Die transzendentale Phänomenologie als philosophische Grundlagenforschung,: dargestellt am Leitfaden der Husserlschen Wissenschaftstheorie. Vorarbeit zu einem phänomenologischen Positivismus [1 ed.] 9783428461288, 9783428061280


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German Pages 278 Year 1986

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Die transzendentale Phänomenologie als philosophische Grundlagenforschung,: dargestellt am Leitfaden der Husserlschen Wissenschaftstheorie. Vorarbeit zu einem phänomenologischen Positivismus [1 ed.]
 9783428461288, 9783428061280

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WOLFGANG H. GLEIXNER

Die transzendentale Phänomenologie als philosophische Grundlagenforschung

ERFAHRUNG UND DENKEN Schriften zur Förderuns der Beziehunsen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften

Band 70

Die transzendentale Phänomenologie als philosophisme Grundlagenforschung dargestellt am Leitfaden der Husserlschen Wissenschaftstheorie Vorarbeit zu einem phänomenologischen Positivismus

Von

Dr. Wolfgang H. Gleixner

DUNCKER

&

HUMBLOT

/

BERLIN

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Glelxner, Wolfgang H.: Die transzendentale Phänomenologie als philosophische Grundlagenforschung: dargest. am Leitf. d. Husserlschen Wiss.-Theorie; Vorarbeit zu e. phänomenolog. Positivismus / von Wolfgang H. Gleixner. - Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Erfahrung und Denken; Bd. 70) ISBN 3-428-06128-4

NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

@> 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin U Satz: Werksatz Marschall, Berlln 45; Druck: Wemer Hildebrand, Berlln 65

Prlnted in Gennany ISBN 3-428-06128-4

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ...................................................

11

1.

Einführung in die phänomenologische Grundlagenforschung ........

14

1.1 1.2

Die transzendental-phänomenologische Wissenschaftstheorie ..... Die phänomenologische Grundlagenforschung und die transzendental-phänomenologische Wissenschaftstheorie ................. Der Begriff der "phänomenologischen Grundlagenforschung" .... Die wissenschaftliche Reduktion der phänomenologischen Grundlagenforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die phänomenologische Grundlagenforschung als operationale Philosophie ............................................. Die operationale Reduktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die traditionelle Philosophie und die phänomenologische Grundlagenforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die phänomenologische Grundlagenforschung und die Daseinsphänomenologie .......................................

14

1.3 1.4 1.5 1.5.1 1.6 1.7

15 17 18 20 21 22 24

2.

Husserls Begriff von "Philosophie" und "Wissenschaft" ...........

31

2.1 2.2 2.3 2.4

Die Philosophie als ,Universalwissenschaft' .................. Die ,formal' notwendigen Bedingungen für Wissenschaft ........ Die Phänomenologie als ,radikale' Wissenschaftslehre .......... Die ,radikale' phänomenologische Wissenschaftslehre und die jeweiligen Einzelinhalte der positiven W,issenschaften ............... Die Einklammerung des Geldungsanspruchs der Wissenschaften und das ,Einleben' in das wissenschaftliche Streben und Handeln ..... Die phänomenologische Grundlagenforschung unterscheidet sich von jeder möglichen Anthropologie der Forschung ................ Phänomenologische Grundlagenuntersuchungen im Unterschied zur psychologisch ausgerichteten Forschung ..................... Die Teilung der Wissenschaftsidee in eine philosophische Wissenschaft und in dogmatische Wissenschaften ................... Die phänomenologische Grundlagenforschung als letztwissenschaftliche Wissenschaft ......................................

31 32 32

2.5 2.6 2.7 2.8 2.9

34 35 37 40 44 46

6

Inhaltsverzeichnis

3.

Zur Geschichte der phänomenologischen Grundlagenforschung

3.1

Zwei ,externe' Voraussetzungen einer phänomenologischen Grundlagenforschung ...... '. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Grundlagenforschung als Antwort auf Grundlagenkrisen .... Die Herausforderung der Philosophie des 19. Jahrhunderts durch die naturwissenschaftliche Forschung .......................... Die Herausbildung einer wissenschaftlichen Philosophie im 19. Jahrhundert ............... '" . .. . ... ..... . .... ... ... .. .. . Bernhard Bolzano (1781-1848) ............................ Franz Brentano (1838-1913) .............................. Gottlob Frege (1848-1925) ............................... Die ontologische und die transzendentale Phänomenologie ......

3.2 3.3 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.5

4.

47 47 47 49 54 57 60 63 65

Relativistische Tendenzen in der Philosophie: Psychologismus, Naturalismus und Historizismus als Gegenpositionen zur phänomenologischen Grundlagenforschung ....................................

70

4.1 4.2 4.3

Der Psychologismus Der Naturalismus Der Historizismus .................•....................

70 75 80

5.

Philosophie als strenge Wissenschaft ...............•......•..

84

5.1

Notwendigkeit und Eigenart einer wissenschaftlichen Philosophie ......................................•........ Das Verfehlen einer wissenschaftlichen Philosophie in der vor-transzendental-phänomenologischen Philosophie ................. . Die transzendentale Phänomenologie als strenge Wissenschaft ... . Weltanschauungsdenken, Wissenschaft und strenge Wissenschaft .............................................. . Die phänomenologische Grundlagenforschung als ,strenge' und ,absolute' Wissenschaft ................................... . Die transzendentale Reflexion als ,exklusives' Merkmal der transzendental-phänomenologischen Grundlagenforschung ......... .

5.2 5.3 5.4 5.5 5.6

6.

Die transzendentale Phänomenologie und die Transzendental-Philosophie ................................................ .

6.1

Unbedingte Voraussetzungslosigkeit als Grundbedingung für eine Transzendentalphilosophie .............................. . Die phänomenologische Grundlagenforschung als ,voraussetzungslose' , ,nicht-konstruierte' Bewußtseinsphilosophie ............ .

6.2

84 86 87 87 89 92

96 96 98

Inhaltsverzeichnis 7.

Die phänomenologische Reduktion als die notwendige und die hinreichende Bedingung für die Gewinnung des ,absoluten' Grundes ......

7.1

Die transzendentale Reduktion als Versuch einer wissenschaftlichen Selbstentfaltung der Vernunft ............................. Die transzendentale Reduktion als grundlagenphilosophische Operationsvorschrift .. '. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der natürliche Standpunkt ............................... Die ,radikale' Einklammerung der Geltung ,bewußtseinstranszendenter' Realität .......................................... Die ,Entsubjektivierung' der Geltungsproblematik ............. Die phänomenologische Einstellung ........................ Der Begriff der "phänomenologischen Voraussetzungslosigkeit" .. . Die Wissenschaft vom ,Anfang' ........................... Die ,Erste Philosophie' als universale Bewußtseins-wissenschaft ... Das allein sinnvolle Forschungsfeld eröffnet die transzendentale Reduktion .............................................. Die ,neue' Wissenschaft .................................

7.2 7.3 7.4 7.4.1 7.5 7.6 7.7 7.8 7.9 7.10

7 100 100 101 104 108 109 112 113 114 116 117 121

8.

Eine Beschreibung der positiven Wissenschaften aufgrund der vollzogenen transzendentalen Reduktion ............................

8.1 8.1.1

Die Verweisungseinheit: ,Wahrheit' - ,sinnvoll gelebtes Leben' ... Die phänomenologische Forderung nach einer Verknüpfung von ,Wahrheit' und ,Wahrhaftigkeit' ........................... Phänomenologisches ,Einleben' in die Wissenschaften .......... Der Restbegriff von "Philosophie" und" Wissenschaft" .......... Phänomenologische Thesen zur gegenwärtigen Lage der Philosophie und Wissenschaft ...................................... Eine historische Basis des phänomenologischen Wissenschaftsverständnisses ........................................... Die phänomenologische Einteilung der Philosophie in eine ,erste' und ,zweite' Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122

9.

Grundlinien einer phänomenologischen Wissenschaftsgeschichte ....

132

9.1

Die ,phänomenologische Destruktion' der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte ....................................... Husserls Auseinandersetzung mit philosophie-historischen Positionen ................................................. Husserls Eigenart der Philosophiegeschichtsschreibung ......... Allgemeine Charakteristik der Grundposition der Wissenschaften der Neuzeit .............................................. Galileo Galilei (1564-1642) ............................... Die naturalistischen Tendenzen der neuzeitlichen Wissenschaft ...

8.2 8.3 8.3.1 8.4 8.5

9.1.1 9.1.2 9.2 9.2.1 9.2.2

122

123 124 125 127 129 131

132 134 136 138 141 144

8 9.2.3

Inhaltsverzeichnis

9.2.4 9.2.5 9.2.6

Der Skeptizismus als Gegenposition der philosophischen Grundlagenforschung ............................................ Rene Descartes (1596-1650) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . DavidHume(l711-1776) ................................ Immanuel Kant (1724-1804) ..............................

145 146 149 151

10.

Lebenswelt und Wissenschaft ..............................

154

10.1

10.7

Der phänomenologische Begründungsanspruch und die vermeintliche Selbstgenügsamkeit der positiven Wissenschaften .............. Die ,Nicht-Hintergehbarkeit' eines theoretischen Entwurfs ....... Die positiven Wissenschaften als ,naiver Realismus' ............ Die Anknüpfung der phänomenologischen Grundlagenforschung an die Lebenswelt ........................................ Die Lebenswelt und die Forderung nach der Letztbegründung .... Die Lebenswelt als Korrelat der ,schlichten Wahrnehmung' ...... Die phänomenologische Wahrheit und die positiv-wissenschaftliche Richtigkeit ........................................... Die ,wissenschaftliche Welt' als Korrelat der ,wissenschaftlichen Richtigkeit' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lebenswelt als transzendentaler Leitfaden für eine phänomenologische Grundlagenforschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lebenswelt und die ,alltägliche Lebensumwelt' ... . . . . . . . . . .

11.

Einführung in den zweiten Teil der Arbeit .....................

170

12.

Die wissenschaftliche Tatsache .............................

172

12.1 12.1.1

Der Begriff "wissenschaftliche Tatsache" .................... Mögliche Deutungsformen des Begriffs ,,(wissenschaftliche) Tatsache" ...............................................

172

13.

Die wissenschaftliche Tatsache und die Methode der Wesenserfassung .............................................

13.1

Die Phänomenologie als methodische Anweisung für eine philosophische Grundlagenforschung ............................... Der Begriff "Sache" in einer transzendental-phänomenologischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die historische Epoche .................................. Die eidetische Reduktion einer phänomenologischen Grundlagenforschung ist kein ,Essentialismus' ...................•........ Positive Wissenschaft und invariante Erkenntnis .............. Der un-metaphysische Wesensbegriff einer phänomenologischen Grundlagenforschung ...................................

10.1.1 10.2 10.3 10.4 10.4.1 10.5 10.5.1 10.6

13.2 13.3 13.4 13.5 13.6

154 155 156 158 159 161 162 164 166 167

173

175 175 176 178 182 184 186

Inhaltsverzeichnis 13.7

9

Die Rechtfertigung ,allgemeiner Sätze' als Ziel einer phänomenologischen Grundlagenforschung .............................. Der Husserlsche Intuitionismus ........................... Die Methode der freien Variation .......................... Die Methode der freien Variation bei Ernst Mach........ ......

187 189 193 196

14.

Die wissenschaftliche Tatsache als Problem der phänomenologischen Zeitanalysen ..........................................

199

14.1

Der Zeithorizont als Grundbedingung einer möglichen Forschung ... ... ..... ... .. ... . ...... ... ......... ... ...... Zeitanalysen bei Ernst Mach und Hans Reichenbach ......... . . Zeitanalyse als transzendental-philosophisches Problem ......... Der transzendentale Ursinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die objektive oder kosmische Zeit und die phänomenologische Zeit.. ...... ..... ... ..... . ... ... . ... ............ ... ..

13.8 13.9 13.9.1

14.2 14.3 14.4 14.4.1

199 202 204 205 206

15.

Die wissenschaftliche Tatsache als Problem der Intentionalität .....

209

15.1 15.2

Grundbedingung für eine Logik des reinen Bewußtseins..... .... Die fundamentale Relevanz des Begriffs »Intentionalität" für eine phänomenologische Grundlagenforschung ................... Die ausnahmslose Gültigkeit der Intentionalität ............... Die Intentionalität als sinnstiftende Funktion schlechthin ....... Die phänomenologische Bedeutung von ,objektiv' und ,Objektivität' ............................................... Der ,intentionale Gegenstand' als transzendentaler Forschungshalt ................................................. Die Intentionalität und die faktische Offenheit der Forschung ....

209

15.3 15.3.1 15.4 15.5 15.6 16.

Die wissenschaftliche Tatsache als Problem der wissenschaftlichen Einstellung ..............................................

16.1

Die unmittelbaren Gegebenheitsweisen der, wissenschaftlichen Tatsachen' ................................................ Der Begriff der »Selbstkonstitution" ........................ Die ,natürliche Einstellung' und die ,wissenschaftliche Einstellung' ............................................. Die Fundierungsordnung der Bewußtseinsakte ... . . . . . . . . . . • . .

16.2 16.3 16.4

210 213 214 215 217 218

221 221 223 223 226

17.

Die notwendige Beziehung zwischen Region, Wissenschaft und Ontologie ..................................................

229

17.1

Der notwendige Rückgang einer philosophischen Wissenschaftstheorie auf Bewußtseinsleistungen .............................

229

10

Inhaltsverzeichnis

17.2 17.3

Region und positive Wissenschaft .......................... Regionale Ontologie und positive Wissenschaft ...............

229 231

18.

Die formale Ontologie und eine phänomenologisch gereinigte formale Logik.. ..... .............. ... ........ ............. . ..

234

18.1 18.2 18.3

18.13

Der Begriff "formal-ontologische Wahrheit" .................. Das phänomenologische Forschungsprogramm ............... Die Bedeutung der mathematischen Logik für einen phänomenologischen Positivismus ..................................... Eine formal-apriorische Wissenschaftslehre und eine transzendentale Logik ............................................... Wissenschaftliche Philosophie und formale Logik. . . . . . . . . . . . . . Das Problem einer Selbstbegründung der formalen Logik ....... Die mögliche Begründung einer formalen Logik durch die philosophische Grundlagenforschung ............................... Die Begründung der formalen Logik in einer transzendental-phänomenologischen Grundlagenforschung ....................... Die formale Logik als Leitfaden für eine transzendental-phänomenologische Forschung ..................................... Das transzendentale Bewußtsein als Geltungsgrund der formalen Logik ............................................... Die Begründung der formalen Logik als Kritik an ihren tradierten Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Logik als prinzipielle Wissenschaftslehre ................. Die formale Logik als adäquater Ausdruck der Vernunft ........ Die Notwendigkeit einer transzendentalen Reflexion ,in' der formalen Logik ............................................... Die phänomenologische Grundlagenlogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19.

Zusammenfassung der systematischen Ergebnisse ...............

255

20.

Thesen zu einem phänomenologischen Positivismus ..............

259

20.1

Die Phänomenologie Husserls als Vorbereitung eines phänomenologischen Positivismus .................................... Die Notwendigkeit einer philosophischen Grundlagenforschung im 20. Jahrhundert .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der phänomenologische Positivismus als Kritik des logischen Empirismus durch eine kritisch aufgearbeitete Phänomenologie .......

263

Literaturverzeichnis ...........................................

265

18.4 18.5 18.6 18.7 18.7.1 18.8 18.9 18.9.1 18.10 18.11 18.12

20.2 20.3

234 234 235 236 237 238 240 241 242 244 244 245 246 251 252

259 260

Einleitung Die transzendentale Phänomenologie Husserls kann als philosophische Grundlagenforschung verstanden und gewürdigt werden. Dieses Verständnis der transzendentalen Phänomenologie wird im folgenden entwickelt. Es geht nicht um eine Rekonstruktion der Phänomenologie Husserls. Obwohl es für eine Arbeit in diesem Rahmen ungewöhnlich sein mag, werden systematische Absichten verfolgt. Somit soll keine historische Untersuchung über Husserl vorgelegt werden, sondern ein grundlagen-philosophisches Konzept. das auf der Husserlschen Phänomenologie aufruht und darauf aufbaut. Von begriffsgeschichtlichen Fragen muß abgesehen werden. I Die transzendentale Phänomenologie wird daraufhin untersucht, welche Möglichkeiten sie für die Durchführung einer philosophischen Grundlagenforschung bietet. Diese Möglichkeiten werden knapp, beinahe thesenartig beschrieben. Insofern stellen diese Ausführungen formale. aber notwendige Prolegomena für eine noch ausstehende phänomenologische Grundlagenforschung dar. Hierzu ist es erforderlich, die schon oft einzeln abgehandelten zentralen Begriffe der transzendentalen Phänomenologie in das Gesamtkonzept einer phänomenologischen Grundlagenforschung einzuarbeiten. Es wird nicht notwendig sein, diese Begriffe in ihrer vollen Bedeutungsbreite darzustellen. Vorgestellt werden soll derjenige Gehalt, der für den Ausbau einer philosophisch-wissenschaftlichen Grundlagenforschung von systematischem Wert ist. Die vorgelegte Auswahl ist Interpretation und will es ausdrücklich sein. Eine rein historisch-philologische Husserlinterpretation ließe sich im übrigen angesichts der kaum mehr zu überschauenden Literatur über die Husserlsche Phänomenologie m. E. nicht mehr rechtfertigen. 2 Im Zentrum dieser Arbeit steht nicht ein einzelnes Werk Husserls. Die Intention der Phänomenologie zu einer philosophischen GrundlagenforI Vgl. dazu: W. Biemel. Die entscheidenden Phasen der Entfaltung von Husserls Philosophie. In: Zeitschrift für philosophische Forschung/13 (1959). S. 187-213. Wolfgang Hermann Müller. Die Philosophie Edmund Husserls nach den Grundzügen ihrer Entstehung und nach ihrem systematischen Gehalt. Bonn 1956. ~ Darüberhina us gilt der Satz von Heinrich Rombach: "Eine H usserl- Philologie ist noch keine Phänomenologie. (... ) Eine logische Rede über Phänomenologie ist kein Ersatz für eine phänomenologische Rede über Logik. Wer nicht phänomenologisiert, sagt phänomenologisch nichts." In: Wahrheit und Verifikation. Hg. H. L. van Breda. Den Haag 1974. S. 224.

12

Einleitung

schung wird aus den verschiedenen verfügbaren Veröffentlichungen Husserls gleichermaßen herausgelesen und (sozusagen) ideal konstruiert. Philosophische Grundlagenforschung meint nicht nur Grundlagenforschung der positiven Wissenschaften, also Wissenschaftstheorie. Wissenschaftstheorie ist nur eine Form der konkreten Anwendung der philosophischen Grundlagenforschung. Jedoch die Idee der transzendentalen Phänomenologie als einer philosophischen Grundlagenforschung ist von Edmund Husserl am gründlichsten am Beispiel einer 'philosophischen Wissenschaftstheorie' ausgearbeitet worden'. Sie soll als Leitfaden dienen, die transzendentale Phänomenologie als philosophische Grundlagenforschung darzustellen. Diese Arbeit versteht sich insgesamt als Vorarbeit zu einem phänomenologischen Positivismus. Das ausgearbeitete Konzept einer solchen (möglichen) Form der Phänomenologie gelangt nicht mehr zur Darstellung. Das (Fern)Ziel eines phänomenologischen Positivismus ist eine Synthese von transzendentaler Phänomenologie. analytischer Philosophie und logischem Empirismus zu einer neuen, streng wissenschaftlichen Grundlagenforschung. Es ist der Versuch, neben der ontologischen Phänomenologie und der Daseinsphänomenologie einen phänomenologischen Positivismus zu etablieren, der auf der transzendentalen Phänomenologie Husserls aufbaut. Bevor dies geleistet werden kann, muß für die Phänomenologie gezeigt werden, daß sie für eine solche philosophische Grundlagenforschung überhaupt tauglich ist. Welche Ansprüche an den logischen Empirismus zu stellen sind, wird einer eigenen Arbeit vorbehalten. Im folgenden geht es ausschließlich um die Phänomenologie Husserls. Gezeigt werden muß in diesem ersten Schritt zu einem phänomenologischen Positivismus, daß die transzendentale Phänomenologie auch ohne idealistisch-metaphysische Anleihen gelesen werden kann. 4 Struktur und Analyse der Husserlschen Phänomenologie soll in eine beinahe 'positivistisch' anmutende Form gebracht werden. Es wird sich herausstellen, daß auch diese Lesart dem phänomenologischen Anliegen entspricht. Der phänomenologische Positivismus ist die hermeneutische Vorgabe für die vorgelegte Auslegung der transzendentalen Phänomenologie. Aus diesem Grunde folgt die Arbeit in erster Linie ihrem eigenen systematischen Anspruch. Dieser muß für sich selbst sprechen. Husserls Denken wird nicht J Diese ausgezeichnete Form von Wissenschaft wird von Husserl verschieden benannt. Z. B.: 'Transzendentale Bewußtseinswissenschaft' (EP 1/72); 'transzendentale Grundwissenschaft' (EP 1/186); 'letztwissenschaftliche Wissenschaft' (ebd.); 'absolut begründete Wissenschaft' (EP 1/190); 'universale Prinzipienwissenschaft' (EP 11203). 4 Dadurch sollen die klassischen Husserl-Deutungen keinesfalls abgewertet werden.

Einleitung

13

unter historisch-philologischen Gesichtspunkten expliziert. Aus den verschiedenen Schriften und veröffentlichten Forschungsmanuskripten Husserls werden diejenigen Ansätze 'herausgelesen', die einen Positivismus zu einem phänomenologischen Positivismus ergänzen können. Hieraus aber zu folgern, hier werde dem Husserlschen Denken Gewalt angetan, wäre voreilig. Es wird in allen Schritten besonderer Wert darauf gelegt, eine ausweis bare Textgrundlage in der transzendentalen Phänomenologie selbst aufzuweisen. Die Arbeit ist mit verhältnismäßig zahl- und umfangreichen Anmerkungen versehen, die vor allem Hinweise auf nicht-phänomenologische Literatur geben. Damit soll unterstrichen werden, daß diese Ausführungen sich als Prolegomena für einen noch ausstehenden phänomenologischen Positivismus verstehen. Für dieses Vorhaben ist es angebracht zu zeigen, in welchem Umfange die Phänomenologie innerhalb der allgemeinen Problemgeschichte der Philosophie (vor allem der des 19. und 20. lahrhunderts) steht. Die durch die Phänomenologie vorgelegten Problemlösungen sind nicht immer exklusiv. Dies wird durch die Anmerkungen verdeutlicht. Husserls Gedanke, daß eine volI durchgeführte phänomenologische Philosophie die Arbeit von Generationen sei, muß sehr ernst genommen werden. Seine Äußerung, "uns ist es hier, wie sonst, genug, die Problemgruppen herausgestellt zu haben" (Ideen 11240), solI auch als Programm für diese Untersuchung gelten. An dieser Stelle ist es mir eine angenehme Verpflichtung, Herrn Priv.-Doz. Dr. Pfafferott zu danken. Er hat die Entstehung der Arbeit konstruktivkritisch begleitet und manche wertvolle Anregung gegeben. Was ich Frau Ursula Wermter verdanke, ist schwer in Worte zu fassen. Ihr sei diese Untersuchung gewidmet.

1. Einführung in die phänomenologische Grundlagenforschung 1.1 Die transzendental-phänomenologische Wissenschaftstheorie

Die Wissenschaftstheorie Husserls dient als Leitfaden, um die transzendentale Phänomenologie ihrem eigentlichen Sinn gemäß als philosophische Grundlagenforschung auszulegen. Aber ist der Titel 'Wissenschaftstheorie' im Zusammenhang mit HusserJs Werk überhaupt gerechtfertigt? Der allgemeinen Auffassung nach gelten Denker wie Carnap, Popper, Stegmüller oder Feyerabend als 'Wissenschaftstheoretiker'. Somit werden wissenschaftstheoretische Abhandlungen daran gemessen, ob sie zu deren Werken Vergleichbares in Form und Inhalt bieten. Die transzendentale Phänomenologie hat mit wissenschaftstheoretischen Ausführungen dieser Art nicht viel gemein. Das bedeutet jedoch nicht, daß HusserJ keine Wissenschaftstheorie bietet. Eher ist hieraus zu schließen, daß Wissenschaftstheorien der oben genannten Philosophen die Bedeutung des Begriffs "Wissenschaftstheorie" nicht ausschöpfen. Nach Alwin Diemer lassen sich wenigstens fünf Bedeutungen dieses Begriffs rechtfertigen, und zwar: Wissenschaftsmetaphysik; W issenschaftslo gik; Wissenschaftserkenntnistheorie; Wissenschaftsontologie; Transzendentalphilosophie der Wissenschaft. I All diese Möglichkeiten von Wissenschaftstheorie haben ihre Berechtigung. Husserls Wissenschaftstheorie kann als eine 'Transzendentalphilosophie der Wissenschaft' bezeichnet werden. Dies gilt nur, wenn der Begriff "Transzendentalphilosophie" nicht zu eng an der 'kritischen Philosophie' Kants und seiner Nachfolger gemessen wird. I Vgl. Alwin Diemer: Die Begründung des Wissenschaftscharakters der Wissenschaften im 19. Jahrhundert. Die Wissenschaftstheorie zwischen klassischer und moderner Wissenschaftskonzeption. In: Beiträge zur Entwicklung der Wissenschaftstheorie im 19. Jahrhundert. Hg. Alwin Diemer':Meisenheim a. Glan 1968. S. 7 ff.

1.2 Anwendung der Grundlagenforschung

15

Es empfiehlt sich, für die Wissenschaftstheorie Husserls den Titel transzendental-phänomenologische Wissenschaftstheorie zu verwenden. Es ist ein Ziel dieser Arbeit zu zeigen, daß eine transzendental-phänomenologische Wissenschaftstheorie eine wertvolle Bereicherung für die herkömmlichen Wissenschaftstheorien darstellt. 2

1.2 Die phänomenologische Grundlagenforschung und die transzendental-phänomenologische Wissenschaftstheorie

Die phänomenologische Wissenschaftstheorie ist eine Ausgestaltung der phänomenologischen Grundlagenforschung. Die gen aue Bedeutung der phänomenologischen Grundlagenforschung und ihre Durchführung ist Grundthema dieser Arbeit. Es genügt an dieser Stelle, einige allgemeine Beschreibungen vorzulegen. Die Wissenschaften sind besonders ausgeprägte und daher klar faß- und bestimmbare 'Verhaltungen des Menschen' ..1 Daneben finden sich 'religiöse Handlungen', 'Kunstschaffen' , 'alltägliches menschliches Miteinander' u.ä. Die phänomenologische Grundlagenforschung beansprucht, für all diese menschlichen Handlungsformen den letzten Grund darstellen zu können. 4 Es ist der Versuch, den Sinn zur Sprache zu bringen. Was bedeutet das? Werden nicht 'Grundlagen' zur Genüge in den Einzelwissenschaften betimmt? Diese Art Grundlagen sind nicht das Forschungs2 Bestimmte philosophische Kreise glauben, nur eine empirisch-logistisch aufgebaute Philosophie könnte wissenschaftstheoretisch relevante Ergebnisse beibringen. Eine Änderung dieser Auffassung zeichnet sich ab. Vgl. Kurt Bayertz. Wissenschaft als historischer Prozeß. Die antipositivistische Wende in der Wissenschaftstheorie. München 1980. Werner Flach: Thesen zum Begriff der Wissenschaftstheorie. Bonn 1979. Peter K. Schneider: Die wissenschaftsbegründende Funktion der Transzendentalphilosophie. München/Freiburg 1965. ) Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1972". S. 11. 4 Unter 'letzten Grund' und 'letztmögliche Erkenntnisse' seien Erkenntnisse verstanden, die die formalen Grenzen aufzeigen, über die hinaus keine (wissenschaftlich) sinnvolle Argumentation möglich ist. Das Ziel von letztmöglichen Erkenntnissen sind keine letzten Inhalte (letzten Dinge), sondern (formale) äußerste Sinngrenzen zu ziehen. Diese Deutung von letztmöglichen Erkenntnissen (letztmöglichen Gründen, Fundamenten u. ä.) entgeht der Kritik Wolfgang Stegmüllers am Gebrauch solcher Ausdrücke. Vgl. W. Stegmüller: "erster Grund", "letztes Fundament" sind un-menschliche Wörter (. . . ). Für solche Ausdrücke vermögen wir keine sprachlichen Verwendungsre&eln einzuführen." W. Stegmüller: Metaphysik. Skepsis. Wissenschaft. Berlin usw. 1969-. S. 453. Ein Blick auf die Werke der Phänomenologen zeigt, daß sie sich in dieser Weise als 'Grundlagenforscher' verstanden haben. Z. B.: Adolf Reinach (1883-1917). Über den Ursachen begriff im geltenden Strafrecht. 1905. Hedwig Conrad-Martius (1888-1966): Der Selbstaufbau der Natur. 1961. Edith Stein (1891-1942?): Eine Untersuchun y über den Staat. 1924. Roman Ingarden (1893-1970): Das literarische Kunstwerk. 1965.

16

1. Einführung in die phänomenologische Grundlagenforschung

ziel der phänomenologischen Grundlagenforschung. In ihr soll der 'transzendentale Grund' aufgesucht werden. Somit begreift der Phänomenologe das scheinbar nicht mehr weiter überschreitbare, empirisch gegebene Faktum als Geleistetes, das aus sich heraus nicht verstanden werden kann. Religion, Kunst oder Wissenschaft sind nach dieser Auffassung Korrelate von bestimmten, erforschbaren Bewußtseinsleistungen. Dies meint jedoch nicht, daß die transzendentale Phänomenologie eine 'Psychologie der Forschung' sei. Die Phänomenologie will ausdrücklich eine umfassende doppelpolige Forschungsstrategie vorlegen. Der 'Gegenstand' der phänomenologischen Grundlagenforschung ist sowohl das jeweilige Erfahren und Denken, als auch der gedachte 'Gegenstand' selbst. "AlIes Transzendente, sofern es bewußtseinsmäßig zur Gegebenheit kommt, ist nicht nur nach seiten des Bewußtseins von ihm, z. B. der verschiedenen Bewußtseinsweisen, in denen es als dasselbe zur Gegebenheit kommt, Objekt phänomenologischer Untersuchung, sondern auch, obschon damit wesentlich verflochten, als das Gegebene und in den Gegebenheiten Hingenommene." (Ideen 1/159, 160). Die phänomenologische Wissenschaftstheorie ist eine Anwendungsweise der phänomenologischen Grundlagenforschung. Auch die phänomenologische Wissenschaftstheorie nimmt für sich in Anspruch, eine Sinnstiftung zu vollziehen. Es geht in ihr um die Sinnstiftung der positiven Wissenschaften. Das meint, in der phänomenologischen Wissenschaftstheorie soll ein 'letztes' Verstehen und Klären des Wissenschaftsbetriebs, seiner Leistungen und Leistungsgrenzen erreicht werden. 5 Der phänomenologische Wissenschaftstheoretiker versucht dies durch ein Zurückgehen auf den transzendentalen Grund. Dieser wirkt anonym. Die Sinn stiftung wird so vollzogen, daß die sinnstiftende Leistung der transzendentalen Vernunft sich (gleichsam) 'im' Geleisteten verbirgt. Die phänomenologische Wissenschaftstheorie könnte auch angewandte Phänomenologie genannt werden. Husserl unterscheidet schon im Titel seiner 1913 erschienenen Grundlagenschrift zur transzendentalen Phänomenologie zwischen "reiner Phänomenologie" und "phänomenologischer Philosophie". Eine voll ausgebaute phänomenologische Wissenschaftstheorie ist der letzteren zuzuordnen. Zu ihrer Grundlegung jedoch bedarf es der reinen Phänomenologie. 6

Vgl. Ideen 1/159. Vgl. Martin Heidegger: Die "reine Phänomenologie ist die Grundwissenschaft der durch sie geprägten Philosophie. 'Reine', dies besagt: 'transzendentale Phänomenologie·... M. Heidegger: Mein Weg in die Phänomenologie. In: Zur Sache des Denkens. Tübingen 19762 • S. 84. S 6

1.3 Der Begriff der "phänomenologischen Grundlagenforschung"

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1.3 Der Begriff der "phänomenologischen Grundlagenforschung"

Die transzendentale Phänomenologie soll eine philosophische Grundlagenforschung sein. Der Titel 'Grundlagenforschung' in diesem Sinne ist völlig ungebräuchlich. 7 Man kennt ihn bisher nur im Zusammenhang mit der Mathematik, der Physik und in neuester Zeit auch mit anderen Naturwissenschaften. Vereinfachend läßt sich hier eine zweifache Bedeutung der Bezeichnung 'Grundlagenforschung' herausstellen. Zum einen sollen damit besondere Felder der wissenschaftlichen Tätigkeit ausgegliedert werden. Vor allem sollen diejenigen Untersuchungen der Grundlagenforschung zugeschlagen werden, die sich mit den systematischen, formalen und methodischen Fundamenten der Wissenschaften beschäftigen. Zum anderen bezeichnet man damit ganz allgemein zweckfreie Forschung, deren Forschungsergebnisse nicht für eine unmittelbare Anwendung vorgesehen sind. Beide Bedeutungen können ineinander fließen. 8 Philosophische Grundlagenforschung hat mit diesen einzeIwissenschaftlichen Grundlagenforschungen nichts gemein. Der philosophischen Grundlagenforschung geht es um einen 'Grund', der grundsätzlich nicht mehr überbietbar sein soll. Versteht man es recht (in der von uns vorgeschlagenen Weise), dann könnte man sagen, Forschungsziel ist der 'absolute' Grund. Dieser gilt als umfassender Sinngrund auch für alle Wissenschaften. Der Phänomenologe fragt nach einer möglichen 'Letztbegründung' der Wissenschaften. 9 Die Frage nach der Letztbegründung wird in der Phänomenologie zur Forschung 'nach den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit' wissenschaftlicher Erkenntnis. Das meint: Die Phänomenologie als umfassende Grundlagenforschung löst ihre Aufgabe als eine Form der Transzendentalphilosophie. Erst diese transzendental-philosophische Grundlagenforschung ist Grundlagenforschung im strengen Sinne. IU 7 Der Titel 'Grundlagenforschung' im Zusammenhang mit philosophischen Untersuchungen ist übernommen aus: Max Bense. Philosophie als Forschung. Köln und Krefeld 1947. z. B. S. 7. Ähnlich bei Viktor Kraft: Erkenntnislehre. Wien 1960. S. IV. x Dazu: Wörterbuch. Philosophie und Naturwissenschaft. Hg. Herbert Hörz. Rolf Löther. Siegfried Wollgast. Berlin 1978. S. 642. " Auch Hugo Dingler nennt das 'Letztbegründungsproblem' die eigentliche Zentralfrage aller Philosophie. Vgl. H. Dingler: Der Zusammenbruch der Wissenschaft. Und der Primat der Philosophie. München 1926. S. 19. 111 Vgl. Karl Otto Apel: "Im Gegensatz zur heute vorherrschenden Wissenschaftslogik (Logic of Science) bin ich der Meinung, daß jede philosophische Wissenschaftstheorie die von Kant gestellte Frage nach den transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit der Wissenschaften beantworten muß." K. O. Apel: Die Kommunikationsgemeinschaft als transzendentale Voraussetzung der Sozialwissenschaften. In: Transformation der Philosophie. Bd. 11. Frankfurt/M. 1973. S. 220.

2 Gleixner

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1. Einführung in die phänomenologische Grundlagenforschung

J.4 Die wissenschaftliche Reduktion der phänomenologischen Grundlagenforschung

Husserl fordert für die zu leistende philosophische Grundlagenarbeit eine restlose Verständlichkeit. I I Diese kann nicht durch eine 'Teilaufklärung' der anstehenden Aufgaben erfolgen. Restlose Verständlichkeit meint eine 'restlose' Klärung der Grundlagenproblematik. Dies setzt eine methodische Beschränkung voraus. Sie besteht in einer Vorentscheidung, auf welche Weise restlose Verständlichkeit 'hergestellt' werden kann. Wir legen - Husserl folgend - fest, daß die von uns gesuchte restlose Verständlichkeit ausschließlich durch eine wissenschaftliche Klärung der Grundlagenproblematik geleistet werden kann. In einer philosophischen Grundlagenforschung kann es somit keine 'tiefen esoterischen Spekulationen' geben, etwa gemäß dem bekannten Heideggerschen Satz, daß Philosophie nur etwas für wenige sei. 12 Husserl zufolge kennt echte Wissenschaft, soweit "ihre wirkliche Lehre reicht, keinen Tiefsinn. Jedes Stück fertiger Wissenschaft ist ein Ganzes von den Denkschritten, deren jeder unmittelbar einsichtig, also gar nicht tiefsinnig ist." (Logos/339). IJ Philosophische Grundlagenforschung muß methodisch und sachlich ausweis bar sein. Es ist folglich ein besonderes Augenmerk daraufzu richten, daß in der Darstellung kein 'mystischer', 'mythischer', metaphysischer oder weltanschaulicher Rest stehenbleibt. Die positivistisch ausgerichtete Metaphysikkritik wird in dieser Arbeit (ohne daß es ausdrücklich hervorgehoben wird), sehr ernst genommen. 14 Vgl. CM/120. Vgl. Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik. Tübingen 19644 • S. 8 f. Ll Vgl. Hedwig Conrad-Martius: "Phänomenologie aber ist eine sehr nüchterne Sache, keine mystische Sache, keine Sache der Ekstase. Jedem kann sie aufgehen, ... ". H. Conrad-Martius: Über das Wesen des Wesens. Aus einem Seminar. Schriften zur Philosophie. Dritter Band. München 1965. S. 347. Aber in der Krisis-Abhandlung (§ 4) findet sich eine Stelle, die von der Heideggerschen Auffassung von Philosophie nicht so weit entfernt zu sein scheint. "Es kommt nun eine lange, von Hume und Kant bis in unsere Tage hineinreichende Zeit leidenschaftlichen Ringens, zu einem klaren Selbstverständnis der wahren Gründe dieses jahrhundertlangen Versagens durchzudringen; natürlich eines Ringens, das sich in den ganz wenigen Berufenen und Auserlesenen abspielte, während die Masse der übrigen schnell ihre Formel fand und findet, sich und ihre Leser zu beruhigen." Krisis/9. 14 Dazu z. B. Ernst Topitsch: Vom Ursprung und Ende der Metaphysik. Eine Studie zur Weltanschauungspolitik. Wien 1958. Ders.: Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung. In: Logik der Sozialwissenschaften. Hg. E. Topitsch. Königstein/Ts. 1980 1". S. 15-37. Joseph Petzolds' 'stolzer' Satz hat auch heute noch, trotz der unbezweifelbaren 'Rückschläge', die der Positivismus hinnehmen mußte, Gültigkeit: "Und wer unseren Positivismus widerlegen will, der muß erst durch ihn hindurch. An ihn vorbei gibt es keine haltbare I1

I,

1.4 Die wissenschaftliche Reduktion

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Die philosophische Grundlagenforschung weist sich die Aufgabe zu, nach einer 'Letztbegründung' zu suchen. Damit ist zunächst eine Zielvorgabe gesetzt. Ob Letztbegründung möglich ist, ist keinesfalls schon entschieden. Andererseits steht (zumindest für eine phänomenologische Grundlagenforschung) fest, welchen allgemeinsten Bedingungen eine philosophische Letztbegründung genügen muß. Eine Letztbegründung wäre nur dann geglückt, wenn eine Sinnstiftung vollzogen werden könnte, die keine wie auch immer geartete 'transzendente Prämisse' bemühen müßte. 15 Welch hohen Stellenwert mythische, mystische, metaphysische oder weltanschauliche Erfahrungen auch haben mögen (und tatsächlich haben), dem geforderten transzendental-wissenschaftlichen 'Immanentismus' entsprechen sie nicht. Die Bedeutung solcher Erfahrungen zieht offensichtlich auf etwas anderes, als auf (wissenschaftliche) letztgültige Wissenschaftsbegründung. Mehr soll mit der versuchten Ausklammerung der mythischen, mystischen, metaphysischen oder weltanschaulichen Reste nicht zum Ausdruck gebracht werden. 16 Abwerten wollen (und können) wir sie dadurch keinesfalls. 17

Entwicklung des philosophischen Gedankens. Er schließt sich psychologisch und historisch unausweichlich an die neukantische-naturwissenschaftliche Phase des modernen Denkens an und was über ihn hinaus will, muß so gut auf ihm fußen, wie er sich in historischer Kontinuität an die Vergangenheit anreiht, was er zur Vergangenheit macht." J. Petzoldt: Das Weltproblem von positivistischem Standpunkt aus. Leipzig 1906. S. 3. 15 Vgl. EP 1/37. Dazu auch Joseph Petzoldt: "Das Wunder aber ist das Ende der Wissenschaft". J. Petzoldt: Das Weltproblem vom positivistischen Standpunkt aus. Leipzig 1906. S. 145. Ernst Mach: "So wird die Wissenschaft zur natürlichen Feindin des Wunderbaren, und das erregte Erstaunen weicht bald einer ruhigen Aufklärung und Enttäuschung." E. Mach: Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken. In: PopulärWissenschaftliche Vorlesungen. Leipzig 1903 3 • S. 252, 253. Rudolf Carnap, Hans Hahn, Otto Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung - Der Wiener Kreis. Wien 1929. Wiederabgedruckt in: Otto Neurath: Wissenschaftliche Weltauffassung. Sozialismus und logischer Empirismus. Frankfurt/M. 1979. Vor allem S. 87 ff. Dazu auch: M. Schlick: Gesammelte Aufsätze 1926-1936. Wien 1938. z. B. S. 187. 16 Auch Husserls Bekenntnis zur Metaphysik, das sich vor allem in den letzten Phasen seines Denkens findet, bleibt ausgeklammert. Vgl. dazu die Einleitung zu CM von S. Strasser, S. XXII. Zur notwendigen Ausklammerung weltanschaulicher und politischer Erfahrungen aus der Wissenschaft vgl. auch: Max Weber: Wissenschaft als Beruf. In: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 572-597. 17 Sicher gilt L. Wittgensteins Bemerkung: TLP/6.52. "Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind." 2"

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1. Einführung in die phänomenologische Grundlagenforschung

1.5 Die phänomenologische Grundlagenforschung als operationale Philosophie

Die Phänomenologie kann als eine Ausprägung 'operationaler Philosophie' gedeutet werden. Man darf sich nicht scheuen, diese Bezeichnung zu gebrauchen, obgleich dieser Begriff heute beinahe zu einem Modebegriff geworden ist. 18 Die historische Bedeutung dieses Begriffs, wie sie vor allem durch P. W. Bridgman und H. Dingler festgelegt ist, lassen wir außer Betracht.l~ Unter (phänomenologischem) Operationalismus wollen wir zweierlei verstehen: Zum einen, daß die phänomenologische Grundlagenforschung ihre Ergebnisse aufgrund methodischen Handeins (z. B. Reduktion, Einstellungsänderung, phänomenologische Reflexion) gewinnt. Um das reine Bewußtsein erforschen zu können, müssen genau festgelegte wissenschaftliche Operationen vollzogen werden. Damit ist implizit der Auffassung von Phänomenologie als 'intuitiver Schau' eine Absage erteilt. Eine phänomenologische Position muß durch eine Folge mitteilbarer und nachvollziehbarer Handlungen ausdrücklich gewonnen werden (z. B. gegen die natürliche Einstellung). Theoretische Begriffe wie "reines Bewußtsein", "Wesen" usw. müssen wissenschaftlich 'realisiert' werden können. Diese Realisierbarkeit macht die wissensehaftstheoretische - allgemeiner grundlagentheoretische - Relevanz der transzendentalen Phänomenologie aus. Es muß durch angebbare Handlungsfolgen gezeigt werden, wie die reine Phänomenologie als phänomenologische Philosophie einen Praxis bezug erlangt. Zum anderen wird operationale Philosophie als 'lehrbare Handlung' verstanden. Sie muß in jedem ihrer· Schritte (für jeden Teilnehmer an der wissenschaftstheoretischen Kommunikation) grundsätzlich eingesehen werden können als eine ganz bestimmte Form wissenschaftlicher Denkhandlung. In dieser Denkhandlung entfaltet sich der (für die Wissenschaftsgemeinschaft) erreichbare 'Sinn'. Weiter soll gelten, daß diese lehrbaren Handlungen nicht Selbstzweck sein wollen, sondern der ihnen einliegende Sinn erfordert es, sie anzuwenden. Dasselbe besagt der Satz: Theorie und Praxis dürfen nicht getrennt werden; theoretische und praktische Vernunft sind ein und dieselbe Struktur. Das widerspricht nicht der Feststellung, daß die Grundlagenforschung, wenn sie 'letztgültige' Wahrheit aufzeigen will, nicht auf irgendwelche Vorgegebenheiten zurückgreifen darf. Husserls Arbeit soll als phänomenologische Grundlagenforschung in die Sinn vergessenheit der 10 Vgl. dazu: Jürgen Kluever. Operationalismus. Kritik und Geschichte einer Philosophie der exakten Wissenschaften. StuttgartiBad Cannstadt 1971. 19 Vgl. P. W. Bridgman: The Logic ofModern Physics. 1927. H. Dingler: Die Methode der Physik. 1938. In neuester Zeit: Paul Lorenzen: Einführung in die operative Logik und Mathematik. 1955.

1.5 Die Phänomenologie als operationale Philosophie

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positiven Wissenschaft und in die lebensweltliche Praxis wirken. Dieser Aspekt der transzendentalen Phänomenologie (als philosophischer Grundlagenforschung) darf nicht aus dem Auge verloren werden. 20 1.5.1 Die operationale Reduktion

In diesem Zusammenhang soll die spezifische Methode eines phänomenologischen Positivismus kurz erwähnt werden. Diese Methode findet sich bei Husserl nicht. Es handelt sich um eine auf die transzendentale Reduktion aufbauende 'operationale Reduktion'. Die operationale Reduktion hat somit die 'klassische' phänomenologische (oder transzendentale) Reduktion zur Voraussetzung. Die transzendentale Reduktion werde ich als eine Methode vorführen, die in grundsätzlicher Form das überhaupt sinnvoll erforschbare Wissenschaftsfeld absteckt. Die transzendentale Reduktion kulminiert in der Feststellung, daß alles, was überhaupt Sinn hat, ausschließlich Sinn durch das Bewußtsein (verstanden in phänomenologischer, nicht in psychologischer Fassung) besitzt. Die operationale Reduktion präzisiert die phänomenologische Reduktion, indem der durch die phänomenologische Reduktion vorgelegte Bestand noch einmal eingeschränkt wird. Die operationale Reduktion verlangt, daß zu jedem behaupteten (wissenschaftlichen) Sinn ein Verfahren angegeben werden muß, durch das deutlich wird, welche 'Schritte' die (wissenschaftliche) Sinnkonstitution erfordert. Das transzendentale Feld wird dadurch in wissenschaftlich möglichen Sinn und wissenschaftlich nicht einholbaren Sinnbestand eingeteilt. Somit scheiden alle Sätze (die zwar die Grenze der transzendentalen Reduktion beachten), aber sich z. B. auf die Intuition berufen, aus.

Im Gegensatz zum Verfahren des Operationalismus im engeren Sinne, entsteht durch den phänomenologischen Operationalismus keine Relativierung der Wahrheit auf jeweils subjektiv bestimmbare Methoden, Meßverfahren o. ä. Die operationale Reduktion des phänomenologischen Positivismus bleibt nämlich innerhalb des transzendentalen (nicht empirisch subjektiven) Bewußtseinsfeldes eingebunden.

211 Vgl. Hans-Georg Gadamer: "Wer Husserl gekannt hat, weiß, ( ... ), daß Husserl ein missionarisches Bewußtsein hatte und nicht nur für die Konsolidierung der Philosophie als strenger Wissenschaft, sondern daß er das Ganze der menschlichen Kultur von da aus heilen wollte." H.-G. Gadamer: Zusammenfassender Bericht. In: Wahrheit und und Verifikationl216.

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1. Einführung in die phänomenologische Grundlagenforschung

1.6 Die traditionelle Philosophie und die phänomenologische Grundlagenforschung

Ein möglicher Einwand gegen den Anspruch der phänomenologischen Grundlagenforschung muß schon in dieser Einführung berücksichtigt werden. Er lautet folgendermaßen: Warum werden Untersuchungen dieser Art nicht 'philosophische Untersuchungen' oder einfach 'Philosophie' genannt? Ist die Bezeichnung 'phänomenologische Grundlagenforschung' nicht Ausdruck einer heute so beliebten Haltung, die sich darin gefällt, unentwegt neue Begriffe zu kreieren? Die Antwort ist: Nein! Der Titel 'phänomenologische Grundlagenforschung' ist sachlich berechtigt. Er kennzeichnet eine ausgezeichnete Form einer philosophischen Untersuchung. Husserl geht davon aus, daß es die Philosophie, wie sie in der platonischen Urstiftung vorgesehen war, nicht mehr gibt. Man kann auch sagen: Die Philosophie hat ihre eigene Idee niemals erreicht. 21 Sie ist nicht nur in einzelne Fachwissenschaften zerfallen, die oft genug ihren jeweiligen Untersuchungsgegenständen so naiv zugewandt sind wie die positiven Wissenschaften den ihrigen, sondern der Begriff "Philosophie" ist vor allem Bezeichnung und Rechtfertigung für die verschiedensten, oft gegensätzlichen Systeme, Weltdeutungen, Denkoperationen usw. Jeder Berufsphilosoph oder Dilettant definiert Philosophie in seinem Sinne. 22 Uneins ist man bereits bei der Grundfrage, ob Philosophie Wissenschaft sei. Von der Beantwortung dieser Frage hängt nach Meinung der transzendentalen Phänomenologie das weitere Schicksal der Philosophie ab. Ein Blick in die Philosophiegeschichte kann hier keine endgültige Klärung bringen. 2J Mit den Worten Husserls: "Wie sollte also der Historiker über die ~l Vgl. auch Gotthard Günther: .. Aber - seit dem Ausgang des Mittelalters, seit der Auflösung dieser letzten großen, innerlich wie äußerlich geschlossenen, metaphysischen Existenzform des historischen Daseins sind alle Versuche, dem neuzeitlichen Bewußtsein eine angemessene und tragfahige transzendentale Begründung und Rechtfertigung seiner tiefsten Lebensinstinkte zu geben, ohne Ausnahme gescheitert." Gotthard Günther: Metaphysik, Logik und die Theorie der Reflexion. In: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik. Erster Band. Hamburg 1976. S. 31. " Vgl. z. B. Marlis Gerhardt: .. Diese Verschiebung der Grenze zwischen Philosophie und Nicht-Philosophie auf der einen Seite steht auf der anderen die zunehmende Differenzierung zwischen den verschiedenen philosophischen Disziplinen gegenüber. Die Verselbständigung einzelner Bereiche gehört zu den wesentlichen Merkmalen neuerer Philosophie überhaupt." Marlis Gerhardt: Die gegenwärtige Lage der Philosophie untersucht am Beispiel der Schriften Karl-Otto Apel. In: Die Zukunft der Philosophie. Hg. Marlis Gerhardt. München 1975. S. 41. Dazu auch: Gotthard Günther ... Das Denken des Einzelnen wird privater und privater, es findet bestenfalls einen Raum im Sektierertum. Heute sind alle philosophischen Richtungen Sekten, die Logistik nicht ausgenommen." G. Günther: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik. Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen. Hamburg 1978~. S. 32. Vgl. Herbert Albrecht: Deutsche Philosophie heute. Probleme. Texte, Denker. Bremen 1969. S. 11. ~, Ähnlich Victor Kraft: Erkenntnislehre. Wien 1960. S. 5,6,9 ff.

1.6 Sachliche Einschränkung der traditionellen Philosophie

23

Wahrheit der gegebenen philosophischen Systeme und erst recht über die Möglichkeit einer an sich gültigen philosophischen Wissenschaft überhaupt zu entscheiden haben? Und was hätte er je beizubringen, das den Philosophen im Glauben an seine Idee, an die einer wahren Philosophie wankend machen könnte? Wer ein bestimmtes System leugnet, nicht minder wer die ideale Möglichkeit eines philosophischen Systems überhaupt leugnet, muß Gründe beibringen." (Logos/326). Wer 'Gründe' beibringen muß, ist gezwungen, die Annahme dieses Grundes zu 'rechtfertigen'. Auch wer einen 'historischen Grund' als Rechtfertigung für einen Satz angibt, muß erklären, warum er diese historische Tatsache und keine andere als Sachrechtfertigung gewählt hat. In der Phänomenologie besteht man deshalb auf einer 'grundsätzlichen' Erörterung solcher Fragen. Diese bedarf 'systematischer' Untersuchungen. 24 Dem phänomenologischen Grundlagenforscher stellt sich die Situation der Philosophie so dar: An den Universitäten wird u. a. Philosophie gelehrt. Während aber alle sonstigen Wissenschaften 'Objekte' oder 'Objektbereiche' vorfinden und von diesen methodische Anweisungen erhalten, ist sich die Philosophie vor allem selbst Objektbereich. 25 Die Philosophie beansprucht Allgemeingültiges und Verbindliches auszusagen. Nun kann ein Aussagegefüge keine Normativität in Anspruch nehmen, nur weil es eine altehrwürdige Tradition besitzt. Darum muß die Philosophie ihren Anspruch aufgrund einer sachsystematischen Grundlegung rechtfertigen können. 26 Diese grundsätzliche systmatische Absicherung der Philosophie vermeint die phänomenologische Grundlagenforschung leisten zu können. Die transzendentale Phänomenologie als phänomenologische Grundlagenforschung will nicht bloß eine beliebige Form des Philosophierens neben anderen sein. Vielmehr soll durch die Arbeit der Phänomenologie die Philosophie selbst wieder auf ihre ursprüngliche Aufgabe eingeschworen werden. ~4

Vgl. Logos/340.

~, Vgl. z. B. Martin Heidegger: "Die Frage unseres Gesprächs betrifft das Wesen der

Philosophie. Wenn diese Frage aus einer Not kommt und nicht bloß eine Scheinfrage zum Zweck einer Konversation bleiben soll, dann muß uns die Philosophie als Philosophie fragwürdig geworden sein. (... ). Dies können wir offenbar doch nur dann angeben, wenn wir schon einen Einblick in die Philosophie genommen haben. Dazu ist nötig, daß wir zuvor wissen, was das ist - die Philosophie. So werden wir auf eine seltsame Weise in einem Kreis herumgejagt. Die Philosophie selbst scheint dieser Kreis zu sein." Martin Heidegger: Was ist das - die Philosophie? Pfullingen 1981 7• S. 11. ~. Vgl. Logos/340. "Dem wahrhaft Vorurteilslosen ist es gleichgültig, ob eine Feststellung von Kant oder Thomas von Aquino, ob sie von Darwin oder von Aristoteles, von Helmholtz oder Paracelsus herstamme." Vgl. auch Oswald Külpe. Einer wissenschaftlichen Philosophie "dient man nicht, indem man auf Autoritäten schwört und Schulhäupter verehrt, sondern nur durch rücksichtslose Prüfung und selbständige Gedankenarbeit, die alle Einfälle, auch die scheinbar glücklichsten, durch gründliche Forschung und Ausreifung über den Wert bloßer Einfälle zu erheben trachtet." O. Külpe. Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland. Leipzig 1905'. S. 117.

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1. Einführung in die phänomenologische Grundlagenforschung

Die hier im Umriß dargestellte phänomenologische Grundlagenforschung beansprucht, nicht nur die Grundlegung der Wissenschaften zu leisten, sondern sie will auch die Philosophie ihrer ursprünglichen Intention gemäß wieder 'einrichten'. 27 Philosophie soll dadurch von all jenen Wissensformen getrennt werden, die zu Unrecht die Bezeichnung "philosophisch" oder "Philosophie" in Anspruch nehmen. Ob eine phänomenologische Grundlagenforschung möglich ist und wenn ja, was sie zu leisten imstande ist, wird erst die Durchführung zeigen. J.7 Die phänomenologische Grundlagenforschung und die Daseinsphänomenologie

Die transzendentale Phänomenologie Husserls enthält für uns das vollständige Rüstzeug für den Aufbau einer phänomenologischen Grundlagenforschung. Warum muß dies ausdrücklich erwähnt werden? Der Titel, den Husserl für sich in Anspruch nahm, 'Anfänger der Philosophie' zu sein 2s , wurde oft dahin gewendet, als ob Husserllediglich die 'Anfangsgründe' der Philosophie freigelegt habe. Darum bedürfe es dieser Ansicht nach erst einer Vollendung der durch Husserl inaugurierten Phänomenologie. Diese, so sagt man, sei durch Martin Heidegger geleistet worden. Bei dieser Auffassung geht man davon aus, daß die 'Daseinsphänomenologie' die zu sich selbst gebrachte 'Bewußtseinsphänomenologie' sei. Verfahrt man so, mißdeutet man Husserl. Schon Husserl wehrte sich gegen diese Interpretation seiner Phänomenologie: "Ich möchte nur ausdrücklich sagen, daß ich allen von diesen Seiten her erhobenen Einwänden - des Intellektualismus, des Steckenbleibens meines methodischen Vorgehens in abstrakten Einseitigkeiten, des überhaupt und prinzipiellen Nichtherankommens an die ursprünglich-konkrete, die praktisch-tätige Subjektivität und an die Probleme der sogenannten "Existenz", desgleichen an die metaphysischen Probleme - keinerlei Berechtigung zuerkennen kann. Sie beruhen alle auf Mißverständnissen und letztlich darauf, daß man meine Phänomenologie auf das Niveau zurück deutet, das zu überwinden ihren ganzen Sinn ausmacht; ~7 Vgl. Ideen 1/3; EP 1/7. Vgl. Encyclopaedia Britannica-Artikel." Unter Phänomenologie versteht man eine an der Wende unseres Jahrhunderts erwachsene philosophische Bewegung, die es auf eine radikale Neubegründung einer wissenschaftlichen Philosophie und durch sie aller Wissenschaften abgesehen hat. Phänomenologie bezeichnet aber auch eine neue diesen Zwecken dienende fundamentale Wissenschaft (... )." In: Psychologie/237. Ähnlich: Alexander Pfänder. Philosophie auf phänomenologischer Grundlage. München 1973. S. 24. " Vgl. Husserls Brief an P. Natorp (1.5.1901). "Im übrigen arbeite ich fort; ich bin mit der Erkenntniskritik nicht fertig, ich fühle mich nun erst recht als Anfänger." Zit. nach: Einleitung in LU I von Elmar Holenstein. S. XV. Vgl. Einleitung in die Ideen I von Karl Schuhmann. S. XVI.

1.7 Transzendentale Phänomenologie und Daseinsphänomenologie

25

oder m.a. W. darauf, daß man das prinzipiell Neuartige der "phänomenologischen Reduktion" und somit den Aufstieg von der mundanen Subjektivität (dem Menschen) zur "transzendentalen Subjektivität" nicht verstanden hat; daß man also in einer, sei es empirischen oder apriorischen, Anthropologie stecken bleibt, (... )" (Nachwort zu meinen Ideen. Ideen 111/140.).29 Husserls Denken kann somit nicht aus dem Blickwinkel der Philosophie Heideggers gedeutet werden. Damit wird man dem Inaugurator der 'Phänomenologie als strenger Wissenschaft' nicht gerecht. W Durch Martin Heidegger (in gewisser Weise schon durch Max Scheler) scheint die Phänomenologie in Bereiche vorgestoßen zu sein, die den Menschen 'wirklich' und 'letztlich' angehen. Der Erfolg von 'Sein und Zeit' kann als Beleg gelten .. Heidegger wirkte tief in die phänomenologische Bewegung hinein. Husserl war zwar schon vor Heideggers 'Sein und Zeit' nicht mehr der Phänomenologe. Ohne Zweifel hat aber erst Heideggers Auftreten Husserl weitgehend isoliert. 11 Hedwig Conrad-Martius spricht geradezu emphatisch von der 'Heidegger'schen Wende', und unüberhörbar weist sie die Husserl'sehe Bewußtseinsphänomenologie zurück. Durch Heidegger werde deutlich, daß das menschliche Dasein sich im Sein befinde, und zwar als auf das Sein hin entworfen. Dieses Seinsverständnis könne nicht mehr 'erkenntnismäßig' , sondern selbst wiederum nur 'seinsmäßig' verstanden werden. "Versteht man die grundstürzende Bedeutung dieser und aller ähnlicher Bestimmungen, deren sachliche Gegründetheit wir hier ja nicht sichtbar machen können? ( ... ). Versteht man, daß hiermit alles umgekehrt, alles auf den Kopf gestellt ist oder vielmehr und sachlich richtiger: daß es aus der idealistischen Verkehrung heraus wieder auf die Füße kommt?,d2 Für Hedwig Conrad-Martius wird erst durch Heidegger die phänomenologische Grundfrage befriedigend gestellt. Durch 'Sein und Zeit' gebe es den wirklich sachlichen "Aufbruch zum wahren inneren Wesen ichhaften Seins".33

,y Vgl. das Vorwort von Edmund Husserl für den Aufsatz von Eugen Fink. Die Phänomenologische Philosophie Edmund Husserls in der gegenwärtigen Kritik. In: Kantstudien/1933. Vgl. auch den Brief Husserls an K. Löwith vom 22.2.1937. In: K. Löwith. Sämtliche Schriften 8. Stuttgart 1984. S. 236, 237 . .111 Entschieden und polemisch vertritt diese Meinung auch Julius Kraft: "Es unterliegt in der Tat keinem Zweifel (und verdient in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben zu werden), daß eine ernste Denkerpersönlichkeit, wie die Husserls, mit der eines pseudophilosophischen Demagogen, wie Heidegger, nicht in einem Atem genannt werden kann." J. Kraft: Von Husserl zu Heidegger. Kritik der phänomenologischen Philosophie. Hamburg 1977.1. S. 114. .11 Vgl. Hedwig Conrad-Martius. "In den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens vereinsamte Husserl mehr und mehr, (... )." H. Conrad-Martius: Die transzendentale Phänomenologie und die ontologische Phänomenologie: In: Schriften zur Philosophie. Dritter Band. München 1965. S. 394. " Hedwig Conrad-Martius: Seinsphilosophie. Zwei Rundfunkvorträge (1931). In: Schriften zur Philosophie. Erster Band. München 1963. S. 28. 1.1 a.a.O., S. 29.

26

l. Einführung in die phänomenologische Grundlagenforschung

Auch Heidegger beansprucht eine grundlegende Korrektur der Phänomenologie einzuleiten. J4 Dieser Anspruch ist nicht nur aus 'Sein und Zeit' zu entnehmen. Phänomenologie sei, so schreibt Heidegger 1963, "in ihrem Eigensten keine Richtung. Sie ist die zu Zeiten sich wandelnde und nur dadurch bleibende Möglichkeit des Denkens, dem Anspruch des zu Denkenden zu entsprechen.'''5 Und genau diesem Anspruch des zu Denkenden vermeint Heidegger "zu entsprechen", entschiedener als Husserl. In einem Seminar (Zähringen 1973), gehalten im engsten Schüler- und Freundeskreis, gibt Heidegger dies unmißverständlich zu verstehen: "Inwiefern läßt sich sagen, daß es bei Husserl keine Frage nach dem Sein gibt? Was bedeutet 'Frage nach dem Sein'? Es besagt: Frage nach dem Sinn von Sein." Heidegger sagt noch genauer: Nach Sein und Zeit tritt "Wahrheit" an die Stelle des Ausdrucks ,,sinn", (... ). Das Eigene der Frage Heideggers ist es, wenn es erlaubt ist, so zu sprechen, nach dem Sein des Seins auszublicken; besser: nach der Wahrheit des Seins, wobei Wahrheit vom Bewahren aus zu verstehen ist, indem das Sein als Sein gewahrt wird. In diesem strengen Sinn gibt es bei Husserl keine Frage nach dem Sein. "J6 Einige Seiten weiter lesen wir: "Für Husserl war da nicht der Schatten einer möglichen Frage, weil es sich für ihn von selbst verstand, daß Sein Gegenstand-Sein bedeutet."J7 Heidegger hat nie einen Zweifel darüber gelassen, was das für ihn bedeutet. Es bedeute die Transformation der Philosophie in Erkenntnistheorie. "Die Erkenntnistheorie ist Betrachtung, 0H.opUX insofern das 0" ,als Gegenstand gedacht, hinsichtlich der Gegenständigkeit und deren Ermöglichung ~ 0" befragt wird. "38 Wahrheit werde nun zur Gewißheit. "Die 'Erkenntnistheorie' und was man dafür hält, ist im Grunde die auf der Wahrheit als der Gewißheit des sichernden VorsteIlens gegründete Metaphysik und üntologie."w Erkenntnistheorie ist für Heidegger letztlich "der Titel, für das zunehmende wesenVgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 197i'. § 7 . Martin Heidegger: Mein Weg in die Phänomenologie. In: Zur Sache des Denkens. Tübingen 1976'. S. 90. Dazu auch: Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl. Frankfurt/M. 1981. S. 51. .16 Martin Heidegger: Seminar in Zähringen 1973. In: Vier Seminare. Frankfurt/M. 197. S. 111. 17 a.a.O., S. 166. Vgl. auch: Martin Heidegger: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens. In: Zur Sache des Denkens. Tübingen 1976'. S. 77: "Aber Hegel fragt auch nicht, so wenig wie Husserl, so wenig wie alle Metaphysik nach dem Sein als Sein, d. h. die Frage, inwiefern es Anwesenheit als solche geben kann." .lX Martin Heidegger: Überwindung der Metaphysik. In: Vorträge und Aufsätze. Pfullingen 1978 4 • S. 71. .l