Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand: Nebst Abhandlungen über Plotinus, Thomas von Aquin, Kant, Schopenhauer und Auguste Comte 9783787327355, 9783787300129

Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand nebst Abhandlungen über Plotinus, Thomas von Aquin, Kant,

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German Pages 168 [181] Year 1969

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Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand: Nebst Abhandlungen über Plotinus, Thomas von Aquin, Kant, Schopenhauer und Auguste Comte
 9783787327355, 9783787300129

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FRANZ BRENTANO

DIE VIER PHASEN DER PHILOSOPHIE und ihr augenblicklicher Stand nebst Abhandlungen über Plotinus, Thomas von Aquin, Kant, Schopenhauer und Auguste Comte Mit Anmerkungen herausgegeben von OSKAR KRAUS Neu eingeleitet von FRANZISKA MAYER-HILLEBRAND

VERLAG VON FELIX MEINER HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 195 Erste Auflage 1926 Zweite, auf Druckfehler durchgesehene, sachlich unveränderte Auflage 1968

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der 2. Aufl. von 1968 identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­ sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0012-9 ISBN eBook: 978-3-7873-2735-5 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1968. Alle Rechte vor­ behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­f rei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Inhaltsverzeichnis Einleitung von Franziska Mayer-Hillebrand . . . . . I. Die vier Phasen der Philosophie und ihr augenblicklicher Stand (1895) . . . . . . . . . . II. Plotinus ("Was für ein Philosoph manchmal Epoche macht") (1876) . . . . . . . . . . III. Thomas von Aquin (1908) . . . . . . . . IV. Über Kants Kritik der Gottesbeweise (1911/12) V. Schopenhaner 1911/12) . . . . . . . VI. Auguste Comte (1869) . . . . . . . VII. Über voraussetzungslose Forschung (1901) Anmerkungen Brentanos zu den vier Phasen der Philosophie*) . . . . . . . . . . . . Anmerkungen des Heransgebers zum Gesamtwerk**) Namen- und Sachregister . . . . . . . . . . .

•) Die Anmerkungen Brentanos sind durch Ziffern kenntlich. ••) Die Anmerkungen des Herausgebers sind durch Sternchen kenntlich.

Seite

VII 3 35 63 83 91 99 137 147 157 165

Einleitung Für die von 0. Kraus in der Phil. Bibliothek (Bd.195, 1926) herausgegebene Sammlung von Vorträgen und kleineren Abhandlungen F. Brentanos ist der Titel nach der ersten Abhandlung gewählt, die viel Zustimmung, aber auch mancherlei Widerspruch hervorgerufen hat. Dies trat schon zu Tage, als Brentano am 28. November 1894 vor der "Literarischen Gesellschaft" in Wien einen Vortrag über dieses Thema hielt, und mehr noch, als die vorliegende Abhandlung in 1. Auß. 1895 bei Cotta erschienen war. Die Geschichte der Philosophie sei, führt Brentano aus, durch eine eigentümliche Gesetzmäßigkeit charakterisiert. Während andere Wissenschaften einen stetigen Fortschritt zeigen, der nur zuweilen durch eine Zeit des Stillstandes unterbrochen wird, ist die Geschichte der Philosophie, ähnlich wie die Geschichte der schönen Künste, durch einen Wechsel von Aufstieg und Verfall gekennzeichnet, der sich in Altertum, Mittelalter und Neuzeit wiederholt. Vier Phasen seien in diesem Wechsel feststellbar. Die erste Phase umfaßt die ganze aufsteigende Entwicklung. Sie ist charakterisiert einerseits durch ein lebendiges und reines theoretisches Interesse und andererseits durch eine naturgemäße, gesunde Methode. - Im Altertum begann diese erste Phase mit den Jonischen Naturphilosophen, bei denen das Staunen über die Rätsel der Welt den Wissenstrieb entzündete. Die von ihnen in Anwendung gebrachten Methoden ~aren zwar vielfach noch primitiv und verbesserungsbedürftig, doch schwangen sich diese frühen griechischen Philosophen von Erfahrung zu Erfahrung und von Hypothese zu Hypo-

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Einleitung

these empor, bis es nach 300 Jahren zur Ausbildung von so weitumfassenden Theorien kommen konnte, wie die bereits allgemeingültige Erkenntnisse anstrebende Ideenlehre Platons und vor allem die Philosophie des Aristoteles. Dann aber traten an die Stelle des rein theoretischen Interesses praktische Bedürfnisse; die Philosophie sollte z. B. als Religionsersatz oder als Stütze staatlicher Autorität dienen. Dies brachte eine gewisse Verflachung und Popularisierung mit sich, was sich im Altertum besonders deutlich in den Systemen der Stoa und des Epikureismus zeigte. Brentano bezeichnete dieses Stadium als die erste Phase des Verfalls. Die Popularisierung und damit der Mangel an wissenschaftlicher Strenge philosophischer Gedankengänge führte als Reaktion eine Periode der Skepsis herbei, die nun als zweites Verfallsstadium folgte. Die radikalere Form (Pyrrhonismus) spricht dem Verstande die Fähigkeit zu sicherer Erkenntnis überhaupt ab oder beschränkt sie auf die kümmerlichsten Überreste. Die mildere Form, vertreten vor allem durch die Eklektiker, ließ nur Wahrscheinlichkeitsurteile gelten ; volle Sicherheit des Erkennens sei nicht erreichbar. Da aber die Skepsis auf die Dauer nicht zu befriedigen vermag, versuchte man durch phantastische Mittel und unnatürliche Methoden Erkenntnisse zu erlangen. Man nahm intuitive Kräfte, mystische Steigerungen des psychischen Lebens an, die zu unmittelbaren Einsichten führen sollten. Brentano nennt dieses dritte Stadium des Absinkens die Phase des äußersten Verfalls und weist als Beispiel dafür besonders auf den Neuplatonismus hin, als dessen Vertreter er Plotinus hervorhebt. Ähnlich verlaufe die Entwicklung in Mittelalter und Neuzeit. Gegen diese Gesetzmäßigkeit, die Brentano aus der Erfahrung abstrahieren und aus der Organisation des menschlichen Geistes erklären zu können glaubte, wurden aber eine Reihe von Einwänden vorgebracht. Leicht zurückzuweisen ist der Einwurf, daß die angeführten Stadien nicht scharf getrennt werden können, was, wenn es sich um ein Gesetz im strengen Sinne handeln würde, der Fall sein müßte. Brentano war sich

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selbstverständlich bewußt, daß die einzelnen Phasen nicht deutlich gesondert aufeinander folgen, er wollte sie nur nach dem in ihnen vorherrschenden Charakter kennzeichnen. Nicht auf ein aus den Begriffen einleuchtendes Gesetz, das allgemein und ausnahmslos gilt - wie etwa der Satz des Widerspruchs beabsichtigte er hinzuweisen, sondern auf eine Gesetzmäßigkeit oder Regelmäßigkeit, die sich in der Geschichte der Philosophie beobachten läßt. Auch der Einwand, daß die Geschichte der Philosophie durch Brentanos Einteilung in sehr ungleiche Perioden zerfällt, was unschön und unbefriedigend sei, ist unschwer abzuweisen. Es komme, meint Brentano, nicht darauf an, alle Erscheinungen mit gleicher Ausführlichkeit zu behandeln, sondern darauf, das Wesentliche und Wichtige hervorzuheben. Eine eingehendere Auseinandersetzung würde jedoch der von verschiedenen Seiten her gegen Brentanos Phasenlehre erhobene Vorwurf verlangen, daß sie unhaltbar sei, weil sich "untragbare Konsequenzen" aus ihr ergeben. Man hat, was schon 0. Kraus in seiner Einleitung hervorhob, nicht nur Anstoß daran genommen, daß ein Plotinus (s. Abhdl. li. des vorliegenden Bandes) in die vierte Phase eingereiht wurde, sondern viel mehr noch, daß in neuerer Zeit Fichte, Schelling, Regel, Schopenhauer und andere hoch angesehene Philosophen von Brentano in diese Phase des äußersten Verfalls versetzt wurden. Kant würde wegen seiner "synthetischen Urteile a priori" dieses Stadium gewissermaßen einleiten. Dieser Einwand wurde in verschiedenen Varianten wiederholt, als Brentanos von mir herausgegebenen Vorlesungen über die "Geschichte der griechischen Philosophie" (Francke Verlag, Bern 1963) erschienen, die nicht nur einleitend auf das "Gesetz der Vier Phasen" hinweisen, sondern auch nach dem Gesichtspunkt angeordnet sind, daß die Perioden der Aufwärtsentwicklung in höherem Maße unser Interesse in Anspruch nehmen sollten, als die Zeiten des Verfalls. Ich will hier nur H. Bergmanns Besprechung: "Brentano and the History of Greek Philosophy" (Philosophy and Pheno-

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Einleitung

menological Research, Vol. XXVI, Nr. I, pg. 94ff.) kurz anführen. Das "Gesetz der Vier Phasen" habe, meint Bergmann, "devastating consequences for Brentanos school" gehabt. Aber sicher kann es nicht als Kriterium für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Theorie gelten, ob ihr größerer oder geringerer Erfolg beschieden ist. Überdies mehren sich die Anzeichen dafür, daß Brentanos Bedeutung immer mehr zur Anerkennung gelangt, so daß die behaupteten "devastating consequences" nicht beunruhigend erscheinen. Wie sich 0. Kraus ausdrückte, ist "Brentano nicht der Philosoph von gestern, sondern von morgen" (Vorwort zu "Wahrheit und Evidenz"). H. Bergmanns Sympathien für viele der Philosophen, die Brentano in seine Verfallsperioden einordnete, sind unverkennbar. Es sei ihm zugegeben, daß er sowohl die Anhänger E. Husserls wie die Existentialphilosophen verschiedener Schattierung auf seiner Seite hat. Im Band "Die Abkehr vom Nichtrealen" (Francke Verlag, Bern 1966) werden die Argumente Brentanos behandelt, die, wenn sie nicht in überzeugender Weise widerlegt werden können, allen Schulen, die Nichtreales anerkennen, ja gewissermaßen zu ihrem Fundament machen, den Boden entziehen. Es kann hier nicht im einzelnen auf Brentanos Begründung seines Standpunktes eingegangen werden, doch möchte ich hervorheben, daß die kurze Abhandlung "Die Vier Phasen der Philosophie" darum besonders bemerkenswert ist, weilsie den Wechsel zwischen Aufstieg und Verfall als Ergebnis unseres geistigen Entwicklungsganges darstellt und durch Beispiele verdeutlicht. Brentanos Theorie geht, wie C. Stumpf berichtet ("Lebensläufe aus Franken" Bd. II. Würzburg 1918), schon in das Jahr 1860 zurück; sie enthält nicht nur Brentanos Auffassung über die Entwicklung der Geschichte der Philosophie, sondern ein Arbeitsprogramm, das sein ganzes Leben hindurch unverändert geblieben ist. Wir finden seine Forderung, am wissenschaftlichen Charakter der Philosophie festzuhalten, und den Kampf gegen jene

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Systeme, die Spekulationen an die Stelle genauester, immer wieder überprüfter Beobachtungen und gewissenhafter Deduktionen setzen - wenn auch nicht immer mit Heranziehung der Phasentheorie - in vielen anderen seiner Schriften. So in den übrigen, aus verschiedenen Jahren stammenden Abhandlungen des vorliegenden Bandes, in der "Psychologie vom empirischen Standpunkt" (I. Aufl. 1874), in der Abhandlung: "Nieder mit den Vorurteilen!", die den wichtigsten Teil des Bandes "Versuch über die Erkenntnis" (Bd. 194 der Phil. Bibl.) ausmacht, in der Sammlung "Über die Zukunft der Philosophie" (Bd. 209 der Phil. Bibl.), im Band "Die Abkehr vom Nichtrealen" (Francke Verlag 1966); im weiteren Sinne eigentlich in allen Werken Brentanos. Um Brentanos Einstellung ins rechte Licht zu setzen und zu zeigen, daß es ihm nur um die Erhaltung des wissenschaftlichen Charakters der Philosophie zu tun war und nicht etwa um persönliche Polemik, sei noch eine Stelle aus seinem Vorwort zu "Die Vier Phasen der Philosophie" (S. 4) zitiert. "Im übrigen sei noch bemerkt, daß man mich durchaus mißverstehen würde, wenn man glaubte, ich wollte jenen epochemachenden Denkern, die ich nicht als wahre Förderer der Philosophie verehren kann, deshalb etwas von ihrer ungewöhnlich hohen Begabung absprechen. - So möge man denn insbesondere auch da, wo ich von Kant handle, meine wahre Meinung über den außerordentlichen Geist nicht verkennen." Was Brentano mit seiner Theorie von den vier Phasen anstrebt, ist, darauf hinzuweisen, daß eine geistige Entwicklung in einer bestimmten Weise von Aufstieg und Abstieg verläuft. Damit ist es, wie schon 0. Kraus in seiner Einleitung hervorgehoben hat, durchaus vereinbar, daß Vertreter verschiedener Phasen nebeneinander leben und wirken, ja daß in einer und derselben Persönlichkeit sich die Merkmale verschiedener Perioden nacheinander zeigen. Nie hat Brentano die Hoffnung auf einen neuerlichen Aufschwung der Philosophie aufgegeben. Dieser werde, so vertraute er, eintreten, wenn die Philosophen zu den "eigent-

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Einleitung

liehen, lauteren Quellen" zurückkehren, wenn die wissenschaftliche Methode, die Schritt für Schritt voranschreitet und das Gewonnene immer von neuem überprüft, wieder Grundlage der Philosophie geworden ist. Innsbruck, Oktober 1967 Franziska Mayer-Hillebrand

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DIE VIER PHASEN DER PHILOSOPHIE UND IHR AUGENBLICKLICHER STAND

Die erste Auflage der Schrift trug die Widmung: Der Akademischen Jugend von Österreich-Ungarn zum Ausdruck meiner Dankbarkeit für so viele Zeichen wärmster Teilnahme herzlich zugeeignet.

Vorwort Was ich hier biete, ist ein am 28. November 1894 vor der "Litterarischen Gesellschaft in Wien" gehaltener Vortrag. Man hatte mich ersucht, mit Rücksicht auf ein Werk, das der Verein herausgegeben, vor der Versammlung zu sprechen; und in der Tat wird, wer das Buch ,,Der grundlose Optimismus" von H. L o r m gelesen, für keines seiner wesentlichen Momente die Kritik vermissen. Wem es aber unbekannt ist, dem wird der Vortrag darum nicht minder verständlich sein. Sein Inhalt steht für sich selbst. Die vornehmsten philosophischen Interessen der Gegenwart werden in dem Vortrage berührt. Seine Auffassung der Geschichte der Philosophie mag manchen als neu befremden; mir selbst steht sie seit Jahren fest und wurde auch seit mehr als zwei Dezennien, wie von mir, so von einigen Schülern den akademischen Vorlesungen über Geschichte der Philosophie zu Grunde gelegt. Daß sie Vorurteilen begegnen, und daß diese vielleicht zu mächtig sein werden, um beim ersten Anprall zu weichen, darüber ergebe ich mich keiner Täuschung. Immerhin hoffe ich von den vorgeführten Tatsachen und Erwägungen, daß sie bei dem, welcher denkend folgt, nicht ohne Eindruck bleiben können. Ich habe mich bemüht, dem Verständnis möglichst jede Schwierigkeit zu nehmen. Kurze Noten, am Schlusse beigefügt, verfolgen unter anderm die Ab-

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Vorwort Brentanos

sieht, dem mit der Geschichte weniger Vertrauten die chronologische Ordnung sichtlich zu machen. Im übrigen sei noch bemerkt, daß man mich durchaus mißverstehen würde, wenn man glaubte, ich wolle jenen epochemachenden Denkern, die ich nicht als wahre Förderer der Philosophie verehren kann, deshalb etwas von ihrer ungewöhnlich hohen Begabung absprechen. In seinem Urteil über den wissenschaftlichen Wert des Hegeischen Systems bin ich mit Schopenhauer einig; in seiner Verachtung der geistigen Kraft des Mannes kann ich ihm unmöglich beipflichten. So möge man denn insbesondere auch da, wo ich von Kant handele, meine wahre Meinung über diesen außerordentlichen Geist nicht verkennen. Seine Leistungen für die Naturwissenschaft, ähnlich wie die eines Proklus für die Mathematik, bleiben von dem über sein philosophisches System Gesagten ohnehin ganz unberührt. W i e n , 18. Januar 1895. Franz Brentano.

Hochgeehrte Versammlung! 1. Hieronymus Lorm hat in seiner Schrift "der grundlose Optimismus"1 ) uns ein Buch geschenkt, das die vornehmsten philosophischen Fragen behandelt. Die Litterarische Gesellschaft in Wien hat es verlegt und wünscht heute, daß ich mit Bezug darauf vor Ihnen spreche. Nun hat ein vereinzelter philosophischer Vortrag - wenn man nicht unter lauter eigentlichen Fachmännern sich findet - immer etwas Mißliches. Man isoliert, was tatsächlich durch mannigfache Beziehungen mit anderem verknüpft ist. Was das allgemeine Interesse am lebhaftesten erweckt, ist nicht, was der allgemeinen Einsicht am besten zugänglich gemacht wird. Denn das, offenbar, sind die elementaren Fragen. Aber hier ist die Betrachtung unscheinbar und trocken; man ahnt zunächst gar nicht, wie sie in entfernter Wirkung an das Erhabenste rühren, und, wenn man bei ihnen verweilte, so würde man dem schlimmsten der übel verfallen, man würde langweilig werden. Diesmal hatte ich auch gar nicht die Möglichkeit zu einem solchen einfachsten Gegenstand zu greifen; durch die Rücksicht auf das Werk von Lorm war das Gebiet, aus dem ich das Thema zu wählen hatte, mir in gewisser Weise abgegrenzt. Trotz alledem habe ich Ihrem Rufe Folge geleistet. Indem die Litterarische Gesellschaft ein ernstes philosophisches Werk veröffentlicht, gibt sie kräftig schön

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Die vier Phasen der Philosophie

gegen diejenigen Zeugnis, welche die Teilnahme für Philosophie in weiterem Kreis für erloschen erklären.') Es ist dies eine Tat, die Anerkennung und Dank verdient.') 2. Das Buch von Lorm besitzt hohe Vorzüge. Der großherzige Sinn des Verfasserslebt in seinem Werke, und es ist reich, teils an geistvoll anregenden, teils an schneidig scharfsinnigen Bemerkungen. Denn auch auf die Kritik anderer geht Lorm ein und verweilt viel bei der Würdigung sowohl der Tageserscheinungen, als der geschichtlichen Entwickelung, die zu den heutigen philosophischen Zuständen führte. Seinen eignen Aufstellungen fehlt es nicht an Originalität. Eher möchte ich sagen, daß das allzustarke Hervortreten subjektiver Eigentümlichkeit ihre Allgemeinbedeutung in Frage stelle. Zugleich aber erweist sich Lorm doch wesentlich als echtes Kind seiner Zeit. Schon die Wahl des Themas deutet auf die pessimistischen Tagesströmungen hin. Und ebenso lebt in dem Verfasser die hohe Ehrfurcht vor Kant, die für unsere Zeit charakteristisch ist; ja dies auch mit der jetzt gemeinüblichen Unterscheidung: die Kritik der reinen Vernunft wird hochgefeiert, sie gilt Lorm als der gesicherte Ausgangspunkt aller künftigen Forschung; die Kritik der praktischen Vernunft dagegen wird als gänzlich unhaltbar und "brüchig" verworfen. Indem nun Lorm, wie erwähnt, sich viel bemüht, Licht über die philosophische Gegenwart und ihre Vorgeschichte zu verbreiten, finde ich mich veranlaßt, dieses auch meinerseits zu versuchen. Und es scheint mir dies ratsamer als ein Eingehen in jene eigentümlichen Stimmungen, die Lorm als "grundlosen Optimismus" bezeichnet hat; sagt er doch selbst am Schlusse des Buches: "Nur einzelnen . . ... sind diese Betrachtungen gewidmet; sie wenden sich nicht an

Aufstieg und Abstieg in der Philosophiegeschichte 7 Korporationen, nicht an die Kollektivvernunft von Vereinen"') -also offenbar auch nicht an die Kollektivvernunft des Literarischen Vereins in Wien selbst, der das Werk verlegt. 3. Die Geschichte der Philosophie ist eine Geschichte wissenschaftlicher Bestrebungen, und hat darum in gewissen Beziehungen Ähnlichkeit mit der Geschichte anderer Wissenschaften. In anderen Beziehungen aber zeigt sie sich von ihr verschieden und mehr der Geschichte schöner Künste analog. Während andere Wissenschaften, solange sie überhaupt betrieben werden, einen stetigen Fortschritt aufweisen, der nur einmal durch eine Zeit des Stillstandes unterbrochen wird, zeigt die Philosophie, wie die schöne Kunst, neben den Zeiten aufsteigender Entwickelung Zeiten der Decadence, die oft nicht minder reich, ja reicher an epochemachenden Erscheinungen sind als die Zeiten gesunder Fruchtbarkeit. Dabei findet sich eine gewisse Gesetzmäßigkeit. Wie bei der schönen Kunst verschiedene Perioden in Entwickelung und Verfall ihr Gemeinsames und Analoges aufweisen, so verläuft die Geschichte d{'r drei großen Perioden, welche die abendländische philosophische Forschung unterscheiden läßt, in wesentlich analoger Weise. In der Periode des Altertums, des Mittelalters und der Neuzeit bis zum Zusammenbruch der Hegeischen Geistesherrschaft lassen sich je vier Stadien unterscheiden, die bei aller Verschiedenheit sich doch innerliehst verwandt sind, so zwar, daß für den der einmal darauf aufmerksam geworden, die Ähnlichkeit unverkennbar ist. Kulturpsychologische Erwägungen einfachster Art machen auch diese merkwürdige Übereinstimmung vollkommen begreiflich. Die erste Phase, die ich meine, umfaßt die ganze aufsteigende Entwickelung. Ihr Beginn ist immer durch ein doppeltes charakterisiert:

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Die vier Phasen der Philosophie

e in m a l durch ein lebendiges und reines theoretisches Interesse - durch das Staunen, sagten mit Recht schon Platon und Aristoteles, sind die Menschen zuerst zu philosophischen Forschungen getrieben worden-; dann durch eine wesentlich naturgemäße, wenn auch gewiß noch mannigfacher Ausbildung bedürftige Methode. Mit ihrer Hilfe entwickelt sich die Wissenschaft, teils indem sich die Hypothesen vervollkommnen, teils indem die Untersuchung sich ausdehnt und neue Fragen in Angriff nimmt. Die zweite Phase ist die, welche das erste Stadium des Verfalles bildet. Dieser wird jedesmal eingeleitet durch eine Schwächung oder Fälschung des wissenschaftlichen lnteress98. Irgendwelche praktische Motive werden nunmehr vornehmlich für die Forschung bestimmend. lnfolge davon wird sie nicht mehr gleich streng und gewissenhaft betrieben. Es fehlt den Gedanken an Kraft und Tiefe, und wenn statt der Tiefe eine gewisse größere Breite gewonnen wird, und weitere Kreise an den popularisierten Lehren einer philosophischen Sekte teilnehmen, so ist dies doch für den Verlust der eigentlich wissenschaftlichen Energie kein wahrer Ersatz. Bei so verschlechtertem Zustand kömmt es nun zu einer Art geistiger Revolution, die das zweite Stadium des Verfalles bildet. Es ist die Epoche der vorherrschenden Skepsis. Die unwissenschaftlich gewordene Wissenschaft hat l"ich des Vertrauens unwürdig gemacht; es wird ihr versagt. Ja weitergehend wird nun überhaupt dem Verstande die Fähigkeit zu irgendwelcher sicheren Erkenntnis abgesprochen, oder doch dieselbe auf die kümmerlichsten Überreste beschränkt. Aber die Skepsis ist nicht etwas, was das menschliche Begehren befriedigt. "Alle Menschen", sagt Ari-

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stoteles in den berühmten Eingangsworten zu seiner Metaphysik, "streben von Natur nach dem Wissen." Das natürliche Verlangen nach Wahrheit, von der Skepsis in seinem Laufe gehemmt, bricht sich gewaltsam Bahn. Mit krankhaft gesteigertem Eifer kehrt man zum Aufbau philosophischer Dogmen zurück. Zu den natürlichen Mitteln, mit welchen die erste Phase gearbeitet, erdichtet man sich ganz unnatürliche Erkenntnisweisen, Prinzipien, die ohne alle Einsicht sind, geniale unmittelbar intuitive Kräfte, mystische Steigerungen des intellektuellen Lebens, und bald schwelgt man in dem vermeinten Besitz der erhabensten, alles menschliche Vermögen weit übersteigenden Wahrheiten. Hiemit ist das äußerste des Verfalls gegeben. Der Gegensatz zu dem Zustand, der zur ersten gedeihlichen Forschung geführt, ist der ausgesprochenste. Man meint, alles zu wissen, und weiß nichts; denn man weiß nicht einmal das eine, was man beim Beginn der Periode gewußt und schmerzlich sehnend gefühlt hatte, - nämlich daß man nichts weiß. 4. Blicken wir zunächst auf die Periode des A I t ert ums , um zu sehen, wie ihr Verlauf der eben gegebenen Schilderung wirklich entspricht. Die griechische Philosophie hob an mit der J o n is c h e n N a tu r p h i I o s o p h i e. Es ist ganz deutlich, wie das Staunen über die Rätsel der Welt hier den regsten Wissenstrieb entzündete. An a x a gor a s , einer der größten unter den J oniern, vernachlässigt die Verwaltung seiner Güter und verzichtet, da die Verwandten ihn darob schelten, leichten Herzens auf sein ganzes Vermögen, um frei der Forschung sich hinzugeben. Auch von seiner politisch bevorzugten Stellung als Aristokrat will er keinen Gebrauch machen. Er lehnt es auf das entschiedensta ab, sich der Verwaltung seiner Vaterstadt anzunehmen. ,,Der

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Himmel", sagt er, "ist mein Vaterland, und die Betrachtung der Gestirne ist meine Bestimmung." Und, wie ein lebendiges und reines theoretisches Interesse, so besitzen diese ältesten Hellenen auch eine naturgemäße Methode. Es mag dies wundernehmen, indem viele- und auch Comfe hat das Vorurteil begünstigt, heute die Meinung hegen, daß die Menschen zunächst ganz sach- und naturwidrig vorgegangen und erst sehr spät auf eine entsprechendere Forschungsweise verfallen seien. Aber bei der Kindheit der Menschheit war es ähnlich, wie bei der Kindheit jedes einzelnen. La v o i sie rl) macht darauf aufmerksam, wie rasch unsere Kinder von Entdeckung zu Entdeckung fortschreiten, von der Natur selbst den richtigen Weg der Forschung geführt. Wer das neue, von B i 11 r o t h') hochbewunderte Werk von T h e o d o r Go m p er z7 ) über die griechischen Denker zur Hand nimmt, mag sich anschaulich davon überzeugen, daß ich dem Verfahren der alten Jonier eine nicht unverdiente Anerkennung zollte.•) Mit solchem Interesse und mit solcher Methode arbeitet sich nun die griechische Philosophie empor. Die Hypothesen vertiefen sich; die Fragen vervielfältigen und verflechten sich, und es kömmt cchließlich zum Aufbau weitumfassender Lehrsysteme. Nach dreihundert J ahren•) ist bereits ein wissenschaftlich so bedeutendes Werk wie die Philosophie des Ar is t o t e 1 e s möglich geworden.*) Dieser aber war dann auch die letzte große Erscheinung des aufsteigenden Stadiums der antiken Philosophie; alsbald nach ihm beginnt das erste Stadium des Verfalles, und zwar ganz deutlich in der Weise, daß das theoretische Interesse einem praktischen Interesse weicht. 5. Das ganze griechische Leben war damals in einem Zustand der Auflösung. Der Glaube an die Volks-

Der Verfall der griechischen Philosophie

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religion war dahin, und auch die Autorität der altüberlieferten staatlichen Einrichtungen war gebrochen. Nicht sowohl aus theoretischem Bedürfnis, sondern vor allem in praktischer Beziehung wurde die Philosophie als N othelferin angerufen. Die S t o a•) und der E p i k u r e i s m u s10) mit ihrem einseitig praktischen Charakter sind die beiden Schulen, welche dieses erste Stadium des Verfalles im Altertum vertreten. In beiden Systemen unterschied man drei Teile der Lehre; eine Ethik, Logik und Physik. Aber Logik und Physik führten eine kläglich herabgedrückte Existenz als Dienerinnen der Ethik, wobei zugleich diese selbst in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung sank; sehr natürlich, weil ohne ein tieferes Studium der menschlichen Natur weder über ihre Aufgabe noch über die Wege zu deren Erfüllung Klarheit zu gewinnen ist. Verlor die Schule an Tiefe, so nahm sie dafür an Breite zu. Die Anhänger des Epikur waren ungleich zahlreicher als die Schüler des Platon oder Aristoteles gewesen. Und wenn keinen, der seine Lehre wissenschaftlich fortbildete, so hat doch Epikur unter seinen Anhängern einen genialen Dichter11) gefunden, wie er weder den Platonismus, noch auch, wenn man nicht die späte Zeit der Göttlichen Komödie einbezieht, die peripatetische Philosophie jemals verherrlicht h~t. 6. Es folgt darauf das zweite Stadium des Verfalles, das der Skepsis. In zweifacher Form tritt sie in der Geschichte des Altertums auf. Die mildere ist die der Neueren Akademie"), die überall nur Wahrscheinlichkeit, in keiner Frage also jene Sicherheit für erreichbar erklärt. welche definitiv die Möglichkeit des Irrtums ausschließt. Die strengere Form ist die des sog. P y r r h o n i s m u s. P y r r h o , nach dem die Schule sich nennt, hatte schon zur Zeit Alexanders des Großen gelebt, aber zunächst mehr Befremden er-

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weckt, als Beifall geerntet. •) Anders wurde es in der späteren Zeit, als der Dogmatismus der Stoiker und Epikureer abzuwirtschaften begann. A e n es i d emus11), Agrippa16), Sextus Empirikus15), die bedeutendsten Männer der Richtung, gehörten dieser Epoche an. Neben den milderen und strengeren Skeptikern sind auch noch die E k 1 e k t i k c r zu nennen. Indem diese es sich erlaubten, von den verschiedenen Schulen aufzunehmen und zurückzuweisen, was ihnen beliebte, vermochten sie selbst zu keiner festen Überzeugung zu gelangen. Cicero, der vornehmste unter den Eklektikern"), fühlt sich darum ausgesprochenermaßen den Skeptikern der neueren Akademie wesentlich verwandt. Bedenkt man, wie in der späteren Zeit des Epikureismus und Stoizismus auch in diese Schulen mehr und mehr ein Eklektizismus eindrang, so erkennt man, wie in Wahrheit damals alle Philosophie von einer gewissen skeptischen Stimmung angekränkelt war. Die weitesten Kreise der Gesellschaft waren davon ergriffen. Wenn J esus, vor P il a tu s stehend, ihm erklärt, er sei in die Welt gekommen, um der Wahrheit Zeugnis zu geben, so entgegnet dieser ihm skeptisch mit der Frage: "Wahrheit, was ist Wahrheit!'' 7. Aber auch bei dieser Skepsis ist es im Altertum nicht geblieben. Es erfolgte vielmehr die gewaltigste Reaktion, die man sich nur denken kann. Die j u d a is i e r e n d e n P 1 a t o n i k e r 17), die N e u p y t h a gor e e r 18) gehören ihr, und hiemit dem dritten Stadium des Verfalles der antiken Philosophie an. Die weitaus bedeutendste Erscheinung dieser Klasse ist aber der Neuplatonismus, der in der Welt des Intelligibeln schwärmt und schwelgt. Am m o n i u s S a k k a s18), P 1 o t i n 20 ), Porphyr i u s11 ), J a m b 1 i c h u s22 ), P r o k 1 u s 21 ) und viele andre

Die letzte Phase der griechischen Philosophie

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waren gefeierte, ja vergötterte Schulhäupter. Für die mangelnde Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit der Natur wurde von Proklus und andern die künstlichwillkürlich gebildete Regelmäßigkeit eines triadischen Systems als Surrogat verwendet. Soviel mag zur Bewährung unsers Gesetzes von den vier Phasen der Philosophie bezüglich des Altertums genügen. 8. Wenden wir uns zum Mittelalter. Wir finden hier deutlich dasselbe Schauspiel. Die germanisch aufgemischten Völker des Abendlandes, ebenso wie die Araber, zeigen sich alsbald vom regsten Wissenstrieb ergriffen. Und sofort wird auch herausgefunden, welcher unter den alten Denkern für sie der wahre Meister des Wissens werden kann. Mit einer staunenswerten Vollkommenheit eignen sich die Scholastiker in relativ kurzer Zeit11) das durch die Unkenntnis des Griechischen so wesentlich erschwerte Verständnis des Arietoteies an. Weder Alexander von Aphrodisias noch Simplicius hatte ihn auch nur entfernt so vollkommen als der große Lehrer des dreizehnten Jahrhunderts, Tho ma s von A q u in o11), verstanden. Das wäre ohne eine gewisse kongeniale Denkweise unmöglich gewesen; und diese hat denn auch Thomas, sowohl in andern Stücken, als insbesondere in der in politischer Philosophie so vorgeschrittenen, berühmten Schrift ,,De regimine principum" bewährt. Weiche weiteren Fortschritte durfte man da nicht erhoffen! 9. Aber sieh da! unmittelbar nach Thomas beginnt für die mittelalterliche Philosophie der Verfall. Es ist deutlich zu erkennen, daß eine Schwächung und Fälschung des reinen wissenschaftlichen Interesses zu ihm führte. Die vorzüglichsten Träger der philosophischen Wissenschaft im Mittelalter waren die beiden großen

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Die vier Phasen der Philosophie

Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner. Beide hatten angesehene Lehrer hervorgebracht; doch durch Albert den Großen und Thomas von Aquino hatte schließlich der Dominikanerorden alle Leistungen der Franziskaner in Schatten gestellt. Das erregte bei diesen eine nicht geringe Eifersucht. Und so wurde denn, da in D u n s S c o t u s18) den Franziskanern ein energischer und fruchtbarer Schriftsteller erwuchs, dieser von ihnen als Führer auf den Schild erhoben. Jeder Franziskaner wurde auf seine Lehre, wie alsbald dann auch jeder Dominikaner auf die des Thomas verpflichtet. Die Wahrheits- und Weisheitsliebe entartete nun in pure Rechthaberei. Alle Beobachtung und gewissenhafte Berücksichtigung widerstrebender Tatsachen trat zurück. Durch eine spitzfindige, ja ins Sinnlose gehende Distinguiererei wurde jede noch so wohlbegründete Objektion dialektisch scheintot gemacht. Duns Scotus erfand sogar zu den zwei althergebrachten Weisen der Distinktion, der realen und begrifflichen, eine dritte, die er die formale nannte, die kleiner als die erste, größer als die zweite sein sollte, bei der sich schlechterdings nichts Klares denken, mit der sich aber um so leichter in Worten herumstreiten ließ.17) Die Disputiersucht wuchs ins Ungeheuerliche. Der Scotist Franz von Maironis führte in Paris den großen actus Sorbonnicus ein18), eine wahrhaft grausame Menschenschinderei, worin sich ein armer Disputax volle zwölf Stunden lang (eine kleine Mittagspause ausgenommen) gegen jeden, der seinen dialektischen Fehdehandschuh aufhob, verteidigen mußte. Wenn die Scholastik noch heute wegen ihrer unfruchtbaren Subtilitäten verrufen ist, so verdankt sie es dieser Epoche, die wir die S c o t i s t i s c h e nennen können. 10. Das also war hier das erste Stadium des Verfalles; und es führte naturgemäß zum zweiten, zum

Die vier Phasen im Mittelalter

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Stadium der Skepsis. Dieses ist im Mit.telalter durch den Nominal i s m u s•) vertreten. Seine revolutionäre und skeptische Tendenz ist schon vielfach bemerkt worden. W i l h e l m von 0 c c a m 28 ) verwirft nicht bloß die Realität der Universalien; alle unsre Vorstellungen sollen nach ihm nur Zeichen sein, die, wie der Rauch mit dem Feuer, mit dem Gegenstande, dessen Zeichen sie sind, keine Ähnlichkeit haben. In bezug auf die erhabensten Fragen erklärt er: eine Erkenntnis Gottes als eines erkennenden, schöpferischen, unendlichen Wesens durch Vernunftgründe ist unmöglich; ebensowenig können wir wissen, ob im Menschen etwas geistig und unsterblich ist; und auch eine natürliche Moral gibt es nicht; denn Gott kann befehlen, was er will; er könnte ebenao Lüge als Wahrhaftigkeit, Ehebruch als eheliche Treue, Mord als Schonung des Nächsten, ja er könnte den Haß Gottes selbst gebieten, und dieser würde dann verdienstlich sein. Der Einfluß der kirchlichen Autorität im Mittelalter war ein sehr mächtiger und stellte sich hemmend diesen skeptischen Tendenzen entgegen. Die Nominalisten aber suchten sich ihm zu entziehen; und sie taten es, indem sie der Kirche ihr Kompliment machten und erklärten, daß sie die Wahrheit ihrer Lehren nicht im geringsten antasteten. Sie selbst seien davon überzeugt, daß sie theologisch wahr seien, während sie sie allerdings ebenso entschieden für philosophisch falsch erklären müßten. Mit dieser Unterscheidung zweier entgegengesetzter Wahrheiten war natürlich das Wesen der Wahrheit selbst gänzlich annulliert. 11. Aber gegen diese Skepsis erhob sich gegen Ende des Mittelalters eine neue und mächtige Reaktion. Bekannt ist das Auftreten zahlreicher und hervorragender Mystiker in dieser Epoche. Meister

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Die vier Phasen der Philosophie

E c kha r d t 10), Tau 1 er11), Heinrich Su so"), Johannes Ruysbroek13), sowie der Verfasser der Deutschen T h e o 1 o g i e, die Luther herausgab"), gehören mit andern hierher. Der große Kanzler Gers o n 81 ), der, als der bedeutendste Mann seiner Zeit, das Konsta.nzer Konzil leitete, führt mit Recht den Namen des Mystikers. Und neben der religiösen Mystik finden wir philosophische Spekulationen, die vermöge einer neuen, bisher unerhörten und durchaus unnatürlichen Methode sich in kühnem Fluge zu unnahbaren Zinnen der Wahrheit erheben wollen. Ich nenne hier nur einerseits die Lu 11 ist e n, andrerseits den berühmten deutschen Kardinal Ni k o 1 aus Cu s an u s. Im dreizehnten Jahrhundert schon war in Spanien ein edler aber schwärmerischer Geist aufgetreten, Ra y m und u s Lu ll u s•'). Er hatte sich eine neue logische Methode ersonnen, die er die Ars magna nannte. Auf konzentrischen, vereinzelt drehbaren Kreisscheiben wurden Begriffe aufgezeichnet, und dadurch die verschiedenartigsten Kombinationen hergestellt. Es ist offenbar nicht abzusehen, wie auf solche Weise der Natur ihre Geheimnisse abgelauscht werden sollen. Aber Lullus versprach sich von dieser Erfindung, die ihm vom Himmel eingegeben schien, das Allerhöchste und machte sich mutig daran, Trinität, Erbsünde, Inkarnation und Erlösungstod aus bloßer Vernunft apodiktisch zu erweisen. Bei seinen Zeitgenossen hatte dieser seltsame Mann nicht eben viele Anhänger gefunden, aber im vierzehnten Jahrhundert mehrte sich die Zahl der Lullisten, so daß unter Gerson die Pariser Universität notwendig fand, ausdrücklich die große Kunst zu verdammen. Die Lullisten hatten für die Schriften ihres Meisters eine grenzenlose Verehrung. Der alte Bund, sagten sie, sei dem Vater, der neue dem Sohn, die Lehre des Lullus

Die mystische Phase im Mittelalter

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dem hl. Geist zuzuschreiben. Sie sei nicht durch Nachdenken zu erforschen, noch durch Unterricht zu erlernen; ihr Verständnis sei nur durch höhere Eingebung zu erlangen möglich. Noch im Zeitalter der Reformation, wo selbst Giordano Bruno eine große Meinung von der Weisheit des Lullus hatte, waren die Lullisten so zahlreich, daß Paul IV., ähnlich wie früher Gregor XI., die Lehre verdammte und seine Schriften verbot. Mehr noch als bei den Lullisten zeigt sich der kühne Aufschwung, den in dieser Epoche, im Gegensatz zur vorangegangenen, die Spekulation nimmt, bei N i k o1 aus Cu s an u s17), der ebenfalls noch auf Giordano Bruno Einfluß übt. Er nannte seine Lehre ,,Docta ignorantia", "Gelehrte Unwissenheit". Unter ihr versteht er eine Unwissenheit, die ein alles Wissen übersteigendes Erkennen ist. Er nennt es ein "Schauen ohne Begreifen", ein "unbegreifliches Begreifen", ,,Spekulation", ,,Intuition", "Mystisch9 Theologie", ,,Dritter Himmel", "Weisheit" u. dergl. Das niederste Erkennen ist die Sinneswahrnehmung (sensus). Höher als diese steht die Vernunft (ratio). Über beide aber erhebt sich unser weitaus höchstes geistiges Vermögen, die intellektive Einsicht (intellektus). Der Sinn erkennt nur durch Bejahung, die Vernunft durch Bejahung und Verneinung, die intellektive Einsicht dagegen nur durch Verneinung. Das Gesetz des Widerspruchs besteht auf ihrem Gebiete nicht; vielmehr gilt hier geradezu das entgegengesetzte Prinzip, das der Koinzidenz der Gegensätze18). In der kühnsten Weise werden vermöge dieses übervernünftigen Denkverfahrens Gott, Kreatur und die Einheit von Gott und Kreatur in der Inkarnationapriori konstruiert"). So sehr ich bedaure, nicht durch ausführlichere Mitteilungen die Art und Weise dieser letzten originellen mittelalterlichen Spekulationen anschaulich machen zu

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Die vier Phasen der Philosophie

können, so glaube ich doch, reicht auch das Wenige hin, um zu zeigen, daß sie meiner allgemeinen Charakteristik des vierten Stadiums jeder großen Gesamtperiode der Philosophie ebenso, wie im Altertum die Spekulation der Neupythagoreer und Neuplatoniker, entspricht. Wenden wir uns also sofort zur N e u z e i t. 12. Die dritte Pel'iode hebt an mit B a c o n von Ver u 1 a m und Des c arte s10). Der energische, reine Wissenstrieb jener Zeit ist bekannt. Ebenso aber sehen wir sie deutlich zu der natürlichen Methode zurückkehren. Die Erfahrung wird als die große Lehrmeisterin geehrt. Mit B a c o n s Namen ist der Gedanke an induktive Forschungsweise bis heute untrennbar verknüpft. •) Ähnlich wandte sich Des c arte s der Beobachtung der Tatsachen zu. Als einer seine Bibliothek zu sehen verlangte, führte ihn Descartes in ein Nebenzimmer, worin kein einziges Buch, aber, an der Wand aufgehängt, ein geschlachtetes Kalb zu sehen war, das er zum Behuf physiologisch-psychologischer Untersuchungen zerlegt hatte. ,,Das", sagte er, "ist die Bibliothek, aus der ich mir meine Weisheit hole." Die nächsten Nachfolger blieben der Erfahrungsmethode treu. Lock e11) hat auf solchem Wege Vieles und Treffliches geleistet. Und auch Leib n i z1') tat noch manchen guten psychologischen Blick. Nur ließ die Zersplitterung seiner Tätigkeit ihn nur den kleinsten Teil seiner genialen Kraft der Philosophie zuwenden. 13. Aber alsbald tritt eine Störung ein, ähnlich wie sie nach einer ungleich längeren aufsteigenden Entwickelung im Altertom eingetreten war. Es war in der Tat die Zeitlage in mehrfacher Beziehung jener der beginnenden griechischen Decadence

Die absteigenden Phasen der Neuzeit

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ähnlich. Die Volksreligion übte auf die Gemüter die alte Macht nicht mehr aus, und auch auf politischem Gebiet kam alles überlieferte ins Wanken. Wiederum sollte überall die Philosophie das Aushilfsmittel liefern. Das reine theoretische Interesse wurde somit abermals durch ein praktisches verdrängt. Und die gleiche Folge wie im Altertum trat ein. Die Philosophie verflachte, und trotz der zahlreichsten Teilnahme gewann sie nicht, sondern verlor nur an wissenschaftlicher Bedeutung. Die sog. f r a n z ö s i s c h e und die sog. d e u t s c h e A u f k 1 ä. r u n g , trotz aller ihrer inneren V erschiedenheit sind beide für das Gesagte Belege. Jene könnte etwa als eine Verfiachung der Lockeschenu), diese als eine V erflachung der Leibnizschen Philosophie~') bezeichnet werden. Hume11 ) macht darauf aufmerksam, wie Lockes Schriften eigentlich kaum mehr gelesen würden, und nur oberflächlichere philosophische Schriftsteller das Publikum beherrschten. 14. So war das erste Stadium des Verfalles eingetreten. Und sofort folgte dann das zweite Stadium, das der Skepsis. D a v i d H u m e") ist es, der dieses Stadium in der dritten großen Periode der Philosophie vornehmlich vertritt17). Es ist dies zu bekannt, als daß es nötig wäre, es durch eingehendere Besprechungen seiner Lehre zu begründen. Auch weiß man, wie der Stachel seiner Skepsis nicht bloß in seiner Heimat, sondern auch in Deutschland, das jetzt neben England das ergiebigste Feld für die Pflege philosophischen Denkens wurde, sich fühlbar machte. Kant sagt geradezu, er sei durch David Hume aus seinem dogmatischen Schlummer geweckt worden. 15. Und sieh da! auf diese Skepsis folgt wieder die mächtigste Reaktion, welche mittels unerhörter und unnatürlicher Mittel die Erkenntnis zu retten, ja, in

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Die vier Phasen der Philosophie

weiterer Fortbildung, in überschwänglicher Weise zu erweitern sucht. In England fand diese Reaktion statt durch die sog. Schottisch e S c h u le , die heutzutage unter den Deutschen allzuwenig beachtet zu werden pflegt. T h o m a s Re i d 11), ihr Gründer, behauptete, daß in dem Bewußtsein aller Menschen eine Summe primitiver Urteile lägen, deren wir gewiß seien, obwohl sie uns nicht einleuchteten. Er nannte sie "common sense'', "gemeinen Menschenverstand". Es sei möglich, daß wir uns in ihnen täuschten, aber, darum unbekümmert, müßten wir sie glauben und könnten darauf eine Wissenschaft gründen. So - aber nur so - lasse sich der Skeptizismus überwinden. In Deutschland war es K an t 11), der sich die Aufgabe stellte, das Wissen gegenüber der Rumeschen Skepsis zu retten. Und er verfuhr in wesentlicher Beziehung ähnlich wie Reid. Kant behauptet, die Wissenschaft verlange zum Untergrunde eine Anzahl von Prinzipien, die er synthetische Erkenntnisse a priori nennt. Sieht man genau zu, was er darunter verstehe, so findet man, daß er damit Sätze meint, die uns von vornherein feststehen sollen, ohne einleuchtend zu sein,•) also eine Summe primitiver Urteile von dem Charakter, den nach Reid die Urteile haben, die er als "common sense" zusammenfaßt. Aber nun kommt etwas, was Kant eigentümlich ist. Während Reid nicht das geringste tut, um die offenbare Unvernunft der Forderung, auf blinden Vorurteilen ein Wissen aufzubauen, zu beschönigen, sinnt Kant auf ein Mittel, ein scheinbar so unsinniges Verfahren zu rechtfertigen. Und das führt ihn darauf, daß es unter einer Voraussetzung gestattet sein werde, auf solchen blinden Vorurteilen zu bauen, nämlich wenn wir annehmen, daß die Gegenstände Diese sich nach diesen Vorurteilen richteten. •)

Reid und Kant

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Annahme also müßten wir machen. Während man, sagt Kant, bisher annahm, unsre Erkenntnis richte sich nach den Dingen, nehmen wir jetzt an, die Dinge richteten sich nach unsrer Erkenntnis. Unter der früheren Annahme war der Skeptizismus unüberwindlich. Nun aber wird auf Grund der synthetischeu Urteile a priori sein Angriff siegreich zurückgeschlagen werden können. Das wäre nun alles sehr schön, wenn nur nicht von den beiden Annahmen die alte als die einzig naturgemäße, die neue dagegen als eine widernatürlich kecke Behauptung erschiene. Indes Kant sucht sie plausibler zu machen, indem er darauf hinweist, wie ein Teil der Gegenstände, auf welche sich unser Forschen bezieht, und zwar die sämtlichen Erfahrungsgegenstände, Phänomene und, als Phänomene, von unsrer Subjektivität mitbedingt seien. Nur für diesen Teil der Gegenstände sollen darum unsre synthetischen Erkenntnisse a priori gelten, und über sie und über den Bereich möglicher Erfahrung hinaus ein Wissen schlechthin unmöglich sein. Und so entfallen denn nach Kant, wie nach Hume, die erhabensten Untersuchungen, über Gott, Unsterblichkeit, Freiheit, Anfang oder Anfangslosigkeit, Begrenztheit oder Unbegrenztheit des Weltalls usw. usw. So sehr das menschliche Gemüt hier nach Erkenntnis lechzen mag, man kann ein Wissen darüber schlechterdings nicht erlangen. Das war also zunächst ein sehr partieller Erfolg in dem Streben, dem Skeptizismus seine Beute zu entreißen; - wenn es überhaupt ein Erfolg war. Denn eigentlich ist dies schlechtweg zu leugnen. Gegenstände, die Phänomene von uns sind, •) mögen allerdings in ihrer Eigentümlichkeit von unsrer Subjektivität irgendwie mitbestimmt sein; daß aber deshalb irgendwelches blinde Vorurteil, das wir hegen, sich in

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Die vier Phasen der Philosophie

bezug auf ihren Verlauf bewähren werde, ist damit noch keineswegs dargetan. Nehmen wir ohne weiteres an, dies sei der Fall, so ist das eine logische Unzulässigkeit, und es trifft, wenn wir auf dieser Annahme eine Wissenschaft aufbauen wollen, unser Verfahren der alte Vorwurf der Skeptiker von der Willkür der Prinzipien in vollstem Maße. Kant indes wird sich dieser Schwäche seiner Lehre nicht bewußt. Was ihm Bedenken erregt, ist nicht ein Zweifel an der Sicherung des phänomenalen Wissens, sondern das Bewußtsein, daß er den besten und erhabensten Teil der Erkenntnis den Skeptikern habe preisgeben müssen. Und da erdenkt er sich denn einen andersartigen Ersatz. Sind die synthetischen Erkenntnisse a priori etwas, was wir blind glauben müssen, so ist das Dasein Gottes, so ist die Unsterblichkeit der Seele, so ist die Freiheit des Willens etwas, was wir blind glauben s oll e n. Sie sind Postulate der reinen praktischen Vernunft. Einsicht in ihre Wahrheit besitzen wir keine; aber unsre Überzeugung von ihnen mag darum nicht weniger zuversichtlich sein; ich werde an ihr mit nicht minderer Kraft als an meiner eigenen sittlichen Würde festhalten. So schmeichelt sich denn Kant, uns auch über die objektive Realität dieser erhabenen Ideen dennoch Gewißheit verschafft zu haben. Aber, wenn Nikolaus Cusanus seinem "lntellektus" ein unbegreifliches Begreifen zuschrieb, so, scheint es mir, können wir sagen, daß Kant seiner "praktischen Vernunft" ein unglaubliches Glauben zumutet. Alles, was bei ihm von Mitteln gegen den Skeptizismus in Anwendung gebracht wird, ist so widernatürlich verschroben, wie es jedesmal in der Zeit der Reaktion gegen das zweite Stadium des Verfalles der Fall zu sein pflegt. Und doch war diese Reaktion in Deutschland erst

Die mystisch spekulative Entartung

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im Beginne. Während die besonneneren Engländer auf dem unnatürlichen Wege, den Reid eingeschlagen, nicht weiter gehen, ja in der Schottischen Schule selbst schon der zweite Nachfolger Reids, T ho m a s B r o w n 18), wieder mehr einer natürlichen Betrachtungsweise sich annähert, folgt in Deutschland auf Kant F i c h t e 10) mit seiner Methode von Thesis, Antithesis und Synthesis; auf Fichte Schell in g'1 ) mit seiner intellektuellen Anschauung, einer schlechthin absoluten Erkenntnisart; sie kann nicht gelehrt werden; auch ist nicht abzusehen, warum die Philosophie zu besonderer Rücksicht auf das Unvermögen verpflichtet sein sollte; nein! man soll den Zugang zu ihr vom gemeinen Wissen her so abschließen, daß kein Weg oder Steg dahin führt. Und auf Schelling folgt Rege 112) mit seiner absoluten Philosophie, die der sich selbst als alle Wahrheit wissende, die ganze natürliche und geistige Welt aus sich selbst reproduzierende Gedanke zu sein behauptet. Von einem völlig inhaltlosen Denken will Regel ausgehen, die Negation zum Vehikel dialektischen Fortschritts machen, und nach einer Reihe von Tanzschritten, die er in dem Dreiachteltakt von Position, Negation und Einheit beider ausgeführt, glaubt er sich an dem hohen Ziele angelangt. 16. Nun wohl! Dieses Regelsehe System und seine Prätensionen sind gerichtet. Vor wenigen Dezennien noch allgemein als die höchste Leistung menschlicher Forschungskraft gepriesen, wird es heute ebenso allgemein als die äußerste Entartung menschlichen Denkens verdammt. Das ist ein gutes Zeichen. Und überhaupt dürfen wir vertrauen, daß unsere Zeit der Beginn einer neuen Periode der Entwicklung ist. An die Überzeugung von der Nichtigkeit der jüngsten Systeme knüpft sich naturgemäß der Versuch, auf ältere Denker zurückgehend, einen gedeihlicheren

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Die vier Phasen der Philosophie

Anknüpfungspunkt zu gewinnen, wie das Mittelalter in Aristoteles ihn gefunden hat. Man kömmt bei dieser Suche zunächst auf Kant zurück und meint in diesem sozusagen den "Aristoteles der Neuzeit" zu erkennen. Unsere geschichtliche Betrachtung zeigt, daß dies nicht der Fall ist. Weder was Kant vorausgeht, noch was er selbst lehrt, noch was auf ihn folgt, gibt ihm irgendwie eine Stellung, wie der alte Stagirite sie im Altertum eingenommen hat. Herb a r t sagt, Kant habe wohl einen Funken geschlagen, an dem man ein Licht hätte anzünden können, aber sein Erbe sei in die Hände eines taumelnden Geschlechtes gefallen. Und so gesteht er denn zu, daß es unmittelbar nach Kant ärger zugegangen, als je zuvor. Aber warum, frage ich, hat denn nach Kant das ganze Geschlecht getaumeltt Ist es nicht in der Geschichte der Wissenschaft unerhört, daß, unmittelbar nachdem einer als der erste den rechten Weg gezeigt, alles, und zwar infolge seiner Einwirkung, auf ärgeren Abwegen sich befunden hat als frühert Sollen wir diesem und so manchem anderen durchschlagenden Argumente gegenüber uns durch die gegenwärtige öffentliche Meinung beirren lassent Wahrhaftig nein! Wenn man unserer Zeit nachrühmen darf, daß sie in der Philosophie sich verjüngt habe, so liegt darin zugleich ausgesprochen, daß sie zunächst in ein neues Kindesalter getreten ist. Da kann denn ihr Urteil von keiner großen Sicherheit sein. Auch gibt die gegenwärtige öffentliche Meinung in ihrem jähen Schwanken vielfach gegen sich selbst Zeugnis. Schloß sie sich nicht gestern der ethischen Mitleidslehre eines Schopenhauer an, um sie heute, dem inhumanen Suprahumanismus Nietzsches*) huldigend, zu verachtent So haben denn auch in bezug auf Kant etliche von den Besten sich schon

Kein Zurück zu Kant

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heute von der gangbaren Meinung völlig emanzipiert. Herbert Spencer, um nur einen der Angesehensten zu nennen, denkt über ihn ganz so, wie ich selbst, und wir tun dies, jeder ganz unabhängig vom anderen. Und mehr als einmal begegnete es mir, daß Gelehrte, vor denen ich mein Urteil über Kant aussprach, ausriefen: "Acht wie freue ich mich, das von Ihnen zu hören! Es ist vollkommen auch meine Überzeugung. Aber man darf sie nicht aussprechen." Eine solche Menschenfurcht kenne ich nicht. Vielmehr halte ich es für wissenschaftliche Pflicht, in einer für die Mitwelt so wichtigen Frage seine wahre Meinung offen zu bekennen. Lehrreich ist es auch, wenn man sieht, wie von den Versuchen, auf Kant zurückgehend die Philosophie weiterzuführen, keiner irgendwelchen Erfolg gehabt hat. •) Und wiederum, wie diejenigen, die ihn sich zum Meister wählen, sich doch zugleich genötigt sehen zu bekennen, daß man bei ihm unterscheiden müsse. Während sie gewisse Werke, insbesondere die Kritik der reinen Vernunft, hoch erheben, brechen sie über andere, wie insbesondere über die Kritik der praktischen Vernunft, den Stab. So Sc h o p e n h a u er, so - ich sagte es schon - auch unser Lorm. Also nicht bloß andere sollen, nachdem Kant ihnen den rechten Weg gezeigt, völlig in der Irre sich verloren haben, sondern er seihst, behauptet man, sei, nachdem er ihn eben gefunden, sofort ganz irrige Bahnen gewandelt. Klingt das nicht seltsam über alle Maßen 7 Doch noch mehrt Auch aus der Kritik der reinen "Vernunft werden umfangreiche Teile als unhaltbar und wertlos ausgeschieden; bei denjenigen aber, denen man, nachdem man die Lehre so vielfach durchgesiebt hat, allein bleibende Bedeutung zuspricht, erklärt man schließlich auch noch, daß sie gewisser Modifikationen bedürftig seien. Man identifiziert sie dann mit

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Die vier Phasen der Philosophie

gewissen Anschauungen und Meinungen, zu welchen die moderne Naturwissenschaft führte, wie z. B. mit J o h an n e s M ü 11 e r s Lehre von der spezifischen Sinnesenergie und mit der Annahme von anererbten Vorstellungen und Urteilen, wie H ä c k e 1 und andere Darwinianer sie machen, und mit Du Bois-Re ym o n d s Lehre von den Grenzen des Naturerkennens. Auch Lorm verfährt nicht anders. Aber eine einigermaßen exakte Untersuchung zeigt, daß, was man so im wesentlichen für identisch erklärt, tatsächlich alle tiefere Verwandtschaft vermissen läßt. Die Lehre Müllers über die spezifische Energie hat nichts zu tun mit der Lehre Kants von den apriorischen Sinnesformen, Raum und Zeit, sondern vielmehr mit den Lehren von Locke und andern der älteren Empiriker über die Subjektivität der Sinnesqualitäten 58 ). Die Lehre Häckels und andrer Darwinisten über die vererbten Gedanken - nebenbei gesagt, mit aller Erfahrung durchaus im Widerstreit- hat nichts zu tun mit Kants apriorischen Begriffen und Erkenntnissen, die ja von der Art sein sollen, daß sie aus gar keiner Erfahrung, also auch nicht aus der unsrer Vorfahren, geschöpft werden könnten. Die Lehre von Du Bois-Reymond endlich hat nichts zu tun mit Kants Lehre von der Unerkennbarkeit des Dings an sich und der Unanwendbarkeit der synthetischen Erkenntnisse a priori auf transcendente Fragen, außer etwa dies, daß beide lehren, daß die Erkenntnis des Menschen gewisse Schranken habe. Das aber hatte auch die alte empirische Schule gelehrt und darüber, auf Grund psychologischer Betrachtungen, eine Reihe treffender Bestimmungen gegeben n). Aber von diesen Früheren weiß man gemeiniglich gar wenig und rechnet darum Kaut oft als ursprüngliches Verdienst an, was er tatsächlich von andern überkommen und nur gewöhnlich durch mancherlei Zutaten verunreinigt hat. So meint

Zurück zur wissenschaftlichen Methode

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man auch vielfach, Kant habe erst eine Harmonie zwischen Naturforschung und Philosophie hergestellt, während tatsächlich die beiden in dem Maß in Einklang gestanden, daß L a v o i s i e r in seinem berühmten, für die Chemie grundlegenden Werke eine lange Erörterung von Co n d i ll a c über die richtige Weise der Forschung einlegte und sagt, daß er bei seinen eigenen Untersuchungen sie befolgt und durchaus bewährt gefunden habe 55 ). Zurück also zu den eigentlichen, lauteren Quellen! Knüpfen wir an die Errungenschaften der aufsteigenden Entwicklungsphase an! Da finden wir treffliche Vorarbeiten. Und da finden wir auch jene gesunde Methode, die es uns möglich macht, die Arbeiten erfolgreich weiter zu führen. 17. Ähnliches kann in bezugauf die Leistungen der aufsteigenden Phasen älterer Perioden gesagt werden. Ich denke hier insbesondere an die Leistungen der antiken Philosophie. Sie hatte gegenüber der modernen Zeit den Vorzug einer länger aufsteigenden Entwickelung und konnte darum in manchem Betracht zu reicheren Ergebnissen gelangen. Von A r i s t o t e 1 e s ist noch heute gar manches am besten zu lernen•). Was die mittelalterliche Periode anlangt, so ist sie, wie auch immer - schon Leibniz hat dies erkannt 38) - berücksichtigenswert, den beiden andern nicht gleichwertig. Eigentlich gab es in ihr niemals ein ganz freies Interesse für vernünftige Forschung. Die Philosophie wurde als "ancilla theologiae" (als "Magd der Theologie") geachtet. Nur relativ gilt darum von der ersten Phase dieser Zeit, daß in ihr das theoretische Interesse rein war. Ohne Frage hat dieser Umstand die Entwickelung beeinträchtigt, in der aufsteigenden Epoche von wichtigen Untersuchungen abgehalten und die Ausartung in sinnlose Subtilitäten, welche das erste Stadium des Verfalles charakterisiert,

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begünstigt. Darum kann die Rücksicht auf die mittelalterliche Philosophie nicht von gleichem Segen sein. Geradezu von Unheil aber würde sie werden, wenn man sie sich darin zum Muster nähme, daß man die Philosophie wieder in jenes knechtische Verhältnis zur Theologie bringen wollte67 ). 18. Aber nicht bloß in der Geschichte der modernen und antiken Philosophie hat die Gegenwart Anknüpfungspunkte zu suchen, sondern auch in den Leistungen andrer Wissenschaften, insbesondere in jenen der Mathematik und Naturwissenschaft, die heutzutage einer so mächtil!ren Entwickelung sich erfreuen. Alles in der Wissenschaft steht ja in Zusammenhang. Und so findet man in den Arbeiten großer Mathematiker uud Naturforscher sogar zur Philosophie selbst wesentliche Beiträge. Um nur eines zu erwähnen, hat die Ausbildung der Wahrscheinlichkeitslehre gewisse logische Fragen in einer Weise geklärt, daß Humes' skeptische Bedenken dadurch vollkommen behoben werden können, ja tatsächlich behoben worden sind. Von jenen unnatürlichen Mitteln, zu welchen Reid und Kant greifen zu müssen glaubten, wird dabei keinerlei Gebrauch gemacht •). 19. In folge davon ist der Weg in jene höheren Gebiete, zu welchen Kant nicht durch das Tor intellektueller Einsicht uns einziehen, sondern, in seltsamster Art, durch jene unglaublichen Akte blinden Glaubens einbrechen lassen wollte, nicht mehr, wie es früher schien, verrammelt. Es ist wahr, Schranken bestehen tatsächlich für unser Erkennen und werden immer so bestehen. Bei vielen Fragen vermögen wir nur Wahrscheinlichkeit. bei andem nicht einmal diese in irgend beträchtlichem Maße zu gewinnen. Aber wenn all unser Wissen Stückwerk ist, so ist doch auch schon dies Stückwerk etwas Grandioses. Der Mensch ist das Gewaltigste, was da lebt, sagt Sophokles; und die

Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis

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Wissenschaft, nach Goethes Wort, "des Menschen allerhöchste Kraft". Diese Kraft hat ihn schon oft weiter geführt, als er selbst in seinen kühnsten Träumen gehofft hatte, und so mag es auch hinsichtlich jener höchsten Fragen geschehen. Ohne das Wesen des Stoffes zu erkennen, haben wir doch erkannt, daß derselbe wesentlich inkorruptibel ist: ohne das Wesen des Geistes zu erkennen, vermögen wir vielleicht doch zu zeigen, daß er auf immerwährenden Bestand wohlgegründete Hoffnung hat; und ohne das Wesen des Urgrundes der Welt zu erkennen, mögen wir doch zu einer vernünftigen Überzeugung durchdringen, daß die Welt zum Besten von ihm geordnet ist. Damit wird dann eine Lösung der Optimismusfrage gewonnen sein, wie sie wahrhaft auch dem Gemüte zusagt. Unser L o r m erkennt richtig, daß die pessimistischen Objektionen, welche ein Sc h o p e n hau e r und Ha r t m an n gemacht, allen wissenschaftlichen Wertes ermangeln. Die einen beruhen auf absurder Metaphysik, die andern auf einer oberflächlich parteiischen Aufzählung von Vorkommnissen, die, für sich selbst betrachtet, mißliebig sein müssen. Was ihm*) als einzig wissenschaftlicher Pessimismus gilt, ist die traurige Diskrepanz zwischen dem intellektuellen Bedürfen des Menschen und seiner Kraft, dieses Bedürfen zu befriedigen, wie sie als Ergebnis von K an t s Kritik der reinen Vernunft hervorzutreten schien. Auch diese Objektion ist gefallen. 20. Freilich bleiben nun noch andre und vielleicht größere zurück. Man hat auf die Dysteleologie in der organischen Welt und auf den Mangel jedes teleologischen Charakters in der unorganischen hingewiesen. Aber sieh da! auch hier ist durch den Fortgang der Untersuchung alles ins Gegenteil umgeschlagen. H u x l e y 68 ), der ge-

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feiertste Biologe der Gegenwart, bezüglich der Entwicklungslehre auf dem Darwinschen Standpunkt stehend, erklärt trotzdem ebenso wie vor kurzem der große Ernst von Baer68 ) und wie Lamarck10), als er am Anfang des Jahrhunderts zur ganzen evolutionistischen Bewegung den Anstoß gab, daß die Welt in ihrer Uranlage einen teleologischen Charakter zu tragen scheine. Und das heißt dann, einen teleologischen Charakter, der Organisches und Unorganisches gleichmäßig umfaßt. .Noch andre Objektionen erheben sich; wie z. B. die, welche auf die notwendige Begrenztheit der Schöpfung 11), auf die geringe Zahl der Dimensionen des Raumes 12), auf die bevorstehende Zerstörung der Erde und andrer etwa bewohnter Himmelskörper, oder auf das Gesetz der Entropie und den gefürchteten Stillstand aller oder wenigstens der höheren Formen der Naturprozesse 13) sich beziehen. Wieder andre heben die Schwierigkeit hervor, die sich ergibt, wenn man, wie die Theodicee es verlangtln muß 11), alles, für sich betrachtet, Schlechte als etwas rein Negatives oder doch nur aus einer Verbindung von an sich guten Elementen sich Ergebendes begreifen will*). Hier führt die Untersuchung in die feinsten Betrachtungen der Kategorienlehre hinein. Man sieht, die Optimismusfrage ist von einer in den verschiedensten Richtungen weitverzweigten Komplikation. Aber es ist unter allen Knoten, auf welche man in diesem Gewebe von Schwierigkeiten stößt, nicht einer, der sich nicht lösen ließe. Ja, mit der Lösung ist dann immer zugleich die Entdeckung neuer, ungeahnter Vorzüge verbunden, indem das Wort des alten Optimisten Her a k I i t 16) sich bewährt: ,,Die unsichtbare Harmonie ist schöner als die sichtbare." Die größten Denker der aufsteigenden Entwicklungsphasen, welche, wie die Geschichte lehrt, durchwegs

Ersatz der Volksreligion durch Vollkommeneres 31 optimistisch dachten, PI a t o n und A r ist o t e I es, wie Augustinus•) und Thomas von Aquin, und wie D e s c a r t e s und L o c k e und L e i b n i z, haben hier gar manche Arbeit getan, die unsern Dank verdient; und es geht schlechterdings nicht an, so, wie Lorm es zu tun wagt, ihre optimistischen Ausführungen mit den pessimistischen unsrer neuesten Modephilosophen in eine Linie zu stellen. Was aber jene Denker zu tun übrig gelassen, das, dürfen wir sicher hoffen, wird von uns oder unsern Nachkommen getan werden. 21. Jedes Wissen bringt in seiner Sphäre eine gewisse Freiheit und Erlösung. Von dem Wissen, welches über das, was wir in der Welt als übel empfinden, in einer das Gemüt befriedigenden Weise Rechenschaft gibt, wird dies mehr noch als von jedem andern gelten. Denn die pessimistischen Besorgnisse sind der traurigste Alpdruck, der auf der Menschheit lastet. Unsre Volksreligion mit ihrer Lehre von einem allmächtigen, allgütigen Vater aller ist eine optimistische, und nur darum und nur unter dem Zeichen des Optimismus hat sie die Welt, ich meine. denjenigen Teil der Menschheit, welcher der eigentliche Träger der Weltgeschichte geworden ist, für sich gewonnen. Es sind nun freilich Zeichen dafür vorhanden, daß sie ihn nicht für immer gewonnen habe. Aber wenn auch diese großartigste Kulturerscheinung verschwinden sollte, so wird dies nicht geschehen, um die Stelle einfach leer zu lassen, noch weniger, um sie durch eine pessimistische Weltanschaung zu ersetzen; vielmehr wird das einzige, was dauernd über sie triumphieren kann, ein geläuterter Optimismus sein, der von den Übeln der Welt besser Rechenschaft gibt, als das Christentum durch die Lehre von der Erbsünde und stellvertretenden Genugtuung es zu tun vermocht hat.

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Die vier Phasen der Philosophie

Es wird die Revolution eine ähnliche sein, wie die,

welche ihrer Zeit das Christentum selbst hervorbrachte. Das ganze Zeromonialgesetz, das man für das Wesen der Religion gehalten, fiel, und, sieh da! das wahre Wesen blieb gewahrt und erschien gereinigt und verklärt. So dürfte wieder vieles fallen, was der Augenblick für wesentlich hält,- und ich sage dies, obwohl ich weiß, daß sich darob mancher edle Mann an mir, ähnlich wie einst mancher wohlmeinende Anhänger der Beschneidung an Paulus, ärgert -: aber die drei Worte des Glaubens, wie Schiller sie nennt, werden darum nur um so mächtiger im Gemüte tönen und das innere und äußere Leben schöpferisch zum Guten ordnen. Das walte Gott! Ja - ich vertraue darauf - das wird er walten.

II

WAS FÜR EIN PHILOSOPH MANCHMAL EPOCHE MACHT

1. Man hat in dieser Kritik sehr häufig eine meisterhafte Leistung erblicken wollen. Viele halten dafür, daß damit die Unmöglichkeit jedes Gottesbeweises endgiltig dargetan sei. Auch achten sie nicht darauf, wie vieles in dieser Kritik nicht originell, sondern von Früheren entlehnt ist. 2. Wenn Kant das ontologische Argument verwirft und es als fehlerhaft erweist, so vergißt man, daß djes ähnlich auch schon von den größten Denkern des Mittelalters geschehen ist, wie z. B. von T h o m a s von A q u in. Und wenn dies nicht gehindert hatte, daß D e s c a r t e s , S p i n o z a und L e i b n i z sich wieder zu Gunsten des Arguments aussprachen, so hatte doch D a v i d H u m e sich wesentlich in derselben Weise wie Kant zu ihm gestellt. Ja man kann nicht einmal sagen, daß die Widerlegung durch die Weise, wie Kant sie gibt, lichtvoller geworden sei, denn neben sehr richtigen Bemerkungen finden sich auch solche, die man nicht billigen kann. So insbesondere die, daß der Existenzialsatz die Existenz prädiziere und die, daß in ihm der Gegenstand zum Begriff synthetisch hinzukomme. Ungleich einfacher und klarer stellt sich der Paralogismus heraus, wenn man auf die Äquivokation des Satzes A ist A aufmerksam macht, welcher bald affirmativ, bald negativ zu verstehen ist und nur im negativen Sinn wahrhaft a priori einleuchtet_.) So ergibt sich denn auch für den Begriff eines unendlich vollkommenen, durch sich selbst notwendigen Wesens die Wahrheit des Satzes:

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"Ober Kante Kritik der Gottesbeweise

es gibt kein unendlich vollkommenes, durch sich selbst notwendiges Wesen, welches nicht existiert, nicht aber die des Satzes: es gibt kein unendlich vollkommenes, durch sich selbst notwendiges Wesen, welches existiert.*) 3. Was den von Kant sog. kosmologischen Beweis anlangt, so gelingt es ihm freilich leicht, ihn zu widerlegen. Allein es will mir scheinen, als sei er in der Gestalt, die Kant ihm gibt, von dem kosmologischen Beweis, wie man ihn früher aufstellte, merklich verschieden. Bei Leibniz finde ich nicht, da.ß ihm nur die einfache Tatsache, daß es etwas gebe, zugrunde gelegt wird. Vielmehr nimmt er und nehmen andere auf Merkmale Rücksicht, welche darauf hinweisen, daß gewisse Dinge verursacht, und so nicht durch sich selbst notwendig seien, und welche uns dazu führen zu glauben, daß statt dessen, was ist, unzähliges andere hätte sein können, wenn es nicht eine Ursache gäbe, welches für jenes positiv, für dieses negativ entschiede. Man vergleiche dazu insbesondere gewisse Ausführungen von Leibniz.*) Freilich soll damit nicht gesagt sein, daß ich den Beweis auch in der Weise, wie Frühere ihn bringen wollten, für durchwegs fehlerfrei halte. Sowohl der Satz, daß irgend etwas durch sich selbst notwendig sein müsse, als auch der, daß die Welt nicht selbst durch sich notwendig sei, bedürfen einer vollkommeneren Begründung.*) Auch hier ist aber auf D a v i d H um e zu verweisen, von dem Kant auch beim kosmologischen Beweis unverkennbar beeinflußt ist. Am allerwenigsten läßt sich behaupten, daß ein durch sich notwendiges Wesen, e i n a 11 r e a 1 e s W e s e n , wie Kant seinen Begriff darstellt, sein müsse, ja, ich bin im Gegensatze zu Kant und Leibniz der Meinung, da.ß ein solcher Begriff widervernünftig sei, indem ich glaube, daß, nicht bloß Kontradiktionen, sondern auch

Kants Kritik der Gottesbeweise

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konträre Begriffe, wie Rot und Blau, sich ausschließen. Und so ist denn m. E. der Gottesbegriff selbst zwar als der eines absolut vollkommenen, nicht aber als der eines alle positiven Merkmale in sich vereinigenden Wesens zu fassen. Daß das Gesetz der Kausalität als synthetisches Gesetz a priori nur auf dem Gebiet der Erscheinungen Giltigkeit haben könne, gebe ich Kant nicht zu. Im Gegenteil kann nichts verursacht sein, außer solches, was im eigentlichen Sinne ist, und das sind die Dinge, nicht aber Erscheinungen von Dingen.•) Der kosmologische Beweis verlangt die Berücksichtigung von Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, auf welche Kant aber gar nicht zu sprechen kommt. Wenn alles in sich Gute auf dem Gebiete des Bewußtseins liegt, so ist klar, daß es einen Gottesbeweis, der vom Begriff des Bewußtseins abstrahiert, gar nicht geben kann und daß als tatsächlicher Ausgangspunkt etwas verlangt wird, was in seiner Eigenheit auf ein Bewußtsein als Ursache zurückweist. Diese Erkenntnis scheint auch Leibniz, wo er das kosmologische Argument behandelt, nicht abzugehen.*) 4. Kant behauptet, es gebe außer dem ontologischen und kosmologischen Beweis nur noch einen, den er den physikotheologischen nennt. Sehen wir aber näher zu, wie er diesen charakterisiert, indem er sagt, er fuße nicht auf der Tatsache des Seienden im allgemeinen, sondern auf noch weiteren tatsächlichen Bestimmungen, so erkennen wir sofort, daß es recht wohl denkbar ist, daß es solcher hinzukommender Bestimmungen, welche als Anhaltspunkt dienen, mannigfache geben könne. Und so hat denn auch Leibniz ausgesprochen, daß es nach seiner Meinung ein sehr vielfaches V erfahren gebe, das zur Erkenntnis Gottes führe. Ich glaube aber allerdings, daß alle Beweisversuche solches

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über Kants Kritik der Gottesbeweise

geltend machen müssen, worin ein S c h e i n v o n Tele o 1 o g i e gefunden wird.*) Kant's Kritik der teleologischen Beweisführung erinnert wieder in manchen Punkten an Hume. Hier aber ist die Entlehnung keine glückliche. H um e will den teleologischen Beweis als einen Analogieschluß hinstellen, der mit dem Grade der Ähnlichkeit des Werkes an Kraft verliert. Mit Unrecht. Bei einem Schluß a minori ad majus kann die Überzeugungskraft größer sein, als bei einem Schluß von gleich Großem auf gleich Großes. Sehe ich, daß roh geschnitzte Bilder nicht durch Zufall entstehen, und finde ich dann ein Wunderwerk der Holzschnitzkunst, so ist der Schluß auf eine Absicht durch die Vollkommenheit des Werkes noch besser begründet. H n m e versteht nichts von Wahrscheinlichkeitsrechnung und begreift nicht, in welcher Weise sie beim teleologischen Beweis zu verwenden ist. Kant aber tut hier nichts, dessen Fehler zu verbessern. So begreift er denn auch nicht, daß der teleologische Beweis, wie zur Annahme eines Ordners, auch zur Annahme eines Schöpfers führen muß, da ein bloß ordnender Verstand sich als von dem Stoff abhängig und mit ihm zusammengeordnet erkennen ließe. Wir hätten also eine Ordnung vor der Ordnung usw. in infinitum, ohne dadurch zu einer wahren Erklärung zu gelangen.*) Wieder erkennt Kant nicht, wie der Umstand, daß der schöpferische V erstand alles a priori erkennt und absolut fehllos beliebig ferne Zeiten mit seinem Denken umfaßt, eine unendliche Superiorität dartut. Endlich sieht er nicht, daß der Verstand, als einheitliches und notwendig einziges Prinzip erwiesen, auch als allmächtig erwiesen ist, da nichts möglich ist, außer was möglich ist durch ihn. Von einem Abspringen vom teleologischen Beweis zum kosmo-

Kant und der teleologische Beweis

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logischen, oder gar ontologischen, ist darum gar keine Rede. Die Behauptung, der teleologische Beweis mache von synthetischen Sätzen a priori einen unbefugten Gebrauch, ist wegen der Hinfälligkeit von Kants ganzer Lehre von den synthetischen Erkenntnissen a priori abzuweisen.*) Und so ist denn das verwerfende Urteil, das Kant über den physikotheologischen Beweis fällt, durchaus unbegründet. 5. Von einem gewissen Werte ist es, daß Kant (ebenso wie Da v i d H um e*) sehr wohl erkennt, daß das Böse und üble in der Welt nichts gegen die Annahme eines göttlichen Urhebers und Beherrschers der Welt beweist. Aber gerade auf diesen Punkt lieben die Bewunderer Kants in unserer Zeit nicht zu achten.*)

V

SCHOPENHAUER

1. S c h o p e n h a u e r gehört kaum weniger dem dritten Stadium der Decadence an als S c h e 11 i n g und Regel. Die energische Polemik gegen diese war aber ge. eignet, das Publikum darauf aufmerksam zu machen, wie wissenschaftlich wertlos die so viel bewunderten Spekulationen jener Zeit seien. Und wenn seine eignen, ebenso wertlosen Spekulationen selbst ähnliche Bewunderung erregten, so war dieser doch kein ähnliches Vertrauen mehr gesellt. Man fing vielmehr an, Philosophie und Wissenschaft zueinander in Gegensatz zu bringen, was ohne einen völligen Abfall vom alten Begriff der Philosophie nicht möglich war. So wurde die Philosophie dann ein Tummelplatz von Phantastereien, in denen man Unterhaltung, aber keine Wahrheit, noch praktische Brauchbarkeit suchte. Psychologie, Nationalökonomie, Pädagogik lösten sich von der übrigen Philosophie ab. Wissenschaftliche metaphysische und ethische Forschung kam eigentlich zum Stillstand. Die Wiederaufnahme wissenschaftlicher Untersuchungen auf diesem Gebiete war dadurch erschwert, daß man sie gar nicht mehr als eine menschenmögliche Aufgabe betrachtete. 2. Die Zugehörigkeit von S c ho p e n h a u e r zur Dekadence zeigt sich schon in seiner Abhängigkeit von K an t , dessen widernatürliche erkenntnistheoretische Behauptungen er gutenteils zu Recht bestehen ließ.

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Schopenhauer

So vor allem die Behauptung, daß wir keine Dinge an sich, sondern nur Phänomene erkennten. Grade das Gegenteil ist richtig. Alle Erkenntnis geht auf solches, was an sich ist oder nicht ist, war oder nicht war, sein wird oder nicht sein wird; was in der Tat heißt es, wenn man sagt, man erkenne etwas als Phänomen! Nichts anderes als man erkenne es als Phänomen von einem, dem es Phänomen sei, als vorgestellt von ihm, angeschaut von ihm. Das aber läßt sich auch in die Worte fassen, man erkenne, daß einer das Betreffende vorstelle oder anschaue, also einen Vorstellenden, Anschauenden. Diesen aber muß man an sich erkennen. Denn, sagte man, man erkenne auch ihn nur als Phänomen, so läge darin wieder die Beziehung zu einem das Phänomen Vorstellenden, der dann indirekt das zuerst Phänomen Genannte vorstellen müßte. So käme man zu einem Regressus in infinitum, der unmöglich der Notwendigkeit enthöbe, irgend einen alles als Phänomen Bezeichnete direkt oder indirekt Vorstellenden als an sich seiend gelten zu lassen. Und im eigentlichen Sinn wäre nur er, wie seiend, so auch erkannt. Die Lehre von der phänomenalen Wahrheit hatte die verderblichsten Folgen. Wie das Phänomenale als Gegenstand der Erkenntnis betrachtet wurde, so wurde ihm nicht bloß Sein, sondern auch Gewirktsein und Wirken zugeschrieben, ja, man kam zu der absurden Behauptung, daß nicht solches, was an sich ist, sondern was als Erscheinung ist, wirke und gewirkt werde, während selbstverständlich, was nicht im eigentlichen Sinne sein, auch nicht im eigentlichen Sinne wirken oder gewirkt werden kann. Man vergleiche darüber Ar ist o t e 1 e s' Lehre vom eigentlichen und uneigentlichen Entstehen und Vergehen. 3. S c h o p e n h a u er , von K a n t verführt, behandelt die Welt, welche er die Welt als Vorstellung

Schopenhauers Voluntarismus

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nennt, ganz, als wenn sie wahrhaft wäre. Und es ist darum ganz widersinnig, wenn er für sie noch ein Ding an sich als bestehend verlangte. Machte man mit dieser "Welt als Vorstellung" Ernst, so könnte das zugehörige ,,Ding an sich" nur das Vorstellende sein, von welchem aber Schopenhauer gar nicht als etwas von der Vors t e 11 u n g*) Unterschiedenem spricht. Wenn er dies hier unterläßt, so erkennt er doch ein Wollendes als von dem Gewollten unterschieden an, meint in absurder Weise, daß wir, wenn wir uns als wollend erfassen, dies tun, ohne uns als wollend vorzustellen, während er uns ja als Wollende geradeso wie als Vorstellende, nach seiner Art zu denken, als bloße Phänomene auffassen lassen müßte. Und so soll dann der Wille als das Ding an sich, das allen Phänomenen zugrunde liegt, gelten. Ein größeres Chaos ist gar nicht erfindlich. Ein irgendwie gesunder Verstand wird sich sowohl weigern, diese absurden Thesen gelten zu lassen, als auch nur einen Schritt noch weiter zu folgen. 4. Sc h o p e n h a u er geht aber weiter von Absurdität zu Absurdität. Er fabelt von einem Wollen ohne Denken, konfundiert den metaphorischen Gebrauch von Tendenz zum Fallen, die wir einem im Fall gehemmten Körper zuschreiben, mit der Tendenz, dem Streben im eigentlichen Sinne, und gelangt zu der Folgerung, daß die Welt als Produkt eines völlig blinden Willens das denkbar Schlechteste sei. Es ist wahrlich nicht der Mühe wert, ein Wort mehr gegenüber dem zu sagen, was er als einen wahrhaft babylonischen Wirrwarr vorbringt. 5. Nur eines sei gesagt, daß er, den Determinismus für das Gebiet der Phänomene anerkennend, für das Gebiet des Dings an sich aber leugnend, zu einem Widerspruch geführt wird. Wenn dasselbe an sich gegeben ist, ist dasselbe als Phänomen mitgegeben,

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Schopenhauer

wie z. B. wenn ein ein Haus Vorstellender an sich ist, ein vorgestelltes Haus als Phänomen gegeben ist.*) Schopenhauer fehlt aber auch dadurch, daß er den Determinismus zum reinen Fatalismus werden läßt; ganz inkonsequent, denn warum sollen, wenn andere Dispositionen, z. B. die Fähigkeit der Hand zum Klavierspiel, nicht auch Charaktere, als Dispositionen zu Handlungen, ausgebildet werden können! 6. Bedeutungsvoller als der apriorische Beweisversuch für den Pessimismus könnte der erfahrungsgemäße Nachweis, daß die Welt, wie sie ist, sehr übel bestellt sei, für uns werden, wenn S c h o p e n h a u er hier etwas Neues aufzuweisen vermocht hätte. Das hat er aber nicht. Was ihm eigentümlich ist, das ist nur: 1. ein gröblicher Verstoß gegen das, was die Erfahrung zeigt, wenn er zu behaupten wagt, daß jeder Wunsch ein Schmerz sei. Hiernach würde, da jeder, indem er hofft, etwas wünscht, das Hoffen zu einem Leiden, während Schiller zu sagen wagte: ,,Die Hoffnung war dein zugewog'nes Glück." Und ebenso würde jedes Streben ein Unglück sein, denn es wäre Schmerz, während L es s in g erklärte, daß er, wenn ihm zwischen Wahrheit und Streben nach Wahrheit die Wahl gelassen würde, das Streben nach Wahrheit vorziehen werde. 2. Ein Verkennen dessen, was sowohl der von ihm hier vielgepriesene H u m e , als auch K an t ganz ebenso wie Leib n i z anerkennen, daß die Behauptung, was uns in der Welt als übel*) erscheine, würde dies nicht mehr tun, wenn unser Verstand fähig wäre, die Berechnungen eines unendlich höheren Verstandes zu kontrollieren, gar nicht zu widerlegen ist. H u m e spricht es mit klaren Worten aus, Kant behauptet daraufhin, der Annahme eines Gottes stehe auf theoretischem Gebiet nichts im Wege, so daß die praktische Vernunft sie ganz unbehindert fordern könne. Und so steht denn Schopenhauer von

Schopenhauers Ethik

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allen, die er sonst als Denker hoch hält, widersprochen da. Und ganz blöde würde er mit seiner Behauptung, wie oft sie auch nach ihm wiederholt worden ist, vor dem Richterstuhl eines H um e und K an t erscheinen, wenn er den Ansspruch tut, daß der Aufweis auch nur eines, und des geringsten Schmerzes hinreichen würde, darzutun, daß die Welt nicht als tadelloses Werk eines unendlich vollkommenen Verstandes betrachtet werden könne. 7. Wie sich S c h o p e n h a u er in anderen Stücken durch Kant hat verführen lassen, so auch darin, daß er meint, im Falle des Determinismus könne von einem Soll, einer Pflicht, gar nicht die Rede sein.*) Auch hat er mit Kant einen Indeterminismus für das Ding an sich angenommen. Wie aber bei etwas gänzlich des Bewußtseins Beraubtem von einer Pflicht gesprochen werden könne, ist am allerwenigsten abzusehen. Für wen also soll, und wo überhaupt ein Soll und eine Pflicht noch bestehen t K an t hat, obwohl wir zu den Phänomenen gehören, von einem für uns geltenden Gebot,dem kategorischen Imperativ, gesprochen. Schopenhauer erklärt einen moralischen Imperativ könne es für uns als Determinierte gar nicht geben. Dabei erscheint ihm aber doch eine gewisse Art des Verhaltens als richtig und eine andere als unrichtig, und er empfiehlt das Mitleid und die Selbstaufhebung des Willens. Selbst in seinen Randbemerkungen zu Richard Wagner spricht er entrüstet gegen die schmähliche Immoralität seines Operntextes. So ist auch hier der Inkonsequenz und des Widersinns kein Ende. Freilich möchte man sich fragen, ob es mit der Sache K an t s hier viel besser stehe. Eins hat er aber jedenfalls voraus, nämlich, daß er sich nicht in seinem praktischen Verhalten mit seiner Lehre eingestandenermaßen in vollen Widerspruch setzt, wie Schopenhauer es getan hat.

VI

AUGUSTE COMTE UND DIE POSITIVE PHILOSOPHIE (1869)

Erschienen im "Chilianeum", Blätter für katholische Wissenschaft, Kunst und Leben. Neue Folge II. Band.

Erster Artikel

Einleitung

Natur der positiven Wissenschaft (Fragment)

Unter den Lesern des Chilianeums sind vielleicht viele, die hier zum ersten Male den Namen des Mannes lesen, für dessen Philosophie ich ihre Aufmerksamkeit etwas in Anspruch nehmen möchte; und diejenigen unter ihnen, welche von ihm bereits wissen, werden sich vielleicht noch mehr als andere darüber wundern, einer Darstellung seiner Lehre in dieser Zeitschrift zu begegnen. Denn der Name "positive Philosophie" besagt hier etwas ganz anderes, als was bei der Vieldeutigkeit des Wortes von manchen vermutet werden könnte. Nicht eine christliche Philosophie wollte Comte geben. Dem Glauben schon in den Knabenjahren entfremdet und, ohne es gerade leugnen zu wollen, nicht einmal vom Dasein eines Gottes überzeugt, schloß er grundsätzlich gerade jene Fragen vom Gebiete wissenschaftlicher Forschung aus, welche den Kern jeder sogenannten christlichen Philosophie bilden müssen. Aber dennoch ist vielleicht kein anderer Philosoph der neuesten Zeit, der in so hohem Maße unsere Beachtung verdiente, als gerade Comte. Einmal ist schon das Ringen eines mächtigen Geistes ein Teilnahme erregendes Schauspiel; und Comte war unstreitig einer der hervorragendsten Denker, deren unser Jahrhundert

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Auguste Comte und die positive Philosophie

sich rühmen kann. Die kurze Skizze seiner Leistungen, auf die wir uns hier beschränken müssen, wird, wie ich hoffe, dieses Wort genugsam bewähren. Dann, wenn die Bedeutung des Mannes allein nicht genügte, so doch gewiß die Bedeutung der Bewegung, die sein Impuls nicht bloß in Frankreich, sondern fast mehr noch in England auf dem Gebiete der philosophischen Forschung hervorgerufen hat. Wir in Deutschland haben bisher weniger seinen Einfluß erfahren, und seine direkte Einwirkung zum mindesten ist nicht sehr merklich. Lange Zeit gewohnt, uns als die ausschließlich philosophische Nation zu betrachten, schenkten wir dem Auslande nur geringe Aufmerksamkeit; und da endlich die Mißerfolge unserer gerühmtasten Denker unleugbar zu Tage traten, und unsere Blicke sich lernbegieriger nach außen kehrten, fanden wir in dem, was Frankreich lehrte, nichts, was unser Bedürfnis nach echter Wissenschaft befriedigte. Comte's großes Werk, obwohl seit Ende der zwanziger Jahre erscheinend, war bei den eigenen Landsleuten unbekannt. Die Royer-Collard's, Cousin's, J ouffroy's standen allein in Ansehen, und was sollte uns ein Eklektizismus, der großenteils nur die bei uns verklingenden Gedanken in volltönenderen Phrasen wiederholtet Jetzt ist in Frankreich die Sachlage eine andere geworden. Der Positivismus Comte's, der während seines Lebens nur im kleinen Kreise seiner unmittelbaren Schüler bekannt geworden war, macht jetzt alle Welt von sich reden, und, während er die einen als Anhänger gewinnt, zwingt er auch die anderen, wenigstens als Gegner ihn eingehend zu berücksichtigen und durch den Eifer der Abwehr selbst seine Bedeutung anzuerkennen. Aber für das, was in Frankreich philosophiert wird, haben wir in Deutschland jetzt kein Auge. Und doch scheint es umso mehr an der Zeit, uns über Comte und über den

Bedeutung Comte's

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Charakter seiner positiven Philosophie zu unterrichten, als wir mittelbar, von England her, mannigfache Einflüsse von ihr erfahren haben, ohne nur ihren eigentlichen Ursprung zu kennen. Ich fand davon wiederholt die deutlichsten Spuren, und dies bei Schriftstellern, die es selbst am wenigsten ahnten. So glaube ich, ist der Anspruch auf Teilnahme, den ich für Comte in diesen Blättern mache, genugsam gerechtfertigt. Und um so mehr wird er begründet erscheinen, wenn wir, wie ich nicht zweifle, finden werden, daß sich viel von Comte lernen läßt, sowohl da, wo er in der Wahrheit, als da, wo er im Irrtum ist. Comte hat klare Blicke getan in die Mißstände unserer Philosophie und in die übel unserer Zeit überhaupt; er hat ihre Torheiten und Bedürfnisse oft besser als viele andere erkannt; und, man muß es ihm bezeugen, er hatte Eifer zu helfen, wenn auch leider einen im wesentlichen nicht recht erleuchteten Eifer. So kommt es, daß, was auf den ersten Blick unmöglich scheint, ein Forscher, der von einem Gott in der Philosophie nichts wissen will, von der katholischen Kirche eine wunderbar hohe Anschauung hat und wiederholt in ihren Einrichtungen das Heil sucht, ohne es in ihr selbst zu suchen. Freilich kann er dann das Heil nicht finden und muß in törichten Phantasiegebilden enden. Comte's Irrtümer sind groß, aber sie sind Zeugen großer Wahrheiten. Das Mißlingen seines Versuches ist vollständig, aber es ist in seiner Weise der gelungenste Beweis für die Göttlichkeit der Kirche.•) Eine doppelte Lebensaufgabe hatte Comte sich gestellt: die Gründung einer positiven Philosophie und die Gründung einer positiven Soziologie; zwei große Unternehmen und, wie er selbst wenigstens glaubte, untrennbar miteinander geeinigt. Die Wiederherstellung geordneter gesellschaftlicher Zustände

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Auguste Comte und die positive Philosophie

war es, auf die zuerst sein ganzes Sinnen und Denken sich richtete, und über die schon der Knabe, der in den Stürmen des ersten Kaiserreiches aufwuchs1 ), mit dem Ernste eines Mannes nachdachte. Seine ersten Jugendschriften geben davon Zeugnis.•) Aber in ihnen spricht sich, wie manche andere seiner späteren Ideen, auch namentlich bereits die Überzeugung aus, daß eine Erneu'erung der Gesellschaft nur auf der breiten und festen Grundlage einer allgemeinen Wissenschaft möglich sei. So keimte in ihm der Gedanke zu dem großen Werke, das er in dem "Cours de Philosophie positive" ausgeführt hat. Wenden wir uns zunächst zu diesem merkwürdigen Buche, für welches der Plan dem achtundzwanzigjährigen jungen Manne schon im April des Jahres 1826 feststand, während die Ausführung, durch Krankheit aufgehalten und durch äußere Hindernisse mehrfach verzögert, in die Jahre 1829-1842 fällt. Dann erst werden wir auch Comte's spätere Arbeiten, die einen in mancher Beziehung sehr verschiedenen Charakter tragen, in gleicher Weise berücksichtigen. Vor allem, was versteht Comte unter p o s i t i v e r Phi I o so p h i e1 -Daß "positiv" nicht "c h ri s t1 ich" bedeute, wurde bereits bemerkt; was aber das Wort eigentlich besage, ist dadurch nicht klar ge1) Er war geboren am 19. Januar 1798.

Sie sind, so weit er sie nicht später selbst, als verfehlt und der Aufbewahrung unwürdig, vernichtet hat, in chronologischer Ordnung folgende: 1. Separation generale entre les opinions et les desirs (Juli 1819). 2. Sommaire appreciation de l'ensemble du passe moderne (1820). 3. Plan des travaux scientifiques necessaires pour reorganiser la societe (Apr. 1822; die wichtigste unter diesen kleineren Schriften). 4. Considerations philosophiques sur les sciences et les savants (1825). 5. Considerations sur le pouvoir spirituel (1826). 6. Examen du traite de Broussais sur l'irritation et la folie (August 1828). 2)

Charakter der positiven Philosophie

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worden. Ja, auch was Comte Philosophie nennt, muß er uns erklären; faßt doch bekanntlich jeder andere Philosoph den Begriff in anderer Weise. Also nochmals, was heißt das, positive Philosophie1 Schon in der Vorrede zum ersten Bande seines großen Werkes finden wir eine kurze Antwort auf unsere Frage. Das Wort Philosophie, sagt Comte, gebrauche ich in dem Sinne, den es bei den Alten und namentlich bei Aristoteles hatte; es bezeichnet mir das allgemeine System der menschlichen Gedanken. Indem ich aber das Wort positiv beifüge, will ich andeuten, daß ich zu jener Weise des Philosophierens mich bekenne, die als das Ziel der Forschung, auf welchem Gebiete des Denkens es auch immer sei, nichts als die Verknüpfung der beobachteten Tatsachen betrachtet. Ohne Zweifel ist in diesen Worten, soweit es ihre Kürze erlaubt, die Eigentümlichkeit der Philosophie Comte's scharf gezeichnet und deutlich ausgesprochen; doch wird nur der sie recht verstehen können, der das Ganze seines Werkes bereits durchmessen hat. Comte selbst ist weit entfernt, dies zu verkennen, und wir finden ihn darum in seiner ersten Vorlesung bemüht, den Charakter seiner Philosophie mehr ins Licht zu setzen. Um die wahre Natur und die eigentümliche Weise der positiven Philosophie entsprechend zu erklären, sagt er, ist es nötig, zuvor auf den gesamten Entwicklungsgang des menschlichen Wissens einen Blick zu werfen. Hier glaube ich ein großes und grundlegendes Gesetz, dem die Menschheit mit unabänderlicher Notwendigkeit unterworfen ist, entdeckt zu haben; und dieses besteht darin, daß sie auf jedem der hauptsächlichen Gebiete des Denkens der Reihe nach drei Phasen durchschreitet, zuerst die t h e o l o g i s c h e oder fi k t i v e , dann die

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Auguste Comte und die positive Philosophie

m e t a p h y s i s c h e o d e r a b s t r a k t e , endlich die w i s s e n s c h a f t li c h e oder p o s i t i v e Phase. Mit anderen Worten, dem menschlichen Geiste ist es natürlich, auf jedem Gebiete der Forschung nacheinander drei Methoden anzuwenden, deren Charakter wesentlich verschieden, ja sogar schlechterdings entgegengesetzt ist; zuvörderst die theologische, danach die metaphysische und schließlich die positive Methode. Daher gibt es drei Arten von Philosophieen oder von allgemeinen, das Ganze der Phänomene umfassenden Systemen, die einander gegenseitig ausschließen; die erste der notwendige Ausgangspunkt des menschlichen Verstandes, die letzte der feste und bleibende Zustand, bei dem er endet, die zweite bloß bestimmt, zwischen beiden als Übergang zu dienen. In der theologischen Phase betrachtet der menschliche Geist, in seinen Forschungen vornehmlich auf die innere Natur der Dinge, auf die wirkenden und Endursachen, kurz auf die ab s o 1 u t e n Erkenntnisse gerichtet, jeden ihm auffallenden Vorgang als die Wirkung der unmittelbaren und fortwährenden Tätigkeit einer gröBeren oder kleineren Zahl von f r e i e n , v e r n ü n ft i g e n W e s e n , deren willkürliches Eingreifen alle scheinbaren Anomalien des Universums erklärt. Die meta physische Phase ist im Grunde eine bloße durchgängige Modifikation der ersten. In ihr treten an die Stelle jener persönlichen Wesen abstrakte Kräfte, d. h. Abstraktionen, die man zu wirklichen, besonderen Entitäten macht, und die, den verschiedenen Dingen in der Welt innewohnend, durch sich selbst alle beobachteten Erscheinungen erzeugen sollen. In der Angabe der jedem der Phänomene entsprechenden Entität besteht dann seine Erklärung. In der p o s i t i v e n Phase endlich erkennt der menschliche Geist die U n m ö glichkeit, zu absoluten Erkenntnissen zu

Drei Phasen phylogenetischer Geistesentwicklung 105 g e 1 an g e n; er entsagt der Forschung nach dem Ursprung und Ziele der Welt und der Erkenntnis der inneren Ursachen der Erscheinungen, um sich mit den vereinten Mitteln von Vernunft und Beobachtung ausschließlich auf die Entdeckung ihrer f es t e n Ges e t z e , d. i. ihrer u n v e r ä n d e r li c h e n V e rhältniese von Aufeinanderfolge und Ä h n 1 ich k e i t , zu verlegen. Die Erklärung der Tatsachen, auf ihre wirkliche Bedeutung zurückgeführt, ist von da an nichts mehr als die Herstellung der Verbindun g e n z w i s c h e n den verschiedenen besonderen Phänomenen u n d e i n i g e n a 11 g e m e i n e n T a t s a c h e n, deren Zahl der Fortschritt der Wissenschaft immer mehr zu verringern strebt. Die drei Phasen der Entwicklung, die Comte hier unterscheidet, und die Ordnung ihrer Aufeinanderfolge sind einer der Gedanken, die, mit jener diesem Denker eigentümlichen, konsequentenEnergie nach allenSeiten durchgeführt, das Ganze seiner Lehre durchsäuern. Insbesondere ruht auch seine soziale Dynamik, von der wir später hören werden, und die nach dem Urteile vieler die merkwürdigste unter allen seinen Leistungen ist, vollständig auf dieser Grundlage. Wir können daher nicht umhin, noch einen Augenblick bei diesen Sätzen zu verweilen, um zu sehen, wodurch Comte sie begründet glaubt. Unmittelbare Beobachtung und Reflexion auf die menschliche Natur bieten nach Comte beide für sein Grundgesetz der Entwickelung die schlagendsten Beweise. Vor allem liegt für jeden, der eine tiefergehende Kenntnis der allgemeinen Geschichte der Wissenschaften hat, in dieser selbst eine vollkommene Bestätigung. Denn nicht ein e unter allen, die jetzt ins positive Stadium getreten sind, ist zu nennen, die

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Auguste Comte und die positive Philosophie

nicht jeder, wenn er in die Vergangenheit blickt, wesentlich aus metaphysischen Abstraktionen bestehend und, wenn er noch weiter zurückgeht, gänzlich beherrscht von theologischen Ideen findet. Wir werden leider, sagt Comte, in den verschiedenen Teilen unseres Kurses mehr als einmal Gelegenheit haben zu sehen, wie die am meisten entwickelten Wissenschaften noch heute sehr merkliche Spuren jener primitiven Zustände an sich tragen. Die Betrachtung der Geschichte der Wissenschaft ist aber nicht die einzige Weise, in welcher sich unser Gesetz durch unmittelbare Beobachtung bewährt. Vielmehr ist, was wir täglich bei der Entwickelung des menschlichen Verstandes vor Augen haben, eine nicht minder deutliche Bestätigung desselben. Denn, da der Ausgangspunkt bei der Bildung des Einzelnen und bei der Erziehung des Geschlechtes notwendig derselbe ist, so müssen nach den verschiedenen Hauptphasen der ersten auch die Grundepochen der zweiten sich bestimmen. Wohlan denn I blicke jeder auf seine eigene Geschichte! In bezug auf seine wichtigsten Begriffe war er Theolog in seiner Kindheit, in seiner Jugend Metaphysiker, und positiver Denker erst im Alter männlicher Reife. Jeder, der auf der Höhe seines Jahrhunderts steht, wird dies leicht bewahrheitet finden. Was sich aber so in unmittelbarer Weise beobachten läßt, das ergibt sich mit gleicher Klarheit auch dem Nachdenken als eine Forderung der menschlichen Natur. Der Mensch besitzt eine ursprüngliche Neigung, die eigene innere Beschaffenheit auf die ganze Außenwelt zu übertragen. Das Kind hält nicht bloß die tickende Uhr für belebt, es erzürnt sich auch über den "bösen" Tisch, an dem es sich gestoßen. Für jedes Wirken setzt es eine Analogie seines Willens als wirkendes Prinzip voraus. So dachte denn auch das

Natürlichkeit der Phasenfolge

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ganze menschliche Geschlecht die äußere Welt nach Analogie der inneren. Fanden die Menschen in sich den Willen als das Prinzip, welches eingreifend die Glieder des Leibes bewegte, so glaubten sie ohne weiteres, jede von ihnen unabhängige Veränderung auf einen ähnlichen Ursprung zurückführen zu müssen. Ein allgemeiner Fetischismus, der Hylozoismus, war darum notwendig die erste Weise der Naturerklärung; also der Anfang der Philosophie eine Art Theologie. Die folgende Betrachtung mag dies noch deutlicher machen. In jeder Epoche der Forschung ist eine Theorie Bedürfnis, um die Tatsachen zu verbinden. Auch schon beim ersten Beginn war eine solche unentbehrlich. Wohl bestand damals die augenscheinliche Unmöglichkeit, sich Theorien nach der Beobachtung zu bilden, auf der doch alle wahre Erkenntnis ruht. Aber die erste Zeit konnte und durfte nicht so denken; denn wie zu einer positiven Theorie Beobachtung, so ist zur Hingabe an die Beobachtung eine Theorie nötig. Ohne unmittelbare Anknüpfung der Phänomene an gewisse Grundanschauungen wäre es uns unmöglich, die vereinzelten Beobachtungen zu verbinden, und folglich daraus Frucht zu ziehen. Nicht einmal im Gedächtnis könnten wir sie bewahren, und in den meisten Fällen würden die Tatsachen uns ganz entgehen. Damit dies nicht geschehe, muß ein leitender Gedanke unserm Blick eine bestimmte Richtung geben und unsere Aufmerksamkeit schärfen. So sah sich der Mensch in den Anfängen seiner geistigen Entwicklung in einer Art von Circulus vitiosus gefangen, und aus ihm war kein Entkommen außer auf dem glücklicherweise durch die Natur gegebenen Auswege der theologischen Ideen. Diese wurden das Band seiner Beobachtung und gaben seinem Streben Richtung und Kraft. Die theologische Philosophie stimmt aber auch zu-

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gleich zur eigentümlichen Natur der Untersuchungen, die allein ursprünglich den menschlichen Geist anzuziehen vermochten. Auf die unnahbarsten Wahrheiten, auf die innere Natur der Dinge, auf den Ursprung und das Ziel alles dessen, was uns erscheint, gingen damals die Fragen; die wahrhaft lösbaren Probleme wurden alle fast als unwürdig eines ernsten Nachdenkans betrachtet. Dieser Kontrast zwischen der Größe des Mutes und der Kleinheit der Kraft mag im ersten Augenblicke auffallen; aber dennoch war er natürlich, konnte ja die Erfahrung allein das Maß der Kräfte kennen lehren. Und man kann die Täuschung, welcher die ersten Menschen sich in dieser Beziehung hingaben, wohl eine glückliche nennen; denn ohne eine solche übertriebene Vorstellung, die das Unmögliche als möglich erscheinen ließ, würden sie niemals auch nur zu der erreichbaren Entwickelung gelangt sein. Wie aber würde man damals die positive Philosophie aufgenommen haben, die als das Höchste die Entdeckung der Gesetze der Phänomene anstrebt und deren erste Eigentümlichkeit es ist, alle jene erhabenen Geheimnisse als unerforschlich anzusehen 7 Sie konnte in dem, was sie verhieß, in keiner Weise sich mit ihrer Nebenbuhlerin messen; sie bot nichts, während die theologische Philosophie alles bot, und was sie selbst etwa noch Dürftiges versprach, das konnte sie nicht der Gegenwart, sondern nur einer fernen Zukunft verheißen. Für die Zukunft arbeiten! das wäre ihre Losung gewesen; arbeiten und andere ernten lassen! Dies führt uns vom theoretischen zum praktischen Gesichtspunkte über, von dem aus sich mit derselben Klarheit zeigen wird, daß keine andere Anschauung außer einer theologischen dem ursprünglichen Menschen angemessen sein konnte. Niemals hätte nämlich der Mensch den natürlichen Wider-

Praktischer Nutzen der "theologischen" Phase

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willen gegen die Last einer ungewohnten Arbeit überwunden, ja niemals wäre er aus seiner ersten Teilnahmslosigkeit herausgetreten, wenn nicht angezogen von der Hoffnung auf eine unumschränkte Herrschaft über die Welt, und ermutigt durch die bleibende Möglichkeit eines unwiderstehlichen Beistandes. Im Schimmer seiner theologischen Anschauungen die Welt betrachtend, konnte er wohl hoffen, das Ganze der Natur werde seinen Wünschen sich fügen, nicht zwar von seiner eigenen Kraft gebändigt, aber beherrscht von jenen idealen Gewalten, denen er eine unbeschränkte Macht beilegte. Es galt nur, ihre Liebe zu gewinnen und sich so der Hilfe ihres willkürlichen Eingriffes zu versichern. Jetzt stehen wir freilich jenem alten Standpunkte fern und mancher mag deshalb an der Macht und Notwendigkeit solcher Betrachtungen in jenen ersten Zeiten zweifeln. Aber man denke, wo unsere Wissenschaft wäre ohne die Chimären der Astrologie und die Träume der Alchymie; eine Bemerkung, die schon längst der große Kepler für die Astronomie, für die Chemie in neuerer Zeit Berthelot gemacht hat. Man sieht also, sowohl als Methode als auch als provisorische Doktrin war die theologische Philosophie ursprünglich gefordert. Nur sie konnte den Anfang machen, als allein in spontaner Weise entstehend, und zugleich als allein fähig, jener ersten Zeit ein hinreichendes Interesse einzuflößen. Wie aber die theologische Betrachtungsweise als Ausgangspunkt, so zeigen sich die metaphysischen Lehren als Übergang notwendig. Unser Verstand geht immer nur Schritt für Schritt. Unmöglich konnte er plötzlich und unvermittelt den theologischen mit dem positiven Standpunkte vertauschen. Theologie und Positivismus sind so unverträglich, daß intermediäre Ideen nötig waren, Theorien von einem Bastard-

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Auguste Comte und die positive Philosophie

charakter, und dadurch selbst zur Bewerkstelligung des Überganges geeignet. Dieses ist die natürliche Bestimmung der metaphysischen Ideen, sie haben sonst keinen wirklichen Wert und Nutzen. Indem die Metaphysik bei der Erforschung der Phänomene der leitenden Tätigkeit eines übernatürlichen Wesens eine entsprechende und untrennbare Entität substituierte, die anfänglich nur wie ein Ausfluß von ihr, dann unabhängig betrachtet wurde, gewöhnte sich der Mensch allmählich daran, nur auf die Tatsachen selbst zu sehen, indem die Begriffe dieser metaphysischen Agentien mehr und mehr verfeinert und verflüchtigt wurden, bis sie zuletzt in den Augen aller Männer von gesundem Urteile nichts mehr als die abstrakten Namen der Phänomene waren. -Was ist es, wodurch ein Körper den anderen anzieht! - Seine Anziehungskraft! - Und was macht, daß das Opium einschläfert! Seine Einschläferungskraft I wie Moliare wenigstens karikierend seinen Arzt sagen läßt. Das blödeste Auge mußte nunmehr erkennen, daß hier keine Ursache, sondern nur, in naiver Wiederholung, das zu erklärende Phänomen selbst für sich selbst als Erklärung angegeben wurde. Wenn man erfinden wollte, sagt Comte, so wäre es nicht möglich, eine andere Art des Übergangs von geradezu übernatürlichen zu rein natürlichen Betrachtungen, von der Herrschaft der Theologie zu der des positiven Geistes auch nur zu fingieren. Nach diesem kurzen Blicke auf das Gesetz der Entwickelung der menschlichen Forschung ist es nunmehr leicht, die eigentümliche Natur der positiven Wissenschaft zu bestimmen. Wir sehen aus dem Gesagten, daß ihr Grundcharakter darin besteht, alle Phänomene als unveränderlichen natürlichen Gesetzen unterworfen zu betrachten. Die genaue Auffindung derselben und ihre Zurückführung auf eine möglichst

Die positive Phase

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geringe Zahl sind dem positiven Denker das Ziel aller seiner Anstrengungen. Als gänzlich unfruchtbar und sinnlos erscheint ihm dagegen die Forschung nach dem, was man Ursachen nennt, seien es wirkende oder Endursachen. Jeder, meint Comte, der ein nur einigermaßen gründliches Studium den beobachtenden Wissenschaften gewidmet hat, versteht, was hier gesagt wurde, ohne Schwierigkeit und wird mit seiner Zustimmung nicht zögern. Denn jeder in der Tat weiß, daß wir dort bei unseren positiven Erklärungen, und wären es auch die vollkommensten, niemals den Anspruch machen, die erzeugenden Ursachen der Phänomene darzulegen, sondern daß wir nur darauf ausgehen, mit Genauigkeit die Umstände ihres Entstehans zu analysieren und die einen mit den andern durch regelmäßige Beziehungen von Aufeinanderfolge und Ähnlichkeit zu verknüpfen. Doch wir wollen den Gedanken zum Überflusse noch an einem Beispiele klar machen, und es soll uns auch als solches ein Fall von Naturerklärung dienen, dem die Wissenschaft keinen zweiten von gleicher Vollkommenheit an die Seite zu stellen hat; wir meinen die Erklärung der allgemeinen Phänomene des Universums durch das von Newton festgestellte Gravitationsgesetz. Dieses Gesetz zeigt uns von der einen Seite die unermeßliche Mannigfaltigkeit astronomischer Tatsachen als eine einzige, unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet, nämlich als die Tatsache, daß die Körper zueinander streben im direkten Verhältnisse ihrer Massen und im umgekehrten Verhältnisse der Quadrate ihrer Entfernungen. Es stellt uns von der anderen Seite diese allgemeine Tatsache dar als die einfache Erweiterung eines Phänomens, mit dem wir wie mit keinem anderen vertraut sind, nämlich der Schwere der Körper auf der Erdoberfläche. Aber bestimmt es

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Auguste Comte und die positive Philosophie

vielleicht auch das Geringste darüber, was diese Anziehung und was diese Schwere in sich selbst seien 1 Zeigt es uns die Ursache, warum die Körper einander anziehen1 - Keineswegs! Vielmehr betrachtet jeder Physiker diese Fragen als solche, die unlöslich und nicht mehr zum Gebiete der positiven Forschung gehörig seien. Er überläßt sie mit Recht der Einbildungskraft der Theologen oder der Subtilität der Metaphysiker. Das also ist die Wissenschaft; danach und in dieser Weise forscht sie, wenn sie forscht, wie sie forschen soll. Halten wir, ehe uns Comte weiter führt, um uns innerhalb dieser positiven Wissenschaft die Stellung der positiven Philosophie zu zeigen, ein wenig inne, und werfen wir einen prüfenden Blick auf die bisherigen Erörterungen zurück, sowohl auf das, was uns darin als die richtige wissenschaftliche Denkweise empfohlen wurde, als auch auf die geschichtliche Folge der drei Phasen. Wohl mancher, der hier zum ersten Male die Bestimmungen Comte's über das Wesen und den Geist der positiven Betrachtungsweise hörte, mag sich darüber verwundert und selbst zu sich selbst gesprochen haben: Wie! Was ist mir das für eine Lehre, in der alles Irrtum und Verkehrtheit ist1 Haben wir hier etwas anderes als den alten, absurden und längst widerlegten Skeptizismus Hume's, der auch bei Kant nur allzusehr maßgebend wurde! - Und in der Tat, der Vorwurf scheint nicht unberechtigt; der wiederholte Ausdruck Phänomen ist ja für sich allein schon solchen Verdacht zu erregen geeignet. Indem Comte erklärt, "die positive Phase entsage der Erkenntnis der inneren Ursachen der Phänomene", glauben wir einen Schüler Kants zu hören; und wenn er dann freilich selbst einmal gelegentlich bemerkt, daß er mit dem Studium Kant's wie mit dem der späteren

Der Ausdruck "Phänomen"

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deutschen Denker sich nicht befaßt habe'), so beweist dies nichts gegen einen wenigstens mittelbaren Zusammenhang beider Philosophen. Sollte aber auch gar keine historische Verbindung zwischen ihnen bestehen, die Übereinstimmung ihrer Lehre wäre dann vielleicht auffallender, aber nicht minder sicher; denn nur phänomenale, nicht reale Wahrheit scheint auch nach den klaren Worten Comte's das für uns allein Erreichbare zu sein. Ferner, werden wir nicht deutlich an Hume erinnert, wenn wir behaupten hören, daß keine Erkenntnis der Ursachen uns möglich seiT Was wir wahrnähmen, sagte dieser erklärte Skeptiker - und es war dies der vorzügliche Hebel, mit dem er die Wissenschaft aus den Angeln hob -, seien nur Verhältnisse zeitlicher Sukzession, die wir unberechtigt in Verhältnisse der Kausalität verwandelten. Ganz ähnlich schien auch Comte zu sprechen. Und hier hat der Zusammenhang nicht jene Schwierigkeit; denn nicht bloß leugnet Comte nicht, Hume zu kennen, sondern er ehrt ihn sogar vor den meisten anderen Philosophen. Aber dennoch würden wir in beiden Fällen Comte in einer argen Weise mißdeuten, wenn wir seine Worte in eigentlich skeptischem Sinne nähmen. Vor allem, was den Ausdruck P h ä n o m e n betrifft, so ist er bei unserem Philosophen nicht wie bei Kant zu verstehen. Wir würden irren, wenn wir unter Comte's phenomene ein Kautisches r.pcxtv6f-Levov uns denken wollten, eine Erscheinung, hinter der in unnahbarem Verstecke das voouf-Levov, das Ding an sich, verborgen wäre. Schon das mag hiefür als Zeichen dienen, da.ß Comte mit Phänomen häufig geradezu den Ausdruck 1)

Cours d. Pb. VI p. 34, Anm.

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Auguste Comte und die positive Philosophie

Tatsache als gleichbedeutend setzt, wie z. B. da er sagte: "die Erklärung der Tatsachen (faits) sei für den positiven Denker nichts als die Herstellung der Verbindung zwischen den verschiedenen besonderen Phänomenen (phenomimes) und einigen allgemeinen Tatsachen (faits)." Comte ist keineswegs mit Kant der Meinung, daß wir in keiner Weise zu einer realen Erkenntnis gelangen könnten. Die Existenz von Dingen, und zwar von einer Vielheit von Dingen - denn daß irgend etwas außer den Phänomenen existiere, hält auch Kant der Konsequenz zum Trotz aufrecht -, ist ihm unzweifelhaft. Auch daß den Dingen Größe und Gestalt, Ort, Zeit und Bewegung, und manchen von ihnen Denken und Empfindung zukommen, ist er weit entfernt zu bestreiten. Es ist allerdings richtig, daß er uns die ab s o I u t e Erkenntnis in bezug auf die Mehrzahl dieser Bestimmungen im speziellen abspricht. Aber hierin liegt kein skeptischer Irrtum, sondern im Gegenteil eine leicht zu bestätigende Wahrheit.•) Denn in der Tat, wer wüßte nicht, daß jede Zeit, wenn sie gegenwärtig ist, sich in gleicher Weise uns darstellt, und daß dasselbe im analogen Falle von jeder örtlichen Bestimmtheit giltt Und wer möchte leugnen, daß wir die absolute Ruhe oder Bewegung eines Körpers zu erkennen nicht imstande sind, namentlich nachdem die Astronomie uns die Erde selbst bis in ihr Innerstes erschüttert hatt - Nein, nein! Comte verdient hier keinen Tadel; in diesem Punkte müssen wir alle zu den Skeptikern stehen. Und was anderes also bleibt, das uns von ihnen unterscheiden könnte, wenn nicht die Behauptung der Erkennbarkeit der wahren Verh ä I t n iss e der Dinge1 - Die absolute Größe eines Körpers ist nicht bestimmbar, die relative können wir mit Genauigkeit messen und berechnen; die absolute Zeit eines Ereignisses ist uns unbekannt, das Früher

Wichtigkeit relativer Bestimmungen

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und Später können wir vielleicht bis auf Stunde und Minute angeben. Das also ist, was uns von den Skeptikern trennt, und es entfernt uns von ihnen weit und auf tausend Meilen. Denn man muß nicht glauben, daß in jenen Beziehungen der Dinge nur etwas Geringfügiges von uns erkannt werde, da vielmehr gerade sie das überwiegend Wichtige sind. Es darf uns gleichgültig sein, ob die ganze Geschichte Hunderte, ja Tausende und Millionen Jahre früher oder später spielt, ob das ganze Weltsystem in seinem Schwerpunkte ruht oder in gleichmäßiger, geradlinig-fortschreitender Bewegung ist, ob die Gesamtheit der Körper und jeder von ihnen im einzelnen nach jeder Richtung die doppelte oder die halbe Ausdehnung hat und höher oder tiefer, weiter rechts oder weiter links liegt im Raume,- dies und vieles Ähnliche ist für uns von keiner Bedeutung: die relativen örtlichen und zeitlichen Bestimmtheiten, die Unterschiede des Beisammen und Auseinander, des Zugleich und Früher und Später, die relative Ruhe oder Bewegung, die V e r h ä l t n i s s e der Größen und Dimensionen sind für uns von einem ganz anderen Belange. Auf ihrer Erkenntnis allein beruhen Mechanik und Kunst, und Theorie und praktisches Leben. Comte hat also hier an den Skeptizismus kein allzugroßes Zugeständnis gemacht, er hat nicht das Interesse der Wissenschaft geopfert; er ist nicht skeptischer als wir selbst, nicht skeptischer als jeder echte Philosoph sein muß. Wie steht es aber mit jener anderen Behauptung, ich meine mit dem, was Comte von der Ursache und ihrer Unerkennbarkeit lehrtet Tritt er nicht hiedurch in die Fußstapfen von Hume und verfällt der Skepsist Bei näherer Betrachtung müssen wir auch dies verneinen. Vor allem hat Comte nicht wie Hume die Existenz von Ursachen geleugnet. Im Gegenteil die ganze Art

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wie er bisher sprach, und wie er später sprechen wird, zeigt klar, daß er in keiner Weise an ihrem Vorhandensein zweifelt. Nur wir, das war seine Behauptung, sind nicht sie zu erkennen fähig. Aber auch dieses ist zweideutig und wird nicht in jedem Sinne von Comte gelehrt. Vor allem haben wir ja eben bemerkt, daß Comte die Ursachen nicht leugne. Er hält nicht weniger als andere daran fest, daß nichts, was geschehe, der wirkenden Ursache entbehre. In irgend etwas, in irgend einem Dinge liegt auch nach ihm jedesmal das wirkende Prinzip. Hiemit ist aber offenbar schon eine, wenn auch nur ganz allgemeine, Erkenntnis der wirkenden Ursache zugegeben. Mag uns die besondere Beschaffenheit der Ursache verborgen sein, dem allgemeinsten Begriffe nach haben wir mit Sicherheit erfaßt, was sie ist: sie gehört zu den Dingen. Aber auch die Möglichkeit der Erkenntnis, daß in diesem oder jenem Dinge der Grund eines Geschehens liege, will Comte uns, scheint's, nicht absprechen, wenn er die Erforschung der Ursachen als etwas Erfolgloses verwirft. Unmöglich könnte er sonst mit der Zuversicht, mit welcher er es tut, das Zeugnis der ganzen Naturwissenschaft und jedes einzelnen ihrer Zweige anrufen; unmöglich könnte er sagen, daß, was er allgemein ausspreche, im ganzen Bereiche der exakten Forschung jeder einzelne auf seinem Gebiete bekenne. Denn allerdings würden unsere Naturforscher, in solcher Weise zur Erklärung aufgefordert, wohl einmütig zusammenstimmen; nicht jedoch, um seinem Skeptizismus gemeinsamen Beifall zu geben, sondern um gemeinsam ihm zu widersprechen. Noch deutlicher aber wird seine wahre Ansicht, wenn er dann als erläuterndes Beispiel die Gravitation der Körper anführt, für die schon Newton durch Fest-

Comte leugnet nicht spezielle Kausalgesetze

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stellung des Gesetzes die vollkommenste naturwissenschaftliche Erklärung gegeben habe, für die aber dennoch weder dieser große Forscher noch ein anderer nach ihm die wirkende Ursache zu kennen sich einbilde. Was die Attraktion sei, worin sie ihren Grund habe, das, sagt Comte, sind Fragen, auf welche eine Antwort schlechterdings unmöglich ist. Denn das heißt doch wohl nicht antworten, wenn man sagt, die Anziehung sei die allgemeine Schwere, dann aber, gefragt, was die Schwere sei, diese umgekehrt wieder als die Anziehung der Erde bestimmt!- Offenbar will Comte es hier nicht für unerkennbar erklären, daß in den einander anziehenden Körpern und ihrer dermaligen gegenseitigen Stellung der Grund ihres Strebans zueinander liege; so wenig als er wird leugnen wollen, daß, wenn ein bewegter Körper an einen ruhenden stößt und dieser hiedurch in Bewegung kommt, der andere aber nach dem mechanischen Gesetze der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung eine Verlangsamung, unter Umständen auch eine Ablenkung erfährt oder zum Stillstande gebracht wird, - diese Erscheinung in den betreffenden Körpern und ihren vorhergehenden Zuständen wahrhaft ihre Ursache habe. Vielmehr ist, was er sagen will, etwas ganz anderes und etwas, was keineswegs verwerflich ist. - Was also ist sein Gedanke! Worin besteht die Schranke, die er hier für unsere Erkenntnis unübersteiglich glaubt! Comte leugnet, daß wir von den Körpern und ihren Eigenschaften, in welchen wir die Ursache jener Bewegungen zu suchen haben, eine so vollkommene Erkenntnis zu erlangen vermögen, daß wir einsehen, warum sie in dieser Weise sich wirksam zeigen und zeigen müssen; so etwa, wie wir aus den Begriffen zweier Zahlen, z. B. der Zahl 4 und der Zahl 2 erkennen, warum die eine genau das Doppelte der anderen ist und sein muß. Hier bleibt kein Wie und

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Weshalb zu beantworten übrig. Der Grund ihres Größenverhältnisses liegt uns deutlich in den Begriffen selbst vor. Wir verwundern uns nicht darüber, daß das Gesetz gleichmäßig und in allen Fällen sich bewährt; wir bedürfen nicht der Erfahrung und einer langen Reihe von Induktionen, um uns von seiner Allgemeingiltigkeit zu überzeugen: es leuchtet uns vielmehr a priori aus den Begriffen selber ein. Anders in dem Falle der Attraktion. Mögen wir hier erkennen, daß die Ursache gewisser Erscheinungen in gewissen Körpern liege, so haben wir doch nur a posteriori dieses Wissen erlangt; wir sind nicht so ins Innere gedrungen, und haben das, was Ursache ist, so in seinem Wesen erfaßt, daß wir, unabhängig von der Erfahrung, aus den Begriffen selbst die Erscheinung der Anziehung als Folge hätten voraussagen können. Auch jetzt, nachdem wir, gestützt auf eine gewissenhafte Induktion, dies zu tun vermögen, bleibt uns darum noch immer die innere Weise des ursächlichen Prinzips verborgen. Wenn wir sagen: die Erde strebt der Sonne zu, weil sie schwer ist - und: die Sonne zieht die Erde durch ihre Schwerkraft an, so geben wir hierin keine Enthüllung einer verborgenen Eigenschaft, welche als wirkendes Prinzip die Anziehung erklärte (bleibt ja doch die Weise der Verursachung und überhaupt der ganze Vorgang so dunkel wie zuvor), vielmehr liegt darin nur die Zurückführung des speziellen Falles auf ein generelles Gesetz, die Herstellung der Verbindung eines besondern Phänomens mit einer allgemeineren Tatsache. Die Sonne zieht die Erde an, weil sie a 11 e Körper anzieht, wie dies auch jeder andere Körper gegenüber jedem anderen tut. Wir sehen also, in welchem Sinne wir hier die Ursache erkennen, und in welchem sie uns verborgen bleibt, wir erkennen, daß irgend ein Ding als Ursache tätig ist, wir erkennen auch, daß in diesem

Das Wie und Warum erkennen wir nicht

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und jenem Dinge die Ursache liegt, ohne aber das Wie und Warum eigentlich zu verstehen und zu ergründen. Dieses nun ist der Sinn, in welchem Comte allgemein leugnet, daß die Erkenntnis der Ursachen uns zugänglich sei; in diesem Sinne ruft er und ruft mit Recht jede exakte Wissenschaft als Zeugin auf, und auch wir und überhaupt jeder, der ihn und sich selbst nicht mißversteht, wird ihm unbedenklich beistimmen. Allein wenn wir in solcher Weise seinem Gedanken hier vollen Beifall spenden, so verdient doch die Weise seines Ausdruckes kaum das gleiche Lob. Seine Redeweise ist zweideutig und ungewöhnlich. Dem Gedanken nach mit vielen einig, tritt er dem Worte nach mit ihnen in Gegensatz. Und es scheint zwar eine solche Abweichung unbedeutend, - denn in der Tat, das Wort ist nicht die Wissenschaft und kein Teil der Wissenschaft, - aber in solchen Neuerungen liegt immer die Gefahr, daß die Zweideutigkeit und besonders die entgegenstehende Gewohnheit eines anderen Verständnisses teils andere, teils sogar uns selber täusche und in Fehlschlüsse verwickele. Auch an Comte sollte sich dies und in der traurigsten Weise bewähren. Wir hörten, wie Comte die Forschung nach den ersten Ursachen als etwas dem positiven Geiste Fremdes von sich wies. Wir müssen fragen, in welchem Sinnet Will er nur sagen, es sei uns unmöglich, das, was die erste Ursache ist, in seiner Ursächlichkeit zu begreifen und einen Einblick in sein Wesen zu gewinnen, der alle seine Wirkungen uns apriorierkennen lasse, dann ohne Zweifel müssen wir ihm beistimmen, seine Zurückweisung ist vollkommen berechtigt, indem sie nichts als eine notwendige Konsequenz der von ihm aufgestellten und von uns rückhaltlos anerkannten Prinzipien ist. Aber unvermerkt

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Auguste Comte und die positive Philosophie

verkehrt sich ihm der Begriff in den eignen Händen. Comte will offenbar viel mehr sagen; denn unmöglich würde er sonst, wie er es doch wirklich tut, von vornherein die positive Forschung zu jeder Spekulation, die in einem göttlichen Verstande den Ursprung der Welt erblickt, in unversöhnlichen Gegensatz bringen. Wer sagt, ein vernünftiges Wesen sei das Prinzip der Welt und ihrer Ordnung, hat dadurch keineswegs behauptet, daß er in bezug auf das Entstehen der Welt jene Einsicht erlangt habe, die unserem Verstande sogar bei näher liegenden Wirkungen versagt ist. Wer kann sich anmaßen, zu sagen, daß er Gottes Natur und den freien*) Schöpfungsakt im eigentlichen Sinne verstehe und begreife, da es vielmehr offenbar ist, daß sich unsere Erkenntnis hier in nichts anderem als in negativen Umschreibungen und Analogien bewegt! Aber d a ß es einen Gott gebe, und daß dieser frei die Welt hervorgebracht habe, das sind Wahrheiten, die vielleicht trotzdem und mit aller Strenge zu erweisen sind. Das Eine und das Andere sind etwas durchaus Verschiedenes. Betrachten wir, damit uns die Sache recht deutlich werde, einmal uns selbst und den Einfluß, den wir durch unser vernünftiges Wollen auf unseren eignen Körper üben. Daß mein Wille die Ursache von den Bewegungen der Hand sei, mit der ich jetzt die Feder führe, zieht wohl kein Vernünftiger in Zweifel. Wie er es aber tue, das weiß weder ein anderer, noch weiß ich es selbst zu sagen. Auch ich nehme es a posteriori wahr, daß auf mein Wollen die entsprechende Bewegung folgt, und dies mit einer Regelmäßigkeit, die den kausalen Zusammenhang erkennen läßt. In die höchst wunderbare Weise der Verursachung blicke ich aber nicht ein, sie ist mir ein unerforschliches Rätsel und würde auch ein solches bleiben, wenn wir physiologisch das Zentralorgan des sensitiven Lebens,

Der metaphysische Agnostizismus unberechtigt 121 welches zunächst den Einfluß erfährt, gefunden hätten. Wir sehen also, der Umstand, daß wir hier erkennen, daß ein vernünftiges Prinzip die Ursache einer gewissen Wirkung ist, ändert nichts daran, daß die Weise der Ursächlichkeit uns unbegreiflich bleibt. Der allgemeine Schleier, der uns über jeder Verursachung liegt, wird auch hier nicht gehoben. Ähnliches wird demnach auch in dem Falle gelten, wenn ein vernünftiges Wesen als erstes wirkendes Prinzip, als die erste und ausschließliche und vollkommene, das ist als die schöpferische Ursache der Entstehung der Welt erwiesen würde. Aus diesem Grunde wenigstens kann also die positive Philosophie sich nicht von vornherein gegen jede theologische Forschung erklären, obwohl ich fürchte, daß Comte, durch die Zweideutigkeit der eigenen Terminologie getäuscht, sich durch ihn vorzüglich hat bestimmen lassen. Aber vielleicht ist das gegen die Exaktheit des positiven Stadiums und verträgt sich bloß mit dem kindlichen primitiven Standpunkte unseres Denkens, daß hier etwas uns Äußeres in gewisser Weise in A n a I o g i e zu u n s s e I b s t u n d unserem Innern erklärt wird! - Nicht doch! Ist ja doch nicht jede Analogie verwerflich, zumal für einen Forscher, der auf die Induktion so großes Gewicht legt, wie Comte es tut, und warum sollte da gerade allein die Analogie zu unseren eigenen inneren Akten niemals und nirgendwo berechtigt seint In der Tat käme man dann notwendig zu jenem törichten Zweifel, den, zur Verwunderung der Welt, einzelne Philosophen in betreff der Empfindungen, Affekte und willkürlichen Bewegungen der Tiere aussprachen. Wenn ein Hund, auf den Schwanz getreten, heult, so scheint dies diesen Sonderlingen im wesentlichen nichts anderes, als wenn die Lokomotive pfeift auf den Druck einer Klappe. Descartes hatte sich dahin

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Auguste Comte und die positive Philosophie

verrirrt. Aber Comte ist so weit entfernt, ihn hier wegen seiner exakten Forschung und positiven Anschauungsweise zu preisen, da.B er sie irgendwo geradezu "la memorable aberration de Descartes" nennt. Ich brauche für ihn also nicht mehr beizufügen, daß er dann konsequent auch an dem Denken und Wollen seiner Mitmenschen zweifeln müßte. Wenn nun auch dieser Umstand die positive Philosophie nicht von vornherein berechtigt, über jeden V ersuch eines Beweises des Daseins Gottes den Stab zu brechen, so ist überhaupt nicht mehr einzusehen, welcher andere Grund dazu berechtigen könnte, wenn nicht etwa der, da.B die Annahme eines göttlichen Wesens unvereinbar mit der Erforschung der Naturgesetze wäre, welche die positive Philosophie beobachtend zu ermitteln strebt. Dies wäre der Fall, wenn, wie allerdings Gegner des Theismus behauptet haben, fortwährende, willkürliche, alle Ordnung und Regelmäßigkeit aufhebende Eingriffe die notwendige Folge der Existenz eines göttlichen Wesens wären. Aber dies ist keineswegs richtig. Allerdings sind, in alter Zeit wenigstens, solche Fehler gemacht worden. Aber welcher, ich frage, welcher unter den großen theistischen Denkern, sei es im Altertum ein Aristoteles, sei es ein Descartes, Locke, Leibniz in der neueren Zeit, hat dies für notwendig gehalten' Sie glaubten eben die Gottheit nicht blo.B frei und mächtig, sondern auch weise denken zu müssen. Und auch das Christentum, wenn es die Möglichkeit und Wirklichkeit einzelner Wunder behauptet, ist weit davon entfernt, es für möglich und mit der Weisheit Gottes verträglich zu halten, daß er durch fortwährende und willkürlich-regellose Eingriffe die ganze natürliche Ordnung der Dinge aufhebe und unkenntlich mache. Es sieht in der natürlichen Ordnung wie im Wunder eine 0 f f e n bar u n g Gottes, was in

Comte's Stellung zum Theismus

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einem solchen Falle weder die eine noch das andere sein würde; die natürliche Ordnung nicht, denn sie wäre zerstört; das Wunder nicht, denn es fehlte das Maß, woran man es messen und als Abweichung bestimmen könnte.*) Comte selbst ist auch nicht so töricht, aus einem solchen Grunde die Annahme einer göttlichen Macht als mit der Wissenschaft unvereinbar anzusehen. In einem späteren Werke, seinem ,,Systeme de politique positive", tritt dies namentlich deutlich hervor. Daß ein Gott sei, gilt ihm zwar auch hier für nicht erkennbar. Aber, weit entfernt ihn zu leugnen, zögert er nicht, sein Dasein sogar für das Wahrscheinlichere zu erklären, indem dann die Ordnung der Welt uns besser begreiflich werde, als unter der Annahme eines planlosen, blinden Mechanismus. Ja, obwohl er sich weigert, Gott, als etwas nicht wissenschaftlich Erweisbares, zur Basis seiner Moral und Politik zu machen, so argumentiert er doch da, wo er die ersten Prinzipien des Handeins bespricht, nicht ohne Rücksicht auf ihn, indem er zeigt, wie auch unter der Annahme einer göttlichen Providenz, wer der von ihm gegebenen Richtschnur des Handeins folge, am vernünftigsten handle, indem er vor andern ihres Wohlgefallens sicher sein könne. Doch davon später. Genug, daß wir gesehen haben, wie der Glaube an einen Gott nicht unverträglich mit der Erforschung der Naturgesetze ist, und wie darum Comte selbst nicht das Dasein Gottes, sondern nur seine Erkennbarkeit leugnet. Nun bleibt nur noch eine einzige Weise übrig, in welcher der Theismus ein Feind der positiven Naturerforschung werden könnte. Auch dann nämlich würde er das Ende und der Tod aller wissenschaftlichen Untersuchungen sein, wenn einer mit der Entdeckung, daß alles von Gott herrühre, sich aller Erforschung der sekundären Ursachen und ihrer Gesetze

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Auguste Comte und die positive Philosophie

entbunden glaubte, indem er mit Überspringung aller sekundären wirkenden Prinzipien immer sogleich auf Gott als den ersten und vollkommenen Erklärungsgrund hinüberwiese. Warum beschreiben die Planeten diese Bahn1 - Antwort: weil Gott es so will! - Warum gehen Sonne, Mond und Sterne täglich auf und unter! -Weil Gott es so will. Diese Antworten allerdings sind im strengsten Sinne richtig; aber dennoch ist es klar, daß eine Beschränkung auf sie die Aufhebung der ganzen Astronomie sein würde, und Ähnliches würde bei ähnlichen Verfahren in betreff der andern Wissenschaften die Folge sein. Auch hier gilt, daß manchmal von Theisten solche Fehler gemacht worden sind und noch gemacht werden. Man hat, um sich davon zu überzeugen, nur an die gewöhnliche theologische Politik mit ihrem unklaren und utrierten "von Gottes Gnaden" zu denken. Man nimmt manchmal gar zu unmittelbar vom Tische des Herrn die Krone. Aber auch auf andern Wissensgebieten finden wir solche Verirrungen. Oder war es vielleicht ein anderer Fehler, wenn man in den Büchern der Naturwissenschaft aus einer minder vorgeschrittenen Zeit auf die Frage, warum die Weiden so gut an feuchtenPlätzen wachsen, die Antwort findet: Um die Ufer der Flüsse gegen Wegschwemmung schützen zu können 1 Angenommen auch, es sei gegen eine solche Teleologie nichts einzuwenden, so ist dies doch offenbar ein allzugroßer Sprung über die ganze Reihe mechanischer Zwischenursachen hinweg bis hin zum zwecktätigen Verstande Gottes und der organischen Zusammenordnung aller Dinge im Weltganzen. Aber der Theismus involviert nicht notwendig solche Ungereimtheiten. Wenn wir wissen, daß unser Wille die Hand bewegt, wird dadurch die physiologische Forschung müßig, welche die vermittelnden Glieder zu entdecken strebt! So also auch nicht die

Positivismus und Theismus verträglich

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Frage nach den geschöpfliehen Ursachen allgemeinerer Phänomene. Der größte Theist des Altertums, Aristoteles, nach welchem Himmel und Erde von der Kraft des einen göttlichen Verstandes getragen werden•), stellt nichtsdestoweniger die Regel auf, daß man, nach den Ursachen einer Erscheinung gefragt, ihre nächsten Prinzipien angeben müsse, die nächste Materie, das nächste wirkende Prinzip und so in betreff der übrigen.1 ) Fassen wir das Gesagte kurz zusammen! Wir sehen, daß die positive Betrachtungs- und Forschungsweise nicht von vornherein sich gegen den Theismus abzuschließen berechtigt ist; weder darum, weil sie die Erkenntnis der Ursachen überhaupt für unmöglich hält,- denn dies tut sie nicht in jedem Sinne, sondern nur insofern, als sie keine solche Einsicht in das Wesen der Ursache zu erlangen hofft, daß ihr daraus die Wirkung selbst begreiflich würde -; noch darum, weil sich die Annahme eines göttlichen Verstandes auf die Analogie mit dem eigenen Wirken stützt; noch endlich darum, weil die theistische Anschauung die Entdeckung der Naturgesetze unmöglich macht, sei es, weil sie die Ordnung der Natur selbst aufhebt, sei es, weil sie ihre Erforschung als unnütz verwirft, indem sie in Gott den Erklärungsgrund von allem gefunden habe. Wie also kann allein von einer theologischen Spekulation gesprochen werden, welche im Gegensatze zur positiven stehU- Nur so, daß man darunter ein Verfahren versteht, welches vorschnell und ohne exakte Begründung den Vorgängen in der äußeren Natur Analoga unserer Seelentätigkeiten, unseres Denkens, Empfindans und W ollens als Prinzipien unterlegt, •) Metaph. XII, 7. Metaph. VIII, 4.

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oder auch, mit Vernachlässigung der nächsten Ursachen, mit einem Hinweise auf den Willen und die :Macht einer Gottheit alles getan zu haben glaubt. Und in der Tat, es ist klar, daß dieses, und namentlich das Erstere, im wesentlichen nichts anderes ist als das, was uns Comte selbst im Anfange als theologische Betrachtungsweise schilderte. Er nannte sie darum nicht bloß die theologische, sondern auch die f i k t i v e Erklärungsweise; ein Name, der in vieler Hinsicht passender ist und, um ganz deutlich zu werden, nur näher als die P e r s o n e n f i n g i e r e n d e zu bestimmen wäre'). Wir bleiben Comte getreuer als er selbst, wenn wir an dem so gefaßten Begriffe festhalten. Wie der Name theologisch, so ist auch der Name meta p h y s i s c h in einem anderen als dem gewöhnlichen Sinne gebraucht. Es bedarf dies aber, weil es durch Comte's eigene Bestimmung genugsam deutlich ist, kaum einer besonderen Bemerkung. Würde er nämlich darunter die erste Philosophie des Aristoteles, die Wissenschaft vom Seienden im allgemeinen verstehen, so würde er sie, angenommen sogar, sie sei mit der positiven Forschungsweise unvereinbar, doch nicht mit der Theologie in Gegensatz gebracht haben, da sie bei Aristoteles unterschiedslos gerade auch mit diesem Namen bezeichnet wird. Comte selbst ist aber auch weit entfernt, diese Metaphysik verdammen zu wollen. Wohl muß der Irrtum, der ihm alle theologische Spekulation von vornherein verwerflich erscheinen läßt, der Metaphysik großen Eintrag tun; die Forschung nach den ersten Gründen der Dinge wird ihr verschlossen. Aber andere Fragen bleiben offen, die ebenfalls auf solches, was allen Dingen gemeinsam ') Auch Stuart Mill bemerkt in seiner Monographie über Comte und den Positivismus: "Statt von t h e oI o g i scher Naturerkiärung zu sprechen, würde ich lieber personelle oder v o I i t i o n e 11 e sagen."

Die "entitätenfingierende Erklärungsweise"

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ist, gerichtet sind. Und so hat sogar Comte selbst in einem schon oben genannten späteren Werke, dem Systeme de politique positive, eine erste Philosophie aufgestellt, welche die allgemeinsten, auf allen Gebieten der Erscheinungen gleichmäßig geltenden Gesetze umfassen und beim Studium den besonderen Wissenschaften vorangehen soll. 7 ) Dieses also ist nicht die Metaphysik im Sinne Comtes. Wir würden, wie wir seinen Ausdruck "theologisch" lieber mit "personenfingierend" vertauschen möchten, hier die Bezeichnung e n t i t ä t e n f i n g i e r e n d e Erklärungsweise der von ihm gewählten vorziehen. Wenn man einerseits auf die Weise achtet, wie Comte die metaphysische Spekulation charakterisierte und andererseits an die Rolle denkt, welche besonders in der ausgearteten Scholastik die den konkreten Dingen inwohnenden Entitates, Realitates oder Formalitates spielten, so wird man nicht leugnen, daß dieser Ausdruck, wenn auch der Form nach vielleicht minder gefällig, der Sache nach vollkommen bezeichnend ist. übrigens werden wir, da ja nach den gegebenen Erklärungen jede Gefahr des Mißverständnisses beseitigt Dafür, daß Comte mit den Ausdrücken Theologie und Metaphysik etwas anderes als das Hergebrachte bezeichnet, möchte einer vielleicht auch noch anführen, daß er sie und die positive Spekulation drei Methoden nennt. Allein mir scheint dieses selbst ungenau gesprochen. Sind doch die theologischen und metaphysischen Anschauungen vielmehr Theorien, auf welche dieselbe Methode, deren sich auch die Naturwissenschaft bedient, geführt hat. Wer auf die Anfänge der Forschung in der ionischen Naturphilosophie achtet, wird dies deutlich wahrnehmen. Sie bediente sich bereits der Beobachtung und Induktion, wenn auch in sehr unvollkommener Weise. Aber noch B a c o n war ja in ihrer Handhabung kein Meister. Man vgl. auch Comte's eigene, im unmittelbar folgenden (S. 107) mitgeteilte Bemerkungen. 7)

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Auguste Comte und die positive Philosophie

ist, der von Comte selbst gewählten Ausdrücke theologisch und metaphysisch in dem von ihm bestimmten Sinne uns bedienen. Wenn man sich nun aber, wie wir es eben getan, den Begriff, den Comte mit Metaphysik, und den, welchen er wenigstens ursprünglich mit Theologie verbindet, klar macht, so da.B die sonst iibliehe Weise des Gebrauches dieser Namen nicht mehr stört und verwirrt, so kann man nicht leugnen, da.B die drei Phasen, welche er unterscheidet, und ihre Aufeinanderfolge im allgemeinen viel Wahres enthalten. Doch bedarf es auch hier einiger Beschränkungen im einzelnen, die wir nicht g e g e n Comte, sondern m i t Comte und in seinem Sinne machen müssen. Comte lehrt nicht, da.B jede einzelne wissenschaftliche Frage der Reihe nach in theologischem, metaphysischem und positivem Sinne beantwortet worden sei, da.B jedes einzelne Phänomen eine solche dreifache Erklärung gefunden habe; nur von dem Ganzen unseres Wissens und jedem seiner Hauptzweige behauptet er, da.B ihre Entwickelung die drei Phasen durchschreite. So z. B. wurde nach ihm die Physik zwar lange Zeit metaphysisch und in einer noch friiheren Periode theologisch behandelt, aber nicht in bezug auf alle zu ihr gehörigen Phänomene. Die einfachsten und gemeinsten physikalischen Tatsachen wurden immer als wesentlich natürlichen Gesetzen unterworfen angesehen, statt der Willkür übernatürlicher Agentien zugeschrieben zu werden. Adam Smith, sagt Comte, bemerkt z. B. mit Recht, da.B man zu keiner Zeit und an keinem Orte einen Gott für die Schwere gefunden habe. Dasselbe gilt für alle anderen, ja für die kompliziertesten Wissenschaften bezüglich aller Phänomene, die genugsam elementar und gewöhnlich waren, um die vollkommene Unveränderlichkeit ihrer wirkliehen Beziehungen von selbst auch den

Die Mathematik und Comte's Phasenlehre

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am wenigsten vorbereiteten Beobachter erkennen zu lassen. Deutlich ist dies z. B. auf dem moralischen und sozialen Gebiete. Der spontan gefundene Anfang von Naturgesetzen, welche den individuellen oder sozialen Akten eigen sind, hat ja, auf alle äußeren Phänomene übertragen, das wahre Grundprinzip der theologischen Spekulation bestimmt. Wir sehen also hier Comte von jeder törichten Überspannung seines Gesetzes fern. Doch von einer Seite wenigstens scheint sich ein Einwand, und kein geringfügiger, auch gegen die so gefaßte Allgemeinheit der drei Stadien zu erheben. Der gesamte große Wissenszweig der Mathematik scheint nicht bloß in bezug auf einzelne Zahlen und Figuren und ihre Eigentümlichkeiten, sondern durchaus und in seinem Ganzen niemals weder einen metaphysischen noch theologischen Charakter getragen zu haben. Denn sicher wohl hat, wie Mill hier mit Recht bemerkt, niemals ein Mathematiker geglaubt, daß der Wille eines Gottes die Parallellinien hindere, sich zu vereinigen oder mache, daß zwei plus zwei als Summe vier ergebe, und gewiß hat nie einer betend zu einem Gotte gefleht, daß er das Quadrat der Hypotenuse gleich den Quadraten der beiden Katheten mache. Und so durchaus bei verwickelteren Sätzen. Auch ist es einleuchtend, warum die Mathematik eine solche Ausnahme bildet. War ja doch in ihr überhaupt kein Anlaß zur Annahme einer wirkenden Ursache vorhanden, weil es sich hier eigentlich um nichts anderes als um Größenverhältnisse handelt, die offenbar mit den Größen selbst gegeben sind. So ist es denn auffallend, namentlich bei einem Mathematiker (denn Comte lehrte lange Zeit in diesem Fache an der polytechnischen Schule zu Paris), daß er die Geschichte dieser ganzen Wissenschaft unbeachtet gelassen zu haben scheint.

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Auguste Comte und die positive Philosophie

Allein das Rätsellöst sich leicht und einfach. Comte war weit entfernt, etwas, was so sehr in die Augen springt, zu übersehen. Wenn er trotzdem ausnahmslos und für alle Wissenschaften, also auch für die Mathematik, ein theologisches Stadium behauptete, so konnte er dies nur tun, insofern er das Gebiet der rationellen Mechanik, wie dies ja auch von anderen häufig geschieht, noch zur mathematischen Wissenschaft rechnete. Ob er dies mit Recht getan oder nicht, wollen wir hier nicht untersuchen.*) Das aber ist leicht zu ersehen, daß dann die Geschichte der Mathematik nicht mehr jene Ausnahme bildet, die sie sonst zeigen würde, indem ja auch der von uns angegebene Grund der Ausnahme weggefallen ist. Vor der Entdeckung der drei Grundgesetze der Mechanik, des Gesetzes der Trägheit, des Gesetzes der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung und des sogenannten Gesetzes der Zusammensetzung der Kräfte fanden ohne Zweifel eine Menge der betreffenden Erscheinungen, zu denen ja anch die in dauernder Kraft sich erhaltenden Bewegungen der Gestirne gehören, lange Zeit eine theologische Erklärung. Auch ein metaphysisches Stadium hat die rationelle Mechanik durchschritten, und Comte weiß noch gar manche Spuren desselben selbst in der Art, wie sie heutigen Tages behandelt wird, zu finden, ja sogar in den beiden anderen Zweigen der Mathematik, in der Arithmetik und Geometrie, will er in einer gewissen Weise solche bemerkt haben. Sie zeigen sich in der Annahme von allerlei imaginären Entitäten, die man zwar nicht als wirkende Kräfte - denn, wie gesagt, um ein Wirken kann es sich hier nicht handeln -, aber doch als etwas Wirkliches denkt, was innerlich die Größen konstituiere. Dahin gehört, um nur eines zu nennen, das Unendlichkleine, das, obwohl eine reine Fiktion, ja sogar eine Absurdität, von der Differential-

Comte und Brentanos Phasenlehre

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rechnungals in unendlicher Zahl den endlichen Größen inwohnend angenommen wird. So also und bei solcher Beschränkung hat das Gesetz Comte's für die gesamte Wissenschaft Gültigkeit. Doch noch ein anderes müssen wir, wenn wir die Geschichte einer Wissenschaft unter dem Gesichtspunkte der drei Phasen betrachten wollen, wohl im Auge behalten. Comte hat nur auf die aufs t e i g ende Linie der Entwickelung, nicht auf den Verfall, der zeitweise die Fortschritte mancher Wissenschaften unterbricht, Rücksicht genommen. Er schaut über ihn hinweg, indem er die Wissenschaft erst dort weiter verfolgt, wo sie den verlorenen Faden wieder aufgreift. Wer dieses beachtet, dem werden sofort die Bedenken schwinden, die sonst besonders die Geschichte der Philosophie im gewöhnlichen•) Sinne notwendig erregen müßte. Ihr Anfang bei den Griechen ist wohl ein kindlich theologischer. Thales erklärt den Magnet für beseelt, weil er das Eisen anziehe. Er ist Hylozoist. Die ganze Welt ist ihm voll von Göttern. Anaximander, Anaximenes, Heraklit haben dieselbe Lehre, mag auch statt des Wassers des Thales der Reihe nach das Unbegrenzte, die Luft und das Feuer als das lebendige Wesen der Dinge bezeichnet werden. Empedokles kommt vom Hylozoismus zu einer Art Polytheismus von Freundschaft und Streit, die er wie einen guten nnd bösen Bei ihr nämlich ist ein solcher Verfall wiederholt und in höherem Maße als bei anderen Wissenschaften eingetreten. Auch er zeigt ein konstantes historisches Gesetz, das sich psychologisch begründen läßt. Vgl. meinen in der Kirchengeschichte von Johann Adam Möhler li (Regensburg 1867) veröffentlichten Aufsatz über die Geschichte der kirchlichen Wissenschaften im Mittelalter, wo ich S. 539 f., wenn auch in äußerster Kürze, dieses Gesetz ausgesprochen habe. 1)

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Auguste Comte und die positive Philosophie

Gott einander bekämpfen und in ihrem Kampfe alle Erscheinungen der Welt erklären läßt. Anaxagoras, der zuerst Monotheist genannt werden könnte, ruft in einer im Comte'schen Sinne theologischen Weise, wo ihm ein mechanischer Erklärungsgrund mangelt, seinen vou~ unmittelbar als deus ex machina zu Hilfe, und so geht es fort bis hinauf zu Aristoteles, der, obgleich Theist, nicht im verkehrten Sinne ein theologischer Denker, wohl aber (das kann auch sein größter Bewunderer nicht leugnen) in vielen seiner Lehren, wie in der von Potenz und Akt, von Substanz und Akzidens usw. noch nicht von aller metaphysischen Auffassung frei ist. •) Doch seinem Grundcharakter nach ist er bereits ein positiver Forscher. Bis zu ihm also besteht eine Ordnung, ähnlich wie Comte sie allgemein bestimmt. Man sollte nun eine Reinigung und vollkommenere Entwickelung des positiven Geistes erwarten. Aber die griechische Philosophie wird in den Verfall des griechischen Lebens überhaupt hineingezogen, und nun sehen wir die Stoa, die philosophisch bedeutendste Schule ihrer Zeit zum Hylozoismus Heraklits zurückkehren, und dann den Neuplatonismus das phantastische, theosophische System aufstellen, als some erst jetzt die erste Phase der Entwickelung beginnen. Die Scholastiker des elften und dreizehnten Jahrhunderts knüpfen wieder an den Höhepunkt der Vergangenheit an. Aber neue Störungen führen von der positiven Forschung zu metaphysischen Subtilitäten und zum Mystizismus zur~ck. Die Neuzeit nimmt durch Bacon, Descartes, Locke, Leibniz einen Aufschwung, aber zum dritten Male entfremdet ein gänzlicher Verfall die Philosophie in der Art dem positiven Geiste, daß ihre Ausartung im Schelling'schen und Hegel'schen Pantheismus nach unserer Meinung alles überbietet, was die analogen Stadien einer verkommenen Philosophie

Wiedererweckung einer positiven Philosophie

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im Altertum und Mittelalter erzeugt haben. Unseren Tagen bleibt es vorbehalten, zu einer positiven Behandlung der Philosophie sich zurückzuwenden. Der Ruf danach hat sich laut erhoben, und man hat, teils unter Anknüpfung an die Höhepunkte der Vergangenheit, teils unter Benützung der Fortschritte der Naturwissenschaft, bereits da und dort mit einem schönen Anfange begonnen. Diese Betrachtung würde vielleicht nicht ganz die Zustimmung Comte's finden, der, wir werden noch mehr uns davon zu überzeugen Gelegenheit haben, die psychologischen und die im gewöhnlichen Sinne metaphysischen Forschungen, wie er sie überhaupt nicht zu ihrem vollen Rechte kommen läßt, auch in der Geschichte nicht genug beachtet. Vielleicht ist dieser Zweig des Wissens aber um so mehr geeignet, zu zeigen, wie sich überall seine Lehre von den drei Entwicklungsphasen bewahrheitet findet, wenn man sie nur in der richtigen Weise auf die Geschichte einer Wissenschaft anwendet.

VII

ÜBER VORAUSSETZUNGSLOSE FORSCHUNG