitler unterlag Straßer jedoch, weil er den offenen Bruch ge­ wagt hatte, ohne sich der Unterstützung durch Verbündete zu vergewissern. So trat Otto Straßer im Juli 1 930 zusammen mit einer Gruppe "linker" Natio­ nalsozialisten aus der Partei aus und gründete die "Kampfgemeinschaft Revo­ lutionärer Nationalsozialisten". Letztlich distanzierten sich selbst ehemalige Anhänger - einschließlich seines Bruders Gregor - von ihm und den nie mehr als 5 000 Mitgliedern der von ihm gebildeten "Kampfgemeinschaft". Stichwort

Reg ierungsbete i l i g u n g in T h ü r i n g e n

Bei den thüring ischen Landtag swa h l e n vom 8. Dezember 1 929 verdoppelte die NSDAP i h re Mandatsza h l von bisher 3 a uf 6 S itze. l n der Folgezeit ein igten sich die vier b ü rgerlichen Parteien DVP, DNVP, La n d b u n d und Wirtschaftspartei m it der

2. Partei und Beweg ung

117

N S DAP über eine Reg ieru n g s b i l d u n g . Dem neuen Ka binett, das M itte J a n u a r 1 930 vom Landtag g ewä hlt wu rde, gehörten die Nationalsozial isten Wil h e l m Frick als I n ne n m i n ister u n d M i n ister fü r Vol ks b i l d u n g sowie Wi l l i Marsehier ( 1 893-1 955) als Staatsrat fü r Wei m a r a n . Die beiden m ussten i h re Posten zwa r bereits Anfang April 1 93 1 wegen eines M isstra uensvotums der Landtagsmeh rheit wieder rä u m e n womit auch diese erste rechtsra d i kal-bürgerl iche Koa l ition auf Landesebene p latzte -, dennoch s i g n a l isierte a l l e i n schon der vorü bergehende Ei ntritt von Na­ tional sozia l isten i n die Reg ierung eines deutschen M ittelstaates die d rastisch ge­ stieg ene pol itische Bedeutung der N S DAP.

Ende August 1930 brach allerdings eine Meuterei des SA-Führers Walter Stennes ( 1 895- 1 989) aus, der für den gesamten Osten Deutschlands einschließlich Berlins zuständig war: Stennes forderte mit Blick auf die anstehende Reichstagswahl eine stärkere Berücksichtigung von SA-Männern auf der NSDAPWahlliste. Indes war der eigentliche Hintergrund auch hier der Gegensatz zwischen dem "nationalen Sozialismus" der Basis und dem sich abzeichnenden Bündnis der NSDAP-Führung mit dem bürgerlichen Nationalismus. Hinzu traten wachsende Ressentiments der "wirklichen" Kämpfer gegen die "Verbonzung" der Parteispitze. Die NSDAP-Führung setzte die SS gegen die Meuterer ein, die die Berliner Gaugeschäftsstelle besetzt hielten. Allerdings bedurfte es der persönlichen Vermittlung Hitlers, um der Lage endgültig Herr zu werden. Während der Parteivorsitzende es zunächst nicht wagte, gegen Stennes und seine Anhänger direkt vorzugehen, löste er im September 1 930 Pranz Pfef­ fer von Salomon ( 1 888-1 968) als Obersten SA-Führer ab und übernahm selber dieses Amt. Erst nach einer neuerlichen Revolte von Stennes im Frühjahr 1 9 3 1 wurde auch dieser seines Amtes enthoben und aus der NSDAP ausgeschlossen. Letztlich nutzte Hitler diese Entwicklung nur, weil er dadurch seine innerpar­ teiliche Machtposition festigen und sich nach außen mit Blick auf die Reichs­ tagswahlen erfolgreich als Garant der Mäßigung und der Legalität stilisieren konnte, zumal Stennes und seine Anhänger gegen ihn ausdrücklich als "Adol­ phe Legalite" polemisiert und einen antiparlamentarischen, revolutionären Kurs gefordert hatten.

2. Pa rtei u n d Beweg u n g Die nationalsozialistischen Propagandisten bezeichneten die NSDAP zu­ meist als eine Bewegung und hoben sie demonstrativ von den hergebrachten Parteien ab. Gleichzeitig verweist allein schon der Name "Nationalsozialisti­ sche Deutsche Arbeiterpartei" auf die Zugehörigkeit zum Parteiensystem der Weimarer Republik. Überdies verfügte die NSDAP über einen administrativen Apparat und beteiligte sich an Wahlen. Dementsprechend variieren auch in der Forschung die Bezeichnungen. Dabei gibt es durchaus klare Kriterien für

Stennes- Revolte

118

IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur "Volkspartei"

die eine wie die andere Zuordnung: Eine Partei fügt sich in ein bereits beste­ hendes politisches System ein. Sie hat zumindest im 20. Jahrhundert in der Regel eine feste Organisation und klare programmatische Ziele. Eine Bewe­ gung hingegen versucht, Politik außerhalb des hergebrachten Systems zu ma­ chen. Überdies vermeidet sie oft eindeutige programmatische Festlegungen und kann so leicht zum Sammelbecken für die unterschiedlichsten Ansichten werden, zumal sie den Anspruch vertritt, allgemeine und nicht nur partikulare Interessen zu vertreten. Beweg ungscharakter

Tatsächlich aber bietet es sich an, den Nationalsozialismus als das Beispiel

der NSDAP

par excellence für eine Formation zu begreifen, auf die beide Begriffe zutreffen, wobei die Selbststilisierung als eine Bewegung bis 1933 sicher das vorherr­ schende - und wählerwirksame - Kennzeichen der NSDAP war. Diesen Bewe­ gungscharakter des Nationalsozialismus dokumentierten die Unverbindlichkeit seines Programms und das Führerprinzip ebenso wie seine systemfeindliche "Politik der radikalen Negation" (Dieter Hein) und die pathetische Siegeszuver­ sicht seiner Propagandisten. Überdies zeichnete die NSDAP eine demonstrative Jugendlichkeit aus, die sie deutlich abhob von den traditionellen Parteien. Damit knüpfte sie - ungeachtet ideologischer Unterschiede - an eine Entwicklung an, die um die Jahrhundertwende eingesetzt hatte: Damals hatte sich die Jugend erstmals als soziale Gruppe in einer eigenen Bewegung konstituiert. Die sich hieraus in der Folgezeit entwickelnden Gruppierungen hatten trotz aller organisatorischen und weltanschaulichen Unterschiede eines ge­ meinsam - den unbändigen Willen, die Welt zu verändern sowie das Alte und Bekannte zu bekämpfen. Dieses positive (Selbst-)Bild, demzufolge "Jugend [ . . . ] Aufbruch in eine neue Welt [bedeutete] , in der neue Werte galten, das Junge und Moderne die Werte vorgab", bekam jedoch in der Zeit der Welt­ wirtschaftskrise seine negative Kehrseite, nämlich "die von Arbeitslosigkeit und Krise betroffene entwurzelte [ . . . ] Jugend, die von allen Werten gelöst schien und desorientiert war" (Winfried Speitkamp) . Die NSDAP fungierte besonders erfolgreich als Auffangbecken von Teilen dieser ebenso gesell­ schaftskritischen wie orientierungslosen jungen Leute, für die sie durch ihre Selbstdarstellung als eine junge politische Kraft attraktiv wurde. So traf sich die vorherrschende Antihaltung vor allem vieler junger Männer mit der Kritik der NSDAP am Bestehenden:

MJ!t!111M Hessen-Post, Beilage der nationalsozia l i stischen J u g e n d beweg u n g i n Hessen, 3 . Ausgabe J a n u a r 1 93 3 Quelle: Wieland Eschenhagen (Hrsg.): D i e "Machtergreifung", Darmstadt 1 983, S. 33.

"Wi r hassen die Gegenwa rt! Diese Gegenwa rt, die uns i n so g ra uenvoller Weise die Auswi rku ngen der Weltansch a u u n g und Geisteshaltung der Vergangen heit zum Bewu ßtsei n bringt. Wir hassen die fried- und freud lose Gegenwa rt m it i h rer d reifa-

119

3. Mitgl i eder und Wä hler

chen Not, die u n s bedrängt. Da ist die entsetzliche wirtschaftl iche N ot u n seres Vol­ kes, des ,Vo l kes o h n e Ra u m ', das fü r seine J ugend keinen Lebensra u m hat. Und neben dieser wirtschaftl ichen Daseinsnot steht die g roße völ kisch-soziale N ot eines in sich unein igen, eines in Pa rteien u n d Klassen zerfa l lenen Vol kes, das seine Ehre und d a m it sein Lebensrecht preisgab und zum Proletariat der Weit herab­ s a n k. Dazu gesellt sich a l s dritte die seel isch-kulture l l e Not. Ü bera l l u m u n s her: Verseuchung, Zersetzung u n d Fä u l n is. P l a n m ä ß ige Entsittl ich ung u n d Entsee l u n g d u rch vol ksfremde Brunnenverg ifter [ ] Wir streben fü r die Zukunft d e s deut­ schen Vol kes! Wir sind die Zuku nft, denn wir sind die J ugend! Wir stehen i m Lager der Zukunft; denn wir stehen h i nter H itlers Fa hnen!" . . .

Neben ihrer Fundamentalopposition gegen das ganze "System" von Weimar machten die NSDAP noch weitere Kennzeichen für jüngere Menschen attraktiv: ihre Nutzung moderner Verkehrs- und Kommunikationsmittel, insbe­

NSDAP als "j unge" Partei

sondere in Wahlkämpfen, ihr Bruch mit bürgerlichen Ordnungsvorstellungen sowie ihre stilisierte Dynamik. Überdies setzte sich ihre Führungsgruppe über­ wiegend aus Offizieren und Frontkämpfern zusammen, die zwischen fünfund­ dreißig und vierzig Jahre alt waren; die nach 1 925 dazustoßenden Funktionäre waren sogar noch wesentlich jünger. Dies kontrastierte deutlich mit dem über­ alterten Personal der etablierten Parteien. Dementsprechend war die Gruppe der 1 8 - bis 20-jährigen Männer in der NSDAP im Vergleich zur Reichsbevöl­ kerung deutlich überrepräsentiert. Gerade hierbei handelte es sich aber um "die im mehrfachen Sinne über­ flüssige Generation der seit 1 900 Geborenen" (Detlev Peukert) : Sie war bereits durch die Kriegsumstände oft in ihrer Jugenderfahrung beeinträchtigt worden, ohne gleichzeitig am Mythos des Frontkämpfers partizipieren zu können. Über­ dies drängten sie in einer Phase wirtschaftlicher Stagnation auf den überfüllten Arbeitsmarkt und wurden dann während der Weltwirtschaftskrise überpropor­ tional stark von der Massenarbeitslosigkeit betroffen. Das machte sie für die Pro­ paganda systemfeindlicher radikaler Gruppen und Parteien besonders emp­ fänglich. Der NSDAP aber gelang es, nicht zuletzt aufgrund ihres ambivalenten Charakters als einer politischen Partei wie einer umfassenden Bewegung, viele dieser Gegner der Weimarer Republik für sich zu gewinnen, indem sie ihren (partei-)politischen Kampf als einen Klassen übergreifenden Konflikt zwischen Altem und Jungen, einer überholten Tradition - von der sie sich distanzierte ­ und einer verheißungsvollen Zukunft - die zu sichern, sie versprach - darstellte.

3 . M itg l ieder u n d Wä h l e r Trotz ihrer geschickten Agitation und ihrer organisatorischen Erstarkung errang die NSDAP bis Ende der zwanziger Jahre keine großen Wahlerfolge: In den Reichstagswahlen von 1 928 gewann sie nur 2,6 % der Stimmen und 1 2

Frühe Wahlergebnisse

1 20

IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur ,.Volkspartei"

Sitze im Reichstag. Ein politisches Nachschlagewerk urteilte im Sommer 1 927, die NSDAP sei mittlerweile nur noch eine "Erinnerung der Inflationsperiode". Erst das Jahr 1 929 brachte eine Wende: Durch ihre Beteiligung am Volksbe­ gehren gegen den Young-Plan errang die Partei die Anerkennung der übrigen nationalistischen Parteien und Verbände in Deutschland. Und der propagan­ distische Aufwand des DNVP-Vorsitzenden und Pressekonzern-Chefs Hugen­ berg steigerte auch im Zuge dieser gemeinsamen Kampagne den bis dahin noch relativ geringen Bekanntheitsgrad des kleineren nationalsozialistischen Verbündeten, obwohl man den Effekt der Agitation gegen den Young-Plan nicht überschätzen sollte. Hitler misstraute seit seinem gescheiterten Putschversuch 1923 der tradi­ tionellen Rechten und setzte vielmehr auf die eigene Kraft, und auch Hugen­ berg war kaum an einer besonderen Stärkung des nationalsozialistischen Kon­ kurrenten interessiert, sondern eher an dessen Kontrolle. Deshalb achtete der DNVP-Vorsitzende darauf, dass die NSDAP innerhalb des "Reichsauschusses" nur die Rolle eines Juniorpartners spielte. Hitler wiederum maß der Zusam­ menarbeit wie auch dem späteren Zusammenschluss der rechtsnationalisti­ schen Kräfte in der "Harzburger Front" keine allzu große Bedeutung bei. Den­ noch darf der wachsende Bekanntheitsgrad der NSDAP und ihr Ansehensge­ winn im nationalistischen Lager Ende der zwanziger/ Anfang der dreißiger Jahre nicht unterschätzt werden. Zwar hatte sich bereits seit Anfang 1 929 ein positiver Trend abgezeichnet, doch im zweiten Halbjahr 1 929, also auf dem Höhepunkt der Agitation gegen den Young-Plan, legte die NSDAP bei Kom­ munal- und Landtagswahlen teilweise noch einmal deutlich zu: Am 27. Okto­ ber 1929 schnellte sie bei den Wahlen zum badischen Landtag von 1 ,2 % auf 7 % der Stimmen, starke Gewinne verbuchte sie dann auch bei den preußi­ schen und bayerischen Kommunalwahlen am 17. November und 8. Dezember, und schließlich gewann sie bei den Landtagswahlen in Thüringen am 8. De­ zember sogar 1 2 % und beteiligte sich damit erstmals an einer Regierung. Auswirkun gen der

Überdies trieben die verheerenden Auswirkungen der Weltwirtschafts­

Weltwirtschaftskrise

krise der Partei seit 1 929 zahlreiche unmittelbar Betroffene, noch mehr aber viele nur indirekt Bedrohte zu. Dies galt insbesondere für den Mittelstand, der zwar noch nicht so stark durch die grassierende Arbeitslosigkeit betroffen war, aber diese umso mehr fürchtete. Gerade hier fiel eine Propaganda, wie die na­ tionalsozialistische, auf fruchtbaren Boden, weil sie suggerierte, die Wirt­ schaftskrise sei eine Folge der parlamentarischen Demokratie und ließe sich durch einen Sturz des Systems rasch beseitigen. Der NSDAP gelang es aber auch, die generelle Politik- und Staatsverdrossenheit vieler Menschen auszu­ nutzen. Mit ihren verheißungsvollen Parolen von politischer Stabilisierung, wirtschaftlichem Aufschwung und nationalem Wiederaufstieg köderte sie ge­ rade diejenigen, die sich von der Politik enttäuscht abgewendet hatten. Aus de­ ren stummem Protest gegen die bürgerlichen Parteien wurde eine aktive Un-

1 21

3. Mitgl i eder und Wä hler

terstützung der Republikfeinde. Aber nicht nur inhaltlich wurde der National­ sozialismus für viele Ende der 1 920er-/Anfang der 1930er-Jahre attraktiv, son­ dern auch durch seine geschickte Präsentation: Im Gegensatz zum nüchternen Wahlkampfstil der anderen Parteien gestaltete die NSDAP ihre eigenen Veran­ staltungen farbig und mitreißend. Dabei bediente sie sich eklektizistisch aller Agitationsformen und Stilmittel, die ihr geeignet schienen, gleichgültig, ob sie vom politischen Gegner, aus der kirchlichen Liturgie oder aus der militärisehen Tradition stammten. Abb. 7 Ergebn isse der Reich stagswa h l en

Reichstagswahlergebn isse 1 928 - 1 93 3

zwischen 1928 1 3, 1

29,8

24,S

1 4,6

2 1 ,6

1 6,9

1 2,3

u n d 1933.

1 8,3 20,4

SPD 1 1 ,2

1 1 ,8

Zentrum/

1 2,S

1 1 ,9

1 2, 1

4,0 8,0

BVP S,O S,9

Sonstige DNVP

..

1 0,0

6,0 8,8

7,0

1 4,2

-�..

1928

1930

Juli 1932

Nov. 1932

März 1933

Juli und November 1932 sowie 1933: DVP und Dt. Staatspartei (ehemals DDP) unter Sonstige

Seit Ende der zwanziger Jahre verstärkte die NSDAP auch massiv ihre eigene Organisation: Vor 1928 beschränkte sie sich in den meisten Regionen nur auf einige wenige Stützpunkte. Seitdem wurden diese Außenposten jedoch zu regionalen Netzen verknüpft, die wiederum sukzessive weiter zusammengezogen wurden. Die Gaue wurden an die Grenzen der Reichstagswahlkreise angepasst, sodass die NSDAP bald über eine schlagkräftige hierarchisch aufgebaute Wahlkampfmaschine verfügte. Dies wirkte umso überzeugender, als die Partei eine äußerst effektive öffentliche Propaganda betrieb. Eine Region nach der anderen wurde mit großen Kampagnen überzogen, zu denen Plakat- und

Ausbau des Parteiapparats

1 22

IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur ,.Volkspartei"

Flugblattaktionen und Veranstaltungen mit geschulten Rednern ebenso gehör­ ten wie SA-Aufmärsche, Platzkonzerte und Filmveranstaltungen. Überdies wurden Ende der zwanziger Jahre die Sonderorganisationen der Partei weiter ausgebaut, um so die unterschiedlichsten Bevölkerungs- und Be­ rufsgruppen zu erfassen. Den schon bestehenden folgten weitere überwiegend berufsständisch und wirtschaftlich orientierte Verbände wie der Agrarpolitische Apparat, der Kampfbund für deutsche Kultur und der Nationalsozial istische Deutsche Ärztebund.

Mit Hilfe dieser und einer Reihe anderer Unterorganisationen gelang

es der NSDAP, alle Gruppen und Schichten der Bevölkerung anzusprechen und damit ihre wählerwirksame Attraktivität noch weiter zu verstärken. Dabei kam ihr zugute, dass die allgemeine Desintegration des liberalen und konservativen Milieus und der Niedergang der bürgerlichen Parteien zahlreiche konkurrier­ ende Verbände und Vereine geschwächt hatten und somit ein Vakuum entstan­ den war, das die NSDAP nun ausfüllen konnte, sei es als ein konkurrierendes Angebot oder sei es im Stile einer Unterwanderung der etablierten Organisatio­ nen. Letzteres gelang sowohl im Fall des Nordwestdeutschen Handwerkerbun­ des und der Hauptgemeinschaft des Deutschen Einzelhandels als auch bei den verschiedenen Landbünden bis hin zum Reichslandbund, in dessen Präsidium Ende 193 1 ein Nationalsozialist aufgenommen wurde, der

Deutschen Studenten­

dessen 1. Vorsitzender 1 93 1 ebenfalls ein Nationalsozialist wurde, und einer Vielzahl weiterer Berufsorganisationen sowie Interessengruppierungen.

schaft,

Hingegen gewann die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation in der Arbeiterschaft nur geringen Einfluss. Stichwort

Agrarpol itischer Apparat

1 930 von dem D i p l o m l a ndwirt Richard Wa lther Da rre ( 1 895-1 953) gegründete Dienstste l l e der NS DAP, die deren Ag ra rpolitik entwicke l n und propagieren sol lte.

Stichwort

Ka m pfbu n d für deutsche Ku ltur

Diese ku lturpol itische Ein richtung völ kischer Ku ltu rschaffender u nter Leitu ng Al­ fred Rosenberg s (1 893-1 946) wurde bereits 1 927 a l s ,. National sozial istische Ge­ sellschaft fü r deutsche Ku ltur" gegrü ndet.

Stichwort

Nationa lsozia l istischer Deutscher Ärzteb u n d

Eine national sozial istische Ärzteorga n isation, die 1 929 auf dem vierten Reichspar­ teitag der N S DAP in N ü rn berg gegründet wurde. 1 930 traten i h r auch Zahn- und Tierä rzte sowie Apotheker bei. Ende 1 932 organ isierte sie erstmals einen rassen hy-

1 23

3. Mitgl i eder und Wä hler

g i e n ischen Sch u l u n g sku rs, a n dem m e h rere h u ndert Ärzte teil n a h m e n . Für die entsprechende Propaganda der N S DAP u n d deren D u rchdri n g u n g der Ärzteschaft spielte sie eine wichtige Rolle.

Stichwort

Deutsche Studentenschaft

I m J u l i 1 9 1 9 g r ü ndeten die Vertreter der Allgemeinen Studentenausschüsse von 25 U n iversitäten, 1 1 Tech n ischen H ochsch u l e n und zwei weiteren H ochsch u l e n auf dem Würzb urger Studententag die Deutsche Studentenschaft, deren Spitze zunächst ein fü nf-, später ein d reiköpfiger Vorstand bildete. Dieser entschied for­ m a l kol legial, den noch ka m dem aus seiner M itte berufenen Vorsitzer der Deut­ schen Studentenschaft eine maßgebl iche Rol l e zu. Bereits i n den frü hen zwa nzi­ ger J a h ren entwickelten sich die i m Deutschen Hochsch u l ring zusa m mengefass­ ten Bünde zur rel ativ stä rksten Koa l ition innerha l b der heterogenen Deutschen Studentenschaft; ä h n l ich sta rk waren ledigl ich noch die i n der Arbeitsgemein­ schaft der kathol ischen deutschen studentischen Verbände org a n isierten Korpo­ rationen. H i ngegen befanden sich die dem Reichska rte l l deutscher repu b l i ka n i­ scher Studenten angehörenden l i n ks l i bera l e n u n d sozial istischen Gruppen in der M i nderheit. Den noch verfolgte die F ü h rung der Deutschen Studentenschaft wäh­ rend der rel ativen Sta b i l isierung der Wei m a rer Repu b l i k 1 924 bis 1 929/30 einen g e m ä ß igten Ku rs. Der von rechtsra d i ka l e n Studenten 1 926 gegründete National­ sozia l i stische Deutsche Studente n b u n d blieb i n nerha l b der Gesamtstudenten­ schaft zunächst völ l i g einfl usslos. Dies änderte sich i m Zuge der pol itischen und wirtschaftl ichen Krise gegen Ende der Wei m a rer Republ ik: Auf dem G razer Stu­ dententag fiel das Amt des Vorstehers 1 93 1 a n den Nationalsozial isten Wa lter Lienau (1 906-1 94 1 ) . Überdies gewa n n der Nationalsozial istische Deutsche Stu­ dente n b u n d bei den i m g leichen Jahr anstehenden Studentenschaftswa h l e n einen d u rchsc h n ittl ichen Sti m m e n a ntei l v o n m e h r a l s 5 0 %, trotz s e i n e r auch wei­ terhin rel ativ geringen Mitgl iederza h L Er em pfand a l l e ü brigen studentischen Gruppen - sozial istische und l i beraldem okratische ebenso wie nation a l konserva­ tive - als Geg ner, deren Widersta nd nach der nationalsozial istischen Reg ierungs­ übern a h m e im Januar 1 933 endg ü ltig gebrochen wurde.

Eine Sonderrolle spielte die SA, die größte Unterorganisation der NSDAP. Sie entwickelte sich im Zuge der Weltwirtschaftskrise zum Auffangbecken für die von Arbeitslosigkeit und Verelendung besonders betroffene Gruppe der erwerbslosen Jugendlichen und jungen Männer. Diese erhielten kaum oder gar keine staatliche Unterstützung und schätzten folglich das soziale Netz, das die NSDAP mit ihren SA-Lokalen, SA-Küchen und SA-Heimen bot. Überdies organisierte die Partei Sammlungen und bemühte sich um Arbeitsplätze oder zumindest Aushilfsarbeiten für die Arbeitslosen. Daneben wirkten der paramilitärische Stil und die direkte Aktion anziehend, denn sie suggerierten den Orientierungs- und Perspektivlosen eine fest gefügte Ordnung, die sich auf die soldatische Tradition des Ersten Weltkrieges sowie der Freikorps berief und

Aufstieg der SA

1 24

IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur ,.Volkspartei"

konkrete Bewährung bot in der unmittelbaren, oft gewaltsamen Auseinander­ setzung mit dem politischen Gegner. Dementsprechend wuchs die Zahl der SA-Mitglieder seit Anfang der drei­ ßiger Jahre stark an: Anfang 1 93 1 betrug sie etwa 80 000, ein Jahr später rund 300 000 und im Januar 1933 schließlich 700 000. Deren propagandistischen und "kämpferischen" Anstrengungen trugen wesentlich zum wachsenden Er­ folg der NSDAP bei: Die SA-Männer verteilten Flugblätter, klebten Plakate und schützten die nationalsozialistischen Parteiveranstaltungen, wobei dieser "Schutz" brutale Gewalt gegen etwaige "Störer" ebenso umfasste wie die Sprengung von Veranstaltungen politischer Gegner. Besondere Bedeutung hatten die Propagandamärsche und -ausfahrten - mit Hilfe privater Motorrä­ der und Kraftwagen - der SA: Der disziplinierte militärische Auftritt sollte zum einen das Interesse der Zuschauer für die NSDAP und ihre Veranstaltun­ gen wecken und die Partei als einen Ordnungsfaktor präsentieren, der den von vielen befürchteten gewaltsamen Umsturz von links verhindern half. Zum an­ deren diente er aber auch der Einschüchterung Andersdenkender, ja der fakti­ schen wie symbolischen Eroberung von deren "sozialem Gelände" - "linken" Straßen und ganzen Wohnbezirken -, wo gezielt gewaltsame Auseinanderset­ zungen provoziert wurden. Damit trug die SA entscheidend zur Bedrohung der öffentlichen Sicherheit in der Endphase der Weimarer Republik bei und zu jener allgemeinen Verunsicherung, die gleichzeitig der NSDAP mit ihrem scheinheiligen Bekenntnis zu Ruhe und Ordnung neue Anhänger und Wähler in die Arme trieb. Dabei profitierten NSDAP und SA von dem Umstand, dass Reichs- und Landesregierungen nur selten energischer gegen sie einschritten. Selbst als die Polizei im Oktober 1 9 3 1 durch einen NS-Überläufer Schriftstücke - die so ge­ nannten "Boxheimer Dokumente" - erhielt, welche enthüllten, dass die hessi­ sche NSDAP-Führung für den Fall eines kommunistischen Putschversuchs eine nationalsozialistische Machtübernahme planten und anschließend eine rigorose Zwangsherrschaft errichten wollten, reagierte die Reichsregierung Brüning zurückhaltend. Ausschlaggebend dafür waren die laufenden Gesprä­ che zwischen Zentrum und NSDAP über die Bildung der hessischen Landes­ regierung und Brünings Hoffnung auf eine Unterstützung der NSDAP für die anstehende Wiederwahl Hindenburgs als Reichspräsident. Dieses Verhalten war typisch für das Schwanken der bürgerlichen Rechten gegenüber der NSDAP zwischen Ablehnung und Hoffnung auf eine Einbindung zumindest der "wertvollen" Teile der Bewegung. Dementsprechend erfolgte auch das zeit­

Wahlerfolge 1929/30

weise Verbot von SA und SS im Frühjahr 1 932 nur auf Druck der Landesregie­ rungen, insbesondere des sozialdemokratisch regierten Preußens. Vor diesem Hintergrund gewann die NSDAP in den Jahren 1 929 und 1930 von Wahl zu Wahl mehr Stimmen und Mandate. Nachdem sie bereits bei den Landtags- und Kommunalwahlen des Jahres 1 929 teilweise große Zu-

1 25

3. Mitgl i eder und Wä hler

wächse verzeichnet hatte, gelang der Partei im September 1930 dann auch ein großer Wahlsieg auf Reichsebene: Sie gewann 18,3 % der abgegebenen Stim­ men - zur Überraschung vieler Beobachter, aber auch der eigenen Führung. Der Erfolg in den Reichstagswahlen vom September 1930 bedeutete den Durchbruch für die NSDAP, zumal er durch analoge Ergebnisse in weiteren Landtagswahlen unterstützt wurde: In Braunschweig gewann die NSDAP am 14. September 1 930 22,2 % der Stimmen, in Bremen im November 25,4 %, in Schaumburg-Lippe im Mai 1 93 1 27,0 % und in Oldenburg im gleichen Monat 37,2 %, womit sie hier sogar erstmals zur stärksten Fraktion wurde. Wer wählte die Partei? Mit diesem Thema hat sich die Forschung erst relativ spät eingehender beschäftigt. Zunächst herrschten drei verschiedene - empirisch unzureichend gesicherte - Erklärungsmuster vor: 1. Der klassentheoretische Ansatz: Die NSDAP sei ein reines Mittelstandsphänomen gewesen. 2. Der massentheoretische Ansatz: Die NSDAP mobilisierte Unpolitische und bisherige Nichtwähler für sich. 3. Der konfessionstheoretische Ansatz: Das katholische Milieu erwies sich als resistenter gegenüber einer nationalsozialistischen Infiltration als das protestantische. Empirisch fundierte Aussagen liegen erst seit Ende der 1 970er/Anfang der 1 980er-Jahre vor, auch dank der Arbeiten des Wahlforschers Jürgen Falter, der mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitung eine große Anzahl von Sozial- und Wahldaten ausgewertet und Korrelationen hergestellt hat: Demzufolge konnte die NSDAP bei den Reichstagswahlen von 1930, 1932 (3 1 . Juli) und 1933 wie keine andere Partei Neuwähler mobilisieren. Die größten Zuströme kamen je­ doch aus den Reihen der DNVP, der bürgerlichen Mittelparteien sowie der In­ teressen- und Regionalparteien. Und auch die SPD gab - allerdings in deutlich geringerem Maße - Wähler an die NSDAP ab. Sehr viel resistenter zeigten sich nur die Anhänger von Zentrum, BVP und KPD. Alles in allem lässt sich sagen, dass 1 930 jeder dritte DNVP-Wähler, jeder vierte DVP/DDP-Wähler, jeder siebte Nichtwähler und jeder zehnte SPD-Wähler seine Stimme der NSDAP gab. 1 932 war es dann jeder zweite Wähler der Splitterparteien, jeder dritte Wähler der Liberalen und der Deutschnationalen, jeder fünfte Nichtwähler und jeder siebte SPD -Wähler. Folglich kann man beim Sozialprofil der Wähler auch nicht mehr von einer Dominanz des Kleinbürgertums ausgehen. Vielmehr präsentierte sich die so­ ziale Schichtung der NS-Wählerschaft sehr viel heterogener: Die Wähler kamen zwar durchaus zahlreich aus dem Mittelstand, aber ebenso aus dem höheren Bürgertum und der Arbeiterschaft, wobei mit Blick auf Letztere jener Teil do­ minierte, der bereits vorher bürgerlich und konservativ - auch die DNVP - ge­ wählt hatte. Hingegen folgten die "klassischen" Arbeiter in den großen Indus­ triebetrieben den Aufrufen der NSDAP in der Regel nicht. Angestellte und Be­ amte

wiederum

wählten

nicht

überdurchschnittlich,

sondern

eher

durchschnittlich nationalsozialistisch. Hingegen war der "alte Mittelstand" -

NSDAP-Wählerschaft

1 26

IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur ,.Volkspartei"

Landwirte, Handwerker und Einzelhändler - deutlich überrepräsentiert. Ar­ beitslose tendierten mehrheitlich ebenfalls nicht primär zur NSDAP - wie frü­ her angenommen -, sondern zur KPD und - in geringerem Maße - zur SPD. Allenfalls arbeitslose Angestellte bildeten eine Ausnahme von dieser Regel. Eindeutig war die konfessionelle Verteilung: Bei ihrem größten Wahlerfolg im Juli 1932 gewann die NSDAP nur 1 6 % der Katholiken, aber 38 % der Nicht­ katholiken für sich, was mit der ausgesprochen nationalen Einstellung der evangelischen Landeskirchen zusammenhing. Frauen wiederum wählten eher unterdurchschnittlich nationalsozialistisch; sie tendierten bis 1933 stärker zu den traditionell konservativen und religiösen Parteien. Zusammenfassend lässt sich mit Blick auf die Wählerschaft der NSDAP sagen, dass die Partei eine "so­ zial gemischte, sowohl für Arbeiter als auch für Mittelschicht- und Oberschicht­ angehörige - wenn auch in unterschiedlichem Maße - attraktive Partei" war (Jürgen Falter) . Insofern stellte die NSDAP von der sozialen Zusammensetzung ihrer Wählerschaft her so etwas wie eine "catch-all party of protest" (Thomas Childers) dar, deren innere Bindekraft ein starker Nationalismus war. NSDAP-Mitglieder

Auch die Zahl der NSDAP-Mitglieder stieg binnen sieben Jahren auf mehr als das Doppelte: 1 923 hatte sie nur etwa 50 000 betragen, 1930 waren es rund 1 30 000 und im Januar 1933 schließlich fast 850 000. Diese rekrutierten sich überdurchschnittlich aus der jüngeren Generation, d. h. den nach 1 890 Geborenen. Von ihrer sozialen Herkunft waren es vor allem Mittelständler bzw. Kleinbürger - kleine Angestellte, Beamte und Handwerker, später kamen auch Angehörige des Bildungsbürgertums hinzu. Daneben waren Bauern im Vergleich zu ihrem Anteil an der Zahl aller Erwerbstätigen signifikant überre­ präsentiert, aber auch Arbeiter bildeten innerhalb der NSDAP-Mitgliedschaft eine starke Gruppe, wenngleich sie deutlich unter ihrem Anteil an der er­ werbstätigen Bevölkerung insgesamt blieben. Allerdings wies die NSDAP sowohl in puncto Wählerschaft als auch im Hinblick auf ihre Mitgliedschaft eine starke Fluktuation auf: Vor 1933 gelang es der Partei nicht, die Wähler dauerhaft an sich zu binden. Die seit 1 930 zu verzeichnenden bemerkenswerten Zuwächse änderten nichts daran, dass die NSDAP bei Neuwahlen jeweils bis zu einem Fünftel ihrer vorherigen Wähler verlor, was allerdings durch den Zugewinn aus dem Reservoir von DNVP, DVP sowie bürgerlichen Interessen- und Regionalparteien wieder kompen­ siert wurde. Der signifikante und politisch bedeutsame Verlust in den Reichs­ tagswahlen vom November 1 932 erklärte sich sowohl aus dem Verlust bäuerli­ cher Wähler, die wieder zur DNVP zurückkehrten, als auch durch den Anstieg der Nichtwähler. Zudem erwies sich nun die Heterogenität der nationalsozia­ listischen Anhängerschaft als negativ. Insofern war die NSDAP im Sommer 1932 bereits auf dem Höhepunkt ih­ res Erfolgs. Die Hoffnung auf ein unaufhaltsames Wachstum, die Hitler weiter aufrechterhielt, entpuppte sich als Trugbild, wie auch Reichsorganisationsleiter

4. Finanziers und Förderer

1 27

Gregor Straßer erkannte, weswegen er nun für eine nationalsozialistische Koali­ tionsbeteiligung auch ohne Reichskanzlerschaft Hitlers eintrat. Ähnlich fluk­ tuierend wie die Wählerschaft waren im Übrigen auch die Mitglieder der NSDAP: Bis zur "Machtergreifung" büßte die Partei von den bis 1 930 eingetre­ tenen Mitgliedern mehr als die Hälfte ein, von den danach Hinzugekommenen ein gutes Drittel. Der harte Kern der Mitglieder umfasste nur wenig mehr als 300 000 Mitglieder und wies die NSDAP damit als eine recht instabile politische Organisation aus, die ihr Überleben "nur durch ein schneeballartiges Wachs­ tum" (Hans Mommsen) sichern konnte, das die Erzeugung einer permanenten Krisenstimmung voraussetzte, um die Ernüchterung und Abwanderung der bisherigen Anhänger zu verhindern und neue für sich zu mobilisieren.

4.

Finanziers u n d Förd erer

Die Frage nach der Finanzierung der NSDAP ist vor allem in der marxistisehen Geschichtswissenschaft immer sehr dezidiert beantwortet worden:

Ein nahmen der NSDAP

Großbourgoisie und Industrie hätten sich durch umfangreiche Spenden eine ihnen genehme politische Partei herangezogen. Tatsächlich ist das Bild bei näherer Betrachtung viel komplexer: Hitler persönlich finanzierte seinen zunehmend aufwendigeren Lebensstil vor allem durch Einnahmen aus dem Verkauf von "Mein Kampf', der Entlohnung für Beiträge im "Völkischen Beobachter", sonstigen Honoraren sowie den Spenden befreundeter Münchner Honoratioren. Haupteinnahmequelle der Partei wiederum waren Mitgliederbeiträge, Versammlungseinnahmen und zusätzliche Spendensammlungen unter der Anhängerschaft. Die solcherart von den Ortsgruppen eingetriebenen Summen überstiegen die entsprechenden Einnahmen der SPD um ein Mehrfaches. Sie gingen größtenteils an die Gau- und Reichsleitung. Die SA wiederum finanzierte sich durch ihre Beteiligung an der Zigarettenindustrie und anderen Un­ ternehmen, für die sie als Absatzorganisation fungierte. Auch verlangte sie von Sympathisanten, die noch nicht der NSDAP beigetreten waren, regelmäßige Zahlungen. Industrielle Sponsoren hingegen bildeten lange Zeit eine kleine Minderheit, obwohl Hitler hierfür Anfang der dreißiger Jahre bei Auftritten im Düsseldorfer Industrieclub, im Hamburger Nationalen Club und bei verschiedenen Treffen mit Industriellen warb. Lediglich Emil Kirdorf ( 1 847-1938), der frühere Vorstandsvorsitzende der Gelsenkirebener Bergwerks-AG, war 1927 vorübergehend der Partei beigetreten und bemühte sich - allerdings weitgehend erfolglos -, Hitler Kontakte zur Schwerindustrie zu vermitteln. Immerhin gewährte der Großindustrielle Fritz Thyssen ( 1 873- 1 95 1 ) der NSDAP verschiedene Kredite, mit denen die Partei vor allem den Kauf ihres neuen "Braunen Hauses" - eines ehemaligen Palais - in München finanzierte. Auch die

I ndustrielle Sponsoren

1 28

IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur ,.Volkspartei"

IG-Farben AG spendete der NSDAP, um sich so deren politische Unterstüt­ zung für die Forderung des Unternehmens nach hohen Zollmauern zur Absi­ cherung der von ihr entwickelten synthetischen Benzinerzeugung zu sichern. Emil Georg von Stauß ( 1 877- 1 942), der Direktor der Deutschen Bank und Diskonto-Gesellschaft, unterstützte seinerseits Hermann Göring ( 1 893-1 946) direkt, um den wirtschaftspolitischen Kurs der NSDAP im Sinne der Indus­ trie zu beeinflussen. Recht erfolgreich bei der Aquisition von Spenden war auch Gregor Straßer, der gute Kontakte zur rheinisch-westHilisehen Schwer­ industrie pflegte. Überdies förderten mehrere mittelständische Unternehmen und Gewerbetreibende die Partei, teilweise auch um Übergriffen oder öffent­ lichen Polemiken vorzubeugen. Schließlich gab es noch einige ausländische Spender - Auslandsdeutsche und Großindustrielle wie der amerikanische Autofabrikant Henry Ford ( 1 863-1 947), der niederländische Industrielle Henri Deterding ( 1 866-1 939) oder der schwedische Zündholzfabrikant Ivar Kreuger ( 1 880-1 932) -, die sich der NSDAP aus ideologischen, aber auch aus politischen und wirtschaftlichen Motiven verbunden fühlten. Insgesamt spielten die industriellen Zuwendungen im Verhältnis zu den laufenden Ausgaben vor dem Sommer 1 932 keine größere Rolle. Zudem er­ möglichten nicht diese Spenden der NSDAP ihre Wahlerfolge, sondern umge­ kehrt machte erst ihre steigende Stimmenzahl die Partei auch für Industrielle interessant. Dementsprechend flossen der NSDAP nennenswerte industrielle Spenden wohl überhaupt erst nach ihrem Wahlsieg im September 1 930 und in erheblichem Umfang dann vor allem im Frühjahr und Sommer 1 932 zu, als es vorübergehend so schien, als ob die Partei die Papen-Regierung tolerierte. In diese Zeit fiel auch die von Schacht sowie dem Generaldirektor der Gutehoff­ nungshütte, Paul Reusch ( 1 868- 1 956), betriebene Gründung der "Arbeits­ stelle" zur wirtschaftspolitischen Beratung der NSDAP sowie die Schaffung des "Keppler-Kreises", der sich auf initiative des Ingenieurs und Gelatinefabri­ kanten Wilhelm Keppler ( 1 882-1 960) - der seit 1927 der NSDAP angehörte ­ um Kontakte zwischen NSDAP und Unternehmern bemühte und dem nam­ hafte Industrielle, wie Albert Vögler (Vereinigte Stahlwerke) ( 1 877- 1 945) oder die Bankiers Friedrich Reinhart ( 1 871 -1 943) und Kurt von Sehröder Ideelle Unterstützung

( 1 889-1 966), angehörten. Nachdem sich die Spekulationen über eine nationalsozialistische Unter­ stützung der Papen-Regierung zerschlagen hatten, versiegte auch sehr schnell wieder die industrielle Unterstützung. Überhaupt waren für den Erfolg der NSDAP weniger die Spenden einiger weniger Industrieller entscheidend als vielmehr das Bemühen verschiedener Repräsentanten der deutschen Wirt­ schaft in der zweiten Hälfte des Jahres 1932 und Anfang 1933, der Partei Türen zu öffnen und sie als eine seriöse und deshalb auch regierungsfähige politische Kraft erscheinen zu lassen. Dazu gehörte eine Eingabe vom 1 9 . November 1932, in der verschiedene Bankiers, Industrielle und Großagrarier - wie

4. Finanziers und Förderer

Schacht, Thyssen und der Präsident des Reichslandbundes, Eberhard Graf von Kalckreuth ( 1 88 1- 1 94 1 ) - Hindenburg aufforderten, Hitler zum Reichskanz­ ler zu berufen. Ihnen hatte sich der nationalsozialistische Parteivorsitzende durch seinen Anspruch erfolgreich angedient, die Arbeiterschaft dem Einfluss des Marxismus zu entziehen.

Mel!f§IIM Appell z u r Ernen n u n g H itlers zum Reichskanzler vom 1 9. November 1 93 2 Quelle: Ursachen u n d Folgen, Bd. 8 , S . 687 f. (Dok. N r . 1 909).

"Mit Eurer Exzel l enz bejahen wir die Notwendigkeit einer vom parlamentarischen Parteiwesen unabhäng igeren Reg ierung, wie sie i n dem von Eurer Exzel l enz for­ m u l ierten Ged a n ken eines Präsi d i a l ka b i n etts zum Ausdruck kom mt. Der Ausg ang der Reichstag swa h l vom 6. November d . J . hat gezeigt, daß das derzeitige Ka binett, dessen a ufrechten Wi l l e n niemand im deutschen Vol ke bezweifelt, fü r den von ihm eingesch lagenen Weg keine a usreichende Stütze i m deutschen Vol k gefunden hat, dass aber das von Eurer Exzel lenz gezeigte Ziel eine vol l e Mehrheit i m deut­ schen Vol ke besitzt, wen n man - wie es geschehen m u ß - von der staatsvernei­ nenden kom m u n istischen Partei a bsieht. [. . . ] Wir ha lten d ieses Ergebnis fü r außer­ ordentlich erfre u l ich und kön n e n u n s n icht vorstellen, daß die Verwi rkl ich u n g des Zieles n u n m e h r a n der Beibehaltung einer unwi rksa men Methode scheitern sol lte. Es ist kl a r, daß eine des öfteren wiederholte Reichstagsa uflösung m it sich hä ufen­ den, den Parteika m pf immer weiter zuspitzenden Neuwa h l e n n icht n u r einer poli­ tischen, sondern auch jeder wirtschaftl ichen Beru h i g u n g und Festi g u n g entge­ g enwirken m u ß . Es ist aber auch kl a r, daß jede Verfassu ngsänderung, die n icht von breitester Vol ksströ m u n g g etragen ist, noch schl i m mere wirtschaftliche, pol iti­ sche und seelische Wi rku ngen auslösen wird. Wir erachten es des h a l b fü r unsere Gewissenspfl icht, Eure Exzel lenz e h rerb ietigst zu bitten, dass zur Erreich ung des von u n s a l l e n u nterstützten Zieles Eurer Exzel lenz die U m g esta ltung des Reichska­ binetts in einer Weise erfolgen m öge, die die g rößtm ögl iche Vol kskraft h i nter das Ka binett bringt. [ . . . ] Die Ü bertra g u n g der vera ntwortl ichen Leitung eines m it den besten sach l ichen u n d persön l ichen Kräften ausgestatteten Präs i d i a l kabinetts a n den F ü h rer d e r g rößten nationalen Gruppe wird die Schl acken u n d Fehler, die je­ der Massen beweg ung notgedrungen a n h aften, ausmerzen und M i l l ionen Men­ schen, die heute a bseits stehen, zu bejahender Kraft m itreißen." •

Auf einen Blick Die Forsch u n g hat in den l etzten Jahrzeh nten den Chara kter sui generis der N S DAP herausgearbeitet, der i h r wichtige A l l einste l l u n gsmerkm a l e gegenüber den etablierten Parteien in der Weimarer Re­ p u b l i k gab: den Dualismus von F ü h rerprinzip u n d (eklektizistischer) Weltanscha u u n g; die organisa­ torische Am biva lenz von Pa rtei u n d Beweg u n g; die Sel bstda rste l l u n g als j u nge, ja moderne pol iti­ sche Formation. I m Kontext der finalen Doppel krise der Weimarer Rep u b l i k Ende der 1 920er-/An­ fa ng der 1 930er-Jah re ermögl ichte i h r dies, i m Sinne einer "catch-all pa rty of protest" (Thomas Childers) klassen- u n d m i l ieuü bergreifend in fast allen Wählersch ichten Anhänger zu fi nden. I n des

1 29

1 30

IV.

Der Aufstieg der NSDAP zur ,.Vol kspartei"

verh inderte Hitlers ,.A l l es oder nichts" -Kurs, also das Beharren auf dem Posten des Reichskanzlers, trotz der U nterstützung, die er a u ch von ei nfl ussreichen Vertretern der Wirtschaft erhie lt, zunächst noch eine Übertragung der Regierungsvera ntwortung a n die NSDAP. Insofern wa r diese auch keines­ wegs zwa ngslä ufig, sondern hing von der weiteren Entwickl u n g und insbesondere den Entschei­ dungen des Reichspräsidenten und seiner Berater ab.

Literatu rh i nweise Martin Broszat: Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP u n d die Zerstöru n g der Weimarer Republik.

Mü nchen 51994.

Jürgen Falter: H itlers Wä h l er. München 1991. lan Kershaw: H itler, 2 ßde. ßd. 1 1889-1936. Stuttgart 1996. Detlef M ü h l berger: The Social Bases of Nazism 1 9 1 9-1 933. Cambridge u.a. 2003.

V. Die Präsidia l regierung Papen 1932: Abgesa ng auf die Republ i k

D

ie Entlassung Heinrich Brünings und die

Präsidialkabinett noch entschiedener die

Berufung eines engen Vertrauten, Franz

Grundlagen der Weimarer Republik: durch

von Papen, durch Reichspräsident Hinden­

den illegalen

"Preußenschlag"

vom Juli

burg im Frühjahr/Sommer 1932 bedeutete

1932, die Absetzung der republiktreuen

eine weitere Eskalation der Entwicklung der

preußischen Regierung, die Ansetzung von

Weimarer Republik: Zum einen war die

Neuwahlen auf Reichsebene, die den extre­

neue Regierung kaum populärer als ihre

mistischen Parteien von links, der KDP, und

Vorgängerin, zumal die Arbeitslosigkeit in

von rechts, der NSDAP, eine Mehrheit im

Deutschland nun auf ihrem Höhepunkt war

Reichstag einbrachte, ohne dass sich die

und auch deshalb außenpolitische Erfolge

NSDAP zu der gewünschten Tolerierung der

wie die endgültige Einstellung der Reparati­

neuen Regierung bereitfand, und schließlich

onszahlungen nicht positiv zu Buche schlu­

das unverhohlene Räsonieren über eine Ab­

gen. Zum anderen unterminierte das neue

kehr von der Weimarer Reichsverfassung.

Zeittafel 1 .6.1 932

Bildung der "Regierung der nationalen Konzentration" u nter Reichskanzler Franz von Papen

4.6. 1 93 2

Auflösung des Reichstages

1 4.6.1 932

Aufhebung des Verbots von SA und SS

1 6.6.-9.7 . 1 93 2

Konferenz von La usa n n e besch l i e ßt das Ende der Reparationen

20.7.1 932

Absetzung der geschäftsfü h renden preu ßischen Regierung d u rch "Preußenschlag"

3 1 .7.1 932

Reichstagswa h l e n

4.9. 1 93 2

N otverord n u n g ("Pa pen-Pian") "zu r B e l e b u n g der Wirtschaft"

1 2.9.1 932

M isstrau ensvotum gegen Ka binett Papen; Auflösung des Reichstages

1 4.9.1 932

Auszug Deutschlands aus der Genfer Abrüstun gskonferenz

6.1 1 . 1 93 2

Reichstagswa h l e n

1 7. 1 1 . 1 93 2

Rü cktritt d e s Ka binetts v o n Papen; weiter i m Amt a l s geschäftsfü h rende Reg ierung

2 . 1 2 . 1 932

Reichswe h rfü h ru n g verweigert Unterstützu n g fü r Staatsnotsta ndspläne

V. Die Präsidialregierung Papen 1 93 2 : Abgesa ng a uf die Republik

132

1 . "Ka b i n ett der Barone": Reg ieru n g gegen das Vol k Der Begriff "Abgesang", der als Überschrift über diesem Kapitel steht, sollte nicht irreführen. Er umschreibt lediglich die faktische Entwicklung der zweiten Jahreshälfte 1932, will aber keineswegs suggerieren, dass dies eine zwangsläufige Entwicklung gewesen sei. Auch in dieser Zeit war der Untergang der Weimarer Republik keineswegs determiniert; vielmehr blieb die Geschichte der ersten deutschen Demokratie weiter offen. Allerdings hing ihr Gang nun ­ stärker als bisher - von bestimmten Personen und ihren konkreten Handlungen ab, zumal die Aushöhlung des Parlamentarismus voranschritt und das Präsi­ dialregime Züge einer Präsidialdiktatur annahm. In einem solchen System, in dem parlamentarische Entscheidungs- und Kontrollfunktionen weitgehend au­ ßer Kraft gesetzt waren, fiel die politische Macht an jene, die das Vertrauen des Reichspräsidenten besaßen. Zu ihnen zählte auch Franz von Papen, den Binden­ burg am 1. Juni 1932 zum neuen Reichskanzler ernannte. Stichwort

Franz von Papen

( 1 879-1 969) war vor dem Ersten Weltkrieg Kava l l erieoffizier und seit 1 9 1 3 M i l itä r­ attache in Was h i n gton, ein Posten, von dem er wegen eines d i p l omatischen Un­ gesch icks auf a m e ri ka n ischen Druck Ende 1 9 1 5 abberufen wurde. Danach wurde er Bata i l l onschef a n der Westfront u n d später General sta bsoffizier i n der Tü rkei. Nach dem Krieg ging Papen i n die Pol itik: Von 1 92 1 bis 1 928 u n d dann wieder von 1 930 bis 1 932 saß er a l s Abgeordneter i m pre u ß ischen La ndtag, wobei er dem äu­ ßersten rechten F l ügel des Zentru ms angehörte und einer der schä rfsten Kriti ker der Reg ierung Bra u n war. Ü berdies war er seit 1 924 Aufsichtsratsvorsitzender des Zentru m b l atts .,German ia". Post festu rn ist er weg en der verh ä n g n isvo l l e n Rol l e, die er a l s Reichska nzler u n d d a n n vor a l l e m im J a n u a r 1 933 a l s treibender I ntrigant bei der Berufu n g H itlers zum Reichska nzler gespielt hat, ebenso kritisch wie a b­ schätzig beurteilt worden. Dies darf jedoch n icht dazu verfü h ren, sein pol itisches Gewicht gering zu schätzen oder ihn als einen pol itischen N obody zu betrachten, der nur d u rch u n g l ückl iche Zufä l l e Reg ierung schef geworden sei. Vie l m e h r nutzte Papen i m m e r geschickt seine sehr g uten Verbindungen zu u nterschiedl ichen Krei­ sen der d a m a l igen El ite - a uch bei der Berufu ng H itlers zum Reichska nzler. Er sel bst wurde 1 933 i n der neuen Reg ierung zunächst Vizekanzler, a l l erd ings bereits 1 934 a l s Gesandter nach Wien und 1 939 a l s Botschafter nach Anka ra abg escho­ ben. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er vorü bergehend i n haftiert, bevor er sich ins Privatl eben zurückzog und Rechtfertig u n g ssch riften verfasste.

.,Kabinett der Barone"

Die Tatsache, dass Hindenburg insbesondere die exzellenten Umgangsfor­ men seines "Fränzchens" - wie er Papen nannte - schätzte, zeigt, welche bizar­ ren Konsequenzen das persönliche Regiment des Reichspräsidenten mittler­ weile angenommen hatte. Allerdings war er bei der Berufung Papens letztlich wieder nur einem seiner wichtigsten Ratgeber gefolgt, dem ebenso fähigen wie

1 . ,.Kabi nett der Barone": Reg ierung gegen das Volk

intriganten General von Schleicher. Dieser war denn auch als Reichswehrmi­ nister der eigentliche starke Mann in der neuen Regierung. Ansonsten bildeten das Kabinett, das ebenfalls der General weitgehend ausgewählt hatte, überwie­ gend politisch unerfahrene Männer, die allerdings das gemeinsame konserva­ tiv-adlige Milieu einte - ein "Kabinett der Barone", wie es ironisch-abfällig ge­ nannt wurde, weil ihm vor allem Adlige angehörten: Konstantin Freiherr von Neurath ( 1 873-1 956) wurde Außenminister, Wilhelm Freiherr von Gayl ( 1 879-1 950) Innenminister und Lutz Graf Schwerin von Krosigk ( 1 877-1 977) Finanzminister; Franz Gürtner übernahm das Justizressort, Herbert Warm­ hold - als Einziger bereits vorher einmal Reichsminister gewesen - das Wirt­ schaftsministerium; Hugo Schäffer ( 1 875-1 945) wurde Arbeitsminister und Magnus Freiherr von Braun ( 1 878-1 972), der wegen seiner Beteiligung am Kapp-Putsch als Regierungspräsident entlassen worden war, Ernährungsmi­ nister. Es handelte sich überwiegend um der DNVP nahe stehende Männer; soweit sie ihr - wie Braun, Gayl und Gürtner - unmittelbar angehörten, traten sie aus, um dem vermeintlich überparteilichen Anspruch des Präsidialkabi­ netts gerecht zu werden. Es war bezeichnend, dass Papen selber nach seiner Ernennung am 3. Juni 1 932 aus dem Zentrum austrat, um seinem Ausschluss zuvorzukommen. Die­ ser war beschlossene Sache, weil die Parteiführung sein Verhalten als überaus illoyal gegenüber seinem bisherigen Parteifreund Brüning empfand. Infolge­ dessen war keine Regierung der Weimarer Republik bereits bei ihrer Einset­ zung derart isoliert wie dieses neue Präsidialkabinett: Während Brüning bis zuletzt zumindest von einer Mehrheit des Reichstages, vor allem der SPD, tole­ riert worden war, galt dies für die Regierung Papen nicht mehr. Unterstützung fand sie im Parlament allenfalls bei DVP und DNVP. Dementsprechend muss­ te Papen einen Zusammentritt des Parlaments vermeiden, wollte er nicht ein Misstrauensvotum und die Aufhebung der präsidialen Notverordnungen ris­ kieren. So wurde er zum einzigen Reichskanzler, der niemals im Parlament sprach. Selbst seine Regierungserklärung verlas er am 4. Juni im Rundfunk und nicht vor dem Reichstag, den der Reichspräsident auf sein Betreiben am selben Tag aufgelöst hatte. Papens Radioansprache kam einer Generalabrech­ nung mit der bisherigen Politik und Kultur der Weimarer Republik gleich und beinhaltete gleichzeitig ein pathetisches Plädoyer für eine tiefgreifende Umge­ staltung von Staat und Gesellschaft.

Mel!f§IIM Reg ieru ngserklärung Papens vom 4. J u n i 1 93 2 Quelle: Akten d e r Reichskanzlei. Das Kabinett von Papen, B d . 1 , S . 1 3 f. (Dok. N r . 7).

"in einer der schwersten Stunden der vaterl änd ischen Gesch ichte übern i m m t die deutsche Reg ierung ihr Amt. Das deutsche Vol k steht i n einer seelischen und ma­ teriel l e n Krise ohne Vorg a n g . Die Opfer, die von ihm verl angt werden, wenn der

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V. Die Präsidialregierung Papen 1 93 2 : Abgesa ng a uf die Republik

dornige Weg zur i n neren u n d ä u ßeren Freiheit m it Aussicht auf Erfolg gegangen werden soll, sind ungeheuer. Sie kön n e n n u r ertragen werden, wen n es g e l i n gt, die seelischen Vora ussetzungen d u rch eine Zusa m menfassung a l l e r a ufba uwi l l i­ gen und staatserhaltenden, kurzu m a l l e r nationalen Kräfte zu fi nden. Reichska nz­ ler Dr. Brüning hat a l s erster den Mut geha bt, eine kl a re B i l a nz der Lage zu fordern, i n die u n s i n erster Linie der Versa i l l e r Vertrag u n d die Auswirku ngen der Weltwi rt­ schaftskrise wie auch die Misswirtschaft der Parlamentsdemokratie gebracht ha­ ben. [ . . . ] Die Nachkriegsreg ierungen haben g eg l a u bt, d u rch einen sich stä ndig steigernden Staatssozialismus die materiellen Sorgen dem Arbeitnehmer wie dem Arbeitgeber i n weitem Maße abnehmen zu können. Sie haben den Staat zu einer Art Wohlfa h rtsanstalt zu machen versucht und d a m it die moral ischen Kräfte der Nation g eschwächt. [ . . . ] Gerade h ierd u rch ist die Arbeitslosigkeit noch gesteigert worden. Der hieraus zwa ngslä ufig folgenden moral ischen Zerm ürbung des deut­ schen Vol kes, verschärft d u rch den unseligen gemeinschaftsfeindl ichen Klassen­ ka m pf und verg rößert d u rch den Ku lturbol schewismus, der wie ein fressendes G ift die besten sittl ichen Grundlagen der Nation zu vernichten d roht, m u ß i n l etzter Stunde Einhalt geboten werden. [. . . ] Die Reinheit des öffentlichen Lebens ka n n n icht a uf d e m Wege d e r Kom p rom isse u m der Parität w i l l e n bewa h rt oder wieder­ herg estellt werden. Es m u ß eine klare Entscheidung darüber fa l l en, welche Kräfte gewi llt sind, das neue Deutschland auf der Grundlage der u nveränderl ichen Grundsätze der ch ristlichen Welta n scha u u n g aufbauen zu helfen. Die Reg ierung, die i n d ieser Stu nde, erfü l lt von i h rer schweren Verantwortung vor Gott u n d der Nation, die Leitu ng der Geschicke des Landes übernim mt, ist tief d u rchdrungen von dem Bewu ßtsei n der Pfl ichten, die a uf i h r l iegen. [ . . . ] D a m it die Za h l u ngen der nächsten Tage und Wochen zur Aufrechterhaltung des staatlichen Appa rates geleistet werden können, ist die Reg ierung gezwung en, einen Tei l der von der al­ ten Reg ierung g e p l a nten N otm a ß n a h m e n zu erlassen. [. .. ] Auf a u ßenpol itischem Gebiete ergeben sich die nächsten und wichtigsten Aufgaben der Reichsreg ierung aus den i m Gange befi n d l ichen oder bevorstehenden i nternationalen Verh a n d l u n­ gen über die g roßen Weltprobleme der Abrüstu ng, der Reparationen und der a l l ­ g e m e i n e n Wirtschaftskrise. Bei a l l e n d iesen Problemen stehen höchste deutsche Lebensinteressen a uf dem Spiele. U nser Ziel ist, i n fried l ichem Zusa m m e nwi rken m it den a n deren Nationen u n serem Vaterlande e n d l ich vol l e Gleich berechtigung, pol itische Freiheit u n d die Mög l ichkeit wirtschaftl icher Ges u n d u n g zu verschaffen. [ . . . ] Die Grundlage u n d Vora ussetzung aber jeder wirksamen a u ß e n p o l itischen Vertretung u n serer nationalen I nteressen, über die es Meinungsverschieden h e iten u nter Deutschen nicht g i bt, ist die Herbeifü h rung der i n nenpol itischen Kl arheit. Aus a l l e n d iesen Gründen hat sich der Reichspräsident entschlossen, dem Antrage der Reichsreg ierung stattzugeben, den Reichstag aufzulösen. [ . . . ] ."

Mmf!ji!M Ha rry G raf Kess ler zu Papens Reg ierungserklä rung Quelle: Harry Graf Kessler: Tagebücher 1 9 1 8-1 937, Fran kfurt 1 982, S. 71 1 (4. Juni 1 932). "Regierungserklärung Papens. Ein kaum glaubliches Dokument, ein miserabel stilisierter Extrakt finsterster Reak­ tion, gegen das die Erklärungen der kaiserlichen Regierung wie hellste Aufklärung wirken würden. Die Sozialver­ sicherung soll abgebaut, der ,Kulturbolschewismus' bekäm pft, das deutsche Vol k d urch Rechristian isierung (lies Muckertum) für den außenpolitischen Kampf gestählt und auf der Grundlage des extremen Rechts-Junkerturns ,konzentriert' werden; alle andren Richtungen und Parteien, Sozialdemokratie, liberales Bürgertum, Zentrum, wer-

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1 . ,.Kabi nett der Barone": Reg ierung gegen das Volk

den als nicht ,national' und moralisch zersetzend angeprangert. Ein Regierungsdokument solch politischer Dumm­ heit und Ungeschicklichkeit, so finsterer Reaktion ist seit der Regierung Polignac 1 830 nicht veröffentlicht worden. Es trägt deutlich den Stempel des Generalstabes, in seiner psychologischen Verblend ung".

Die Regierung Papen hatte durchaus ein ambitioniertes Programm: Hin­ denburg und Schleicher sahen nun endlich die Chance, jenes "Präsidial­ kabinett" zu schaffen, das ihnen seit dem Ende der Großen Koalition vor­ geschwebt hatte: nämlich eine Regierung nach dem Vertrauen des Reichs­ präsidenten und toleriert nicht von der SPD, sondern von den Rechts­ parteien, einschließlich der NSDAP. Für eine solche Konstellation schienen die Zeitumstände im Frühjahr/Sommer 1932 äußerst günstig: Die SPD hatte die Landtagswahlen in Preußen am 24. April verloren, während die NSDAP statt bisher 9 Mandaten nun 162 Sitze im preußischen Landtag besaß, mehr als die gesamte alte Regierungskoalition. Gleichzeitig büßte auch die DNVP Stimmen ein, während die KPD wiederum deutlich zulegte. Doch die Re­ gierung Braun profitierte von einer Änderung der Geschäftsordnung des Landtages, die sie noch kurz vor ihrer Abwahl durchgesetzt hatte - allerdings gegen den Willen Brauns und Severings - und der zufolge ein Kandidat bei der Ministerpräsidentenwahl künftig in beiden Wahlgängen - und nicht mehr wie bisher nur im ersten - die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen benötigte. Dem großen Wahlgewinner, der NSDAP, gelang es zu­ nächst nicht, eine entsprechend großes Regierungsbündnis zu schmieden. Folglich blieb die "Weimarer Koalition" weiterhin als geschäftsführende Re­ gierung im Amt. Mit der Wahlniederlage in Preußen entfiel für die SPD auf der Reichs­ ebene ein wichtiger Grund für ihre bisherige Tolerierungspolitik. Damit war die Regierung Papen auf einen neuen starken Partner angewiesen. Nach Nei­ gung wie Notwendigkeit konnte das nur die NSDAP sein. Schleicher entwi­ ckelte das strategische Konzept, die Nationalsozialisten an die Regierung her­ anzuführen, ohne ihnen dabei aber einen zentralen Einfluss auf die Macht ein­ zuräumen. Vielmehr sollten die vermeintlich "wertvollen" Elemente aus dieser nationalen Bewegung herausgelöst und dem Staat nutzbar gemacht werden. Dazu zählte auch die Eingliederung eines Teils der paramilitärischen Verbände der Partei in die Reichswehr, denn deren personelle Vergrößerung war abseh­ bar, nachdem eine Konferenz des Völkerbundes in Genf seit Februar 1932 über den Wegfall der rüstungspolitischen Beschränkungen des Versailler Ver­ trags diskutierte. Innenminister Gay! umschrieb diese Strategie rückblickend mit den Worten: "Die junge, immer weitere Kreise erfassende Bewegung Adolf Hitlers mußte, um die in ihr lebendigen nationalen Kräfte dem Wiederaufbau des Volkes nutzbar zu machen, von den ihr unter Brüning und Severing ange­ legten Fesseln befreit und zum erfolgreichen Kampf gegen den internationalen Kommunismus geführt werden."

Annäherung an die NSDAP

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V. Die Präsidialregierung Papen 1 93 2 : Abgesa ng a uf die Republik

Dementsprechend hatte Papen Hitler bereits im Vorfeld seiner Berufung zum Reichskanzler in einem Gespräch am 28. Mai als Preis für die Tolerierung seiner Regierung vorgezogene Neuwahlen und eine Aufhebung des SA-Verbots angeboten. Der NSDAP-Vorsitzende hatte sich zu dem Handel in vagen For­ mulierungen bereit erklärt, woraufhin Papen am 1 . Juni ernannt worden war und der Reichspräsident das Parlament am 4. Juni 1932 aufgelöst hatte. Dabei hatte Hindenburg seine Notverordnung bezeichnenderweise mit dem Hinweis darauf begründet, dass die Zusammensetzung des Reichstags "nach dem Er­ gebnis der in den beiden letzten Monaten stattgehabten Wahlen zu den Land­ tagen der deutschen Länder dem politischen Willen des deutschen Volkes nicht mehr entspricht". Das bedeutete nichts anderes, als dass der Reichspräsi­ dent bewusst in Kauf nehmen wollte, dass sich die Wahlerfolge der NSDAP nun auch auf Reichsebene fortsetzten. Kurz darauf, am 14. Juni, war auch das Verbot von SA und SS wieder aufgehoben worden. Damit hatte die Regierung gleichzeitig den Ablauf des Wahlkampfs präjudiziert, der unter bürgerkriegs­ ähnlichen Bedingungen ablief und zahlreiche Tote forderte.

3. Der "Preu ßenschlag" Letztlich unterschied sich die Regierung Papen deutlich von ihrer Vor­ gängerin: Die Präsidialregierung Brüning hatte zeitweise hart am Rande der Verfassung agiert, während Papen und seine Minister zum offenen Verfas­ sungsbruch bereit waren. Nichts belegt dies deutlicher als der "Preußenschlag" vom 20. Juli 1932, die Absetzung der geschäftsführenden preußischen Regie­ rung unter Braun und die Einsetzung Papens als Reichskommissar. Grundlage der entsprechenden Notverordnung Hindenburgs waren die Ausschreitungen der radikalen Republikgegner aus KPD und NSDAP, die am 1 7. Juli im so ge­ nannten Altonaer Bl utsonntag gipfelten. Stichwort

Altonaer Bl utson ntag

Am 1 7. J u l i 1 932 ka m es i n Altona zu schweren Zusa m menstößen zwischen SA und Kom m u n isten, als die Nationalsozial isten u n iformiert d u rch das Arbeitervier­ tel zogen. Die b l utigen Stra ßenkä m pfe zwischen den beiden Gruppen sowie der Pol izei kosteten 1 8 Menschen, zumeist u n betei l igte Passanten, das Leben. Er­ sta u n l icherweise war die nationalsozial istische Ku ndgebung im Vorfeld nicht ver­ boten worden, u n d es wurde zunächst auch versäu mt, die Pol izei kräfte ausrei­ chend zu verstä rken. Allerdings traf die Reichsreg ierung Papen zumindest i n d i rekt eine erhebl iche M itsch u l d an dem Geschehen, denn sie hatte d u rch i h re Aufhe­ b u n g des SA-Verbots und ihr demonstratives Wohlwo l l e n gegen ü ber der NSDAP die preußischen Behörden veru nsichert.

3. Der .,Preußenschlag"

Überdies kursierte das Gerücht, SPD und KPD konspirierten gemeinsam gegen die Reichsregierung. Hintergrund war eine Unterredung, die der Staats­ sekretär im preußischen Innenministerium Wilhelm Abegg ( 1 876- 1 95 1 ) mit zwei KPD -Politikern, darunter dem kommunistischen Fraktionsvorsitzenden im Reichstag - Ernst Torgier ( 1 893- 1 963) -, geführt hatte, um die Kommunis­ ten zu bewegen, ihre Terrorakte einzustellen und eine gemeinsame "Kampf­ front" gegen die NSDAP zu bilden. Der ebenfalls anwesende Oberregierungs­ rat Rudolf Diels ( 1 900-57) informierte Vertreter des Reichsinnenministeriums irreführend, Abegg habe die KPD für ein Komplott mit der SPD gewinnen wollen. Diese Unterstellung war ebenso haltlos wie der Vorwurf, die preußische Polizei versage im Kampf gegen den politischen Radikalismus. Tatsächlich ging es der Reichsregierung und ihren Hintermännern nur darum, die von der unliebsamen SPD geführte preußische Staatsregierung loszuwerden und gleichzeitig den größten Flächenstaat mit der höchsten Bevölkerungszahl und dem stärksten Polizeiapparat unter ihre Kontrolle zu bringen. Das belegt auch die Tatsache, dass die

Reichsexekution

seit Anfang Juli geplant wurde, nachdem

Papen den Präsidenten des preußischen Landtages, den Nationalsozialisten Hans Kerrl ( 1 877- 1 94 1 ) , bereits am 6. Juni aufgefordert hatte, "unverzüglich" eine neue Regierung aus NSDAP, DNVP und Zentrum zu bilden, was aber am andauernden Widerstand des Zentrums gegen einen nationalsozialistischen Ministerpräsidenten gescheitert war. Stichwort

Reichsexekution

Art. 48 WRV räu mte dem Reichspräsidenten die Zustä n d i g keit fü r die Anord n u n g wie fü r den Vol lzug der Reichsexekution ein, also das Recht, einen Gl iedstaat d e s Deutschen Reiches m it Zwa n g s m itte l n zur Erfü l l ung der i h m gegen ü ber dem Staatsga nzen sowie der Reichsverfassung u n d den Reichsgesetzen obl iegenden Pfl ichten anzuha lten. Zur Verh ä n g u n g der Reichsexekution brauchte der Reichs­ präsident die Gegenzeich n u n g des Reichska nzlers, fü r i h re D u rchfü h rung u nter U mstä nden auch der Zusti m m u n g der zuständigen Ressort m i n i ster, also vor a l l e m d e s Reichs innen- u n d d e s Reichswehrmin isters. Die Zwa ngsm ittel reichten vom Er­ lass von N otverord n u n g e n zur vorü bergehenden Reg e l u n g der i n neren Landes­ verhältn isse bis hin zur Absetzung einer pfl ichtwid rig handelnden Landesreg ie­ rung oder a n derer La ndesorgane und der Einsetzung kom m issarischer Ersatzor­ gane. Eigentlich m usste der Reichspräsident auch den Reichstag sowoh l über die Anord n u n g a l s a uch über die D u rchfü h r u n g der Reichsexekution informieren u n d die getroffenen M a ß n a h m e n a uf Verlangen der Parlamentarier wieder rückg ä n g i g m a c h e n . D i e s setzte jedoch vora us, d a s s der Reichstag m e h rheitsfä h ig u n d ver­ sammelt war. Hatte er sich h i n g egen gerade vertagt oder wa r er a ufgel öst wor­ den, kon nte der Reichspräsident a l l e i n nach Rücksprache m it dem Reichskanzler entscheiden. Das betroffene Land kon nte d a n n ledig l ich noch den Staatsgerichts­ hof a n rufen. ln der ga nzen Zeit der Wei m a rer Repu b l i k ka m es vierma l zur Reichs-

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V. Die Präsidialregierung Papen 1 93 2 : Abgesa ng a uf die Republik

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exekution: i n der Amtszeit von Reichspräsident Ebert gegen die Lä nder Thüringen ( 1 920), Gotha (1 920) u n d Sachsen ( 1 923), u nter seinem Nachfolger H i n d e n b u rg d a n n gegen Preußen ( 1 932).

Auf einer Ministerbesprechung am 1 1 . Juli führte Reichsinnenminister Gayl aus, " [n ] ach sehr sorgfaltiger Überlegung sei er zu dem Ergebnis gekom­ men, daß jetzt für die Reichsregierung der psychologische Moment zum Ein­ greifen gekommen sei", nachdem Papen noch einen Monat zuvor in einer Be­ sprechung mit den süddeutschen Ministerpräsidenten alle Gerüchte über die Einsetzung eines Reichskommissars dementiert hatte. Allerdings hatte der preußische Innenminister Severing Gayl auch eine Zusammenfassung der Machtmittel des Reiches und Preußens für den Fall zugesagt, dass nach den Reichstagswahlen vom 3 1 . Juli Unruhen ausbrechen würden. Das wiederum interpretierte Gayl so, dass die preußische Regierung letztlich der Einsetzung eines Reichskommissars zustimmte oder ihm zumindest keinen größeren Wi­ Durchführung des "Preu ßenschlags"

derstand entgegenstellte. Am 1 2 . Juli beriet das Reichskabinett eine entsprechende Notverordnung. Zwei Tage später stimmte ihr Hindenburg zu. In der Presse war über ein solches Vorgehen bereits seit Anfang Juni spekuliert worden, und am Morgen des 20. Juli erschienen dann die meisten Zeitungen schon mit der Ankündigung, die Reichsregierung werde in Preußen eingreifen. Tatsächlich hatte der Reichskanz­ ler für den Morgen dieses Tages den amtierenden geschäftsführenden preußi­ schen Ministerpräsidenten Heinrich Hirtsiefer ( 1 876- 1 94 1 ) , der den erkrank­ ten Braun vertrat, sowie die Minister Severing und Otto Klepper ( 1 888-1 957) in die Reichskanzlei eingeladen, wo er ihnen dann mitteilte, dass Hindenburg ihn zum Reichskommissar eingesetzt habe. Der Protest Severings, der zu Recht die Verfassungsmäßigkeit dieser Entscheidung bestritt, nutzte nichts, weil die Reichsregierung gleichzeitig den militärischen Ausnahmezustand über Berlin und Brandenburg verhing und damit die stärkere Macht auf ihrer Seite hatte. In einer Erklärung am Abend begründete Papen seine Einsetzung als Reichskom­ missar in Preußen formal mit der vermeintlichen Konspiration von SPD und KPD gegen den Staat, aber auch mit dem bezeichnenden Vorwurf, dass die Re­ gierung Braun nicht bereit gewesen sei, "die politische und moralische Gleich­ setzung von Kommunisten und Nationalsozialisten aufzugeben".

Mmf!li!W Genera l von Schleicher über den "Preußenschlag" Quelle: Hermann Pünder: Politik in der Reichskanzlei, Stuttgart 1 96 1 , S. 1 49 (8. Oktober 1 932).

"Bei Schleicher war ich vorgestern Morgen u n g efä h r eine Stunde [. . . ] Sch leicher [wa r] sehr offen [ . . . ] Der g rößte Erfolg der Reg ierung sei die Beseitig ung der Preu­ ßenreg ierung g ewesen. ,Das ka n n kei n Staatsgerichtshof mehr rückg ä n g i g ma­ chen!' Die bekan nte Preußen-Notverord n u n g vom 20. J u l i sei natürlich n icht we-

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3. Der .,Preußenschlag"

gen Gefä h rd u n g von Ruhe und Ord n u n g ergangen, sondern n u r, u m dem uner­ trä g l ichen D u a l i s m u s zwischen Reich u n d Preußen ein Ende zu machen. Es m üsse nur jemand den Mut zum H a n d e l n fi nden, Beg rü n d u n g e n fi nde man nachher im­ mer schon."

Weder SPD noch Gewerkschaften leisteten aktiven Widerstand gegen das

Reaktionen von SPD

rechtswidrige Vorgehen der Reichsregierung: Das hatte der sozialdemokrati-

und Gewerkschaften

sehe Parteivorstand bereits Tage zuvor, am 16. Juli, entschieden, und der Vorstand der Freien Gewerkschaften schloss sich diesem Votum am Nachmittag des 20. Juli an. Ob hier eine Chance vertan worden ist, haben Sozialdemokraten bereits im Exil nach 1933 kontrovers diskutiert - insbesondere Otto Braun sollte die Frage bis zu seinem Tod 1955 umtreiben. Die frühe Weimar-Forschung, vor allem Karl Dietrich Bracher, ist mit den damaligen Akteuren hart ins Gericht gegangen und hat ihnen vorgeworfen, die letzte Chance zur Rettung der Republik verpasst zu haben, indem sie durch eine entschiedene Gegenwehr, selbst wenn diese ergebnislos geblieben wäre, zumindest ein Fanal gesetzt hätten: ,,Dies hätte [ . . . ] doch noch ein demokratisches Selbstbewusstsein retten, den neuen Machthabern ihren Weg erschweren, die künftigen Entwicklungen einschränken können". Insofern ist für Bracher "die Gleichschaltung Preußens [ . . . ] [ein] entscheidender Wendepunkt im Prozeß der von der Demokratie zur Diktatur führenden Machtverschiebung" am Ende der Weimarer Republik. Hierfür spricht, dass auch ein Zeitzeuge wie Goebbels am 2 1 . Juli in seinem Tagebuch notierte: ,,Die Roten haben ihre große Stunde verpaßt Die kommt nie wieder." Die schwächliche Reaktion der republikanischen Kräfte musste die NSDAP, deren Vertreter selber in verschiedenen Briefen an Papen auf die Reichsexekution gedrängt hatten, weiter bestärken. Tatsächlich waren die Ausgangsbedingungen für einen aktiven Wider­ stand gegen die Reichsexekution aber denkbar ungünstig, wie bereits die da­ mals Betroffenen immer wieder betont haben und die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren ebenfalls wieder stärker einräumt. Welche Instrumente hätte man besessen, um Widerstand zu leisten? Ein Generalstreik wie 1 920 ge­ gen den Kapp-Putsch war in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit eine stumpfe Waffe: Die verbreitete ,,Brot und Butter"-Mentalität hatte zur schleichenden Entsolidarisierung innerhalb der Arbeiterbewegung geführt. Dieses Mal war auch nicht wie 1 920 ein erfolgreicher passiver Widerstand der Beamtenschaft zu erwarten. Ein Einsatz der rund 90 000 Mann starken preußischen Polizei­ kräfte wiederum hätte allenfalls zum Blutbad geführt, denn sie hätten gegen personell und waffentechnisch überlegene Reichswehrverbände kämpfen müs­ sen, die wohl auch noch zusätzlich von SA-Verbänden sowie weiteren rechts­ stehenden paramilitärischen Gruppen unterstützt worden wären. Zudem war unklar, inwieweit die preußische Polizeiführung überhaupt loyal hinter der Re­ gierung Braun stand, zumal diese ja nur noch geschäftsführend im Amt und

V. Die Präsidialregierung Papen 1 93 2 : Abgesa ng a uf die Republik

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noch dazu in sich gespalten war, denn die Angehörigen von Zentrum und Deutscher Staatspartei hätten einen etwaigen sozialdemokratischen Wider­ stand kaum mitgetragen. Vor allem aber, dies gilt es immer zu bedenken, wurde dem "Preußen­ schlag" von den Zeitgenossen nicht jene Bedeutung zugeschrieben, die ihm heute aus der rückblickenden Betrachtung und im Wissen über die spätere na­ tionalsozialistische Regierungsübernahme zugesprochen wird: Die Bevölke­ rung und die Medien nahmen kaum Notiz davon; eine "Gleichschaltung" von Preußen und dem Reich lag seit Monaten in der Luft. Als sie erfolgte, war kaum noch einer erstaunt. Nur noch wenige waren bereit, in der Absetzung einer geschäftsführenden Regierung ein großes Übel zu sehen. Überdies konnte man sich damit beruhigen, dass ein Reichskommissar Papen ja immer­ hin der NSDAP den Weg an die Macht in Preußen verbaute. Schließlich hoff­ ten die Sozialdemokraten darauf, durch ihren strikten Legalitätskurs zusätzli­ che Wähler bei den anstehenden Reichstagswahlen zu gewinnen. Urteil des Staats-

Dementsprechend kritisierte der entmachtete preußische Ministerpräsi-

gerichtshofs

dent Braun die Einsetzung des Reichskommissars lediglich in mehreren Brie­ fen an den Reichskanzler und an den Reichspräsidenten als einen klaren Ver­ fassungsbruch und forderte, wieder in seine alten Rechte eingesetzt zu werden. Zudem rief die abgesetzte preußische Regierung den Staatsgerichtshof in Leip­ zig an. Dieser urteilte am 25. Oktober 1 932 sehr salomonisch: Einerseits, so die Richter, dürfe der Reichspräsident gemäß der Verfassung einen Reichskom­ missar einsetzen, andererseits könne dieser aber das Land nicht im Reichsrat und gegenüber anderen Reichsorganen vertreten. Damit erhielt die geschäfts­ führende Regierung Braun zwar zumindest einen Teil ihrer Kompetenzen zu­ rück, doch führte sie künftig neben dem Regiment des Reichskommissars nur noch ein Schattendasein, bis sie dann im Februar 1933 von den neuen natio­ nalsozialistischen Machthabern endgültig abgesetzt wurde.

4. Die Reichstagswa h l vom 3 1 . J u l i 1 932 u n d i h re Folgen Reichstags-

Die Hoffnung der SPD, dass sich die eigene Legalitätstaktik gegenüber der

wahlergebnis

Bevölkerung auszahlen würde, erwies sich bereits bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 als ein großer Irrtum. Das Abstimmungsergebnis lieferte vielmehr einen weiteren Beleg, welche geringe Bedeutung die deutsche Bevölkerung mehrheitlich den Vorgängen in Preußen beimaß: Bei einer Wahlbeteiligung von 84 % - mehr als in allen vorherigen Wahlen der Weimarer Republik - er­ rang die NSDAP erneut einen erdrutschartigen Sieg, indem sie ihr ohnehin schon sensationelles Ergebnis vom September 1 930 noch einmal mehr als ver­ doppelte, nämlich auf über 3 7 % der Stimmen und 230 Reichstagsmandate. Leichte Gewinne konnten die KPD mit 1 4,3 % und das Zentrum mit 12,5 %

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4. Die Reichstagswa h l vom 3 1 . Juli 1 93 2 und i h re Folgen

verbuchen. Verlierer waren die SPD mit 2 1 , 6 % , die DNVP mit 5,9 % sowie DVP mit 1,2 % und Deutsche Staatspartei mit nur 1 % sowie die Splitterpar­ teien, die zusammen lediglich gut 2 % erhielten. Damit verfügten nun die dezi­ diert antidemokratischen Parteien - NSDAP und KPD - über mehr als 52 % der Mandate. Mit ihrer Mehrheit konnten sie die Arbeit des Reichstages, der ja ohnehin nur noch ein Schattendasein führte, vollends lahm legen.

Mel!f§IIM Reich s i n n e n m i n ister a. D. W i l h e l m Külz z u m Reichstagswa h lergebnis Quelle: Ursachen und Folgen, Bd. 7, 5. 324f. (Dok. Nr. 1 583d).

"Pol itisch, sachl ich gesehen, ist der Ausgang der Wa h l deswegen so fu rchtbar, weil er klar erke n n b a r werden l ä ßt, daß die jetzige Wa h l a uf lange Zeit h i n a u s die letzte normale Reichstagswa h l sein wird. Das so genan nte Vol k der Denker und Dichter eilt m it fl iegenden Fa h n e n der D i ktatur entgegen, und d a m it einer Zeit, die von schweren revol utionären Störungen d u rchwühlt sein wird. Der g ewä hlte Reichstag ist vol l kommen a rbeitsunfä h i g [. . . ] Wen n man die Dinge g a nz schl icht und n üch­ tern betrachtet, so l iegen sie so, dass sich mehr als die Hälfte des deutschen Vol kes gegen den heutigen Staat beken nt, aber n icht sagt, fü r welchen Staat sie sich be­ ken nt. D a m it ist jede org a n ische Entwickl ung zunächst u n m ö g l ich."

Hitler und seine Partei sahen nun die Chance, endlich die Macht im Reich zu übernehmen. In den Tagen nach den Wahlen überzog die SA Ostpreußen und Schlesien mit Terroranschlägen, um die Regierung Papen zum Rücktritt zu

Nationalsozialistische Terroranschläge

zwingen. Zudem waren die Ausschreitungen aber auch ein Beleg für die sich anbahnende Frustration der SA-Männer, die nach Jahren des innenpolitischen Kampfes und den überragenden Wahlsiegen der letzten Jahre nun endlich auch an die Töpfe der Macht wollten, um sich für ihren Einsatz entschädigen zu lassen, widrigenfalls für eine Abkehr vom Legalitätskurs und ein offenes "Losschlagen" bereit waren. Doch die nationalsozialistische Drohpolitik scheiterte dieses Mal noch am staatlichen Machtapparat und der strikten Weigerung Hindenburgs, Hitler zum Reichskanzler zu ernennen: In einem persönlichen Gespräch erteilte er dem NSDAP-Vorsitzenden am 1 3 . August 1 932 eine deutliche Abfuhr, wobei er seine Entscheidung gerade mit dem Terror der Partei gegen Andersdenkende begründete. Eine entsprechende öffentliche Erklärung des Präsidialamtes machte dies für Hitler noch besonders demütigend. Das Verhalten des Reichspräsidenten war umso bemerkenswerter, als Schleicher und Papen zu diesem Zeitpunkt bereits eine Führungsrolle der NSDAP - eventuell sogar eine Kanzlerschaft Hitlers - in einer neuen Regierung akzeptieren wollten und auch das Zentrum Gespräche über eine gemeinsame Regierungsbildung mit der NSDAP führte, in denen die Partei sich ebenfalls nicht mehr grundsätzlich weigerte, Hitler eventuell das Amt des Regierungschefs zu überlassen. Wie unsicher die Reichsregierung mittlerweile gegenüber der NSDAP und ihrem Vorsitzenden geworden war, belegte ihre Reaktion auf den "Mord von

"Mord von Potempa"

V. Die Präsidialregierung Papen 1 93 2 : Abgesa ng a uf die Republik

1 42

Potempa", die brutale Tötung eines der KPD angehörenden Arbeiters in der Nacht vom 9. auf den 10. August 1932 in der kleinen oberschlesischen Land­ gemeinde Potempa durch Teilnehmer eines SA-Ausbildungs-Lehrgangs. Ein Sondergericht in Beuthen verurteilte fünf Angeklagte, die teils der NSDAP, teils der SA oder dem oberschlesischen Selbstschutz angehörten, wegen Tot­ schlags an einem politischen Gegner am 22. August zum Tode. Dabei stützten sich die Richter auf eine Notverordnung des Reichspräsidenten vom 10. Au­ gust, die das Strafmaß für politische Morde entsprechend verschärft hatte. In der NSDAP brach daraufhin ein Proteststurm los; Hitler persönlich solida­ risierte sich am 23. August in einer Erklärung mit den Verurteilten und drohte der Regierung mit bedingungslosem Kampf. Hiergegen verwahrte sich die Reichsregierung zwar, doch das für die Entscheidung über die Urteilsvollstre­ ckung zuständige preußische Staatsministerium - also das seit dem 20. Juli amtierende Reichskommissariat - wandelte die Strafe am 2. September unter Berufung auf formale Gründe in lebenslängliche Zuchthausstrafen um, um einer weiteren Zuspitzung der innenpolitischen Lage vorzubeugen. Damit hatte das Präsidialkabinett Papen erneut seine Schwäche bewiesen. Immerhin stürzte Hindenburgs Weigerung, Hitler zum Kanzler zu beru­ fen, die NSDAP in den kommenden Wochen und Monaten in eine tiefe Krise: Es entbrannte ein Grundsatzstreit zwischen jenen, die Hitlers "Alles oder nichts" guthießen, also nur zum Regierungseintritt bereit waren, wenn ihr Par­ teivorsitzender auch Kanzler wurde, und jenen um den zweiten Mann in der

Abb. 8 Staatssekretä r Otto Meißner u n d Reichskanzler Fra nz von Papen a m 1 1. August 1932 a n lässlich des Na­ tiona lfeiertags der Wei­ marer Rep u b l i k (gefeiert w u rde die Verfass u n gs­ unterzeich n u n g des Deutschen Reiches).

1 43

4. Die Reichstagswa h l vom 3 1 . Juli 1 93 2 und i h re Folgen

NSDAP, den Reichsorganisationsleiter Gregor Straßer, die für eine Regie­ rungsbeteiligung auch ohne eine Kanzlerschaft Hitlers plädierten. Der inner­ parteiliche Streit in der NSDAP sollte erst Ende des Jahres eskalieren. Zu die­ sem Zeitpunkt bekleidete dann schon nicht mehr Papen das Amt des Reichs­ kanzlers. Den hatte das Wahlergebnis vom 3 1 . Juli ebenfalls in eine schwierige Lage gebracht. Mehr denn je zuvor war er auf eine Tolerierung durch die NSDAP angewiesen, die ihm Hitler aber nun natürlich verweigerte. Zunächst hoffte Papen noch, durch innen- und außenpolitische Erfolge größere Popularität und damit auch mehr Zustimmung im Reichstag zu fin­ den. Dazu zählte eine aktivere Konjunkturpolitik, zu der sich die Regierung entschied, nachdem die

Konferenz von Lausanne

im Sommer 1 932 die endgültige

Einstellung der Reparationszahlungen beschlossen hatte. Stichwort

Konferenz von La usa n n e

Vom 1 6. J u n i bis 9. J u l i 1 932 trafen s i c h Reg ierung svertreter der Repa rationsg l ä u b i­ ger Engla nd, Fran kreich, Ita l ien, Belgien u n d Japan im schweizerischen Lausa nne. Die Delegierten ein igten sich i n einem Abkom men, dass Deutschland bis auf eine Restza h l u n g von 3 M i l l ia rden Goldmark keine weiteren Reparationen m e h r za h l e n sol lte. Ü berdies sol lte die Za h l u n g d ieser S u m m e d u rch die Ü bergabe fü nfprozenti­ ger Sch u l dversch reibungen a n die Bank fü r I nternationalen Za h l u n g sausg leich (BIZ) begl ichen werden. Diese war geha lten, die Wertschriften erst nach d rei J a h ren auf den i nternationalen F i n a nzma rkt zu bringen. Sol lte d ies wiederum nicht i n ner­ h a l b von fü nfzeh n J a h ren mögl ich sein, m u ssten die Sch u l d u rkunden vern ichtet werden, u n d die deutsche Einza h l u ngspfl icht wa r d a m it erloschen. Ü berdies ent­ hielt das Abko m m e n von Lausa n n e Vereinbarungen über die Reparationsschulden auch a n derer Besiegter des Weltkriegs sowie Entsch ließungen über ost- und m ittel­ e u ropäische Fragen und über die Ein berufu n g einer Weltwirtschafts- und Welt­ fin a nzkonferenz. Dem deutschen Drängen auf eine zusätzl iche Erörterung der Abrüstu ngs- und Kriegssch u ldfrag e ka men die ü brigen Mächte zu m i ndest insofern nach, als sie i n die Schl usserklärung der Lausa nner Konferenz die Formel aufnah­ men, dass außer dem i m Abko m m e n behandelten Repa rationsproblem künftig auch a n dere Fragen geregelt werden m ü ssten - "in dem Bestreben, eine Neu­ ord n u n g zu fi nden, die die Herste l l u n g und Förderung des Vertra uens u nter den Völ kern i n dem Geiste des Ausgl eichs, der Zusa mmena rbeit und der Gerechtigkeit ermög l ichen wü rde". Die Sorge, ein etwa iges Scheitern der noch anstehenden Rati­ fikation des Lausa nner Abko m m e n s lasse die deutsche Repa rationspflicht wieder a ufleben, erwies sich als u n begründet: Obwohl keiner der beteil igten Staaten das Abko m m e n ratifizierte, das Abko m m e n fol g l ich niemals forme l l i n Kraft trat, erlosch die Repa rationssch u l d Deutschlands fa ktisch m it der Konferenz von La usanne.

Eine neue Notverordnung der Regierung vom 14. Juni 1 932 umfasste erstmals direkte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Höhe von 1 3 5 Millionen Reichsmark, vor allem im Bereich des Verkehrs- und Wasserwesens sowie der landwirtschaftlichen Meliorationen, die allerdings noch das Kabinett Brüning

Arbeitsbeschaffu n gsMaßnahmen

V. Die Präsidialregierung Papen 1 93 2 : Abgesa ng a uf die Republik

1 44

im Mai beschlossen hatte. Dazu gehörte auch der Ausbau des ebenfalls noch von der letzten Regierung eingerichteten Freiwilligen Arbeitsdienstes, mittels dessen junge Arbeitslose auf eigenen Wunsch für einige Wochen gegen ein kleines Taschengeld sowie kostenlose Unterkunft und Verpflegung zu Erd­ und Bauarbeiten, wie dem Bau von Spielplätzen, der Renovierung von Straßen oder der Errichtung von Deichen, eingesetzt wurden. In einer Rede auf einer Tagung des WestHili s ehen Bauernvereins in Münster kündigte Papen dann am 28. August 1 932 noch ein zusätzliches Konjunkturförderprogramm in Höhe von über 2 Milliarden Reichsmark an. Dementsprechend sahen zwei Verord­ nungen vom 4. und 5. September 1932 neben öffentlichen Arbeitsbeschaf­ fungsmaßnahmen auch Steuergutscheine für Unternehmen in Höhe von etwa 1,5 Milliarden Reichsmark vor, die man bis spätestens 3 1 . März 1939 verwen­ den, aber auch bereits vorher beleihen oder verkaufen konnte, sowie staatliche Lohnprämien - ebenfalls in Form von Steuergutscheinen - für jeden zusätzlich eingestellten Arbeitnehmer von insgesamt 700 Millionen Reichsmark. Damit vollzog die Reichsregierung endgültig die Abkehr von der Brüning'schen De­ flationspolitik, ohne hingegen bereits den Schwerpunkt auf direkte Arbeitsbe­ schaffungsmaßnahmen zu legen. Überdies wurde das Sozialdumping der letz­ ten Jahre fortgeführt, denn die Regierung erlaubte Arbeitgebern, die Neuein­ stellungen vornahmen, ihre Belegschaft zumindest vorübergehend unter Tarif zu bezahlen. Außen politische

Auch außenpolitisch versuchte die Regierung, sich zu profilieren. Dazu

Profilierung

gehörte ein verstärktes internationales Auftrumpfen und damit ein weiteres Abgehen von Stresemanns außenpolitischem Kurs: Im Spätsommer 1932 er­ klärte die deutsche Delegation ihren Rückzug aus der wenige Monate zuvor eröffneten Abrüstungskonferenz des Völkerbundes. Mit diesem Theatercoup wollte sie die Siegermächte zwingen, nach den Reparationsforderungen auch die Entwaffnungsbestimmungen des Versailler Vertrags zu suspendieren. Tat­ sächlich räumten die USA, Frankreich, Großbritannien und Italien Deutsch­ land dann in einer Erklärung vom 1 1 . Dezember 1932 zumindest prinzipiell volle Gleichberechtigung auch in Sicherheitsfragen ein. Das war faktisch ein Freibrief zur Aufrüstung. Zudem schien den deutschen Republikgegnern nun erwiesen, dass einseitige Schritte und Ultimaten außenpolitische Erfolge ein­ brachten. Dies sollte sich als gefährliches Präjudiz für die nationalsozialistische Außenpolitik erweisen. Schließlich belegte diese Entwicklung auch, dass die Überzeugung von der internationalen Interdependenz und notwendigen Ko­ operation in Europa, wie sie die Stresemann-Zeit geprägt hatte, in Deutsch­ land endgültig der Versuchung einseitiger Aktionen und gegenseitiger Über­ vorteilung wich. Dementsprechend musste Papens gleichzeitiges Werben um Frankreich als einem potentiellen Verbündeten gegen den gemeinsamen welt­ anschaulichen Gegner Russland der Pariser Regierung wenig überzeugend er­ scheinen.

"

5 . Neuer Staat und Staatsn otsta nd .,

"

1 45

.,

Das Beste, was man von der deutschen Außenpolitik der zweiten Jahres­ hälfte 1 932 sagen kann, ist, dass sie "nationalistisch - nicht nationalsoziali­ stisch" (Klaus Hildebrand) gewesen ist. Indes haben die Regierungen Brüning, Papen und schließlich Schleicher in steigernder Form dazu beigetragen, dass jenes Gefühl einer gemeinsamen Verantwortung für Frieden und Stabilität in Europa, das die internationale Politik der Jahre 1 924 bis 1 929 auszeichnete, Anfang der dreißiger Jahre wieder erstarb. Nationaler Egoismus wurde erneut stärker betont, das Funktionieren Konflikt vermeidender und Krisen entschär­ fender Institutionen wie dem Völkerbund hingegen gering geachtet. Natürlich musste diese Politik noch nicht notwendig zu einem neuen großen Krieg füh­ ren. Doch sie bereitete den Boden, von dem aus die nationalsozialistischen Machthaber dann mit ihrer ganz eigenen, nämlich verbrecherischen Energie agieren konnten.

5 . "Neuer Staat" u n d "Staatsn otsta nd" Weder ihre innen- noch ihre außenpolitischen Manöver in der zweiten

U n popularität der

Jahreshälfte 1 932 bescherten der Regierung Papen einen nennenswerten in-

Papen- Regierung

neopolitischen Popularitätszuwachs. Ihre Konjunkturpolitik erschien letztlich vor allem als industriefreundlich, und die außenpolitischen Erfolge interessierten die meisten Deutschen in Anbetracht der zugespitzten innenpolitischen Lage nicht. Damit bestand das Dilemma der Reichsregierung weiter: Sie hatte keine parlamentarische Mehrheit, und es war absehbar, dass ihr der Reichstag gleich auf seiner ersten Sitzung das Misstrauen aussprechen und sie damit stürzen würde. Vor diesem Hintergrund erörterten Papen, Schleicher und Innenminister Gayl im Sommer 1 932 mit dem Reichspräsidenten erstmals unverblümt die Möglichkeit eines klaren Verfassungsbruchs: Hindenburg sagte ihnen bei einer Besprechung auf seinem Gut Neudeck in Ostpreußen am 30. August zu, dass er den Reichstag erneut auflösen würde, sollte dieser dem Reichskanzler das Misstrauen aussprechen. Zudem zeigte er sich bereit, die Neuwahlen unter Hinweis auf einen

"Staatsnotsta nd"

über die verfassungsmä-

ßig vorgeschriebenen sechzig Tage hinauszuschieben:

MI!iM Besprech ung i n Neudeck a m 30. August 1 93 2 Quelle: Akten d e r Reichskanzlei. Das Kabinett von Papen, B d . 1 , 477f. (Dok. N r . 1 20).

"Der Reichska nzler: Nach der Auflösung des Reichstags erg i bt sich die Frage, ob in der verfassungsmäßigen Frist von 60 Tagen Neuwa h l stattfi nden solle. Wen n m a n die Wa h l e n fü r später h i n a ussch iebt, so i s t d ies formell eine Verletzung der diesbe­ zügl ichen Verfass u n g svorschrift, aber es l iegt ein staatl icher Notsta nd vor, der den Herrn Reichspräsidenten d u rchaus dazu berechtigt, die Wa h l e n h i n a uszusch ieben.

1 46

V. Die Präsidialregierung Papen 1 93 2 : Abgesa ng a uf die Republik

Der Herr Reichspräsident habe i n seinem Eid a uch die Pfl icht ü bernommen, Scha­ den vom deutschen Vol ke a bzuwenden: eine Neuwa h l i n d ieser pol itisch erregten Zeit m it all den Terrora kten und Mordtaten wäre aber ein g roßer Schaden a n dem deutschen Vol ke. [ ] Reich s m i n ister von Gayl erkl ä rt es d u rchaus m it dem S i n n der Verfassung fü r vereinbar, wen n i n Fä l l e n e i n e s staatlichen Notsta ndes, wie er jetzt gegeben ist, u n d i n einer Zeit, wo nach vier h i ntereinander folgenden Wa h l e n i n einem J a h re u n d d u rch die wirtschaftl iche L a g e die Bevö l kerung so erregt ist, Wa h l e n über die sonst ü b l iche Frist h i n a usgeschoben werden. Wen n der Reichstag ein M i ßtra uensvotum a n n i m mt oder die Aufhebung der Verord n u n g des Reichs­ präsidenten verlangt, m üsse er a ufgel öst werden. Da wir m it dieser Mög l ichkeit von einem Tag zum anderen rech nen m üssten, bäte er u m eine B l a n ko-Vo l l macht des Herrn Reichspräsidenten fü r eine Reichstagsauflösung: die Beg ründung kön nte d a n n nach telephon ischer Verstä n d i g u n g eingesetzt und i m gegebenen Moment die Verord n u n g veröffentl icht werden. Wen n der Reichstag aufg e l öst ist, wird es auch dem Vol ksem pfinden entsprechen, wenn eine alsbaldige Neuwa h l n icht erfolgt. D a s Vol k und die Presse rech nen a u c h nicht m it e i n e r Neuwa h l . F ü r uns ste l l t s i c h die Frage so, ob wir das fü r Deutsch land N otwendige tun o d e r o b wir d u rch Rücksicht auf den Wortlaut der Verfassung u n s d a r a n h i ndern lassen wol len. [ ] Der Herr Reichspräsident spricht sich dahin aus, daß er, u m Nachteil vom deutschen Vol ke a bzuwenden, es vor seinem Gewissen vera ntworten kön n e, bei dem staatl ichen N otsta nd, der nach Auflösung des Reichstags gegeben sei, die Besti m m ungen des Artikels 25 d a h i n a uszu legen, daß bei der besonderen Lage i m La nde die Neuwa h l auf einen späteren Termin verschoben werde. A u c h m it der U ntersch rift eines i n Datu m u n d in der Beg ründung noch offenen Erlasses fü r die Auflösung des Reichstags erkl ä rt sich der Herr Reichspräsident ei nversta nden." . . .

. . .

Stichwort

Staatsnotsta nd

Der Staatsnotstand bezeich net einen Zusta nd drohender Gefa h r fü r den Besta nd oder die öffentliche Ord n u n g des Staates, der n icht m e h r m it den i n der Verfas­ s u n g fü r den Normalfa l l vorgesehenen M itte l n bewä ltigt werden ka n n . Die Wei­ m a rer Nationa lversa m m l ung hatte dem Reichspräsidenten i n Art. 48 Abs. 2 WRV vom 1 1 . Aug ust 1 9 1 9 bereits weitgehende Aus n a h m e rechte zug estanden. Dies zeigte, dass sel bst i m l i bera l e n und sozialdemokratischen Lager die N otwendig­ keit einer Sel bstbe h a u ptung des demokratischen Staatswesens a nerka n nt wurde. Strittig wa r h i ngegen, ob die so g etroffene positivrechtliche Reg e l u n g bereits aus­ reichte oder ob daneben a l s Ultima Ratio der Staatserhaltung weiterhin auch noch ein ü berpositives Staatsnotrecht zur Verfü g u n g sta nd: Wä h rend die herr­ schende Staatstheorie in der Wei m a rer Repu b l i k dies kl a r vernei nte, neigte eine M i nderheit, die sich vom Positivismus a bwendende "geisteswissenschaftl iche" Richtu ng der Staatsrechts l e h re - fü r die Carl Schm itt sta nd -, dazu, auch weiterhin die Mög l ichkeit eines u ngeschriebenen, übergesetzl ichen, nichti nstitutional isier­ ten Staatsnotrechts zu u nterstellen, wom it M a ß n a h m e n bis h i n zur Verfassungsre­ vision sog a r ohne die Zusti m m u n g des Reichstages legitimiert schienen. Ange­ sichts der umfassenden Staatskrise Anfang der d reißiger J a h re i n Deutschland er­ h ielt diese Leh re vom ü berpositiven Staatsnotrecht u nter dem Namen "Verfassungsnotsta nd" u n m itte l b a re pol itische Releva nz.

"

5. Neuer Staat und Staatsn otsta nd "

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1 47

"

Gleichzeitig betonten Papen und Gayl im August/September 1 932 wieder-

"Neuer Staat"

holt öffentlich die Notwendigkeit einer Verfassungsreform, da - so der Reichskanzler am 1 2 . September 1932 in einer Rundfunkrede - "das System der formalen Demokratie im Urteil der Geschichte und in den Augen der deutschen Nation abgewirtschaftet hat und [ . . ] es nicht mehr zu neuem Leben erweckt .

werden kann". Die entsprechenden Pläne firmierten unter der Bezeichnung "Neuer Staat". Faktisch liefen sie auf das konstitutionelle System des Kaiserreichs hinaus, mit dem Unterschied, dass an die Stelle des Kaisers der Reichspräsident trat. Dessen Rechte sollten weiter gestärkt werden und die Regierung allein von seinem Vertrauen abhängig sein. Der dadurch geschwächte Reichstag sollte seine verbleibenden Vollmachten überdies mit einem neu zu schaffenden berufsständischen Oberhaus teilen, dessen Mitglieder ebenfalls der Reichspräsident berief. Schließlich sollte ein sozialrechtlich gestuftes Wahlsystem eingeführt werden, das Zusatzstimmen für "Familienernährer und Mütter" vorsah. Tatsächlich wurde der Reichstag schließlich am 1 2 . September 1 932 erneut aufgelöst, nachdem allerdings zuvor 5 1 2 der 560 anwesenden Abgeordneten

Neuwahlen zum Reichstag

einem kommunistischen Misstrauensantrag gegen die Regierung zugestimmt hatte. Lediglich 42 Abgeordnete - vor allem aus der DVP und der DNVP stimmten dagegen. Dieser Vorgang belegte, wie unpopulär Papen in fast allen Parteien war. Damit aber wurde jene verfassungswidrige Lösung inopportun, zu der Hindenburg den Reichskanzler Ende August ermächtigt hatte: Eine Mehrheit des Kabinetts schreckte auf einer Sitzung zwei Tage nach dem Ab­ stimmungsdebakel vor der Möglichkeit eines Staatsstreichs und eines dadurch ausgelösten Bürgerkrieges zurück. Dementsprechend wurde erneut innerhalb der verfassungsmäßigen Frist am 6. November 1932 gewählt. Das Wahlergebnis bestätigte überwiegend das entsprechende Resultat vom Juli: SPD und Zentrum erlitten leichte Verluste, die KPD, aber auch DNVP und DVP legten etwas zu, während die Deutsche Staatspartei und die übrigen Splitterparteien stagnierten. Bemerkenswert war eigentlich nur die Tatsache, dass die Zustimmung zur NSDAP erstmals in einer Wahl seit 1 930 wieder sank - von 37,3 auf 3 3 , 1 %. Das verstärkte die bereits erwähnte innerparteiliche Diskussion in der NSDAP über eine etwaige Regierungsbeteiligung und ließ manchen Gegner bereits hoffen, die Macht der Partei sei gebrochen. Indes hatte sich die unhaltbare Lage Papens, den Hindenburg erneut mit der Regierungsbildung beauftragte, keineswegs gebessert. Seine Regierung verfügte weiterhin über keine Mehrheit im Parlament und konnte jederzeit von den Abgeordneten abgesetzt werden. Nach erfolglosen Sondierungen bei den Rechtsparteien beschloss das Kabinett am 1 7. November seine Demission, blieb aber geschäftsführend im Amt. In dieser Situation erwies es sich als entscheidend, dass Papen die Unterstützung Schleichers und damit der Reichswehr verlor, die ihn ein halbes Jahr zuvor überhaupt erst ins Amt gebracht

Ott- Pianspiel

1 48

V. Die Präsidialregierung Papen 1 93 2 : Abgesa ng a uf die Republik

hatte. Der Reichswehrminister ließ einen seiner engsten Mitarbeiter, Oberst­ leutnant Eugen Ott ( 1 889-1 977), am 2. Dezember 1 932 im Kabinett die Er­ gebnisse eines so genannten Planspiels der Reichswehr referieren, dessen Durchführung er im November angeordnet hatte. Ihm zufolge ließen sich im Falle eines Staatsstreichs ein Generalstreik und ein etwaiger Bürgerkrieg im Reich militärisch nicht verhindern. Das von Ott entwickelte Szenario eines Zusammenwirkens der radikalen Gegner von links und rechts war seit dem

Berl iner Verkeh rsstrei k Anfang Novem­

ber 1932 nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Stichwort

Berl i n e r Verke h rsstre i k

Auslöser des spekta ku l ä ren Streiks wa r die Entscheidung der u nter sozialdemokra­ tischer Leitu ng stehenden Berl iner Verkeh rs-A.G. von Anfang N ovem ber, die Stun­ denlöhne u m 2 Pfennig zu senken. Daraufh i n entsch ieden sich a m 2. November i n einer U ra bsti m m u n g rund zwei D rittel der Beschäftigten g e g e n den n e u e n Lohn­ ta rif. Da ein Streikbesch l uss jedoch einer D reiviertel m e h rheit bedu rft hätte, stel lte die zustä ndige Gewerkschaft - der freigewerkschaftl iche Gesa mtverband der Ver­ keh rsa rbeiter - die U nwirksa m keit der Streikprokl a m ation fest. H iergegen rief die kom m u n istische Revol utionäre Gewerkschaftsopposition zum g ewerkschaftlich n icht a utorisierten "wilden" Strei k auf. I h m schloss sich kurz darauf auch die N atio­ nal sozial istische Betriebsze l l e n org a n isation an. Der n u n m e h r von KPD und NSDAP getragene Streik war zunächst ü beraus erfo l g reich: Vom 3 . bis 7. November 1 932 ru hte i n Berl i n der gesa mte U nterg rundbah n-, Straßenbahn- u n d O m n i b u sverke h r, zu m a l die Streikenden d u rch Sa botageakte an den Verkehrsa nlagen und terroristi­ sche Ü bergriffe gegen a rbeitsbereite Verkehrsbedienstete sel bst die Herste l l u n g eines Notbetriebs u nterba nden. Trotz e i n e s Schl ichterspruchs, der die Ta rifkü r­ zung bestätigte, dauerten die Streika ktionen noch bis zum 8. N ovember. Regie­ rung, Parteien und eine breitere Öffentl ichkeit, sofern sie a n der öffentlichen Ruhe i nteressiert waren, verstörte die Erfa h rung, dass die rad i ka l e n Kräfte von l i n ks und rechts i m Zuge eines Zweckb ü n d n isses tatsäch l ich das öffentliche Leben zum Er­ l iegen bringen konnten.

Doch die Ott-Studie war insofern unrealistisch, als ihre pessimistische Schlussfolgerung unterstellte, dass es die Reichswehr im Falle eines Staatsnot­ stands nicht nur mit innenpolitischen Unruhen zu tun hätte, sondern gleich­ zeitig auch einen polnischen Angriff auf Ostpreußen abwehren müsse. Indes sollten Otts Schlussfolgerungen vor allem dem Reichspräsidenten wie auch Pa­ pens Ministerkollegen signalisieren, dass die Regierung nicht mehr das Ver­ trauen und die Unterstützung der Reichswehr besaß. Hieraus musste auch Pa­ pen die Konsequenzen ziehen: Am 2. Dezember 1 932 reichte er seinen Rück­ tritt ein, den Hindenburg wegen seiner andauernden Wertschätzung für • seinen Günstling nur schweren Herzens annahm.

Literaturh i nweise Auf einen Blick Das Präsidia l kabi nett Papen verweist stärker noch als die Vorgängerregierung u nter Brü ning oder a u ch das noch fo lgende Präsidia l regime unter Genera l Schleicher auf die n egativen Folgen der suk­ zessiven Schwächung der Dem okratie bis h i n zur vö l l igen Entmachtu n g des Reichstages u n d der fa ktischen Ausbildung einer Präsidialdiktatur, i n der die parlam enta rischen Entscheidungs- und Kontro l lfu n ktionen weitgehend außer Kraft gesetzt wa ren. Damit wa r der ohnehin schon qua Ver­ fassu n g überproportionalen Machtfü l l e des Reichspräsidenten ein wichtiges Korrektiv genommen sowie d u rch sein persönl iches Regi m ent der Günstlingswirtschaft Tür u n d Tor geöffnet. Zudem ver­ deutlichten die kon kreten Maßnahmen der Regierung Papen, dass n u n m e h r sel bst a n der Staats­ spitze u nverh o h l e n auf eine Abkehr von den normativen Grundlagen der Weimarer Reichsverfass u n g h i ngearbeitet wurde, g a n z zu schweigen v o n den m i l ita nten Rep u b l i kgegnern i n KPD u n d NSDAP, die aufgrund des tatsächl ichen U nverm ögens der neuen pol itischen Führung weiter erstarkten .

Litera tu rh i nweise Ch ristoph Gusy: Sel bstmord oder Tod? Die Verfassungsrefo rmdiskussion der Jahre 1930-1932. l n : Zeitsch rift

für Politik 40 (1993), S. 393-417. Philipp H eyde: Das Ende der Reparati onen. Deutsch land, Fra n kreich u n d der Young-Pian 1929-1932. Pa­

derborn 1998. Hagen Schu lze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Fra n kfurt u.a. 1981. Heinrich August Winkler (Hrsg.) : Die deutsche Staatskrise 1 930-1 933. Handlungsspielräume u n d Alterna­

tiven. München 1992.

1 49

VI. Das Präsidia l kabinett Sch leicher 1932/33: "Querfront" gegen H itler? MIHT!ftb!H*

D

as Präsidialkabinett mit Kurt von Schlei­

"Querfront"-Konzept an Widerständen in­

cher an der Spitze war geprägt durch

nerhalb der angesprochenen Parteien: auf

den Versuch, den Aufstieg der NSDAP sowie

der

Linken

wegen

der

Diskreditierung

eine etwaige Regierungsbeteiligung Hitlers

Schleichers, der in den Jahren zuvor Hinden­

mittels eines originellen politischen Kon­

burgs Schwächung des Parlamentarismus

zepts zu verhindern: Der neue Reichskanzler

aktiv unterstützt hatte; auf der Rechten we­

versuchte nämlich, durch eine "Querfront"

gen des Vetos Hitlers. Die daraufhin von

eine Koalition vor allem der Gewerkschafts­

Schleicher favorisierten Pläne eines vorüber­

flügel von der SPD bis hin zur NSDAP zu bil­

gehenden Staatsnotstandes wurden wiede­

den und sich damit eine breite gesellschaft­

rum vom Reichspräsidenten nicht unter­

liche Mehrheit zu schaffen. Dem diente auch

stützt, weil dieser mittlerweile den Einflüs­

das Versprechen einer aktiveren Arbeits­

terungen seiner Umgebung erlegen war und

marktpolitik, um das drängendste Übel der

entschieden hatte, Adolf Hitler mit der Bil­

Wirtschaftskrise, die Massenarbeitslosigkeit,

dung einer neuen Koalitionsregierung von

zu verringern. Am Ende scheiterte das

NSDAP, DNVP und Zentrum zu betrauen.

Zeittafel 2. 1 2. 1 93 2

Einsetzung eines Präsid ialkabinetts u nter Reichskanzler Kurt von Schleicher

1 1 . 1 2 . 1 932

Anerke n n u n g der deutschen Gleichberechtigung auf der Genfer Abrüstu n gskonferenz

1 5 . 1 2 . 1 932

Regierungserklärung Schl eich ers i m Rundfu nk: Ankündigung von Arbeitsbeschaffungsma ßna h m e n

4. 1 . 1 933

Treffen Hitler-Papen i n K ö l n

1 5 . 1 . 1 93 3

NS DAP-Wa h l e rfo l g i n Lippe

28.1 . 1 93 3

Rücktritt Schl eichers

30.1 . 1 93 3

Ernen n u n g Adolf Hitlers zum Reichskanzler

1 . "Auf Bajon etten sitzend, regiert's sich sch lecht": Das "Querfront"- Konzept Regieru ngsbildung

Der bisherige Reichswehrminister Schleicher wurde von Hindenburg am 3. Dezember 1 932 zusätzlich zum Kanzler ernannt. Auch die meisten anderen Minister aus der Regierung Papen blieben im Amt. Lediglich Reichsinnenmi-

1 .,Auf Bajonetten sitzend, regiert's sich sch lecht":

151

.

nister Gayl wurde durch den bisherigen stellvertretenden Reichskommissar für Preußen, Pranz Bracht ( 1 877- 1 933), ersetzt und Arbeitsminister Schäffer durch Friedrich Syrup ( 1 88 1 - 1 945), den Präsidenten der Reichsarbeitsanstalt Neu geschaffen wurde das Amt des Reichskommissars für Arbeitsbeschaffung, das Günther Gereke erhielt. Diese personellen Veränderungen signalisierten einen deutlichen politischen Kurswechsel: Gayls Entlassung bedeutete eine Absage an dessen reaktionäre Verfassungsreformpläne, die Auswechslung Schäffers signalisierte die Aufgabe der Politik einseitiger sozialpolitischer Ein­ schnitte, und Gerekes Berufung belegte ein Umdenken in der zentralen Frage der Arbeitsmarktpolitik Schleicher war kein politischer Neuling, sondern ein militärischer und politischer Stratege. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg war er zur Über­ zeugung gekommen, dass der außenpolitische Wiederaufstieg Deutschlands einerseits eine wirtschaftliche Gesundung des Landes erforderte, andererseits eine innere "Wehrhaftmachung", um der Armee in einem etwaigen neuerli­ chen Waffengang, der unweigerlich den Charakter eines modernen, industri­ ellen Massenkrieges tragen würde, die uneingeschränkte Unterstützung der Nation zu sichern. Nach seiner Regierungsübernahme gab sich der General zunächst äußerst selbstbewusst, weil er sich im Besitz eines politischen Pro­ gramms glaubte, das dem Hitler-Flügel der NSDAP den Wind aus den Segeln nehmen sollte - das so genannte "Querfront"-Konzept. Dessen Prämisse war die Erkenntnis, dass eine Präsidialregierung ohne eine breite politische Basis in der Bevölkerung nicht regierungsfähig sein konnte. Überdies wollte der neue Reichskanzler durch eine Versöhnung der unterschiedlichen Bevölkerungsschichten eine starke "Volksgemeinschaft" schaffen. Dabei verkörperten Soldat und Arbeiter für ihn die wichtigsten Leistungsträger der Gesellschaft, denen die besondere staatliche Fürsorge zu gelten hatte. Weil eine klassische Parteienkoalition aber wegen der Widerstände im Reichstag nicht in Frage kam, setzte Schleicher stattdessen auf ein Bündnis mit den relevanten gesellschaftlichen Gruppen - vor allem den verschiedenen Gewerkschaften vom sozialdemokratisch orientierten ADGB über die Christlichen Gewerkschaften und den

Deutsch nationalen Handlungsgehilfenverband

bis

hin zum sozialistischen Straßer-Flügel in der NSDAP, aber auch Wehrverbänden und Standesorganisationen - quer durch alle politischen Lager. Damit sollte die Grundlage für eine berufsständisch geprägte Neuordnung gelegt werden, wie sie im (jung-)konservativen Milieu der Zeit propagiert wurde. Als Lockmittel dienten dem Reichskanzler vor allem die Zusage einer Rücknahme des Sozialabbaus der letzten Jahre und direkter Arbeitsbeschaffungsprogramme, sowie - an die Adresse der NSDAP gerichtet - konkrete Posten. Zudem pflegte Schleicher gute Kontakte zu der erfolgreichen konservativ-revolutionären Zeitschrift "Die Tat" sowie der kleinen Berliner Tageszeitung "Tägliche Rundschau" und besaß derart auch publizistischen Einfluss.

.,Querfront"-Konzept

1 52

VI.

Das Präsidialkabinett Schleicher 1 932/3 3 : "Querfront" gegen H itler?

Stichwort

Deutsch nationaler H a n d l u ngsge h i lfenve rba nd

1 893 wurde der Deutsche H a n d l u ngsgehilfenverband a l s Berufsverband u n d Ge­ gengewicht zur sozia ldemokratischen Ag itation gegründet. Zwei J a h re später benan nte er sich i n Deutsch nationaler H a n d l u ngsgehi lfenverband um. Er strebte den Zusa m mensch l uss der deutschen H a n d l u ngsgehilfen - Buchha lter, Kassierer etc. - a n und wol lte deren Lage verbessern helfen, wobei er aber auf Strei ks als M ittel zur D u rchsetzung seiner Forderungen verzichtete. Stattdessen rief er seine M itg l ieder zur Treue gegen ü ber Ka iser u n d Reich a uf. Aufgrund seiner reg en so­ zialpol itischen Tätig keit stieg seine M itg l iederza h l auf über 1 60 000. D a m it wurde er zur stä rksten und einfl ussreichsten Org a n isation der H a n d l u ngsgeh ilfen. H ieran kn ü pfte er i n der Zeit der Wei m a rer Rep u b l i k a n und steigerte die Za h l seiner M it­ g l ieder auf m e h r a l s 400 000, womit er zum stä rksten Faktor im b ü rgerlichen Deut­ schen Gewerkschafts bund wurde. Pol itisch orientierte er sich von seinen u r­ sprü n g l ichen rea ktionären u n d national istischen Positionen zeitweise h i n zu ge­ m ä ß igteren b ü rgerlichen Ansch a u u n g e n . Er suchte die Nähe von DVP und D NVP, aus Protest gegen Hugen bergs Ku rs d a n n später die der Vol kskonservativen Verei­ n i g u n g und des Zentru ms, sch l ießl ich i n der Endp hase der Wei m a rer Rep u b l i k a b e r auch z u n e h m e n d der NS DAP.

Haltung des ADGB

Bereits seit dem Sommer 1 932 hatte der General einen engeren Kontakt zum ADGB geknüpft, um ihn für eine Unterstützung der Regierung zu gewin­ nen. Dabei profitierte er davon, dass sich vor allem die Freien Gewerkschaften und damit der größte Teil der Arbeitnehmervertretungen in einer Zwickmühle befanden: Im Zuge der Weltwirtschaftskrise hatten sie viele Mitglieder verlo­ ren, und ihre schärfste Waffe - der Streik - war durch die Massenarbeitslosig­ keit stumpf geworden. Im Dezember 1 932 hatten nur noch gut 32 % der ADGB-Mitglieder eine Vollzeitbeschäftigung, über 22 % waren in Kurzarbeit und fast 46 % sogar arbeitslos. Das hatte auch zur Entfremdung zwischen den Gewerkschaften und ihrer traditionellen politischen Interessenvertretung, der SPD, geführt. Die Gewerkschaftsführung verübelte der sozialdemokratischen Parteispitze, dass sie den von ihr favorisierten Woytinsky-Tarnow-Baade-Plan zur staatlichen Arbeitsbeschaffung als inflationsfördernd ablehnte. Dement­ sprechend hatte der ADGB-Vorsitzende Theodor Leipart ( 1 867-1 947) am 14. Oktober 1932 eine vielbeachtete Rede gehalten, in der er sich von der SPD so­ wie dem Weimarer Parteienstaat distanzierte und die "nationale" Aufgabe der Gewerkschaften betonte. Auf der neuen Linie Leiparts lag auch die Entscheidung von Freien Ge­ werkschaften und Reichsbanner vom Sommer 1 932, am neu geschaffenen Freiwilligen Arbeitsdienst mitzuwirken und damit den offenen Schwenk der staatlichen Wohlfahrtspolitik, speziell der Jugendfürsorge, hin zur autoritären Sozialdisziplinierung mitzuvollziehen. Dementsprechend erklärte sich das Reichsbanner Mitte November auch zur Beteiligung am Reichskuratorium für

1 . .,Auf Bajonetten sitzend, regiert's sich sch lecht":

1 53

Jugendertüchtigung bereit, das im September 1 932 mit dem Ziel gegründet worden war, Wehrsport zu betreiben und damit die gewünschte Umbildung der Reichswehr in eine Miliz vorbereiten zu helfen. Dies geschah gegen einen ausdrücklichen Beschluss der SPD - die sich letztlich auch durchsetzte - und signalisierte über den sozialen Bereich hinaus eine deutliche Annäherung des ADGB auch an Schleichers Programm der "Wehrhaftmachung" der Gesell­ schaft, die letztlich mittels der genannten Organisationen und unabhängig von parteipolitischen Strömungen erreicht werden sollte. Schleichers stärkstes Argument gegenüber den Gewerkschaften aber war seine Bereitschaft zu direkten staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen des Freiwilligen Arbeitsdienstes und gegebenenfalls auch im Zuge einer Verstaatlichung von Betrieben. Die konkreten Pläne hierzu gingen bereits auf die Regierungszeit Papens zurück: Im Sommer 1 932 tagte eine Arbeitsgruppe von Vertretern der NSDAP, des Stahlhelms, des Reichsbanners und des ADGB unter Leitung des Präsidenten und Gründers des deutschen Landgemeindetages, des Abgeordneten der Ch ristl ich-Nationalen Bauern- und Landvolkpartei,

Günter Gereke. Sie erörterte konkrete Pläne für Arbeitsbeschaf­

fungsmaßnahmen durch Kredit finanzierte öffentliche Aufträge. Stichwort

Ch ristl ich-Nationale Bauern u n d Landvol kpartei

F ü h rende Vertreter des Reichslandb undes - des (g roß-) a g ra rischen I nteressenver­ bandes - g ründeten im Februar 1 928 die C h ristl ich-Nationale Bauern- u n d Land­ vol kpartei, u m i h re a g rarpol itischen Anl iegen besser d u rchsetzen zu kön n e n . in der Krise der DNVP g ewa n n sie Ende der zwa nziger J a h re verschiedene pro m i­ nente M itg l ieder dieser Partei, wie G ü nter Gereke, Wa lter von Keudell ( 1 884-1 973), Martin Sch iele u n d Hans Sch lange-Schön ingen. Die Ch ristlich-Natio­ nale Bauern- und Landvo l kpartei war zunächst m it neun, zwischen 1 930 und 1 932 dann m it 1 9 Abgeordneten i m Reichstag vertreten. Das verschaffte ihr g eg e n ü ber dem Ka binett Brü n i n g eine parl a m e ntarische Sch l ü sselstel l u n g . Allerdings zerstritt sie sich in der Frage einer U nterstützung der Reg ieru ng: Eine Meh rheit der Reichs­ tag sfra ktion verha rrte i n strikter Op position, wä h rend einige Abgeordnete Brü­ ning u nterstützten und sog a r M i n isterä mter ü berna h m e n : Sch iele wurde Reichser­ n ä h r u n g s m i n ister, Sch lange-Schön ingen Reichsko m m issar fü r Osth ilfe und Gereke trat fü r die Reg ieru ngspolitik im Parlam ent ein. 1 93 1 /32 wechselten etl iche F u n k­ tionäre, aber auch ein g roßer Tei l der Wä h l e r zur N S DAP. Seit den Reichstag swa h­ len vom J u l i 1 932 wa r die C h ristl ich-Nationa l e Bauern- und Landvo l kpartei nicht mehr i m Reichstag vertreten .

Dementsprechend hatte auch bereits am 28. November 1 932 ein Grund­ satzgespräch zwischen dem General und dem ADGB-Vorsitzenden Leipart stattgefunden. Dabei beeindruckte Schleicher seinen Gesprächspartner sowohl mit seinem Bekenntnis zur Notwendigkeit öffentlicher Arbeitsbeschaffungs­ maßnahmen als auch durch seine Ankündigung, Gereke zum Reichskommis-

Arbeitsbeschaffu n gsmaßnahmen

1 54

VI.

Das Präsidialkabinett Schleicher 1 932/3 3 : "Querfront" gegen H itler?

sar für Arbeitsbeschaffung zu ernennen. Überdies ging er auf verschiedene an­ dere Forderungen des ADGB ein - die Revision des sozialpolitischen Teils der Notverordnung vom

4./5.

September 1 932, die rasche Beendigung der Praxis

der Ausgabe von Steuergutscheinen gegen Neueinsteilungen und eine verbes­ serte Arbeitslosenfürsorge. Damit war grundsätzlich eine Basis für Schleichers "Querfront"-Konzept geschaffen, zumal der noch amtierende Reichskanzler Papen aus Sicht der Gewerkschaften als extrem unternehmerfreundlich galt. Da Schleicher sich zusätzlich der Unterstützung durch die christlichen und li­ beralen Gewerkschaften sicher glaubte, fühlte er sich Ende 1 932 in seiner Überzeugung bestätigt, der bessere Reichskanzler als Papen zu sein. Die Bevölkerung reagierte zunächst positiv auf den KanzlerwechseL wäh­ rend sich von den großen Parteien lediglich das Zentrum kooperationswillig gab. Dennoch wurde die Regierung in der Sitzungsperiode vom 6. bis 9. De­ zember 1932 nicht mit einem Misstrauensvotum konfrontiert, ja sie konnte für einzelne Maßnahmen, wie die Aufhebung des sozialpolitischen Teils von Papens Notverordnung vom

4./5.

September 1 932, sogar die Zustimmung

einer Mehrheit des Reichstages gewinnen. Dies erklärte sich aus der Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt letztlich keine Partei eine erneute Reichstagsauflö­ sung und Neuwahlen mit unabsehbaren Folgen provozieren wollte. Danach vertagten sich die Abgeordneten auf unbestimmte Zeit. Dieses Interim wollte Schleicher nutzen, um sein "Querfront"-Konzept umzusetzen. Schleichers

Dementsprechend stellte er am 1 5 . Dezember sein Regierungsprogramm

Regierungsprogramm

vor - bewusst nicht im Parlament, sondern im Rundfunk, womit sein quasi bonapartistischer Versuch, sich eine "Massenbasis" (Axel Schildt) zu schaffen, verdeutlicht wurde. Zentrale Eckpunkte seiner Erklärung waren der Versuch, seine treibende Rolle bei der Ablösung Papens zu kaschieren sowie die Wer­ bung um Unterstützung seitens der Bevölkerung, indem er die Versicherung abgab, keine Militärdiktatur errichten zu wollen, und Arbeitsbeschaffungs­ maßnahmen sowie Osthilfemaßnahmen einschließlich der Neuansiedlung zu­ sagte. Mit seinem Programm versuchte der neue Reichskanzler einen Balanceakt zwischen links und rechts, zwischen den Forderungen der Gewerkschaften und den Anliegen von Industrie und Landwirtschaft sowie - durch sein Be­ kenntnis zur allgemeinen Wehrpflicht - den Wünschen der Reichswehr. Die Außenpolitik besaß für Schleicher hingegen verständlicherweise zunächst eine untergeordnete Bedeutung. Immerhin wollte er sich wieder weg von Papens Fixierung auf Frankreich und erneut - wie bereits Brüning - hin zu guten Be-

Machtkampf in der NSDAP

ziehungen zur Sowjetunion orientieren. Von Beginn seiner Regierungszeit an erschien dem General die Bereit­ schaft zumindest eines Teils der NSDAP zur Teilnahme an der "Querfront" unabdingbar für einen Erfolg seiner Politik. Zum einen bildeten die National­ sozialisten die stärkste Fraktion im Reichstag, waren also für eine etwaige Tole-

1 . .,Auf Bajonetten sitzend, regiert's sich sch lecht":

rierung der Regierung entscheidend. Zum anderen kamen ihre Mitglieder und Wähler zu großen Teilen aus der jüngeren Generation, die wiederum der Ge­ neral für den angestrebten Ausbau der Reichswehr benötigte. Der zweite Mann der NSDAP, deren Reichspropagandaleiter Gregor Straßer, erwog zeit­ weise auch durchaus, die ihm wohl von Schleicher angebotene Zusammenar­ beit anzunehmen. Er hatte bereits in einer Reichstagsrede am 10. Mai 1 932 ein umfassendes Arbeitsbeschaffungsprogramm gefordert. Überdies teilte er nicht nur Schleichers staatssozialistische Überzeugungen, sondern fürchtete auch weitere Wahlverluste der NSDAP auf Reichsebene, zumal sich die ernüch­ ternde Erfahrung des Novembers 1 932 auf der kommunalen Ebene fortsetzte: Am 4. Dezember verlor die NSDAP bei den thüringischen Gemeindewahlen trotz des persönlichen Einsatzes Hitlers im Vergleich zur Landtagswahl vom Juli fast 20 % ihrer Stimmen. Dabei konnte es Schleicher zunächst gleichgültig sein, ob er mit Straßers Hilfe Hitler zur Abkehr von seinem bisherigen "Aus­ schließlichkeitsanspruch" zu zwingen vermochte oder aber die NSDAP regel­ recht spalten konnte.

Mnffli!W Schleichers Reg ierungserklärung vom 1 5. Deze m ber 1 93 2 Quelle: Akten d e r Reichskanzlei. Das Kabinett von Schleicher, S. 1 01 -1 1 7 (Dok. N r . 25) .

., Ich habe gegen die A n n a h m e des Ka nzlera mtes die a l l e rschwersten Beden ken ge­ habt. E i n m a l, weil ich n icht der Nachfolger meines Freundes Papen, d ieses Ritters o h n e Furcht und Tadel, sein wol lte, dessen von reinstem Wol l e n und hoher Vater­ landsl iebe getragenes Wirken erst eine spätere Zeit vol l a nerkennen wird, vor a l l e n D i n g e n aber desh a l b, w e i l der Weh r m i n ister a l s Reichskanzler n a c h M i l itä r-Diktatu r riecht, und w e i l die Gefa h r n icht von d e r H a n d zu weisen ist, daß d u rch e i n e Ver­ b i n d u n g d ieser beiden Ämter die Wehrm acht zu sta rk in die Politik g ezog en wer­ den kön nte. N u r die Ü berlegung, daß eine solche M a ß n a h m e den Ernst der Situa­ tion so scharf ken nzeichnen und auf g ewisse U n ru hestifter so abkühlend wi rken wü rde, dass dadurch der tatsächl iche Einsatz der Weh rmacht verh indert werden ka nn, hat m ich zur Zurückste l l u n g meiner Bed e n ken vera n l a ßt Ich möchte des­ halb heute auch a n alle Vol ksgenossen die Bitte richten, i n m i r n icht n u r den Solda­ ten, sondern den ü berparteil ichen Sachwa lter der I nteressen aller Bevö l kerungs­ sch ichten fü r eine hoffentlich n u r ku rze N otzeit zu sehen, der n icht geko m m e n ist, das Schwert zu bringen, sondern den Frieden. Ich g l a u be, das hier umso m e h r sa­ gen zu d ü rfen, als meine Ansichten über M i l itär-Diktatur n icht erst von heute sind u n d a l lgemein beka n nt sein d ü rften . Ich habe es schon verschiedentlich zum Aus­ d ruck gebracht und wiederhole es heute: Es sitzt sich schl echt a uf der Spitze der Bajonette, d . h ., man ka n n auf die Dauer n icht ohne b reite Vol ksst i m m u n g h i nter sich reg ieren. Diese Sti m m u n g i n den breiten Sch ichten der Bevö l kerung wird sich aber gerade eine Reg ierung wie die von mir gefü h rte erst d u rch Taten erwerben m üssen, und ich gebe m ich über die Schwere dieser Aufgabe keiner I l l usion h i n . Zunächst werde i c h schon zufrieden s e i n , wen n die Vol ksvertretung, der i c h fü r d iese Zeit gern eine sta rke Dosis gesunden M i ßtrauens z u b i l l ig e, der Reg ierung o h n e H i n e i n reden u n d o h n e die h i n l ä n g l ich beka n nten parl a m e ntarischen Metho-

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VI.

Das Präsidialkabinett Schleicher 1 932/3 3 : "Querfront" gegen H itler?

den Gelegen heit g i bt, ihr Prog ra m m d u rchzufü h ren. D ieses P rog ra m m besteht a u s einem einzigen P u n kt: "Arbeit schaffen!" A l l e M a ß n a h m en, die die Reichsreg ierung i n den nächsten Monaten d u rchfü h ren wi rd, werden m e h r oder weniger diesem einen Ziel dienen. [ . . . ] Alles a n dere i nteressiert uns n icht, a m wenigsten Verfas­ sungsänderungen und sonstige schöne Dinge, von denen wir nicht satt werden. [. .. ] Menschen, die der Verzweifl u n g nahe sind, ka n n m a n m it Auseinandersetzun­ gen darüber n icht trösten, daß nach den Gesetzen wirtschaftl icher Vernu nft auf jedes wi rtschaftl iche Tief ein Hoch zu folgen pfl ege. [ . . . ] Ich habe deswegen dem Reichspräsidenten die Ernen n u n g eines Reichsko m m issars fü r Arbeitsbeschaffu ng vorgesch lagen. Seine Aufgabe wird es sein, jeder Arbeitsmögl ichkeit nachzuspü­ ren, ein g roßzüg iges Arbeitsbeschaffu n g s prog ra m m aufzuste l l e n und seine D u rchfü h rung zu überwachen, wobei er b ü rokratischen u n d sonstigen H e m m u n­ gen gegen ü ber die Rol l e des Schäferh u ndes übernehmen m u ß . [ . . . ]. Fra g l os ist ein solches Arbeitsbeschaffu ngsprogramm, vol kswirtschaftlich betrachtet, m it g rößeren Risiken behaftet a l s eine a uf natü rlichem Weg e ei ntretende Arbeitsver­ mehrung. [ . . . ] Das Prog ram m m u ß in erster Linie a uf die I nsta ndsetzu ng vorhan­ dener Prod u ktionsg üter u n d auf Verbesseru ngen abg estellt werden, u n d die Ver­ gebung der Arbeiten an U nternehmer ist der Ausführung in eigener Reg ie vorzu­ ziehen. [. . . ] Entscheidend wichtig war es, daß fü r d iese F i n a nzieru ng eine Lös ung gefunden wu rde, die jede I nfl ation vol l ko m m e n a usschl ießt. [ . . . ] M it der Frage der Arbeitsbeschaffu ng hängt die Sied l u ng eng zusa m m e n . Ü ber die Notwendigkeit zu siedeln, und zwa r so sch nell und so viel wie mögl ich, sind wir uns a l l e e i n i g . [ . . . ] Gerade auch a l s Weh r m i n ister m u ß ich auf die Besied l u n g u n serer Ostm ark den g rößten Wert legen. Denn l etzten Endes sind es noch immer die Menschen und die eigene Schol le gewesen, die den besten G renzwa l l gegen das Vord ringen fremden Vol kstu m s abgaben. [ . . . ] Ich b i n ketzerisch genug, einzug estehen, daß ich weder ein Anhänger des Ka pita l i s m u s noch des Sozialismus bin, daß fü r m ich Begriffe wie ,P rivat- oder Pla nwirtschaft' i h re Schrecken verloren haben, ganz ein­ fach, wei l es diese Begriffe i n a bsol uter Rein heit i m Wirtschaftsleben g a r n icht mehr g i bt, auch gar n icht mehr geben ka n n . Und desh a l b vertrete ich den Sta nd­ p u n kt, man soll in der Wirtschaft das tun, was i m gegebenen Moment vernü nftig ist und a l l e r Wa h rsch e i n l ichkeit nach zu den besten Resu ltaten fü r Vol k und La nd fü h rt, und sich n icht eines Dog mas wegen die Köpfe einschlagen."

Bereits am Abend des 4. Dezembers traf sich Schleicher mit Straßer. Ob er ihm dabei die Vizekanzlerschaft anbot und damit tatsächlich eine Spaltung der NSDAP beabsichtigte oder doch nur Hitler konzessionsbereit machen wollte, ist umstritten. Klar ist jedoch, dass es in den folgenden Wochen zunächst so aussah, als würde sich die NSDAP-Führung über die Frage nach der richtigen Taktik zerstreiten: Hitler hielt an seinem eisernen Machtwillen fest und propa­ gierte weiterhin ein "Alles oder nichts": entweder die Reichskanzlerschaft für ihn oder eine konsequente Opposition seiner Partei. Hierin wurde er von den meisten anderen Führungspersonen unterstützt, allen voran von Goebbels: "Entweder schärfste Opposition oder die Macht. Tolerierung macht tot. Die SPD ist ein warnendes Beispiel." Immerhin hatte sich seit dem Herbst 1 932 eine innerparteiliche Fronde gebildet, der neben Straßer noch verschiedene weitere wichtige Funktionäre wie Frick, Feder sowie Robert Ley ( 1 890- 1 945)

1 57

1 .,Auf Bajonetten sitzend, regiert's sich sch lecht": .

Abb. 9 ln einer R u n dfu n ka n s prache ste l l t Reichskanzler Kurt von Schleicher a m 15. Dezember 1932 sein Regierun gs­ progra m m vor.

angehörten und die im Reichstag über einen Anhang von 60 bis 1 00 Abgeord­ neten verfügte. Diese Gruppe plädierte dafür, nicht auf dem Amt des Reichs­ kanzlers zu bestehen, sondern sich mit einer Regierungsbeteiligung zu be­ scheiden. Mit dem spürbaren Stimmenrückgang der NSDAP in der Reichs­ tagswahl vom 6. November 1 932, der die Hoffnung auf immer größere Wahlerfolge widerlegte, gewann diese Taktik an Plausibilität, und ihre Anhän­ ger glaubten sich im Aufwind. Gerade in der SA mehrten sich nun Frustration und Wut über den faktischen Misserfolg von Hitlers Strategie, wie der Auf­ stand des fränkischen SA-Führers Wilhelm Stegmann ( 1 899- 1 944) Ende 1932 verdeutlichte. Allerdings versagten Straßer dann in den entscheidenden Tagen Anfang Dezember letztlich doch die Nerven: Er wagte es am Ende nicht, Hitler offen herauszufordern und es auf einen Machtkampf mit dem NSDAP-Vorsitzenden ankommen zu lassen. Nachdem dieser sich strikt geweigert hatte, von seiner Forderung nach der Kanzlerschaft abzugehen, legte Straßer am 8. Dezember alle seine Parteiämter nieder und ging ins Ausland. Am 9. Dezember übernahm Hitler auch die Aufgaben des innerparteilichen Gegners. Damit war Schleichers "Querfront"-Konzept faktisch bereits gescheitert, zumal Hitler seine Position innerhalb der NSDAP durch den nationalsozialistischen Prestigeerfolg bei den Wahlen im Bundesstaat Lippe am 1 5 . Januar 1933 - wo die Partei nach einer beispiellosen Werbekampagne mit 39,5 % deutlich über ihrem Ergebnis in den Reichstagwahlen vom November 1932 lag - weiter festigte.

Rücktritt Straßers

1 58

VI.

Das Präsidialkabinett Schleicher 1 932/3 3 : "Querfront" gegen H itler?

Distanzierung des

Mittlerweile war auch der ADGB auf massiven Druck der SPD hin wieder

ADGB

von seiner anfänglichen Kooperationsbereitschaft abgerückt. Es erwies sich als ein Fehler Schleichers, dass er die SPD zu wenig in seine Überlegungen einbe­ zogen hatte. Für sie war der neue Reichskanzler allein schon durch die Tatsa­ che diskreditiert, dass er bereits unter Papen Minister, ja geradezu der Kopf dieser der Sozialdemokratie so verhassten Regierung gewesen war. Schleichers Wechsel vom Konfrontationskurs zur Kooperationsbereitschaft kam für sie zu abrupt, als dass sie sich ihm sofort angepasst hätte. Der SPD-Führung erschien mittlerweile notfalls selbst eine Kanzlerschaft Hitlers als das kleinere Übel: Sie setzte darauf, dass sich der NSDAP-Vorsitzende in der Regierungsverantwor­ tung rasch verschleißen und dann den Weg wieder frei machen würde für eine demokratisch legitimierte Regierung. Zur starren Opposition der Sozialdemokratie gegen Schleichers "Quer­ front"-Konzept trug auch ihre Enttäuschung über die konkreten Maßnahmen der neuen Regierung bei: Am 2 1 . Dezember 1 932 einigte sich ein Kabinetts­ ausschuss auf ein Sofortprogramm zur öffentlichen Arbeitsbeschaffung, das Beschäftigungsmöglichkeiten im Straßenbau, der Siedlung, der Melioration, der Wohnungsinstandsetzung und bei der Reichsbahn vorsah. Wegen seines geringen Umfangs von 500 Millionen Reichsmark und der Schaffung von 400 000 bis 500 000 Stellen blieb es aber weit hinter den Erwartungen der Ge­ werkschaftsführer zurück.

Kritik des

Während sich die von Schleicher umworbenen Gewerkschaften und Ar-

Reichs- landbundes

beitnehmerflügel der Parteien dem "Querfront"- Konzept verweigerten, dis­ kreditierten gleichzeitig die im Reichslandbund organisierten Großagrarier das Festhalten des Generals an den Ostsiedlungsplänen der Regierung Brüning gegenüber Hindenburg als eine "Bolschewisierung" ihrer Güter. Überdies kri­ tisierten sie die freihändlerischen Bestrebungen der Regierung - die auch in­ nerhalb des Kabinetts zum Zwist zwischen Ernährungsminister Braun und Wirtschaftsminister Warmhold geführt hatten -, weil sie allein der export­ orientierten Industrie zugute kämen. Der Streit eskalierte durch eine scharfe Presseerklärung der Großagrarier vom 1 1 . Januar 1933, die eine offene Kampfansage an die Reichsregierung enthielt und belegte, wie sehr der Reichs­ landbund mittlerweile in nationalsozialistisches Fahrwasser geraten war. Immerhin stand zumindest die Exportindustrie weitgehend hinter der Re­ gierung. Allerdings opponierten auch verschiedene Vertreter der Industriever­ bände gegen den Interventionismus der Regierung, den sie angesichts Schlei­ chers Entgegenkommen gegenüber den Gewerkschaften und dem Straßer­ Flügel der NSDAP zunehmend als ein ihnen gefahrliebes sozialistisches Expe­ riment ansahen. Zwar bildeten jene immer noch eine Minderheit, die für eine Kanzlerschaft Hitlers eintraten, aber etliche Vertreter der Schwerindustrie um den Generaldirektor der Gutehoffnungshütte,

Paul Reusch ,

erwogen eine Regie­

rungsneubildung, die den unternehmerfreundlichen Papen erneut ins Kanz-

2. Verfassungsbruch zur Rettung der Verfassung?

1 59

leramt bringen sollte und auch Straßer einbezog. Daneben fielen andere Schwerindustrielle wie

Otto

Wolff ( 1 88 1-1 939)

und

Paul Silverberg

( 1 876-1 959) kaum ins Gewicht, die Schleichers Kurs einer stärkeren Staatstä­ tigkeit zustimmten. Stichwort

Paui Reusch

( 1 868-1 956) wa r aufg rund seiner Ausb i l d u n g und Berufspraxis ein H üttenfach­ m a n n, der i n der P rivatwirtschaft Ka rriere m achte. 1 908 übernahm er die Gesa mt­ leitung und ein J a h r später auch noch den Vorsta ndsvorsitz der Gutehoffn u ngs­ h ütte i n Oberhausen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges expa ndierte er i n er­ hebl ichem Maße und stieg so zu einem der ei nfl ussreichsten "Wi rtschaftsfü h rer" der Wei m a rer Repu b l i k a uf, der er aufgrund seiner konservativen und nationalen Einstel l u n g eher ablehnend gegenü bersta nd. Auch von der Aufwertung der Ge­ werkschaften auf der Grundlage des "Stinnes-Leg ien-Abkom mens" von Ende 1 9 1 8 hielt er n ichts. Neben seiner erfo l g reichen U nternehmertätigkeit engagierte sich Reusch auch i m schweri n d u striel l e n Verbandswesen: Von 1 924 bis 1 930 war er Vorsitzender des Vereins Deutscher Sta h l i nd u striel l e r und dessen Nordwestli­ cher Gruppe sowie des so genan nten La n g n a mvereins, einem Org a n der rhei­ n isch-westfä l ischen Schwerind ustrie. I m Frühj a h r 1 932 trat er vorü bergehend fü r eine Kooperation m it der N S DAP ein und trug d a m it erhebl ich zu deren pol itischer Aufwertung bei.

2 . Verfass u n gsbruch zur Rettu ng der Verfassung? Nachdem e s Schleicher nicht gelungen war, die Gewerkschaften und den Straßer-Flügel der NSDAP auf seine Seite zu ziehen, und er überdies dem DNVP-Vorsitzenden Hugenberg am 1 3 . Januar 1933 das Wirtschaftsministerium verweigert hatte, waren er und sein Kabinett isoliert. Nach außen pflegte Schleicher zwar weiter seinen alten Optimismus und verkündete noch auf einer Kabinettssitzung am 16. Januar, dass er eine Einbindung Straßers weiterhin für möglich halte, zumal er "fest davon überzeugt [sei] , dass Hitler nicht an die Macht wolle". Doch angesichts des absehbaren Misstrauensvotums in der bevorstehenden Sitzung des Reichstages griff Schleicher auch noch einmal auf jenes Mittel zurück, das bereits Papen in einer ähnlichen Situation im Sommer 1 932 erwogen hatte: die Auflösung des Reichstags und die Vertagung von Neuwahlen über die in der Verfassung vorgeschriebene Frist von 60 Tagen hinaus sowie die Ausrufung des Staatsnotstands mit Hilfe des Reichspräsidenten. Doch auch hiermit sollte der General scheitern: Zum einen sickerte seine Absicht ab Mitte Januar 1933 zunehmend durch, womit sich der Reichskanzler auch die letzten Sympathien bei den demokrati­ schen Parteien verscherzte, die sich zu Recht düpiert zeigten. Zum anderen

Staatsnotstand

1 60

VI.

Das Präsidialkabinett Schleicher 1 932/3 3 : "Querfront" gegen H itler?

verweigerte ihm Hindenburg im entscheidenden Gespräch am 28. Januar seine Zustimmung.

MJ!t!111M Gespräch H i nd e n b u rgs m it Schleicher am 28. J a n u a r 1 93 3 Quelle: Akten d e r Reichskanzlei. D a s Kabinett von Schleicher, S. 3 1 0 (Dok. N r . 72).

"Am 28. J a n u a r, 1 2. 1 5 U h r vorm ittag s, em pfing der Herr Reichspräsident auf erneu­ ten Wu nsch wieder den Herrn Reichskanzler von Schleicher. Der Reichskanzler trug hierbei folgendes vor: Es ergäben sich 3 Mög l ichkeiten, 1 .) ein Mehrheitska b i­ nett H itler; das wäre an sich eine Lös ung, doch g l a u be er n icht an dessen Zusta n­ dekom men; 2.) ein Minderheitska b i n ett H itler; d ieses entspräche aber n icht der bisherigen Haltung des Herrn Reichspräsidenten; 3.) die Beibehaltung der jetzigen Präsid i a l regierung; d iese kön n e aber n u r d a n n a rbeiten, wenn sie das Vertra uen und die Vol l macht des Herrn Reichspräsidenten h i nter sich habe. - Gegen eine Re­ gierung auf der sch m a l e n Basis der Deutschnationalen usw. ohne Nationalsoziali­ sten wären 9/1 0 des deutschen Vol kes; das würde zu revol utionä ren Erscheinun­ gen u n d zu einer Staatskrisis fü hren. Wen n die jetzige Reg ierung vor den Reichstag treten solle, m üsse er u m die Zusage der Auflösung bitten. Der Herr Reichspräsident erwiderte: Das ka n n ich bei der gegebenen Lage n icht. Ich erke n n e d a n kbar an, daß Sie vers ucht haben, die Nationalsozial isten fü r sich zu gewi nnen und eine Reichstagsmeh rheit zu schaffen. Es ist leider n icht g e l u ngen und es m üssen daher n u n andere Mög l ichkeiten versucht werden. [ ] ." . . .

Der Reichspräsident hatte einst den ihm persönlich eher unsympathischen Schleicher berufen, weil dieser ihm versprochen hatte, mit verfassungsgemäßen Mitteln regieren zu können. Nur deswegen hatte Hindenburg Papen entlassen. Jetzt verlangte auch Schleicher plötzlich einen Bruch der Verfassung von ihm. Zwar versuchte der General sein Ansinnen durch die Hinweise abzumildern, im Gegensatz zu Papen könne er sich auf die Unterstützung der Reichswehr ver­ lassen und auch mit Sympathien in der Bevölkerung rechnen. Doch das musste für Hindenburg wenig zählen, zumal die von ihm befragten Parteiführer über­ einstimmend Schleichers Plänen widersprachen und sein persönlicher Favorit Papen ihm gleichzeitig durch seine Gespräche mit Hitler über eine etwaige na­ tionalsozialistische Regierungsbeteiligung eine verfassungskonforme Alterna­ tive anbot. Daneben mochten für Hindenburgs Entscheidung auch die Sorge eine Rolle spielen, die NSDAP werde gerade umlaufende Gerüchte über angebli­ che finanzielle Unregelmäßigkeiten des Reichspräsidenten und seiner Familie im Zusammenhang mit der Veruntreuung von Osthilfegeldern zur Auslösung einer "Präsidentenkrise" nutzen und Hindenburg abzulösen versuchen. Gründe für Schleichers Scheitern

Damit war Schleicher Ende Januar 1933 gescheitert. Sein "Querfront"­ Konzept war von vornherein ein "Spiel mit hohem Einsatz" (Axel Schildt) ge­ wesen. Zwar hatte es zeitweise so ausgesehen, als könnte der neue Reichskanz­ ler die Unterstützung der Gewerkschaften für sich gewinnen, doch zerschlugen sich seine Hoffnungen auf eine Fronde Gregor Straßers in der NSDAP bereits

2. Verfassungsbruch zur Rettung der Verfassung?

frühzeitig. Gleichzeitig stand Schleicher nun völlig ungeschützt den von ihm durch seine Pläne provozierten Vertretern von Industrie und Großagrarierturn gegenüber. Offensichtlich hatte der General die Lage falsch eingeschätzt und vor allem seine Möglichkeiten erheblich überschätzt. Abgesehen davon wäre selbst der Erfolg einer "Querfront" - so sie denn zustande gekommen wäre ­ sehr fraglich gewesen, zumal der nationalsozialistische Partner selbst unter Straßers Führung immer eine ebenso gefährliche wie unberechenbare Größe geblieben wäre. Blieb zuletzt nur noch der Rückgriff auf den "Staatsnotstand". Auch hier verpasste der General den richtigen Moment, wenn ein solcher Plan sich über­ haupt hätte realisieren lassen. Immerhin hatte der gestürzte preußische Minis­ terpräsident Braun Schleicher bereits in einem Gespräch am 6. Januar 1933 seine Unterstützung und die seiner Partei im Falle einer Auflösung des Reichs­ tages und des preußischen Landtages sowie der Verschiebung der Neuwahlen angeboten, vorausgesetzt der Kanzler setzte ihn wieder in sein Amt ein: "Wir schieben die Wahlen bis weit in das Frühjahr hinaus und führen einen einheit­ lichen nachdrücklichen Kampf gegen die Machtansprüche der Nationalsozia­ listen. Diese haben bei der Novemberwahl bereits zwei Millionen Stimmen verloren, haben ihren Höhepunkt überschritten und befinden sich im Rück­ gange. Wir brauchen nur noch nachzustoßen, um ihnen bei Frühjahrswahlen eine vernichtende Niederlage zu bereiten. " Schleicher hatte Braun zwar nicht völlig ablehnend beschieden, ihn jedoch vertröstet, weil er damals immer noch gehofft hatte, seine "Querfront" bilden zu können, zumal Straßer mittlerweile nach Deutschland zurückgekehrt war und nun zur Zusammenarbeit mit dem Reichskanzler bereit schien. Allerdings hatte Braun zu diesem Zeitpunkt auch bereits erheblich an politischem Einfluss verloren und war selbst in seiner ei­ genen Partei relativ isoliert. Ende Januar gab es dann in der SPD erst recht keinerlei Basis mehr für eine Kooperation mit Schleicher, denn jetzt hoffte man hier, durch ein radika­ les Auftreten gegen die "reaktionären" Kabinette Papen und Schleicher jene Wähler wiederzugewinnen, die aus Enttäuschung über die sozialdemokrati­ sche Tolerierungspolitik in den letzten Jahren zu KPD und NSDAP übergelau­ fen waren. Überdies ist bis heute in der Forschung umstritten, wie realistisch die Option eines Staatsnotstands angesichts der absehbaren Widerstände in al­ len politischen Lagern war und was eine etwaige Ausrufung für die weitere Entwicklung der Weimarer Republik bedeutet hätte: Letztlich besteht Einigkeit darüber, dass Schleicher "ein dauerhaft antiparlamentarisch-autoritäres Präsi­ dialkabinett" (Eberhard Kolb) etablieren wollte. Gleichwohl sehen manche hierin angesichts "der desolaten Situation um die Jahreswende 1 932/33 [ . . ] .

die einzige noch verbliebene Überlebenschance ,Weimars': das Offenhalten des schmalen Pfades zu späterer Retablierung demokratisch-parlamentari­ scher Verfassungsverhältnisse" (Eberhard Kolb/Wolfram Pyta) .

1 61

1 62

VI.

Das Präsidialkabinett Schleicher 1 932/3 3 : "Querfront" gegen H itler?

Alternativen zur

Tatsächlich belegt der Staatsnotstands-Plan ebenso wie andere Varianten,

NSDAP-Regierun gs-

die in der Umgebung Schleichers erörtert wurden, beispielsweise die Ignorie-

beteiligung

rung eines Misstrauensvotums durch den Reichstag, solange dieser keinen positiven Gegenvorschlag unterbreitete - eine Möglichkeit, die mit einer großzügigen Auslegung der Verfassung vereinbar schien und auch von maß­ geblichen Staatsrechtslehrern der Zeit unterstützt wurde -, dass es bis zuletzt durchaus noch Alternativen zur nationalsozialistischen Regierungsbeteiligung gegeben hat. Die Ausrufung des "Staatsnotstands" hätte immerhin die Mög­ lichkeit zur zukünftigen Wiederherstellung demokratisch-parlamentarischer Verfassungsverhältnisse offen gehalten. Dabei gilt zu bedenken, dass Schlei­ cher ungeachtet seines intriganten Wesens nicht der Mann war, der dauerhaft eine Militärdiktatur in Deutschland hätte errichten wollen: Sein "Querfront"­ Konzept zeigt, dass er weit fortschrittlicher und sozialer war als seine konser­ vativen Mitspieler aus der Papen-Riege: Schleicher war ein autoritärer Revi­ sionist, aber kein antiquierter Reaktionär. Er wollte vor allem die Reichswehr aufrüsten, träumte aber nicht wie Papen und andere von einem "Neuen Staat". Anders als die Papen-Regierung ängstigte Schleicher im Falle eines Staats­ notstands wohl zu Recht nicht die Gefahr eines Bürgerkrieges. Zum einen hatte er vorgesorgt: Der zu erwartende politische Generalstreik sollte mit Hilfe von Polizei und Reichswehr unterdrückt werden. Den Beteiligten sollten rigide Vermögens- und Versorgungsverluste drohen, indem sie für die wirtschaftli­ chen Folgen ihrer Arbeitsverweigerung haftbar gemacht wurden. Überdies war die so genannte Tech nische

Nothi lfe

mit ihren rund 50 000 Mann Ende 1 932

materiell und personell derart verstärkt worden, dass sie die Funktion lebens­ wichtiger Betriebe notfalls sicherstellen konnte. Zum anderen war aber auch völlig unklar, ob es überhaupt einen solchen Generalstreik geben würde. Die­ ser hätte eine Zusammenarbeit aller politischen Parteien und der Gewerk­ schaften vorausgesetzt - von den Kommunisten bis zu den Nationalsozialisten. Eine solche heterogene Koalition aber erschien eher unsicher, zumal sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung mittlerweile an die Auflösung des Reichs­ tages gewöhnt hatte und wohl auch die Vertagung von Neuwahlen hingenom­ men hätte, denn die Regierungspolitik war ja seit gut zwei Jahren ohnehin schon weitgehend unabhängig von den Voten der Wähler gestaltet worden. Unabdingbare Voraussetzung für ein Gelingen des Staatsnotstands-Plans aber wäre gewesen, dass es jenseits aller parteipolitischen Gegensätze einen breiten Konsens bei allen politischen Kräften gegeben hätte, die NSDAP von der Macht fern zu halten. Hieran jedoch mangelte es - auf der Linken und in der bürgerlichen Mitte aufgrund der teilweise fahrlässigen Unterschätzung des na­ tionalsozialistischen Gefahrenpotentials, auf der Rechten wegen der unent­ schuldbaren Neigung, sich den "Trommler" Hitler für die eigenen reaktionä­ ren Ziele zu "engagieren".

3. 30. Januar 1 93 3 : Das ,.Kabinett der nationalen Konzentration"

1 63

Stichwort

Techn ische Not h i lfe

Die Ende September 1 9 1 9 gegründete Freiwi l l igenorg a n isation sol lte in Katastro­ phenfä l l e n u n d bei Notstä nden die F u n ktion lebenswichtiger Ein richtu ngen - Kra n­ kenhäuser, Wasser-, Gas-, Elektrizitätswerke, Verke h rsbetriebe - sicherste l l e n . Sie war i n eine ,. Reichsführung" sowie vierzeh n ,. Landesfü h ru n g en", 80 U nterbezi rke u n d etwa 1 000 Ortsgruppen gegl iedert. I h re U rsprünge reichen in die Zeit der an­ dauernden wilden Streiks und U n ruhen nach der Novemberrevol ution 1 9 1 8 zu rück. Anfang der zwa nziger J a h re hatte die Techn ische Noth ilfe 1 20 000 bis 1 70 000 M it­ g l ieder. Als Folge der Beru h i g u n g der i n n e n p o l itischen Lage erwog der sozialde­ mokratische I n n e n m i n ister Severing 1 928 die Auflösung der Org a n isation. Dies scheiterte zwa r a m Widersta nd der b ü rgerlichen Parteien, doch wurden die staatl i­ chen S u bventionen sta rk gekürzt. Erst Ende 1 932 wurde die Tech n ische N oth i lfe an­ gesichts der Staats- u n d Wirtschaftskrise wieder materie l l u n d personell verstä rkt.

3 . 30. Januar 1 93 3 : Das "Kabinett der nationalen Konzentration" Zu Beginn des Jahres 1933 schien politischen Beobachtern ausgemacht, dass die Republik besseren Zeiten entgegenging, weil erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung unübersehbar waren und damit auch dem politi­ schen Radikalismus, insbesondere dem der NSDAP, die Grundlage entzogen werden musste. Dementsprechend kommentierte die liberale "Frankfurter Zeitung" am 1 . Januar 1933: "Auf allen Gebieten, in der Wirtschaft, in der In­ nenpolitik, in der Außenpolitik, und vor allem auch in der geistigen Gesamt­ lage der Nation lassen sich zum ersten Mal gleichzeitig deutliche Symptome einer beginnenden Konsolidierung [ . . . ] beobachten. Eine Chance liegt also vor uns [ . . . ] Wir wissen heute: der Karren ist nicht unbeweglich festgefahren [ . . . ] Die politische Grundtendenz wird durch die Tatsache der Entzauberung der NSDAP und durch die große staatspolitische Erkenntnis dieses Jahres be­ stimmt bleiben, daß es in Deutschland kein Diktieren gegen die öffentliche Meinung geben kann [ . . . ] . " Auch der Münchner "Simplizissimus" sandte in seiner ersten Nummer des Jahres 1933 einen entsprechenden "Neujahrsgruß" an seine Leserinnen und Leser: "Geht mit euren Horoskopen, denn ihr pro­ phezeitet schlecht. Pessimisten, Misanthropen haben leider meistens recht. Eins nur läßt sich sicher sagen, und das freut uns ringsherum: Hitler geht es an den Kragen, dieses ,Führers' Zeit ist um ! " Doch am 4. Januar 1 9 3 3 trafen sich Hitler und Papen i m Haus des Kölner Bankiers

Kurt von Sehröder

- einem Wirtschaftsberater Hitlers und einem der

wenigen industriellen Befürworter einer Reichskanzlerschaft des NSDAP-Vorsitzenden -, um über ein etwaiges Regierungsbündnis zu sprechen.

Gespräche Papen-Hitler

1 64

VI.

Das Präsidialkabinett Schleicher 1 932/3 3 : "Querfront" gegen H itler?

Stichwort

Ku rt Freiherr von Sehröder

( 1 889-1 966) strebte u rsprü n g l ich eine Offiziersla ufba h n an, u m dann nach der De­ mobil isierung 1 9 1 9 eine Ka rriere als B a n kier einzusch lagen. Nach zweijähriger Banka u s b i l d u n g trat er i n das Köl n e r Bankhaus J . H . Stei n ein, dessen Mitinhaber sein Schwiegervater wa r. Zusätzl ich bekleidete Sehröder in den zwa nziger J a h ren eine g a nze Reihe von Aufsichtsratsposten. Seit 1 930 galt er a l s ein Sym pathisant H itl ers und war ein g efragter Gesprächspartner fü r N S-Größen, die Konta kt zur Wirtschaft suchten. I m Februar 1 933 trat er in die N S DAP ein u n d bekleidete i n den folgenden J a h ren versch iedene wirtschaftspol itische Ämter und Ehren posten. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte er i m Ansch l uss a n eine ku rze H aft längere Zeit zurückg ezogen i n Eckernförde.

Zu diesem Zeitpunkt lehnte Papen, der sich vor allem an Schleicher rä­ chen wollte, noch Hitlers Forderung nach der Regierungsführung ab, weil er wusste, dass Hindenburg dies weiterhin nicht akzeptierte. Aber diese erste Un­ terredung leitete eine Reihe weiterer Gespräche - am 1 8 . und 22. Januar - ein, die am Ende doch noch zur Einigung zwischen den Nationalsozialisten und den rechtskonservativen Kräften führten, zumal parallel auch Gespräche Hit­ lers mit den Vorsitzenden von DNVP und "Stahlhelm" - Bugenberg und Seldte - liefen, um die "Harzburger Front" wieder zu beleben. Zum Treffen am 22. Januar 1933 in der Villa des Spirituosenhändlers und NSDAP-Anhängers Joachim von Ribbentrop ( 1 893-1 946) wurden schließlich auch Hindenburgs Staatssekretär Otto Meißner und sein Sohn Oskar hinzugezogen. Rücktritt Schleichers

Im Laufe des Januars drangen zumindest Teilinformationen über diese Unterredungen auch an die Öffentlichkeit. Sie werteten zum einen die NSDAP, die noch einen Monat zuvor ihrer Spaltung und damit dem politi­ schen Ende entgegenzugehen schien, sowie ihren Vorsitzenden wieder auf. Zum anderen verdeutlichten sie Schleicher, dass er in eine ausweglose Lage zu geraten drohte: Am 4. Januar hatte der Ältestenrat die Einberufung des Reichstags für den 24. Januar beschlossen. Dieser Termin wurde am 20. Januar dann noch einmal auf den 3 1 . Januar verschoben. Schleicher war klar, dass er in der anstehenden Reichstagssitzung mit einem erfolgreichen Misstrauensvo­ tum gegen ihn rechnen musste, zumal die DNVP-Fraktion am 2 1 . Januar ebenfalls ihre offene Opposition angekündigt hatte. Als der Reichspräsident dann auch noch seine Zustimmung zur Ausrufung des "Staatsnotstands" ver­ weigerte, ebenso die von Schleicher noch einmal angesprochenen Gewerk­ schaften und das Zentrum, trat der Reichskanzler am 28. Januar von seinem Amt zurück, um nicht "das zwecklose Schauspiel einer sicheren Niederlage [zu] bieten". Doch ungeachtet Schleichers Rücktritt sah es selbst in den letzten Januar­ tagen noch nicht nach einer Einigung zwischen Hitler, Papen und Hinden-

3. 30. Januar 1 93 3 : Das ,.Kabinett der nationalen Konzentration"

1 65

burg aus. Zwar hatte der Reichspräsident Papen am 28. Januar einen Auftrag zur Regierungsbeteiligung erteilt, doch Papens Sondierungen verliefen zu­ nächst ergebnislos. Schon während eines Treffens zwischen Hitler, Papen und Hugenberg am 27. Januar hatten sich der NSDAP-Vorsitzende und der DNVP-Vorsitzende nämlich über die Frage der Ressortaufteilung zerstritten: Hugenberg lehnte Hitlers Forderung nach der Besetzung des Reichsinnenmi­ nisteriums und des preußischen Innenministeriums mit Vertretern seiner Par­ tei und damit den nationalsozialistischen Zugriff auf die preußische Polizei entschieden ab. Immerhin einigten sich die Beteiligten einen Tag später auf einen Kompromiss: Die NSDAP erhielt zwar beide Innenministerien, doch sollte Papen als Reichskommissar Vorgesetzter des preußischen Innenminis­ ters werden. Überdies boten am Abend desselben Tages Zentrum und BVP ihre Unterstützung an, um eine etwaige Proklamation des Staatsnotstands zu verhindern. Letztlich hing jedoch weiterhin alles von Hindenburg ab, der eine Beru­ fung Hitlers bislang immer abgelehnt hatte. Erst nachdem er glaubte, durch die Berufung Konstantin von Neuraths und General Werner von Biombergs ( 1 878-1 946) die in seinen Augen wichtigsten Ministerien - das Auswärtige Amt und das Reichswehrministerium - dem Einfluss der NSDAP entzogen zu haben, gab er dem Drängen des ihm persönlich verbundenen Papens und sei­ ner engsten Umgebung nach, zumal - in Wirklichkeit haltlose - Gerüchte die Runde machten, Schleicher plane, sich mit Hilfe der Reichswehr wieder an die Macht zu putschen. Dementsprechend ernannte Hindenburg Hitler am 30. Januar zum

Ernen n u n g Hitlers

Reichskanzler. Damit stand der NSDAP-Vorsitzende zwar an der Spitze des

zum Reichskanzler

neuen Kabinetts, doch außer ihm stellten die Nationalsozialisten mit Frick nur noch den Innenminister sowie mit Göring den stellvertretenden Reichskommissar für Preußen. Hingegen wurde Papen Vizekanzler und Reichskommissar für Preußen, der DNVP-Vorsitzende Hugenberg erhielt ein "Superministerium" für Wirtschaft und Landwirtschaft, der "Stahlhelm"-Führer Seldte wurde Arbeitsminister und Biomberg neuer Reichswehrminister. Papen hatte Hindenburg versprochen, die nationalsozialistischen Regierungsmitglieder würden konservativ "eingerahmt" und sich schnell im Amt verschleißen. Hitlers konservative Steigbügelhalter glaubten, in dem neuen Reichskanzler lediglich einen nützlichen Idioten gefunden haben, leicht zu manipulieren und rasch wieder abzuservieren. Hindenburgs Verhalten im Januar 1933 zeigt das Dilemma des greisen Reichspräsidenten, der zwar die Republik in ihrer bisherigen Form abschaffen wollte, dabei aber keinen offenen Bürgerkrieg und keinen direkten Verfas­ sungsbruch verschulden wollte, zumal ihm Letzteres persönlich eine Anklage vor dem Staatsgerichtshof eingebracht hätte. Folglich ließ er sich im Zweifels­ falle immer für eine Lösung gewinnen, die ihm suggerierte, ein etwaiger neuer

1 66

VI.

Das Präsidialkabinett Schleicher 1 932/3 3 : "Querfront" gegen H itler?

Abb. 1 0 Das "Kabin ett der nation a l e n Konzen­ tration", bestehend a u s NSDAP u n d DNVP, re­ g ierte nach H itlers Er­ n e n n u n g zum Reichs­ kanzler a m 30. J a n u a r 1933 b i s zu den Reichs­ tagswa h l e n im März 1933. Vorn e sitzen d von l i n ks Herm a n n Gö­ ring, Adolf H itler u n d Franz v o n Papen.

Reichskanzler besitze eine breite parlamentarische Basis, die ihm ermögliche, die beabsichtigten Verfassungsänderungen von einer Mehrheit der Abgeord­ neten billigen zu lassen. Genau das hatte er Hitler lange Zeit nicht zugetraut und ihn deshalb von der Regierung fern gehalten. Doch Anfang 1933 geriet er unter massiven Druck: durch das offensichtliche Scheitern der "Querfront"­ Konzeption Schleichers und das gleichzeitige Drängen seiner Vertrauten, Hit­ ler zum Reichskanzler zu ernennen. Daraufhin gab er am 30. Januar 1933 nach, zumal er nun auch glaubte, das Gewicht der NSDAP in der neuen Regie­ rung genügend austariert und damit einer etwaigen Diktatur vorgebaut zu ha­ ben. Tatsächlich übertrug er damit die Macht an den erklärten Verfassungs­ feind.

4. "Machterg reifu ng", "Machtü bern a h m e" oder "Machtü bertragung"? Formal betrachtet war auch das neue "Kabinett der nationalen Konzentra­ tion" nur eines jener Präsidialkabinette, wie die Republik sie seit dem Sommer 1930 wiederholt erlebt hatte. Dementsprechend hat die nationalsozialistische Propaganda mit Blick auf den 30. Januar in den Jahren nach 1933 in der Regel von "Machtübernahme" gesprochen. Damit sollte gerade die formale Legalität von Hitlers Regierungsantritt betont werden, ebenso das Planvolle, aber auch

4. ,.Machtergreifung", ,.Machtü bernahme" oder ,.Machtübertragung"?

Ordentliche und Disziplinierte der nationalsozialistischen Regierungsüber­ nahme, im Gegensatz zu den damals ebenfalls gebräuchlichen plakativeren Be­ griffen "deutsche Revolution" oder "Umbruch". Der Terminus "Machtergrei­ fung" wiederum findet sich zwar durchaus schon im "Dritten Reich", doch spielte er keineswegs - wie oft suggeriert - eine prominente Rolle im NS-Voka­ bular, wohl weil er gerade mit Kampf und Eroberung, also vor allem außerpar­ lamentarischen und letztlich illegitimen Mitteln konnotiert wurde. Vielmehr erlebte er erst in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Forschung zur NS-Zeit seine Konjunktur. Dieser Sprachgebrauch sollte jetzt mit besonderem Nachdruck die politisch-moralische Verwerflichkeit der nationalsozialistischen Machenschaften im Vorfeld des 30. Januar 1933 ver­ deutlichen und ausdrücken, dass die Umstände, die Hitler ins Amt des Reichs­ kanzlers gebracht hatten, allenfalls unter formalen Gesichtspunkten als legal bezeichnet werden konnten. Indes darf hierbei nicht übersehen werden, dass die nationalsozialistische Regierungsübernahme eben nur auf die antirepubli­ kanische Agitation und Konspiration von Teilen der traditionellen Eliten in Politik, Wirtschaft und teilweise auch der Reichswehr sowie deren konkreten Intrigen im Januar 1933 zurückzuführen ist. Dieses aktive Tun, das den Natio­ nalsozialisten zuarbeitete und den 30. Januar 1933 überhaupt erst ermöglichte, drückt der Begriff "Machtübertragung" (Heinrich August Winkler) aus. Das neue Kabinett Hitler unterschied sich dann insofern von den vorheri­ gen Präsidialregierungen Brüning, Papen und Schleicher, als seine nationalso­ zialistischen Mitglieder einen radikalen Systemwechsel beabsichtigten. Sie wollten ihre neue Macht nutzen, um in Deutschland eine Diktatur zu errich­ ten, ohne dass diese "Revolution" (Horst Möller) den meisten Zeitgenossen al­ lerdings bereits am 30. Januar 1933 unmittelbar klar gewesen wäre.



Auf einen Blick Die Forschung hat herausgearbeitet, dass das Präsidia lkabinett Schleicher ungeachtet seiner kurzen Dauer keineswegs nur ein l nterm euo war, dem zwangsläufi g die nationalsozial istische Regierungs­ übernahme folgen m usste. Vie l m e h r erscheint es a l s eine reta rdierende Phase, die gerade noch ein­ m a l Spielrä u m e zur Abwendung dieser Entwickl ung eröffnete, sei es in Form des ,.Querfront" - Kon­ zepts, das der neuen Reg ierung eine sta rke gesel lschaftliche u n d damit ggf. auch parlam entarische U nterstützung gegeben hätte, sei es d u rch die Ausrufu n g eines vorü bergehenden Staatsn otsta ndes. Dieses scheiterte a m Widersta n d des Reichspräsidenten, jenes a n dem der kontaktierten Parteien, fü r die aus u nterschiedlichen Gründen m ittlerwe i l e sel bst eine nationalsozia l istische Regierungsbe­ tei ligung i h ren Sch recken verloren hatte. Dennoch zeigt sich hier, dass die nationa lsozial istische Regieru n gs ü berna h m e vom 30. Januar 1 93 3 bis zul etzt keineswegs a lternativlos wa r, sondern ledig­ lich aus einer unseligen Verkettung strukture l ler und persona ler Elemente i n der Endp hase der Wei­ marer Repu b l i k resu ltierte.

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1 68

VI.

Das Präsidialkabinett Schleicher 1 932/3 3 : "Querfront" gegen H itler?

Literatu rh i nweise lan Kershaw: Der 30. Januar 1 93 3 . Ausweg aus der Staatskrise und Anfang des Staatsverfa l l s. l n : Win kler

(Hrsg.), Staatskrise, S. 277-284. Eberhard Kol b/Wolfra m Pyta : Rettung durch Staatsn otsta nd. l n : Win kler (H rsg.), Staatskrise, S. 155-181. Axel Sch i l dt: M i l itärdiktatur mit Massenbasis? Die Querfro ntkonzeptio n der Reichswehrführung u m Genera l

Kurt v o n Schleicher. Fra n kfurt 1981. l rene Stren ge: Kurt von Schleichers Politik im Reichswehrmin isterium am Ende der Wei marer Repub­ l i k. Berl i n 2006. Henry Ash by Turner Jr.: H itlers Weg zur Macht. Der Januar 1933. N euwied 1997.

VII. Sch l ussbetrachtung Mi!!mn!ft•

D

as Ende der Weimarer Republik, welches

schaftskrise, die zusammen in eine finale

durch die Berufung Adolf Hitlers zum

Staats- und Wirtschaftskrise kulminierten,

Reichskanzler besiegelt wurde, ist weder

waren hierfür ebenso ausschlaggebend wie

monokausal zu erklären, noch war es alter­

konkrete politische Entscheidungen sowie

nativlos, wie die seit Jahrzehnten andau­

das persönliche Versagen einzelner Entschei­

ernde Erforschung der Geschichte der Wei­

dungsträger, an der Spitze Reichspräsident

marer Republik bei aller Unterschiedlichkeil

Hindenburgs, im Januar 1933. Insofern war

der Erklärungsansätze ergeben hat. Struk­

die Machtübernahme Hitlers auch keines­

turelle innen- und außenpolitische Belastun­

wegs unabwendbar, sondern hätte bis zu­

gen und die 1929 ausbrechende Weltwirt-

letzt noch verhindert werden können.

Eine Fülle geschichtswissenschaftlicher Darstellungen hat in den letzten Jahrzehnten die Frage nach den Gründen für das Ende der Weimarer Republik zu beantworten versucht. Trotz unterschiedlichster Forsch ungsansätze besteht Übereinstimmung darin, dass eine so komplexe Frage eine multikausale Ant­ wort verlangt - nicht ein Grund war entscheidend, sondern ein ganzes Bündel von Ursachen ist zu benennen, deren Entstehung wiederum teilweise bis in die Gründungsphase des neuen Staatswesens 1 9 1 8/ 1 9 zurückreichte. Stichwort

Forsch ungsansätze

Die wissenschaftl iche Gesch ichtssch rei b u n g über die Wei m a rer Repu b l i k setzte in der Bu ndesrep u b l i k Deutschland erst i n den 1 950er-J a h ren ein, nachdem die Westmächte die von i h n e n a m Ende des Zweiten Weltkriegs erbeuteten Aktenbe­ stä nde s u kzessive a n die westdeutschen Arch ive zu rückgegeben hatten. Das sti­ m u l ierte die Forschu ng, die sich verstä ndl icherweise zunächst auf die Endphase der Wei m a rer Repu b l i k konzentrierte, weil m a n sich hiervon Antworten auf die Frage erhoffte, wie sich der Aufstieg der N 5 DAP und deren Reg ieru ngsübern a h m e i m J a n u a r 1 933 erkl ä rte. F ü r d iese Richtung steht Ka rl Dietrich Brachers Studie "Die Auflösung der Wei m a rer Repu b l i k" von 1 955, die auch i nsofern eine Pion ier­ leistung da rstellte, a l s i h r eine stru kturgeschichtl iche Methode zugrunde lag. I h re u mfassende Ana lyse der vielfältigen Belastung sfa ktoren der Wei m a rer Rep u b l i k, aber auch i h re kon krete Bene n n u n g der Verantwortl ichkeit einzelner Persönl ich­ keiten und gesell schaftl icher Gruppen provozierten ebenso Kritik wie Zusti m­ m u ng und befruchteten die Wei m a r-Forschung der folgenden J a h re. i n den 1 960er- und beg i n nenden 1 970er-J a h ren verl agerte sich der I nteressenschwer­ p u n kt d a n n a uf die Anfangsphase der ersten deutschen Rep u b l i k a l s der Entste-

1 70

VII.

Schl ussbetrachtung

h u n g szeit jener strukture l l e n Defizite, die m ittl erweile m itverantwortlich fü r das Scheitern gem acht wurden. Dabei wurde insbesondere die Frage kontrovers d is­ kutiert, ob wä h rend und u n m ittelbar nach der Novemberrevol ution Ende 1 9 1 8/ Anfang 1 9 1 9 Cha ncen zur weiteren Dem okratisierung d u rch eine stä rkere Schwä­ chung der alten Machtel iten versä umt worden sind. Para l l e l zu d iesen beiden g ro­ ßen Forschungssträngen l ief die wissenschaftl iche Aufarbeitung der m ittleren Phase der Wei m a rer Rep u b l i k - 1 924 bis 1 929 -, wobei die Gesch ichtswissenschaft in einer Vielza h l von Spezialstudien die verm eintliche "Sta bil ität" d ieser Zeit sta rk relativiert hat. Ü berdies beschäftigt sich die Forschung seit den 1 970er-J a h ren auch m it der Wei m a rer Ku ltur, den za h l reichen künstlerischen u n d wissenschaftl i­ chen S pitzen leistungen ebenso wie der Ausbildung einer modernen "Massenkul­ tu r". l n den achtzig er u n d neu nziger J a h ren des 20.J a h rh u nderts rückte d a n n auch die Entwickl ung der pol itischen Ku ltur - tei lweise i m europäischen Verg leich -, ei nsch ließl ich der u nterschiedl ichen sozialen M i l ieus i n nerha l b der deutschen Ge­ sellschaft und der entsprechend d iverg ierenden Menta l itäten i n den Bl ick. Dies schä rfte den Bl ick fü r längerfristige Kont i n u itäten auch zwischen Wei m a rer Re­ p u b l i k und " Drittem Reich", sodass j ü n g st sog a r auf das "gefä h rl iche Potentia l " der ersten deutschen Demokratie verwiesen u n d p rovokativ g efragt wurde: " D i d Wei m a r fa i l ?" (Peter Fritzsche). Heute herrscht i n der Wei m a r-Geschichtsschrei­ bung ein g roßer Method e n p l u ra l ism us, der kultur-, menta l itäts-, sozial- und Wi rt­ schafts- sowie pol itikg eschichtl iche Ansätze umfasst, u n d ein Themenspektrum, das entsprechend breit g efächert ist.

Sicher boten institutionelle und konstitutionelle Geburtsschwächen der jungen Republik einen günstigen Nährboden für die finale Staatskrise Ende der zwanzigerI Anfang der dreißiger Jahre. Überdies motivierten der alliierte Kriegs­ schuldvorwurf und die Reparationsforderungen der Siegermächte einen teil­ weise militanten Revisionismus, der nicht nur jede Einsicht in die eigene Schuld am Kriegsausbruch vermissen ließ, sondern sich auch leicht gegen die angeblich schwächliche Republik richten konnte, zumal diese von den eigentlichen militä­ rischen Verantwortlichen für die Niederlage im Ersten Weltkrieg aus dem Kreis der ehemaligen 3. OHL frühzeitig mit der Dolchstoßlegende belastet wurde. Die innen- und außenpolitische Dauerkrise, in der die Weimarer Repub­ lik dann vor allem in den ersten Jahren ihrer Existenz steckte und in die sie schließlich gegen Ende wieder geriet, schufen fast ständig ein Klima latenter oder manifester "Friedlosigkeit" (Manfred Funke). Dadurch wurden viele Menschen nie heimisch in der neuen Republik oder sie wurden ihr nach vor­ übergehender Akzeptanz Mitte der zwanziger Jahre schon bald wieder ent­ fremdet. Hinzu traten die latent antidemokratischen Denktraditionen, in de­ nen ein größerer Teil der Bevölkerung - insbesondere auch in den politischen, militärischen und wirtschaftlichen Eliten - verharrte und die die politische Kultur vergifteten. Daher hatte die Weimarer Republik immer viele erklärte Feinde, aber nur wenige bedingungslose Freunde: In ihrer zeitgenössischen Bewertung "wurde das Ressentiment zu einem dominierenden Faktor" (Eber­ hard Kolb ).

Schl ussbetrachtung

Vor diesem Hintergrund wuchs sich die Weltwirtschaftskrise Ende der 1 920er-/Anfang der 1930er-Jahre in Deutschland zur Staatskrise aus. Zum einen war offensichtlich der objektive "Problemlösungsdruck zu groß" (Hagen Schulze) , zum anderen wurde der bislang eher latente Überdruss am politi­ schen System der Weimarer Republik nun manifest. Er äußerte sich jetzt selbst bei Vertretern der staatstragenden Kräfte in dem Ruf nach einer "autoritären Demokratie" und einem "starken Mann". Erst recht sahen nun die alten Geg­ ner der Republik auf der Linken wie der Rechten eine Möglichkeit, dem ihnen verhassten Weimarer System den Todesstoß zu versetzen. Hauptnutznießer dieser Entwicklung war schließlich die NSDAP. Sie gewann in der Endphase der Republik die Zustimmung zumindest eines erheblichen Teils der Deut­ schen, indem sie die unleugbaren innen- und außenpolitischen Probleme für ihre suggestive Propaganda nutzte. Indes erwies sich diese Abwendung des Souveräns von dem liberal-demokratischen System erst dadurch als verhän­ gnisvoll, weil sie von verschiedenen Entscheidungsträgern innerhalb des Staatsapparats und an der Spitze von Rechtsparteien und wirtschaftlichen, vor allem (groß- )agrarischen, Interessenverbänden skrupellos für eigene Konspi­ rationen ausgenutzt wurde. Diese zielten zunächst auf eine Schwächung des Parlamentarismus durch die Einsetzung eines Präsidialkabinetts, schließlich auf die gänzliche Aushöhlung der Weimarer Republik durch eine tiefgreifende Verfassungsreform, die ihre reaktionären Anhänger am Ende sogar mit Hilfe Hitlers als dem erfolgreichen nationalsozialistischen "Trommler" zu bewerk­ stelligen hofften. Festzuhalten bleibt, dass dieses Ende der Weimarer Republik keineswegs determiniert war: Das parlamentarische System wurde nach dem Ersten Welt­ krieg in vielen Staaten von Krisen erschüttert; unter den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise litten auch andere Länder erheblich, und auch die jüngst zu Recht betonten "dark shadows of modernity" (Peter Fritzsche) lagen letzt­ lich über der ganzen europäischen Zwischenkriegszeit, allenfalls fielen sie in Deutschland etwas stärker aus. Dies allein aber vermag noch nicht hinrei­ chend zu erklären, warum Deutschland das einzige fortgeschrittene Industrie­ land war, das Anfang der 1930er-Jahre seine Demokratie aufgab und durch eine totalitäre Diktatur von rechts ersetzte: Insofern war "der 30. Januar 1933 [ . ] das unnötige, durchaus vermeidbare Ende einer in der Geschichte von . .

hoch entwickelten, pluralistischen Staatssystemen und Industriegesellschaften ungewöhnlich tiefen, multidimensionalen Staatskrise. [ . ] Ausschlaggebend . .

für den Charakter des Ausweges aus der Krise war die Kombination von Kri­ senlagen: Wirtschaftskrise, Regierungskrise, Krise des Parteiensystems, gesell­ schaftliche Krise, durchgreifende Legitimationskrise an der Spitze und an der Basis" (Ian Kershaw) . Folglich ist die Feststellung einer "Selbstpreisgabe der Demokratie" (Karl Dietrich Erdmann/Hagen Schulze) zumindest missverständlich: Sie reduziert

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1 72

VII.

Schl ussbetrachtung

den komplexen Prozess der Entfremdung großer Bevölkerungsteile vom Wei­ marer Staat unzulässig auf ein Versagen der republikanischen Eliten, ohne die vielfältigen strukturellen Belastungen demokratischer Politik während der ganzen Zeit der Weimarer Republik, vor allem aber im Zuge von deren finaler ökonomischer und politischer Krise zu berücksichtigen. Überdies blendet sie die ursächliche Schuld der radikalen Republikfeinde von links und rechts am Untergang der ersten deutschen Demokratie aus und übersieht die konkreten Intrigen einiger weniger Akteure. Erst sie ermöglichten jene nationalsozialisti­ sche Regierungsbeteiligung, die bis zuletzt vermeidbar war. Der 30. Januar 1933 wiederum markiert den Beginn des "Dritten Reiches", dessen verbreche­ rische Politik nach innen und außen ungeachtet mancher kultureller, mentaler und sozialer Kontinuitäten deutlich abgehoben werden sollte von der vorange­ gangenen Epoche der Weimarer Republik. Offensichtlich brauchte die Verankerung der Demokratie in Deutschland einen noch größeren Umbruch von Gesellschaft und Staat als den von 1 9 1 8 sowie eine weit stärkere Überwachung und Beeinflussung auch des innenpoli­ tischen Systems durch die Siegermächte. Eine solche tiefe Zäsur markierten die Untaten des "Dritten Reiches" nach 1933 und dessen Untergang 1 945. Im Anschluss hieran übten die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs eine umfas­ sende Kontrolle in den von ihnen jeweils besetzten Teilen Deutschlands aus. Insofern beruht der Erfolg der Bonner - jetzt Berliner - Republik der Jahre nach 1 949 eben nicht nur auf einem gelungenen demokratischen Umdenken eines Großteils der deutschen Bevölkerung, sondern auch auf der Patenrolle der westlichen Siegermächte und der zumindest für die Westdeutschen nach 1 945/49 letztlich günstigen weltpolitischen Konstellation. Alles zusammen be­ schied der zweiten deutschen Demokratie jene Dauer, die der ersten versagt blieb. Auf einen Blick Die Gesch ichte der Weimarer Rep u b l i k, insbesondere deren Endp hase, u n d damit das Scheitern der ersten deutschen Demokratie bleiben ein Menetekel, n icht n u r wegen der verhängn isvo l l e n Folgen ­ dem Ersta rken des Nationalsozia lismus u n d der Verbrechen des "Dritten Reiches" -, sondern a u ch, weil sich a n dieser Entwickl u n g zeitlose Gefä h rdungen l i bera ler Demokratien verdeutlichen lassen: der Zusa m m e n h a n g von pol itischer u n d wirtschaftlicher Sta bil ität; die N otwendigkeit eines fu n ktio­ nierenden Pa rlamenta rism us; eine i n der Breite der Gese l l schaft vera n kerte dem okratische Kultur u n d die überparte i l iche Bereitschaft, diese gegenüber m i l itanten Gegnern zu verteidigen. G l eichzeitig l ässt sich a m Beispiel der Weimarer Repu b l i k sehr gut die Verschränkung stru ktu re l l e r und personaler Fa ktoren i m h istorischen Geschehen zeigen. Schließlich bleibt festzuha lten, dass die verbrecherische Politik des "Dritten Reich es" zwa r manche Tendenzen der vorangegangenen Rep u b l i k fortsetzt, ins­ gesamt aber auf jeden Fa l l deutlich abgehoben werden sol lte von der vorangegangenen Epoche der Weimarer Rep u b l i k.

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Auswahlbibl iographie

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Holtfrerich, Cari-Ludwig Alternativen zu Brü nings Wirtschaftspoli­ tik i n der Weltwirtschaftskrise7 ln: Historische Zeitsch rift 235 (1982), S. 605-631. Kritik an Borchardts Argumentation. Holtfrerich, Cari-Ludwig: Zur Debatte über die deutsche Wirt­ schaftspo l itik von Wei mar zu H itl er. l n : Viertelja h rshefte für Zeit­ geschichte 44 (1996), S. 119-132. Resümiert Stand der "Bor­ chardt-Kan traverse".

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Auswahlbibliographie

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Tai l l ez, Felix de: Zwei Bürgerleben in der Öffentlich keit. Die Brüder Fritz Thyssen und Heinrich Thyssen-Bornemisza, Paderborn 2017. Interessante Doppe/biographie, von der jene Fritz Thys­

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Gründung.

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Köster, Roman: Die Wissenschaft als Au ßenseiter. Die Krise der Na­ tio nalökonomie i n der Weimarer Republik, Götti ngen 2011. Un­

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einer Konsumgesellschaft.

eines zentralen Politikfeldes der Weimarer Republik.

der Zeit der Weimarer Republik.

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Brü n i n g, Franziska: Fran kreich und Heinrich Brüning. Ein deutscher Ka nzler i n der fra nzösischen Wah rnehmu ng, Stuttgart 2012.

in der Weimarer Republik, die letztlich nur wegen der katastro­

Quellengesättigte Untersuchung des französischen Brüning-Bil­

phalen A uswirkungen der Weltwirtschaftskrise abbrachen.

des.

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reparationspolitische

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Obstruktionspolitik

Wirtschaftskrise Ende der

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Auswahlbibl iographie

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Krüger, Peter: Das u n berechen bare Europa. Epochen des I ntegrati­ onsprozesses vom späten 18. Jahrh u n dert bis zur Europäischen U n ion, Stuttgart 2006. Profunde A nalyse der Geschichte von In­ tegration und Desintegration auch in der Zwischenkriegszeit

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Pohl, Karl Heinrich: Gustav Stresema n n. Biographie eines Grenz­ gängers, Götti ngen 2015. Thematisch angelegter biographischer Abriss.

Rödder, Andreas: Stresema nns Erbe: J u l i u s Curtius und die deut­ sche Außenpo l itik 1929-1931, Paderborn u.a. 1996. Betont überwiegende Kontinuität zwischen der Außenpolitik Strese­ manns und der seines Nachfolgers.

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Gesellschaft, Mentalitäten, Politische Kultur

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Ahrens, Rüdiger: Bündische Jugend. Eine neue Gesch ichte 1918-1933, Götti ngen 2015. Quellengesättigte Studie zur Ver­ ortung der Bündischen Jugend in der deutschen Rechten.

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Auswahlbibliographie

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Goltz, Anna von der: Hindenburg. Power, Myth, and the Rise of the Nazis, Oxford 2009. Studie über die gesellschaftliche Konstruk­ tion und Wirkung des Hindenburg-Mythos.

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Schwierigkeiten bei der Herausbildung einer positiven Identität

Untersuchung

der Weimarer Republik.

Gruppen.

der

Kriegserinnerungen

pro-republikanischer

Personen- und Sachregister Abegg, Wilhelm 137 Abrüstungskonferenz 72, 93, 98, 131, 144, 150 Agrarkrise 13, 78, 80 Agrarpo l itischer Apparat 122 Alldeutscher Verba nd 101 Al lgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund (ADGB) 22, 23, 51, 151-154, 158 Altonaer Bl utson ntag 136 Amonn, Alfred 16 Anschl uss 92-93 Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen 20, 23, 26, 86, 88, 143, 150, 153 Arbeitslosenu nterstützung 29, 34 Arbeitsl osenversicheru ng 11, 25, 29, 30, 63, 65-67, 69, Arbeitslosigkeit 21, 26, 32-34, 87-88, 118, 120, 123, 131, 134 Arndt, Ernst Moritz 91 " " Ausgesteuerte 30 Baade, Fritz 23 Bank für I nternationalen Za h l u n gsausgleich 97, 143 Banken krise 11, 19, 21, 84, 95, 97 Bauernpartei 54 Bayerische Vo l kspartei (BVP) 35, 45, 53-54, 56-57, 121, 125, 165 Berl iner Verkeh rsstrei k 148 Bernstorff, Johann Heinrich G raf von 98 Blomberg, Werner von 165 Borchardt-Kontroverse 88, Boxheimer Dokumente 39, 124 Bracher-Conze-Kontroverse 106 Bracht, Fritz 151 Bra u n, Magnus Freiherr von 133, 158 Bra u n, Otto 56, 68, 83, 100, 132-133, 135-136, 138-140, 149, 161 Bredt, Johann Viktor 73 Breitscheid, Rudolf 79 Briand, Aristide 55, 62, 92 Briand-Kellogg-Pakt 62 Brüning, Heinrich 9-10, 15, 20, 24, 30, 43, 48, 66, 72, 73, 76-83, 86-92, 94-95, 97-100, 102-108, 124, 133-136, 143-145, 149, 153-154, 158, 167 Bül ow, Bern hard von 90 Bürgerblock 35, 82 Bund zur Erneueru ng des Reichs 3 6 Cassel, Gustav 16 Christliche Gewerkschaften 22, 77, 151, 154

Ch ristl ich-Nationale Bauern- und Landvol kpartei 153 Curti us, J u l ius 57, 64, 90-93, 95 Darre, Richard Walther 122 Dawes, Charles G. 11-12, 14, 53, 59, 61 Dawes-Pian 11-12, 14, 53, 59, 61 Deflationspol itik 15, 20-21, 24, 26-27, 83, 84, 86, 88, 94, 97, 104, 107, 108 Deterd ing, Henri 128 Deutsche Arbeiterpartei (DAP) 110, 117 Deutsche Demo kratische Partei (DDP) 17, 35, 47, 48, 51, 53-58, 61, 67-68, 73, 121, 125 Deutsche Staatspartei 47, 141, 147 Deutsche Studentenschaft 123 Deutsche Vol kspartei (DVP) 14-15, 35, 36, 43, 46, 53-58, 65-67, 70, 73, 83, 90, 100, 116, 121, 125-126, 133, 141, 147, 152 Deutscher Herrenklub 42, 43 Deutsch natio nale Vol kspartei (DNVP) 14, 27, 35, 38, 42-43, 46, 54, 59-61, 73, 76, 79, 80-81, 83, 101, 104, 116, 120-121, 125, 126, 133, 135, 137, 141, 147, 150, 152-153, 159, 164-166, Deutschnationaler H a n d l u ngsgehi lfenverba nd 152 Deutsch-österreichische Zol l u n i o n 90, 92-94 Diels, Rudolf 137 Dietrich, Herma n n 22, 57, 67, 108 " " Dol chstoßlegende 37, 170 Dräger, Heinrich 23 Drexler, Anton 110-111 " " Drittes Reich 8, 38, 105, 114, 167, 170 Duesterberg, Theodor 101 Ebert, Friedrich 38, 103, 138 " " Ebert-G roener-Pakt 103 Eckart, Dietrich 111-112 Eiserne Front 50-51 Erster Weltkrieg 12, 15, 18-21, 37, 39, 47, 55, 57, 61, 70, 72, 77, 80, 87, 93, 95-96, 103, 110, 113, 115, 123, 132, 151, 159, 170, 171 Europaplan (Briands) 92-93 Fasch ismus 44, 45, 51 Feder, Gottfried 24, 116, 156 Ford, Henry 128 Freie Gewerkschaften 22, 66, 139, 152 Freiwi l l iger Arbeitsdienst 144, 152-153 Frick, Wilhelm 111, 117, 156, 165 Fü nfu ndzwa nzig-Pu n kte-Progra m m 24, 110

Personen- und Sach register

Gayl, Wilhelm Freiherr von 40, 133, 135, 138, 145, 146, 147, 151 Gereke, G ü nther 23, 151, 153 Gessler, Otto 37 Gewerkschaften 21, 22, 24, 28, 65, 66, 77, 101, 139, 151-154, 158-160 Gil bert, Parker 12 Goebbels, Joseph 113-116, 139, 156 Göring, Hermann 128, 165 Groener, Wi l h e l m 57, 75, 103 Große Koal ition 30, 35-36, 54, 57, 59, 65, 67, 69, 70-71, 82 " " Grüne Fro nt 104-105 G uerard, Theodor von 57 Gürtner, Franz 111, 133 " " H arzburger Front 61, 101, 104, 109, 120, 164 Hayek, Friedrich Aug ust 16 Heß, Rudolf 112 Hilferding, Rudolf 19-20, 57, 66, 69 Hinden burg, Oskar von 104, 164 Hinden burg, Pa u l von 37, 56, 60, 70, 73, 75-77, 79, 81, 96, 100-102, 104-108, 129, 132, 136, 138, 145, 147-148, 150, 158, 160, 164-165 " " Hindenburg-Kabinett 73, 75 Hirtsiefer, Heinrich 138 H itl er, Adolf 15, 24, 26-27, 60, 61, 83, 97, 100-102, 108-117, 120, 126-127, 129, 130, 136, 141-143, 150-151, 155-157, 159-160, 162-167 H itlerjugend 49 H itler-Ludendorff-Putsch 109, 114 Hofma n nsthal, Hugo von 41 Hoover, Herber! 72, 86, 95-97 Hoover-Moratori u m 72, 95-97 H ugen berg, Alfred 46, 60, 76, 79-81, 159, 164-165 I nflatio n 15, 18, 20, 28, 87, 112, 156 Ja hoda, Marie 32-33 J u n gdeutscher Orden 47-48 " " J u n i kl u b 43 Kaas, Ludwig 46-47, 67 Kal ckreuth, Eberhard G raf von 129 Kam pfbund für deutsche Kultur 122 Kapp-Putsch 133, 139 Keppler, Wilhelm 128 " " Keppl er-Kreis 128 Kerrl, Hans 137 Kessler, Harry Graf 82, 134 Keudell, Wa ller von 153 Keynes, John Maynard 21, 88

Kirdorf, Emil 127 Kl epper, Otto 138 Koch-Weser, Er ich 41, 57 Ko m m u n istische Partei Deutschlands (KPD) 10, 14, 22, 38, 45, 49-51, 54, 58, 66, 80, 81-82, 115, 121, 125-126, 135-138, 140-142, 147-149, 161 Konferenz von Lausa n n e 131, 143 " " Konservative Revo l ution 41 Konservative Vol kspartei 80 Kreuger, lvar 128 " " Krisenu nterstützung 29, 31 Külz, Wilhelm 141 Landbund 104, 116 Landvo l k-Beweg ung 42 Landvol k-Partei 54 Lautenbach, Wilhelm 21 Lazarsfeld, Paul 32-33 Leipart, Theodor 152-153 Ley, Robert 156 Lienau, Waller 123 Locarno-Verträge 55, 62,-63, 71, 89-91 Ludendorff, Erich 37, 103, 112 Ludwig, Emil 45 Luther, Hans 23, 35-37, 95 " " Lutherbund 37 MacDonald, Ramsey 69, 95 " " Machtergreifung 118, 127, 130, 166-167 Mahraun, Arth u r 47 Marienthal 32-33 " " Marsch auf Rom 45 Marschl er, Wi l l i 117 Marx, Wil helm 19, 35, 37, 58, 67 Meißner, Otto 37-38, 75, 104, 142, 164 Mierendorff, Carlo 39 Minderheitsregieru ng 35 Mittel europa-Pläne 91 Moel ler van den Bruck, Arth ur 42-43, 45 Moldenha uer, Pa u l 66-67 Mord von Potempa 141 M ü l l er, Herma n n 35, 53, 54, 55-58, 63, 66, 69-70, 76-77, 79, 92 M ussol i n i, Ben ito 45 Natio nalökonomie 17, 19, 21-22, 76 Nationalsozial istische Betriebszel lenorgan isation 22, 122 Nationalsozial istische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) 10, 14, 22, 24, 26-27, 42, 47, 49-51, 59-61, 79, 81--83, 88, 101-102, 105, 107, 109-131, 135-137, 139-143, 147-166, 169, 171

1 85

1 86

Personen- und Sach register

Natio nalsozial istischer Deutscher Ärztebund 122 " " Neuer Staat 10, 36, 38, 41, 145, 147, 162 Neurath, Konsta ntin Freiherr von 133 N orman, Montag u 95 " " Notsta ndsartikel 37 N otverord n u ngen 72-74, 76, 78-80, 83, 85, 89, 133, 137 N ovem berrevo l ution 22, 28, 68, 163, 170 " " Organisierter Kapita l ismus 20 Osth ilfe 78, 81, 103-104, 153 Ott, Eugen 147-148 Ott-Pia nspiel 147 Panzerkreuzer 57-58, 63 Papen, Fra nz von 10, 15, 23, 36, 40, 43, 99-100, 128, 131-133, 135-145, 147-150, 154-155, 158-167 Pfeffer von Salomon, Fra nz 114 Pieck, Wilhelm 79 Pöhner, Ernst 87 Popitz, Johan nes 66 " " Präsidenten krise 160 Präsidia l kabinett 10, 30, 36, 48, 69, 72, 75, 77, 81, 100, 102, 108, 129, 131, 133, 135, 142, 149-150, 161, 166-167, 171 Preußen 36, 38, 50-51, 56, 58, 68, 83, 109, 114, 135, 138-140, 151, 165 " " Preußensch lag 10, 44, 131, 136, 138 Pünder, Herma n n 93, 96, 138 " " Querfront -Konzept 10, 150-151, 154, 158, 160-162, 166, 167 Rat der Vo l ksbeauftragten 28, 64, 103 Reichsa nsta lt für Arbeitsvermittlung und Arbeits losenversicheru ng 29, 65 Reichsausschuss fü r das Vo l ksbegeh ren 53, 59-61 Reichsba nner " Schwarz-Rot-Gold " 49-51 Reichsexekutio n 137, 139 Reichskuratori u m fü r J ugendertüchtigung 152 Reichslandbund 101, 104-105, 116, 122, 129, 153, 158 Reichspräsident 36-39, 43-44, 47, 50, 59-60, 69-78, 81, 83, 86, 89, 91, 96-97, 100-108, 124, 130-138, 140-142, 145-150, 156, 159-160, 164-165, 167, 169 Reichspräsidentenwa h l 50, 100 Reichstag 11, 25, 35, 39, 48-50, 53-56, 58, 60-61, 66, 72-83, 89-90, 103, 105, 109, 120, 131, 133-134, 137, 141, 143, 145, 146-147, 151, 153-154, 157, 160, 162 Reichstagswahlen 24, 26, 35, 41, 46-47, 53-54, 72, 109, 119, 121, 125, 131, 138, 140 Reichswehr 75, 77, 91, 99, 103-104, 110-112, 135, 148, 153-155, 160, 162, 165, 167 Reinhart, Friedrich 128

Reparationen 12, 14, 16, 89, 92, 94, 96-98, 131, 134, 143, 149 Republiksch utzgesetz 48-49, 112 Reusch, Pa u l 128, 158-159 Reventlow, Ernst Graf zu 79 Revol utionäre Gewerkschaftsoppositio n (RGO) 22, 148 Rhei n l a n d rä u m u n g 31, 55, 59, 77, 90-91, 113 Ribbentrop, Joach i m zu 164 Roedern, Siegtried G raf von 37 Rö h m, Ernst 112 Röpke, Wilhelm 21 Rosen berg, Alfred 122 Roter Fro ntkä m pferbund 50 " " Ruhreisenstreit 53, 63 Schacht, Hjal mar 13, 61, 66, 101, 128-129 Schäffer, Hans 86-87, 94 Schäffer, Hugo 133, 151 Schätze!, Georg 57 Schiele, Marti n 73, 153 Schlan ge-Sch öni ngen, Hans 103, 153 Sch l eich er, Kurt von 15, 75-76, 100, 102-104, 133, 135, 138, 141, 145, 149-151, 153-162, 164-165, 167 Schl ichtungsverfa h ren 64 Schmitt, Carl 44, 146 Sch moll er, Gustav 17 Schober, Johan nes 92 Scholz, Ernst 46, 67 Schroeder, Kurt Freiherr von 163-164 Schuber!, Carl von 49, 63 Sch u m peter, Joseph 21 " " Sch uss von B ü h l erhöhe 56 Sch utzstaffeln (SS) 50, 72, 102, 115, 117, 124, 131, 136 " " Schwa rzer Freitag 11, 13-14, 52 Schweri n von Krosigk, Lutz Graf 133 Seeckt, Hans von 101 Sel dte, Fra nz 101, 164-165 Severi ng, Carl 48-49, 57, 64, 69, 135, 138, 163 Silverberg, Pa u l 22, 159 Simons, Hans 40 Sombart, Werner 16-17 Sozia ldemokratische Partei Deutschlands (SPD) 10, 15, 19-20, 26, 28, 35-36, 39-40, 45-46, 49-51, 53-58, 61, 65-68, 70, 76, 79-83, 88, 101-102, 115, 121, 125-127, 133, 135, 137-141, 147, 150, 152-153, 156, 158, 161 " " Sozia lfasch ism us 50 Sozialstaat 27-28, 30 Spengl er, Oswa ld 42 Staatsnotsta nd 145-146, 159, 161, 168 Sta h l h e l m 59, 61, 91, 101, 164, 165 Sta u ß, Emil Georg von 128

Personen- und Sach register

Stegerwa ld, Adam 22, 76, 87 Steg mann, Wi l h e l m 157 Stennes, Wa ller 117 " " Stennes-Revolte 117 Steuerg utscheine 15, 144, 154 Sti n n es-Legien-Abkommen 28, 159 Stra ßer, Gregor 24, 25, 114--116, 127-128, 143, 151, 155-159, 161 Stra ßer, Otto 114, 115-116 Stresemann, Gustav 13, 35, 46, 53, 55-57, 62-63, 67, 71, 90, 92, 99-100, 108, 144 Sturmabtei l u n g (SA) 50, 72, 102-03, 112, 115, 117, 122-124, 127, 131, 136, 139, 141-142, 157 Syrup, Fried rich 151 Tarnow, Fritz 23, 152 Tat-Kreis 27, 42 Tech nische Noth ilfe 162-163 Thyssen, Fritz 127, 129 To lerieru ngspo l itik 80, 83, 135, 161 Torg l er, Ernst 137 Treviran us, Rei n h o l d 73 "Tributa ufruf" 94--95 Verfassu ngsreform 36, 38, 147, 171 Versa i l l er Vertrag 12, 21, 43, 56-57, 60, 62, 70, 72, 88, 90, 92-93, 98-99, 110-112, 134, 144 Vögl er, Al bert 128 Völ kerbund 98-99, 135, 144--145 Vo l ksbegeh ren 53, 59-60, 101, 109 Vo l ksentscheid 53, 60, 62 " "Vo l ksgemeinschaft 27, 41, 113, 151 Vo l kskonservative Verei nigung 81, 152

Wagema n n, Ernst 23 Wagen er, Otto 24 Warmbold, Herma n n 22, 133, 158 Weber, Alfred 16-17, 40 Weber, Max 17 Weimar-Forsch ung 8, 139, 169 ,,Weimarer Koa l ition " 35, 46, 51, 54-56, 82-83, 135 Weimarer Reichsverfassu n g (WRV) 28, 35, 37-38, 43-44, 48, 60, 73-74, 78, 93, 108, 131, 137, 146, 149 Weltwirtschaftskrise 5, 8-9, 11, 13-14, 16-22, 27, 30, 34, 45, 51-53, 63, 72, 89, 91, 100, 103, 119-120, 123, 152, 171 Westarp, Kuno Graf von 60, 80 Wi l h e l m I I. 103 Wirth, Joseph 82 Wirtschaftspartei 54, 73, 116 Wissell, Rudolf 49, 57, 63, 67 Wohlfa h rtsunterstützung 29, 31 Wolff, Otto 159 Wolff, Theodor 45 Woytinsky, Wladimir 23, 152 WTB-Pian 23 Young, Owen D. 53, 59 Young-Pian 9, 14, 53-54, 59, 60-61, 65, 67, 70, 73, 79, 80, 86, 92, 94-97, 101, 109, 116, 120 Zeh rer, Hans 42 Zeisel, Hans 32-33 Zentrum 35, 45--46, 53-58, 67-68, 73, 76, 79, 82-83, 100, 121, 124--125, 133-134, 137, 140-141, 150, 154, 164--165 Zusa m m en bruchstheorie 19 Zyklentheorie 17

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