Die Verständigung im Strafrecht in China und Deutschland.: 1 3428188721, 9783428188727


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Die Verständigung im Strafrecht in China und Deutschland.: 1
 3428188721, 9783428188727

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Beiträge zum chinesisch-deutschen Rechtsdialog Band 1

Die Verständigung im Strafrecht in China und Deutschland 中德两国刑法中的认罪认罚从宽

Herausgegeben von

Georg Gesk

Duncker & Humblot · Berlin

GEORG GESK (HRSG.)

Die Verständigung im Strafrecht in China und Deutschland

Beiträge zum chinesisch-deutschen Rechtsdialog Herausgegeben von Prof. Dr. Georg Gesk

Band 1

Die Verständigung im Strafrecht in China und Deutschland 中德两国刑法中的认罪认罚从宽

Herausgegeben von

Georg Gesk

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten Alle Rechte vorbehalten © 2023 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISSN 2940-7117 (Print) ISSN 2940-7125 (Online) ISBN 978-3-428-18872-7 (Print) ISBN 978-3-428-58872-5 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Geleitwort Dieser Band, der die Reihe „Beiträge zum chinesisch-deutschen Rechtsdialog“ eröffnet, ist selbst das Produkt eines mehrjährigen Dialogs. Der Diskurs über die Reform des Strafprozess war bereits mehrere Jahre gewachsen, wie im Jahr 2019 dann endlich ein Symposium über den „Deal im chinesischen und deutschen Strafprozess“ stattfand. Was im Weiteren als ein recht konsequentes und einfach zu verwirklichendes Projekt aussah, nämlich die Publikation der verschiedenen Beiträge, entwickelte sich zu einem mehrjährigen Hindernisrennen. Das Symposium war so anregend, dass mehrere der chinesischen Teilnehmer ihre Beiträge signifikant um- und ausbauten, was zu einer Verdreifachung der Übersetzungstätigkeit führte. Umso schöner ist es, dass das vorliegende Werk – trotz aller Unzulänglichkeiten, die der Leser bitte verzeihen möchte – jetzt dank der Hilfe des Verlags in den Druck gehen kann. Die Übersetzung chinesischer Begriffe ist nicht immer synchronisiert, da es dem Herausgeber, der gleichzeitig der Übersetzer ist, manchmal wichtiger erschien, den Duktus des Originals ins Deutsche zu bringen und daher die relative Schärfe der Intention des Autors mit der relativen Unschärfe einer Übersetzung erkauft hat, die vom Chinesischen aus betrachtet nicht jeden Begriff strikt mit einem deutschen Begriff übersetzen kann. So spricht ein Beitrag konsequent von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung, während ein anderer hier von Strafmilderung spricht. Allein: im chinesischen Original ist mit 从宽 (nach Breite) vollkommen offen, ob hier Sanktion oder Strafe stehen müsste, weswegen die semantische Unschärfe des Chinesischen es tatsächlich ermöglicht, die tatsächliche Intention des Autors bzw. der Autorin durch eine interpretierende Übersetzung zum Ausdruck zu bringen. Ähnliches könnte über den Begriff des diensthabenden Anwalts bzw. des Anwalts im Bereitschaftsdienst gesagt werden. Dennoch hoffe ich in diesem Moment ganz persönlich, dass dieser Band nicht alle Probleme löst (was er nie kann), sondern dass er zu einer weiteren Diskussion einlädt und dass er dazu beiträgt – trotz der immer wieder auftretenden Unmöglichkeit einer allein selig machenden Übersetzung – zu einer gemeinsamen Sprache zu finden, die es beiden Gesellschaften ermöglicht,

6 Geleitwort

Konflikte, wo möglich, zu vermeiden und da wo sie unvermeidbar sind, diese in gemeinsamem Interesse zu bewältigen. Das ist die ureigenste Aufgabe des Rechts – unabhängig von der Gesellschaft, in der wir leben. Universität Anhui, Hefei, 19.12.2022

Georg Gesk

Inhaltsverzeichnis Prozessökonomie vs. Resozialisierung – über die Rolle der Verständigung im Strafverfahren – 诉讼经济 vs. 再社会化 —— 认罪认罚从宽在刑事诉讼中 的定位  Georg Gesk (葛祥林)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Überlegungen zur Verständigung im chinesischen Strafrecht – 中国认罪认罚 从宽制度探索  Song Qiang  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verständigung im Strafverfahren im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.3.2013 – 联邦最高法院就联邦宪法法院2013年3月19日判决关于刑事诉讼 中认罪协商交易的解释  Michael Dölp  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Studien zum Institut der Verständigung im chinesischen Strafrecht – 认罪认罚 从宽制度研究  Wei Yuening  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Verständigung im deutschen Strafprozessrecht aus staatsanwaltschaftlicher Sicht  – 检察院视角下德国刑事诉讼中的认罪协商  Folker Bittmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Die Position des Strafverteidigers bei der Verständigung im deutschen Strafprozessrecht Christian Schößling  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Die Beteiligung des Anwalts an der Verständigung – 认罪认罚从宽制度下的 律师参与 Zhao Tianhong  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Transparenz und Vorhersehbarkeit durch Verständigung? – 通过认罪协商交易 实现公开性和可预知性 Arndt Sinn  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung durch den Strafverfolgten und deren institutionelle Garantien – 认罪认罚从宽处罚的 自愿性与制度完善  Liu Shaojun  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

8 Inhaltsverzeichnis Probleme der Absprachen im Strafverfahren – 刑事诉讼认罪协商问题 F. Ch. Schroeder  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Diskussion der Verständigung im Strafprozess unter den Aspekten von Wiedergutmachung und Opferschutz – 修復式司法視野下的認罪認罰從寬制度 對犯罪被害人保護之檢討 Tsai Mengchien  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Verfahrenseinstellung unter Auflagen: Verständigung als Aufgabe von Strafrecht? – 附条件不起诉:以认罪协商为刑法的任务?还是认罪协商对刑 法的放弃 Bernhard Kretschmer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Die Verständigung im chinesischen Anti-Korruptionsverfahren und deren Reform – 中国职务犯罪认罪认罚从宽处罚制度及其完善  Chen Jiemiao  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Die Verständigung im taiwanischen Strafprozess – 台湾刑事诉讼中的认罪协商 Georg Gesk  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

Prozessökonomie vs. Resozialisierung – über die Rolle der Verständigung im Strafverfahren 诉讼经济 vs. 再社会化 —— 认罪认罚从宽在刑事诉讼中的定位 Georg Gesk (葛祥林)* Wenn wir den vorliegenden Band mit ein wenig Abstand betrachten, dann sehen wir, wie der „Deal“ im Strafrecht zunächst ein sehr rationales Verhalten ist, denn wenn zumindest ein Ziel des Strafrechts – und damit selbstverständlich auch des Strafverfahrens – die Wiederherstellung des Rechtsfriedens ist, dann muss dies den Angeklagten mit einbeziehen. Der Angeklagte muss also als Subjekt ernst genommen werden und im Bestreben dies zu tun, wird er beinahe zwangsläufig zu einem Ansprechpartner, mit dem man sich auseinandersetzt. Es reicht also nicht, über den Kopf des Angeklagten hinweg etwas festzustellen, was diesen direkt betrifft, sondern es ist notwendig, den Angeklagten in einen hermeneutischen Prozess einzubinden, in dessen Folge idealerweise eine Übereinkunft zwischen Anklage, Verteidigung und Gericht über die bestmögliche aller schlechten Lösungen gefunden wird. Die bestmögliche, weil sie einen Weg aufzeigt, wie der Angeklagte nach dem Urteil weiterhin ein Teil der Gesellschaft ist oder wie er wieder zu einem Teil der Gesellschaft werden kann oder könnte. Die Spanne der möglichen Antworten reicht also vom Freispruch oder der Verfahrenseinstellung bis hin zur lebenslänglichen Freiheitsstrafe und bzw. oder der Sicherungsverwahrung. Dabei sehen wir uns aber in der Praxis sehr unterschiedlichen Situationen gegenüber – es gibt Fälle, die vor Anklage unter Auflagen eingestellt werden, so sich der Angeklagte zu seiner Verantwortung bekennt und daher konsequenterweise den Schaden, den er durch seine rechtswidrige Handlung ausgelöst hat, so weit als möglich wieder gut macht. Wo aber kein Schaden mehr ist, da kann es gut sein, dass eine weitere Sanktionierung auf Seiten des Täters und in Bezug auf seine Integration in die Gesellschaft mehr Unheil anrichtet als es Schäden behebt. In dem Fall hilft also eine Nicht-Sanktionie* Prof. Dr. (NTU) Georg Gesk, Professur für Chinesisches Recht, Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Osnabrück.

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rung nicht nur dem Täter, sondern auch dem Opfer, das schnell und umfassend entschädigt wird, und der Gesellschaft, die den Täter nicht weiter ausschließt, sondern ihn soweit wie möglich in seinen sozialen Zusammenhägen belässt. Das ist ohne Kommunikation mit dem Täter nicht erreichbar. Somit muss hier eine Verständigung stattfinden. Wie Kretschmer am Beispiel der Verfahrenseinstellung im Fall Ecclestone zeigt, handelt es sich dabei nicht um eine ideale, „gewaltfreie“ Kommunikation, sondern um die Austragung von Konflikten, in denen es nicht nur um die Frage normgerechten Verhaltens geht. Der Mensch, der einer Tat verdächtigt wird, ist ein Individuum, das vielfältige Interessen hat und das deshalb nicht nur nach der Polarität schuldig – nicht schuldig entscheidet. Dieselbe Problematik taucht in mehreren der chinesischen Beiträge auf, so etwa bei der Diskussion einer Ausweitung der Anwaltsbereitschaft bei Liu, um sicherzustellen, dass ein Schuldeingeständnis während der Ermittlungen nur erfolgt, wenn der Angeklagte sich über die Konsequenzen seines Geständnisses im Klaren ist, damit verhindert wird, dass er sich auf Grund des Drucks der Ereignisse und der Ermittlungsbehörden zu einem weitreichenden Schritt (Verlust der Unschuldsvermutung etc.) bereit erklärt, ohne wirklich zu wissen, was die Konsequenzen seines Handelns sind. Ähnliches gilt für das Referenzbeispiel des taiwanischen Strafverfahrens, wo Gesk ebenfalls die Gefahr beschreibt, dass die Geringfügigkeit der Sanktion und die Unkenntnis über die rechtlichen Konsequenzen eines Geständnisses dazu führen kann, dass ein Verdächtiger bzw. ein Angeklagter wichtige Verfahrensrechte aufgibt, ohne dass er jemals mit einem Anwalt darüber auch nur gesprochen hätte. Als Konsequenz fordern Zhao und Liu, die Funktion des Anwalts insbesondere auch in solch „einfachen“ Fällen zu stärken, in denen anscheinend ein geringeres Konfliktpotential vorhanden ist, da weder materiell-rechtlich begründete harte Strafen, noch eine prozessrechtliche unversöhnliche Konfrontation von wegen schuldig oder unschuldig im Raum steht. Dass man sich dabei nicht der Illusion eines idealen Diskurses im Habermas’schen Sinne hingeben sollte, wird aus dem Beitrag von Schößling deutlich, der unmissverständlich klarstellt, dass der Verteidiger nicht der Findung der materiellen Wahrheit verpflichtet ist, sondern dem Interesse des Mandanten. Dass dabei die Frage der Verständigung nicht nur auf Seiten des Angeklagten vielschichtig ist, sondern dass auch die Staatsanwaltschaft nicht unbedingt nur Geständnis und mögliche Sanktionsschwere verhandelt, wird nicht zuletzt von Gesk aus Taiwan berichtet. Wie Wei an der Forderung der Kongruenz des Schuldeingeständnisses (des strafrechtlich Verfolgten) und des Schuldvorwurfs (der Ermittlungsorgane) demonstriert, ist dabei der Gedanke des „in dubio pro reo“ eher nebensächlich, denn eine Diskrepanz zwischen Geständnis und Vorwurf wird zu Ungunsten des Angeklagten ausgelegt. Dennoch, all dies sind Beschreibungen einer Situation, in welcher der Konflikt deutlich wird, der entsteht, wenn die Institu-



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tionen der Strafjustiz sich mit ihrer institutionellen Macht mit einem Individuum auseinandersetzen, das nicht funktional auf die Fragen des Strafprozess eingeengt ist, das aber gleichzeitig oftmals die Strategeme und die Rationalität der Strafjustiz nicht einschätzen kann, das aber dennoch vom Anspruch her als Subjekt wahrgenommen sein will. Im Extremfall steht dann ein Angeklagter den Ermittlungsbehörden ohne Rechtsbeistand gegenüber, unterschreibt in Anwesenheit eines Anwalts ein Geständnis, dessen Zustande­ kommen niemand kontrollieren kann, und wird dann innerhalb von 10 Tagen in einem beschleunigten Verfahren „abgeurteilt“, ohne dass das Gericht bei dieser Verfahrensart eine Beweiswürdigung durchführen würde. Vor dieser Schreckensvision, die zwangsläufig die Glaubwürdigkeit und damit die Autorität der Justiz aushöhlt, bekommen die Forderungen nach einer Stärkung der Stellung des Anwalts, die sich u. a. auch bei Wei finden, oder nach Möglichkeiten des Widerrufs eines Geständnisses, welche von Liu und Zhao erhoben werden, besonderes Gewicht. Daneben gibt es Fälle, wo zwar der Angeklagte seine Schuld eingesteht, wo aber der Verzicht auf eine Anklage, also der Verzicht auf die formale Feststellung, dass es sich um eine aus gesellschaftlicher Sicht moralisch verwerfliche Handlung dreht, als nicht angebracht erscheint. Die Symbolik, die mit der Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens einhergeht, ist für sich genommen bereits so schwerwiegend, dass eine weitere Bestrafung sehr milde sein kann, ohne dadurch ihren präventiven Effekt zu verlieren. Diese Form des Strafantrags wurde aus dem deutschen Recht ins taiwanische Recht übernommen und wird in beiden Rechtskulturen erfolgreich angewandt. Dabei ist dies zunächst eine Bestätigung der quantitativen Häufigkeit, die sich im Falle einer Wahlmöglichkeit – niemand muss auf ein vollständiges Verfahren mit seinen verfahrensrechtlichen Garantien verzichten – nur dann einstellt, wenn damit ein bestimmter Mehrwert verbunden ist. Doch zeigt Gesk auch hier, dass zumindest in Taiwan ein Potential für falsche Geständnisse existiert, denn eine schnelle Erledigung des Falls bei gleichzeitiger Garantie einer sehr milden Sanktion (Geldstrafe oder kurzzeitige Freiheitsstrafe, die in eine Geldstrafe umgewandelt werden kann) wirkt für manche Angeklagten durchaus verlockend. Diese Gefahr wird von Tsai und Wei auch für die Realität des Instituts des Schuldeingeständnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung in der VR China bestätigt. Dazu taucht die Attraktivität des schnellen Verfahrens im Beitrag von Wei auch in der Beschreibung des vereinfachten bzw. des beschleunigten Verfahrens im Strafprozessrecht der VR China auf. Bei all dem sehen wir, wie die Interessenkongruenz des Angeklagten, der Anklage und des Gerichts, die sich bei einer erfolgreichen Verständigung im Strafverfahren einstellen kann, zwar auf unterschiedlichen Motiven beruhen

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kann, dass sie aber deshalb trotzdem häufig zum selben Ergebnis führt. Wenn dem Angeklagten durch sein Geständnis ein Anklageverzicht oder eine sehr milde Strafe zu Teil wird, welche das soziale Bezugsnetz intakt lässt, weil auf freiheitsbeschränkende Strafen und Maßnahmen verzichtet wird, dann kann dies aus Sicht der Strafjustiz im weiteren Sinne eine beträchtliche Verringerung der Arbeitsbelastung bedeuten. Wenn dann auch die Interessen des Opfers durch aktive Beteiligung des Täters eine Wiedergutmachung erfahren, dann stellt sich eine Interessenkongruenz auf mehreren Ebenen ein, welche eine „friedliche Koexistenz“ von Prozessökonomie und Resozialisierung zulässt. Wenn ein kurzes Verfahren mit geringer Sanktionsdichte sogar dazu führen kann, dass Angeklagte sich zu einem Verbrechen bekennen, das sie nicht begangen haben, um dadurch dem Druck und der Unwägbarkeit des Verfahrens entzogen zu sein, dann ist die Disruption der sozialen Beziehungen augenscheinlich gering. Genau hier zeigt sich, dass die Sorge vor einem Verlust der materiellen Wahrheit beinahe alle Beiträge durchzieht, denn eine solche Realität untergräbt die Glaubwürdigkeit der Justiz in schwerwiegender Weise. In diesem Zusammenhang erinnert Schößling daran, dass der Anwalt zuallererst dem Interesse seines Mandanten verpflichtet ist; er schert insofern aus der kollektiven Sorge um die materielle Wahrheit aus. Es ist bezeichnend, dass genau diejenige Seite, die im Verzicht auf die materielle Wahrheit einen Vorteil im Einzelfall sieht, sich an der Sorge um die materielle Wahrheit nicht wirklich beteiligt. Es verwundert daher nicht, wenn es auch in Deutschland Stimmen gibt, welche die Gefahr sehen, dass die Sanktionsschwere als Mittel dazu dient, einen Angeklagten zu einem Geständnis zu bewegen, ohne dass dies offiziell als Drohung gewertet würde. Dies wird nicht zuletzt aus dem Beitrag von Schroeder deutlich, der aus seinen langen Berufsjahren hier bestimmt manches konkrete Beispiel anführen könnte. Anders gestaltet sich die Interessenlage bei der Verständigung nach der Anklage. Diese ist von ihrer institutionellen Ausgestaltung in China und Deutschland unterschiedlich aufgebaut. Ein Vergleich der Beiträge von Song einerseits und Wei oder auch Liu andererseits zeigt, wie die chinesische Strafrechtswissenschaft durchaus eine Pluralität der Meinungen zulässt, in der mancher keine Probleme sieht, wo andere ernsthafte Zweifel haben. Während etwa Song davon ausgeht, dass bei einer Verständigung während des Ermittlungsverfahrens lediglich ein Schuldeingeständnis erforderlich ist, sind sowohl Wei als auch Liu der Überzeugung, dass bereits zu diesem Zeitpunkt eine Zustimmung zu einer künftigen Sanktion erfolgen muss. Andernfalls ist die Abschätzung dessen, was mit einem Geständnis verbunden ist, für einen Angeklagten, der keine Fachkenntnisse besitzt, kaum zu leisten. So wird auch hier deutlich, warum Zhao und Liu unabhängig voneinander dafür plädieren, den Zugang des Angeklagten zu einer qualifizierten Rechtsberatung, also zu einem Anwalt des Bereitschaftsdienstes oder zu einem traditio-



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nellen Verteidiger, wesentlich zu verstärken. Vieles von dem, was im Gerichtsverfahren entscheidend für die Beurteilung eines Falles wird, entscheidet sich in den Ermittlungen. Eine effektive Verteidigung muss also bereits vor der Anklage vor Gericht, ja sie muss schon vor der Anklageprüfung durch das Volksprokurat erfolgen. Dabei klingt bei Song an, dass es in China nicht nur um Prozessökonomie und Resozialisierung geht, sondern dass die unzureichende Verankerung der Anwaltsrechte weitere strukturelle Gründe hat – die staatliche Autorität erscheint als dritte Größe und tritt für einen Moment aus dem Hintergrund hervor. Das Problem, das daraus hervorgeht, dass Ermittlungen mit einer Sanktionsforderung verbunden werden, die in einem anderen Verfahrensabschnitt entsteht, wird nicht zuletzt aus der Diskussion der Verständigung in Korruptionsfällen bei Chen deutlich. Wie die Staatsanwaltschaft bei der Bewältigung dieses Problems im deutschen Kontext ein wichtiges Bindeglied zwischen unterschiedlichen Verfahrensabschnitten darstellt, zeigt Bittmann an der Frage, wie die Staatsanwaltschaft ihre verfassungsrechtliche Verantwortung umzusetzen hat, so dass die Forderung nach „so wenig Strafe wie möglich, so viel Strafe wie nötig“ umgesetzt werden kann und wie hierzu die volle Bandbreite der verfahrensrechtlichen Möglichkeiten verantwortungsvoll zum Einsatz kommen müssen. Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu sehen, wie die Prozessökonomie, die ja nicht zuletzt die Staatsanwaltschaft vor große Herausforderungen stellt, bei dieser Diskussion eine eher untergeordnete Rolle spielt. Dennoch schwingt sie genauso wie der Anspruch der Möglichkeit zur Resozialisierung immer mit. Trotzdem wird die Diskrepanz zwischen dem deutschen und dem chinesischen System der Verständigung nirgends deutlicher als bei der Verständigung im gerichtlichen Verfahren. Hat das deutsche System in diesem Verfahrensabschnitt ursprünglich Tendenzen hin zu einer Verringerung der Intensität in der Beweiswürdigung gezeigt, so bringt Doelp eindeutig zur Sprache, wie diese Tendenzen durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19.03.2013 und durch die Umsetzung dieses Urteils durch den Bundesgerichtshof eindeutig beendet wurden. Die Prozessökonomie darf also kein Argument für eine Verständigung im Gerichtssaal sein. Das gestaltet sich auf Seiten des chinesischen Prozesses sehr anders, denn zumindest, wenn das Geständnis bereits vor der Anklage ergeht, ist dem Richter die Beurteilung des Falls auf Grund von Beweisen nur im Ausnahmefall erlaubt (vgl. etwa Wei), ergeht das Geständnis nach der Anklage, hindert niemand das Gericht, die Untersuchung der Beweismittel zumindest drastisch zu vereinfachen. Das ist für Zhao und Liu, welche eher vom Verfahrensrecht her argumentieren, aber auch für Chen, der mehr vom materiellen Recht ausgehend analysiert, ein Grund für die Forderung, die Rolle des Angeklagten und seines Verteidigers in der Gerichtsverhandlung zu stärken, so dass auch hier das Geständnis

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die Rolle spielen kann, die ihr zukommt – und damit auf jeden Fall ein mehr an diskursiver Auseinandersetzung, also eine Einschränkung des Gedankens der Prozessökonomie im Gerichtssaal anregen. Wenn aber die Verständigung in der gerichtlichen Verhandlung nicht der Prozessökonomie dient – wozu soll man sie dann fördern? Hier weist Sinn ganz klar die Vorteile nicht nur auf die Vorhersehbarkeit des Ergebnisses für den Angeklagten und für die anderen Verfahrensbeteiligten hin, sondern erläutert die Vorteile der Transparenz des Verfahrens. Tsai hingegen durchleuchtet die Verständigung vor dem Hintergrund der Opferrechte und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Er zeigt in diesem Zusammenhang, wie die Verständigung ein wichtiges Moment nicht nur für die Resozialisierung des Täters darstellt, sondern wie sie über den Täter hinaus einen gesellschaftlichen Heilungsprozess bewirken kann. Beide zeigen dadurch, dass die Verständigung unabhängig vom Gedanken der Prozessökonomie ein wertvolles Instrument des Strafverfahrens darstellt. Wenn wir uns vor diesem Hintergrund überlegen, wie die Verständigung im Spannungsfeld von Prozessökonomie und Resozialisierung positioniert ist, dann sehen wir, wie in beiden Rechtskulturen – der chinesischen und der deutschen – die Antwort auf diese Frage unterschiedlich ausfällt. Während das chinesische Strafrecht davon ausgeht, dass Schuldeingeständnis und Straf­anerkennung prozessrechtlich zu einem beschleunigten bzw. zu einem vereinfachten Verfahren führen, was sich dann für den Angeklagten in einer Strafminderung auswirkt, so sehen wir, dass die Verständigung, die ja auf einem Geständnis beruht und die deshalb zu einem Nachtatverhalten gehört, was die Schwere der Schuld beeinflusst, wie also diese Verständigung im weiteren Sinne in vielen Fällen in Deutschland zur Verfahrenseinstellung führt, weil die Schuld zu gering ist, um ein Strafverfahren anzustrengen. Diese Dimension der Resozialisierung vor der Strafklage, die am Ende die Strafklage ausschließt, wird zwar bei Wei angesprochen, man kann aber seinem Beitrag entnehmen, wie sich ein großer Teil der chinesischen Diskussion und der beteiligten Ermittlungsinstitutionen gegen diese Lösung sträuben. Sie wird als Möglichkeit zwar diskutiert, ihre normative Absicherung und ihre mögliche Existenz in der Straftheorie werden anerkannt. Da ein Verbrechen eine bestimmte gesellschaftliche Schädigung (社会危害性) aufweisen muss, um tatbestandsmäßig zu sein, kann ein Geständnis kombiniert mit einem erfolgreichen Täter-Opfer-Ausgleich eben diese Beurteilung der gesellschaftlichen Schädigung durch ein positives Nachtatverhalten in der Weise beeinflussen, dass die verbliebene Schädigung auch in der chinesischen Gesellschaft als zu gering erachtet wird, als dass eine strafrechtliche Verfolgung notwendig erscheint. Dennoch wird dies geradezu als Systemfehler betrachtet, denn man möchte der Polizei, welche im chinesischen Zusammenspiel der Institutionen die Herrin der Ermittlungen ist, keine so weitreichenden



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Kompetenzen einräumen. Trotzdem hofft der Autor, dass das chinesische Strafprozessrecht die Potentiale, die es besitzt, in Zukunft auch hier noch stärker zur Geltung bringt. Betrachten wir uns abermals den anderen Pol des Verfahrens – die Gerichtsverhandlung im Strafprozess, dann sehen wir, wie der Gedanke der Prozessökonomie beim Verfahren des deutschen Strafbefehls durchaus eine Rolle spielt, so wie dies auch im Verfahren vor einem chinesischen Gericht der Fall ist, wenn das Geständnis etc. vor der Anklage erfolgt, es aber dennoch zu einem gerichtlichen Verfahren kommt. Gehen wir jedoch noch einen Schritt weiter und betrachten das Verfahren, bei dem ein Angeklagter erst im Prozess ein Geständnis ablegt, dann greifen beim deutschen Gericht die Mahnung des Bundesverfassungsgerichts und die eindeutigen Vorgaben des Bundesgerichtshofs, wonach das Geständnis kein Grund sein darf, auf eine angemessene Würdigung der Beweismittel zu verzichten. Auf chinesischer Seite fehlt eine solche Schranke mit normativer Wirkung, so dass es ins Belieben des Gerichts gestellt ist, ob es unabhängig vom Geständnis des Angeklagten die Beweismittel einer eingehenden Untersuchung unterziehen will. Idee und Wirklichkeit der Prozessökonomie können daher voll zur Geltung kommen, unabhängig von Überlegungen der Glaubwürdigkeit oder der Vollständigkeit. Da aber das chinesische Strafprozessrecht, ähnlich dem deutschen, die Fixierung auf die Ermittlung der materiellen Wahrheit kennt, ist durchaus damit zu rechnen, dass die Verständigung, die erst 2018 offiziell ins chinesische Strafrecht eingeführt wurde, sich in diesem Punkt in den kommenden Jahren weiterentwickelt. Wichtiger Ansatzpunkt dafür ist die von Wei betonte Orientierung des chinesischen Strafprozessrechts an der Ermittlung der materiellen Wahrheit, ein anderer Ansatzpunkt ist die Verpflichtung des Richters, sein Leben lang für Fehlurteile einstehen zu müssen und damit für die materiell-inhaltliche Richtigkeit des Urteils verantwortlich zu sein.

Überlegungen zur Verständigung im chinesischen Strafrecht 中国认罪认罚从宽制度探索 Song Qiang*

I. Wesentlicher Inhalt der Verständigung im chinesischen Strafrecht Die Institution der Verständigung1 bezeichnet im chinesischen Strafprozessrecht eine Situation, in der der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte sich zu seinem Verbrechen bekennt und dieses freiwillig schildert, dass er gegenüber dem Verbrechensvorwurf keine Gegenmeinung hat und dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft zustimmt, wobei er über diese Punkte eine eidesstattliche Erklärung unterschreibt. Auf Grund dessen kann er zu einer milderen Strafe verurteilt werden. Dieses Institut soll Verdächtige und Angeklagte dazu anhalten, sich zu ihrer Schuld zu bekennen und ihre Strafe zu akzeptieren. Es hat positive Auswirkungen auf die Effizienz des Verfahrens, es führt zu Einsparungen bei Justizressoucen und es bewirkt eine bessere Resozialisierungsprognose bei dem Angeklagten. Die fünf Bedingungen der Verständigung im chinesischen Strafprozess sind: 1. Schuldanerkennung Die Schuldanerkennung ist die Basis dieses Instituts, sie ist die Voraussetzung einer milderen Bestrafung des Angeklagten. Weigert sich der Tatver*  Prof. Dr. Song Qiang (宋强), Guizhou Nationalities University (贵州民族大学 教授). 1  Sprachlich ist der chinesische Ausdruck für die „Verständigung“ aus drei aufeinanderfolgenden Beegriffen gebildet: 1. Schuldeingeständnis (认罪), 2. Strafanerkennung (认罚) und 3. Milde (从宽). Es wird also begrifflich weniger auf das Aushandeln eines „Kompromisses“ abgestellt, sondern die Betonung liegt eher auf einer Kausalität: Unter der Voraussetzung, dass ein Angeklagter seine Schuld bzw. sein Verbrechen eingesteht, dass er auch eine zu erwartende Strafe anerkennt, kann er davon ausgehen, dass die Strafjustiz seinen Fall mit Milde behandelt, dass er also eine geringere Sanktionsschwere zu erwarten hat. (Anmerkung des Übersetzers).

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dächtige, die Schuld einzugestehen, dann verliert er Basis und Voraussetzung für die Anwendung dieser Institution. Erklärungen für die eigene Handlung oder andere Äußerungen von Tatverdächtigem oder Angeklagtem, Streitpunkten oder Einsprüchen, die gegen einen Teil des Verbrechens vorgetragen werden, üben dabei nur einen vergleichbar geringen Einfluss auf das Schuldeingeständnis aus. Das Eingestehen der Schuld wird recht breit aufgefasst, auch das Eingestehen des Verbrechens und die Schilderung der konkreten Verbrechenstatsache gehören zu den Möglichkeiten, seine Schuld einzugestehen. Weil das Eingestehen von Schuld in seiner situativen Ausformung relativ breit gefächert ist, kann es sich in sehr unterschiedlichen Formen manifestieren. Häufig anzutreffende Arten des Schuldeingeständnisses sind etwa das freiwillige Sich-Stellen des Täters (自首) oder ein umfangreiches Geständnis (坦白). Auch das Geständnis im Gerichtssaal gehört dazu. Die Treppe der Strafzumessung (阶梯量刑) ist ein aktueller Versuch der Praxis, dabei wird versucht, Inhalt und Geist der Verständigung in Theorie und Praxis zu vereinen. Unterschiedliche Grade der Strafminderung dienen dazu, den tatverdächtigen bzw. den Angeklagten zur Verständigung zu ermutigen und zu bestärken. Das hat gleichzeitig einen positiven Effekt auf die Resozia­ lisierung des Angeklagten im Vollzug. Insgesamt kann man durch die unterschiedlichen Äußerungen des Schuldeingeständnisses die subjektive Boshaftigkeit des Tatverdächtigen bzw. des Angeklagten beurteilen. Je nach den Überlegungen, die sich an generelle Kategorien wie Verfahrensabschnitt, Umfang und Wertelemente etc. anknüpfen, kann der Verbrecher laut Gesetz im Strafrecht unterschiedlich bewertet werden und ein milderes Urteil erreichen. 2. Freiwillige und wahrheitsgemäße Schilderung des eigenen Verbrechens Erstens muss die Schilderung des eigenen Verbrechens durch den Tatverdächtigen oder durch den Angeklagten freiwillig erfolgen. Das heißt, dass der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte bei seiner freiwilligen Aussage keiner Folter, Drohung, Betrug oder Verlockung von Seiten der Ermittler ausgesetzt war. Nach § 54 chinesisches Strafprozessgesetz (cStPG, 刑事诉讼法) und den Bestimmungen relevanter Justizinterpretationen müssen Beweismittel, die durch obenstehende Methoden gewonnen wurden, vom Verfahren ausgeschlossen werden, denn es handelt sich dabei nicht um „freiwillige“ Aussagen. Zweitens muss der Inhalt der Aussage die selbst begangene Verbrechenshandlung sein. Auch hier ist das Verständnis dessen, was unter eigenem Verbrechen zu verstehen ist, ein weiter gefasstes, denn es beinhaltet sowohl die einzelne, vom Tatverdächtigen bzw. Angeklagten begangene Verbrechenstatsache, als auch in gemeinsamer Täterschaft mit Mittätern be-



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gangene Verbrechenstatsachen. Richtet sich die Aussage allerdings auf Verbrechenstatsachen, die Dritte im Zusammenhang mit anderen Fällen begangen haben, dann handelt es sich um die Anzeige von Verbrechen Dritter. Drittens muss die Aussage wahrheitsgemäß sein, sie muss also die in Frage stehende Verbrechenstatsache in ihrer Ganzheit schildern und nicht nur einen kleinen Teil oder Ausschnitt minderer Bedeutung erklären; (ob diese Aussage auch andere Verbrechen, die den Ermittlungsbehörden bislang nicht bekannt sind umfassen muss, darüber gehen die Meinungen bislang noch auseinander). Viertens muss sich die Aussage auf Tatbestandsmerkmale beziehen, die im Strafgesetzbuch bestimmt sind. Ist das geschilderte Verhalten kein Verbrechen im strafrechtlichen Sinne oder handelt es sich lediglich um eine allgemein rechtswidrige Tatsache, so ist dies kein Geständnis einer Straftat. Fünftens ist die Art, wie die Aussage getätigt wird, nicht eingeschränkt. Es kann sich um eine mündliche Aussage handeln, es kann sich aber auch um eine schriftliche Aussage handeln. Sechstens kann die Zeit der wahrhaftigen Aussage zu jedwedem Zeitpunkt zwischen Beginn der Ermittlungen und Übergabe des Falls an die Urteilsbehörde liegen. Sie kann also während der Ermittlungen getätigt werden, sie kann aber auch erst bei der Überprüfung der Anklage erfolgen. Die Ermittlungsbeamten müssen bei der ersten Vernehmung im Ermittlungsverfahren bereits den Tatverdächtigen darauf hinweisen, dass er die Möglichkeit der Verständigung im Strafverfahren hat und dass er nach den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen dadurch ein milderes Urteil bekommt. Zu diesem Zeitpunkt kann der Tatverdächtige bereits ein wahrhaftes Geständnis ablegen. Der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte kann aber auch erst bei der Überprüfung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft, spätestens vor der Entscheidung über die offizielle Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft ein wahrhaftes Geständnis ablegen. Ob der Angeklagte nach Überstellung des Falls an das Gericht, also nach offi­ zieller Anklageerhebung, noch ein Geständnis ablegen kann, um dadurch eine Verständigung zu erreichen, ist bislang umstritten. 3. Verzicht auf Widerrede gegen den von der Anklagebehörde ­vorgebrachten Vorwurf der Verbrechenstatsache Es gibt keine Einwände gegen die von der Anklagebehörde zur Last gelegte Verbrechenstatsache. Das erfordert erstens, dass die Anklagebehörde bereits einen konkreten Verbrechensvorwurf bzw. eine konkrete Anklage formuliert hat. Zweitens bringt der Angeklagte gegenüber diesem Vorwurf keine Einwände zur Geltung. Das heißt, dass der Angeklagte gegenüber der ihm zur Last gelegten Art des Verbrechens und der Einteilung des Verbrechens keine Einwände vorbringt. Gleichzeitig bedeutet das, dass der Angeklagte die ihm von den Ermittlungsbehörden vorgeworfenen Verbrechenstat-

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sachen und Einzelheiten in ihrer Gesamtheit akzeptiert, dass es also auch keine teilweise Widerrede gibt. 4. Zustimmung zum Strafantrag der Anklagebehörde Erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage, dann teilt sie dem Gericht dadurch gleichzeitig mit, welches Verbrechen, welche Strafen und welches konkrete Strafmaß sie bei der Straftat des Tatverdächtigen bzw. Angeklagten vorschlägt. Auch hierzu, also zu Verbrechen, Strafe und Strafmaß, hat der Angeklagte keine Einwände. 5. Unterschreiben einer eidesstattlichen Erklärung Die eidesstattliche Erklärung zur vom Tatverdächtigen bzw. Angeklagten verübten Verbrechenstat ist eine rechtliche Urkunde, welche vom Angeklagten unterschrieben wird. Er bringt hierdurch seine ernsthafte Reflexion und aufrichtige Reue gegenüber der Straftat zum Ausdruck. Diese Urkunde ist ein wichtiges Beweisstück, das zeigt, dass der Angeklagte tatsächlich Reflexion und Reue zeigt. Wenn der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte diese Urkunde unterschreibt, dann muss er dies an Eides statt tun. Die Urkunde wird bei der Staatsanwaltschaft vor Erhebung der Anklage unterschrieben und bei Erhebung der Anklage gemeinsam mit anderen Beweismitteln an das Gericht übergeben. Wann immer diese fünf Bedingungen erfüllt sind, kann eine Verständigung mit einer milderen Sanktion stattfinden. Eine mildere Strafe bedeutet in diesem Zusammenhang, dass unter der Voraussetzung, dass keine Änderung des angeklagten Verbrechens erfolgt, das Urteil im unteren Bereich des gesetz­ lichen Strafrahmens erfolgt.

II. Die Entwicklung des Instituts der Verständigung im chinesischen Strafrecht 1. Hintergründe: die Strafrechtspolitik der modernen Entwicklung von gleichzeitiger Milde und Strenge Die Strafrechtspolitik der gleichzeitigen Milde und Strenge (宽严相济) bezeichnet eine Situation, welche bei der Sanktionierung von Verbrechen einen Unterschied in der Sanktionsschwere trifft. Schwerwiegende Straftaten werden streng bestraft, sogenannte normale Verbrechen werden milder bestraft. Somit stellen gleichzeitige Milde und Strenge eine Grundrichtung des chinesischen Strafrechts dar. Diese Ausrichtung des Strafrechts zieht sich



Überlegungen zur Verständigung im chinesischen Strafrecht21

durch alle Vorgänge, die Strafgesetzgebung, die Strafjustiz und die Vollstreckung der Strafe. Diese Kombination der Strafrechtspolitik, welche die früheren Teile der strengen Behandlung und der milden Bestrafung vereinigt, wurde in unserer neuen Zeit übernommen, entwickelt und verbessert. Dadurch werden Verbrechen in unserer neuen Zeit nach wie vor sanktioniert und dennoch Menschenrechte garantiert, gleichzeitig orientiert sich dies an der Durchführung staatlicher Gesetze. Das Ziel dabei ist, eine äußerst kleine Minderheit anzugreifen und zu isolieren, dafür aber die große Mehrheit zu erziehen, zu bessern und damit zu retten, um dadurch die Konflikte innerhalb der Gesellschaft maximal zu verringern und die Harmonie in der Gesellschaft zu fördern. Seit dem 3. Plenum des 11. Parteitags der KPCh hat die Strafrechtspolitik, welche „strenge Behandlung und milde Bestrafung miteinander verbindet“ große Fortschritte gemacht. Dabei hat der Aufbau des chinesischen Rechtsstaats seit Beginn des 21. Jahrhunderts große und historische Erfolge erzielt, wobei sich der Trend zur Verrechtlichung insbesondere im Rahmen des Strafrechts deutlich zeigt. Von der früheren strengen Repression (严惩) zur milden Unterstützung (宽缓) ist dies nicht nur eine Umkehrung der ursprünglichen Betonung, es ist gleichzeitig ein wichtiger Maßstab für die Beurteilung des Aufbaus des Rechtsstaats in der Gesellschaft. Wir können sogar so weit gehen, dass wir die Unterstützung für die Politik von „Milde und Strafe“ als Rückkehr zu Wissenschaftlichkeit und Vernunft betrachten können. Diese Rückkehr zur Vernunft vollzieht sich eben dadurch, dass wir die gesellschaftliche Stabilität und ihre positive Gleichberechtigung schätzen. 2. Erfahrungen der Praxis: Vom Modell zur Gesetzgebung im Strafprozessrecht Der „Beschluss über die Ermächtigung des Obersten Volksgerichtshofs und der Obersten Volksstaatsanwaltschaft zum Erlass von Bestimmungen für Modellversuche zum beschleunigten Verfahren in Strafsachen“2 wurde im Juni 2014 vom Ständigen Ausschuss des 12. Nationalen Volkskongress angenommen. Dieser Beschluss war einverstanden damit, dass in 18 Gebieten Modellversuche zu beschleunigten Verfahren im chinesischen Recht durchgeführt werden. Man erwartete sich davon, dass in einfachen Fällen bzw. in Fällen, in denen es nur relativ wenig Konfliktpotential gab, der Strafprozess eine prozessuale Vereinfachung erleben könne, um dadurch Ressourcen der 2  Beschluss über die Ermächtigung des Obersten Volksgerichtshofs und der Obersten Volksstaatsanwaltschaft zum Erlass von Bestimmungen für Modellversuche zum beschleunigten Verfahren in Strafsachen (关于授权最高人民法院、最高人民检察院 在部分地区开展刑事案件速裁程序试点工作的决定).

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Justiz einzusparen. Am 23. Oktober 2014 hatte dann das 4. Plenum des 18. Parteitags den „Beschluss des ZK der KPCh bezüglich wichtiger Fragen der Verbesserung des Rechtsstaats“3 angenommen. In diesem Beschluss war zum ersten Mal die Vervollkommnung der Verständigung im Strafprozess ausdrücklich als Ziel genannt worden. Die Arbeitsgruppe des 18. ZK zur Vertiefung der Reformen (十八届中央全面深化改革领导小组) beschloss dann auf ihrer 26. Sitzung am 22. Juli 2016 den „Plan bezüglich der Modellversuche zur Verständigung im Strafrecht“ (关于认罪认罚从宽制度改革试 点方案). Auf Grund dessen verabschiedete der Ständige Ausschuss des Natio­nalen Volkskongress am 3. September 2016 den Beschluss über die Ermächtigung von Oberstem Volksgerichtshof und Oberstem Volksprokurat in einem Teil der Bezirke Modellversuche zur Verständigung im Strafrecht durchzuführen (关于授权最高人民法院、最高人民检察院在部分地区开展 刑事案件认罪认罚从宽制度试点工作的决定), wodurch die Gesetzesermächtigung für entsprechende Modellversuche zur Verständigung im Strafrecht geschaffen war, um diese in 18 Städten, darunter Beijing, Xiamen etc., durchzuführen. Auch die Resultate der Modellversuche zu beschleunigten Verfahren waren positiv beurteilt worden, so dass dieser Beschluss beide Institutionen in schöner Weise miteinander verband. Dazu wurde die Anwendung in ihrem Umfang von der ursprünglichen Obergrenze von einem Jahr Freiheitsstrafe auf drei Jahre Freiheitsstrafe angehoben. Auf dieser Grundlage veröffentlichten der Oberste Gerichtshof, die Oberste Volksstaatsanwaltschaft, das Ministerium für öffentliche Sicherheit (Polizei), das Ministerium für Staatssicherheit und das Justizministerium am 16. November 2016 die Ausführungsbestimmungen über die Durchführung von Modellversuchen zur Verständigung im Strafrecht in einem Teil der Bezirke (关于在部分地区开展 刑事案件认罪认罚从宽制度试点工作的办法); § 16 dieser Ausführungsbestimmungen legt fest: „Wenn bei Fällen, deren Zuständigkeit zum allgemeinen Volksgericht gehört und bei denen die Strafe möglicherweise unter drei Jahren Freiheitsstrafe liegt, die Tatsachen klar und die Beweismittel ausreichend sind, wenn die Prozessparteien gegenüber dem anzuwendenden Recht keine Einwände haben, wenn der Angeklagte die Schuld eingesteht, in die Strafe einwilligt und einem beschleunigten Verfahren zustimmt, dann kann ein beschleunigtes Verfahren angeordnet werden. Dieses wird von einem Einzelrichter durchgeführt, die Zustellungsfrist unterliegt nicht den Fristen des cStPG, das Gericht führt keine Beweisermittlung und keine mündliche Verhandlung durch, sondern verkündigt im Gerichtssaal das Urteil. Dennoch hat das Gericht vor Verkündung des Urteils das letzte Wort des Angeklagten anzuhören.“ Der Ständige Ausschuss des 13. Nationalen Volkskongress be3  Beschluss des ZK der KPCh bezüglich wichtiger Fragen der Verbesserung des Rechtsstaats (中共中央关于全面推进依法治国若干重大问题的决定).



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schloss auf seiner 6. Sitzung am 26. Oktober 2018 das Dritte Gesetz zur Änderung des Strafprozessgesetzes (刑事诉讼法第三修正案), sodass die Verständigung im Strafprozess nunmehr eine gesetzliche Grundlage hat. Die Verständigung wurde also erfolgreich aus dem Versuchsstadium in ein landesweites System überführt. Es wurde damit ein System der Verständigung im Strafrecht geschaffen, das chinesische Charakteristika aufweist.

III. Konkrete Ausgestaltung der Verständigung im chinesischen Strafprozessrecht 1. Die Strafprozessrechtsnovelle von 2018 und ihre Bestimmungen zur Verständigung Das 3. Strafprozessrechtsreformgesetz von 2018 hat die Verständigung im Strafrecht in folgenden vier Zusammenhängen normiert: Erstens wurde die Verständigung als Grundprinzip des Strafprozessrechts eingeführt. Der Gesetzgeber hat dadurch deutlich gemacht, dass er in dem Reformgesetz die Verständigung gutheißt und sie absichert. Zweitens hat er das Verfahren verbessert und ausgeweitet. Dabei wurde klar bestimmt, in welchen Verfahrensabschnitten diese Institution wie angewandt werden kann. Drittens hat er die Anwendung des beschleunigten Verfahrens im Strafprozess erweitert. Der Anwendungsbereich wurde ebenfalls von bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe erweitert. Viertens wurde die Verständigung zu einem Maßstab gemacht, mit dem die Sozialgefährlichkeit des Tatverdächtigen bzw. des Angeklagten beurteilt wird. Anhand dieser Regelungen kann man ersehen, wie der Gesetzgeber das Institut der Verständigung im Strafrecht akzeptiert und garantiert. Im Wunsch, dieses weiter zu verbessern, hat er hiermit einen weiteren Stein in das Gebäude des chinesischen Strafrechts eingefügt. Die Verständigung im Strafrecht ist der wichtigste Reglungskomplex des diesmaligen Reformgesetzes: dieser hat drei Charakteristika: zum einen ist diese Reform in ihrem Umfang die größte, die es bislang gab. Dies gilt sowohl für die Zahl betroffener Paragraphen, als auch für die inhaltlichen Änderungen. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass die Verständigung sowohl nach Textumfang als auch nach betroffenen Paragraphen ca. die Hälfte des diesmaligen Reformgesetzes ausmacht. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass sie als „Gewinner“ der diesmaligen Reform betrachtet wird. Bei den Anwendungserfolgen der Modellversuche, bei der großen Ausweitung der Anwendung, bei der eigentlichen Gesetzgebung, es war immer die Verständigung, die das größte Ausmaß an neuen Normen benötigte. Zweitens zieht sich die Verständigung durch alle wichtigen Verfahrensarten des Strafprozessgesetzes. Die Verständigung ist auf das Verfahren bezogen, die Einrich-

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tung dieses Systems muss eine Entsprechung in den jeweiligen Verfahren haben, um durchgeführt werden zu können. Daher spannt sich die Durchführung und die Entwicklung dieser Institution über die Verfahrenshandlungen des Strafprozessrechts. Die Tatsache, dass das Reformgesetz die Verständigung in sehr vielen unterschiedlichen Kapiteln und Abschnitten erwähnt hat, zeigt, wie groß Einfluss und Wirkung dieses Instituts sind. Auch weil gleichzeitig das beschleunigte Verfahren eingeführt wurde, war ein besonderes Augenmerk auf der Anpassung von Institut und Verfahren. Drittens gehen die Neuerungen der eingeführten Bestimmungen nicht weit genug. Aus Sicht der neu eingeführten Paragraphen zeigt sich, dass die meisten in Abänderung der Bestimmungen, welche sich zuvor in den Ausführungsbestimmungen über die Durchführung von Modellversuchen zur Verständigung im Strafrecht in einem Teil der Bezirke (关于在部分地区开展刑事案件认罪认罚从宽制度试 点工作的办法) von „OVG, OVP und den drei Ministerien“ erlassen wurden oder diese direkt übernahmen. Es gibt nahezu keine Gesetzgebung, die wirklich neu gewesen wäre. Der Grad der Neuerung ist also insgesamt betrachtet ungenügend. In Bezug auf die Garantien gegenüber dem Tatverdächtigem bzw. dem Angeklagten fehlt es an normativer Feinarbeit; eine normative Bestimmung von Begriffen wie Gesetzlichkeit, Freiwilligkeit, Wahrhaftigkeit etc. fehlt offensichtlich. Viertens sind die relevanten Bestimmungen undeutlich und haben Regelungslücken. So bestimmt etwa § 173 II, III cStPG: „Wenn der Tatverdächtige seine Schuld eingesteht und in seine Strafe einwilligt, dann muss die Volksstaatsanwaltschaft ihm mitteilen, welche Verfahrensrechte er hat und welche Bestimmungen auf die Verständigung angewandt werden, sie muss die Meinung von Tatverdächtigem, von seinem Verteidiger oder einem diensthabenden Anwalt, vom Opfer und dessen Prozessvertreter zu folgenden Sachverhalten erfragen: (1)  die betreffende Verbrechenstatsache, den Paragraphen der Anklage und die zugehörigen gesetzlichen Bestimmungen; (2) den Vorschlag zu milderer Strafe, zu Strafminderung oder zu Straferlass; (3) das Verfahren, das zur Verhandlung nach erfolgter Verständigung genutzt wird; (4) andere Sachverhalte, zu denen eine Meinung gehört werden soll. Die Volksstaatsanwaltschaft hört nach den vorstehenden beiden Absätzen die Meinung des diensthabenden Anwalts; sie muss dem diensthabenden Anwalt im Vorfeld die erforderliche Gelegenheit geben, die Situation des Falles zu verstehen.“4 4  § 173

II, III cStPG

犯罪嫌疑人认罪认罚的,人民检察院应当告知其享有的诉讼权利和认罪认罚的法律规定,听取犯罪嫌 疑人、辩护人或者值班律师、被害人及其诉讼代理人对下列事项的意见,并记录在案:  (一)涉嫌的犯罪事实、罪名及适用的法律规定;  (二)从轻、减轻或者免除处罚等从宽处罚的建议;  (三)认罪认罚后案件审理适用的程序;  (四)其他需要听取意见的事项.



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Analysieren wir die Bestimmungen dieses Paragraphen, dann sehen wir dass es sich nur um ungefähre Bestimmungen handelt. In welcher Art soll die Staatsanwaltschaft die Meinung erfragen? Wie soll man mit den Meinungen umgehen, wenn man sie denn erfahren hat? Welche Möglichkeiten der Rechtshilfe gibt es für den Fall, dass die geäußerten Meinungen verworfen werden? Hat der diensthabende Rechtsanwalt ein Akteneinsichtsrecht? All diese Fragen sind bislang nicht wirklich in ihren Details normativ bestimmt. Die undeutlichen gesetzlichen Bestimmungen harren somit der zukünftigen Interpretation durch die Justiz, um dadurch die Anwendbarkeit des Systems zu verbessern. 2. Offene Fragen in Bezug auf die Verständigung a) Anwendung der Verständigung im Ermittlungsverfahren? Die chinesische Strafprozessgesetz hat unterschiedliche Bestimmungen zu der Frage, ob die Verständigung im Ermittlungsverfahren angewandt werden kann oder nicht. Die eine Bestimmung findet sich in § 162 II cStPG, wonach im Ermittlungsverfahren nur ein Schuldeingeständnis, aber keine Einwilligung in die Strafe notwendig ist. Die Formulierung im Wortlaut liest sich wie folgt: Gesteht der Tatverdächtige seine Schuld ein, so ist dies zu Protokoll zu nehmen und gemeinsam mit der Akte zu übergeben; der betreffende Sachverhalt muss in der Anklageschrift ausdrücklich erwähnt werden.5

Im Zusammenhang mit der Prognose der Sozialgefährlichkeit bei der Genehmigung der Verhaftung, (die sich ja auch im Ermittlungsstadium abspielt), wird wieder auf Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung als zu berücksichtigende Faktoren verwiesen. § 81 II cStPG bestimmt: Bei Genehmigung oder Beschluss zur Verhaftung müssen die Art des Verbrechens, welches dem Tatverdächtigen bzw. dem Angeklagten zur Last gelegt wird, die Umstände, das Schuldeingeständnis und die Strafeinwilligung als Faktoren berücksichtigt werden, um an Hand dessen zu beurteilen, ob eine Sozialgefährlichkeit besteht.6

人民检察院依照前两款规定听取值班律师意见的,应当提前为值班律师了解案 件有关情况提供必要的便利. 5  § 162 II cStPG 犯罪嫌疑人自愿认罪的,应记录在案,随案移送,并在起诉书中写明有关情况. 6  § 82 II cStPG  批准或者决定逮捕,应当将犯罪嫌疑人、被告人涉嫌犯罪的性质、情节、认罪 认罚等情况,作为是否可能发生社会危险性的考虑因素.

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Der Autor vertritt die Meinung, dass die Verständigung im Ermittlungsverfahren zur Anwendung kommt, dass es hierzu aber lediglich das Schuldeingeständnis benötigt, eine Strafeinwilligung ist nicht notwendig. Es gibt dafür folgende Gründe: zunächst ist das Schuldeingeständnis eine Frage der Geisteshaltung. Im Ermittlungsverfahren ist es lediglich notwendig, diese Geisteshaltung zu kommunizieren. Unter der Voraussetzung des Schuldeingeständnisses ist es lediglich notwendig die Ermittlungsorgane bei der Aufklärung des Falles zu unterstützen. Weiter zeigt die Erfahrung in der Praxis, dass das Schuldeingeständnis nicht auf der Grundlage der Strafempfehlung aufbaut. Im Ermittlungsstadium haben sich die Beweismittel, die für eine Strafzumessung relevant sind, noch nicht gefestigt, sodass die Ermittlungs­ behörde unmöglich eine realistische Strafempfehlung vorlegen kann, in die der Tatverdächtige dann „einwilligen“ könnte. Weiter ist eine wesentliche Voraus­setzung für die Verständigung, dass die Anklage und die Verteidigung gleichberechtigt sind und es eine Symmetrie der Information gibt. Trotzdem ist es im Ermittlungsstadium schwer eben von dieser „Symmetrie der Information“ zu sprechen. Schließlich besteht die Gefahr, dass es bei der Beurteilung der Sozialgefährlichkeit auf Grund von Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung zu Fehlurteilen kommt, dass also Personen, die kein Verbrechen begangen haben, ein Schuldeingeständnis oder sogar eine Strafeinwilligung abgeben, um dadurch möglichst bald dem Übel der Gefängnisstrafe zu entgehen. b) Die Rolle des Pflichtverteidigers und die Frage der Zuordnung von dessen prozessualen Rechten? Die Rolle des diensthabenden Anwalts hat sich von der Beschreibung als Verteidiger (辩护人), die sich noch im Gesetzentwurf fand, zum juristischen Helfer (法律帮助人) im verabschiedeten Reformgesetz gewandelt, hat also eine vollkommen andere Stellung bekommen. So bestimmt z. B. § 36 I cStPG: „Rechtshilfeorganisationen können Rechtsanwälte an Volksgerichte und Untersuchungsgefängnisse abordnen. Hat der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte keinen Verteidiger bestellt und hat die Rechtshilfeorganisation keinen Rechtsanwalt beauftragt, dessen Verteidigung zu übernehmen, dann bietet der diensthabende Anwalt dem Tatverdächtigen bzw. dem Angeklagten Rechtsberatung an, insbesondere gibt er einen Rat zur Verfahrenswahl, stellt Anträge zur Umwandlung von Zwangsmaßnahmen, und macht Vorschläge zur Fallbearbeitung.“7 7  § 36

I cStPG

 法律援助机构可以在人民法院、看守所等场所派驻值班律师。犯罪嫌疑人、被

告人没有委托辩护人的,法律援助机构没有指派律师为其提供辩护的,由值班律 师为犯罪嫌疑人、被告人提供法律咨询、程序选择建议、申请变更强制措施、对 案件处理提出意见等法律帮助.



Überlegungen zur Verständigung im chinesischen Strafrecht27

Aus den Untersuchungen zu Modellversuchen mit diensthabenden Anwälten wissen wir, dass diese nicht den von ihnen erhofften Effekt bewirken. Auf Grund unterschiedlicher subjektiver und objektiver Beschränkungen bleibt die Beratung häufig nur eine Formsache und kann im materiellen Sinne nicht wirklich das erreichen, was von ihr erwartet wird. Gründe hierfür liegen insbesondere darin, dass der diensthabende Anwalt von seiner Stellung her falsch eingeordnet ist. „Juristischer Helfer“, so lautet die Charakterisierung, die in den Modellversuchen gemacht wird. Die Probleme bei der Einordnung bewirken, dass der diensthabende Anwalt in seinen Rechten eingeschränkt ist. Er kann daher weder in prozessualer, noch in materieller Hinsicht wirkliche Rechtshilfe geben, was dann Anlass für das Phänomen einer lediglich formalen Hilfe ist. Daher ist die Mehrheit der Strafrechtswissenschaftler der Ansicht, dass der „juristische Helfer“ in einen „Verteidiger“ umgewandelt werden sollte, so dass sich die Rolle des diensthabenden Anwalts verändert und er dann in der Praxis die gleichen Rechte hat, wie ein Verteidiger. Wenn man die obigen Ausführungen zusammenfasst, dann gab es einige Modellversuche, die in der Neuerung mehr Neues gewagt haben, die dem diensthabenden Anwalt mehr und umfangreichere Rechte übertragen haben, sodass ihm z. B. ein Einsichtsrecht in die Ermittlungsakten zustand. Beispielsweise die Staatsanwaltschaft im Bezirk Putuo, Stadt Shanghai versuchte sich in Neuerungen, wobei sie dem diensthabenden Anwalt im System der Ermittlungseinheit das Recht gab, vermittels einer CD innerhalb der Ermittlungsakten Einsicht zu nehmen. An der Staatsanwaltschaft im Bezirk Changning, Stadt Shanghai wurde versucht, ein System der Umwandlung einzuführen, so dass der diensthabende Anwalt dann als Verteidiger fungieren konnte, wenn er in seiner Funktion als diensthabender Anwalt auf der eidesstattlichen Erklärung des Angeklagten unterschrieben hatte. Dabei ist die Kontroverse um die Umwandlung des diensthabenden Anwalts zum Verteidiger bis zum heutigen Tag nicht wirklich verstummt. Es bedarf also weiterer Studien zu Rolle und Aufgabe des Anwalts in diesem Verfahrensabschnitt. Wenn der diensthabende Anwalt in der jüngsten Reform nach wie vor nur als „juristischer Helfer“ verankert wird, dann hat das in Anbetracht des allgemeinen Hintergrunds der Justiz und der juristischen Praxis seine Gründe. Freiwilligkeit und Transparenz der Verständigung können kaum durch das bestehende System des diensthabenden Anwalts abgesichert und garantiert werden; die Effizienz des gegenwärtigen Systems beruht daher im Wesentlichen auf dem Vertrauen in die Macht des staatlichen Systems.

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c) Freiwilligkeit und Wissenshorizont des Strafverfolgten in der Verständigung? Tatverdächtiger bzw. Angeklagter müssen bei der Verständigung eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, wobei der diensthabende Anwalt hier als „Zeuge“ beiwohnen soll. Wenn der Anwalt keine relevanten Rechte hat, wenn er in einer Situation ist, in der er keine effektive Verteidigung durchführen kann, dann hat diese Handlung als „Zeuge“ nur rein formalen Charakter. Daher kann nicht garantiert werden, dass die Unterschrift der eidesstattlichen Erklärung wirklich freiwillig und informiert erfolgt. Aus diesem Grund entzündet sich an dieser Frage ein heißer Diskurs. In einigen Modellversuchen wurde den diensthabenden Anwälten das Recht zur Akteneinsicht übertragen. Im System der Verständigung, wie es seither eingeführt wurde, hat man dagegen der mündlichen Aussage innerhalb der gesetzlich bestimmten Beweismittel eine prominentere Stellung eingeräumt. Dadurch ist auch das freiwillige sich Stellen bis zu einem bestimmten Punkt wichtiger geworden. Die Beweisausschlussgründe, welche auf mündliche Aussagen Anwendung finden, müssen hingegen wesentlich verbessert und verfeinert werden. Verfassung und cStPG verleihen dem strafrechtlich Verfolgten das Recht auf Verteidigung und auf rechtliches Gehör, diese müssen in der Verständigung in noch größerem Maße als bisher realisiert und geschützt werden. Die Verständigung ist nicht gleichzusetzen mit einem Verlust an oder einer Aberkennung von Rechten. Das System der Verständigung muss sich vielmehr unter der Voraussetzung vollziehen, dass der strafrechtlich Verfolgte vollkommen respektiert wird. d) Verständnis und Anwendung der Bestimmungen bezüglich „Anhörung von Meinungen“ § 173 III bestimmt: „Gesteht der Verdächtige seine Schuld ein und erkennt er die Strafe an, dann muss ihm die Staatsanwaltschaft mitteilen, welche prozessualen Rechte ihm zukommen und wie die gesetzlichen Bestimmungen über die Verständigung im Strafprozess lauten; sie muss den des Verbrechens Verdächtigen, seinen Verteidiger bzw. den diensthabenden Verteidiger, das Opfer und dessen Prozessbevollmächtigten zu folgenden Sachverhalten befragen, deren Meinung erfahren und diese protokollieren: (1) die zur Last gelegte Verbrechenstatsache, der Name des Verbrechens und die anzuwendenden gesetzlichen Bestimmungen; (2) die Vorschläge bzgl. milderer Bestrafung, also niedrigem Strafrahmen, Strafminderung oder Straferlass; das Verfahren, das bei der Verhandlung des Falls nach Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung zur Anwendung kommt; (4) andere Sachverhalte, bzgl. derer die Meinung angehört werden soll. Wenn die Staatsanwaltschaft zu den



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beiden vorstehenden Punkten die Meinung des diensthabenden Verteidigers hört, dann muss sie diesem im Vorfeld die notwendigen Mittel geben, um die Situation des Falls zu verstehen“.8 Der Tatverdächtige, der Angeklagte und das Opfer sind beteiligte Parteien (利害关系人), deren Meinungen meist nicht übereinstimmen, ja die u. U. sogar gegensätzlich sind. Also stellt sich die Frage, wie deren Meinung vereinheitlicht werden kann? Solange der Anwalt nicht als Verteidiger bestellt ist, kann er nur eine assistierende Funktion übernehmen und keine wirkliche Verteidigungsarbeit leisten. Wie soll daher ein diensthabender Verteidiger sinnvoll eine Meinung äußern? Was für „notwendige Mittel …, um die Situation des Falls zu verstehen“ muss die Staatsanwaltschaft dem diensthabenden Verteidiger einräumen? All diese Fragen bedürfen weiterer Analyse und müssen von der Justiz in der Praxis beantwortet werden.

8  犯罪嫌疑人认罪认罚的,人民检察院应当告知其享有的诉讼权利和认罪认罚 的法律规定,听取犯罪嫌疑人、辩护人或者值班律师、被害人及其诉讼代理人对 下列事项的意见,并记录在案: (一)涉嫌的犯罪事实、罪名及适用的法律规定;  (二)从轻、减轻或者免除处罚等从宽处罚的建议; (三)认罪认罚后案件审理适用的程序;  (四)其他需要听取意见的事项。人民检察院依照前两款规定听取值班律师意 见的,应当提前为值班律师了解案件有关情况提供必要的便利.

Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verständigung im Strafverfahren im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19.3.2013* 联邦最高法院就联邦宪法法院2013年3月19日判决关于刑事诉 讼中认罪协商交易的解释 Michael Dölp** Verfahrensverkürzende und verfahrensbeendende Absprachen im Strafverfahren gehören seit jeher zum Alltag eines deutschen Strafverfahrens. Allerdings wurden sie in der Vergangenheit häufig mit dem Vorwurf der „Mauschelei“ versehen. Das geschah vornehmlich deshalb, weil der eine oder andere Verfahrensbeteiligte entweder nicht oder nur ungenügend in den Verständigungsprozess einbezogen worden war bzw. weil man die Gefahr von Fehlurteilen auf Grund falscher Geständnisse fürchtete. Die Rechtsprechung vermied anfangs eindeutige Festlegungen. Sie beschränkte sich auf kleine Korrekturen. Auch der Gesetzgeber zögerte. Der Durchbruch zur Entwicklung verständigungsbasierter Absprachen kam durch eine Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs im März 20051. Der Senat forderte nämlich eine gesetzliche Regelung und ihre inhaltliche Ausgestaltung ein. Nach langer Diskussion in den verschiedensten Gremien und der Vorlage unterschiedlichster Entwürfe wurde schließlich das Verständigungsgesetz am 3.8.2009 verkündet. Mit § 257c StPO, dem zentralen Punkt des Regelungswerks, wurden begleitende Vorschriften eingefügt: §§ 160b, 202a, 212, 257b StPO regeln die Möglichkeit einer Erörterung des Verfahrensstandes in den verschiedenen Verfahrensstadien, § 302 Abs. 1 S. 2 StPO schließt den Rechtsmittelverzicht im Falle einer Verständigung aus, § 243 Abs. 4 StPO bestimmt die Mitteilungspflicht über die Gespräche zur Vorbereitung der Verständigung in Stadien vor der Hauptverhandlung bis zu ihrem Beginn und über Verständigungsgespräche während des Hauptverfahrens ohne schuldhaftes Zögern. *  Der

Beitrag wurde im Jahr 2019 verfasst. Dölp, Rechtsanwalt, Richter am Bundesgerichtshof a. D. 1  BGH, Beschl. vom 3.3.2005 – GSSt 1/04, BGHSt 50, 40, 63. **  Michael

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Schließlich stellt § 273 Abs. 1a StPO spezielle Anforderungen an die Protokollierung, um Transparenz und Nachprüfbarkeit insbesondere auch für die Revisionsgerichte zu gewährleisten. Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofs bis zu dem oben genannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts2 zeichneten sich dadurch aus, dass sie ihr Augenmerk stark auf die Praxis­ tauglichkeit richteten. Dabei kam dem Bundesgerichtshof § 337 StPO mit seiner Beruhens – Prüfung gelegen. Einen Einschnitt bedeutete dann die erwähnte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht nur mit der Feststellung der Verfassungsgemäßheit des Verständigungsgesetzes, sondern vor allem mit seinen „Anregungen“ zur verfassungskonformen Auslegung der Vorschriften des Verständigungsgesetzes3 3. Seitdem hat sich der Bundesgerichtshof in weit mehr als 200 Entscheidungen mit der Frage beschäftigt, ob Tatgerichte das Regelungswerk des Verständigungsgesetzes richtig angewandt haben. Dabei ist es zu folgender Klärung gekommen:

I. Gegenstand der Verständigung: Grundlage für eine Absprache können gem. § 257c Abs. 2 S.1 StPO nur Rechtsfolgen sein, die Inhalt des Urteils und der dazu gehörenden Beschlüsse sein können, sonstige verfahrensbezogene Maßnahmen und das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten. Zu den Rechtsfolgen zählen die Strafhöhe, Entscheidungen über die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung, Bewährungsauflagen4, die Vollstreckung von Untersuchungshaft5 sowie das Absehen von einer Einziehung gem. § 421 StPO6. Wegen ihres zwingenden Charakters ist eine Verständigung über die Einziehung von Taterträgen nicht zulässig. Was unter „verfahrensbezogene Maßnahmen“ zu verstehen ist, ist letztlich noch nicht geklärt. Sicherlich gehören hierzu auch das Absehen von der Strafverfolgung gem. § 154 Abs. 2 StPO, die Beschränkung einer Verfolgung gem. §154a Abs. 2 StPO sowie der Verzicht auf prozessuale Antragsrechte (z. B. Befangenheitsgesuche, Beweisanträge) und die Zustimmung zu vereinfachenden Beweiserhebungen gem. § 251 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 3 StPO. Beweiserhebungen dürfen allerdings dann nicht unterlassen werden, wenn es die Amtsaufklärungspflicht gem. § 244 Abs. 2 StPO verlangt. 2  BVerfGE 3  Vgl.

133, 168. zu Vorstehendem Jahn/Kudlich, MüKo StPO, 1. Aufl. 2016, § 257c Rz. 1 ff.,

10 ff. 4  BGH, Beschl. vom 29.1.2014 – 4 StR 254/13, BGHSt 59, 172 und vom 8.9.2016 – 1 StR 346/16. 5  BGH, Beschl. vom 21.7.2011 – 5 StR 176/11. 6  BGH, Beschl. vom 6.2.2018 – 5 StR 600/17.



Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verständigung33

Kein Gegenstand einer Verständigung können gem. § 257c Abs. 2 Satz 3 StPO der Schuldspruch selbst und die Maßregel der Besserung und Sicherung sein. Es ist auch nicht erlaubt, bei einem Geständnis von einem Schuldspruch wegen eines qualifizierten Bandenvorwurfs abzusehen7. Das bedeutet aber nicht, dass ein Tatgericht nach einer langen Hauptverhandlung gehindert wäre, einem Verständigungsvorschlag nicht das Ergebnis seiner, einen Bandenvorwurf nicht belegenden Beweiswürdigung zugrunde zu legen8. Zusagen des erkennenden Gerichts in Bezug auf andere Verfahren, beispielsweise gem. § 154 Abs. 2 StPO, sind ausgeschlossen, wenngleich es der Staatsanwaltschaft selbst nicht untersagt ist, solche Zusagen zu geben9.

II. Strafrahmenverschiebung Das Bundesverfassungsgericht zieht aus § 257c Abs. 2 Satz 1 StPO den Schluss, dass eine Strafrahmenverschiebung nicht Gegenstand einer Verständigung sein könne10. Dies erfasse auch die unbenannten minder (besonders) schweren Fälle11. Allerdings ist zweifelhaft, wann eine Strafrahmenverschiebung „Gegenstand einer Verständigung“ ist. Denn wenn z. B. ein Geständnis zur Folge hat, dass ein Fall unter diesen Umständen nach einer Gesamtwürdigung als minder schwer einzuordnen ist, dann ist überhaupt nicht erklärbar, warum dieser Umstand einer Verständigung entgegenstehen soll. Deshalb hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs12 u. a. ausgeführt, es fehle „an jedem argumentativen Anknüpfungspunkt dafür“, dass eine Gesamtwürdigung, also Annahme zum Beispiel eines minder schweren Falls, weil ein Geständnis vorliege, „der Frage des Schuldspruchs gleichzustellen und damit … dem Bereich zulässiger Verständigungsgespräche zu entziehen“. Dennoch: bevor sich nicht das Bundesverfassungsgericht zu dieser Problematik abschließend geäußert hat, ist Vorsicht angezeigt.

III. Ober- und Untergrenze einer Strafe Gem. § 257c Abs. 3 Satz 1 StPO gibt das Gericht bekannt, welchen Inhalt die Verständigung haben könnte. Gem. § 257c Abs. 3 Satz 2 StPO kann das Gericht auch eine Ober- und Untergrenze der Strafe angeben. Eine bestimmte 7  BGH,

Beschl. vom 28.9.2010 – 3 StR 359/10, NStZ 2011, 231. Urt. vom 1.12.2016 – 3 StR 331/16, NStZ 2017, 373. 9  BGH, Beschl. vom 12.7.2016 – 1 StR 136/16. 10  BVerfGE 133, 168 Nr. 74. 11  BGH, Beschl. vom 25.4.2013 – 5 StR 139/13. 12  BGH, Beschl. vom 10.1.2017 – 3 StR 216/16, NStZ 2017, 363; vgl. auch Urt. vom 1.12.2016 – 3 StR 331/16, NStZ 2017, 373. 8  BGH,

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Strafe, die sogenannte Punktstrafe, darf allerdings nicht einer Verständigung zugrunde gelegt werden13. Es kommt vor, dass das Tatgericht einem Angeklagten vor Augen führt, mit welcher Strafe es bei einer „streitigen“ Hauptverhandlung zu rechnen hat. Eine derartige Vorgehensweise ist grundsätzlich nicht unzulässig. Allerdings muss dann beachtet werden, dass der Abstand zwischen der Obergrenze und der Strafe bei einer „streitigen“ Hauptverhandlung nicht zu groß ist (sog. Sanktionsschere14). Es besteht aber kein Anspruch darauf, dass eine derartige alternative Betrachtungsweise durch das Gericht mitgeteilt wird15.

IV. Belehrungspflicht/Bindung Dem Schutz der Selbstbelastungsfreiheit trägt § 257c Abs. 5 StPO mit seiner Verpflichtung zur Belehrung Rechnung. Diese Bestimmung dient der Fairness des Verständigungsverfahrens und ist auch Ausdruck der Fürsorgepflicht des Gerichts in Bezug auf autonome Entscheidungen eines Angeklagten16. Erfasst wird der gesamte Regelungsgehalt des § 257c Abs. 4 StPO17, also ein Entfallen der Verständigung, wenn rechtlich oder tatsächlich bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben, so dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- und schuldangemessen erscheint. Das Gleiche gilt schon von Gesetzes wegen, wenn das weitere Prozessverhalten des Angeklagten nicht dem Verhalten entspricht, das der Prognose des Gerichts zugrunde gelegt worden ist. Unter diesen Umständen ist ein Geständnis gem. § 257c Abs. 4 Satz 3 StPO unverwertbar. Das Verwertungsverbot gilt aber nicht bei Aufhebung und Zurückverweisung der Sache nach einer Revision des Angeklagten. Zu beachten ist aber im weiteren Verfahren, dass das Verschlechterungsverbot gem. § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO in Bezug auf die im Rahmen der Verständigung akzeptierten Strafobergrenze gilt18. Nach einer Revision der Staatsanwaltschaft gilt dies indes nicht19. Ein Verstoß gegen § 257c Abs. 5 StPO ist nicht nur bei einem Unter13  BGH, Beschl. vom 27.7.2010 – 1 StR 345/10, NJW 2011, 1159 und vom 8.10.2010 – 1 StR 347/10, StV 2011, 75; Beschl. vom 11.6.2015 – 1 StR 590/14. 14  BGH, Beschl. vom 20.10.2010 – 1 StR 400/10, NStZ 2011, 592. 15  BGH, Urt. vom 3.9.2013 – 5 StR 318/13, NStZ 2013, 671; Beschl. vom 10.12.2015 – 3 StR 163/15. 16  Jahn/ Kudlich, a. a. O. Rz.  181 f. 17  BGH, Beschl. vom 19.8.2010 – 3 StR 226/10, StV 2011, 76; Urt. vom 7.8.2013 – 5 StR 253/13, NStZ 2013, 728. 18  BGH, Beschl. vom 24.10.2010 – 5 StR 38/10, StV 2010, 470. 19  BGH, Urt. vom 28.2.2013 – 4 StR 537/12, NStZ – RR 2013, 373.



Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verständigung35

lassen der Belehrung gegeben, sondern auch dann, wenn sie nicht zum richtigen Zeitpunkt erfolgt, also vor der Erklärung des Angeklagten, mit der Absprache einverstanden zu sein20. Die Folge einer Verletzung der Belehrungspflicht ist, dass das abgegebene Geständnis regelmäßig auf dem Verfahrensfehler beruht, so dass das Urteil aufzuheben ist. Ausnahmsweise kann ein Beruhen gem. § 337 Abs. 1 StPO ausgeschlossen werden21, wenn sich feststellen ließe, dass auch bei ordnungsgemäßer Belehrung das Geständnis abgelegt worden wäre. In dem Fall, in dem ein Gericht im Lauf der Hauptverhandlung seinen Fehler bemerkt, lässt sich dieser durch Wiederholung des Verständigungsverfahrens beheben. Dabei bedarf es eines Hinweises auf den Fehler, die Unverbindlichkeit der Zustimmungserklärung des Angeklagten sowie seines Geständnisses22. Das Entfallen der Bindungswirkung tritt nicht kraft Gesetzes ein23. Es bedarf einer gem. § 257c Abs. 4 Satz 4 „unverzüglichen“ gerichtlichen Entscheidung. Die Zustimmungserklärung der Staatsanwaltschaft ist unanfechtbar und unwiderruflich24. Ihre nicht protokollierte Erklärung reicht für eine Bindungswirkung nicht aus25.

V. Amtsaufklärungspflicht (§ 257c Abs. 1 Satz 2 StPO, § 244 Abs. 2 StPO) und Verständigung Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung vom 19.3.2013 ausgeführt: „Eine Verständigung [kann] niemals als solche die Grundlage eines Urteils bilden, sondern weiterhin [bleibt] allein und ausschließlich die – ausreichend fundierte – Überzeugung des Gerichts von dem von ihm festzustellenden Sachverhalt maßgeblich“. Damit hat das Bundesverfassungsgericht hervorgehoben – was der Gesetzgeber ohnehin mit dem Satz: „§ 244 Abs. 2 StPO bleibt unberührt“ festgelegt hat –, dass nämlich grundsätzlich ein Gericht, wenn ihm durch Akten, Anträge, Anregungen oder durch den Verfahrensablauf Tatsachen bekannt werden, die zur Beweiserhebung drängen oder sie nahelegen, davon auch Gebrauch machen müsse. In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, welche Qualität ein Geständnis haben muss, um Grundlage für eine Absprache zu sein. Das Bundesverfas20  BGH, Urt. vom 7.8.2013 – 5 StR 253/13, NStZ 2013, 728; Beschl. vom 19.8.2010 – 3 StR 226/10, StV 2011, 76. 21  BGH, Beschl. vom 15.3.2016 – 5 StR 43/16; BVerfGE a. a. O., Rdnr. 99. 22  BGH, Urt. vom 7.8.2013 – 5 StR 253/13, NStZ a. a. O.; Beschl. vom 24.7.2013 – 1 StR 234/13 und vom 21.3.2017 – 5 StR 73/17. 23  BGH, Urt. vom 21.6.2012 – 4 StR 623/11, BGHSt 57, 273. 24  BGH, Urt. vom 1.12.2016 – 3 StR 331/16. 25  BGH, Beschl. vom 7.12.2016 – 5 StR 39/16.

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sungsgericht sieht in einem reinen Formalgeständnis26, erst recht wenn keine Rückfragen zum Sachverhalt verweigert werden, keine ausreichende Grundlage für eine richterliche Überzeugungsbildung im Rahmen eines Verständigungsverfahrens. Dies gilt auch bei einem bloßen Abgleich27 mit der Aktenlage. Allerdings irritiert das Bundesverfassungsgericht mit der Formulierung, ein Geständnis müsse durch eine „Beweiserhebung in der Hauptverhandlung“ die Validität eines Geständnisses überprüfen, zumal das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich die Möglichkeit einer Beweiserhebung durch Vorhalt von Ermittlungsergebnissen angeführt hat. Letztlich ist es nicht ersichtlich, warum eine weitere Beweiserhebung erforderlich sein soll, wenn ein qualifiziertes, also Einzelheiten einer Tat benennendes Geständnis vorliegt, Rückfragen möglich sind und Übereinstimmung mit der Aktenlage besteht. Denn es kann nicht mehr verlangt werden als bei einem Geständnis bei einer „streitigen“ Hauptverhandlung. So sieht es jedenfalls zwischenzeitlich der Bundesgerichtshof in verschiedenen Entscheidungen aller Strafsenate28.

VI. Dokumentation in den Urteilsgründen Gem. § 267 Abs. 3 Satz 5 StPO sollen die Urteilsgründe ausweisen, dass der Entscheidung eine Absprache zugrunde liegt, ohne dass auf den Inhalt eingegangen werden muss29. Dies ist dem Protokoll vorbehalten. Ein Versäumnis wird allerdings nicht zur Aufhebung des Urteils führen, weil ein Beruhen des Urteils auf diesem Fehler regelmäßig ausgeschlossen werden kann30.

VII. Mitteilungspflicht gem. § 243 Abs. 4 StPO In der Vergangenheit hat sich der Bundesgerichtshof in sehr vielen Fällen mit Rügen der Verletzung der Mitteilungspflicht in Bezug auf Gespräche im Kontext einer Verständigung beschäftigen müssen. Damit geht einher die Dokumentationspflicht durch den Gerichtsvorsitzenden. Durch die §§ 202a Satz 2 und 212 StPO wird darüber hinaus jedes Gespräch zwischen Gericht und Verteidigung von der Mitteilungspflicht/Dokumentation erfasst, es sei denn die Kontaktaufnahme beschränkt sich auf rein technische Fragen. Das 26  Vgl.

auch BGH, Beschl. vom 7.2.012 – 3 StR 335/11, NStZ – RR 2012, 256. a. a. O., 1063. 28  U. a. BGH, Beschl. vom 13.9.2016 – 5 StR 338/16, NStZ 2017, 173; Urt. vom 22.5.2014 – 4 StR 430/13, NStZ 2014, 459 f. 29  BGH, Beschl. vom 11.10.2010 – 1 StR 359/10, NStZ 2010, 170; Beschl. vom 1.9.2015 – 1 StR 12/15. 30  BGH, Beschl. vom 19.8.2010 – 3 StR 226/10, StV 2011, 76. 27  BVerfGE



Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verständigung37

bedeutet, dass immer ein Verständigungsbezug vorliegen muss, was, wie das Bundesverfassungsgericht betont, dann gegeben ist, „wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht werden und damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung naheliegt.“ Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshof hat dies insoweit konkretisiert, als er in einer Entscheidung im Jahre 2015 von einem Gegenseitigkeitsverhältnis von der Zusage eines Strafrahmens und der Abgabe eines Geständnisses bzw. der Zusage sonstigen Prozessverhaltens als Gegenleistung eines Angeklagten gesprochen hat31. In diesem Zusammenhang verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass im Zweifel in einer Hauptverhandlung über Gespräche außerhalb einer Hauptverhandlung informiert werden muss. Dazu zählen indes nicht Gespräche zwischen einem Richter und dem Verteidiger, ob überhaupt Interesse an einer Verständigung besteht und der (unverbind­ liche) Hinweis, dass sich ein Geständnis strafmildernd auswirkt32 oder Gespräche um die Frage nach einer Haftverschonung im Falle der Stellung einer Kaution33. Auch eine Strafmaßprognose zieht ebenso keine Mitteilungspflicht nach sich, wenn damit kein bestimmtes Prozessverhalten verknüpft ist34 wie eine Absprache von Gericht und Staatsanwaltschaft außerhalb der Hauptverhandlung zu einer Einstellung gem. § 154 Abs. 2 StPO, wenn ein Verständigungsbezug fehlt35. Der Bundesgerichtshof mit seinem 1., 3. und 5. Straf­ senat sieht schließlich auch keinen Grund zur Beanstandung, wenn Staatsanwaltschaft und Verteidiger ohne Beteiligung des Gerichts vor Beginn der Hauptverhandlung nicht mitgeteilte/protokollierte Gespräche über Straf­ erwartungen führen, selbst wenn das Gericht später von diesen Gesprächen erfährt36.

31  BGH, Beschl. vom 14.4.2015 – 5 StR 9/15, NStZ 2015, 535; Beschl. vom 6.12.2018 – 1 StR 343/18. 32  BGH, Urt. vom 14.4.2015 – 5 StR 20/15, NStZ 2015, 537; Beschl. vom 25.2.2015 – 5 StR 258/13, NStZ 2015, 232 und vom 14.4.2015 – 5 StR 9/15, NStZ a. a. O. Offen gelassen bei Einstellung nach § 153a Abs. 2 StPO: BGH, Beschl. vom 10.5.2016 – 1 StR 571/15, NStZ 2016, 744. 33  BGH, Beschl. vom 8.1.2015 – 2 StR 123/14. 34  BGH, Urt. vom 26.4.2017 – 2 StR 506/15, NStZ 2017, 658. 35  BGH, Urt. vom 26.10.2016 – 1 StR 172/16; Urt. vom 28.7.2016 – 3 StR 153/16, NStZ2017, 52; Beschl. vom 16.7.2016 – 4 StR 536/16 und vom 6.12.2016 – 4 StR 343/16; Urt. vom 3.5.2017 – 2 StR 576/15, NStZ 2018, 49. 36  BGH, Beschl. vom 25.2.2015 – 5 StR 258/13; NStZ 2015, 232; Beschl. vom 11.6.2015 – 1 StR 590/14, NStZ – RR 2015, 379; Beschl. vom 29.9.2015 – 3 StR 310/15, NStZ 2016, 362; Urt. vom 16.6.2016 – 1 StR 20/16.

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VIII. Umfang der Mitteilung durch das Gericht Nach der Vorgabe durch das Bundesverfassungsgericht gehört zu dem mitzuteilenden Inhalt die Kundgabe, welche Standpunkte die einzelnen Gesprächsteilnehmer einnehmen, (möglicherweise auch) wer Initiator der Verständigungsgespräche war und ob sie auf Ablehnung oder Zustimmung gestoßen sind. Konkludente Erklärungen reichen nicht37. Der Bundesge­ richtshof hat in der Folge hierzu in etlichen38 Entscheidungen offene Fragen geklärt: nicht ausreichend ist es, lediglich das Ergebnis eines Verständigungsgesprächs mitzuteilen, weil schon §§ 202a Satz 2, 243 Abs. 4 StPO die Mitteilung des „wesentlichen Inhalt[s]“ einfordert. Indes müssen nicht die einzelnen Argumente jeweils im Detail wiedergegeben werden, weil sich der Gehalt der Mitteilung aus der Kontrollmöglichkeit durch die Öffentlichkeit und aus der Sicherstellung der Information des Angeklagten ergibt, damit dieser eine eigenständige Entscheidung zu dem Verständigungsergebnis treffen kann39. Unter diesen Umständen bedarf es – in Konkretisierung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – auch keiner Mitteilung, welcher Verfahrensbeteiligte den Anstoß für ein Verständigungsgespräch gegeben hat40. In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass § 243 Abs. 4 Satz 1 StPO die Mitteilung des Ablaufs von Gesprächen vor einer Hauptverhandlung nicht vorsieht, während § 273 Abs. 1a StPO systematisch zwischen Inhalt, Ablauf und Ergebnis von Gesprächen unterscheidet. Geklärt ist zwischenzeitlich der Umgang mit der sogenannten „Negativmitteilung“, das heißt, ob im Vorfeld überhaupt keine Verständigungsgespräche oder lediglich solche ohne Verständigungsbezug stattgefunden haben, in der Weise, dass eine solche Erklärung immer erforderlich ist41. Was den Zeitpunkt der Mitteilung anbelangt, so ist sie aus systematischen Gründen nach Verlesung der Anklageschrift und vor der Belehrung des Angeklagten zu seinem Aussageverweigerungsrecht vorzunehmen42, ansonsten unverzüglich43. 37  BGH,

Beschl. vom 23.7.2019 – 1 StR 169/19. Urt. vom 10.7.2013 – 2 StR 195/13; Urt. vom 26.10.2016 – 1 StR 172/16; Beschl. vom 8.10.2013 – 4 StR 272/13; Beschl. vom 11.2.2015 – 1 StR 335/14; ­Beschl. vom 11.1.2018 – 1 StR 532/17, StraFo 2018, 156. 39  BGH, Beschl. vom 11.2.2015 – 1 StR 335/14. 40  BGH, Beschl. vom 2.12.2014 – 1 StR 422/14, NStZ 2015, 293; Beschl. vom 23.10.2013 – 5 StR 411/13, NStZ 2013, 722. 41  BGH, Beschl. vom 27.1.2015 – 5 StR 310/13; Beschl. vom 25.11.2014 – 2 StR 171/14. 42  BGH, Beschl. vom 27.1.2015 – 1 StR 393/14; Beschl. vom 11.6.2015 – 1 StR 590/14; Beschl. vom 3.12.2015 – 1 StR 169/15; Beschl. vom 10.12.2015 – 3 StR 163/15; Beschl. vom 12.0.2016 – 4 StR 174/16. 38  BGH,



Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verständigung39

Im Falle der Neubesetzung einer Strafkammer vor Eröffnung der Hauptverhandlung ändert sich an der Mitteilungspflicht nichts44. Offen ist, ob die Mitteilungspflicht an den Spruchkörper gebunden ist oder nicht – also ob sie auch gilt, wenn ein Urteil aufgehoben und die Sache an eine andere Strafkammer zurückverwiesen worden ist45. Dafür, dass die Mitteilungspflicht in diesem Falle entfällt, spricht, dass entsprechend der Verweisung in § 212 StPO auf § 202a Satz 1 StPO nur Absprachen mit dem zuständigen und zur Entscheidung berufenen Gericht öffentlich zu machen sind.

IX. Beruhen Ein Verstoß gegen die Mitteilungspflicht zieht regelmäßig den Schluss nach sich, dass das Urteil auf diesem Verfahrensverstoß beruht46. Damit erhebt die insoweit ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts diesen Rechtsfehler trotz der §§ 337, 338 StPO gewissermaßen zu einem absoluten Revisionsgrund. Der Bundesgerichtshof hat in Folge dieser Vorgabe ausnahmsweise aber ein Beruhen aber in dem Fall ausgeschlossen, in dem bei Fehlen einer „Negativmitteilung“ feststeht, dass Verständigungsgespräche vor einer Hauptverhandlung nicht stattgefunden haben. Ebenso hat der Bundesgerichtshof ein Beruhen trotz einer Verständigung verneint, wenn sie sich die Verständigung „im Lichte der öffentlichen Hauptverhandlung offenbart“ hat und ausgeschlossen werden konnte, dass die Gespräche auf eine gesetzwidrige Absprache gerichtet waren47.

X. Protokollierung gem. § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO bzw. § 243 Abs. 4 StPO Wenn sich aus dem Wortlaut von § 273 Abs. 1a Satz 2 StPO bezüglich der Protokollierung von Vorgesprächen außerhalb der Hauptverhandlung lediglich ergibt, dass „die Beachtung der vorgeschriebenen Mitteilung“ zu protokollieren ist, so verlangt der Bundesgerichtshof in weiter Auslegung der 43  BGH, Beschl. vom 6.2.2018 – 1 StR 606/17, NStZ 2018, 419; BGH, Beschl. vom 10.1.2019 – 5 StR 648/19. 44  BGH, Urt. vom 23.7.2015 – 3 StR 470/14; Beschl. vom 29.7.2014 – 4 StR 126/ 14, NJW 2014, 3385. 45  Offen gelassen: BGH, Beschl. vom 3.12.2015 – 1 StR 169/15, NStZ 2016, 357; Beschl. vom 24.1.2017 – 5 StR 607/16 bzgl. Verweisung nach § 270 StPO. 46  BGH, Urt. vom 10.7.2013 – 2 StR 195/13, Beschl. vom 21.3.2017 – 622/16; Beschl. vom 18.5.2017 – 3 StR 511/16. 47  BGH, Urt. vom 26.4.2017 – 2 StR 506/15, NStZ 2017, 658; Urt. vom 14.4.2015 – 5 StR 20/15; Beschl. vom 5.8.2015 – 5 StR 255/15.

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Vorschrift, dass auch der Inhalt dieser „Mitteilung“ niederzulegen ist48. Ein Fehler insoweit stellt keine unzulässige Protokollrüge dar, soweit geltend gemacht wird, die Mitteilung nach § 243 Abs. 4 StPO sei mangelhaft gewesen49. Durch das Protokoll ist der Verfahrensfehler bewiesen50. Es besteht aber die Möglichkeit, das Protokoll zu berichtigen, damit § 243 Abs. 4 StPO tatsächlich Genüge getan wird51.

XI. Erörterungen des Verfahrensstands in der Hauptverhandlung gem. § 257b StPO, § 273 Abs. 1 Satz 2 StPO Entsprechend der Vorgabe durch das Bundesverfassungsgericht, ein offenes und kommunikatives Verfahren zu führen, soll eine (unverbindliche) Erörterung der vorläufigen Beurteilung der Sach- und Rechtslage auch jenseits der Regeln über das Verständigungsverfahren möglich sein. Das heißt, dass auch eine Erklärung zu einem konkretisierten Strafrahmen nach dem Ergebnis der (bisherigen) Beweisaufnahme möglich ist. Die Abgrenzung zu einer Absprache im Rahmen eines Verständigungsverfahrens ist die Verbindlichkeit, die der Äußerung des Gerichts und der Erwartung der anderen Verfahrensbeteiligten beigemessen wird. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs52 hat in diesem Zusammenhang ausgeführt: „§ 257b StPO erfasst sämtliche kommunikative Elemente, die der Transparenz und der Verfahrensförderung dienen und auch eine einvernehmliche Verfahrenserledigung durch Verständigung vorbereiten können, aber nicht darauf gerichtet sein müssen; für diese gelten die Bestimmungen des § 257c StPO, die eine gesonderte Regelung zur vorbereitenden Erörterung nicht treffen, sondern insoweit im regelungssystematischen Zusammenhang mit den Vorschriften der §§ 257b, 243 Abs. 4 StPO für verständigungsbezogene Vorgespräche in der bzw. außerhalb der Hauptverhandlung stehen.“ Ein Gespräch „nach“ § 257b StPO begründet im Hinblick auf eine Aussage zu einer Strafobergrenze keine erfolgreiche Revision53. Auch einen Befangenheitsvorwurf ließe sich

48  BGH, Urt. vom 10.7.2013 – 2 StR 195/12, NStZ 2013, 667; Beschl. vom 8.10.2013 – 272/13. 49  BGH, Beschl. vom 15.4.2014 – 3 StR 89/14, NStZ 2014, 418; Beschl. vom 15.1.2015 – 1 StR 315/14; Urt. vom 14.4.2015 – 5 StR 20/15. 50  BGH, Beschl. vom 8.10.2013 – 4 StR 272/13. 51  BGH, Beschl. vom 25.11.2013 – 5 StR 433/13. 52  BGH, Beschl. vom 14.4.2015 – 5 StR 9/15; vgl. auch BGH, Urt. vom 14.4.2011 – 4 StR 571/10. 53  BGH, Urt. vom 22.1.2014 – 2 StR 393/13; Urt. vom 10.11.2010 – 5 StR 424/10.



Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verständigung41

darauf nur ausnahmsweise stützen54. Ein Gericht darf aber auch nicht den Anschein einer Verständigung erwecken. Dies führte in einem vom 5. Strafsenat des Bundes­ gerichtshofs55 entschiedenen Fall dazu, dass ein Verstoß gegen § 46 StGB wegen einer vom Tatrichter irrig angenommenen Selbstbindung nach fehlgeschlagenem Verständigungsversuch vom Senat angenommen worden ist, weil das Gericht von „Zusage“/„Zusicherung“ gesprochen hatte. Neben der Protokollierungspflicht im Rahmen von Erörterungen ist das Fairnessgebot genauso zu beachten wie eine Unterrichtung, wenn sich die vorläufige Bewertung verändert (vgl. jetzt auch die Neufassung von § 265 Abs. 2 Nr. 2 StPO).

54  BGH, Urt. vom 17.11.1999 – 2 StR 313/99, BGHSt 45, 312, 315; Urt. vom 14.4.2011 – 4 StR 571/10, NStZ 2011, 590; vgl. aber BGH, Beschl. vom 10.1.2019 – 5 StR 648/18. 55  BGH, Urt. vom 25.7.2017 – 5 StR 176/17, NStZ 2017, 232.

Studien zum Institut der Verständigung im chinesischen Strafrecht 认罪认罚从宽制度研究 Wei Yuening*

I. Einführung Es war im Jahr 2014, als das 4. Plenum des 18. Parteitags der KPCh erstmals in dem Beschluss des ZK der KPCh bezüglich wichtiger Fragen zur umfassenden Erweiterung des Rechtsstaats1 (im Folgenden ZK-Beschluss) den Gedanken der Vervollkommnung des Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung2 vorbrachte. In der Folge publizierten der Oberste Volksgerichtshof3 (im Folgenden OVG) und das Oberste Volksprokurat4 (im Folgenden OVP) unabhängig voneinander die Vorschläge zur umfassenden und tiefgreifenden Reform der Volksgerichte – Leitlinien für die Vierte Fünfjahresplanung zur Reform der Volksgerichte (2014–2018)5 und Vorschläge zur Vertiefung der Reform der Staatsanwaltschaft (Arbeitsplanung für 2013–2017) (revidierte Fassung von 2015)6 (im Folgenden „Vorschläge Staatsanwaltschaft“), in denen der Gedanke der „Vervollkomm* Prof. Dr. Wei Yuening (卫跃宁), Dekan, Institut für Prozessrecht, Fakultät für Strafjustiz, China University of Political Science and Law (中国政法大学). 1  Beschluss des ZK der KPCh bezüglich wichtiger Fragen zur umfassenden Förderung des Rechtsstaats (中共中央关于全面推进依法治国若干重大问题的决定, im Folgenden ZK-Beschluss (中央决定)). 2  System von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度). 3  Oberster Volksgerichtshof (最高人民法院). 4  Oberstes Volksprokurat (最高人民检察院, was in etwa einer Obersten Staatsanwaltschaft entspricht). 5  Ansichten bezüglich der umfassenden Vertiefung der Reform der Volksgerichte – Richtlinien für die vierte Fünf-Jahres-Reform der Volksgerichte (2014–2018) (关于全面深化人民法院改革的意见——人民法院第四个五年改革纲要(2014– 2018)). 6  Ansichten zur Vertiefung der Reformen der Volksprokurate (Arbeitsplanung für die Jahre 2013–2017 in der revidierten Fassung von 2015) (关于深化检察改革的意 见(2013–2017年工作规划)(2015年修订版)).

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nung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung“ wiederaufgegriffen und konkretisiert wurde. Zu Beginn war die Idee des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung aus dem strafrechtspolitischen Gedanken von gleichzeitiger Milde und Strenge (宽严相济) hervorgegangen, um von da aus normiert und institutionalisiert zu werden. Am 22.07.2016 hat die zentrale Leitungsgruppe zur umfassenden Vertiefung von Reformen7 auf ihrer 26. Sitzung den Vorschlag zum Versuch der institutionellen Reform von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung8 (im Folgenden „Versuchsvorschlag“) beraten und verabschiedet. Am 03.09.2016 verabschiedete der Ständige Ausschuss des 12. Nationalen Volkskongress9 auf seiner 22. Sitzung den Beschluss über die Ermächtigung des Obersten Volksgerichtshofs und des Obersten Volksprokurats zur Aufnahme der versuchsweisen Arbeit des Instituts des Schuldeingeständnis, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung bei Straffällen10 (im Folgenden „Ermächtigungsbeschluss“). Daraufhin verfassten der OVG und das OVP zusammen mit dem Ministerium für öffentliche Sicherheit11 (im Folgenden Polizeiministerium), mit dem Ministerium für Staatssicherheit und mit dem Ministerium für Justiz die Regeln für die versuchsweise Einführung des Instituts des Schuldeingeständnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung in einigen Gebieten (im Folgenden „Versuchsweise Regeln zur Verständigung“), wodurch dieses Institut anfing, seinen Weg in die Praxis zu suchen. Am 26.10.2018 wurde der Beschluss des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongress bezüglich der Reform des „Strafprozessgesetzes“ 12 (im Folgenden „cStPG“) verabschiedet, wodurch das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung, und Sanktionsmilderung als Prinzip in das Strafprozessgesetz eingeführt wurde. Gleichzeitig mit der Konkretisierung dieses Instituts vollzog sich eine 7  Führungskommittee des ZK zur umfassenden Vertiefung von Reformen (中央全 面深化改革领导小组). 8  Experimenteller Plan zur Reform des Systems von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (关于认罪认罚从宽制度改革试点方案). 9  Ständiger Ausschuss des 12. Nationalen Volkskongresses (第十二届全国人民代 表大会常务委员会). 10  Entschluss zur Ermächtigung von Oberstem Volksgericht und Oberstem Volksprokurat zur experimentellen Durchführung des Systems von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in einigen Gebieten (关于授权最高人 民法院、最高人民检察院在部分地区开展刑事案件认罪认罚从宽制度试点工作的 决定). 11  Ministerium für öffentliche Sicherheit (公安部, was einem Ministerium für Polizei entspricht). 12  Entschluss des Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongresses bezüglich der Reform des „Strafprozessgesetzes der VR China“ (全国人民代表大会常务委员 会关于修改<中华人民共和国刑事诉讼法>的决定).



Studien zum Institut der Verständigung im chinesischen Strafrecht45

Kehrtwendung im Fokus der juristischen Forschung: während zuvor die Forschungen zu Schuldeingeständnis, Strafanerkennung, und Sanktionsmilderung überwiegend empirische Forschung „von unten nach oben“ darstellte, stand seither eine „von oben nach unten“ orientierte normative Analyse im Vordergrund. Somit sind Theorie und Praxis dazu aufgerufen, sich gemeinsam des Themas anzunehmen.

II. Institutionelle Rationalität von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Es gab bereits früh Bestimmungen zu Schuldeingeständnis, Schuldanerkennung, und Sanktionsmilderung, die sich an der strafrechtspolitischen Maxime der gleichzeitigen Milde und Härte orientierten, die sich verstreut über das materielle und das prozessuale Strafrecht fanden, die aber weder institutionalisiert noch systematisiert waren. Im ZK-Beschluss wurde in Bezug auf das Institut des Schuldeingeständnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung von Vervollkommnung (完善) und von Errichtung ( 建立) geredet, wodurch die bislang in China geltenden normativen Bestimmungen und die Gerichtspraxis zu Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung eine Anerkennung und gleichzeitig ihren Nachweis erhielten. Dabei ist wichtig, dass bislang immer sowohl Theorie als auch Praxis die materielle Seite von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung im Bereich von Strafen und Maßnahmen immer Fragen des Verfahrens vorgezogen haben. Die „Vervollkommnung“ des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung führt auf der Ebene der vom Zentralstaat vorgeschlagenen Maßnahmen zur institutionellen „Vervollkommnung“ an, dass man von einem „vereinfachten Verfah­ ren“13 ausgehen soll und dass eine institutionelle Rationalität hin zum Tausch zwischen „Verfahrensrechten und materiellen Interessen“14 offenbar werden soll. Vom oberflächlichen Design her betrachtet, geht es bei der Vervollkommnung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung um die Vervollkommnung eines strafrechtlichen Instituts, dessen man sich innerhalb des Aufbaus des Rechtsstaats annehmen sollte. Einerseits ist es so, wie weiter oben bereits gesagt, dass sich in der Strafjustiz die Idee gebildet hat, wonach das materielle sehr und das prozessuale wenig beachtet (重实体、轻程序) wird, was auch das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung beeinflusst, was aber 13  Maxime

der größtmöglichen Einfachheit des Verfahrens (程序上从简). von Prozessrechten in materielle Vorteile (以程序权利换取实体

14  Umwandlung

利益).

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dringend geändert werden muss. Wenn daher bei der Vervollkommnung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung insbesondere prozessualen Bestimmungen ein materieller Wert zugemessen wird, dann hilft dies zur Bildung eines dynamischen Ausgleichs zwischen materiellem und prozessualem Strafrecht. Andererseits hat der ZK-Beschluss, der eine Prozessrechtsreform forderte, welche die „Verhandlung als Mittelpunkt“ voranbringt, gleichzeitig die Vervollkommnung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung vorgebracht. Man kann also sagen, dass die Tatsache, dass beide gleichzeitig auftauchen, zeigt, wie sich beide in ihrer Eigenschaft als Institute des Strafprozessrechts gegenseitig ergänzen sollen und daher zwei Seiten einer Medaille darstellen. Die Prozessmaxime, welche die „Verhandlung als Mittelpunkt“ betont, verlangt, dass der Abschnitt der Verhandlung zentral sein soll und dass innerhalb dieser programmatischen Forderung wiederum die materielle Anreicherung der Verhandlung zentral ist. Alle anderen Dinge, die sich hieran anschließen, bewegen sich um dieses Zentrum. Bei den einzelnen Hilfsmitteln, die sich um das Zentrum der Verhandlung herumbewegen, verwendet ein Teil der Fälle das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung. Dies bietet in manchen komplizierten Fällen bis zu einem gewissen Grad die Möglichkeit, das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung dazu einzusetzen, Ressourcen der Justiz einzusparen. Eben dadurch kann garantiert werden, dass die Garantie einer wirklichen Anhörung in der gerichtlichen Verhandlung realisiert werden kann, dass also die drei Elemente der Feststellung der strafrechtlichen Tatsache, der Bewertung der Beweismittel und der Bildung des Urteils sich allesamt im Gericht vollziehen. Man kann also sagen, dass die Vervollkommnung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung zum Aufbau eines mehrgliedrigen Strafprozesssystems führt. Werden Fortschritt und Vervollkommnung der Institutionen des chinesischen Strafprozesses weiter vorangetrieben, dann bewegen sie sich in ihrem Niveau hin zu einer Objektivierung und zu einer Internationalisierung. Von außen betrachtet ist die Vervollkommnung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung innerhalb des Systems des chinesischen Strafprozessrechts bei dem Versuch, sich internationalen Standards und internationalen Beispielen anzunähern, ein zwangsläufiger Schritt. „Achtung der Würde und Menschenrechte sind Mittel, um den Grad der Demokratisierung einer Gesellschaft zu indizieren“15, daher verleiht die Tat15  Chen Guangzhong (陈光中) (Hg.): Strafprozessrecht (刑事诉讼法), 6. Aufl., Beijing University Press (北京大学出版社) und Higher Education Press (高等教育出 版社), 2016, S. 11 f.



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sache, dass „Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung“ als ein grundsätzliches Institut in das Strafprozessgesetz aufgenommen werden, dem Straftäter, dem Angeklagten die Möglichkeit, seine Schuld anzuerkennen und auch seine Sanktionierung zu akzeptieren, wodurch er eine mildere Strafe erhält. So wird die Strafrechtspolitik der gleichzeitigen Milde und Strenge auf die Höhe des Gesetzes angehoben. Das stellt nicht nur eine Achtung und Garantie der Menschenrechte dar, sondern bedeutet auch, dass die Angehörigen der Justiz bei der Anwendung von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung und bei der Ausübung ihrer Urteilsfreiheit durch institutionalisierte Schranken eingegrenzt werden. Insbesondere im chinesischen Sprachraum hat das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in einem sehr großen Maß zur Folge, dass die Anwendung der Untersuchungshaft vor der Verhandlung in sehr großem Maße verringert wird. Dadurch wird die unsägliche Kon­ struktion der Schuld vor der Verhaftung (构罪即捕) mit dem Modell der internationalen Menschenrechte in Verbindung gebracht, wodurch sich ein dynamisches Gleichgewicht zwischen dem chinesischen Kampf des Strafprozessrechts gegen das Verbrechen mit der Achtung und Garantie der Menschenrechte herausbildet. Wenn wir die Lage aus Sicht der Praxis betrachten, dann ist die Vervollkommnung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung einen Weg zur Erhöhung der Effizienz des Einsatzes von Ressourcen der Justiz. Das materielle Strafrecht hat in den letzten Jahren ständig eine Erweiterung erfahren, der Umfang dessen, was Verbrechen sind, hat die Tendenz einer Maximierung, was zu einem starken Anwachsen von bei der Justiz anhängigen Fällen führt. Gleichzeitig haben die Reformen des Systems der Verantwortung im Justizdienst und der Anpassung personeller Kapazitäten dazu geführt, dass die Verantwortung gestiegen ist, so dass vielen Fällen wenig Personal gegenübersteht, was einen täglich wachsenden Widerspruch hervorruft. Aus diesem Grund ist die Trennung von komplizierten und einfachen Fällen nicht nur zur Optimierung des Ressourceneinsatzes notwendig, sondern es ist eine wichtige Maßnahme, um die Divergenz von vielen Fällen und wenig Personal aufzufangen. Die Vervollkommnung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung bewirkt daher, dass „einfaches einfach behandelt“ wird, was eine Verschwendung von Ressourcen der Justiz verhindert. Auf diese Weise stehen ausreichende Ressourcen für Fälle zur Verfügung, die kompliziert und schwer zu entscheiden sind, oder für Fälle, in denen Angeklagte nicht geständig sind. Dadurch kann gleichzeitig das Ziel der Verbesserung der materiellen Verhandlung realisiert werden. Die unterschiedliche Verwendung von Ressourcen kann daher die Institutionen beleben.

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III. Inhalte und begriffliche Klärung des Instituts des Schuldeingeständnisses, der Schuldanerkennung, und der Sanktionsmilderung Ohne eine klare Eingrenzung der Begriffe kann nur schwer aufgezeigt werden, auf was ein Institut verweist, auf was es verweisen kann. § 15 Strafprozessgesetz (刑事诉讼法, cStPG) in der Fassung von 2018 bestimmt: „Wenn der einer Straftat Verdächtige oder der Angeklagte aus freien Stücken und wahrheitsgemäß seine Straftat erklärt, wenn er die ihm zur Last gelegte Straftat anerkennt, wenn er Willens ist, die Strafe anzunehmen, dann kann diese Tat nach Gesetz milde behandelt werden.“ Dadurch wurde offiziell der Grundsatz festgestellt, dass bei einem Eingeständnis der Schuld und bei einer Anerkennung der Strafe eine Sanktionsmilderung laut Gesetz stattfinden kann. Dennoch wurde der Inhalt dieser Begriffe hierdurch nicht eindeutig bestimmt. 1. Inhalte des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass der Tatverdächtige oder der Angeklagte bei dem Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung von sich aus zugibt, dass er eine Verbrechenshandlung begangen hat und dass er gleichzeitig sein Einverständnis signalisiert, hierfür bestraft zu werden, so dass ihm durch die Institutionen der Justiz auf gesetzlicher Grundlage und in institutionalisierter Weise ein vereinfachtes Verfahren oder eine Milderung im materiellen Bereich zuteilwird. Wie weiter oben beschrieben, ist das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung ursprünglich aus der praktischen Erfahrung „von unten nach oben“ entstanden; daher ist eine Vielfalt der entsprechenden Meinungen unvermeidlich. Es gibt Wissenschaftler, die von dem Blickwinkel der Unabhängigkeit des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung ausgehen und die dieses Institut deshalb als etwas Neues verstehen, was im Unterschied zu anderen Formen der Verständigung im Strafverfahren steht. Dieses Institut umfasst insbesondere keine Formen der Verständigung, die keine verpflichtende Milderung mit sich bringen, wo also trotz Schuldeingeständnis und Strafanerkennung nicht unbedingt eine institutionalisierte Milde Anwendung findet, so etwa beim vereinfachten Strafverfahren (刑事简易程序) oder beim Täter-Opfer-Ausgleich im Strafverfahren ( 刑事和解).16 Demgegenüber gibt es andere Strafrechtler, die davon ausge16  Vgl. Kong Lingyong (孔令勇), Das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung – eine nach innen gerichtete Diskussion über Logik



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hen, dass sich das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung nicht jenseits des materiellen Strafrechts bzw. des Strafprozessrechts befindet und daher kein unabhängiges Verfahren darstellt. Sie definieren diese als „den Überbegriff eines konkreten juristischen Instituts, das innerhalb des Strafprozessrechts in materieller und in prozessualer Hinsicht diejenigen Tatverdächtigen und Angeklagten, die tatsächlich ein Verbrechen begangen haben, dazu ermuntert, anleitet und unterstützt, sich aus freien Stücken zu ihrer Schuld zu bekennen und ihre Strafe zu akzeptieren.“17 Der Autor ist an dieser Stelle der Auffassung, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung sowohl einen materiellen als auch einen prozessualen Charakter hat. Es existiert weit über den Strafprozess hinweg in unterschiedlichen Bestimmungen verstreut und wird aus der Kombination einer Vielzahl von einzelnen strafrechtlichen Institutionen, die in prozessualer Hinsicht ein beschleunigtes Verfahren bewirken, bestimmt. Insbesondere gilt das etwa für das beschleunigte bzw. das vereinfachte Verfahren; in materieller Hinsicht bewirkt dies eine mildere Strafe, so wie etwa auch das freiwillige sich Stellen oder die freiwillige, vollständige Aussage. Bevor der Gedanke zum Aufbau eines Instituts von „Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung“ geäußert wurde, hatte der Ständige Ausschuss des 12. NVK auf seiner 9. Sitzung am 27.06.2014 die Bestimmungen zum Versuch der Einführung eines beschleunigten Strafverfahrens in einigen Gebieten (关于在部分地区开展刑事案件速裁程序试点工作 的办法, im Folgenden vereinfacht Versuchsweise Bestimmungen zum beschleunigten Strafverfahren (刑事速裁程序试点办法 bzw. VBbStV)) verabschiedet. § 1 dieser Bestimmungen regelt bezüglich der Voraussetzung zur Anwendung dieser Norm ausdrücklich, dass die beiden Bedingungen, nach denen Tatverdächtige und Angeklagte, die die von ihnen begangene Tat zugeben und gegenüber der ihnen zur Last gelegten Verbrechenstatsache keinen Widerspruch äußern (承认自己所犯罪行,对指控的犯罪事实没有异议), so dass sie in der Konsequenz „der Sanktionsempfehlung, welche vom Volksprokurat geäußert wird, zustimmen“. Nur wenn beide Bedingungen erfüllt sind, kann dieses Verfahren angewandt werden.18 § 1 VBbStV betont, dass die und Wege der Verbesserung (论刑事诉讼中的认罪认罚从宽制度——种针对内在逻 辑与完善进路的探讨), in: Anhui University Journal (安徽大学学报), Ausgabe für Philosophie und Gesellschaftswissenschaften (哲学社会科学版), 2016 Nr. 2. 17  Gu Yongzhong (顾永忠), Über einige theoretische Fragen der Vervollkommnung des Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (关于‘完善认罪认罚从宽制度’的几个理论问题), in: Contemporary Law Review, 2016 Nr. 6. 18  § 1 Bestimmungen zum Versuch der Einführung eines beschleunigten Strafverfahrens in einigen Gebieten (关于在部分地区开展刑事案件速裁程序试点工作的办 法) bestimmt:

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Bedingung, unter der der Tatverdächtige oder der Angeklagte laut Gesetz eine mildere Strafe erhalten kann (可以依法从宽处理), darin besteht, dass er freiwillig und wahrhaftig seine Tathandlung schildert, dass er bezüglich des ihm zur Last gelegten Verbrechens keine Einwände hat, dass er der Strafempfehlung zustimmt, und dass er dazu dieses in einer von ihm unterschriebenen Aussage zum Ausdruck bringt.19 Die Bestimmung des § 174 cStPG ( 中华人名共和国刑事诉讼法) in der Fassung von 2018 betont, dass der Tatverdächtige aus freien Stücken seine Schuld eingesteht und dass er der Sanktionsempfehlung sowie dem angewandten Verfahren zustimmt; dazu soll er in Anwesenheit eines Verteidigers (辩护人) oder eines diensthabenden Rechtsanwalts (值班律师) eine schriftliche Aussage bezüglich des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung unterschreiben.20 Aus diesen Texten ist ersichtlich, dass die Anwendung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung im Strafverfahren auf folgenden Voraussetzungen beruht: als subjektive Merkmale sehen wir, dass der Tatverdächtige oder der Angeklagte „gestehen“ muss, und dass er dies (1) Wenn Fälle von Gefährdung des Straßenverkehrs, Verkehrsunfällen, Diebstahl, Betrug, Raub, Körperverletzung, Krawallmachen, Freiheitsberaubung, Drogendelikten, Bestechung, leichten Fällen der Erregung öffentlichen Ärgernisses, oder in anderen Fällen, in denen voraussichtlich auf weniger als ein Jahr Freiheitsstrafe, Strafarrest, oder Führungsaufsicht erkannt wird, oder wenn in Fällen nach Gesetz lediglich auf Geldstrafe erkannt wird, dann kann ein beschleunigtes Verfahren angewandt werden, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: (1) der Sachverhalt des Falles ist klar und die Beweismittel ausreichend; (2) der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte gesteht das von ihm begangene Verbrechen ein, und legt gegenüber der ihm vorgeworfenen Verbrechenstatsache keinen Widerspruch ein; (3) die Partei bestreitet das angewandte Gesetz nicht, der Tatverdächtige oder der Angeklagte stimmen der vom Volksprokurat vorgeschlagenen Sanktionsempfehlung zu; (4) der Tatverdächtige oder der Angeklagte stimmen der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zu. 19  § 1 Bestimmungen zum Versuch der Einführung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in einigen Gebieten (关于在部分 地区开展刑事案件认罪认罚从宽制度试点工作的办法, im Folgenden ­VBESSS) bestimmt: Wenn der Tatverdächtige oder der Angeklagte freiwillig und wahrhaftig das ihm zur Last gelegte Verbrechen eingesteht, wenn er gegenüber dem ihm zur Last gelegten Verbrechen keinen Widerspruch äußert, wenn er der Sanktionsempfehlung zustimmt, und wenn er dies in einer schriftlichen Aussage unterschreibt, dann kann laut Gesetz auf eine mildere Strafe erkannt werden. 20  § 174 cStPG i.F. 2018 bestimmt: „Der Tatverdächtige gesteht seine Schuld freiwillig ein, er stimmt dem Vorschlag der Strafzumessung und dem anzuwendenden Verfahren zu, er unterschreibt in Beisein des Verteidigers oder des diensthabenden Anwalts eine eidesstattliche Erklärung (具结书) bezüglich Schuldeingeständnis und Strafanerkennung.“



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„aus freien Stücken“ tut. Als objektive Merkmale sehen wir die „Zustimmung zur Sanktionsempfehlung“, wobei diese „Zustimmung“ auf Seiten des Tatverdächtigen oder des Angeklagten eine bestimmte Form „ergreifen“ muss, insbesondere muss eine schriftliche Aussage über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung unterschrieben werden. Nach dem cStPG von 2018 gibt es noch eine weitere, besondere Voraussetzung denn es muss ein Verteidiger oder ein diensthabender Rechtsanwalt anwesend sein. Auf Grund dessen gibt es Strafprozessrechtslehrer, die der Ansicht sind, die Einführung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in China sei eine Rezeption des „plea bargain“ Systems. Doch der Autor ist der Meinung, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Unterschiede zum angloamerikanischen plea bargain aufweist. Dafür gibt es insbesondere zwei Gründe: Erstens verbindet das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung eine ganze Reihe von materiellen und prozessualen Elementen, während das System des plea bargain lediglich eine Absprache und möglicherweise eine Übereinkunft zwischen Staatsanwaltschaft und Tatverdächtigem oder Angeklagtem bezüglich des angeklagten Verbrechens, der Zahl der angeklagten Verbrechen, und der Sanktionsschwere darstellt. Daher sind beide Institute von ihrem Begriff und von ihrem Umfang her voneinander verschieden. Zweitens ersehen wir aus der Textanalyse, dass ein sich einverstanden erklären mit (同意) nicht gleichzusetzen ist mit einem sich verständigen (协商), denn das sich einverstanden erklären geschieht nur in eine Richtung und hat in der Abfolge von vorher und nachher deutliche Unterschiede, während ein sich Verständigen in beide Richtungen gleichzeitig erfolgt und daher gleichzeitig stattfinden kann. Weiter sollten wir beachten, dass ein starkes Streben nach Effizienz im Deal zwischen Anklage und Verteidigung möglicherweise die erzieherische Funktion der Justiztätigkeit verringert. 2. Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung a) Inhalt des Schuldeingeständnisses Ein Schuldeingeständnis ist die Anerkennung auf Seiten des Tatverdächtigen oder des Angeklagten, dass er selbst das von ihm begangene Verbrechen eingesteht. Wenn wir auch hier den Wortsinn analysieren, dann verlangt die Bestimmung in § 1 VBbSt, dass der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte „… das von ihm begangene Verbrechen ein(gesteht)“, und er gegenüber der ihm vorgeworfenen Verbrechenstatsache keinen Widerspruch ein(legt) (承认 自己所犯罪行,对指控的犯罪事实没有异议); die Bestimmung des §  1 ­VBESSS fordert, dass der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte freiwillig und wahrhaftig das ihm zur Last gelegte Verbrechen eingesteht und dass er ge-

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genüber dem ihm zur Last gelegten Verbrechen keinen Widerspruch äußert ( 自愿如实供述自己的罪行,对指控的犯罪事实没有异议); die Bestimmung des § 15 cStPG in der Fassung von 2018 fordert, der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte muss seine Tathandlung freiwillig und wahrhaftig eingestehen und das ihm zur Last gelegte Verbrechen anerkennen (自愿如实供述自 己的罪行,承认指控的犯罪事实). Die oben angeführten Bestimmungen haben jedoch in keiner Weise klargestellt, welcher Grad erreicht werden muss, damit es sich um ein Schuldeingeständnis im eigentlichen Sinne handelt, so dass die Behörden der Strafjustiz eine Strafmilderung in die Wege leiten können. Aus diesem Grund entspann sich an der Frage, was Kern und Umfang des „Schuldeingeständnisses“ sei, eine umfangreiche Kontroverse in der Lehre. Ein Teil der Wissenschaft betonte die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses, wonach das Geständnis des Angeklagten in Bezug auf das von ihm begangene Verbrechen freiwillig und nicht unter Druck erfolgt ist.21 Andere betonten, dass sich das „Geständnis“ des Verdächtigen bzw. des Angeklagten aus zwei Tatbeständen zusammensetzt: „verstehen“ und „vorbringen“, dass also der Verdächtige bzw. der Angeklagte auf der Basis, dass er die Voraussetzungen und die Folgen des Geständnisses versteht, den Willen zum Geständnis durch eine wie auch immer geartete Handlung zum Ausdruck bringt, bevor dies in einem tatsächlichen Sinne ein Schuldeingeständnis darstellt.22 Wiederum andere Stimmen betonen, dass der Verdächtige bzw. der Angeklagte auf der Grundlage der freiwilligen Schilderung der eigenen Verbrechenshandlung anerkennen muss, dass die eigene Handlung ihrem Charakter nach ein Verbrechen darstellt.23 Es gibt aber auch Wissenschaftler, die betonen, dass das Schuldeingeständnis und die Anerkennung der Strafe unterschiedlichen Charakter und einen unterschiedlichen Effekt haben, da „Schuldeingeständnis und Anerkennung der Strafe im materiellen Strafrecht einen Teil der Strafzumessung ausmachen; während Schuldanerkennung und Anerkennung der Strafzumessung im Prozessrecht als Beweismittel behandelt werden sollten, welche auf die Durchführung des Strafprozesses eine wichtige Wirkung entfalten und welche auf die Feststellung des Verbrechens und die Strafzumessung einen großen Ein21  Vgl. Chen Weidong (陈卫东), Studien zu Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度研究), in: China Law (中国法学), 2016, Vol. 2. 22  Vgl. Kong Lingyong (孔令勇), Dogmatische Analyse und Fallinterpretation: das Verständnis von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Strafmilderung im Strafprozess (教义分析与案例解说:读解刑事诉讼中的‘认罪’、‘认罚’与‘从宽’“), in: Legislative and Social Development (法制与社会发展), 2018, Vol. 1. 23  Vgl. Zhu Xiaoqing (朱孝清), Einige Fragen von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Strafmilderung (认罪认罚从宽制度的几个问题), in: Research on Rule of Law (法治研究), 2016, Vol. 5.



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fluss haben.“24 Aus dem Vergleich der oben angeführten Quellen wird ersichtlich, dass sich alle dahingehend einig sind, dass von dem Verdächtigen bzw. von dem Angeklagten bei seinem „Schuldeingeständnis“ zwei Dinge verlangt werden: alle drei Rechtsquellen, die oben angeführt wurden, verlangen, dass „die zur Last gelegte Verbrechenstatsache anerkannt wird“; wohingegen die Versuchsweisen Bestimmungen zum beschleunigten Strafverfahren (刑事速裁程序试点办法), die Versuchsweisen Bestimmungen zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung (认罪认罚试点办法) sowie das Strafprozessgesetz (刑事诉讼法) von 2018 in einem weiteren Punkt des „Schuldeingeständnisses“ sich voneinander unterscheiden. Während die „Versuchsweisen Bestimmungen zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung“ verlangen, dass „die von einem selbst begangene Verbrechenshandlung anerkannt wird“, verlangen die „Versuchsweisen Bestimmungen zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung“ sowie das „Strafprozessgesetz“ von 2018 eine „freiwillige und wahrhaftige Aussage zur eigenen Verbrechenshandlung“. Das „Anerkennen der von einem selbst begangenen Verbrechenshandlung“ und die „freiwillige und wahrhaftige Aussage zur eigenen Verbrechenshandlung“ sind von ihrer Formulierung her leicht unterschieden, entsprechen sich aber im Wesentlichen in ihrer tatsächlichen Bedeutung. Das „Anerkennen der von einem selbst begangenen Verbrechenshandlung“ bedeutet, dass der Verdächtige bzw. der Angeklagte die von den Ermittlungsorganen erfasste Verbrechenshandlung in seiner Reaktion entweder anerkennt oder diese verneint, wobei wir aus dieser Anerkennung oder Negation nicht erkennen können, was der jeweilige Verdächtige oder Angeklagte tatsächlich im Inneren mit dieser Anerkennung oder Ablehnung zum Ausdruck bringen will. Dahingegen bedeutet die „freiwillige und wahrhaftige Aussage zur eigenen Verbrechenshandlung“, dass der Verdächtige bzw. der Angeklagte von sich aus gegenüber den Ermittlungsorganen seine eigene Verbrechenshandlung eingesteht. Der Autor ist der Ansicht, dass sich die juristische Praxis an der Bestimmung des „Strafprozessgesetzes“ von 2018 orientieren sollte, wonach eine „freiwillige und wahrhaftige Aussage zur eigenen Verbrechenshandlung“ erforderlich ist. Handlung und Inhalt der Aussage erlauben es den Ermittlern die Freiwilligkeit und Selbstbestimmtheit des Verdächtigen bzw. des Angeklagten bei seinem „Schuldeingeständnis“ zu beurteilen, dazu erleichtert dies den Ermittlungsorganen anderen Verdachtsmomenten des Falles nachzugehen. Des Weiteren ist es wichtig, der Frage nachzugehen, ob die „freiwillige und wahrhaftige Aussage zur Verbrechenshandlung“ und die „Anerkennung 24  Wang Minyuan (王敏远), Studien zu schwierigen Problemen von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Strafmilderung (认罪认罚从宽制度疑难问题研究), in: China Legal Science (中国法学), 2017, Vol. 1.

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der zur Last gelegten Verbrechenshandlung“ sich kumulativ oder fakultativ zueinander verhalten. Wenn es eine kumulative Beziehung ist, dann bedeutet das nicht nur, dass die von der Partei freiwillig vorgebrachte Aussage und die ihm zur Last gelegte Verbrechenshandlung sich entsprechen, sondern dass auch der „Anerkennung des zur Last gelegten Verbrechens“ eine entscheidende Bedeutung zukommt. Wenn sich also die Tatsachenschilderung der Partei und die von Polizei und Staatsanwaltschaft vorgebrachten Vorwürfe sich nicht entsprechen, so ist eine Strafmilderung unmöglich. Wenn es sich dagegen um eine fakultative Beziehung handelt, dann muss die Partei lediglich freiwillig eine wahrhafte Aussage machen, um bereits in den Genuss einer Strafmilderung zu kommen. Der Autor ist der Meinung, dass die „freiwillige und wahrhafte Aussage zur Verbrechenshandlung“ und die von Seiten der Polizei und der Staatsanwaltschaft „vorgeworfene Verbrechenstatsache“ sich entsprechen müssen; es wird also verlangt, dass die Aussage des Verdächtigen bzw. des Angeklagten in ihrem Inhalt wahr ist. Was weiterhin für die juristische Praxis von größter Bedeutung ist, ist die Frage, ob das „Schuldeingeständnis“ gleichzeitig die Anerkennung der Verbrechenshandlung und der juristischen Einordnung beinhaltet. Hierzu gibt es zwei Stimmen in der Lehre: die Lehre des genauen Schuldeingeständnisses und die Lehre des umfassenden Schuldeingeständnisses. Die Anhänger der Lehre des genauen Schuldeingeständnisses sind der Auffassung, dass der Verdächtige bzw. der Angeklagte beim „Schuldeingeständnis“ gleichzeitig die vom Volksprokurat [also der Volksstaatsanwaltschaft, Anm. des Übersetzers] vorgebrachten Tatsachen und deren rechtliche Einordnung anerkennen sollen.25 Die Anhänger der Lehre des umfassenden Schuldeingeständnisses sind in der Mehrheit und befürworten, dass der Verdächtige bzw. der Angeklagte in seinem Schuldeingeständnis nicht selbstverständlich auch die juristische Einordnung des Verbrechens durch die Behörden der Polizei oder der Staatsanwaltschaft beinhaltet, sondern dass sich dasselbe nur auf die Anerkennung und die Schilderung der zur Last gelegten Verbrechenstatsache erstreckt. Sie sind der Meinung, dass „das Schuldeingeständnis des strafrechtlich Verfolgten sich auf das freiwillige Eingeständnis dessen erstrecken sollte, was eben diesem strafrechtlich Verfolgten als Verbrechen zur Last gelegt wird; es muss aber nicht zum Inhalt haben, dass der strafrechtlich Verfolgte den Charakter (Verbrechensnamen, Verbrechensart etc.) der eigenen Handlung kennt“, „eine falsche strafrechtliche Einordnung der eigenen Handlung durch den strafrechtlich Verfolgten beeinflusst das Schuldeinge25  Vgl. Chen Ruihua (陈瑞华), Theoretische Gedanken zur Reform von „Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Strafmilderung – Untersuchungen auf Grund der Anwendung des beschleunigten Strafverfahrens“ (认罪认罚从宽’改革的理论反 思——基于刑事速裁程序运行经验的考察), in: Contemporary Law Review (当代法 学), 2016, Vol. 4.



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ständnis nicht“.26 Ansonsten „gehöre die Feststellung des Verbrechens zur Frage der Rechtsanwendung“.27 Der Autor ist der Meinung, dass die Lehre des umfassenden Schuldeingeständnisses im Lichte des gesetzgeberischen Willens beim Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung zu befürworten ist. Die endgültige Feststellung der juristischen Einordnung des Verbrechens erfolgt erst durch das Gericht im Rahmen der gerichtlichen Verhandlung, dagegen ist diese Einordnung vor der Verhandlung auf Grund des unterschiedlichen Kenntnisstands und der unterschiedlichen Interessenlage von Verdächtigem, Angeklagtem, von deren Verteidiger und von den Behörden der Strafjustiz notwendig voller Unwägbarkeiten. Der Verdächtige, der Angeklagte bzw. deren Strafverteidiger ist auf Grund seines Wissensstands und seiner gesellschaftlichen Erfahrungen bei seiner wertmäßigen Einordnung der eigenen Handlung nicht voll im Einklang mit der Einschätzung einer Behörde, die sich professionell mit Strafjustiz befasst. Auf Grund dessen dürfen wir nicht allein deshalb das Schuldeingeständnis verwerfen, weil der Verdächtige bzw. der Angeklagte und deren Verteidiger die Verbrechenshandlung anders einordnen, als dies die Behörden der Strafjustiz tun. Anders ausgedrückt darf das „Werturteil“ nicht das „Tatsachenurteil“ beeinflussen. Aus Sicht der Praxis ist der Standard zu streng, wenn man gleich zu Beginn fordert, dass das „Schuldeingeständnis“ in strenger Weise „die Anerkennung von Verbrechenstatsache und Verbrechenseinordnung beinhalten muss, weil sonst das Schuldeingeständnis nicht anerkannt wird“. Das wäre kontraproduktiv für eine effektive Ausweitung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung. b) Inhalt der Strafanerkennung Die Strafanerkennung ist das Akzeptieren einer strafrechtlichen Sanktion. In § 1 Versuchsweise Bestimmungen zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung ist bestimmt, dass die Strafanerkennung die Akzeptanz der vorgeschlagenen Sanktion darstellt, was mit der Unterschrift unter eine entsprechende Erklärung dokumentiert wird. Obwohl § 15 Strafprozessgesetz von 2018 formuliert, dass der Betroffene „Willens ist, die Sanktion anzuerkennen“, fordert das Strafprozessgesetz von 2018 in seinen Bestimmungen bezüglich Schuldeingeständnis und Strafanerkennung trotzdem, dass der einer 26  Chen Guangzhong (陈光中)/Ma Kang (马康), Diskussion wichtiger Fragen von Schuldeingeständnis, Strafanerkenung und Strafmilderung (认罪认罚从宽制度若干 重要问题探讨), in: Legal Science (法学), 2016, Vol. 8. 27  Wei Xiaona (魏晓娜), Vervollkommnung von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Strafmilderung: Entwicklung der Stichwörter im chinesischen Sprachkreis (完善认罪认罚从宽制度:中国语境下的关键词展开), in: Chinese Journal of Law (法学研究), 2016, Vol. 4.

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Straftat Verdächtige freiwillig seine Schuld eingesteht und dass er den inneren Willen zum Ausdruck bringt, dass er den Vorschlägen zu Sanktionsschwere und Verfahrensart zustimmt. Das manifestiert sich in der äußeren Handlung dergestalt, dass er eine Erklärung über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung unterschreibt, wobei es das zusätzliche Erfordernis gibt, dass ein Verteidiger oder ein diensthabender Anwalt anwesend sein muss.28 Doch damit ergibt sich ein Problem, denn wenn ein eines Verbrechens Verdächtiger aus eigenen Stücken seine Schuld eingesteht und wenn er auch willens ist, dafür bestraft zu werden, jedoch mit der konkreten Strafforderung nicht einverstanden ist, zählt dies dann als Schuldeingeständnis und Strafanerkennung, so dass das System von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung anwendbar ist? Die Wissenschaft hat dieser Frage gegenüber ebenfalls unterschiedliche Ansichten. Eine Meinung hält dafür, dass die Strafanerkennung eine Willenserklärung ist, die sich auf drei Ebenen vollzieht: zum einen erklärt der eines Verbrechens Verdächtige auf der Grundlage des Schuldeingeständnisses freiwillig, dass er bereit ist eine Strafe zu erhalten; zweitens stimmt er der Sanktionsempfehlung der Staatsanwaltschaft zu; drittens verzichtet er gegenüber dem Urteil, welches das Gericht auf die Strafempfehlung der Staatsanwaltschaft hin gefällt hat, Rechtsmittel einzulegen.29 Andere Wissenschaftler bringen vor, dass die Strafanerkennung auf drei Voraussetzungen beruht: 1. in materieller Hinsicht beinhaltet die Strafanerkennung des eines Verbrechens Verdächtigen bzw. des Angeklagten dass er die Sanktionsfolge der Schuld anerkennt, die er zuvor freiwillig eingestanden hat, dabei einigt er sich mit der Staatsanwaltschaft auf eine Sanktionsempfehlung, die geringer ist, als im Fall der Verweigerung des Schuld28  Es wurde ein Paragraph in das Strafprozessgesetz eingeführt, der mittlerweile als § 174 bestimmt: Wenn der eines Verbrechens Verdächtige freiwillig seine Schuld eingesteht, wenn er der Sanktionsempfehlung und dem anzuwendenden Verfahren zustimmt, so soll er unter Beisein eines Verteidigers oder des diensthabenden Rechtsanwalts eine Erklärung zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung unterschreiben. Gesteht der eines Verbrechens Verdächtige seine Schuld ein, erkennt die Strafe an und weist eines der folgenden Merkmale auf, so muss er keine Erklärung zum Schuldeingeständnis und zur Strafanerkennung unterschreiben: Der des Verbrechens Verdächtige ist blind, taub, stumm oder ein psychisch Kranker, der aber in Bezug auf seine Handlungen noch nicht vollständig Einsichts- und Steuerungsfähigkeit verloren hat. Der gesetzliche Vertreter oder der Verteidiger eines minderjährigen Strafverdächtigen hat eine widersprechende Meinung bezüglich Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des Minderjährigen. Andere Situationen, in denen keine Erklärung zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung unterschrieben werden muss. 29  Vgl. Zhu Xiaoqing (朱孝清), Einige Fragen bezüglich Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度的几个问题), Legal Studies (法治研究), 2016, Vol. 5.



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eingeständnisses; 2. in prozessualer Hinsicht umfasst die Schuldanerkennung das Einverständnis des eines Verbrechens Verdächtigen bzw. des Angeklagten mit der Vereinfachung des Verfahrens, dass er also einen Teil der Verfahrensrechte, die er in einem normalen Verfahren genießt, aufgibt, so etwa bezüglich der gerichtlichen Untersuchung oder Verhandlung; 3. der eines Verbrechens Verdächtige bzw. der Angeklagte gibt von sich aus aktiv das durch das Verbrechen Erlangte zurück bzw. leistet Schadensersatz, um durch die Wiedergutmachung des von ihm verursachten Schadens seine Reue deutlich zu machen.30 Wieder andere Stimmen der Wissenschaft bringen vor, dass die Strafanerkennung nur eine generelle Willensäußerung ist, wonach der strafrechtlich Verfolgte zum Ausdruck bringt, dass er die von der Staatsanwaltschaft möglicherweise geforderte Strafe (abstrakte Strafe) akzeptiert. Der strafrechtlich Verfolgte muss also nur im jeweiligen Verfahrensstadium seine Zustimmung zu einer eventuellen Bestrafung zum Ausdruck bringen, dann ist dies bereits für eine Strafanerkennung ausreichend. 31 Dazu gibt es Stimmen, die der Auffassung sind, man solle das Schuldeingeständnis und die Strafanerkennung nicht miteinander koppeln; wenn der Angeklagte aus eigenen Stücken ein Geständnis ablegt, dann hat die Tatsache, dass der Angeklagte den Sanktionsvorschlag der Staatsanwaltschaft nicht teilt oder dass er gegenüber den Sanktionsarten und deren Schwere eine andere Meinung äußert, keine Rückwirkungen auf den Charakter des Schuldeingeständnisses; es handelt sich dabei vielmehr um eine vollkommen normale Ausübung der Verteidigungsrechte des Angeklagten; das Volksgericht sollte daher trotzdem eine mildere Strafe gegen ihn verhängen.32 Der Autor ist der Meinung, dass innerhalb des sogenannten Systems von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung die Strafanerkennung keine kompromisslose Forderung nach Anerkennung der Sanktionsforderung durch die Staatsanwaltschaft darstellen sollte, vielmehr sollte es ausreichend sein, wenn der eines Verbrechens Verdächtige bzw. der Angeklagte in unterschiedlichen Verfahrensabschnitten zum Ausdruck bringt, dass er eine mögliche Strafsanktion akzeptiert. Der Grund hierfür liegt zum einen darin, dass die Sanktionsschwere vor der Anklage unbestimmt ist bzw. dass die letztendliche Befugnis zur Sanktionierung bei der Urteilsbehörde (also dem Gericht) liegt; 30  Vgl. Chen Weidong (陈卫东), Studien zu Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度研究), China Legal Science (中国 法学), 2016, Vol. 2. 31  Vgl. Chen Guangzhong (陈光中)/Ma Kang (马康), Besprechung wichtiger Probleme des Systems von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度若干重要问题探讨), Law Science (法学), 2016, Vol. 8. 32  Vgl. Chen Ruihua (陈瑞华), Theoretische Reflexionen über die Reform von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung – Untersuchungen zu Anwendungserfahrungen des beschleunigten Verfahrens im Strafprozess (基于刑 事速裁程序运行经验的考察), Contemporary Law Review (当代法学), 2016, Vol. 4.

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zum anderen entspricht die Sanktionsforderung inhaltlich dem Gedanken der Sanktionsmilderung, wobei der Inhalt der Sanktionsforderung zur Kompetenz des Volksprokurats, also der Staatsanwaltschaft, gehört. c) Inhalt der Sanktionsmilderung Sanktionsmilderung bedeutet, dass die Justizbehörden demjenigen Verdächtigen oder Angeklagten, der seine Schuld eingestanden und seine Bestrafung akzeptiert hat, eine mildere Sanktion oder eine mildere Strafe zu Teil werden lassen; dabei kann sich die Sanktionsmilderung entweder als Verringerung der materiellen Strafe (Strafzumessung) oder als Vereinfachung des Verfahrens auswirken. Die materielle Sanktionsmilderung (der Strafzumessung) bedeutet, dass die Strafe demjenigen Verdächtigen oder Angeklagten, der seine Schuld eingestanden und seine Strafe anerkannt hat, im Einklang mit materiellrechtlichen Bestimmungen verringert oder erlassen wird; die diesbezüglichen Bestimmungen finden sich überwiegend im materiellen Strafrecht, so etwa in § 67 Strafgesetzbuch der VR China (中华人民共和国 刑法), der für denjenigen Verbrecher, der sich freiwillig stellt, eine verringerte Strafe oder ein Aussetzen der Strafe bestimmt.33 Die verfahrensmäßige Vereinfachung bedeutet, dass das übliche Verfahren von Durchführung oder von einzelnen Abschnitten der Verhandlung im Strafprozess vereinfacht wird, so dass das Strafverfahren schneller beendet werden kann. Das hat für den Angeklagten den Vorteil, dass er entweder der Einschränkung seiner persönlichen Freiheit entkommt, oder aber die Ungewissheit eines langen Verfahrens beenden kann. So hat etwa Buch III Kapitel 2 Strafprozessgesetz im Jahr 2018 einen 4. Abschnitt beschleunigtes Strafverfahren (刑事速裁程序) eingefügt. In diesem bestimmt § 224, dass in Fällen, welche ein beschleunigtes Verfahren anwenden, in der Verhandlung – anders als in üblichen Verfahren – keine Beweisaufnahme vor Gericht und keine Verteidigung vor Gericht vorgesehen ist; auch die Urteilsverkündung soll direkt im Gericht erfolgen.34 33  § 67 Strafgesetzbuch der VR China bestimmt: „Wer sich nach dem Verbrechen freiwillig stellt und über seine Verbrechenshandlung wahrhaftige Aussage leistet, der offenbart sich (自首). Bei einem Verbrecher, der sich offenbart, kann die Strafe gemildert oder ausgesetzt werden. Wenn ein Verdächtiger oder ein Angeklagter oder eine Person, die sich im Strafvollzug befindet, ein Verbrechen, das er begangen hat und das den Justizbehörden bislang unbekannt ist, wahrheitsgemäß berichtet, so zählt dies als Offenbarung. Weist ein Verdächtiger die beiden vorstehend genannten Merkmale nicht auf, berichtet jedoch wahrheitsgemäß seine eigene Verbrechenshandlung, dann kann die Strafe verringert werden; wenn auf Grund der wahrheitsgemäßen Aussage bezüglich der eigenen Verbrechenshandlung eine besonders schwere Tatfolge verhindert werden kann, dann kann die Strafe ebenso verringert werden.“ 34  § 224 Strafprozessgesetz bestimmt: „Bei Fällen, die im beschleunigten Verfahren verhandelt werden, findet die Bestimmung in Abschnitt 1 dieses Kapitels über



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§ 225 bestimmt, dass die Zeitgrenze einer gerichtlichen Untersuchung im Normalfall keine 10 Tage überschreiten soll; in Ausnahmen und unter der Voraussetzung, dass die möglicherweise verhängte Strafe ein Jahr Freiheitsentzug überschreitet, kann diese Frist auf 15 Tage verlängert werden.35 Die Bedeutung der Differenzierung der Sanktionsmilderung (geringere Strafzumessung) nach materiellen und prozessualen Aspekten beruht einerseits darauf, dass die materielle Sanktionsminderung und die prozessuale Vereinfachung beide sich auf die Basis des Schuldeingeständnis und der Strafanerkennung des Verdächtigen bzw. des Angeklagten vollziehen. Standards und Forderungen, die an das Schuldeingeständnis und die Strafanerkennung von Verdächtigem bzw. Angeklagten gestellt werden, sind in beiden Gebieten unterschiedlich, so gilt etwa für die Anwendungsbedingungen der Bewährungsstrafe, dass der Verbrecher „tätige Reue zeigen“ muss.36 Wenn dagegen ein beschleunigtes Verfahren durchgeführt werden soll, dann ist lediglich erforderlich, dass der Verdächtige oder der Angeklagte seine Schuld eingesteht und seine mögliche Bestrafung anerkennt, und dass er dazuhin der Anwendung des beschleunigten Verfahrens zustimmt. Auf der anderen Seite ist das Subjekt, das befugt ist, über die materielle Sanktionsmilderung (Strafzumessung) zu entscheiden, ein anderes, als dasjenige, das befugt ist, über die prozessuale Milde zu entscheiden. Das Strafprozessgesetz in der Fassung Fristen und -grenzen der Zustellung keine Anwendung; eine gerichtliche Untersuchung der Beweismittel und eine mündliche Verhandlung finden nicht statt, jedoch muss dem Angeklagten und seinem Verteidiger vor der Verkündung des Urteils Gelegenheit zu einem Plädoyer gegeben werden. Im beschleunigten Verfahren soll das Urteil sofort vom Gericht verkündet werden.“ 35  § 225 Strafprozessgesetz bestimmt: „Fälle, die ein beschleunigtes Verfahren anwenden, sollen vom Volksgericht innerhalb von 10 Tagen abgeschlossen werden; wenn es möglich ist, dass eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr ausgesprochen wird, dann kann diese Frist auf bis zu 15 Tagen verlängert werden.“ 36  § 72 Strafgesetzbuch bestimmt: „Wird ein Verbrecher zu Strafarrest oder zu einer Freiheitsstrafe von unter drei Jahren verurteilt, und weist er eines der folgenden Merkmale auf, dann kann eine Bewährungsstrafe ausgesprochen werden; ist der Täter unter 18 Jahre alt, eine Schwangere, oder älter als 75 Jahre, dann soll eine Bewährungsstrafe verhängt werden: (1) die Umstände des Verbrechens sind geringfügig; (2) der Täter zeigt Reue; (3) es besteht keine Gefahr einer Wiederholungstat; (4) die Verkündung einer Bewährungsstrafe hat keine schwerwiegenden negativen Folgen für das Wohngebiet des Verurteilten. Bei der Verhängung einer Bewährungsstrafe kann, je nach der Situation des Verbrechens, gleichzeitig dem Verbrecher gegenüber für die Bewährungsfrist ein Verbot für bestimmte Aktivitäten, für das Betreten bestimmter Gegenden und Plätze, oder den Kontakt mit bestimmten Personen ausgesprochen werden. Wird ein Verbrecher zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, die mit einer Nebenstrafe einhergeht, so ist die Nebenstrafe dennoch zu vollstrecken.“

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von 2018 orientiert sich bei der Frage der materiellen Sanktionsminderung an den Versuchsweisen Bestimmungen zum beschleunigten Verfahren in Strafsachen (刑事速裁程序试点办法) und an den einschlägigen Bestimmungen der Versuchsweisen Bestimmungen zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung (认罪认罚试点办法); hiernach hat das Volksprokurat die Kompetenz, eine Sanktionsempfehlung auszusprechen, weiter ist das Volksgericht allgemein dazu aufgefordert, der vom Volksprokurat angeklagten Subsumtion des Verbrechens und der Sanktionsforderung zu folgen.37 Dennoch ist der Autor der Meinung, dass das Volksgericht und nur das Volksgericht die letztendliche Kompetenz hat, eine materiellrechtliche Sanktionsmilderung auszusprechen. Dagegen ist die Kompetenz, über eine Vereinfachung des Verfahrens zu entscheiden, je nach Verfahrensabschnitt unterschiedlich, sie können also der Polizei, dem Volksprokurat oder dem Volksgericht zu kommen. Dazu können etwa Polizei und Volksprokurat vor der Anklage Zwangsmaßnahmen verändern, sie können also etwa die Frist der Untersuchungshaft reduzieren.38 Trotzdem ist der Autor der Ansicht, dass auch bei einer solchen Differenzierung nicht auf einen Automatismus zwischen Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung geschlossen werden kann. Auch wenn der Verdächtige oder der Angeklagte seine Schuld eingesteht und 37  § 201 Strafprozessgesetz bestimmt: „Wenn das Volksgericht in Fällen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung ein Urteil fällt, so hat es in der Regel der Subsumtion und dem Strafantrag des Volksprokurats zu folgen, ausgenommen hiervon sind folgende Situationen: (1) der Angeklagte hat kein Verbrechen begangen oder er sollte nicht strafrechtlich verfolgt werden; (2) der Angeklagte hat wider seinen Willen die Schuld eingestanden oder die Strafe anerkannt; (3) der Angeklagte streitet das ihm zur Last gelegte Verbrechen ab; (4) das von der Anklage behauptete Verbrechen und das in der Verhandlung festgestellte Verbrechen sind nicht identisch; (5) andere Situationen, welche die Fairness des Urteils beeinflussen können. Ist das Volksgericht auf Grund der Verhandlung der Meinung, dass der Strafantrag offensichtlich ungerechtfertigt ist, oder legt der Angeklagte oder sein Verteidiger Widerspruch gegen den Strafantrag ein, kann das Volksprokurat seinen Strafantrag anpassen. Ändert das Volksprokurat seinen Strafantrag nicht oder ist der Strafantrag auch nach Anpassung offensichtlich ungerechtfertigt, soll das Volksgericht nach Gesetz ein Urteil fällen.“ 38  § 169 Strafprozessgesetz wird in § 172 geändert, Absatz 1 wird wie folgt geändert: „In Fällen, die dem Volksprokurat von der Überwachungskommission oder von den Behörden der öffentlichen Sicherheit (das ist: der Polizei, Anm. des Übersetzers) zur Anklage überstellt werden, entscheidet das Volksprokurat innerhalb eines Monats; in schweren oder komplizierten Fällen kann diese Frist um bis zu 15 Tage verlängert werden; gesteht der Verdächtige seine Schuld, erkennt seine Strafe an und entspricht den Voraussetzungen für ein beschleunigtes Verfahren, dann ergeht innerhalb von 10 Tagen eine Entscheidung; wenn das Urteil mehr als ein Jahr Freiheitsstrafe betragen kann, kann diese Frist um bis zu 15 Tage verlängert werden.“



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seine Strafe anerkennt, so folgt daraus nicht, dass er im materiellen Strafrecht eine geringere Strafe oder dass er im Prozessrecht ein vereinfachtes Verfahren erhält. Nach den relevanten gesetz­lichen Bestimmungen „kann“ der Verdächtige bzw. der Angeklagte, der seine Schuld eingesteht und der seine Strafe anerkennt, nach Gesetz eine geringere Strafe erhalten, er „muss“ aber keine Strafminderung bekommen.39 Um ein Beispiel zu geben: obwohl ein Verdächtiger bzw. ein Angeklagter seine Schuld eingestanden hat und seine Strafe anerkennt, so sind dies nur einige der Faktoren, welche die Justizbehörden berücksichtigen, wenn sie bei der Feststellung der Gefährlichkeit für die Gesellschaft über eine Änderung von Zwangsmaßnahmen nachdenken. Anders ausgedrückt ist die Gefahr, die für die Gesellschaft ausgeht, der Maßstab, an Hand dessen die Justizbehörden über eine Änderung der Zwangsmaßnahmen entscheiden; dabei ist die Frage, ob der Angeklagte seine Schuld eingestanden hat und ob er seine Strafe annimmt, nur ein eher nebensächlicher Faktor.40

IV. Bestimmungen und Kontroversen des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Das System von Schuldeingeständnis, Schuldanerkennung und Sanktionsmilderung ist eine erfahrungsgestützte Reform „von unten nach oben“, die es der Wissenschaft erlaubt hat, dieser Systemreform in offener Weise zu begegnen. So wurden auch Fragen diskutiert, wie etwa ob das System des Schuldeingeständnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung sich auch auf Fälle schwerer Kriminalität erstreckt, wo die Sanktionsschwere bis hin zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe oder gar bis hin zur Todesstrafe reicht; oder ob das System auch schon während der Ermittlungen angewandt werden kann. An dieser Stelle wird die Kontroverse um das Institut von und Bestimmungen zu Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung im Wesentlichen auf drei Aspekte zurückgeführt: das Erste ist der 39  In das Strafprozessgesetz wird ein neuer § 15 eingeführt: „Macht der eines Verbrechens Verdächtige oder Angeklagte freiwillig eine wahrhafte Aussage bezüglich seiner Verbrechenshandlung, äußert er keinen Widerspruch gegenüber dem ihm zur Last gelegten Verbrechen und ist er Willens, seine Strafe anzunehmen, dann kann er nach Gesetz milder sanktioniert werden.“ 40  § 79 Strafgesetzbuch wird in § 81 geändert, dabei wird ein neuer Absatz als 2. Absatz eingeführt: „Bei Genehmigung oder Beschluss der Verhaftung von Verdächtigem oder Angeklagtem soll die Art und die Umstände, mit welchen dieser mit dem Verbrechen in Beziehung steht, sowie die Situation von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung als Faktoren bei der Bewertung der möglichen Gefährdung der Gesellschaft berücksichtigt werden.“

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Umfang der Fälle, in welchen das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung angewandt wird; das Zweite sind die Verfahrensabschnitte, in welchen das Institut von Schuldeingeständnis, Straf­ anerkennung und Sanktionsmilderung anwendbar ist; das Dritte sind Beweismittel und Beweisstandards, welche in Fällen von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung angewandt werden. 1. Umfang der Fälle, welche das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung anwenden § 1 Versuchsweise Bestimmungen zum beschleunigten Strafverfahren (刑事 速裁程序试点办法) bestimmt, dass das Institut von Sanktionsminderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung bei Delikten der Gefährdung des Straßenverkehrs, Verursachen von Verkehrsunfällen, Diebstahl, Betrug, Raub, Körperverletzung, Erregung öffentlichen Ärgernisses, widerrechtliche Freiheitsberaubung, Drogendelikte, Bestechung, Störung der öffentlichen Ordnung zur Anwendung kommen kann; dies aber nur unter der Voraussetzung, dass es sich um einen relativ geringen Fall handelt, bei dem laut Gesetz voraussichtlich eine Strafe von weniger als einem Jahr verhängt wird, oder dass Strafarrest, oder Führungsaufsicht oder alleinige Geldstrafe verhängt werden. Gleichzeitig wird in § 2 dieser Bestimmungen eindeutig festgestellt, dass in folgenden Fällen kein beschleunigtes Verfahren zur Anwendung kommt: 1. der Verdächtige bzw. der Angeklagte ist minderjährig; blind, taub oder stumm; oder ein psychisch Kranker, der seine Einsichtsfähigkeit oder seine Selbstkontrolle noch nicht vollständig verloren hat; 2. Fälle gemeinsamer Täterschaft, in der ein Teil der Verdächtigen oder Angeklagten gegenüber der ihnen zur Last gelegten Tatsache, dem Verbrechen, oder der Strafzumessung anderer Meinung sind; 3. der Verdächtige bzw. der Angeklagte haben zwar ihre Schuld eingestanden, aber im Ergebnis der Ermittlungen ergeben sich Zweifel daran, dass es sich um ein Verbrechen handelt, oder der Verteidiger plädiert auf nicht schuldig; 4. der Angeklagte äußert zwar bezüglich der Strafzumessung keinen Widerspruch, jedoch ergeben sich auf Grund der Ermittlungen Zweifel an der Angemessenheit der Strafempfehlung; 5. der Verdächtige oder der Angeklagte konnte sich nicht mit dem Opfer, dessen gesetzlichen Vertreter, oder dessen engen Verwandten auf Leistung von Schadensersatz, Wiederherstellung in den vorigen Stand, Entschuldigung oder ähnlichem ihm Zuge der Mediation oder gemeinsamer Verhandlungen einigen; 6. der Verdächtige oder der Angeklagte verstößt gegen Auflagen zur Aussetzung der Untersuchungshaft oder gegen Bestimmungen des Hausarrests, wodurch die Durchführung des Strafverfahrens schwerwiegend beeinflusst wird; 7. der Verdächtige oder der Angeklagte ist Wiederholungstäter oder hat Minderjährige zu Verbrechen angestiftet, so dass er laut Gesetz



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schwerer bestraft werden soll; 8. andere Fälle, in denen kein beschleunigtes Verfahren angewandt werden soll. Dahingegen haben die Vorläufigen Bestimmungen zu Schuldeingeständnis und Schuldanerkennung (认罪认罚试点 办法) keine konkrete Einschränkung der Fälle vorgenommen, in denen das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung zur Anwendung kommt; lediglich in § 2 dieser Bestimmungen wird ausgeführt, dass dieses nicht angewandt wird, wenn: 1. Verdächtige oder Angeklagte psychisch krank sind, jedoch ihre Einsichtsfähigkeit oder ihre Selbstkontrolle nicht vollständig verloren haben; 2. minderjährige Verdächtige oder Angeklagte, deren gesetzliche Vertreter oder deren Verteidiger gegen Schuldeingeständnis und Strafanerkennung Widerspruch einlegen; 3. die Handlung des Verdächtigen oder des Angeklagten kein Verbrechen darstellen. Hieraus wird ersichtlich, dass Schuldeingeständnis und Strafanerkennung die subjektiven Elemente betonen, wodurch sie die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses betonen, wohingegen das beschleunigte Verfahren eine größere Betonung auf die Verfahrenseffizienz legt. Das Strafprozessgesetz (刑事诉讼法) hat 2018 zur Frage der Anwendung von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung keine Bestimmungen getroffen, lediglich der Umfang der Anwendung des beschleunigten Verfahrens ist geregelt. § 222 I Strafprozessgesetz bestimmt: „Wenn bei Fällen, für die das allgemeine Volksgericht (基层人民法院) zuständig ist, vermutlich auf weniger als drei Jahre Freiheitsstrafe erkannt wird, wenn der Fall dazu klar ist, die Beweismittel eindeutig und ausreichend sind, dann kann bei Angeklagten im Fall von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Zustimmung zur Anwendung eines beschleunigten Verfahrens, ein solches durchgeführt werden, wobei das Urteil in diesem Fall durch einen Einzelrichter ergeht.“ Gleichzeitig bestimmt § 223 Strafprozessgesetz eindeutig, in welchen Fällen das beschleunigte Verfahren nicht zur Anwendung kommt: 1. der Angeklagte ist blind, taub, oder stumm, oder er ist ein psychisch Kranker, der seine Einsichtsfähigkeit oder Selbstkontrolle nicht vollständig verloren hat; 2. der Angeklagte ist minderjährig; 3. der Fall hat ist von großer gesellschaftlicher Bedeutung; 4. ein Teil der Angeklagten bei gemeinsamer Täterschaft äußert Widerspruch gegen die zur Last gelegte Handlung, das Verbrechen, oder die Anwendung des beschleunigten Verfahrens; 5. der Angeklagte hat sich mit dem Opfer oder dessen gesetzlichen Vertreter nicht im Rahmen eines Adhäsionsverfahrens, durch Mediation oder durch gemeinsame Verhandlungen auf Leistung von Schadensersatz oder ähnlichem einigen können; 6. andere Gründe, in denen ein beschleunigtes Verfahren nicht angewandt werden soll. Aus dem Vergleich der unterschiedlichen versuchsweisen Bestimmungen mit dem Strafprozessgesetz von 2018 können wir ersehen, dass das Strafpro-

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zessgesetz in der Fassung von 2018 zwei Veränderungen unterlaufen hat: erstens wurde die Anwendung des beschleunigten Verfahrens ausgeweitet. Von Fällen gefährlichen Fahrens, anderen Verkehrsdelikten oder anderen leichten Strafsachen, in denen weniger als ein Jahr Freiheitsstrafe, Strafarrest, Führungsaufsicht oder alleiniger Geldstrafe verhängt wird, wurde die Anwendung ausgeweitet auf Fälle, in denen das zuständige allgemeine Volksgericht wahrscheinlich auf weniger als drei Jahre Freiheitsstrafe entscheidet. In den folgenden Fällen kann das Volksgericht eine Ermessensentscheidung darüber treffen, ob es ein beschleunigtes Verfahren durchführt: 1. nach Prüfung des Falles scheint die Strafempfehlung unangemessen; 2. der Verdächtige oder Angeklagte hat in einer Weise gegen Auflagen zur Aussetzung des Haftbefehls oder gegen Auflagen des Hausarrests verstoßen, so dass die ordnungsgemäße Durchführung des Strafprozesses ernsthaft beeinträchtigt wird; 3. der Verdächtige oder Angeklagte muss laut Gesetz mit einer Strafschärfung rechnen. Ist das Volksgericht der Meinung, dass der Angeklagte möglicherweise kein Verbrechen begangen hat oder dringt der Verteidiger auf unschuldig, dann ist ebenfalls kein beschleunigtes Verfahren anwendbar, denn im ersteren Fall ist die Voraussetzung für ein beschleunigtes Verfahren nicht gegeben, da eben nicht zutrifft, dass im „Fall die Tatsachen klar, die Beweismittel eindeutig und ausreichend sind“; in letzterem Fall haben Anklage und Verteidigung unterschiedliche Meinungen über die Schuldfrage und damit über die Kerntatsache des Falls, so dass ein allgemeines Verfahren angewandt werden sollte. Darüber hinaus muss auch im beschleunigten Verfahren die Verfahrensart zu einem allgemeinen Verfahren geändert werden, wenn sich Zweifel an der Schuld des Angeklagten ergeben, so dass eine erneute Verhandlung durchgeführt werden muss. Das Strafprozessgesetz in der Fassung von 2018 hat nicht konkret geregelt, in welchem Umfang das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung angewandt werden soll. Es stellt sich also die Frage, ob wir dessen Anwendungsbereich analog zum beschleunigten Verfahren bestimmen können, oder ob wir diesen wenigstens zu Rate ziehen können? Es gibt Stimmen, die der Meinung sind, dass „das Verfahren von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung bei einem größeren Verbrechenskanon angewandt werden sollte, als dies beim beschleunigten Verfahren der Fall ist, dass es aber keine Anwendung auf Verbrechen gegen die staatliche Sicherheit, auf terroristische Verbrechen, auf Verbrechen der organisierten Kriminalität, auf große Drogenfälle oder auf schwere Fälle von Korruption und Bestechung finden sollte“.41 Der weitaus 41  Kong Lingyong (孔令勇), Das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung – eine nach innen gerichtete Diskussion über Logik und Wege der Verbesserung (论刑事诉讼中的认罪认罚从宽制度——种针对内在逻



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größte Teil der Lehrmeinung hält dafür, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung auf alle Arten von Verbrechen angewandt werden sollte, dass also grundsätzlich keine Grenze der Anwendung gezogen werden sollte; damit wäre eine Anwendung auch bei schweren Straftaten, die mit der Todesstrafe geahndet werden, möglich. Davon ausgenommen sind Verbrechen, die so grausam, niederträchtig und schwerwiegend sind, dass das Institut des Schuldanerkenntnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung nicht zur Anwendung kommen darf. Andere Wissenschaftler gehen von dem Ansatz aus, dass „Fälle, bei denen es zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung kommt, ein größtmögliches Maß an Toleranz und Milde“ realisieren sollen.42 Wiederum andere weisen darauf hin, dass „die Anwendung des Instituts von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung zu einer zeitigen, sachgerechten Aufklärung von Fällen beitragen. Insbesondere in Fällen, in denen es um Todesstrafe geht, kann das Institut des Schuldeingeständnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung dazu führen, dass der Maxime des ‚wenig Todesurteile, die gut untersucht sind‘ genüge getan wird …“43 Andere Meinungen unterscheiden die materiellrechtliche Sanktionsmilderung und die verfahrensrechtliche Vereinfachung; Verdächtige oder Angeklagte, die möglicherweise zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe oder zur Todesstrafe verurteilt werden, sollten im Fall des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung keine Verfahrensvereinfachung erleiden, sondern eine Verhandlung in einem allgemeinen Verfahren am mittleren Volksgericht; sie können aber je nach Umständen eine Sanktionsmilderung bekommen.44 Wenn man das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in einem weiteren Sinne auffasst, und wenn es daher ein Institut ist, das Materialität und Prozessualität miteinander verbindet, dann ist das beschleunigte Verfahren in Strafsachen lediglich ein Verfahren, das sich unter dem Dach von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung befindet, wo es dann in einem milderen (einfacheren) Verfahren abgeschlossen wird. Das 辑与完善进路的探讨), in: Anhui University Journal (安徽大学学报), Ausgabe für Philosophie und Gesellschaftswissenschaften (哲学社会科学版), 2016, Vol. 2. 42  Gu Yongzhong (顾永忠), Über einige theoretische Fragen der Vervollkommnung des „Systems von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung“ ( 关于‘完善认罪认罚从宽制度’的几个理论问题), Contemporary Law Journal (当代 法学), 2016, Vol. 6. 43  Chen Guangzhong (陈光中)/Ma Kang (马康), Besprechung wichtiger Probleme des Systems von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度若干重要问题探讨), Law Science (法学), 2016, Vol. 8. 44  Chen Weidong (陈卫东), Einige Probleme des experimentellen Systems von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Santkionsmilderung (认罪认罚从宽制度 试点中的几个问题), Journal of National Prosecutors College (国家检察官学院学 报), Folge 25 Nr. 1, Januar 2017.

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Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung hat also unterschiedliche Formen der Manifestation. Wenn das Eingeständnis der Schuld und die Anerkennung der Strafe durch den Verdächtigen oder den Angeklagten in der Realität den konkreten gesetzlichen Bestimmungen entsprechen, dann kann dies zur Sanktionsmilderung führen; wenn sich ein Täter freiwillig stellt und ein Geständnis ablegt, so dass er den entsprechenden materiellrechtlichen Bestimmungen entspricht, dann kann auch hier eine Sanktionsmilderung einsetzen; wenn die Voraussetzungen für ein beschleunigtes Verfahren in Strafsachen vorliegen, dann wird dessen Verhandlung in einer beschleunigten Verhandlung durchgeführt. Dabei ist der Umfang, in welchem das Institut des Schuldeingeständnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung zur Anwendung kommt, selbstverständlich größer als beim beschleunigten Verfahren in Strafsachen. Daher entspricht es der Logik des Systems und den Anforderungen der Praxis, wenn die Anwendung des Instituts des Schuldeingeständnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung keine gesetzliche Einschränkung erfährt. 2. Verfahrensabschnitte, in welchen das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung anwendbar ist Ein anderer Streitpunkt, der sich bei der Anwendung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in der Wissenschaft ergab, ist die Frage, in welchen Verfahrensabschnitten dieses anwendbar ist. Es gibt Meinungen, die davon ausgehen, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung im Ermittlungsverfahren nicht anwendbar sei, denn die hauptsächliche Aufgabe der Polizei45 seien eben Ermittlungen und die Sicherung von Beweismitteln, nicht aber die Verständigung über ein Schuldeingeständnis; wenn in diesem Verfahrensabschnitt das Institut von Schuldeingeständnis, Schuldanerkennung und Sanktionsmilderung angewandt wird, dann bestehe erstens die Gefahr, dass die Ermittlungsbehörden sich über Gebühr auf das Geständnis des Tatverdächtigen verlassen, um den Sachverhalt zu beurteilen, es bestehe darüber hinaus die Gefahr, dass die Ermittlungsbehörden in dem Versuch, die Arbeitslast zu verringern, oder aus anderen Gründen den Tatverdächtigen durch Druck oder Verlockungen zu einem Schuldeingeständnis und zu einer Strafanerkennung bewegen, was dann zu Justizirrtümern führt.46 Wenn man 45  Was hier im Text als „Polizei“ wiedergegeben wird, heißt im Originaltext wörtlich „Behörden für öffentliche Sicherheit“ 公安机关; letzterer Begriff ist für den deutschen Leser in seiner Funktionalität nur schwer verständlich. 46  Chen Weidong (陈卫东), Einige Probleme des experimentellen Systems von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Santkionsmilderung (认罪认罚从宽制度



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eine breitere Sicht auf das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung einnimmt, dann sind je nach Verfahrensabschnitt unterschiedliche Behörden für Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des Verdächtigen oder des Angeklagten zuständig, die laut Gesetz jeweils unterschiedliche Kompetenzen ausüben, mit dem sie den Verdächtigen oder Angeklagten je nach dem milder oder strenger behandeln können, intern können diese Kompetenzen dann noch in materiellrechtliche Milde und prozessrechtliche Vereinfachung unterschieden werden. Dennoch hat in jedem Verfahrensabschnitt eine andere Behörde die Ermittlungskompetenz, wobei sich laut Gesetz dann auch je nach Verfahrensabschnitt die relevanten Kompetenzen auf Grund ihrer Eigenheiten und ihrer spezifischen Besonderheiten entsprechend normiert und eingegrenzt werden. a) Vor der Anklage Die Verfahrensschritte vor der Anklage beinhalten die Ermittlungen und die Anklageprüfung. Während dieser beiden Verfahrensabschnitte hat die Polizei oder das Volksprokurat für den Fall, dass ein Verdächtiger oder ein Angeklagter ein Schuldeingeständnis und eine Strafanerkennung macht, insbesondere die Kompetenz, ein vereinfachtes Verfahren einzuleiten; das beinhaltet: (1) In Fällen, in denen es zu einem strafrechtlichen Vergleich mit dem Opfer kommt, so dass eine Festnahme nicht notwendig ist, den Verzicht auf Untersuchungshaft und die Änderung von bereits eingeleiteten Zwangsmaßnahmen, wobei dies im Einklang mit dem gesetzlichen Rahmen zu geschehen hat.47 (2) In Jugendstrafverfahren kann das Volksprokurat für den Fall, dass Minderjährige „Reue zeigen“, auf eine Festnahme verzichten.48 (3) Für den 试点中的几个问题), Journal of National Prosecutors College (国家检察官学院学 报), Folge 25 Nr. 1, Januar 2017. 47  § 6 Interpretation des Obersten Volksprokurats bezüglich der Behandlung einer Schlichtung der Parteien bei geringfügigen Straffällen (最髙人民检察院关于办理当 事人达成和解的轻微刑事案件的若干意见) bestimmt: „对于公安机关提请批准逮捕 的案件,符合本意见规定的, Entsprechen Fälle, bei denen die Behörden der öffentlichen Sicherheit (sprich: der Polizei, Anm. des Übersetzers) die Genehmigung der Festnahme beantragt haben, dem notwendigen Anwendungsbereich und den notwendigen Anwendungsvoraussetzungen der Bestimmungen dieser Interpretation, dann sollen diese als Faktoren der Nicht-Festnahme Berücksichtigung finden, so dass normalerweise ein Beschluss über die Nicht-Festnahme gefällt wird; ist die Genehmigung der Festnahme bereits erfolgt, dann sollen die Behörden der öffentlichen Sicherheit das Volksprokurat verständigen, wenn es Zwangsmaßnahmen ändert, dies soll nach Gesetz beaufsichtigt werden; während der Überprüfung der Anklage können Zwangsmaßnahmen verändert werden, so dies unter der Voraussetzung erfolgt, dass die ungehinderte Durchführung des Verfahrens dadurch nicht beeinträchtigt wird.“ 48  § 488 Abs. 2 Strafprozessregeln des Volksprokurats (experimentell) (人民检察 院刑事诉讼规则(试行)) (in der revidierten Fassung von 2012) bestimmt: „In Fäl-

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Fall, dass ein Tatverdächtiger seine Schuld eingesteht, kann das Volksprokurat sowohl einen Strafantrag stellen als auch das zu wählende Verfahren vorschlagen; darüber hinaus kann es mit dem Tatverdächtigen eine Verständigung über das Strafmaß erzielen und dies in einer eidesstattlichen Aussage über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung festhalten,49 auf Grund dessen hat das Volksprokurat die Kompetenz, einen entsprechenden Strafantrag und einen Vorschlag zum einzuschlagenden Verfahren an das Volksgericht zu stellen.50

len, die relativ schwer sind, wo aber die subjektive Böswilligkeit nicht groß ist, wo Reue gezeigt wird, wo die Voraussetzungen einer effektiven Aufsicht oder für gesellschaftliche Erziehungsmaßnahmen gegeben sind, und wo der Verzicht auf eine Festnahme den ordentlichen Verlauf des Verfahrens gegen minderjährige Verdächtige nicht behindert, kann die Genehmigung der Festnahme abgelehnt werden: (1) erstmaliges Verbrechen oder fahrlässiges Verbrechen; (2) Vorbereitung, Rücktritt, Versuch; (3) Selbst-Offenbarung oder aktives Erwerben von Verdiensten; (4) wahrheitsgemäße Aussage über die eigene Verbrechenshandlung, wahrhaftige Reue, aktive Herausgabe der Beute, maximales Verringern des Schadens bzw. dessen Ersatz, Vergebung von Seiten des Opfers; (5) Mittäter, welcher nicht Haupttäter oder Hauptverantwortlicher einer verbrecherischen Bande ist; (6) Minderjährige, welche zwischen 14 und 16 Jahre alt sind, oder Schüler und Studenten, welche sich in der Ausbildung befinden; (7) andere Situationen in denen eine Festnahme genehmigt werden kann.“ 49  Im Strafprozessgesetz wird ein neuer § 174 eingefügt, der bestimmt: „Der Tatverdächtige gesteht seine Schuld freiwillig ein, er stimmt dem Vorschlag der Strafzumessung und dem anzuwendenden Verfahren zu, er unterschreibt in Beisein des Verteidigers oder des diensthabenden Anwalts eine eidesstattliche Erklärung (具结书) bezüglich Schuldeingeständnis und Strafanerkennung. Unter folgenden Umständen muss ein Verdächtiger, der seine Schuld eingesteht und der seine Strafe anerkennt, keine eidesstattliche Erklärung über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung unterschreiben: (1) der Verdächtige ist blind, taub, stumm, oder er ist ein psychisch Kranker, der bezüglich seiner Handlungen noch nicht vollständig seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit verloren hat; (2) der gesetzliche Vertreter oder der Verteidiger eines Minderjährigen, wenn er gegenüber dem Schuldeingeständnis und der Strafanerkennung des Minderjährigen Widerspruch einlegt; (3) andere Umstände, in denen keine eidesstattliche Erklärung über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung unterschrieben werden muss.“ 50  § 172 Strafprozessgesetz wird in § 176 geändert, dazu wird ein neuer Absatz als Absatz 2 eingefügt: „Gesteht ein Verdächtiger seine Schuld ein und erkennt er seine Strafe an, so stellt das Volksprokurat einen Strafantrag bezüglich Haupt- und Nebenstrafe, sowie der Frage, ob die Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden soll, Materialien wie die eidesstattliche Erklärung über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung werden dem Antrag beigefügt.“



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Was im Verfahren vor der gerichtlichen Verhandlung am umstrittensten ist, ist die Frage, ob Polizei und Volksprokurat gegenüber einem Tatverdächtigen, der seine Schuld eingesteht, die Kompetenz zu einer materiellrechtlichen Entscheidung hat, ob also der Fall niedergeschlagen und mit Nicht-Anklage entschieden wird, dass also ein Tatverdächtiger, der sich schuldig bekennt, nicht strafrechtlich verfolgt wird. In Buch 2 Kapitel 3 des Strafprozessgesetzes von 2018 wurde ein neuer § 182 eingefügt, dessen 1. Absatz bestimmt: „Gesteht der Tatverdächtige die Verbrechenstatsache freiwillig und wahrheitsgemäß, hat er sich dadurch sehr verdient gemacht oder betrifft der Fall wichtige staatliche Interessen, dann können die Polizeiorgane nach Genehmigung durch das Oberste Volksprokurat den Fall verwerfen, das Volksprokurat kann eine Entscheidung über die Nicht-Anklage fällen, es kann auch auf einen oder mehrere Anklagepunkte verzichtet werden.“ Ähnliche Bestimmungen hatten sich bereits in den „Einstweiligen Bestimmungen zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung“ bzw. in den „Einstweiligen Bestimmungen zum beschleunigten Verfahren in Strafsachen“ befunden. Einige Stimmen in der Wissenschaft sind der Ansicht, dass man den Ermittlungsbehörden nur unter bestimmten Voraussetzungen und sehr vorsichtig die direkte materiellrechtliche Kompetenz erteilen sollte, die Einleitung eines Verfahrens zu widerrufen (und somit die Entscheidung nicht-schuldig zu treffen), denn das würde nicht nur gegen die Verfassungsbestimmung über die zentrale Rolle der [Gerichts-]Verhandlung (以审判为中心) verstoßen, sondern auch in Konflikt mit § 11 Chinesisches Strafgesetz (中华人民共和国刑法) über die Straffreiheit des diplomatischen Personals, mit § 68 Strafgesetz über die Aussetzung des Verfahrens bei wichtigen Verdiensten stehen; noch weniger ist es mit § 16 Strafprozessgesetz i. d. F.v. 2018 vereinbar, der die strafrechtliche Nichtverfolgung in sechs Fällen vorsieht.51 Es gibt aber auch Stimmen, die nicht nur der Auffassung sind, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsminderung auf alle Abschnitte des Straf­ verfahrens anwendbar sind, sondern die darüber hinaus betonen, dass die Voraussetzungen und Anwendungsbestimmungen so streng sind, dass dieses äußerst besondere Verfahren über seine eigene Legitimität verfügt und überdies die Kompetenz der Polizei zum Widerruf eines Ermittlungsverfahrens in Einklang mit den entsprechenden Bestimmungen der Privatklage bringt.52 § 222 Abs. 2 Strafprozessgesetz bestimmt: „Das Volksprokurat kann bei Anklageerhebung dem Volksgericht die Anwendung eines beschleunigten Verfahrens vorschlagen.“ 51  Vgl. Chen Guangzhong (陈光中), Studien zu Fragen der Umsetzung von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度 实施问题研究), Journal of Law Application (法律适用), 2016, Vol. 11. 52  Gu Yongzhong (顾永忠), Über einige theoretische Fragen der Vervollkommnung des „Systems von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung“

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Der Autor ist der Auffassung, dass die Anwendung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung selbstverständlich auch vor der Anklage angewandt werden sollte. Dass Polizei und Volksprokurat in diesen sehr besonderen Fällen die entsprechenden Kompetenzen besitzen, sollte zweifellos außer Frage stehen, jedoch sollte im Normalfall die letzte Entscheidung über den Widerruf eines Ermittlungsverfahrens dem Volksgericht zustehen. Anders ausgedrückt, sollte die externe Kontrolle bei Fällen, in denen Polizei oder Volksprokurat die Ermittlungen widerrufen, gestärkt werden. Zumindest sollte beim Widerruf der Ermittlungen der Standard angelegt werden, der für „große Verdienste oder wichtige Staatsinteressen“ gilt, um auf diese Weise „die Gewalt in einen Käfig zu stecken“, so dass deren Ausübung verstärkt normiert wird. b) Während der Gerichtsverhandlung Die Bestimmungen zum Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung im Verfahrensabschnitt der Gerichtsverhandlung, einschließlich der Bestimmungen über die absolute Kompetenz des Gerichts zur materiell begründeten Sanktionsmilderung und zur Vereinfachung des Verfahrens, sind weniger strittig. § 21 Meinung zur Strafprozessrechtsreform bezüglich der zentralen Rolle der Gerichtsverhandlung (关于推 进以审判为中心的刑事诉讼制度改革的意见), welche die Zentrale Lenkungskommission des ZK der KPCh für die umfassende Vertiefung von Reformen im Juni 2016 auf seiner 25. Sitzung veröffentlicht hat, führt aus, dass „die Unterscheidung von Fällen nach Kompliziertheit und Einfachheit vorangetrieben werden soll, um eine Optimierung der juristischen Ressourcen zu erreichen. Bei der Vervollkommnung des beschleunigten Strafverfahrens und des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung kann für den Fall, dass die Tatsachen klar sowie die Beweismittel eindeutig und vollständig sind, oder dass der Tatverdächtige oder der Angeklagte freiwillig seine Schuld eingesteht und seine Strafe anerkennt, je nach Sachlage entweder ein beschleunigtes Strafverfahren oder ein vereinfachtes Verfahren, oder ein allgemeines Verfahren mit vereinfachter Verhandlung gewählt werden.“ Hieraus ist ersichtlich, dass für den Fall, dass der Angeklagte, der ein Schuldeingeständnis ablegt und eine Strafanerkennung eingeht, nicht nur ein vereinfachtes oder ein beschleunigtes Verfahren bekommen kann, sondern dass es auch die Möglichkeit einer Verhandlung in einem allgemeinen Verfahren gibt. Die wichtigsten Fragen, die sich nach erfolgter Anklage beim Institut des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung ( 关于‘完善认罪认罚从宽制度’的几个理论问题), Contemporary Law Journal (当代 法学), 2016, Vol. 6.



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ergeben, sind folgende: (1) Welchen Voraussetzungen müssen Schuldeingeständnis und Strafanerkennung genügen und welches Verfahren muss gewählt werden? (2) Besitzt der Angeklagte das Recht zum Widerruf und das Recht auf Berufung? Wie muss die Reaktion aussehen, wenn der Angeklagte während der Verhandlung oder sogar nach dem Urteil sein Geständnis widerruft? Wenn wir im Folgenden das beschleunigte Strafverfahren, das vereinfachte Verfahren und das allgemeine Verfahren analysieren wollen, so müssen wir zunächst von der Seite der Dogmatik vorgehen. Als erstes gilt es festzuhalten, dass die Verfahrenswahl auf Freiwilligkeit beruht. Die Prozesspartei darf also gegen die Anwendung eines beschleunigten Strafverfahrens oder eines vereinfachten Verfahrens keinen Widerspruch einlegen, andernfalls muss eine Verhandlung im allgemeinen Verfahren erfolgen. Weiter kann nach der möglicherweise verhängten Sanktion unterschieden werden: (1) In Fällen, die in die Zuständigkeit des allgemeinen Volksgerichts fallen und die wahrscheinlich mit nicht mehr als drei Jahren Freiheitsentzug geahndet werden, kommt ein beschleunigtes Strafverfahren dann zur Anwendung, wenn der Fall klar ist, die Beweismittel eindeutig und vollständig sind, der Angeklagte seine Schuld eingesteht und die Strafe annimmt. Ist der Fall klar, sind die Beweismittel eindeutig und vollständig, legt der Angeklagte gegenüber der Tatsachenfeststellung keinen Widerspruch ein, erkennt aber seine Strafe nicht an, dann kommt es meist zu einer Verhandlung in einem vereinfachten Verfahren. (2) Wenn laut Gesetz möglicherweise auf mehr als drei Jahre Freiheitsentzug erkannt wird, der Angeklagte seine Schuld eingesteht und gegenüber den ihm zur Last gelegten Tatsachen keinen Widerspruch äußert, dann kann die Verhandlung nach einem vereinfachten Verfahren durchgeführt werden, andernfalls findet die Verhandlung nach allgemeinem Verfahren statt. (3) Gesteht der Angeklagte seine Schuld nicht ein, dann kommt für die Verhandlung üblicherweise das allgemeine Verfahren zur Anwendung. Die Frage, ob ein Tatverdächtiger oder Angeklagter nach Schuldeingeständnis und Strafanerkennung ein Recht auf Widerruf und ein Recht auf Berufung hat, wird in den entsprechenden Bestimmungen eindeutig geregelt. Egal um welchen Verfahrensabschnitt und um welche Verfahrensart es sich handelt, vor Ende der Verhandlung hat der Tatverdächtige oder der Angeklagte immer das Recht, seine Aussage zu widerrufen, so dass der Fall in einem neuen Verfahren verhandelt werden muss. Allerdings ist nicht eindeutig geregelt, ob der Angeklagte nach erfolgtem Urteil, wenn er mit diesem nicht zufrieden ist, ein Recht auf Berufung hat. In dieser Frage ist sich die Lehrmeinung nicht einig. Weil der Angeklagte, der seine Schuld eingesteht und der seine Strafe anerkennt, eine Sanktionsmilderung erhält, gibt es nur sehr wenige Fälle, in denen der Angeklagte versucht, eine Berufungsklage anzustrengen. Aus diesem Grund gibt es Stimmen, die der Meinung sind, dass ein beschleunigtes Strafverfahren „in einer Instanz entschieden“ wird,

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dass also nach einer Verständigung grundsätzlich „keine Berufung erhoben werden darf, es sei denn, es handle sich um Fälle, in denen das Schuldeingeständnis und die Verständigung nicht freiwillig erfolgt sind, oder in denen der Fall nicht in den Anwendungsbereich der strafrechtlichen Verständigung fällt.“53 In der gegenwärtigen Justizpraxis hält man aber in Fällen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung an dem Recht des Tatverdächtigen oder Angeklagten auf Berufung als der besseren Alternative fest. Hierfür gibt es vier Gründe: (1) Da die Berufungsquote in vereinfachten und beschleunigten Strafverfahren niedrig ist, fehlt es der Forderung, dass Tatverdächtige und Angeklagte, die ihre Schuld eingestehen und die ihre Strafe anerkennen, kein Berufungsrecht haben sollen, an notwendigen faktischen Gründen, um die hierfür notwendige Legitimität aufzuweisen. (2) Das Recht des Angeklagten auf Berufung ist ein grundlegendes Prozessrecht, das Tatverdächtige und Angeklagte genießen, die kein Schuldeingeständnis und keine Schuldanerkennung äußern; wenn es also Personen gibt, die ihre Schuld eingestehen und die ihre Strafe anerkennen, nur um dieses Schuldeingeständnis während der ersten Instanz zu widerrufen, dann wäre es nicht legitim, den Betroffenen kein Recht auf Berufung oder kein Recht auf Widerspruch einzuräumen. (3) Nach den derzeit bestehenden Gesetzesnormen ist das Berufungsrecht kein Recht, um das im Rahmen des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung durch den Tatverdächtigen oder den Angeklagten „verhandelt“ werden könnte. Wenn ein Tatverdächtiger eine Sanktionsmilderung erhält, dann ist die Voraussetzung dafür das Schuldeingeständnis und die Strafanerkennung. (4) Auf Grund der Tatsache, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung noch nicht perfekt ist, kann in der Praxis nur schwer verhindert werden, dass Justizbehörden im Versuch, Fälle schnell zu lösen, Tatverdächtige oder Angeklagte unter Druck setzen oder ködern, um dadurch ein Schuldeingeständnis und eine Strafanerkennung zu erlangen. Deshalb ist es nachvollziehbar, wenn man das Recht des Angeklagten auf Berufung als mögliches Korrektiv beibehält.

53  Wie Xiaona (魏晓娜), Vervollkommnung von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Strafmilderung: Entwicklung der Stichwörter im chinesischen Sprachkreis (完善认罪认罚从宽制度:中国语境下的关键词展开), in: Chinese Journal of Law (法学研究), 2016, Vol. 4.



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3. Beweismittel und Beweisstandards, die in Fällen von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Anwendung finden In Bezug auf den Beweisstandard, der beim Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung angewandt werden soll, gibt es Stimmen, die für eine Verringerung des Beweisstandards im beschleunigten Strafverfahren plädieren,54 denn wenn der Standard, der im beschleunigten Strafverfahren an Beweismittel gestellt wird, nicht verringert wird, dann verringert sich die Belastung der Justizorgane in Fällen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung von Tatverdächtigen oder Angeklagten im beschleunigten Strafverfahren nicht wirklich, so dass der praktische Nutzen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung angezweifelt wird. Andere bringen in der Frage des Beweisstandards die Meinung vor, dass es ausreichend sei, wenn die Grundtatsache (基本事实, also die hauptsächlichen Tatbestandsmerkmale und Umstände), welche die Verurteilung von Tatverdächtigen oder Angeklagten und deren Strafzumessung beeinflussen, eindeutig sind und die Grundbeweise (基本证据) diese Grundtatsache des Falls beweisen können, so dass dieser Meinung nach der gesetzliche Beweisstandard erreicht sei. Andere Tatsachen und Umstände, die mit dem Fall in Beziehung stehen, brauchen diesen Beweisstandard nicht erreichen.55 Daraus wird gefolgert, dass „der Beweisstandard angemessen vereinfacht werden kann. Wenn die Bewertung der Beweismittel in der Verhandlung angemessen vereinfacht wird, wenn Anklage und Verteidigung gegenüber der Tatsache und den Beweismitteln zur Einordnung des Verbrechens und der Strafzumessung keinen Widerspruch einlegen, dann kann das Gericht in der Verhandlung direkt auf die Fragen zur Feststellung von Verbrechen und Strafmaß eingehen.“56 Andere Kommentare gehen von der Unterscheidung der Tat­ sachenbeweise und der Beweise zur Strafzumessung aus; sie gehen dabei davon aus, dass bei den Beweisen zur Verbrechenstatsache der gegenwärtige, hohe Standard an die Beweismittel eingehalten werden muss, sie gehen aber bei der Frage des Beweisstandards für die Strafzumessung davon aus, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilde54  Vgl. Wang Jiancheng (汪建成), Abriss des effizienzorientierten beschleunigten Verfahrens in Strafsachen (以效率为价值导向的刑事速裁程序论纲), Tribune of Political Science and Law (政法论坛), 2016, Vol. 1. 55  Vgl. Chen Guangzhong (陈光中)/Ma Kang (马康), Diskussion wichtiger Fragen des Systems von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度若干重要问题探讨), Law Science (法学), 2016, Vol. 8. 56  Siehe Chen Guangzhong (陈光中), Studien zu Fragen der Umsetzung von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度 实施问题研究), Journal of Law Application (法律适用), 2016, Vol. 11.

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rung dem Volksprokurat einen größeren Ermessensspielraum einräumt. Um die Tatverdächtigen oder Angeklagten zu einem Schuldeingeständnis und zu einer Strafanerkennung zu bewegen, soll es erlaubt sein, ein beschleunigtes Strafverfahren oder ein vereinfachtes Verfahren einzuleiten, so dass bei der Strafzumessung der hohe Beweisstandard nicht eingehalten werden muss.57 Wiederum eine andere Meinung versucht in Anlehnung an ausländische Beweisregeln beim Institut von Schuldeingeständnis, Schuldanerkennung und Sanktionsmilderung den Gedanken der freien Beweiswürdigung einzuführen. Hierzu bringen sie vor, dass „unter der Voraussetzung, dass der Beweisstandard nicht verringert wird, bei der Bearbeitung von Fällen, in denen der Angeklagte die Schuld eingesteht und die Strafe anerkennt, so dass es zu einer Sanktionsmilderung kommt, man im vereinfachten Verfahren bzw. im beschleunigten Strafverfahren eine freie Beweiswürdigung durchführen kann. Deshalb sollen keine übergroßen mechanistischen Schranken gezogen werden, so dass die Effizienz der Klagen erhöht und die Prozessreform vorangebracht wird.“58 Die herrschende Meinung ist der Überzeugung, dass sich das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsminderung ebenfalls an die im Strafprozessgesetz bestimmten Beweisstandards halten muss, dass also der Standard, der an die Forderung des „Tatsachen klar, sowie Beweismittel eindeutig und ausreichend“ gestellt wird, nicht verringert wird. Konkret heißt das, dass „die Tatsachen, die Schuldeingeständnis und Strafanerkennung zu Grunde liegen, durch Beweismittel belegt werden“ und dass diese dadurch einen quantitativen Standard setzen. Die Forderung, dass „Beweismittel, auf Grund derer der Fall entschieden wird, … durch gesetzliche Verfahren auf ihre Richtigkeit hin untersucht werden“ müssen, stellt einen Standard für materielle Objektivität und Rechtsmäßigkeit dar. „Die Gesamtheit der Beweismittel des vorliegenden Falles schließt Zweifel an der festgestellten Tatsache aus“, stellt eine Überprüfung „der Negation der Negation“ dar. Nicht zuletzt weil China das Prinzip der materiellen Wahrheitsfindung umsetzt, hat die Institution des Gerichts unabhängig von der Frage, ob der Verdächtige oder der Angeklagte ein Schuldeingeständnis und eine Straf­ anerkennung verlautbart haben, die Pflicht, den Sachverhalt des anhängigen Falls aufzuklären. Ja die Pflicht geht sogar noch weiter, denn der Beweisstandard ist zusätzlich ein zentrales Mittel, um zu verhindern, dass es durch 57  Siehe Chen Ruihua (陈瑞华), Streitfragen bei Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Strafmilderung (认罪认罚从宽制度的若干争议问题), China Law Journal (中国法学), 2017, Vol. 1. 58  Fan Chongyi (樊崇义)/Li Siyuan (李思远), Reflexion der Theorie und der vorwärtsgewandten Reform von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度的理论反思与改革前瞻), ECUPL Journal (华东政法 大学学报), 2017, Vol. 4.



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die Mittel von Lockung und Zwang zu einer Entfremdung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung kommt.

V. Der Weg der Vervollkommnung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Im Jahr 2018 wurde das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung offiziell in die cStPG aufgenommen, weswegen es zu einer Welle von Forschungsarbeiten kam. Im jetzigen Stadium kann das chinesische System von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in folgender Weise vervollkommnet werden: Zunächst sollte die materielle Verteidigung umfassend ausgeweitet werden. Die cStPG in der Fassung von 2018 hat die Erfahrungen der versuchsweisen Einführung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung sowie von beschleunigtem Verfahren zu Rate gezogen und das System des „diensthabenden“ Anwalts implementiert. Aus diesem Grund wurde der § 36 cStPG eingeführt: „Die Rechtshilfebehörde kann Rechtsanwälte an die Volksgerichte und an die Untersuchungsgefängnisse entsenden. Wenn der Tatverdächtige oder der Angeklagte keinen Verteidiger gewählt hat, und wenn die Rechtshilfebehörde keinen Rechtsanwalt entsandt hat, um diesen zu verteidigen, dann bietet der diensthabende Anwalt dem Tatverdächtigen oder dem Angeklagten Rechtshilfe an, wobei diese die Form von Rechtsberatung, Empfehlung zum zu wählenden Verfahren, Antrag auf Änderung von Zwangsmaßnahmen, oder Meinungen zur Erledigung des Falles haben kann.“ Aus dieser Bestimmung kann man ersehen, dass der diensthabende Rechtsanwalt nur denjenigen Tatverdächtigen oder Angeklagten eine bedingte Form der Rechtshilfe anbietet, die keinen Verteidiger bestellt haben. Dennoch hat der diensthabende Rechtsanwalt weder den Status noch die Kompetenz eines „Verteidigers“, denn er hat keine Möglichkeit ein umfassendes Besuchsrecht auszuüben, kein Akteneinsichtsrecht und kein Recht zur Untersuchung oder Beibringung von Beweismitteln. Innerhalb des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung hat der Tatverdächtige nur ein begrenztes juristisches Fachwissen, Volksprokurat (Staatsanwaltschaft) und Angeklagter befinden sich natürlicherweise in einem ungleichen Verhältnis. Wenn also der Tatverdächtige oder der Angeklagte keinen Rechtsanwalt zur Seite hat, der ihm hilft, dann verstärkt sich diese Ungleichheit, so dass nur schwer garantiert werden kann, dass der Tatverdächtige sich wirklich „aus freien Stücken“ äußert. Im Gegensatz dazu betonen das System des plea bargain im angloamerikanischen Recht und die Verständigung im deutschen Strafprozessrecht beide, dass ein Rechtsanwalt als Verteidiger das gesamte Verfahren begleiten muss.

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Weiter ist das eigentliche Gerichtsverfahren der Verhandlung zu verbessern. § 185 cStPG wurde 2018 in § 190 cStPG geändert, dazu wurde ein zweiter Absatz eingefügt: „Gesteht der Angeklagte seine Schuld ein und erkennt er seine Strafe an, dann soll der vorsitzende Richter den Angeklagten über seine Verfahrensrechte und über die gesetzlichen Bestimmungen zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung in Kenntnis setzen. Er soll die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung sowie die Richtigkeit und Gesetzeskonformität des Inhalts der schriftlichen Aussage zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung überprüfen.“ Dennoch gibt es weder weitere konkrete Durchführungsbestimmungen oder Standards zur Feststellung. Man kann hier die Meinung einiger Kollegen zusammenführen, die den Gedanken des guilty plea Verfahrens (罪状答辩程序) aus dem amerikanischen Recht zu Rate ziehen. Hierbei wird die Arbeit des Richters in zwei Teile unterschieden: vor der Verhandlung muss der Richter die Akte vollständig lesen, sich ein Urteil darüber bilden, ob die behauptete Tatsache des Verbrechens der Wirklichkeit entspricht, ob die Beweismittel umfassend sind, und ob der Verteidiger tatsächlich eine effiziente und hilfreiche Verteidigung vorgebracht hat. Andernfalls kann der Richter das Verfahren beenden. Während der Verhandlung liegt der Schwerpunkt der richterlichen Untersuchung auf der Freiwilligkeit und Klarheit des Angeklagten: (1) hierzu muss er dem Angeklagten mitteilen, welche verfahrensmäßigen Rechte er hat und was die Konsequenzen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung sind. Er hat diesen nach seiner wirklichen Willensäußerung zu fragen und ob er zu dem Verbrechen bzw. zu der Strafe, um die es bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung geht, eine andere Meinung hat. (2) Er hat den Angeklagten zu fragen, ob es auf Seiten der Polizei oder der Staatsanwaltschaft widerrechtlich erlangte Beweismittel oder gesetzeswidrige Vernehmungsmethoden gab. (3) Er hat sich in der Verhandlung die Meinung des Verteidigers anzuhören.59 Erst auf der Grundlage eines solchen Verfahrens kann der Richter ein Urteil fällen. Abgesehen davon gibt es Nebenprobleme, die einer weiteren Klärung bedürfen. Zum einen ist da die Frage, in welcher Beziehung das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung mit dem Opfer steht? Der Autor ist der Meinung, dass die Garantie der Stellung des Opfers sich insbesondere auf die Zeit vor der Verhandlung erstreckt, nicht aber auf das Verfahren vor der Verhandlung, denn sonst wäre die Betonung der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung als Schwerpunkt der Verhandlung widersinnig. Deshalb sollten Staatsanwaltschaft und 59  Vgl. Chen Ruihua (陈瑞华), Strittige Fragen des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度的若干争议 问题), in: China Law (中国法学), 2017, Vol. 1.



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Gericht dem Opfer volles Gehör geben und dessen Belange in ihre Überlegungen mit einbeziehen, die Sanktionsmilderung wird aber hiervon nicht eingeschränkt.60 Weiter bedarf es einer Erhöhung der Effizienz des Strafverfahrens, um hierdurch den Widerspruch des viele Fälle und wenig Personal (案多人少) zu lösen. Ein kritischer Punkt ist hierbei die Vereinfachung der internen Überprüfungsverfahren bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht, welche die Verantwortung innerhalb der Judikative dahingehend realisiert, dass derjenige, der den Fall bearbeitet und entscheidet, die Verantwortung trägt.

VI. Schluss Seit das cStPG im Jahr 2018 im NVK angenommen worden war, ist das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung ein zentrales Institut und ein wichtiger Grundsatz des chinesischen Strafprozessrechts. Es hat die materiellrechtliche Milde und die prozessuale Vereinfachung miteinander verbunden und verknüpft. Wir können daher sagen, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung die langwährende Tendenz Chinas zur Betonung des Materiellen und der Geringschätzung des Prozessualen umgedreht hat. Das hilft dem chinesischen Strafprozessrecht nicht nur zur Verbesserung und zur weiteren Entwicklung, sondern es hilft diesem auch auf seinem Weg zu Internationalisierung und Verwissenschaftlichung. Der Umfang, den das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung umfasst, ist sehr breit, sein Inhalt ist sehr vielfältig. Daher muss es in Bezug auf die Praxis weiter unablässig verbessert und ergänzt werden, um die Früchte der Reform in noch weit größerem Maße entfalten zu können.

60  Chen Guangzhong (陈光中)/Ma Kang (马康), Diskussion wichtiger Fragen des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪 认罚从宽制度若干重要问题探讨), Law Science (法学), 2016, Vol. 8.

Verständigung im deutschen Strafprozessrecht aus staatsanwaltschaftlicher Sicht 检察院视角下德国刑事诉讼中的认罪协商 Folker Bittmann*

I. Sprachlich pointiert, aber inhaltlich in Deutschland juristisch unbestritten, handelt es sich beim Strafverfahrensrecht um angewandtes Verfassungsrecht. Das bedeutet, dass gemäß unserer höchsten Rechtsquelle, dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, die Menschen im Inland privat alles machen dürfen, was nicht verboten ist. Allerdings ist in Deutschland viel verboten. Bei den Rechtsfolgen der Verbote gibt es aber erhebliche Unterschiede, je nachdem, welche Personen beteiligt sind. Was einem Privaten gegenüber einem anderen Privaten verboten ist, kann vom (Zivil-)Gericht ausgesprochen und durchgesetzt werden, ebenso ein etwaiger Schadenersatzanspruch. Die Initiative liegt aber ausschließlich bei den beteiligten Privaten. Ist hingegen etwas nach öffentlichem Recht verboten, so haben die Verwaltungsbehörden in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich das für den konkreten Einzelfall maßgebliche Recht festzulegen und durchzusetzen. Dagegen kann Rechtsschutz bei den jeweils zuständigen Verwaltungs-, Sozialoder Finanzgerichten gesucht werden – vom Privaten oder einer anderen beteiligten öffentlichen Stelle. Allen bislang genannten Fällen ist gemeinsam, dass allein das in concreto einschlägige Sachrecht maßgeblich ist. Darauf beschränken sich auch die Rechtsfolgen. Sie zielen einzig auf die Durchsetzung des im einzelnen Fall maßgeblichen Sachrechts. Damit ist keinerlei Maßregelungs- oder Ahndungszweck verbunden.

*  Folker

Bittmann, Rechtsanwalt, Köln, Leitender Oberstaatsanwalt a. D.

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II. Neben diesem Sachrecht gibt es das Strafrecht. Es enthält sowohl selbständige Vorschriften als auch solche, die an genau beschriebene Umstände aus den verschiedenen Gebieten des Sachrechts anknüpfen. Dahinter steckt eine Idee: Die Probleme sollen dort gelöst werden, wo sie entstanden sind – und zwar möglichst von den unmittelbar Beteiligten selbst. Erst wenn diesen keine einvernehmliche Lösung gelingt, tritt der Staat auf den Plan. Zur Wahrung des zivilen Friedens hat unser Grundgesetz die gewaltsame Rechtsdurchsetzung verboten und zugleich ein Justizmonopol eingerichtet. Dabei steht weiterhin die unmittelbare Durchsetzung des Sachrechts im Vordergrund. Erst dort, wo es zum Eindämmen drohenden Rechtsbruchs nicht als ausreichend erscheint, lediglich das Sachrecht durchzusetzen, vor allem dann, wenn neben den Beteiligten auch öffentliche Interessen eine Rolle spielen, setzt das Strafrecht ein: ultima-ratio-prinzip. Das Strafrecht ist das schärfste und damit das letzte Mittel, welches der Staat zum Einhalten des Rechts und damit zur Wahrung oder Herstellung des Rechtsfriedens einsetzen darf. Das Strafrecht zielt auf Prävention, setzt aber repressive Mittel ein. Angesichts der vom Grundgesetz garantierten Freiheit jedes Einzelnen greift Strafrecht immer in abstrakt bestehende Grundrechte des jeweiligen Beschuldigten ein. Eine derartige Beschränkung, ein Eingriff in die vom Grundgesetz anerkannte Freiheit, ist nach hiesigem Verständnis nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Dazu gehört ein striktes Bestimmtheitsgebot: Bestraft werden darf nur ein solches Verhalten, welches unter eine zuvor in Kraft gesetzte Strafnorm subsumiert werden kann. Zudem gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit – kurz gefasst: So viel Strafe wie nötig, aber so wenig wie möglich. Weil immer nur wegen eines bestimmten Verhaltens bestraft werden darf, gilt für die Strafjustiz zudem ein unbedingtes Gebot, jedem einzelnen Beschuldigten, auch demjenigen, der wegen schwerster Strafen angeklagt ist, soweit es möglich und für die Gesellschaft zumutbar ist, Angebote zu seiner Resozialisierung zu machen. Das Ziel besteht darin, auch dem Straftäter die Aufgabe zu stellen, sich selbst weiterhin möglichst eigenverantwortlich und ohne Verletzung der Rechte anderer in Freiheit zu bewegen – und ihn dabei zu unterstützen. Natürlich wissen wir auch in Deutschland, dass das Ziel der Resozialisierung manchmal gar nicht erreicht werden kann und noch viel häufiger tatsächlich nicht erreicht wird. Das ändert aber nichts daran, dass das Erreichen der notwendigen Selbständigkeit auch des Verurteilten vom Staat und von der Strafjustiz anzustreben ist: Das Ziel bleibt wichtig und für das Vorgehen



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der Justiz prägend, auch wenn es nicht erreicht wird. Würde es aber gar nicht erst versucht, so wären auch keine kleinen Fortschritte zu erreichen. Angesichts dieser Grundausrichtung, Autonomie jedes Einzelnen, Strafe als Mittel zur Sicherung der Freiheit und gerade damit eben auch der Sicherheit aller, lässt sich formulieren: Lieber Überzeugen als Erzwingen. So lässt sich allerdings nur die Ausgangsidee beschreiben – ständig zunehmende detaillierte Strafnormen bezeugen demgegenüber, dass dem Deutschen Bundestag diese Ursprungsidee allzu häufig aus dem Blick geraten ist.

III. 1. Sie werden sich vielleicht fragen, warum ich solchen Wert auf die Grundlagen des materiellen Strafrechts lege. Die Antwort ist ganz einfach. Die angeführten Grundlagen prägen auch das Strafprozessrecht: Grundrechts­ eingriffe zu Ermittlungszwecken nur auf gesetzlicher Grundlage und Verlangen von Gehorsam nur im Umfang des Erforderlichen. Nach unserem Verständnis gewinnen der Staat und die Strafjustiz an Autorität und Überzeugungsvermögen, wenn sie auch den Rechtsbrecher als Person, als Individuum mit eigenen Rechten, respektieren und behandeln. Das hindert nicht, Unrecht Unrecht zu nennen und es angemessen, ggf. drastisch zu ahnden. Aber es kann dazu beitragen, Unrecht einzusehen, Verhalten zu ändern, sich an den Gesetzen zu orientieren – und sich nach einer der Tat angemessenen Strafzeit wieder als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu bewegen. Diese Chance auf Einsicht als Voraussetzung für Selbständigkeit sehen wir als vergeben an, wenn wir in einer für den Beschuldigten, später Angeklagten, nicht einsehbare Weise judizieren. Eine Strafe für eine Tat, die vielleicht gar nicht begangen wurde, oder deren Unrecht der Verurteilte nicht einzusehen vermag, zeitigt keine verhaltensändernde Wirkung. Wo Einsicht fehlt und Wiederholung droht, bedarf es selbstverständlich der Festsetzung einer durchaus auch langen Strafe, einerseits aus Gründen der Sicherheit, andererseits um sowohl den konkret Beteiligten als auch der Bevölkerung als Ganzes zu zeigen, daß der Staat Straftaten nicht duldet. Die Strafjustiz entäußert sich also keineswegs der ihr zur Verfügung stehenden Mittel harter Repression. Sie bemüht sich allerdings darum, sie nur dort einzusetzen, wo es erforderlich ist. Ein Weg zur Einsicht und ein Beweis lohnender Rechtstreue besteht darin, dass sich die Strafjustiz selbst an die Regeln hält. Dazu gehört auch die Anerkennung der Subjektivität des Beschuldigten, später Angeklagten. Hat er sein Unrecht eingesehen und geht von ihm, vielleicht gerade deshalb keine nennenswerte Gefahr mehr aus, so wird die Strafe nicht per se überflüssig, kann aber niedriger ausfallen und es

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kann umso früher verantwortet werden, den Straftäter wieder in die Freiheit zu entlassen. 2.  Das deutsche Strafprozessrecht bietet deshalb dem Beschuldigten während der Ermittlungen bzw. dem Angeklagten in der Hauptverhandlung vor Gericht die Chance, das Verfahren mitzugestalten und damit auch seinen Ausgang zu beeinflussen. a)  Sogar im deutschen Grundgesetz ist festgelegt, dass auch jeder Angeklagte das Recht hat, sich zu äußern und seine Position vor Gericht darzulegen. Darin eingeschlossen ist die Pflicht des Gerichts, das Vorgetragene nicht nur entgegenzunehmen, sondern auch darauf hin zu prüfen, welche Bedeutung es für die Beurteilung des dem Angeklagten vorgeworfenen Verhaltens entfaltet. Auch vom Angeklagten behauptete Umstände müssen Gegenstand der Beweisaufnahme sein. Dazu darf er Anträge stellen, die nur unter engen, in der Strafprozessordnung, § 244, festgelegten Voraussetzungen abgelehnt werden dürfen. Diese Rechte auf Beteiligung (Gehör und Beweisanträge) finden sich (natürlich mit zeitbedingten Variationen – und in der Zeit deutscher Diktaturen auch nicht ernstgenommen) seit 1871, also seit nunmehr fast 150 Jahren in unserem Strafverfahrensrecht. b)  Die weiteren konsensualen Elemente sind hingegen jüngerer Natur und nicht nur Ausprägungen des Autonomiegedankens, sondern auch Folgen einer Überlastung der Strafjustiz – nicht zuletzt aufgrund immer kleinteiligerer Strafvorschriften, deren Verletzung eher alltäglich denn Ausdruck ethisch unwerten Verhaltens ist. Überlastung einerseits und inflationäre Strafgesetzgebung andererseits führten zu Einschränkungen der strafprozessualen Grundprinzipien. Galt seit 1871 (mit Unterbrechungen) das Legalitätsprinzip, d. h. die Staatsanwaltschaft musste jedem Verdacht nachgehen, das Gericht musste auch wegen Bagatellen verurteilen, so blieb es zwar im Grundsatz dabei, aber nur mit immer weiteren Ausnahmen. aa)  1964 wurde eine Vorschrift in die Strafprozessordnung, § 153, aufgenommen, derzufolge Bagatellen auf sich beruhen können. bb)  1975 wurde diese Bestimmung ergänzt: Nach § 153a Strafprozessordnung darf selbst auf nicht nur ganz geringfügige Strafen verzichtet werden, wenn der Beschuldigte Auflagen erfüllt: sie werden ihm von der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht auferlegt – allerdings nur mit seiner Zustimmung. Da sie zudem nur freiwillig erfüllt werden, d. h. nicht hoheitlich gegen den Willen des Beschuldigten oder Angeklagten durchgesetzt werden können, bedarf es vor Festlegung der Auflagen regelmäßig der Klärung, wozu der Beschuldigte oder Angeklagte bereit ist und ob damit zu rechnen ist, dass er die Auflagen auch tatsächlich erfüllt. Geschieht das nicht, geht das Verfah-



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ren zwar auf nicht-konsensuale Weise weiter. Da sich die Justiz aber den Aufwand dafür möglichst ersparen will, besteht eine Tendenz, einem Rechtsbrecher entgegenzukommen – manchmal in einer unverständlichen und vom Gesetz nicht intendierten Weise. In den meisten Fällen lassen sich aber Alltagsdelikte ohne große kriminelle Energie auf diese Weise angemessen erledigen. Der vom Beschuldigten oder Angeklagten eingehaltene Konsens dient dem Rechtsfrieden. cc)  Verschiedene Entwicklungen führten parallel dazu, dass sich die Justiz nicht nur zum Zwecke der konsensualen Erledigungen in den erwähnten Alltagsfällen mit den Beschuldigten oder Angeklagten, vor allem aber ihren Verteidigern unterhielt, sondern auch in umfänglichen Verfahren, in denen sehr viel Tatsachenstoff zu klären war. Als Faustregel kann man sagen: Professionell am Strafprozess Beteiligte können recht gut abschätzen, was vermutlich in welchem Umfang bewiesen werden kann, und umgekehrt was hingegen nicht. Sie können eine ziemlich verlässliche Prognose des kommenden Urteils abgeben. Daher kam der Gedanke auf: Lässt sich das zu erwartende Ergebnis nicht auch auf weniger aufwändige Weise erzielen? Das ist der Grundgedanke einer vor etwa 40 Jahren zunächst ohne ausdrückliche rechtliche Grundlage entwickelten Praxis. Erst im Jahr 2009 erließ der Deutsche Bundestag das dafür bis heute maßgebliche Verständigungsgesetz. Es regelt zwei ganz unterschiedliche Kommunikationsstränge: Die Erörterung einerseits und die Verständigung andererseits. (1)  Die Erörterung ist ohne thematische Beschränkung zulässig, zielt aber nicht per se auf eine Übereinkunft der Beteiligten, auch nicht auf eine verbindliche Festlegung, wenn es denn zu einer Übereinkunft gekommen sein sollte. Die Erörterung war auch bereits vor 2009 allgemein zulässig und ist es weiterhin auch über die gesetzlich geregelten Fälle hinaus. Neu und konstitutiv sind insoweit lediglich die unterschiedlich für verschiedene Verfahrensstadien vorgeschriebenen Modalitäten der Dokumentation. (2)  Eine Erörterung darf allerdings auch dem Zweck dienen, eine Verständigung vorzubereiten. Eine solche ist allerdings nur innerhalb der Hauptverhandlung und lediglich im Hinblick auf im Ermessen des Gerichts stehende Rechtsfolgen sowie bezüglich der Gestaltung des Verfahrens zulässig. Diese Grenzen der Verständigung gelten auch für eine etwaige, eine Verständigung vorbereitende Erörterungen. Für den Umgang mit solchen Verständigungsvorgesprächen und den Ablauf einer Verständigung gibt es sehr strikte formale Regeln, deren Verletzung in der Regel eine Verständigung unzulässig werden lässt. Da die Verständigung – trotz Beteiligung sowohl der Staatsanwaltschaft als auch des Angeklagten – die Rechtsmittelbefugnis nicht ein-

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schränkt, werden Urteile, die auf regelwidrigen Verständigungen beruhen, im Rechtsmittelverfahren aufgehoben.

IV. 1. Generell lässt sich demnach festhalten: –– Konsensuale Elemente des Strafverfahrens sind Ausfluss des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. –– Die Möglichkeit, von der Verfolgung von Bagatellverstößen abzusehen, hat sich bewährt. Besser wäre es allerdings, derartige Handlungen von vorn nicht unter Strafe zu stellen. –– Die Zulässigkeit einer Einstellung von Verfahren wegen kleinerer und mittelschwerer Delikte gegen Auflage und die Zulässigkeit einer Verständigung über Rechtsfolgen und das Verfahren sind im Kern sachgerecht – jedenfalls angesichts der ausufernden und detailreichen materiellrecht­ lichen Strafvorschriften. 2. a)  In der Verfahrenswirklichkeit finden sich allerdings Auswüchse, die deutliche Schatten sowohl auf die Einstellung gegen Auflagen als auch auf die Verständigung werfen. Da beide Rechtsinstitute Bequemlichkeiten für sämtliche professionellen Verfahrensbeteiligten bieten, kommen Anwendungen jenseits des sachgerechten Kerngedankens vor. Eine Einstellung gegen ca. 100 Mio. Euro bei Zweifel am Vorliegen einer Schmiergeldzahlung hatte sich der Gesetzgeber gewiss nicht vorgestellt. Allerdings: In der weit überwiegenden Anzahl wird die Vorschrift sachgerecht angewandt – und führt durchweg zum Rechtsfrieden. Übertreibungen dürfen zwar nicht vorkommen – trüben aber nicht den insgesamt positiven Gesamteindruck. b)  Anders verhält es sich in Bezug auf Verständigungen. Vor 2009 gab es Praktiken, die nicht zu akzeptieren waren. Gerichte drohten mit hohen Strafen, Verteidiger mit übermäßigen Beweisanträgen. Derartiger Handhabung schob der Gesetzgeber zu Recht einen Riegel vor. Er formalisierte das Verständigungsgeschehen zu diesem Zweck allerdings in einer Weise, welche im Ergebnis zu einer Verkomplizierung des Verfahrens führt, welche das Ziel rationalisierender Effekte konterkariert. Er ersetzte demnach – grob skizziert – das Übel zu extensiven Gebrauchs mittels zu weitgehender Einschränkungen. Derzeit wird das Gesetz von 2009 evaluiert. Es bleibt abzuwarten, welche Erkenntnisse dabei gewonnen werden und welche Folgen dies zeitigen wird.

Die Position des Strafverteidigers bei der Verständigung im deutschen Strafprozessrecht Christian Schößling* Wie wir der Regelung in § 257c Abs. 3 S. 4 StPO entnehmen können, ist der Verteidiger nicht Partner der Verständigung, der Absprache über Rechtsfolgen, die den Angeklagten treffen (können). Er ist einer der Verfahrensbeteiligten, die zu hören sind, wenn das Gericht einen Verständigungsvorschlag einbringt, der von Angeklagtem und der Staatsanwaltschaft zu genehmigen ist, wenn eine Verständigung zu Stande kommen soll (§ 257c Abs. 3 S. 3 StPO). Diese gesetzliche Zuordnung wird freilich dem faktischen Einfluss des wirkungsmächtig agierenden Verteidigers, ob es überhaupt zu einer Verständigung kommt und – wenn ja – welchen Inhalt diese hat, in keiner Weise gerecht. Sie betrifft auch erst die Situation in der Hauptverhandlung selbst, allenfalls vorverlagert in das Stadium des Zwischenverfahrens nach Anklageerhebung, wo eine solche Absprache schon konkretisiert Gegenstand von eine Verständigung vorbereitenden Erörterungen nach §§ 202a, 212 StPO sein kann. Bereits im Ermittlungsverfahren wird der Verteidiger sich schon kurz nach der Mandatsübernahme mit dem Mandanten eine Linie festlegen, um ein anzustrebendes Verteidigungsziel erreichen zu können. Die Streubreite entsprechender Zielvorgaben ist weit und wird von der Erwartung einer sofortigen oder doch zeitnahen Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen Fehlen eines realistisch belegbaren Tatverdachts oder gar nachweisbarer Unschuld bis hin zur Vermeidung sehr hoher Freiheitsstrafen in einer sicher prognostizierbar unvermeidlichen durchzuführenden Hauptverhandlung reichen. Stellt sich frühzeitig heraus, dass der Mandant eine mit hoher Wahrscheinlichkeit nachweisbare Straftat begangen hat, so erwartet der Mandant neben dieser Mitteilung auch die Information, wie sein Fall einer seine Güter (Eigentum bei einer erwartbaren Geldstrafe bzw. seine persönliche Freiheit bei

 Christian Schößling, Fachanwalt für Strafrecht, Partnerschaft Wöhlermann, Lo*  renz & Partner (Leipzig).

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zu prognostizierender Freiheitsstrafe) am meisten schonenden Lösung zugeführt werden kann. Bei allen dem Opportunitätsgrundsatz unterliegenden Delikten, also den Vergehen im Sinne von § 12 Abs. 2 StGB, wird der Verteidiger dann schnell Kontakt zum zuständigen Staatsanwalt aufnehmen, um die für seinen Mandanten sprechenden Argumente einzubringen bzw. nach Umständen zu fragen, welche eine Opportunitätsentscheidung befördern könnten (z. B.: Hinweis auf eine bereits durchgeführte erzieherische Aussprache mit den Eltern des unter 21 Jahre alten Beschuldigten, um eine Einstellung nach § 45 Abs. 2 S. 1 JGG – Diversion; Schadenswiedergutmachung, ggfs. mit einem zu initiierenden Täter-Opfer-Ausgleich nach § 46a StGB, um bei „harmloseren“ Fällen oder/und strafrechtlich unbescholtenem Vorleben des Mandanten eine Einstellung nach § 153 oder § 153a StPO zu erreichen; bei strafrechtlich bereits wegen anderer Delikte vorgeahndeten Beschuldigten eine Einstellung nach § 154 StPO – dies kann im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht besonders wichtig sein, da in diesem Fall eine sonst denkbare Einziehungsentscheidung bereits im Ansatz vermieden wird). „Besonderer“ Kommunikation mit dem Mandanten bedarf es insofern nicht, als die Unschuldsvermutung fortbesteht und insbesondere auch eine Verfahrenserledigung nach § 153a StPO auch dann möglich ist, wenn der Beschuldigte den Tatvorwurf explizit bestreitet. Ist eine Einstellung im konkreten Fall nicht erreichbar, kann nach der Lage des Einzelfalls die Vereinbarung einer Erledigung durch Erlass eines Strafbefehls in Erwägung zu ziehen sein. Spätestens hier muss auch im Innenverhältnis zum Mandanten klar definiert sein, dass eine Bestrafung bei Durchführung des „normalen“ Strafverfahrens in einer späteren Hauptverhandlung sicher zu erwarten ist. Folglich ist eine Kontaktaufnahme zur Staatsanwaltschaft mit einer solchen Zielrichtung nur dann denkbar, wenn der Sachverhalt vollständig ausermittelt ist und deshalb eine solche Prognosestellung verlässlich ist oder in Konstellationen, in denen der Verteidiger gerade durch Herbeiführung eines Strafklageverbrauchs durch den zu erlassenden Strafbefehl verhindern will, dass sich die Strafverfolgungsbehörden „genauer“ mit einer Sache befassen, indem z. B. bei einer Steuerstraftat durch eine Beschränkung der Strafverfolgung nach § 154a StPO erreicht wird, dass weitere Steuerschäden in bestimmten Steuerarten von der Strafverfolgung ausgenommen werden (und dadurch z. B. ein Steuerschaden großen Ausmaßes nicht angenommen wird) oder der Blick der Verfolgungsbehörden auf eine bestimmte Betrugshandlung fokussiert wird, weshalb zu vermutende Verbindungslinien in Richtung Untreue oder/und Korruptionsstrafrecht im Dunkeln bleiben. Entsprechend kann selbstredend im Arznei- und Betäubungsmittelstrafrecht eine Lösung gesucht werden. Vorteil der Erledigung im Strafbefehlswege ist eindeutig die Vereinbarung einer Punktstrafe, die auch zuvor mit dem zuständi-



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gen Amtsrichter thematisiert werden kann (argumentum ex § 153 Abs. 1 S. 1 StPO). Dies kann in Konstellationen wichtig sein, in denen es dem Mandanten darum geht, in der Arbeitswelt als unbestraft zu gelten (d. h. Nichtüberschreiten der Grenze von 90 Tagessätzen Geldstrafe) oder beamten- oder allgemein berufsrechtliche Implikationen zu beachten sind (Folgen für Zulassung, Approbation bei Erreichen einer Strafhöhe von 1 Jahr Freiheitsstrafe, auch wenn diese zur Bewährung ausgesetzt wird). Lässt sich eine Erledigung außerhalb des gerichtlichen Verfahrens nicht vermieden, so wird der Verteidiger schnell zu ergründen haben, wie der oder die Berufsrichter über die Anklage denken, die bei ihnen eingegangen ist. Häufig meldet sich auch das Gericht, um die Strukturierung des Prozesses zu besprechen, z. B. um eine Einschätzung zur Anzahl voraussichtlich benötigter Verhandlungstage aus Sicht des Verteidigers zu erfragen. Schnell dreht sich hier das Gespräch von allgemeinen verfahrensbezogenen Erörterungen (§§ 202a, 212 StGB) in Richtung einer möglichen Verständigung, wenn die Verteidigung nicht direkt betont, dass der Mandant eine Freispruchverteidigung zu führen beabsichtigt. Aus praktischer Sicht ist zu empfehlen, dass auch der Verteidiger solche Gespräche idealerweise in Anwesenheit eines Mitverteidigers oder sonstigen Berufsgehilfen, z. B. Rechtsreferendars, führt, da der hierüber niederzulegende Vermerk einerseits eine seitens des Gerichts geäußerte Position gut belegt werden kann, andererseits nicht zu erwarten ist, dass eine Gefährdung des Vertrauensverhältnisses zum Mandanten zu besorgen ist, wenn der Vorsitzende des Spruchkörpers zu Beginn der Hauptverhandlung nach § 243 Abs. 4 S. 1 StPO eine dem Verteidiger zugeschriebene Auffassung im Rahmen solcher Erörterungen bekannt gibt. Viele Vorsitzende erwarten im Rahmen derartiger sondierender Gespräche eine „ehrliche“ Einschätzung des Verteidigers über die Sache (und somit häufig auch zur Rechtsfolgenerwartung) und sind dann offensichtlich auch bereit, diese euphemisierend darzustellen oder ganz zu verschweigen, wie der Referent anhand eigener Erfahrungswerte in der Praxis feststellen konnte, als inzident einseitige Verständigungsbemühungen zwischen einem Gericht und (nur) einem Verteidiger eines Mitangeklagten zur Sprache kamen. Ergo: es entspricht dem erwartbaren Rollenverständnis des Verteidigers, sich hier mit jeglichen Erklärungen zur eigenen Strafbarkeit des Mandanten zurückzuhalten und vielmehr ausschließlich die vorläufige Meinung des Gerichts (scil.: der Berufsrichter) zur Kenntnis zu nehmen und diese an den Mandanten weiterzugeben. Es versteht sich von selbst, dass der Verteidiger den Mandanten – auch schriftlich – über solcherlei geführte Kommunikation unterrichtet. Nicht ohne Risiko ist die Anregung einer Verständigung durch die Verteidigung zu einem solchen frühen Zeitpunkt jedenfalls in Fällen mit unklarer

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Beweissituation: bereits psychologisch wird sich ein Gericht nicht von der Vorstellung frei machen können, gegen einen schuldigen Angeschuldigten/ Angeklagten zu verhandeln, wenn der Verteidiger sich nach den Strafmaßvorstellungen des Gerichts zu erkundigen. Der Verteidiger, der so vorgeht, beschreitet einen Weg of no return. Mindestens muss hierzu die vorherige Zustimmung des Mandanten vorliegen, was impliziert, dass diesem der beim Gericht erzeugte Eindruck bewusst ist. Leider ist nicht selten zu beobachten, dass Verteidiger sich nicht an diesem Maßstab orientieren, eigenmächtig auf ihre Erfahrungswerte im Umgang mit dem Gericht vertrauen, die oft nichts anderes sind als ein diffuses Vertrauen auf die Fairness des Gerichts im Sinne der Straf(maß)gerechtigkeit und dabei die Frage, von welchem tatsächlichen Lebenssachverhalt tatsächlich auszugehen ist, ausblenden. Denn die Erwartungshaltung des Gerichts an „kooperative“ Verteidiger, die ihrem Mandanten eine frühzeitige Unterwerfung unter die Anklage empfehlen (und dies auch gegenüber dem Gericht signalisieren), richtet sich auf eine Bestätigung der durch die Anklage geschilderten Tatsachenlage. Groteskerweise werden Einlassungen, nach denen sich ein Angeklagter zwar auch strafbar gemacht hätte, die aber in Widerspruch zur tatsächlichen (oder gar rechtlichen!) Einordnung der Anklage stehen, häufig als Schutzbehauptungen gewertet, ohne dass die revisionsrechtliche Rechtsprechung dem Grenzen aufzeigen würde. Ein „anderes“ Geständnis hilft dem Gericht nach unrichtiger Lesart der meisten Tatgerichte nicht, weil es nicht justizielle Ressourcen schont, nicht Arbeit des Gerichts vermeidet, sondern neuen Aufwand schafft. Geht die Verteidigungsprognose von einer sicheren Verurteilungswahrscheinlichkeit aus, so kann nach Autorisierung durch den Mandanten durchaus aufgrund einer als hypothetisch zu betonenden Sachverhaltsannahme nach Strafmaßvorstellungen des Gerichts gefragt und ein eigener Verständigungsvorschlag eingebracht werden. Es versteht sich von selbst, dass hier alle maßgeblichen Strafzumessungsgesichtspunkte im Sinne von § 46 StGB zu beleuchten sind und sodann ein besonderer Kooperationsbonus für den Mandanten als zwingend erwartet verbalisiert wird. Dagegen kann nichts einzuwenden sein, wenn nur das nach der Spielraumtheorie des Bundesgerichtshofs vertretbar geringstmögliche Strafübel gegen den Angeklagten in Ansatz gebracht wird. Freilich hängt eine solche Initiierung einer Verständigung auch vom Agieren der Staatsanwaltschaft ab: hat diese im Vorfeld aus Sicht der Verteidigung unrealistische Strafmaßvorstellungen geäußert, so spricht dies prima vista gegen die Durchführung verständigungsbezogener Erörterungen. Anders kann es sein, wenn das Gericht im Rahmen einer von ihm zu treffenden



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Haftentscheidung die Auffassung der Verteidigung als naheliegend bzw. realistisch einschätzt bzw. dies im Rahmen der Mitteilung nach § 243 Abs. 4 S. 1 bzw. S. 2 StPO (bei Erörterung im weiteren Verfahrensgang) als eigene Auffassung darstellt. Nur ist beim Angeklagten klarzustellen, dass derartigen Kundgaben kein zwingender Charakter beikommt, kein verbürgter Vertrauenstatbestand geschaffen wird, der nur durch eine Verständigung erzielt werden kann. Einem Locken durch das Gericht in Richtung des Angeklagten, auf das Schweigerecht zu verzichten, sollte ohne Absicherung des Angeklagten durch einen nicht zu weit gespannten Verständigungsstrafrahmen (Straf­ obergrenze und -untergrenze sollten eng beieinander liegen, um die gericht­ liche Gegenleistung abzusichern) widerstanden werden. Nach den Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zur Verständigung vom 19.3.2013 ist auf der Ebene der Landgerichte zu beobachten, dass diese sich um die Einhaltung des gesetzlichen Schutzkonzepts bemühen und alle maßgeblichen Vorschriften in den meisten Fällen beachtet bzw. umgesetzt werden. Auf der Ebene der Amtsgerichte lässt sich dies leider nicht feststellen: aus eigener Prozesserfahrung kann ich berichten, dass verständigungsbezogene Erörterungen dort permanent gepflegt werden, es aber an einer entsprechenden prozessordnungskonformen Dokumentation völlig fehlt: diese Vorschriften werden als Ballast empfunden. Selbst wirklich fachlich sehr guten und bemühten Amtsrichtern gelingt es häufig auch nicht, eine allseitig gewünschte Verständigung entsprechend umzusetzen. So fehlt häufig die rechtzeitige Belehrung des Angeklagten nach § 257c Abs. 5 i. V. m. Abs. 4 StPO oder aber dieser wird eine völlig falsche Bedeutung beigemessen, z. B. dem Angeklagten erläutert, wenn das Geständnis in Richtung von Mittätern oder zum Voroder Nachtatverhalten nicht ausführlich genug sei, könne die Verständigung widerrufen werden. Hier muss die Verteidigung wachsam sein, da hier oft genug Positionen bemüht werden, die ohne weiteres zur Ablehnung von Gerichtspersonen wegen Besorgnis der Befangenheit nach § 24 Abs. 2 StPO Anlass geben. Letzteres gilt insbesondere auch dann, wenn nicht nur ein Geständnis über ein Verständigungsangebot „entlockt“ werden, sondern dieses über den Aufbau einer „Sanktionsschere“ abgenötigt werden soll. Wie eng sinnvolle Kommunikation, z. B. durch einen regelmäßigen Austausch über die Prozessentwicklung gemäß § 257b StPO und despotisches, willkürliches Richterverhalten beieinander liegen können, kann hieran gut sichtbar gemacht werden. Aufgabe des Verteidigers ist es jedenfalls, den Zeitpunkt für die Präsentation eines möglichen Geständnisses zum optimalen Tauschwert richtig einzuschätzen und dann die Tür zur Herbeiführung einer Verständigung zu öffnen.

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Obgleich es durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofes in BGH St 43, 195 ff. (209 f.) eigentlich Gemeingut sein sollte, müssen auch profes­ sionelle Verfahrensbeteiligte immer wieder darauf hingewiesen werden, dass es dem „… Gericht … es aber nicht verwehrt (ist), dem Geständnis des Angeklagten strafmildernde Wirkung auch dann zuzumessen, wenn der Angeklagte das Geständnis nicht offensichtlich in erster Linie aus Schuldeinsicht und Reue, sondern aus verfahrenstaktischen Gründen im Rahmen einer Verständigung abgegeben hat. (…) Außerdem kann ein Geständnis dem Angeklagten auch als Beitrag zur Sachaufklärung und Verfahrensabkürzung zugute gehalten werden. (…) Jedes Geständnis eines Angeklagten ist daher grundsätzlich geeignet, Bedeutung als strafmildernder Gesichtspunkt zu erlangen, … “

Nur in Fällen der erstrebten Anwendung der vertypten Strafmilderungsgründe der Kronzeugenregelung (§ 46b StGB) bzw. der Aufklärungshilfe (§ 31 BtMG) ist es wegen der in beiden Vorschriften aufgestellten Präklusionswirkung (siehe § 46b Abs. 3 StGB) verteidigungsseitig unabdingbar, bereits im Zwischenverfahren sicheren Boden unter den Füßen zu erlangen. Dies ist vor allem deshalb nicht einfach, weil nicht immer klar ist, wozu und wie weitgehend sich ein Angeschuldigter einlassen muss, um in den Bonus einer Strafmilderung über § 49 Abs. 1 StGB zu gelangen. Immerhin sieht der Angeschuldigte nicht mit der oft einseitigen und unbegrenzten Erwartungshaltung von Polizei und Staatsanwaltschaft ausgeliefert; der Verteidiger kann und muss die Gegenleistung seines Mandanten so verhandeln, dass die an ihn gestellten Erwartungen im Sinne von Tatsachenangaben klar definiert sind und etwaige „Extras“ gesondert zu vergüten sind (d. h. wegen neuer Umstände der dann bislang zugesagte Verständigungsstrafrahmen nicht schuldangemessen ist und dem Angeklagten ein neues „besseres“ Verständigungsangebot gemacht wird, z. B. bei Bestätigung seiner Angaben als Zeuge im Gerichtsverfahren gegen einen von ihm benannten Dritten). Nur wenn die erwarteten Tatsachenangaben klar bestimmt sind, wird die Justiz dem Eindruck entgehen können, sie habe eine (widerrechtliche) Verständigung zu Lasten eines Dritten initiiert. Praktisch problematisch ist immer wieder, dass von der Polizei empfohlene Strafverteidiger den betreffenden Beschuldigten beigeordnet werden, die ihren Mandanten empfehlen, auch ohne entsprechende Absicherung Angaben zu tätigen, die diesen dann nicht entsprechend honoriert werden. Wird hingegen exakt festgelegt, welche Tatsachenangaben erwartet werden, kann eine Gefahr der unzutreffenden Falschbelastung minimiert werden, da dann keine Erwartungshaltung erzeugt wird, eine besonders gravierende Belastung oder die Involvierung bislang nicht ermittelter Dritter könne sich besonders auszahlen. „Kneift“ hier die Staatsanwaltschaft, so kann dem Mandanten ohnehin besser von solchen besonderen Aufklärungsbemühungen abgeraten werden.



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Ich darf Ihnen nun einen derzeit beim 4. Strafsenat des Bundesgerichtshof anhängigen Sachverhalt (vereinfacht) darstellen, der sich mit dem Problem einer Verpflichtung zur Abweichung des Tatgerichts wegen neu hervorgetretener, „tatsächlich oder rechtlich bedeutsamer Umstände“ im Sinne von § 257c Abs. 4 S. 1 StPO beschäftigt und doch dokumentiert, dass der Verteidiger vom Gesetz nicht als Schutzmacht für den Angeklagten ausgestattet wurde: Der im 4. Lebensjahrzehnt stehende, schwer an einer kardiologischen Erkrankung leidende Angeklagte war wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge angeklagt (§ 30a BtMG), hinzu kamen einige Fälle des Fahrens ohne Fahrerlaubnis und der Urkundenfälschung (gefälschter Führerschein). Der Angeklagte befand sich in Untersuchungshaft, die für die Durchführung einer Rehabilitationsmaßnahme unterbrochen war, um dessen Herzleistung, die derjenigen eines gesunden 80jährigen Mannes entsprach, zu verbessern, was nicht gelang. Die Strafkammer erklärte, auf den Gesundheitszustand Rücksicht zu nehmen und ihm – ausnahmsweise, weil lokal unüblich – eine Verständigung anzubieten zu wollen: Strafuntergrenze: 7 Jahre, Strafobergrenze 7 Jahre 6 Monate. Der Verteidiger widersprach der Verständigung und vertrat die Auffassung, dass die Annahme eines minder schweren Falles auf der Hand liege und eine Gesamtfreiheitsstrafe mit einer Strafobergrenze von etwa 4 Jahren 6 Monaten (unter Anwendung des Sonderstrafrahmens des minder schweren Falls) realistisch sei. Der Angeklagte ging die Verständigung ein, weil er eine sonst noch höhere Strafe durch die Kammer fürchte, was er ausdrücklich auch erklärte. Die Kammer stellte fest, dass das Geständnis des Angeklagten glaubhaft sei, wonach er – wie in der Anklage behauptet – 50 g Metamfetamin angekauft habe. Abweichend von der Anklage und nach Erteilung eines rechtlichen Hinweises gemäß § 265 Abs. 1 StGB auf das Vorliegen einer idealkonkurrierenden Besitzstrafbarkeit sei die Erklärung des Angeklagten zutreffend, wonach er von dieser Gesamtmenge 25 g für den Eigenbedarf und den Suchtmittelbedarf seiner Verlobten benötigt und vorgesehen habe. Bei der Sicherstellung der Betäubungsmittel hatte die Verlobte gerade 1 g Metamfetamin konsumiert (Nachweis über Blutserum), die restlichen 49 g wurden mit zwei in der Ablage (Konsole) des PKW befindlichen Klappmessern sichergestellt. Die Kammer hat keine Veranlassung gesehen, von ihrem Verständigungsvorschlag abzuweichen und die Verständigung aufzulösen. Kennzeichend für die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist insoweit, dass es des Vorliegens gravierender Nova bedarf, um eine eingegangene Verständigung aufzulösen. So wurde eine solche Verpflichtung nicht gesehen, wenn sich lediglich aus Rechtsgründen das Vorliegen einer (bloßen) Versuchsstrafbarkeit des Betruges ergab, in der Verständigung von einer Vollendungsstrafbarkeit ausgegangen wurde. Ergibt sich indessen – wie vorliegend – eine Halbierung

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der für den Verkauf vorgesehenen Betäubungsmittelmenge, sollte der Bundesgerichtshof hier erstmals eine Verpflichtung des Tatgerichts zur Abweichung vom Verständigungsvorschlag annehmen. Bedenklich an dem geschilderten Revisionsfall bleibt zweierlei: einerseits kann der Verteidiger den Angeklagten vor erkennbar sachwidrigen Verständigungsvorschlägen des Gerichts nicht wirksam schützen und andererseits kann der Angeklagte auch überhaupt nur dann einen nachgelagerten Schutz erfahren, wenn ihm ein handlungswilliger und -kompetenter Verteidiger zur Seite steht. Das Verständigungsgesetz lebt somit von Voraussetzungen, deren Einhaltung es nicht garantieren kann.

Zustandekommen der Verständigung Hierbei darf ich klarstellend voranstellen und betonen, dass im hiesigen Recht der Verteidiger zur streng einseitigen Interessenvertretung verpflichtet ist, eine Verpflichtung zur Beteiligung an der Wahrheitsfindung ist ihm nicht aufgegeben.

Die Beteiligung des Anwalts an der Verständigung 认罪认罚从宽制度下的律师参与 Zhao Tianhong*

I. Wertinhalt und praktische Bedeutung der Verständigung im Strafprozess Die Reform des Strafprozessrechts hin zu einem System der Verständigung im Strafrecht wurde zum ersten Mal auf dem 4. Plenum des 18. Parteitags der KP Chinas (十八届四中全会) vorgestellt. Die Durchführung dieser Verfahrensreform, in deren Mitte das gerichtliche Urteil steht (连通以审判为中 心的诉讼制度改革)1 verwirklichte das Ziel von Partei und Staat, in der neuen Ära die Struktur der Justiz zu verbessern, um hierdurch die Entschlossenheit zur Eliminierung überkommener Probleme zu demonstrieren. Im Juni 2014 und im Juli 2016 wurden zunächst Modellversuche in Beijing, Shanghai und 16 weiteren Bezirken durchgeführt, bis der Ständige Ausschuss des 13. Nationalen Volkskongress auf seiner 6. Sitzung am 26. Oktober 2018 endlich beschloss, das Strafprozessgesetz (刑事诉讼法) zu ändern. Hiermit wurde die Verständigung offiziell in die Gesetze der VR China aufgenommen. Wenn man vom chinesischen Wortsinn des Begriffs der Verständigung ausgeht2, dann bezeichnet dieses Institut die freiwillige, wahrheitsgemäße Schilderung der eigenen Verbrechenshandlung durch den Tatverdächtigen (犯 罪嫌疑人) bzw. den Angeklagten (被告人), dessen Anerkennung der ihm zur Last gelegten Verbrechenstatsache, dessen Willen, die Sanktion anzunehmen, und die Möglichkeit der Justizorgane, diesem eine mildere Sanktion zukommen zu lassen. Das System der Verständigung im chinesischen Strafrecht hat sowohl das Institut des Plea Bargain im angloamerikanischen Recht zu Rate *  Zhao Tianhong (赵天红), Vize-Dekanin für Internationale Angelegenheiten, Fakultät für Strafjustiz, China University of Political Science and Law (中国政法大学). 1  Chen Weidong (陈卫东), Einige Fragen zu Modellversuchen der Verständigung im Strafrecht (认罪认罚从宽制度试点中的几个问题), Journal of National Prosecutors College (国家检察官学院学报), 2017, Nr. 1, S. 3. 2  Das chinesische 认罪认罚从宽 setzt sich aus drei Begriffen zusammen: dem Schuldeingeständnis (认罪), der Strafeinwilligung (认罚), und der Tendenz zur Milde (从宽); Anmerkung des Übersetzers.

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gezogen, wie auch das Institut der strafrechtlichen Verständigung in kontinentaleuropäischen Rechtssystemen3; sein zentraler Punkt ist die Verständigung, wobei dazu auch die Gespräche zwischen Anwalt und Verdächtigem bzw. Angeklagtem gehören, in welchen sich diese überlegen, ob man sich auf ein Schuldeingeständnis und eine Strafeinwilligung einlassen soll; es zählen hierzu aber auch die Gespräche zwischen dem Anwalt und Vertretern der Justiz, insbesondere diejenigen, in denen mit der Staatsanwaltschaft über das Strafmaß verhandelt wird. Hieraus wird deutlich, dass der Anwalt eine Schlüsselposition für die Verwirklichung der Verständigung im Strafrecht innehat. Die Organisation dieses Instituts hat die weitreichende Teilnahme des Anwalts als Kernaufgabe. Wenn der Anwalt an der Verständigung teilnimmt, dann ist eine seiner Kernpflichten die Beurteilung der Frage, ob er den strafrechtlich Verfolgten dazu anhalten soll, an einer Verständigung teilzunehmen, wie dies vor sich gehen soll und wann dies erfolgen soll. Will man diese Aufgabe wirklich erledigen, dann ist es nach Ansicht der Autorin notwendig, zunächst die Begriffe Schuldeingeständnis (认罪), Strafeinwilligung (认罚) und Strafmilderung (从宽) zu klären. 1. Was heißt „Schuldeingeständnis“? In § 15 chinesisches Strafprozessgesetz (cStPG) (刑事诉讼法) ist bestimmt: „[Wenn der] des Verbrechens Verdächtige oder Angeklagte freiwillig und wahrhaftig die Verbrechenshandlung schildert, [wenn er] die ihm zur Last gelegte Verbrechenstatsache anerkennt und Willens ist, die Strafe anzunehmen, [dann] kann er nach Gesetz milder bestraft werden.“4 Dieser Paragraph wurde bei der jüngsten Reform in das Gesetz eingefügt. Wir können ihm entnehmen, dass das „Schuldeingeständnis“ als Teil einer Verständigung die folgenden Hauptmerkmale enthält: (1) der strafrechtlich Verfolgte schildert wahrheitsgemäß seine Verbrechenshandlung, wobei die „wahrheitsgemäße Schilderung“ an dieser Stelle die nach den Bestimmungen zu den Begriffen sich freiwillig stellen (自首) und ein Geständnis ablegen (坦白), welche sich im Strafrecht an anderer Stelle finden, zu erfolgen hat. (2) Es gibt gegenüber der Verbrechenstatsache, welche dem strafrechtlich Verfolgten zur Last gelegt wird, keinen Widerspruch. An dieser Stelle ist zu beachten, dass ein Irrtum des strafrechtlich Verfolgten bezüglich der rechtlichen Subsumption seiner Verbrechenshandlung unerheblich ist. Wenn er also 3  Siehe Liu Kun (刘坤), Gegenwärtige Situation und Wege zur Verbesserung der Verständigung im Strafrecht (认罪认罚从宽制度的适用现状与完善路径), Tianjin University Law Journal (天津法学), 2018, Nr. 3, S. 81. 4  Im Original lautet diese Bestimmung wie folgt:  犯罪嫌疑人、被告人自愿如实供述自己的罪行,承认指控的犯罪事实愿意接受 处罚的,可以依法从宽处理.



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fälschlicherweise die Kreditkarte einer anderen Person verwendet hat, um damit Geld abzuheben, und dann davon ausgeht, dass er einen Diebstahl begangen hat, anstatt dies richtig als Kreditkartenbetrug einzuordnen, dann ist nur wichtig, ob der strafrechtlich Verfolgte gegenüber den Einzelheiten des ihm vorgeworfenen Verbrechens Widerspruch einlegt. Tut er dies nicht, dann kann dies ebenfalls als Schuldeingeständnis bewertet werden. (3) Die Freiwilligkeit des strafrechtlich Verfolgten ist die zentrale Voraussetzung des Schuldeingeständnisses. Wenn hier von Freiwilligkeit die Rede ist, dann handelt es sich zum einen darum, dass der strafrechtlich Verfolgte nicht unter Drohung oder Zwang sein Geständnis abgelegt hat. Zum anderen wird dadurch betont, dass es nicht wichtig ist, ob der strafrechtlich Verfolgte gleich zu Beginn seine Schuld eingestanden hat. Solange er am Ende den Entschluss hierzu fasst, kann ihm das nach cStPG als Schuldeingeständnis angerechnet werden. 2. Was heißt „Strafeinwilligung“? Nach dem oben angeführten Paragraphen ist der Wortsinn der Bezeichnung Strafeinwilligung (认罚) dahingehend zu verstehen, dass der strafrechtlich Verfolgte Willens ist, die ihm angedrohte Strafe anzunehmen. Der sogenannte Willen, die Strafe anzunehmen, enthält folgende Merkmale: (1) Die Strafeinwilligung kann sowohl während der Ermittlungen auftauchen, sie kann auch während der Phase der gerichtlichen Verhandlung erscheinen. Während der Ermittlungen heißt das, dass der strafrechtlich Verfolgte aktiv zum Ausdruck bringt, dass er Willens ist, die Strafe anzunehmen. Die Ermittlungsbehörden müssen dies dann umgehend zu Protokoll nehmen und dies auch in der Anklageschrift zum Ausdruck bringen. Demgegenüber muss während der gerichtlichen Verhandlung ein Schriftsatz über Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung unterschrieben werden. (2) Die aktive Rückgabe des durch das Verbrechen Erlangten und der Schadensersatz gehören ebenfalls zum Umfang der Strafeinwilligung.5 Der Wille, die Strafe anzunehmen, beinhaltet nicht nur die Annahme der Kriminalstrafe, den aktiven Ausgleich des Schadens, der dem Opfer entstanden ist, um dadurch die Vergebung des Opfers zu erlangen, sondern darüber hinaus die aktive Rückgabe des durch das Verbrechen Erlangten. Durch diese Umstände wird die Reue des strafrechtlich Verfolgten sichtbar, welche offensichtlich zur Bedeutung der Verständigung im Strafrecht dazu gehört. (3) Strafeinwilligung bringt zum Ausdruck, dass der strafrechtlich Verfolgte nicht nur zugibt, dass er selbst ein Verbrechen begangen hat, sondern dass er hierfür eine Sanktion 5  Siehe Chen Weidong (陈卫东), Studien zur Verständigung im Strafrecht (认罪认 罚从宽制度研究), China Legal Science (中国法学), 2016, Nr. 2, S. 53 f.

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erleiden soll. Unter diesen Voraussetzungen erhält der strafrechtlich Verfolgte eine mildere Sanktion als derjenige, der lediglich ein Schuldeingeständnis ablegt, der aber nicht in die Sanktion einwilligt. 3. Was heißt „Milde“? Strafmilderung (从宽) heißt im Zusammenhang mit der Verständigung im Strafrecht, dass die Rechtsfolge für den strafrechtlich Verfolgten eine mildere Sanktion darstellen soll. Dabei muss die Strafmilderung sowohl vom materiellen Strafrecht her, als auch vom Prozessrecht her verstanden werden. Auf der Ebene des materiellen Rechts muss auch die milde Sanktion mit den Bestimmungen des chinesischen Strafgesetzes (cStGB, 刑法) im Einklang stehen, es müssen also gesetzliche Vorschriften für die Strafzumessung wie Geständnis, ein sich freiwilliges Stellen, aktive Wiedergutmachung etc. vorhanden sein. Auf der Ebene des Prozessrechts beinhaltet Strafmilderung Maßnahmen wie die Umwandlung von Zwangsmaßnahmen, die Verkürzung der Erledigungsfristen etc. Die einzelnen Maßnahmen können auch kumuliert angewandt werden. So lange der strafrechtlich Verfolgte die Voraussetzungen der Verständigung erfüllt, kann je nach Einzelfall im Rahmen der Gesetze entschieden werden. 4. Wertmuster und praktische Bedeutung der Verständigung im Strafrecht Bei der Verständigung im Strafrecht kann im Einzelfall zum einen nach der tatsächlichen Situation des strafrechtlich Verfolgten unterschieden werden, um dadurch komplizierte von einfachen Fällen zu trennen. Das dient der Verbesserung der prozessualen Effizienz, wodurch sich die Zunahme der strafrechtlichen Fallzahlen abschwächt6 und was daher die ursprünglich hieraus resultierende Schädigung des Interesses der Prozessparteien an zügiger Erledigung des Falles abfedern kann. Gleichzeitig wird hierdurch das Recht des strafrechtlich Verfolgten auf Verteidigung garantiert. Auf der anderen Seite können hierdurch, insbesondere durch die Einrichtung des dienst­ habenden Anwalts, Ressourcen in der Justiz eingespart werden, was wiederum sowohl zu einer finanziellen Entlastung des Angeklagten, wie zu einer Kostensenkung in der Justiz selber führt. Abgesehen hiervon führt die Verständigung im Strafprozess auf einer noch tiefer gehenden Ebene zu einer 6  Siehe Wei Xiaona (魏晓娜), Vervollkommnung der Verständigung im Strafrecht: Verbreitung von Keywords im chinesischen Sprachraum (完善认罪认罚从宽制度: 中国语境下的关键词展开), Chinese Journal of Law (法学研究), 2016, Nr. 4, S. 79– 82.



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Realisierung der Strafrechtspolitik der gleichzeitigen Milde und Strenge (宽 严相济), was dem Ziel dient, die Kriminellen aufzubringen und die Gesellschaft zu harmonisieren (瓦解犯罪分子,促进社会和谐)7, es entspricht daher der großen Entwicklungslinie der chinesischen Justizreform.

II. Bedeutung der Teilnahme des Anwalts an der Verständigung und Wege, dies zu realisieren Wie weiter oben bereits geschildert, ist die Teilnahme des Anwalts an der Verständigung im Strafrecht ein wesentlicher Bestandteil des Systems, denn der Anwalt kann als Kommunikationsbrücke zwischen strafrechtlich Verfolgtem und Staatsanwaltschaft dienen. Dazu kann einer Teilnahme des Anwalts an der Verständigung noch weitere praktische Bedeutung beigemessen werden. Zunächst sehen wir, wie der US-amerikanische Strafprozessrechtslehrer Parker das Strafverfahren als einen Kampf beschreibt, der sich zwischen Anklage und Verteidigung entspinnt8. Dabei befinden sich Anwalt und strafrechtlich Verfolgter im gleichen Graben, sind also „Kampfgenossen“: beide Seiten setzen sich für dieselbe Sache ein. Wir können daher die psychische Interessenkongruenz von Anwalt und Tatverdächtigem bzw. Angeklagtem dahingehend nutzen, dass der Anwalt mit letzteren verhandelt, ob es zu Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung kommen soll, um dadurch zu verhindern, dass es bei einer direkten Verhandlung zwischen Staatsanwaltschaft und strafrechtlich Verfolgtem zu einer Trotzreaktion kommt. Hierdurch wird das Verfahren in Fällen, in denen eine Verständigung stattfindet, vorangebracht. Weiter kann der Anwalt das Informationsrecht des strafrechtlich Verfolgten garantieren, kann er also dafür Gewähr tragen, dass dieser über die Konsequenzen der Verfahrenswahl Bescheid weiß, so dass der strafrechtlich Verfolgte sich nicht blind und ohne Wissen um die sich daraus ergebenden Folgen auf eine Verständigung einlässt. Dadurch kann die Verständigung aber erst ihre wirkliche Relevanz entfalten. Außerdem kann der Anwalt dem strafrechtlich Verfolgten professionelle und zutreffende Rechtsberatung geben, die es dem strafrechtlich Verfolgten erlaubt, die ihm von der Verfassung und dem cStPG zugesicherten Verfahrensrechte wahrzunehmen. Das dient einer materiellen Verständigung. Zuletzt kann der Anwalt trotz der Voraussetzung, dass der strafrechtlich Verfolgte bei der Verständigung seine Schuld 7  Hu Yunteng (胡云腾) (Hrsg.), Verständnis und Anwendung der Verständigung im Strafrecht (认罪认罚从宽制度的理解与适用), People’s Court Press (人民法院出版 社), 2018, S. 4. 8  Siehe Zuo Weimin (左卫民), Konflikt und Konkurrenz: Analyse des strafprozessualen Modells – eine Lektüre von Prof. Parkers „World of Criminal Sanctions“ (冲 突与竞合:刑事诉讼的模式分析—读帕克教授的〈刑事制裁的界限〉), Tribune of Political Science and Law (政法论坛), 2017, Nr. 5, S. 188.

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eingesteht und in seine Strafe einwilligt auch unter der Bedingung eines Schuldplädoyers versuchen, sein Fachwissen einzusetzen und die materiellen und prozessualen Interessen des Tatverdächtigen bzw. des Angeklagten zu maximieren. Dadurch kann der Anwalt verhindern, dass ein strafrechtlich Verfolgter auf Grund seiner juristischen Unwissenheit Interessen verspielt, die ihm in der Verständigung zustehen. Auf Grund dieser praktischen Bedeutung sollte die chinesische juristische Praxis der Mitwirkung des Anwalts an der Verständigung im Strafverfahren die ihr zustehenden Möglichkeiten einräumen. Nach den entsprechenden Bestimmungen des cStPG kann der Anwalt seine Tätigkeit bei der Verständigung in zweifacher Weise einbringen. Zum einen kann er über das Strafmaß verhandeln, d. h. er kann im Verfahrensabschnitt von Anklage und gerichtlicher Verhandlung und nach dem freiwilligen Schuldeingeständnis bzw. der freiwilligen Strafanerkennung durch den strafrechtlich Verfolgten mit der Staatsanwaltschaft über die Strafzumessung verhandeln. Auch in diesem Verfahrensabschnitt muss der Anwalt für seinen Mandanten danach streben, dessen maximalen Vorteil zu sichern. Zum anderen ist der Anwalt Zeuge, wenn sein Mandant einen Schriftsatz über die erfolgte Verständigung unterschreibt. Das cStPG bestimmt, dass der strafrechtlich Verfolgte in Fällen, in denen eine Verständigung erreicht wird, einen Schriftsatz über die Verständigung an Eides statt unterschreiben muss. Wenn er diesen Schriftsatz unterschreibt, dann muss ein Anwalt zugegen sein. Gleichzeitig erläutert das von HU Yunteng (胡云腾), Richter am 1. Strafsenat des Obersten Volksgerichtshofs, herausgegebene Werk Verständnis und Anwendung der Verständigung im Strafrecht (认罪认罚从宽制 度的理解与适用): „Die Anwesenheit, von der hier gesprochen wird, sollte nicht nur einfach als das Zusehen bei der Unterschrift an Eides statt verstanden werden, sondern muss als aktive Teilnahme an den Verhandlungen aufgefasst werden, durch welchen dem Tatverdächtigen ein effektiver Rechtsbeistand zu Teil wird, so dass dadurch garantiert wird, dass der Tatverdächtige bei Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung tatsächlich eine mildere Sanktion erhält.“9 Hieraus wird ersichtlich, dass die Anwesenheit bei der Unterschrift an Eides statt dazu beiträgt, dass der Anwalt seine Pflichten gewissenhaft ausführt und dem strafrechtlich Verfolgten wirklich professionellen Service zukommen lässt. Er garantiert dadurch, dass der strafrechtlich Verfolgte den Inhalt der Verständigung und die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen tatsächlich vollkommen erfasst. Gleichzeitig gewährleistet er dadurch, dass es zu keinerlei Abweichungen oder Auslassungen kommt.

9  Hu Yunteng (胡云腾) (Hrsg.), Verständnis und Anwendung der Verständigung im Strafrecht (认罪认罚从宽制度的理解与适用), People’s Court Press (人民法院出版 社), 2018, S. 32.



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Nachdem wir Bedeutung und Weg der Teilnahme des Anwalts an der Verständigung im Strafrecht geklärt haben, tritt die Frage, die wir uns stellen, deutlich hervor: sieht sich die Anwaltschaft durch die Verständigung im Strafrecht neuen Aufgaben gegenüber? Bevor wir diese Frage beantworten, müssen wir noch einen Begriff klären, denn wir müssen uns überlegen, ob es zwischen den Anwälten, die an einer Verständigung teilnehmen, Unterschiede gibt. Im Zuge der Einführung des sogenannten diensthabenden Anwalts im cStPG gibt es Stimmen in der Wissenschaft, welche die Anwälte, die an der Verständigung teilnehmen, in drei Kategorien aufteilen. Erstens sind dies Anwälte, welche ihr Mandat direkt vom Tatverdächtigen bzw. vom Angeklagten erhalten, zweitens sind es Anwälte, welche im Rahmen der Rechtshilfe (legal aid) agieren, und drittens sind es diensthabende Anwälte.10 Hieraus ergibt sich ein praktisches Problem, die ersten beiden Arten von Anwalt üben offensichtlich die Funktion eines Verteidigers aus. Ob aber der diensthabende Anwalt als Verteidiger zählen kann, ist eine Frage, die in der Wissenschaft sehr kontrovers diskutiert wird. Es gibt Stimmen, die direkt davon ausgehen, dass der diensthabende Anwalt ein Verteidiger ist und dass daher seine Stellung und seine Rechte mit denen eines normalen Verteidigers gleich sind11; es gibt aber auch Stimmen, die davon ausgehen, dass der diensthabende Anwalt nur die Rolle einer juristischen Hilfsperson (法律帮助人) bekleiden, sodass sie keine Rechte der Verteidigung besitzen12. Nachdem das cStPG im Jahr 2018 ausdrücklich bestimmt hat, dass der diensthabende Anwalt lediglich als juristische Hilfsperson fungiert, hat sich diese Debatte verändert. Selbst GU Yongzhong, der stets kategorisch auf der Position beharrte, dass ein diensthabender Anwalt die Rechte eines Verteidigers habe, musste in einem seiner Artikel einräumen, dass „der diensthabende Anwalt kein Verteidiger ist“.13 Auf Grund dessen erklärt die Autorin im Folgenden,

10  Gu Yongzhong (顾永忠), Der Einfluss der abermaligen Strafprozessreform von 2018 auf die Verteidigung durch den Anwalt, (2018年刑事诉讼法再修改对律师辩护 的影响), China Law Review (中国法律评论), 2019, Nr. 1, S. 194 f. 11  Siehe Gu Yongzhong (顾永忠)/Li Xiaoyao (李逍遥), Über die normative Stellung des diensthabenden Anwalts im chinesischen Recht (论我国值班律师的应然定 位), Hunan Technical University Journal (Sozialwissenschaften) (湖南科技大学学报 (社会科学版)), 2017, Nr. 4; Gu Yongzhong (顾永忠), Quellensuche: abermalige Diskussion der normativen Stellung des diensthabenden Anwalts (追根溯源:再论值 班律师的应然定位), Law Science Magazine (法学杂志), 2018, Nr. 9. 12  Siehe Han Xu (韩旭), Die Verständigung im Strafrecht im Strafprozess des Jahres 2018 (2018年刑诉法中认罪认罚从宽制度), Research on Rule of Law (法治研 究), 2019, Nr. 1. 13  Gu Yongzhong (顾永忠), Der Einfluss der abermaligen Strafprozessreform von 2018 auf die Verteidigung durch den Anwalt (2018年刑事诉讼法再修改对律师辩护 的影响), China Law Review (中国法律评论), 2019, Nr. 1, S. 195.

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welchen neuen Forderungen sich die Anwälte in der Verständigung im Strafrecht gegenüber sehen.

III. Forderungen an Anwälte, im Zuge institutioneller Neuerungen an einer Verständigung teilzunehmen Unabhängig von der Frage, ob der Verteidiger vom Strafverdächtigen oder vom Angeklagten beauftragt ist, ist dieser von der für Rechtshilfe zuständigen Behörde zu entsenden. Die Art und Weise, wie sich der Anwalt in die Verständigung einbringt, ist stark von der traditionellen Arbeit des Anwalts verschieden. Daher werden unsere Strafverteidiger mit vielen neuen Forderungen konfrontiert. Nur wer sich diesen Forderungen stellt, kann seine Berufung als Anwalt wirklich erfüllen und die Interessen des Mandanten garantieren. Nach Meinung der Autorin sind die neuen Anforderungen zwar nicht auf folgende Aspekte eingeschränkt, dennoch sind diese Aspekte konkrete Inhalte dieser Anforderungen: 1. Starke Verkürzung der Verhandlungsdauer, Verlagerung der Anwaltsarbeit auf die Phase vor der Verhandlung Nach den Bestimmungen des cStPG schließt sich an die Verständigung im Strafrecht sehr oft ein beschleunigtes Verfahren (速裁程序) oder ein vereinfachtes Verfahren (简易程序) an. Die Wahl eines solchen Verfahrens impliziert, dass eine Untersuchung durch das Gericht nicht notwendig ist und dass deshalb keine Verhandlung vor Gericht stattfindet. Grundsätzlich gibt das Gericht der Strafforderung der Staatsanwaltschaft immer statt, so dass die tatsächliche Verfahrensdauer vor Gericht oft nur zehn Minuten wärt14 oder sogar noch kürzer ist. In solch einer kurzen Zeit kann der Verteidiger auf keinen Fall langwierige Ausführungen machen oder ausschweifend sein Verteidigungsplädoyer erklären. Deshalb muss sich die wesentliche Arbeit des Verteidigers auf die Zeit vor der Gerichtsverhandlung konzentrieren, insbesondere muss er während der Prüfung der Anklage mit der Staatsanwaltschaft verhandeln.15 Zu diesem Zeitpunkt sind Rechtsanwalt und Staatsanwalt14  Siehe Chen Ruihua (陈瑞华), Strittige Fragen bei der Verständigung im Strafrecht (认罪认罚从宽制度的若干争议问题), China Legal Science (中国法学), 2017, Nr. 1, S. 37. 15  Üblicherweise sind die Ermittlungen Aufgabe der chinesischen Polizei (also Aufgabe der Behörden für öffentliche Sicherheit). Kommen diese zu dem Schluss, dass in einem Fall Anklage erhoben werden sollte, übergeben sie den Fall an die Staatsanwaltsccaft, welche auf Grund der Beweislage die Anklage formuliert und im Rahmen dessen auch eine konkrete Strafforderung aufstellt (Anmerkung des Übersetzers).



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schaft nicht wie bislang Kontrahenten vor Gericht, sondern werden zu Verhandlungspartnern. Auf der einen Seite hofft die Staatsanwaltschaft, dass der strafrechtlich Verfolgte durch diese Verhandlungen dazu kommt, seine Schuld einzugestehen und in seine Bestrafung einzuwilligen, so dass das Verfahren zügig vorankommt. Auf der anderen Seite hofft der Anwalt, dass sein Mandant durch die Verständigung zu einer milderen Bestrafung kommt. Diese Übereinstimmung in einem gemeinsamen Ziel führt dazu, dass zwischen Rechtsanwalt und Staatsanwaltschaft die Möglichkeit der Zusammenarbeit erscheint. Natürlich ist diese Zusammenarbeit lediglich beschränkt, der Anwalt als Verteidiger muss immer danach trachten, im Verfahren und in materieller Hinsicht das Beste für seinen Mandanten zu erreichen. Der Verteidiger muss daher lernen, wie er seine Verteidigungstechniken im Laufe der Verhandlung mit der Staatsanwaltschaft einsetzen kann, um seinem Mandanten zu helfen. Insbesondere wenn Verteidiger und Staatsanwaltschaft bei der Einordnung bestimmter Tatsachen oder bei der Einschätzung bestimmter Beweise unterschiedlicher Meinung sind, ist es wichtig, dass der Verteidiger erkennt, wie er seine Sicht der Dinge optimal in die Verhandlung einbringt, um dadurch einerseits eine mildere Sanktion in der Verständigung zu erreichen, andererseits zu vermeiden, dass die Verständigung nur in formaler Hinsicht stattfindet, sich in der Realität aber die Staatsanwaltschaft komplett mit ihrer Sicht der Dinge durchsetzt. Abgesehen davon muss der Verteidiger für den Fall, dass sich in den Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft die Unterzeichnung einer Erklärung an Eides statt abzeichnet, unbedingt mit dem Mandanten dahingehend verhandeln, dass er eine professionelle juristische Meinung zu Fragen abgibt, wie etwa der Entscheidung für oder gegen eine Verständigung, den Zeitpunkt der Verständigung, eine Einteilung der Tatsachen und Beweise in solche, die eindeutig sind, so dass sie Teil einer Verständigung sein sollten, und welche nicht ausreichend sind, so dass sie aus einem Schuldeingeständnis ausgeschlossen sein sollten. Zusammenfassend ist zu sagen, dass der Verteidiger bei der Teilnahme an der Verständigung unbedingt seine traditionellen Denkstrukturen als Verteidiger verändern muss, so dass er seine Hauptarbeit auf den Verfahrensabschnitt vor der Anklage verlegt, insbesondere auf den Abschnitt der Klageprüfung. 2. Notwendigkeit des Verteidigers, den strafrechtlich Verfolgten zu Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung zu bewegen? In Strafsachen ist der Verteidiger meist der einzige im Umkreis des Tatverdächtigen bzw. des Angeklagten, der tatsächlich über juristische Fachkenntnisse verfügt und dem dieser vertrauen kann. Daher beeinflusst die Meinung des Verteidigers in sehr hohem Maße die Wahl des strafrechtlich Verfolgten. Aus diesem Grund muss der Strafverteidiger sorgfältig prüfen, ob er dem

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Tatverdächtigen oder dem Angeklagten raten soll, eine Verständigung anzustreben. Für den strafrechtlich Verfolgten ist die Verständigung im Strafverfahren deshalb interessant, weil sie eine mildere Sanktion zur Folge haben kann, wobei dies im Verfahren ein Ende der Untersuchungshaft oder sogar ein Verzicht auf Anklage bedeuten kann, während es in materieller Hinsicht eine Verringerung des Strafrahmens bewirken kann. In den Modellversuchen zur Verständigung hat sich gezeigt, dass das Verhältnis der Fälle, in denen die Untersuchungshaft ausgesetzt oder auf die Anklage verzichtet wurde, signifikant höher lag, als in Gerichtsbezirken ohne Verständigung.16 Wenn also ein Anwalt auf Grund seiner eigenen Meinung einem Mandanten von einer Verständigung abrät, dann verliert der Mandant diese möglichen Vorteile und der Anwalt verletzt offensichtlich seine Berufspflichten. Wenn das aber dazu führt, dass in allen Fällen nach der Meinung der Staatsanwaltschaft auf ein Schuldeingeständnis und auf eine Verständigung hingearbeitet wird, dann ist dies der Verzicht auf ein Unschuldsplädoyer, was am Ende ebenfalls ein Schaden für die Interessen des Mandanten darstellt. Der Verteidiger wäre bei einem solchen Szenario lediglich ein Kooperationspartner der Justizbehörden, was die Verhandlungen zwischen Verteidiger und Staatsanwaltschaft entwertet. Natürlich gibt es Stimmen, die der Auffassung sind, der Maßstab für das Anraten einer Verständigung sei klar, denn er richtet sich an der Frage, ob die Tatsachen klar und die Beweise vollständig und aussagekräftig sind. Es ist jedoch wie weiter oben bereits erwähnt – das Schlüsselproblem liegt darin, dass Verteidiger und Staatsanwaltschaft sehr wahrscheinlich in ihren Verhandlungen bezüglich einer bestimmten Tatsache oder bezüglich einem bestimmten Beweismittel unterschiedlicher Ansicht sind. Dabei wird die Staatsanwaltschaft dafür plädieren, dass sich der strafrechtlich Verfolgte auf eine Verständigung einlassen soll, während der Verteidiger sich überlegen muss, ob er bei seiner Einschätzung bleibt? Auf Grund dessen wird der Verteidiger die Verbrechenstatsache und die Beweismittel zusammen betrachten, um dann zu beurteilen, nach welchem Standard er die Entwicklung dieses Falles weiter treiben will. Es handelt sich hier um eine äußerst wichtige Entscheidung. Die Autorin ist der Auffassung, dass der Verteidiger unter der Voraussetzung der konkreten Fallanalyse sein Hauptaugenmerk auf diejenigen Beweise legen sollte, die auf mündlichen Aussagen beruhen. Allgemein geben mündliche Beweise oft Anlass zu Zweifeln an deren Wahrheitsgehalt und Zuverlässigkeit.17 Der Verteidiger muss aus dem Blickwinkel des Richters beurteilen, ob der Fall auch unter Ausschluss des mündlichen Beweises 16  Siehe Hu Yunteng (胡云腾) (Hrsg.), Verständnis und Anwendung der Verständigung im Strafrecht (认罪认罚从宽制度的理解与适用), People’s Court Press (人民法 院出版社), 2018, S. 34 f. 17  Siehe Wang Jiancheng (汪建成)/Sun Yuan (孙远), Regelsystem der mündlichen Aussage im chinesischen Strafprozess (刑事诉讼中口供规则体系论纲), Journal of



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zu einem Schuldurteil führt. Wenn dies der Fall ist, dann sollte er dem Mandanten zu einem Schuldeingeständnis anraten, um dadurch seine realen Interessen zu schützen. Wenn dem mündlichen Beweis in der Beweiskette eine Schlüsselrolle zukommt, so dass sich hieran die Einordnung des Falls entscheidet, dann sollte der Verteidiger genau kalkulieren, ob er die im StPG ausgewiesenen Rechte zur Beweismittelerhebung nach Möglichkeit ausnutzt und versucht, von anderen Personen als dem strafrechtlich Verfolgten, also von Zeugen oder dem Opfer, eine Aussage zu erhalten, um erst danach eine Gesamtbewertung durchzuführen. Wenn alle Beweismittel eines Falls, einschließlich der mündlichen, in der Zusammenschau nicht das für die Beweisführung notwendige Level erreichen, dann sollte an der Ablehnung der Verständigung offensichtlich festgehalten werden, ja es sollte im Gegensatz die Forderung an die Staatsanwaltschaft ergehen, sich auf Grund mangelnder Beweise für das Absehen von Anklage zu entscheiden. Natürlich ist der Standard der mündlichen Beweise kein absoluter, denn in bestimmten Sonderfällen, so etwa bei Verstößen gegen die sexuelle Selbstbestimmung, sind u. U. sehr viele mündliche Aussagen vorhanden18, so dass eine Einzelabwägung aller mündlichen Beweismittel nach deren Effekt und Glaubwürdigkeit nicht praktikabel ist. In solch einem Fall muss der Verteidiger eine Gesamtwürdigung des Falls durchführen, seine Überredungs- und Verhandlungskünste bemühen und versuchen, dem Mandanten so gut wie möglich den Fortgang des Falls zu erklären und durchzusprechen, so dass der strafrechtlich Verfolgte nach Möglichkeit selber die Entscheidung trifft, ob er sich auf eine Verständigung einlassen möchte. In diesem Zusammenhang sollte noch beachtet werden, dass der Verteidiger möglichst früh entscheiden sollte, ob er auf eine Verständigung hinarbeitet, denn Untersuchungen haben ergeben, dass „es bei der Bestimmung des Strafmaßes das Schlagwort des 321 gibt: erfolgt die Verständigung bei der Polizei, reduziert sich das Strafmaß um 30 %, erfolgt sie bei der Staatanwaltschaft, reduziert es sich um 20 %, erfolgt sie vor Gericht, reduziert es sich nur um 10 %“.19 Obwohl es sich hier nicht um eine normative Forderung handelt, so wirkt sich eine frühe Entscheidung

Peking University (Philosophy and Social Science) (北京大学学报(哲学社会科学 版)), 2002, Nr. 2, S. 74. 18  Siehe z. B. das Urteil (2017) Ji (吉), 24 Strafsache, endgültige Entscheidung, Nr. 10 ((2017) 吉24刑终10号); in dem zweitinstanzlichen Beschluss in Sachen „Pu Ri begeht eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, zweitinstanzlicher Beschluss“ (朴日犯强奸罪二审刑事裁定书) werden insgesamt 15 Beweismittel aufgeführt, da­runter sind 10 Beweismittel mündliche Aussagen. 19  Hu Ming (胡铭), Die Stellung des Anwalts in der Verständigung und seine ­Verbesserung – eine positivistische Analyse der Stadt H in der Provinz Z (律师在认 罪认罚从宽制度中的定位及其完善—以Z省H市为例的实证分析), Criminal Science (中国刑事法杂志), 2018, Nr. 5, S. 123.

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für eine Verständigung notwendigerweise positiv für den strafrechtlich Verfolgten aus. 3. Die Verständigung verlangt vom Anwalt häufig, auf schuldig zu plädieren So wie das Schuldplädoyer beim Plea Bargain im US-amerikanischen Strafrecht eine prominente Stellung einnimmt,20 so kann der Verteidiger auch bei der Verständigung nicht für die Unschuld seines Mandanten plädieren. Der Hauptunterschied, der sich aus Perspektive des Verteidigers bei Unschuldsplädoyer und Schuldplädoyer ergibt, ist die Verschiebung von einem reinen materiellen Interesse hin zu einem kombinierten Interesse mit mate­ riell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Bezügen. Wenn das Plädoyer auf unschuldig lautet, dann ist dies gleichbedeutend damit, dass der strafrechtlich Verfolgte keinerlei strafrechtlichen Sanktionen unterworfen sein soll. Daher muss der Anwalt alle Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zurückweisen und Kernstücke der von der Staatsanwaltschaft vorgelegten Beweiskette angreifen, um dadurch einen Mangel an Beweisen oder Unklarheiten im behaupteten Sachverhalt hervorzurufen. Ziel dabei ist es, die Einschränkungen des Mandanten durch das Strafverfahren gänzlich abzustreifen. Wenn aber der strafrechtlich Verfolgte bei der Verständigung bereits seine Schuld eingestanden hat, dann ist es offensichtlich, dass der Verteidiger für seinen Mandanten Verfahrensinteressen wahrnehmen muss. So kann er z. B. durch Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft erreichen, dass sein Mandant aus der Untersuchungshaft entlassen wird, dass er unter Führungsaufsicht gestellt wird, oder dass er sogar einen Beschluss über die Nicht-Anklage erwirken kann. Je nach Art und Schwere des Falls kann er auch versuchen, für strafrechtlich Verfolgte, die bereits verhaftet sind, einen Antrag auf Änderung von Zwangsmaßnahmen zu stellen oder vor einer drohenden Verhaftung einen Beschluss über die Aussetzung der Verhaftung erwirken. Bezüglich des materiellen Interesses geht die Autorin davon aus, dass der Anwalt den Schwerpunkt seiner Arbeit hier darauf richten sollte, dass er für seinen Mandanten nach Gründen für ein milderes Urteil oder für eine Reduzierung des Strafmaßes suchen sollte, so etwa wenn er dem strafrechtlich Verfolgten dazu rät, das Opfer und dessen Angehörige aktiv zu entschädigen, um dadurch deren Vergebung zu erlangen; wenn er nachweist, dass es das erste Verbrechen ist, dass es sich um ein zufälliges Verbrechen handelt, dass das Schuldeingeständnis mit echter Reue einhergeht, oder dass das Opfer eine Mitschuld trägt usw. 20  Qi Jianjian (祁建建), Analyse des „Plea Bargain Standard“ im „Criminal Justice Standard“ der amerikanischen Bar-Association (美国律协〈刑事司法标准〉之 〈有罪答辩标准〉评析), Criminal Science (中国刑事法杂志), 2016, Nr. 5, S. 144.



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Zusammenfassend können wir sagen, dass der Verteidiger unter dem Eindruck des neuen Systems seine Vorstellung von Verteidigung ändern muss. Er muss die neuen Probleme, die sich innerhalb der Verständigung im Strafrecht ergeben gezielt angehen, um die neuen Anforderungen erfüllen zu können. Dennoch ist die Kernforderung, der er sich gegenüber sieht, nach wie vor das Festhalten an einer Maximierung der materiellen und prozessualen Interessen des strafrechtlich Verfolgten.

IV. Weg, Bedeutung und Probleme der Berufsausübung des diensthabenden Anwalts Der diensthabende Anwalt bezeichnet üblicherweise einen Anwalt, der von der Behörde für Rechtshilfe (法律援助机构) damit beauftragt ist, längerfristig am Gericht oder am Untersuchungsgefängnis seine Amtsgeschäfte zu verrichten. Er gibt auf diesem Weg denjenigen Antragstellern (Tatverdächtigen, Angeklagten) Rechtsbeistand, welche die notwendigen Voraussetzungen mitbringen.21 Zu Beginn wurde dieses System eingerichtet, um denjenigen unter den strafrechtlich Verfolgten zu helfen, die keinen Anwalt als Verteidiger verpflichtet haben und die keinen Anspruch auf einen Pflichtverteidiger besitzen, den die Rechtshilfe stellen würde. Dadurch soll garantiert werden, dass dieser Personenkreis im Strafverfahren ebenfalls die Rechte auf Information, Verteidigung und Wahl grundsätzlich wahrnehmen können. Im Zusammenhang mit der Verständigung scheint die Einrichtung des diensthabenden Anwalts noch wichtiger zu sein. Das zentrale Element der Verständigung ist eine Verfahrenswahl, sprich: die Entscheidung für oder gegen Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung. Wenn der strafrechtlich Verfolgte keinen professionellen Rat eines Anwalts bekommt, dann kann er offensichtlich nur schwer eine passende Entscheidung treffen, die es ihm erlaubt, seine Interessen zu realisieren. Abgesehen davon ergibt sich die Wichtigkeit des diensthabenden Anwalts aus der Tatsache, dass er im Vergleich zum offiziellen Verteidiger in wesentlich mehr Fällen als Anwalt die Verständigung begleitet. Die Ursache hierfür liegt darin begründet, dass eine Verständigung in jedem Fall durchgeführt werden kann, während die chinesischen Statistiken ausweisen, dass nur in ca. 30 % aller Strafverfahren ein Verteidiger zugegen ist.22 Bei einer solch geringen Rate der Verteidigung hat die Institution des diensthabenden Anwalts ein weites Betätigungsfeld. Wenn wir dazu beachten, dass 21  Siehe Yao Li (姚莉), Rolle und Funktion des diensthabenden Anwalts im Verständigungsverfahren (认罪认罚程序中值班律师的角色与功能), Studies in Law and Business (法商研究), 2017, Nr. 6, S. 42. 22  Siehe Gu Yongzhong (顾永忠), Studien offensichtlicher Probleme, die sich für den Strafverteidiger in der Gerichtsverhandlung ergeben (以审判为中心背景下的刑 事辩护突出问题研究), China Legal Science (中国法学), 2016, Nr. 2, S. 71.

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China zurzeit dabei ist, die Institution des diensthabenden Anwalts vom Modellversuch auf das ganze Land auszuweiten, dann wird ein großer Prozentsatz derjenigen strafrechtlich Verfolgten, die keinen Verteidiger haben, die Hilfe der diensthabenden Anwälte suchen. Deshalb hofft die Autorin, durch eine Klärung der Funktionen des diensthabenden Anwalts der Bedeutung dieser Institution nachzuspüren. 1. Juristische Beratung § 36 cStPG bestimmt: „… der diensthabende Anwalt erteilt Rechtsberatung indem er dem strafrechtlich Verfolgten juristischen Rat erteilt, die Wahl eines Verfahrens vorschlägt, die Änderung von Zwangsmaßnahmen beantragt, und ein Votum für die Erledigung des Falles vorbringt.“23

Daraus ist ersichtlich, dass der erste Weg, über den der diensthabende Anwalt seine Kompetenz ausübt, das Anbieten von Rechtsberatung ist. Nachdem der diensthabende Anwalt die Funktion eines juristischen Helfers (法律 帮助人) erfüllen soll, bietet er rechtliche Beratung an. Diese konzentriert sich insbesondere auf Inhalte, nach denen sich der strafrechtlich Verfolgte erkundigt. Das ist aber nicht gleichbedeutend damit, dass er rechtliche Inhalte, nach welchen sich der strafrechtlich Verfolgte nicht erkundigt, grundsätzlich nicht ansprechen würde. Die Autorin ist der Auffassung, dass der Inhalt einer juristischen Beratung zwei Dinge umfassen sollte: die Aufklärung des strafrechtlich Verfolgten über seine Rechte und die Beantwortung der von diesem gestellten juristischen Fragen. Bei der Aufklärung des strafrechtlich Verfolgten über seine Rechte sind materielle Rechte ebenso anzusprechen, wie Verfahrensrechte. In Verbindung mit der Verständigung im Strafverfahren heißt dies, dass die Aufklärungspflichten des diensthabenden Anwalts insbesondere folgende Punkte beinhalten, dass sie sich aber nicht auf diese beschränken: (1) er sollte in einfachen und leicht verständlichen Worten die Bedeutung der Verständigung im Strafverfahren erklären, sodass der strafrechtlich Verfolgte insbesondere über die Rechtsfolgen einer Verständigung informiert ist. Konkret beinhaltet dies: eine Verständigung hat notwendig zur Folge, dass der strafrechtlich Verfolgte als schuldig gilt; dazu ist im Normalfall das Verbrechen, dessen der Verfolgte schuldig ist, mit dem ihm von der Staatsanwaltschaft angelasteten identisch. Bei der Strafzumessung folgt das Gericht üblicherweise dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft

23  …值班律师为犯罪嫌疑人、被告人提供法律咨询、程序选择建议、申请变更 强制措施、对案件处理提出意见等法律帮助.



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und lässt dem Angeklagten eine relativ mildere Strafe zukommen.24 (2) Information des strafrechtlich Verfolgten, dass er ein Recht auf das Verfahren der Verständigung hat, dass dies aber natürlich auch das Recht beinhaltet, dieses Verfahren nicht zu wählen. (3) Information des strafrechtlich Verfolgten, dass er ein Recht dazu hat, Rechtshilfe zu beantragen. So er die Voraussetzungen dazu erfüllt, kann er einen Antrag auf Verteidigung durch einen Anwalt der Rechtshilfe stellen. Bezüglich der fachlichen Fragen, die der strafrechtlich Verfolgte an den diensthabenden Anwalt stellt, gilt grundsätzlich, dass der diensthabende Anwalt diese zu beantworten hat. Ausgenommen hiervon sind nur Belange, die Staatsgeheimnisse betreffen, die gegen die Berufsethik des Anwalts verstoßen oder die den Fortgang des Verfahrens behindern, sodass Fragen hiernach abgelehnt werden müssen. Gleichzeitig muss der diensthabende Anwalt angeben, welche Aufgaben er nicht versehen kann, denn er kann z. B. nicht als diensthabender Anwalt die Verteidigung vor Gericht durchführen. Wenn der diensthabende Anwalt eine solche Ablehnung ausspricht, dann muss er gleichzeitig aufzeigen, wie der betreffende Sachverhalt richtig gelöst werden sollte. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der diensthabende Anwalt sich bei seiner juristischen Beratung immer der Tatsache klar sein muss, dass er nur die Stellung einer juristischen Hilfsperson ausübt, die auf der einen Seite Fragen und Zweifel des strafrechtlich Verfolgten ausräumen soll, die auch dabei helfen soll, die Institution der Verständigung zu realisieren, die aber auf der anderen Seite die Kompetenzschranken des diensthabenden Anwalts überschreiten darf. Der Unterschied zwischen diensthabendem Anwalt und Verteidiger darf also nicht verwischt werden. 2. Vorschlag zur Verfahrenswahl Der Vorschlag zur Verfahrenswahl umfasst konkret den Rat an den strafrechtlich Verfolgten, die Entscheidung für oder gegen das Verfahren der Verständigung im Strafrecht zu treffen und welche Art von Strafverfahren sich an die Verständigung anschließen soll. Dies ist offensichtlich im Bereich der Verständigung die Kernkompetenz des diensthabenden Anwalts. Die Autorin ist der Meinung, dass eine Empfehlung des diensthabenden Anwalts für oder gegen eine Verständigung sehr vorsichtig gefällt werden sollte. Gründe dafür sind auf der einen Seite die Tatsache, dass es dem diensthabenden Anwalt sehr wahrscheinlich nicht möglich ist, die Akte zu lesen. Da das cStPG 24  Wu Xiaojun (吴小军), Funktion und Arbeitsweise des diensthabenden Anwalts in China – unter besonderer Berücksichtigung der Verständigung im Strafrecht (我国 值班律师制度的功能及其展开—以认罪认罚从宽制度为视角), Journal of Law Application (法律适用), 2017, Nr. 11, S. 113.

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einerseits nicht ausdrücklich erwähnt hat, dass dem diensthabenden Anwalt ein Akteneinsichtsrecht zukommt, ist es diesem auch nicht möglich, den Fall wirklich umfassend zu verstehen. Andererseits kommt der Entscheidung für oder gegen die Verständigung eine große Wichtigkeit zu, denn sie ist dazu geeignet, die Richtung des gesamten Verfahrens zu beeinflussen. Deswegen ist die Autorin davon überzeugt, dass der diensthabende Anwalt dem strafrechtlich Verfolgten nur schwer einen klaren Rat bezüglich der Frage geben kann, ob eine Verständigung angestrebt werden sollte oder nicht? Wenn in den Bestimmungen des cStPG von einem Vorschlag zur Verfahrenswahl die Rede ist, dann bedeutet dies, dass konkreter Inhalt und Rechtsfolgen dieser Wahl erklärt werden müssen. Erst danach kann dem strafrechtlich Verfolgten dabei geholfen werden, das passende Verfahren zu wählen. Das entspricht dann auch der Stellung des diensthabenden Anwalts als juristischer Hilfsperson und verhindert, dass der diensthabende Anwalt auf Grund fehlender Einsicht in den Fall einen falschen Rat gibt, der am Ende beide schädigt, den strafrechtlich Angeklagten und den diensthabenden Anwalt. 3. Antrag auf Änderung von Zwangsmaßnahmen Wie bereits oben gesagt kann sich bei der Verständigung die mildere Sanktion des strafrechtlich Verfolgten sowohl auf prozessuale Interessen, als auch auf materielle Interessen beziehen. Das herausragendste prozessuale Interesse ist die Umwandlung von Zwangsmaßnahmen, insbesondere die Verringerung der Untersuchungshaft. Bis dato ist die Rate der Untersuchungshaft in China immer vergleichsweise hoch gewesen, Arrest und Verhaftung sind häufig.25 Ein Grund für die Einführung der Verständigung im Strafrecht ist das Ziel, diese Situation zu ändern. Der diensthabende Anwalt kann, wenn der strafrechtlich Verfolgte bereits im Rahmen von Zwangsmaßnahmen verhaftet oder unter Arrest gestellt wurde und wenn er sich für das Eingeständnis ihrer Schuld bzw. die Einwilligung in die Strafe entscheidet, in seinem Namen einen Antrag auf Änderung der Zwangsmaßnahmen an die Staatsanwaltschaft stellen. Wenn ein strafrechtlich Verfolgter keine Sozialgefährlichkeit aufweist, dann sollte er geringeren Zwangsmaßnahmen unterworfen sein, so könnte etwa beim Warten auf die weiteren Verfahrensschritte auf Kaution oder Hausarrest erkannt werden. Für einen strafrechtlich Verfolgten sind dies sehr reale Interessen, die auch verhindern, dass dieser Proxy-Strafen erleiden muss, gleichzeitig wird dadurch sein Recht auf Freizügigkeit in der größtmöglichen Weise respektiert. 25  Siehe Guo Lian (郭烁), Schwankende Fortschritte: Analyse der hohen Rate an Untersuchungshäftlingen vor dem Hintergrund des neuen Strafprozessrechts (徘徊中前 行:新刑诉法背景下的高羁押率分析), Jurists Review (法学家), 2014, Nr. 4, S. 85 f.



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4. Votum zur Fallerledigung Wenn der diensthabende Anwalt an der Verständigung teilnimmt, dann kann er ein Votum zur Erledigung des vorliegenden Falles abgeben. Dieses Votum beinhaltet zwei konkrete Momente: zum einen kann er vor einem Schuldeingeständnis des Tatverdächtigen bzw. des Angeklagten seine Meinung zu der rechtlichen Bestimmung, die auf den Fall angewandt werden sollte, abgeben. Er kann hierzu auch mit der Staatsanwaltschaft in Verhandlungen eintreten, wobei er auch zu Fragen wie der Feststellung der Verbrechenstatsache, der Wirkung von Beweisen etc. im Zuge dieser Verhandlungen seine Meinung äußern kann. Er kann sogar verlangen, dass der strafrechtlich Verfolgte nicht angeklagt wird. Zum anderen kann der diensthabende Anwalt nachdem der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte seine Schuld freiwillig eingestanden hat seine Meinung zur Frage der Strafzumessung Kund tun, was die Art der Strafe, die Art der Vollstreckung usw. beinhaltet. Er kann versuchen, für den strafrechtlich Verfolgten eine Bewährungsstrafe zu erwirken, ein mildes Urteil oder sogar einen teilweisen Straferlass und andere materielle Interessen zu erreichen. Weil die Verständigung, wenn sie denn bis zur gerichtlichen Verhandlung kommt, meist darin endet, dass der Richter den Paragraphen der Anklage und das von der Staatsanwaltschaft vorgeschlagene Strafmaß akzeptiert, sind die Verhandlungen des Anwalts mit der Staatsanwaltschaft, die vor der offiziellen Anklage stattfinden, besonders wichtig. Der diensthabende Anwalt sollte mit verantwortlicher und realistischer Haltung in diese Verhandlungen gehen, frei seine Meinung vertreten, und dadurch garantieren, dass der strafrechtlich Verfolgte auch in diesem Verfahrensabschnitt der Verständigung sein Recht auf Verteidigung wahrnehmen kann. Wenn wir den Weg, auf dem der diensthabende Anwalt seine Berufspflichten erfüllt, zusammenfassend analysieren, dann sehen wir, dass die Einrichtung des diensthabenden Anwalts die Verständigung im Strafrecht genauso legitimieren kann, wie das beschleunigte Verfahren. Dadurch wird auch das derzeit bestehende Problem, dass die Quote der Fälle, in denen ein Anwalt als Verteidiger auftritt, sehr niedrig ist, verringert. Dazu wird es hierdurch strafrechtlich Verfolgten, die sich keinen Anwalt leisten können, ermöglicht, einen qualifizierten Rechtsbeistand zu erlangen. Das wiederum garantiert deren Rechte und verbessert das System des Rechtsschutzes, um hierdurch zu garantieren, dass strafrechtlich Verfolgte von der Justiz gerecht behandelt werden. Es ist also ein Beitrag zur Verwirklichung der Gerechtigkeit. Gleichzeitig müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, dass das System des diensthabenden Anwalts, wie es in der Realität praktiziert wird, durchaus noch Probleme aufweist. So etwa – wie oben erläutert – wenn der diensthabende Anwalt kein Recht zur Einsicht in Akten und Beweismittel hat, weil er

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nicht offiziell als Verteidiger gilt. Daher kann er nur sehr schwer die Situation des Falls in seiner gesamten Tragweite erfassen. Als Konsequenz dessen ist es dem diensthabenden Anwalt schwer, einen qualifizierten juristischen Rat zu geben und für die Wahl eines spezifischen Verfahrens zu plädieren. Wenn er unter diesen Voraussetzungen ein Votum in dem Fall abgibt, dann fehlen ihm Gründe und Fokus. Diese Probleme müssen in der Zukunft durch Justizreform und Gesetzgebung angegangen werden, um dadurch zu einer noch stärkeren Einbindung des diensthabenden Anwalts in die Verständigung zu gelangen.

Transparenz und Vorhersehbarkeit durch Verständigung? 通过认罪协商交易实现公开性和可预知性? Arndt Sinn*

I. Einleitung Die Diskussion um die Verständigung wurde und wird nach wie vor sehr emotional geführt. Es ist von „Krebsgeschwüren“1 die Rede, von Justizkorruption2, von einer Scheinlösung3 und der Strafprozess des liberalen Rechtsstaats wird wortgewaltig mit einem deutschen Requiem zu Grabe getragen4. Es fällt nicht leicht, sich dieser Debatte zu entziehen und sich zurückhaltend in Analyse und Bewertung der Regelungen zu üben. In diesem Beitrag soll es um einen eher wenig beleuchteten Aspekt bei Verständigungen gehen, nämlich darum, ob durch Verständigungen das Strafverfahren transparenter wird und damit gleichzeitig auch das Maß an Vorhersehbarkeit einer Entscheidung zunimmt. Denn nicht zu übersehen ist, dass Verständigungen Kommunikation voraussetzen und diese Kommunikationsprozesse für die verfolgte Person die Chancen erhöhen, die Art und das Maß der Strafe vorherzusehen.

II. Verständigungsregelungen als Kommunikationsregelungen Grundlage einer jeden Verständigung ist Kommunikation. Das ist keine Besonderheit des Rechts oder gar des Strafprozesses. Kommunikation ist vielmehr eine wesentliche Grundlage sozialer Entwicklung und Existenz.

*  Prof.

Dr. Prof. h. c. Arndt Sinn, Universität Osnabrück. in: Die Zeit v. 26.1.2007 (http://www.zeit.de/online/2007/04/hartzprozess-urteil-kungelei; zuletzt: 07.04.2020). 2  So Kreuzer, in: Die Zeit v. 26.1.2007 (http://www.zeit.de/online/2007/04/hartzprozess-urteil-kungelei; zuletzt: 07.04.2020). 3  Deiters, GA 2014, 701 ff. 4  Schünemann, ZRP 2009, 104 ff. 1  Kreuzer,

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Soziale Systeme bilden sich erst durch Kommunikation.5 Das Recht ist Kommunikation. „Prozessrecht ist Recht der Kommunikation.“6 Es bedürfte nicht der Betonung dieser Banalitäten, wenn nicht gerade in der Stärkung der Kommunikation durch Verständigungen der „Türöffner“ zur Vernachlässigung tradierter Prozessrechtsgrundsätze (insb. § 244 Abs. 2 StPO) erblickt werden würde.7 Dabei wollte der Gesetzgeber zwar eine offene, kommunikative Verhandlungsführung des Gerichts stärken.8 Er wollte aber gerade kein neues, „konsensuales“ Verfahrensmodell einführen. Vielmehr hielt er am tradierten Prozessrechtsmodell fest, das dem fundamentalen und verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Wahrheitsermittlung sowie der Findung einer gerechten, schuldangemessenen Strafe verpflichtet ist.9 Damit stellte der Gesetzgeber klar, dass die Stärkung der Kommunikation zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht mit einer konsensualen Verfahrensbeendigung gleichgesetzt wird und damit auch nicht verwechselt werden darf. Kommunikation als Prozess und Konsens als Ergebnis eines Prozesses bedingen sich nur insoweit, dass jedem Konsens Kommunikation vorausgehen muss. Umgekehrt darf aber nicht der Schluss gezogen werden, dass das Ergebnis einer jeden Kommunikation ein Konsens ist. Kommunikation findet auch gerade dort statt, wo Dissens herrscht. Es lohnt sich an dieser Stelle, einen kleinen Exkurs zu den kommunika­ tionstheoretischen Grundlagen zu wagen: Luhmann beschreibt Kommunikation als „Synthese dreier Selektionen, als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen (…)“.10 Nach ihm realisiert sich Kommunikation dann, „wenn und soweit das Verstehen zustandekommt. Alles weitere geschieht ‚außerhalb‘ der Einheit einer elementaren Kommunikation und setzt sie voraus. Das gilt besonders für eine vierte Art von Selektion: für die Annahme bzw. Ablehnung der mitgeteilten Sinnreduktion. Man muss beim Adressaten der Kommunikation das Verstehen ihres Selektionssinnes unterscheiden vom Annehmen bzw. Ablehnen der Selektion als Prämisse eigenen Verhaltens.“11 Nutzt man diese Erkenntnisse für die Frage, ob die Verständigungen in direktem Zusammenhang zu einem konsensualen Verfahrensmodell stehen, so ist Macht, 2. Aufl. 1988, S. 5. Bittmann, in: Sinn/Schößling (Hrsg.), Praxishandbuch zur Verständigung im Strafverfahren, 2017, S. 19 ff. Rn. 1. 7  Vgl. die Stellungnahme des Deutschen Richterbundes im Urteil des BVerfG vgl. BVerfGE 133, 168 Rn. 45. 8  BT-Drs. 16/12310 S. 2. 9  Vgl. dazu Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 16/12310, S. 1, 8 f. 10  Luhmann, Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, 12.  Aufl. 2006, S. 203. 11  Luhmann, Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, 12.  Aufl. 2006, S. 203. 5  Luhmann, 6  Vgl.



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das eindeutig zu verneinen. Denn das Verstehen der mitgeteilten Information schließt die Kommunikation ab, nicht aber die Annahme oder die Ablehnung, also der Konsens oder Dissens mit der mitgeteilten Information. Erst wenn man den Blick zu den kommunikationstheoretischen Grundlagen öffnet wird klar, dass die gesetzlichen Regelungen zu Verständigungen im Kern solche sind, die Kommunikation regeln, nicht aber, eine konsensuale Verfahrenserledigung erwirken können. Es darf nicht übersehen werden, dass im Zentrum des Verständigungsprozesses der Vorschlag des Gerichts über den Inhalt einer Verständigung steht, § 257c Abs. 3 StPO. Mit welchem Inhalt und welcher Reichweite dieser Vorschlag ausgestaltet werden kann, wird in flankierenden Regeln in § 257c StPO festgelegt. Diesem Vorschlag kann der Angeklagte zustimmen. Der Konsens bei der Verfahrenserledigung setzt auf Seiten des Angeklagten also die Annahme des Verständigungsangebotes voraus. Diese Annahme des Angebotes ist Annahme der Kommunikation, nicht aber Teil des kommunikativen Geschehens. Denn wäre die Annahme (Konsens) ein Teil der Kommunikation, dann gäbe es bei der Ablehnung von Kommunikation (Dissens) keine Kommunikation, was Luhmann zu Recht als völlig unrealistische Begriffsbildung bezeichnet.12 Kommunikation zeichnet sich also dadurch aus, dass durch sie erst eine Situation für die Annahme oder Ablehnung eröffnet wird.13 Damit ist man nun zum Kern des § 257c StPO vorgedrungen: Es wird möglich, dass dem Angeklagten in nachprüfbarer Art und Weise und transparent eine Handlungsoption eröffnet wird. Auch die praktische richterliche Erfahrung, dass in einer Vielzahl von Fällen die Verteidigung auf das Gericht zugeht und eine Verständigung anregt, ändert nichts daran, dass die eigentliche Verständigungsinitiative mit dem Verständigungsangebot vom Gericht ausgehen muss. Der Angeklagte hat eben gerade kein „Recht auf Verständigung“. Er wird aber in „geeigneten Fällen“ versuchen, die Entscheidung des Gerichts grob zu antizipieren und die Unsicherheit über den Ausgang des Verfahrens zu minimieren. Deshalb wird er anregen, dass das Gericht ein Verständigungsangebot unterbreitet. Erst dieses Angebot eröffnet ihm die Handlungsoption der Annahme oder Ablehnung. Natürlich kann ein Verständigungsangebot auch dafür missbraucht werden, in ungeeigneten Fällen, zu einer Verfahrenserledigung aufgrund einer Verständigung zu gelangen. Bsp.: Das Gericht vermutet anhand der Aktenlage, dass ein Freispruch naheliegender ist, als eine Verurteilung. Dennoch unterbreitet es einen Ver12  Luhmann, Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, 12.  Aufl. 2006, S. 204. 13  Luhmann, Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, 12.  Aufl. 2006, S. 204.

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ständigungsvorschlag, der auch ein Geständnis des Angeklagten beinhaltet und stellt die Strafunter- und Strafobergrenze vor. Diese Verfahrensweise würde nicht nur den Voraussetzungen in § 257c Abs. 1 S. 1 StPO nicht entsprechen (kein „geeigneter“ Fall), das Gericht würde darüberhinaus auch in eklatanter Weise seine Macht missbrauchen. In o. g. Fall hat es die Beweisaufnahme durchzuführen und kein Angebot zu unterbreiten. Sollte sich aufgrund der Beweisaufnahme die Annahme des Gerichts, dass überwiegend ein Freispruch in Frage kommt, nicht bestätigen, kann die Frage, ob es sich nun um einen geeigneten Fall für eine Verständigung handelt, gestellt werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Verständigungsangebote im Kern Kommunikationsakte zur Eröffnung weiterer Handlungsoptionen sind, die nichts mit Konsens zu tun haben, solange kein Konsens erzielt wurde. Die Regelung in § 257c Abs. 3 S. 4 StPO, wonach eine Verständigung erst dann zustande kommt, wenn der Anklagte und die StA zustimmen, ändert nichts daran, dass damit nur die Annahme der Kommunikation verbunden ist. An diesem zusammenfassenden Befund kann man zunächst einmal nichts Befremdliches finden. Aus kommunikationstheoretischer Sicht sind Verständigungsangebote des Gerichts nichts anderes als bspw. Beweisanträge. Auch diese bestehen aus Mitteilung, Information und Verstehen und eröffnen dem Gericht die Handlungsoptionen der Annahme oder der Ablehnung. § 244 StPO legt die Regeln fest, nach denen die Annahme oder Ablehnung zu erfolgen hat. Dem gleichen Muster folgen auch andere Kommunikationsinstrumente, wie bspw. das Ablehnungsrecht, §§ 24 ff. StPO. Da Kommunikation die unbestimmte Beliebigkeit des jetzt noch Möglichen (Entropie) ausschließt, wirkt sie wie eine Einschränkung.14 Im Strafverfahren ist es aber genau das, was der Anklagte will: Er erwartet eine Einschränkung möglicher Handlungsoptionen des Gerichts in Bezug auf seine Sanktionierung. Diese Einschränkungen ergeben sich insb. aus § 257c Abs. 3 StPO. Ob sich das Gericht von einer Verständigung eine abgekürzte Beweisaufnahme zum Zwecke der Verfahrensverkürzung verspricht, liegt genau genommen außerhalb des mit einem Verständigungsangebot verbundenen Kommunikationsaktes. Begreift man Verständigungen in dem eben beschriebenen Sinne, so haben diese de lege lata, weil sie einseitig vom Gericht ausgehen und allein auf die Annahme des Verständigungsangebotes ausgerichtet sind, im engeren kommunikationstheoretischen Sinne nichts mit einer Entlastung der Justiz zu tun. Es geht allein um die Eröffnung einer Situation für den Angeklagten. Es ist 14  Luhmann, Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, 12.  Aufl. 2006, S. 204.



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also streng genommen zu vermeiden, dass bei einer Verständigung ein Zeitgewinn für die Justiz „herauskommen“ müsse. Erst die – kommunikationstheoretisch nicht haltbare – gedankliche Verbindung zwischen dem Verständigungsangebot und dem Zweck, mit diesem die Justiz entlasten zu wollen, bildet den Nährboden für die Annahme, es würde sich um eine vertragsähnliche „konsensuale Verfahrenserledigung“ handeln. Aber genau darum, um den erstrebten Entlastungseffekt, wird immer wieder und natürlich auch im Urteil des BVerfG aus dem Jahre 2013 gerungen. Aber auch das BVerfG trennt nicht scharf genug den kommunikationstheoretischen Zweck einer Verständigung von weiteren, außerhalb dieses Zweckes stehenden Zielen. Das ist umso bedauerlicher, weil damit die Chance vertan wird, Verständigungen als das zu begreifen, was sie sind: Kommunikationsakte zur Eröffnung weiterer Handlungsoptionen.

III. Zusammenfassung Dass der Gesetzgeber den Begriff „Verständigung“ als Dreh- und Angelpunkt des Verständigungsgesetzes gewählt hat, muss nicht überraschen. Allerdings muss er sich auch an den Folgen, die eine solch weitreichende Weichenstellung nach sich zieht, festhalten lassen. Eine Verständigung ist, wenn der Angeklagte sie annimmt, das Ergebnis von Kommunikation. Der Kommunikationsakt geht allerdings einseitig vom Gericht aus und ist in dem Verständigungsangebot zu sehen. In diesem Angebot werden für eine Entscheidung des Angeklagten bedeutsame Informationen mitgeteilt, die dieser verstehen muss. Geht es bei „der Verständigung“ i. S. v. § 257c StPO um das Ergebnis eines wechselseitigen Kommunikationsvorganges, so ist die Art und Weise einer Verständigung kommunikationstheoretisch determiniert. Es ist also keine normative Frage, wie diese Verständigung zustande gekommen ist, solange sie auf Kommunikation zurückzuführen ist. Aber natürlich kann es angezeigt sein, nicht jedes Ergebnis von Kommunikation anzuerkennen. Es kann also möglich sein, bestimmte Verständigungen aus dem Kreis der Grundlagen für weitere Kommunikation auszuschließen. Diese Art des Ausschlusses von Kommunikationsinhalten und Kommunikationsergebnissen finden sich beispielsweise bei den Beweisverwertungsverboten hinsichtlich von Zeugenaussagen oder Geständnissen. Teilweise hat der Gesetzgeber auch von der Möglichkeit, nicht die Kommunikation per se, sondern die Inhalte der Kommunikation oder deren Ergebnisse zu beschränken, Gebrauch gemacht. So schließen Verwertungsverbote die Anschlusskommunikation hinsichtlich dieser Informationen aus. In diesem Sinne ordnet bspw. § 100d Abs. 2 S. 1 StPO an, dass Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung, die bspw. durch eine Telekommunikationsüberwachung erlangt wurden, nicht verwertet werden dürfen.

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Die bisherigen Überlegungen sollten gezeigt haben, dass es beim Verständigungsgesetz um nichts anderes als um Kommunikation geht. Diese Kommunikation ist aber der „alten StPO“ nicht fremd, ja, sie darf ihr gar nicht fremd sein, weil das gesamte Recht auf Kommunikation setzt und das Recht selbst symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium ist. Von diesem Standpunkt aus gesehen kann es also überhaupt keinen Gegensatz zwischen einem Parteienprozess und einem Inquisitionsprozess geben. Selbstverständlich sind beide Formen der rechtlichen Bewältigung von Straftaten Formen der Kommunikation. In beiden Prozessformen ist das Urteil das Ergebnis von Kommunikation, das Urteil selbst ist eine Verständigung. Das Unbehagen, das sich gegen die sog. neuen Verständigungsformen in der „alten StPO“ regt, dürfte deshalb auch ganz anderer Natur sein: Genau genommen geht es um die Arten, ob und wie Informationen und welche Informationen gewonnen werden, von wem und wie diese und an wen diese mitgeteilt werden, und wie und von wem diese verstanden werden. Durch die Selektion der einzelnen Möglichkeiten werden, das ist selbstverständlich, auch die Ergebnisse der Kommunikation selbst beeinflusst. Und nun sind wir beim Kern des Problems: der Selektion der Möglichkeiten im Prozess der Kommunikation. Für jede Selektion und für jede Restriktion muss der Gesetzgeber einen Grund angeben. Jede Selektion oder Nichtselektion darf sich auch nicht in Widerspruch zu anderen Selektionen setzen. Das ist ein allgemeines Gebot der Kommunikation und auch des Rechts als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium.15 Denn Ziel dieser Medien ist es, Komplexität zu reduzieren. Die Frage, die ich dem Beitrag vorangestellt habe, kann nun beantwortetet werden: Die Regeln zur Verständigung führen zu einer erhöhten Transparenz und Vorhersehbarkeit von Entscheidungen und eröffnen der verfolgten Person Handlungsoptionen.

15  Vgl.

dazu Luhmann, Macht, 2. Aufl. 1988, S. 4 ff.

Die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung durch den Strafverfolgten und deren institutionelle Garantien 认罪认罚从宽处罚的自愿性与制度完善 Liu Shaojun* Die Reform der Sanktionsminderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung (认罪认罚从宽)1 durch den Strafverfolgten ist eine der zentralen Fragen der jüngeren Reform der chinesischen Strafjustiz. Das System der Sanktionsminderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung ist eine der Grundlagen einer Strafjustiz, die sich um eine Verständigung bemüht; dabei übt die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung auf Seiten des Strafverfolgten einen direkten Einfluss auf die rechtliche Gültigkeit und die Wirksamkeit in der Anwendung aus. Aus diesem Grund kommt der Garantie der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung auf Seiten des Strafverfolgten innerhalb des gesamten Systems der Verständigung eine zentrale Bedeutung zu. Dennoch gewährt das geltende Strafprozessgesetz der Freiwilligkeit auf Seiten des Strafverfolgten und der Garantie dieser Freiwilligkeit keine ausreichende Aufmerksamkeit. In der Praxis der chinesischen Strafjustiz geht man davon aus, dass eine Untersuchung der Freiwilligkeit mit der Garantie der Freiwilligkeit gleichzusetzen ist, was zu dem Problem einer unzureichenden Garantie der Freiwilligkeit führt. Daher ist es notwendig, die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung und deren Garantie im Rahmen der Verständigung einer Analyse zu unterziehen. Diese zielt darauf ab, innerhalb der Verständigung im Strafprozess dem System des Schuldeingeständnisses und *  Prof. Dr. LIU Shaojun (刘少军), Direktorin des Forschungszentrums für Compliance, Universität Anhui (安徽大学). 1  Der Begriff „Sanktionsminderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung“ entspricht zwar faktisch dem deutschen Begriff „Verständigung“, er bringt aber semantisch drei unterschiedliche Phasen der Verständigung zum Ausdruck, so wie diese sich in den chinesischen Bestimmungen normiert finden. Da dieser Beitrag sehr oft auf die einzelnen Aspekte dieser drei Verfahrensschritte eingeht, wird hier um des genaueren Verständnisses willen zumeist auf die einfache Übersetzung der „Verständigung“ verzichtet (Anmerkung des Übersetzers).

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der Strafanerkennung eine theoretische Grundlage zu verleihen, die dem Anspruch eines modernen Rechtsstaats entspricht, so dass einer gesetzmäßigen Entwicklung der Justiz Rechnung getragen wird. Gleichzeitig soll dadurch der Strafjustiz eine theoretische Anleitung für die Praxis der Verständigung an die Hand gegeben werden.

I. Der Begriff der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung durch den Strafverfolgten und sein Inhalt 1. Der Begriff der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung durch den Strafverfolgten Die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung auf Seiten des Strafverfolgten bezeichnet einen Zustand, bei dem der Strafverfolgte zum einen den ihm zur Last gelegten Vorwurf vollkommen kennt und versteht, sowie zum anderen die Konsequenzen eines Schuldeingeständnisses und einer Strafanerkennung erfasst, um auf der Basis dieses Wissens eine freie Entscheidung für ein Schuldeingeständnis und für eine Strafanerkennung zu treffen. Innerhalb der Verständigung sind daher das Schuldeingeständnis und die Strafanerkennung durch den Strafverfolgten ihrer Natur nach ein Werturteil, bei dem der Strafverfolgte erkennt, dass seine Handlung einen Straftatbestand verwirklicht, bei dem er weiter das ihm von den Strafverfolgungsorganen zur Last gelegte Verbrechen eingesteht, und bei dem er darüber hinaus der von der Anklage geforderten Strafzumessung zustimmt. Um das tun zu können, muss er, in seiner Funktion als Subjekt, das Objekt der Wertung und sein eigenes Bedürfnis kennen, so dass er in rationaler Weise abwägen kann, ob das Wertungsobjekt seinen Bedürfnissen entspricht, dass er also eine rationale und freie Entscheidung trifft. Die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung umfasst deshalb die drei Faktoren Klarheit der Kenntnis, Rationalität der Wertung und Freiheit der Wahl. a) Klarheit der Schuldkenntnis Innerhalb des Verfahrens des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung ist das Wertungsobjekt, auf das sich Geständnis und Anerkennung beziehen, der Sachverhalt als solcher; daher ist es notwendig, dass der strafrechtlich Verfolgte vor dem Schuldeingeständnis und der Strafanerkennung den Sachverhalt umfassend kennt. Innerhalb des Strafprozesses gibt es zwei Arten von Tatsachen, die objektive Tatsache (客观事实) und die rechtliche Tatsache (法律事实). Die objektive Tatsache ist der Sachverhalt, so wie er in



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der Realität geschehen ist; die rechtliche Tatsache ist der Sachverhalt, so wie er durch die Anklage auf Grund von Beweismitteln konstruiert wird. Bereits durch Bentham wurde dies so formuliert, dass es unmöglich sei, „aus der Natur der Sache eine perfekte Beweisregel zu finden, durch die ein faires Urteil garantiert werden könne.“2 Auf Grund der begrenzten Erkenntnisfähigkeit des Menschen ist eine vollständige Rekonstruktion der objektiven Tatsache, die sich in nichts von dieser unterscheidet unmöglich; trotzdem akzeptiert der Strafverfolgte durch das Schuldeingeständnis und die Strafanerkennung den von der Anklage vorgebrachten Sachverhalt und die dazugehörige Sanktionsforderung. Das dem Schuldeingeständnis und der Strafanerkennung zu Grunde liegende Objekt besteht hauptsächlich in einer durch Beweismittel konstruierten Rechtstatsache. Natürlich muss an dieser Stelle beachtet und betont werden, dass das Wertungsobjekt der durch Beweismittel konstruierten Rechtstatsache, welche der Strafverfolgte durch Schuldeingeständnis und Strafanerkennung akzeptiert, nicht als solches ausschließt, dass der einer Tat Verdächtige oder der Angeklagte sich aus freien Stücken und auf Grund seiner Kenntnis der objektiven Tatsachen zu einer Verständigung entschließt. Wenn der strafrechtlich Verfolgte bei solch einer, auf objektiven Tatsachen beruhenden Verständigung die angeklagte Tatsache und die ihr zu Grunde liegenden Beweismittel nicht kennt, dann berührt das dennoch nicht den freiwilligen Charakter der Verständigung. Zusammenfassend können wir festhalten, dass das Schuldeingeständnis und die Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten auf der Tatsache des Verbrechens basieren muss; das Volksprokurat darf keine nichtexistierenden oder phantasierten Verbrechenstatsachen zur Voraussetzung von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung machen. b) Rationalität der Wertung Es muss rational verlangt werden, dass der strafrechtlich Verfolgte die Fähigkeit hat, richtig und falsch zu erkennen, zwischenmenschliche Beziehungen einordnen zu können und seine eigenen Handlungen unter Kontrolle zu haben. In dieser Weise verlangt z. B. das US-amerikanische System des plea-bargain, dass der Angeklagte seine Rechte aus dem 6th Amendment der Verfassung kennt und diese freiwillig aufgibt. Sec. 11 der Federal Rules of Criminal Procedure bestimmt, dass das Gericht eine öffentliche Anhörung des Angeklagten durchführen muss, bevor es eine Aussage des Angeklagten über Schuld oder Unschuld annehmen kann. Durch diese Anhörung muss das 2  Terence Anderson/David Schum/William Twining, Analysis of Evidence, 2nd edition; Zhang Baosheng (张保生) trans., Beijing, China Renmin University Press, 2012, S. 301.

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Gericht sicherstellen, dass der Angeklagte sich aus freien Stücken zu seiner Aussage entschieden hat, dass er also weder durch Gewalt, noch durch Zwang zu seinem Willen zum Schuldeingeständnis und zur Strafanerkennung gedrängt wurde.3 In Brady v. United States hatte der US Supreme Court 1970 gefordert, dass „der Berufungskläger zum Zeitpunkt der Entscheidung sich bei klarem Bewusstsein befinden muss, dass ihm ein fähiger Rechtsanwalt Unterstützung gewährt, dass er bezüglich dem ihm zur Last gelegten Verbrechen und dessen Qualität ein gutes Verständnis braucht; gleichzeitig darf es keine Beweismittel dahingehend geben, dass er zum Zeitpunkt seiner Entscheidung keine Geschäftsfähigkeit besaß oder dass er in einem Geisteszustand war, den er nicht selbst kontrollieren konnte. Der Angeklagte ist sich über die gewalttätige Handlung, die er gegenüber dem von ihm selbst Entführten ausführte, eindeutig im Klaren, daher beruht sein Schuldeingeständnis auf einer freien Willensentscheidung.“4 In gleicher Weise bestimmt § 455-4 Strafprozessgesetz (Taiwan, China), „Unter den folgenden Umständen darf das Gericht keine Verständigung durchführen: … 2. der Entschluss des Angeklagten zur Verständigung beruht nicht auf freiem Willen…“ Das Verfahren von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung stellt ebenfalls eine Verfügung über Rechte dar, deshalb reicht es nicht aus zu fordern, dass der strafrechtlich Verfolgte sich über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung bewusst ist, er muss vielmehr auch über die Fähigkeit verfügen, die Rechtsfolgen des Schuldeingeständnisses einzuschätzen: einerseits wird also gefordert, dass dieser selbst die Fähigkeit zur Erkenntnis von richtig und falsch, die Einschätzung von Beziehungen und die Kontrolle über die eigenen Angelegenheiten hat. Andererseits ist es für die Forderung nach der Rationalität der Entscheidung des Strafverfolgten wichtig, dass er von einem Rechtsanwalt effektiv in der Wahrung seiner Rechte unterstützt wird, um dadurch die Defizite, welche dieser bei der Kenntnis der Rechtslage und bei der Erfahrung der Justizpraxis aufweist, auszugleichen. c) Freiheit der Wahl zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung Abgesehen davon, dass der strafrechtlich Verfolgte eine umfassende Kenntnis von der Anklage und den Beweismitteln erhalten hat und dass er rational beurteilen kann, was die Rechtsfolgen eines Schuldeingeständnisses und einer Strafanerkennung sind, ist es weiter notwendig, dass ihm ein freies Wahlrecht für oder gegen das Schuldeingeständnis und die Strafanerkennung 3  Siehe Federal Rules of Criminal Procedure 11 „Ensuring That a Plea Is Voluntary. Before accepting a plea of guilty or nolo contendere, the court must address the defendant personally in open court and determine that the plea is voluntary and did not result from force, threats, or promises (other than promises in a plea agreement)“. 4  Brady v. United States, 397 U.S. 742 (1970).



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eingeräumt wird. In Bezug auf diese Freiheit der Wahl gibt es drei Forderungen: (1) Der strafrechtlich Verfolgte hat mindestens zwei Möglichkeiten, aus denen er wählen kann. In Bezug auf Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung heißt das, dass er entweder in diese einwilligen kann, dass er sich gegen diese aussprechen kann und dass er zu den Wahlmöglichkeiten auch schweigen kann. (2) Der strafrechtlich Verfolgte kann den Umfang, in dem er ein Schuldeingeständnis oder eine Strafanerkennung äußern möchte, frei wählen. Wird eine Person wegen mehrerer Verbrechen verfolgt, dann kann sie sich sowohl dafür entscheiden, gegenüber der Gesamtheit der Verbrechen ein Schuldeingeständnis und eine Strafanerkennung zu äußern, sie kann sich aber auch dafür entscheiden, nur eine Straftat oder nur einen Teil der Straftat(en) anzuerkennen. In Bezug auf das Verbrechen und die Schuldzumessung kann der strafrechtlich Verfolgte wählen, ob er beide von der Anklage vorgetragenen Aspekte anerkennt, dass er also sowohl das Schuldeingeständnis als auch die Strafanerkennung erklärt, oder ob er nur ein Schuldeingeständnis äußert, jedoch die Strafe nicht akzeptiert. (3) Wenn der strafrechtlich Verfolgte seine Entscheidung trifft, dann soll er keine Einmischung von Seiten der Justiz oder von Dritten erfahren, so dass er nach seinem freien Ermessen entscheiden kann. Jegliche externen Faktoren, wie etwa Gewalt, Drohung, Verlockung, Betrug etc., können die Entscheidungsfreiheit des strafrechtlich Verfolgten beeinflussen und dadurch bewirken, dass sich Schuldeingeständnis und Strafanerkennung nicht freiwillig vollziehen.5 Aus diesem Grund soll garantiert werden, dass der strafrechtlich Verfolgte in seiner Entscheidung über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung nicht von außen durch Justizbehörden oder andere beeinflusst wird. 2. Der Inhalt der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung von Strafverfolgten Die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten gehört in den Bereich der Psychologie. Sie kann in die Abschnitte des Erkenntnisprozesses und der Intention unterschieden werden; ebenso kann sie nach diesen Kategorien näher bestimmt werden, so dass die Garantie der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten auf dieser Grundlage verbessert werden kann.

5  Xie Dengke (谢登科)/Zhou Kaidong (周凯东), Schuldeingeständnis und Strafanerkennung von Strafverfolgten und Institutionen zu deren Verwirklichung (被追诉人 认罪认罚自愿性及其实现机制), Academic Exchange (学术交流), 2018, Nr. 4, S. 97 f.

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a) Der Erkenntnisprozess innerhalb des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung von Strafverfolgten Innerhalb des Systems der Sanktionsminderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung beinhaltet die Erkenntnisbewegung des strafrechtlich Verfolgten die Erkenntnis bezüglich der eigenen Verbrechenshandlung als auch die Erkenntnis über die Rechtsfolgen, die sich an ein Schuldeingeständnis anschließen. Dies beinhaltet auch eine Kenntnis der unterschiedlichen Folgen, die sich für den Fall des Schuldeingeständnisses bzw. der Ablehnung eines Schuldeingeständnisses ergeben. In Fällen, die das System der Sank­ tionsminderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung anwenden, kann die Frage der Freiwilligkeit dieses Erkenntnisprozesses nach drei verschiedenen Kriterien untersucht werden. Es sind dies das Erkenntnisobjekt, die Erkenntnisfähigkeit und der Erkenntnisumfang. aa) Erkenntnisobjekt Das Erkenntnisobjekt (认知对象), auf das die freiwillige Entscheidung des strafrechtlich Verfolgten gerichtet ist, ist eine Konvergenz emotionaler und rationaler Elemente. Es ist dabei wichtig im Zusammenhang der Sanktionsminderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung zu klären, auf was sich die Freiwilligkeit der Erklärung des strafrechtlich Verfolgten bezieht. Vom Wortlaut aus betrachtet bezieht sich die Freiwilligkeit des strafrechtlich Verfolgten auf Schuld und Strafe, bezieht sich also auf eine Erkenntnis der materiellen Ebene. Der strafrechtlich Verfolgte erkennt also, dass er ein Verbrechen begangen hat und dass er hierfür mit einer Kriminalstrafe belangt werden soll. Abgesehen davon gehört es zu den genuinen Rechten der Verteidigung, dass der strafrechtlich Verfolgte sich gegenüber dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft verteidigen kann, wenn er in Bezug auf diesen Strafantrag anderer Meinung ist. Eine Meinungsverschiedenheit bezüglich des Strafmaßes sollte also kein Grund sein, der die Möglichkeit einer Sanktionsminderung durch Verständigung verhindert. Deshalb darf in der verfahrensrechtlichen Anwendung des Systems der Sanktionsminderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung nicht verlangt werden, dass der strafrechtlich Verfolgte unbedingt beides akzeptiert: Schuldeingeständnis und Strafanerkennung. Es reicht also für eine Sanktionsminderung aus, wenn der strafrechtlich Verfolgte lediglich eine zutreffende Kenntnis von der Straftat hat und diese anerkennt, um den Voraussetzungen für eine Sanktionsmilderung zu entsprechen. Selbst wenn er teilweise dem ihm vom Volksprokurat zur Last gelegten Verbrechen und der konkreten Strafempfehlung widerspricht, darf man ihm die Sanktionsmilderung, die ihm zusteht, nicht verweigern. So bestimmt z. B. § 4 (Versuchsweise) Durchführungsbestimmungen zur Eröff-



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nung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sank­ tionsmilderung (关于开展刑事案件认罪认罚从宽制度试点工作实施细则 ( 试行)) der Stadt Beijing aus dem Jahr 2017, dass „der Tatverdächtige oder der Angeklagte … seine Verbrechenshandlung wahrheitsgemäß eingesteht, gegenüber dem ihm zur Last gelegten Verbrechen keinen Widerspruch äußert, dem Vorschlag zur Strafzumessung zustimmt und eine eidesstattliche Erklärung unterzeichnet, so dass er nach Gesetz eine Sanktionsmilderung erfahren kann. Erkennt der Tatverdächtige oder Angeklagte die Verbrechenstatsache im Wesentlichen an und äußert nur gegenüber einigen Kleinigkeiten eine andere Ansicht, was aber die Einordnung des Verbrechens und die Strafzumessung nicht beeinflusst, oder wenn er die Verbrechenshandlung eingesteht, jedoch gegen die normative Einordnung des Verbrechens Widerspruch äußert, dann hat auch dies keinen Einfluss auf die Anwendung des Instituts von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung; die Anerkennung des Vorschlags zur Strafzumessung durch den Tatverdächtigen oder den Angeklagten bezeichnet die Situation, in welcher der Tatverdächtige oder Angeklagte gegenüber der Art der Strafe, welche vom Volksprokurat vorgeschlagen wird, gegen das Maß der Strafe oder die bestimmte Strafdauer oder Vollstreckungsart keinen Wiederspruch äußert.“ Von der Verfahrensebene aus gesehen ist das Objekt, das der strafrechtlich Verfolgte beim Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung freiwillig erkennen und anerkennen muss, die Verfahrensart und das Ergebnis. So bestimmt § 35 (Vorläufige) Durchführungsverordnung zur versuchsweisen Arbeit mit dem Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in Straffällen der Stadt Guangzhou (广州市刑事案件认罪认罚从宽制度试 点工作实施细则(试行)), „Bei der Verhandlung von Fällen des Schuldeingeständnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung kann das Verfahren der gerichtlichen Verhandlung vereinfacht werden; Verhandlungsprotokoll und Urteil können standardisiert werden, die Verhandlung kann als Video-Verhandlung auf Distanz geführt werden, die Fälle können nach Gesetz beschleunigt erledigt werden.“ § 40 derselben Durchführungsverordnung lautet: „Im Allgemeinen sollen Fälle von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in einer Verhandlung entschieden werden. Wird ein beschleunigtes Verfahren angewandt, dann soll der Fall innerhalb von 10 Tagen abgeschlossen sein; wenn die Strafe möglicherweise 1 Jahr Freiheitsstrafe überschreitet, dann kann die Frist auf bis zu 20 Tage verlängert werden; wenn die Strafe möglicherweise 3 Jahre Freiheitsstrafe überschreitet, kann sie auf einen Monat verlängert werden.“

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bb) Erkenntnisfähigkeit Die Erkenntnisfähigkeit (认知能力), also die Fähigkeit, die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung, sowie die sich hieraus ergebende Sanktionsminderung zu erkennen, korreliert mit der Schuldfähigkeit des strafrechtlich Verfolgten. Der strafrechtlich Verfolgte muss also im strafrechtlichen Sinne die Fähigkeit besitzen, seine Handlungen zu erkennen und zu beherrschen. Wenn er diese Fähigkeit nicht besitzt, dann wirkt sich dies in großem Umfang auf die Bewertung der Freiwilligkeit seines Schuldeingeständnisses aus. Daher sollte die Frage der Erkenntnisfähigkeit einen wichtigen Faktor innerhalb des chinesischen Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung darstellen. § 2 Regeln zur versuchsweisen Arbeit mit Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sank­ tionsmilderung in Straffällen in einigen Gebieten (关于在部分地区开展刑事 案件认罪认罚从宽制度试点工作的办法), welche der Oberste Volksgerichtshof, das Oberste Volksprokurat, das Ministerium für öffentliche Sicherheit, das Ministerium für Staatssicherheit und das Ministerium für Justiz im Jahr 2016 verabschiedet haben, bestimmt, dass „das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in folgenden Fällen keine Anwendung findet: (1) der Tatverdächtige oder der Angeklagte sind psychisch krank, haben aber ihre Wahrnehmungsfähigkeit oder die Fähigkeit, ihre Handlungen zu kontrollieren, noch nicht verloren; (2) der gesetzliche Vertreter oder der Verteidiger legt Widerspruch gegen Schuldeingeständnis oder Strafanerkennung minderjähriger Tatverdächtiger oder Angeklagter ein.“ § 15 dieser Regeln bestimmt weiter: „Bei der Verhandlung von Fällen von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung durch das Volksgericht sind dem Angeklagten die ihm zustehenden Verfahrensrechte und die Rechtsfolge, die möglicherweise aus Schuldeingeständnis und Strafanerkennung entsteht, mitzuteilen. Das Volksgericht muss die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Schuldanerkennung, sowie die Wahrhaftigkeit und Legalität der eidesstattlichen Erklärung über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung überprüfen.“ cc) Erkenntnisumfang (认知范围) Beim Schuldeingeständnis des strafrechtlich Verfolgten muss dieser freiwillig eingestehen, dass die ihm zur Last gelegte Tat ein Verbrechen darstellt, das bedeutet nicht, dass dies die konkrete Kenntnis über die Qualität (Bezeichnung des Verbrechens, Art des Verbrechens etc.) der Tat beinhaltet, welche dem strafrechtlich Verfolgten vorgeworfen wird. Zunächst bezieht sich die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses des strafrechtlich Verfolgten direkt auf die Verbrechenstat als solche; der strafrechtlich Verfolgte zeigt



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sich also einverstanden mit der Aussage, dass die Verbrechenstatsache stattgefunden hat und dass diese seine Tat ist. Wenn der strafrechtlich Verfolgte eine Beziehung zwischen sich und der Verbrechenstatsache von Grund auf bestreitet, dann kann dies unter keinen Umständen als Schuldeingeständnis gewertet werden. Weiter beinhaltet das Schuldeingeständnis die strafrechtliche Wertung der Verbrechenshandlung; der strafrechtlich Verfolgte muss also anerkennen, dass es sich bei der Handlung (行为) gleichzeitig um ein Verbrechen (犯罪) handelt. Schließlich muss der strafrechtlich Verfolgte ausdrücklich wissen, dass die Verbrechenshandlung eine gesetzliche Konsequenz nach sich zieht. Diese Konsequenz beinhaltet folgende Aspekte: die eigene Handlung wird strafrechtlich sanktioniert; gibt es ein Opfer, ist diesem der Schaden zu ersetzen und der Täter soll sich bei diesem entschuldigen. Anders gesagt bedeutet dies, dass die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnis des strafrechtlich Verfolgten auf einem umfassenden Verständnis des Verfahrens von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung sowie einer Analyse von dessen Vor- und Nachteilen beruht. So bestimmt etwa § 38 Durchführungsbestimmungen aus Guangzhou: „In Fällen von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung sollen Anreize durch eine Abstufung der Strafzumessung erfolgen. Die vom Volksprokurat vorgeschlagene Strafzumessung und die vom Volksgericht vorgeschlagene Strafe soll je nachdem, in welchem Verfahrensabschnitt der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte sein Schuldeingeständnis und seine Strafanerkennung geäußert hat, ob während der Ermittlungen durch die Ermittlungsbehörden, während der Prüfung der Anklage durch das Volksprokurat oder während der Verhandlung durch das Volksgericht, eine abgestufte und sich zunehmend verringernde Sanktionsmilderung erhalten. So wie die Rückgabe des widerrechtlich Erworbenen, die erfolgreiche Verständigung mit dem Opfer oder die Vergebung durch das Opfer wichtige Faktoren für die Sanktionsmilderung darstellen, so kann nach den Ausführungen des Obersten Volksgerichtshofs auch die Sanktionsmilderung für den Tatverdächtigen bzw. den Angeklagten bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung zwischen 30 % und 10 % betragen.“ § 39 ebendort bestimmt: „Es sei denn, es lägen gesetzliche Gründe für einen außerordentlichen Straferlass vor, soll in Fällen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung eine Sanktionsminderung innerhalb des gesetzlichen Strafmaßes stattfinden. Sind die Umstände des Verbrechens geringer Natur, so dass eine Kriminalstrafe nicht notwendig ist, kann das Volksgericht nach Gesetz ein Urteil unter Verzicht auf Strafe fällen. Ist es tatsächlich notwendig, im Strafurteil unter der gesetzlichen Mindeststrafe zu bleiben, so muss dies dem Obersten Volksgerichtshof zur Genehmigung vorgelegt werden.“ Der strafrechtlich Verfolgte muss also nicht nur wissen, was für große Vorteile ihm aus einem Schuldeingeständnis bei den Verfahrensfolgen und dem Sanktionsergebnis erstehen, er muss auch wissen, was für nachteilige

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Folgen ihm wahrscheinlich bei einer Nichtanerkennung der Schuld erwachsen. Nur dann kann man sagen, dass ein Schuldeingeständnis des strafrechtlich Verfolgten auf der Wissensebene der Forderung nach Freiwilligkeit entspricht. b) Die Orientierung am freien Willen bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung von strafrechtlich Verfolgten aa) Der strafrechtlich Verfolgte ist Willens, gegenüber Behörden von Polizei und Justiz ein Schuldeingeständnis zu äußern Die Intention der Willenserklärung bei dem Schuldeingeständnis und der Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten äußert sich vor allem darin, dass der strafrechtlich Verfolgte durch den vorstehend geäußerten Erkenntnisprozess eine Willensäußerung tätigt, deren treibende Bewegung das Eingeständnis der Schuld darstellt. Dass der strafrechtlich Verfolgte Willens ist, gegenüber den Behörden von Polizei und Justiz ein Schuldeingeständnis zu äußern, ist die wichtigste Voraussetzung für die Anwendung einer milderen Sanktion bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung. Allerdings ist das hier eingeforderte Schuldeingeständnis (认罪) in seinen Anforderungen vergleichsweise weniger strikt – es ist ausreichend, wenn der Wille zum Schuldeingeständnis geäußert ist. Es ist hingegen nicht notwendig, dass der strafrechtlich Verfolgte sich zu dem ihm vorgeworfenen Verbrechen so weit ­äußert, dass die Beweismittel für einen Schuldspruch ausreichend sind. Üblicherweise reicht es aus, wenn er eine bestimmte Verbrechenstatsache einge­ steht.6 bb) Der strafrechtlich Verfolgte ist Willens, dem Opfer gegenüber die Schuld einzugestehen, sich zu entschuldigen und Schadensersatz zu leisten Bei der Institution von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sank­ tionsminderung ist die Bereitschaft, sich bei dem Opfer zu entschuldigen und Schadensersatz zu leisten ein sehr wichtiger äußerer Aspekt, an dem sich die Haltung des strafrechtlich Verfolgten gegenüber dem Schuldeingeständnis zeigt. Wenn der strafrechtlich Verfolgte erkennt, was für einen Schaden die eigene Handlung über andere hereingebracht hat, wenn er dem Opfer gegenüber aktiv seine Schuld eingesteht, sich bei ihm entschuldigt und Schadens6  Wang Haiyan (汪海燕), Studien zum Beweisstandard bei Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽案件证明标准研究), Comparative Law Journal (比较法研究), 2018, Nr. 05, S. 72.



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ersatz leistet, um dadurch die materiellen und immateriellen Schäden des Opfers auszugleichen, dann zeigt das bis zu einem gewissen Grad die Freiwilligkeit seines Schuldeingeständnisses. So bestimmt z. B. § 22 „(Vorläufige) Durchführungsverordnung zur versuchsweisen Arbeit mit dem Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in Straffällen der Stadt Guangzhou“ Folgendes: „In Fällen von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung soll die Meinung des Opfers und seines Anwalts gehört werden; dazu ist die Frage, ob der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte sich mit dem Opfer auf einen Vergleich geeinigt hat, oder ob dem Opfer Schadensersatz geleistet wurde und der Täter dessen Vergebung erlangt hat, bei der Sanktionsempfehlung ein wichtiger Faktor, der berücksichtigt werden soll.“ Anders ausgedrückt kann die willensgeleitete Handlung des Schuldeingeständnisses durch den strafrechtlich Verfolgten aufzeigen, dass dessen subjektive Schlechtigkeit nicht schwer ist; unter dieser Voraussetzung kann die Sanktionsminderung die ihr zukommende Funktion besser entfalten. Wenn der strafrechtlich Verfolgte demgegenüber nur Willens ist, seine Schuld gegenüber den Justizbehörden einzugestehen, er aber nicht willens ist, seine Schuld auch dem Opfer gegenüber einzugestehen, sich bei diesem zu entschuldigen und ihm seinen Schaden zu erstatten, dann ist die Handlungsintention beim Schuldeingeständnis nicht wirklich umfassend. Das Schuldeingeständnis ist in diesem Fall sehr wahrscheinlich lediglich ein Mittel, um das Resultat einer milderen Sanktion zu erwirken. Sie stellt keine ehrliche Reue angesichts des Schadens dar, den die eigene Tathandlung verursacht hat. Das birgt das Risiko, dass die Justiz in der darauffolgenden Sanktionsmilderung unfair agiert. Abgesehen davon bewirkt diese Ignoranz gegenüber dem Verfahrensinteresse des Opfers Risiken in Bezug auf die Stabilität des Verfahrens. Aber es ist auch möglich, dass das Schuldeingeständnis gegenüber dem Opfer, die Entschuldigung und der Schadensersatz das moralische Risiko des „Sanktionskaufs“ darstellen, so dass man nicht nur einzig den Faktor der „Entschädigungssumme“ betrachten darf, der Annahme folgend, dass eine geringere Entschädigungssumme ein geringeres Maß an Reue darstelle, sondern dass man auch in Betracht ziehen muss, was der Täter an Entschädigungsmöglichkeiten hat, wie groß seine Fähigkeit zur Entschädigung ist. Andererseits kann man auf Grund des Instituts anleitender Fälle (案例指导制度) Musterfälle auswählen, welche die Beziehung zwischen Fähigkeit und tatsächlicher Summe des Schadens­ ersatzes erhellt, um zu verhindern, dass die Gerichte der ersten Instanz eine soziale Diskriminierung und Ungleichbehandlung durchführen.7 7  Lin Jiafen (林喜芬), Die Entschädigung des Opfers in der Strafjustiz – vergleichende Untersuchung auf Grund japanischer Erfahrungen (论刑事司法中的“被害补 偿“——基于日本经验的比较分析), Lanzhou Academic Journal (兰州学刊), 2016, Nr. 11, S. 145.

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cc) Der strafrechtlich Verfolgte ist Willens, das wahrscheinliche Verfahren und die Sanktionsfolge zu akzeptieren Für den strafrechtlich Verfolgten kann die Willensentscheidung für das Schuldeingeständnis auch die subjektive emotionale Akzeptanz des Verfahrens und des Sanktionserfolgs bedeuten. Die sogenannte Akzeptanz der Sanktion ist dabei das ausdrückliche Wissen um die Sanktion und die Erwartung, dass dadurch die positive Wertdistanz zur Wirklichkeit abgebaut wird. Der strafrechtlich Verfolgte wird gegenüber der Sanktion kein aktives Verlangen haben, wenn er aber die Sanktion klar vor Augen hat, dann verringert sich dadurch der Abstand zur Erwartungshaltung. Je geringer die Akzeptanz des strafrechtlich Verfolgten gegenüber der Sanktion ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass eine mildere Strafe den erhofften Effekt bewirkt. Daher ist es bei der freiwilligen Entscheidung des strafrechtlich Verfolgten wichtig, dass die Kenntnis und die Akzeptanz von Verfahren und Sanktionserfolg ein Teil dieser Entscheidung sind. Andernfalls ist schwer zu sagen, ob die freiwillige Entscheidung des strafrechtlich Verfolgten für ein Schuldeingeständnis tatsächlich in der Gesamtheit ihrer Willensbewegung realisiert wird.

II. Die zentrale Stellung der Freiwilligkeit des strafrechtlich Verfolgten innerhalb des Instituts von ­Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Die Vorbedingung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung besteht darin, dass der strafrechtlich Verfolgte prozessrechtlich und sogar verfassungsrechtlich garantierte Rechte preisgibt. Derjenige Tatverdächtige bzw. Angeklagte, der tatsächlich ein Verbrechen begangen hat, soll dazu angehalten, darauf hingeführt und darin abgesichert werden, dass er sein Verbrechen und seine Schuld freiwillig eingesteht und seine Strafe anerkennt. In der Folge soll er dafür eine mildere Sanktion und Strafe erhalten. Dieser Zusammenhang bedingt, dass die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses, das der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte innerhalb des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung ablegt, vollkommen freiwillig zu geschehen hat. Doch dem strafrechtlich Verfolgten mangelt es hierfür zumeist an juristischem Wissen und an relevanter Prozesserfahrung, dazu befindet er sich bei dem Verständnis der Beweismittel im Vergleich zur Anklage in einem asymmetrischen Verhältnis. Wenn er in dieser Situation keine effektive Hilfe durch einen Anwalt bekommt, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass er unter dem Druck der Ereignisse oder auf Grund von Versprechungen ein Schuldgeständnis ablegt. Unter solchen Umständen von einem freiwilligen Geständnis zu sprechen, ist offensichtlich unmöglich. Das Motto: Fairness als Basis, Effizienz als Prio-



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rität (公正为本, 效率优先) ist für die Reform des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung von zentraler Bedeutung.8 Dabei sollte für das Ziel der Optimierung der juristischen Ressourcenallokation und für die Maximierung der Effizienz durch die Differenzierung von Fällen in einfache und schwierige nicht die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung durch den strafrechtlich Verfolgten geopfert werden. Ebenso wenig sollten die Maßnahmen zur Garantie der Freiwilligkeit von Strafeingeständnis und Schuldanerkennung geschmälert werden. Andernfalls wird das in die Subjektrolle des strafrechtlich Verfolgten im Verfahren und damit auch in seine Menschenrechte eingreifen und diese schädigen, was zu einer Umkehrung der Legitimität des Strafverfahrens führen würde. Das führt dann in der Konsequenz zu einer großen Menge an Fehlurteilen. Aus diesem Grund ist es außerordentlich wichtig, die zentrale Rolle der Freiwilligkeit im Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und die Garantie derselben anzuerkennen. 1. Die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Schuldanerkennung durch den strafrechtlich Verfolgten sowie die Garantie derselben realisieren innerhalb der Institution von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung die Subjektrolle des strafrechtlich Verfolgten. Angefangen von der Anklage im Tribunal der Sklavenhaltergesellschaften über das Inquisitionsverfahren des Feudalismus bis hin zum Parteiprozess der Moderne hat sich die rechtliche Stellung des strafrechtlich Verfolgten in eben diesem sich stetig verändernden Strafprozess ebenfalls gewandelt, von einem Prozessobjekt, das der Staat als Ziel im Kampf gegen das Verbrechen schlagen wollte, so dass er es der Inquisition und der Sanktion unterzog, hin zu einem Prozesssubjekt, das im Widerstreit von Anklage und Verteidigung über die gleichen Mittel verfügt, ja dem relevante Prozessrechte übertragen werden, um damit der Übermacht staatlicher Mittel in der Strafverfolgung begegnen zu können. „Der strafrechtlich Verfolgte ist im Strafprozess ein mit dem Staatsanwalt und dem Richter gleichberechtigtes Prozesssubjekt, das damit einhergehende Rechte genießen soll.“9 In gewissem Sinne kann man sagen, dass die Betonung und die Garantie der Subjektstellung des strafrechtlich Verfolgten die Wasserscheide zwischen dem modernen und dem tradi­ tionellen Strafprozess darstellt. In den Quellen des internationalen Rechts sehen wir, wie das internationale Menschenrecht u. a. in Art. 9 und Art. 14 ICCPR sowie in Art. 6 ECHR dem strafrechtlich Verfolgten umfassende ­ 8  Chen Weidong (陈卫东), Studien zum Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung (认罪认罚从宽制度研究), China Law (中国法 学), 2016, Nr. 2, S. 51. 9  Deng Siqing (邓思清), Stellung, Rechte und Garantien des strafrechtlich Verfolgten (刑事被追诉人的地位、权利与保障), Beijing: CPPSU Press (中国人民公安大学 出版社), 2011, S. 4–9.

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Prozessrechte wie das Recht auf Unschuldsvermutung, das Recht auf Wissen, das Recht auf einen fairen Prozess und das Verbot der Selbstbeschuldigung verleihen. Die internationale Gemeinschaft hat auf diese Weise bereits einen breiten Konsens über die Anerkennung und die Garantie der Subjektstellung des strafrechtlich Verfolgten erreicht. Die Rechtsentwicklung innerhalb Chinas vollzieht sich überwiegend im Einklang mit derjenigen der internationalen Gemeinschaft; die Änderung der Verfassung (宪法) im Jahre 2004 hat ausdrücklich Respekt und Garantie der Menschenrechte (尊重与保障人权) in die Grundnormen des chinesischen Staates aufgenommen, um dadurch den Anspruch des Humanismus (以人为本) und das Ziel des Aufbaus des Rechtsstaats (依法治国) zu untermauern. Die Reform des Strafprozessgesetzes (刑事诉讼法) im Jahr 2012 hat klargestellt, dass die Bestrafung von Verbrechen (惩罚犯罪) und die Garantie der Menschenrechte (保障人权) die beiden Grundwerte des chinesischen Strafprozessrechts darstellen. Als Konsequenz dieser Grundwerte wurden Prozessregeln und Verfahren wie das Verbot, jemanden zur Selbstbezichtigung zu zwingen, das Verbot, jemanden ohne Verhandlung schuldig zu sprechen, der Ausschluss widerrechtlich erlangter Beweismittel und die Ausweitung der Verteidigerrechte in das Strafprozessgesetz aufgenommen. Die Prozessrechtsreform des Jahres 2014 stellte die Verhandlung in den Mittelpunkt der Reform, die sich zum Ziel gesetzt hatte, eine Gleichberechtigung von Anklage und Verteidigung in der Verhandlung zu realisieren, was abermals zu einer Anerkennung der Subjektrolle des strafrechtlich Verfolgten führte. In der Strafprozessrechtsreform von 2018 wurden dann das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung sowie dasjenige des diensthabenden Anwalts (值班 律师) in das Gesetz eingeführt, gleichzeitig wurden die Rechte des Verteidigers verbessert, was zu einer weiteren Stärkung der Subjektstellung des strafrechtlich Verfolgten im Strafverfahren geführt hat. Das Institut von Strafeingeständnis, Schuldanerkennung und Sanktionsmilderung ist daher seit 2018 ein wichtiges Element des Strafverfahrens, weshalb dieses Institut dazu verpflichtet ist, die allgemeinen Prinzipien und Regeln des Strafprozessrechts einzuhalten. Aus diesem Grund muss die ­ Subjektstellung des strafrechtlich Verfolgten im Rahmen von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung respektiert und garantiert werden. Die Subjektstellung des strafrechtlich Verfolgten bestimmt, dass der freie Willen zu Ausübung, Übertragung und Verzicht auf Prozessrechte garantiert wird, dass er nicht von den Ermittlungsbehörden durch Mittel wie Verlockung, Androhung von Zwang oder Ausübung von Zwang dominiert oder manipuliert wird. Dabei äußert sich die Subjektstellung des strafrechtlich Verfolgten innerhalb des Instituts von Strafeingeständnis, Schuldanerkennung und Sanktionsmilderung in folgenden drei Punkten:



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(1) Die Ausübung prozessualer Rechte erfolgt freiwillig. Das Strafprozessrecht verleiht dem strafrechtlich Verfolgten Prozessrechte wie z. B. das Recht auf Verteidigung, mit dem er starken Behörden der Staatsmacht entgegentreten kann. Unter der Voraussetzung, dass der strafrechtlich Verfolgte dies freiwillig tut, kann der strafrechtlich Verfolgte diese Rechte übertragen oder aufgeben, um dann auf ein Schuldeingeständnis und eine Strafanerkennung einzugehen. (2)  Die Veräußerung von Prozessrechten erfolgt nicht unter Zwang. Straf­ eingeständnis und Schuldanerkennung durch den strafrechtlich Verfolgten dürfen durch keinen Willen und durch keine Handlungen, welche außerhalb seines eigenen Willens liegen, erzwungen werden. Jegliche Art von Verlockung, Androhung von Gewalt oder Ausübung von Gewalt, bis hin zur Anwendung von Maßnahmen der soft power sind verboten; jede Verwendung von Beweismitten, welche mit solch widerrechtlichen Methoden erlangt wurden, muss ausgeschlossen sein. (3)  Ob von dem Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Gebrauch gemacht wird, entscheidet sich am Willen des strafrechtlich Verfolgten, der wählen kann, ob er durch diese Entscheidung eine mildere Sanktion und ein schnelleres Verfahren erwirken möchte. Genauso kann er wählen, kein Schuldeingeständnis und keine Strafanerkennung auszusprechen, so dass ihm alle gesetzlich zugesicherten Verfahrensgarantien zukommen und er versuchen kann, ein für sich selber günstiges Ergebnis der Gerichtsverhandlung zu erstreiten. Es ist daher eine Notwendigkeit, die prozessrechtliche Subjektstellung des strafrechtlich Verfolgten zu schützen und dadurch auch die Freiwilligkeit von dessen Schuldeingeständnis und Strafanerkennung zu garantieren. Ein Eingeständnis der eigenen Verbrechenshandlung durch den strafrechtlich Verfolgten ist zweifelsohne eine Art der „Selbstbezichtigung“, was gleichbedeutend mit der Tatsache ist, dass der strafrechtlich Verfolgte die Unschuldsvermutung und sein Recht auf Schweigen bricht, dass er also einen Teil seiner Verteidigungsrechte aufgibt. Er begibt sich dadurch eines Teils seiner Abwehrmöglichkeiten und begibt sich ungeschützt unter die Stärke der staatlichen Gewalt. Das einzige, was er dafür erhält, ist das Interesse einer Sanktionsminderung. Wenn also die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung nicht in vollem Umfang garantiert wird, dann verliert das Verhältnis von Anklage und Verteidigung seine Ausgeglichenheit und angesichts einer Situation, in der die Mittel in krasser Weise ungleich verteilt sind, wird der strafrechtlich Verfolgte wieder zu einem Objekt der Strafjustiz. Das befindet sich notwendig im Widerspruch zum Gedanken des modernen Strafprozessrechts; es widerspricht auch dem internationalen Trend zur Garantie der Menschenrechte.

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2. Die Legitimität der Existenz des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung beruht auf der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung durch den strafrechtlich Verfolgten und auf der Garantie dieser Freiwilligkeit. Die §§ 222 und 224 cStPG bestimmen, dass Fälle von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung, die als beschleunigtes Verfahren durchgeführt werden, von einem Einzelrichter ohne gerichtliche Untersuchung der Beweismittel und ohne gerichtliche Verhandlung durchgeführt werden. § 201 cStPG bestimmt, dass das Volksgericht bei seinem Urteil im Normalfall im Einklang mit der vom Volksprokurat in der Anklage vorgenommenen normativen Einordnung und entsprechend des Strafantrags urteilen soll. Nach den hier angeführten Paragraphen wird also im gerichtlichen Verfahren das Geständnis der Schuld nicht hinterfragt, die Beweiskraft der eidesstattlichen Erklärung wird nicht in Frage gestellt und nicht überprüft, die Beweismittel werden keiner direkten Untersuchung unterzogen und sie werden nicht vor Gericht verhandelt, vielmehr übernimmt das Gericht ungefragt die Einordnung des Verbrechens durch das Volksprokurat genauso, wie es dessen Strafantrag übernimmt. Wenn aber die Vernünftigkeit, die Eindeutigkeit, die Wahrhaftigkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung, welche der strafrechtlich Verfolgte geäußert hat, nicht effektiv überprüft werden, dann führt dies sehr leicht dazu, dass die Wahrscheinlichkeit, in denen es zu Fällen kommt, in denen Ermittlungs- und Anklagebehörden durch die Verwendung widerrechtlicher Methoden, wie Verlockungen, die Androhung oder die Anwendung von Zwang etc., eine erzwungene Selbstbezichtigung erwirken, deutlich ansteigt. Um also die Legitimitätsbasis des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung abzusichern und auf dieser Basis das Ziel einer Effi­ zienzsteigerung des Strafprozesses zu erreichen, ist es äußerst wichtig, die tatsächliche Freiwilligkeit des strafrechtlich Verfolgten bei seinem Eingeständnis der Schuld und bei seiner Anerkennung der Strafe ebenso zu verbessern und zu stärken, wie dies für die Garantie dieser Freiwilligkeit gilt. Eine Anerkennung der Schuld durch den strafrechtlich Verfolgten geht meist mit einer Psyche der Scham und der Reue einher, weswegen sich die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholungstat ebenso verringert wie die Gefährlichkeit des Verfolgten. Ein freiwilliges Eingeständnis der Schuld führt auch einfacher zu einer Vergebung der Tat von Seiten des Opfers, so dass die Rachegefühle des Opfers weniger werden und die gesellschaftlichen Beziehungen, welche durch die Verbrechenstat gestört wurden, leichter wiederhergestellt werden können. Gleichzeitig führt das freiwillige Geständnis des strafrechtlich Verfolgten und seine sich daran anknüpfende Anerkennung der Schuld dazu, dass das Verfahren tatsächlich vereinfacht werden kann, was sich wiederum positiv auf die Effizienz des Prozesses auswirkt, so dass am



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Ende die Ziele der Fairness und der Effizienz des Prozesses beide verwirklicht werden können. 3. Die Garantie der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten ist ein wichtiger Weg, um Fehlurteile zu vermeiden. Das Geständnis, das der strafrechtlich Verfolgte im Rahmen des Schuldeingeständnisses zwangläufig ablegt, ist ein wichtiges Beweismittel zur Feststellung des Sachverhalts. Aus Sicht der juristischen Praxis liegt die Ursache von Fehlurteilen, soweit diese aus falschen Geständnissen erstehen, überwiegend in illegalen Verhörmethoden wie Verlockungen, Androhung von Zwang bis hin zu Anwendung von Zwang. Diese illegalen Handlungen bewirken, dass die Freiwilligkeit des Geständnisses auf Seiten des strafrechtlich Verfolgten nicht gegeben ist. Sie bewirken also, dass der strafrechtlich Verfolgte seinen eigenen, tatsächlichen Willen ignoriert und ein falsches Geständnis ablegt, was dann weiter zu einem Fehlurteil führt.10 Brandon L. Garrett hat für die USA systematisch 250 Fälle untersucht, in denen das Urteil durch nachträgliche DNA Analysen als Fehlurteil entlarvt worden war. Dabei ergab sich, dass in 40 Fällen, also in beinahe 16 % aller Fehlurteile, der Grund des Fehlurteils in einem falschen Geständnis lag.11 Der USamerikanische Kriminalpsychologe Saul M. Kassin hat in seinen Studien zum „Central Park jogger case“ nachgewiesen, wie die hermetisch abgeriegelte Umgebung des Verhörs dazu führen kann, dass ein Unschuldiger zu der Überzeugung kommt, er habe ein Verbrechen begangen, so dass es dadurch zu einem Fehlurteil kommt.12 Der chinesische Strafprozessrechtler Chen Yongsheng (陈永生) hat in einer Analyse 20 berühmter Fehlurteile entdeckt, dass es in ganzen 19 dieser Fehlurteile ein erzwungenes Geständnis mit falschen Aussagen gab.13 Hieraus ist ersichtlich, wie die Ungerechtigkeit des Verfahrens, welche aus erzwungenen Geständnissen entsteht, international als ein Problem des Strafprozess wahrgenommen wird. Darüber hinaus kommt es im Rahmen des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung noch zu Phänomenen wie der Übernahme der Verantwortung für ein Verbrechen zu Gunsten anderer (顶罪, 揽罪), welche 10  Xie Denke (谢登科)/Zhou Kaidong (周凯东), Die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten und Möglichkeiten zu deren Realisierung (被追诉人认罪认罚自愿性及其实现机制), Academic Exchange ( 学术交流), 2018, Nr. 4, S. 97. 11  Brandon L. Garrett, Fehlurteil: Wo liegt der Fehler bei der Strafklage (误判: 刑事指控错在哪了); Li Fenfei (李奋飞) trans., Beijing: CUPL Press, 2015, S. 15 f. 12  Kassin, S. (2005), On the psychology of confessions: Does innocence put innocents at risk? American Psychologist, 60, S. 215–228. 13  Chen Yongsheng (陈永生), Einblicke in das Problem von Fehlurteilen in China – Analyse der Fälle von Fehlurteilen, die seit 2000 ganz China erschüttert haben (我国刑事误判问题透视——以20起震惊全国的刑事冤案为样本的分析), China Law Press, März 2007, S. 45–61.

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widerrechtlich aber erfolgreich zu einer Verfolgung der falschen, nur vermeintlichen Täter führen. Das ist dann nicht nur eine immense Verschwendung von Ressourcen der Judikative, sondern eine Kampfansage an die Autorität und an die Glaubwürdigkeit der Justiz, die es auf jeden Fall zu verhindern gilt. Die Stärkung des Wissens um die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten und um deren Absicherung kann eine widerrechtliche Beweiserhebung durch Ermittlungsbehörden bis zu einem gewissen Grade verhindern, wodurch die Rechtskonformität der Beweismittelerhebung gestärkt wird und Fälle von Rechtsbeugung verhindert werden. Weiter sind die Vorkehrungen zur Garantie der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung, zu deren Kontrolle und zur Sanktionierung von Verstößen gegen die Freiwilligkeit nicht vollständig kongruent. Dabei sind die Systeme zur Kontrolle der Freiwilligkeit und zur Sanktionierung von Verstößen gegen diese Freiwilligkeit jeweils ein konstitutiver Teil des Systems zur Garantie der Freiwilligkeit. Verglichen hiermit ist das System zur Garantie der Freiwilligkeit stärker auf eine positive, konstruktive Garantie der Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung durch den strafrechtlich Verfolgten fokussiert. Letzterer soll seinen Entschluss aus freiem Willen und auf Grund einer rationalen ­Abwägung treffen, wodurch gleichzeitig auch der reibungslose Ablauf des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung garantiert werden soll.

III. Der Standard zur Bestimmung der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung von Strafverfolgten Das Schuldeingeständnis muss auf der Freiwilligkeit des Verdächtigen bzw. des Angeklagten beruhen. Dabei bedeutet Freiwilligkeit (自愿) seinem Wortsinn nach, dass ein Mensch unter allen möglichen Varianten eine auswählen und durchführen kann,14 wobei dies zwei Elemente umfasst, zunächst gibt es keine Einschränkung der Wahlmöglichkeit, was mit frei gemeint ist, dann hat das Handlungssubjekt die Möglichkeit, seine Handlung nach diesem Entschluss auszuführen, was dann die Freiheit des Willens ausmacht. Konkret auf das Verfahren von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung bezogen heißt das, dass der strafrechtlich Verfolgte in keiner Weise Zwang, Bedrohung, Betrug, Verlockung etc. von außen ausgesetzt ist (Voraussetzung) und sich aus eigenem Entschluss für die Handlung des Ein14  Omoregie, J. (2015), Freewill: The degree of freedom within. UK: Author House | ISBN 978-1-5049-8751-6; Hegeler, Edward C. (1910), The Monist, Vol. 20. Open Court. p. 369.



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gestehens der Schuld und das Anerkennen der Strafe entscheidet. § 15 Strafprozessgesetz spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der Tatverdächtige oder Angeklagte freiwillig und wahrhaftig die Verbrechenshandlung schildert, dass er die ihm zur Last gelegte Verbrechenstatsache anerkennt und Willens ist, die Strafe anzunehmen und unter diesen Voraussetzungen nach Gesetz milder bestraft werden kann. Wenn hier also von „freiwillig“ die Rede ist, dann ist damit keine absolute Freiwilligkeit gemeint, sondern eine Freiwilligkeit im Sinne des Gesetzes. Dieses betont hierdurch, dass der des Verbrechens Verdächtige oder Angeklagte sich nach Abwägung der Vor- und Nachteile freiwillig und zur Handlung der aktiven Schilderung entschließt. Nach den Bestimmungen des § 56 cStPG und den hierfür relevanten Interpretationen des Obersten Volksgerichtshofs (OVG) ist ein Geständnis, das auf Grund von Folter, Drohung oder anderen widerrechtlichen Methoden und unter Umgehung der wirklichen Willens des eines Verbrechens Verdächtigen oder Angeklagten erfolgt ist, kein „freiwilliges“ Geständnis ist.15 Daher kann die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten nach folgenden zwei Punkten beurteilt werden: 1. Der Standard der Abwesenheit von Zwang Dieser Standard fordert von den Polizei-16 und Justizbehörden, dass sie im Verlauf der Fallbearbeitung gegenüber dem strafrechtlich Verfolgten keine Methoden wie Zwang, Drohung, Betrug etc. anwenden dürfen. Wenn man die Bestimmung des § 56 Strafprozessgesetz umdreht, dann wir der objektive Beurteilungsstandard der Freiwilligkeit eines Geständnisses des strafrechtlich Verfolgten deutlich. Der Zwang (强迫) zum Eingeständnis der eigenen Schuld ist das Gegenteil dessen, was ein freiwilliges (自愿) Schuldeingeständnis darstellt; widerrechtliche Methoden wie Folter, Drohung, Verlockung oder Betrug (刑讯逼供、威胁、引诱、欺骗) sind konkrete Formen, vermittels derer sich dieser „Zwang“ ausdrückt. Wenn also die Beurteilung der „Freiwilligkeit“ des subjektiven Willens des strafrechtlich Verfolgten sich in eine objektive Beurteilung entlang der Frage verwandelt, ob es sich um „widerrechtliche Methoden wie Folter, Drohung, Verlockung oder Betrug“ han15  Yang Lixin (杨立新), Verständnis und Anwendung der Strafmilderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung (认罪认罚从宽制度理解与适用), Journal der Nationalen Akademie des Volksprokurats (国家检察官学院学报), 2019, Nr. 1, S. 52. 16  Was hier der einfacheren Verständlichkeit wegen als Polizei wiedergeben wird, weil es sich faktisch um diejenige Behörde handelt, die in Deutschland Polizei genannt wird, heißt im Originalton „Behörden für Öffentliche Sicherheit“ (公安机关). Dieser Begriff ist aber für den nicht-informierten deutschen Leser oft nicht als Polizei erkennbar (Anmerkung des Übersetzers).

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delt, dann ist das Problem sehr viel einfacher. Auf diese Weise wird der Standard zur Beurteilung der Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses klar und objektiv. Zunächst ist es den Ermittlungsbehörden nicht erlaubt, Methoden wie direkten physischen Zwang (肉刑) oder indirekten physischen Zwang wie „Kälte, Hunger, Bestrahlung, Hitze oder Dauerverhör“ anzuwenden, um den strafrechtlich Verfolgten dadurch zu einem Geständnis zu zwingen. Außer der Anwendung solch direkter Foltermethoden ist es den Ermittlungsbehörden auch nicht erlaubt, den strafrechtlich Verfolgten durch Methoden wie Drohung, Verlockung, Betrug (威胁、引诱、欺骗) zu einem falschen Schuldeingeständnis zu bringen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Methoden wie „Verlockung, Betrug“ teilweise ihre Notwendigkeit in der Realität finden, so dass die fälschliche Vorspiegelung bestimmter Sachverhalte im Verhör in vielen Staaten dieser Erde eine Strategie darstellen können, um den strafrechtlich Verfolgten zu einer Aussage zu bewegen; so hat beispielsweise der US Supreme Court in Frazier v. Cupp die Legalität einer betrügerischen Fragetechnik bestätigt.17 Man kann also diese Frage nicht vollkommen kategorisch beurteilen, so dass sich für die Methoden wie „Folter, Drohung, Verlockung oder Betrug“ folgende Grenzen ergeben: (1)  Eingrenzung der Betroffenen. Die Verwendung betrügerischer Methoden um ein Schuldgeständnis zu erlangen ist bei folgenden Personengruppen verboten: Blinde, Taube und Stumme; Personen, deren psychische Einsichtsfähigkeit eingeschränkt aber nicht vollkommen verloren ist; Minderjährige; Personen mit kognitiven Störungen; (2) Eingrenzung der Methoden der Anwendung. Der Beschuldigte darf nicht in einer Weise befragt werden, die in schwerwiegender Weise gegen ethische Normen, gegen die Berufsethik, gegen religiöse Überzeugungen verstoßen, oder die gesetzlich verbotene Interessen in Aussicht stellen; (3)  Eingrenzung gegen schwerwiegende Fälschung von Tatsachen. Es darf kein Sachverhalt vorgespiegelt werden, der in schwerwiegender Weise gegen Tatsachen verstößt, um auf diese Weise vom strafrechtlich Verfolgten in betrügerischer oder verlockender Weise ein Geständnis zu erlangen. Ein Geständnis, das in einer oben geschilderten Weise gewonnen wurde, verstößt gegen den Standard der Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses. Andere Aussagen, die während der Ermittlungen durch eine strategische Verwendung von „Drohung, Verlockung, Betrug“ gewonnen wurden, müssen auf Grund der Gesamtsituation des Falls beurteilt werden. Konkret bedeutet dies, dass die individuellen Besonderheiten des strafrechtlich Verfolgten, wie etwa Gesundheitszustand, Geschlecht, Alter, gesellschaftlicher Hintergrund und Umgebung der Befragung berücksichtigt werden müssen, wenn beurteilt werden 17  Frazier

v. Cupp, 394  U.S. 731 (1969).



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soll, inwieweit indirekte physische Gewalt den strafrechtlich Verfolgten in einer Weise unter Druck gesetzt hat, die ihm kaum eine andere Wahl lassen, als sich entgegen seinem eigentlichen Willen für ein Schuldeingeständnis und eine Strafanerkennung zu entscheiden. 2. Standard des tatsächlichen Wissens und Klarheit desselben Es handelt sich hier um eine subjektive Forderung bezüglich des strafrechtlich Verfolgten. Diese subjektive Seite der psychischen Haltung zeigt sich in dessen Handlung. In der Praxis können wir oft hören, dass strafrechtlich Verfolgte, die über keinerlei juristisches Fachwissen und keinerlei relevante Informationen verfügen, von Anfang des Verfahrens an ständig betonen, dass sie ihre Schuld eingestehen und ihre Tat bereuen. Tatsächlich wissen sie aber weder, ob die von ihnen eingestandene Tat mit dem Sachverhalt übereinstimmt, noch ob sie durch Beweismittel unterstützt wird oder ob sie überhaupt ein Verbrechen ist. Obwohl auch diese Art von „Freiwilligkeit“ von einem freien Willen unterstützt wird, ist sie dennoch eine „falsche“ Freiwilligkeit, der es am notwendigen Mindestmaß von Informationsgrundlagen und Vernunft fehlt. Diese beiden Faktoren können also als Standard des tatsächlichen Wissens betrachtet werden. Beim Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung muss der strafrechtlich Verfolgte ein klares Verständnis davon haben, welche Rechte ihm von Verfassung wegen zustehen, welche Prozessrechte ihm auf Grund der Regelungen der Verfassung und der Grundlagen des Strafprozessrechts zustehen; das sollte den Standard der Klarheit des Wissens darstellen. Wie bereits oben gesagt ist die Information über die prozessualen Rechte eine Realisierung der Subjektstellung des strafrechtlich Verfolgten innerhalb des Instituts von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung, gleichzeitig ist dies ein Maßstab, an dem Voraussetzungen und Grundlagen der Freiwilligkeit deutlich werden. Im Jahr 1963 entschied der US Supreme Court im Geiste des 5. und des 6. Amendments den Fall „Miranda vs. Arizona“ und schuf auf diese Weise die sogenannte „Miranda clause“, welche für den strafrechtlich Verfolgten das verfassungsmäßige Recht auf Information und das Recht zu schweigen verbürgt hat. Diese Formel hat seither weitverbreitet Anerkennung gefunden. In diesem Sinne ist es auch eine wichtige Manifestation der menschenrechtlichen Garantien des strafrechtlich Verfolgten, wenn er im Rahmen des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung vor dem Verhör gesagt bekommt, dass er die gesetzlich verbürgten Verfahrensrechte der Unschuldsvermutung, des Rechts auf Schweigen und des Rechts auf Verteidigung inne hat. Eine Aussage zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung, die unter diesen Voraussetzungen erfolgt ist, kann erst sicherstellen, dass dieser Aussage die Klarheit einer reiflichen Überlegung zukommt.

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(1) Der Standard der Bestimmtheit verlangt, dass der strafrechtlich Verfolgte klar erkennt, was für einen Charakter das ihm zur Last gelegte Verbrechen hat und was ein Schuldeingeständnis für Folgen hat. So trifft den Staatsanwalt im US-amerikanischen Verfahren des plea bargain die Pflicht, die Beweismittel offenzulegen, gleichzeitig muss das Gericht nach dem Geständnis und vor dem Urteil prüfen, ob die Beweismittel, die dem Verfahren zu Grunde liegen, ausreichend sind, um das Geständnis des Angeklagten zu unterstützen. In vielen Gerichten der Bundesstaaten wird daher an Hand einer Vernehmung von Angeklagtem und Staatsanwaltschaft, oder durch eine schriftliche Prüfung der Anklageschrift die Tatsachenbasis des Falls untersucht, um dadurch zu verhindern, dass es zu einem falschen Geständnis kommt18, dem es an der Grundlage eines tatsächlichen Verbrechens mangelt, was dann zu einem Justizirrtum führen würde. (2)  Das Geständnis, das der strafrechtlich Verfolgte gegenüber der Tatsache und dem Charakter des ihm zur Last gelegten Verbrechens ablegt, sowie die Anerkennung der von der Staatsanwaltschaft vorgeschlagenen Sanktion, sind eindeutig, enthalten also keine Unklarheiten. Es darf nicht sein, dass man nur auf Grund der Tatsache, dass der strafrechtlich Verfolgte keinen Widerspruch eingelegt hat, schließt, dass er freiwillig seine Schuld eingestanden und seine Strafe akzeptiert hat. Eine solche Annahme oder Folgerung kann die dem Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung zu Grunde liegenden Werte nicht einlösen, sie ist auch in Hinblick auf die umfassende Garantie der Rechte des strafrechtlich Verfolgten nicht förderlich. Das Problem wird offensichtlich, wenn z. B. § 4 Durchführungsbestimmungen der Stadt Beijing zur versuchsweisen Anwendung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in Straf­ fällen (北京市关于开展刑事案件认罪认罚从宽制度试点工作实施细则) bestimmt, dass „die Tatsache, dass Tatverdächtige und Angeklagte, welche die ihnen zur Last gelegte hauptsächliche Straftat anerkennen und welche nur in einigen weniger wichtigen Punkten Widerspruch einlegen, welche auf die Einordnung des Verbrechens und auf die Strafzumessung keine Auswirkungen haben, oder welche gegenüber dem strafrechtlichen Tatbestand keinen Widerspruch äußern, sondern nur dessen normative Einordnung anzweifeln, die Anwendung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung nicht beeinflusst.“ Abgesehen davon sollte beim Institut von Milde bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung die Erkenntnis des strafrechtlich Verfolgten nicht bei 18  Wang Chao-Peng (王兆鹏), Amerikanisches Strafprozessrecht (美国刑事诉讼 法), Beijing: Peking University Press (北京大学出版社), 2005, S. 539.



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dem ihm zur Last gelegten Verbrechen stehen bleiben, vielmehr sollte es dahingehend erweitert werden, dass es die „Folgen des Schuldeingeständnisses“ beinhaltet. Die sogenannten „Folgen des Schuldeingeständnisses“ beinhalten sowohl die materiellrechtliche Sanktionsfolge des eingestandenen Verbrechens, als auch die prozessrechtliche Folge der Minderung von Verfahrensrechten, wie die Einwilligung in einen Verzicht auf ein normales Urteilsverfahren, das durch ein beschleunigtes oder durch ein vereinfachtes Verfahren ersetzt wird. Deswegen kann der strafrechtlich Verfolgte nur dann eine vernünftige Entscheidung über seine Rechte treffen und mit der Verfolgungsbehörde eine Verständigung mit Schuldeingeständnis eingehen, wenn er über diese Aspekte umfassend informiert ist und daher die verfahrensrechtlichen Folgen und die Folgen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung gegeneinander abwägen kann.19 Dabei sollte hier auch betont werden, dass ein Widerspruch des strafrechtlich Verfolgten gegen die Verwendung des beschleunigten Verfahrens, des vereinfachten Verfahrens oder eine Vereinfachung des üblichen Verfahrens von seinem Wesen her keinen Einfluss auf das Eingeständnis der Schuld und die Anerkennung der Strafe hat. (3)  Standard der Zuverlässigkeit. Dies ist gegenüber Schuldeingeständnis und Strafanerkennung eine objektive Forderung, welche die beiden Ebenen der Wahrhaftigkeit und der Rechtmäßigkeit umfasst. Nur wenn ein Schuldeingeständnis des strafrechtlich Verfolgten gleichzeitig wahrhaftig und rechtmäßig ist, genügt es dem Anspruch der Zuverlässigkeit. Nur dann kann es also als objektive Manifestation der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung durch den strafrechtlich Verfolgten betrachtet werden, so dass es als Begründung im Rahmen von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung akzeptiert wird. Wenn ein Strafurteil nicht auf Grundlage der Wahrhaftigkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung durch den strafrechtlich Verfolgten ergeht, dann verliert die Strafjustiz die Basis ihrer Legitimität und ihrer Fairness. Daher muss die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung dem Standard der Wahrhaftigkeit genügen. Um das zu ermöglichen, muss konkret Folgendes erfüllt sein: die Verbrechenstatsache, die der strafrechtlich Verfolgte eingesteht, muss sich wirklich so zugetragen haben und darf keine Fabrikation sein; das Verbrechen muss von ihm selbst verübt worden sein, er darf also niemanden anders durch sein Geständnis schützen; es handelt sich um eine wahrhafte Schilderung und nicht um die Verschleierung der eigent19  Kong Guanying (孔冠颖), Standard für die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung und dessen institutionelle Garantien (认罪认罚自愿性判断 标准及其保障), Journal der Nationalen Akademie des Volksprokurats (国家检察官学 院学报), 2017, Nr. 1, S. 21–22.

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lichen Tatsachen. Dabei gilt es zu beachten, dass das Geständnis des strafrechtlich Verfolgten in Fällen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung nicht selbstverständlich eine wahre Aussage ist. Unter dem Eindruck der lockenden Sanktionsmilderung, oder im Bestreben, das Verbrechen eines anderen zu decken, oder Verbrechen anderer zu schützen, kommt es immer wieder zu falschen Geständnissen. Daher darf eine eidesstattliche Erklärung über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung keinen alleinigen Grund für eine Verurteilung darstellen; es bedarf vielmehr weiterer Beweismittel, welche das Geständnis unterstützen, um dadurch sicherzustellen, dass Schuldeingeständnis und Strafanerkennung tatsächlich der Wahrheit entsprechen. § 55 Strafprozessgesetz formuliert: „Urteile haben in allen Fällen haben Beweismittel zu berücksichtigen, haben die Untersuchung derselben zu berücksichtigen, dürfen nicht leichtfertig einem Geständnis Glauben schenken. Nur auf Grund eines Geständnisses des Angeklagten und ohne andere Beweismittel kann die Schuld des Angeklagten nicht festgestellt werden und er kann nicht zu einer Strafe verurteilt werden.“ Diese Bestimmung macht die Wahrhaftigkeit zu einer notwendigen Forderung: die wahrhaftige Aussage des strafrechtlich Verfolgten muss mit den materiellen Beweisen in Einklang stehen; eine Diskrepanz zu anderen mündlichen Beweismitteln muss eine überzeugende Erklärung finden, so dass falsch und wahr unterschieden werden können. Der Standard der Zuverlässigkeit verlangt weiter, dass Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten der Rechtmäßigkeit Genüge tun. Dabei muss das Geständnis des strafrechtlich Verfolgten sowohl in materieller als auch in prozessualer Hinsicht rechtmäßig sein. Ein freiwilliges Geständnis muss nicht unbedingt rechtmäßig sein; in der Praxis kommt es durchaus vor, dass ein strafrechtlich Verfolgter freiwillig ein Geständnis über ein Verbrechen ablegt, das er nicht begangen hat. Solch ein „Schuldeingeständnis“ und solch eine „Strafanerkennung“ können die Ermittlungen der Justizbehörden in eine falsche Richtung leiten und zu Fehlurteilen führen, so dass der wirkliche Täter seiner Strafe entkommt. Dazu ist solch ein Verhalten in materiellrechtlicher Hinsicht widerrechtlich und kann das Verbrechen des „Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung“ verwirklichen. Des Weiteren genügt ein freiwilliges Geständnis, das in verfahrensrechtlicher Hinsicht widerrechtlich ist, in keiner Weise der Forderung nach Zuverlässigkeit, es muss daher entweder prozessrechtlich berichtigt oder im Einklang mit dem Gesetz aus dem Verfahren ausgeschlossen werden. § 56 Strafprozessgesetz bestimmt eindeutig: „Aussagen von Tatverdächtigen oder Angeklagten, die durch Folter gewonnen wurden, sind auszuschließen. Materielle und schriftliche Beweisstücke, deren Gewinnung nicht dem rechtlichen Verfahren entspricht, sind geeignet, die Fairness der Justiz schwerwiegend zu beeinträchtigen und müssen daher entweder ergänzt oder ausgeschlossen werden; wenn eine Er-



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gänzung ausgeschlossen ist oder wenn es keine vernünftige Erklärung gibt, sind diese Beweismittel auszuschließen.“ Der erste Teil dieser Bestimmung bezieht sich auf den Ausschluss widerrechtlich erlangter mündlicher Beweise; ein sogenanntes „freiwilliges Geständnis“, das in Fällen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung als Ergebnis von Folter gewonnen wurde, muss selbstverständlich in Anwendung dieser Bestimmung aus dem Verfahren ausgeschlossen werden. Dabei stellt sich die Frage, wie die Rechtmäßigkeit von materiellen oder schriftlichen Beweisen zu beurteilen ist, die auf der Grundlage widerrechtlicher mündlicher Beweise ermittelt werden, insbesondere stellt sich die Frage, ob diese den Anforderungen an Freiwilligkeit und Zuverlässigkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung von Seiten des strafrechtlich Verfolgten genügen. Das berührt die Frage der Anwendung der „poisonous fruit“ Regel. Diese wurde im Fall Silverthorne Lumber Co. v. U.S (1920) aufgestellt; inhaltlich besagt sie, dass Beweismittel zweiter Hand, die sich aus illegalen Beweismitteln ergeben, ebenfalls aus dem Verfahren ausgeschlossen werden, wobei es drei Ausnahmeregeln gibt: die Ausnahmen der „unabhängigen Quelle“, der „notwendigen Entdeckung“ und der „Reinwaschung von Schmutz“. Diese Regel stellt eine strenge Beschränkung der justitiellen Ermittlungen dar, gleichzeitig garantiert sie im größtmöglichen Maße, dass der strafrechtlich Verfolgte keine Verletzung durch widerrechtliche Verfahren erdulden muss. Doch diese Regel beschränkt auch in erheblichem Maße die Effizienz der Ermittlungen und die Realisierung der materiellen Wahrheit. Deshalb findet diese Regel bislang in China keine Anwendung; es gibt im Strafprozessgesetz bislang nur die oben erwähnten Bestimmungen zum Ausschluss widerrechtlicher Beweismittel. Ein Geständnis, das der strafrechtlich Verfolgte unter Folter abgelegt hat, ist natürlich auszuschließen. Doch ist es bei Verfahren von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung oft so, dass sich Schlüsselbeweise aus dem Geständnis ergeben, dass man „vom Geständnis zum Beweis“ kommt, dass also das eine das andere unterstützt. Wenn also der Verdacht besteht, dass das Verfahren zur Beweisermittlung widerrechtlich ist, dann kann dies die Fairness der Justiz ernsthaft beeinflussen. Deshalb sollte in solchen Fällen gefordert werden, entweder die Beweismittel zu verstärken oder eine zufriedenstellende Erklärung zu liefern. Wenn die Beweismittel nicht verstärkt werden können und es auch keine ausreichende Erklärung gibt, dann sollten die Beweismittel ausgeschlossen werden.

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IV. Gestaltung institutioneller Garantien für die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung von Strafverfolgten Obwohl die Reform des Strafprozessgesetzes aus dem Jahr 2018 in mehreren Paragraphen die Garantie der Rechte des strafrechtlich Verfolgten innerhalb des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung adressiert hat, sind Garantien zur Freiwilligkeit des Geständnisses sehr einfach und weisen einen Mangel an Systematik auf, so dass sie dringend der Verbesserung bedürfen. Wenn wir das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung aus der Sicht der Freiwilligkeit und der Intention des strafrechtlich Verfolgten betrachten, können wir zur Frage der Garantie der Freiwilligkeit die untenstehenden Punkte herausarbeiten. 1. Information des Strafverfolgten als Garantie der Freiwilligkeit a) Schaffung eines Rechts auf vorherige Aufklärung Das Recht des strafrechtlich Verfolgten auf Wissen ist ein wichtiges Verfahrensrecht im Strafprozess. Nur wenn der strafrechtlich Verfolgte eindeutig weiß, welche Rechte er hat, wenn er eindeutig weiß, unter welchen Handlungsbedingungen sein Schuldeingeständnis zu erfolgen hat, kann dieses wirklich dem Kriterium der Freiwilligkeit genügen. Hierzu ist es zunächst erforderlich, dass ein System der schriftlichen Mitteilung über relevante Rechte errichtet wird. Obwohl das Strafprozessgesetz bestimmt, dass der strafrechtlich Verfolgte das Recht hat, von den Ermittlung-, Anklage- und Urteilsbehörden darüber informiert zu werden, welche Prozessrechte er hat; insbesondere dass er bei einer wahrhaftigen Aussage über seine Tathandlung eine Sanktionsmilderung zu erwarten hat, dass er vom Institut des Schuldeingeständnisses, der Schuldanerkennung und der Sanktionsmilderung Gebrauch machen kann, dass er das Recht hat, den Bereitschaftsanwalt oder einen Wahlverteidiger zu sprechen, so gibt es eben auch Inhalte, die nicht von der Informationspflicht erfasst sind, die aber im Weiteren die Wahl des strafrechtlich Verfolgten für oder gegen das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung im Verlauf des Verfahrens beeinflussen können, so etwa das Recht, dass niemand zur Selbstbezichtigung gezwungen werden darf, das Recht, den Anklageparagraphen zu kennen und zu wissen, auf welche Tatsachen bzw. auf welche Beweismittel sich die Anklage stützt, das Recht zu wissen, wie das Verfahren von Strafeingeständnis und Schuldanerkennung abläuft und welche Konsequenzen dies hat, sowie das Recht des Wiederrufs. Eben diese Rechte sichern die Freiwilligkeit des



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strafrechtlich Verfolgten ab; sie sollten daher nicht nur in den Inhalt, über den der strafrechtlich Verfolgte aufgeklärt werden muss, integriert werden, sondern sie sollten darüber hinaus gesondert betont werden. Darüber hinaus macht es einen Unterschied, ob jemand nur mündlich über seine Rechte in Kenntnis gesetzt wird, oder ob er eine schriftliche Erklärung über seine Rechte bekommt. Die mündliche Information wirkt informell; der strafrechtlich Verfolgte kann diese Informationen über Garantie und konkrete Auswirkungen seiner Rechte in der Geschwindigkeit gar nicht alle erfassen. Daher sollte dem strafrechtlich Verfolgten eine schriftliche Erklärung über seine Rechte verlesen werden, um ihm danach diese Erklärung auszuhändigen. Wenn dieser den Empfang der Erklärung durch Unterschrift bestätigt, dann wird dadurch die Garantie der Freiwilligkeit verstärkt. Wenn Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht eine schriftliche Erklärung über die diesbezüglichen Rechte aushändigen, dann sollte der Inhalt folgende Punkte umfassen: der strafrechtlich Verfolgte hat folgende Rechte: das Recht auf Verteidigung und das Recht, nicht dazu gezwungen zu werden, das eigene Verbrechen beweisen zu müssen; das von der Staatsanwaltschaft angelastete Verbrechen und die Tatsachen und Beweise, welche dem zu Grunde liegen; Verfahren und Folgen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung; Folgen und Fristen, welche für einen Widerruf des Instituts der Sanktionsmilderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung gelten. Weiter sollte ein System der Eröffnung von Beweismitteln eingeführt werden. Dies ist eine Maßnahme für die grundsätzliche Garantie der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung, welche die Asymmetrie der Information über Beweismittel auf Seiten der Verteidigung abbauen kann und welche dadurch verhindert, dass die Verteidigung sich im Irrtum über die Tatsachen des Falles befindet. Es wird also hierdurch dem strafrechtlich Verfolgten ermöglicht, sich ein ganzheitliches, stimmiges Bild über die Beweismittel zu verschaffen, welche die Anklage vorbringt. Dadurch wird auch die Vorhersehbarkeit des Urteils gestärkt, wodurch wiederum die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung befördert werden. b) Vervollkommnung der Verteidigungsrechte aa) Garantie der Akteneinsicht von Seiten des strafrechtlich Verfolgten Die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung von Seiten des strafrechtlich Verfolgten verlangt, dass dieser vollständig über den Fall informiert ist. Liegt die Kenntnis der Informationen über Fall und relevante Beweismittel nicht vor, dann ist nicht sicher, ob das Verbrechen, das der strafrechtlich Verfolgte eingesteht, auch wirklich mit den Tatsachen im Einvernehmen steht, und ob es durch Beweismittel gestützt wird. Einer sol-

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chen Art von „Freiwilligkeit“ fehlt die Informationsgrundlage und das Kriterium der Wahl. Dadurch kann nur schwer behauptet werden, dass dies wirklich der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung genügt. Es ist deshalb notwendig, dass der strafrechtlich Verfolgte das Recht zur Einsicht in Akten und Beweismittel hat. Die gesetzlichen Bestimmungen in China verleihen bislang nur dem Verteidiger ein Akteneinsichtsrecht, der strafrechtlich Verfolgte selber hat kein solches Recht. Natürlich muss dabei Sorge dafür getragen werden, dass der strafrechtlich Verfolgte diese Gelegenheit nicht dazu nutzt, Beweismittel zu beschädigen oder zu vernichten. Daher müssen Zeit, Art und Weise, sowie Umfang der Akteneinsicht angemessen eingeschränkt werden. Der Zeitpunkt der Akteneinsicht sollte bis zu dem Moment warten, an dem die Ermittlungen abgeschlossen sind und die Akte dem Volksprokurat zur Anklageprüfung übermittelt wird; die Art der Akteneinsicht sollte sich hauptsächlich auf eine Kopie der Akte oder auf eine elektronische Version der Akte stützen, sollte tatsächlich die Lektüre der Originalakte notwendig sein, dann sollte ein Vertreter der Justizbehörden anwesend sein; der Umfang der Akteneinsicht sollte sich auf die Gesamtheit der Akte, die zu dem Fall des strafrechtlich Verfolgten angelegt wurde, erstrecken. bb) Garantie für die effektive Beteiligung des Strafverteidigers Im gerichtlichen Verfahren der Sanktionsmilderung bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung sind die Feststellung der Tatsachen und Beweismittel des Falles bereits nicht mehr das zentrale Problem, vielmehr stehen in der gerichtlichen Verhandlung juristische Fragen wie die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses, die Feststellung der zutreffenden Norm, sowie die Schwere der Strafzumessung als zentrale Inhalte im Raum. Daher kann der strafrechtlich Verfolgte, der im Verständigungsverfahren keine effektive Hilfe eines Anwalts erhält, nur schwer entscheiden, ob er ein Schuldeingeständnis abgeben soll. Daher ist das Recht auf Unterstützung durch einen Anwalt ein wichtiges Prozessrecht des Verdächtigen bzw. des Angeklagten, das sich direkt auf die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses auswirkt. Es ist deshalb wichtig, im Verständigungsverfahren das Institut des Pflichtverteidigers einzuführen. cc) Verbesserung der Institution der Anwaltsbereitschaft Der Ausübung der Verteidigungsrechte durch den Anwalt kommt bei der Verständigung eine besonders wichtige Funktion zu, um die gesetzlichen Rechte und Interessen des strafrechtlich Verfolgten zu gewährleisten. Deshalb ist es notwendig, dass das System der Prozesshilfe verbessert wird.



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Konkret heißt das, dass Anwälte der Prozesshilfe, die am Gericht oder im Untersuchungsgefängnis in der Bereitschaft (值班) arbeiten, dem strafrechtlich Verfolgten jeder Zeit während des gesamten Verfahrens als Ansprechpartner in Rechtsfragen zur Verfügung stehen sollten, um so zu einer umfassenden rechtlichen Unterstützung beizutragen. Das Recht des strafrechtlich Verfolgten, sich während des Strafverfahrens einen Anwalt zu wählen oder einen solchen zugeteilt zu bekommen, ist ein grundlegendes Menschenrecht. Dieses Recht auf rechtliche Unterstützung wird in vielen internationalen Abkommen garantiert, so z. B. dem International Covenant on Civil and Political Rights (ICCPR) (公民权利和政治权利 国际公约), oder den United Nations Principles and Guidelines on Access to Legal Aid in Criminal Justice Systems (联合国关于在刑事司法系统中获得 法律援助机会的原则和准则). Innerhalb des Verfahrens von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung hat China ebenfalls die Garantie des rechtlichen Beistands zu einem wichtigen Inhalt gemacht. Aus diesem Grund hat China das Institut des diensthabenden Anwalts (值班律师制度), (was man auch als „Anwaltsbereitschaft“ oder „anwaltschaftlichen Bereitschaftsdienst“ übersetzen könnte), eingerichtet. § 36 Strafprozessgesetz bestimmt: „Die Behörden der Rechtshilfe können Anwälte an das Volksgericht und in das Untersuchungsgefängnis entsenden, die dort Bereitschaftsdienst versehen. Wenn der Verdächtige oder der Angeklagte keinen Verteidiger gewählt hat und wenn die Rechtshilfe ihm keinen Anwalt als Verteidiger bereitgestellt hat, dann kann der Anwalt im Bereitschaftsdienst dem Verdächtigen bzw. dem Angeklagten rechtliche Auskünfte erteilen, Ratschläge zur Verfahrenswahl geben, Anträge zur Änderung von Zwangsmaßnahmen stellen und Vorschläge zur Erledigung des Falls unterbreiten.“ Das Volksgericht, das Volksprokurat und das Untersuchungsgefängnis sollen also den Verdächtigen bzw. den Angeklagten darüber informieren, dass er ein Recht darauf hat, den Anwalt im Bereitschaftsdienst aufzusuchen, dazu sollen sie die Voraussetzungen für den Kontakt zwischen dem Verdächtigen bzw. dem Angeklagten und dem Anwalt im Bereitschaftsdienst konkret ermöglichen. Das ursprüngliche Ziel der Schaffung des anwaltschaftlichen Bereitschaftsdienstes war die Möglichkeit, dem strafrechtlich Verfolgten im Rahmen des Instituts von Strafeingeständnis und Schuldanerkennung eine effektive Rechtshilfe an die Hand zu geben, um dadurch sicherzustellen, dass er ausreichende Kenntnisse über dieses Institut hat. Jedoch wurde bereits aus den einschlägigen Versuchen zu Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung deutlich, dass die Kompetenzen und der Inhalt der Rechte des anwaltschaftlichen Bereitschaftsdienstes in der Form, wie dieser momentan ausgestaltet ist, zu sehr eingeschränkt sind. Diese Einschränkungen bewirken, dass das gegenwärtige System nur bedingt seine Wirkung entfalten kann und wirkt sich daher auch auf die Garantien der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis

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und Strafanerkennung aus. Das System sollte daher in den folgenden beiden Punkten verbessert werden. (aa) A  usweitung der Kompetenzen der Anwaltsbereitschaft auf das Niveau eines Strafverteidigers und der dazugehörigen Rechte Die aktuellen Bestimmungen des Strafprozessrechts gewähren der Anwaltsbereitschaft lediglich unterstützende Rechte wie „die Erteilung rechtlicher Auskünfte, das Geben von Ratschlägen zur Verfahrenswahl, das Stellen von Anträgen zur Änderung von Zwangsmaßnahmen und das Unterbreiten von Vorschlägen zur Erledigung des Falls“; sie verfügt dagegen nicht über Verteidigerrechte wie das Recht auf Akteneinsicht, das Recht auf anwaltlichen Kontakt oder das Recht auf Erhebung und Untersuchung von Beweismitteln. Diese Mängel in Bezug auf die Rolle des anwaltlichen Bereitschaftsdienstes als Verteidiger bewirkt, dass die Freiwilligkeit des strafrechtlich Verfolgten durch die Anwaltsbereitschaft nicht wirklich garantiert werden kann. Wenn aber die Rolle des anwaltschaftlichen Bereitschaftsdienstes neu austariert werden soll, dann müssen folgende drei Punkte verändert werden. Erstens muss klar gestellt werden, dass der Anwalt des Bereitschaftsdienstes nicht nur während der Vernehmung das Recht hat, dem strafrechtlich Verfolgten, der seine Schuld eingesteht und der seine Strafe anerkennt, rechtliche Auskünfte zu erteilen, Ratschläge zur Verfahrenswahl zu geben, Anträge zur Änderung von Zwangsmaßnahmen zu stellen und Vorschläge zur Erledigung des Falls zu unterbreiten. Darüber hinaus soll er das Recht haben, vom strafrechtlich Verfolgten als Verteidiger beauftragt zu werden, was es ihm ermöglichen würde, während den Ermittlungen, der Anklageprüfung und der Gerichtsverhandlung dem Verfahren des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung beizuwohnen, um dem strafrechtlich Verfolgten auf diese Weise eine effektive Verteidigung zu ermöglichen, also insbesondere dafür Sorge zu tragen, dass der strafrechtlich Verfolgte über Schuldeingeständnis und Strafanerkennung klar informiert und immer auf dem neuesten Stand ist. Zweitens sollte klargestellt werden, dass dem Anwalt des Bereitschaftsdienstes das Recht eingeräumt wird, Akteneinsicht zu nehmen, Kontakt mit dem Verdächtigen bzw. dem Angeklagten zu haben, nicht abgehört zu werden, Beweismittel zu erheben und zu untersuchen, über Fristen etc. informiert zu werden, Vorschläge für die Verteidigung zu unterbreiten, und an der gerichtlichen Beweismitteluntersuchung sowie der Beweiswürdigung im Gericht teilzunehmen. Auf diese Weise soll seine Kompetenz, im Verfahren mitzuwirken, voll zur Geltung kommen, so dass er die Rechte des strafrechtlich Verfolgten umfänglich wahren kann, um diesem auf diese Weise dazu zu verhelfen, eine freiwillige Entscheidung zu treffen, bei der ihm vollkommen bewusst ist, welche rechtlichen Bestimmungen für ihn relevant sind, welches



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Verbrechen ihm auf Grund welcher Tatsachen zur Last gelegt wird, was die rechtlichen Folgen eines Schuldeingeständnisses und einer Strafanerkennung sind, sowie was für eine Strafe in diesem Fall voraussichtlich verhängt werden wird. Drittens sollte der Übergang zwischen anwaltschaftlichem Bereitschaftsdienst und Verteidigung verbessert werden. So kam es z. B. bereits in den Versuchsprojekten mehrfach vor, dass der Anwalt aus dem Bereitschaftsdienst nicht am gerichtlichen Verfahren teilnahm, dass aber der Verteidiger in der Gerichtsverhandlung das Schuldeingeständnis und die Strafanerkennung des Angeklagten nicht unterstützt hat. Um dieses Problem zu vermeiden und um zu verhindern, dass sich daraus negative Konsequenzen für den Angeklagten ergeben, sollte der Übergang zwischen diesen beiden anwaltlichen Funktionen besser gestaltet werden. Dabei könnte überlegt werden, es Anwälten zu ermöglichen, von einer in die andere Rolle wechseln zu können. Wenn der strafrechtlich Verfolgte statt des anwaltlichen Bereitschaftsdienstes eine andere Person als Verteidiger beauftragt oder wenn er einen anderen Verteidiger von der Prozesshilfe gestellt bekommt, und wenn dieser Verteidiger dem Schuldeingeständnis bzw. der Strafanerkennung durch den Angeklagten nicht zustimmen, dann soll der Wille des strafrechtlich Verfolgten respektiert werden, so dass dieser bestimmt, ob das Verfahren von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung fortgesetzt oder abgebrochen wird, so dass hiernach ein allgemeines Verfahren zum Einsatz kommen wird. (bb) V  erstärkung der Garantien zur Realisierung einer effektiven ­Anwaltsbereitschaft Das Institut der anwaltschaftlichen Bereitschaft hat sich noch nicht vollständig durchgesetzt, sondern ist nach wie vor – wie bei den früheren Pilotprojekten – beschränkt. Im Verlauf der Pilotprojekte fiel auf, dass die Zahl der Anwälte, die tatsächlich an der anwaltlichen Bereitschaft teilnahmen, recht gering war, dass deren Entlohnung nicht sichergestellt war, dass es in vielen Untersuchungsgefängnissen keinen Bereitschaftsdienst durch Anwälte gab und dass Informationen zum anwaltschaftlichen Bereitschaftsdienst sehr häufig nicht interregional ausgetauscht wurden. Obwohl das chinesische Strafprozessgesetz 2018 veröffentlicht wurde, hat sich die Einrichtung der Anwaltsbereitschaft nur schleppend vollzogen, denn um dieses System aufzubauen, müssen Polizei, Volksprokurat, Volksgericht und Justizverwaltungsbehörden zusammenarbeiten und sich gegenseitig abstimmen, so dass das fehlende Interesse oder eine fehlende Beteiligung an der Finanzierung durch eine der beteiligten Behörden das ganze Projekt ausbremsen kann. Die mangelhafte Umsetzung des anwaltschaftlichen Bereitschaftsdienstes ist daher offensichtlich mangelhaft und schränkt die Funktionalität der Anwaltsbereitschaft ein. Daher ist es auch schwierig, dem strafrechtlich Verfolgten umge-

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hend und umfassend eine rechtliche Beratung über die Anwaltsbereitschaft zu garantieren. Ein gutes Gesetz sollte auch gut umgesetzt werden; der Gedanke der Anwaltsbereitschaft ist solch eine Umsetzung Wert, so dass er sowohl horizontal als auch vertikal durchgesetzt werden sollte. Auf der horizontalen Ebene sollten die Kompetenzen der Anwaltsbereitschaft im Einvernehmen mit Polizei, Volksprokurat und Volksgericht geklärt werden, so dass Kompetenzen und Verantwortung geklärt sind; konkret könnte die Umsetzung der Anwaltsbereitschaft bei den jeweiligen Behörden in die jährliche Evaluierung der Reformschritte innerhalb der Umsetzung der Justizreform einbezogen werden. In vertikaler Richtung sollte in jeder der beteiligten Behörden eine Strategie entwickelt werden, wie man das System der Anwaltsbereitschaft umsetzen kann, so dass von der Ebene der Provinzen bis hinab zum einfachen Volksgericht bzw. bis zum einfachen Volksprokurat entsprechende Maßnahmen durchgesetzt werden. In dem Rahmen sollten dann auch eine Überprüfung und institutionelle Garantie der Anwaltsbereitschaft erfolgen, so dass das positiv zu betrachtende Institut der Anwaltsbereitschaft tatsächlich in der Fläche um- und durchgesetzt wird. (4) Aufbau eines Systems, das Anwälten das Recht auf Anwesenheit gestattet. Ein wichtiger Maßstab, an Hand dessen die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung beurteilt werden kann, ist die Frage, ob ein Anwalt vor Ort dem strafrechtlich Verfolgten bei seinem Schuldeingeständnis und bei seiner Strafanerkennung effektiv helfen kann. Das 6te Amendment der US-amerikanischen Verfassung garantiert das Recht auf rechtlichen Beistand, durch das sicher gestellt wird, dass der Angeklagte im Beisein und mit der Hilfe eines Verteidigers die für ihn günstigste Strategie der Verteidigung wählt, so dass der strafrechtlich Verfolgte hierdurch ein klares Wissen über seine Situation erhält. Auch die berühmte „Miranda clause“ stellt eindeutig fest, dass der Angeklagte bei der Vernehmung durch die Polizei das Recht hat, vor Eintreffen des Anwalts von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen, dass er sich in der Folge mit seinem Anwalt beraten kann, und dass er auch ein Recht darauf hat, dass bei seiner Vernehmung ein Anwalt zur Stelle ist. Andernfalls darf eine Aussage, die u. U. dennoch gemacht wurde, vor Gericht nicht verwandt werden.20 § 174 chinesisches Strafprozessgesetz bestimmt: „Gesteht der Verdächtige freiwillig sein Verbrechen ein und erkennt er die Strafzumessung sowie die Verfahrenswahl an, dann soll er im Beisein eines Verteidigers oder eines Bereitschaftsanwalts eine eidesstaatliche Erklärung über dieses Eingeständnis der Schuld und über die Anerkennung der 20  Ronaldo V. del Carmen (罗纳尔多·V·戴尔卡门), Criminal Procedure – Law and Practice (美国刑事诉讼----法律和实践); Zhang Hongwei (张鸿巍) et al. trans., Wuhan University Press, 2006, S. 410.



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Strafe unterzeichnen.“ Um ein eindeutiges Wissen um Schuldeingeständnis und Strafanerkennung sowie die Freiwilligkeit einer Entscheidung hierzu zu garantieren, sollte der Bereitschaftsanwalt schon beim ersten Verhör dem strafrechtlich Verfolgten entsprechende Informationen zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung zur Verfügung stellen und eine qualifizierte Rechtsberatung anbieten. Er sollte sich nicht darauf beschränken, dass er nur gewissermaßen als Zeuge der Unterzeichnung entsprechender Dokumente beiwohnt, wenn also die Entscheidung für oder gegen Schuldeingeständnis etc. bereits getroffen ist. Momentan wird dem Anwalt in China nur das Recht auf Anwesenheit bei der Unterzeichnung der eidesstattlichen Erklärung zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung eingeräumt; es beinhaltet jedoch nicht das Recht auf Anwesenheit und damit auf Rechtsberatung während des Heranreifens der Entscheidung für ein Schuldeingeständnis oder für eine Strafanerkennung. Wenn der Anwalt (unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Anwalt des Bereitschaftsdienstes oder um einen offiziellen Verteidiger handelt) nicht bereits zu Anfang des Verfahrens von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung anwesend sein kann und wenn er in der Folge nicht kontinuierlich an dem Verfahren teilnehmen kann, so dass er die Gelegenheit zu konkreten Vorschlägen hat, dann sieht sich der strafrechtlich Verfolgte mit einem sehr begrenzten juristischen Wissen seinerseits den Behörden der Staatsmacht, also der Polizei bzw. dem Volksprokurat gegenüber und ist im Verhör und bei seiner Aussage auf sich alleine gestellt. Selbst wenn Polizei und Volksprokurat den strafrechtlich Verfolgten darüber informieren, was die Besonderheiten und die Folgen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung sind, so ist kaum zu erwarten, dass die Behörden der Strafverfolgung nach Erledigung ihrer Informationspflicht ständig die Rechte des strafrechtlich Verfolgten im Auge behalten und von dessen Perspektive aus ihn darauf hinweisen, was im weiteren seine prozessualen Rechte sind und wie er durch deren Ausübung sein Interesse maximieren kann. Daher kann keine Realisierung der Informationspflicht den rechtlichen Beistand durch einen Anwalt, der anwesend ist, ersetzen. Die Informationspflicht ist daher keine Garantie dafür, dass der strafrechtlich Verfolgte tatsächlich eine „informierte und freiwillige Entscheidung“ trifft. Eine Verbesserung der Lage sollte durch folgende Schritte erreicht werden: a. Klärung der Anwesenheit des Anwalts im Verfahren. Das Recht, dass ein Anwalt anwesend sein darf, sollte bereits vor der ersten Vernehmung des Angeklagten, also bei der Vorladung des Angeklagten zum Zweck der Vernehmung, diesem mitgeteilt werden, so dass es bereits während der ersten Vernehmung des Angeklagten konkret ausgeübt werden kann. In Bezug auf Schuldeingeständnis und Strafanerkennung umfasst es die Verfahrensschritte von der Vernehmung durch die Polizei, über die Vernehmung durch das Volksprokurat, bis hin zur Vernehmung im gerichtlichen Verfahren; der straf-

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rechtlich Verfolgte kann es jederzeit ausüben und die Strafverfolgungsbehörden müssen es jederzeit garantieren. Eine im materiellen Sinne verstandene Anwesenheit des Anwalts beginnt bereits vor der Entscheidung des strafrechtlich Verfolgten bezüglich Schuldeingeständnis und Strafanerkennung, so dass der Anwalt dem Angeklagten in allen Verfahrensfragen mit Rat und Tat zur Seite stehen kann; es handelt sich daher nicht lediglich um eine quasinotarielle Bestätigung, dass der strafrechtlich Verfolgte nach seiner Entscheidung für Schuldeingeständnis und Strafanerkennung eine eidesstaatliche Erklärung vor den Augen des Anwalts unterschrieben hat. b.  Klärung der Inhalte der Rechtshilfe, welche der Anwalt während seiner Anwesenheit dem strafrechtlich Verfolgten zukommen lassen kann. Die Hilfe, die der Anwalt seinem Mandanten bei seiner Anwesenheit zukommen lässt, beinhaltet folgende Inhalte: (a)  Informationen über die Art des Verbrechens, dessen der Mandant verdächtigt wird, die strafgesetzliche Bestimmung, welche das Volksprokurat voraussichtlich vorbringen wird, und die Beweismittel, welche bereits vorliegen. Im Rahmen dieser Informationen befinden sich insbesondere Schlüsselinformationen, wie etwa Faktoren, welche den Paragraphen betreffen, nach dem die Anklage lautet, so z. B. Tathandlung des strafrechtlich Verfolgten, dessen Geisteszustand zum Zeitpunkt der Tathandlung oder besondere Umstände der Tathandlung. Dabei ist vor allem auf den Einfluss dieser Faktoren auf das diesem zur Last gelegte Verbrechen und die zu erwartende Strafzumessung abzustellen. (b) Erklärung zu den Voraussetzungen eines Interessenausgleichs innerhalb des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung. Der Anwalt soll dem strafrechtlich Verfolgten erklären, dass ein Schuldeingeständnis und eine Strafanerkennung nur auf der Grundlage eines Verzichts auf die Unschuldsvermutung, des Rechts auf Schweigen, ein übliches Gerichtsverfahren und das Recht auf Verhandlung möglich ist. Um sicherzustellen, dass der strafrechtlich Verfolgte auf seine Rechte tatsächlich freiwillig verzichtet, soll diesem erklärt werden, welche Bedeutung und welche Folgen ein solcher Verzicht für ihn hat. (c) Die Folgen, die sich aus Schuldeingeständnis und Strafanerkennung ergeben, einschließlich der Folgen, die sich materiellrechtlich für den angeklagten Sachverhalt und das Verbrechen, unter welches dieser subsumiert wird, ergeben, sowie die Folgen, die sich im Prozessrecht ergeben, wie die Anwendung des vereinfachten Verfahrens oder des beschleunigten Verfahrens, welche die Belastungen, die sich aus dem Verfahrensverlauf ergeben, verringern und was sich in der Verringerung der Sanktionsschwere auswirkt.



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Der Anwalt muss dafür Sorge tragen, dass die oben genannten Inhalte dem strafrechtlich Verfolgten mitgeteilt und erklärt werden. Erst dann kann der strafrechtlich Verfolgte wirklich seine Situation erfassen und auf der Grundlage einer vollständigen Kenntnis der Vor- und Nachteile eine freiwillige Entscheidung darüber treffen, ob er sich auf ein Schuldeingeständnis und eine Strafanerkennung einlässt. c.  Eindeutige Feststellung, welche Geltung ein Schuldeingeständnis bzw. eine Strafanerkennung hat, bei der kein Anwalt anwesend war. Wird die Anwesenheit des Anwalts in strengem Sinne durchgesetzt, dann wird festgehalten, was für Folgen die Nicht-Anwesenheit des Anwalts hat; hiernach ist es möglich, dass ein Schuldeingeständnis und eine Strafanerkennung, bei der kein Anwalt anwesend war, nichtig ist, dass diese daher aus dem Verfahren ausgeschlossen werden können und dass daraufhin ein allgemeines Verfahren vor Gericht durchgeführt wird. Wie sich aus den Erfahrungen der Pilotprojekte gezeigt hatte, war eine bedeutende Zahl der Fälle, in denen es zu einem Widerruf des Schuldeingeständnisses oder sogar zu Fehlurteilen kam, solche, in denen kein Anwalt anwesend war und in denen daher die Freiwilligkeit des Geständnisses fraglich ist. Um also im Alltag die Verfahrenseffizienz des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung zu realisieren und die Glaubwürdigkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung zu sichern, um also die Freiwilligkeit, die Eindeutigkeit und die Informiertheit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung auf Seiten des strafrechtlich Verfolgten durchzusetzen, ist es notwendig, für den Fall, dass kein Anwalt bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung anwesend war, ausdrücklich die Nichtigkeit dieser Willenserklärungen zu bestimmen, um auf diese Weise zu bewirken, dass die Ermittlungsbehörde, das Volksprokurat und das Volksgericht die Anwesenheit des Anwalts tatsächlich beachtet. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass das Schuldeingeständnis und die Straf­anerkennung in ihrem Ergebnis wahrheitsgemäß und legal sind, dass also die beiden Ziele des Strafverfahrens, fair und effektiv zu sein, erreicht werden. 2. Garantien für die Freiwilligkeit in Hinblick auf den Willen des Strafverfolgten a) Standard des strengen Beweises Unabhängig von der Frage, ob der Angeklagte sich zu seiner Schuld bekannt hat, muss das Gericht überprüfen, ob die von der Staatsanwaltschaft vorgetragenen Beweise für das dem Angeklagten zur Last gelegte Verbrechen eindeutig sind, ob sie den Tatsachen entsprechen und ob sie ausreichend sind, so dass sie keinen vernünftigen Zweifel zulassen. Sollte ein Fall dieses

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Beweisniveau noch nicht erreicht haben, dann darf das Gericht selbst für den Fall, dass der Angeklagte freiwillig ein Schuldeingeständnis geäußert hat und dass die Staatsanwaltschaft dieses akzeptiert hat, die Verständigung nicht akzeptieren. Das Institut der Verständigung, so wie es aktuell im chinesischen Strafprozessrecht bestimmt ist, kann das notwendige Beweisniveau nicht verändern. Der Standard der Beweisführung, nach der der Sachverhalt klar ist, die Beweise den Tatsachen entsprechen und vollständig sind (案件事 实清楚,证据确实、充分) ist daher eine wichtige Garantie für die Freiwilligkeit des Angeklagten. Anders ausgedrückt muss das Verbrechen und die dafür geforderte Strafe mit den Tatsachen übereinstimmen, unabhängig davon, ob diese vom Angeklagten eingestanden werden. Eine Verständigung, die sich jenseits einer jeden Verbrechenshandlung abspielt, ist streng verboten. Wenn das Gericht nur das Schuldeingeständnis des Angeklagten untersucht und nicht auch die ihm zur Last gelegte Verbrechenshandlung, dann ist dies nicht nur für die Garantie der Rechte und Interessen des Angeklagten abträglich, sondern kann auch nicht der Forderung entsprechen, dass der Strafprozess in zutreffender Weise das Verbrechen bekämpfen soll. b) Durchsetzung der Einheit von subjektiven und objektiven Elementen Das Verfahren zur Bestimmung der Freiwilligkeit hat zwei wichtige Charakteristika: erstens müssen subjektive und objektive Elemente übereinstimmen. Das vom strafrechtlich Verfolgten zum Ausdruck gebrachte Schuldeingeständnis und der durch seine objektive Handlung zum Ausdruck gebrachte Wille müssen übereinstimmen. Zweitens darf es nur ein Ergebnis geben. Wenn die gerichtliche Verhandlung ergibt, dass das Schuldeingeständnis das Ergebnis einer freiwilligen Verständigung ist, dann sollten daran keine weiteren Bedingungen geknüpft sein. Korrespondierend hiermit ergeben sich drei Forderungen für das Verfahren: zunächst muss das Verfahren den subjektiven Willen des Angeklagten verwirklichen; das gilt, wenn dieser aktiv den polizeilichen Justizbehörden gegenüber deutlich gemacht hat, dass er seine Schuld eingestehen möchte oder dass er die Hoffnung hat, eine mildere Strafe zu erhalten; es gilt genauso, wenn er während der Vernehmung durch die polizeilichen Justizbehörden Willens war, seine Schuld einzugestehen, und wenn dies ohne Drohung, Verlockung und Folter geschehen ist. Weiter muss der Angeklagte vermittels einer objektiven Handlung deutlich machen, dass er den Willen hat, seine Schuld einzugestehen, so etwa wenn er von sich aus mit den Ermittlungen kooperiert, wenn er ein beschleunigtes oder ein vereinfachtes Verfahren akzeptiert oder sich aus eigenen Stücken dem Opfer gegenüber für schuldig bekennt, sich bei dem Opfer entschuldigt, und diesem seinen Schaden ersetzt usw. Zuletzt ist zu überprüfen, ob die Verfahrensrichtung eine Folge der Verständigung ist. Wenn das Gericht feststellt, dass sub-



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jektive und objektive Handlung des Angeklagten beide darauf abzielen, ein Verständigungsverfahren durchzuführen, dann hat es dieses zu genehmigen. c) Beweismittelverbote Die Aussage, wonach es „ohne Rechtsbehelf kein Recht“ gebe, gilt auch für die Garantie der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung. Wenn widerrechtliche Handlungen, welche die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung angreifen, nicht effektiv sanktioniert werden können, dann bleibt die Garantie dieser Freiwilligkeit eine leere Forderung. Bei der Konstruktion von Garantien für eine Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung müssen daher prozessuale Sanktionsmöglichkeiten eingerichtet werden, die es demjenigen, dessen Rechte verletzt werden, erlauben, effektive Rechtshilfe zu erlangen. Das äußert sich in zweifacher Hinsicht: (1) Zum einen muss die Beweiskraft eines Schuldeingeständnisses, das nicht freiwillig erfolgt ist, abgelehnt werden. Wurde eine Aussage mit Schuldeingeständnis durch widerrechtliche Mittel wie Folter etc. erlangt, dann darf diese Aussage nach Gesetz keine Beweiskraft besitzen, denn sie hat gegen die Garantie der Freiwilligkeit verstoßen und unterliegt einem gesetzlichen Beweismittelverwertungsverbot. Befindet sich der strafrechtlich Verfolgte in einer Umgebung, die vollkommen kontrolliert wird, dann ist es sehr leicht möglich, dass sowohl das Wissen um die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung als auch diesbezügliche Äußerungen bis zu einem bestimmten Grad manipuliert werden, so dass der strafrechtlich Verfolgte am Ende eine Aussage trifft, die nicht wirklich seinem Willen entspricht. Er kann sich hierdurch in eine Situation bringen, die für ihn im Prozess äußerst ungünstig ist. Bestimmungen zum Ausschluss widerrechtlicher Beweismittel, insbesondere bezüglich des Ausschlusses eines unfreiwilligen Schuldeingeständnisses des strafrechtlich Verfolgten, können in hohem Maße die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung garantieren. Sie verhindern daher, dass der strafrechtlich Verfolgte unter dem Druck des Verhörs eine Aussage trifft, die mit den Tatsachen nicht übereinstimmt. Daher sind Beweismittel, mit denen beim Institut der Milde bei Schuldeingeständnis und Strafanerkennung die Freiwilligkeit der Aussage bewiesen wird, genau zu prüfen. Aussagen, die nicht auf der Freiwilligkeit des strafrechtlich Verfolgten beruhen, sind kategorisch auszuschließen. Hierdurch können nicht nur Fehlurteile verhindert werden, sondern kann auch die Autorität der Justizbehörden und der Polizei gefestigt werden.21 (2) Ist ein gerichtliches Verfahren, in dem gegen die Freiwilligkeit 21  Liu Shaojun (刘少军)/Wang Xiaoshuang (王晓双), Zwei Gesichtspunkte der Betrachtung der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung von

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von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung verstoßen wurde, noch im Gange, dann soll dieses in ein normales Verfahren umgewandelt werden. Ist das Verfahren bereits abgeschlossen, dann soll das Urteil aufgehoben und eine Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet werden. Letzteres arbeitet im Rahmen eines normalen Verfahrens den Fall erneut vor Gericht auf. 3. Einrichtung eines Kontrollsystems für die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten, welche vor der Gerichtsverhandlung erfolgt Ein Gericht, das Fälle von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung verhandelt, sollte unten stehende Gesichtspunkte klären: 1) Aufklärung des Sachverhalts. Es sollte geklärt werden, ob die vom Volksprokurat vorgetragenen Beweise ausreichend sind, um dem Angeklagten die ihm vorgeworfene Tat nachzuweisen und dass er diese Tat schuldhaft begangen hat, so dass sie ihm vorgeworfen werden kann. Weiter ist zu klären, ob die Beweismittel ausreichend sind, um den Sachverhalt unter dem von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten gesetzlichen Tatbestand zu subsumieren. 2)  Überprüfung der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung des Angeklagten. Nach der Feststellung der Wahrhaftigkeit des dem Fall zu Grunde liegenden Sachverhalts und seiner rechtlichen Einordnung, ist der Angeklagte über seine Verfahrensrechte aufzuklären. Dazu muss ihm verdeutlicht werden, welche rechtlichen Folgen ein Schuldeingeständnis und eine Strafanerkennung nach sich ziehen. Daraufhin ist die Rechtmäßigkeit der eidesstattlichen Erklärung zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung zu überprüfen. Dabei ist insbesondere festzustellen, ob diese eidesstattliche Erklärung freiwillig erfolgt ist oder ob sie unter Einwirkung von Gewalt, Zwang, falschen Angeboten oder falschen Versprechungen zustande kam. Das Gericht muss feststellen, ob der Angeklagte sich über die Natur des ihm zur Last gelegten Verbrechens bewusst ist, ob seine Strafanerkennung die Folgen der möglichen Haupt- und Nebenstrafen umfasst, ob er sich darüber im Klaren ist, welche materiellen Interessen davon betroffen sind und welche verfahrensrechtlichen Folgen dies für ihn hat. 3)  Überprüfung, ob der Angeklagte einen Anwalt zum Verteidiger bestellt hat. Für den Fall, dass der Angeklagte keinen Verteidiger bestellt hat, soll der Strafverfolgten und deren institutionelle Garantien (被追诉人认罪认罚自愿性的两个 维度及其保障机制), Journal der PH Liaoning (辽宁师范大学学报) (Ausgabe Sozialwissenschaften ((社会科学版)), 2018, Nr. 5, S. 19–22.



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Angeklagte vom Gericht darauf hingewiesen werden, dass er das Recht hat, entweder selber einen Anwalt zu bestellen, oder aber durch einen Anwalt der Prozesshilfe vertreten zu werden. Dazu muss der Angeklagte darauf hingewiesen werden, dass er das Recht hat, sein Schuldeingeständnis zurückzuziehen oder ein neuerliches Schuldeingeständnis zusammen mit einer dazugehörigen Strafanerkennung vorzubringen. 4. Einrichtung eines Verfahrens, das bei Widerruf des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung durch den strafrechtlich Verfolgten, wieder an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt In den meisten Jurisdiktionen, die eine Verständigung im Strafrecht zulassen, wird dem Angeklagten das Recht eingeräumt, sein Geständnis zu widerrufen, so dass das Verfahren auf Grund normativer Regelungen wieder an seinen Ausgangspunkt gelangt. So bestimmt z. B. Sec. 32 (d) Federal Rules of Criminal Procedure, dass die Widerrede des Angeklagten gegen die Schuldanerkennung, die in Form eines Einspruchs vorgetragen wird, vom US-Bundesgericht vor dem Urteil zugelassen werden kann, wenn sie durch den Angeklagten wohl begründet ist. Einige Staaten halten es sogar für zulässig, dass der Angeklagte erst nach ergangenem Urteil sein Geständnis widerruft, wenn dies dazu dient, eine offensichtliche Ungerechtigkeit zu verhindern. 22 Auch in Taiwan (China) bestimmt das dortige Strafprozessgesetz, dass der Angeklagte sein Schuldeingeständnis vor dem Urteil jederzeit widerrufen kann. § 455-3 II taiwanisches Strafprozessgesetz bestimmt: „Vor Ende des Verfahrens des vorstehenden Absatzes kann der Angeklagte die Verständigung jederzeit aufkündigen …“. Nach § 455-7 dürfen „Aussagen des Angeklagten [also auch ein Geständnis] aus dem Verständigungsverfahren … vor der Verkündung eines Verständigungsurteils nicht in diesem oder in anderen Fällen gegen den Angeklagten oder gegen andere Mittäter verwendet werden.“ Gleichzeitig wird dort eine Garantie der Freiwilligkeit abgesichert, die Informationspflicht gestärkt und die Pflicht zur Verteidigung eingerichtet.23 Wenn also die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung des strafrechtlich Verfolgten abgesichert werden soll, dann wäre es wichtig, für den Fall des Wiederrufs eines Geständnisses die Wiederherstellung der Ausgangslage des Verfahrens wie folgt zu verbessern:

22  Wang Chao-Peng (王兆鹏), US-amerikanisches Strafprozessrecht (美国刑事诉 讼法), Beijing: Peking University Press, 2005, S. 539. 23  Lin Yu-Xiong (林钰雄), Strafprozessrecht (刑事诉讼法), Bd. 1, Beijing: Renmin University Press, 2005, S. 253–255.

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Liu Shaojun 1) Institutionalisierung des Widerrufs des Geständnisses

(1) Der Abschnitt, in dem ein Widerruf des Geständnisses möglich ist, sollte ausdrücklich normiert werden, so dass jeweils vor der Anklage, während der Verhandlung und nach dem Urteil ein Widerruf möglich ist, wobei insbesondere vor der Anklage ein Widerruf des Geständnisses ohne Auflagen möglich sein sollte. (2)  Dabei sollte ebenfalls ausdrücklich bestimmt sein, wer das Recht zum Widerruf des Geständnisses besitzt, was für Beweiserhebungspflichten bestehen und bis zu welchem Grad Beweise erbracht werden müssen. (3) Aufbau eines Kontrollmechanismus, mit Hilfe dessen das Recht auf Widerruf des Geständnisses durch den strafrechtlich Verfolgten untersucht wird. (4) Im Verfahren sollte zwischen den Typen des Schuldeingeständnisses ohne Strafanerkennung, der Strafanerkennung ohne Schuldeingeständnis und dem gleichzeitigen Fehlen von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung unterschieden werden. (5)  Einrichtung von Verfahrensweichen, die eine Verknüpfung des Verfahrens des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung mit dem allgemeinen Verfahren erlauben. 2)  Eindeutige gesetzliche Regelung der Rechtsfolgen des Widerrufs eines Geständnisses

(1)  Die verfahrensrechtlichen Konsequenzen des Widerrufs eines Geständnisses durch den strafrechtlich Verfolgten, insbesondere die Beweisqualität und die verfahrensrechtlichen Folgen beim Widerruf der eidesstattlichen Erklärung über das Geständnis im gerichtlichen Verfahren, sollten in einem Ausschluss des Geständnisses aus dem weiteren Verfahren bestehen, denn der Widerruf ist die Ausübung eines Verfahrensrechts. (2)  Die verfahrensrechtlichen Folgen des Widerrufs des Geständnisses vor dem Gerichtsverfahren sollten ausdrücklich bestimmt werden. Dabei sollte vor allem geklärt werden, wie die Geltung des Geständnisses im vorangehenden Ermittlungsverfahren bewertet wird. Dabei sollte ausdrücklich bestimmt werden, dass das widerrufene Geständnis nicht zu Ungunsten des Angeklagten oder eines Mitangeklagten verwandt werden darf.



Die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses157 3) Aufsicht und Verantwortung über die Ausübung des Rechts auf Widerruf des Geständnisses durch den Angeklagten.

(1)  Gegenüber Angehörigen der Justiz sollte eine Aufsicht und ein System der Verantwortung bei Missbrauch des Verfahrens des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung aufgebaut werden. (2)  Für den Fall, dass ein Verteidiger seine Kompetenzen in unverantwortlicher oder in fehlerhafter Weise ausübt, sollte es hierfür ein Disziplinarverfahren geben. (3)  Ein Widerruf des Geständnisses, der Tatsachen verfälscht oder der das Recht auf Widerruf missbraucht, soll von einem Kontrollmechanismus erfasst werden. 4) Abwehrmechanismus gegen eine fälschliche Ausübung des Widerrufsrechts durch den Angeklagten.

(1)  Widerruft ein strafrechtlich Verfolgter sein Geständnis, dann sollte das Verfahrensinteresse bei einem neuerlichen Schuldeingeständnis bzw. einer neuerlichen Strafanerkennung entkoppelt werden. (2)  Für den Fall, dass ein strafrechtlich Verfolgter das Recht auf Widerruf des Geständnisses missbraucht, soll der Vertrauensschutz vermindert sein, so dass die Möglichkeit zu neuerlichem Schuldeingeständnis und Strafanerkennung ebenso eingeschränkt werden soll, wie die Möglichkeit eines abermaligen Widerrufs. (3)  Der einvernehmliche Antrag auf Auflösung des Geständnisses, der im Gerichtsverfahren erfolgt, soll überprüft werden. (4)  Missbraucht ein Angeklagter das Recht auf Widerruf seines Geständnisses, dann soll er von Angehörigen der Justiz ermahnt werden. In schweren Fällen soll dies in die Strafzumessung mit einbezogen werden.

Probleme der Absprachen im Strafverfahren 刑事诉讼认罪协商问题 F. Ch. Schroeder*

I. Einführung Schon immer haben die an einem Strafprozess Beteiligten versucht, den strengen Prozessvorschriften durch informelle Gespräche und Verhandlungen auszuweichen. Der Angeklagte wird gefragt, ob er eine bestimmte Entscheidung akzeptieren oder hierfür zusätzliche Zusagen verlangen würde; umgekehrt fragt der Angeklagte, welche Gegenleistungen ihm für ein kooperatives Verhalten geboten werden. Seit längerem haben sich diese Tätigkeiten immer mehr formalisiert und institutionalisiert und werden als „deal“, „Absprachen“ oder „Vereinbarungen“ bezeichnet. Da ich die entsprechenden Regelungen in China nicht kenne, möchte ich zunächst einige allgemeine Gesichtspunkte herausstellen.

II. Vorteile für die Beteiligten Solche Absprachen können für alle Verfahrensbeteiligten Vorteile bringen. Dem Angeklagten winken eine mildere Strafe, die Befreiung aus der Untersuchungshaft oder eine Abkürzung oder jedenfalls Beschleunigung des Verfahrens. Das Gericht erhofft sich eine Arbeitsersparnis und ebenfalls eine Beschleunigung des Verfahrens. Zeugen, insbesondere Tatopfern, kann eine Aussage, die sie seelisch belastet, erspart bleiben. Dies alles sind starke Triebkräfte für die Vornahme von Absprachen.

III. Nachteile und Gefahren für die Prozessbeteiligten und die Rechtspflege Auf der anderen Seite drohen durch solche Absprachen aber auch Nachteile für die Prozessbeteiligten und die Rechtspflege. Der Angeklagte kann * 

Prof. Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder, emer., Universität Regensburg.

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eine unverhältnismäßig niedrige Strafe erhalten mit negativen Folgen für die Akzeptierung in der Bevölkerung und für die allgemeine Prävention von Straftaten (Generalprävention). Umgekehrt kann aber der Angeklagte auch durch das Angebot einer unverhältnismäßig niedrigen Strafe oder die Androhung einer strengen Strafe zu einem bestimmten Prozessverhalten, insbesondere zu einem Geständnis, genötigt oder verlockt werden. In Deutschland hat sich hierfür der anschauliche Ausdruck „Sanktionsschere“, also die große Spannweite zwischen der angedrohten bzw. der versprochenen und der angemessenen Strafe, herausgebildet. Es sind daher prozessuale Vorschriften erforderlich, die ein solches Verhalten des Gerichts verhindern.

IV. Die Rolle des Gerichts Das Gericht muss in jedem Fall Partner der Absprache sein. Hinsichtlich der Ausgestaltung seiner Rolle besteht aber ein erheblicher Spielraum. Beim klassischen „Deal“ fungiert das Gericht nur als Schiedsrichter zwischen den übrigen Beteiligten. In Deutschland kann zwar die Initiative zu einer Absprache von allen Beteiligten, insbesondere auch vom Angeklagten, ausgehen; letztlich aber unterbreitet das Gericht den Beteiligten einen Vorschlag, den diese ablehnen oder akzeptieren können. Im letzteren Fall kommt die Verständigung zustande. Die Tatsache der Verständigung ist in die Gründe des Urteils aufzunehmen.

V. Kollision mit grundlegenden Prozessprinzipien Die Absprache kollidiert mit grundlegenden Verfahrensprinzipien, insbesondere der Pflicht zur Strafverfolgung (auch „Legalitätsprinzip“ genannt) und der Pflicht zur Ermittlung der Wahrheit (auch „Inquisitions-“ oder „In­ struktionsmaxime“ genannt). Wie weit diese grundlegenden Verfahrensprinzipien im chinesischen Strafprozessrecht gelten, ist mir nicht bekannt. In der deutschen Strafprozessordnung sind diese beiden Grundsätze dagegen gesetzlich festgelegt, und sie werden auch im Lehrbetrieb allgemein besonders hervorgehoben. Die Pflicht zur Strafverfolgung lässt gesetzlich bestimmte Ausnahmen zu. Hinsichtlich der Pflicht zur Ermittlung der Wahrheit erklärt das Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren von 2009 kurzerhand und mit einer metaphorischen Ausdrucksweise, dass diese Pflicht „unberührt bleibt“.



Probleme der Absprachen im Strafverfahren161

VI. Die Absprachen im deutschen Recht Das deutsche Strafprozessrecht, das in seiner Grundstruktur aus dem Jahre 1877 stammt, beruht auf einer starken Stellung des Richters. Er leitet die Verhandlung und insbesondere die Beweisaufnahme. Er kann die Beweisaufnahme anordnen und muss dies tun hinsichtlich aller Tatsachen, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Auf der anderen Seite steht eine starke Stellung des Angeklagten und seiner Verteidigung. Sie haben ein weitgehendes Beweisantragsrecht, das der Richter nur in genau festgelegten Fällen zurückweisen kann; Fehler hierbei führen zur Aufhebung des Urteils und Revision. Das deutsche Strafprozessrecht ist daher eine Kombination von Akkusations- und Inquisitionsprinzip mit starker Stellung des Richters. Das deutsche Strafprozessrecht ist daher traditionell absprachenfeindlich. Der „deal“ galt lange Zeit als anrüchig; häufig wurde das jiddische Wort „mauscheln“ gebraucht. Seit langem gibt es Bemühungen, das Verfahren zu konzentrieren und zu beschleunigen. Dazu gehören Bemühungen, die Erhebung umfangreicher zeitraubender Beweise zu reduzieren. Dies ist möglich durch eine Lockerung der Anforderungen an den Nachweis der Tat. Manche Strafgesetze stellen bereits den Verdacht schädlicher Handlungen unter Strafe, was jedoch für ein rechtsstaatliches Strafrecht unzulässig ist. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, den Tatverdächtigen zu einem Verzicht auf den Nachweis der Tat oder jedenfalls auf umfangreiche Beweiserhebungen zu veranlassen. Dies ist wiederum möglich durch die Androhung von Nachteilen bei Leugnen der Tat oder das Angebot von Vorteilen bei einem Geständnis. Die Androhung von Nachteilen ist eine Geständniserpressung und nach dem Strafgesetz verboten, wird häufig allerdings mehr oder weniger geschickt versteckt. Das Angebot von Vorteilen besteht vor allem in dem Angebot einer milderen Strafe oder der Entlassung aus der Untersuchungshaft. Im Jahre 2005 stellte der Bundesgerichtshof fest, dass sich die Verständigung zwischen den Prozessbeteiligten zunehmend von einem mit der Strafprozessordnung zu vereinbarenden „offenen Verhandeln“ in Form der Bekanntgabe einer Prognose entferne. Die Strafprozessordnung in ihrer geltenden Fassung sei am Leitbild der materiellen Wahrheit orientiert, die vom Gericht in der Hauptverhandlung von Amts wegen zu ermitteln und der Disposition der Verfahrensbeteiligten weitgehend entzogen sei. Der Bundesgerichtshof appellierte an den Gesetzgeber die Zulässigkeit und die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln. Dabei komme ihm ein beträchtlicher Spielraum zu. Vier Jahre später erging das „Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“. Dieses versuchte, die Absprache in die bestehende Strafpro-

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zessordnung zu integrieren. Der Titel des Gesetzes war sprachlich missglückt, denn die deutsche Sprache kennt nur ein „Sichverständigen“ und bezeichnet damit eine sprachliche Kommunikation. Das Gesetz gebrauchte ihn aber, weil die Ausdrücke „Absprache“ und „Vereinbarung“ eine gegenseitige Bindung enthielten, die nicht gewollt sei. Das Gesetz ist sehr umfangreich; es bringt nicht weniger als elf neue Vorschriften bzw. Zusätze in bestehenden Vorschriften. Neben der Hauptregel mit fünf umfangreichen Absätzen (§ 257c) mussten die Vorschriften über die Urteilsbegründung und die Protokollierung der Hauptverhandlung ergänzt werden; die Möglichkeit des Rechtsmittelverzichts wurde ausgeschlossen. Außerdem wurden noch drei Paragrafen über die vorbereitende Erörterung und eine Vorschrift über die Pflicht zur Mitteilung entsprechender Erörterungen eingefügt. Das Verständigungsgesetz sieht eine Reihe von Einschränkungen der Möglichkeit der Verständigung vor. Die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts bleibt unberührt. Gegenstand der Vereinbarung dürfen nur die im Urteil möglichen Rechtsfolgen sein, außerdem das Prozessverhalten der Verfahrensbeteiligten, nicht aber der Schuldspruch. Der angebotene Strafnachlass, die sogenannte „Sanktionsschere“, darf höchstens ein Drittel der vorgesehenen Strafe betragen. Die Bindung des Gerichts entfällt, wenn bedeutsame Umstände übersehen worden sind oder sich neu ergeben haben oder das Verhalten des Angeklagten nicht den verhaltenen spricht, dass das Gericht bei seiner Prognose zugrunde gelegt hat. Nicht nur das Ergebnis einer Verständigung, sondern sogar das Nichtbestehen einer Verständigung müssen Protokoll enthalten sein. Die Einschränkungen sind also umfangreich und teilweise kompliziert. Daher wurden sie in der Praxis vielfach nicht beachtet. Gegen Verurteilungen u. a. wegen des Verständigungsgesetzes legten mehrere Verurteilte Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Nach verbreiteten Informationen über die Nichtbeachtung des Gesetzes in der Praxis erteilte das Bundesverfassungsgericht einem Professor der Rechtswissenschaft den Auftrag, die Praxis der Absprachen in Strafverfahren statistisch zu untersuchen. Dieser befragte 190 Richter und Richterinnen sowie 68 Staatsanwälten und Staatsanwälte des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Nach Einschätzung der befragten Richter wurden im Jahr 2011 17,9 % der Strafverfahren an Amtsgerichten und 23 % der Strafverfahren an Landgerichten durch Absprachen erledigt. Etwas mehr als die Hälfte der Richter gab an, dass in mehr als der Hälfte aller Verfahren mit Absprachen die gesetzlichen Vorschriften verletzt werden. 60 % der befragten Richter gab an, mehr als die Hälfte ihrer Absprachen ohne Anwendung des gesetzlich vorgesehenen Verfahrens durchgeführt zu haben. 33 % gaben an, Absprachen außerhalb der Hauptverhand-



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lung und ohne Offenlegung dieser Tatsache durchgeführt zu haben. 54 % der Richter gaben an, eine nicht erfolgte Verständigung im Protokoll überhaupt nicht zu erwähnen. 60 % der Richter gaben an, dem Angeklagten neben dem Strafmaß für den Fall einer Kooperation auch eine zweite Strafe für den Fall der Ablehnung einer Kooperation genannt zu haben, 16 % seien typischerweise so vorgegangen. Bemerkenswerterweise erklärten 16 % der Richter und 31 % der Staatsanwälte, sich bei einer Absprache auf eine ihrer Ansicht nach zu milde Strafe eingelassen zu haben. Nicht wenige deutsche Rechtswissenschaftler halten die Regelung der Absprachen für unvereinbar mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Strafprozessrechts, insbesondere den Pflichten zur Anklage und zur Ermittlung. Das Bundesverfassungsgericht erklärte in seiner Entscheidung vom 19.3.2013, dass das Verständigungsgesetz die Anforderungen der Verfassung in ausreichender Weise schützt. Dies allerdings nur, wenn die zahlreichen Anforderungen, insbesondere hinsichtlich der Offenlegung der Verhandlungen, ausreichend berücksichtigt würden. Intransparente, unkontrollierte „Deals“ seien wegen der mit ihnen verbundenen Gefährdung des Schuldprinzips, der darin verankerten Wahrheitserforschungspflicht und des Prinzips des fairen Verfahrens unzulässig. Das Verfassungsgericht warnt vor der Protokollierung unzulässiger Vorgänge und droht mit der Strafvorschrift der Falschbeurkundung im Amt. Aber diese Drohung steht weitgehend auf dem Papier, wenn – wie dargelegt – die Gerichte von vornherein außerhalb der Vorschriften über die Absprachen handeln. Es zeigt sich, dass gut ausgedachte Vorschriften von den Beteiligten wegen der damit verbundenen Arbeitsbelastung oder auch nur Unbequemlichkeit häufig nicht befolgt werden. Die Vorschriften des deutschen „Verständigungs-“Gesetzes können daher anderen Staaten, so schmerzlich dies für einen deutschen Wissenschaftler auch ist, nicht als Vorbild empfohlen werden. Dies schließt nicht aus, dass sie andere Staaten zur Überprüfung und vielleicht auch zur Verbesserung ihrer Vorschriften anregen. Dazu soll diese Veranstaltung einen Beitrag leisten.

Diskussion der Verständigung im Strafprozess unter den Aspekten von Wiedergutmachung und Opferschutz 修復式司法視野下的認罪認罰從寬制度 對犯罪被害人保護之檢討 Tsai Mengchien*

I. Vorwort China hat seit 2014 damit begonnen, das Ziel zu verfolgen, das Institut des Schuldeingeständnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung einzuführen und ständig zu verbessern. Nach mehreren Jahren unablässiger Studien und Versuche, wurde das Strafprozessgesetz am 26.10.2018 novelliert, wobei das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung offiziell in das Strafprozessgesetz aufgenommen wurde. Hierdurch wurde Tatverdächtigen und Angeklagten die Gelegenheit gegeben, ihre Schuld einzugestehen, ihre Strafe anzuerkennen und dafür eine mildere Strafe zu bekommen. Dadurch wurde der strafrechtspolitische Leitgedanke einer gleichzeitigen Anwendung von Milde und Strenge konkret in Rechtsnormen umgesetzt. Abgesehen davon, dass hierdurch Menschenrechte re­ spektiert und geschützt werden, sollen Angehörige der Justiz in der Anwendung und Abwägung des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung in institutionalisierter Weise eingebunden werden. Wenn wir das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung aus der Perspektive des Normzwecks betrachten, dann stellen wir zunächst fest, dass in den letzten Jahren nicht nur neue Straftatbestände in das materielle Strafrecht eingeführt wurden, sondern dass auch die Anwendung der bereits bestehenden Tatbestände in ihrem Umfang beständig ausgeweitet wurde; dadurch hat sich über die Jahre ein deutlicher Anstieg der * Prof. Dr. TSAI Mengchien (蔡孟兼), Associate Professor, Juristische Fakultät und Graduierteninstitut für Recht und wirtschaftliche Entwicklung, Sekretär des Forschungszentrums für KI Rechtsordnung, Chairman des Department für Strafrecht, Universität für Finanzen und Wirtschaft der Provinz Guangdong (廣東財經大學法學 院、廣東財經大學法治與經濟發展研究所).

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Straffälle ergeben. Da die Ressourcen der Strafjustiz nicht ausreichen, eine solch große Zahl an Fällen zu bearbeiten, hat man unter dem Aspekt der Prozessökonomie begonnen, Justizressourcen angemessener zu verteilen; daraus ergab sich auch die Hoffnung, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung die Verteilung justitieller Ressourcen zusätzlich optimiert. Vom Aspekt der Rechtsfolge her betrachtet, lässt das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung dem Tatverdächtigen bzw. dem Angeklagten deshalb im Rahmen der chinesischen strafrechtspolitischen Forderung nach gleichzeitiger Milde und Härte eine geringere Strafsanktion zu Teil werden, weil er während der Ermittlungen oder während der Verhandlung freiwillig die ihm zur Last gelegte Verbrechenshandlung eingesteht, weil er den Schuldvorwurf annimmt und weil er willens ist, die Strafe auf sich zu nehmen. Wenn wir uns aber die Strafsanktion aus dem Blickwinkel der Wiedergutmachung ansehen, dann ist das Ziel des Strafrechts die Wiederherstellung der Rechtsnorm durch eine nachträgliche Sanktion. Um die Rechtsnorm wiederherzustellen, brauchen wir einen Effekt, der das Opfer, den Täter und die Gemeinschaft zufrieden stellt. Obwohl die Voraussetzung zur Wiederherstellung der Rechtsnorm davon ausgeht, dass der Täter veranlasst wird, aus eigenen Stücken seine Verantwortung zu übernehmen, kann das Vertrauen der Gemeinschaft in die Rechtsnorm auch durch die Entschädigung des Opfers und die Beseitigung des Streits innerhalb der Gemeinschaft befördert werden. Dass die Wiedergutmachungshandlung des Täters gegenüber dem Opfer die autonome Verantwortung des Täters und die Schadenswiedergutmachung auf Seiten des Opfers miteinander verbindet, versteht sich von selbst. Dabei ist auch klar, dass das Phänomen des Verbrechens als solches bereits geschehen ist und dass dies für sich eine Tatsache ist, die nicht umkehrbar ist. Wenn also in materieller oder ideeller Hinsicht die vergangenen Dinge wiedergutgemacht werden sollen, dann muss das Interesse des Opfers in die Betrachtung integriert werden. Der vorstehende Gedanke beschreibt das, was gemeinhin restorative justice (修復式司法) oder Wiedergutmachung im Strafrecht genannt wird. Dieser Gedanke, entspringt einer weltweiten Denkbewegung und soll hier dazu dienen, die Basis der Verständigung mit Schuldeingeständnis, Strafeinwilligung und Sanktionsmilderung zu überprüfen. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf der Frage, ob das System von Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung dazu geeignet ist, das Interesse des Opfers nach Wiedergutmachung zu realisieren. Bei der Wiedergutmachung kommt es nach einem erfolgreichen Ausgleich zwischen Täter und Opfer zu der Konsequenz, dass sich die Strafe für den Täter verringert; auch bei Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung sehen wir als Ergebnis eine mildere Bestrafung des Täters, sodass sich die Frage stellt, ob auch diese Reduktion der Strafe auf dem Boden der



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Wiedergutmachung des gegenüber dem Opfer erzeugten Schadens erfolgt, oder ob es dafür andere Gründe gibt. Wir betrachten daher die Verständigung unter den Aspekten von Ziel und Methode der strafrechtlichen Wiedergutmachung. Der vorliegende Beitrag möchte also aus den vorstehenden Gründen untersuchen, ob und wieweit die Verständigung dem Gedanken der strafrechtlichen Wiedergutmachung entspricht.

II. Der Gedanke der strafrechtlichen Widergutmachung 1. Ursprünge der strafrechtlichen Wiedergutmachung International nehmen die Stimmen zu Theorie und Praxis der strafrechtlichen Wiedergutmachung, der restorative justice, mit hoher Geschwindigkeit zu; die Begründungen, die für strafrechtliche Wiedergutmachung angeboten werden, kann man in folgende fünf Punkte einteilen.1 1.  Die sogenannte Verbrechenshandlung ist ein Sachverhalt, der gegen das Gesetz verstößt und der die Tatsache eines „Schadens“ verursacht. Die erste Reaktion der Gesellschaft ist diejenige, dass sie versucht, diesen „Schaden“ wiedergutzumachen, dass sie also versucht, dem Opfer eine Unterstützung zu geben. Bei der strafrechtlichen Wiedergutmachung geht man davon aus, dass das Verbrechen zunächst eine Störung der zwischenmenschlichen Beziehungen ist, erst in zweiter Linie wird das Verbrechen als eine Rechtsverletzung betrachtet; wenn man ein Verbrechen nur als einen Gesetzesverstoß betrachtet, dann überdeckt man damit das reale Verbrechen, wohingegen „der Ausgleich zwischen Täter und Opfer“ das Verbrechen in seiner Wertigkeit als Realität des Konflikts betrachtet. 2.  Der Täter befindet sich in einer besonderen Situation, so dass der Täter nach dem, was ihm möglich ist, aufgefordert wird, den durch das Verbrechen von ihm verursachten „Schaden“ wiedergutzumachen. Was hier Wiedergutmachung genannt wird, ist eine Handlung gegenüber dem Opfer oder gegenüber der Gesellschaft und nicht notweniger Weise eine monetäre Wiedergutmachung; eine Arbeitsleistung für das Opfer oder für die Gesellschaft ist ebenso möglich. 1  Wright, Restorative Justice: from Punishment to Reconciliation – The Role of Social Workers, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice, 1998, in: supra, S. 267–281; Aertsen/Peter, Mediation for Reparation: The Victims Perspective, 1998, in: supra, S. 106–124; Meier, Restorative Justice – A New Paradigm in Criminal Law?, 1998, in: supra, S. 125–139; Walther, Reparation and Criminal Justice: Can They Be Integrated?, 1996, in: supra, S. 163–172; Weitekamp, The History of Restorative Justice, in: Walgrave/Bazemore (ed.), Restoring Juvenile Justice, 1999, S. 75–102.

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3.  Das Anbieten eines Gesprächsforums, das die Forderungen von Opfer und Täter adressiert. Diese Situation ist nicht nur ein Mittel, um die strafrechtliche Wiedergutmachung zu thematisieren, sondern das Opfer kann dabei auch dem Täter sein Erleben, seine Emotionen schildern, oder es kann die Situation, ein Opfer zu sein, erklären. Auf der anderen Seite kann der Täter seine eigene Verantwortung akzeptieren und Reue empfinden, dazu kann er seine Absicht, den Schaden wieder gut zu machen, ausdrücken. Situationen, denen sich keine Seite direkt gegenübergestellt sehen möchte, können auf diese Weise indirekt durch die Wiedergutmachung des Schadens (oder durch eine Arbeit im öffentlichen Interesse) eine Verständigung finden. 4. Die Gemeinschaft übt bei der Unterstützung der Wiedergutmachung, auf welche sich Opfer und Täter geeinigt haben, und bei der Zusammenfügung gesellschaftlicher Gruppen eine wichtige Rolle aus. Am Ende werden die Informationen, die diesen Prozess zusammenfassen, an die Strafjustiz übermittelt; daher hat die strafrechtliche Wiedergutmachung nicht die Repression des Verbrechens zur Basis, sondern untersucht die Frage der Prävention von Verbrechen. 5. Abschließend ist anzumerken, dass die strafrechtliche Wiedergutmachung als Methode, dem Verbrechen zu begegnen, einen anderen Ansatz verfolgt, als es in der momentanen Strafjustiz der Fall ist. Anders ausgedrückt, ersetzt und verdrängt die strafrechtliche Wiedergutmachung den vom Täter verursachten „Schaden“ und die gegen ihn verhängte Strafe, so dass Wiedergutmachung, Wiederherstellung, ja sogar Heilung zum Ziel werden. Deshalb ist der zentrale Gedanke der strafrechtlichen Wiedergutmachung die Überlegung, wie das Interesse von Opfer, Täter und Gemeinschaft insgesamt maximiert werden kann. 2. Vergleich der justitiellen Retribution und Restauration Justitielle Wiedergutmachung bzw. restorative justice ist ein Gedanke, der im Zuge einer weltweiten Bewegung entstanden ist und der im Gegensatz zum Gedanken der justitiellen Vergeltung bzw. Retribution (retributive justice) steht. Die justitielle Wiedergutmachung und die justitielle Vergeltung haben ihren Fokus auf unterschiedlichen Schwerpunkten, was sich vereinfacht wie folgt zusammenfassen lässt.2 2  Zur justitiellen Wiedergutmachung (修復式司法), siehe Yohida Tohio (吉田敏 雄), Horizontale Wiederherstellung des Rechts (法的平和の恢復), Hokkaido Gakuen University Law Research (北海道学園大学法学研究) Folge 31 Nr. 1, S. 25 ff., Nr. 2, S.  1 ff.; Takahashi Sadaki (高橋貞彥), Justiz der Wiedergutmachung – Jugendverfahren der Aotearoa (修復的司法-アオテアロアの少年司法), Nakayama Kenichi Collected Papers (中山研一先生古稀論文集), Vol.  5, S.  260 ff.; Maeda Ikuzo (前田



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Die justitielle Vergeltung fasst das Verbrechen als einen Gesetzesverstoß auf, während die justitielle Wiedergutmachung davon ausgeht, dass das Verbrechen die zwischenmenschlichen Beziehungen angreift; im Verständnis der justitiellen Vergeltung ist das „Böse“ ein Sachverhalt, dessen Schwere den Grad des Verbrechens erreicht, während die justitielle Wiedergutmachung der Ansicht ist, dass der „Schaden“, der aus dem Verbrechen entsteht, so schwerwiegend ist, dass gegenüber dem Opfer eine Verantwortung bezüglich der Wiedergutmachung entsteht; die justitielle Vergeltung macht einen kategorischen Unterschied zwischen dem Verbrechen und anderen Schadensformen, während die justitielle Wiedergutmachung es dagegen im Zusammenhang mit anderen Schäden und Konflikten sieht; bei der justitiellen Vergeltung erfolgt die Entschädigung des Opfers durch die Bestrafung des Täters, wohingegen bei der justitiellen Wiedergutmachung die Übernahme der Schuld durch den Täter der Entschädigung des Opfers dient; bei der justitiellen Vergeltung liegt der Fokus auf dem, was in der Vergangenheit geschehen ist, dagegen liegt der Fokus bei der justitiellen Wiedergutmachung auf dem, was in der Zukunft geschieht; die justitielle Vergeltung ist der Meinung, dass der Schmerz der Strafe zur Repression des Verbrechens notwendig sei, demgegenüber ist die justitielle Wiedergutmachung der Auffassung, dass die Wiedergutmachung zur Wiederherstellung der zwischenmenschlichen Beziehung der Parteien notwendig ist; während bei der justitiellen Vergeltung der „Schaden“, den der Täter angerichtet hat, durch den „Schaden“, der ihm zugefügt wird, ausgeglichen werden soll, wird bei der justitiellen Wiedergutmachung der „Schaden“, den der Täter angerichtet hat, durch die Wiedergutmachung des Täters dem Opfer gegenüber ausgeglichen; bei der justitiellen Vergeltung wird dem Täter ein Schuldvorwurf gemacht, wogegen bei der justitiellen Wiedergutmachung die schädliche Tathandlung Ablehnung findet; während bei der justitiellen Vergeltung die Gegnerschaft im Rahmen der Justiz ausgeräumt werden soll, verbindet die justitielle Wiedergutmachung unterschiedliche Ansichten im Rahmen der Justiz; die justitielle Vergeltung nimmt die Bedürfnisse und Rechte des Opfers nicht wahr, demgegenüber konzentriert sich die justitielle Wiedergutmachung auf Bedürfnisse und Rechte des Opfers; die justitielle Vergeltung nimmt die gesellschaftlichen, ökonomischen und moralischen Zusammenhänge nicht wahr, während die justitielle Wiedergutmachung die holistische Beziehung der Handlung betont; innerhalb der justitiellen Vergeltung werden Verfahrensinhalte nicht berücksichtigt, demgegenüber ist die verfahrensmäßige Befriedung ein Hauptanliegen der justitiellen Wiedergutmachung; bei der justitiellen Vergeltung monopolisiert der Staat die Sanktion der widerrechtlichen Handlung, wohingegen 育三), Möglichkeiten der justitiellen Wiedergutmachung (修復的司法の可能性), Law and Politics (法と政治), Vol. 50, Nr. 1, S. 13 ff.

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die justitielle Wiedergutmachung die Funktion von Opfer, Täter und gesellschaftlichen Gruppierungen anerkennt; eben diese gesellschaftlichen Gruppierungen nehmen bei der justitiellen Vergeltung nur eine Zuschauerperspektive ein, während sie bei der justitiellen Wiedergutmachung im Prozess des Wiedergutmachens eine fördernde Rolle einnehmen. 3. Das Modell der strafrechtlichen Wiedergutmachung Obwohl die Grundbestandteile des Gedankens der strafrechtlichen Wiedergutmachung, der restorative justice, sich bei allen Autoren mehr oder weniger entsprechen, kommt es bei der Frage der Definition auf Grund relativ geringfügiger Unterschiede zu zwei unterschiedlichen Meinungen, die gegensätzliche Definitionen hervorgebracht haben. Zunächst haben sich die Deklaration von Leuven3 ebenso, wie viele NGOs4 die von Tony Marshall entwickelte Definition zu eigen gemacht. Diese geht, so wie die Deklaration von Leuven, davon aus, dass strafrechtliche Wiedergutmachung einen Prozess beschreibt, bei dem alle Parteien, die mit einem Verbrechen in Verbindung stehen, sich an einem Ort versammeln und versuchen, mit der Methode der konzertierten Aktion die Auswirkungen des Verbrechens für Gegenwart und Zukunft aufzuarbeiten.5 Das andere Modell beruht auf der von Walgrave entwickelten Definition, wonach strafrechtliche Wiedergutmachung alle Handlungen umfasst, die darauf abzielen den durch das Verbrechen verursachten Schaden durch justizielle Methoden wiedergutzumachen.6 Die erste Definition wird als „puristisches Modell“ bezeichnet, die zweite als „maximalistisches Modell“. 4. Das Ziel des puristischen Modells Beim puristischen Modell wird versucht, durch eine konzertierte Partizipation aller direkt an einem Verbrechen beteiligten Personen durch gegenseitige Hilfe zu einer Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse zu gelangen. Op3  Declaration of Leuven on the Advisability of Promoting the Restorative Approach to Juvenile Crime, in: Walgrave (ed.), Restorative Justice for Juveniles: Potentialities, risks and problems for research, 1998, S. 389–401. 4  McCold, Restorative Justice Handbook, Corrections Compendium, 23, 1998, S. 1–4, 20–28. 5  McCold, Restorative Justice and the Role of Community, in: Galaway/Hudson (eds.), Restorative Justice: international perspectives, 1996, S. 85–102. 6  Bazemore/Walgrave, Restorative Juvenile Justice: in Search of Fundamentals and an Outline for Systemic Reform, in: Bazemore/Walgrave (eds.), Restorative Juvenile Justice, in: Repairing the Harm of Youth Crime, 1999, S. 45–74.



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fer, Täter und Dritte können durch diese Chance wiedervereinigt werden. Wenn wir bei dem Gedanken der strafrechtlichen Wiedergutmachung davon ausgehen, dass das Verbrechen die zwischenmenschlichen Beziehungen generell verletzt, dann ist die Forderung des puristischen Modells, dass alle konzertiert an der Wiedergutmachung teilnehmen sollen, absolut unverzichtbar. Wie bereits im Namen dieser Denkrichtung ausgedrückt wird, handelt es sich hier um das puristische Festhalten an einem bestimmten Gesellschaftsbild und daher an einer bestimmten Form der strafrechtlichen Wiedergutmachung. Nach dem puristischen Modell sind nicht nur Täter, Opfer und die Gemeinschaft die Teilnehmer am Verfahren der strafrechtlichen Wiedergutmachung, sie sind auch die einzigen, die das Ergebnis dieses Verfahrens bestimmen. Daher steht und fällt dieses Modell mit der aktiven Teilnahme der betroffenen Parteien. In der Praxis sehen wir die Anwendung dieses Modells etwa bei Familienversammlungen, Versammlungen von Wohnsiedlungen oder sozialen Aktionen von Friedensgruppen. Die tatsächliche Umsetzung des Modells erfolgt durch eine primäre Teilnahme der betroffenen Parteien am Verfahren, die dazu führt, dass das Opfer Wiedergutmachung erfährt, dass der Täter seine Verantwortung übernimmt, und dass die gesellschaftliche Unterstützung dieser beiden verstärkt wird. Die Wiedergutmachung des Opfers, die Verantwortung des Täters und die Unterstützung durch die Gemeinschaft sind also die drei unverzichtbaren Komponenten des puristischen Modells. Zusammenfassend sehen wir, dass das Konzept der strafrechtlichen Wiedergutmachung dem Opfer, dem Täter und der Gemeinschaft die Gelegenheit zur direkten Kommunikation verschafft. Das puristische Modell geht dabei davon aus, dass hierdurch die Forderungen der direkt beteiligten Parteien, ja oft auch der indirekt beteiligten Personen befriedigt werden können.7 5. Die Plausibilität des Maximierungsmodells Das Maximierungsmodell beinhaltet einerseits das puristische Modell, schränkt dieses aber andererseits auch ein. Trotz dieser Einschränkungen geht man im allgemeinen Verständnis davon aus, dass es das Modell der strafrechtlichen Wiedergutmachung weiter ausweitet. Wenn wir die Wiedergutmachung durch Justiz zunächst von der Vergeltung durch Justiz und von der Resozialisierung durch Justiz abgrenzen, dann sehen wir z. B. ein bestimmtes Verfahren und „Absichten“ bzw. „Ergebnisse“, denen bestimmte 7  McCold, Toward a Historic Vision of Restorative Juvenile Justice: A Reply to the Maximalist Model, Contemporary Justice Review, 3–4, 2000, S. 372–374.

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Pflichten zukommen. Der Kerngedanke der strafrechtlichen Wiedergutmachung ist zunächst die Wiedergutmachung eines „Schadens“, so dass das Ziel der strafrechtlichen Wiedergutmachung in ihrer Anwendung auch auf die Wiedergutmachung des „Schadens“ eingegrenzt wird. In diesem Verständnis ist das, was wiedergutmacht, nicht das Wiedergutmachungsverfahren selber, sondern die Intention und der Effekt, die sich unter anderem durch dieses Verfahren äußern und die dann von diesem Verfahren als wichtig wahrgenommen werden. Die Definition der strafrechtlichen Wiedergutmachung im puristischen Modell legt ganz offensichtlich einen Schwerpunkt auf das Verfahren selber und hat in ihrer Definition den Begriff „restorative justice“ selber vermieden. Die von einem Verbrechen Betroffenen treffen sich zu einer formlosen Versammlung, was einem Idealtypus der strafrechtlichen Wiedergutmachung entspricht; gleichzeitig schließt dies alle Fälle von der strafrechtlichen Wiedergutmachung aus, in denen es den Betroffenen nicht gelingt, sich zu solch einer formlosen Versammlung zusammen zu finden, wobei diese Kompromisslosigkeit dann zu Problemen führt. In letzteren Fällen, in denen die strafrechtliche Wiedergutmachung ausgeschlossen ist, bleibt dann nur der Weg über die klassische Strafjustiz. Daher übersieht das puristische Modell einer strafrechtlichen Wiedergutmachung in diesem Sinne die „Wiedergutmachung“ als solche.8 Dass das puristische Modell und das Maximierungsmodell viele Berührungspunkte haben, versteht sich von selbst. Die strafrechtliche Wiedergutmachung ersetzt in beiden Modellen Vergeltung und Resozialisierung, was auch von Vertretern beider Modelle anerkannt wird. Obwohl die Anhänger des puristischen Modells dies kritisieren, kann das Maximierungsmodell die Ziele der Resozialisierung und selbst der Vergeltung integrieren. Aus Sicht des Maximierungsmodells ist die wirklich wichtige Frage diejenige, ob das Ziel der Wiedergutmachung erreicht werden kann. Solange es dem Ziel der Wiedergutmachung dient, kann also auch die Resozialisierung berücksichtigt werden. Dennoch muss (wie weiter unten geschildert) beachtet werden, dass auch eine erzwungene Wiedergutmachung nicht das Ziel der Vergeltung beinhaltet. Schlussendlich besteht also der größte Unterschied zwischen dem puristischen Modell und dem Maximierungsmodell in der Frage des Zwangs und in der Rolle der Gemeinschaft.9

8  Walgrave, How Pure Can a Maximalist Approach to Restorative Justice Remain? Or Can a Purist Model of Restorative Justice Become Maximalist, in: supra, S. 419. 9  Walgrave, How Pure Can a Maximalist Approach to Restorative Justice Remain? Or Can a Purist Model of Restorative Justice Become Maximalist, in: supra, S. 421– 428.



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Zunächst wird die Frage des Zwangs beim puristischen Modell rundweg abgelehnt, denn die Merkmale der Freiwilligkeit und der autonomen Handlungsalternative werden verabsolutiert. Im Verständnis des Maximierungsmodells wird die Frage des Zwangs anders beurteilt, denn sobald es dem Ziel der Wiedergutmachung nutzt, können auch Zwangsmaßnahmen Teil einer wiedergutmachenden Justiz sein. Anders ausgedrückt heißt das, dass Zwangsmaßnahmen, deren Intention es ist, eine Wiedergutmachung zu erreichen, nach dem Maximierungsmodell durchaus Teil des Konzepts der strafrechtlichen Wiedergutmachung sein können, denn es sind Zwangsmaßnahmen mit wiedergutmachendem Charakter. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von „restorative coercion“ oder „wiedergutmachendem Zwang“. Neuere Autoren, die davon ausgehen, dass das Ziel der Wiedergutmachung auch durch Zwangsmaßnahmen erreicht werden kann, betonen, dass Zwangsmaßnahmen als solche einen wiedergutmachenden Charakter haben, dass es also besser heißen müsste „coercion in view of restoration“, also „Zwang im Hinblick auf Wiedergutmachung“. Wie oben bereits gesagt argumentiert das Maximierungsmodell dafür, dass die Integration von Zwang einen materiellen Grund hat, denn selbst wenn eine Situation der Freiwilligkeit (des autonomen Entschlusses) nicht gegeben ist, besteht die Möglichkeit hierdurch eine Wiedergutmachung zu erreichen. Daher kann auch die Wiedergutmachung zur Begründung von Zwangsmaßnahmen werden. In den Augen des puristischen Modells wird solch eine „Zwangsmaßnahme“ unweigerlich als eine „Form der Strafe“ interpretiert. Die Kontroverse mündet daher letztendlich in die Frage, was eine Strafe ist. Weiter ist beim puristischen Modell die Frage, inwieweit die Teilnahme der „Community“ an der strafrechtlichen Wiedergutmachung wirklich ein absolutes Element darstellt. Hierbei fällt auf, dass die Community im puristischen Modell nicht definiert wird. Im Gegensatz dazu ist die Beteiligung der Community beim Maximierungsmodell kein zwingender Bestandteil der strafrechtlichen Wiedergutmachung. Das puristische Modell zielt auf einen Paradigmenwechsel weg vom Strafrecht und hin zur Wiedergutmachung ab, denn es geht davon aus, dass die Community durch ihre Beteiligung den Streit eher lösen kann als staatliche Konfliktlösungsmechanismen. Dies ist ein gemeinsamer Ansatz aller Befürworter der Wiedergutmachung; in der Schilderung dieses Trends gibt es keine unterschiedlichen Meinungen. Auch wenn man dem Idealtypus der Beteiligung der Community zustimmen kann, so ist es fraglich, wie die Stellung der Community in der Praxis der Wiedergutmachung bewertet werden soll. Die Notwendigkeit, die Community normativ zu beschränken kann nicht von der Hand gewiesen werden, denn sie ist nicht immer nur gutwillig. Es gibt innerhalb der Community oftmals schädliche Tendenzen, die versu-

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chen andere auszugrenzen, so dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich einzelne Elemente aus der Gemeinschaft der Community dergestalt lösen, dass sie die Rechte der anderen potentiell verletzen. Wenn dem so ist, dann muss die Community kontrolliert werden. Wie oben geschildert kann man an Hand dieser beiden Faktoren die gedanklichen Richtungen des puristischen Modells und des Maximierungsmodells voneinander unterscheiden. Dieser Beitrag geht davon aus, dass das Endziel des puristischen Modells zwar zu befürworten ist, dass aber jede Art, einen „Schaden“ gut zu machen als Wiedergutmachung betrachtet werden kann; daneben muss aber immer auch in Theorie und Praxis die Frage der Angemessenheit betrachtet werden. Wann immer sich die Strafjustiz um Belange des Opfers kümmert, ist sie Teil der strafrechtlichen Wiedergutmachung; sie ist dies unabhängig davon, ob der Täter sich freiwillig einbringt. Sobald der „Schaden“, welcher dem Opfer aus dem Verbrechen erstanden ist, wieder gut gemacht wird, ist dies prinzipiell ein Phänomen der Wiedergutmachung. Wenn aber innerhalb der strafrechtlichen Wiedergutmachung eine Strafsanktion das Mittel ist, mit dem das Gleichgewicht zwischen den drei Polen Täter, Opfer und Community wiederhergestellt wird, dann sollte die Situation dergestalt eingeschränkt werden, dass nur der Ausgleich eines „Schadens“ als Wiedergutmachung betrachtet wird, der vom Täter aus freien Stücken erfolgt. Wenn also überlegt wird, ob ein Verfahren zur Wiedergutmachung zählt, dann ist nicht nur zu fragen, ob der „Schaden“ des Opfers ausgeglichen wird, sondern es ist notwendig, sich zu überlegen, ob der Täter dies freiwillig tut. Auch wenn dieser Beitrag im Übrigen den Standpunkt des Maximierungsmodells einnimmt, so vertritt er die Meinung, dass ein Wiedergutmachungsbeschluss, dem die Freiwilligkeit des Täters fehlt und der auf Zwang beruht, kein praktisches Mittel der strafrechtlichen Wiedergutmachung ist.

III. Analyse der Verständigung 1. Normzweck des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Nach dem Beschluss des Ständigen Ausschusses des Nationalen Volkskongress bezüglich der Ermächtigung des Obersten Volksgerichtshofs und des Obersten Volksprokurats in einem Teil der Gebiete Versuche zum Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung durch­ zuführen (全國人大常委會關於授權最高人民法院、最高人民檢察院在部 分地區開展刑事案件認罪認罰從寬制度試點工作的決定, im Folgenden „Beschluss“ genannt) ist das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerken-



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nung und Sanktionsmilderung so definiert, dass der Tatverdächtige oder der Angeklagte sein Verbrechen gesteht, bezüglich der ihm zur Last gelegten Verbrechenstatsache keinen Widerspruch einlegt, der Strafempfehlung durch die Staatsanwaltschaft zustimmt und eine eidesstattliche Erklärung hierzu abgibt, so dass er in den Genuss einer Sanktionsmilderung kommen kann. Daher kann das Volksprokurat beim Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung im Rahmen des materiellen Strafrechts und in Einklang mit Verbrechenstatsache, Sozialschädlichkeit sowie der Situation von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung eine Strafempfehlung aussprechen, die laut Gesetz eine Sanktionsmilderung enthält. Üblicherweise ist das Gericht dazu aufgerufen, sich an den Schuldvorwurf und an den Strafantrag des Volksprokurats zu halten, es sei denn, der Angeklagte hat kein Verbrechen begangen, oder er sollte nicht von Amts wegen strafrechtlich verfolgt werden, oder sein Schuldeingeständnis und seine Strafanerkennung waren nicht freiwillig erfolgt, oder er verneint, dass er das ihm zur Last gelegte Verbrechen begangen hat, oder das Gericht ist der Überzeugung, dass der Angeklagte ein anderes als das angeklagte Verbrechen begangen hat, oder in anderen Fällen, in denen ein gerechtes Urteil möglicherweise gefährdet ist. Wie allerdings aus dem Normzweck des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung des „Beschlusses“ deutlich wird, sollen nicht nur die Rechte und Interessen des Angeklagten geschützt werden, sondern auch diejenigen des Opfers. Daher wird die effektive Teilnahme des Opfers am Verfahren gefordert, so dass Volksgericht, Volksprokurat und die Behörden für öffentliche Sicherheit (公安機關, im Folgenden: die Polizei) die Meinung des Opfers und seines Vertreters anhören sollen. Dazu ist die Frage, ob der Angeklagte und das Opfer einen Ausgleich gefunden haben, ein Faktor, der bei der Strafzumessung Berücksichtigung findet. Dadurch soll gefördert werden, dass der Täter sich beim Opfer gebührend entschuldigt, dass er widerrechtlich Erlangtes zurückgibt, Schadensersatz leistet und garantiert, dass das Opfer über den Schadensersatz hinaus auch seelisch getröstet wird, dass die Belastungen durch das Strafverfahren verringert werden und dass der Konflikt so bald als möglich aus der Welt geschafft wird, um dadurch die sozialen Beziehungen wieder herzustellen.

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2. Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung a) Inhalt der Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Schuldanerkennung Die Freiwilligkeit von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung bezeichnet den Fall, dass der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte über den Inhalt der Vorwürfe, denen er sich gegenüber sieht, vollständig im Klaren ist und dass er auch weiß, welche Rechtsfolge an sein Schuldeingeständnis und seine Strafanerkennung anschließen, so dass er eine freie und bewusste Wahl für Schuldeingeständnis und Strafanerkennung trifft. Wenn also der Tatverdächtige oder der Angeklagte auf Grund der Erklärungen der Ermittlungsbehörden oder des Gerichts Kenntnis davon hat, was für eine Verbrechenshandlung ihm zur Last gelegt wird und was für ein Verbrechen diese darstellt, dann kann er in vernünftiger, freier Weise entscheiden, ob er dem Strafantrag des Volksprokurats zustimmen will, um dann seine Schuld einzugestehen und sich mit seiner Strafe einverstanden zu erklären. Deshalb basiert die Freiwilligkeit, die im Zuge des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung gefordert wird, auf dem klaren Wissen, dass die eigene Handlung ein Verbrechen darstellt, was für ein Verbrechen sie darstellt, so dass die Entscheidung über das Eingestehen der Schuld und die Anerkennung der Strafe eine rationale Einschätzung der eigenen Situation darstellt, dass darüber hinaus diese Entscheidung nicht durch äußere Zwänge der Umgebung beeinflusst wird. Einfach ausgedrückt, beruht die Freiheit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung auf (1) der Klarheit der Kenntnis, auf (2) der Rationalität der Wertung und auf (3) der Ungezwungenheit der Entscheidung. aa) Klarheit der Kenntnis Klarheit der Erkenntnis bedeutet hier, dass der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte umfänglich über den Sachverhalt Bescheid weiß, bevor er ein Schuldeingeständnis oder eine Strafanerkennung zum Ausdruck bringt. Polizei und Volksprokurat rekonstruieren also auf Grund der Beweismittel, die während der Ermittlungen erhoben wurden, die Verbrechenstatsache, auf Grund welcher dann die Polizei oder das Volksprokurat dem Tatverdächtigen bzw. dem Angeklagten den Tatvorwurf erklären, warum dessen Handlung ein Verbrechen darstellt. Das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung basiert auf dem klaren Bewusstsein des Täters, dass seine Handlung ein Verbrechen darstellt, dieses Bewusstsein ist umgekehrt wiederum die Basis dafür, dass der Täter selbst dieses Institut für sich nutzen kann. Wenn also der Täter kein klares Bewusstsein davon hat, dass seine



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Handlung ein Verbrechen darstellt, dann gibt es für ihn auch keinerlei Raum, von dem Institut des Schuldeingeständnisses, der Strafanerkennung und der Sanktionsmilderung Gebrauch zu machen. bb) Rationalität der Wertung Die Rationalität der Wertung folgt auf das Bewusstsein des Tatverdächtigen bzw. des Angeklagten, dass seine Handlung ein Verbrechen darstellt. Bei der Beurteilung, ob er sich auf das Eingeständnis der Schuld und die Anerkennung der Strafe einlassen soll, muss dieser sich zunächst der Bedeutung und der gesellschaftlichen Einordnung seiner Tat stellen, erst danach kann eine Überlegung, ob die drohenden Rechtsfolgen aus der eigenen Sicht angemessen sind und ob die auf Schuldeingeständnis und Strafanerkennung folgende Sanktion dem eigenen Interesse entspricht. In anderen Worten ausgedrückt ist also die Frage, ob die auf Schuldeingeständnis und Strafanerkennung folgende Rechtssanktion vernünftig ist, ob sie dem eigenen Interesse entspricht, ihrem Charakter nach eine Wertung. Deshalb muss der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte, wenn er diese Wertung durchführt, mit einer wertrationalen Haltung beurteilen, ob er die rechtliche Sanktion, die auf Schuldeingeständnis und Strafanerkennung folgt, akzeptieren kann und will; fehlt dem Tatverdächtigen bzw. dem Angeklagten die Fähigkeit zu einer solch rationalen Abwägung oder ist seine diesbezügliche Fähigkeit nicht ausreichend, dann muss er den Rat eines Verteidigers zu Rate ziehen, welcher dem Tatverdächtigen bzw. dem Angeklagten dabei hilft, eine rationale Entscheidung zu treffen. cc) Ungezwungenheit der Entscheidung Die Entscheidungsfreiheit im engeren Sinne, die hier auch die Ungezwungenheit der Entscheidung genannt wird, bezeichnet eine Situation, in welcher dem Tatverdächtigen bzw. dem Angeklagten klar bewusst ist, dass seine Handlung ein Verbrechen ist, in welcher er auf Grund seiner rationalen Wert­ entscheidung die rechtliche Sanktion beurteilt, die auf Schuldeingeständnis und Schuldanerkennung folgt, und in welcher er entscheidet, dass diese rechtliche Sanktion rational betrachtet akzeptabel ist, da sie dem eigenen Interesse entspricht, wobei diese Entscheidung für oder gegen Schuldeingeständnis und Strafanerkennung nicht auf Druck aus der Umgebung hin erfolgt. Anders ausgedrückt soll der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte bei seiner Entscheidung, ob er seine Schuld eingesteht und seine Strafe anerkennt, keinem Druck und keiner Täuschung durch Ermittlungs- oder Urteilsbehörden ausgesetzt sein, ebenso soll die Entscheidung kein Resultat der Forderungen des Opfers oder der öffentlichen Meinung etc. sein. Jegliche Art

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von äußerer Einmischung in die Entscheidung des Tatverdächtigen bzw. des Angeklagten für oder gegen Schuldeingeständnis und Strafanerkennung sollte vermieden werden, denn nur damit ist die Entscheidungsfreiheit gewährleistet und somit das Schuldeingeständnis bzw. die Strafanerkennung rechtmäßig und legitim. b) Diskussion der Freiwilligkeit von Wiedergutmachung und Verständigung Obwohl innerhalb der strafrechtlichen Wiedergutmachung sowohl das puristische Modell als auch das Maximierungsmodell die Freiwilligkeit der Verständigung mit dem Opfer betonen, ist die Freiwilligkeit, von der hier die Rede ist, durch ein Mediationsverfahren zwischen Täter und Opfer vermittelt, wobei der Täter im Rahmen dieses Verfahrens erkennt, inwiefern er dem Opfer durch seine Handlung „Schaden“ zugefügt hat. Auf Grund dessen empfindet er ehrliche Reue und es ist ihm ein Anliegen, den Schaden wieder aus der Welt zu schaffen, so dass er auf eine bestimmte Weise versucht, den „Schaden“ des Opfers freiwillig wieder gut zu machen. Doch der Unterschied zwischen puristischem Modell und Maximierungsmodell liegt darin, dass ersteres den Fokus ausschließlich auf die Verständigung zwischen Täter und Opfer legt, wobei die Frage, ob es auch wirklich zu einer erfolgreichen Verständigung kommt, teilweise untergeht. Daher ist das Maximierungsmodell mit seinem Fokus auf dem Erfolg der Verständigung vorzuziehen. Doch der sich hieraus ergebende Verständigungsbeschluss wirft die Frage nach Zwangs­ charakter und Freiwilligkeit auf. Wenn der Verständigungsbeschluss einen Zwangscharakter besitzt, dann hat dies zur Folge, dass der Täter nicht von sich aus, nicht aus freien Stücken handelt; er gleicht zwar den von ihm verursachten „Schaden“ aus, aber ob die sich darauf stützende Sanktionsmilderung die Funktion einer Verbrechensprävention erfüllen kann, ist zweifelhaft. Im Vergleich zur Freiwilligkeit bei der strafrechtlichen Wiedergutmachung ist die Freiwilligkeit des Instituts von Schuldeingeständnis, Schuldanerkennung und Sanktionsmilderung – wie oben beschrieben – auf der Tatsache gegründet, ob der Tatverdächtige oder der Angeklagte sein Verbrechen freiwillig eingesteht und seine Strafe freiwillig akzeptiert, doch es muss erst untersucht werden, ob diese Art der Freiwilligkeit wirklich mit der Freiwilligkeit der strafrechtlichen Wiedergutmachung kongruent ist, oder ob sie in ihr enthalten ist. Zunächst ist klar festzustellen, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung um der Prozessökonomie und der Ressourcen der Strafjustiz willen entworfen wurde, es ist daher ausreichend, wenn der Tatverdächtige oder der Angeklagte sein Verbrechen im Ermittlungsverfahren oder während der Verhandlung wahrheitsgemäß eingesteht, ob er dabei realisiert, was dem Opfer durch seine Verbre-



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chenshandlung an Schaden entstanden ist, wird nicht hinterfragt. Gleichzeitig gibt es aber dennoch die Möglichkeit, dass er Willens ist, den „Schaden“ des Opfers auszugleichen. Eine Wiedergutmachung auf Grund von Berechnung und ohne Reue wird dennoch auf Grund von Erwägungen der Strafrechts­ politik unterstützt und belohnt. Das zeigt, wie der jeweilige Inhalt der Freiwilligkeit, unter diesem Aspekt betrachtet, durchaus verschieden ist. Aus dem Inhalt des „Beschluss“ ist erkennbar, dass der Normzweck des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung zwar in der Prozessökonomie und in der rationalen Verteilung von Ressourcen der Justiz besteht, dass aber gleichzeitig die Hoffnung geäußert wird, dass Täter und Opfer durch dieses Institut zu einem Ausgleich kommen, um dadurch zu garantieren, dass das Opfer möglichst schnell zu Schadensersatz und zu einer Entschuldigung kommt. Daher kommen wir nicht umhin in dem Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung auch eine Form des Ausgleichs mit dem Opfer zu sehen, das den Ansprüchen der strafrechtlichen Wiedergutmachung genügt. Wenn wir die Situation aber aus Sicht der beiden obigen Modelle genauer betrachten, dann fällt auf, dass zwar beide, das puristische und das Maximierungsmodell, fordern, dass der Ausgleich des Opfers von Seiten des Täters freiwillig sein muss, doch im puristischen Modell ist es ausreichend, wenn der Täter freiwillig das Verständigungsverfahren eingeht und durchführt, es wird jedoch nicht gefragt, ob es auch zu einem Ergebnis kommt. Demgegenüber bezieht sich die Freiwilligkeit der Verständigung beim Maximierungsmodell darauf, ob der Ausgleich zwischen Täter und Opfer freiwillig erfolgt ist. Das Maximierungsmodell betont also das konkrete und praktische Ergebnis der Verständigung zwischen Täter und Opfer. Wenn wir deshalb davon ausgehen, dass das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung gleichzeitig den Charakter einer strafrechtlichen Wiedergutmachung hat, dann ist dieser Beitrag der Auffassung, dass es sich dabei nach dem, was aus der Garantie der Opferinteressen in den Normzwecken des „Beschluss“ hervorgeht, um eine strafrechtliche Wiedergutmachung im Sinne des Maximierungsmodells handeln muss. Was betont wird, ist der konkrete Schadensausgleich des Opfers und die Entschuldigung, die dessen Psyche tröstet. Da das puristische Modell lediglich die Einleitung und den Prozess des Verständigungsverfahrens betont, dieses jedoch als ergebnisoffen gedacht wird, ist es mit dem Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung Sanktionsmilderung, welches sein Augenmerk auf das konkrete Ergebnis legt, nicht kompatibel. Dennoch ist zu fragen, inwiefern ein Ausgleich, der vom Volksprokurat oder vom Volksgericht aktiv zwischen Tatverdächtigem oder Angeklagtem einerseits und Opfer andererseits herbeigeführt wird, dem Anspruch der Freiwilligkeit genügt. Die doppelte Motivation, bei der nur ein Teil der strafrechtlichen Wiedergutmachung entspricht, beeinflusst notwendigerweise die

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Freiwilligkeit des Ausgleichs zwischen Tatverdächtigem bzw. Angeklagtem und Opfer. Denn wenn der Ausgleich zwischen Tatverdächtigem bzw. Angeklagtem und Opfer vom Volksprokurat bzw. dem Volksgericht aktiv herbeigeführt wird, dann wird dies immer auch eine Beeinflussung des Entschlusses auf Seiten des Täters darstellen, unabhängig von der Frage, ob er sich am Ende für oder wider den Ausgleich mit dem Opfer entscheidet. Somit ist die Freiwilligkeit der Verständigung zwischen Täter und Opfer immer in Frage gestellt und es ist daher weiter zu fragen, ob dadurch der Ausgleich zwischen Täter und Opfer am Ende noch dem Charakter der strafrechtlichen Wiedergutmachung entspricht. Tatsächlich wird es in vielen Fällen wie eine Verständigung zwischen Anklage und Verteidigung wirken. Am Ende wird der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte versuchen einen Ausgleich mit dem Opfer zu finden, weil er sich der Einmischung und dem Einfluss von Volksprokurat und Volksgericht ausgesetzt sieht. Es ist daher gut möglich, dass er aus der Perspektive der Gesellschaft lediglich versucht, „Geld auszugeben, um ein Übel abzuwenden“ (花錢消災). Wenn aber seine Handlung so interpretiert wird, dann ist es fraglich, ob die Psyche des Opfers wirklich befriedigt ist. Dazu würde durch solch eine Außenwahrnehmung die Beziehung zwischen Tatverdächtigem bzw. Angeklagtem und der Community abermals beschädigt. 3. Verständigung und Wiedergutmachungsbeschluss a) Gesetzgebungsmodelle des Wiedergutmachungsbeschlusses Wie oben gesagt, erlaubt das Maximierungsmodell, im Strafverfahren eine Wiedergutmachung durchzuführen. Wenn wir eine Antwort auf die Frage suchen, welche Wiedergutmachungsbemühungen tatsächlich zur Anwendung kommen sollen, lohnt sich der Blick auf die Gesetzgebungsbeispiele in Japan und Deutschland. aa) Das japanische Modell des Wiedergutmachungsbeschlusses Die japanische Gesetzgebung zum Opferschutz kann bis auf das Jahr 1974 zurückgeführt werden. Damals hatte eine Explosion bei Mitsubishi Heavy Industries dazu geführt, dass Lehre und Praxis sich mit der Frage der Entschädigung von Opfern auseinandergesetzt haben. Es erstand die Forderung, dass der Staat die Opfer entschädigen solle, so dass ein System zur Entschädigung von Verbrechensopfern aufgebaut wurde. Im Jahr 1980 wurde das „Gesetz über finanzielle Leistungen an Verbrechensopfer“ verabschiedet, wobei der Umfang, in dem Entschädigung bestimmt war, auf vorsätzliche Verbrechen gegen Leib und Leben beschränkt blieb; Vermögensdelikte und



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Fahrlässigkeit blieben von der Wiedergutmachung ausgegrenzt. Die Giftgas­ attacke auf die Tokyoter U-Bahn im Jahr 1995 und andere Verbrechen, in denen Opfer wahllos getötet wurden, führten dazu, dass auch eine Wiedergutmachung für psychische Schäden gefordert wurde. Das führte in der Folge im Jahr 2001 zu einer Novellierung des „Gesetz über finanzielle Leistungen an Verbrechensopfer“; im Zuge dieser Novellierung wurde der Umfang der Anlassfälle so erweitert, dass der Gesetzgeber auch psychische Schäden und PTSD (post traumatic stress disorder) in den Katalog der möglichen Wiedergutmachung aufnahm; gleichzeitig wurden die Geldbeträge, die Hinterbliebenen und Schwerverletzten gezahlt werden, angehoben. In der Folge ergaben sich Interferenzen mit dem 2004 beschlossenen „Gesetz zum Schutz von Verbrechensopfern“, so dass das „Gesetz über finanzielle Leistungen an Verbrechensopfer“ im Jahr 2006 abermals revidiert wurde; im Zuge dessen wurde der Satz der Wiedergutmachung für Schwerverletzte abermals angehoben, gleichzeitig wurden die Voraussetzungen für die Leistungsbewilligung erleichtert und die Schranken für Leistungen bei Verbrechen innerhalb des Familienverbands angepasst. Im Jahr 2008 wurde zusätzlich die Erwerbsunfähigkeit bei Schwerverletzten in den Leistungskatalog aufgenommen, ebenso wurden die Leistungen für andere schwerwiegende Folgen erhöht, die Leistungen für Hinterbliebene, die vom Opfer unterstützt wurden, wurden gleich belassen. Dennoch blieben Verbrechensopfer von Auslandstaten von den oben geschilderten Anpassungen der Gesetzeslage ausgeschlossen. Deshalb wurde 2016 das „Gesetz über Kondolenzzahlungen bei Verbrechen im Ausland“ verabschiedet. Dieses ist aus der Perspektive des „Gesetz über finanzielle Leistungen an Verbrechensopfer“ ein Fremdkörper, auf dessen Grundlage lediglich an Hinterbliebene von Opfern, die im Ausland einem Verbrechen erlagen, eine finanzielle Leistung gewährt wird, so dass der Leistungsumfang und der Umfang der Anwendung deutlich geringer ist. Abgesehen davon wurde versucht, die Stellung des Opfers im Strafprozess zu stärken. Hierzu wurde im Jahr 2000 das „Gesetz über den Schutz von Verbrechensopfern“ erlassen, dazu wurden das „japanische Strafprozessgesetz“ und das „Gesetz über die Ermittlungsverhandlung der Staatsanwaltschaft“ unter dem Aspekt des Opferschutzes revidiert. Von da an war es in Fällen von Körperverletzung etc. in der Verhandlung am Amtsgericht möglich, dass das Gericht die zivilrechtliche Forderung des Opfers nach Schadensersatz zum Inhalt des strafrechtlichen Wiedergutmachungsbeschlusses macht und diese in diesem Rahmen untersucht. Nachdem das Strafgericht ein Schuldurteil gefällt hat, kann es direkt und unter Einsicht in die Strafakten eine Entscheidung über diese zivilrechtliche Forderung treffen, so dass die strafrechtlichen Beweismittel in der Forderung nach Schadensersatz flexibel eingesetzt werden können. Die diesbezügliche Verhandlung hat innerhalb

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von vier Verhandlungsterminen beendet zu sein, so dass die Belastung des Opfers durch das Verfahren effektiv eingeschränkt wird. Das „Grundgesetz der Verbrechensopfer“ von 2004 hat das „Gesetz zum Schutz von Verbrechensopfern“ und viele bestehende Einzelbestimmungen zum Opferschutz in anderen Gesetzen zusammengefasst. Der Normzweck des „Grundgesetz der Verbrechensopfer“ besteht darin, dem Verbrechensopfer nach erfolgter Wiedergutmachung des „Schadens“ dabei zu helfen, wieder zu stabilen Lebensverhältnissen zurückzufinden. In diesem Bemühen soll es dem Opfer in angemessener Weise möglich sein, an der Verhandlung im Strafverfahren teilzunehmen, wozu der Staat dem Opfer einen rechtlichen Vertreter an die Seite stellt, mit dessen Hilfe es an den Verfahren des Strafprozesses, des Wiedergutmachungsbeschlusses oder als Beobachter an Jugendgerichtsverfahren teilnehmen kann und mit dem es bei der Entscheidung über die Aussetzung auf Bewährung seine Meinung kund tun kann. Diese Gesetzeslage des Opferschutzes zeigt, wie sich das Verfahren in Japan zwar zu einem bestimmten Grad in Richtung auf Information, Schutz und Teilhabe des Opfers hin bewegt, wie aber diese Politik nur einige Elemente der Wiedergutmachung in die Strafjustiz einfügt, denn alle diese Elemente sind auf den „Schaden“, den das Opfer erlitten hat, bezogen. Eine „auf das Opfer bezogene Strafjustiz“, die sich Information, Schutz und Teilhabe des Opfers zu ihrem Ziel macht, betrachtet notweniger Weise den „Schaden“ des Opfers als eine Fragestellung und die Wiedergutmachung des „Schadens“, den das Opfer erlitten hat, als Ziel. Darüber hinaus verfolgt es die Verantwortung des Täters gegenüber dem Opfer, weswegen die Grundelemente der strafrechtlichen Wiedergutmachung voll verwirklicht werden. bb) Das deutsche Modell der Weisung zur Wiedergutmachung Die „Weisung zur Wiedergutmachung“ in § 153a I (1) StPO eröffnet einerseits die Möglichkeit, dass die Wiedergutmachung neben der Strafe eine eigene Rolle spielt, andererseits verleiht sie der Weisung zur Wiedergutmachung einen Zwangscharakter, wodurch die Wiedergutmachung die Form einer Sanktion annimmt, die offiziell anerkannt ist. Diese Art von Weisung zur Wiedergutmachung ist ähnlich etwa dem Schadensersatzbefehl oder der community service order im angelsächsischen Recht. Diese Beschlüsse und Befehle zielen allesamt auf die Rehabilitierung des Opfers und die Wiederherstellung der community ab. Obwohl die Weisung zur Wiedergutmachung im allgemeinen als Zwangsanordnung betrachtet wird, diskutiert die Fachwelt durchaus, ob die Weisung zur Wiedergutmachung tatsächlich ein Teil der strafrechtlichen Wiedergutmachung sei. Dabei wird wahrgenommen, dass die Weisung zur Wiedergutma-



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chung nicht unbedingt auf Zwang beruht – es gibt auch Weisungen zur Wiedergutmachung, die auf Freiwilligkeit aufbauen. In letzterem Fall wäre zu überlegen, ob es sich um eine Sanktion handelt, um auf diese Weise die negativen Konsequenzen, die sich hieraus ergeben, abschätzen zu können. Wenn die strafrechtliche Sanktion auch die strafrechtliche Wiedergutmachung umfasst, dann kann es sich auch um eine freiwillige Weisung zur Wiedergutmachung handeln. Wenn also das Element der Freiwilligkeit der Wiedergutmachung ein Teil des deutschen Strafrechts und damit der deutschen Rechtsordnung ist, dann stellt die im Strafrecht bestimmte Wiedergutmachungshandlung einen „dritten Weg“ dar, bei dem beteiligte Gruppen mit ihrem Versuch, im jeweiligen Fall einen Vorschlag für die Wiedergutmachung vorzulegen, für die „Freiwilligkeit“ der Weisung zur Wiedergutmachung Sorge tragen.10 Seit den 1980er Jahren, insbesondere aber im Verfahren am Jugendgericht, hatte sich in der Praxis ein Verständigungsverfahren entwickelt, das seit der Reform des Jugendgerichtsgesetzes im Jahr 1990 dazu führte, dass der „Täter-Opfer-Ausgleich“ als Grund für eine Verfahrenseinstellung anerkannt wurde und dass er der Inhalt entsprechender Maßnahmen sein kann. In der Folge wurde das Verfahren des Täter-Opfer-Ausgleichs auch in Fällen von Straftaten Erwachsener angewandt, so dass das „Verbrechensbekämpfungsgesetz“ aus dem Jahr 1994 dieses Verfahren in das Strafgesetzbuch eingeführt hat. Seither bestimmt § 46a StGB den „Täter-Opfer-Ausgleich“ im materiellen Strafrecht und beinhaltet dabei auch Bestimmungen zur Schadenswiedergutmachung. Demnach kann der Täter, wenn er (1) sich bemüht „einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen (Täter-Opfer-Ausgleich), seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutmacht oder deren Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt oder (2) in einem Fall, in welchem die Schadenswiedergutmachung von ihm erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert hat, das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigten. Das Gericht kann daraufhin die Strafe nach § 49 Abs. 1 mildern oder, wenn keine höhere Strafe als Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe bis zu dreihundertsechzig Tagessätzen verwirkt ist, von Strafe absehen.“ In der Folge wurden am 28.12.1999 mit dieser materiellen Regelung korrespondierende Bestimmungen in die deutsche Strafprozessordnung aufgenommen. Obwohl § 46a StGB (Täter-Opfer-Ausgleich) eine Bestimmung zur Strafzumessung ist, kann diese dennoch die Rechtsfolge der Wiedergutmachung beinhalten, denn bei erfolgter Wiedergutmachung oder bei erfolgreichem Ausgleich kann dies zur Einstellung des Verfahrens führen.

10  Takahashi Norio (高橋則夫), Das Konzept des Schadensersatz im Strafrecht (刑法における損害回復の思想), Seibundo (成文堂), März 1997, S. 54 ff.

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Dabei gibt es Stimmen, die von einer „Schadensausgleichsalternative“ sprechen, die diesem Verständnis nach neben der eigentlichen Kriminalstrafe und den Maßnahmen zur Besserung und Sicherung eine dritte Art der Sanktionierung sehen, die eben durch die Aufnahme der Wiedergutmachung in das materielle Strafrecht ihre Normierung erfahren habe. Die Idee dieser Alternative beinhaltet keine Beteiligung der Community, sondern wird von der Strafjustiz kontrolliert und ist im „Täter-Opfer-Ausgleich“ verankert. Sie beinhaltet die „Freiwilligkeit“ des Täters als Element in sich, so dass sie nach dieser Auffassung eine freiwillige „dritte Art der Sanktion“ sei. Wie dem auch sei, die Weisung zur Wiedergutmachung hat eindeutig festzustellen, ob es sich dabei um eine zwangsartige oder um eine freiwillige Weisung handelt. b) Verständigung als Weisung zur Wiedergutmachung? Die „Weisung zur Wiedergutmachung“, welche im Rahmen der strafrechtlichen Wiedergutmachung entstand, ist eine Rechtsfolge, die nach der Auffassung der anglo-amerikanischen Rechtsordnung auf einer Ebene mit der Kriminalstrafe liegt. Hiernach muss die Initiative zur Weisung zur Wiedergutmachung nach dem Urteil zum materiellen Sachverhalt erfolgen und gehört daher zum Verfahren der Strafvollstreckung. Daher wird einer solchen Wiedergutmachungsweisung dann im Allgemeinen eine Zwangswirkung zugeschrieben, ja es wird davon ausgegangen, dass eine zwangsweise „Wiedergutmachungsweisung“ nur in diesem Zusammenhang vorkommen kann. Im Gegensatz hierzu findet eine freiwillige „Weisung zur Wiedergutmachung“ auf jeden Fall vor Ende des Strafverfahrens statt. Weil der Täter freiwillig und aus eigenen Stücken einen Ausgleich mit dem Opfer findet, wird das Strafverfahren vorzeitig beendet oder es führt dazu, dass es bei der Strafzumessung zu einer geringeren bzw. leichteren Strafe kommt. Obwohl der Täter im Ermittlungsverfahren u. U. Schuldeingeständnis und Strafanerkennung geäußert hat, dass er gegen das ihm vom Volksprokurat zur Last gelegte Verbrechen keinen Widerspruch einlegt und die ihm drohende Strafe anerkennt, so dass er bereits eine eidesstattliche Erklärung hierzu unterschrieben hat, ist es durchaus möglich, dass er in diesem Verfahrensabschnitt noch keinen Ausgleich mit dem Opfer gefunden hat, dass er den „Schaden“ des Opfers weder entschädigt noch wiedergutmacht. Wenn wir also dieses Institut aus der Perspektive der strafrechtlichen Wiedergutmachung betrachten, dann stellt das Institut von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung im Rahmen der strafrechtlichen Wiedergutmachung für die Entschädigung oder Wiedergutmachung des Opfers keine wirkliche Hilfe dar, ja es gehört gar nicht in die Kategorie dessen, was die strafrechtliche Wiedergutmachung als Weisung zur Wiedergutmachung bezeichnet.



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4. Strafrechtliche Beurteilung der Schuld bei Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Im Folgenden betrachten wir zunächst die strafrechtliche Beurteilung des Verbrechens von Seiten der Handlungsnorm bzw. der Sanktionsnorm. Die Handlungsnorm geht der Frage nach, ob eine Verbrechenshandlung erfolgt ist. Beim dreistufigen Verbrechensaufbau umfasst dies die Ebenen der Tatbestandsmäßigkeit und der Widerrechtlichkeit. Wenn die Tatbestandsmäßigkeit erfüllt ist und es keine Ausschlussgründe für die Rechtswidrigkeit gibt, dann ist auf Grund der Handlungsnorm festgestellt, dass es sich um ein Verbrechen handelt, so dass in der Folge der Abschnitt der Sanktionsnorm einsetzt.11 Innerhalb der Wertung, welche sich auf die Sanktionsnorm stützt, wird zunächst die Frage gestellt, ob die Handlung dem Täter als schuldhaft vorgeworfen werden kann. Auf Grund des Anspruchs des Schuldstrafrechts kann eine Sanktionierung nur dann erfolgen, wenn den Täter bei der Frage der Verantwortung ein Schuldvorwurf trifft. Somit ist die Frage der Schuld entscheidend dafür, ob es zu einer Sanktionierung kommt, gleichzeitig ist dies der Ausgangspunkt der Sanktionsnorm.12 Deshalb ist die strafrechtliche Wertung des Schuldvorwurfs nicht nur eine existentielle des ja oder nein, sondern auch eine graduelle des wieviel? Letzteres ist die zentrale Frage beim Verfahrensschritt der Strafzumessung. Anders ausgedrückt ist die graduelle Wertung der Schuld solange nicht wichtig, solange nicht innerhalb der Schuldfrage grundsätzlich entschieden ist, ob den Täter eine persönliche Vorwerfbarkeit des Handlungsunwerts trifft. Das heißt wiederum nicht, dass die quantitative Betrachtung der Schuld bei der Bewertung nicht wichtig sei, vielmehr muss sie in jedem konkreten Fall innerhalb der Bewertung von Schuld und Verantwortung zu einer Strafzumessung führen, die dann individuell die Höhe der Schuld bestimmt. Bei dieser Abwägung ist nicht nur zu ermitteln, wie schwer das fragliche Rechtsgut des Opfers durch den Täter geschädigt wurde, wie schwerwiegend das angewandte Mittel war, wie sich die Situation während des Verbrechens subjektiv bzw. objektiv darstellt, sondern sie beinhaltet auch die Haltung und die Handlungen des Täters nach der erfolgten Tat. Dazu gehört die Haltung, wie nach der Tat Reue empfunden wird, die Entschuldigung gegenüber dem Opfer und dessen Entschädigung, oder das Leisten von Arbeit im Dienste der Gemeinschaft, die sogenannte community work. Wenn diese Überlegungen zu dem Schluss führen, dass den Täter kein Vorwurf der großen Böswilligkeit trifft, 11  Tsai Mengchien (蔡孟兼), Über die dogmatische Beziehung zwischen Handlungsnorm, Sanktionsnorm und Schuldurteil (II) (論行為規範及制裁規範與犯罪評價 之論理關係(下)), Taiwan Journal for Military Law (臺灣軍法專刊), Vol. 61, Nr. 2, April 2015, S. 158. 12  Ebenda, Fn. 11, S. 160.

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so dass ihn keine strenge Strafe treffen sollte, dann wird die ausgesprochene Strafe einen relativ versöhnlichen Charakter aufweisen. Nach der vorstehend geschilderten Meinung kann dem Täter deshalb eine geringere Strafe zugemessen werden, weil er im Rahmen des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung den „Schaden“, den das Opfer durch das Verbrechen erlitten hat, ausgleicht. Theoretisch gehört dies zur quantitativen Beurteilung der Verantwortlichkeit; innerhalb der Strafzumessung wird die Veränderung der Haltung des Täters während der Tat und nach der Tat gegenübergestellt, um daraufhin einen rechtlichen Bonus zu vergeben. Das erscheint selbstverständlich. Wenn wir uns aber die Realität genauer ansehen, dann erhält der Täter dann eine geringere Strafempfehlung, wenn er im Rahmen des Instituts von Schuldeingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung den Ablauf seines Verbrechens wahrheitsgemäß schildert und die von der Staatsanwaltschaft vorgeschlagene Sanktionierung anerkennt, so dass die Ermittlungen und die Verhandlung schneller durchgeführt und abgeschlossen werden können. Dem Täter kommt also die Milde bei der Strafzumessung deshalb zu Gute, weil er dem Interesse an schneller Aufklärung und Aburteilung des Falles entgegenkommt. Das Institut von Schuldeingeständnis und Strafanerkennung betont in diesem Fall also die Prozessökonomie und die rationale Verteilung von Ressourcen der Justiz. Die hier geschilderte Milde, die sich in der Strafzumessung und einer relativ geringeren Strafe zeigt, basiert in keinster Weise auf einer strafrechtlichen Wiedergutmachung, durch welche der „Schaden“ des Opfers ausgeglichen würde. Obwohl also das Ergebnis für den Täter dasselbe ist, wie das der strafrechtlichen Wiedergutmachung, kann eine solche Sanktionsmilderung nicht in den Rahmen der strafrechtlichen Wiedergutmachung eingeordnet werden. 5. Der Opferschutz im Rahmen von Schuldeingeständnis, ­Strafanerkennung und Sanktionsmilderung Der Schutz des Opfers im Rahmen des Strafrechts erstreckt sich nicht nur darauf, ihm eine Wiedergutmachung oder einen Schadensersatz zu verschaffen, sondern beinhaltet auch den Schutz, der ihm während seiner Teilnahme am Strafprozess zu Teil wird. Der Schutz des Opfers in der strafrechtlichen Wiedergutmachung beschränkt sich also nicht auf die Frage, wie der „Schaden“ ersetzt oder ausgeglichen wird, sondern fokussiert sich auch auf die Frage, wie eine sekundäre Verletzung des Opfers im Strafverfahren verhindert werden kann. Genauer gesagt beinhaltet der Schutz des Opfers im Strafverfahren mehrere Aspekte. Erstens erhofft man sich eine aktive Teilhabe des Opfers am



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Strafverfahren, zweitens versucht man aber zu verhindern, dass das Opfer unnötigem Stress ausgesetzt wird, um eine sekundäre psychische Schädigung zu vermeiden. Daher muss versucht werden, einen Ausgleich zwischen der möglichen Verfahrensbeteiligung des Opfers und der potentiellen sekundären Schädigung des Opfers zu erreichen. Das aber ist eine Frage, wie sie auch die strafrechtliche Wiedergutmachung stellt. Im Ermittlungsverfahren bedeutet das, dass Täter und Opfer bei der Erhebung der Beweismittel sich nach Möglichkeit nicht begegnen. Eine Ausnahme bildet der Täter-Opfer-Ausgleich, denn bevor dieser geschlossen wird, soll das Opfer gefragt werden, ob es dem Täter gegenüberstehen will und ob es in dem Ausgleichsverfahren eine Aussage machen möchte. Wenn das Opfer zwar Willens ist, einen Ausgleich einzugehen, sich jedoch aus psychischen Gründen weigert, dem Täter Angesicht zu Angesicht gegenüber zu treten, dann soll dem Opfer die Gelegenheit gegeben werden, via Telekommunikationsmedien oder anderen Mitteln ein direktes Gegenübertreten zu verhindern und dennoch zu einem Ausgleich zu kommen. Wenn das Opfer aus psychischen Gründen nicht in der Lage ist, dem Täter im gerichtlichen Verfahren direkt gegenüber zu erscheinen, dann soll auch hier dem Opfer die Gelegenheit gegeben werden, sich per Video in die Verhandlung zuzuschalten. Ist eine Vorladung des Opfers notwendig, kann eine direkte Begegnung des Opfers mit dem Täter ebenfalls auf diese Weise verhindert werden. So kann ohne Abstriche am Grundsatz der direkten Verhandlung dennoch eine Befragung des Opfers gesichert werden und somit wird dem Schutzinteresse des Opfers, eben keine sekundären psychischen Schäden zu erleiden, genüge getan. Weiter sehen wir, dass sich das Verfahren pervertiert, wenn das Institut von Schuleingeständnis, Strafanerkennung und Sanktionsmilderung lediglich dazu dient, den Täter so schnell wie möglich zu Schuldeingeständnis und Strafanerkennung zu bewegen, wobei die Teilnahme und der Grad der Teilnahme des Opfers nur Mittel dazu sind, die Legitimierung des Verfahrens zu erhöhen. In solch einem Fall wird das Opfer zu einem Zeitpunkt, an dem der erste Schaden noch nicht ausgeglichen ist, noch ein zweites Mal geschädigt. Wenn das Opfer in ein Strafverfahren eingebunden wird, in dem es erklären soll, was für eine Schädigung es erlitten hat, und wenn diese Beteiligung nicht mit dem Ziel erfolgt, eine strafrechtliche Wiedergutmachung zu erreichen, sondern wenn das Ziel in der schnelleren Sanktionierung des Täters besteht, dann wird dadurch der durch das Verbrechen verursachte Schaden des Opfers nicht wieder gut gemacht, sondern er wird verstärkt. Solch eine Situation stellt also keinerlei Hilfe für den „Täter-Opfer-Ausgleich“ dar.

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IV. Schlusswort Obwohl es innerhalb der strafrechtlichen Wiedergutmachung den Streit zwischen dem puristischen Modell und dem Maximierungsmodell gibt, sind sich beide Modelle in ihrem Ergebnis einig, denn sie betrachten Sachverhalte, die mit dem „Schaden“ zusammenhängen, als den Kernbereich der strafrechtlichen Wiedergutmachung. Es ist dazu nicht notwendig, dass man sich wie in einer Familienversammlung an einen runden Tisch setzt, wo dann Täter, Opfer und die Community sich in einem Raum treffen und gemeinsam besprechen, wie mit dem „Schaden“ umgegangen werden soll. Vielmehr kann auch „eine Strafjustiz, die sich mit dem Opfer befasst,“ eine Weisung zur Wiedergutmachung in das Verfahren aufnehmen, durch welchen die Dreiecksbeziehung, die durch den durch das Verbrechen verursachten „Schaden“ in Mitleidenschaft gezogen wurde, ausgeglichen wird. Der Zwangscharakter der Strafjustiz ist dem Interesse der wiedergutmachenden Gerechtigkeit an einem freiwilligen Zustandekommen eines Ausgleichs direkt entgegengesetzt. Daher hat das Maximierungsmodell innerhalb der strafrechtlichen Wiedergutmachung bei der Aufarbeitung des aus dem Verbrechen entstandenen „Schadens“ auf das Festhalten an der Freiwilligkeit verzichtet. Eine Weisung zur Wiedergutmachung mit Zwangscharakter kann daher auch ein rechtliches Mittel der Wiedergutmachung sein. Das Maximierungsmodell der strafrechtlichen Wiedergutmachung hat also in theoretischer Sicht einen Schritt zurück gemacht, um dadurch den durch das Verbrechen erzeugten „Schaden“ wiedergutmachen zu können. Trotzdem verengt dies den Blick und betrachtet lediglich die Wiedergutmachung des Opfers, wobei es gerade dadurch zu weiteren Schäden der Gemeinschaft kommen kann. Es steht zu befürchten, dass dies nicht die ursprüngliche Position der restorative justice war. Wenn also eine Weisung zur Wiedergutmachung mit Zwangs­ charakter die Freiwilligkeit aus dem Blick verliert, dann kann es wohl sein, dass der „Schaden“, der dem Opfer aus dem Verbrechen entstanden ist, ausgeglichen wird, dass er aber gleichzeitig das Vertrauen der Gemeinschaft verliert. Das wäre dann aber zweifellos nicht das intendierte Ergebnis. Auf Grund dieser Überlegungen ist dieser Beitrag der Ansicht, dass der Normzweck der Verständigung nicht die Wiedergutmachung des „Schadens“ ist, den das Opfer durch das Verbrechen erlitten hat, sondern dass dieser auf strafpolitische Ziele wie Prozessökonomie und Verteilung prozessualer Ressourcen abzielt. Wenn dafür eine mildere Sanktion gewährt wird, dann ist dies ähnlich der „goldenen Brücke“, die bei Abbruch der Tathandlung gewährt wird. Aus diesem Grund schildert der Täter zwar seine Tat aus freien Stücken, die Freiwilligkeit dieser Aussage ist aber nicht zu verwechseln mit der freiwilligen Wiedergutmachung, von der im Zusammenhang mit strafrechtlicher Wiedergutmachung die Rede ist. Die Freiwilligkeit des Schuld-



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eingeständnisses hat nichts mit dem Willen des Täters zum Ausgleich mit dem Opfer zu tun, denn sie zielt nicht auf die Wiedergutmachung des „Schadens“ ab, den das Opfer durch das Verbrechen erlitten hat. Es ist der Strafantrag der Staatsanwaltschaft, der auf Grund des Schuldeingeständnisses und der Strafeinwilligung milder als üblich ausfällt, der das Gericht dazu bringt, auf Grund dieses Strafantrags ein milderes Urteil zu fällen. Das mildere Urteil ergeht nicht, weil der Täter mit dem Opfer einen Ausgleich erreicht hätte oder weil der „Schaden“, den das Opfer durch das Verbrechen erlitten hat, wiedergutgemacht wäre. Aus diesem Grund können Normzweck und Rechtsfolge der Verständigung nicht das Ziel der wiedergutmachenden Gerechtigkeit erreichen. Zusammenfassend können wir feststellen, dass der „Beschluss des Ständigen Ausschuss des Nationalen Volkskongress zur Ermächtigung von Oberstem Volksgerichtshof und Oberster Volksstaatsanwaltschaft in einem Teil der Bezirke Modellversuche zur Verständigung in Straffällen durchzuführen“ zwar die Hoffnung äußert, dass die Verständigung den Schutz des Opfers und seine Wiedergutmachung verwirklicht, dass die Anwendung der Verständigung in der Praxis aber nicht unbedingt zur Wiedergutmachung des „Schadens“ führt, den das Opfer erlitten hat. Über das hinausgehend können wir sogar feststellen, dass die Verständigung die Beziehung des Täters mit der Gesellschaft weiter beschädigen kann. Soll die Wiedergutmachung des „Schadens“, den das Opfer erlitten hat, wirklich berücksichtigt werden, dann müssen Normzweck und Umsetzung der Verständigung neu überdacht werden. Dabei darf die Forderung nach Freiwilligkeit des Täters in seinem Streben nach Ausgleich mit dem Opfer auf keinen Fall missachtet werden, sonst würde das Kernanliegen der restorative justice bzw. der strafrechtlichen Wiedergutmachung verloren gehen.

Verfahrenseinstellung unter Auflagen: Verständigung als Aufgabe von Strafrecht? 附条件不起诉:以认罪协商为刑法的任务? 还是认罪协商对刑法的放弃? Bernhard Kretschmer*

I. Einführung Was wären Sie für 100 Millionen US-Dollar bereit zu tun? Dabei will ich gar nicht erfragen, ob sie für dieses Geld sogar ein Verbrechen begehen würden; sondern nur: Würden Sie für 100 Millionen Dollar einige Jahre – sagen wir: vier – ins Gefängnis gehen? Ich stelle Ihnen sogar in Aussicht, bei guter Führung nach zwei Dritteln, mit Glück nach der Hälfte der Haftzeit – also zwei Jahren – zur Bewährung freizukommen.1 Das Geld würde dann schon auf Sie warten. Und weil es Ihre erste Inhaftierung wäre, dürften Sie ohnehin sehr bald in den offenen Vollzug.2 Dann müssten Sie nur noch über Nacht ins Gefängnis, wären tagsüber zur Arbeit, säßen mittags vielleicht mit Angehörigen oder Freunden zu Tisch und wären am Wochenende meist ganz daheim. Mit etwas Fortune hätten Sie sogar eine Einzelzelle, die Sie sich einrichten und die Sie allemal den billigen Hotels vorziehen, in denen Montage*  Prof.

Dr. Bernhard Kretschmer, Justus-Liebig-Universität Gießen. zwei Drittel einer verhängten Freiheitsstrafe verbüßt sind, wird die Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung ausgesetzt, wenn das mit Blick auf das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit verantwortet werden kann und die verurteilte Person – wie fast immer – einwilligt (§ 57 Abs. 1 StGB). Bei Erstvollzug liegen diese Voraussetzungen meistens vor. Die sog. Halbstrafe nach Verbüßung der Hälfte ist eher selten, weil sie besondere Umstände voraussetzt, die sich aus einer Gesamtwürdigung der Tat, des Straftäters und seiner Haftentwicklung ergeben (§ 57 Abs. 2 StGB; möglich ist die Halbstrafe zudem bei Erstvollzug von nicht mehr als zwei Jahren). 2  Der Strafvollzug ist im föderalen deutschen Rechtssystem eine Angelegenheit der Bundesländer (seit der Föderalismusreform von 2006). Dabei besteht Einigkeit, dass der offene Vollzug dem geschlossenen Vollzug in der Regel vorzuziehen ist, sofern er verantwortet werden kann (insbes. keine Flucht- oder Missbrauchsgefahr). Geprüft wird die Eignung für ihn im Falle längerer Haftstrafen (in NRW: ab 24 Monaten) im sog. Einweisungsverfahren. 1  Sobald

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arbeiter für kleines Geld absteigen. Müssen Sie noch überlegen? Nun: Ich glaube Ihre Wahl zu wissen. – Aber sehr wahrscheinlich denken Sie dann doch anders, wenn Sie bereits 83 Jahre alt und Milliardär sind. Dann ändert sich Ihr Leben mit 100 Millionen Dollar mehr oder weniger kaum oder gar nicht, weshalb Sie Ihren Lebensabend lieber auf freiem Fuß verbringen, vielleicht mit Ihrer frisch angetrauten, fast 50 Jahre jüngeren Ehefrau. Dann könnte es Ihnen sogar 100 Millionen Dollar wert sein, sich bloß von der Lästigkeit eines monate- oder jahrelangen Prozesses freizukaufen, zu dem Sie allwöchentlich nach München fliegen müssten. Und das selbst dann, wenn Sie sich unschuldig wähnen und zu Unrecht vor die Gerichtsschranken gezogen fühlen, zumal ja bekannt ist, dass man vor Gericht und auf Hoher See nie ganz sicher ist. Das soeben vorgestellte Szenario klingt konstruiert, ist aber die Situation, in der sich 2014 der seinerzeitige Formel 1-Chef Bernie Ecclestone befand, als er wegen Bestechung angeklagt war. Damals zahlte er die mit Abstand höchste Geldauflage, gegen die in Deutschland jemals ein Strafverfahren eingestellt worden ist.3 Gewiss: Der bayrische Finanzminister dürfte angesichts der 99 Millionen Dollar, die unverhofft in die Staatskasse gespült wurden (die 100. Million ging an die Kinderhospizstiftung), einen wundervollen Tag erlebt haben. Doch sein Amtskollege im Justizministerium könnte oder sollte ein wenig ins Grübeln gekommen sein. Denn das Echo, dass dem lukrativen Coup nachhallte, war überwiegend unfreundlich: Sollte sich wieder einmal ein Reicher von seinen Sünden und der verdienten Strafe freigekauft haben – ein moderner Ablasshandel? Haben die beteiligten Richter und Staatsanwälte um des schnöden Mammons willen das Strafrecht und dessen Prinzipien preisgegeben? Untergräbt sich das Strafrecht durch quasivertragliche Erledigungen dieser Art nicht selbst und beschädigt seine Geltungskraft? – Oder gehört es umgekehrt vielleicht doch zum Auftrag eines klugen Strafrechts, geeignete Verfahren – zu denen aus mehrerlei Gründen auch der Fall Ecclestone zählen mag – im Konsens zu befrieden, ohne alles bis ins Letzte ausverhandeln und im Urteil enden lassen zu müssen? Die im Titel gestellte Frage nach der „Aufgabe von Strafrecht“ ist damit doppeldeutig und kann beides meinen: Sowohl Preisgabe als auch Auftrag von Strafrecht. Dem ist im Folgenden nachzuspüren.

II. Legalität versus Opportunität Die wortspielerische Janusköpfigkeit, wie sie sich in der „Aufgabe von Strafrecht“ ausdrückt, spiegelt sich wider in den Verfahrensprinzipien der 3  Verfahrenseinstellung durch Beschluss des LG München I vom 5.8.2014, 5 KLs 405 Js 161741/11; dazu Kudlich, ZRP 2015, 10 ff.



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Legalität und der Opportunität.4 Im ersten Zugriff gehen diese beiden Grundsätze recht konträre Wege, was entweder nach Entscheidung oder nach Ausgleich heischt. Legalität im Sinne von Erforschungspflicht und Verfolgungszwang schafft zwar Rechtssicherheit, sie schützt uns vor richterlicher und behördlicher Willkür und ist ein Garant für Gerechtigkeit. Wird sie jedoch allzu strikt praktiziert, kann sie nicht mehr wägen und gewichten, wird doktrinär, vergeudet Ressourcen für wenig bedeutsame Angelegenheiten und verstellt sich den Blick auf die Besonderheiten im Einzelfall. Diesem Vorwurf entzieht sich wiederum die Opportunität, die pragmatisch nach geschmeidigen Lösungen sucht, was oft charmant ist, aber auch in Beliebigkeit, Willfährigkeit und ohnmächtig-kafkaeskes Ausgeliefertsein, kurzum: Ungerechtigkeit, entgleiten kann. 1. Tatsächliche Zwänge Die deutsche Strafprozessordnung enthält beides: Vorschriften, die auf Legalität pochen, und solche, die sich der Opportunität öffnen. Die darin angelegte Widersprüchlichkeit lässt sich bestenfalls entschärfen, aber nicht auflösen. Wie tatsächlich mit ihr gelebt wird, hängt sehr von den beteiligten Justizpersonen ab. Deren Pflichtbewusstsein mahnt: „Legalität“, aber PEBBSY – ausgesprochen wie die bekannte Cola – ruft: „Nein.“ PEBBSY ist – im bildlichen Sinn – die Übermutter der deutschen Richter und Staatsanwälte, der man es eigentlich nie recht machen kann. Dabei ist PEBBSY eigentlich nur das seit 2005 verwendete „System zur Personalbedarfsrechnung für den richterlichen, staatsanwaltlichen und Rechtspflegerdienst in der ordentlichen Gerichtsbarkeit“ (als Akronym für Personalbedarfsberechnungssystem). Dieses System legt indes mit seinen gestaffelten Bedarfszeiten ganz rasch die Daumenschrauben an. Nur ein Beispiel: Für ein Ermittlungsverfahren wegen Betruges einschließlich dem Abfassen der Anklageschrift und der Teilnahme an der gerichtlichen Hauptverhandlung gesteht PEBBSY einem Staatsanwalt gerade einmal 70 Minuten zu. Daher lernt der Beamte angesichts der Akten, die jeden Tag neu ins Dienstzimmer getragen werden, ganz schnell, dass er unmöglich alle Fälle zur Anklage bringen kann (tatsächlich sind es weniger als 10 % der Ermittlungsverfahren).5 Denn selbst beim besten Willen und der Bereitschaft zu nicht gesondert bezahlten Überstunden: Eine Woche hat nun einmal nicht mehr als 168 Stunden. Desgleichen 4  Eingehend Mavany, in: LR-StPO, 27. Aufl. 2020, § 152 Rn. 10 ff., 51 ff., 67 ff.; monografisch Erb, Legalität und Opportunität, 1999 sowie Deiters, Legalitätsprinzip und Normgeltung, 2006; zur Reformdiskussion und Gesetzgebung bis 1933 ausführlich Dettmar, Legalität und Opportunität im Strafprozess, 2008. 5  Genauer: 342.707 der 4.879.786 im Jahr 2021 in Deutschland erledigten Ermittlungsverfahren (7,02 %) endeten mit der Erhebung einer Anklage.

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gilt für die Richter, die keinesfalls jedes Verfahren durchentscheiden und dazu noch ein rechtsmittelfestes Urteil schreiben können. Richter und Staatsanwälte müssen folglich sehen, dass sie ein bestimmtes Quantum an Verfahren so zügig erledigen, dass sie dafür weniger als die von PEBBSY veranschlagte Zeit benötigen. Das weiß PEBBSY natürlich auch, denn in der Idee soll sich alles irgendwie ausmitteln. Soziale Begleiterscheinung: Richter und Staatsanwälte reden ständig von PEBBSY, Pensen (nach dem vorlaufenden System der Pensenschlüssel) und vom Erledigen: Denn nur wer erledigt, hat ein Privatleben; und nur wer erledigt, hat die Chance auf Karriere. All das zwingt sie zu einer wie auch immer zu handhabenden Opportunität. Für Verteidiger ist das wiederum die Chance für günstige Verfahrensergebnisse, wofür sie aber etwas anbieten müssen: ersparte Zeit. Folglich: Wer das Verfahren aufwändig halten oder sogar noch weiter komplizieren kann, steigert die Aussicht auf einen guten Abschluss. Es ist deshalb nicht überraschend, dass verfahrensbeendende Absprachen nicht zuletzt in wirtschaftsstrafrechtlichen Strafverfahren eine überragende Bedeutung besitzen. 2. § 152 StPO ./. §§ 153, 153a StPO Werfen wir einen gedrängten Blick auf das geschriebene Recht und darauf, wie sich Legalität und Opportunität in der Strafprozessordnung formieren. Beginnen wir mit der Legalität, für die § 152 StPO zentral ist, der da lautet: „(1) Zur Erhebung der öffentlichen Klage ist die Staatsanwaltschaft berufen. (2) Sie ist, soweit nicht gesetzlich ein anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller verfolgbaren Straftaten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.“

Von Gesetzes wegen ist die Staatsanwaltschaft danach verpflichtet, das gegenständliche Geschehen sowohl tatsächlich zu erforschen als auch ein darin erkanntes Straftatverhalten strafrechtlich zu verfolgen.6 Daran schließt sich sachlich § 170 Abs. 1 StPO an, der uns erklärt: „Bieten die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht.“

Das zielt darauf ab, eine mündliche Hauptverhandlung vor Gericht durchzuführen, die gewöhnlich mit der Verkündung eines Urteils schließt (§ 268 Abs. 3 StPO). Bei kleineren Straftaten kann die Staatsanwaltschaft alternativ den Erlass eines Strafbefehls beantragen, welcher immerhin Urteilswirkung besitzt, sofern sich der Angeklagte nicht gegen ihn wehrt (§ 410 Abs. 3 6  Dazu Diemer, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 152 Rn. 4; Weßlau/Deiters, in: SKStPO, 5. Auf. 2016, vor § 151 Rn. 4 ff., § 152 Rn. 6 ff.



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StPO).7 Genügenden Anlass zur Erhebung der Anklage (oder dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls) geben die getätigten Ermittlungen, falls sie die Eröffnung des Hauptverfahrens durch das zuständige Gericht begründen, was einen hinreichenden Tatverdacht voraussetzt (§§ 203, 408 Abs. 2 StPO). Dieser verlangt einen Verdachtsgrad, nach dem die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung – die nicht gleichzusetzen ist mit der Wahrscheinlichkeit der Täterschaft – höher ist als die für einen Freispruch. Dafür lassen Rechtsprechung und herrschende Lehre bereits ein einfaches Überwiegen genügen (wenn man so will: ab 50,1 %)8 oder auch eine ungefähr gleiche Wahr­ scheinlichkeit,9 was einen wertenden Akt verlangt, den die Strafverfolgungsorgane anhand der Aktenlage vornehmen, bei dem sie aber durchaus auch prospektive Elemente und Erwartungen einbeziehen dürfen.10 Sollte ein solcher Tatverdacht seitens des mit der Anklage befassten Gerichts zu verneinen sein, lehnt es die Eröffnung des Verfahrens ab (respektive den Erlass des beantragten Strafbefehls). Und liegen bereits nach der pflichtgemäßen Beurteilung der Staatsanwaltschaft keine zureichenden Anhaltspunkte vor, die einen hinreichenden Tatverdacht begründen, dann stellt sie das Verfahren umstandslos ein (§ 170 Abs. 2 StPO), ohne das Gericht jemals zu befassen. Gleich hinter die Legalität des (§ 152 StPO hat der Gesetzgeber allerdings ganze vierzehn Vorschriften gesetzt (§§ 153–154f StPO), die opportune Wege in verschiedenen Situationen öffnen. Von unserem Interesse ist zunächst § 153 StPO, der das Absehen von der Verfolgung bei Geringfügigkeit zulässt, aber mehr noch § 153a StPO, der in jedem Verfahrensstadium ermöglicht, unter Auflagen und Weisungen von der (weiteren) Verfolgung abzusehen. Das gilt zwar nur für Vergehen, weshalb etwa Mord und Totschlag, Raubdelikte, Brandstiftung, Vergewaltigung, Drogenhandel in nicht geringer Menge und alle anderen Straftaten mit einem Mindeststrafmaß von einem Jahr oder mehr hierfür nicht infrage kommen. Die Bandbreite möglichen Einsatzes ist aber gleichwohl weit und erfasst nahezu das komplette Wirtschaftsstrafrecht. Geht es um eine Einstellung wegen etwaiger Geringfügigkeit (§ 153 StPO), müssen nur recht unbestimmte Voraussetzungen erfüllt sein, wonach die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre (Konjunktiv!) und kein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht. Für uns interessanter ist die Einstellung unter Auflagen (§ 153a StPO), die ähnlich diffuse 7  Solche Anträge sind häufiger als Anklagen: In 2021 wurde 523.8825 mal der Erlass eines Strafbefehls beantragt (immerhin 10,74 % der erledigten Ermittlungsverfahren). 8  BGHSt 54, 275, 281; Schneider, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 203 Rn. 4 ff. m. w. N. 9  Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 203 Rn. 2 m. w. N. 10  BVerfG, NStZ 2002, 606 f.; Schneider, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 203 Rn. 6 m. w. N.

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Voraussetzungen aufstellt. Danach muss die Erfüllung einer bestimmten Auflage oder Weisung geeignet sein, das wie auch immer zu bestimmende öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, und zudem darf – wie es seit 1993 heißt11 – „die Schwere der Schuld [der Einstellung] nicht entgegensteh[en].“ Das ermöglicht (mittlerweile) nicht nur, Straftaten von geringer Bedeutung einzustellen (für die dann auch § 153 StPO greifen kann), sondern selbst solche mittlerer Schwere.12 Manche fordern zwar, dass das nur für solche Taten gelten dürfe, die im Falle einer Verurteilung einer Strafaussetzung zur Bewährung zugänglich sind,13 also solche mit einer Straferwartung bis zu höchstens zwei Jahren (§ 56 Abs. 2 StGB). Die Praxis lässt sich von solcher grauen Theorie allerdings wenig bis gar nicht leiten. Für sie ist im Grunde nur maßgeblich, ob sich Staatsanwalt, Beschuldigter (bzw. Verteidiger) und Gericht in dreiseitiger Abrede zusammenfinden und einig werden. Eine Paradoxie des § 153a StPO ist, dass die Schuld der Einstellung nicht entgegenstehen stehen darf. Dabei ist sie doch in diesem Verfahrensstadium de jure noch gar nicht festgestellt, weshalb eigentlich nur von einem mehr oder minder konkreten Schuldverdacht gesprochen werden dürfte, wie das im konjunktivisch formulierten § 153 StPO der Fall ist. Deshalb kann sich der Beschuldigte, wenn er der Vereinbarung zustimmt und seine Auflage erfüllt, auch danach noch als unschuldig begreifen, wie dies auch der eingangs erwähnte Bernie Ecclestone tat.14 Das gilt selbst dann, wenn es zur Abrede gehörte, ein Geständnis abzulegen, wie dies in der Praxis häufig gefordert wird.15 Darin liegt zwar kaum mehr als die Herstellung eines äußeren Scheins, der aber für ein Opfer durchaus wichtig sein kann. Dass aber eine Person, die als unschuldig gilt, eine auferlegte Sanktionsleistung erbringen muss, um weiterhin als unschuldig zu gelten, klingt nicht besonders konsistent.16 Das ist dem pragmatischen Gesetzgeber aber ziemlich gleichgültig, 11  Aufgrund Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993 (BGBl. I 50, 51). 12  BT-Drs. 12/1217, 34; Mavany, in: LR-StPO, 27. Aufl. 2020, § 153a Rn. 35 ff.; Diemer, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 153a Rn. 10; Peters, in: MK-StPO, 2016, § 153 Rn. 16, § 153a Rn. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 153a Rn. 7. 13  So etwa Mavany, in: LR-StPO, 27. Aufl. 2020, § 153a Rn. 37; Brüning, ZIS 2015, 586, 592; Peters, in: MK-StPO, 2016, § 153a Rn. 12. Noch enger Satzger, Chancen und Risiken, 65. DJT, 2004, C 75: 180 Tagessätze. 14  BVerfG, NJW 1991, 1530; Peters, in: MK-StPO, 2016, § 153a Rn. 22; Weßlau/ Deiters, in: SK-StPO, 5. Auf. 2016, § 153a Rn. 29. 15  Weßlau/Deiters, in: SK-StPO, 5. Aufl. 2016, § 153a Rn. 28; siehe weiter Fahl, JR 2016, 241 ff.; Trautmann, ZStW 128 (2016), 446, 499 ff. 16  Vgl. dazu Brüning, ZIS 2015, 586, 588 ff. Begründen lässt sich das Abverlangen immerhin so, dass erst ein Geständnis die Schuld und mit ihr das Verfolgungs­interesse so weit mindere, dass eine bedingte Verfahrenseinstellung möglich wird.



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der die Staatsanwälte (im Ermittlungsverfahren) und Richter (nach Erhebung der Klage) mit einem im Laufe der Zeit erweiterten Katalog möglicher Auflagen und Weisungen ausgestattet hat, die seit Ende 1999 ohnehin nur noch beispielhaft sind (§ 153a Abs. 1 S. 2 Nrn. 1–7 StPO).17 In der Praxis dominiert freilich – wie im Fall Ecclestone – bei weitem die Auflage, „einen Geldbetrag zugunsten einer gemeinnützigen Einrichtung oder der Staatskasse zu zahlen“ (Nr. 2).18 Kriterien dafür, wie diese Geldauflage zu bemessen ist, gibt § 153a StPO nicht. Inwieweit sie anderen Vorschriften entnommen werden können, ist willfährig. Einen wichtigen Orientierungspunkt – aber auch nicht mehr – bietet immerhin die mögliche Höhe einer etwaig auszusprechenden Geldstrafe.19 Publikumsträchtig erfolgte das beispielsweise im sog. MannesmannProzess, als der damalige Vorstandssprecher der Deutschen Bank mit anderen Managern wegen Untreue vor Gericht stand und das Verfahren gegen ihn schließlich gegen eine hohe Geldauflage eingestellt wurde.20 Im Fall Eccle­ stone ging man zwar ersichtlich über das mögliche Höchstmaß hinaus, indessen handelt es sich insofern um einen gewiss nicht zu verallgemeinernden Einzelfall. Bleiben wir daher lieber praxisnäher und nehmen etwa eine Insolvenzverschleppung (§ 15a Abs. 4 InsO), die zunächst im Strafbefehlsweg erledigt werden sollte. Dann wird die spätere Geldauflage in der Praxis gerne mit einem Aufschlag von 10 % auf den ursprünglichen Strafbefehlsbetrag bemessen.21 Das ist halt der Preis, den der Angeklagte zu zahlen hat, um den Schuldspruch zu vermeiden, seinen Strafregisterauszug freizuhalten und ggf. Geschäftsführer oder Vorstand sein zu können (was das Gesetz bei einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung auf Jahre ver­ 17  Die Transformierung in einen offenen Katalog erfolgte durch Gesetz vom 20.12.1999 (BGBl. I 2491). Näher zu den so eröffneten Möglichkeiten Mavany, in: LR-StPO, 27. Aufl. 2020, § 153a Rn. 83 ff. 18  Im Jahr 2021 waren es 129.516 der 151.961 Ermittlungsverfahren (85,23 %), die deutsche Staatsanwaltschaften gegen Auflage eingestellt haben. Bei den gerichtlichen Einstellungen ist das Verhältnis ähnlich. 19  Peters, in: MK-StPO, 2016, § 153a Rn. 69 ff.; Weßlau/Deiters, in: SK-StPO, 5. Aufl. 2016, § 153a Rn. 42; insofern zweifelnd Mavany, in: LR-StPO, 27. Aufl. 2020, § 153a Rn. 67. 20  LG Düsseldorf, Beschluss vom 28.11.2006, XIV 5/03. Die Höhe der Geldauflage belief sich auf 3,2 Mio. €, wobei die Strafkammer explizit das damalige Höchstmaß einer Gesamtgeldstrafe von 3,6 Mio. heranzog (auch die Vorwürfe gegen die Mitangeklagten wurden gegen hohe Geldauflagen eingestellt). Nach heutigem Recht hat sich dieser Referenzpunkt infolge Anhebung der maximalen Tagessätze mittlerweile auf 21,6 Mio. € erhöht. Vgl. kritisch Saliger/Sinner, ZIS 2007, 476 ff. 21  Dies umgekehrt zum Petitum von Weßlau/Deiters, in: SK-StPO, 5. Aufl. 2016, § 153a Rn. 42 a. E., wonach die Geldauflage den Wert der möglichen Geldstrafe nicht erreichen dürfe.

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wehrt)22. Einen gesetzlichen Anhalt für diese verbreitete Zuschlagspraxis sucht man jedoch vergeblich, sie ergibt sich vielmehr – wie auch sonst bei der Einstellung nach § 153a StPO – aus dem Marktspiel der Kräfte und deren freihändigen Usancen.23 Zwar ist eine Verfahrenseinstellung für Beschuldigte, Angeschuldigte und Angeklagte gewöhnlich günstig, doch gibt es Drucksituationen, in denen sie sich – womöglich als Unschuldige – in eine Abrede genötigt fühlen, auch weil das Verfahren belastend ist und sie angesichts ungünstiger Beweislage nicht Gefahr laufen wollen, zum Justizopfer zu werden.24 Zwar ist es allgemeine Meinung, dass Einstellungen insbesondere nach § 153a StPO voraussetzen, dass der Betroffene (nach wie vor) hinreichend verdächtig ist, weil sein Ermittlungsverfahren ansonsten nach § 170 Abs. 2 StPO einzustellen, das Hauptverfahren nicht zu eröffnen oder er freizusprechen ist.25 In der justiziellen Praxis wird diese theoretische Überlegung freilich ziemlich disparat gelebt. Ähnlich gilt dies bei der Beurteilung von Rechtsfragen, deren Klärung eigentlich ureigene Aufgabe der Gerichte ist (iura novit curia). Indessen kommt es in der gerichtlichen Praxis gar nicht selten vor, Schwierigkeiten bei der Rechtsfindung zum Anlass zu nehmen, nach § 153a StPO zu verfahren.26 Das findet zwar in der wissenschaftlichen Theorie wenig Beifall,27 ist jedoch in der Lebenswirklichkeit durchaus nachzuvollziehen, wenn man etwa auf bestimmte wirtschaftsstrafrechtliche Konstruktionen schaut, die zum Grübeln einladen und womöglich noch einer Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof bedürfen. All das und noch viel mehr legt offen, dass § 153a StPO ein riesiges Einfallstor für Opportunität ist. Entscheidend ist (fast) nur, dass sich die von den Ketten der Legalität befreiten Verfahrensbeteiligten einigen wollen und einen gemeinsamen Comment finden. Das ist maximal pragmatisch, was in der dankbaren Praxis auf fruchtbaren Boden gefallen ist und § 153a StPO einen 22  § 6

Abs. 2 GmbHG, § 76 Abs. 3 AktG, jeweils Nr. 3 lit. a. Weßlau/Deiters, in: SK-StPO, 5. Aufl. 2016, § 153a Rn. 17. 24  Zum Problem auch Weßlau/Deiters, in: SK-StPO, 5. Aufl. 2016, § 153a Rn. 9 f. sowie ebd., Rn. 11 ff. zum möglichen Konflikt mit der Unschuldsvermutung. 25  BVerfG, NStZ-RR 1996, 168, 169; Mavany, in: LR-StPO, 27.  Aufl. 2020, § 153a Rn. 45; Diemer, in: KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 153a Rn. 11; Meyer-Goßner/ Schmitt, StPO, 66. Aufl. 2023, § 153a Rn. 7; Weßlau/Deiters, in: SK-StPO, 5. Aufl. 2016, § 153a Rn. 25. 26  Dazu Hamm, NJW 2001, 1694 ff.; Peters, in: MK-StPO, 2016, § 153a Rn. 8. 27  Vgl. etwa Mavany, in: LR-StPO, 27. Aufl. 2020, § 153a Rn. 45; Peters, in: MKStPO, 2016, § 153 Rn. 16, § 153a Rn. 8; ablehnend auch Saliger, GA 2005, 155, 172 ff. in der Causa des Altkanzlers Kohl, in der das LG Bonn (NStZ 2001, 375, 377 f.) die auflagenbedingte Einstellung mit Hinweis auf schwierige Rechtsfragen begründet hat. 23  Vgl.



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überragenden Anwendungserfolg gebracht hat. So haben die Staatsanwaltschaften im Jahr 2021 mehr als 150.000 Verfahren gegen Auflagen eingestellt, sodann die Gerichte nochmals fast 50.000.28 Dass das theoretische Urteil über diese Vorschrift bis heute weit überwiegend kritisch bis vernichtend ausfällt, ihre Abschaffung oder jedenfalls Beschneidung gefordert oder sie gar als verfassungswidrig gebrandmarkt wird,29 hat ihrer Beliebtheit in der Praxis nicht geschadet. Auf der Strecke geblieben sind jedoch Legalität, Anwendungsgleichheit und wohl auch Gerechtigkeit. Wie konnte es soweit kommen? 3. Rechtsgenese Die soeben aufgeworfene Frage ruft nach einem geschichtlichen Abriss, der sich knapp und gedrängt zur Ausgestaltung von Strafverfahren äußert. Insofern gilt es zunächst festzuhalten, dass im mittelalterlichen Strafrecht – also vor 1500 – im Wesentlichen der Akkusationsprozess galt, wie wir ihn noch heute vom Zivilrecht kennen und für den im Wesentlichen die Devise galt: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“30 Das meint ganz grob, dass es ohne die parteiliche (An-)Klage seitens des Geschädigten oder seiner Familie gar nicht erst zum (Straf-)Verfahren gegen den Missetäter kam. Legalität und Gleichmäßigkeit von Strafe spielten hier keine prägende Rolle. Nachdem sich im kirchlichen Recht infolge des IV. Laterankonzils von 1215 das Inquisitionsverfahren durchgesetzt hatte, gewann dieses auch im weltlichen Recht an Bedeutung. Getriggert vor allem durch die Constitutio Criminalis Carolina – die Peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532 – verdrängte der Inquisitionsprozess weithin das überkommene Verfah28  Genauer: 151.961 der insgesamt 4.879.786 Ermittlungsverfahren und 47.651 der 582.112 amtsgerichtlichen Verfahren (weniger bedeutsam bei Landgerichten angesichts der Deliktsschwere erstinstanzlicher Befassung: 453 von 19.171 Beschuldigten). 29  Zur Kritik aus neuerer Zeit vgl. bspw. Deiters, GA 2015, 371 ff.; Gössel, Änderungen des Strafverfahrensrechts, 60. DJT, 1994, C 31; Prelle, KritV 2011, 331 ff.; Stuckenberg, GS Weßlau, 2016, 369 ff; Weigend, ZStW 109 (1997), 103 ff.; ders., GS Weßlau, 2016, 413 ff. Vgl. auch den neuerlichen Alternativ-Entwurf eines Kreises von Strafrechtslehrern zur substituierenden Einführung von abgekürzten Strafverfahren im Rechtsstaat (AE-ASR), in: GA 2019, 1 ff.; zustimmend Hüls, KriPoZ 2019, 159 ff. Gleichlautende Nachweise zur Kritik der 1970er Jahre finden sich am Ende des nächsten Abschnitts. 30  Sellert/Rüping, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Bd. 1, 1989, 63. Das ist nicht gleichzusetzen mit dem durch eine hoheitliche Anklagebehörde (Staatsanwaltschaft, Fiskal) praktizierten Akkusationsprinzip (dazu Weßlau/Deiters, in: SKStPO, 5. Aufl. 2016, vor § 151 Rn. 2). Zur zitierten Rechtsparömie Sellert, HRG, Bd. 2, 1978, Sp. 853 ff.

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ren und wurden die Ermittlungen ex officio, also von Amts wegen, sowie im öffentlichen Interesse geführt.31 Zuständig war jetzt der Richter, der das Verfahren übermächtig beherrschte, später auch das Urteil sprach und damit verschiedene Aufgaben in zweifelhafter Weise vereinte. Angestrebt wurde hier zwar absolute Wahrheit und lückenlose Strafverfolgung, mithin: Legalität.32 Dieses Ziel wurde jedoch schon deshalb verfehlt, weil die Inquisition im Beweisverfahren der Folter pervertierte,33 um sich durch ein Geständnis zu vergewissern.34 Dass es sich zudem um ein Geheimverfahren handelte, bei dem im Wesentlichen nur noch die Verlesung des Geständnisses, die Verkündung des Urteils und die Vollstreckung der Strafe öffentlich erfolgte,35 öffnete Tor und Tür für vielfältigen Missbrauch. Das konnte auf Dauer keinen Bestand haben.36 Katalysiert durch das napoleonische Recht entspann sich im 19. Jahrhundert eine intensive Diskussion über die künftige Gestaltung des sog. reformierten Strafprozesses, der im Grundsatz noch heute gilt:37 In Gestalt der Staatsanwaltschaft wurde eine eigene Behörde mit Anklagekompetenz (oder gar Anklagemonopol) geschaffen, außerdem traten öffentliche Verhandlungen an die Stelle der heimlichen Justiz und anderes mehr.38 Mit diesen 31  Zu dessen Grundlagen eingehend Ignor, Geschichte des Strafprozesses, 2002, 41 ff.; Jerouschek, ZStW 104 (1992), 328 ff.; Trusen, ZRG-KA 74 (1988), 168 ff. In der Carolina hatte der Akkusationsprozess formal zwar noch den Vorrang, doch verflüchtigte sich das in der Lebenswirklichkeit über mancherlei Mischform bis hin zum rezent-marginalen Privatklageverfahren (§§ 374 ff. StPO). 32  Vgl. etwa Schild, in: Fischer (Hg.), Beweis, 2019, 53, 56; Schmoeckel, in: Bromand/Kreis (Hg.), Das Nicht-Begriffliche, 2010, 409 ff. 33  Dazu Schild, Von peinlicher Frag’, 2000; ders., Folter, Pranger, Scheiterhaufen, 2010, 85 ff.; ders., in: Fischer (Hg.), Beweis, 2019, 53, 61 ff., jeweils m. w. N. 34  Dazu Kleinheyer, GS Conrad, 1979, 367 ff.; Schild, HRG, Bd. 1, 2. Aufl. 2008, Sp. 877 f.; ders., in: Fischer (Hg.), Beweis, 2019, 53 ff., 58 ff., 64; umfassend Sickor, Das Geständnis, 2014. 35  Vgl. dazu Schild, in: Landau/Schroeder (Hg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption, 1984, 119 ff.; ders., HRG, Bd. 1, 2. Aufl. 2008, Sp. 1324 ff. 36  S. dazu Dettmar, Legalität und Opportunität im Strafprozess, 2008, 13 f.; Ignor, Geschichte des Strafprozesses, 2002, 147 ff. Zwar fiel die rechtliche Folter im 18./19. Jahrhundert vielfach fort, wurde zunächst aber nur durch die rechtsstaatlich ebenfalls abzulehnenden Verdachts- und Lügenstrafen surrogiert (Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, 35 m. w. N.). 37  Näher Ignor, Geschichte des Strafprozesses, 2002, 211 ff.; zum Einfluss der französischen Gesetzgebung Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, 3. Aufl. 2016, 67 ff., 84. 38  Vgl. zu den Reformprinzipien und Tendenzen Dettmar, Legalität und Opportunität im Strafprozess, 2008, 14 ff.; Ignor, Geschichte des Strafprozesses, 2002, 231 ff.; Laue, in: Strafverteidigung vor neuen Aufgaben, 2010, 135 ff.; Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl. 2019, 85 ff.



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bahnbrechenden Neuerungen war aber die Balancierung von Legalität und Opportunität mitnichten entschieden, zumal beide Prinzipien starke Fürstreiter hatten.39 Im Zuge der Reichsgründung von 1871 wurde zunächst nur – durch Übernahme des norddeutschen Strafgesetzbuches – das materielle Strafrecht vereinheitlicht und galten die jeweiligen gerichtlichen Verfahrensordnungen vorerst fort (für die preußischen Strafverfahren die [novellierte] Kriminalordnung von 1805). Abhilfe schufen dann die sog. Reichsjustizgesetze von 1877/79, die ein einheitliches Prozessrecht einrichteten. Das gilt auch für das Strafverfahren, wobei § 152 StPO den Legalitätsgrundsatz bereits in der ersten Fassung der (Reichs-)Strafprozessordnung von 1877/7940 fast deckungsgleich zum geltenden Recht formulierte, (nochmals) zum Nachlesen: „(1) Zur Erhebung der öffentlichen Klage ist die Staatsanwaltschaft berufen. (2) Dieselbe ist, soweit nicht gesetzlich ein Anderes bestimmt ist, verpflichtet, wegen aller gerichtlich strafbaren und verfolgbaren Handlungen einzuschreiten, sofern zureichende thatsächliche Anhaltspunkte vorliegen.“

Demnach war damals wie heute die Legalität das Fundament des Strafverfahrens, wofür damals wie heute die Staatsanwaltschaft verantwortlich war und ist. Zugleich galt und gilt dieses Prinzip niemals absolut, weil es von Anbeginn unter gesetzlichem Vorbehalt stand und steht. Den Unterschied zwischen damals und heute macht nicht die Legalität, sondern die Opportunität, die sich in gesetzlichen Ausnahmen figuriert und sich im Laufe der Zeit erheblich ausgeweitet hat. Anfänglich war nicht einmal die Einstellung wegen Geringfügigkeit vorgesehen, obwohl eine solche Möglichkeit schon vor der Reichsgründung prominent gefordert worden war.41 Der aus heutiger Sicht eher harmlose § 153 StPO kam nach mehreren vergeblichen Anläufen erst Jahrzehnte später ins Gesetz, genauer: 1924 im Zuge der sog. Emminger-Novellen.42 Er lautete: 39  Dazu Dettmar, Legalität und Opportunität im Strafprozess, 2008, 69 ff. sowie ebd., 23 ff. zur partikularen Reformgesetzgebung. 40  Vom 1.2.1877 (RGBl. 253, 281) mit Geltung ab 1.10.1879. 41  S. dazu Dettmar, Legalität und Opportunität im Strafprozess, 2008, 71  ff.; Trautmann, ZStW 128 (2016), 446, 455 f.; zur strittigen Diskussion im Gesetzgebungsverfahren vgl. Dettmar, ebd., 89 ff. 42  Zunächst in Gestalt von § 23 der Verordnung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 4.1.1924 (RGBl. I 15, 18), dann als § 153 in die StPO überführt durch Bekanntmachung vom 22.3.1924 (RGBl. I 299, 388); vgl. dazu Vormbaum, Die Lex Emminger, 1988, 153 ff. Näher zur nach dem damals amtierenden Reichsjustizminister benannten, aber bereits unter seinem Vorgänger Radbruch initiierten Reform Dettmar, Legalität und Opportunität im Strafprozess, 2008, 195 ff.; Koch, HRG, Bd. 1, 2. Aufl. 2008, Sp. 1322 f.; Vormbaum, ebd., passim. Zu den intensiven Diskussionen und vergeblichen Reformbemühungen im Kaiserreich und der jungen Republik näher Dettmar, ebd., 109 ff. bzw. 174 ff. m. w. N.

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(1) Übertretungen werden nicht verfolgt, wenn die Schuld des Täters gering ist und die Folgen der Tat unbedeutend sind, es sei denn, daß ein öffentliches Interesse an der Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung besteht. (2)  Ist bei einem Vergehen die Schuld des Täters gering und sind die Folgen der Tat unbedeutend, so kann die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Amtsrichters von der Erhebung der öffentlichen Klage absehen. (3)  Ist die Klage bereits erhoben, so kann das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen; der Beschluß kann nicht angefochten werden.

Alsdann dauerte es noch einmal ein halbes Jahrhundert, bis durch Implementierung von § 153a StPO de jure eine Einstellung gegen Auflagen ermöglicht wurde.43 De jure deshalb, weil damit eigentlich nur eine illegale Praxis legitimiert wurde, die sich de facto längst eingeschlichen hatte und Einstellungen nach § 153 StPO von „freiwilligen“ Zahlungen o. ä. abhängig gemacht hatte (z. B. 1970 im Contergan-Verfahren).44 Das wissenschaftliche Echo auf diese gesetzgeberische Kapitulation war zwar theoretisch vernichtend und knallte schmerzerfüllt in den akademischen Journalen,45 blieb aber praktisch bedeutungslos und wurde in den Staatsanwaltschaften und Gerichten schlicht überhört. Bewahrheiten sollten sich indessen die Kassandrarufe, die vor einer weiteren Erosion der Rechtsstaatlichkeit gewarnt hatten:46 Musste die Schuld in der Fassung des § 153a StPO von 1975 gering sein, um 43  Durch Art. 21 Nr. 44 des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch (EGStGB) vom 2.3.1974 (BGBl. I 469, 508 f.) mit Wirkung vom 1.1.1975; vgl. dazu BT-Drs. 7/550, 297 f.; Trautmann, ZStW 128 (2016), 446, 463 f. Nennenswert ist, dass zum 1.4.1965 die normbegrenzende Wendung, dass die Folgen der Tat unbedeutend sein müssten, gestrichen wurde (aufgrund StPÄG vom 19.12.1964, BGBl. I 1067, 1079). 44  Dazu Bartsch, ZRP 1969, 128, 129; Schmidhäuser, JZ 1973, 529, 531; s. a. Dahs, NJW 1996, 1192; Jahn/Bendrick, in: Kretschmer/Zabel (Hg.), Studien zur Geschichte des Wirtschaftsstrafrechts, 2018, 215, 230 f. Das genannte Strafverfahren wurde nach langer Hauptverhandlung am 18.12.1970 vom LG Aachen eingestellt (JZ 1971, 507 ff.). Zum Contergan-Fall vgl. etwa Großbölting/Lenhart-Schramm (Hg.), Contergan, 2017; Lenhard-Schramm, Contergan-Skandal, 2016. Verbürgt ist derlei Justizpraxis bereits aus dem Jahr 1924 (Pestalozza, JW 1924, 286 f.; s. a. Dettmar, Legalität und Opportunität im Strafprozess, 2008, 216, 245). Versuche der 1960er Jahre, ihr durch – sogar noch nachschärfende – Richtlinien (RiStBV) entgegenzutreten, war wenig Erfolg beschieden, zumal die Gerichte ohnehin nicht an diese gebunden waren. 45  Vgl. Baumann, ZRP 1972, 273; Dencker, JZ 1973, 144, 149; Hanack, FS Gallas, 1973, 339 ff.; Hirsch, ZStW 92 (1980), 218 ff., 251 f.; Schmidhäuser, JZ 1973, 529 f. 46  Durchaus bezeichnend: Die Einstellungspraxis unter Auflagen war bereits in der Untergangsphase der NS-Diktatur legalisiert worden (durch Art. 2 § 8 Abs. 3 der Verordnung zur weiteren Anpassung der Strafrechtspflege an die Erfordernisse des totalen Krieges vom 13.12.1944, RGBl. I 339). Die junge Bundesrepublik strich das aber wieder durch Gesetz vom 12.9.1950 (BGBl. I 455).



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gegen Auflagen einzustellen zu dürfen, wurde das – wie schon erwähnt – 1993 auf die heutige Gesetzesfassung ausgeweitet, wonach die Schuld seither nur nicht mehr entgegenstehen darf.47

III. Suche nach Legitimität In der heutigen Praxis haben die Einstellungen nach § 153a StPO – um es nochmals zu unterstreichen – eine überragende Bedeutung. Für Richter, Staatsanwälte und Verteidiger sind sie zum unverzichtbaren Tool geworden. Es lässt sich empirisch gut belegen, dass die alltäglich praktizierte Einstellung gegen Auflagen (seit 1975 gemäß § 153a StPO, zuvor freischöpfend nach § 153 StPO) ganz wesentlich die Bereitschaft der Staatsanwälte und Richter befördert hat, sich auch sonst auf Urteilsabsprachen einzulassen und die betreffenden Details auszuhandeln.48 Zwar betont das Bundesverfassungsgericht mit Nachdruck, dass das kein Handel mit Gerechtigkeit sein dürfe,49 doch ist dies vermutlich nur Selbstberuhigung oder rhetorische Besänftigung, um bloß nicht offenzulegen, womit wir es eben doch zu tun haben: einen Handel mit Gerechtigkeit. So empfand es auch der pragmatische Ecclestone, als er nach der Einstellung gegenüber der Presse verlautbarte, dass die Dinge in Deutschland nun mal so liefen. Zwar sei er ein wenig unglücklich, so viel Geld zu bezahlen. Aber es sei eben noch unglücklicher, das Geld nicht zu haben – und eigentlich fände er dieses kapitalistische System gut. Gerechtigkeit als Ware zu begreifen, stößt freilich auf Abwehr, auch wenn wir sonst überhaupt nichts gegen Handel und Kommerz einzuwenden haben. Dieses Befremden ist ernst zu nehmen, weil mit ihm der Geltungsanspruch von Recht und Strafrecht verbunden ist, welches sich – wir kommen auf den Anfang zurück – nicht aufgeben darf. Tatsächlich dürfte es kaum möglich sein, die Vorschrift des § 153a StPO konsistent zu legitimieren, wobei sich zu den benannten Widrigkeiten noch andere hinzugesellen.50 Und doch besitzt der Konsens auch im Strafrecht eine starke, geradezu rechtsevolutive Kraft, die sich nicht allein mit pragmatischen Interessen derer erklären lässt, 47  Der Gesetzgeber sah darin lediglich eine „behutsame Erweiterung“ (BT-Drs. 12/217, 34). 48  Jahn/Bendrick, in: Kretschmer/Zabel (Hg.), Studien zur Geschichte des Wirtschaftsstrafrechts, 2018, 215, 231 f.; s. a. Hamm, StV 2013, 652, 653: „Einstiegs­ droge“. 49  BVerfG, NJW 1987, 2662, 2663; 2013, 1058, 1068. 50  Näher Brüning, ZIS 2015, 586, 588 ff.; Stuckenberg, GS Weßlau, 2016, 369, 375 ff.; Weigend, GS Weßlau, 2016, 413, 414 ff.; Weßlau/Deiters, in: SK-StPO, 5. Aufl. 2016, § 153a Rn. 5 ff.; s. a. die Darstellung von Mavany, in: LR-StPO, 27. Aufl. 2008, § 153a Rn. 13 ff.

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die unmittelbar davon profitieren. Vielleicht wohnt dem Einvernehmen in Strafsachen eine tiefere Berechtigung inne, die sich erst erschließt, wenn wir uns auf die Funktionen von Strafe und Legalität besinnen. Denn ohne es darauf zu verengen, geht es der Strafe und dem Strafrecht doch auch – oder vielleicht sogar vor allem – um die Normgeltung und den Rechtsfrieden. Beiderlei lässt sich indessen auch durch Sanktionierungen herstellen und gewährleisten, die sich nicht als Strafe bezeichnen, rechtstheoretisch auch keine sind, aber in der breiten Bevölkerung gleichwohl als solche gesehen werden. Das gilt insbesondere für die janusköpfige Geldauflage, deren faktische Bedeutung eine andere ist als ihr rechtlicher Gehalt. Denn die feinsinnige Differenzierung von Geldauflage, Geldbuße und Geldstrafe, wie sie Juristen zu treffen pflegen, bleibt dem normalbürgerlichen Rechtsadressaten fremd. Für ihn ist die Geldauflage eine Strafe und ihre Bezahlung ein Eingeständnis von Schuld.51 Der Betroffene kann das – wie gesagt – zwar von sich weisen, doch müssen diese konträren Sichtweisen nicht mehr zur Deckung gebracht werden. Auch in dieser Disparität liegt der außerordentliche Erfolg des § 153a StPO begründet, dessen Anwendung in aller Regel die Normgeltung nach außen bekräftigt und Rechtsfrieden herstellt, ohne dass eine echte juristische Entscheidung gefällt worden wäre.52 Mehr noch: Der moderne § 153a StPO lässt sich im weitesten Sinne den alternativen Mechanismen zuordnen, die nicht mehr zwingend auf Strafe setzen, sondern andere Wege der Wiedergutmachung zulassen. Zu nennen ist hier die global vordringende Restorative Justice,53 die sich in Deutschland insbesondere im 1994 eingeführten Täter-Opfer-Ausgleich (§  46a StGB, §§ 155a/b StPO) ausdrückt, welcher Strafmilderung bis hin zum Absehen von Strafe ermöglicht und auch in den Katalog möglicher Auflagen nach § 153a StPO aufgenommen worden ist.54 Insofern gilt es sich zu erin51  Ähnlich

Brüning, ZIS 2015, 586, 590. von Weigend, GS Weßlau, 2016, 413, 423, der meint, dass sich der Rechtsfrieden so nicht herstellen lasse. Bei dieser Einschätzung blickt er aber offenbar nur auf die wenigen prominenten Fälle, in denen der Furor tobt, und übersieht dabei die vieltausendfachen Fälle, in denen die Befriedung auf diese Weise gelingt. 53  Seitens der Vereinten Nationen siehe etwa die „Basic Principles on the Use of Restorative Justice Programmes in Criminal Matters“ (ECOSOC Res. 2000/14, U.N. Doc. E/2000/INF/2/Add.2 at 35 [2000]) nebst Handbook on Restorative Justice Programmes, 2006. Aus neuerer Zeit zur Restorative Justice bspw. Foley, Developing Restorative Justice Jurisprudence, 2014; Gavrielides (ed.), Routledge International Handbook of Restorative Justice, 2019; London, Crime, Punishment, and Restorative Justice, 2011; O’Mahony/Doak, Reimagining Restorative Justice, 2017. Siehe auch den Beitrag von Tsai Mengchien in diesem Band. 54  Ins StGB eingeführt wurde der TOA durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994 (BGBl. I 3186), wobei die strafverfahrensrechtliche Verankerung erst durch Gesetz vom 20.12.1999 (BGBl. I 2491) erfolgte. Vgl. dazu auch Kespe, Täter52  Verkannt



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nern, dass das Aushandeln von Bußzahlungen durch die verletzte und die schädigende Partei ein universelles Phänomen aller vorstaatlichen Gesellschaften ist, das den Rechtsfrieden wiederherstellen kann.55 Gewiss will ich nicht der Wiedereinführung des fränkischen Kompositionensystems56 oder irgendwelcher Blutgeldzahlungen das Wort reden, weil die archaischen Systeme aus vielen guten Gründen von der staatlichen Strafe verdrängt worden sind. Überholt sein sollte aber auch die Kantische Absolutierung der Strafe, wonach der Täter axiomatisch zu strafen ist, „weil er verbrochen hat.“57 Das Recht und die Strafe sind eben nicht Selbstzweck, sondern müssen dem gedeihlichen Zusammenleben dienen. Und diesen Auftrag kann offenbar auch § 153a StPO ungeachtet aller theoretischen Bedenken und innerer Brüche weithin erfüllen. Dann jedoch hat sich das Strafrecht durch diese Vorschrift eben nicht aufgegeben, sondern seine Aufgabe irgendwie doch erfüllt. Ohnehin ist zu sehen, dass es in den medienwirksamen Disputen eigentlich immer um prominente Beschuldigte ging und geht. Und bei ihnen hat die Aufregung und Entrüstung gewiss noch ganz andere als juristische Gründe.

IV. Aussichten Es bleibt festzuhalten, dass die Legalität im Strafverfahren eine rechtsstaatliche Errungenschaft von höchstem Wert ist, die den Einzelnen vor der staatlichen, richterlichen und sonstigen behördlichen Willkür schützt. Das gilt für sie ganz ähnlich wie für die materielle Gesetzlichkeit im Sinne des Analogieverbots, mit der sie sich geschwisterlich entwickelt hat.58 Dass sich der historische Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts dafür entschieden hatte, den Legalitätsgrundsatz sehr stark zu halten und nicht gleich durch Ausnahmen der Opportunität auszuhöhlen, lag nicht zuletzt an fehlendem Vertrauen in den damaligen Rechtsstab. Es war die erfahrungsgespeiste Sorge vor ungerechtfertigten (politischen) Bevorzugungen und die Furcht vor der Willkür von Staatsanwälten und Richtern, warum im Kaiserreich die intensiven Be-

Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung, 2011; Richter, Täter-Opfer-Ausgleich und Schadenswiedergutmachung, 2014; A. Schmidt, Strafe und Versöhnung, 2012. 55  Kretschmer, FS Fischer, 2018, 415, 422 f. 56  Dazu Schumann, HRG, Bd. 2, 2. Aufl. 2012, Sp. 2003 ff.; Eb. Schmidt, Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, § 7 u. ö. 57  Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Akademie-Ausgabe 1902/07, Bd. 6, 333. 58  Vgl. dazu Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl. 2019, 65 ff., monografisch Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983 sowie die einschlägigen Kommentierungen zu § 1 StGB sowie Art. 103 GG.

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mühungen um mehr Opportunität gescheitert waren.59 Es ist bezeichnend, dass es in Gestalt der oben erwähnten Lex Emminger ein exekutiver Handstreich in Krisenzeiten war, der – am Parlament vorbei als Notverordnung – für die von der Praxis so dringend angemahnte Entlastung sorgte, um der Bagatellkriminalität rechtsförmig Herr werden zu können. Dabei bestand dieses Misstrauen gegen eine politisch gesteuerte und einseitig ausgerichtete Justiz gewiss nicht ohne Grund, was für das Kaiserreich, aber auch die Weimarer Republik und erst recht die NS-Diktatur gilt. Dieser Befund stellt sich heute jedoch anders dar, nachdem sich die deutsche Nachkriegsjustiz nun schon lange im neu begründeten demokratischen Rechtsstaat als weithin unempfänglich für Korruption und politisch-staatliche Einflussnahme erwiesen hat. Für eine Justiz, bei der solches Vertrauen noch in Zweifel steht – wie das im Kaiserreich und der Weimarer Republik der Fall war –, gilt es Gesetzlichkeit und Legalität unbedingt hochzuhalten, weil das auch der justiziellen Reputation dient. Hat sich hingegen Vertrauen in eine unbestechliche Justiz entwickelt, die von obrigkeitlicher und politischer Lenkung und Beeinflussung unabhängig ist, dann – und nur dann – sind verfahrensmäßige Abkürzungen wie die auflagenbedingte Einstellung nach § 153a StPO zu ertragen. Gleichwohl bedarf es auch dann einer rechtsstaatlichen Absicherung, zumal Vertrauen in und gegenüber Strafverfolgungsorganen keine rechtsstaat­ liche oder demokratische Tugend ist und erst recht nicht vorausgesetzt oder eingefordert werden darf.60 Diese Absicherung liegt hier vor allem darin, dass – von kleineren Fällen abgesehen – sowohl Richter als auch Staatsanwalt der ausgehandelten Absprache zustimmen müssen und sich gewissermaßen gegenseitig kontrollieren. Vorsicht ist daher auch angebracht bei der Kontrolle der jeweiligen Geldzuweisungen: Insofern war es früher durchaus zu Schieflagen gekommen, wenn Staatsanwälte oder Richter allzu sehr ihnen irgendwie verbundene Einrichtungen bedacht hatten. Seit einigen Jahren müssen sich indessen die potentiellen Spendenempfänger auf einer beim jeweiligen Oberlandesgericht erfassten Liste eintragen und ihre Gemeinnützigkeit sowie die spendengerechte Verwendung nachweisen. Zudem werden die jeweiligen Zuweisungen nachgehalten und sogar bekanntgemacht, was Transparenz schafft. Damit schützt sich die Justiz vor nepotistischen Anwürfen, welche die ohnehin problematische Legitimität des § 153a StPO untergraben würden.61 Denn in ein System, welches der Korruption und/oder 59  Vgl. dazu Dettmar, Legalität und Opportunität im Strafprozess, 2008, 135, 163 ff., 257, 274 f., 277 ff. 60  Zutreffend Vormbaum, Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl. 2019, 248 f. 61  Erst recht gilt das bei Einrichtung eines Sammelfonds, in den alle Auflagen eingezahlt und durch eine gesonderte Stelle zugewiesen werden, wie das in der Ber-



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­ olitischen Einflussnahme ruchbar ist, können und werden die Bürger, denen p das Recht und das Rechtssystem zu dienen hat, nicht vertrauen. Ohne das Vertrauen der Bürger ist ein Rechtsstaat aber nicht zu denken. Das gilt selbst in außergewöhnlichen Fällen wie jenen des Bernie Eccle­ stone, in denen die Justiz aufpassen muss, ihr in langen Jahren erworbenes Vertrauen nicht wieder zu verspielen. Der berühmte Angeklagte bewies übrigens einige Monate nach der Einstellung des Verfahrens gegen ihn feinen englischen Humor, als er zu Weihnachten eine besondere Karte verschickte, in der er die zerrissene Problematik auf den Punkt brachte: Auf dieser Karte im Stile eines Cartoons ist er nämlich selbst mit einem Geldsack zu sehen, der mit „100 Million $“ beschriftetet ist. Bedroht wird er von einem maskierten Reiter, der mit einer alten Vorderladerpistole auf ihn zielt und erklärt: „This is not a robbery. I am collecting for the Bavarian state.“

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Die Verständigung im chinesischen Anti-Korruptionsverfahren und deren Reform 中国职务犯罪认罪认罚从宽处罚制度及其完善 Chen Jiemiao Das Institut der Verständigung1 im Strafrecht hat seine besondere Bedeutung im Rahmen der Verfolgung von Amtsverbrechen. In China bestimmt § 44 Neuntes Strafrechtsreformgesetz (刑法修正案(九)): „Wer Verbrechen der Korruption und Bestechung begeht und vor Anklageerhebung seine Verbrechenshandlung wahrhaft schildert, wahrhaftige Reue zeigt, aktiv widerrechtlich Erlangtes zurückgibt, wer dabei hilft, Schäden zu verhindern oder zu verringern, der kann milder bestraft werden, oder es kann auf Strafminderung oder auf Straferlass erkannt werden.“2 Diese Bestimmung enthält den Geist der Verständigung und ist von Vorteil für Ermittlungen und gerichtliche Verfahren gegen Amtsverbrechen. Auch im chinesischen Überwachungsgesetz (中华人民共和国监察法, im Folgenden kurz ÜWG), das März 2018 verabschiedet wurde, ist die Verständigung ausdrücklich bestimmt; dort heißt es: „Wenn Personen, gegen die ermittelt wird, von sich aus ihre Schuld eingestehen und ihre Strafe anerkennen, dann kann die Überwachungsbehörde bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen der Staatsanwaltschaft eine Verständigung vorschlagen.“3 Im Oktober 2018 erkannte dann das Reform*  Prof.

Dr. Chen Jiemiao (陈结淼), Universität Anhui (安徽大学法学院). chinesische Begriff der Verständigung setzt sich aus den drei Komponenten „Schuldeingeständnis“ (认罪), „Strafeinwilligung“ (认罚) und „Strafmilderung“ (从 宽) zusammen. Er orientiert sich damit am Handlungsstrang innerhalb der Verständigung, die beim Geständnis einsetzt, welches zu einem einvernehmlichen Vorschlag bei der Strafzumessung führt, welche dann in ein Urteil mündet, was milder ist, als es ohne Verständigung zu erwarten wäre. Trotz dieser eher an konkreten Verfahrensschritten orientierten Bezeichnung im Chinesischen soll der Begriff hier im Deutschen mit der gebräuchlichen Bezeichnung „Verständigung (im Strafrecht)“ übersetzt werden (Anmerkung des Übersetzers). 2  § 44 Neuntes Strafrechtsreformgesetz (zugleich § 386 cStPG) 犯贪污、受贿 罪,在提起公诉前如实供述自己罪行、真诚悔罪、积极退赃,避免、减少损害结 果的发生,可以从轻、减轻或者免除处罚. 3  § 31 Überwachungsgesetz (被调查人员主动认罪认罚,有法定情节的,监察机 关可以向检察机关提出从宽处罚建议). 1  Der

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gesetz zum chinesischen Strafprozessgesetz (刑事诉讼法, im Folgenden cStPG) die Verständigung als eines der Grundprinzipien des Strafprozessrechts an. Das ist ein rechtsstaatlicher Erfolg der Justizreformen der letzten Jahre, der zeigt, wie die Strafrechtspolitik ihre Maxime der gleichzeitigen Milde und Strenge (宽严相济) im Strafprozessrecht weiterentwickelt. Das Institut der Verständigung im Strafrecht bedarf nicht nur strafprozessrechtlicher Bestimmungen, sondern benötigt auch eine Basis im materiellen Strafrecht. Weil der Aufbau und die Vervollkommnung des Strafprozessrechts nur im Rahmen des materiellen Strafrechts gelingen kann, deshalb muss eine Durchlöcherung des Standards der Strafzumessung, wie er im materiellen Strafrecht bestimmt ist, unweigerlich die Einheit des Strafrechts beschädigen. Im Augenblick beinhaltet das geltende cStGB mehrere Bestimmungen zur Verständigung, es sind dies insbesondere die Bestimmungen im allgemeinen Teil zu Selbstoffenbarung und Geständnis und die Sonderbestimmungen im besonderen Teil zur milderen Bestrafung bei Korruptionsverbrechen (贪污贿 赂犯罪). Dennoch fehlt es im Rahmen der Amtsverbrechen an materiellrechtlichen Bestimmungen zur Verständigung. Daher ist eine Vervollkommnung der strafrechtlichen Bestimmungen in Bezug auf die Verständigung bei Amtsverbrechen besonders notwendig.

I. Der besondere Wert strafrechtlicher Bestimmungen zur Verständigung bei Amtsverbrechen 1. Notwendigkeit der Verknüpfung von Überwachungsgesetz und Strafprozessgesetz Die Verständigung in Strafsachen kann während der Verfahrensabschnitte der Ermittlungen (侦查/调查), der Überprüfung der Anklage (审查起诉) und während der Gerichtsverhandlung (审判) stattfinden; die Verständigung bei Amtsverbrechen stellt insofern keine Ausnahme dar. Aktuell ist in China das Subjekt der Ermittlungen gegen Amtsverbrechen die Überwachungsbehörde (监察机关). Diese übt nach den einschlägigen Bestimmungen des Überwachungsgesetzes (监察法) die Ermittlungskompetenz bei Amtsverbrechen aus. Um den Widerstand der Personen, gegen die sich die Ermittlungen richten, zu minimieren, um die Effizienz der Ermittlungen gegen Amtsverbrechen zu erhöhen, bestimmt § 31 ÜWG die gesetzlichen Voraussetzungen und das Verfahren einer Verständigung bei Amtsverbrechen. Dabei muss die Person, gegen die sich die Ermittlungen richten, von sich aus ihre Schuld eingestehen und in ihre Strafe einwilligen. Wenn Merkmale wie Selbstoffenbarung, wahrhafte Reue, Mitwirkung bei den Ermittlungen, wahrhafte Schilderung der widerrechtlichen Verbrechenshandlung, aktive Herausgabe des widerrechtlich



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erlangten Vermögens, Verringerung des Schadens und wichtige Verdienste (bei der Verbrechensbekämpfung) oder ein Bezug zu wichtigen Staatsinteressen vorhanden sind, dann kann die Überwachungsbehörde bei der Übergabe des Falls an die Staatsanwaltschaft eine mildere Strafe vorschlagen. Die Bestimmung des § 31 ÜWG ist ein Epitom für die Anerkennung des Instituts der Verständigung im Bereich der Ermittlungen gegen Amtsverbrechen. Das cStPG hat im Oktober 2018 ebenfalls die Verständigung explizit in das Gesetz aufgenommen, um dadurch an die Bestimmungen des ÜWG anknüpfen zu können. Aus der Sicht des materiellen Strafrechts fehlen in China dennoch Bestimmungen zu Prinzip und konkreten Einzelheiten der Verständigung. Der vorliegende Beitrag ist der Ansicht, dass die Verständigung eine Norm ist, die sowohl verfahrensrechtlicher als auch materiell-rechtlicher Natur ist. Der Grund für die mildere Bestrafung und ihre Ausmaße bedürfen einer Normierung als konkretes Institut des Strafrechts. Obwohl also die Verständigung bereits im chinesischen Strafrecht realisiert wird, fehlt ihr die konkrete normative Ausgestaltung. Daher ist es wichtig, die Verständigung bei Amtsverbrechen zu Vervollkommnen. 2. Gründliche Durchsetzung der strafrechtspolitischen Maxime von „gleichzeitiger Milde und Härte“ im Bereich der Amtsverbrechen Die Korruption ist ein Leiden, mit dem sich die Gerierung eines jeden Staats konfrontiert sieht. Die chinesische Regierung nimmt in dieser Beziehung eine Haltung der „zero tolerance“ ein. Doch eine staatliche Politik der Null-Toleranz kann und soll nicht direkt auf das Strafrecht angewandt werden. Politik und Strafpolitik sind unterschiedlichen Bereichen zugeordnet, die eine der Gesellschaft allgemein, die andere dem Strafrecht; es muss also genau unterschieden werden zwischen der Null-Toleranz gegenüber korrupten Handlungen und der Null-Toleranz gegenüber dem Verbrechen der Korruption; beides sind unterschiedliche Ebenen.4 Auf der einen Seite werden beide auf unterschiedliche Gebiete angewandt. Eine staatliche Politik ist der Versuch des Staates, die Gesellschaft durch Makro-Bestimmungen zu steuern, die Strafrechtspolitik ist eine Haltung gegenüber strafrechtlich bestimmten Verbrechen. Auf der anderen Seite wenden beide unterschiedliche Standards an. Der Standard, mit dem der Staat korrupte Handlungen identifiziert, ist verschieden von dem Standard, mit dem die Strafrechtspolitik im Rahmen des Strafrechts Amtsverbrechen identifiziert. Deshalb bedeutet die Haltung der „Null-Toleranz“ nicht, dass bei Amtsverbrechen ein Standard angelegt 4  Liu Zhiwei (刘志伟)/Zheng Yang (郑洋), Der Einfluss der Politik der „zero tolerance“ auf die Bekämpfung der Korruption (论零容忍政策对惩治腐败犯罪的影响), Henan Social Sciences (河南社会科学), 2018, Nr. 6.

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werden kann, der unter dem gesetzlichen Standard ansetzen würde oder der strenger als der gesetzliche Standard wäre. Auf dem Gebiet der Amtsverbrechen muss daher dennoch das Prinzip der gleichzeitigen Milde und Strenge angewandt werden. Bei besonders schweren Fällen von Korruption muss daher an einer strengen Bestrafung festgehalten werden, aber bei Amtsverbrechen, die geringfügig sind, gab es in der Vergangenheit keinen eindeutigen Standard, mit dem eine mildere Bestrafung vorgegeben gewesen wäre. Deshalb waren die Justizorgane in der Vergangenheit bei der Aufarbeitung solcher Fälle stets vorsichtig, sodass die Strafrechtspolitik der gleichzeitigen Milde und Strenge im Bereich der Amtsverbrechen nur unzureichend umgesetzt wurde. Erst seit das cStGB, das ÜWG und das cStPG den Gedanken der Verständigung normativ umgesetzt haben, haben die Justizbehörden bei der Behandlung von Amtsverbrechen einen eindeutigen Rechtsgrund für eine mildere Bestrafung. Seither kann auch bei Amtsverbrechen endlich der Grundsatz von gleichzeitiger Milde und Strenge durchgesetzt werden. 3. Erhöhung der Rechtsstaatlichkeit von Verfahren gegen Amtsverbrechen Wenn wir den Grad der Rechtsstaatlichkeit bei Straffällen abwägen, dann untersuchen wir, bis zu welchem Grad Prinzipien wie die Gesetzlichkeit der Strafe oder die Äquivalenz von Schuld und Strafe durchgesetzt werden. Eine Konkretisierung der Gesetzlichkeit von Strafe ist die Angemessenheit der Bestimmungen zu Strafen, was man auch das Prinzip der Angemessenheit der Strafe nennt. Dieses bedeutet, dass Verbrechen, welche in Normen mit Strafe belegt werden und die hierauf angedrohten Strafen in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.5 Um die Verständigung bei Amtsverbrechen zufriedenstellend zu regeln, ist es wichtig, Standards der Strafzumessung wie Selbstoffenlegung und Geständnis im Umfang ihrer Anwendung und in den Inhalten von „Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung“ stärker als bisher aufeinander zu beziehen. Konkret gesagt muss der Standard der Strafzumessung bei Korruptionsverbrechen im cStGB und den entsprechenden Justizinterpretationen gesetzlich normiert und verfeinert werden, um den Justizbehörden bei einer streng an materiellen Bestimmungen orientierten „milden Bestrafung“ einen eindeutigen Rechtsgrund an die Hand zu geben. Abgesehen davon muss beim Prinzip der Angemessenheit von Schuld und Strafe nicht nur berücksichtigt werden, ob die Schuld in angemessener Weise festgestellt wurde, sondern es müssen auch in angemessener Weise die Strafzumessungsgründe und der Ausmaß des Schadens berücksichtigt werden, um 5  Liu Yanhong (刘艳红), Strafrecht, Bd. 1 (刑法学(上)), Beijing: Peking University Press, 2014, S. 23.



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eine angemessene Strafe auszusprechen. Dieses Prinzip beinhaltet also sowohl, dass die Schwere der Strafe der Schuld des Verbrechers entsprechen muss, als auch, dass die Schwere der Strafe der Gefährlichkeit des Verbrechers entsprechen muss. Die Natur der Verständigung verlangt von dem Tatverdächtigen bzw. von dem Angeklagten, dass dieser möglichst schnell seine Schuld eingesteht und Reue zeigt, dass er seine Strafe akzeptiert und die Ziele der Bestrafung verwirklicht. Eben weil ein Tatverdächtiger bzw. ein Angeklagter, der aktive Reue zeigt und dessen Gefährlichkeit sich verringert, die Voraussetzungen für eine mildere Strafe zeigt, genau deshalb können die Justizorgane diesen mit einer milderen Strafe belegen und dadurch das Prinzip der gleichzeitigen Milde und Strenge verwirklichen.

II. Die Verständigung bei Amtsverbrechen und andere damit zusammenhängende Institute des Strafrechts 1. Die Verständigung bei Amtsverbrechen aus Sicht der Strafrechtswissenschaft a) Schuldeingeständnis und die Institute der Selbstoffenbarung und des Geständnisses Die vom Obersten Volksgerichtshof, dem Obersten Volksprokurat und Volksstaatsanwaltschaft und von drei Ministerien veröffentlichten Ausführungsbestimmungen über die Durchführung von Modellversuchen zur Verständigung im Strafrecht in einem Teil der Bezirke (关于在部分地区开展刑 事案件认罪认罚从宽处罚制度试点工作的办法, im Folgenden kurz AMV) bestimmen in ihrem § 1 die Grundvoraussetzungen für ein Schuldeingeständnis (认罪). Hierzu muss der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte wahrheitsgemäß seine eigene Verbrechenshandlung schildern und er darf gegenüber dem ihm zur Last gelegten Verbrechen keine Einwände haben. Nach dieser Bestimmung zu urteilen bedarf es also für ein Eingeständnis der Schuld die beiden Merkmale der freiwilligen Schilderung der Verbrechenshandlung und das Fehlen von Einwänden gegen das zur Last gelegte Verbrechen. Aus dem oben gesagten ergibt sich, dass der Inhalt des „Schuldeingeständnisses“ und die Bestimmungen des Strafrechts zur Selbstoffenlegung bzw. zum Geständnis in sehr enger Beziehung stehen. Die Bestimmungen des cStGB zur Selbstoffenlegung unterscheiden zwischen einer allgemeinen und einer besonderen Selbstoffenlegung. Der Kern der allgemeinen Selbstoffenlegung besteht darin, dass sich der Tatverdächtige aus eigenen Stücken den Ermittlungsbehörden stellt und dass er wahrheitsgemäß seine Verbrechenshandlung schildert. Die besondere Selbstoffenlegung verlangt, dass ein Tat-

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verdächtiger, der bereits Zwangsmaßnahmen durch die Ermittlungsbehörden erduldet, andere Verbrechen wahrheitsgemäß schildert, welche den Justizbehörden bislang nicht bekannt waren. Das Institut des Geständnisses ist das Angebot größtmöglicher justizieller Milde gegenüber dem Tatverdächtigen. Obwohl der Tatverdächtige nicht die Tatbestände der oben geschilderten Offenlegung erfüllt, schildert er dennoch wahrheitsgemäß das von ihm begangene Verbrechen und kann dafür eine mildere Strafe erlangen. Wenn er durch die wahrheitsgemäße Schilderung seines Verbrechens zusätzlich schwerwiegende Folgen verhindern kann, dann kann er sogar eine Strafminderung erwirken. Daraus wird ersichtlich, dass sich Offenlegung und Geständnis beide auf die freiwillige „wahrheitsgemäße Schilderung“ des Tathergangs durch den Tatverdächtigen konzentrieren. Der Unterschied liegt in dem unterschiedlichen Maß an „Freiwilligkeit“ der wahrheitsgemäßen Schilderung. Nach den Bestimmungen des § 1 AMV ist die Frage, ob der Tatverdächtige sich freiwillig gestellt hat, oder ob er festgenommen wurde, beim Schuldeingeständnis unerheblich. Es wird vielmehr betont, dass der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte freiwillig seine Schuld eingesteht und Reue zeigt, so dass er im gesamten Verlauf des Verfahrens ohne Unterschied den Gedanken der Verständigung verwirklichen kann. In der juristischen Praxis ereignen sich die Offenlegung bzw. das Geständnis aber meistens im Ermittlungsstadium, während die Anwendungsmöglichkeiten während der Anklageprüfung bzw. während des gerichtlichen Urteilsverfahrens relativ gering sind. Daraus wird erkennbar, dass sowohl Inhalt, als auch Umfang von Verständigung einerseits und Offenbarung und Geständnis andererseits nicht identisch sind. b) Strafeinwilligung und das Institut der Strafe Die Strafeinwilligung (认罚) bezeichnet vor allem die Zustimmung des Tatverdächtigen bzw. des Angeklagten zur vorgeschlagenen Strafe; diese Zustimmung zeigt sich in der Unterschrift unter eine eidesstaatliche Erklärung. Die Empfehlungen zur Strafzumessung, welche die Staatsanwaltschaft dem Gericht übermittelt, müssen die Hauptstrafe, Nebenstrafen und die Frage, ob eine Bewährung angewandt werden soll, enthalten. Daher kann sich der Umfang der Strafeinwilligung des Tatverdächtigen bzw. des Angeklagten auf unterschiedliche Dinge beziehen, inklusive die Arten der Strafe, der angewandte Strafrahmen, die Art des Strafvollzugs usw. Bei den Strafarten sieht das chinesische cStGB Haupt- und Nebenstrafe, Maßnahmen, welche keine Strafen sind, und die Bestimmung des Berufsverbots vor.



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c) Mildere Bestrafung und Strafzumessung Die mildere Bestrafung (从宽) des Angeklagten ist ein Institut des materiellen Rechts, das sich innerhalb des Strafrechts vor allem in der Höhe des Strafmaßes verwirklicht. Zunächst ist der Kern der milderen Bestrafung nicht von der Strafzumessung trennbar. Im materiellen Strafrecht sehen wir, dass wir die Möglichkeit haben, entweder verpflichtend oder fakultativ innerhalb des gesetzlichen Strafrahmens eine milde Strafe auszusprechen, verpflichtend oder fakultativ eine Strafminderung unterhalb des ursprünglichen Strafrahmens auszusprechen, oder einen Straferlass zu verfügen. Die „mildere Bestrafung“ ist das Ergebnis dieses Systems. Dabei befinden sich „Schuldeingeständnis und Strafeinwilligung“ einerseits und „mildere Bestrafung“ andererseits in einem Kausalverhältnis.6 Der Grund für die mildere Bestrafung sind die Faktoren der freiwilligen Schilderung der Verbrechenshandlung durch den Tatverdächtigen, das Zeigen von Reue und die Verringerung von dessen persönlicher Gefährlichkeit. Bei der konkreten Strafzumessung sind die Rechtsquellen der Justizbehörden das cStGB und relevante Justizinterpretationen, insbesondere die vom Obersten Volksgerichtshof veröffentlichten Meinungen zur Strafzumessung bei häufigen Verbrechen (关于常见犯罪的量 刑指导意见, im Folgenden MStZ) und die von den Obervolksgerichten der Provinzen veröffentlichten Ausführungsbestimmungen zu den MStZ 〈 ( 关于常 见犯罪的量刑指导意见〉实施细则, im Folgenden AMStZ). Dennoch ist die Stellung der MStZ innerhalb der Normenpyramide relativ niedrig anzusiedeln, was ihrer Möglichkeit, die Justiz in der Praxis wirklich anzuleiten, nicht zuträglich ist. Dazu sind MStZ und die AMStZ beide Bestimmungen, die lediglich von gerichtlichen Justizorganen erarbeitet und publiziert wurden, so dass bei der Frage, ob sich die Staatsanwaltschaft in der Justizpraxis bei ihren Vorschlägen für die Strafzumessung an diese Bestimmungen hält, berechtigte Zweifel bestehen. 2. Materiell-rechtliche Sonderbestimmungen zur Verständigung bei Amtsverbrechen a) Realisierung der Verständigung bei Amtsverbrechen im Rahmen des cStGB Die Verständigung bei Amtsverbrechen zeigt sich im cStGB an zwei unterschiedlichen Stellen: zum einen ist sie Teil des § 383 cStGB, also dem Tat6  Han Hong (韩红)/Xie Simiao (谢思淼), Gedanken des positive Rechts zum In­ stitut der Verständigung (认罪认罚从宽处罚制度的实体法思考), Study & Exploration (学习与探索), 2017, Nr. 1.

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bestand der Vorteilsgewährung bzw. Vorteilsannahme; zum anderen ist sie Teil des § 390 cStGB, dem Tatbestand der Bestechung bzw. Bestechlichkeit. Verglichen mit der Regelung, die vor dem Neunten Strafrechtsänderungsgesetz in Kraft war, weist die jetzige Bestimmung das Merkmal des „Strenge in Milde, tatsächlich aber mit Tendenz zur Strenge“ auf. Zunächst setzt das Neunte Strafrechtsänderungsgesetz voraus, dass der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte eine wahrhafte Aussage macht und widerrechtlich erlangtes Vermögen aktiv zurückgibt, gleichzeitig werden die Bedingungen für die Milderung streng gefasst, so muss die wahrhaftige Schilderung der eigenen Tat vor der Anklage erfolgen, muss aktive Reue gezeigt werden, muss das aus der Tat erlangte Vermögen aktiv zurückgezahlt werden, müssen Schadensfolgen aktiv verhindert oder minimiert werden. Gleichzeitig ist im cStGB an anderer Stelle ausdrücklich bestimmt, dass bei besonders großen Summen oder bei besonders schwerwiegenden Umständen keine Strafminderung und keine vorzeitige Entlassung verfügt werden dürfen, so dass lebenslanger Freiheitsentzug verhängt wird. Dies bedeutet für den Angeklagten, dass der Spielraum für eine „mildere Bestrafung“ sehr streng eingegrenzt ist. Zweitens war vor dem Neunten Strafrechtsänderungsgesetz bestimmt, dass der Bestechungsgeber für den Fall, dass er vor dem Beginn der Strafverfolgung von sich aus die Bestechungshandlung gesteht, Strafminderung oder Straferlass erwirken kann. Aber das Neunte Strafrechtsänderungsgesetz hat hier die Möglichkeit für eine mildere Strafe eingeschränkt, denn es sieht nur noch eine mildere Strafe oder Strafminderung vor. Nur wenn das Verbrechen relativ gering ist und eine Schlüsselrolle bei der Aufdeckung großer Verbrechen eingenommen wird oder es andere sehr große Verdienste gibt, besteht die Möglichkeit von Strafminderung oder Straferlass. Die beiden vorstehenden Bestimmungen haben den Rahmen für eine „mildere Bestrafung“ offensichtlich eingeschränkt, wirken sich also negativ auf eine aktive Anwendung der Verständigung bei Amtsverbrechen aus. b) Bestimmungen zur Verständigung bei Amtsverbrechen in allgemeinen Justizinterpretationen Derzeit gibt es mehrere Dutzend Justizinterpretationen zu Amtsverbrechen, darunter sind zwei, die sich mit der Verständigung bei Amtsverbrechen befassen. Das ist zum einen die Interpretation zu Strafzumessungsgründen wie Selbstoffenlegung und Erwerb von Verdiensten bei Amtsverbrechen (关于办 理职务犯罪案件认定自首、立功等量刑情节若干问题的意见). Diese Bestimmung macht genaue Angaben zur Feststellung von allgemeiner Selbstoffenbarung, besonderer Selbstoffenbarung, Selbstoffenbarung innerhalb von Verbrechen durch Einheiten7 und Erwerb von (besonders großen) Verdiens-



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ten. Gleichzeitig werden konkrete Gründe für die Strafzumessung bei einer Verständigung aufgeführt, so z. B. Motiv, Verfahrensabschnitt und objektive Umstände der freiwilligen Selbstoffenbarung, Vollständigkeit und Zuverlässigkeit des Geständnisses, sowie das Zeigen von tätiger Reue. Ausnahmsweise können auch Verbrecher, die sich nicht freiwillig offenbart haben, die aber ihre Verbrechenstat vollständig zugegeben haben, auch in den Genuss einer milderen Strafe kommen. Auch die Einziehung widerrechtlich erlangten Vermögens und die Erstattung ökonomischer Schäden werden als Gründe für eine mildere Strafe angeführt. Obige Bestimmungen verfeinern und klären strafrechtliche Begriffe wie die Offenbarung bzw. den Erwerb von Verdiensten im Strafrecht. Einige der Bestimmungen erklären also über den Weg dieser Justizinterpretationen und außerhalb des cStGB, an welchen Punkten eine Verständigung zusätzlich möglich ist. Weiter bestimmt die Interpretation bezüglich Fragen der strengen Anwendung von Bewährung und Straferlass bei Amtsverbrechen (关于办理职务犯罪案件严格适用缓刑、免予刑事处罚 若干问题的意见) als zweite relevante Bestimmung, dass außer in Fällen, in denen keine Bewährung gewährt werden darf, die Bewährung auf Personen angewandt werden kann, welche wegen Korruption und Bestechung angeklagt sind, die das gesamte widerrechtlich erlangte Vermögen zurückgezahlt haben, die zu unter drei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurden und die die Bedingungen für eine Bewährungsstrafe erfüllen. Dennoch sind die oben genannten Justizinterpretationen schon relativ alt und wurden nicht im Zuge der Novellierung der Bestimmungen bezüglich Korruption und Bestechung im Neunten Strafrechtsänderungsgesetz angepasst. Dazu ist die Verständigung bereits im cStPG und im ÜWG anerkannt worden, trotzdem haben materiell-rechtliche Bestimmungen wie das cStGB und die entsprechenden Justizinterpretationen hiermit nicht Schritt gehalten. Es ist daher notwendig, das cStGB weiter zu ändern und auch die dazugehörigen Justizinterpretationen zu novellieren.

7  Verbrechen durch „Einheiten“ (单位) entsprechen in etwa dem Begriff der Verbrechen durch Unternehmen und andere juristische Personen. Anmerkung des Übersetzers.

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III. Vorschläge zur Verbesserung des Instituts der Verständigung bei Amtsverbrechen 1. Normierung der Verständigung im Allgemeinen Teil des cStGB a) Einführung einer allgemeinen Bestimmung zur Verständigung nach § 67 cStGB Aktuell ist das Institut der Verständigung bereits als Prinzip im Strafprozessrecht anerkannt. Dennoch betrifft das Verfahren am Strafgericht nicht nur das Prozessrecht, sondern auch die Bestimmungen des materiellen Strafrechts. Die Justizbehörden können einen Angeklagten nicht nur auf Grund des Strafprozessrechts schuldig sprechen und daraufhin das Strafmaß bestimmen. Um dieses Institut also wirklich im Strafurteil berücksichtigen zu können, sollte die Verständigung letzten Endes auch im materiellen Strafrecht bestimmt werden und dort mit den anderen Bestimmungen zur Strafzumessung verbunden werden. Die Selbstoffenbarung und das Geständnis sind Strafzumessungsgründe, die im Strafrecht oft anzutreffen sind. Beide beinhalten die rechtstheoretischen Grundlagen der Verständigung, doch sind die normlogischen Beziehungen zwischen beiden nicht so stark, dass die materiell-rechtlichen Bestimmungen die Verständigung vollständig beinhalten würde. Das Institut der Verständigung berücksichtigt nicht, ob der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte sich freiwillig stellt, oder ob er während der Ermittlungen verhaftet wurde. Auch ein Tatverdächtiger, der unfreiwillig bei den Justizbehörden erscheint, kann bei einer wahrhaftigen Schilderung seiner Verbrechenshandlung, beim Eingestehen der Schuld und der Einwilligung in die Strafe nach den gesetzlichen Vorgaben eine mildere Strafe erhalten. Was diese Bestimmung betont, ist das Akzeptieren des zur Last gelegten Verbrechens und die Einwilligung in die strafrechtliche Sanktionierung durch den Tatverdächtigen bzw. den Angeklagten; dabei wird der Zeitrahmen, in dem dies geschehen kann, auf das gesamte Verfahren ausgeweitet und bleibt nicht auf die Ermittlungen bzw. die Anklageprüfung eingeschränkt. Solange das Urteil nicht gefällt ist, solange kann eine Verständigung stattfinden. Das Gericht wird dann, je nach den Gegebenheiten der Verständigung, diese zu unterschiedlichen Graden in einer Milderung der Strafe berücksichtigen. Daher ist der Kernbereich der Verständigung nicht vollkommen deckungsgleich mit der Selbst­ offenbarung und dem Geständnis. Wenn sich nur im cStPG verfahrensrechtliche Bestimmungen zum Institut der Verständigung finden, dann fehlt dieser die materiell-rechtliche Begründung, was unweigerlich die Durchsetzung dieses Instituts beeinflussen muss. Der vorliegende Beitrag empfiehlt daher, in § 67 cStGB (Selbstoffenbarung und Geständnis) einen Abschnitt 4 einzu-



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führen, um darin die allgemeine Verständigung zu normieren. Eine mögliche Formulierung könnte z. B. lauten: Wenn der Angeklagte seine Verbrechenstat vor dem Ergehen des Urteils wahrhaftig schildert, wenn er das ihm zur Last gelegte Verbrechen anerkennt und in die Strafe aus freien Stücken einwilligt, dann kann auf eine mildere Strafe oder auf eine Strafminderung erkannt werden. Bei der konkreten Bestimmung der Minderung des Strafumfangs können die unterschiedlichen Verfahrensabschnitte, in denen der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte die Verständigung durchgeführt haben, getrennt bestimmt werden. b) Einführung eines eigenen Abschnitts zur Verständigung in § 68 cStGB Hierbei ist zu beachten, dass der reformierte § 182 cStPG bestimmt: „Wenn der Tatverdächtige eine Verbrechenstatsache, derer er verdächtigt wird, wahrhaftig schildert, wenn er sich dadurch große Verdienste erwirbt oder wenn der Fall wichtige staatliche Interessen berührt, dann kann die Behörde für öffentliche Sicherheit (Polizei) bei Genehmigung durch das Oberste Volksprokurat den Fall zurückziehen, das Volksprokurat kann beschließen, den Fall nicht zur Anklage zu bringen, es kann auch eine oder mehrere der Taten, derer dieser verdächtigt wird, nicht anklagen.“ Dennoch gibt es an diesem Institut die zwei folgenden Zweifel: Erstens ist das Subjekt, das dieses Institut anwendet, nicht passend. Obwohl die Staatsanwaltschaft in China auch zu den Justizbehörden gerechnet wird, ist es das Volksgericht, welches als spezielle Behörde über die Strafzumessung des Angeklagten zu befinden hat. Abgesehen vom Volksgericht, das nach Gesetz ein Urteil fällt, gibt es keine andere Behörde oder Institution, die die Kompetenz hätte, die Schuld oder Unschuld des Angeklagten durch Urteil oder Beschluss festzustellen. Bei der Anwendung der obigen Bestimmung hat der Angeklagte ein Verbrechen begangen und er erfüllt nicht die Bedingungen, welche das cStPG für die gesetzliche Nicht-Anklage oder für eine Nicht-Anklage nach Ermessen fordert. Nur weil der Tatverdächtige freiwillig sein Verbrechen eingesteht und in seine Bestrafung einwilligt, weil er dazu große Verdienste erwirbt oder weil der Fall wichtige staatliche Inte­ ressen berührt, kann der Tatverdächtige mit Genehmigung des Obersten Volksprokurats einen Straferlass erwirken. Wir begegnen hier offensichtlich der Frage, dass das Subjekt, welches die Entscheidung trifft nicht wirklich legitimiert ist. Selbst wenn der Tatverdächtige auf Grund seiner großen Verdienste einen Straferlass bekommt, dann sollte dies vom Volksgericht festgestellt werden. Der Fall sollte nicht von den Behörden der öffentlichen Sicherheit (Polizei) oder der Staatsanwaltschaft lediglich auf Grund von Verfahrensbestimmungen eingestellt werden.

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Weiter fehlt der Verständigung im Besonderen der Rechtsgrund im mate­ riellen Recht. § 68 cStGB bestimmt, dass beim Erwerb großer Verdienste auf Strafminderung oder Straferlass entschieden werden kann. Demgegenüber bestimmt § 182 cStPG, dass die strafrechtliche Verantwortung von Tatverdächtigem bzw. Angeklagtem bei „Schuldeingeständnis, Strafeinwilligung + Erwerb großer Verdienste“ oder bei der Berührung wichtiger staatlicher Inte­ ressen ausgeschlossen werden kann. Dies stellt eine große Änderung des materiell-strafrechtlichen Instituts des Erwerbs von großen Verdiensten dar. Aus dem Blick der Einheit des Strafrechts und aus Gründen der Kompatibilität der Gesetze ist es notwendig, den § 68 cStGB um eine besondere Bestimmung zur Verständigung zu erweitern. Es sollte also lauten: Wenn der Tatverdächtige eine Verbrechenstatsache, derer er verdächtigt wird, wahrhaftig schildert, wenn er sich dadurch große Verdienste erwirbt oder wenn der Fall wichtige staatliche Interessen berührt, dann kann die oberste Justizbehörde den Verzicht auf die Anklage oder den Erlass der Bestrafung genehmigen. 2. Vervollkommnung des Instituts der Verständigung im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs In § 383 cStGB finden sich Sonderbestimmungen zur Bestrafung von Vorteilsnahme bzw. -gewährung. Der Standard der Strafzumessung ist hier strenger als bei Selbstoffenbarung und Geständnis. § 383 cStGB grenzt die Zeit für die Verständigung auf das Verfahren vor der Anklage ein. Wenn also der Angeklagte nach Erhebung der Anklage durch die Staatsanwaltschaft sein Verbrechen wahrhaftig schildert, dann findet die Einschränkung von § 383 cStGB Anwendung. Im Gegensatz hierzu sind die Bestimmungen zum Schuldeingeständnis und der Reue in Form der Selbstoffenbarung und des Geständnisses in jedem Verfahrensabschnitt vor dem Urteil möglich. Das Institut der Verständigung wurde eingerichtet, damit der Tatverdächtige bzw. der Angeklagte grundsätzlich dazu motiviert wird, so bald wie möglich seine Schuld einzugestehen, um dadurch eine mildere Strafe zu erhalten. Die übermäßige Einschränkung der Voraussetzungen der Verständigung in § 383 cStGB wirkt sich in der strafrechtlichen Praxis sehr ungünstig auf das Eingestehen der Schuld und die Reue des Angeklagten aus. Dieser Beitrag ist der Ansicht, dass § 383 cStGB geändert werden sollte, um die Anwendung der Verständigung bei Amtsverbrechen umfassend durchzusetzen. Dazu sollten als erstes die Einschränkungen der Verständigung weiter gefasst werden. Die zeitliche Einschränkung auf das Verfahren vor Anklageerhebung sollte fallen gelassen werden, sodass bei Schuldeingeständnis vor dem Urteil eine mildere Bestrafung immer möglich ist. Weiter sollte die Regelung der Strafzumessung je nach den Umständen des Verbre-



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chens neu abgestimmt werden. Wer gegen Absatz 1 verstößt, dem kann unter den oben genannten Umständen die Strafe gemindert oder erlassen werden. Wer gegen Absatz 2 verstößt, der kann unter den oben genannten Umständen milder bestraft werden oder eine Strafminderung erhalten. Wer gegen Absatz 3 verstößt, der kann unter den oben genannten Umständen milder bestraft werden. Zusätzlich sollten die Verbrechen, auf die § 383 anwendbar ist, erweitert werden. Bislang wird der § 383 cStGB nur auf Korruption und Bestechung angewandt, nicht aber auf andere Formen der Amtsverbrechen. Die vielfachen Formen der Amtsverbrechen haben in Korruption und Bestechung ihre Grundtatbestände, ihrer Natur nach handelt es sich um Verletzungen der staatlichen Autorität und den widerrechtlichen Besitz von Vermögen. Aus diesem Grund lassen sich die Verbrechen, auf welche die Verständigung Anwendung findet, auf einen Teil der Verbrechen in Kapitel 8 cStGB erweitern, so etwa Bestechung von Einheiten oder Bestechlichkeit von Einheiten, Unterschlagung von Staatseigentum, private Aneignung von eingezogenem Vermögen etc. Abgesehen davon ist die Bestechung ein Verbrechen bei dem Handlung und Interessen in zwei Richtungen verlaufen und sich gegenseitig ergänzen. Der die Bestechung Anbietende und der diese Annehmende sind notwendig die beiden Subjekte der Bestechung. Daher ist es für die Bekämpfung der Bestechung besonders wichtig, dass derjenige, der die Bestechung anbietet, seine Bestechungshandlung aktiv zugibt. Trotzdem ist auch die Verständigung für denjenigen, der die Bestechung anbietet nach dem geltenden Strafrecht in Zeit und Umfang eingeschränkt. In Bezug auf die Zeit muss die Verständigung vor der Anklage erfolgen; nach der Anklage durch die Staatsanwaltschaft verliert der Angeklagte die Möglichkeit der Verständigung. Vom Umfang her ist es demjenigen, der die Bestechung anbietet, nur erlaubt eine mildere Strafe oder eine geminderte Strafe zu erhalten. Nur bei besonderen Umständen kann eine Strafminderung oder ein Straferlass verfügt werden. Es ist daher notwendig, den § 390 cStGB in Bezug auf die Verständigung wie folgt zu ändern: Zunächst ist der Umfang der milderen Bestrafung des Bestechenden je nach Verfahrensabschnitt verschieden. Wenn derjenige, der die Bestechung anbietet, vor der Anklage sein Verbrechen von sich aus wahrhaftig schildert, kann er milder bestraft werden. Außerdem kann bei leichten Verbrechen, bei denen der Angeklagte eine Schlüsselfunktion zur Aufklärung des Falles erfüllt hat, oder bei der er besondere Verdienste erworben hat, eine weitere Strafmilderung erfolgen. Offenbart sich der die Bestechung anbietende vor Einleitung eines Strafverfahrens, dann kann bei den oben angeführten Voraussetzungen für eine Strafmilderung auf eine Bestrafung verzichtet werden.

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3. Normierung eines Leitfadens zur Strafzumessung Die Justizinterpretationen des Obersten Volksgerichtshofs zu Amtsverbrechen und die „Ausführungsbestimmungen“ (实施细则) der Obervolksgerichte in den Provinzen bestimmen alle, wie das Strafmaß bei Korruptionsverbrechen ausfallen soll. Dennoch sind die chinesischen Gerichte frei, Ihre Urteilskompetenz unabhängig und nach Gesetz auszuführen. Sie sind daher die die einzige Institution, die eine Subjektstellung innehat; die Meinungen zur Strafzumessung (量刑指导意见) des Obersten Gerichtshofs haben daher nur eine anleitende Funktion für die Urteile der Justiz. Demgegenüber hat die Staatsanwaltschaft als Kontrollsubjekt der Justiz die wichtige Kompetenz, in Strafverfahren Anklage zu erheben und Berufung bzw. Revision einzulegen. Um Anklagekompetenz und Urteilskompetenz gegeneinander auszubalancieren kam es zur Kompetenz des Vorschlagsrechts bei der Strafzumessung. Danach kann die Staatsanwaltschaft gleichzeitig mit der Einreichung der Anklage dem Volksgericht einen Vorschlag zur Strafzumessung machen.8 Die Frage, ob der Vorschlag der Staatsanwaltschaft zur Strafzumessung wissenschaftlich und vernünftig ist, beeinflusst das Maß, in dem das Gericht im Urteil diesem Vorschlag zustimmt. Die geltenden „Meinungen zur Strafzumessung“ und „Ausführungsbestimmungen“ sind der Standard der Gerichte im ganzen Land. Gleichzeitig sind sie die Grundlage, auf der die Staatsanwaltschaft ihren Vorschlag zum Strafmaß hervorbringt. Aus dem Blickwinkel der Rechtstheorie muss daher der Oberste Volksgerichtshof beim Abfassen der Strafzumessungsregeln in umfassender Weise die Meinung des Obersten Volksprokurats zur Strafzumessung berücksichtigen. Im Zweifelsfall sollten Oberster Volksgerichtshof und Oberstes Volksprokurat sich gemeinsam auf Strafzumessungsregeln verständigen. Abgesehen hiervon sollten auch die Ausführungsbestimmungen der Obervolksgerichte von den mit diesen gleichrangigen Staatprokuraten beaufsichtigt werden, um dadurch zu verhindern, dass die Strafzumessungskompetenz9 missbraucht wird.

8  Tan Shigui (谭世贵), Das Institut der Verständigung unter dem Blickwinkel von materiellem Recht und Prozessrecht (实体法与程序法双重视角下的认罪认罚从宽处 罚制度研究), Law Science Magazine (法学杂志), 2016, Nr. 8. 9  Da die chinesische Vokabel 权 an dieser Stelle gleichzeitig die Übersetzung als Gewalt (权力), Komeptenz (职权) und Recht (权利) zulässt, könnten wir den Begriff 量刑权 gleichzeitig als Strafzumessungsgewalt, Strafzumessungskompetenz und als (subjektives) Strafzumessungsrecht übersetzen. Dies ist im Deutschen leider nicht in einem einzigen Begriff denk- und darstellbar (Anmerkung des Übersetzers).

Die Verständigung im taiwanischen Strafprozess 台湾刑事诉讼中的认罪协商 Georg Gesk*

I. Vorwort Das taiwanische Recht ist in vieler Hinsicht ein Experimentierfeld, an dem in der Vergangenheit oft deutlich wurde, wie man westliche Rechtsfiguren in einer Gesellschaft normieren kann, deren Wurzeln bis zum heutigen Tag im chinesischen Kulturkreis liegen, und was bei dieser Normierung an praktischen Problemen auftaucht. Dabei verbindet es einen existierenden – auf dem deutschen Strafprozessrecht basierenden – normativen Corpus mit Einflüssen aus dem amerikanischen Recht. Dieser Einfluss macht sich in anderer Weise bemerkbar als z. B. in Deutschland oder in anderen, vom deutschen Recht beeinflussten Rechtssystemen Ostasiens (siehe etwa Japan oder Südkorea). Ein Beispiel, wo wir eine eigenständige Überformung des taiwanischen Strafprozessrechts mit Gedanken aus dem US-amerikanischen Recht feststellen können, ist dabei das Thema der Verständigung im Strafprozess. Die Analyse der rechtlichen Bestimmungen und der Rechtspraxis ist aber nicht nur für sich genommen oder auf Taiwan bezogen interessant, sondern zeigt zum einen, was man aus deutschen Rechtsgrundlagen auch machen kann. Zum anderen hat aber das taiwanische Recht sehr oft die Funktion eines Referenzpunkts für die Situation auf dem chinesischen Festland, denn es zeigt, wie man in einer durch die chinesische Kultur geprägten Gesellschaft westliche Normen und Gesetze umsetzen kann, wo es dabei zu Schwierigkeiten kommt, und was dabei nachahmenswert ist.1 Diese Funktion des kulturellen und normativen Referenzpunktes, der trotz des sich stetig verringernden Entwicklungsabstands zwischen China und Taiwan und trotz der politischen Rivalität nach wie vor existiert, macht das Thema auch und gerade unter diesen Vorzeichen interessant. Denn auf der einen Seite *  Prof. Dr. (NTU) Georg Gesk (葛祥林), Professur für Chinesisches Recht, Fachbereich Rechtswissenschaft, Universität Osnabrück. 1  Vergleiche in dieser Hinsicht in diesem Band u. a.: Liu Shaojun, Die Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses und der Strafanerkennung durch den Strafverfolgten und deren institutionelle Garantien, Fn. 22 und 23.

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sehen wir da­raus, wie weit die Situation auf dem chinesischen Festland nicht blindlings gegebenen Formen des westlichen Rechts folgt. Ebenso sehen wir, dass China kein Spielball der eigenen kulturellen Tradition ist, sondern wie sich auf dem Fundament einer historisch sehr ähnlichen Gesellschaft unterschiedliche Antworten auf ähnliche Probleme bilden. Wir können dadurch ersehen, wie Entwicklungen nicht der Tatsache geschuldet sind, dass es sich um eine durch die chinesische Kultur geprägte Gesellschaft handelt, sondern wie diese sich als eine Konsequenz real existierender institutioneller Strukturen und damit als Konsequenz unterschiedlicher politischer Entscheidungen ergibt. Aus Sicht des Autors würde daher etwas fehlen, würde auf die vergleichende Darstellung der taiwanischen Situation in diesem Band verzichtet.

II. Typen der Verständigung im taiwanischen Strafprozess Bevor wir uns aber dem Thema weiter nähern, müssen wir festhalten, dass der Begriff der „Verständigung“ im taiwanischen Strafprozessrecht einer Klärung bedarf. Wenn wir normative Bestimmungen und die Wirklichkeit der Strafverteidigung einander gegenüber stellen, so können wir auf einer empirischen Ebene den Begriff der Verständigung – also der Absprachen zwischen den Verfahrensbeteiligten bzw. zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten, welche vor dem Urteil (oder vor der Anklage) erfolgen und welche auf materiell- und prozessrechtliche Anpassungen im konkreten Fall abzielen – in mehrere unterschiedliche Formen unterteilen. Die erste und rechtlich am engsten eingeschränkte Form der Verständigung vollzieht sich im sogenannten Verständigungsverfahren (協商程序), welches sich in Taiwan nach Anklage und mit Billigung des Gerichts zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem bzw. dessen Verteidiger stattfindet. Ziel dieser Verständigung ist in prozessualer Hinsicht eine zeitliche Abkürzung des Verfahrens, welche auf der einen Seite ein Schuldeingeständnis des Angeklagten erfordert und welche auf der anderen Seite eine gewisse Sanktionsmilderung zulässt. Somit wird das verfahrensrechtliche Interesse an Optimierung des Ressourceneinsatzes innerhalb der Justiz mit einem materiellrechtlichen Vorteil für den Angeklagten ergänzt, was für beide Seiten einen Anreiz bietet, eine Verständigung zu suchen. Es handelt sich gewissermaßen um ein Programm des „weniger Arbeit für weniger Strafe“. Strukturell vollkommen parallel gibt es eine zweite Form der Verständigung beim Antrag der Staatsanwaltschaft auf Strafbefehl (簡易處刑), denn auch hier ist die Anerkennung der Schuld und die Anerkennung eines verminderten Strafrahmens Voraussetzung für eine Verfahrensbeschleunigung. Eine weitere strukturelle Parallele finden wir beim Beschluss über die Einstellung des Ermittlungsverfah-



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rens (不起訴處分), der sich teilweise als einstweilige Verfahrenseinstellung ( 緩起訴處分) unter der Bedingung des Eingeständnisses eines Fehlers (認錯) und einer tatsächlichen oder symbolischen Wiedergutmachung vollzieht. Somit ist auch hier der Verzicht auf eine schwerere Sanktionsform (strafrechtliche Anklage und potentielles Schuldurteil) mit einem Eingeständnis des Angeklagten, dass er etwas falsch gemacht hat, verbunden. Das Resultat für die Justiz im weiteren Sinne (also für Gerichte und für die Staatsanwaltschaft) ist in jedem der oben angeführten Fälle eine erhebliche Verfahrensbeschleunigung, denn es erlaubt die Erledigung vieler Fälle entweder noch vor der Anklageerhebung, oder nach erfolgter Anklage unter Auslassung eines großen Teils der Hauptverhandlung und unter generellem Verzicht auf das Recht zur Berufung. In jedem Fall ist daher mit der Verständigung eine sehr viel schnellere Erledigung der relevanten Fälle verbunden. Diese drei Formen der tatsächlichen Verständigung besitzen alle ihre normativen Grundlagen im Strafprozessgesetz und weisen parallele Strukturen auf: Eingeständnis eines Fehlers auf der Handlungsebene, im Gegenzug hierfür Vereinfachung bzw. Beschleunigung der Verfahrensschritte (und damit der Belastungen durch einen Prozess) sowie Minderungen in der Sanktionierung bis hin zum Verzicht auf strafrechtliche Sanktionierung, welcher etwa durch eine Verfahrenseinstellung erreicht wird. All diesen Formen eines erweiterten Verständigungsbegriffs gemeinsam ist die Grundlage in einer gefestigten materiell-rechtlichen Subsumtion. Es wird immer davon ausgegangen, dass der materiell-rechtliche Vorwurf und die Beweismittel, auf denen sich dieser Vorwurf gründet, zu einer potentiellen oder tatsächlichen Verurteilung des Angeklagten ausreichen. Auch der Beschuldigte bzw. der Angeklagte geht von der Richtigkeit dieser Subsumtion und von dem erheblichen Risiko, verurteilt zu werden, aus, sonst – so bringt die herrschende Meinung vor – bräuchte er sich ja nicht auf eine Verständigung einzulassen. Wird also versucht, eine Verständigung zustande zu bringen, dann liegt der Fokus der Verhandlungen nicht auf der Frage, ob der Angeklagte im Fall einer anstehenden Verurteilung ein zu bestrafendes (oder im Fall der Verfahrenseinstellung zumindest ein strafbares) Verbrechen begangen hat, sondern nur, ob er sich zu dieser Straftat (oder dem ihm zur Last gelegten Fehlverhalten) bekennt und ob er sich bei der Frage der Sanktionierung dieses Verhaltens mit den Justizbehörden einigen kann. Eine weitergehende Dimension der Verständigung findet sich in Gesprächen mit Anwälten und Staatsanwälten ebenso, wie in Berichten von Gerichtsschreibern und anderen Personen, die mit dem Alltag der taiwanischen Strafjustiz zu tun haben. Sie wird aber in der Literatur als rechtlich nicht erlaubt und damit als faktisch nicht existent dargestellt. Dennoch findet die faktische Verständigung über die Klassifizierung der strafrecht­lichen Hand-

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lung (Welches Verbrechen hat die widerrechtliche Handlung verwirkt?)2 und über die Zahl der einem Beschuldigten oder Angeklagten zur Last gelegten Verbrechen mehrere normative Nischen, in der sie durchaus legal existieren kann. Die eine Existenzmöglichkeit liegt in der Kompetenz des Gerichts zur Änderung des angeklagten Verbrechens (變更起訴法條), eine weitere in der Möglichkeit des Klageverzichts, wenn das nicht angeklagte Verbrechen relativ unbedeutend zur Haupttat ist, was sich im taiwanischen Strafprozessrecht aus dem Opportunitätsprinzip ableiten lässt. Somit ist es dem Angeklagten bzw. dem Beschuldigten möglich, ein Geständnis unter der Voraussetzung anzubieten, dass der Paragraph, nach dem er angeklagt wird, geändert wird oder dass er nur einen Teil der in Frage stehenden Verbrechen eingesteht, um dadurch einen Anklageverzicht bezüglich anderer Straftaten zu erwirken. Da sich diese Form der Verständigung meist vor Anklageerhebung abspielt und da sie sich im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen als rechtlich mög­ liche Ermessensentscheidung darstellt, sind die legalen Freiräume hierfür durchaus gegeben, sie werden aber nicht unter dem Begriff der Verständigung öffentlich diskutiert. All diese unterschiedlichen Formen der Verständigung sollen im Folgenden kurz skizziert und in ihrer Problematik verfahrensrechtlich eingeordnet werden. Insbesondere soll dabei gezeigt werden, wie die allmähliche Implementierung dieser unterschiedlichen Formen der Verständigung in den vergangenen Jahrzehnten zu einer grundsätzlichen Änderung in der Einstellung der Strafjustiz gegenüber so zentralen prozessrechtlichen Grundsätzen wie dem materiellen Wahrheitsanspruch oder der Gesetzlichkeit des Strafverfahrens geführt haben.

III. Verfahren der Verständigung nach der Anklage Die Verständigung nach der Anklage wurde im Zuge der taiwanischen Strafprozessrechtsreform vom 7.5.2004 in die taiwanische Strafprozessordnung (刑事訴訟法3, im Folgenden kurz tStPO) eingeführt. Sie findet sich 2  Siehe in diesem Zusammenhang etwa die Kritik von Lin Yu-Hsiong (林鈺雄), der den potentiellen Zusammenhang der Änderung des Anklageparagraphen und der Verständigung zwischen den am Verfahren Beteiligten erkennt, der aber selbst die in diesem Zusammenhang fehlende Problematisierung beklagt; Lin Yu-Hsiong (林鈺雄), Strafprozessrecht (刑事訴訟法), Bd. 2, 11. Aufl., Taipei: Yuanchao Publ. (元照出版 社), S. 358. 3  Wenn hier von „taiwanischer“ Strafprozessordnung gesprochen wird, dann soll dies nicht die Tatsache verleugnen, dass es sich damit ursprünglich um das Strafprozessgesetz der Republik China handelt, was in seiner ersten Fassung am 28.7.1928 und in seiner zweiten Fassung am 29.11.1934 für ganz China verabschiedet wurde. Es handelt sich also um ein Gesetz, was auf dem chinesischen Festland noch vor dem



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seither in Buch 7-1 Verständigungsverfahren (第七之一編 協商程序), wo sie in den §§ 455-2 bis 455-10 tStPO gesetzlich geregelt ist. Sie wird durch § 455-2 I tStPO auf die Verständigung im gerichtlichen Verfahren (also nach der Anklage) eingeschränkt und lässt ausdrücklich nur eine bedingte Strafminderung zu. Eine Verständigung über die Subsumtion (Welches Verbrechen wird durch die Tathandlung des Angeklagten verwirkt?) bzw. über die Anzahl der dem Angeklagten zur Last gelegten Verbrechen (wie wir es etwa in der Realität des US-amerikanischen plea bargain finden)4 sind hier vom Gesetzgeber eindeutig nicht vorgesehen. Die normative Einschränkung des Ziels der Verständigung in § 455-2 I tStPO entfaltet innerhalb der Wissenschaft des taiwanischen Strafprozessrechts eine paradigmatische Wirkung, denn man geht dadurch generell davon aus, dass damit jede Art der Verständigung nur auf den Sanktionsrahmen bezogen sein kann.5 Die Frage, bis zu welcher Höhe eine Sanktionsminderung stattfinden soll, ist nicht ausdrücklich geregelt. Dennoch finden sich im Gesetzestext direkte Anhaltspunkte: eine Verständigung ist nur dann möglich, wenn es sich nicht um schwere Verbrechen handelt. Letztere sind nach dem Katalog des § 455-2 I Satz 1 tStPO durch die Sanktionsschwere der gesetzlich angedrohten Strafe bestimmt: einerseits werden Verbrechen, welche mit Todesstrafe, unbefristeter Freiheitsstrafe, oder mit mindestens drei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind (死刑、無期徒刑、最輕本刑三年以上有期徒刑之罪) von der Möglichkeit der Verständigung ausgeschlossen. Andererseits sind die Sanktionen, welche am Ende einer erfolgreichen Verständigung stehen können, nach den Bestimmungen des § 455-4 II tStPO auf Bewährungsstrafe, Freiheitsstrafe von unter zwei Jahren, Strafarrest, oder Geldstrafe eingegrenzt. Eine Verständigung im Falle von schwerem Diebstahl, deren gesetzliche Strafe nach § 321 I taiwanisches Strafgesetzbuch (刑法, im Folgenden kurz tStGB) auf mehr als 6 Monate und weniger als fünf Jahre Freiheitsstrafe (六 月以上五年以下有期徒刑) festgesetzt ist, kann dem Angeklagten also im chinesisch-japanischen Krieg und vor dem chinesischen Bürgerkrieg verfasst und eingeführt wurde, was aber erst seit Ende des zweiten Weltkriegs im Zuge der Entkolonialisierung Taiwans auf dieser Insel zur Anwendung kam. Da es aber seit dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs im Jahr 1949 in seiner Rechtswirklichkeit auf Taiwan begrenzt ist, soll es hier der Einfachheit und der allgemeinen Verständlichkeit halber als taiwanische Strafprozessordnung bezeichnet werden. 4  Vgl. die Ausführungen des Legal Information Institute der Cornell University, welche explizit die Möglichkeit eines Verzichts auf Anklagepunkte als Teil eines Deals zwischen Angeklagtem und Staatsanwaltschaft aufführen, Plea bargain | Wex | US Law | LII / Legal Information Institute (cornell.edu), zuletzt aufgerufen am 28.11.2022. 5  Vgl. hierzu die Gegenüberstellung des taiwanischen Systems mit dem US-amerikanischen; Lin Yu-Hsiong (林鈺雄), Strafprozessrecht (刑事訴訟法), Bd. 2, 11. Aufl., Taipei: Yuanchao Publ. (元照出版社), S. 334 f., Fn. 2.

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Extremfall bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder – relativ ausgedrückt – mehr als die Hälfte der Höchststrafe ersparen. Zusätzlich ist die Voraussetzung für die Verhängung einer Bewährungsstrafe nach § 74 I tStGB eine Freiheitsstrafe von maximal zwei Jahren, ein Strafarrest oder eine Geldstrafe. Somit ist es zumindest theoretisch möglich, dass in jedem Verfahren, in dem offiziell eine Verständigung zustande kommt, am Ende maximal eine Bewährungsstrafe steht und somit die Chance besteht, dass der Angeklagte von einem Haftantritt verschont bleibt. Somit hat der Angeklagte ein deutliches Eigeninteresse, sich auf eine Verständigung einzulassen, denn sie bietet ihm die Chance einer deutlichen Sanktionsminderung, dazu wären bei einem Verzicht auf Freiheitsentzug Vorteile wie Wahrung des sozialen Umfelds, Möglichkeiten einer geregelten Arbeit nachzugehen etc. gegeben. Der Einschnitt in den Lebenszusammenhang des Angeklagten ist also im Fall einer erfolgreichen Verständigung im Vergleich zu einer Freiheitsstrafe wesentlich geringer. Die Verständigung wird im Fall des taiwanischen Strafprozessrechts nach § 455-2 I tStPO zwischen Staatsanwaltschaft einerseits und Angeklagtem und Verteidiger andererseits ausgehandelt. Sie findet außerhalb der öffent­ lichen Verhandlung statt und muss von der Staatsanwaltschaft beim Vorsitzenden Richter beantragt werden. Sind sich beide Seiten über den konkreten Inhalt der Verständigung einig, kann der Staatsanwalt einen Antrag an das Gericht stellen, die Verfahrensart zu ändern, so dass das Gericht in der Folge das Verfahren des Urteils nach Verständigung (認罪協商而為判決) anwendet. Dabei darf die Verhandlungsdauer, welche für ein Erreichen der Verständigung angesetzt ist, 30 Tage nicht überschreiten (§ 455-2 III tStPO). Wird im Rahmen der Verständigung ein Ausgleich mit dem Opfer vereinbart, muss das Opfer dem Ergebnis der Verständigung zustimmen (§ 455-2 II tStPO). Es ist also – anders als im Deutschen Strafprozessrecht, wo die ernsthafte Bemühung um einen Täter-Opfer-Ausgleich bereits eine sanktionsmildernde Wirkung entfalten kann – in solch einem Fall notwendig, dass das Opfer tatsächlich befriedigt wird, selbst wenn es unrealistische Vorstellungen von dem hat, was als Schadensersatz adäquat sein sollte. Das Gericht ist dazu angehalten, sein Urteil im Rahmen der Vereinbarung zur Verständigung zu treffen, wie sie zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem erreicht wurde (§ 455-4 II tStPO). Nur für den Fall, dass die Ausschlusskriterien des § 455-4 I tStPO vorliegen oder dass der Angeklagte von seinem Recht auf Widerruf der Verständigung Gebrauch macht (§ 455-3 II tStPO), darf davon abgewichen werden. Entscheidet das Gericht aus besagten Gründen gegen ein Verständigungsurteil, kommt es zu einem allgemeinen Verfahren mit mündlicher Verhandlung. Damit es soweit kommt, müssen also entweder im Aktenstudium oder bei der Anhörung des Angeklagten, Dinge zu Tage kommen, welche die Fairness des Verfahrens und damit nicht nur die Rechte des Angeklagten, sondern mindestens ebenso die Autorität der



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Justiz beschädigen. Die Anhörung des Angeklagten ist dabei eine Pflicht, welcher der Richter innerhalb von 10 Tagen genügen muss (§ 455-3 I tStPO). Ein wichtiger Punkt dieser Anhörung ist die Belehrung des Angeklagten nicht nur über seine Rechte, sondern insbesondere auch über den Verlust wichtiger prozessualer Rechte, so etwa grundsätzlich der Verlust des Rechts auf Berufung, (mit der einzigen Ausnahme, dass eine Verständigung aus den objektiven Gründen des § 455-4 I tStPO nicht hätte stattfinden dürfen, vgl. § 455-10 I tStPO). Doch nicht nur die Inhalte der Verständigung beschränken das Gericht, auch die Ausstellung des Urteils ist zumeist im Wesentlichen auf Dinge beschränkt, welche die Staatsanwaltschaft bei Einreichung der Anklageschrift bereits vorgebracht hat. Dabei wird auf dem Wege der Verweisung (§ 455-8 tStPO) die Möglichkeit des Urteils im Strafbefehlsverfahren eröffnet, wonach bei der Erstellung des Urteilstextes direkt Passagen aus dem Antrag der Staatsanwaltschaft bzw. aus der Anklageschrift übernommen werden dürfen (§ 454 I (5) tStPO). Zwar kann das Gericht hiervon abrücken, wenn es dies für geboten hält, jedoch ist dies aus Gründen der Prozessökonomie in der Praxis nur selten der Fall. Trotz dieses Verzichts auf eine tatsächliche mündliche Verhandlung und trotz einer gerichtlichen Prüfung der Beweismittel, die sich zumeist auf einen schriftlichen Abgleich der von der Staatsanwaltschaft beigebrachten Akte beschränkt, ist das Urteil in der Form, in der dies durch die Vereinbarung der Verständigung vorgezeichnet wird, bindend. Die Bindungswirkung ist so stark, dass auch nachträglich bekanntgewordene Tatsachen eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu Ungunsten des Angeklagten ausschließen. Wie der Oberste Gerichtshof (最高法院) in Taiwan eindeutig festgestellt hat, darf das erkennende Gericht keine „einseitige“ nachträgliche „Korrektur“ des Urteils durchführen. Auch für den Fall, dass nachträglich neue Tatsachen eine Strafschärfung begründen könnten, ist dies nach Meinung des Gerichts kein Grund für eine tatsächliche Strafschärfung bzw. für eine Wiederaufnahme des Verfahrens.6 Begründet wird dies mit dem verfassungsrechtlichen Vertrauensschutz, dass also der Angeklagte ein begründetes legitimes Interesse daran hat, auf die Rechtlichkeit des Urteilsspruchs zu vertrauen, selbst wenn er u. U. während der Verhandlung, welche zur Verständigung geführt hat, sein Verbrechen nur insoweit eingestanden hat, wie es den Ermittlungsbehörden bekannt war. Hieraus wird deutlich, wie zentral die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft für das Resultat der Verständigung sind. Die inhaltliche 6  Siehe Urteil des Taiwanischen Obersten Gerichtshofs Nr. 102 (2014) zur Außerordentlichen Revision (最高法院 103 年度台非字第 102 號 判決) vom 2.4.2014.

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Kontrolle der Verständigung beschränkt sich überwiegend auf eine formale Kontrolle, bei der lediglich durch das Gespräch zwischen vorsitzendem Richter und Angeklagtem sichergestellt wird, dass es sich bei der Verständigung um eine freiwillige Vereinbarung handelt und dass der Angeklagte weiß, welche Rechte er durch sein mit der Verständigung unweigerlich verknüpftes Geständnis verliert. Dabei ist zu beachten, dass der Verlust des Rechts auf Berufung höchstrichterlich anerkannt ist. Der Taiwanische Oberste Gerichtshof hat in seinem Urteil7 vom 9.1.2020 ausdrücklich festgestellt, dass der Verlust des Rechts auf Berufung auf den freien Willen des Angeklagten zurückzuführen ist und daher keinen Verstoß gegen gegen Art. 14 V ICCPR darstelle. Die Formulierung des § 455-4 I (5) tStPO, nach der eine Verständigung dann ausgeschlossen ist, wenn der wirkliche Sachverhalt mit dem Sachverhalt, wie er in der Verständigung beschrieben ist, offensichtlich nicht übereinstimmt ( 事實顯與協商合意之事實不符者), bedeutet im Umkehrschluss, dass es ausreicht, wenn sich lediglich „geringe“ Diskrepanzen zwischen Beweislage und Verständigung ergeben. Auch deshalb ergibt sich daher keine Notwendigkeit zu einer mündlichen Verhandlung, wenn der Fall zwar einige Lücken oder Begründungsprobleme aufweist, wenn diese Unklarheiten aber eben nicht so gravierend sind, dass sie zu einer „offensichtlichen NichtÜbereinstimmung“ führen. So geht die normative Konstruktion der §§ 455-2 bis 455-10 tStPO davon aus, dass nur solche Fälle zu einer Verständigung gelangen, in denen die Frage, ob ein Verbrechen begangen wurde, nicht wirklich fraglich ist, denn sonst bestünde für den Angeklagten kein Interesse an einer Verständigung. Dass dies nicht unbedingt der Fall sein muss, da der Angeklagte angesichts der Möglichkeit einer Geld- oder Bewährungsstrafe beschließt, dass dies die „günstigere“ Möglichkeit ist, der Belastung eines Verfahrens zu entgehen, kann nicht ausgeschlossen werden. Da auch nur dann ein Anwaltszwang besteht, wenn die zu erwartende Strafe mehr als sechs Monate beträgt und bislang nicht zur Bewährung ausgesetzt wird (§ 455-5 I tStPO), ist es in geringeren Fällen sehr wahrscheinlich, dass ein Angeklagter über keinen Rechtsbeistand verfügt, keine juristischen Fachkenntnisse vorweisen kann und sich daher in keiner Weise darüber klar ist, ob eine „blinde“ Zustimmung zur Verständigung für ihn wirklich die bessere Alternative ist. Wenn wir vor diesem Hintergrund § 140 Beachtenswertes bei der Bearbeitung von Straffällen durch die Staatsanwaltschaft (檢察機關辦理刑事訴訟

7  Siehe Urteil des Taiwanischen Obersten Gerichtshofs in der Berufung Nr. 3974 (2019) (最高法院 108 年度台上字第 3974 號) vom 9.1.2020.



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案件應行注意事項8 in der Fassung vom 7.8.2020, erlassen von der Abteilung für Staatsanwaltschaft des Justizministeriums) betrachten, dann geht man an dort offensichtlich von der Zuverlässigkeit der Ermittlungsergebnisse aus, denn das Augenmerk liegt nicht etwa auf der Richtigkeit der Subsumtion des Sachverhalts unter einen bestimmten Tatbestand, sondern auf der Adäquanz der Schuld mit dem Ergebnis der Verständigung und mit der Einschätzung der Chancen auf Resozialisierung. Überspitzt formuliert könnte man sagen: wer leiden will, muss leiden – eine materielle Überprüfung der Verständigung durch Justizorgane ist nicht vorgesehen. So können wir an diesem Punkt festhalten, dass die Verständigung nach erfolgter Anklage sich dennoch zwischen Angeklagtem und Staatsanwaltschaft vollzieht, dass der Richter im Wesentlichen nur eine formelle Überprüfung der erzielten Verständigung durchführt. Somit ist die Verständigung gesetzlich als eine solche normiert und wird offiziell als Verständigung mit Eingeständnis der Schuld (認罪協商) bezeichnet. Sie zeichnet sich in ihrer Wirkung durch eine für den Angeklagten günstigen Sanktionsschere aus: wer geständig ist und sich auf eine Verständigung einlässt, der kann mit einer milderen Strafe rechnen. Ist also ein Fall nach Anklage bereits vor Gericht anhängig, dann kann die Staatsanwaltschaft unter der Voraussetzung, dass (1) die Staatsanwaltschaft das Opfer um seine Meinung befragt, dass (2) der Angeklagte seine Schuld eingesteht und (3) einem Verständigungsverfahren zustimmt, einen Antrag an das Gericht stellen, das Verfahren für die Dauer der Verständigung einzustellen, um in außergerichtlichen Verhandlungen zu einem Ergebnis zu kommen, das dem Angeklagten eine geringere Bestrafung und der Justiz ein kürzeres Verfahren beschert. Wird dieses Verhandlungsergebnis vom Richter im Urteil autoritativ bestätigt, dann kann ein Verfahren sehr schnell zu Ende sein (§ 455-2 tStPO). Befragt man Anwälte, Staatsanwälte und Richter nach der Akzeptanz des Verfahrens, dann ist der einhellige Tenor der, dass insbesondere solche Angeklagte, die bereits Erfahrung mit der Strafjustiz gemacht haben, von unterschiedlichen Arten des Verständigungsverfahrens Gebrauch machen, ja dass sie u. U. von sich aus einen Antrag an die Staatsanwaltschaft stellen, um diese zu einem Antrag auf Strafbefehl oder zu einem Antrag auf Verständigung zu bewegen. Der Grund hierfür liegt offensichtlich darin, dass diese wohl in der Verständigung die einzige Möglichkeit sehen, für sich im Verfahren eine relative Begünstigung zu erwirken. Für Angeklagte, die sich erst­ malig in einem Strafverfahren befinden, ist es nur schwer einsehbar, dass sie 8  Siehe https://mojlaw.moj.gov.tw/LawContent.aspx?LSID=FL010166, aufgerufen am 30.11.2022.

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durch ein Eingeständnis ihrer Schuld mehr für sich erreichen, als durch eine sture Verweigerungshaltung. Ein weiterer wichtiger Punkt, der für einen Angeklagten meist schwer erfassbar ist, liegt in dem Umfang der zu erwartenden Strafe. Wie hoch das Gericht in einem vergleichbaren Fall die Strafzumessung ansetzt, ist für eine Person ohne Kenntnis der juristischen Praxis nur unter großen Schwierigkeiten erfahrbar. Deshalb fordert § 455-5 I tStPO, dass eine Verständigung ohne Verteidiger nicht stattfinden darf. Entweder hat der Angeklagte einen Wahlverteidiger, oder das Gericht muss ihm einen Pflichtverteidiger für die Verständigung an die Seite stellen. Es handelt sich hier eindeutig um eine Abweichung von den üblichen Grundsätzen für die Pflichtverteidigung. Diese setzt üblicherweise erst ab einer gesetzlich bestimmten Mindeststrafe von drei Jahren Freiheitsentzug ein. Jedoch ist die Verständigung auf Fälle eingegrenzt, bei denen die gesetzlich bestimmte Mindeststrafe unter drei Jahren Freiheitsentzug liegen muss – sie liegt also genau außerhalb der gesetzlich bestimmten Grenze zur Pflichtverteidigung. Mit einem Verteidiger neben sich kann dann der Angeklagte tatsächlich abschätzen, ob die Auflagen, die ihm aus einer Verständigung erstehen, (die Möglichkeiten, die § 455-2 I tStPO aufführt, reichen von Entschuldigung beim Opfer und Zahlung von Schadensersatz, über das Eingeständnis der Schuld, bis hin zur Anerkennung des Strafrahmens), tatsächlich eine „Vergünstigung“ gegenüber der zu erwartenden Strafe ohne Verständigung darstellt. Die Probleme, die sich aus der Formulierung, dass die Staatsanwaltschaft vor der Entscheidung für einen Antrag auf Verständigung „das Opfer um seine Meinung fragen“ soll, ergeben, sind eindeutig, denn die Formulierung hat keinerlei Rechtsfolgen für den Fall bestimmt, dass das Opfer gegen eine Verständigung ist. Dennoch erweckt die Ermessensentscheidung der Staatsanwaltschaft meist keine Einwände, denn das Verständigungsverfahren ist eine Möglichkeit, dem Opfer schnell und unbürokratisch zu einem Schadensersatz zu verhelfen. Problematisch wird es erst dann, wenn die Einschätzung der Staatsanwaltschaft und die Erwartung des Opfers auseinanderklaffen, oder – noch schlimmer – wenn das Opfer aus dem Schaden einen unverhofften Gewinn schlagen möchte (eine Situation, die im Chinesischen mit der sprichwörtlichen Formulierung der Löwe sperrt den Rachen weit auf 狮子大 开口 bezeichnet wird), den die Staatsanwaltschaft ablehnt, sodass sie dem Angeklagten eine Verständigung auch ohne Einwilligung des Opfers, aber mit Auflage der Opferentschädigung anbietet. In diesem Fall kann es zum offenen Konflikt zwischen Staatsanwaltschaft und Opferinteresse kommen. Die Staatsanwaltschaft hätte damit gegen § 455-2 II tStPO verstoßen, denn sie hätte innerhalb der Verständigung eine Opferentschädigung ohne Einwilligung des Opfers verfügt. Allein – die Gründe, unter denen der Richter eine Verständigung ablehnen muss, führen unter § 455-4 tStPO diesen Fall nicht



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auf. Er könnte lediglich als „offensichtlich ungerechtfertigt“ auf Grund von § 455-4 I (3) tStPO abgelehnt werden. Ob das im Einzelfall geschieht, ist bei den Vorzügen der Schnelle des Verfahrens und der grundsätzlich fehlenden Berufungsmöglichkeit durchaus zweifelhaft. § 455-10 I tStPO hat den Fall des Verstoßes gegen das Verbot der „offensichtlich ungerechtfertigten“ Verständigung nicht in die ausdrücklich aufgezählten, außerordentlichen Berufungsgründe aufgenommen.

IV. Verfahren der Verständigung vor der Anklage Die zweite Form der Verständigung findet sich mittelbar im Verfahren des Strafbefehls (簡易處刑), der ebenfalls unter der Voraussetzung des Eingeständnisses der Schuld die Möglichkeit einer Verfahrensbeschleunigung bei gleichzeitiger Verringerung der Sanktionierung anbietet. Sie ist in Buch 7 tStPO bzw. in den §§ 449–455-1 tStPO geregelt. Da die Sanktionsformen des Strafbefehls nach § 449 III tStPO auf Bewährungsstrafe, ersatzweise Geldstrafe, ersatzweisen Community Service oder auf Geldstrafe eingegrenzt sind, wird durch den Strafbefehl nach tStPO eine freiheitsberaubende Sanktion zunächst grundsätzlich ausgeschlossen. Einzig für den Fall, dass der Verurteilte gegen die Sanktionsauflagen verstößt oder rückfällig wird, wäre die Durchführung einer Freiheitsstrafe oder eines Strafarrests mit ihrer freiheitsberaubenden Wirkung möglich. Ist also die Staatsanwaltschaft trotz Geständnis und Kooperationsbereitschaft des Angeklagten (被告) nicht bereit, das Verfahren zumindest vorläufig einzustellen, und sind die Schwere des Verbrechens sowie die Schwere der Schuld kein Grund dafür, auf einer Anklage zu bestehen, dann gibt es die Möglichkeit zur Verständigung zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem, an deren Ende ein Antrag auf Erteilung eines Strafbefehls (簡易判決處 刑) steht. Wie bei der Verständigung nach der Anklage und wie bei der vorläufigen Einstellung des Verfahrens unter Auflagen, ist auch beim Verfahren des Strafbefehls (§ 449 I tStPO) in der Mehrheit der Fälle die „Eingangsvoraussetzung“, dass sich der Angeklagte zu seiner Schuld bekennt, dass er also ein Geständnis ablegt (認罪). Nur in Fällen, in denen die Beweislage sehr eindeutig ist, in der jedoch keine schwere Strafe für notwendig erachtet wird, kann von dieser Voraussetzung abgewichen werden (§ 499 I tStPO). Dazu kann der Angeklagte – so er ein Geständnis abgelegt hat – von sich aus die Staatsanwaltschaft auffordern, beim Gericht einen Strafbefehl zu beantragen (451 III tStPO). In letzterem Fall wird vom Angeklagten zusätzlich erwartet, dass er den Strafrahmen, den die Staatsanwaltschaft für angemessen hält (einschließlich der Möglichkeit einer Bewährungsstrafe), anerkennt, bevor

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die Staatsanwaltschaft dann auf Grund dieser Übereinstimmung der Sicht beider Seiten, der Sicht des Angeklagten und der Sicht der Strafverfolgungsbehörden, einen Antrag auf Erstellung eines Strafbefehls an das Gericht überweist (§ 451-1 I tStPO). Dabei umfasst die gemeinsame Einschätzung von Staatsanwaltschaft und Angeklagtem (1) den Sachverhalt, (2) die Subsumtion unter einen bestimmten Tatbestand und (3) die damit korrespondierende Sanktionsvorstellung. Der Antrag auf Strafbefehl im vereinfachten Verfahren wird dann inklusive Strafzumessung vom Einzelrichter in einem üblicherweise schriftlichen Verfahren (also im „Schnelldurchgang“) entschieden; nur wenn der Richter eine Anhörung des Angeklagten für notwendig erachtet, ist eine Anhörung desselben ausnahmsweise möglich (§ 499 I S2 tStPO). Selbst das Urteil kann als Produkt der Verfahrensvereinfachung in der Art und Weise ausgefertigt werden, dass der Richter den Strafantrag der Staatsanwaltschaft mit copy and paste als Urteil verwendet (§ 454 tStPO). Dass dies so erlaubt ist, hat zwei gedankliche und wertmäßige Voraussetzungen: erstens war der Angeklagte geständig und hat sich mit der Strafe einverstanden erklärt, weswegen das weitere Interesse an einer Aufklärung der materiellen Wahrheit gering ist. Der Einzelrichter prüft daher lediglich die Aktenlage, ob das, was die Staatsanwaltschaft mit dem Einverständnis des Angeklagten behauptet, plausibel ist. Zweitens ist die Strafe so eingeschränkt, dass sie üblicherweise ohne institutionelle Beschränkung der persönlichen Freiheit auskommt, dass also weder Freiheitsstrafe, noch Strafarrest, noch Freiheitsentzug auf Grund von Zahlungsunfähigkeit bei Geldstrafe angeordnet wird. Also geht man davon aus, dass die Rechtsfolge für den Angeklagten gering genug ist, um das Verfahren zur Not ohne weitere Anhörung des Angeklagten abschließen zu können. Das Risiko, dass die Glaubwürdigkeit der Justiz dadurch untergraben wird, dass eine Person über Jahre ungerechtfertigt der Freiheit beraubt wird, ist nicht vorhanden. Daher ist weder im Sinne der Menschenrechte, noch im Sinne der Autoritätswahrung staatlicher Macht ein weiteres Aufklärungsinteresse vorhanden. Drittens handelt es sich zudem um Strafe, so dass man davon ausgeht, dass auch Opfer und Gesellschaft in ihrem Interesse an der Bestrafung von Verbrechen zufrieden gestellt sind. Obwohl auch hier die Möglichkeit besteht, dass ein Angeklagter nicht daran glaubt, dass er als einer, der mit der Materie nicht vertraut ist, den Richter von seiner Unschuld überzeugen kann und daher den Strafbefehl (der ja in der Sanktion eingeschränkt ist) als das kleinere Übel betrachtet, sind kaum Vorwürfe von Fehlurteilen auf Grund der juristischen „Waffenungleichheit“ von Angeklagtem und Anklage bekannt geworden. Ein wichtiger Grund hierfür mag darin liegen, dass die Prozesshilfe in den vergangene beiden Jahrzehnten sehr stark ausgeweitet wurde, so dass insbesondere sozial schwache Bevölkerungskreise, die tendenziell entweder nicht die Mittel haben, sich



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einen Anwalt zu „leisten“, oder die die Wichtigkeit eines Anwalts auch bei Verhandlungen über eine Verfahrenseinstellung nicht erfassen, im Allgemeinen einen Verteidiger zur Seite haben.

V. Verständigung und Verfahrenseinstellung Die dritte Form der Verständigung beruht ausschließlich auf der Abwägungskompetenz der Staatsanwaltschaft und hat eine Verfahrenseinstellung zur Folge. Eine solche Verfahrenseinstellung ist nach tStPO aus mehreren Gründen möglich. Zum einen muss die Staatsanwaltschaft ein Verfahren einstellen, wenn absolute oder relative Verfahrenshindernisse vorliegen (§ 252 tStPO). Das ist dann auch keine Verhandlungssache, sondern eine Amtspflicht. Wenn aber das in Frage stehende Verbrechen einen gesetzlichen Strafrahmen mit einer Mindeststrafe von weniger als drei Jahren hat und dazu Gründe für eine vorläufige Verfahrenseinstellung (緩起訴處分) vorliegen, (§ 253-1 tStPO bezieht sich hier insbesondere auf die materiell-rechtlich bestimmten Gründe des § 57 tStGB und das „öffentliche Interesse“), dann kann eine vorläufige Verfahrenseinstellung von ein bis drei Jahren verfügt werden. Diese Verfahrenseinstellung unter Auflagen ist also nur möglich, wenn sich der Angeklagte9 gegenüber dem Verbrechen, das ihm vorgeworfen wird, für „schuldig“ bekennt, wenn die materiell-rechtlich bestimmte Schwere des Verbrechens nicht dagegen steht und wenn sich nicht anderweitig ein wichtiges Verfolgungsinteresse ergibt. Zwar ist das nur bedingt eine Schuld im prozessualen Sinne, denn es gibt kein Schuldurteil, aber dadurch dass der Angeklagte sich meist bereit dazu erklärt, den von ihm begangenen Schaden wieder gut zu machen, wird dies in den Augen der Öffentlichkeit dennoch als eine Anerkennung von Schuld in dem Sinne akzeptiert, dass der Täter sich zur Ursache des von ihm herbeigeführten Schadens bekennt und diesen auch wieder behebt. Dies bietet dem Angeklagten und damit der Verteidigung in der Mehrzahl der Fälle die Möglichkeit, mit der Staatsanwaltschaft Verhandlungen über eine Verfahrenseinstellung – u. U. unter den von § 253-2 tStPO bestimmten Auflagen – zu verhandeln. Da es sich bei § 57 tStGB um Strafzumessungsgründe handelt und sich unter diesen auch Dinge wie das Nachtatverhalten des Täters (§ 57 (10) tStGB) aufgeführt sind, ergibt sich damit ein weites 9  Solange es in einem Fall nur polizeiliche Ermittlungen gibt, spricht die tStPO nur von einem Tatverdächtigen (犯罪嫌疑人), sobald aber die Ermittlungsakten an die Staatsanwaltschaft übergeben werden, wird aus dem Verdächtigen der Angeklagte (被告), obwohl zu diesem Zeitpunkt durchaus noch unklar ist, ob die Staatsanwaltschaft tatsächlich Anklage erhebt. Dennoch ist erst ab diesem Zeitpunkt eine Verfahrenseinstellung möglich.

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Feld: erklärt sich der Angeklagte z. B. dazu bereit, dem Opfer materielle und immaterielle Schäden zu ersetzen (§ 252-2 I (3) tStPO), ist er zu CommunityService bereit (§ 252-2 I (5) tStPO), ist er Willens, einem Befehl des Opferschutzes Folge zu leisten (§ 252-2 I (7) tStPO), dann kann die Staatsanwaltschaft feststellen, dass das aktuelle Verfolgungsinteresse für eine Anklage nicht ausreicht. Der Angeklagte und sein Verteidiger haben also die Möglichkeit, in mehrere Richtungen zu verhandeln, denn einigt er sich mit dem Opfer, wäre dies genauso ein „positives Nachtatverhalten“, wie die Akzeptanz lediglich symbolischer Wiedergutmachungshandlungen (so etwa drei Tage Gartenarbeit an einer Schule, um damit Trunkenheit am Steuer aufzuwiegen). Da am Ende aber das Verhandlungsergebnis zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem über die Frage der Anklage oder Verfahrenseinstellung entscheidet, besteht immer die Möglichkeit, dass die Staatsanwaltschaft das als „objektiv“ deklarierte öffentliche Interesse über das oft als „subjektiv“ erfahrene Interesse des Opfers stellt,10 und dann auf Grund eines geringen öffentlichen Verfolgungsinteresses auch gegen die Interessen des Opfers das Verfahren einstellt. Da die Erfolgsquote der Klageerzwingungsverfahren in Taiwan sehr niedrig sind, sind demnach auch die Chancen des Opfers, sich gegen eine solche Verfahrenseinstellung zur Wehr zu setzen, denkbar gering. Ein Problem, das sich in dieser Situation dennoch stellt, ist die kulturelle Tendenz der Mehrheit der Bevölkerung, sich einem Strafverfahren nach Möglichkeit schnell entziehen zu wollen, selbst wenn dazu ein gewisses Maß an Selbstverleugnung gehört. Im Sprichwort heißt das Geld zahlen und ein Unglück minimieren (花錢消災); im Verfahren kann das heißen, dass der Angeklagte sich schuldig bekennt und Auflagen akzeptiert, weil er davon ausgeht, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren unter diesen Voraussetzungen einstellen wird, ohne dass der von den Ermittlungsbehörden Verdächtigte sich irgendein strafrechtlich relevantes Verhalten vorzuwerfen hätte. Wenn es dann aber zu einem Klageerzwingungsverfahren kommt, dann kann eben dieses Geständnis der entscheidende Puzzlestein sein, der ein Gericht dazu bringt, dem Klageerzwingungsverfahren stattzugeben. Glücklicherweise sprechen die Fallzahlen gegen eine Realisierung dieses Problems.

10  Dass die Präferenz der Staatsanwalt, die sich in solchen Entscheidungen offenbart, in den allermeisten Fällen vom Gericht geteilt wird, zeigt sich an der sehr geringen Erfolgsquote der Klageerzwingungsverfahren nach §§ 256 ff. tStPO.



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VI. Verständigung über Qualität und Quantität von Verbrechen Bei der Verständigung kann der Inhalt dessen, was zwischen Staatsanwaltschaft und Angeklagtem verhandelt wird, sich durchaus auf mehr erstrecken, als auf Schuldeingeständnis und Strafzumessung11, denn wenn z. B. die Anklage auf versuchte Vergewaltigung (§ 221 II tStGB) lautet, der Angeklagte aber unter der Voraussetzung, dass die Anklage auf gewaltsame sexuelle Nötigung (強制猥褻罪) nach § 224 tStGB geändert wird, der Schuld zustimmt, dann ist es durchaus möglich, dass das Opfer dem ebenfalls zustimmt, um dadurch vor einer erneuten Befragung vor Gericht geschützt zu sein. Da beide Paragraphen im Strafmaß deutlich unterschiedlich sind, wären für den Angeklagten mit einer solchen Änderung der Anklage deutliche Vorteile verbunden. Ob der Richter dann nach § 455-4 V tStPO eine Diskrepanz zwischen Beweismitteln und Tat feststellt und auf Grund dessen die Verständigung ablehnt, ist zwar theoretisch möglich, ist aber auf Grund der Tatsache, dass keine Beweismittelerhebung im Gerichtssaal stattfindet und daher kein Zwang zum Screening der Verständigung besteht, in der Praxis nicht wahrscheinlich. Da auch bei allseitigem Einvernehmen keine Seite eine Berufung einlegen wird, ja dass der Verzicht auf Berufung für den Angeklagten sogar Voraussetzung des Verständigungsverfahrens ist (§ 455-10 I tStPO), wird solch ein Urteil auf jeden Fall Bestand haben. So wundert es nicht, dass auf die Frage an taiwanische Staatsanwälte oder erfahrene Strafverteidiger, wann sie mit wem über welche Dinge konkret verhandeln, sich sehr oft und sehr schnell ein diverses Bild ergibt: zeitlich liegt der „Deal“ manchmal vor der Anklage, manchmal danach, inhaltlich verhandelt werden Einstellung des Verfahrens, Art des Verbrechens, Zahl der Verbrechen(staten) und Höhe des Strafmaßes. Dies scheint zunächst überraschend, denn der Abschnitt 7-1 „Verständigungsverfahren“ (协商程序), der am 7.4.2004 in die taiwanische Strafprozessordnung eingefügt worden war, scheint genau diese große Varianz der Themen, die verhandelbar sind, einzuschränken. Themen wie Einstellung des Verfahrens, Art des Verbrechens oder Zahl der Verbrechen(shandlungen) sollten demnach eigentlich ausgeschlossen sein. Dass sie es dennoch nicht sind, hat strukturelle Gründe; diese liegen im gesetzlich abgesicherten Ermessensspielraum der Akteure ebenso, wie in der relativen Distanz von materiellem und prozessualem Strafrecht begründet.

11  Vgl. z. B. Chang Li-Ching (張麗卿), Theorie und Praxis des Strafprozessrechts (刑事訴訟法理論與運用), 17. Aufl., Taipei: Wunan Publ. (五南出版社), 2022, S. 604.

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VII. Schlusswort Wir sehen an diesem System, dass die gesetzlichen Vorgaben zur Einschränkung der Verständigung auf einen verfahrensmäßigen Deal – Schuldeingeständnis im gerichtlichen Urteilsverfahren gegen Verringerung des Strafrahmens – in dieser Weise nicht realistisch sind. Erstens ist die Verständigung nicht auf das gerichtliche Urteilsverfahren eingeschränkt, so dass eine faktische Verständigung vor der Anklage nicht an die Eingrenzung auf den Deal Geständnis gegen Strafminderung gebunden ist. Zweitens ermöglicht die geringe materielle Kontrolldichte der Verständigung nach der Anklage auch in diesem Verfahrensabschnitt eine Verständigung, die über die engen Grenzen des § 455-2 I (1)–(4) tStPO hinausgeht. Der Inhalt der Verständigung kann also auch nach der Anklage wesentlich vielschichtiger sein, als dies vom taiwanischen Gesetzgeber beabsichtigt war. Aus den – zugegeben sehr vereinfachten Ausführungen zur Verständigung im taiwanischen Strafprozessrecht – wird aber dennoch deutlich, dass diejenigen Faktoren, die das Verständigungsverfahren vor Missbrauch schützen, nicht so sehr das Insistieren auf Freiwilligkeit des Schuldeingeständnisses ist, sondern dass wir insbesondere drei Dinge beachten müssen: erstens darf der Unterschied dessen, was als Verfahrensfolge für den Angeklagten in Frage kommt, ein bestimmtes Maß nicht überschreitet, denn sonst wird jeder in der Versuchung sein, eine Verständigung einzugehen, um sich vor Schlimmerem zu schützen. Zweitens muss der Angeklagte spätestens dann einen Verteidiger neben sich wissen, wenn die Rechtsfolge der Verständigung in einer institutionalisierten, die Freiheit einschränkenden Sanktion besteht. Da der nicht juristisch informierte Angeklagte in keiner Weise abschätzen kann, was überhaupt verhandelbar ist und was für ein Ergebnis einen „Erfolg“ für die eigene Seite darstellt, ist er auf die Hilfe eines Anwalts unbedingt angewiesen. Drittens wäre es wichtig, das Verhandlungsergebnis auf Plausibilität zu prüfen. Ob dies in Taiwan, wenn der Richter das Ergebnis – wenn überhaupt – dann nur nach Aktenlage überprüft, ausreichend ist, müsste in weiteren Untersuchungen geklärt werden. Tatsache ist, dass die Notwendigkeit, das Urteil im Verständigungsverfahren nach § 455-2 tStPO selber schreiben zu müssen, im Gegensatz zu der Kopie des Strafantrags nach § 454 II tStPO, eher zu einer Auseinandersetzung mit den Einzelheiten des Falles führen würde. Doch eben dieser Zwang zur materiellen Auseinandersetzung ist nicht erkennbar gewollt. Das taiwanische Prozessrecht geht hier eindeutig davon aus, dass die Interessen des Opfers bei der Einstellung des Verfahrens durch ein Klageerzwingungsverfahren berücksichtigt werden können. Dass ansonsten immer die Entschädigung des Opfers Teil einer Verständigung sein kann, so dass jede potentielle Kritik aus der Gesellschaft durch die relativ offensive Sorge um Opferinteressen abgefangen werden kann. Ansonsten geht der Ge-



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setzgeber ebenso wie die Strafjustiz davon aus, dass eine intensive Auseinandersetzung mit der materiellen Wahrheit und damit ein massiver Einsatz justitieller Ressourcen auf ernsthaften Konfliktlagen aufbauen muss: entweder ist der materielle Konflikt schwerwiegend, da eine hohe Haftstrafe droht, oder der prozessuale Konflikt wiegt schwer, weil Anklage und Verteidigung sich in der Frage der Schuld bzw. Unschuld diametral gegenüberstehen. Während die Anklage ein Votum für die Schuld des Angeklagten abgibt, entgegnet die Verteidigung mit der Einrede des „unschuldig“. Beides ist im Fall der Verständigung nicht gegeben: der materielle Konflikt führt zu einer geringfügigen Sanktion, der prozessuale Konflikt ist ebenfalls minimal, denn Anklage und Verteidigung sind sich einig, dass der Angeklagte schuldig ist. Daraus wird gefolgert, dass der Einsatz prozessualer Ressourcen stark verringert werden kann. Wenn dann noch die Pflichtverteidigung beim Verfahren nach §§ 455-2 ff. tStPO bestimmt ist, dann wird die bewusste und informierte Entscheidung des Angeklagten als Begründung dafür angeführt, dass ein Recht auf Berufung nur im Ausnahmefall existiert.