Die Subsidiarität Europas [2 ed.] 9783428481071, 9783428081073

Vorwort zur zweiten Auflage:Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers mögen ganze Bibliotheken zu Makulatur werden lasse

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German Pages 150 Year 1994

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Die Subsidiarität Europas [2 ed.]
 9783428481071, 9783428081073

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DETLEF MERTEN (Hrsg.)

Die Subsidiarität Europas

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera und Detlef Merten

Band 16

Die Subsidiarität Europas

lIerausgegeben von

Detlef Merten Zweite, durchgesehene Auflage

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Subsidiarität Europas / hrsg. von Detlef Merten. 2., durchges. Aufl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Schriften zum europäischen Recht; Bd. 16) ISBN 3-428-08107-2 NE: Merten, Detlef [Hrsg.]; GT

1. Auflage 1993 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 3-428-08107-2

Vorwort zur 2. Auflage Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers mögen ganze Bibliotheken zu Makulatur werden lassen. Aber ein ergänzendes Wort des Gesetzgebers kann auch Bibliotheken füllen. So ist das Schrifttum zur Subsidiarität, jenem "Donnerwort" des Maastricht-Vertrages, inzwischen beinahe unüberschaubar. Die anhaltende wissenschaftliche Diskussion, die sich nach dem erfreulich klaren Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch verstärkt hat, macht eine Neuauflage des Tagungsbandes, der von der Kritik freundlich aufgenommen wurde, erforderlich. Speyer, im Mai 1994

Detle! Merten

Vorwort zur 1. Auflage "Das Subsidiaritätsprinzip ist in aller Munde" (Roman HerzogJl. Den einen Schlüsselwort 2, den anderen Reizwort, ist es jedenfalls "mehr als ein Wort"3, nämlich principium pacti für die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union und clausula integrationis für das deutsche Staatsrecht. Von der päpstlichen Enzyklika "Quadragesimo anno" umschrieben, ist der Begriff dennoch nicht ultramontaner, sondern aufklärerisch-liberaler Herkunft. Sozialstaatlicher Fürsorge in Deutschland liegt Nachrangigkeit als Rechtsprinzip seit zwei Jahrhunderten in fast wörtlicher Kontinuität zugrunde. Ob "Subsidiarität" und "Bürgernähe" als Schrittmacher Europas taugen und Integrationsverdrossenheit und Zentralismusphobie überwinden können, bleibt angesichts plebiszitären Unmuts abzuwarten. Brüssel könnte jedoch in eine Krisis geraten, wenn es die als Kompetenzbeschränkung gewollte und als (Rechts-)"Grundsatz" akzeptierte wie implantierte Nachrangigkeit ignorierte und europäischen Unitarismus strapazierte. "Probleme des Subsidiaritätsprinzips" war das Thema der von der Hanns Martin Schleyer-Stiftung geförderten 4. Deidesheimer Gespräche, die im Dezember 1992 stattfanden und bestimmungsgernäß der Begegnung und Aussprache Der Staat 2, 1963, S.399. So Peter Schmidhuber, DVBI. 1993, S. 417 sub I; siehe auch Vlad Constantinesco, "Subsidiarität": Magisches Wort oder Handlungsprinzip der Europäischen Union?, EuZW 1991, S. 561 ff. 3 Gegen Dieter Grimm, Subsidiarität ist nur ein Wort, FAZ vom 17.9.1992. 1

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Vorwort

zwischen Wissenschaft und Praxis in einem ausgesuchten Kreis dienten. Die Referate beleuchteten die Subsidiarität aus europäischer wie aus nationaler Perspektive, behandelten das Verhältnis von Bund und Ländern einschließlich deren Mitwirkung an der europäischen Rechtssetzung aus österreichiseher und deutscher Sicht. Sie werden - teils überarbeitet und mit Fußnoten versehen - im folgenden abgedruckt. Für die uneigennützige Förderung wissenschaftlicher Forschung gebührt der Hanns Martin Schleyer-Stiftung, für die bereitwillige Aufnahme in das Verlagsprogramm dem geschäftsführenden Gesellschafter der Duncker & Humblot GmbH, Herrn Professor Norbert Simon, vorzüglicher Dank. Detle! Merten

Inhaltsverzeichnis Manfred Brunner

Das Subsidiaritätsprinzip als europäisches Prinzip

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Torsten Stein

Subsidiarität als Rechtsprinzip?

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Georg-Berndt Oschatz

Die Mitwirkung der Länder an der europäischen Rechtssetzung als Mittel zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips ...............................................

41

Jürgen Weiss

Die Subsidiarität zwischen Bund und Ländern nach Österreichischem Verfassungsrecht

53

Hans-Ulrich Reh

Europäische Sozialpolitik und Subsidiarität. Testfall für die Akzeptanz der Bürger ...............................................................................

61

Detlef Merten

Subsidiarität als Verfassungsprinzip ...............................................

77

Anhang

1. Zwischenbericht des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments über den Grundsatz der Subsidiarität vom 4. 7. 1990 (sog. Bericht Giscard d'Estaing) ...........................................................................

99

2. Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Europäische Parlament betr. das Subsidiaritätsprinzip ............................................................

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3. Memorandum der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zum Subsidiaritätsprinzip ...............................................................................

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4. Europäischer Rat in Edinburgh. Tagung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft am 11. - 12. Dezember 1992 ........................

136

Sachverzeichnis .............................. ............................. .............

147

Verzeichnis der Referenten Manfred Brunner ehemals Kabinettschef bei der Kommission der Europäischen Gemeinschaften Professor Dr. Dr. Detlef Merten Ordinarius für öffentliches Recht an der Hochschule für Verwaltungs wissenschaften Speyer Georg-Bemdt Oschatz Direktor des Bundesrates Hans-Ulrich Reh Ministerialrat im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Prof. Dr. Torsten Stein Ordinarius für Europarecht und europäisches öffentliches Recht an der Universität des Saarlandes Jürgen Weiss Bundesminister für Föderalismus und Verwaltungsreform, Wien

Das Subsidiaritätsprinzip als europäisches Prinzip Von Manfred Brunner Ich will eine persönliche Vorbemerkung zu meiner knapp vierjährigen Tätigkeit bei der EG-Kommission machen. Ich bin zwar mit Eklat ausgeschieden, aber nicht im Zorn. Es ist also nicht so, daß ich jetzt alles, was die EG macht, für schlecht halte. Ich bin nach wie vor überzeugter Europäer. Aber es muß unterschieden werden, ob man für oder gegen Europa, für oder gegen den Binnenmarkt oder für oder gegen Maastricht ist. Es hat sich bei uns eingebürgert, daß man alles, was aus Brüssel kommt, jeweils als eine Etappe ansieht, und dieses Etappendenken war auch eine Chance. Da die Tragweite der Geschehnisse schlecht zu erfassen war, konnte man sich trösten und sagen, das ist erst einmal eine schlechte Etappe, und dann wird auch wieder eine bessere kommen. Ich bin jedoch im Laufe meiner Tätigkeit in Brüssel zu dem Ergebnis gelangt, daß es jetzt mit den Etappen zu Ende ist und daß wir eine echte Weichenstellung haben, wo man sich entscheiden muß, in welche Richtung der Zug fährt, ob das zu einem mehr oder minder zentralistisch geprägten europäischen Bundesstaat läuft oder. in Richtung einer Konföderation. Und hier sind wir auch schon mitten im Thema, das Sie mir gestellt haben: Der Subsidiaritätsgrundsatz als europäisches Prinzip. Es ist zunächst positiv, daß die Kommission und die Europäische Gemeinschaft begonnen haben, sich über den Subsidiaritätsgrundsatz Gedanken zu machen. Am Anfang hat die Gemeinschaft als Wirtschafts gemeinschaft die Herstellung der vier Freiheiten - Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital sollen sich bewegen können wie in einem staatlichen Raum - dadurch erreichen wollen, daß sie unter dem Stichwort einer totalen Harmonisierung möglichst alles gleichgemacht hat. Bei diesen vier Grundfreiheiten haben Sie nämlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder Sie machen alles gleich und vermeiden damit Grenzen und Diskriminierungen, oder Sie setzen auf das Ursprungslandprinzip, verbunden mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung. Bei diesem zweiten möglichen Ansatz darf das, was in einem Mitgliedstaat zulässig ist, in einem anderen Mitgliedstaat nicht zum Anlaß genommen werden, die Freiheit von Menschen, Waren, Dienstleistungen oder Kapital zu behindern oder Angebote aus diesem Staat zu diskriminieren. Daß die Kommission zunehmend vom ersten Ansatz zum zweiten Ansatz übergegangen ist, war schon ein Vorläufer der Diskussion um das Subsidiaritätsprinzip. Denn wenn das Subsidiaritätsprinzip als der Grundsatz definiert wird, daß die untere Ebene für alle diejenigen Angelegenheiten zuständig ist, die die übergeord-

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Manfred Brunner

nete Ebene nicht nachweisbar besser erledigen kann, wobei die Beweispflicht bei der übergeordneten Ebene liegt, dann ist auch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung schon eine Ausformung der Überlegung, daß es sehr wohl möglich ist, das Ziel der Europäischen Gemeinschaft, jedenfalls das Ziel der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dadurch zu erreichen, daß man die Regelungszuständigkeiten bei der unteren Ebene, in diesem Fall bei den Mitgliedstaaten, beläßt. Beide Prinzipien, sowohl das Prinzip der Totalharmonisierung als auch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, haben Stärken und Schwächen. Die Schwäche des ersten Prinzips ist ohne Zweifel die historische Stärke Europas. Diese lag immer in seiner Vielfalt oder definiert sich geradezu aus seiner Unterschiedlichkeit, sowohl geistesgeschichtlich aus der fruchtbaren Auseinandersetzung von sokratischem und christlich-abendländischem Einfluß als auch allgemein aus den sehr unterschiedlichen Gesellschafts- und Staatsverständnissen. Diese Vielfalt hat Europa stark gemacht, und das ist nicht nur eine historische Feststellung, sondern gilt auch für ein weiteres Ziel der Gemeinschaft, die europäische Wirtschaft wettbewerbsfähig zu erhalten gegenüber Herausforderungen aus Südostasien, den Vereinigten Staaten von Amerika und dem gesamten amerikanischen Raum. Auch diese Herausforderung werden wir nicht bestehen, wenn wir irgendwelche europäischen Einheitsprodukte anbieten. Einheitsprodukte mit hohem Synergieeffekt können andere Wirtschaftsgesellschaften wesentlich kostengünstiger oder auch geübter anbieten als wir. Europäische Produkte müssen sich auch durch ihre Vielfalt auszeichnen und durch die Fähigkeit, Marktnischen zu füllen, indem sie eben etwas mehr liefern und leisten als andere Produkte. Da inzwischen fast alles funktioniert, was auf dem Markt ist, kommt es eben darauf an, ob Waren zusätzlich umweltfreundlich sind, zusätzlich ein gutes Design haben etc. Diese Zusatzaspekte bestimmen den Markt, den die europäischen Waren sich erobern wollen. Deswegen hatte das Prinzip der Totalharmonisierung nicht nur einen philosophischen Nachteil, sondern auch einen faktischen, einen wirtschaftlichen. Auf der anderen Seite ist das Prinzip der Totalharmonisierung natürlich übersichtlich. Die Kommission hätte es wahrscheinlich auch nie aufgegeben, wenn sie nicht sehr bald an die Grenzen des Machbaren gestoßen wäre. Es war also weniger eine große Auseinandersetzung zwischen Prinzipien, sondern die Erkenntnis, daß die Kommission die Totalharmonisierung nicht leisten kann, weil auch noch so tüchtige Beamte nicht in der Lage sind, in der zur Verfügung stehenden Zeit einheitliches europäisches Recht und einheitliche europäische Verfahrensweisen zu schaffen. Weil immer mehr Fehlmeldungen ankamen, daß dieses oder jenes Ziel nicht erreicht war, und Verzögerungen nicht nur von einem halben Jahr, sondern von Jahren auftraten, ist man aus der Not auf das zweite Prinzip übergeschwenkt, auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, das auch wieder Vor- und Nachteile hat. Seine Vorteile liegen auf der Hand; es gewährleistet gerade die europäische Vielfalt, von der ich gesprochen habe. Der

Das Subsidiaritätsprinzip als europäisches Prinzip

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Nachteil ist, daß die Ziele in etwa gleich und nur die Wege zu diesen Zielen unterschiedlich sind. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung lebt einmal von der Fiktion gleicher staatlicher Ziele. Und es lebt zweitens von der Fiktion, daß die Mitgliedstaaten in etwa in der Lage sind, sowohl im Verwaltungsvollzug als auch im Vollzug von Gerichtsurteilen und bei Kontrollen annähernd den gleichen Standard einzuhalten. Das ist natürlich nicht immer der Fall. Für diese Erkenntnis bedarf es keiner europapolitischen Tätigkeit, sondern es genügt eine kurze Urlaubsreise durch die Staaten der Europäischen Gemeinschaften, um zu wissen, daß dies auch so bald nicht der Fall sein wird. So steht man oft vor dem Dilemma des Prinzips und seiner Durchsetzbarkeit. Seit Herr Bangemann und ich im Januar 1989 die Verantwortung für den Binnenmarkt übernommen haben, haben wir sehr stark auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung gesetzt und es auch in einer Grundsatzentscheidung schon mit Gedanken untermauert, die sehr stark Züge der jetzigen Diskussion über das Subsidiaritätsprinzip trugen. Wenn die Europäische Gemeinschaft in einem der europäischen Idee adäquaten Raum tätig werden will, dann muß die Kommission bei jeder Art der Harmonisierung ständig beweisen, warum nicht das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung ausgereicht hätte. Wir haben also unsere Verwaltung verpflichtet darzulegen, warum sie noch weiter harmonisieren muß. Wir sind aber oft auch an unsere Grenzen gestoßen, da das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung infolge sehr unterschiedlich gewachsener Rechtsstrukturen und auch unterschiedlich gew.achsenen Verbraucherverhaltens nicht durchsetzbar war. Hierfür folgendes Beispiel: Großbritannien schreibt vor, daß Möbel, insbesondere Polstermöbel, mit einer ganz bestimmten Chemikalie imprägniert werden, damit sie schwer entzündbar sind. Das ist dort seit Jahrzehnten so üblich. Großbritannien hat einen schlechten vorbeugenden Brandschutz, weshalb man lieber auf die Nichtbrennbarkeit der Gegenstände setzt. Großbritannien verbietet daher die Einfuhr jedweder Möbel, die nicht mit dieser Chemikalie imprägniert sind. Wir haben gesagt, das ist ein Handelshindernis, und wir stützen uns auf das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung: Großbritannien muß jedwede innerhalb der Europäischen Gemeinschaft hergestellte Ware anbieten lassen. Dann gab es dort einen Riesenaufstand. Es hieß, die Europäische Gemeinschaft ließe die Kinder verbrennen, wenn man abends ausgehe, und ähnliches. Daraufhin haben unsere Beamten versucht, das Gegenteil zu machen. Es sollten dann eben alle anderen Länder die Imprägnierungsvorschrift übernehmen. Nun gab es einen ebenso großen Aufstand in Deutschland, weil genau diese Chemikalie als Gift verboten ist und Herr Töpfer sehr stolz darauf war, daß er in einer Art deutschen Alleingangs schon so früh diese Chemikalie verboten hat. In einem solchen Fall kann man nicht gegenseitig anerkennen, sondern eigentlich nur harmonisieren. Aber auch damit kommt man zu keinem Ergebnis, weil immer ein Mitglied Zeter und Mordio schreit. Der eine sagt, die EG vergiftet uns, und der andere sagt, die EG läßt unsere Kinder verbrennen So haben wir dann darauf verzichtet, überhaupt

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etwas zu machen, und haben die Regelung als einfaches Handelshenfmnis bestehen lassen. Damit bleibt eine kleine Lücke des Binnenmarkts, weil wir einfach nicht regelungsfahig waren. Das Beispiel zeigt, daß man beim Prinzip der gegenseitigen Anerkennung dann an seine Grenzen stößt, wenn die UnterschieCllichkeit. zwischen den Mitgliedstaaten zu groß ist. Das wollte ich als Vorbemerkung machen, weil di-e Diskussion um das Subsidiaritätsprinzip ja nicht vom Himmel gefallen ist, sondern auf Vorüberlegungen beruht. Die Kommission glaubte oft, kein rechtes Kriterium dafür zu ha~~, welchen Themen sie sich nähern sollte und welchen nicht. Deshalb hat sich Präsident Delors 1989 eine Denkergruppe geschaffen, die cellule de prospectif. Diese Denkergruppe ist also ein Beamter, der jetzt die EG-Vertretung in München leitet: Herr Otto Hieber. Er ist auf die Idee gekommen, eine Ausarbeitung über das Subsidiaritätsprinzip zu machen, und ist damit der Erfinder der ganzen Diskussion, wobei das Subsidiaritätsprinzip den Vorteil hat, als Prinzip sowohl den Menschen, die ihre inneren Wurzeln mehr im Christentum haben, als auch denen, die mehr aus der Aufklärung schöpfen, entgegenzukommen. Denn es findet sich sowohl in liberalen Staatslexika als auch in einer sozialpolitischen Enzyklika der römischen Kirche, und deswegen konnte man sich auch gut auf dieses Prinzip einigen. Ich halte es auch einer freien Gesellschaft für sehr ange- . messen. Es hat nur den Nachteil, daß es so kompliziert klingt und die Menschen deswegen glauben, man wolle ihnen irgend etwas verheimlichen, wenn man ständig dieses Wort im Mund führt. Aber zuende gedacht und nicht nur auf den Staat angewendet, ist es einer freien Gesellschaft sicher adäquat. Das Individuum in der Gesellschaft weiß selbst, was es ohne Bevormundung leisten kann; die Familie leistet gegenüber der Gesellschaft und dem Staat das, was sie leisten kann. Und so geht es von diesen Kleingruppen hoch bis zum Bundesstaat, wobei wichtig ist, daß die Beweislast jeweils bei der oberen Einheit liegt, wenn sie der unteren etwas wegnehmen will. Deutschland hat übrigens überhaupt keinen Grund, sich besonders als Hüter des Subsidiaritätsprinzips aufzuspielen, denn die sehr subsidiären Ansätze des Grundgesetzes sind ja praktisch weitgehend verlassen, die Prinzipien der konkurrierenden Gesetzgebung ausgehöhlt worden. Der Bund hat alles an sich gezogen, was er über konkurrierende Gesetzgebung überhaupt nur an sich ziehen konnte. Dann hat man zusätzlich noch die Gemeinschaftsaufgaben erfunden, um die subsidiären Strukturen weiter zu schwächen. Die Länder haben sich dafür wieder bei den Gemeinden schadlos gehalten, haben sie zumindest an den goldenen Zügel gelegt, indem sie sie mit Zuschüssen daran hinderten, die kommunale Selbstverwaltung exzessiv auszuführen. Deutschland ist im Grunde selbst ein gutes Beispiel dafür, wie das Subsidiaritätsprinzip verkommen kann, von dem das Grundgesetz ausgegangen ist, ohne es zU"erwähnen. Trotzdem ist Deutschland natürlich im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten immer noch von diesemPrinzip wesentlich stärker geprägt.

Das Subsidiaritätsprinzip als europäisches Prinzip

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Das Subsidiaritätsprinzip wurde dann in dieser Studie vorgestellt und erlebte innerhalb der Kommission eine überraschende Renaissance, weil jeder Kommissar, der irgend etwas verhindern wollte und keine präzise Begründung hatte, mit diesem Wort in der Gegend herumfuhrwerkte. Es wurde gewissermaßen ein Auffangtatbestand. Wenn man sich einer Sache nicht nähern wollte, ohne seine wahren politischen Gedanken preiszugeben, hat man mit dem Stichwort Subsidiaritätsprinzip gearbeitet, und das zum Teil mit völlig unterschiedlichen Begründungen und ganz verschiedenen Definitionen. Aber erst durch seine Einfügung in Art. 3 b des neuen EG-Vertrages und durch die Einheitliche Europäische Akte wurde die ganze Debatte erst spannend, seit mit Art. 100 ades EWG-Vertrages die Handlungsvollmacht mit Mehrheitsprinzip zur Herstellung des Binnenmarktes eingeführt wurde, und sie wurde dadurch interessant, daß durch die Generalkompetenz des Art. 235 EWG-Vertrag die Europäischen Gemeinschaften - mit Einstimmigkeit - Kompetenzen an sich ziehen können. Bei der Diskussion hat sich schon am Anfang herausgestellt, daß man unter Subsidiaritätsprinzip, geprägt von der eigenen Herkunft, sehr Unterschiedliches verstehen kann. Bis heute habe ich den Eindruck gehabt oder jedenfalls bis zu meinem Weggang dort am 17. September 1992, daß die Vertreter der romanischen Länder mit dem Prinzip nach wie vor überhaupt nichts anfangen können. Es ist ihnen einfach wesens- und denkfremd. Sie können zwar die Definition auswendig lernen, aber sie können es aus sich selbst heraus nicht anwenden. Wenn Delors vom Subsidiaritätsprinzip spricht, dann meint er auch nie das Subsidiaritätsprinzip in unserem Sinn, sondern immer ein Opportunitätsprinzip. Es bedeutet, wir tauchen solange ab, bis die Zeiten wieder besser sind. Diese Generalaussage wird mit "Subsidiaritätsprinzip" umschrieben, was aber natürlich nichts mit dem zu tun hat, was wir meinen. Wir verstehen unter diesem Grundsatz, daß man langfristig und grundsätzlich auf ganz bestimmte Regelungszuständigkeiten verzichtet. Man muß vielleicht noch zwischen einer Subsidiarität der Mittel und einer Subsidiarität der Ziele unterscheiden. In Deutschland ist das Subsidiaritätsprinzip mehr von einer Subsidiarität der Mittel geprägt, während das Subsidiaritätsprinzip, so wie es in Art. 3 b EWG-Vertrag steht, mehr von einer Subsidiarität der Ziele ausgeht. Die Diskussion über das Subsidiaritätsprinzip wurde erforderlich, weil die Kommission zu einer wirklich inhaltlichen Selbstbeschränkung nicht fähig war. Dies hatte zwei Ursachen: Erstens die Erweiterung der Gemeinschaften und zweitens die Überlegung, daß jeder der zwölf Staaten mindestens einen Kommissar stellen sollte, die großen zwei. Damit hatten wir im Verhältnis zu den Aufgaben der Kommission viel zu viele Minister. Daher wurden den schwächeren Ländern und den schwächeren Personen sog. "Nicht-Aufgaben" zugewiesen oder Aufgaben, die im EWG-Vertrag keine Rechtsgrundlage haben. Aber diese Leute wollen sich natürlich auch beweisen, was ganz verständlich ist, und haben versucht, aus ihren Nicht-Aufgaben Aufgaben zu machen. Hinzu kommt, daß die

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Kommission als Kollegialorgan unter einer gewissen Schwäche leidet: Sie handelt nicht nach einem inneren Koordinatensystem, sondern mehr nach dem Prinzip des "do ut des", d.h. man bekommt eigene Vorlagen durch, wenn man auch fremde durchläßt. Das führt zum einen zu einer gewissen Widersprüchlichkeit in den Entscheidungen und zum anderen dazu, daß man den Menschen, die weitgehende Regelungen in einem Bereich erlassen wollen, der eigentlich vom EWG-Vertrag gar nicht gedeckt ist, nicht rechtzeitig in den Arm fällt. Das zweite Problem ist die zu große Zahl der Kommissare. Meiner Meinung nach müßte die Kommission auf fünf Kommissare, von denen einer der Präsident ist, radikal verkleinert werden. Ein solches Gremium wäre wieder handlungsfähig, während eine 17köpfige Kommission als gemeinsames Überwachungsorgan und als Hüter des Vertrages keine Handlungsfähigkeit mehr besitzen kann. Das nächste Problem sind die Menschen aus Staaten, in denen man auch sehr vernünftige Vorstellungen nicht durchsetzen kann, z.B. eine gute Umweltpolitik oder ein Mindestmaß an Verbraucherschutz. Diese Menschen waren dann in der verständlichen Versuchung, das, was sie oder ihre Partei zu Hause nicht umsetzen kötmen, über den Umweg Europa zu verwirklichen. Ich hatte eine mich wirklich berührende Diskussion mit dem früheren EWG-Umweltkommissar Rieber, der uns einen Richtlinienentwurf über die Vereinheitlichung der europäischen Zoologischen Gärten vorlegte. Als wir nachfragten, seit wann die denn auf Wanderschaft gehen und grenzüberschreitend tätig werden und warum wir deswegen, gestützt auf Art. 100 a EWG-Vertrag (Herstellung des Binnenmarktes), eine Regelung benötigen, hat er mir in wirklich überzeugender Weise erzählt, wie sehr es ihm zu Herzen gehe, diese schrecklichen Zoologischen Gärten in Italien zu sehen, und daß er immer schon gedacht habe: "Wo immer ich bin, werde ich etwas dagegen tun". Und genau das ist der ebenso anrührende wie gefährliche Ansatz, daß viele Politiker sagen: "Wo immer ich bin und wo ich es erreichen kann, werde ich ganz bestimmte Ziele moralischer und ideeller Natur durchsetzen." Im Grunde müßte man eine gewisse Selbstbeschränkung einführen, indem das Kollegialorgan "Kommission" oder konkret der Sitzungsleiter sagt, das ist zwar gut und schön, fällt aber nicht in unseren Aufgabenbereich. Das ist sehr schwer zu realisieren, weil manche Staaten und Politiker, insbesondere die Reformpolitiker der südlichen EG-Staaten, nur deshalb in die EG eingetreten sind, um auf diesem Umweg ihr Land zu verändern. Wenn man diesen Menschen das abstrakte Subsidiaritätsprinzip entgegenhält, sagen sie einem "Du hast ein Land, in dem die Dinge im Grunde in Ordnung sind, und in dem die politischen Zusammenhänge so funktionieren, daß anzunehmen ist, daß die Fragen, die nicht gelöst sind, demnächst gelöst werden; aber ein solches Land habe ich nicht. Bei uns funktioniert das Staatswesen nicht, und es gibt auch überhaupt keine realistische Hoffnung, daß es demnächst funktionieren wird. Also führt die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips dazu, daß verhindert wird, daß mein Land auf das Niveau der Europäischen Gemeinschaft aufschließt. Die Lösung der Probleme in die Eigenverantwortung des Landes zu weisen, ist eine rein akademische

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Betrachtungsweise. Denn mein Land schafft es nicht, seine Probleme in Eigenverantwortung zu bewältigen." Es ist augenscheinlich, daß das Subsidiaritätsprinzip eine Argumentationsweise entwickelter Staaten ist. Es geht von der Vorstellung aus, daß die untere Ebene besser in der Lage ist, einen bestimmten Sachverhalt zu regeln, als die höhere Ebene. Wenn aber die Staatlichkeit so beschaffen ist, daß es zwischen der Kleingruppe Familie oder bestenfalls noch dem Clan und dem Zentral staat keine funktionierenden Zwischenebenen mehr gibt, wie z.B. in Italien, wo der Zentralstaat noch halbwegs arbeitsfähig ist und der Mafia-Clan funktioniert, aber das meiste dazwischen nicht, dann können Sie oft erleben, wie empfindlich die Leute reagieren, wenn Sie ihnen das Subsidiaritätsprinzip nahelegen wollen, weil sie das als eine Argumentationsweise derjenigen ansehen, die einen funktionierenden Staat besitzen. Eine weiteres Problem besteht darin, daß die Europäischen Gemeinschaften ein Dorado für regulierungswütige Menschen sind. Im Laufe der Beobachtung bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß es Menschen gibt, die sich auf Grund ihrer genetischen Veranlagung Problemen immer mit einem Regulierungsansatz nähern, und andere Menschen, die einen freiheitlichen Ansatz wählen. Das verstärkt sich im Laufe des Lebens und wird von gesellschaftlichen Zusammenhängen intensiviert und unterstützt. Jedenfalls gibt es Menschen, die auch deswegen in die Politik gehen, weil sie darin die berufliche Möglichkeit sehen, ihre persönliche Regulierungswut am überzeugendsten ausleben und auch noch mit dem Mantel einer sozialen Tätigkeit umhüllen zu können. Es gibt ganze Parteien für dieses regulierungswütige Vorgehen. Der innere Zusammenhalt aller Menschen, die sozialistischen Modellen anhängen, ist im Grund ihre Regulierungswut. Diese kann übrigens hochmoralisch begründet sein, entweder wirklich oder getarnt, und sie findet ihre Grenzen nicht aus innerer Einsicht, sondern aus der Druckempfindlichkeit anderer Menschen, die sagen "Laß mich bitte in Ruhe, zieh' Dich zurück und laß mich mein Leben selbst gestalten". Das setzt aber voraus, daß die Menschen erkennen, wann der Regulierungswütige zu weit geht. Diese Wähler müssen in der Nähe des Politikers sein, sie müssen ihn beobachten können, sie müssen die Entstehungsgeschichte von Gesetzen und Verordnungen überblicken und sie müssen auch die Auswirkungen der Regulierungswut bald spüren. Alles das ist in der Europäischen Gemeinschaft nicht gegeben. Die Europäische Gemeinschaft arbeitet im Grunde nach dem Regierungsprinzip Chinas im vergangenen Jahrhundert, nämlich nach dem Prinzip der verbotenen Stadt, verbunden mit der Herrschaftssprache des Mandarin. Sie haben einen gewissen Raum, den andere nicht betreten können, das sind die nichtöffentlich tagenden Institutionen auf verschiedenen Ebenen, von der Kommission bis zum Ministerrat. Das einzige Gremium, in dem Öffentlichkeit herrscht, das Parlament, hat keine wirklichen Entscheidungsbefugnisse. Wir haben eine Einrichtung, die sich eine Kunstsprache geschaffen hat: Euro-Mandarin, welche auch von einem

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nonnalen Juristen, wir reden jetzt gar nicht vom nonnalen Menschen, nicht mehr wirklich nachvollzogen werden kann. Man muß einfach ganz bestimmte Fonnulierungen, Gebilde und Argumentationsketten kennen, um überhaupt zu wissen, was damit gemeint ist. In dieser Situation können sie ihre Regulierungswut in extrem günstiger Weise austoben, sie werden nicht beobachtet und sie können sich auch auf das schöne Prinzip der Avantgarde berufen, auf das sich die Gemeinschaft insgesamt sehr stark stützt: Wir wissen, wir haben ein hervorragendes Ziel, wir wissen, daß es richtig ist, wir wissen, daß Menschen, die noch nicht so weit sind wie wir in unserer Erkenntnis, dagegen sind, wir werden es dennoch durchsetzen, und die Generation der Enkel der jetzigen lebenden Menschen wird uns dafür danken. Mit dieser Grundhaltung können sie auch sehr viel Überreglementierung verwirklichen. Dabei erleben die Menschen die Auswirkungen dieser Überreglementierung erst sehr viel später und machen andere dafür verantwortlich. Denn diese Richtlinien müssen ja erst vollzogen werden, was eine gewisse Zeit dauert, dann werden sie auch noch von nationalen Parlamenten umgesetzt und begegnen einem in der Fonn nationaler Gesetze wieder, so daß es sehr schwierig ist, überhaupt noch festzustellen, wer an der übertriebenen Reglementierung schuld war. Der Gegängelte braucht eine Zeitlang, um zu sehen, daß diese in Wahrheit aus Brüssel kommt. Ich habe oft erleben müssen, daß dieser Umstand von überzeugten Sozialisten ausgenützt wird, die ganz bewußt in den europäischen Entscheidungsraum drängen, weil sie wissen, daß sie dort etwas bewegen können. So entwickelt z. B. der - persönlich sehr sympathische - stellvertretende Vorsitzende der Sozialistischen Internationale van Miert über den Umweg des Verbraucherschutzes eine völlig neue europäische Rechtsordnung. Das geschieht unter der moralischen Überschrift: Der Verbraucher muß doch geschützt werden. Aber es vollzieht sich nach Rechtsprinzipien, die still und leise die innere Geschlossenheit unseres deutschen Zivilrechts aushebeln, ohne daß es darüber jemals eine der Entstehungsgeschichte dieses Zivilrechts vergleichbare Auflösungsdiskussion gegeben hätte. Das wird man irgendwann einmal feststellen, wenn 51 % erreicht sind und die ganze Sache kippt. Zum Teil werden auch im Europäischen Parlament Dinge mit Zustimmung aller konservativen europäischen Parteien beschlossen, die, wenn sie in Deutschland verabschiedet würden, zu einem Aufschrei führten und selbst gestandene Jungsozialisten teilweise zurückschrecken ließen, so etwas zu beschließen. In der europäischen Diskussion vollzieht sich dies unbemerkt und auch von Konservativen und Liberalen im Wesentlichen unkritisiert, weil es unter ganz anderen Überschriften läuft. Man sagt, das ist ein europäisches Ziel, da muß doch etwas geschehen, da müssen wir Kompromisse machen. Das mag alles ganz gut sein, aber es ist eben nicht transparent. Die Diskussion um das Subsidiaritätsrrinzip ist wegen der gefährlichen Mischung von Regelungswut und mangelnder Transparenz so wichtig.· Daß man jetzt das Wort Subsidiaritätsprinzip verwendet, ist ein richtiger Grundan~atz. Aber es ist meines Erach!ens bei .~~i~m nicht genügend für das, was in

Das Subsidiaritätsprinzip als europäisches Prinzip

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einer solchen Situation getan werden müßte. Ich hatte immer gehofft, daß man nach Fertigstellung des Binnenmarkts zunächst einmal darangeht, seine Lücken zu schließen, er ist ja noch nicht ganz fertiggestellt. Die Entstehung des Binnenmarktes ist vergleichbar der Errichtung einer Autobahn; sie erfolgt in Teilabschnitten; einige sind schon längst eröffnet, man befährt sie seit Jahren und identifiziert sie gar nicht mehr mit der Großtat. Jetzt, am 31. Dezember 1992, soll das Band des letzten Teilabschnittes feierlich durchschnitten werden. Dazwischen gibt es noch Lücken, weil Planfeststellungsverfahren zu lange dauerten, Nachbarschaftsklagen erhoben wurden oder geologische Unebenheiten überwunden werden mußten. Diese Lücken kann man zwar mit dem Art. 8 b EWGVertrag und mit der Rechtsprechung des EuGH durch die Regel rechts vor links überwinden, also nach unserem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, aber sie bestehen noch. Diese Lücken hätten zuerst einmal geschlossen werden müssen; vor allem die Bereiche innere Sicherheit, gemeinsame Asyl- und Exportpolitik hätte man regeln müssen. Ohne diese drei Aspekte können Sie überhaupt keinen Binnenmarkt herstellen. Dann hätte ich als nächstes eine Generaldiskussion über die Frage begonnen, wo die Europäische Gemeinschaft in ihrer Rechtssetzung zu weit gegangen ist, erstens was sie überhaupt unnötig an sich gezogen hat, zweitens wo sie unnötig harmonisiert hat. Wir hätten nach der Herstellung des Binnenmarktes ruhig innehalten und uns das Ergebnis in Ruhe vor Augen führen können. Dann hätte ich gleichzeitig erweitert. Sie können nicht die Grenzmauern und den Stacheldraht, die jetzt gefallen sind, durch politische und juristische Maßnahmen wieder neu aufrichten. Denn wenn man die ganze Diskussion um den Vertrag von Maastricht zusammennimmt, das Schweigen über die Erweiterung der Gemeinschaften plus das "Delors Zwei-Paket" plus den Kommissions-Fonds, führt das dazu, daß für Mittel- und Osteuropa kein Geld mehr vorhanden sein wird. Damit läuft alles auf die Aussage hinaus: "Ihr seid vierzig Jahre Eures Lebens vom Kommunismus betrogen worden, leider müssen wir Euch jetzt noch einmal betrügen! Ihr seid wenige Minuten zu spät auf dem Bahnsteig erschienen, der Zug fährt ohne Euch ab!". Das halte ich für unmoralisch, und es widerspricht auch dem EWG-Vertrag, wonach jeder europäische Staat Mitglied der Gemeinschaft werden kann (Art. 237 Abs. 1 Satz 1 EWG-Vertrag). Ich halte dies vor allem für Deutschland für sehr gefährlich. Wenn die Menschen den Eindruck gewinnen, daß nicht mindestens die Generation ihrer Kinder an dem wirtschaftlichen und geistigen Niveau Westeuropas teilhaben kann, wird das Wanderungsbewegungen elementaren Ausmaßes auslösen, die durch nichts aufzuhalten sind und die insbesondere Deutschland treffen und weniger die Staaten, die am Rande der Europäischen Gemeinschaften liegen. Man hätte also erst einmal erweitern müssen. Erst danach hätte ich einen über die qualifizierte Freihandelszone und den Binnenmarkt hinausgehenden völkerrechtlichen Vertrag zur Vertiefung der Gemeinschaft ausgehandelt. Aber genau 2 Merten

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das alles hat man in Maastricht nicht getan. Man hat im Grunde mit dem Maastrichter Vertrag versucht, die alte Ordnung zu zementieren, um im letzten Moment den Mantel der westeuropäischen Zufallsgemeinschaft des Kalten Krieges noch zu erfassen, ihn festzuhalten und sich von den großen gesamteuropäischen Prozessen zu lösen. Man kann verschiedener Meinung darüber sein, ob das nützlich ist oder nicht. Jedenfalls ist im Zusammenhang mit dem möglichen Neuanfang keine Kompetenzdiskussion über die EG geführt worden, die inhaltlich von Subsidiaritätsgesichtspunkten bestimmt gewesen wäre, sondern man hat mit Maastricht einen Kompetenzerweiterungsvertrag geschlossen. Es ist keineswegs kritisch über das diskutiert worden, was bisher geschehen ist, sondern man hat das als richtig empfunden und in umfangreichem Maße die künftigen Kompetenzen der Gemeinschaft erweitert. Selbst in der Kultur- und Bildungspolitik leistet die Gemeinschaft künftig einen Beitrag neben dem Nationalstaat. Irgendwo hat man dann in Art. 3 b auf dieses Paket eine Schleife gesetzt, auf der steht: Subsidiarität. Aber diese Schleife kann natürlich den Konstruktionsfehler des Vertrages nicht heilen, der insgesamt absolut antisubsidiär ist. Sie müssen nur einmal synoptisch die bisherigen Rechtsgrundlagen der Europäischen Gemeinschaft und die nach dem Maastricht-Vertrag auflisten, dann sehen Sie, daß Ihnen das schönste Wort Subsidiarität nichts nützt, wenn Sie gleichzeitig bis in den Kultur- und Bildungsbereich und viele andere Bereiche hinein neue Zuständigkeiten für die Gemeinschaft schaffen. Denn wenn es dort heißt "sie leistet einen Beitrag neben ... ", dann ist aus den Gründen, die ich gerade genannt habe, nach aller Erfahrung, man darf sich ja nicht irgendwelchem Wunschdenken hingeben, nicht zu erwarten, daß man auf die Möglichkeiten eines solchen Beitrages verzichten wird. Bisher ist es immer so gewesen, daß der oder die dafür Zuständigen die Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten, exzessiv ausgelegt haben. Wenn man dann noch hinzunimmt, daß in einigen Staaten bisher überhaupt keine Regelung besteht und die EG gleichzeitig Geld anbietet, ist es schon ein Grundfehler, diese Kompetenzen in den Maastrichter Vertrag hineinzuschreiben. Denn das ist immer das bewährte Korrumpierverfahren: Um die Subsidiarität auszuschließen, bietet man als höhere Ebene Geld zur Umsetzung an. Ich muß noch etwas nachholen. Ich sprach von der politischen Versuchung durch Menschen, die aus politischen Gründen reglementierungswütig sind. In der EG kommt noch hinzu, daß z.B. ein deutscher Sozialdemokrat wesentlich subsidiärer als eine französische liberale Kommissarin denkt, weil in unserem Gesellschafts- und Rechtssystem dieses Denken tiefer verankert ist. Für einen französischen Politiker ist der Zentralismus eine über Jahrhunderte hinweg geprägte innere Haltung. Dieses Prinzip wurde nach der französischen Revolution von Napoleon perfektioniert und dann weiter beibehalten. Das Gefahrliche ist, daß die politisch-sozialistisch und die romanisch-zentralistisch Denkenden zusammen immer eine Mehrheit für Zentralismus und Reglementierung bekommen. Das ist keine Spekulation, das habe ich erlebt. Die politischen und die gesellschaft1ich so erzogenen Reglementierer erhalten gemeinsam immer mehr als 50%.

Das Subsidiaritätsprinzip als europäisches Prinzip

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Man kann das auch leicht abzählen. Die romanischen Länder, ob das jetzt um den Freihandel geht bei der Frage, wieviel japanische Autos lasse ich herein, oder ob es um die Frage geht, was soll die Zentrale an sich ziehen und was nicht, denken eben in ganz anderen Strukturen, zum Teil weil sie keine guten Erfahrungen mit der Funktionsfähigkeit untergeordneter Ebenen gemacht haben, zum Teil auch, weil sie gar nicht versucht haben, solche Strukturen zu entwickeln. Wenn Sie sich Art. 3 b genau ansehen, dann werden Sie merken, daß das auch keine Schleife ist, sondern leider nur die Fiktion einer Schleife. Es heißt dort nämlich, daß das Subsidiaritätsprinzip nur für jene Aufgabenbereiche gelten soll, die der Europäischen Gemeinschaft nicht als alleinige Zuständigkeit zugewiesen sind. Prüft man, wo in den letzten Jahren die größten Subsidiaritätsverstöße zu verzeichnen sind, dann sind diese immer unter Anrufung des Art. 100 ades EWG-Vertrages erfolgt. Die Herstellung des Binnenmarktes fällt aber in die Alleinzuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft, d.h. in dem Vertrag steht im Klartext, das Subsidiaritätsprinzip gilt nicht in den Fällen, in denen es bisher immer verletzt worden ist. Das ist die offizielle Rechtsmeinung der Kommission, die auch der EuGH nicht aufgehalten hat, der überhaupt den Anforderungen eines Gerichtes nicht voll gerecht wird, weil er mehr eine europäische Staatsanwaltschaft ist, die immer nur in der Lage ist, den EG-freundlichen Rahmen auszuloten und kein inneres Gleichgewicht herstellt. Der EuGH hätte längst fragen müssen, warum macht Ihr denn aus der Vorschrift über die Herstellung des Binnenmarktes ein Werbeverbot für Tabakwaren, und kann man überhaupt die Herstellung und Harmonisierung einer Sache dadurch herbeiführen, daß man sie auf Null reduziert. Diese und ähnliche Fragen hätte ein funktionierendes europäisches Gericht stellen müssen. Ich halte es für ein ganz empfindliches Manko, daß wir im Grunde ein ideologisches Gericht haben, das nicht den Interessen- und Rechtsausgleich sucht, sondern eine Sache vorantreibt, sich einer wenn auch noch so gut gemeinten, aber letztlich ideologischen Zielrichtung verpflichtet fühlt. Das meiste von dem, was Sie in der letzten Zeit an Zentralismus in der Europäischen Gemeinschaft geärgert haben sollte, ist immer über Art. 100 a EWG-Vertrag gelaufen. Es gibt immer irgendwelche Konstruktionen, um eine Verbindung zu dieser Vorschrift herzustellen. Wir als die für den Binnenmarkt Zuständigen haben uns oft dagegen gewehrt und gesagt, das hat doch mit Binnenmarkt gar nichts zu tun. Die unsinnigen Werbeverbote für Tabakwaren soll man doch auf den Gesundheitsartikel stützen. Das wollte man wegen der dann erforderlichen Einstimmigkeit natürlich nicht. Außerdem lag die Herstellung des Binnenmarktes auch mehr im Trend. Wenn Sie wollen, können Sie mit dem Begriff ,,Binnenmarkt" sehr viel verbinden, indem Sie einfach immer behaupten, daß die Vereinheitlichung dieser Vorschriften dem Binnenmarkt insgesamt nutzen wird. Es ist schon eine gewisse intellektuelle Ungezogenheit, in den Maastrichter Vertrag einen solchen Subsidiaritätsartikel hineinzuschreiben, in dem man expres2"

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sis verbis das Hauptproblem der Vergangenheit bei der Umsetzung der Subsidiarität ausklammert. Weiter hinten im zweiten Absatz des Art. 3 b taucht das Subsidiaritätsprinzip dann indirekt noch einmal auf, wenn es heißt, ganz allgemein soll die EG bei der Durchsetzung ihrer Ziele nicht über den Vertrag hinausgehen. Das ist ja wohl eine Selbstverständlichkeit, daß man seine Rechtsgrundlagen nicht überschreitet, und keine Ausformung der Subsidiarität. Ich persönlich bin nach dem, was ich in den vier Jahren bei der EG erlebt habe, zu dem Ergebnis gekommen, dieser Subsidiaritätsartikel gehört in die Gruppe der Verschleierungsparagraphen, von ihm sind keine wirklichen Auswirkungen zu erwarten. Die jetzige Diskussion ist im Grunde eine psychologische Flucht nach vorn. Glaubwürdig wäre die Sache nur gewesen, wenn man vor der Ausarbeitung eines Vertrages zuerst das bestehende Regelungswerk geprüft und dann einen Großteil der Ansätze - von der Sozialpolitik über die Kultur- und Bildungspolitik bis hin zu gewissen Aspekten des Verbraucherschutzes - überhaupt nicht in das Gemeinschaftsrecht aufgenommen hätte. Ein weiterer interessanter Aspekt im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip ist noch, daß alle wichtigen Zukunftsaufgaben nach dem Maastrichter Vertrag nicht mehr vergemeinschaftet werden, sondern inter-gouvernemental ausgehandelt werden sollen. Fragen der inneren Sicherheit, der Außenpolitik und der Verteidigungspolitik werden künftig nicht mehr von den Gremien der Gemeinschaft geregelt, sondern durch zwölfseitige Regierungsverträge. Bei diesen Abkommen wird es ganz schwer sein, einen Subsidiaritätsgedanken einzubringen, zum einen, weil einige Regierungen mit diesem Grundsatz überhaupt nichts anfangen können, zum anderen, weil man so glücklich sein wird, sich überhaupt auf irgendwas geeinigt zu haben, daß man auf die Inhalte dieser Einigung nur noch wenig achtet. Dafür ist der Maastrichter Vertrag selbst das beste Beispiel. Diejenigen, die bereit sind, solche Regierungsvereinbarungen voranzutreiben, sind zumeist unsere südlichen Mitgliedstaaten, die von dem Gedanken auf ein Recht auf finanzielle Umschichtung geprägt sind. Das sind aber genau die Staaten, die zum Subsidiaritätsprinzip keinen besonderen Zugang haben. Das Subsidiaritätsprinzip ist grundsätzlich sinnvoll, und es ist auch zu begrüßen, daß es in ein europäisches Vertrags werk Eingang gefunden hat. Es ist für mich aber offensichtlich, daß dieses Prinzip nicht in das Vertragswerk aufgenommen worden ist, um es anzuwenden, sondern zur Verschleierung der wahren Ziele. Deswegen muß der Vertrag scheitern, und die Gemeinschaft müßte dann einen neuen Anlauf nehmen, indem sie sich in zahlreichen Einzelverträgen nach einer vorgenommenen Erweiterung vertieft. Ich glaube, man sollte den Ansatz von Maastricht als umfassenden Generalvertrag ganz aufgeben. Bei dieser Erweiterung muß die bereits vorhandene Erfahrung der EFfA-Staaten mit dem Subsidiaritätsprinzip in die neuen Verträge miteinbezogen werden. Auch das halte ich für eine gewisse Zumutung des Maastricht-Vertrages, daß man im Zusammenhang mit der Idee des EWR den hochentwickelten, föderal und subsidiär struktu-

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rierten Staaten der EFfA sagt, sie müßten den Vertrag übernehmen und auch alles, was die Kommission künftig beschließt, oder sie könnten nicht dabei sein. Dem hätte Deutschland nie zustimmen dürfen, denn Österreich und die Schweiz sind natürliche Verbündete deutscher gesellschaftspolitischer Ansätze; Deutschland hätte von vornherein sagen müssen, das ist unzumutbar. Ich habe den Kollegen, die damals die Verhandlungen geführt haben, prophezeit, daß der Vertrag in der Schweizer Volksabstimmung keine Mehrheit finden wird. Ein so selbständiges und selbstbewußtes Volk wie die Schweiz läßt sich doch einen solchen Knebelungsvertrag nicht vor die Füße werfen. Es liegt auch nicht in unserem Interesse. Daß die deutsche Regierung das nicht verhindert hat, ist ein weiterer Punkt in einer von mir in diesen vier Jahren ständig beobachteten Kette, daß die deutsche Regierung zur Formulierung und Durchsetzung einer eigenen Europa-Politik unfähig ist. Es gibt keine deutsche Europa-Politik. Die Europa-Politik Deutschlands ist insgesamt zu sehr an Paris angelehnt. Dies wird mit der deutsch-französischen Achse und der damit verbundenen Friedenssicherung begründet. Meine Erfahrung ist dies nicht. Die meisten Mitgliedstaaten wittern hinter dieser Unterwerfung - ich habe gestern schon einmal Churchill zitiert: Die Deutschen hat man entweder am Halse oder sie liegen einem zu Füßen, beides ist mir gleich unangenehm - sie wittern hinter dieser Unterwerfung irgendwelche ganz tiefsitzenden taktischen Finessen und Gemeinheiten, die sie nicht erkennen können. Und zweitens verletzt Deutschland auch seine ordnungspolitischen Interessen. Vieles wäre mit den Briten im Wege eines vernünftigen Ausgleichs viel besser zu machen. Das heißt nicht, daß man sich von den Franzosen abkoppeln muß. Aber dieses manische Hinterherrennnen hinter französischen zentralistischen Ideen ist einer Regierung ziemlich unwürdig, und da paßt eben wunderbar hinein, daß man nicht gesagt hat "Wir, der Mitgliedstaat Deutschland, wollen, daß die EFfA-Staaten ihre staatlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen einbringen können in einen solchen Zukunftsvertrag", sondern daß man gesagt hat "Ja, ja, das ist völlig richtig, die müssen das übernehmen, was die Mehrheit der Zentralisten zur Zeit bei uns beschlossen hat." Aus vielfältigen Gründen ist das Scheitern des Vertrages die einzige Lösung. Ich glaube, daß er sogar inhaltlich scheitert, selbst wenn er angenommen werden sollte, weil er inzwischen durch die lange inhaltliche Auseinandersetzung faktisch tot ist. Die Erklärung von Edinburgh, man gebe den Dänen noch ein halbes Jahr, dann mache man es alleine, ist das Bekenntnis der Regierungchefs, die Europäische Union notfalls auf einen Rechtsbruch zu gründen. Denn sie können diese Union rechtlich nicht ohne Dänemark errichten. Auch wenn sie den Maastrichter Vertrag mit der Ablehnung durch die Dänen als hinfällig ansehen, können sie nicht ohne Dänemark etwas Neues machen. Denn nach Maastricht herrscht kein juristisches Vakuum, sondern es gelten die Römischen Verträge, und nach diesen gilt das Erfordernis der Einstimmigkeit. Das ist übrigens ein Grundprinzip, das man nicht aus Versehen beschlossen hat. Man ging vielmehr davon aus, daß

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eine Gemeinschaft, die noch kein Staat ist, sich auf die Einstimmigkeit ihrer Mitgliedstaaten stützen muß; und wenn nur einer gegen eine bestimmte Entwicklung ist, geht es eben nicht. Gerade diesen Grundsatz will man jetzt verletzen. Abschließend kann ich vielleicht noch sagen, daß das Subsidiaritätsprinzip auch bei der deutschen verfassungsrechtlichen Bewertung eine Rolle spielen wird. Mein Verfahrensbevollmächtigter, Prof. Schachtschneider, hält in dem Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen den Vertrag von Maastricht das Subsidiaritätsprinzip für den Beweis, daß Maastricht in seiner jetzigen Form verfassungswidrig ist. Denn nach den Art. 20 und 79 Abs. 3 GG kann mit unserer Verfassung kein europäischer Überstaat geschaffen werden, weil Art. 24 GG nur die Übertragung von Hoheitsrechten an zweckverbandsähnliche Gebilde rechtfertigt. Wenn ich einen Überstaat schaffen will, dann brauche ich eine neue Verfassung und muß über diese auch das Volk abstimmen lassen oder eine verfassunggebende Versammlung einberufen. Für die Begründung, warum mit dem Maastrichter Vertrag die Schwelle zum Überstaat überschritten ist, führt Prof. Schachtschneider aus, daß das Subsidiaritätsprinzip ein Staatlichkeitsprinzip sei, ein Prinzip, in dem ein wenn auch föderal strukturierter Staat Kompetenzen zuweist. Eine Zweckgemeinschaft, die von Art. 24 GG noch getragen ist, definiert sich anders, nicht nach dem Subsidiaritätsprinzip. Das Subsidiaritätsprinzip ist damit eines von vielen Hinweisen in dem Maastricht-Vertrag, daß es hierbei in Wahrheit um eine zwar noch nicht vollkommene, aber in der ersten Auswirkung doch bereits vorhandene Überstaatlichkeit geht. Insofern wird, wenn diese Verfassungsbeschwerde angenommen wird, was ich hoffe und wofür wir auch ein paar Hinweise haben, das Subsidiaritätsprinzip in der deutschen Verfassungsdiskussion auch noch eine Rolle spielen.

Subsidiarität als Rechtsprinzip? Von Torsten Stein

I. Einführung Selten war ein Fragezeichen hinter eine"1 Thema wohl so ernst zu nehmen wie bei der Frage, ob das Subsidiaritätspinzip im Kontext des Europäischen Gemeinschaftsrechts und insbesondere in der Form seiner Ausgestaltung im Vertrag über die Europäische Union (Maastricht) Rechtssatzcharakter hat oder lediglich eine politische Leerformel ist. Je länger und mehr man liest, was in jüngster Zeit über das Subsidiaritätsprinzip von den Organen der Gemeinschaft und in der Literatur geäußert wurde, um so mehr wächst der Zustand der Verwirrung und um so mehr gerät man in Versuchung, den Begriff als bloßes Modewort zu entlarven, als ,,zauberwort für Europa-Müde", wie DIE ZEIT geschrieben hat I, das - wie manche Mode - genauso schnell wieder in der Versenkung verschwinden kann, wie es aufgetaucht ist. So richtig "aufgetaucht" ist der Begriff der Subsidiarität eigentlich erst nach dem dänischen ,,Nein" zum Maastrichter Vertrag. Wäre der Vertrag in allen zwölf Mitgliedstaaten der Gemeinschaft mehr oder weniger geräuschlos ratifiziert worden, wäre das nach Inhalt und Formulierung unpräzise und wenig gelungene Subsidiaritätsprinzip im Maastrichter Vertrag (dieses Urteil gilt auch für zahlreiche andere Artikel des Vertrages) 2 vielleicht gar nicht aufgefallen, man hätte darin allenfalls ein spezifisch deutsches Problem gesehen 3• Nach dem knappen "Nein" des dänischen und dem knappen ,,Ja" des französichen Referendums zum Maastrichter Vertrag ist das Subsidiaritätsprinzip als möglicher Rettungsanker für die Europäische Union entdeckt worden4, manche sehen es als Korrektiv für das, was ihnen an den Europäischen Gemeinschaften schon immer mißfallen hat. Hier fallt dann spätestens das Stichwort von der K.-P. Schmid, Das Zauberwort für Europa-Müde, Die Zeit vom 23.10.1992, S. 23. G. Ress, Die neue Kulturkompetenz der EG, DÖV 1992, S. 944 (948 f.). 3 Das deutet V. Constantinesco an ("Subsidiarität": Magisches Wort oder Handlungsprinzip der Europäischen Union?, EuZW 1992, S. 561 f.). 4 Eine erste umfassende Diskussion fand bereits im Rahmen des am 21./22.3.1991 veranstalteten Jacques-Delors-Kolloquiums "Subsidiarity - The Challenge of Change" statt (Veröffentlichung der Arbeitsunterlagen durch das European Institute of Public Administration, Maastricht 1992). I

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"Brüsseler Regelungswut", der man mit dem Subsidiaritätsprinzip Einhalt gebieten könne und müsse. Nun muß man zunächst sehen, daß die "Brüsseler Regelungswut" nicht alleine von der EG-Kommission zu verantworten ist. Vieles ist von der Kommission deshalb in die Harmonisierung oder Rechtsvereinheitlichung genommen worden, weil die Mitgliedstaaten jede noch so kleine Unterschiedlichkeit in ihren nationalen Normen zum Anlaß genommen haben, die Produkte und Waren aus den anderen Mitgliedstaaten von ihren Märkten fernzuhalten, um der heimischen Industrie eine geschützte Nische zu erhalten. Dies führte dann zu Regelungen wie der so oft verspotteten 64 Seiten langen Richtlinie über Umsturzvorrichtungen an landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen 5 • Die inhaltliche Überfrachtung solcher Regelungen ergibt sich oft aus der langen Liste von Sonderwünschen, die die Mitgliedstaaten oder das Parlament im Laufe des Verfahrens äußern 6. Und all das wäre auch nicht geltendes Europa-Recht geworden, wenn nicht mindestens eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten zugestimmt hätte. Wenn es denn nicht als Selbstbeschränkungsmaxime im Sinne eines "legislative restraint" wirkt, dann wird man künftig das Subsidiaritätsprinzip gegen eben diese qualifizierte Mehrheit von Mitgliedstaaten verteidigen müssen. Auf der gleichen Linie liegt es, wenn gesagt wird, das Subsidiaritätsprinzip sei eigentlich nichts Neues, sondern schon immer ein grundlegendes Prinzip der europäischen Integration gewesen 7 • Wenn das so ist, dann hat es jedenfalls manchen Unfug nicht verhindern können, denn trotz aller anderen eben genannten Gründe für die europäische Hyperregulierung gilt eben auch für die EG-Kommission, daß ein großer Beamtenapparat dazu neigt, Großes hervorzubringen, und daß Rechtsangleichung und Rechtsvereinheitlichung der Kommission zuweilen zum Selbstzweck geraten sind 8. Was unterdessen als "praktizierte Subsidiarität" verkauft wird, stimmt auch nicht zuversichtlich. So berichtet die Zentrale Presseabteilung des Europäischen Parlaments in der Vorschau für die Tagungswoche vom 16. -20. November 1992 9 unter eben jener Überschrift, daß der Berichterstatter des Parlamentes 10 vorschla5 Richtlinie des Rates vom 25.6.1987 über vor dem Führersitz angebrachte Umsturzvorrichtungen an land- und forstwirtschaftlichen Schmalspurzugmaschinen auf Rädern, AbI. C 220 vom 8.8.1987, S. 1 ff.; vgI. dazu auch den zugrundeliegenden 80 Seiten langen Vorschlag der Kommission, AbI. C 222 vom 2.9.1985, S. 1 ff. 6 Darauf weist die Kommission in der Mitteilung an den Rat und das Parlament zur Festlegung und Anwendung des Subsidiaritätsprinzips besonders hin, da sie sich ungerechtfertigterweise der Hauptkritik in diesem Punkt ausgesetzt sieht (Agence Europe, Dokumente Nr. 1804/05 vom 30.10.1992, S. 4; auch unten abgedr. als Anhang 2). 7 So die Mitteilung der Kommission (Fn. 6), S. 4. Ebenso schon der Zwischenbericht des Institutionellen Ausschusses über den Grundsatz der Subsidiarität (Bericht Giscard d'Estaing) vom 4.7.1990, EP-Dok. A 3-163/90/Teil B, S. 3; unten abgedr. als Anhang 1. 8 Siehe Fn. 5. 9 PE 159.163, S. 7.

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ge, den Kommissionsentwurf für eine Statistikverordnung auf der Grundlage des Subsidiaritätsprinzips abzulehnen. Der Vorschlag der Kommission betraf die "Durchfuhrstatistik und die Statistik im Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten", die von einigen Mitgliedstaaten nach Wegfall der Binnengrenzkontrollen nicht mehr ohne weiteres erhoben werden könnten. In ihrer Begründung zu diesem Entwurf hatte die Kommission wörtlich ausgeführt, "daß die Gemeinschaft als solche derartige Statistiken in der gegenwärtigen Situation nicht benötigt". Dennoch hat sie einen entsprechenden Entwurf vorgelegt. Man wird den Verdacht nicht ganz los, daß hier ein Papiertiger aufgestellt und umgehend erlegt wurde und daß man den Befürwortem des Subsidiaritätsprinzips eine gehörige Portion weißer Salbe verabreicht hat. Ungeachtet dieser etwas pessimistisch klingenden Einstimmung soll im folgenden der Versuch gemacht werden, in dem Subsidiaritätsprinzip mehr zu sehen als nur einen Formelkompromiß 11 und aus ihm soviel als möglich rechtlichen Gehalt zu gewinnen, denn nur so kann mehr daraus werden als ein eher akademischer Gegenstand für einen jährlichen Bericht der Kommission an Rat und Parlament 12. Bevor aber der rechtliche Gehalt des Subsidiaritätsprinzips beurteilt werden kann, muß man sich - zumindest im Sinne eines Arbeitsbegriffes darüber klar werden, was es bedeutet und was man damit erreichen will. 11. Begriffsbestimmung, Ziele Es ist der jüngsten intensiven Diskussion über das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Gemeinschaften zu verdanken, daß sich eine Passage aus der Enzyklika "Quadragesimo anno" Pius XI. aus dem Jahre 1931 größerer allgemeiner Bekanntheit erfreut als wahrscheinlich jede andere. Dort heißt es: "Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen." 13 Bericht Donnelly, EP-Dok. A 3-335/92 vom 4.11.1992. So D. Grimm, Subsidiarität ist nur ein Wort, FAZ vom 17.9.1992. 12 Dieser Jahresbericht findet sich als Forderung in der Entschließung des Europäischen Parlaments über die Verwirklichung des Grundsatzes der Subsidiarität (Agence Europe Ne. 5861 vom 20. 11. 1992, S. 4). 13 Zitiert nach C. Stewing, Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union (Köln 1992), S.7. Siehe auch J. lsensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht (1969), S. 19. D. Sidjanski weist auf den Ursprung des Prinzips bei Aristoteles und Thomas von Aquin hin, in: D. Sidjanski, L'avenir federaliste d'Europe (Paris 1992), S. 302. Siehe auch H.-J. Blanke, Das Subsidiaritätsprinzip als Schranke des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Zeitschrift für Gesetzgebung 1991, S. 133 (134 Fn. 9). 10

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Subsidiarität bedeutet damit in vertikaler Hinsicht Handlungszuweisung an die jeweils untere Instanz, sofern ihre Kräfte zur Erledigung der gestellten Aufgabe ausreichen 14. Das scheint auch schon der kleinste gemeinsame Nenner der aktuellen Diskussion im europarechtlichen Kontext zu sein. Sehr viel diffuser wird das Bild, wenn es darum geht, welche Zielvorstellungen mit dem Prinzip der Subsidiarität verbunden werden. Das beginnt damit, daß manche die Subsidiarität als Strukturprinzip offenbar erst für eine künftige europäische Ordnung "nach Maastricht" begreifen, für einen europäischen Bundesstaat mit den Ebenen Gemeinschaft, Staaten und Regionen (wenn die bisherigen Mitgliedstaaten als "Bundesländer" erhalten bleiben) 15 oder auch nur mit der Gemeinschaft und den - dann jedenfalls zum Teil grenzüberschreitenden - Regionen 16. Eine solche "Verschiebung" oder "Vertagung" des Subsidiaritätsprinzips auf künftige Entwicklungen verbietet sich aber schon angesichts seiner ausdrücklichen Aufnahme in den Maastrichter Vertrag. Die Zielvorstellungen, die sich mit dem Subsidiaritätsprinzip verbinden, sind ansonsten entweder konservierender oder korrigierender Art: Es soll kulturelle, traditionelle und historische Unterschiede erhalten helfen und nationale Identitäten und Gewohnheiten schützen 17. Es soll für mehr Transparenz und Bürgernähe sorgen 18 und die solange vermißte Demokratisierung des Entscheidungsprozesses in der Gemeinschaft durch stärkere Regionalisierung vorantreiben 19 • Wer dagegen jedenfalls die bisherigen Gemeinschaftsverträge für eher "länderblind" hält, wird mehr auf die Aufgabenverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten abstellen und es den letzteren überlassen, wie sie die verbleibenden Zuständigkeiten intern nach unten weitergeben 20. Auf relativ sicherem Boden 14 In horizontaler Sicht mag man unter Subsidiarität auch die Abgrenzung jener Aufgaben verstehen, die zwar dem einzelnen entzogen, dann aber entweder der öffentlichen Hand oder gesellschaftlichen Gruppierungen zugewiesen werden. Diese Sicht spricht auch Giscard d' Estaing in seinem Bericht an (Fn. 7), ohne im folgenden jedoch weiter darauf einzugehen. Nicht ganz deutlich wird, was M. Schmidhuber / G. Hitzier unter ,,horizontaler Geltung" verstehen (Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EWG-Vertrag - ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer föderalen Verfassung der Europäischen Gemeinschaft, NVwZ 1992, S. 720). 15 Siehe M. Heintzen, Subsidiaritätsprinzip und Europäische Gemeinschaft, JZ 1991, S. 316 (322 f.). 16 Heintzen, ibid., S. 320. 17 V gl. z. B. K. Scheiter, Subsidiarität - Handlungsprinzip für das Europa der Zukunft, EuZW 1990, S. 217 (218). 18 J. Pipkorn, Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag über die Europäische Union rechtliche Bedeutung und gerichtliche Überprüfbarkeit, EuZW 1992, S. 700; E. Gazzo, Initiative für Wachstum: So "bürgernah wie möglich" handeln, Agence Europe Nr. 5880 vom 16.12.1992, S. 1. 19 M. Heintzen (Fn. 15), S. 322 sieht "die Regionen ... allmählich als eigenständige Handlungsebene anerkannt." 20 Auf die momentane Impermeabilität der Gemeinschaftsrechtsordnung weisen F. L. Graf Stauffenberg / eh. Langen/eid hin (Maastricht - ein Fortschritt für Europa? , ZRP 1992, S. 252 [256]).

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bewegt man sich daher wohl nur dann, wenn man Subsidiarität primär als Prinzip für die Aufgabenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft begreift.

111. Das Subsidiaritätsprinzip in den Gemeinschaftsverträgen Der rechtliche Gehalt des Subsidiaritätsprinzips hängt ferner davon ab, in welcher seiner Ausprägungen im Gemeinschaftsrecht man es betrachtet. Es wird gesagt, daß das Subsidiaritätsprinzip vor Maastricht, jedenfalls aber vor der Einheitlichen Europäischen Akte, vielleicht nur ein rein politisches Prinzip darstellte, das wenig greifbare Kompetenzschranken bot und allenfalls durch politische Entscheidungen im Rat - wenn denn die Mehrheitserfordernisse danach waren - zur Geltung kommen konnte 21 • Erst der Vertrag von Maastricht habe die Subsidiarität als allgemeines Prinzip eingeführt und damit die Chance eröffnet, etwas daraus zu machen, was auch den Gerichtshof der Gemeinschaft zu seiner praktischen Handhabung befahige 22 • Damit stellt sich auch die Frage, was denn aus der Subsidiarität würde, wenn der Vertrag von Maastricht doch noch scheitern sollte. Im Giscard d'Estaing-Bericht an das Europäische Parlament aus dem Jahre 1990 wie auch in der Mitteilung der Kommission 23 wird, wenn auch nuanciert, betont, daß der Grundsatz der Subsidiarität in der Europäischen Gemeinschaft bereits existiert. Der Giscard d 'Estaing-Bericht sieht ihn im Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verwirklicht, das in Art. 4 des EWG-Vertrages zum Ausdruck kommt und demzufolge ,jedes Organ der Gemeinschaft nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse handelt". Dieses Verständnis von Subsidiarität mag natürlich zu dem Schluß verleiten, daß dem Subsidiaritätsprinzip bereits abschließend durch die Befugniszuweisungen Rechnung getragen wurde und daneben kein Platz für weitere Subsidiaritätserwägungen sei. So erkennt die Kommission in Art. 4 EWG-Vertrag auch primär eine Handlungsverpflichtung und nicht die sich "implizit" daraus ergebenden Grenzen; darauf ist zurückzukommen. "Im Keim", so die Kommission, war das Subsidiaritätsprinzip bereits in Art. 5 des EGKS-Vertrages enthalten, wonach die Gemeinschaft ihre Aufgabe durch "begrenzte Eingriffe" erfüllt. Erstmals ausdrücklich wird das Subsidiaritätsprinzip in dem durch die Einheitliche Europäische Akte eingeführten Art. 130 r Abs. 4 EWG-Vertrag genannt, demzufolge die Gemeinschaft im Bereich der Umwelt insoweit tätig wird, als die entsprechenden Ziele "besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können als auf der Ebene der Mitgliedstaaten". 21

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Eine detaillierte Untersuchung dazu hat C. Stewing angestellt (Fn. 13), S. 55 und

22 So E. Klein in der Besprechung von M. Schröder, Europäische Bildungspolitik und bundesstaatliche Ordnung, AöR 1992, S. 479 f. 23 Siehe oben Fn. 6 und 7.

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Der Maastrichter Vertrag fonnuliert das Subsidiaritätsprinzip als allgemeinen Grundsatz wie folgt: "Artikel 3 b (1) Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. (2) In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkung besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. (3) Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das zur Erreichung der Ziele des Vertrages erforderliche Maß hinaus." Es ist bemerkenswert, daß Absatz 2 erst im letzten Augenblick noch einmal geändert wurde; nach den Entwürfen des luxemburgischen und niederländischen Ratsvorsitzes 24 sollte die Gemeinschaft tätig werden, sofern und soweit die Ziele des Vertrages ... besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. Die Begrenzung auf die "Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen" und die Voraussetzung, daß sie "auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können", sind erst auf dem Maastrichter Gipfel eingefügt worden.

IV. Die Konkretisierung in Art. 3 bEG-Vertrag Es gibt keinen Zweifel, daß Artikel 3 b des Maastrichter Vertrages das Subsidiaritätsprinzip für das Gemeinschaftsrecht in wesentlicher Hinsicht konkretisiert und daß bei einem Scheitern des Vertrages diese Konkretisierung nicht unmittelbar wirken könnte, was immer diese Wirkung im Endeffekt sein kann. Auf der anderen Seite hat sich insbesondere die Kommission bemüht, darzulegen, daß diese Konkretisierung in der Sache kaum etwas Neues bringe, daß das Subsidiaritätsprinzip eigentlich schon immer gegolten habe und daß sich daher die Gemeinschaftsbefugnisse dadurch nicht merklich ändern würden 25. Unter diesem Aspekt erscheint es gerechtfertigt, im folgenden das Subsidiaritätsprinzip in seiner Ausgestaltung in Art. 3 b des Maastrichter Vertrages zugrundezulegen, auch wenn nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, daß dieser Artikel so nicht geltendes Recht wird. Über die Bedeutung des Art. 3 b des Maastrichter Vertrages herrscht alles andere als Einigkeit, jedenfalls soweit es seinen Absatz 2 betrifft, für den das Wort vom Fonneikompromiß26 durchaus seine Berechtigung haben mag. 24 Siehe Agence Europe, Dokumente Nr. 1722/23 vom 5.7.1991, Nr. 1733/34 vom 3.10.1991 und Nr. 1750/51 vom 13.12.1991. 25 Vgl. dazu die Mitteilung der Kommission (Pn. 6), insbesondere S. 4. 26 D. Grimm (Pn. 11).

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Artikel 3 b Abs. I gibt das bereits im Art. 4 EWG-Vertrag enthaltene Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wieder, das in sachlicher, instrumentaler und funktionaler Hinsicht zu beachten ist: Die Gemeinschaft kann nur solche Materien regeln, die ihr im Vertrag zugewiesen sind, sie kann es nur mittels desjenigen Sekundärrechtstypus tun, der - zumeist - dafür ausdrücklich im Vertrag genannt ist, und sie ist auf die Normsetzung beschränkt, die Anwendung der Norm ist in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle Sache der Mitgliedstaaten 27. Absatz I ist damit zweifellos eine Kompetenzzuweisungs- und daher auch eine Kompetenzbegrenzungsvorschrift ("Kompetenzausscheidungsprinzip"). Artikel 3 b Abs. 3 statuiert dagegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip und setzt damit eine Gemeinschaftskompetenz als gegeben voraus. Er ist ein Grundsatz für die Kompetenzausübung, nicht eine Kompetenzzuweisung. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip war bislang im EWG-Vertrag nicht ausdrücklich genannt, war aber von der Rechtsprechung als allgemeiner Rechtsgrundsatz und damit ungeschriebenes primäres Gemeinschaftsrecht anerkannt 28 • Sofern es bei der Rechtssetzung beachtet wurde, lag das bisher eher an der Weisheit der Kommission oder an der Unwilligkeit des Rates, eine unverhältnismäßig weitgehende Gemeinschaftsregel zu verabschieden. Die Schwierigkeiten bei der rechtlichen Einordnung von Art. 3 b Abs. 2 des Maastrichter Vertrages ergeben sich - abgesehen von der nicht einfachen Unterscheidung zwischen ausschließlichen und nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der Gemeinschaft, auf die zurückzukommen ist 29 - aus der parallelen bzw. kombinierten Verwendung von Begriffen, die nicht nur inhaltlich ausfüllungsbedürftig und in hohem Maße der Auslegung zugänglich sind, sondern die vor allem auch in verschiedene Richtungen weisen. Hier heißt es, daß die Gemeinschaft nur tätig wird, sofern und soweit die Ziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten "nicht ausreichend" erreicht werden können "und daher besser" auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können. "Nicht ausreichend" deutet auf eine "Notwendigkeitsklausel" hin 30, die eine Gemeinschaftsmaßnahme erst dann eröffnet, wenn dies zur Aufgabenerfüllung unbedingt notwendig ist und nicht bereits dann, wenn die höhere, die Gemeinschaftsebene, nach einer von ihr zu treffenden Ermessensentscheidung zu dem 27 Ausführliche Darstellungen des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung z. B. bei: T. Oppermann, Europarecht (1991), Rdnr. 432 ff.; B. Beutler in: Beutler / Bieber / Pipkom / Streil, Die Europäische Gemeinschaft (3. Auf!. 1987), S. 75 ff.; R. Streinz, Europarecht (1992), Rdnr. 436 ff.; G. Nicolaysen, Europarecht 1(1991), S. 128 ff. 28 Vgl. die Urteile in den RS 118/75 (Watson v. Beiman), Sig. 1976, S. 1185 und RS 122/78, EuGHE 1979, S. 677 ff.; femerG. Ress, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im deutschen Recht, in: H. Kutscher / G. Ress / F. Teitgen / F. Errnacora / G. Ubertazzi, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen (1985), S. 5 (6). 29 Siehe unten S. 32. 30 Im Ergebnis wohl auch J. Pipkorn (Fn. 18), S. 699.

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Ergebnis kommt, sie könne es "besser tun" und sei zur Wahrung des gemeinschaftsrechtlichen "effet utile" auch dazu verpflichtet. Das Notwendigkeitsprinzip lag dem Vorschlag der Regierungschefs der deutschen Bundesländer zugrunde 31 • Dort heißt es: "Die Gemeinschaft übt die ihr nach diesem Vertrag zustehenden Befugnisse nur aus, wenn und soweit das Handeln der Gemeinschaft notwendig ist, um die in diesem Vertrag genannten Ziele wirksam zu erreichen und hierzu Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten bzw. der Länder, Regionen und autonomen Gemeinschaften nicht ausreichen." Der Umstand, daß Art. 3 b Abs. 2 des Maastrichter Vertrages nicht ebenfalls nur von "nicht ausreichend", sondern daneben auch von "besser erreichen" spricht, wird wohl überwiegend dahingehend gedeutet, daß damit das "Notwendigkeitsprinzip" aufgegeben und durch ein bloßes ,,Effektivitätsprinzip" ersetzt wurde, das es jedenfalls der Gemeinschaft ermöglicht, die Ausübung einer Kompetenz nach einer effet utile-Wertung an sich zu ziehen 32. Auch Ress 33 spricht davon, daß "bestehende funktionelle Gemeinschaftskompetenzen dort nicht voll auszuüben sind, wo der zusätzliche Integrationsgewinn minimal, der Eingriff in die verbliebenen Zuständigkeitsbereiche der Mitgliedstaaten ... jedoch beträchtlich ist." In der Tat wird Art. 130 r Abs. 4 EWG-Vertrag, demzufolge die Gemeinschaft im Bereich der Umwelt insoweit tätig wird, als die entsprechenden Ziele "besser" auf Gemeinschaftsebene als auf der Ebene der Mitgliedstaaten erreicht werden können, überwiegend, wenn auch nicht ausnahmslos, als politischer Grundsatz oder Leitlinie, aber nicht als Kompetenznorm angesehen 34• Jedenfalls soll es der Gemeinschaft obliegen, einzuschätzen, welche Aufgaben in der Umweltpolitik gemeinschaftlich erledigt werden 35. Dabei ist aber zu beachten, daß der Rat nach Art. 130 s EWG-Vertrag über das Ergreifen einer Gemeinschaftsmaßnahme in jedem Fall zunächst einstimmig zu entscheiden hat. Das Einstimmigkeitserfordernis war jedoch schon immer ein Weg, auch bei grundsätzlich gegebener Gemeinschaftskompetenz die Subsidiarität des gemeinschaftlichen Handeins zu wahren 36. Wenn nun aber schon bei Art. 130 r EWG-Vertrag der kompetenzverteilende Charakter der Vorschrift nicht völlig von der Hand gewiesen werden kann 37 , 31 Siehe den Beschluß vom 7.6.1990, abgedruckt bei J. Bauer, Europa der Regionen (Berlin 1991), Dok. 5, S. 92. 32 In diesem Sinne Stauffenberg / Langenjeld (Fn. 20), S. 255 ("Kompetenzausübungsregel"); L. Knemeyer, Subsidiarität, Föderalismus, Dezentralisation, DVBl. 1990, S. 449 (451) ("Ordnungspolitisches Prinzip"); Constantinesco (Fn. 3) (,,Rule of reason"). 33 G. Ress, (Fn. 2), S. 948. 34 So insbesondere L. Krämer in: Groeben / Thiesing / Ehlermann, Kommentar zum EWG-Vertrag (4. Aufl. 1991), Rdnr. 56 ff. zu Art. 130 r. Anderer Ansicht aber noch G. Ress, Stichwort ,,Europäische Gemeinschaften", in: Kimminich / Lersner / Storm, Handwörterbuch des Umweltrechts (1986), Sp. 459. 35 E. Grabitz, Kommentar zum EWG-Vertrag, Rdnr. 73 zu Art. 130 r. 36 Darauf weist besonders Heintzen hin (Fn. 15), S. 319.

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dann muß das um so mehr für Art. 3 b Abs. 2 des Maastrichter Vertrages gelten, der eben nicht nur von "besser erreichen", sondern von "nicht ausreichend und daher besser erreichen" spricht. Und es heißt dort auch nicht "oder besser", sondern "daher besser", so daß "besser erreichen" in jedem Falle durch "nicht ausreichend auf der Ebene der Mitgliedstaaten erreichbar" konditioniert wird. Damit spricht zumindest einiges dafür, daß es sich auch bei Art. 3 b Abs. 2 des Maastrichter Vertrages um eine Kompetenzverteilungsnorm handelt mit der Folge, daß die Gemeinschaft nur dann zuständig wird, wenn sie die Notwendigkeit ihres Eingreifens darlegt und nachweist. Ob diese Vorschrift damit praktisch handhabbarer wird, ist eine ganz andere Frage 38 •

V. Die Position der Kommission Die Kommission versteht das Subsidiaritätsprinzip aus nachvollziehbaren Gründen so eng wie möglich; ihre Sorge ist die Renationalisierung der Politik. Gleichwohl enthält ihre entsprechende Mitteilung an den Rat und das Parlament 39 manches, was das Subsidiaritätsprinzip jeglicher rechtlichen Bedeutung beraubte, wenn es zur geltenden Doktrin würde. Zunächst einmal sieht die Kommission das Subsidiaritätsprinzip generell als Ordnungsprinzip für die Ausübung der Zuständigkeiten und nicht für die Zuweisung der Zuständigkeiten. Selbst das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, demzufolge die einzelstaatliche Zuständigkeit die Regel und die Gemeinschaftszuständigkeit die Ausnahme ist, steht nicht mehr ganz außer Frage, wenn die Kommission anregt, es sei angebrachter, die wichtigsten (!) den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Zuständigkeitsbereiche anzugeben, als "einfach davon auszugehen, daß die einzelstaatliche Zuständigkeit die Regel ist" 40. Diese Sichtweise würde das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in der Wirkung geradezu ins Gegenteil verkehren. Hinsichtlich Art. 3 b Abs. 2 des Maastrichter Vertrages sind die Äußerungen der Kommission nicht eindeutig; zum einen spricht sie davon, daß es hier um die ,,Notwendigkeit" des Handeins der Gemeinschaft gehe, also darum, ob sie "grundsätzlich tätig" werde, wobei sie für diese Notwendigkeit den Nachweis zu erbringen habe. Zum anderen soll sich diese Notwendigkeit aus einem ,,komparativen Effizienztest" und einem "Mehrwert-Test" ergeben, die auf die eventuell bestehenden grenzübergreifenden Schwierigkeiten, die Kosten der Nichtdurchführung der Maßnahme, die durch Grenzen und Finanzmittel beschränkten Handlungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten und die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt abstellen. Nun sind "Notwendigkeit" und "EffiSiehe die Nachweise bei Grabitz (Fn. 35) Rdnr. 71 zu Art. 130 r. Pipkorn (Fn. 18), S. 700, formuliert vorsichtig, die "Konkretisierung ... werde der Anwendungspraxis und der Rechtssprechung obliegen". 39 Siehe oben Fn. 6. 40 Ibid. S. 5. 37 38

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zienz" aber nicht unbedingt gleichbedeutend. Unter Effizienzaspekten kann man nach dem denkbar besten Ergebnis streben ("Mehrwert"), auch wenn sich die Mitgliedstaaten mit dem durch ihre Maßnahmen erreichbaren Ergebnis oder auch dem Zustand der Nichtregulierung ohne Schaden für das Ganze zufrieden geben könnten, ein Gemeinschaftshandeln also nicht notwendig wäre. Die größte Schwierigkeit bereitet sicher der Umstand, daß Art. 3 b Abs. 2 des Maastrichter Vertrages sich nur auf solche Bereiche bezieht, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen, daß keiner der europäischen Verträge aber den Begriff der "ausschließlichen" oder auch der "konkurrierenden" Zuständigkeit definiert oder die unter den einen wie anderen Begriff fallenden Bereiche aufzählt 41 . Bleckmann, den man im übrigen nicht einer zu engen Definition der Gemeinschaftszuständigkeiten verdächtigen kann, will mit Ausnahme der Handelspolitik alle EG-Zuständigkeiten als konkurrierende verstehen, weil jede ausschließliche Gemeinschaftskompetenz angesichts einer nicht auszuschließenden Entscheidungsunfähigkeit des Rates dazu führen würde, daß die europäischen Allgemeininteressen nicht durchgesetzt werden können 42 . Ress zählt zur nicht ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft jedenfalls "sämtliche Harmonisierungsbereiche"43. Beutler geht davon aus, daß teilweise durch die Verträge ganz neue Zuständigkeiten der Gemeinschaft entstanden sind, die die Mitgliedstaaten für sich allein auch vor Vertrags abschluß nicht besaßen ("integrative Zuständigkeiten"), daß sich in der Regel die Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten aber überschneiden, wobei wiederum in der Regel eine konkurrierende Gemeinschaftszuständigkeit jedenfalls solange angenommen werde, wie die Gemeinschaft von ihrer Kompetenz noch keinen umfassenden Gebrauch gemacht habe 44 • Die Kommission sieht sich in ihrer Mitteilung an den Rat und das Parlament in besonderer Weise in die Pflicht genommen, ein Konzept für die Abgrenzung ausschließlicher und konkurrierender Zuständigkeiten zu erarbeiten, das dann wie folgt aussieht: Es gäbe in den Verträgen in bestimmten Bereichen eine Verpflichtung der Gemeinschaft zum Handeln, um die Ziele der Verträge zu verwirklichen (so z. B. die Schaffung eines Raumes ohne Binnengrenzen). Zwar könnten derzeit aus dieser Pflicht zum Handeln ausschließliche Zuständigkeiten der Gemeinschaft rechtlich nicht abgeleitet werden, aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes seien aber sehr wohl ausschließliche Zuständigkeiten entstanden, die sich schwerpunktmäßig an den vier Grundfreiheiten und an bestimmten gemeinsamen Politiken orientierten, die für die Schaffung des Binnenmarktes unerläßlich seien. Dazu gehörten 41 Ausführlich dazu C. Stewing (Fn. 13), S. 104 ff. 42 A. Bleckmann, Europarecht (5. Aufl. 1990), Rdnr. 118. 43 Ress (Fn. 2), S. 948. 44 Beutler (Fn. 27), S. 78.

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die Beseitigung der Hindernisse, die der Freizügigkeit sowie dem Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr entgegenstünden (Art. 8 a)

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die gemeinsame Handelspolitik (Art. 113) die Wettbewerbsregeln die Organisation der Agrarmärkte die Erhaltung der Fischbestände und der Markt für Fischereierzeugnisse die wesentlichen Elemente der Verkehrspolitik.

In all diesen Bereichen der ausschließlichen Zuständigkeit müsse die Gemeinschaft nicht erst den Beweis für die Notwendigkeit ihres Handeins antreten 45. Diese Liste der ausschließlichen Zuständigkeiten der Gemeinschaft, für die das Subsidiaritätsprinzip jedenfalls nicht im Sinne eines Kompetenzverteilungsgrundsatzes gelten soll, nimmt sich in ihrer Kürze auf den ersten Blick eher harmlos und in der Sache unstreitig aus, aber der Eindruck trügt, schon die erste Position hat es in sich. Wenn die Gemeinschaft tatsächlich aus Art. 8 a EWGVertrag eine Art - im Sinne Beutlers "integrative" - ausschließliche Generalkompetenz zur Beseitung aller Hindernisse für den Binnenmarkt hätte, dann bliebe für konkurrierende Zuständigkeiten und damit das Subsidiaritätsprinzip kaum noch ein Bereich übrig 46 • Dann wäre auch der gesamte "Harmonisierungsbereich" von dieser ausschließlichen Gemeinschaftskompetenz erfaßt und dann könnte die Gemeinschaft beispielsweise ein totales Werbeverbot für Tabakerzeugnisse anordnen mit der Begründung, daß anderenfalls der freie Verkehr von Presseerzeugnissen über die Grenzen angesichts der Werbeverbote in einigen Mitgliedstaaten nicht gewährleistet sei, und das, obwohl auch der Vertrag von Maastricht der Gemeinschaft in Art. 129 ausdrücklich jede Harmonisierungskompetenz im Bereich des Gesundheitswesens vorenthält 47. Eine derartige ausschließliche Generalkompetenz zur Verwirklichung des Binnenmarktes gibt Art. 8 a EWG-Vertrag der Gemeinschaft ersichtlich nicht, das zeigt schon das Scheitern des im Weißbuch von 1985 48 und im Bericht von Mitteilung der Kommission (Fn. 6), S. 6 f. So erscheinen die von der Kommission (Fn. 6), S. 8 f. angeführten konkurrierenden Zuständigkeiten auch unbestimmt und eingeschränkt, wie etwa "Maßnahmen in den Bereichen Soziales, Umwelt und Verbraucherschutz". 47 Siehe dazu T. Stein, Gemeinschaftsregeln für den Werbemarkt und ihre Grenzen nach Gemeinschaftsrecht und Grundrechten, Zentrum für Europäisches Wirtschaftsrecht (Bonn), Vorträge und Berichte Nr. 18, Mai 1992. Nachdem ein entsprechender Richtlinienentwurf im Rat keine Mehrheit fand (Agence Europe Nr. 5730 vom 15.5.1992, S. 8), versucht nunmehr die Kommission, einzelne Mitgliedstaaten zu einem bisher nirgends praktizierten Einfuhrverbot für Zeitschriften mit Tabakwerbung zu bewegen, um damit künstlich ein Harmonisierungsbedürfnis zu erzeugen (Agence Europe Nr. 5859 vom 18. 11. 1992). 48 Weißbuch der Kommission über die Vollendung des Binnenmarktes, KOM (85) 310 endg. 45

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1989 49 unternommenen Versuchs der Kommission, die gesamte "Kompensationsgesetzgebung" für den Wegfall der Binnengrenzkontrolle an sich zu ziehen. Artikel 8 a EWG-Vertrag nennt vielmehr die für die Vollendung des Binnenmarktes heranziehbaren Artikel des EWG-Vertrages und steht im übrigen unter dem Vorbehalt ("unbeschadet") der sonstigen Bestimmungen des Vertrages. Des "großzügigen" Angebots der Kommission zur Überlassung oder Rückübertragung der Gesetzgebungszuständigkeiten an die Mitgliedstaaten "bei Maßnahmen, die zur Verwirklichung der Freizügigkeit nicht oder nicht mehr unerläßlich sind"50, bedarf es also wohl gar nicht. Das Subsidiaritätsprinzip gilt nach dem letzten Absatz von Art. B des Maastrichter Vertrages für die Verwirklichung aller Ziele der Union so, "wie es in Art. 3 b des Vertrages ... bestimmt ist", das heißt Art. 3 b mit allen seinen Absätzen. Dieser Anordnung entkommt man nicht dadurch, daß man Art. 3 b Abs. 2 durch eine nahezu alle Tätigkeiten der Gemeinschaft umfassende Definition der ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeiten praktisch leerlaufen läßt. Die große Mehrzahl der Gemeinschaftszuständigkeiten ist konkurrierend. Konkurrierende Zuständigkeiten und damit die Notwendigkeit der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips gibt es nicht etwa nur im Bereich der Tätigkeiten der "Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft" im Sinne von Art. 3 a des Maastrichter Vertrages. Es ist sinnvoll, diejenigen Gemeinschaftszuständigkeiten als ausschließliche zu definieren, die auf einheitliches Auftreten nach außen, d. h. gegenüber Drittstaaten gerichtet sind. Das betrifft z. B. die gemeinsame Handelspolitik und die Fischereiabkommen; hier wären nationale unterschiedliche Maßnahmen schädlich. Aber es ist nicht einzusehen, warum sich nicht alle nach innen gerichteten Gemeinschaftszuständigkeiten in vollem Umfang am Subsidiaritätsprinzip messen lassen und damit auch dem Notwendigkeitstest stellen sollten.

Die Befürchtung, dadurch würden erreichte Integrationsfortschritte gefahrdet, erscheint unbegründet, auch wenn bereits "Tatarenmeldungen" auftauchen, nach denen Großbritannien angeblich die Abschaffung oder Überarbeitung von etwa 30 Richtlinien, zumeist aus dem Bereich "Europa der Bürger", verlangt habe 51 ; KOM (88) 640 endg. 50 Mitteilung der Kommission (Fn. 6), S. 8. Ebenso schon der britische Kommissar Sir Leon Brittan, Subsidiarity in the Constitution of the European Community, Agence Europe Documents Nr. 1786 vom 18.6.1992 für den Bereich der Fusionskontrolle ("The Community must therefore examine which areas of competence can be handed back to national control. "). Für die Tagung des Europäischen Rates in Edinburgh hat die Kommission nun die ersten Ergebnisse einer Überprüfung ihrer Vorschläge anhand des Subsidiaritätsprinzips vorgelegt, Agence Europe Nr. 5878 A vom 13./14.12.1992, Teil A, Anlage 2. Bisher hat sie danach 3 Richtlinienentwürfe zurückgezogen (so z.B. bzgl. der Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln) und beabsichtigt, weitere zurückzuziehen (z.B. zu indirekten Steuern) oder zu bloßen Grundsatzregeln umzuformen (z. B. bezüglich vergleichender Werbung). 51 Agence Europe Nr. 5872 v. 5.12.1992, S. 8, sowie Nr. 5873 vom 7./8.12.1992, S. 13. Bisher deckt sich diese Liste nur in zwei Positionen mit den von der Kommission zur Streichung oder Änderung vorgeschlagenen Entwürfen (Fn. 50), S. 5 f. 49

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das Subsidiaritätsprinzip ist nicht notwendig rückwirkend. Auch daß dadurch die Entwicklung der Gemeinschaft aufgehalten wird, steht nicht zu befürchten 52. Es mag nur so sein, daß die wesentlichen Schritte zur wirtschaftlichen Integration getan sind und daß, solange die Gemeinschaft sich aus souveränen Mitgliedstaaten zusammensetzt, ein Ausgreifen der Gemeinschaftstätigkeit in weitere Bereiche eine besondere Notwendigkeit für sich reklamieren können muß. Dieser Notwendigkeitstest führt nicht dazu, daß "jeder gegen einen Vorschlag der Kommission ein Veto einlegen kann", eine Befürchtung, die Irland und Portugal im Rat der Außenminister geäußert haben 53. Es bleibt bei den vertraglich festgelegten Entscheidungsmehrheiten im Rat; wo der Vertrag Einstimmigkeit vorschreibt, gab es diese Veto-Möglichkeit schon immer. Nahezu ungeteilte Zustimmung wird finden, was die Kommission zu Art. 3 b Abs. 3 des Maastrichter Vertrages ausgeführt hat, d. h. zur Begrenzung der Intensität von zweifelsfrei kompetenzgemäßen Gemeinschaftsmaßnahmen durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Hier geht es darum, eine gemeinschaftliche Überregulierung zu vermeiden durch die Wahl einer nicht zwingenden Gemeinschaftsmaßnahme dort, wo sie zur Zielerreichung ausreicht (Empfehlung), durch das lediglich alternative Angebot eines gemeinsamen Instrumentes neben dem weiter geltenden nationalen Recht, durch Förderung und Anreize anstelle bindender Regelungen, durch Wahl einer Richtlinie dort, wo eine unmittelbar wirkende Verordnung nicht erforderlich erscheint und durch Rahmenregelungen anstelle detaillierter Vorschriften 54. Bemerkenswert sind hier auch die selbstkritischen Äußerungen der Kommission zu den Richtlinien der Vergangenheit 55. Nach alledem ist das Susidiaritätsprinzip jedenfalls nicht nur eine politische Leitlinie, sondern zumindest auch und vorrangig ein Rechtsprinzip, das rechtliche 52 Aus dieser Sorge wendet sich die Kommission gegen eine "statische Interpretation" der Begriffe "Handlungsbedarf' und "Intensität" (Mitteilung Fn. 6), S. 3. 53 Agence Europe Nr. 5829 vom 5./6.10.1992, S. 8. 54 Mitteilung der Kommission (Fn. 6), S. 9 f. Nach dem in Edinburgh vom Europäischen Rat vorgelegten Gesamtkonzept (Agence Europe Nr. 5878 A vom 13. /14. 12: 1992, Teil A, Anlage 1), S.3, gelten folgende Leitlinien für die Anwendung des Art. 3 b Abs. 3 des Maastrichter Vertrages; ,,Für die Maßnahme ist eine möglichst einfache Form zu wählen, dabei muß jedoch darauf geachtet werden, daß das Ziel der Maßnahme in zufriedenstelIender Weise erreicht wird und daß die Maßnahme tatsächlich zur Anwendung gelangt. Die Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft sollte über das erforderliche Maß nicht hinausgehen. Dementsprechend wäre unter sonst gleichen Gegebenheiten eine Richtlinie einer Verordnung und eine Rahmenrichtlinie einer detaillierten Maßnahme vorzuziehen. Gegebenenfalls sollte Maßnahmen, die nicht rechtsverbindlich sind, wie z. B. Empfehlungen, der Vorzug gegeben werden. Ferner sollte überlegt werden, ob nicht fakultative Verhaltenskodizes zweckmäßig wären." 55 "Bekanntlich ist in der Vergangenheit nicht immer deutlich zwischen Richtlinie und Verordnung unterschieden worden ... Zumeist enthalten Richtlinien ebenso detaillierte Vorschriften wie Verordnungen und lassen den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung kaum noch Handlungsfreiheit. Wenn die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zu greifbaren Ergebnissen führen soll, müssen wir wieder zu dem ursprünglichen Konzept der Richtlinie zurückkehren ... " (Mitteilung, Fn. 6, S. 10).

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Berücksichtigung verlangt. Während die Kommission in ihrer Mitteilung eine klare Aussage in dieser Richtung vermeidet, wird der Rechtscharakter des Subsidiaritätsprinzips in einem Bericht des Ausschusses der Ständigen Vertreter (COREPER) an den Rat schon dadurch betont, daß es als "soumise au contröle de la Cour de lustice" bezeichnet wird 56. Als Garant für insbesondere den deutschen Föderalismus wird das Subsidiaritätsprinzip allerdings wohl nur mittelbar wirken können. Sicherlich muß die Gemeinschaft "die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten" achten 57 und bei der Prüfung, ob die Ziele einer Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können, auch die Aktionsmöglichkeiten der Ebene der Länder, Regionen, autonomen Gemeinschaften und lokalen Verwaltungseinheiten in ihr Kalkül einbeziehen. Führt diese Prüfung aber zu einem negativen Ergebnis, so kann die Gemeinschaftskompetenz nicht mit dem Argument bestritten werden, innerstaatlich fielen die entsprechenden Bereiche nun mal in den Aufgabenbereich der Länder und Regionen 58. Größere "Bürgernähe" mag das Resultat des Subsidiaritätsprinzips sein, aber sie ist kein eigenständiges Argument zur Verneinung der Gemeinschaftszuständigkeit. Die Gemeinschaftszuständigkeit kann nur mit Argumenten bestritten werden, die auch einem zentral regierten und verwalteten Mitgliedstaat zu Gebote stehen 59.

VI. Die gerichtliche Kontrolle Die praktische Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips als Rechtsprinzip wird zweifellos ganz wesentlich dadurch bestimmt, wie es umgesetzt und wie seine Beachtung kontrolliert wird. Insbesondere das Parlament 60 und die Kommission 61 schlagen hier zunächst eine "interinstitutionelle Vereinbarung" zwischen Rat, Parlament und Kommission vor, wobei die Kommission darin aber offenbar nur den dritten Aspekt des Subsidiaritätsprinzips, die Verhältnismäßigkeit, sowie die Zusammenarbeit der Organe behandelt wissen will. Diese Absprache zwischen den Organen soll festlegen, daß die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips in 56 Bericht vom 5.10.1992, Dok. Nr. 8942/92, S.2. Im gleichen Sinne auch das deutsche Memorandum an den Rat vom 21.9.1992 (Rechtsdokument 8918/92): "Le principe de subsidiarite jouera un röle important, en tant que principe de droit et ligue d'action politique" ... "Ie gouvemment federal considere que le principe de subsidiarite peut, en tant que principe de droit, etre invoque devant les tribunaux". 57 Art. F Abs. 1 des Maastrichter Vertrages. 58 So im Ergebnis auch Stauffenberg / Langenfeld (Fn. 20), S. 256, die aber der Subsidiaritätsklausel jedenfalls eine Verpflichtung zur "besonders sorgfaltigen Prüfung der Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Regelung" entnehmen wollen, sofern in Landesoder Regionalkompetenzen eingegriffen wird. 59 Siehe auch T. Stein, Europäische Integration und nationale Reservate, in: D. Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften (1990), S. 91 (93). 60 Agence Europe Nr. 5861 vom 20.11.1992, S. 4. 61 Siehe Fn. 6, S. 13. Der Gedanke einer "interinstitutionellen Vereinbarung" ist auch vom Europäischen Rat in Edinburgh aufgegriffen worden (Gesamtkonzept, Fn. 54, S. 2).

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jedem Stadium des Rechtssetzungsverfahrens geprüft und gesondert begründet wird, und daß dieses insbesondere für wesentliche Änderungen an einem Kommissionsvorschlag durch die anderen Organe gelten soll. Nun sind aber solche "interinstitutionellen Vereinbarungen", die es bislang im wesentlichen über das Haushaltsverfahren und die Einbeziehung des Parlamentes in die Aushandlung von Verträgen der Gemeinschaft gab 62, vom Rechtscharakter her lediglich politische Erklärungen 63. Der "Lackmustest" für die Wirkung der Subsidiarität als Rechtsprinzip wird daher die Überprüfbarkeit seiner Einhaltung durch den Gerichtshof der Gemeinschaft sein. Sie wird im Grundsatz nahezu einhellig bejaht, hinsichtlich ihrer Effektivität herrscht aber weithin Skepsis 64. Einer Änderung oder Ergänzung der Verträge bedarf es dafür nicht. Nach Art. 164 EWG-Vertrag sichert der Gerichtshof die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages; Subsidiarität als Rechtsprinzip gehört dazu. Dafür müßte der Gerichtshof nicht erst als "Verfassungsgerichtshof' der Gemeinschaft eingesetzt 65 oder bestätigt 66 werden, denn als solcher fungiert er bereits bei Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft bzw. zwischen den Organen der Gemeinschaft 67 • Die Kontrolle durch den Gerichtshof ist bislang eine nachträgliche, die erst nach Verabschiedung eines Rechtsaktes im Rat eingreifen kann 68 • Demgegenüber ist, was die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips angeht, der Vorschlag durchaus bedenkens wert, dem Gerichtshof hier eine präventive, gutachtliche Kontrollzuständigkeit einzuräumen 69 für einen Zeitpunkt, zu dem im Rat noch nicht abschließend über den Vorschlag abgestimmt worden ist. Das hätte den Vorteil, daß sich der Gerichtshof einer eingehenden Prüfung der Gemeinschaftszuständigkeit im Hinblick auf die Subsidiarität nicht ohne weiteres würde entziehen können mit dem Hinweis auf die zumindest qualifizierte Mehrheit im Rat für den Rechtsakt, den gegebenen weiteren Beurteilungsspielraum 70 des Rates und die daraus folgende Vermutung für eine Gemeinschaftskompetenz. Die Skepsis gegenüber der gerichtlichen Kontrolle der Subsidiarität beruht zum einen, und nicht ohne Grund, auf dem unklaren Charakter der Bedingungen, 62 Siehe für das Haushaltsverfahren ABl.EG Nr. C 89/1 vom 5.3.1975 und Nr. L 185/33 vom 15.7.1988. 63 So auch ausdrücklich das deutsche Memorandum (Fn. 56), S. 9. 64 Vgl. nur J. A. Frowein, Verfassungsperspektiven der Europäischen Gemeinschaft, EuR, Beiheft 1/1992, S. 63ff.; W. Wesseis, Maastricht: Ergebnisse, Bewertungen und Langzeittrends, Integration 1992, S. 265; H.J. Blanke, (Fn. 13), S. 142. 65 So der Bericht Giscard d'Estaing (Fn. 7), Teil B, S. 12. 66 So die Entscheidung des Parlaments zum Giscard d'Estaing-Bericht in Ziff. 13 (Fn. 7), Teil A, S. 6. 67 Siehe nur Oppermann (Fn. 27), Rdnr. 339 und G. C. Rodriguez 19lesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, EuR 1992, S. 225 ff. 68 Siehe auch Ress (Fn. 2), S. 948. 69 So insbesondere Constantinesco (Fn. 3), S. 563. 70 Siehe Ress (Fn. 2), S. 949.

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die es zu überprüfen gilt. Artikel 3 b Abs. 2 des Maastrichter Vertrages ist eine einzige Ansammlung unbestimmter Rechtsbegriffe, die nicht einmal allgemein verbindlich, sondern jeweils nur bezogen auf den Einzelfall eines gemeinschaftli chen Regelungsvorhabens ausgelegt werden können und müssen 71. Nach Auffassung des Europäischen Rates 72 sollen folgende Aspekte bei der Prüfung der Subsidiaritätskriterien berücksichtigt werden: -

Die zur Prüfung vorliegende Frage hat transnationale Aspekte, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht zufriedenstellend geregelt werden können und / oder

-

Maßnahmen der Mitgliedstaaten allein oder das Fehlen gemeinschaftlicher Maßnahmen würden zu den Erfordernissen des Vertrages im Widerspruch stehen (beispielsweise zu dem Erfordernis, Wettbewerbsverzerrungen zu beheben oder verschleierte Handelsbeschränkungen zu vermeiden oder den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken) oder in anderer Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen, und / oder

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dem Rat muß der Nachweis erbracht werden, daß Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene aufgrund ihrer Größenordnung oder ihrer Auswirkungen im Verhältnis zu einem Tätigwerden auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile erbringen würden 73.

Insgesamt wird es wesentlich auf die Genauigkeit und Detailliertheit ankommen, mit der die Rechtssetzungsorgane - und insbesondere die Kommission - ihre Erwägungen zum Subsidiaritätsprinzip darlegen und damit dem Gerichtshof eine Kontrolle ermöglichen 74 • Da genügt kein Formblatt, auf dem lediglich bei ja oder nein angekreuzt wird, ob das Prinzip geprüft und eingehalten wurde. Da müssen sich Angaben nicht nur zu den von den Mitgliedstaaten bereits getroffenen Regelungen finden, sondern auch über die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, solche Regelungen künftig zu treffen und gegebenenfalls auch über Fristen, die dafür ungenutzt verstrichen sind. Es kann auch nicht der Langsamste das Tempo des Geleitzuges bestimmen, d. h. in diesem Fall ein Handeln der Gemeinschaft rechtfertigen, wenn die überwiegende Zahl der Mitgliedstaaten das Problem durch eigene Maßnahmen "im Griff hat". 71 Stauffenberg / Langen/eId (Fn. 20), Constantinesco (Fn. 3) und Schweitzer / Fixson (Subsidiarität und Regionalismus in der EG, Jura 1992, S. 579 [582]), sehen hier eine Entscheidung mit politischem Ermessensspielraum, deren effektive rechtliche Kontrolle zweifelhaft scheine. 72 Siehe Fn. 54, S. 2 ,,Leitlinien". 73 Ob Letzteres allein die Inanspruchnahme einer Gemeinschaftskompetenz rechtfertigen könnte, erscheint zweifelhaft, denn hier wird ausschließlich auf die Effektivität und nicht auf die Notwendigkeit abgestellt. 74 Vorschläge zum Verfahrensablauf, die leider inhaltlich wenig konkret sind, macht der Ausschuß der Ständigen Vertreter in seinem Bericht an den Rat vom 30.9.1992, Nr. 8942/92, S. 4 ff.

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Als weniger problematisch sollte sich die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit einer Gemeinschaftsmaßnahme erweisen, weil es hier Vergleichsmaßstäbe in der gerichtlichen Praxis der Mitgliedstaaten gibt, die auch der Gerichtshof hinsichtlich der Tauglichkeit und Erforderlichkeit einer Maßnahme anwenden könnte 75 • Hier wäre dann nicht nur auf den Eingriff in die Zuständigkeits bereiche der Mitgliedstaaten, sondern auch auf die Wirkungen der Maßnahme für die betroffenen Wirtschaftsbereiche abzustellen. So wäre, um bei dem schon genannten Beispiel zu bleiben 76, ein von der Gemeinschaft angeordnetes totales Werbeverbot für Tabakerzeugnisse - selbst bei gegebener Gemeinschaftskompetenz - kaum verhältnismäßig angesichts der Tatsache, daß sich der Tabakkonsum in Ländern, die national ein solches Verbot seit längerem kennen, nicht signiflkant von dem in anderen Ländern unterscheidet. Ein entsprechender Rechtsakt der Gemeinschaft wäre mithin weder tauglich noch erforderlich, sondern würde lediglich einer nicht ganz ideologiefreien Modestimmung huldigen. Die Skepsis gegenüber einer effektiven gerichtlichen Kontrolle speist sich aber auch aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes. "Der Gerichtshof hat sich als entscheidender Faktor für eine zielgerichtete, dynamische und expansive Auslegung der Gemeinschaftskompetenzen sowie eine gemeinschaftsfreundliche Auslegung in bezug auf die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten bewährt" und zuweilen deutlich gemacht, "daß ein bestimmtes Ergebnis auch gegen den Wortlaut der anzuwendenden Vorschrift durchgesetzt werden muß"77. Der Gerichtshof hat "eine Begrenzung seiner Rechtsprechungsgewalt bisher so gut wie nie in Erwägung gezogen, was vor allem dadurch deutlich wird, daß in seiner gesamten bisherigen Judikatur kaum Urteile zu finden sind, in denen das Bestehen einer Gemeinschaftskompetenz bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des zur Entscheidung anstehenden Gemeinschaftsrechtsaktes verneint wird" 78. Der Gerichtshof hat auch jene Praxis überdetaillierter Richtlinien, die sich kaum noch von Verordnungen unterscheiden, sanktioniert 79, die die Kommission heute selbst kritisiert und unter dem Subsidiaritätsprinzip wieder aufgeben will 80. Diese Einstellung des Gerichtshofes war sicherlich in manchen durch Paralyse gekennzeichneten Phasen des Aufbaues der Integration notwendig und segensreich, aber es ist nicht die Haltung, mit der er an die Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips herangehen sollte. Hier sind auch die Situationen in Bundesstaaten nicht ohne weiteres übertragbar, wenn etwa gesagt wird, daß das Bundesverfassungsge75 Vgl. Z. B. Ress (Fn. 28), S. 5 ff.; F. Teitgen, Le principe de proportionnalite en Droit Francais (Fn. 28), S. 53 ff; G. Ubertazzi, Le principe de proportionnalite en Droit Italien, (Fn. 28), S. 79 ff. 76 Siehe Fn. 47. 77 Rodriguez 19lesias (Fn. 67), S. 233. 78 Blanke (Fn. 13), S. 142 unter Verweis auf U. Everling, Zur föderalen Struktur der Europäischen Gemeinschaft, in: Festschrift für K. Doehring (1989), S. 179 (196). 79 Zum Beispiel RS 45/75 (Royer), Sig. 1976,497; RS 38/77 (ENKA), Sig. 1977, 2212. 80 Siehe Fn. 55.

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richt sich aus der Diskussion um die Bedürfnisklausel für einheitliche Regelungen gern. Art. 72 Abs. 2 GG selbst ausgeschaltet habe 81 , und daß in den USA und der Schweiz keine verfassungsrechtliche Kontrolle über die Einhaltung der Bundeszuständigkeit stattfinde, sondern daß es nur der politische Prozeß sei, der als Schutz der Einzelstaaten gegen Übergriffe des Bundesgesetzgebers angesehen werde 82 • Hier handelt es sich um Bundesstaaten, die durch einen Akt der Verfassungsgebung entstanden sind, und die Glieder des Bundesstaates haben allenfalls Restsouveränität behalten. Man spricht zwar auch von den Gemeinschaftsverträgen als von der "Verfassung" der Gemeinschaft 83 , aber es sind Verträge zwischen souveränen Staaten zur Gründung einer supranationalen Organisation, nicht eines Bundesstaates. Die Gemeinschaft hat nicht die Kompetenz-Kompetenz, die die Zentralebene in Bundesstaaten haben mag 84, und der Gerichtshof als Gemeinschaftsorgan sollte nicht in eine Situation manövriert werden, in der es angesichts eines Kompetenzkonfliktes zwischen der Gemeinschaft und einem Mitgliedstaat den Anschein haben könnte, als entscheide er als Partei in eigener Sache. Bei einer wohl nur als eher abstruser Extremfall denkbaren evidenten Kompetenzüberschreitung durch die Gemeinschaft und der noch mehr Phantasie erfordernden Vorstellung, der dagegen angerufene Gerichtshof würde sich auf die Seite der Gemeinschaft schlagen, geriete sonst die Bindungswirkung seiner Urteile in Gefahr 85.

VII. Ergebnis Das Subsidiaritätsprinzip wird sich in erster Linie als Minderheitenschutz bewähren müssen. Es mag richtig sein, daß eine gewisse Vermutung für die Notwendigkeit und damit für die Gemeinschaftszuständigkeit für eine geplante Maßnahme streitet, wenn sie die erforderliche Mehrheit im Rat findet. Aber diese Vermutung ist nicht unwiderlegbar und auf Antrag des oder der überstimmten Mitgliedstaaten muß der Gerichtshof wohl mehr tun als die Gemeinschaftsmaßnahme unter Einräumung eines weitestgehenden Beurteilungsspielraumes lediglich auf evidente Fehleinschätzungen zu überprüfen. Aber richtig ist natürlich auch, daß das Subsidiaritätsprinzip die Kommission und den Rat in die politische Verantwortung nimmt, diese Situation gar nicht erst oder jedenfalls nicht zu oft eintreten zu lassen. 81 Vgl. nur Tb. Maunz in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Kommentar zum Grundgesetz (1990), Art. 72 Rdnr. 16 ff. m. w.N. in Fn. 20; Herrfahrdt in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 72, S. 3 f.; BVerfGE 2,224; 33, 229. 82 Frowein (Fn. 64). 83 Oppermann (Fn. 27), Rdnr. 394 ff. m. w.N.; J. Schwarze, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, in: J. Schwarze / R. Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa (1984), S. 23. 84 Dazu näher Beutler (Fn. 27), S. 77. 85 Vgl. R. Schotz, in: Friauf! Scholz, Europarecht und Grundgesetz (1990), S.53 (70); a.A. E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRL Bd. 50 (1991), S. 56 (66 f.) ("Die Kompetenzüberschreitung, die durch ein Fehlurteil des EuGH gedeckt ist, ist von den Mitgliedstaaten hinzunehmen.").

Die Mitwirkung der Länder an der europäischen Rechtssetzung als Mittel zur Wahrung des Subsidiaritätsprinzips' Von Georg-Berndt Oschatz

Subsidiarität und Länderbeteiligung - das sind zwei Stichworte aus der gegenwärtigen Debatte, denen Sie im deutschen Blätterwald täglich in immer wieder neuen Nuancen begegnen. Und was gestern noch als gesichert galt, entpuppt sich heute nicht selten als überholt. Anders als im rechtsgeschichtlichen Seminar, das sich mit abgeschlossenen Sachverhalten befassen kann und auch soll, müssen wir hier bisweilen die Uhr mitlaufen lassen. Ich kann mich manches Mal nicht des Eindrucks erwehren, daß gerade für rechtspolitisch herausragende Projekte besonders wenig Zeit nur zum Nachdenken verbleibt. Wie oft wird über Quisquilien jahrelang beraten, während sich zentrale rechtspolitische Weichenstellungen häufig einem unerhörten Entscheidungsdruck ausgesetzt sehen! Konkret heißt das zum einen: Während wir hier zusammensitzen, trifft im schottischen Edinburgh der Europäische Rat Entscheidungen zur Frage, was denn der Begriff der Subsidiarität eigentlich besagen soll- berät also zum Oberthema dieses Seminars und damit zum ersten Stichwort meines Vortrages.! Sie werden mir deshalb nachsehen, wenn ich mich insoweit darauf beschränke, die nach dem heutigen Stand statthaften Fragen aufzuzeigen - das ist der Stand vom letzten Dienstag, dem 8. Dezember, an dem die Außenminister der Mitgliedstaaten sich zur Vorbereitung des heute beginnenden Gipfels der Regierungschefs beraten haben. Konkret heißt das zum anderen: Auch zum Stichwort Länderbeteiligung wird erst heute in einer Woche, am kommenden Freitag, dem 18. Dezember, die nächste Runde im innerstaatlichen Gesetzgebungsverfahren eingeleitet werden. 2 • Die Vortragsform wurde beibehalten. Der weiteren Entwicklung bis zum 19. März 1993 ist in Fußnoten Rechnung getragen. ! Die mit Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 28. Dezember 1992 mitgeteilten "Schlußfolgerungen" des Europäischen Rats von Edinburgh vom 11. und 12. Dezember 1992 nebst Anlage entsprechen im wesentlichen dem hier unter Ziffer I. 4. angesprochenen Bericht der Außenminister. 2 Das Gesetz zum Vertrag vom 7. Februar 1992 über die Europäische Union vom 28. Dezember 1992 ist unverändert im BGB\. II S. 1251 verkündet worden. Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. Dezember 1992 ist unverändert in BGB\. I S. 2086 verkündet worden. Zum Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union hat der Vermittlungsausschuß am 3. Februar

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Dann nämlich berät der Bundesrat die im Zusammenhang mit dem Maastrichter Vertrags werk vorliegenden Gesetzesbeschlüsse des Bundestages vom 2. Dezember. Trotz des jetzt erreichten weitgehenden Konsenses zwischen allen Beteiligten am Gesetzgebungsverfahren ist es allerdings noch möglich, daß wegen wichtiger Einzelheiten der Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat noch der Vermittlungsausschuß angerufen wird. Dabei würde es aber wohl nur um einige Bestimmungen auf einfach-gesetzlicher Ebene gehen, mit denen die Länder unzufrieden sind; über die Grundprinzipien der Länderbeteiligung nach dem neuen Artikel 23 GG ist man sich einig. Ich bewege mich bei meinen Ausführungen in diesem Zusammenhang also auf einigermaßen gefestigtem Boden.

I. Der Begriff der Subsidiarität hat sich zum Schlüsselbegriff in der gegenwärtigen europapolitischen Debatte entwickelt. Artikel 3 b des EG-Vertrages in der Maastrichter Fassung umschreibt ihn in seinem Absatz 2 etwas hölzern wie folgt: "In den Bereichen, die nicht in ihrer ausschließlichen Zuständigkeit sind, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können." Dieses Prinzip läßt sich trotz des engen Sachzusammenhangs sowohl vom Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Absatz 1) als auch vom Verhältnismäßigkeitsprinzip (Absatz 3) unterscheiden. Damit scheint der entscheidende Ansatz für eine Abgrenzung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft einerseits und der Mitgliedstaaten andererseits gefunden zu sein. Trotzdem kann sich der Eindruck nicht einstellen, die Probleme seien gelöst. Der Subsidiaritätsgrundsatz teilt das Schicksal wohl jedes allgemeinen Rechtsprinzips: Alle sind sich einig über den Grundsatz als solchen, im Detail aber steckt der Teufel. Das zeigen die jetzt vorliegenden verschiedenen Erläuterungsversuche seitens der europäischen Institutionen und der Mitgliedstaaten, die bei allen Gemeinsamkeiten deutlich machen, daß viele Fragen noch nicht geklärt sind. 1993 eine Änderung des § 14 Satz 2 vorgeschlagen, der der Bundestag am 4. Februar 1993 zugestimmt hat (BT-Drucksache 12/4246). Zum Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union hat der Vermittlungsausschuß am 3. Februar 1993 vorgeschlagen, § 6 ersatzlos zu streichen. Diesen Vorschlag hat der Bundestag am 4. Februar 1993 angenommen (BT-Drucksache 12/4247). In seiner Sitzung vom 12. Februar 1993 hat der Bundesrat dem erstgenannten Gesetz zugestimmt (BR-Drucksache 71/93 - Beschluß) und gegen das letztgenannte Gesetz keinen Einspruch eingelegt (BR-Drucksache 72/93 - Beschluß). Beide Gesetze sind am 19. März 1993 verkündet worden ( BGBl. I, S. 311 und S.313).

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1. Der Begriff der Subsidiarität ist bekanntlich von dem lateinischen Wort subsidium, also "Unterstützung", abgeleitet. In der päpstlichen Sozialenzyklika "Quadragesimo anno" aus dem Jahre 1931 findet sich im Anschluß an die Lehren des Thomas von Aquin folgende Umschreibung für diesen Gedanken: " ... so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen". Damit wird ein in den verschiedensten Lebens- und Rechtsbereichen geltendes althergebrachtes Prinzip beschrieben. Was aber kann ein kleineres Gemeinwesen "zum guten Ende führen", und was genau sollte dem übergeordneten Gemeinwesen überlassen bleiben? Und wer soll aus welcher Sicht darüber entscheiden? Ein Bundesminister hat es da leichter als Sie: Er sagt ganz einfach "Subsidiarität heißt, wir lassen die Kirche im Dorf'. 2. Ausgangspunkt für die Überlegungen der europäischen Institutionen ist die Erklärung des Europäischen Rates von Birmingham. Er hat dort in seiner Sondertagung am 16. Oktober 1992 Vorgaben zum Subsidiaritätsprinzip formuliert, die naturgemäß generalklauselartigen Charakter haben. So hat er bekräftigt, daß Entscheidungen so bürgernah wie möglich getroffen werden müssen und gr-ößere Einheit ohne übermäßige Zentralisierung erreicht werden soll. Es sei Sache jedes Mitgliedstaates zu entscheiden, auf welche Weise seine Befugnisse im innerstaatlichen Bereich ausgeübt werden. Die Gemeinschaft könne nur dann tätig werden, wenn die Mitgliedstaaten ihr die Befugnis hierzu in den Verträgen erteilt hätten. Ein Tätigwerden auf Gemeinschaftsebene solle nur dann erfolgen, wenn dies "angemessen und notwendig" sei. Für die weitere Entwicklung der Gemeinschaft sei es von wesentlicher Bedeutung, daß "dieser Grundsatz - das Subsidiaritätsprinzip oder der Grundsatz der Bürgernähe" mit Leben erfüllt werde. Seiner praktischen Anwendung sei der Vorrang einzuräumen, ohne daß dadurch das Gleichgewicht zwischen den Organen berührt werde. Besonders eingehend hat sich daraufhin die Kommission mit dem Subsidiaritätsgrundsatz befaßt. In ihrer Mitteilung vom 27. Oktober 1992 an den Rat und an das Europäische Parlament nimmt sie zum Anwendungsbereich und zur Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips in verschiedenen Bereichen Stellung. Auf rund fünfundzwanzig eng beschriebenen Seiten finden sich interessante Ausführungen zur Rolle des Subsidiaritätsprinzips bei der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften, der Durchführung von Gemeinschaftspolitiken und der finanziellen und sonstigen Kontrolle der Gemeinschaftstätigkeit. Dabei betont die Kommission für die Vergangenheit, alle von ihr ins Werk gesetzten Vorhaben seien uneingeschränkt gerechtfertigt gewesen. Zugleich begrüßt sie die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EG-Vertrag als Gelegenheit, in Zukunft weniger, aber wirksamer tätig zu werden. Sie schlägt eine interinstitutionelle Vereinbarung vor, die neben einer Abgrenzung des Begriffs der ausschließlichen Zuständigkeit von den konkurrierenden Zuständigkeiten auch Bestimmungen über die Intensität der Ge-

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meinschaftsaktion und die Zusammenarbeit der Organe bei der Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes enthalten soll. Die Kommission führt eine Reihe von Politikbereichen auf, in denen für die Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes aus ihrer Sicht kein Raum mehr ist, weil sie insoweit in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen sollen. Sie hält im übrigen die Prüfung der Frage, ob die Subsidiaritätsanforderungen eingehalten sind, ausschließlich für eine Sache der Gemeinschaftsorgane, vorrangig der Kommission selbst. Das Europäische Parlament seinerseits hat sich in seinen Entschließungen vom 16. und 28. Oktober 1992 zum Inhalt des Subsidiaritätsgrundsatzes im einzelnen nicht geäußert, allerdings ebenfalls eine interinstitutionelle Vereinbarung vorgeschlagen, in der der Gehalt des Subsidiaritätsbegriffs und die "Verfahren zu seiner Anwendung" geklärt werden sollen. Der Europäische Gerichtshof schließlich hat, soweit ersichtlich, bisher nicht näher zur Auslegung des - ja schon vor Maastricht im EWG-Vertrag stellenweise anklingenden - Subsidiaritätsgrundsatzes Stellung genommen. 3. Natürlich haben auch die Mitgliedstaaten selbst zum Begriff der Subsidiarität Stellung bezogen. Die Benelux-Staaten, Griechenland und Spanien, aber auch die Bundesrepublik, haben mit verschiedenen Memoranden verdeutlicht, welche Maßstäbe sie an die praktische Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips anlegen. a) Zunächst zu den Stellungnahmen unserer europäischen Nachbarn: Während die dem Rat Mitte Oktober 1992 vorgelegten Memoranden der BeneluxLänder und Griechenlands sich mit einem eher allgemein gehaltenen Appell zu mehr Transparenz und Bürgernähe begnügen, geht das Memorandum der spanischen Delegation vom 30. Oktober 1992 deutlich weiter. Es benennt ganz klar die Schwierigkeit, die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft von der konkurrierenden zu unterscheiden, und weist auf die Notwendigkeit hin, den gemeinschaftlichen Besitzstand ausgewogen (also nicht nur mit Blick auf eine Mehrheit der Mitgliedstaaten) zu entwickeln. Und dann heißt es, das Subsidiaritätsprinzip schränke die Ausübung der Gemeinschaftsbefugnisse nicht etwa ein, sondern erfordere "im Gegenteil in vielen Fällen ein Tätigwerden auf Gemeinschaftsebene". Bei der Wahl der Sekundärrechtsakte dürfe die Verordnung nicht von vornherein hinter die Richtlinie oder gar andere nicht verbindliche Rechtsakte zurücktreten. Man spürt die Zurückhaltung vor dem Subsidiaritätsprinzip. b) Die deutsche Auffassung ist von der Bundesregierung in einem Memorandum vom 16. September 1992 dargelegt worden. Nach ihrem Verständnis schließt der Begriff auch die Wahrung der Rechte und Zuständigkeiten der Sozialpartner sowie der Rechte von Gemeinden und Gemeindeverbänden zur Regelung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft mit ein. Zur praktischen Anwendung des Subsidiaritätsprinzips stellt sie klar, daß erst dann, wenn Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichen, um die Ziele der Gemeinschaft "in angemessener Weise" zu erreichen, in einem zweiten Schritt zu prüfen ist, ob die Maßnahmen "wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf

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Gemeinschaftsebene erreicht werden können". Die Gemeinschaftsorgane müßten für jede einzelne Maßnahme gesondert begründen, daß diese beiden Kriterien tatsächlich erfüllt seien. Diese Begründungspflicht betreffe nicht nur das "Ob", sondern auch das "Wie" ihres Tätigwerdens. Im Bereich der Rechtssetzung heiße dies, daß zunächst zu prüfen sei, ob überhaupt eine Regelung auf Gemeinschaftsebene erlassen werden sollte. Bei verbindlichen Rechtsakten müsse stets geprüft werden, ob nicht Richtlinien der Vorzug vor Verordnungen zu geben sei; vielfach werde man sich auch auf eine Koordinierung oder auf nicht-verbindliche Akte beschränken können. Auch Regelungsumfang und -intensität bedürften einer sorgfältigen Prüfung unter dem Subsidiaritätsgesichtspunkt; häufig werde es genügen, Rahmen- oder Mindestvorschriften zu erlassen. Auch die Bundesregierung regt eine interinstitutionelle Erklärung zur Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes an. Dabei geht sie davon aus, daß der Regionalausschuß es als eine besondere Aufgabe ansehen wird, die Vorschläge für Maßnahmen der Gemeinschaft unter dem Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips zu prüfen. Im Bundestag ist von fast allen Fraktionen immer wieder für die Subsidiarität gestritten worden. In seiner Entschließung vom 2. Dezember würdigt der Bundestag ausdrücklich die Festschreibung des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag über die Europäische Union. Der Bundesrat hat seinerseits die Gemeinschaften schon früh daran erinnert, daß das Gemeinschaftsrecht gegenüber dem innerstaatlichen (auch: dem Länder-) Recht nur subsidiär eingesetzt werden dürfe. Schon in seiner Stellungnahme zum EEAG erklärte er es "für dringend geboten, ... das Prinzip der Subsidiarität zu verwirklichen". In seiner Stellungnahme vom 25. September 1992 zum Entwurf des Ratifikationsgesetzes begrüßt er folgerichtig die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den EG-Vertrag, wobei er diesen Erfolg maßgeblich auf die erstmalige Beteiligung der Länder an den Regierungskonferenzen und ihre Einbeziehung bei der Erarbeitung der deutschen Verhandlungsposition zurückführt. Schließlich hat sich neuerdings auch noch die Europakommission der Länder, zu der sich gelegentlich die Chefs der Staats- und Senatskanzleien versammeln, zum Subsidiaritätsprinzip geäußert. In ihrem Beschluß vom 26. November stellt sie u. a. fest, daß nicht davon ausgegangen werden könne, daß die Gemeinschaft in einem bestimmten Politikbereich (überhaupt) über ausschließliche Zuständigkeiten verfüge, außer in begründeten Einzelfällen! Sie sehen, wie groß die Bandbreite der Anschauungen ist. 4. Dem Europäischen Rat liegt zu seiner heutigen Sitzung ein Bericht der Außenminister der Mitgliedstaaten vor, der sich mit den Grundprinzipien des Art. 3 bEG-Vertrag und den Leitlinien für die Umsetzung des Subsidiaritätsgrundsatzes befaßt. Darin wird u. a. betont, das Subsidiaritätsprinzip berühre nicht die Befugnisse, über die die Gemeinschaft aufgrund Vertrages bereits verfüge. Es sei eine Richtschnur dafür, wie diese Befugnisse auszuüben seien. Das Prinzip müsse unter Beachtung der allgemeinen Bestimmungen des Maastrichter Vertrags

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angewandt werden und dürfe nicht den Vorrang des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen. Je genauer eine Aufgabe durch den Vertrag definiert werde, desto weniger Raum bleibe für die Subsidiarität. Als "dynamischer Grundsatz" gestatte das Subsidiaritätsprinzip eine Ausweitung der Tätigkeit der Gemeinschaft, wenn die Umstände es verlangen, und umgekehrt auch deren Beschränkung oder Einstellung, wenn sie nicht mehr gerechtfertigt sei. Die Auslegung des Subsidiaritätsprinzips und die Überprüfung seiner Einhaltung obliege dem Europäischen Gerichtshof. In den recht detaillierten, dennoch aber nur wenig präzisen Leitlinien heißt es u. a., man könne durch "qualitative oder, sofern irgend möglich, quantitative Indikatoren" feststellen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes gegeben seien oder nicht. 5. So weit der Überblick über einige offizielle Stellungnahmen zur Subsidiarität. Tacitus berichtet, über die Ermordung des Drusus seien vierundvierzig Reden gehalten worden, davon die Mehrzahl übrigens "aus Gewohnheit". Ich bin sicher, daß diese Zahl nicht an die der Beiträge heranreicht, die bereits jetzt zum Subsidiaritätsprinzip vorliegen. Dazu wage ich die Prognose: Was auch immer der Europäische Rat in Edinburgh heute und morgen im einzelnen beschließen sollte er wird die bereits jetzt offensichtlichen Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten einerseits und einzelnen Mitgliedstaaten und der Kommission andererseits nicht "hinwegbeschließen" und in Luft auflösen können. Erst die weitere Zukunft wird zeigen, ob sich u.a. folgende Fragen lösen lassen: Wann ist die Gemeinschaft ausschließlich zuständig und wann konkurriert sie mit den Mitgliedstaaten? Wie und aus welcher Sicht stellt man fest, ob das Ziel einer in Betracht gezogenen Maßnahme besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann? Was macht man, wenn die Feststellungen hierzu in Brüssel anders ausfallen als etwa in London, Paris, Bonn oder gar Athen!?

11. Die Mitwirkung der Länder an der europäischen Rechtssetzung, die Länderbeteiligung am innerstaatlichen Willensbildungsprozeß in EG-Angelegenheiten also, war in diesem Jahr eines der herausragenden staatsrechtlichen Themen in Deutschland. Es ist ganz natürlich, daß sich die europaweite Diskussion über das Subsidiaritätsprinzip bei uns in dieser Weise fortgesetzt hat, denn die Länderbeteiligung könnte so etwas wie ein innerstaatlich praktiziertes Subsidiaritätssurrogat sein. Lassen Sie mich kurz an das bereits vor Maastricht Erreichte erinnern, bevor ich mich dem jetzigen Stand der Dinge zuwende. 1. Länderbeteiligung in EG-Angelegenheiten gab es schon lange vor Maastricht. Die Länder haben die europäische Integration von Anfang an begrüßt und die Entwicklung vor allem durch den Bundesrat konstruktiv begleitet. Freilich sind sie sich bewußt, in über vierzig Jahren durch zahlreiche Grundgesetzänderungen und eine extensive Inanspruchnahme der ,,konkurrierenden" Gesetzgebungs-

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kompetenzen des Bundes in großem Ausmaß Gesetzgebungszuständigkeiten verloren zu haben. Der mit der europäischen Integration einhergehende Kompetenzverlust der Bundesrepublik an die Gemeinschaft verstärkt diesen Erosionsprozeß natürlich. Die Länder haben sich deshalb bereits lange vor Maastricht darum bemüht, Kompensationen für die Schmälerung ihrer Eigenstaatlichkeit zu erlangen. Einen gewissen Ausgleich konnten sie durch ein im großen und ganzen austariertes Verfahren der Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern in EGAngelegenheiten erreichen, das vor allem im Gesetz zur Einheitlichen Europäischen Akte (EEAG) geregelt ist, ergänzt durch eine besondere Bund-LänderVereinbarung aus dem Jahre 1987. Diese Bestimmungen gelten nach wie vor, und zwar so lange, bis die heutige Gemeinschaft durch eine Europäische Union abgelöst wird. 2. Nun zum jetzigen Stand der Dinge: Das Maastrichter Vertragswerk erlaubt der Gemeinschaft, noch weiter als bisher in den Bereich der Länderkompetenzen einzudringen. Um Fehlentwicklungen entgegenzusteuern, haben sich die Länder schon während der Verhandlungen des Maastrichter Vertrages darum bemüht, ihre Mitwirkungsrechte in Angelegenheiten der EG zu stärken. Ihre Anliegen sind erfreulicherweise in die Verhandlungsposition des Bundes einbezogen worden. Dem Bund gegenüber haben sie dann spürbare Verbesserungen der Länderbeteiligungsrechte durchsetzen können, deren Ausgestaltung im einzelnen wie die Ratifikation des Maastrichter Vertrags werks selbst - noch Gegenstand des laufenden Gesetzgebungsverfahrens sind. Im Verfahren befindet sich ein "Paket" von vier Gesetzen: Da ist zunächst das Ratifikationsgesetz selbst, mit dem der Vertrag über die Europäische Union innerstaatlich wirksam werden soll. Dann steht ein Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes an, das namentlich durch die Einführung eines neuen Artikels 23 die Grundlagen für diese Ratifikation schafft. Daß der Bundesrat diese beiden vom Bundestag am 2. Dezember beschlossenen Gesetze am 18. Dezember anhalten wird, ist wohl nicht sehr wahrscheinlich. Weiter liegt ein Gesetz vor, das die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union im einzelnen regelt. Schließlich haben wir ein Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union. Bei diesen beiden Gesetzen, die vom Bundestag ebenfalls am 2. Dezember beschlossen worden sind, kann nicht ausgeschlossen werden, daß der Bundesrat am 18. Dezember den Empfehlungen seines Ausschusses für EG-Fragen sowie seines Rechtsausschusses folgt und den Vermittlungsausschuß anruft. Dabei geht es allerdings nicht um die Kernfrage der Länderbeteiligung, sondern neben der Frage der Beteiligung der Gemeinden und Gemeindeverbände an der Mitarbeit im Regionalausschuß der EG um die Frage, wie widersprechende Stellungnahmen von Bundestag und Bundesrat zu berücksichtigen sind. Vor allem der zweite Problemkreis ist in einer für die Länder an sich nicht hinnehmbaren Weise geregelt. Aber zunächst zu den Grundlagen:

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Ohne mich in technischen Einzelheiten verlieren zu wollen, will ich kurz skizzieren, wie die künftige Stellung der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union in etwa aussieht. a) Grundlage für die Ratifikation des Vertrages über die Europäische Union wie auch für die Länderbeteiligung ist das verfassungsändernde Gesetz. Der darin unter anderem enthaltene "Europa-Artikel" 23, der an die Stelle des durch den Einigungsvertrag aufgehobenen Artikels 23 tritt, stärkt die Stellung der Länder im Verhältnis zum Bund erheblich. Sein Absatz 1 wird am Tage nach der Verkündung des verfassungsändernden Gesetzes wirksam, und zwar noch in diesem Jahr. Er schreibt bekanntlich die Mitwirkung der Bundesrepublik bei der Entwicklung einer Europäischen Union als Staatsziel fest und stellt zugleich die verfassungsrechtlichen Anforderungen an eine solche Union auf: sie muß demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet sein und einen dem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleisten. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen. Die Begründung der Europäischen Union und Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen sowie vergleichbare Regelungen, durch die das Grundgesetz geändert oder ergänzt würde, bedürfen der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundesrates und zwei Dritteln der Stimmen des Bundestages. Mit der Beteiligung des Bundestages und durch den Bundesrat auch der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union befassen sich die Absätze 2 bis 7 der Vorschrift, die im Rechtssinne ebenfalls am Tag nach der Verkündung des verfassungsändernden Gesetzes "in Kraft treten". Diese Bestimmungen werden aber erst dann praktisch anwendbar sein, wenn eine Europäische Union entstanden ist. Das gilt auch für alle anderen verfassungsrechtlichen oder einfachgesetzlichen Regeln, die tatbestandiich an die Existenz einer Europäischen Union anknüpfen - beim Länderbeteiligungsgesetz und beim Bundestagsbeteiligungsgesetz hat der Gesetzgeber dies bereits durch die Inkrafttretensregelung klargestellt. Es leuchtet in der Tat ein, daß Vorschriften über die Beteiligung in Angelegenheiten der Europäischen Union nicht "gelten" können, solange diese Union noch gar nicht existiert. Nun weiß heute niemand, ob das Maastrichter Vertrags werk je in Kraft treten wird! Vielleicht kommt es so, vielleicht werden wir aber auch ein "Maastricht 11" erleben - oder noch etwas anderes. Der vom Bundestag eingesetzte Sonderausschuß "Europäische Union" war sich dessen bewußt und hat deshalb den Begriff der "Europäischen Union" dahin präzisiert, daß dieser nicht nur die konkrete Ausgestaltung der Europäischen Union durch das Vertragswerk von Maastricht umfassen soll. Vielmehr liege eine Europäische Union im Sinne des Grundgesetzes auch dann vor, "wenn sich die heute bestehende Integrationsgemeinschaft gegenüber dem gegenwärtigen Integrationsstand durch vertragliche Regelungen, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert

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oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, in Richtung auf eine Europäische Union weiterentwickelt". Dem hat sich der Rechtsausschuß des Bundesrates angeschlossen. Die neuen Regeln über die Länderbeteiligung greifen also nicht nur dann Platz, wenn das Maastrichter Vertragswerk in Kraft tritt, sondern auch für den Fall, daß die Gemeinschaft in anderer Weise substantiell fortentwickelt würde. b) Artikel 23 Abs. 4 bis 6 GG wird durch das darauf aufbauende Gesetz über die Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union (Länderbeteiligungsgesetz) ausgeführt. Dieses Regelwerk bildet zusammen mit einer noch nicht vorliegenden, aber in Arbeit befindlichen Bund-LänderVereinbarung die Grundlage für die künftige Beteiligung der Länder in Angelegenheiten der Europäischen Union. Es enthält recht detaillierte Bestimmungen. Die Länder wirken am Willensbildungsprozeß des Bundes in Angelegenheiten der Europäischen Union nach wie vor durch das sog. Bundesratsverfahren mit; vgl. Art. 23 Abs. 2 Satz 1 und Art. 50 GG. Gegenüber anderen Länderbeteiligungsmodellen - etwa dem der Koordination der Länderinteressen auf der Ebene spezieller gemeinsamer Landeseinrichtungen - bietet das Bundesratsverfahren vor allem den praktischen Vorzug, daß für die Abstimmung der Länderinteressen das Mehrheitsprinzip gilt. Die Länder brauchen also keine Einstimmigkeit, um sich beim Bund Gehör zu verschaffen. Außerdem gibt es in Gestalt des Bundesrats-Sekretariats eine eingespielte Behörde für den unerläßlichen bürokratischen Unterbau eines derartigen Verfahrens. Eine fruchtbare Zusammenarbeit setzt zunächst die umfassende und möglichst frühe Unterrichtung der Landesregierungen über alle Vorhaben im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft (oder künftig der Europäischen Union) voraus, die für die Länder von Interesse sein könnten (vgl. Art. 23 Abs. 2 GG und § 2 Länderbeteiligungsgesetz). Konkret heißt das: Die Bundesregierung wird auch künftig dem Bundesrat alle Unterlagen übermitteln, die sie aus dem Arbeitsbereich des Rates und der Kommission erhält. Das sind schon jetzt jährlich rund 10.000 Papiere verschiedenster Art und natürlich auch verschiedenster Güte. Im abgelaufenen Geschäftsjahr hat sich das Plenum mit 365 Vorlagen näher befaßt. Erst diese Unterrichtung verschafft den Ländern die Möglichkeit, zu einem Vorhaben auch Stellung zu nehmen. Nach den bisher geltenden Spielregeln ist dem Bundesrat immer dann Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, wenn die Bundesregierung Beschlüssen der EG zustimmen möchte, die ausschließliche Gesetzgebungsmaterien der Länder betreffen oder wesentliche Interessen der Länder berühren. Die Bundesregierung hat jede Stellungnahme des Bundesrates zu EG-Vorhaben bei den weiteren Verhandlungen zu berücksichtigen, heißt es im Gesetz. Die Kernfrage ist aber, unter welchen Umständen die Bundesregierung von einer Stellungnahme des Bundesrates konkret abweichen darf. Die derzeit noch 4 Menen

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geltende Bestimmung des Art. 2 Abs. 3 EEAG sagt dazu folgendes: Soweit eine Stellungnahme ausschließlich Gesetzgebungsmaterien der Länder betrifft, darf die Bundesregierung von ihr nur aus "unabweisbaren außen- und integrationspolitischen Gründen" abweichen. In der künftigen Regelung wird die Frage differenzierter beantwortet sein: Wenn bei einem Vorhaben der Europäischen Union im Schwerpunkt Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind und der Bund kein Recht zur Gesetzgebung hat, oder wenn ein Vorhaben im Schwerpunkt die Einrichtung der Behörden der Länder oder ihre Verwaltungsverfahren betrifft, dann kann sich der Bundesrat gegenüber der Bundesregierung bei der Festlegung der deutschen Verhandlungsposition letztlich durchsetzen, sofern er seine Position mit zwei Dritteln der Länderstimmen beschließt (v gl. Art. 23 Abs. 5 GG, § 5 Abs. 2 Länderbeteiligungsgesetz). Ansonsten bleibt es dabei, daß die Bundesregierung sich über die Auffassung des Bundesrates hinwegsetzen kann: sie muß sie nur "berücksichtigen" (vgl. Art. 23 Abs. 5 GG, § 5 Abs. 1 Länderbeteiligungsgesetz). Dabei spielt allerdings auch noch das Verhältnis zum Bundestag eine Rolle. Künftig wird auch die Rolle der Ländervertreter in den Beratungsgremien der Europäischen Union etwas aufgewertet sein. Bei einem Vorhaben, das im Schwerpunkt ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betrifft, soll die Bundesregierung die Verhandlungsführung in den Ministerräten und den Gremien von Rat und Kommission auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen. Der Ländervertreter wird seine Rechte unter Teilnahme von und in Abstimmung mit dem Vertreter der Bundesregierung ausüben (vgl. Art. 23 Abs. 6 GG, § 6 Abs. 2 Länderbeteiligungsgesetz). Das war in diesem Umfang bisher nicht möglich. Da bereits die Angelegenheiten der Europäischen Gemeinschaft inzwischen nicht mehr der Außenpolitik im klassischen Sinne unterfallen, sondern sich zu einem Gegenstand europäischer Innenpolitik entwickelt haben, pflegen die Länder schon jetzt unmittelbare Beziehungen zur EG. Das wird in einer künftigen Europäischen Union erst recht der Fall sein. Deshalb erkennt das Länderb~teili­ gungsgesetz die bereits bestehenden Länderbüros in Brüssel ausdrücklich. an (vgl. § 8 Länderbeteiligungsgesetz). Der Status des seit langem schon tätigen" Länderbeobachters, der den Bundesrat bei der Wahrnehmung seiner Beteiligungsrechte unterstützt, wird durch die neuen Bestimmungen nicht berührt. Die Einzelheiten der Unterrichtung und Beteiligung der Länder nach dem neuen Länderbeteiligungsgesetz werden in einer Vereinbarung zwischen Bund und Ländern geregelt sein, die die bestehende Bund-Länder-Vereinbarung aus dem Jahr 1987 ablösen wird. c) Abschließend weise ich noch auf das vierte Gesetz im "Maastricht-Paket" hin, das der Bundestag am 2. Dezember beschlossen hat: es handelt sich um das Gesetz über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag

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in Angelegenheiten der Europäischen Union, das seine formelle verfassungsrechtliche Grundlage in Artikel 23 Abs. 3 GG findet und die Einzelheiten der Mitwirkung des Bundestages an Rechtssetzungsakten der Europäischen Union betrifft. Es enthält in seinem § 6 eine Regelung, die auch für den von uns erörterten Fragenkreis einschlägig ist: Danach soll bei widersprüchlichen Stellungnahmen von Bundestag und Bundesrat zu Rechtssetzungsvorhaben der Europäischen Union die Bundesregierung vorrangig die Stellungnahme des Bundestages berücksichtigen, wenn die Materie im Falle innerstaatlicher Gesetzgebung schwerpunktmäßig in die Zuständigkeit des Bundes fiele. Umgekehrt will man der Stellungnahme des Bundesrates Vorrang zukommen lassen, wenn bei innerstaatlicher Gesetzgebung schwerpunktmäßig die Länder zuständig wären. Diese Regelung ist für die Länder kaum akzeptabel: -

Sie ist ein Rückschritt gegenüber der geltenden Beteiligung nach dem EEAG, wonach jetzt die Stellungnahmen des Bundesrates praktisch immer zu berücksichtigen sind, wohingegen der Bundestag in Zukunft in Materien, die innerstaatlich der Bundesgesetzgebung zugänglich wären, im Konfliktfall immer den Bundesrat ausstechen könnte.

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Sie ist mit Art. 23 (neu) GG nicht vereinbar, wonach beide Kammern gleichgewichtig zu beteiligen sind.

Wegen dieses Punktes wird vor dem im Bundesrat entscheidenden 18. Dezember noch manche politische Pokerrunde ausgetragen werden.

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Die Subsidiarität zwischen Bund und Ländern nach Österreichischem Verfassungsrecht Von Jürgen Weiss Im Zuge der Diskussion über die zukünftige Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften sind die Begriffe ,,Föderalismus" und "Subsidiarität" verstärkt in das Blickfeld der Öffentlichkeit getreten und zu vielzitierten Schlagwörtern geworden. Beide Grundsätze stehen für die Trendwende der Europäischen Gemeinschaft vom vielfach kritisierten ,,Brüsseler Zentralismus" zu einem neuen Konzept, einem Europa der Regionen und Bürger. Dabei wird - auch in Österreich - gerne übersehen, daß zentralistische Gegebenheiten und Tendenzen auch im eigenen Land kritisch hinterfragt und "föderalistische" Konsequenzen gezogen werden sollten. Die aktuelle Diskussion soll daher Anlaß zu einer Bestandsaufnahme des Föderalismus in Österreich und seiner Entwicklungschancen sein.

I. Föderalismus und Subsidiarität Der Begriff ,,Föderalismus" stammt vom lateinischen Wort "foedus" ab und bedeutet, daß sich kleinere politische Einheiten unter Wahrung ihrer Selbständigkeit zu größeren politischen Einheiten zusammenschließen. Als politisches Ordnungsprinzip zielt Föderalismus also darauf ab, Einheit mit Vielfalt zu verbinden. Das Subsidiaritätsprinzip wird in der jüngeren Föderalismusliteratur sehr oft als ein Element, zum Teil sogar als ein wesentliches Element des Föderalismus gesehen. Das Subsidiaritätsprinzip wurde erstmals im Jahre 1931 von Papst Pius XI. in seiner Sozialenzyklika "Quadragesimo anno" definiert: "Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. "

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Das Subsidiaritätsprinzip bildet somit ein materielles Kriterium für die Aufgabenverteilung im Staat. In einem föderalistischen System ist das Subsidiaritätsprinzip ein geeignetes Kriterium, um die Verteilung der Aufgaben auf die verschiedenen staatlichen Ebenen sinnvoll vorzunehmen. Dabei sollen insbesondere Aufgaben von der niedrigeren auf die höhere Ebene nur dann übertragen werden, wenn dies zur Erfüllung der Aufgaben notwendig und zweckmäßig ist. Oder anders ausgedrückt, eine höhere Ebene darf nicht Aufgaben an sich ziehen, die eine niedrigere Ebene selbständig oder mit Hilfe der höheren Ebene besorgen kann. Erst wenn dies nicht möglich ist, darf die Aufgabe an die höhere Ebene abgegeben werden. Die entscheidenden Kriterien sind also Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit. Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Instrument, um die Ziele des Föderalismus zu verwirklichen.

11. Subsidiarität in der österreichischen Bundesverfassung Die Europäische Gemeinschaft hat im Vertrag zur Politischen Union in Maastricht das Subsidiaritätsprinzip ausdrücklich verankert: "In Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht kommenden Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können." Damit soll im Primärrecht ein Maßstab geschaffen werden, der auch beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg einklagbar sein soll. In der österreichischen Bundesverfassung ist das Subsidiaritätsprinzip nicht ausdrücklich verankert. In der rechts wissenschaftlichen Literatur finden sich aber Stimmen, die grundsätzlich davon ausgehen, daß die Verteilung der Staatsaufgaben nach dem Kriterium des Subsidiaritätsprinzips erfolgen sollte. Eine kritische Betrachtung der derzeit existierenden Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern in Österreich bzw. die fast unüberschaubare Kompetenzzersplitterung, die vielfach Ausfluß von tagespolitischen Kompromissen ist, läßt jedoch berechtigte Zweifel offen, daß die Kompetenzverteilung nach diesen Grundsätzen erfolgt ist. Jedenfalls führt sie zu der Feststellung, daß sich der Verfassungsgesetzgeber zumeist nicht daran gehalten hat. Der Grundsatz der Subsidiarität findet sich im österreichischen Recht ausdrücklich nur im Gemeinderecht. So gehören zum eigenen Wirkungsbereich der Gemeinden "alle Angelegenheiten, die im ausschließlichen oder überwiegenden Interesse der in der Gemeinde verkörperten, örtlichen Gemeinschaft gelegen oder geeignet sind, durch die Gemeinschaft innerhalb ihrer örtlichen Grenzen besorgt zu werden." Ausschlaggebend für die Zuordnung einer Aufgabe zum eigenen Wirkungsbereich ist demnach das Interesse der Gemeinde und die Eignung der

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Organe, die Aufgabe zu erfüllen. Diese selbstverantwortliche und relativ autonome Besorgung eigener Angelegenheiten durch eigene Organe und mit eigenen Mitteln verkörpert den Grundsatz der Subsidiarität. 111. Subsidiarität zugunsten der Länder? Hinsichtlich der Kompetenzverteilung, dem Herzstück der Bundesverfassung, scheint die österreichische Bundesverfassung auf den ersten Blick länderfreundlich. Denn gemäß Art. 15 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) verbleibt eine Angelegenheit im selbständigen Wirkungsbereich der Länder, soweit diese nicht ausdrücklich durch die Bundesverfassung der Gesetzgebung oder der Vollziehung des Bundes übertragen ist. De facto sind jedoch alle wesentlichen Kompetenzen beim Bund angesiedelt. In die Zuständigkeit der Länder fallen lediglich die Landesverfassung, die Organisation der Landesverwaltung, das Baurecht, das Veranstaltungswesen, das Gemeinde-, Jagd- und Grundverkehrsrecht, der Naturund Umweltschutz, die örtliche Sicherheitspolizei und das Sportwesen, um die wesentlichen zu nennen. Die kompetenzmäßige Überlegenheit des Bundes zeigt sich sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht. Mangels einer inhaltlichen Beschreibung der Allgemeinzuständigkeit der Länder nach dem Subsidiaritätsprinzip zog der Bundesverfassungsgesetzgeber aufgrund seines Alleinverfügungsrechtes stetig Kompetenzen von den Ländern ab, wodurch es zu einer schleichenden Aushöhlung der Bundesstaatlichkeit und damit zu einer zunehmenden Zentralisierung kam. Im Gegensatz zur Bundesrepublik Deutschland gibt es jedoch keinen Vorrang von Bundesgesetzen gegenüber Landesgesetzen. Art. 16 B-VG räumt den Ländern die Möglichkeit ein, Staatsverträge mit angrenzenden Staaten oder Teilstaaten über Angelegenheiten des eigenen Wirkungsbereiches abzuschließen. Der Spielraum der Länder ist jedoch eingeengt, da die Bundesregierung zur Sicherung einer einheitlichen Außenpolitik darüber informiert werden und zustimmen muß. In Ansätzen kann man auch hier Elemente des Subsidiaritätsprinzips verwirklicht sehen. Eine wichtige bundesstaatliche Funktion erfüllt Art. 17 B-VG, der die Länder als Träger von Privatrechten in keiner Weise einschränkt. Dadurch können die Länder in sämtlichen Aufgabenbereichen in privatrechtlicher Form Maßnahmen ohne Rücksichtnahme auf die Kompetenzverteilung setzen - zu nennen ist hier vorrangig die umfassende Förderungstätigkeit - und können damit ein Minimum an regionaler Wirtschafts-, Kultur-, Arbeitsmarkt-, Umwelt- und Raumordnungspolitik verwirklichen. Solche Maßnahmen können insbesondere auch in Kompetenzbereichen gesetzt werden, die in Gesetzgebung und Vollziehung dem Bund zustehen. Aufgrund des Art. 17 B-VG stehen dem Bund vice versa die gleichen Rechte zu. Einzige Grenze, die den Gebietskörperschaften diesbezüglich auferlegt ist, sind die Finanzierbarkeit bzw. die finanzgesetzlichen Ansätze in den jährlichen Finanzgesetzen des Bundes und der Länder.

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Die Stärke der österreichischen Bundesländer beruht in der Realität auf dem politischen Gewicht der Landeshauptmänner und ihrer Stellung im Rahmen der mittelbaren Bundesverwaltung. In der mittelbaren Bundesverwaltung ist der Landeshauptmann in Materien, die kompetenzmäßig Bundesverwaltung darstellen, als Vollzugsorgan dem jeweils zuständigen Bundesminister weisungsgebunden unterstellt. Der Landeshauptmann erledigt in diesen Bereichen mit den ihm unterstellten Landesbehörden Bundesangelegenheiten. Faktisch resultiert daraus eine nicht unbeträchtliche Stärkung der Länderposition, zumal im Regelfall der verwaltungsbehördliche Instanzenzug beim Landeshauptmann endet. Seine Entscheidungen sind nur mehr durch den Verwaltungsgerichtshof kontrollierbar. Die mittelbare Bundesverwaltung ist charakteristisch für den ambivalenten Stellenwert der Länder im österreichischen Staatsgefüge.

IV. Föderalistische und subsidiäre Defizite Die österreichische Bundesstaatlichkeit ist trotz der genannten föderalistischen Ansätze im Vergleich zu Deutschland oder der Schweiz relativ schwach ausgeprägt. Die Ursachen sind vielfach in der historischen Entwicklung des Föderalismus zu suchen, die ich daher kurz zusammenfassen möchte. Nach dem Zerfall der konstitutionellen Monarchie 1918 entwickelten sich im wesentlichen aus den Kronländern der Monarchie die Bundesländer der Republik Österreich. Es wurden dabei zahlreiche Elemente der monarchistischen Verfassung übernommen. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, die auf den Zuständigkeiten der kaiserlichen Ministerien aufbaute, führte zu einer auffälligen Begünstigung des Bundes. Dennoch unterstrich auch Staatskanzler Dr. Renner in der Sitzung der Provisorischen Nationalversammlung die Bedeutung der Länder, die ja bereits vor der Ausrufung der Republik vorhanden waren: "Die Grundlage unserer staatlichen Tätigkeit sind die Länder und Kreise, die in freiem Entschluß ihren Beitritt zum Staat Deutsch-Österreich vollzogen haben." Die Ambivalenz des österreichischen Föderalismus zeigte sich schon bei der Staatsgründung. Während die Zentralisten die Staatsgründung aus dem Zusammenbruch der Monarchie ableiten, gehen die Föderalisten vom freiwilligen Zusammenschluß der Länder aus. Dementsprechend waren auch die Verhandlungen zur Bundesverfassung vom Gegensatz zwischen föderalistischen und zentralistischen Tendenzen geprägt, in denen sich jedoch die Zentralisten weitgehend durchsetzten. Die außerordentlich schwache Stellung des Bundesrates ist ein Ergebnis dieses historischen Kompromisses, wobei anzumerken ist, daß es ohne diese Einigung vermutlich nicht zur Staatsgründung gekommen wäre.

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Zweifellos trug auch die große Koalition zwischen der ÖVP und der SPÖ von 1945 bis 1966 zur zunehmenden Zentralisierung durch Kompetenzzuwächse des Bundes bei, denn wenn es einer Lösung dienlich erschien, wurden Zuständigkeiten mit der vorhandenen Zweidrittelmehrheit bundesverfassungsgesetzlich an den Bund übertragen. Die noch bestehenden Notstandsregelungen begünstigten diese Entwicklung zusätzlich. Im internationalen Vergleich haben die österreichischen Bundesländer heute die geringsten Gesetzgebungszuständigkeiten. Dazu kommt, daß bestimmte gesellschaftlich sehr wichtige Bereiche wie zum Teil im Schulbereich, im Sicherheits- und Finanzwesen in unmittelbare Bundesverwaltung fallen, d. h. sie werden von eigenen Bundesbehörden in den Ländern vollzogen. Zusätzlich wird die Verfassungsautonomie der Bundesländer durch Aufsichtsbefugnisse des Bundes und Homogenitätsbestimmungen der Bundesverfassung wie zum Beispiel im Dienstrecht der Länder oder der Finanzverfassung eingeschränkt. Die Gerichtsbarkeit liegt beim Bund, eine eigene Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit existiert nicht. Ansätze für die Entwicklung einer eigenen Verwaltungsgerichtsbarkeit bilden aber die jüngst geschaffenen Unabhängigen Verwaltungssenate, die derzeit jedoch organisatorisch Landesverwaltungsbehörden darstellen. Weiters bildet die österreichische Länderkammer, der Bundesrat, aufgrund seiner Konstruktion kein wirksames Gegengewicht, sondern wird von den Ländern eher als verlängerter Arm der Nationalratsfraktion angesehen. Die schwache Stellung der Länder wird darüber hinaus durch das Finanzverfassungsgesetz und den darauf beruhenden Finanzausgleich untermauert. Denn der Finanzausgleich kann vom Bund einseitig festgelegt werden, ohne daß der Bundesrat ein Vetorecht hätte. Auch ist der Anteil des Bundes an den gesamten Staats ausgaben mit 60 Prozent enorm hoch, wie Vergleichswerte mit Nachbarstaaten wie Deutschland und der Schweiz, die einen Bundesanteil von 45 Prozent bzw. 30 Prozent aufweisen, zeigen.

v. Forderungsprogramme der Bundesländer Als Reaktion auf die zunehmende Unterwanderung des bundesstaatlichen Prinzips und die Aushöhlung der Länderkompetenzen erarbeiteten die Länder seit 1964 Forderungsprogramme, die zu einer neuerlichen Stärkung der Länder und des Föderalismus in Österreich führen sollten. Ein erster Erfolg wurde mit der B-VG-Novelle 1974 erzielt, die neben einzelnen Kompetenzveränderungen zugunsten der Länder zu einer Stärkung der mittelbaren Bundesverwaltung durch die Verkürzung der Instanzenzüge und zur teilweisen Verländerung des Grundverkehrs führte. Die B-VG-Novelle 1984 brachte eine Aufwertung des Bundesrates durch das Zustimmungsrecht bei Kompetenzänderungen zu Lasten der Länder, durch die

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ausdrückliche Bezeichnungspflicht von Grundsatzgesetzen und das Recht auf Teilnahme und Rede der Landeshauptleute im Bundesrat. Im großen und ganzen kam es jedoch nur zu punktuellen Änderungen, die oft in einem bloßen Abtausch von Zuständigkeiten je nach tagespolitischer Zweckmäßigkeit bestanden. Gleichzeitig wurden vieWiltige Eingriffe in Länderzuständigkeiten und Länderfinanzen vorgenommen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an die endgültige Festschreibung der Behördenorganisation im Sicherheitswesen durch die Verfassungsnovelle 1991. Die Forderungsprogramme bewirkten somit keine grundlegende Verbesserung. Trotz der ungenügenden verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des bundesstaatlichen Prinzips ist in Österreich vieles politisch möglich, was verfassungsrechtlich unmöglich wäre. Dieser Umstand ist sowohl auf die starke politische Stellung der Landeshauptmänner und dem damit verbundenen politischen Gewicht der Landeshauptmännerkonferenz zurückzuführen als auch auf das ausgeprägte Landesbewußtsein der Bevölkerung. Ungeachtet dessen ist eine grundlegende Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Ländern, die auch zu einer Stärkung der Länder führen soll, unbedingt erforderlich. Das verstärkte Regionalbewußtsein und die Bürgerinitiativen sind hier ein hilfreicher Katalysator. Durch den angestrebten EG-Beitritt Österreichs wird die Bundesstaatlichkeit Österreichs vor eine neue Bewährungsprobe gestellt. Die Abgabe von Zuständigkeiten und eine weitere Zersplitterung von Zuständigkeiten aufgrund zusätzlich zu beachtender europäischer Rechtsnormen würde ohne Reform eine neuerliche Schwächung der Länder bedeuten. Das heißt, die Europäische Integration verursacht zwar nicht die Notwendigkeit einer grundlegenden Bundesstaatsreform, aber sie verstärkt schon bisher existierende Mängel.

VI. Forderungen der Bundesländer im Hinblick auf EWR und EG Die österreichischen Bundesländer haben in der Frage einer EG-Mitgliedschaft Österreichs stets eine Vorreiterrolle eingenommen. Sie haben sie von vornherein bejaht, aber nicht um den Preis der Selbstaufgabe. Sie haben klargestellt, daß sie als starke, eigenständige Länder nach Europa wollen und nicht mit der Vision, in einem Europa der Regionen zu bloßen Verwaltungsbezirken ohne gesetzgeberische Gestaltungsmöglichkeit abzusinken. Um der Ratifizierung des EWR-Vertrages politisch zuzustimmen, haben daher die Länder in einem Beschluß der Landeshauptmännerkonferenz vom 29. Mai 1991 drei Voraussetzungen genannt: 1. Ein Länderbeteiligungsverfahren, das die Mitwirkungsrechte der Länder und eine angemessene Beteiligung an der Willensbildung des Bundes in der Integrationspolitik sicherstellt.

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2. Die Zuständigkeit für den gesamten Grundverkehr. 3. Eine politische Vereinbarung über die Neuordnung der Aufgabenverteilung und eine Stärkung bundesstaatlicher Strukturen. Alle drei Forderungen wurden 1992 erfüllt.

VII. Bundesstaatsreform Aufgrund der Zersplitterung der Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern, die oft eine effiziente Arbeit behindert und für den Bürger nicht verständlich ist, wurde im Arbeitsübereinkommen zwischen SPÖ und ÖVP im Jahr 1987 eine strukturelle Verbesserung der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung vereinbart. Insbesondere wurde betont, daß die Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden zeitgemäß weiterentwickelt bzw. neugeordnet werden soll. Im Detail legt die Koalitionsvereinbarung im Abschnitt Föderalismus fest: "Ein geeintes Europa wird nicht nur ein solches einander näher gerückter Nationen, sondern vor allem auch ein solches der Regionen sein. In diesem Sinn stellt der Föderalismus nicht nur einen wesentlichen und unverzichtbaren Bestandteil der politischen und gesellschaftlichen Ordnung Österreichs, sondern darüber hinaus auch des künftigen Europa dar. Den österreichischen Ländern und dem Bundesrat ist daher im Integrationsprozeß und insbesondere in den Verhandlungen Österreichs mit der EG ein entsprechendes Informations- und Mitwirkungsrecht einzuräumen. Die Arbeiten zur Umsetzung einer zeitgemäßen Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sind zügig fortzusetzen. Ebenso sind die Arbeiten zur Erfüllung des Bundesländer-Forderungskataloges mit Nachdruck voranzutreiben. " Die Strukturreforrnkommission, die sich aus Experten des Verfassungsrechts, der Finanzverfassung und der Finanzwissenschaft zusammensetzte, legte 1991 ein Gesamtkonzept für eine umfassende Neuregelung der Kompetenzverteilung vor. Dieses bildete die Basis für Verhandlungen zwischen Bund und Ländern, die mit der Unterzeichnung der politischen Vereinbarung bei der Landeshauptmännerkonferenz am 19. Juni 1992 einen ersten Erfolg erzielen konnten. Die politische Vereinbarung soll die Eigenständigkeit der Länder stärken und bildet die Basis für ein neues föderalistisches Gerüst der österreichischen Bundesverfassung, das zu einer funktionsgerechten, zeitgemäßen und bürgernahen Neuaufteilung der Staats aufgaben zwischen Bund, Ländern und Gemeinden führen soll. Zur Stärkung des bundesstaatlichen Prinzips sieht die Vereinbarung die Neuverteilung der Aufgaben unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das Subsidiaritätsprinzip vor: "Die Verteilung der Staatsaufgaben auf den Bund, die Länder und Gemeinden ist im Sinne des Subsidiaritätsprinzips, einer effizienten und bürgernahen Besorgung der Staatsaufgaben, . . . neu zu ordnen."

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Im Sinne einer bundesstaatlichen Aufgabenverteilung sollen weiters geschlossene und abgerundete Kompetenz- und Verantwortungsbereiche geschaffen, die bisherige Form der Grundsatzgesetzgebung soll beseitigt werden und Verfassungsbestimmungen in einfachen Bundesgesetzen sollen entfallen. Im Rahmen der Generalkompetenz der Länder nach Art. 15 Abs. 1 B-VG sind die Länderzuständigkeiten demonstrativ aufzuzählen. Über ihre in Art. 15 Abs. 9 B-VG festgelegte Möglichkeit hinaus sollen die Länder aufgrund einer Ermächtigung oder Zustimmung des Bundes auch zivilrechtliche Regelungen treffen dürfen. Darüber hinaus beinhaltet die Vereinbarung eine Reform der Bundesverwaltung, eine Stärkung der Verfassungsautonomie der Länder und eine Umwandlung der Unabhängigen Verwaltungssenate in Landesverwaltungsgerichte sowie eine Reform des Bundesrates. Nun gilt es, dieses föderalistische Gerüst mit konkreten Inhalten auszufüllen. Expertengruppen arbeiten derzeit an detaillierten Vorschlägen für eine neue Zuständigkeitsverteilung, die die Grundlage für weitere Verhandlungen bilden. Das Ergebnis dieser Verhandlungen muß spätestens bei der Volksabstimmung über einen EG-Beitritt in einer beschlußreifen Regierungsvorlage vorliegen und soll dann gemeinsam mit der Verfassungsänderung, die bei einem EG-Beitritt Österreichs erforderlich ist, beschlossen werden. Für die österreichischen Bundesländer bietet sich jedenfalls die historische und vielleicht letzte Chance, vor einem EG-Beitritt eine wesentliche Aufwertung ihrer Stellung im Bundesstaat zu erreichen und dem Subsidiaritätsprinzip auch in Österreich zum Durchbruch zu verhelfen. Die Umsetzung dieser Maßnahmen würde aber nicht nur die eigenstaatliche Position der österreichischen Bundesländer substantiell stärken, sondern wäre letztendlich auch ein Beitrag zur Stärkung des Föderalismus in Europa. Denn nur eine gestärkte Eigenstaatlichkeit der Länder kann dazu beitragen, daß die einzelnen Mitgliedsstaaten in einem vereinten Europa ihre Identität wahren und gemeinsam mit ihrer Vitalität zu einem wirtschaftlich und politisch geeinten Europa führen.

Europäische Sozialpolitik und Subsidiarität Testfall für die Akzeptanz der Bürger Von Hans-Ulrich Reh

I. Es ist das vierte Mal in Folge, daß Sie mich zu den Deidesheimer Wochenendseminaren eingeladen haben. Und jedes Mal freue ich mich auf anregende Gespräche und interessante Diskussionen über hochrangige europäische Themen. Diesmal treffen wir uns zudem im vollen Countdown zum Binnenmarkt '93, der in genau 29 Tagen in seinen wesentlichen Teilen vollendet sein wird. Die Gemeinschaft hat damit einen großen Schritt nach vorne getan. Ihr traditioneller Dezembertermin liegt überdies immer in unmittelbarer Nähe zu Europäischen Räten, von denen die Bürger Aufschlüsse und Entscheidungen über die Zukunft der Gemeinschaft erwarten. Das ist bei dem diesjährigen Edinburgher Gipfel nicht anders. Neben einer Antwort auf die Frage, unter welchen Bedingungen die Dänen schließlich doch noch für ein Ja zu Maastricht zu gewinnen sind, hoffen wir auch auf substantielle Aussagen zur Handhabung des Subsidiaritätsprinzips, das durch Maastricht als Rechtsnorm und politische Leitidee zur Gestaltung des europäischen Einigungs- und Gesetzgebungsprozesses wesentliche Vertragsgrundlage geworden ist. Und damit sind wir beim Thema des Seminars, das aktueller nicht hätte gewählt werden können. Klassischer Anwendungsfall des Subsidiaritätsprinzips ist die Sozialpolitik, mit der wir uns im europäischen Rahmen beschäftigen wollen. Das kann aber sinnvollerweise nur im Kontext mit der allgemeinen Subsidiaritäts- und Akzeptanzdiskussion geschehen, die für das Verständnis der sozialen Dimension der Gemeinschaft und der einschlägigen Sozialbestimmungen der Verträge zentrale Bedeutung hat. Sie müssen mir also auf einigen Umwegen folgen, die aber, wie ich hoffe, trotzdem sicher zum Ziel führen.

11. Seit der Einfügung des Subsidiaritäts-Artikels 3 b in den Maastrichter Unionsvertrag erlebt die Diskussion über Inhalt und Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips

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eine ungeahnte Renaissance. In kurzer Zeit haben Politik und Wissenschaft das Feld kräftig beackert - die einschlägigen Memoranden der Bundesregierung und der EG-Kommission wurden eben schon analysiert. Das Europäische Parlament hat gerade erst eine Entschließung über ein interinstitutionelles Abkommen (EP, Rat, Kommission) zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auf die Gemeinschaftspolitiken verabschiedet. Sehr lesenswert ist auch ein Aufsatz von lörn Pipkorn vom Juristischen Dienst der EG-Kommission über das Subsidiaritätsprinzip. 1 Man darf mit Spannung auf weitere bereichernde Beiträge engagierter Euro-Juristen hoffen, der Stoff für manche Seminararbeit liegt auf dem Tisch. In der Tat: Über Subsidiarität sprechen, auf das Subsidiaritätsprinzip berufen sich mit Blick auf das Europa nach Maastricht inzwischen alle: die Franzosen und lacques Delors, obwohl der Begriff in seiner wesentlichen Bedeutung noch in den vorletzten Ausgaben der deutsch-französischen Wörterbücher nicht zu finden war und alles, was damit zu tun hat, im französischen zentral staatlichen System allenfalls rudimentär angelegt ist; lohn Major, der vieles, die Dänen, die sofern es ihnen nicht handfeste Vorteile bringt, möglichst alles auf nationaler Ebene belassen möchten. Und natürlich die Deutschen, die das Subsidiaritätsprinzip in vorderster Linie im Unionsvertrag durchgesetzt haben und die es aufgrund ihrer langen praktischen und positiven Erfahrungen mit seiner Anwendung in Gesellschaft und föderalem Staatsgefüge noch am ehesten zu handhaben wissen. Alle reden also vom Subsidiaritätsprinzip, bloß versteht es, wie der Bundeskanzler vor dem Europa-Forum der Deutschen Wirtschaft vor kurzem sagte, ,,kein Mensch", oder, auch nicht besser: Jeder versteht etwas anderes darunter. Nun sind die Kemaussagen, angelehnt an das Grundkonzept der katholischen Soziallehre zur Ordnung des Zusammenlebens in Gesellschaft und Staat, natürlich allgemein geläufig: Das, was der einzelne aus eigener Initiative leisten kann, Aufgaben, die die verschiedenen Sozialgebilde - z. B. Familie, Sozialpartner - selbst erfüllen können, soll der Staat nicht an sich ziehen. Das heißt aber auch - darauf beruht unser Sozialstaatsprinzip - daß da, wo der einzelne oder die soziale Gruppe überfordert ist, der Staat nicht nur die Bedingungen schaffen muß, um die Sozialgebilde funktionsfähig zu halten, sondern, wo nötig, zur solidarischen Hilfeleistung, zum Tätigwerden verpflichtet ist. Das gilt analog für die Organisation der Staaten, erst recht für zwischenstaatliche Zusammenschlüsse; idealtypisch sind föderale, bundesstaatliche Ordnungen wie z. B. in der Bundesrepublik im Verhältnis von Bund, Ländern und Gemeinden. Die Übertragung dieser Grundsätze auf europäische Strukturen führt zu der Faustformel, daß die Europäische Gemeinschaft nur das regeln darf, was nicht auf der Ebene der Mitgliedstaaten besser, zumindest ausreichend erreicht werden 1 Das Subsidiaritätsprinz~p im Vertrag über die Europäische Union rechtliche Bedeutung und gerichtliche Uberprüfbarkeit" in: Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (EuZW) 1992, S. 697 ff.

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kann, daß die Gemeinschaft aber im Rahmen ihrer Kompetenzen da tätig werden muß, wo europäische Regelungen zwingend erforderlich sind. Das ist, vereinfachend, auch die Botschaft des Artikels 3 b des Unionsvertrages. Der Ansatz ist gut. Nur steckt der Teufel, wie üblich, im Detail, nämlich in der politischen Festlegung der Kompetenzabgrenzung zwischen den Mitgliedstaaten und den Organen der Gemeinschaft einschließlich des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), mit dessen Rechtsprechung wir uns an anderer Stelle noch kritisch auseinandersetzen müssen. Genau hier scheiden sich die Geister. Die Subsidiaritätsdiskussion gerät auf eine schiefe Bahn, wenn das Subsidiaritätsprinzip nur als ein Abwehrrecht gegenüber Eingriffen in die eigenen Zuständigkeiten, als Vehikel zur Verhinderung von Fortschritten auf dem Weg zur europäischen Integration verstanden wird. Man sagt Subsidiarität und meint, daß einem die ganze Richtung nicht paßt. Einige Mitgliedstaaten haben dabei eine beachtliche Virtuosität entfaltet. Auch umgekehrt wird kein vernünftiger Schuh daraus: Wer die Schwelle der Subsidiarität so niedrig ansetzt, daß das meiste der zentralen Ebene vorbehalten bleibt, schwächt das innere Gleichgewicht der Union, das Artikel 3 b durch eine sinnvolle Abgrenzung der Aufgaben von Gemeinschaft und Mitgliedstaaten gerade herstellen will. Es fehlt also nicht an Zielvorgaben. Sie sind im Unionsvertrag festgelegt und im europäischen Einigungs- und Gesetzgebungsprozeß - einklagbar - umzusetzen. Nur: Wie das konkret zu geschehen hat, was auf die Gemeinschafts-, was auf die Ebene der Mitgliedstaaten gehört, wie also geeignete Maßstäbe für das Tätigwerden der Gemeinschaft mit welcher Regelungsdichte festgelegt werden können - darüber hat die europäische Diskussion gerade erst begonnen. III. Dabei sind baldige Klarstellungen zwingend notwendig. Die Europäische Gemeinschaft leidet ganz offenkundig an Akzeptanzschwund bei ihren Bürgern. Die Sorgen vor dem, was Maastricht bringt, so wenig begründet sie bei näherem Hinsehen auch sein mögen, sind längst zum politischen Faktum geworden, das sich in immer negativeren Umfragen widerspiegelt. Euro-Verdrossenheit macht sich, gerade auch bei den Deutschen, die lange als europäische Musterknaben galten, zunehmend breit. Nun wäre es zwar blauäugig anzunehmen, die strikte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, wenn man es denn einvernehmlich definiert hätte, auf die Gemeinschaftspolitiken würde wie ein deus ex machina die Akzeptanzprobleme lösen und den europäischen Konsens schlagartig wiederherstellen. Nur: Ohne daß das Tätigwerden der Gemeinschaft und ihrer Organe auf dieser Grundlage überprüft und an ihr neu orientiert wird, wachsen uns die Probleme über den Kopf, wird

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die Zustimmungsquote zum Maastrichter Vertrag mit seinen Grundpfeilern Politische Union und Europäische Wirtschafts- und Währungsunion ein weiteres Tief erreichen. Nur mit der Zustimmung der Bürger, ob per Referendum befragt oder nicht, niemals gegen sie, wird Europa enger zusammenwachsen. Das: Wie hälst Du es mit der Subsidiarität? wird zu einer europäischen Schlüsselfrage. Daß wir über Subsidiarität und manches andere, z.B. die Transparenz europäischer Entscheidungen, in aller Breite und nicht nur in den üblichen Zirkeln altgedienter Euro-Profis oder auf grob vereinfachendem Boulevard-Zeitungsniveau diskutieren; daß die politisch Verantwortlichen in der Gemeinschaft und in den Mitgliedstaaten den Bürgern so intensiv wie nie Rede und Antwort stehen; daß mit Maastricht Europa zum Gegenstand eines - freilich überaus kontroversen - öffentlichen Interesses geworden ist, verdanken wir im wesentlichen zwei Faktoren: Die Menschen begreifen, daß das ihnen vertraute, von ihnen bejahte und zur Selbstverständlichkeit gewordene Europa des Friedens, der Freizügigkeit, des Wohlstands, das den Wettstreit der Systeme mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks so überzeugend gewonnen hat, eine neue Qualität erhält. Die mit erheblich erweiterten Kompetenzen ausgestattete Gemeinschaft, deren volle demokratische Legitimation zudem noch immer nicht ausreichend - Stichwort Demokratie-Defizit - hergestellt ist, erreicht den Alltag jedes einzelnen. Die Zeit der europäischen Sonntagsreden ist vorbei. Die Bürger wollen wissen, wohin die Reise geht. Das muß ihnen jetzt erklärt werden. Und ein zweites. Es wäre sicher zynisch, das gescheiterte Referendum in Dänemark, das knappe Ja der Franzosen oder das Nein der Schweizer zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) als europäische Glücksfalle zu bezeichnen, wie das manche tun. Dafür steht zuviel auf dem Spiel. Die Gefahr ist groß, daß immer mehr Mitgliedstaaten, vor allem auch einige aus der Schar der Beitrittswilligen, auf Präzedenzfalle pochen, sich am liebsten ein europäisches Menu a la carte servieren lassen. Ein Europa, bei dem sich jeder die Rosinen herauspickt, sich aus den Gemeinschaftsverpflichtungen aber heraushält, kann nicht funktionieren. Maastricht, wenn es in diese Richtung liefe, würde auf wackligen Füßen stehen. Aber eines ist gewiß: Ohne diese ganzen oder halben Unfalle auf dem Marsch in die europäische Zukunft hätten wir die klärenden Diskussionen nicht, würde Europa weiter von den zumeist hoch qualifizierten, aber zur Verselbständigung neigenden BfÜsseler Insidern betrieben, wäre der schleichende Vertrauensschwund nicht sichtbar und damit umso gefahrlicher geworden. Business as usual - das läuft nicht mehr. Europa wird zum Thema der Argumentation, der sachbezogenen Information und der BegfÜndungszwänge. Und das ist gut so. Gerade weil wir überzeugt sind, daß Maastricht uns trotz mancher Schwachstellen eine großartige Perspektive für eine gemeinsame euro-

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päische Zukunft eröffnet, müssen wir in ständigem Dialog um die Bürger werben, sie für Europa gewinnen. Ängste, Vorbehalte, Sorgen dürfen wir nicht einfach vom Tisch wischen, indem wir, wie Minister Blüm es formulierte, einer verbreiteten "Europa-Phobie" eine blauäugige "Europa-Euphorie" entgegensetzen, die die Probleme unter den Teppich kehrt. Dabei ist im einzelnen weniger wichtig, ob die Dänen Angst vor einem Sozialabbau via Maastricht hatten und deshalb mit Nein stimmten, ob den Franzosen das kommunale Wahlrecht der EG-Bürger ein Ärgernis war, oder die Bauern (was gar nichts mit Maastricht zu tun hat) der EG eine Quittung für Nachteile aus der Neuordnung der gemeinsamen Agrarpolitik geben wollten, und den Deutschen, wenn man sie gefragt hätte, möglicherweise das Ja im Hals stecken geblieben wäre, wenn sie an den ECU - Gauweilers ,,Esperanto Geld" dachten. Vielen gemeinsam ist ein diffuses Unbehagen gegenüber Brüssel, das Philippe Seguin, einer der Nein-Protagonisten in Frankreich, auf die Formel brachte: "Maastricht bedeutet den Triumph einer Bürokratie, die sich längst von den Bürgern entfernt hat. Maastricht ist eine Spielwiese phantasieloser Technokraten". Griffig formuliert, doch, wie alle Verallgemeinerungen, falsch. Und erfreulich, daß gerade diejenigen, die wissen, was sie der Versöhnung und Frieden stiftenden Gemeinschaft offener Grenzen und guter Nachbarschaft verdanken, die Elsässer, die Lothringer zum Beispiel, mit überwältigender Mehrheit ihr Ja zu Maastricht gesagt haben. Es ist eben richtig, daß, wer Europa positiv erfahrt, immun gegen überzogene Töne ist. Aber auffallend ist auch: Die tragenden politischen Kräfte, etwas despektierlich als "politische Klasse" bezeichnet, stehen voll hinter Maastricht. Das war in Dänemark und, mit gewissen Abstrichen, auch in Frankreich so, vollends in der Schweiz, als es um den EWR ging. Nur die Bürger zogen nicht mit. Sie gaben opponierenden Minderheiten überproportionales Gewicht. Da stimmt etwas nicht in der Kommunikation zwischen Wählern und Gewählten. 1994 sind Europawahlen. Das Europäische Parlament gewinnt an politischen Gewicht. Maastricht stärkt seine Mitwirkungsrechte. Wenn bis dahin die Überzeugungsarbeit defizitär bleibt, könnten höchst unbequeme, destruktive und gefährliche parlamentarische Minderheiten Gewinner einer nicht abgebauten EuropaPhobie sein.

IV. Das Stichwort, das Seguin aufgriff, trifft einen neuralgischen Punkt. Bürgerferne erzeugt Akzeptanzprobleme. Sie werden verstärkt, wenn die Entscheidungen nicht nachvollziehbar sind, wenn die Menschen den Eindruck haben, daß zuviel, zu detailliert, zu bürokratisch und - das ist durchaus auch räumlich zu verstehen - zu ortsfern ("die da in Brüssel") geregelt wird. 5 Melten

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Hier genau sind wir an dem Schnittpunkt, an dem das Subsidiaritätsprinzip ansetzt. Es dient, wie das Memorandum der Bundesregierung ausführt, dem Ziel, daß "die Entscheidungen der Europäischen Union möglichst bürgernah getroffen werden und die nationale Identität der Mitgliedstaaten und ihrer Regierungssysteme gewahrt bleibt". Die Menschen wollen sich die ihnen vertraute kulturelle, soziale, gesellschaftliche Heimat auch im zusammenwachsenden Europa erhalten und bewahren. Sie fürchten sich vor Entfremdung im eigenen Haus, vor "Harmonisierungswut", Gleichmacherei, Zerstörung von Geborgenheit durch anonyme, undurchsichtige, ihnen aufgestülpte Strukturen. Vielleicht ist der Begriff des "Europas als Einheit in Vielfalt" ein wenig abgegriffen. Aber er trifft genau das, was die Bürger suchen, was aber vielfach verschüttet wird unter einem unüberschaubaren europäischen Regelungsgeflecht. Dafür muß meist die EG-Kommission, weil sie Europa nach außen am kontinuierlichsten und sichtbarsten repräsentiert, als Prügelknabe herhalten. Das ist nur zum Teil berechtigt. Sie hat zwar das (fast) alleinige Initiativrecht, aber im komplizierten Entscheidungsverfahren zwischen Kommission, EP und Rat müssen sich alle drei Institutionen den Schuh anziehen, daß sie oft zuviel zu detailliert regeln. Letzten Endes sitzt der Rat am längeren Hebel. Er sucht richtigerweise grundsätzlich den Konsens der Zwölf. Aber Kompromisse erfordern vielfältige Zugeständnisse. Wer den Gang der europäischen Gesetzgebung aus der Nähe verfolgt, weiß, daß jeder Mitgliedstaat gerne seine eigenen ,,zutaten" liefert, die das Menü oft nicht gerade schmackhafter machen. Damit hängen die vielbeklagte mangelnde Stringenz, Regelungsdichte und Unlesbarkeit vieler europäischer Rechtsakte zusammen. Dabei ist die "Lesbarkeit", die durch die Übersetzung in acht Amtssprachen auch nicht besser wird, noch das geringste Übel. Auch nationale Gesetze sind im allgemeinen keine Meisterwerke der Formulierkunst, müssen es auch nicht sein. Präsident Delors macht es sich etwas einfach, wenn er meint, "mit leichter Hand" geschriebene Texte würden beim Adressaten besser ankommen. Es geht nicht um Stilübungen, es geht vielmehr um die Frage, ob europäischer Handlungs- und Entscheidungsbedarf gegeben ist und, wenn dies bejaht wird, um die Inhalte und die Umsetzung europäischer Rechtsakte. Über diese Grundfragen, die den Kernbereich der Subsidiarität betreffen, müssen sich EP, Rat und Kommission politisch einig werden, wobei die vom EP vorgeschlagene interinstitutionelle Konferenz eine von mehreren Möglichkeiten der Konsensfindung ist. Bei etwaigen interinstitutionellen Vereinbarungen muß allerdings vermieden werden, daß das Subsidiaritätsprinzip durch pauschale Verfahrensregeln ausgehöhlt und die notwendige Einzelfallprüfung unterlaufen wird. Auch der EuGH wird im Lichte der gerichtlichen Überprüfbarkeit der Anwendung des Prinzips auf die europäische Gesetzgebung seine Rechtsprechung in manchen Punkten, vor allem im sozialen Bereich, wohl überprüfen, gegebenenfalls sogar neu orientieren müssen.

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Als Anhaltspunkte für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips gern. Artikel 3 b des Unionsvertrages dienen die inzwischen entwickelten "Prüfraster" , die Herr Oschatz zuvor bereits anhand des Memorandums der Bundesregierung erläutert hat. Fassen wir sie noch einmal kurz zusammen, um sie alsdann an die Sozialbestimmungen des Unions vertrages anzulegen. 1. Bei der grundsätzlichen Abgrenzung, was auf die Gemeinschaftsebene, was auf die Ebene der Mitgliedstaaten gehört, gilt: Die Gemeinschaft darf, sofern sie keine ausschließlich Zuständigkeit hat, nur tätig werden, wenn die Ziele der geplanten Einzelrnaßnahmen durch die Mitgliedstaaten "nicht ausreichend" erfüllt werden können und zudem der Nachweis geführt wird, daß sie auf Gemeinschaftsebene "besser" zu verwirklichen sind. Das zweite Kriterium, daß die Gemeinschaft es "besser" kann, ist also nur zu prüfen, wenn die Mitgliedstaaten zuvor die Note "nicht ausreichend" erhalten haben. Diese Konstellation wird Abgrenzungsfragen aufwerfen, zumal es in der Regel an Zuständigkeitskatalogen, wie wir sie aus der konkurrierenden Gesetzgebung im Grundgesetz kennen, fehlt. Die Gemeinschaftszuständigkeit ist immer aufgaben- und zielorientiert. In jedem konkreten Einzelfall muß deshalb begründet und geprüft werden, ob die Kriterien des Subsidiaritätsprinzips erfüllt sind. 2. Wenn die Gemeinschaftskompetenz bejaht ist, sind im Rahmen der Rechtssetzung in zwei weiteren Schritten die Wahl der Rechtsform sowie Regelungsumfang und Regelungsdichte der Einzelrnaßnahmen zu prüfen. Die Gemeinschaft kann also auch dann nicht nach Belieben verfahren, sondern muß flexibel die besonderen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten berücksichtigen, ihnen Gestaltungsspielräume lassen. Deshalb ist im konkreten Einzelfall zu begründen, warum zur Erreichung des angestrebten Ziels eine Verordnung Vorrang vor einer Richtlinie, diese wiederum vor einem nicht-verbindlichen Rechtsakt, z. B. einer Empfehlung, haben soll. 3. Oft tut die Gemeinschaft am besten daran, zu liberalisieren statt zu harmonisieren, sich etwa auf Vorschriften zur gegenseitigen Anerkennung nationaler Regelungen zu beschränken. Dies ist auch bisher schon geschehen. Beispielhaft ist die gemeinschaftsweite Anerkennung von Hochschulabschlüssen. Der untaugliche Versuch, zu einer inhaltlichen Vereinheitlichung der je unterschiedlichen Studien- und Prüfungsanforderungen zu kommen, hatte die für die Mobilität von Hochschulabsolventen zentrale Richtlinie über ein Jahrzehnt blockiert. Der Grundsatz ist sinnvollerweise auch im Lebensmittelrecht angewendet worden. Was in einem Mitgliedstaat zugelassen und gesundheitlich unbedenklich ist, muß grundsätzlich, sofern der Verbraucher weiß, was er konsumiert (Etikettierung), auch in den anderen zugelassen werden. Reinheitsgebote oder spezielle nationale Zubereitungen von Produkten bleiben unangetastet, dürfen aber auch nicht den 5'

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freien Warenverkehr behindern. Die Deutschen waren, was Bier und Wurst, die Italiener, was Spaghetti angeht, bekanntlich ganz anderer Meinung. Das zeigt nur, daß jeder im konkreten Einzelfall seine eigene Vorstellung von freiem Wettbewerb oder Subsidiarität hat. Die Gemeinschaft jedenfalls hatte gelernt, daß sie sich mit der Harmonisierung einzelner Rezepte - groteske Beispiele: die Richtlinien über Kakao, Marmelade, Gelees - nur lächerlich machte, und hat diesen Unfug inzwischen abgestellt. Subsidiarität ist also keine Erfindung von Maastricht, sie wurde schon vorher - übrigens auch im Umweltschutz und im Sozialbereich - praktiziert, nur ist sie erst jetzt verbindlich auf die Gemeinschaftspolitik anzuwenden. Mindestens ebenso wichtig ist die Frage, wie detailliert der gewählte Rechtsakt ausgestaltet wird, ob nicht EG-weit verbindliche Mindeststandards oder Rahmenvorschriften zur Zielverwirklichung ausreichen. Die Bürger stoßen sich nach meinem Eindruck seltener an der Tatsache, daß etwas auf Gemeinschaftsebene geregelt wird - im Gegenteil: vielfach möchten die Deutschen zum Beispiel im Umwelt- oder Verbraucherschutz viel schärfere Gemeinschaftsbestimmungen - , als vielmehr daran, wie umfangreich, wie "dicht" ein Sachverhalt geregelt wird. So leuchtet jedermann ein, daß zur Vollendung des Binnenmarktes, zur Sicherung des freien Wettbewerbs und der vier Grundfreiheiten - Freizügigkeit von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital- eine Fülle von Harmonisierungen unterschiedlicher nationaler Bestimmungen erforderlich ist. Beispielhaft seien die Angleichung von Mehrwert- und Verbrauchssteuersätzen in gewissen Bandbreiten oder die Vereinheitlichung von Normen genannt. Aber niemandem leuchtet ein, daß die an sich sinnvolle Richtlinie über Babynahrung noch mit detaillierten Empfehlungen an stillende Mütter angereichert werden mußte oder die Frischfleisch-Richtlinie - sie macht zur Zeit bundesweit im ländlichen Raum Furore - bis ins einzelne die Konstruktion von Schlachthöfen mit dem Zwang zu kostenträchtigen baulichen Veränderungen vorschreibt. Diese Beispiele lassen sich beliebig verlängern. Aber auch hier zeichnen sich erste Trendänderungen ab. So hat die Kommission bereits rasch und positiv auf eine Initiative des EP-Rechtsausschusses reagiert, die sog. Dienstleistungshaftungs-Richtlinie unter Vorgriff auf das Subsidiaritätsprinzip zu entrümpeln und ausreichenden Spielraum für die weitere Anwendung bewährter nationaler Bestimmungen zu geben. 4. Schließlich - wenn wir den ganzen Bereich der legislativen und verwaltungsmäßigen Umsetzung von EG-Recht in nationales Recht hier beiseite lassen - hat eine Abwägung stattzufinden, ob überhaupt ein Handeln auf EG-Ebene oder der Ebene der Mitgliedstaaten notwendig ist. Subsidiarität heißt ja, den Initiativen gesellschaftlicher Gruppen grundsätzlich Vorrang vor staatlichem Handeln zu geben. Am Beispiel der Tarifautonomie der Sozialpartner läßt sich dieses Prinzip besonders plastiSCh machen.

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v. So sind wir nach einigen Umwegen zur Bestimmung des Umfeldes, in dem sich europäische Sozialpolitik im Spannungsverhältnis von Subsidiarität und Akzeptanz der Bürger abspielt, beim engeren Thema. Das letzte Euro-Barometer zeigt, daß die soziale Dimension der Gemeinschaft eine hohe Zustimmungsquote hat. Vom Spitzenwert - 81 Prozent in Portugal - über Deutschland mit 64 Prozent bis Dänemark als Schlußlicht, auch immerhin noch 52 Prozent, halten die Gemeinschaftsbürger mit großer Mehrheit die soziale Flankierung von Binnenmarkt und Europäischer Union für "eine gute Sache". Das bestätigt unsere Grundüberzeugung - ich zitiere noch einmal Minister Blüm - , daß das einige Europa in den Herzen seiner Bürger nur verankert sein wird, wenn es ein soziales Europa ist. Die Bundesregierung hat deshalb auch die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (EG-Sozialcharta) von 1988 und das Programm der Kommission zu ihrer Umsetzung maßgeblich mitbestimmt und mit Nachdruck unterstützt. Binnenmarkt und Europäischer Sozialraum, Europäische Union und Europäische Sozialunion sollen sich parallel entwickeln - das wollen die Bürger so. Das schließt auch das Ja zur Europäischen Solidargemeinschaft ein. Solidarität bedeutet, den weniger entwickelten Mitgliedstaaten dabei zu helfen, ihre eigene Wirtschaftskraft und Wettbewerbsfahigkeit zu stärken. Wirksame Instrumente sind die drei EG-Strukturfonds (1988 bis 1993 rd. 120 Mrd. DM), die schwerpunktmäßig den schwächeren Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zugute kommen - allerdings mit in Zukunft deutlich verstärkten Mitteln auch für die neuen Bundesländer. Was die Gemeinschaftsbürger nicht wollen, ist die Einebnung, die Vergemeinschaftung der vielfältig gestalteten heimischen Soziallandschaft. Sie erwarten, daß ihnen die Notwendigkeit europäischer Regelungen auf diesem Feld überzeugend begründet wird. Das erfordert z. B. besondere Sensibilität des europäischen Gesetzgebers im Umgang mit den gewachsenen nationalen Sozial-und Arbeitsrechtssysternen, die für die Menschen ein existentielles Stück ihrer sozialen Heimat sind. Sie reagieren empfindlich und tief verunsichert auf Veränderungen des sozialen Netzes, das ihrem Alltag von Kindheit an Geborgenheit und Sicherheit gibt, vor allem Vertrauenstatbestände schafft. Ein auch nur begrenzter Umbau des Sozialstaats, wie ihn neue Anforderungen an die Leistungssysteme - Stichwort: Pflegeversicherung - oder die Überforderung der nationalen Haushalte notwendig machen können, setzt den breiten Konsens von Staat, Bürgern und Sozialpartnern voraus. Das mag der einzelne zu Hause hinnehmen, wenn er von der Notwendigkeit behutsamer Änderungen überzeugt ist. Eingriffe von außen wird er sich verbitten. Für die europäische Sozialpolitik gilt mehr noch als für andere Politikbereiche, daß das Gleichgewicht zwischen nationalen und europäischen Regelungen zu

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wahren, der grundsätzliche Vorrang nationaler vor Gemeinschaftsstrukturen zu respektieren, daß Harmonisierung kein Ziel an sich, sondern immer nur das letzte Instrument ist, um unerläßliche Gemeinschaftsziele zu verwirklichen. Nirgendwo - außer natürlich im kulturellen Bereich - hat die strikte Anwendung des Subsidiaritätsprinzips so elementare praktische Konsequenzen für das tägliche Leben der Menschen, nirgendwo sonst in den Verträgen ist es aber auch so stringent angelegt wie im Sozialkapitel des Unionsvertrages. Dabei ist gerade das Sozialpaket fast zum Stolperstein für den Unionsvertrag geworden. Die Sozialpolitik seit Maastricht, oder genauer: seit der Verabschiedung der EG-Sozialcharta durch nur elf der zwölf Mitgliedstaaten, nämlich ohne Großbritannien, ist zu einem der klassischen Fälle des Europas der zwei Geschwindigkeiten geworden. Die Währungsunion, die wegen der von den einzelnen Mitgliedstaaten zu erfüllenden Beitrittskriterien im Kern und zusätzlich durch "opting out"-Klauseln für Großbritannien und voraussichtlich für Dänemark auf mehrere Geschwindigkeiten angelegt ist, ist das andere Paradebeispiel. Daß Maastricht gerettet wurde, ist einem - salopp gesprochen - genialen verfassungsrechtlichen Trick zu verdanken, an dem die Bundesregierung wesentlichen Anteil hatte. Ein Protokoll zur Sozialpolitik der Zwölf ermächtigt die elf anderen, über den geltenden Vertrag hinaus zu weitergehenden sozialpolitischen Fortschritten. Mit der endgültigen Ratifizierung der Maastrichter Verträge, die - da bin ich sicher - 1993 zustande kommt, werden also nebeneinander die Sozialbestimmungen, im wesentlichen die Artikel 117 bis 122 EWG-Vertrag, unverändert für alle Zwölf, die Bestimmungen der Artikel 1 bis 6 des Abkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs über die Sozialpolitik nur für die übrigen Elf gelten. Protokoll und Abkommen der Elf sind Vertragsbestandteile, setzen also Gemeinschaftsrecht. Die für Juristen reizvolle Frage der Konkurrenz und der Wirkungen der geltenden und der zukünftig erweiterten Sozialbestimmungen können wir in der Diskussion noch vertiefen. Politisch wichtig ist, Großbritannien die Tür für einen Beitritt zum Abkommen der Elf offenzuhalten. Druck auf die Briten, den das Europäische Parlament empfiehlt, ist kontraproduktiv. Deshalb ist die Haltung der Bundesregierung konsequent, soviel wie möglich, unter Ausschöpfung der geltenden Sozialbestimmungen, im Konsens mit Großbritannien zu erreichen. Brücken zu bauen, nicht sie einzureißen, ist der erfolgversprechende Weg. Nach der Meßlatte, die wir zur Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips aufgestellt haben, muß die europäische Sozialpolitik folgenden Kriterien entsprechen: -

der Gemeinschaft nur zu geben, was der Gemeinschaft ist, den Mitgliedstaaten zu überlassen, was ihnen gebührt;

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-

Rechtssetzung und Durchführung europäischer Gesetze flexibel zu gestalten, Mindeststandards vor Maximalregelungen anzuwenden;

-

den gesellschaftlichen Gruppen Vorrang vor einem Tätigwerden der Gemeinschaft einzuräumen, wo sie die sozialen Lebenssachverhalte besser gestalten können. Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

1. Das Abkommen der Elf sieht in Artikel 2 ein fein abgestimmtes Tableau für ein unterschiedlich gestuftes Tätigwerden der Gemeinschaft im Sozialbereich vor. Wenn die EG-Kommission in ihrem Memorandum zur Sozialpolitik problematisierend feststellt, daß Kataloge für eine Abgrenzung von Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten in aller Regel fehlen, so gilt das nicht für das Sozialkapitel des Unionsvertrages. Dabei ist das Entscheidungsverfahren im Rat ein wesentliches Instrument, das Subsidiaritätsprinzip im Sozialbereich durchzusetzen. Die Bedeutung der Abstimmungsverfahren ist erstaunlicherweise in allen Publikationen zum Thema Subsidiarität überhaupt nicht oder allenfalls am Rande erwähnt worden. Sie sind aber ausschlaggebend für den Grad, in dem die Wahrung nationaler Interessen auf Gemeinschaftsebene gesichert werden kann. Der Rat entscheidet mit qualifizierter Mehrheit, d.h. 54 von 76 gewichteten Stimmen in einem komplizierten Verfahren der Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament (Artikel 149 EWG-Vertrag, Artikel 189 c Unionsvertrag), sonst einstimmig. Maastricht bringt einige Verfahrensergänzungen, die vor allem die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments stärken. Bei qualifizierter Mehrheit können auch zwei "Große" (mit je 10 Stimmen) überstimmt werden, müssen also in Kauf nehmen, daß sie mit ihren immer auch von nationalen Belangen bestimmten Vorstellungen nicht durchdringen. Bei Einstimmigkeit kommt es zum Konsens oder zum Scheitern der Maßnahme. Auf das Sozialkapitel angewendet, bedeutet das: Mit der Vertragsergänzung durch die Einheitliche Europäische Akte (EEA) von 1986 wurden Regelungen zum Arbeitsschutz (Artikel 118a EWG-Vertrag) mit qualifizierter Mehrheit möglich. Im Blick auf Freizügigkeit und Mobilität der Arbeitnehmer besteht die Notwendigkeit, daß gemeinschaftsweit vergleichbare Arbeitsschutzbedingungen bestehen. Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene sind zur Zielverwirklichung zwingend erforderlich. Die Bundesregierung hat den Arbeitsschutz zu einem Schwerpunkt gemacht. Seit der deutschen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1988 wurde alle zwei bis drei Monate eine Richtlinie, darunter so wichtige wie die zu Arbeitsstätten, Maschinen, Bildschirmgeräten, Umgang mit gefährlichen, z.B. krebserregenden Stoffen, kürzlich erst zum Schutz schwangerer Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz, verabschiedet. Die Arbeitsschutz-Bilanz ist der unstreitig erfolgreichste Teil der europäischen Sozialpolitik.

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Der Katalog des Artikels 2 Abs. 1 des Abkommens der Elf erweitert das Entscheidungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit über den Arbeitsschutz hinaus auf vier weitere Sachgebiete, nämlich die Arbeitsbedingungen, die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer, Chancengleichheit von Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz sowie berufliche Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen. Auch auf diesen Feldern sind Gemeinschaftsregelungen zwingend geboten, bestehende nationale Bestimmungen sind "nicht ausreichend" oder bestehen überhaupt nicht, um die einzelnen Ziele zu verwirklichen. Die Gemeinschaft kann sie "besser" regeln. Dabei ist aber immer, unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, Regelungsumfang und Regelungsdichte auf das für die Mitgliedstaaten am wenigsten belastende und ihre besonderen Verhältnisse möglichst weitgehend berücksichtigende Maß zu beschränken; bei den "Mindeststandards" kommen wir noch darauf. Lassen Sie mich das an dem zur Zeit im Rat blockierten Richtlinienentwurf zum Europäischen Betriebsrat (EBR) verdeutlichen. Nach geltendem Vertragsrecht unterliegt die Richtlinie der Einstimmigkeit, nach der Verabschiedung von Maastricht kann sie auf neuer Rechtsgrundlage als Maßnahme der o.g. Fallgruppe "Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer" mit qualifizierter Mehrheit verabschiedet werden. Die Notwendigkeit, institutionalisierte Information und Konsultation der Beschäftigten in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmensgruppen durch europäische Arbeitnehmervertretungen sicherzustellen, ist ohne weiteres einleuchtend. Die Arbeitnehmer werden ständig von Unternehmensentscheidungen außerhalb des eigenen Mitgliedstaates - z. B. Betriebsverlagerungen, Änderung von Produktpaletten und Qualifikationsanforderungen, Maßnahmen der Arbeitsorganisation - betroffen, ohne daß sie in die Planungen einbezogen, geschweige denn an den Entscheidungen beteiligt sind. Die Wirkungen des deutschen Betriebsverfassungsgesetzes, das die wohl effektivste betriebliche Mitbestimmung in Europa gewährleistet, endet an der Grenze. Unternehmensentscheidungen, die in Konzernen mit Sitz außerhalb der Bundesrepublik fallen, sind die Arbeitnehmer bei uns ohne die vertrauten und gewohnten eigenen Rechte ausgesetzt. Der EBR soll die Beschäftigten deshalb in die Lage versetzen, aufgrund von Informations- und Konsultationsrechten Planungsentscheidungen rechtzeitig zu erfahren und zu erörtern. Dies wird angesichts der zunehmenden europaweiten Verflechtung von Unternehmen und Konzernen immer dringlicher. Es handelt sich hier um eine Regelung, die über den nationalen Bereich hinausgeht und nur auf EG-Ebene fallen kann. Der EBR ist ein Kernpunkt des Aktionsprogramms der Kommission, die Bundesregierung sieht in der Verabschiedung der Richtlinie eine ihrer sozialpolitischen Prioritäten zum Schutz der Arbeitnehmerrechte. Sie

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ist entschlossen, wenn Maastricht ratifiziert wird, von der Möglichkeit der qualifizierten Mehrheitsentscheidung Gebrauch zu machen. Besonders sensible Bereiche, wie sie in Artikel 2 Abs. 3 des Abkommens der Elf aufgelistet sind - soziale Sicherheit und sozialer Schutz der Arbeitnehmer, Schutz der Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsvertrages, Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmerinteressen, einschließlich der Mitbestimmung - , verbleiben hingegen bei der Einstimmigkeit. In diesen Fällen kann nur im Konsens unter besonderer Respektierung der gewachsenen nationalen Sozial- und Arbeitsrechtssysteme entschieden werden. Hier wird somit ein höheres Maß an Subsidiarität gesichert, Maßnahmen zur Angleichung unterschiedlicher nationaler Bestimmungen auf EG-Ebene können nur sehr behutsam angegangen werden. Die damit zusammenhängende Frage der Akzeptanz habe ich oben eingehend dargestellt. Dem Subsidiaritätsprinzip im Sinne des Artikel 3 b des Unionsvertrages, daß die Ausübung der Gemeinschaftskompetenzen zunächst an den Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zu messen ist, wird schließlich uneingeschränkt Rechnung getragen in Artikel 2 Abs. 6 des Abkommens der Elf, der das Arbeitsentgelt, das Koalitions-, das Streik- und das Aussperrungsrecht von einer Regelung auf Gemeinschaftsebene ausschließt, diese Bereiche also unverkürzt der nationalen Zuständigkeit vorbehält. 2. Ziel einer europäischen Sozialpolitik ist ein Sockel von gemeinschaftsweit verbindlichen und einklagbaren Mindeststandards. Sie überfordern nicht die schwächeren Mitgliedstaaten und geben jedem die Möglichkeit, sein Leistungsniveau beizubehalten und entsprechend seiner Wirtschaftskraft fortzuentwickeln. Sie widerlegen das Schlagwort vom Sozialdumping, das immer wieder im Zusammenhang mit der europäischen Sozialpolitik die Runde macht. Diese in Artikel 118 a Abs. 2, 3 des EWG-Vertrages und in Artikel 2 Abs. 2 und Abs. 5 des Abkommens der Elf niedergelegte Grundregel entspricht idealtypisch den Voraussetzungen, die wir bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Zusammenhang mit Regelungsumfang und Regelungsdichte europäischer Rechtsakte herausgearbeitet haben: Rahmen- und Mindestvorschriften wo möglich den Vorrang vor Maximalregelungen zu geben. Dieses Verfahren ist uns auch aus dem Umweltschutz geläufig. Auch dies soll an einem Beispiel deutlich gemacht werden: Die nach sehr kontroverser Diskussion im Herbst verabschiedete Richtlinie über den Schutz schwangerer Arbeitnehmerinnen und Wöchnerinnen am Arbeitsplatz - übrigens auch ein erster Einstieg in den sozialen Arbeitsschutz - sieht u. a. einen bezahlten Mutterschaftsurlaub von mindestens 14 Wochen vor, wobei entweder das letzte Arbeitsentgelt fortgezahlt oder mindestens Leistungen in Höhe des Krankengeldes erbracht werden müssen. Über die verbindlich geregelten Bestandteile, den einklagbaren Sockel von Mindeststandards hinaus, kann jeder Mitgliedstaat höher

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gehen, also mehr als mindestens 14 Wochen Mutterschaftsurlaub gewähren und ein höheres Entgelt als mindestens das Krankengeld leisten. Tendenzen allerdings, wie sie das Europäische Parlament und neuerdings auch die Kommission verfolgt, in einzelnen Mitgliedstaaten bestehende höhere Schutzstandards qua Richtlinie festzuschreiben, müssen wir entschieden entgegentreten. Die Gemeinschaftskompetenz endet mit der Festlegung der Mindeststandards. Für Eingriffe in den "disponiblen" Teil oberhalb dieser Standards fehlt jede Rechtsgrundlage. Die Bundesregierung hat als bisher einziger Mitgliedstaat schon 1989 gemeinsam mit den Sozialpartnern in einem Neun-Punkte-Katalog konkrete Vorschläge für verbindliche soziale Mindeststandards in Brüssel eingebracht. In einigen Bereichen wie Mutterschutz (Schwangeren-Richtlinie) und im Arbeitsschutz sind diese Vorschläge bereits aufgegriffen und umgesetzt worden. 3. Das Abkommen der Elf stärkt in den Artikeln 3 und 4 über den bereits durch die EEA eingeführten sozialen Dialog (Artikel 118 b EWG-Vertrag) hinaus deutlich die Rolle der europäischen Sozialpartner, u. a. durch erweiterte Anhörungsrechte in der Sozialgesetzgebung. Gemäß Artikel 4 tritt der europäische Gesetzgeber sogar zurück, wenn sie selbst zu vertraglichen Vereinbarungen auf Gemeinschaftsebene kommen wollen. Das bedeutet "Vorfahrt für die Sozialpartner", die allemal näher an der sozialen Lebenswirklichkeit sind als jeder Gesetzgeber oder die zu Regelungsperfektionismus neigenden europäischen Bürokratien. Damit ist ein weiterer Kernbereich des Subsidiaritätsprinzips in der europäischen Sozialpolitik nach Maastricht verwirklicht worden. Allerdings steckt auch hier der Teufel im Detail. Wir sollten uns in der anschließenden Diskussion mit einer Reihe in diesem Zusammenhang noch ungelöster Probleme auseinandersetzen.lch nenne hier nur die Frage der Repräsentativität der (anerkannten) europäischen Sozialpartner, die sich bisher auf den "Gründerclub", der auch die Vertragsbestimmungen im wesentlichen formuliert hat, nämlich den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB), den Europäischen Unternehmerverband (UNICE) und den Europäischen Verband der öffentlichen Unternehmen (CEEP) beschränken. Wieviele europäische Sozialpartner mit Standbeinen in den einzelnen Mitgliedstaaten muß es geben, damit sich die relevanten sozialen Gruppen im sozialen Dialog wiederfinden? Wieviele darf es geben, ohne daß die Funktionsfahigkeit beeinträchtigt wird? Wie sieht es weiter mit der gerade vor kurzem im EPSozialausschuß diskutierten Legitimität und EG-weiten Verbindlichkeit von etwaigen Vereinbarungen der Sozialpartner aus? Welche Rolle spielen schließlich das (nicht erwähnte), aber nach unserer Auffassung in das Verfahren nach Artikel 4 einzubeziehende Europäische Parlament sowie der Rat, dem der EGB nur eine notarielle Funktion zuweisen möchte? Interessante Fragestellungen, Fundgruben geradezu für die Euro-Juristen.

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Mit Spannung darf man jedenfalls erwarten, weiche Sachfelder die europäischen Sozialpartner für eigene vertragliche Regelungen vorsehen werden. Aus der Sicht des EGB wäre die im Rat zur Zeit hängende Richtlinie über Arbeitszeitgestaltung ein guter Einstieg, aber ein Konsens mit den anderen ist noch nicht in Sicht. Mit der Bereitschaft und Fähigkeit der Sozialpartner, den sozialen Dialog bald mit Leben zu erfüllen, Initiativen zu ergreifen, steht und fallt der Erfolg dieses Kernbereichs der europäischen Sozialpolitik.

VI. Wenn wir eine Bilanz ziehen, so können wir feststellen, daß im Sozialkapitel des Maastrichter Vertrages durchweg die Grundsätze des Subsidiaritätsprinzips beachtet werden, mithin gute Voraussetzungen dafür bestehen, daß sich die europäische Sozialpolitik im Konsens und mit der Akzeptanz der Bürger fortentwickelt, der begonnene Einstieg in die Europäische Sozialunion zu einer deutlichen Stärkung der sozialen Dimension der Gemeinschaft führen wird. Die Richtung stimmt. Sie muß nun Maßnahme für Maßnahme im konkreten Einzelfall nach den Prüfrastern in praktische Sozialpolitik umgesetzt werden. Der Erfolg hängt letztlich von einem Zusammenspiel aller Organe der Gemeinschaft in ihrem jeweiligen Aufgaben- und Zuständigkeits bereich ab. In diesem Zusammenhang sehen wir mit einiger Besorgnis bedenkliche Ansätze in der Rechtsprechung des EuGH mit zum Teil erheblichen Eingriffen in das sensible Gleichgewicht zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft. Dazu gehört, daß der EuGH in hohem Maße rechtsschöpferisch tätig ist - so hat das Gericht ohne Rechtsgrundlage eine Schadensersatzpflicht aus Staatshaftungsgrundsätzen bei unkorrekter Umsetzung von Gemeinschaftsrecht begründet -; als "Ersatzgesetzgeber" Lösungen, ggf. mit Rückwirkung, selber trifft, anstatt, nach dem Beispiel des Bundesverfassungsgerichts, Aufträge an den Gemeinschaftsgesetzgeber in angemessener Frist zu erteilen; keine Rücksicht auf die finanziellen Auswirkungen seiner Entscheidungen auf die Mitgliedstaaten nimmt; Verpflichtungen zum sozialen Leistungsexport ausspricht, obwohl die Sozialpolitik grundsätzlich auf dem Territorialitätsprinzip beruht. Die Problematisierung der EuGH-Rechtsprechung ist jedenfalls dringend erforderlich. Sie ist inzwischen bundesweit in Gang gekommen und auch vom Bundeskanzler wiederholt aufgegriffen worden. Mit Blick auf unser Thema, die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auf die Gemeinschaftsentwicklung, wird der EuGH in Zukunft seine Rolle als "Motor der Gemeinschaft" sicher überdenken müssen. Denn "seine Aufgabe", so der frühere deutsche Richter am EuGH, Prof. Everling, "besteht künftig nicht mehr vorrangig in der Stärkung der Gemeinschaft; er muß sie darin sehen, über das angemessene Gleichgewicht zu wachen. Maß und Ausgewogenheit sind dabei gefordert."

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Dies ist zugleich ein Appell an die Gemeinschaft insgesamt. Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auf die Gestaltung des europäischen Einigungs- und Gesetzgebungsprozesses ist sicher nicht alles, aber sie ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß die Bürger wieder ein deutliches Ja zu Europa sagen. Das Konzept der europäischen Sozialpolitik weist in die richtige Richtung.

Subsidiarität als Verfassungsprinzip Von Detlef Merten "Subsidiarität", für viele politischer Gemeinplatz und rhetorischer Pausenfüller, ist zum verbum constitutionale aufgestiegen. Wurde der Begriff wegen der ihm fälschlich zugeschriebenen ultramontanen Färbung nicht in den Urtext des Grundgesetzes aufgenommen 1, so ist er zwecks Ratifizierung des Maastrichter Vertrages 2 in die Verfassung gelangt. Gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG n.F.3 wirkt Deutschland nunmehr bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die außer anderen Prinzipien dem "Grundsatz der Subsidiarität" verpflichtet ist. Da in Maastricht auch dem vereinigten und zu vereinigenden Europa N achrangigkeit verordnet wurde, handelt es sich bei der grundgesetzlichen clausula integrationis um eine staatsrechtliche Korrespondenznorm zu Vertragsbestimmungen, die sich explizit oder implizit zur Subsidiarität bekennen.

I. Subsidiarität der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union 1. Nachrangigkeit im bisherigen primären Gemeinschaftsrecht

Bereits nach geltendem Vertragsrecht enthalten EG-Kompetenzen eine Subsidiaritätsschranke4, wenn nach ihrem Tatbestand ein Handeln der Gemeinschaft "erforderlich" sein mußs. Der neuere Art. 130 r Abs.4 EWGV6 formuliert(e) noch deutlicher, daß die Gemeinschaft im Bereich der Umwelt (nur) insoweit tätig wird, als die in Abs. 1 genannten Ziele besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten. Hier kommt das dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz immanente Erforderlichkeitsprinzip zum Ausdruck 7, wie es dem Polizeirecht als Grundsatz des mildesten Vgl. Josef Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 1968, S. 143. Vertrag über die Europäische Union vom 7.2.1992 (ABI. Nr. C 191 vom 25.7.1992). 3 Eingefügt durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. 12. 1992 (BGBL I S. 2086). 4 Vgl. Georg Ress, Staatszwecke im Verfassungsstaat - nach 40 Jahren Grundgesetz, VVDStRL 48, 1990, S. 74. S Vgl. Art. 40 Abs. 3 Satz 1, 115 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 sowie 235 EWG-Vertrag. 6 Zu seiner Änderung vgl. FN 24. 7 Ebenso Hans Kutscher, Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Recht der Europäischen Gemeinschaften, in: Kutscher / Ress / Teitgen / Ermarcora / Ubertazzi, Der 1

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Mittels bekannt ist 8 • Danach ist eine Maßnahme nur dann notwendig, wenn derselbe Zweck nicht mit einem weniger belastenden, minder schweren Eingriff zu bewirken ist 9 • Dasselbe besagt der EWG-Vertrag, wenn er voraussetzt, daß ein Ziel besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann als auf nationaler Ebene. Unbeschadet besonderer Einzelregelungen hat der Europäische Gerichtsho/schon bisher das Erforderlichkeitsgebot als Emanation des Verhältnismäßigkeitsprinzips ohne nähere Ableitung als allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz anerkannt, weshalb er Regelungen für ungültig erklärte, die zur Verwirklichung von Gemeinschaftszielen nicht erforderlich waren 10. 2. Änderungen durch den Maastricht-Vertrag

Der Vertrag über die Europäische Union (Maastricht-Vertrag) bekennt sich in seiner Präambel zu Subsidiarität und Bürgernähe. Weiter heißt es unter dem Titel I "Gemeinsame Bestimmungen" in Art. A Abs. 2, daß die Entscheidungen in "einer immer engeren Union der Völker Europas" "möglichst bürgernah" getroffen werden. Art. B Abs. 2 legt fest, daß die Ziele der Union "unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, wie es in Artikel 3 b des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft bestimmt ist, verwirklicht" werden. Durch Art. G lit. B Nr.5 wird in den Ersten Teil "Grundsätze" des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft ll ein Art. 3 b eingefügt. Nach dessen Absatz I wird die Gemeinschaft (nur) "innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig". Nach Art. 3 b Abs. 3 gehen die Maßnahmen der Gemeinschaft "nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinaus". Das Subsidiaritätsprinzip wird in Art. 3 b Abs. 2 ausdrücklich verankert und umschrieben. Mit dem Gebot der Grenzenbeachtung, dem Subsidiaritätsprinzip und dem Erforderlichkeitsgebot enthält Art. 3 b EGV eine europarechtliche Schrankentrias 12. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, 1985, S. 91 f.; vgl. ferner Christiana Pollack, Verhältnismäßigkeitsprinzip und Grundrechtsschutz in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs und des Österreichischen Verfassungsgerichtshofs, 1991, S. 36 ff. 8 Vgl. statt aller Drews / Wacke / Vogel/ Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl., 1986, S. 422 f., 425 ff. 9 BVerfGE 81, 156 (192 f.). 10 EuGHE 1977, 1211 (1221) RS 114/76; 1979,677 (685) - RS 122/78; 1980, 1979 (1997 f.) - verb. RS 41, 121 u. 796/79; siehe auch Thomas Oppermann, Europarecht, 1991, RN 210, 407; Jürgen Schwarze, Europäisches Verwaltungrecht, Bd. II, 1988, S. 661 ff., insbes. S. 834 ff. 11 Durch Art. G lit. A des Vertrags über die Europäische Union wird im gesamten EWG-Vertrag der Ausdruck "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" durch ,,Europäische Gemeinschaft" ersetzt. 12 Ähnlich Peter M. Schmidhuber / Gerhard Hitzier, Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im EWG-Vertrag, NVwZ 1992, S. 720 ff. (721 sub III: "drei getrennte Elemente").

Subsidiarität als Verfassungsprinzip

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a) Erjorderlichkeitsprinzip und Einhaltung der Vertragsgrenzen aa) Den von der Rechtsprechung entwickelten Erforderlichkeitsgrundsatz verankert der neue EG-Vertrag in Art. 3 b Abs.3. Diese Kompetenzausübungsschranke 13 gilt für sämtliche EG-Kompetenzen, was sich aus einem Umkehrschluß aus Art. 3 b Abs. 2 EGV ergibt. Kein Akt der Europäischen Gemeinschaft darf das "Gebot des Interventionsminimums" 14 verletzen 15, wobei die Bestimmung nicht nur einen unverbindlichen politischen Appell, sondern einen gerichtlich nachprüfbaren Rechtsbegriff enthält, wie die bisherige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zeigt. bb) Für diese Auslegung streitet auch Art. 3 b Abs. 1 EGV. Denn wenn sich der Grundsatz der lediglich begrenzten Einzelermächtigung der Europäischen Gemeinschaften, die nach wie vor Kompetenz-"Kostgänger" sind, und der Kompetenz-Kompetenz der Mitgliedstaaten als der (Damen und) "Herren der Verträge" 16 nach allgemeiner Meinung bereits aus Art. 4 EWGV ergibt, muß die präzisere und pointierendere Formulierung der neuen Bestimmung, die die Europäische Gemeinschaft ausdrücklich in ihre "Grenzen" verweist, einen weitergehenden Zweck verfolgen.

Ihn macht die Entstehungsgeschichte deutlich. Sollte der Maastricht-Vertrag doch einer weit verbreiteten Europaverdrossenheit, insbesondere Bürokratiekritik und Zentralismusphobie begegnen. Diese resultierten zum einen aus der perfektionistischen Normierung von Einzelheiten auf Gemeinschaftsebene, so daß den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung kein Raum verblieb 17, wofür die Richtlinie über Umsturzvorrichtungen an landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen oder die Tabaketikettierungsrichtlinie nur gern zitierte Beispiele sind. Zum anderen ergab sich Kritik aus vielfachen Kompetenzüberschreitungen der Europäischen Gemeinschaften, die als "schleichende Kompetenzerweiterung" 18, "Kompetenzanmaßung" 19, "Requirierung von Kompetenzen"20 oder "Kompetenzusurpation"21 getadelt wurden. Deshalb betont die Präambel des Vertrages über die Europäische Union 22, daß die Entscheidungen in einer immer engeren Union der Völker Europas "entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden", was Art. A Abs. 2 nochmals wiederholt. 13 Hierzu auch Torsten Stein, oben S. 29. 14 Vgl. BVerwGE 46, 175 (186). 15 Ebenso Peter M. Schmidhuber, Das Subsidiaritätsprinzip im Vertrag von Maastricht,

DVBl. 1993, S. 417 ff. (419 sub IV 2: "das jeweils mildeste Mittel"). 16 BVerfGE 75, 223 (242). 17 Vgl. in diesem Zusammenhang Oppermann, Europarecht, RN 455 ff. 18 Torsten Stein, in: ders, Die Autorität des Rechts, 1985, S. 62. 19 Fritz Ossenbühl, Bitburger Gespräche 1990 (FAZ vom 16.1.1990, S. 4). 20 Michael Schweitzer, in: Merten (Hg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, 1990, S. 147. 21 Josef Isensee, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, S. 677. 22 ABI. EG NT. C 224 vom 31. 8.1992.

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Wenn die Europäische Gemeinschaft nunmehr strikt zur Grenzenbeachtung verpflichtet wird, so bedeutet dies, daß Nützlichkeitseffekt und Integrationsbeschleunigung künftig nicht mehr Vorrang vor Gesetzmäßigkeit und Einhaltung der Vertragsgrenzen haben dürfen, weshalb die einseitige Betonung des "effet utile" 23 zu überprüfen sein wird.

b) Das Subsidiaritätsprinzip Seinen gemeinschaftsrechtlichen Sitz hat das Subsidiaritätsprinzip in Art. 3 b EGV, der es im Unterschied zu Art. 23 Abs. 1 GGauch umschreibt. Begrenzung durch Subsidiarität bedeutet, daß die Europäische Gemeinschaft in allen Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, "nur tätig (wird), sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können". Die stilistisch nicht besonders geglückte Definition geht damit über die "Besser-Klausel" des bisherigen Art. 130 r Abs. 4 EWGV hinaus, den der Vertrag von Maastricht durch eine neue Fassung ersetzt hat 24 • Durfte die Gemeinschaft auf Grund ihrer Umweltkompetenz, schon bisher in Textausgaben mit "Subsidiarität" betitelt 25, tätig werden, wenn die im einzelnen aufgeführten Umweltziele "besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden" konnten "als auf der Ebene der Einzelmitgliedstaaten", so stellt Art. 3 b Abs. 2 EGV künftig zwei Voraussetzungen auf: Zum einen müssen "die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können"; zum anderen müssen sie "daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können". Damit begründen nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift "Besserwisserei" oder mögliche "Bessermacherei" allein noch keine Kompetenz für die Europäische Gemeinschaft 26 • Deren Aufgabe ist es nicht (mehr), Maßnahmen zur Erreichung der Vertragsziele zu meliorisieren oder gar zu optimieren. Solange die Ziele von den Mitgliedstaaten zwar schlechter als auf Brüsseler Ebene, aber immer noch (gerade) ausreichend erreicht werden können, fehlt der Gemeinschaft jede Handlungsbefugnis. Nur wenn die Mitgliedstaaten die Vertragsziele "nicht ausreichend", d. h. lediglich ungenügend und unzulänglich realisieren können, wird eine Kompetenz Hierzu Oppermann, Europarecht, RN 439 ff. m.w.N. Durch Art. G lit. D Nr. 38 des Vertrags. 25 Europa-Recht, Textausgabe mit einer Einführung von Ernst SteindorJf, 11. Aufl., 1991. 26 Im Ergebnis ebenso Schmidhuber, DVBI. 1993, S. 417 ff. (419 sub IV 3); unrichtig Clemens Stewing, Das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzverteilungsregel im Europäischen Recht, DVBI. 1992, S. 1516 ff. (1518). 23

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für die Europäische Gemeinschaft möglich, ohne ihr automatisch zuzuwachsen. Denn die Gemeinschaft ist erst handlungsbefugt, wenn Vertragsziele durch gemeinschaftsrechtliche Maßnahmen wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen "besser auf Gemeinschaftsebene" erreicht werden können. Eine "Schlechterfüllung" durch die Mitgliedstaaten löst also dann keine Kompetenzzuweisung aus, wenn Vertragsziele durch Gemeinschaftsmaßnahmen ebenso schlecht oder vielleicht gar noch schlechter zu verwirklichen sind. Weiterhin genügt es für einen Kompetenzzuwachs der Gemeinschaft nicht, daß die Vertragsziele von den Mitgliedstaaten bisher tatsächlich nicht erreicht wurden. Erforderlich ist vielmehr, daß sie auch künftig, wie der Vertrag formuliert, "nicht ausreichend erreicht werden können". Nicht eine effektive, sondern nur eine zu prognostizierende objektive Unzulänglichkeit kann Brüsseler Kompetenzen erweitern. Selbst wenn die unteren Ebenen ihre Pflicht verletzen oder es gar am Willen zur Pflichterfüllung mangelt, erlangt die Europäische Gemeinschaft kein Selbsteintrittsrecht, sondern muß die Mitgliedstaaten, falls sie gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen, ill dem hierfür vorgesehenen Verfahren zur Vertragskonformität anhalten. Art. 3 b Abs. 2 EGV wirkt als Kompetenzzuweisungs- oder Kompetenzübertragungs-, nicht als bloße Kompetenzausübungsschranke 27 • Denn nach dem Subsidiaritätsprinzip, auf das die Bestimmung ausdrücklich rekurriert, soll der unteren Ebene das, was sie selbst zu leisten vermag, nicht entzogen und einer übergeordneten Ebene zugewiesen werden. Deshalb wird nicht eine an sich bestehende Kompetenz der höheren Ebene eingeschränkt, sondern die Kompetenz geht, solange sie ordnungsgemäß von der unteren Ebene wahrgenommen wird, erst gar nicht über. In ähnlicher Weise ist die Erziehungsbefugnis den Eltern nicht vom Staat unter dem Vorbehalt des Selbsteintritts verliehen worden, sondern steht ihnen nach den Vorstellungen des Grundgesetzes als "natürliches Recht" zu. Nur bei gröblichem Versagen kann der Staat unter Wahrung des Grundsatzes der Elternverantwortung und des Verhältnismäßigkeitsprinzips die Erziehungsaufgabe an sich ziehen 28 • Die Voraussetzungen für eine subsidiäre Zuständigkeit der Europäischen Gemeinschaft nach Art. 3 b Abs. 2 EGV stehen zueinander im Verhältnis gestufter Kumulation. Die Kumulation 29, nicht etwa Alternation ergibt sich aus dem Wortlaut, aber auch aus der Entstehungsgeschichte 30 und dem Sinn und Zweck der Vorschrift. Wer in dem Subsidiaritätsgrundsatz nur eine neue Auflage der alten 27 Ebenso Schmidhuber / Hitzler, NVwZ 1992, S. 720 ff. (723 sub IV); Schmidhuber, DVBI. 1993, S. 417 ff. (418 sub IV I), wenn er feststellt, das Subsidiaritätsprinzip wirke "für die Gemeinschaftsebene ,,kompetenzbegründend ... , für die Mitgliedstaaten und ihre Untergliederungen kompetenzerhaltend"; vgl. auch dens., aaO, S. 420 sub IV 5. 28 Vgl. BVerfGE 24, 119 (144 f.). 29 Ebenso Schmidhuber / Hitzler, NVwZ 1992, S. 720 ff. (722 sub IV). 30 Hierzu eingehend Michael Borchmann, Europäische Union: Mitwirkungsförderalismus, Substanzföderalismus und das Subsidiaritätsprinzip, Verwaltungsrundschau 1992, S.225.

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"Besser-Klausel" des Art. 130 r Abs. 4 EWGV sehen möchte, scheitert bereits an der kopulativen Konjunktion "und", die nicht zufällig in den Vertragstext geriet. Denn der neben Großbritannien von Deutschland und insbesondere von dessen Ländern verfochtene Subsidiaritätsgrundsatz als "Architekturprinzip" 31 Europas sollte ursprünglich lauten: "Die Gemeinschaft übt die (ihr 32 ) nach diesem Vertrag zustehenden Befugnisse nur aus, wenn und soweit das Handeln der Gemeinschaft notwendig ist, um die in diesem Vertrag genannten Ziele wirksam zu erreichen und hierzu Maßnahmen der einzelnen Mitgliedstaaten bzw. der Länder, Regionen und Autonomen Gemeinschaften nicht ausreichen" 33. Demgegenüber sah Art. 3 b in den niederländischen Präsidentschaftsentwürfen vom 8. 11. 1991 und 4.12.1991 34 vor, daß die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip in Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig wird, "sofern und soweit diese Ziele wegen des Umfangs oder der Wirkungen der in Betracht gezogenen Maßnahmen besser auf Gemeinschaftsebene als auf Ebene der einzeln handelnden Mitgliedstaaten erreicht werden können". Damit enthielten die Vorschläge letztlich nur die dem Art. 130 r Abs. 4 EWGV vergleichbare "BesserKlausel". Die endgültige Fassung des Art. 3 b Abs. 2 EGV weist stattdessen entsprechend den Vorschlägen der deutschen Länder die Kumulation zweier voneinander getrennter Voraussetzungen auf, wenn der Vertragstext auch hinter dem deutschen Vorschlag deshalb zurückbleibt, weil das Handeln der Gemeinschaft nicht mehr "notwendig" sein muß, sondern eine "bessere" Zielerfüllung ausreicht. Zudem war es Sinn und Zweck einer Betonung der Nachrangigkeit, den Brüsseler Zentralismus angesichts allgemeinen Unmuts zu schwächen und die leichte, oftmals auch leichtfertige Bejahung von Gemeinschaftskompetenzen zu erschwe31 So der Beschluß der Ministerpräsidentenkonferenz vom 20./21. 12. 1990, abgedr. in: Joachim Bauer (Hg.), Europa der Regionen, 2. Aufl., 1992, S. 117 ff. (S. 118 sub a

I).

32 Soweit ersichtlich findet sich diese stilistische Verbesserung der Formulierung erstmals in einem Antrag Bayerns, vgl. BR-Drucks. 550/90 vom 2.8.1990, Anl. 1 S. I. 33 Die Umschreibung geht auf den Bericht der Arbeitsgruppe der Staats- und Senatskanzleien der Länder zu dem Thema "Europa der Regionen ... " vom 22.5.1990 zurück (abgedr. bei Bauer [FN 31]. S. 41 ff. [48]). Sie wird im Beschluß der Regierungschefs der Länder vom 7. 6.1990 übernommen (abgedr. bei Bauer, aaO, S. 92). Sie ist sowohl im Antrag Bayerns vom 2. 8. 1990 (FN 32) als auch in der Entschließung des Bundesrates vom 24.8. 1990 (BR-Drucks. 550/90 - Beschluß -, auch abgedr. bei Bauer, aaO, S. 95) enthalten. Auf internationaler Ebene machte sich die 2. Konferenz ,,Europa der Regionen" am 24./25.4.1990 in Brüssel die Formulierung mit geringfügiger Abweichung (..unerläßlich notwendig") zu eigen (vgl. Michael Borchmann, Konferenzen "Europa der Regionen" in München und Brüssel, DÖV 1990, S. 879 ff. [881]). In ähnlicher Weise sprach sich die Versammlung der Regionen Europas auf ihrer Versammlung am 5./6.12.1990 in Straßburg dafür aus (vgl. Michael Borchmann, Versammlung der Regionen Europas ... , Verwaltungsrundschau 1991, S. 160 ff. [161]). 34 Conf-UP 1845/91 und 1850/91.

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ren 35. Sprechen somit alle Interpretationsprinzipien für eine kumulative Verbindung der Tatbestandsmerkmale in Art. 3 b Abs. 2 EGV, so kann diese nicht mit Hilfe bloßer Interpunktions-Stecherei 36 unter Hinweis auf ein in den Beratungen abhanden gekommenes Komma unterlaufen werden: Beistrichverlust als Interpretationsargument? Aus dem Wortlaut des Art. 3 b Abs. 2 EGV folgt zudem die gestufte Kumulation der Tatbestandsvoraussetzungen. Unzulänglichkeit einer Zielerreichung durch die Einzelstaaten einerseits und effektivere Erledigung durch die Gemeinschaft andererseits stehen nicht gleichrangig nebeneinander, sondern konsekutiv hintereinander, was das auf die Konjunktion "und" folgende "daher" verdeutlicht. Nur wenn Vertragsziele auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht hinlänglich erreicht werden können, kommt überhaupt ein Kompetenzübergang in Betracht. Dagegen kann nicht umgekehrt aus einer effektiveren Erledigung durch die Europäische Gemeinschaft auf eine unzureichende Zielerreichung durch die Mitgliedstaaten geschlossen werden. Allerdings ist das Korrelat "daher" gedanklich und sprachlich verunglückt, weil eine Schlechterfüllung durch die Mitgliedstaaten nicht zwingend eine bessere Zielerreichung auf Gemeinschaftsebene zur Folge hat. Demzufolge kann die Verknüpfung nicht rein konsekutiv, sondern muß konsekutiv-additiv im Sinne eines "zusätzlich" sein und wäre besser mit "darüber hinaus" umschrieben worden.

11. Subsidiarität im deutschen Verfassungsrecht 1. Der Subsidiaritätsgrundsatz in der c1ausula integrationis

Ist nach RatifIkation des Maastricht-Vertrages die Europäische Gemeinschaft künftig nach primärem Gemeinschaftsrecht an das Subsidiaritätsprinzip gebunden, so kann Art. 23 Abs. 1 GG n.F. staatsrechtlich um so leichter die deutsche Mitwirkung an der Verwirklichung eines vereinten Europa auf die Entwicklung einer Europäischen Union beschränken, die neben anderen Grundsätzen auch dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet ist. Die neue Verfassungsvorschrift hat jedoch nicht nur korrespondierende oder korrelierende, sondern eigenständige Funktion. Im Vergleich mit dem bisherigen Verfassungsrecht ist sie teils integrationsfördernd, teil integrationsbeschränkend.

Hierzu auch Schmidhuber, DVBl. 1993, S. 417 ff. (420 sub V). So jedoch Clemens Stewing, Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, 1992, S. 108 in und zu FN 531. 35

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a) Die Vereinigung Europas als Staatsziel Schon bisher gestattete Art. 24 Abs. 1 GG die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen, ohne allerdings den Bund dazu zu verpflichten. Auch die insoweit unveränderte Präambel des Grundgesetzes, die Deutschland als "gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa" sieht, vermochte die Integrationsmöglichkeit nicht in eine Integrationspflicht umzuformen, so daß aus Art. 24 Abs. 1 GG kein Staatsziel 37 der Integration oder internationalen Kooperation folgte 38 • Verfassungsdirektive ist die deutsche Mitwirkung bei der Schaffung eines vereinten Europa erst durch die Einfügung des Art. 23 n.F. in das Grundgesetz geworden 39. Fortan ist die europäische Integration nicht mehr bloß unverbindliche Verfassungsofferte, sondern verbindlicher Verfassungsauftrag für den Staat, der sie ,,nach Kräften anzustreben und sein Handeln danach auszurichten" hat 40 •

b) Art. 23 Abs. 1 GG n.F. als Integrationsschranke Integrationsbeschränkend wirkt Art. 23 GG n.F. durch verfahrensrechtliche und inhaltliche Vorgaben. Zwar gestattete der als "Integrationshebel"41 titulierte Art. 24 Abs. 1 GG kein ,,Aushebeln" des deutschen Grundgesetzes, weil die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG und der in ihr enthaltene "Föderalismusanker" ein wirksames, weil ranghöheres Gegengewicht bildeten. Unbekümmerte Europafreudigkeit hatte zu beachten, daß jede Kompetenzübertragung auf zwischenstaatliche Gemeinschaften ihre Grenze in der "Identität der geltenden Verfassungsordnung" , deren "Grundgefüge" und den "wesentlichen", sie ,,konstituierenden Strukturen" fand 42 . Gegen unbedachte Betätigungen ist der "Integrationshebel" nun jedoch stärker mit Schutzvorrichtungen gesichert, die Verfassungsunfälle vermeiden sollen.

aa) Die künftige gesetzliche Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union ist an die Zustimmung des Bundesrates gebunden. Für die Begründung der Europäischen Union und für jede Änderung ihrer vertraglichen Grundlagen, Zu Staatszielen vgl. Merten, Über Staatsziele, DÖV 1993, S. 368 ff. m.w.N. Wie hier im Ergebnis Badura, Staatsrecht, S.202; a.A. Christian Tomuschat, in: Bonner Kommentar (Zweitbearb.), Art. 24 RN 5; zurückhaltender Manfred Zuleeg (Alternativkommentar, 2. Aufl., 1989, Art. 24 Abs. 1 RN 23), der von einem "Verfassungsgrundsatz der Integrationsbereitschaft" spricht und diesen mit einer Staatszielbestimmung gleichsetzt. 39 Vgl. auch die Amtl. Begründung, BT-Drucks. 12/3338 vom 2.10.1992, S. 1, S. 4 sub 1 a und S. 6 zu Art. 1. 40 So die Legaldefinition für Staatsziele in Art. 3 Abs. 3 sachs.-anhalt. Verf.; ähnlich Art. 13 sächs. Verf. 41 Hans ·Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 58. 42 So BVerjGE 73, 339 (375 f.); 37, 271 (2790. 37 38

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durch die das Grundgesetz entweder inhaltlich geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, bedarf es der verfassungsändernden Mehrheiten gemäß Art. 79 Abs. 2 GG. Darüber hinaus wirken in Angelegenheiten der Europäischen Union, also insbesondere bei der Setzung sekundären Gemeinschaftsrechts, künftig sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat als Vertretung der Länder mit (Art. 23 Abs.2 GG). Je nach dem verfassungsrechtlichen Schwerpunkt der in Frage stehenden Unions-Agenda ist dabei die Willensbildung des Bundes stärker oder schwächer an die Auffassung des Bundesrates gebunden. Sind ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen, soll sogar die Wahrnehmung der mitgliedstaatlichen Rechte Deutschlands auf einen vom Bundesrat zu benennenden Vertreter der Länder übertragen werden, was der Gemeinschaftsvertrag in der Fassung des Unionsvertrages nunmehr in seinem Art. 146 gestattet 43 • bb) Inhaltlich wirkt Art. 23 Abs. 1 GG n.F. insoweit als Integrationsschranke, als er homogene Strukturen zwischen der Europäischen Union und dem Mitgliedstaat Deutschland statuiert. Dabei werden der Europäischen Union nicht nur die in Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 20 GG als unabänderlich festgeschriebenen Grundsätze, sondern zusätzlich tragende Elemente deutschen Verfassungs gefüges vorgegeben. Die in Art. 20 GG explizit oder, wie im Falle des Rechtsstaatsprinzips, implizit mit Hilfe einer Rückprojektion aus Art. 28 Abs. 1 GG44 enthaltenen Staats struktur- und Staatszielbestimmungen werden somit als "Baugesetze" auch für ein vereintes Europa reklamiert. Unverständlicherweise bleibt lediglich das republikanische Prinzip ausgenommen. Rücksicht auf die sechs Monarchien unter den bisherigen Mitgliedstaaten kann hierfür nicht ursächlich gewesen sein, da Art. 23 Abs. I GG keine Homogenität innerhalb der Mitgliedstaaten, sondern nur eine prästabilierte Harmonie zwischen einem zusammenwachsenden Europa und deutscher Verfassungsstaatlichkeit fordert. Daß aber die Europäische Union ihr Integrationswerk gleichsam durch einen Sternenkaiser krönen will, ist unwahrscheinlich, würde dieser doch die gekrönten Häupter der Mitgliedstaaten zu SubMonarchen degradieren.

Zur Sicherung der individuellen Rechte begnügt sich Art. 23 Abs. I GG nicht mit dem durch die Ewigkeitsklause1 und Art. lAbs. 3 GG als unabänderlich gesicherten Prinzip ,,Freiheit" einschließlich der daraus folgenden existentiellen Grundrechte wie Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person und des Eigentums. Er heischt darüber hinaus einen dem Grundgesetz "im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz", was zwar keine Identität, 43 Anders noch Art. 2 Abs. I des Vertrags zur Einsetzung eines Gemeinsamen Rates mit einer Gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 8. 4. 1965 (BGBl. II S. 1454), wonach jede Regierung eines Mitgliedstaates "eines ihrer Mitglieder" in den Rat entsendet. 44 Hierzu Merten, Zum Rechtsstaat des Grundgesetzes, in: Civitas, Widmungen für Bernhard Vogel zum 60. Geburtstag, 1992, S. 255 ff. (256 f.).

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aber doch grundsätzliche Gleichwertigkeit erfordert. War dem deutschen Gesetzgeber schon bisher die Antastung des Wesensgehalts der Grundrechte im Wege des Art. 24 Abs. I GG ohne Freiheitsäquivalent auf seiten des Kompetenzzessionars untersagt 45, so ist ihm künftig jede wesentliche Verkürzung deutschen Grundrechtsschutzes im Rahmen der europäischen Integration verwehrt, ja sie wird selbst für den verfassungsändernden Gesetzgeber erschwert. Denn auch dieser darf das Gebot des Art. 23 Abs. I GG mit verfassungsändernden Mehrheiten nicht durchbrechen, solange er die Verfassungsbestimmung nicht ausdrücklich ändert. Am Gebot der Verfassungstextänderung des Art. 79 Abs. I Satz I GG ist für den Homogenitätsimperativ des Art. 23 Abs. I Satz 1 GG uneingeschränkt festzuhalten, wenn diese Vorschrift nicht leerlaufen soll. Anderenfalls könnte sie der verfassungsändernde Gesetzgeber unter Aufrechterhaltung ihrer Wortfassade beliebig durchbrechen, wenn er im Zuge der Begründung oder Modifizierung der Europäischen Union inhaltliche Änderungen des Grundgesetzes mit der qualifizierten Mehrheit nach Art. 79 Abs. 2 GG beschlösse. Die Nichterwähnung des Art. 79 Abs. 1 GG in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG kann sich daher nicht auf die Homogenitätsklausel beziehen. Mit dem "Grundsatz der Subsidiarität" normiert Art. 23 für die europäische Integration einen Begriff, der dem Grundgesetz bisher nur dem Worte nach fremd, inhaltlich aber als tragendes Element deutscher Staatlichkeit bekannt war. Er liegt vor allem der Bundesstaatlichkeit und der Freiheitlichkeit des Grundgesetzes zugrunde und nimmt insoweit an der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG teil. c) Art. 23 Abs.l GG n.F. als "hinkende" Homogenitätsklausel

Nicht nur in ihrem Umfang, sondern vor allem in ihren Wirkungen unterscheidet sich die für eine europäische Integration vorgegebene Gleichartigkeit von derjenigen, die das Grundgesetz für die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern festlegt. Art. 28 Abs. 1 GG enthält eine gesamtstaatliche Fremdbestimmung, die die Länder unmittelbar verpflichtet und deren staatliche Selbstbestimmung 46 limitiert. Verstößt Landesverfassungsrecht gegen die Gleichartigkeitsgebote des Grundgesetzes, so wird es wie jede bundesrechtswidrige Landesnorm gemäß Art. 31 GG "gebrochen". Demgegenüber binden die Strukturerfordernisse des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG unmittelbar nur deutsche Staatsgewalt und haben nur mittelbar Einfluß auf die Europäische Union, so daß es sich um eine "hinkende" Homogenitätsklausel Vgl. BVerfGE 73, 339 (376). Zur originären Staatsqualität der Länder vgl. BVerfGE 1, 14 (34); 60, 175 (207); Herzog, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 IV RN 10 ff.; Maunz, Handbuch des Staatsrechts IV, 1990, § 94 RN 3 ff.; lsensee, ebenda, § 98 RN 64. 45

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handelt. Verstöße gegen sie haben unmittelbar nur staatsrechtliche, keine völkerrechtlichen Folgen, machen insbesondere homogenitätswidrige Kompetenzübertragungen grundsätzlich nicht nichtig, sofern es sich nicht um eine offenkundige Verletzung der Homogenitätsklausel handelt 47. Art. 23 Abs. I Satz 1 GG hat jedoch indirekte Wirkungen, weil er die Organe der Europäischen Union sowie die übrigen Mitgliedstaaten "bösgläubig" macht 48 . Deshalb kann von Deutschland keine gegen Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG verstoßende ungeschriebene "Unionstreue" verlangt werden, und haben Rechtsakte der Europäischen Union jedenfalls staatsrechtlich keinen absoluten Vorrang vor deutschem Verfassungsrecht. d) Polarität von europäischer Integration und Staatsbewahrung Zwischen dem Staatsziel einer Vereinigung Europas und den Ewigkeitsgarantien der Verfassung besteht ein Spannungsverhältnis. Schon die bisherige Entwicklung hat gezeigt, daß die Integrationsdynamik zu einem immer stärkeren Verlust staatlicher Gesetzgebungskompetenzen führt, die von den Europäischen Gemeinschaften intra pactum, aber auch präter oder gar contra pactum beansprucht wurden. Der Kompetenzverlust wird sich beschleunigt fortsetzen, da mit dem Maastricht-Vertrag eine höhere "Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas"49 erklommen wurde und als neue Ziele die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik einschließlich einer gemeinsamen Verteidigung anvisiert wurden 50. Nun stellt Art. 79 Abs. 3 GG keinen starren, sondern einen biegsamen Verfassungspfeiler dar, da er nur "Grundsätze", nicht aber Details abstützt 51 • Kompetenzabgaben berühren die Ewigkeitsklausel solange nicht, als sie die unabänderlichen Grundsätze oder Prinzipien als solche 52 unberührt lassen, wie auch Art. 19 Abs. 2 GG Grundrechtsbeschränkungen nicht im Wege steht, solange das Grund47 Vgl. Art. 27, 46 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23.5.1969 (BGBI. 1985 11 S. 926), für Deutschland am 20.8.1987 in Kraft getreten (vgl. die Bekanntmachung vom 26. 11. 1987 [BGBI. 11 S. 775]). 48 Vgl. auch die Amtliche Begründung, Allgemeiner Teil sub 1 a, 3. Abs. , BTDrucks. 12/3338, S.4, 1. Sp. 49 Art. A Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union. 50 Art. E Abs. 1, 1. und 2. Spiegelstrich des Vertrags über die Europäische Union. 51 Das gilt auch für die Gliederung des Bundes in Länder, weil diese nur als solche, d.h. im Grundsatz, unantastbar ist, während die juristische Existenz und die territoriale Integrität des einzelnen Landes zur Disposition des Bundesgesetzgebers unter der Voraussetzung plebiszitärer Akklamation stehen; vgl. Art. 29 Abs. 2 GG; hierzu auch BVerfGE 1, 14 (48). 52 Zu eng jedoch Hans-Jürgen Papier (in: Magiera [Hg.], Das Europa der Bürger in einer Gemeinschaft ohne Binnengrenzen, 1990, S. 36), der letztlich nur die Grundsätze der "Grundsätze" als unabänderlich ansieht, weil nach ihm nur die "Grundsätze" des demokratischen Prinzips von der Ewigkeitsverbürgung des Art. 79 Abs. 3 GG erfaßt sind.

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recht nicht in seinem Wesens gehalt angetastet wird 53. In beiden Fällen stellt sich jedoch das schwierige Problem, wann Eingriffe den Randbereich verlassen und in den geschützten Kembereich eindringen, wann also Eingriffsquantität in Eingriffsqualität umschlägt. Wird die Toleranzgrenze überschritten und die Biegsamkeit des Art. 79 Abs. 3 GG als eines Eckpfeilers der deutschen Verfassungsordnung überstrapaziert, so kommt es zum Verfassungsbruch. Dieser kann durch verfassungsändernde Maßnahmen nicht verhütet werden, weil die Ewigkeitsklausel Verfassungsrevisionen und Verfassungsreformen widersteht und nur durch einen Akt der verfassunggebenden Gewalt beseitigt oder modifiziert werden kann. Art. 79 Abs. 3 GG hätte durch eine neue Verfassung auf Grund des Art. 146 GG a.F. angetastet werden können 54, nicht jedoch auf Grund des verunglückten Art. 146 in seiner neuen Gestalt 55 • Da also auch Art. 23 Abs. 1 GG n.F. die Starrheit der Ewigkeitsgarantie nicht in Nachgiebigkeit zu verwandeln vermag, kann er das Spannungsverhältnis zwischen Integrationsdynamik und Staats(struktur)bewahrung nur dadurch mildem, daß er den Integrationsdruck auf die unantastbaren Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG abfängt, indem er die Achtung dieser Prinzipien zur condicio sine qua non jeder europäischen Einigung macht und die deutsche Staatsgewalt strikt hierauf verpflichtet. Dies ist der Zweck der neuen Verfassungsvorschrift, weshalb die Amtliche Begründung sie zu Recht ,,strukturklausel" nennt 56. Dabei war die Verankerung des in Art. 79 Abs.3 GG nicht ausdrücklich aufgeführten Subsidiaritätsgrundsatzes in Art. 23 Abs. 1 GG n.F. im Interesse der Staatsbewahrung unerläßlich. Denn wenn die Ewigkeitsklausel Bundesstaatlichkeit, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit durch Bezugnahme auf Art. 20 GG für unabänderlich erklärt, dann muß zunächst einmal die souveräne Staatlichkeit unantastbar sein. Verliert Deutschland seine Eigenschaft als Staat, dann ist es auch nicht länger Bundesstaat oder Rechtsstaat. Da Art. 79 Abs. 3 GG den Dualismus von Bund und Ländern selbst anspricht, kann die von ihm vorausgesetzte Staatlichkeit Deutschlands nur das Verhältnis zu anderen Staaten, also Staatlichkeit im Sinne des Völkerrechts 57 , nicht eine innerverbandliche Staatlichkeit im Sinne des Verfassungsrechts meinen, so daß eine den Ländern vergleichbare Gliedstaatsqualität als Teil einer Europäischen Union nicht ausreicht. Für die Verfassungsmäßigkeit des Maastricht-Vertrages ist es daher entscheidend, ob die Mitgliedstaaten der Europäischen Union trotz des Verlustes ihrer Allzuständigkeit und einer beachtlichen Amputation ihrer Souveränität 58 noch souveräZur Parallelität vgl. auch BVerfGE 30, 1 (24). Hierzu Merten, Grundfragen des Einigungsvertrages unter Berücksichtigung beamtenrechtlicher Probleme, 1991, S. 28 f. m.w.N. 55 Vgl. v. Mangoldtl Klein / v. Campenhausen, GG, 3. Aufl., 1991, Art. 146 RN 11. 56 BT-Drucks. 12/3338, S.4 und S. 6. 57 Hierzu Karl Doehring, Allgemeine Staatslehre, 1991, RN 33. 58 So Karl Doehring, Staat und Verfassung in einem zusammenwachsenden Europa, ZRP 1993, S. 98 ff. (99, 102). 53

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ne Staaten im Sinne des Völkerrechts bleiben 59, zumal der Europäischen Union sicherlich Allzuständigkeit und damit Souveränität mangelt 60 • Art. 23 Abs. I GG macht um der Homogenität willen die Mitwirkung an der europäischen Integration von der Beachtung des Subsidiaritätsgrundsatzes abhängig, weil die Verfassung innerstaatlich zwar nicht explizit, wohl aber implizit N achrangigkeit verbürgt, wobei zwischen freiheitsichernder und staatsorganisatorischer, zwischen materieller und fonneller Subsidiarität 61 unterschieden werden kann 62. 2. Subsidiarität als freiheitlicher Grundsatz

a) Das grundgesetzliche Prinzip "Freiheit"

Mit den Grundrechten hat das Grundgesetz das "Prinzip Freiheit" nicht nur an die Spitze der Verfassung gesetzt, sondern auch unbeschadet möglicher Verfassungsänderungen und Modifizierungen für unantastbar erklärt. Die Grundrechte als primär und essentiell subjektive Freiheitsrechte prägen ein bestimmtes Menschenbild: das des innerhalb der Gemeinschaft sich frei entfaltenden Menschen, dessen Individualität, Eigenständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung vom Staate zu respektieren ist 63 . Das Grundgesetz geht "von der Würde der freien, sich selbst bestimmenden menschlichen Persönlichkeit" aus 64 , deren Freiheit vor allem die Möglichkeit meint, "das eigene Leben nach eigenen Entwürfen zu gestalten"65, weshalb dem Staat im Bereich grundgesetzlicher Freiheit "allgemein Zurückhaltung geboten" ist 66 • Individuelles Risiko ist notwendiges Korrelat der Freiheit 67. Denn totale Risikolosigkeit infolge umfassender Staatsfür59 Was Doehring, aaO, S. 102 sub III 5, bezweifelt. 60 Vgl. Helmut Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer Europäischen Gemeinschaft, VVDStRL 50, 1990, S. 16 f.; ebenso Doehring, aaO, S. 99. 61 Auch im Sozialrecht wird zwischen materieller und institutioneller Subsidiarität unterschieden, vgl. Bemd Schulte, Der Nachrang der Sozialhilfe gegenüber Möglichkeiten der Selbsthilfe und Leistungen von dritter Seite, NJW 1989, S. 1241 ff. (1242 sub

111).

62 Dagegen ist eine Differenzierung zwischen "vertikaler" Subsidiarität im Verhältnis der Europäischen Union zu den Mitgliedstaaten und ,.horizontaler" Subsidiarität im Verhältnis von öffentlicher Hand und bürgerlicher Gesellschaft wenig überzeugend (so jedoch der Bericht Giscard d'Estaing, Einleitung, unten abgedr. als Anhang 1). Denn mit dem Begriff der Nachrangigkeit verbindet sich eine Verteilung der Zuständigkeiten auf verschiedenen Ebenen oder Stufen, also immer in vertikaler Richtung (vgl. Quadragesimo anno, Nr. 79: "ita quae a minoribus et injerioribus communitatibus effici praestavique possunt, ea ad maiorem et altiorem societatem avocare iniuria est"). Auch die Beziehungen zwischen Staat und Individuum werden klassischerweise als Über- und Unterordnungsverhältnis, also vertikal und nicht horizontal gedacht. 63 Vgl. BVerfGE 4, 7 (16); 30, 1 (20); 35, 202 (225); 45, 187 (227); 48, 127 (163); 50, 290 (339); 60, 253 (268). 64 BVerjGE 48, 127 (163). 65 BVerjGE 60, 253 (268). 66 BVerfGE 10, 59 (83); siehe auch E 6,55 (81); 42, 312 (332).

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sorge führt zu totaler Verantwortungslosigkeit und Unselbständigkeit des Individuums und überschreitet jene Grenze, "von der ab ein Mehr an Leistungs- und Gefalligkeitsstaat ein Zuviel wird" 68. Art. 11 AbS.2 GG, der Beschränkungen der Freizügigkeit einschließlich der Zuzugsfreiheit bei Fehlen einer "ausreichenden Lebensgrundlage" gestattet, macht deutlich, daß nach dem Willen des Grundgesetzes zunächst dem einzelnen die Sorge für sich und die Seinen obliegt, bevor der Staat sorgend, aber auch reglementierend eingreift. In diesem verfassungsrechtlichen Primat der Eigenverantwortung und Eigenvorsorge vor Fremdverantwortung und Fremdfürsorge schlägt sich das Subsidiaritätsprinzip nieder. Eine besondere Ausprägung findet es im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der ebenfalls aus dem Verhältnis grundsätzlicher Freiheitsverbürgung und spezieller Beschränkungsermächtigung folgt 69 • Das grundgesetzliche Regel-AusnahmePrinzip von Freiheit und Beschränkung als "Leitidee"70 der Verfassung verbietet ungeeignete, vor allem aber unnötige und unproportionale Eingriffe und wirkt daher auch als wohlfahrts staatliches Übermaßverbot. Im Interesse individueller Freiheit darf der Staat den Bürger nur in dem erforderlichen Ausmaß und unter Beachtung des Primats von Eigenvorsorge und Eigenverantwortung in die Zwangshilfe und Zwangssicherung einbeziehen 7l . b) Die historischen Wurzeln der Subsidiarität

Die Abwehr staatlicher Allfürsorge ist untrennbar mit dem Kampf um den freiheitlichen Rechtsstaat verbunden, der Antithese zum absolutistischen "Policey"-Staat wird. Dessen patrimoniale Staatsbeglückung soll durch individuelle Privatglückseligkeit in einem Staat der Vemunft 72 ersetzt werden, für den Sicherheit und nicht mehr Wohlfahrt im Vordergrund steht 73, weshalb Wilhelm von Hierzu auch BVerjGE 59, 172 (213). Peter Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30, 1972, S.65; vgl. auch Reinhold Zippelius, in: Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, Festschrift für Kurt Eichenberger zum 60. Geburtstag, 1982, S. 151; Merten, Vom Sozialstaat zum totalen Versorgungsstaat, in: Die Versicherungsrundschau 1980, S. 49 ff. 69 So im Ansatz auch BVerjGE 19,342 (349), wonach das Übermaßverbot sich "im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst" ergibt; siehe auch E 17, 306 (313 f.). 70 BVerjGE 6, 55 (81). 7l Vgl. BVerjGE 29,221 (242 f.); 18, 257 (267); 17, 38 (56). 72 So Karl Theodor Welker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, Gießen 1813,6. Kap., S. 25; vgl. ferner Robert v. Mohl, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, 1. Teil, Tübingen 1829, S. 8 ff. 73 Vgl. Johann Stephan Pütter, Elementa Juris Publici Germanici, 4. Aufl., 1766, § 517: "Promovendae salutis cura propie non est politiae." Hierzu Peter Preu, Polizei begriff und Staatszwecklehre, 1983, insbes. S. 184 ff.; Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl.,1980, S. 162 ff.; Georg-Christoph v. Unruh, in: 67

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Humboldt die Frage behandelt: "Wie weit darf sich die Sorgfalt des Staats um das Wohl seiner Bürger erstrecken?"74 Kant 75 zeiht ein imperium patemale, das Untertanen wie unmündige Kinder behandelt, des Despotismus. Seine Forderung, die Gesetzgebung auf das Notwendige zu limitieren 76, greift das insoweit Entwurf gebliebene Allgemeine Gesetzbuch für die preußischen Staaten in § 79 seiner Einleitung mit den Worten auf, daß Staatsgesetze bürgerliche Freiheiten und Rechte nicht weiter einschränken dürften, als es der "gemeinschaftliche Endzweck" erfordere.

Der Liberalismus übernimmt den Subsidiaritätsgedanken und umschreibt den Staat begrifflich als den "Organismus derjenigen Einrichtungen", welche die Lebenszwecke eines Volkes fördern, "soweit von den Betreffenden dieselben nicht mit eigenen Kräften befriedigt werden können"77. Auch Georg Jellinek 78 hebt im Rahmen seiner Unterscheidung zwischen exklusiven und konkurrierenden Staatszwecken hervor, daß "nichtregulierte individuelle und genossenschaftliche Tat" "nur insoweit zurücktreten oder ausgeschlossen werden (soll), sofern der Staat mit seinen Mitteln das betreffende Interesse in besserer Weise zu fördern vermag": In den Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung verweist deren Mitglied, Ritter v. Buß, auf den Grundsatz, "daß zunächst das Individuum für sich selbst zu sorgen hat, daß dann, im Falle der Nichtmächtigkeit des Individuums, die Gemeinde einsteht, und erst in letzter Instanz der Staat"78a. Daher hat die katholische Soziallehre, insbesondere die päpstliche Enzyklika "Quadragesimo anno"79, das Subsidiaritätsprinzip nicht erfunden, sondern vorgefunden 80. Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I, 1983, S. 419 ff.: Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, 1988, S. 384 f.; Christoph Link, in: Stolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 2. Aufl., 1987, S. 310 ff. (319). 74 In: Neue Thalia 2, 1792, S. 131 ff. Später abgedr. als 2. und Teil des 3. Kap. der "Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen", in: W. v. Humboldts Gesammelte Schriften, hg. von Albert Leitzmann (Akademie-Ausgabe), Bd. I, 1903, S. 97 ff. (106 ff.). 75 Über den Gemeinspruch ... , in: Werke, hg. von Weischedei, Bd. 6,1975, S. 145 f., 154 f. 76 Vgl. seinen Brief an Heinrich Jung-Stilling (nach dem 1. 3.1789), abgedr. in: Jürgen Zehbe (Hg.), Kant, Briefe, 1970, S. 135. 77 So Robert v. Mohl, Enzyklopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl., 1872, S. 71. 78 Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1913, S. 263. 78a Steno Ber. über die Verh. der deutschen constituirenden Nauonalversammlung, hrsg. von Franz Wigard, Bd. 7, 1849, S. 5112. 79 Vom 15.5. 1931, Nr. 79 f.; (auszugsweise abgedr. in: Helmut Schnatz [Hg.], Päpstliche Verlautbarungen zu Staat und Gesellschaft, 1973, S. 401 ff.); siehe in diesem Zusammenhang auch Ewald Link, Das Subsidiaritätsprinzip, 1955; Herbert Schambeck, Art. Staat in der katholischen Gesellschaftslehre, in: Klose / Mant! / Zsifkovits, Katholisches Soziallexikon, 2. Aufl., 1980, Sp. 2894 ff. (2913). 80 Ebenso Roman Herzog, Subsidiaritätsprinzip und Staatsverfassung, in: Der Staat 2, 1963, S.399; vgl. dens., Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 148; zu undifferenziert BVerwGE 23,304 (306); Dieter Grimm, FAZ vom 17.9. 1992; Clemens Stewing, DVBl. 1993, S. 1516.

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c) Ausprägungen der Subsidiarität In der Sozialstaatlichkeit hat die Nachrangigkeit nicht nur ihren Ausdruck, sondern auch ihre Ausprägung erfahren. Die schon vom preußischen Allgemeinen Landrecht 8 ! betonte Pflicht des Staates, "für die Ernährung und Verpflegung derjenigen Bürger zu sorgen, die sich ihren Unterhalt nicht selbst verschaffen und denselben auch von anderen Privatpersonen, welche nach besondern Gesetzen dazu verpflichtet sind, nicht erhalten können", findet sich fast wörtlich im geltenden Fürsorgerecht 82 , weshalb die Subsidiarität überkommener sozialrechtlicher Rechtsgrundsatz ist 83 • Wegen dieser Tradition muß staatliche Fürsorge schon begrifflich 84 freiheitsbewahrende Autarkie, nicht versorgungsstaatliche Apathie des Unterstützungsbedürftigen bezwecken, weshalb Hilfe zur Selbsthilfe, bildlich gesprochen die Gewährung einer Angelrute statt gebratener Fische, die adäquate Staatsleistung ist. Die sozialrechtliche Subsidiarität wird durch eine arbeitsrechtliche ergänzt. Die mit Art. 9 Abs. 3 GG im Kern gewährte Tarifautonomie und Arbeitskampffreiheit schließt staatliche Reglementierungen zwar nicht aus, weist ihnen aber von Verfassungs wegen - jedenfalls quantitativ, wenn auch nicht qualitativ den Nachrang ZU 85 • Hieran zeigt sich auch, daß Subsidiarität sich nicht in dem starren Dualismus von Individuum und Staat erschöpft, sondern über Ehe, (engere und weitere) Familie 86 , Vereine und Verbände 87, Kirchen und Tarifvertragsparteien Abstufungen mit Vorrang der jeweils unteren Ebene kennt, so daß zentralistische Staatsallmacht verhindert wird. Die Vorstellung von einem pyramidalen Aufbau der Gesellschaft, an deren Spitze erst der Staat steht, reicht bis in die Naturrechtslehre zufÜck 88 •

§ 1 II 19 ALR. §§ 2 Abs. 1 BSHG, 9 SGB I; vgl. auch § 5 der Reichsgrundsätze über Voraussetzung, Art und Maß der öffentlichen Fürsorge vom 4. 12. 1924 (RGBI. I S. 441). Zur Nachrangigkeit der Ausbildungsförderung § 1 BAföG i.d.F. vom 6. 6. 1983 (BGBI. I S. 645); hierzu auch BVerwGE 82,323 (325 f.). 83 Vgl. BVerwGE 20, 113 (114); siehe auch E 23, 304 (306 f.); BGHZ 111, 36 (41); BVeifGE 17,38 (56). 84 Ebenso im Ergebnis Hans-Wemer Rengeling, Art. Gesetzgebungszuständigkeit, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, § 100 RN 156, S. 790. 85 Vgl. BVeifGE 58, 233 (253). 86 Zum Vorrang elterlicher vor kollektiver Erziehung BVeifGE 24, 119 (149). 87 Zum Vorrang der Wohlfahrtsverbände im Sozialrecht vgl. §§ 10 BSHG, 17 Abs. 3 8!

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SGB I; deshalb bestand Anlaß, die Förderung Freier Wohlfahrtspflege und Freier Jugendhilfe im Beitrittsgebiet in Art. 32 des Einigungsvertrages hervorzuheben. 88 Vgl. Ulrich Scheuner, Staatszwecke und Verwaltung im deutschen Staat des 18. Jahrhunderts, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte, Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, 1979, S.480m.w.N.

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Auch die Selbstverwaltung von juristischen Personen des öffentlichen Rechts führt zu einem ,,zwischenbau zwischen Staat und Unterthan"89, begründet jene Zwischengewalten ("pouvoirs intermediaires"90), die Montesquieu als Element der Gewaltentrennung ansah und durch die sich nach ihm die Monarchie von der Despotie unterschied 91. Durch die Übertragung staatlicher Angelegenheiten auf Korporationen beschränkt der Staat seine Herrschaft, verkürzt er den Abstand zwischen Staat und Individuum und läßt Angelegenheiten von denjenigen gesellschaftlichen Gruppen erledigen, die hiervon selbst betroffen sind und sie "in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können"92. 3. Die staatsorganisatorische Subsidiarität

a) Zuständigkeitsverteilung als Regel-Ausnahme-Prinzip Die formelle Subsidiarität wirkt zugleich als vertikale Gewaltentrennung. Sie ist im Grundgesetz durch die Abfolge Gemeinden, Länder, Bund beinahe lehrbuchartig umgesetzt. Mit dem Recht der gemeindlichen Selbstverwaltung 93 (Art. 28 Abs.2 GG) wird auf lokaler Ebene jene Bürger- und Sachnähe 94 praktiziert, zu der sich nun auch der Maastricht-Vertrag bekennt. Im Verhältnis der Länder zum Bund statuiert Art. 30 GG sodann ein generelles Regel-Ausnahme-Prinzip, das für Gesetzgebung (Art. 70 Abs. 1 GG) und Verwaltung (Art. 83 GG) nochmals spezialisiert wird. Dabei wird die subsidiäre Allzuständigkeit ebenso als "Indikator" für die Staatlichkeit der Länder gewertet 95, wie deren eigenständige Hoheitsrnacht als Ausfluß des Subsidiaritätsgrundsatzes erscheint 96. Bei der Zuweisung legislatorischer Befugnisse schränkt Art. 72 Abs. 2 GG die Befugnisse des Bundes bei der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips ein. Der Bund hat ein Gesetzgebungsrecht nur, wenn und soweit ein "Bedürfnis" für bundesgesetzliche Regelungen nach 89 So Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. I, 1876, S. 101. 90 Hierzu Michel Troper, Die Zwischengewalten in der politischen Philosophie Mon-

tesquieus, in: Merten (Hg.), Gewaltentrennung im Rechtsstaat, 1989, S. 55 ff. 91 De l'esprit des lois, 11, 4. 92 BVerfGE 33, 125 (156 f.). 93 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Edzard Schmidt-Jortzig / Alexander Schink, Subsidiaritätsprinzip und Kommunalordnung, 1982. 94 Hierzu Wolfgang Loschelder, Kommunale Selbstverwaltungsgarantie und gemeindliche Gebietsgestaltung, 1976, S. 156 ff.; Wolff / Bachof / Stober, Verwaltungsrecht 11, 5. Aufl., 1987, S. 21. 95 So Josef Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IV, 1990, § 98, RN 64, S. 552. 96 Rene Marcic, Vorn Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, S. 347 unter (mißverständlicher) Zitierung von BVerfGE 1, 14 (18, Leitsatz 31).

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Maßgabe näher umschriebener Voraussetzungen besteht. In ähnlicher Weise hatte Art. 9 WRV bei "Bedürfnis für den Erlaß einheitlicher Vorschriften" dem Reich die Gesetzgebung über Wohlfahrtspflege sowie den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit zugewiesen. b) Die Justitiabilität der Bedürfnisklausel

Wäre die Bedürfnisprüfung und -bejahung wie unter der Weimarer Reichsverfassung 97 "eine Frage pflichtgemäßen Ermessens" (besser: der Gestaltungsfreiheit) und als gerichtsfreier Hoheitsakt seiner "Natur"98 nach verfassungsgerichtlich nicht nachprüfbar 99 oder allenfalls auf Mißbrauch kontrollierbar loo , dann liefe die subtile Normierung von Voraussetzungen für ein solches "Bedürfnis" letztlich leer. Denn die mißbräuchliche Ausübung eines Rechts wird gemäß einem allgemeinen Rechtsgrundsatz von der Rechtsordnung ohnehin nicht geschützt 101. Eine ausgewogene Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten zwischen Bund und Ländern sowie die filigrane Umschreibung eines Bedarfs an Bundesgesetzgebung machten keinen Sinn, wenn der Bund ohne verfassungsgerichtliche Kontrolle einseitig das Gesetzgebungsbedürfnis für sich "politisch" reklamieren dürfte. Richtigerweise kann lediglich die Entschließung des (zuständigen) Gesetzgebers, ob der Erlaß eines Gesetzes opportun ist und wie dieses gegebenenfalls (verfassungskonform) auszugestalten ist, Gegenstand seines Ermessens bzw. seiner Gestaltungsfreiheit sein. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob überhaupt die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für ein Tätigwerden des Gesetzgebers im Rahmen seiner Entschließungsfreiheit vorliegen, weshalb zwischen den Ermessensvoraussetzungen und der Ermessensentscheidung zu differenzieren ist. Über die Ermessensvoraussetzungen darf der Ermessensermächtigte nicht in gleicher Weise befinden wie über die Ermessensentscheidung, wenn eine normative Ermessenseingrenzung sinnvoll sein soll. Finden sich unter den Ermessensvoraussetzungen unbestimmte Rechtsbegriffe (Verfassungs- oder Gesetzesbegriffe), so mag dem Entscheidungsträger ein Beurteilungsspielraum oder eine Einschätzungsprärogative zustehen 102, ohne daß damit die Antinomie von Legalität und 97 Vgl. Gerhard Anschülz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl., 1933, Art. 9 Anm. 1, S. 85 in und zu FN 3. Die Qualifizierung als ,,Ermessensfrage" war schon damals umstritten. 98 Ein Rückgriff auf die ,,Natur der Sache" ist abwegig. Da Ermessensausübung überprüft wird (z.B. von der Widerspruchsbehörde gemäß § 68 VwGO), kann sie ,,natürlich" nicht unkontrollierbar sein. Die Ablehnung einer gerichtlichen Überprüfung legislatorischer Gestaltungsfreiheit und exekutiven Ermessens kann dagegen mit dem Gewaltenteilungsprinzip begründet werden. 99 So BVerfGE 2, 213 (224); 4, 115 (127 f.); 10, 234 (245); 33, 224 (229); 65, I (63); 283 (289); vgl. schon E 1, 264 (272 f.). 100 Vgl. BVerfGE 1, 264 (273); 2, 213 (225); 4,115 (127f.). 101 Vgl. auch BVerfGE 24, 119 (147).

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Opportunität aufgehoben werden kann. Auch in anderen Fällen, in denen eine Ermessensentscheidung von dem Vorliegen eines "Bedürfnisses" abhängt wie bei der Beamtenversetzung 103, wird die Ermessensvorgabe als gerichtlich nachprüfbarer unbestimmter Rechtsbegriff angesehen und sogar ein Beurteilungsspielraum geleugnet 104. Auf die seinerzeit schon umstrittene Interpretation des Art. 9 WRV kann sich das Bundesverfassungsgericht 105 für seine These der Bedürfnisbejahung als einer "echten Ermessensentscheidung" nicht stützen. Seither ist der Glaube an die "Selbstherrlichkeit" des Gesetzgebers 106 geschwunden und die Legislative vom Grundgesetz unter rechts staatliche Kuratel in Form der Verfassungsunterwerfung (Art. 20 Abs. 3 GG) und der verfassungsgerichtlichen Kontrolle gestellt worden. Berücksichtigt man die Zeitumstände, so wird das Erkenntnis gleichsam als Wiedergutmachung von Besatzungsunrecht verständlich. Hatten doch die Siegermächte, insbesondere die französischen und die englischen Machthaber in die Beratungen des Parlamentarischen Rates teilweise massiv eingegriffen 107 und in vordergründigem Hegemonialstreben die Gesetzgebungsbefugnisse der Zentralgewalt geschwächt. Daher ist das gerichtliche Dictum der Sache nach ein "corriger la dictee". Im übrigen hat das Bundesverfassungsgericht, was zu wenig beachtet wird, seine Rechtsprechung später modifiziert und trotz Respektierung einer "politischen Vorentscheidung" der Legislative eine Prüfungskompetenz dafür bean!iprucht, "ob der Bundesgesetzgeber die in Art. 72 Abs. 2 GG verwendeten Begriffe im Prinzip zutreffend auslegt und sich in dem dadurch bezeichneten Rahmen gehalten hat" 108. So sehr angesichts dieser Vorgeschichte eine Novellierung des Art. 72 Abs. 2 GG zu begrüßen wäre 109, da sie auch der Verfassungsgerichtsbarkeit einen Neuanfang ermöglichte, so wenig kann von dieser Rechtsprechung auf die gerichtliche Kontrolle des europarechtlichen Subsidiaritätsprinzips geschlossen werden. Zu 102 Hierzu statt aller Hartrnut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Aufl., 1992, §7RN26ff. 103 §§ 26 Abs. 1 Satz I BBG, 18 Abs. I Satz I BRRG. 104 Vgl. BVerwGE 26, 65 (66 f.); Ulrich Battis, Bundesbeamtengesetz, 1980, § 26 Anm. 2 c, S. 200. Zu den besonderen persönlichen und beruflichen "Bedürfnissen" im Sinne von § 5 Abs.2 Satz 2 WohnungsbindungsG (i.d.F. der Bekanntmachung vom 22.7.1982 [BGBL I S. 972]) BVerwGE 38,277 (279). 105 E 2, 213 (224 f.). 106 So RGZ 118,325 (327); 139, 177 (189). 107 Vgl. RudolfWemer Füßlein, JöR N. F., Bd. 1, 1951, S. 465 f.; ReinhardMußgnug, Zustandekommen des Grundgesetzes und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1987, S. 226 ff., S. 245 ff. 108 BVerfGE 26, 338 (382 f.); 78, 249 (270); wörtlich nahezu gleichlautend E 13, 230, (234); vgl. auch E 67, 299 (327). 109 Vgl. hierzu den Bericht der Kommission Verfassungsreform des Bundesrates "Stärkung des Föderalismus in Deutschland und Europa sowie weitere Vorschläge zur Änderung des Grundgesetzes", 1992, RN 56 ff.

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verschieden sind hierfür Wortlaut und Entstehungsgeschichte, Gesetzeszweck und Rechtssystematik sowie die Rolle des Bundesstaates im Verhältnis einerseits zu den Ländern und andererseits zur Europäischen Union und Europäischen Gemeinschaft. Davon abgesehen kann es schließlich keine· "Nachahmung im Unrecht" geben, wie auch keine "Gleichheit im Unrecht" besteht. Spannt man einen Bogen von der grundgesetzlichen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten als Ausprägung der Nachrangigkeit zum europarechtlichen Subsidiaritätsprinzip, so zeigt sich, daß Zuständigkeitsfragen Rechtsfragen 110 und keine Ermessensfragen oder gar Machtfragen sind. Schon in den Federalist Papers 111 ist zu lesen, "daß Handlungen der größeren Gemeinschaft, die nicht auf Grund der ihr durch die Verfassung übertragenen Vollmachten erfolgen, sondern Eingriffe in die den kleineren Gemeinschaften verbliebenen Befugnisse darstellen", nicht zum "Obersten Gesetz des Landes" werden. Derartige Handlungen, so Hamilton, "sind widerrechtliche Übergriffe und verdienen als solche behandelt zu werden".

So für die europarechtliche Subsidiarität auch Schmidhuber / Hitzier, NVwZ 1992, (725) D; Schmidhuber, DVBI. 1993, S. 417 ff. (420 sub IV 5). 111 Alexander Hamilton / Jarnes Madison 110hn Jay, Der Föderalist, hg. von Felix Ennarcora, 1958, S. 188 .. 110

s. 720 ff.

Anhang

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Zwischenbericht des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments über den Grundsatz der Subsidiarität vom 4.7.1990 (sog. Bericht Giscard d'Estaing)* Einleitung

Die politische Union Europas beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Achtung der Persönlichkeit der Mitgliedstaaten. Das gemeinsame europäische Aufbauwerk soll eine Reihe von Grundsätzen, Zielen und Mitteln im Hinblick auf die Verwirklichung der europäischen Integration vereinen und beinhaltet eine spezifische föderale Vision Europas. Dieser auf Integration zielende Aufbau Europas beruht auf Grundsätzen, die die Gewährleistung der Achtung der jeweiligen Zuständigkeiten des gemeinschaftlichen und des nationalen Bereichs vorsehen. Allein schon von seiner Natur her bedingt der Aufbau der Gemeinschaft die Achtung der Verschiedenheiten der einzelnen Mitgliedstaaten, ihrer Persönlichkeit, ihrer Rechte und Interessen. Diese Achtung ergibt sich schon aus dem Wesen des europäischen Föderalismus und der Philosophie der Verträge, die auf der schrittweisen Verwirklichung der darin vorgesehenen Ziele beruht. In den ersten 30 Jahren der Anwendung der Verträge hat die Verwirklichung des Grundsatzes der Subsidiarität keine besonderen Schwierigkeiten aufgeworfen. Die wesentliche Entwicklung der Gemeinschaftspolitiken, vor allem nach der Verwirklichung der Einheitlichen Europäischen Akte, hat jedoch dazu geführt, daß man sich mit dem Grundsatz der Subsidiarität und der Frage seiner Achtung befaßte. Die substantiellen institutionellen Fortschritte, die demnächst erwartet werden, verleihen dieser Frage größte Aktualität. Der Grundsatz der Subsidiarität besagt, daß den Gemeinschaftsinstitutionen nur die Zuständigkeiten übertragen werden, die sie benötigen, um die Aufgaben zu bewältigen, die sie wirkungsvoller wahrnehmen können als jeder einzelne Mitgliedstaat für sich (s. Präambel des Entwurfs eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union sowie Artikel 12 dieses Vertragsentwurfs) . • Veröffentlicht in: EP-Dok. A 3-163/90/Teil B. 7*

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Anhang 1

Daher muß ein Mitgliedstaat alle Zuständigkeiten, die er selbst wirkungsvoller wahrnehmen kann, behalten und der Gemeinschaft die Befugnisse übertragen, die er nicht angemessen ausüben kann. Die Gemeinschaft wird unter diesen Umständen nur subsidiär aufgrund eines Prinzips der genauen Entsprechung tätig, wonach jeder Ebene nur die Zuständigkeiten übertragen werden, die wegen ihrer Art und ihres Umfangs nur wirkungsvoll und angemessen auf dieser Ebene wahrgenommen werden können. Bei dieser Subsidiarität, die als vertikal bezeichnet werden kann, wird zwischen den Befugnissen der Union und den weiterhin bei den Mitgliedstaaten verbleibenden Befugnissen unterschieden. Es sei auch auf eine andere Form der Subsidiarität, die sogenannte horizontale Subsidiarität, hingewiesen, bei der zwischen den Zuständigkeiten der öffentlichen Hand und denen der bürgerlichen Gesellschaft unterschieden wird. Nach dem Bekenntnis zu diesem Grundsatz gilt es nun auch, dessen Grenzen festzulegen, was ganz und gar nicht einfach ist. Diese Grenzen hängen nämlich davon ab, welche Vorstellung man von der Europäischen Gemeinschaft hat, deren Aufbau schrittweise und dynamisch erfolgt und die nach und nach, wie seit 35 Jahren festzustellen ist, zwangsläufig immer neue Zuständigkeitsbereiche umfaßt, was vor allem auf das Auftreten neuer Probleme (wie z.B. Umwelt oder Forschung) zurückzuführen ist. Zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten wird bald hinsichtlich der Verteilung der Zuständigkeiten ein Gleichgewicht erreicht sein. Dann wird es möglich sein, wie in einem einzelstaatlichen föderalen System, eine recht klare Trennungslinie festzulegen, indem präzise Spielregeln aufgestellt werden, deren Anwendung gegebenenfalls gerichtlich zu überwachen wäre. Da sich die Gemeinschaft derzeit unter institutionellem Gesichtspunkt in einer Konsolidierungsphase befindet, empfiehlt es sich, daß man sich bereits jetzt mit der Frage ihrer künftigen verfassungsmäßigen Grenzen gegenüber den Mitgliedstaaten (einschl. der Regionen und anderer interner Einheiten) befaßt. Außerdem ist der Besonderheit des Subsidiaritätsprinzips, die sich aus dem ganz eigenen Charakter des Aufbaus Europas und seiner derzeitigen und künftigen Entwicklung ergibt, Rechnung zu tragen.

I. Der Grundsatz der Subsidiarität existiert bereits in der Europäischen Gemeinschaft Den Verträgen liegt das Prinzip zugrunde, daß die Europäische Gemeinschaft nur über sachliche Zuständigkeiten verfügt, die ihr von den Verträgen übertragen werden. Artikel 2 des Vertrages von Rom stellt den allgemeinen Grundsatz auf, daß es insbesondere Aufgabe der Gemeinschaft ist, durch die Errichtung eines

Zwischenbericht des Institutionellen Ausschusses

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Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten die Entwicklung des Wirtschaftslebens zu fördern. Der Gedanke der Subsidiarität erscheint im EWG-Vertrag zum ersten Mal 1957 und im EGKS-Vertrag sogar bereits 1951. Für die Ausübung dieser Befugnisse haben die Organe zu sorgen. Artikel 4 bestimmt, daß die der Gemeinschaft zugewiesenen Aufgaben von den vier derzeit bestehenden Organen - dem Parlament, dem Rat, der Kommission und dem Gerichtshof - wahrgenommen werden. Weiter wird präzisiert, daß jedes Organ nach Maßgabe der ihm in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse handelt. Diese Bestimmung stellt die maßgebliche rechtliche und politische Grundlage für den Subsidiaritätsgrundsatz dar (Art. 2, 3 und 7 EGKS-Vertrag, Art. 1, 2 und 3 EAG-Vertrag). Es ist auch darauf hinzuweisen, daß die Verfasser des EWG-Vertrags die Zuständigkeiten der Gemeinschaft nicht zu starr eingrenzen wollten und bereits 1957 an den sich wandelnden und progressiven Charakter des Aufbaus der Gemeinschaft gedacht hatten. Aus diesem Grund sahen sie einen Artikel 235 vor, der es, falls ein Tätigwerden der Gemeinschaft erforderlich erscheint, gestattet, im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, ohne daß der Vertrag die hierfür erforderlichen Befugnisse vorsieht. Der Rat kann dann einstimmig vor allem die geeigneten Vorschriften erlassen (Artikel 203 EAG-Vertrag und Artikel 94 EGKS-Vertrag). Die Einstimmigkeit wurde hier als Garantie für die Mitgliedstaaten eingeführt, damit diese Befugnisse in Bereichen ausüben können, die bisher nicht berücksichtigt wurden. Die Anwendung dieses Artikels 235 durch den Rat wurde unterschiedlich beurteilt, je nachdem, wo man die Grenze zwischen gemeinschaftlichem und einzelstaatlichem Bereich gezogen sehen möchte. Schließlich hat der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung den Vertrag stets gemäß seiner Zielsetzung ausgelegt, insbesondere hinsichtlich der schrittweisen Einführung der gemeinsamen Politiken. Er hat einen strikten Parallelismus zwischen den internen und externen Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft hergestellt, so daß das einheitliche Vorgehen der Gemeinschaft sowohl im Inneren als auch nach außen gewährleistet ist. So erklärte der Gerichtshof im AETR-Urteil vom 31. März 1971, daß die Gemeinschaft in dem Maße, wie gemeinsame Regeln eingeführt werden, allein in der Lage wäre, mit Wirkung für den gesamten Geltungsbereich der gemeinschaftlichen Rechtsordnung die gegenüber Drittländern eingegangenen Verpflichtungen zu gewährleisten und zu erfüllen 1. In der Einheitlichen Europäischen Akte erscheint der Grundsatz der Subsidiarität in Artikel 130 r, wonach die Gemeinschaft im Bereich der Umwelt insoweit 1

Rechtssache 22/70 Kommission / Rat -

Sammlung 1971, S. 263.

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tätig werden kann, als die vorgesehenen Ziele besser auf Gemeinschaftsebene als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten erreicht werden können. Die relativ häufige Bezugnahme auf den Gedanken der Subsidiarität in der letzten Zeit zeigt eine gewisse Besorgnis angesichts der Auswirkungen des Aufbaus der Gemeinschaft auf die Unabhängigkeit und die Handlungsfreiheit der Mitgliedstaaten sowie gegebenenfalls ihrer regionalen Einheiten, die bisweilen über eigene Zuständigkeiten in diesen Bereichen verfügen. Eine bessere gegenseitige Information zwischen den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament über ihre Tätigkeit wäre ein erstes Mittel, diese Befürchtungen zu zerstreuen. Das Voranschreiten des Aufbaus Europas, wie die Einführung des Binnenmarktes oder die Perspektiven der Wirtschafts- und Währungsunion, vergrößern derartige Befürchtungen, insbesondere in den Parlamenten der Mitgliedstaaten, die sich zu Recht oder Unrecht vom gemeinschaftlichen Beschlußfassungsprozeß ausgeschlossen fühlen. Diese Befürchtung könnte durch eine bessere Information und eine bessere Beteiligung dieser Parlamente der Mitgliedstaaten an den Gemeinschaftspolitiken zerstreut werden. Das fast vollständige Verschwinden des Doppelmandats hat, wie man zugeben muß, erheblich zu einer Verschärfung dieser Situation beigetragen. Trotzdem ist das Gleichgewicht zwischen den Befugnissen der Europäischen Gemeinschaft und denjenigen der Mitgliedstaaten, wie es im Laufe der Zeit von den jeweiligen Verfassern der Gemeinschaftsverträge vorgesehen worden war, derzeit nicht wesentlich verändert. Die wichtigste Veränderung besteht darin, daß der politische und wirtschaftliche Aufbau Europas, dessen Zielsetzungen und Möglichkeiten bereits in den Zielen der Verträge enthalten sind, in der jüngsten Zeit stark beschleunigt wurde. A. Das Europäische Parlament und die Subsidiarität

Das Europäische Parlament hatte sich seit 1984 im Entwurf des Vertrages zur Gründung der Europäischen Union mit der Frage der Subsidiarität befaßt. Der neunte Gedankenstrich der Präambel des Vertragsentwurfs zeigt klar, welchen Standpunkt das Parlament einnehmen will: Es werden nur die Zuständigkeiten gemeinsamen Institutionen übertragen, die sie benötigen, um die Aufgaben zu bewältigen, die sie wirkungsvoller wahrnehmen können als jeder einzelne Mitgliedstaat für sich. In Artikel 12 wird dieser Grundsatz bekräftigt und präzisiert, daß ein Handeln der Union erforderlich ist, weil die Ausmaße oder Auswirkungen der zu bewältigenden Aufgaben über die nationalen Grenzen hinausreichen. Auf dem Gebiet

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der internationalen Beziehungen kann die Union im Wege der Zusammenarbeit handeln, wenn die Mitgliedstaaten als einzelne nicht so wirksam handeln können wie die Union (Art. 66). In diesem Stadium sind zwei Konzepte zur Verwirklichung des Subsidiaritätsgrundsatzes möglich. Nach dem ersten Konzept werden nur die Aufgaben auf die Gemeinschaftsebene übertragen, deren Ausmaße oder Auswirkungen über die nationalen Grenzen hinausreichen. Dieses Konzept hat mehr dezentralisierenden oder föderativen Charakter. Es handelt sich hierbei um eine grundlegende politische und institutionelle Entscheidung zwischen zentralistischem Föderalismus und dezentralisierendem Föderalismus oder Föderalismus föderativer Art. Das zweite Konzept beruht auf dem Gedanken, daß die Mitgliedstaaten nur die Aufgaben auf die höhere Ebene übertragen, deren Durchführung unerläßlich ist und die besser auf Gemeinschaftsebene als von den einzelnen Mitgliedstaaten allein wahrgenommen werden können. Hier finden wir das Effizienzkriterium wieder, das sich als zentralistisch erweisen kann: In Wirklichkeit führt die Anwendung dieser Kriterien jedoch nicht zwangsläufig zu unabänderlichen Entscheidungen. Je nach den Erfordernissen sind sie mit einer gewissen Flexibilität zu handhaben. Um sicherzustellen, daß ein gewisses Gleichgewicht zwischen beiden gewahrt bleibt, sollte, wie weiter unten dargelegt, ein Höchstmaß an verfahrenstechnischen und sachlichen Garantien gegeben werden. Das Europäische Parlament ist sich somit dieses bedeutenden Problems noch vor der Aushandlung der Einheitlichen Europäischen Akte bewußt geworden, in der das Subsidiaritätsprinzip mehrfach ausdrücklich erwähnt wird. In seiner Entschließung vom 14. Dezember 1989 zu den Ergebnissen des Europäischen Rates in Straßburg bekräftigt das Europäische Parlament sein Festhalten an dem Grundsatz der Subsidiarität in der Perspektive der Europäischen Union. B. Demokratiedefizit und Grundsatz der Subsidiarität

Durch die Gemeinschaftsverträge wurden nationale legislative Zuständigkeiten, die bisher von den nationalen Parlamenten wahrgenommen wurden, von den Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft übertragen. Die Übertragung dieser Zuständigkeiten vollzog sich weitgehend ausschließlich zugunsten des Ministerrates der Europäischen Gemeinschaft. Das Parlament hatte stets gefordert, daß diese legislativen Befugnisse von ihm und dem Rat im Wege eines gemeinsamen legislativen Beschlußfassungsverfahrens gemeinsam wahrgenommen werden.

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Durch die Beseitigung dieses Demokratiedefizits würden die Zuständigkeiten, die bereits in den Gemeinschaftsverträgen vorgesehen sind, aber derzeit weitgehend vom Rat wahrgenommen werden, in einem föderalen Sinne genutzt. Die "Föderalisierung" der Ausübung dieser bereits auf Gemeinschaftsebene bestehenden Befugnisse wäre eine erste Antwort auf die Frage nach der Achtung des Grundsatzes der Subsidiarität, die somit eng mit der Beseitigung des Demokratiedefizits verbunden ist. Die Verwirklichung der institutionellen Harmonie der künftigen Europäischen Union würde dadurch unterstützt. Auch würde die Gewährleistung des Grundsatzes der Subsidiarität einen zusätzlichen Impuls erhalten. Die Verstärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments bleibt ein grundlegendes Ziel im Rahmen des Aufbaus Europas und bildet die unerläßliche Ergänzung der Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips. 11. Die Europäische Politische Union erfordert die Bestätigung des Grundsatzes der Subsidiarität Die Bestätigung des Subsidiaritätsgrundsatzes erscheint sowohl im Rahmen der bestehenden Zuständigkeiten als auch im Rahmen der der Gemeinschaft nach den bevorstehenden institutionellen Änderungen gegebenenfalls zu übertragenden Kompetenzen erforderlich. Dieser Grundsatz sollte vor allem deshalb bestätigt und in seinen Modalitäten angepaßt werden, um die größtmögliche Transparenz bei der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten zu gewährleisten und gleichzeitig eine dynamische Entwicklung der europäischen Integration zu ermöglichen. Um den größtmöglichen Erfolg der institutionellen Strategie des Europäischen Parlaments zu gewährleisten, muß ein derartiger Vorstoß dazu beitragen, die Aussichten des Europäischen Parlaments zu vergrößern, das Demokratiedefizit zu verringern bzw. zu beseitigen. Die Stärkung der Befugnisse des Europäischen Parlaments innerhalb des bestehenden gemeinschaftlichen Rahmens hängt teilweise von dieser politischen und verfassungsrechtlichen Strategie ab, durch die diese Aufgabenteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten geklärt und gewährleistet werden soll. In gewisser Weise steht somit die Erweiterung der legislativen Befugnisse des Europäischen Parlaments im Zusammenhang mit der Bekräftigung und Bestätigung des Subsidiarititsgrundsatzes. Die Anerkennung und die Garantie der föderalen Form der Europäischen Union wäre somit in diesem Zusammenhang ein äußerst positiv zu bewertender Fortschritt auf institutioneller Ebene.

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Es ist darauf hinzuweisen, daß das Subsidiaritätsprinzip aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden kann: Unter dem Aspekt der Festlegung der Zuständigkeiten (Inhalt der durchzuführenden Aktion) und unter dem Aspekt der Wahrnehmung der Zuständigkeiten (für die Durchführung zuständige Ebene). Die Strategie, die in einer ersten Phase am erfolgreichsten sein könnte, besteht darin, eine Reihe von Möglichkeiten vorzuschlagen, so daß zwar den unterschiedlichen Meinungen Rechnung getragen werden kann, aber gleichzeitig an dem Gedanken der Bestätigung des Subsidiaritätsgrundsatzes festgehalten wird. Der anzustrebende Verteilungsgrundsatz müßte auf der Idee beruhen, daß die Union nur über die ausschließlichen Zuständigkeiten verfügt, die für die Erreichung ihrer Ziele notwendig sind, während die Zuständigkeiten, die ihr nicht ausdrücklich übertragen werden, von den Mitgliedstaaten wahrzunehmen sind. Bei der Entscheidung zwischen dem Konzept auf der Grundlage des Effizienzkriteriums und dem auf der Grundlage des Kriteriums des grenzübergreifenden Charakters der durchzuführenden Aufgaben muß der Dezentralisierungsgrundsatz soweit wie möglich beachtet werden, wobei gleichzeitig der Besonderheit des Aufbaus der Gemeinschaft Rechnung zu tragen ist. Die Komplexität sowie die Überschneidung mit bestimmten Politiken konkurrierender Zuständigkeit der Union und der Mitgliedstaaten macht, wie im Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union vorgesehen, ein System konkurrierender Zuständigkeit erforderlich.

1. Die ausdrückliche Erwähnung des Subsidiaritätsgrundsatzes im Rahmen der sich aus den Verträgen ergebenden bestehenden Zuständigkeiten

Es ist zu entscheiden, ob nach dem Muster der meisten föderalen Verfassungen die Verteilung der Zuständigkeiten ausdrücklich aufgeführt werden sollte, oder ob die Gewährleistung des Subsidiaritätsgrundsatzes an sich ausreicht. Bei dieser Entscheidung sind insbesondere die Reaktionen der nationalen Parlamente zu berücksichtigen. Die Aufnahme des Subsidiaritätsgrundsatzes in die Verträge erscheint notwendig und wünschenswert, zumindest bei den Grundsätzen (Art. 4 des EWG-Vertrags), der Funktion des Gerichtshofes (Art. 173) sowie den impliziten Befugnissen der Gemeinschaft (Art. 235). Gemeinschaftliche Politiken im Sinne des durch die Einheitliche Europäische Akte ergänzten EWG-Vertrags sind bereits: -

Die Finanzen: Nach derzeitigen Schätzungen dürften sich die Haushaltsmittel der Union auf insgesamt etwa 5 % des Gesamtbetrags der Haushaltsausgaben der Mitgliedstaaten (Staat, Regionen und Sozialabgaben) belaufen. Die Mit-

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gliedstaaten behielten einen großen Spielraum. Durch den Haushalt wäre keine übermäßige Gefahr der Zentraiisierung zu befürchten. -

Die Aufstellung des Gemeinsamen Zolltarifs (Art. 18-29).

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Die Errichtung des Binnenmarktes (Art. 8 a).

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Die Einführung einer gemeinsamen Agrarpolitik (Art. 38-47).

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Beschluß von Maßnahmen zur Gewährleistung der Freizügigkeit, des freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs (Art. 48 - 73).

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Die Einführung einer gemeinsamen Verkehrspolitik (Art. 74-84).

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Die Wettbewerbspolitik (Art. 85-94).

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Die Angleichung der für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlichen nationalen Rechtsvorschriften (Art. 95 - 102).

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Die Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten (Art. 102 a109). Die Sozialpolitik (Art. 117 -128).

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Die gemeinsame Handelspolitik (Art. 110-116).

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Die Schaffung von Eigenmitteln (Art. 201).

Die Einheitliche Akte hat außer der bereits oben genannten Errichtung des Binnenmarktes der Gemeinschaft Befugnisse in folgenden Bereichen zuerkannt: -

Beschluß von Maßnahmen zur Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (Art. 130 a-130 e). Beschluß von Maßnahmen auf dem Gebiet der Forschung und technologischen Entwicklung (Art. 130 f - 130 q). Umweltschutzmaßnahmen (Art. 130 r-130 t).

Die durch die Einheitliche Europäische Akte institutionalisierte Europäische Politische Zusammenarbeit beruht auf der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, nähert sich inhaltlich aber immer mehr dem gemeinschaftlichen Berei~h. Zwischen diesen verschiedenen Befugnissen kann eine Unterscheidung getroffen werden. Einige wurden der Gemeinschaft in bezug auf Grundsatz und Inhalt übertragen (Zollunion, Binnenmarkt, gemeinsame Agrarpolitik). Andere wurden der Gemeinschaft nur in bezug auf die Ziele übertragen, für deren Verwirklichung teilweise die Mitgliedstaaten zuständig sind (Sozialpolitik, Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten). Dieser Unterscheidung kommt sowohl grundsätzlich als auch auf politischer Ebene eine gewisse Bedeutung zu. Einige gemeinschaftliche Zuständigkeiten sind direkt von den Gemeinschaftsinstitutionen wahrzunehmen, während andere den Mitgliedstaaten obliegen. Es ist nämlich darauf hinzuweisen, daß der Subsidiaritätsgrundsatz bei der Durchführung des Gemeinschaftsrechts insoweit eine Rolle spielt, als seine Anwendung meistens von den Behörden der Mitgliedstaaten abhängt.

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2. Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes auf die Zuständigkeiten, die die Gemeinschaft wahrzunehmen beabsichtigt

Diese (nicht erschöpfende) Liste soll zunächst Anstoß für Fragen sowie grundsätzliche Überlegungen sein, um einige Wahlmöglichkeiten zu geben. Einige dieser Zuständigkeiten dürften zumindest teilweise gemeinsam wahrzunehmen sein und würden somit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilt.

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Die Wirtschafts- und Währungsunion

Die Schaffung eines europäischen Zentralbanksystems hätte keine Zentralisierung der Wirtschafts- und Währungspolitik zur Folge. Die Zentralbanken würden einen Spielraum behalten, doch müßten gemeinsame Vorschriften beispielsweise für die Haushaltspolitik (Defizitfinanzierung) erlassen werden. Auf Gemeinschaftsebene müßte die Währungspolitik (Wechselkurs, Zinssatz und Geldmenge) gemeinsam betrieben werden, während die Mitgliedstaaten eine gewisse Autonomie bei der Preis- und Einkommenspolitik sowie der Politik im Bereich der obligatorischen Abgaben behielten.

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Außen- und Sicherheitspolitik

Auch wenn sich diese wohl immer mehr zu einer gemeinsamen Politik entwikkeIn wird, wird sie doch teilweise weiterhin auf der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit beruhen, während die Mitgliedstaaten bilaterale Zuständigkeiten behalten werden. Die Union muß jedoch ein recht umfassendes Gesandtschaftsrecht besitzen. Der Subsidiaritätsgrundsatz wird hier zweifellos Anwendung zu finden haben.

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Die Entwicklungshilfe und die Assoziierung der AKP-Länder mit der Gemeinschaft

Dabei handelt es sich schon teilweise um eine gemeinschaftliche Politik.Auch wenn ihre Vertiefung auf Gemeinschaftsebene wünschenswert erscheint, so wird der Subsidiaritätsgrundsatz selbstverständlich die rechtmäßige Aufrechterhaltung bilateraler Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern gestatten.

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Die europäische Staatsbürgerschaft

Das Europa der Bürger stellt neben der Verwirklichung des Binnemarktes eines der Hauptziele dar. Die Vollendung des Binnenmarktes müßte zu einer europäischen Staatsbürgerschaft mit den damit verbundenen Konsequenzen führen (beispielsweise gemeinsame Ein- und Ausreiseregelung für das Hoheitsgebiet der Union). Diese Harmonisierung wird unter Achtung der Verschiedenheit der Mitgliedstaaten erfolgen.

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So wird der Subsidiaritätsgrundsatz den Mitgliedstaaten eine Reihe von Zuständigkeiten, beispielsweise hinsichtlich der Aufenthaltsbestimmungen für Bürger aus Drittländern, vorbehalten.

3. Die Zuständigkeiten, die bei den Mitgliedstaaten verbleiben müßten

Mit Blick auf die Ausarbeitung einer europäischen Verfassung wird die Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes die Aufstellung einer Liste der Zuständigkeiten erfordern, die größtenteils der unteren Ebene übertragen werden. Die Verfassungen der Bundesstaaten geWährleisten eine großzügige Anwendung dieses Grundsatzes (Vereinigte Staaten, BR Deutschland, Schweiz, Österreich). Es soll hier ebenfalls keine erschöpfende Liste dieser Zuständigkeiten aufgestellt werden. In der Realität kommt es durch die Komplexität der Verhältnisse mitunter zu gewissen Kompetenzüberschneidungen, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen. Anhand einer Reihe von Beispielen soll der Inhalt dieser Zuständigkeiten dargestellt werden.

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Nationale und lokale Wirtschaftspolitik

Die Mitgliedstaaten behalten, wie auch die regionalen Behörden auf ihrer Ebene, wichtige Zuständigkeiten im Rahmen ihrer nationalen Wirtschaftspolitik: Wirtschaftswachstum, Industrie- oder Investitionspolitik verbleiben weitgehend im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten.

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Nationale und lokale Besteuerung

Nach der Verwirklichung der unerläßlichen Steuerharmonisierung nach dem Verschwinden der Steuergrenzen untersteht den Mitgliedstaaten und den lokalen Behörden der größte Teil des Steuerinstrumentariums.

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Erziehung

Es besteht keine Veranlassung, Schulaufbau, Schulzeiten oder Lehrpläne in bezug auf ihre rechtliche Regelung zu ändern.

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Sport

Die Sportpolitik, gleich welcher Art oder auf welcher Ebene, wird zweifellos nicht der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten entzogen.

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Freiheitsrechte

Die Presse-, Gewissens- oder Religionsfreiheit sind selbstverständlich nicht betroffen.

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Zivilrecht, Personen- und Sachenrecht, Zivilprozeßrecht Personenstand, Verträge oder Rechtsstellung minderjähriger Kinder.

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Strafrecht, StraJprozeßrecht und Strajvollzugsordnung Strafen für Verbrechen, Delikte oder sonstige strafrechtliche Verstöße.

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Sicherheit und öffentliche Ordnung

(außer Zusammenarbeit im TREVI-Rahmen), Status der Polizeikräfte, Zivilschutz, Feuerbekämpfung.

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Justiz und Aufbau der Justizverwaltung Juristische Berufe, Organisation der Gerichte.

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Verwaltung und Aufbau der Verwaltung

Die Organisation der Ministerien oder die interne Verteilung der Zuständigkeiten in den Mitgliedstaaten fällt nicht in den Aufgabenbereich der Europäischen Gemeinschaft.

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Handelsrecht (außer gemeinschaftlichem Wettbewerbsrecht)

Regelung der ausgeschütteten Dividenden oder Befugnisse der Hauptversammlung der Aktionäre.

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Raumordnung und Städteplanung Die Vorschriften für die Erteilung der Bau- oder Bodennutzungsgenehmigung.

III. Die Gewährleistung des Grundsatzes der Subsidiarität 1. Die Mechanismen

Aus der Besonderheit und Eigenständigkeit des Aufbaus Europas, der Vertiefung dieses Aufbaus sowie der uneingeschränkten Achtung des Demokratiegrundsatzes ergibt sich eine gewisse Schwierigkeit, die in den Bundesstaaten bestehenden Modelle zu übertragen. Unter diesen Umständen muß Kreativität und Phantasie bei der Einführung eines neuen Verteilungsmodus bewiesen werden, der der Notwendigkeit gemeinsamen Handeins unter gleichzeitigem Schutz der Persönlichkeit der Mitgliedstaaten und ohne Beeinträchtigung der Effizienz der Gemeinschaftsaktion Rechnung trägt. Es ist darauf hinzuweisen, daß die Tatsache, daß die Gemeinschaftsinstitutionen bisher Richtlinien gegenüber Verordnungen den Vorzug geben, an sich eine Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes darstellt. Das Prinzip des Subsidiaritätsmechanismus sowie dessen Gewährleistung müssen vorgesehen werden, wobei dieser den Entwicklungen, die eintreten können, Rechnung zu tragen hat und die Situation nicht festschreiben darf. Bezieht man sich auf den Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union von 1984, ist festzustellen, daß dort die Zuständigkeiten in aus-

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schließliche, konkurrierende und potentielle Zuständigkeiten unterteilt werden (Artikel 11 und 12). Die politische Philosophie des Vertragsentwurfs beruht auf der Achtung des Subsidiaritätsgrundsatzes sowie der Tatsache, daß sich die Zuständigkeiten der Union nach einem vorher festgelegten Mechanismus weiterentwickeln können. Diese Unterscheidung geht insbesondere von den Vorschlägen aus, die von der Kommission 1975 bei der Ausarbeitung des Berichts Tindemans vorgelegt wurden, der eine breite Zwischenzone zwischen den ausschließlichen Zuständigkeiten der Union und denjenigen der Mitgliedstaaten vorsah. Die Idee, die diesem Mechanismus zugrunde liegt, beruht auf der Tatsache, daß beim Aufbau Europas noch kein zufriedenstelIendes Gleichgewicht zwischen den jeweiligen Zuständigkeiten der Union und der Mitgliedstaaten erreicht wurde, insbesondere hinsichtlich der Wirtschafts- und Währungspolitik, der Außenpolitik oder der Verteidigungspolitik. Zuständigkeiten, die nicht der Union obliegen, könnten dieser teilweise oder ganz nach einem Verfahren auf der Grundlage des oben genannten gegenwärtigen Artikel 235 des EWG-Vertrags, das Einstimmigkeit vorsieht, übertragen werden (die gemeinsame Beschlußfassung des Europäischen Parlaments und des Rates würde für diesen Artikel gelten).

2. Die Garantien

Es können zwei Arten von Garantien vorgesehen werden, und zwar einerseits politische und andererseits gerichtliche Garantien, die sich in ein institutionelles System einfügen, das die Durchführung von zur Erfüllung der Aufgaben der Europäischen Union notwendigen wirksamen und demokratischen Verfahren ermöglicht.

a) Die politischen Garantien Das Gleichgewicht zwischen den Gemeinschaftsinstitutionen und eine etwaige Umgestaltung dieser Institutionen sind derzeit Gegenstand von Überlegungen. Einige schlagen einen Europäischen Senat vor, der aus den Parlamenten der Mitgliedstaaten hervorgehen soll. Andere sprechen sich für eine Umgestaltung des Rates zu einer Staatenkammer aus. Unabhängig von der Entscheidung, die getroffen werden wird und die nicht in den Rahmen dieses Berichts fällt, müßte diese künftige Gemeinschaftsinstitution zur Achtung der Grenzen zwischen gemeinschaftlichem und nationalem Bereich beitragen können.

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b) Die gerichtlichen Garantien Auch der Gerichtshof trägt bereits im Rahmen seiner derzeitigen Zuständigkeiten zur Achtung des Subsidiaritätsgrundsatzes bei, indem er (gemäß Artikel 164 des EWG-Vertrags, der ihm allgemein die Zuständigkeit überträgt, die Wahrung des Rechts zu sichern) über die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft wacht. In diesem Zusammenhang wäre eine inhaltliche Erweiterung dieses Artikels 164 zu begrüßen, um diesen Gedanken miteinzubeziehen 2. Um diese Garantie zu verstärken, könnte jedoch der Gerichtshof als Verfassungsorgan eingesetzt werden, was voraussetzt, daß er in dem künftigen Vertrag durch die Zuweisung dieser Befugnis in einen Verfassungsgerichtshof umgewandelt wird. . Er könnte im voraus oder nachträglich von den Gemeinschaftsinstitutione:n, d. h. dem Rat, der Kommission und dem Parlament (beispielsweise auf Antrag eines Drittels seiner Mitglieder), ggf. vom Europäischen Senat, den Mitgliedstaaten und den obersten Gerichten der Mitgliedstaaten unter gewissen Bedingungen angerufen werden. Er hätte die Aufgabe, für die Achtung des föderalen Pakts zu sorgen. In diesem Zusammenhang wäre es auch denkbar, daß der neue Vertrag eine Reihe von Garantien enthält, wonach Vorschläge zur Änderung des Vertrages unzulässig sind, die die föderale Form der Europäischen Union gefährden oder demzufolge den Subsidiaritätsgrundsatz verletzen würden. Es dürfte ratsamer sein, einem obersten Gericht alle Streitsachen der Union (Verfassungs-, Gesetzgebungs- und Verwaltungsstreitsachen) zu übertragen, um etwaige Widersprüche in der Rechtsprechung zweier konkurrierender oberster Gerichte zu vermeiden. Die Zuständigkeiten des vor kurzem errichteten Gerichts erster Instanz können erweitert werden, so daß der Grundsatz des doppelten Rechtszugs in der Europäischen Gemeinschaft weiterentwickelt wird.

2 Von den Tausenden von Verordnungen und Richtlinien, die jedes Jahr verabschiedet werden, wird nur eine verschwindend geringe Anzahl von den Mitgliedstaaten beim Gerichtshof angefochten.

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Mitteilung der Kommission an den Rat und an das Euröpäische Parlament betr. das Subsidiaritätsprinzip* Einführung Die Verhandlungen, die in die Unterzeichnung des Vertrags von Maastricht mündeten (hier ist vor allem der Artikel 3 b von Bedeutung) haben deutlich gemacht, welchen Stellenwert die drei miteinander verknüpften Themen - Stärkung der demokratischen Kontrolle, mehr Transparenz bei der gemeinschaftichen Gesetzgebung und sonstigen Maßnahmen sowie Achtung des Subsidiaritätsprinzips - für die Gemeinschaft haben. Nach Überzeugung der Kommission müssen alle drei Elemente in die Praxis der Gemeinschaft eingehen. Sie wird daher weitere Anstrengungen in diese Richtung unternehmen. In dieser Arbeitsunterlage wird ausschließlich das Subsidiaritätsprinzip, sein Anwendungsbereich und seine Umsetzung in folgenden Bereichen behandelt: Ausarbeitung von Rechtsvorschriften, Durchführung von Gemeinschaftspolitiken sowie finanzielle und sonstige Kontrolle der Gemeinschaftstätigkeit.

Ausarbeitung und Prüfung von Vorschlägen für Gemeinschaftsmaßnahmen Die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag bringt für alle an der Beschlußfassung beteiligten Organe bestimmte Verpflichtungen mit sich. Der Kommission kommt hier jedoch aufgrund ihres Initiativrechts eine besonders wichtige Rolle zu. Die Subsidiarität regelt nicht die Zuweisung der Zuständigkeiten der Gemeinschaft - dies geschieht durch den Vertrag selbst - sondern deren Ausübung. In der Praxis bedeutet dies, daß alle Organe der Gemeinschaft, besonders aber die KommisJ>ion, dem Gebot der Vernunft folgen müssen, d.h. daß die Gemeinschaft in Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten nur die Maßnahmen ergreifen sollte, die am besten auf Gemeinschaftsebene ergriffen werden. Dabei haben die Gemeinschaftsorgane nachzuweisen, daß es einer gemeinschaftlichen Regelung und eines gemeinschaftlichen Handelns überhaupt bedarf, und daß die Intensität der Regelung gerechtfertigt ist. Selbstverständlich gilt das Prinzip auch umgekehrt: Wenn eine Rechtsvorschrift oder eine sonstige Maßnahme, die in die Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt, diese beiden Voraussetzungen

* Veröffentlicht in: EUROPE/Dokumente Nr.

1804/05 vom 30.10.1992.

Mitteilung der EG-Kornrnission

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erfüllt, so sollte auch auf Gemeinschaftsebene gehandelt werden. Außerdem liegt es im Wesen des Subsidiaritätsprinzips, daß die Frage, inwieweit es eingehalten wird, nicht getrennt vom Inhalt einer Aktion oder einer Maßnahme erörtert werden darf. Die Subsidiarität und das ihr verwandte Prinzip der Verhältnismäßigkeit wurden nicht erst in Maastricht erfunden. Beide Grundsätze sind in der Rechtssetzung und anderen Tätigkeiten der Gemeinschaft bekannt. Neu ist lediglich, daß Artikel 3 b des Vertrags über die Europäische Union eine präzisere Aussage enthält. Für seine künftige Anwendung lassen sich bereits einige Kriterien skizzieren, die nicht unbedingt kompliziert sein müssen. Es geht darum, dem Bürger klar zu machen, daß alle Beschlüsse nach Möglichkeit auf einer ihm nahen Ebene getroffen werden, ohne dabei die Vorteile, die ihm aus dem gemeinsamen Handeln auf Gemeinschaftsebene entstehen, in Frage zu stellen oder das institutionelle Gleichgewicht zu verändern. Eine nähere Betrachtung des Artikels 3 b veraniaßt zu den nachstehenden Schlußfolgerungen: Aus dem ersten Absatz geht hervor, daß die Zuständigkeiten der Gemeinschaft ihr durch den Vortrag zugewiesen werden, und daß die dadurch vorgegebenen Grenzen nicht überschritten werden dürfen. Innerhalb dieser Grenzen hat die Gemeinschaft eine Verpflichtung: die Verwirklichung der ihr durch den Vertrag auferlegten Ziele. Der zweite Absatz betrifft die Bereiche, in denen die Gemeinschaft über keine ausschließliche Zuständigkeit verfügt, und regelt die Frage, ob die Gemeinschaft in bestimmten Fällen zu handeln hat. Nach diesem Artikel wird die Gemeinschaft nur tätig, sofern und soweit die Ziele der geplanten Maßnahme nicht ausreichend durch die Mitgliedstaaten verwirklicht werden können. Somit ist also zu prüfen, ob sich die betreffenden Ziele nicht durch den Einsatz anderer Instrumente, die den Mitgliedstaaten zur Verfügung stehen, erreichen lassen, beispielsweise Gesetze' Verwaltungs anordnungen, Verhaltenskodex. Dies wäre der komparative Effizienztest, bei dem die Gemeinschaftsmaßnahme und die einzelstaatliche Maßnahme hinsichtlich ihrer Wirksamkeit verglichen werden. Dazu könnten folgende Beurteilungselemente herangezogen werden: die Auswirkungen des Umfangs der Maßnahme (grenzübergreifende Schwierigkeiten, kritische Masse, usw.), die Kosten der Nichtdurchführung der Maßnahme, die notwendige Kohärenz, die Grenzen einer auf einzelstaatlicher Ebene durchgeführten Maßnahme (einschließlich der möglichen Verzerrung, wenn nicht alle Mitgliedstaaten in der Lage sind, zu handeln), die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt. Genügt ein Vorschlag diesem Effizienzkriterium, ist immer noch die Frage nach der Intensität und der Art der betreffenden Gemeinschaftsmaßnahme zu beantworten. Dies führt uns zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der bereits 8 Merten

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in die Rechtsprechung der Gemeinschaft Eingang gefunden hat. Hier gilt es, eingehend zu prüfen, ob ein Rechtsinstrument notwendig ist und ob nicht andere Aktionsmittel ausreichend wirksam wären. Falls eine Gesetzgebungsmaßnahme erforderlich ist, wird die Kommission so weit wie möglich Rahmengesetzen, Mindestvorschriften und Regeln zur gegenseitigen Anerkennung nationaler Vorschriften den Vorzug geben sowie generell übermäßig detaillierte Rechtsvorschriften vermeiden. Absatz 3 betrifft sowohl die konkurrierenden als auch die ausschließlichen Zuständigkeiten. Das darin noch einmal bekräftigte Verhältnismäßigkeitsprinzip, für das vorstehend einige Kriterien angeführt werden, darf sich jedoch nicht auf die Kompetenzzuordnung auswirken. Durchführung der Gemeinschaftsmaßnahmen

Bei der Ausarbeitung von Legislativvorschlägen ist unbedingt zu prüfen, inwieweit die betreffende Maßnahme der Gemeinschaft dezentral durchgeführt werden kann. Vielfach dürfte sich eine derartige Dezentralisierung daraus ergeben, daß auf Rahmenrichtlinien zurückgegriffen wird, da die in nationales Recht umgesetzten Rechtsvorschriften in der Regel "vor Ort" durch die einzelstaatlichen oder regionalen Behörden unter Einhaltung der verfassungsmäßigen Bestimmungen angewandt werden. Gleichwohl sollte auch für andere Arten von Rechtsvorschriften von Fall zu Fall geprüft werden, ob die Durchführung der Gemeinschaftsmaßnahme dezentral erfolgen kann. Eine derartige Vorgehensweise entspricht nicht nur der Forderung nach einer größtmöglichen Bürgernähe der Gemeinschaftsaktion, sie ist auch vielfach unumgänglich, weil der europäische öffentliche Dienst im Vergleich zu den öffentlichen Verwaltungen der Mitgliedstaaten von sehr begrenztem Umfang ist. Die Kommission wird ihre Arbeiten fortsetzen, um genauer festzulegen, welche Art von Maßnahmen dezentral durchgeführt werden können und welche Aufgaben sie in Zusammenhang mit der Kontrolle und der laufenden Überwachung der Maßnahmen gegebenenfalls auch weiterhin wird wahrnehmen müssen. Sie hat bereits mehrere Initiativen im Sinne einer stärkeren Dezentralisierung ergriffen; so hat sie insbesondere das Partnerschaftskonzept bei den strukturpolitischen Maßnahmen entwickelt. Kontrolle

Hier sollte unterschieden werden zwischen den Maßnahmen, die mit finanziellen Mitteln der Gemeinschaft ausgestattet werden, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist. In ersterem Fall hat die Kommission hinsichtlich des Gemein-

Mitteilung der EG-Kommission

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schaftshaushalts bestimmte Verpflichtungen zu erfüllen. Im anderen Fall sollte stets geprüft werden, inwieweit sich die Kontrollaufgaben auf die Mitgliedstaaten übertragen lassen, sofern diese über die entsprechenden Strukturen verfügen. Die Kommission wird insbesondere prüfen, inwieweit -

verstärkt auf Mindestvorschriften zurückgegriffen werden kann;

-

bei der Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts die Mitgliedstaaten bei der Prüfung von Vertragsverletzungsfällen enger zusammenarbeiten können;

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in bestimmten Bereichen die Mitgliedstaaten die Kontrolle nicht selbst übernehmen können, wobei dies mit einer regelmäßigen Berichterstattung an die Gemeinschaftsorgane verbunden wäre. Außerdem sollte dann die Möglichkeit gegeben sein, den Gerichtshof mit den Fällen zu befassen, die in den. Berichten negativ beurteilt werden.

Die vorstehenden Ausführungen lassen erkennen, daß die Kommission sich bereits eingehend mit der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ausein~derge­ setzt hat. Ihre Arbeiten gehen weit über die auf der Tagung des Rates in Lissabon eingegangene Verpflichtung hinaus, in den Legislativvorschlägen die Notwendigkeit der betreffenden Maßnahme zu begründen. Alle Gemeinschaftsorgane müssen anerkennen, daß Handlungsbedarf und Intensität unbedingt zu begründen sind. Gleichwohl sollte eine statische Interpretation dieser beiden Begriffe vermieden werden. Die Entwicklung der Gemeinschaft darf nicht aufgehalten werden. Die Kommission hat intern ein detailliertes Arbeitspapier zu den rechtlichen und technischen Aspekten der Subsidiarität ausgearbeitet, das als Beitrag zu einem besseren Verständnis dieses Prinzips und seiner wirksameren Anwendung zu verstehen ist (siehe Anhang). Wie sie bereits angemerkt hat, hält sie eine interinstitutionelle Vereinbarung in dieser Frage für zweckmäßig und ist bereit, einen entsprechenden Vorschlag zu unterbreiten, falls das Parlament und der Rat dieses Vorgehen akzeptieren können.

Anhang Das Subsidiaritätsprinzip 1. Der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im institutionellen Bereich liegt ein einfacher Gedanke zugrunde: Ein Staat oder ein Staatenbund verfügt nur über die Zuständigkeiten, die Personen, Familien, Unternehmen und lokale oder regionale Gebietskörperschaften nicht allein ausüben können, ohne dem allgemeinen Interesse zu schaden. Dieser vernünftige Grundsatz soll gewährleisten, daß die Entscheidungen dadurch möglichst bürgernah getroffen werden, daß die von den höchsten politischen Ebenen durchgeführten Maßnahmen begrenzt werden. 8*

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2. Dieses politische Prinzip setzte sich als rechtliches Prinzip zunächst in den Beziehungen einiger Mitgliedstaaten zu ihren Regionen durch, und zwar in unterschiedlicher Ausprägung je nach Verfassungstradition. Auf die Gemeinschaft übertragen bedeutet dieses Prinzip, daß von der Gemeinschaft die Aufgaben übernommen werden, die die Staaten auf ihren verschiedenen Entscheidungsebenen allein nicht mehr zufriedenstellend wahrnehmen können. Die Übertragung dieser Zuständigkeiten muß auf jeden Fall unter Wahrung der nationalen Identität und der Kompetenzen der Regionen erfolgen. Die Mitgliedstaaten müssen sich ihrerseits gemäß Artikel 5 des EWG-Vertrages bei ihrem Vorgehen an den Zielen der Gemeinschaft orientieren. Das Subsidiaritätsprinzip wurde in der Präambel und in zwei Bestimmungen (Artikel B und Artikel 3 b) des Vertrages über die Europäische Union festgeschrieben. Es war bereits im Keim im EGKS-Vertrag (Artikel 5), implizit im Vertrag von Rom und ausdrücklich in den Bestimmungen der Einheitlichen Akte über die Umwelt (Artikel 130 r) enthalten. Im Gemeinschaftssystem ist das Subsidiaritätsprinzip ein dynamischer Begriff. So soll die Subsidiarität die Gemeinschaftsaktionen nicht lähmen, sondern sie vielmehr fördern, wenn die Umstände dies verlangen, und umgekehrt sie einschränken, ja aufgeben, wenn sich ihre Fortführung auf Gemeinschaftsebene nicht mehr als gerechtfertigt erweist.

Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips seit über vierzig Jahren entsprach zweierlei Erfordernissen: der Notwendigkeit des Gemeinschaftshandelns und der Verhältnismäßigkeit der Aktionsmittel gemessen an den Zielen. Den großen Initiativen der Kommission lag stets eine Rechtfertigung der Notwendigkeit des Handeins zugrunde. Die Vorhaben, die die Kommission ins Werk gesetzt hat - insbesondere die im Vertrag von Rom vorgesehenen gemeinsamen Politiken, dann die Verwirklichung eines Raums ohne Grenzen und seiner in der Einheitlichen Akte vorgesehenen flankierenden Politiken waren im Hinblick auf die Erfordernisse der europäischen Integration uneingeschränkt gerechtfertigt. Niemand will bestreiten, daß die Cemeinschaftsebene von der Effizienz her die einzig richtige war. Die Ergebnisse können dies bezeugen. Man müßte sich sogar wundern, wenn es anders wäre, da gewisse von den Verfassern des Vertrages vorgesehene Verpflichtungen zum Handeln immer noch nicht vollständig erfüllt sind: Man denke nur an die Verkehrspolitik oder an gewisse Aspekte der Handelspolitik, ganz zu schweigen von wesentlichen Bestimmungen des EURATOM-Vertrages. Die Intensität des Gemeinschaftshandelns wurde mitunter beanstandet, insbesondere die übermäßige Detailliertheit gewisser Regelungen in sehr empfindlichen Bereichen (Umwelt, Gesundheitswesen), die zu Recht oder zu Unrecht als eng mit der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes verknüpft angesehen werden. Daß ein Vorschlag sehr häufig vom Ministerrat oder vom Europäischen Parlament angefordert wird, daß umfassende Konsultationen mit den zuständigen Kreisen stattfinden (Grünbuch, Sachverständigensitzungen usw.), daß ferner die ursprünglichen Vorschläge im Verlauf des Verfahrens, das zur Annahme im Rat oder im Parlament führt, überfrachtet oder verwässert werden, all dies zählt nicht, gilt doch die Kommission heute in der Öffentlichkeit als Hauptverantwortliche für Regelungen, die angeblich dem Subsidiaritätsprinzip zuwiderlaufen. Es ist um so ungerechter, daß die Kommission Zielscheibe dieser Kritik ist, als sie sich darauf beschränkt, die zwei grundlegenden Aufgaben, die ihr

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durch den Vertrag zugewiesen werden, zu erfüllen, nämlich die Wahrnehmung des Initiativrechts und die Überwachung der Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Wie dem auch sei, die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips im Vertrag und die Bedeutung, die ihm etliche Mitgliedstaaten beimessen, sind für alle Organe und in erster Linie für die Kommission aufgrund ihres Initiativrechts eine Gelegenheit, die Maßnahmen der Gemeinschaft auf das Wesentliche zu beschränken, d.h. weniger, aber wirksamer tätig zu werden. Dies muß eine Gelegenheit sein, zu betonen, daß die Umsetzung dieses Grundsatzes nicht auf eine Bevormundung der Kommission durch Infragestellung ihres Initiativrechts und damit eine Änderung des in den Verträgen vorgegebenen Gleichgewichts hinauslaufen darf. Das Subsidiaritätsprinzip hat eine organübergreifende Dimension und ist insbesondere eng mit der Frage des Demokratiedefizits verknüpft.

I. Klärung des Begriffs J. Unterscheidung zwischen Gemeinscha[tszuständigkeiten. konkurrierenden Zuständigkeiten und einzelstaatlichen Zuständigkeiten

a) Gemeinschaftszuständigkeiten und einzelstaatliche Zuständigkeiten Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß das Subsidiaritätsprinzip ein Ordnungsprinzip für die Ausübung der Zuständigkeiten und nicht für die Zuweisung der Zuständigkeiten ist. Die Kompetenzzuweisung fällt ausschließlich in den Zuständigkeitsbereich der "verfassunggebenden Gewalt", d. h. der Verfasser des Vertrages. Infolgedessen besteht bezüglich der der Gemeinschaft zugewiesenen Zuständigkeiten im Unterschied zu den den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Zuständigkeiten keine Rechtsvermutung. Artikel 3 b Absatz 1 impliziert eine erste - allzu oft verkannte - Auswirkung des Subsidiaritätsprinzips; danach ist die einzelstaatliche Zuständigkeit die Regel und die Gemeinschaftszuständigkeit die Ausnahme. Folglich erübrigt sich "verfassungsrechtlich" eine Liste der den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Zuständigkeiten.

Das Fehlen einer solchen Liste der einzelstaatlichen Zuständigkeiten wirft jedoch insoweit ein politisches Problem auf, als die dezentralisierten Gebietskörperschaften bestimmter Mitgliedstaaten, ja die Öffentlichkeit daraus den Schluß ziehen, daß es keine genaue Abgrenzung für das Handeln der Gemeinschaft gibt, der im übrigen vorgeworfen wird, sie könne sich in alles einmischen. Die konkrete Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips für die Bürger wirft demnach ein erstes Problem auf. Es stellt sich nämlich die Frage, ob es nicht angebrachter wäre, die wichtigsten den Mitgliedstaaten vorbehaltenen Zuständigkeitsbereiche anzugeben, als einfach davon auszugehen, daß die.einzelstaatliche Zuständigkeit die Regel ist. b) Ausschließliche Zuständigkeiten und konkurrierende Zuständigkeiten Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich aus dem Vertrag über die Europäische Union insofern, als die Verfasser des Vertrages zwar die Zuständigkeiten der Gemeinschaft aufgeführt und mitunter sorgfältig abgegrenzt haben, aber in Artikel 3 b zwischen

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ausschließlichen Zuständigkeiten der Gemeinschaft und konkurrierenden Zuständigkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten unterschieden haben, ohne jeden dieser "Kompetenzblöcke" näher zu bestimmen oder inhaltlich festzulegen. Es besteht folglich keine klare Abgrenzung zwischen ausschließlichen Zuständigkeiten und konkurrierenden Zuständigkeiten. Der Unterscheidung zwischen ausschließlichen Zuständigkeiten und konkurrierenden Zuständigkeiten kommt jedoch eine große Bedeutung zu, da die Notwendigkeit des Handeins je nach Art der Zuständigkeit unterschiedlich beurteilt wird. 2. Die beiden Dimensionen des Subsidiaritätsprinzips Nach Artikel 3 b des Vertrages von Maastricht deckt das Subsidiaritätsprinzip zwei verschiedene Rechtsbegriffe ab, die leicht verwechselt werden: -

Notwendigkeit des Handeins (Absatz 2),

-

Intensität (Verhältnismäßigkeit) der Modalitäten des Handeins (Absatz 3).

a) Als Kriterium der Notwendigkeit bestimmt die Subsidiarität, ob die Gemeinschaft grundsätzlich tätig wird; dabei hat die Gemeinschaft den Nachweis zu erbringen, daß ihr Handeln gegenüber den Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten zur Erreichung der Vertragsziele treffen oder treffen könnten, begründet ist. Nach Artikel 3 b Absatz 2 ist die Gemeinschaft zu einem solchen Nachweis der Notwendigkeit ihres Handeins nur "in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen," d. h. in den Bereichen der konkurrierenden Zuständigkeit verpflichtet. Mit anderen Worten sind die Verfasser des Vertrages von dem Postulat ausgegangen, daß die Gemeinschaft in einigen Bereichen die einzige angemessene Ebene für die Durchführung der zur Verwirklichung der Vertragsziele erforderlichen Maßnahmen ist. Da im Vertrag weder der Begriff ausschließliche Kompetenz definiert ist noch die unter diesen Begriff fallenden Bereiche aufgeführt sind, ist es die Pflicht der Organe und in erster Linie der Kommission, ein gemeinsames Konzept zu erarbeiten, um ständige Abgrenzungskonflikte zwischen ausschließlichen und konkurrierenden Zuständigkeiten bei gleichzeitiger Gefahr einer Abwertung der Subsidiaritätskomponente ,,Notwendigkeit" zu vermeiden. Darüber hinaus entfaltet das Subsidiaritätsprinzip - als Kriterium für die Ausübung konkurrierender Zuständigkeiten - je nach Vertragsziel unterschiedliche Wirkung. Die Organe unterliegen - entsprechend den der Gemeinschaft zugewiesenen Aufgabenbereichen - unterschiedlich starken Zwängen und verfügen auch nicht über die gleichen Instrumente (vgl. Kohäsionspolitik und Katastrophenschutz). b) Als Intensitätskriterium bietet die Subsidiarität eine Garantie dafür, daß die Maßnahmen der Gemeinschaft nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinausgehen - unabhängig davon, ob es sich um ausschließliche oder konkurrierende Zuständigkeiten handelt (Artikel 3 b dritter Absatz). Es gilt also, einen hinreichend bekannten Grundsatz - Verhältnismäßigkeit der Mittel - mit Inhalt zu füllen, politischen Willen in die Praxis umzusetzen. Erweist sich zur Erreichung der Vertragsziele ein Tätigwerden der Gemeinschaft als notwendig, so muß die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben; dies bedeutet Vorrang von Unterstützungsmaß-

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nahmen vor einer Reglementierung, von gegenseitiger Anerkennung vor Harmonisierung, von Rahmenrichtlinien vor detaillierten Regelungen usw., bevor in letzter Instanz zwingende Regelungen erlassen werden.

11. Begrenzung der ausschließlichen Zuständigkeit 1. Merkmale der ausschließlichen Zuständigkeit

Rechtlich umfaßt der Begriff der ausschließlichen Zuständigkeit zwei kumulative Elemente: a) ein funktionales Element: Verpflichtung der Gemeinschaft, als allein zuständige Instanz bei der Wahrnehmung bestimmter Aufgaben tätig zu werden. Die Verpflichtung zum Tätigwerden muß sich klar aus dem Vertrag selbst ergeben - z. B. Artikel 8a "Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Maßnahmen, um bis zum 31. Dezember 1992 den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen ... ", oder Artikel 40 ... "wird eine gemeinsame Organisation der Agrarmärkte geschaffen." Der Vertrag sieht im übrigen ein Verfahren vor, das die Nichterfüllung dieser Verpflichtung im Wege einer Untätigkeitsklage sanktioniert. So hat der Gerichtshof die Untätigkeit des Rates im Verkehrsbereich festgestellt. b) ein materielles Element: die Mitgliedstaaten haben nicht das Recht, einseitig tätig zu werden. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Mitgliedstaaten keine Gesetze mehr beschließen können; sie können Gesetze beschließen, wenn die Gemeinschaft dies akzeptiert beispielsweise bei bestimmten Aspekten der Handelspolitik - oder Rahmenregelungen für nationale Maßnahmen erläßt. Gleichwohl kann die Gemeinschaft die Auffassung vertreten, daß ihnen dieses Recht vollständig entzogen werden muß. Eine ausschließliche Zuständigkeit für einen im Vertrag festgelegten Bereich (z.B. Schaffung der gemeinsamen Organisation der Agrarmärkte zur Erreichung der Ziele des Artikels 39 des Vertrages darf nicht zu dem Schluß verleiten, daß sich daraus die volle Verantwortung für diesen Bereich - im weitesten Sinne - (z. B. Landwirtschaft) ergibt. Der Auslegung des Vertrags sind durch die Vernunft gebotene Grenzen gesetzt. Außerdem gibt es Bereiche, in denen die Verpflichtung zum Handeln nicht einhergeht mit dem Bestreben, den Mitgliedstaaten das Recht, tätig zu werden, zu entziehen.

2. Die ausschließlichen Zuständigkeiten 1

Zur Verwirklichung ihrer Ziele ist die Gemeinschaft in bestimmten Bereichen zum Handeln verpflichtet, so zur Schaffung eines Raums ohne Binnengrenzen, zur Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts und zur Errichtung einer Wirtschaftsund Währungsunion (Artikel B des Vertrags von Maastricht). 1 Die durch den EGKS- und EURATOM-Vertrag abgedeckten Bereiche der ausschließlichen Zuständigkeiten sollen hier nicht behandelt werden.

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a) Im gegenwärtigen Stadium des gemeinschaftlichen Aufbauwerks kann aus der Verpflichtung zum Handeln eine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft, mit der sich daraus ergebenden Entziehung des Rechts der Mitgliedstaaten, tätig zu werden, rechtlich nicht abgeleitet werden. Die im Vertrag von Maastricht verwendeten Begriffe "ausschließliche Zuständigkeit" und "gemeinsame Politik" decken sich - unabhängig davon, wie wichtig letztere ist - ebenso wenig wie die Begriffe ,,ziel" und "Verpflichtung zum Handeln".

Historisch hat sich der Begriff "ausschließliche Zuständigkeit" zunächst aus der Verpflichtung heraus entwickelt, den "Gemeinsamen Markt" zu verwirklichen. Diese Verpflichtung wurde ganz besonders zwingend formuliert, insbesondere auch dadurch, daß in die Einheitliche Akte eine Zeitvorgabe aufgenommen wurde. Es handelt es sich hier also um eine wirkliche Verpflichtung, Ergebnisse vorzuweisen. Auf dieser Grundlage sind im Laufe der Geschichte und im Zuge der Rechtsprechung des Gerichtshofes die ausschließlichen Zuständigkeiten entstanden, welche sich schwerpunktmäßig an den vier Grundfreiheiten und an bestimmten gemeinsamen Politiken orientieren, die für die Schaffung des Binnenmarktes unerläßlich sind bzw. sich unmittelbar daraus ergeben. Dazu gehören -

-

die Beseitigung der Hindernisse, die der Freizügigkeit sowie dem Waren-, Kapitalund Dienstleistungsverkehr entgegenstehen; (Artikel 8 a)

die gemeinsame Handelspolitik (Artikel 1/3), die eine einheitliche Gestaltung des Binnenmarktes gewährleistet; - die allgemeinen Wettbewerbsregeln, die gewährleisten, daß die Wirtschaftsbeteiligten im Binnenmarkt gleichgestellt sind; - die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte als Voraussetzung für den freien Verkehr landwirtschaftlicher Erzeugnisse; bereits 1957 wurden hierfür besondere Regeln vereinbart, die den umfassenderen Zielen des Artikels 39 EWGV Rechnung tragen sollten; - die Erhaltung der Fischbestände (Artikel 102 der Beitrittsakte) sowie, analog zur GAP, die gemeinsame Marktorganisation für Fischereierzeugnisse; - die wesentlichen Elemente der Verkehrspolitik, für die ebenfalls im Vertrag bereits 1957 eine präzise Verpflichtung zum Handeln vorgesehen wurde (z.B. Artikel 75 a und b); b) Die Abgrenzung dieser ausschließlichen Zuständigkeiten wird zwangsläufig durch die Fortschritte bei der europäischen Integration bestimmt. Sie muß ein dynamischer Vorgang bleiben. So sieht der Vertrag von Maastricht einerseits eine einheitliche Währungs- und Wechselkurspolitik vor, die mittel- oder langfristig zu einer ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft in der Endphase der WWU führen dürfte. Andererseits läßt sich nur schwerlich eine Grenze ziehen zwischen der Verwirklichung der vier Grundfreiheiten und dem, was einige als harmonisches Funktionieren des Binnenmarktes bezeichnen. Auch in Zukunft wird die den vier Grundfreiheiten innewohnende Dynamik unweigerlich zu flankierenden Maßnahmen führen, die ihrerseits effektive Politiken erforderlich machen (z.B. Umwelt, Kohäsion). Aus diesen ergibt sich gegenwärtig jedoch keine ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft, also auch nicht die Möglichkeit, den Mitgliedstaaten entsprechende Rechte zu entziehen.

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3. Wahrnehmung der ausschließlichen Zuständigkeit Das unter der Zielvorgabe "Gemeinsamer Markt" entstandene Gefüge ausschließlicher Zuständigkeiten bewirkt, daß die Gemeinschaft im Falle der Freizügigkeit nicht erst den Beweis für die Notwendigkeit ihres Handeins antreten muß. Gewiß besteht ein Ermessensspielraum, doch darf das Subsidiaritätsprinzip nicht angeführt werden, um die Zweckmäßigkeit gemeinschaftlichen Handeins in Frage zu stellen. Bei der Ausübung einer ausschließlichen Zuständigkeit verfügt die Gemeinschaft iiber eine Fülle von Möglichkeiten (insbesondere das Instrument der Harmonisierung), doch bedeutet das nicht, daß sie systematisch Gesetze erlassen und den betreffenden Bereich vollständig abdecken muß. Geichwohl ist festzustellen, daß das Wort "Bereiche" in der Formulierung "Bereiche mit ausschließlicher Zuständigkeit" den Sachverhalt nicht genau trifft: es ist davon auszugehen, daß der Begriff der ausschließlichen Zuständigkeit, der sich aus einer Verpflichtung zum Handeln ergibt, restriktiv ausgelegt wird, da es sich hierbei um eine Ausnahme von den anderen Gemeinschaftszuständigkeiten handelt. Die Ausschließlichkeit der Zuständigkeit ergibt sich daher nicht aus dem jeweiligen Tätigkeitsfeld (Kraftfahrzeuge, Kapital), sondern aus den Erfordernissen der Freizügigkeit. Daher fallen in diese ausschließliche Zuständigkeit nicht alle Maßnahmen in Zusammenhang mit dem harmonischen Funktionieren des Binnenmarktes. So wäre beispielsweise die Harmonisierung der Mehrwertsteuer-Bemessungsgrundlage (Ermittlung der steuerpflichtigen Erzeugnisse) der ausschließlichen Zuständigkeit zuzuordnen; hingegen ist zu bezweifeln, ob einheitliche Mehrwertsteuer-Sätze für die Verwirklichung der Freizügigkeit unerläßlich sind. Daraus folgt konkret: Die Abgrenzung der Zuständigkeiten um ein Bündel politischer Maßnahmen im Zusammenhang mit der Freizügigkeit bedeutet nicht, daß dieser Bereich vom Gesetzgeber voll abgedeckt werden muß. Hier berühren wir die Problematik des Primats. So hindert nichts den Gemeinschaftsgesetzgeber daran, bei Maßnahmen, die zur Verwirklichung der Freizügigkeit nicht oder nicht mehr unerläßlich sind, die Gesetzgebung den Mitgliedstaaten zu überlassen, sofern der Vorrang der gemeinschaftlichen Rechtsordnung gewahrt bleibt.

111. Das Kriterium der Notwendigkeit und die konkurrierenden Zuständigkeiten Während das Subsidiaritätsprinzip als Kriterium der Notwendigkeit nicht zum Tragen kommt, wenn die Gemeinschaft gezwungen ist, Ergebnisse vorzuweisen, verhält sich dies anders in den Bereichen, in denen ihre Zuständigkeiten mit denen der Mitgliedstaaten konkurrieren. Gemäß Artikel 3b wird die Gemeinschaft nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können. Es handelt sich um eine Prüfung, die fallweise zu erfolgen hat und für die Artikel 3b zwei präzise Hinweise enthält: maßgebend sind der Umfang und die Wirkungen der betreffenden Maßnahme. Zu prüfen ist daher folgendes:

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-

Verfügen die Mitgliedstaaten über Mittel, einschließlich der finanziellen Mittel, zur Erreichung der Ziele (nationale, regionale oder kommunale Gesetzgebung, Verhaltenskodex, Vereinbarungen zwischen Sozialpartnern, usw.)? (Komparativer Effizienztest);

-

Wie effizient ist die Gemeinschaftsmaßnahme (Umfang, grenzübergreifende Probleme, Kosten der Untätigkeit, kritische Masse usw.)? (Mehrwert-Test).

Gleichwohl liegt auf der Hand, daß in dem recht weiten Bereich der konkurrierenden Zuständigkeiten die Notwendigkeit zum gemeinschaftlichen Handeln unterschiedlich beurteilt werden muß. Weder die der Gemeinschaft gesetzten Ziele noch die den Organen für ihre Verwirklichung zur Verfügung stehenden Instrumente sind einheitlich. Der Grund dafür liegt im Vertrag selbst, der je nach Bereich bestimmte Vorgehensweisen vorsieht oder ausschließt. Die verschiedenen Formen der Ausübung der konkurrierenden Zuständigkeiten lassen sich in einem (wie bei derartigen Versuchen nicht anders möglich) grob skizzierten Schema darstellen, das keinesfalls als eine Art Hierarchie interpretiert werden darf. 1. Gesetzgebungsmaßnahmen: harmonisches Funktionieren des Binnenmarktes und der gemeinsamen Politiken (Landwirtschaft, Verkehr, Fischerei), bestimmte Maßnahmen in den Bereichen Soziales, Umwelt und Verbraucherschutz, insbesondere in Verbindung mit dem Binnenmarkt. Sozial- und Umweltschutzmaßnahmen in Verbindung mit dem Binnenmarkt. Der politische Wille zum Handeln ist angesichts des fortschreitenden Binnenmarktes sehr stark. Es geht nicht nur um die Beseitigung der Hemmnisse, sondern auch um die ,,Erleichterung" des freien Verkehrs oder um die Erarbeitung der die Verwirklichung des Binnenmarktes flankierenden Maßnahmen im Wege einer gemeinsamen Gesetzgebung. Instrumente sind im wesentlichen die Harmonisierung und die gegenseitige Anerkennung. Bevorzugt wird die qualifizierte Mehrheit.

2. Gemeinsame Maßnahmen: wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt, Forschung. Bei der Kohäsion ist der politische Wille ebenfalls sehr stark (Gemeinschaft "verfolgt weiterhin ihre Politik zur Stärkung ihres ... Zusammenhalts"); bei der Forschung ist er stark (,,[stärkt] die wissenschaftlichen und technologischen Grundlagen"). Instrumente sind Programme, die mit den Mitgliedstaaten oder den Unternehmen oder den Regionen auf partnerschaftlicher Basis durchgeführt werden. In diese Kategorie gehört schon heute die Zusammenarbeit in Entwicklungsfragen und künftig auch die GASP, soweit gemeinsame Aktionenfestgelegtwerden ("stufenweise Durchführung gemeinsamer Aktionen in den Bereichen, in denen wichtige gemeinsame Interessen der Mitgliedstaaten bestehen").

3. Maßnahmen als Beitrag: bestimmte sozial- und umweltpolitische Maßnahmen, transeuropäische Netze, Industriepolitik, Verbraucherschutz, Berufsbildung. Der Vertrag läßt den Gemeinschaftsorganen einen breiten Ermessensspielraum für ihr Tätigwerden. Die Handlungsinstrumente sind vielfältig, bevorzugt werden jedoch Unterstützungsprogramme.

4. Komplementäre Maßnahmen: Bildung, Kultur, Gesundheitswesen.

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Der politische Wille ist nicht sehr ausgeprägt: der Vertrag schließt die Harmonisierung ausdrücklich aus. Die Maßnahmen der Mitgliedstaaten sollen lediglich ergänzt und unterstützt werden. In einzelnen Bereichen (Fremdenverkehr, Katastrophenschutz) bestehen nur potentielle Zuständigkeiten, deren Ausübung durch Artikel 235 stark eingeengt wird.

IV. Subsidiarität und Intensität der Maßnahme Das Subsidiaritätsprinzip verleiht der Regel von der Verhältnismäßigkeit der Mittel eine allgemeine Tragweite. Konkret bedeutet Subsidiarität, daß die Gemeinschaft, wenn sie zwischen mehreren Aktionsmitteln wählen kann, bei der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeit sich für das Mittel entscheiden muß, das - bei gleicher Wirksamkeit - für Staaten, Einzelpersonen, Unternehmen am wenigsten zwingend ist. Aber Subsidiarität als Intensitätskriterium bedeutet noch mehr als das. Sie beinhaltet außerdem, daß, sollte eine zwingende Maßnahme sich als unumgänglich erweisen, diese durch ihren Inhalt nicht zu einer Überregulierung führen darf.

1. Wahl des Aktionsmittels Die Gemeinschaft verfügt über eine breite Palette von Aktionsmitteln: -

Legislativmaßnahmen unterschiedlicher Art: -

Entwicklung eines gemeinsamen Instruments (z.B. Gesellschaft europäischen Rechts) lediglich zur Ergänzung des innerstaatlichen Rechts;

-

Angleichung der Rechtsvorschriften;

-

vollständige oder punktuelle Harmonisierung oder auch Harmonisierung durch allgemeine Regeln oder detaillierte Vorschriften;

-

gegenseitige Anerkennung;

-

Empfehlungen; finanzielle Unterstützung im Rahmen von Regionalentwicklungsprogrammen (Strukturfonds) oder gemeinsamen Vorhaben via Interoperabilität (Netze);

-

Förderung der Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten (z.B. Erasmus);

-

Anreiz zum Handeln oder Nichthandeln (z.B. Vereinbarungen zwischen Sozialpartnern, bestimmte Verhaltensweisen für Unternehmen) oder auch Förderung bzw. Koordinierung privater oder öffentlicher Initiativen;

-

Beitritt zu internationalen Übereinkünften;

Dabei ist klar, daß die meisten dieser Aktionsmittel, mit Ausnahme der Gesetzgebungsmaßnahmen, auf partnerschaftlicher Basis über die Akteure der Subsidiarität zur Anwendung gelangen, d. h. über Körperschaften oder Einrichtungen, die bürgernäher sind als das gemeinschaftliche Entscheidungszentrum: Regionen, Unternehmen, Vereinigungen oder Gewerkschaften.

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Wichtigste Entscheidung mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip ist damit die zwischen einem zwingenden und einem nicht zwingenden Rechtsakt. In dieser Hinsicht sollten für eine Gesetzgebungsmaßnahme folgende Gesichtspunkte den Ausschlag geben: -

das notwendige Maß an Einheitlichkeit im Hinblick auf den angestrebten Zweck, insbesondere die Notwendigkeit der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit;

-

gegebenenfalls der Grad technischer Kompliziertheit des betreffenden Bereichs (z. B. Harmonisierung der technischen Normen nach der alten Methode);

Liegen derartige Erfordernisse nicht vor, sollte das Subsidiaritätsprinzip in folgender Weise angewandt werden: -

Bevorzugung von Programmen zur Stützung oder Koordinierung einzelstaatlicher Maßnahmen anstatt Harmonisierung der Rechtsvorschriften;

-

systematischerer Rückgriff auf Empfehlungen, wobei entsprechend der Erfahrung insbesondere für den Fall, daß der Empfehlung nicht ausreichend Folge geleistet wird, die Möglichkeit einer Reglementierung vorbehalten bleibt; zu diesem Zweck sollten die in Artikel 101 und 102 EWGV gebotenen Möglichkeiten stärker genutzt werden: danach empfiehlt die Kommission den beteiligten Staaten die zur Vermeidung einer Verzerrung geeigneten Maßnahmen, bevor sie die Rechtsvorschriften angleicht.

-

Insbesondere sollte von der Möglichkeit Gebrauch gemacht werden, in bestimmten Fällen die Ziele des Vertrags anstatt durch innergemeinschaftliche Rechtsakte durch einen Beitritt zu internationalen Übereinkünften zu erreichen. Gebietet die Subsidiarität Regelungsabstinenz nicht auch dann, wenn bereits auf internationaler Ebene mit einer der Wirksamkeit der Gemeinschaftstätigkeit vergleichbarer Effizienz gehandelt wird?

2. Intensität der Gesetzgebungsmaßnahme Falls sich eine Gesetzgebungsmaßnahme als notwendig erweist, ist nach dem Subsidiaritätsprinzip dafür Sorge zu tragen, daß die Rechtsvorschriften der Gemeinschaft und die der Mitgliedstaaten die ihnen jeweils zufallende Funktion erfüllen: Mit ihrer Gesetzgebung gibt die Gemeinschaft einen Rahmen vor, der durch die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ausgestaltet wird. Die Verfasser des Vertrags von Rom hatten zu diesem Zweck ein besonderes, für die Subsidiarität typisches Instrument ausgearbeitet - die Richtlinie, die für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, ihnen aber die Wahl der Mittel überläßt. Im Gegensatz dazu ist die Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich, gilt unmittelbar für Mitgliedstaaten, Unternehmen und Einzelpersonen und kann gegebenenfalls an die Stelle einzelstaatlicher Rechtsvorschriften treten. Bei der Verabschiedung der Einheitlichen Akte hatte die Regierungskonferenz erneut auf die Notwendigkeit hingewiesen, bei der Vollendung des ,,Raums ohne Grenzen" bevorzugt auf das Instrument der Richtlinie zurückzugreifen. Bekanntlich ist in der Praxis nicht immer deutlich zwischen Richtlinie und Verordnung unterschieden worden, wofür es teils gute Gründe (Notwendigkeit einheitlicher Vorschriften), teils schlechte Gründe (Umgehung einzelstaatlicher parlamentarischer Verfahren) gegeben hat. Festzustellen ist, daß die Richtlinie gegenüber der Verordnung kein privile-

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giertes Instrument mehr darstellt; zumeist enthalten Richtlinien ebenso detaillierte Vorschriften wie Verordnungen und lassen den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung kaum noch Handlungsfreiheit. Wenn die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zu greifbaren Ergebnissen führen soll, müssen wir wieder zu dem ursprünglichen Konzept der Richtlinie zurückkehren, d.h. zur Festlegung allgemeiner Rahmenvorschriften oder gar nur einfacher Zielvorgaben, die die Mitgliedstaaten alleinverantwortlich zu verwirklichen hätten. Aus den gleichen Überlegungen heraus müssen andere Lösungen, wie Festlegung von Mindestnormen und gegenseitige Anerkennung, bevorzugt werden. Verordnungen sollten die Ausnahme bleiben; sie sind gerechtfertigt, wenn einheitliche Vorschriften unbedingt notwendig sind, um insbesondere die Rechte und Pflichten von Einzelpersonen oder von Unternehmen zu garantieren. 3. Notwendigkeit einer Normenhierarchie Leider gibt es kein Allheilmittel gegen eine Überfrachtung der Rechtsvorschriften mit unnötigen Einzelheiten, wie das Unvermögen der meisten Mitgliedstaaten, das Übermaß der bis ins Detail gehenden Regelungen ihrer eigenen Verwaltungen einzudämmen, deutlich zeigt. Dennoch muß eine Lösung gefunden werden: Entsprechend dem Vorschlag, den die Kommission auf der Regierungskonferenz unterbreitet hat und der von dieser nur im Grundsatz angenommen wurde, liegt sie in der verfassungsmäßigen Festlegung einer echten Normenhierarchie. In einer Erklärung im Anhang zum Vertrag von Maastricht ist vorgesehen, daß ,,( ... ) die 1996 einzuberufende Regierungskonferenz prüfen wird, inwieweit es möglich ist, die Einteilung der Rechtsakte der Gemeinschaft mit dem Ziel zu überprüfen, eine angemessene Rangordnung der verschiedenen Arten von Normen herzustellen. " Würde im Gesetzgebungsverfahren ein neuer, der Verordnung übergeordneter Rechtsakt eingeführt - das Rahmengesetz -, in dem die wichtigsten Grundsätze und die für eine Maßnahme unerläßlichen Regeln im Sinne einer Richtlinie festgelegt werden, so wäre dies in mehrfacher Hinsicht vorteilhaft. Zum einen was die Demokratie betrifft, weil das Europäische Parlament dann in seiner natürlichen Funktion als Gesetzgeber gestärkt würde; daneben würde es aber auch an der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips insofern beteiligt, als die Durchführung des Gesetzes generell den einzelstaatlichen Behörden überlassen wird. Dies hätte zur Folge, daß die nationalen Parlamente wirklich Anteil am Gemeinschaftsprozeß hätten, anstatt, wie dies heute noch allzu häufig der Fall ist, bei der Umsetzung einer Rechtsvorschrift lediglich als Registrierungsinstanzen zu fungieren. Hingegen käme zur Umsetzung des Gesetzes eine Gemeinschaftsregelung nur für die Aspekte in Frage, die aus Gründen der Rechtssicherheit und der Nichtdiskrimi nierung einheitliche Vorschriften erfordern. Noch bevor die Ergebnisse einer neuen Regierungskonferenz vorliegen, sollten die bestehenden Instrumente besser eingesetzt werden, um die Gemeinschaftsgesetzgebung auf das Wesentliche zurückzuführen und den Spielraum der Mitgliedstaaten sowie der Kommission in den Fällen zu erweitern, in denen einheitliche Vorschriften erforderlich sind.

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4. Transparenz der Rechtsvorschriften Angesichts der Bedeutung der öffentlichen Diskussion über die Subsidiarität und angesichts der Notwendigkeit, die Vorschriften nicht allein für die Wirtschaftsakteure, sondern auch für die von den Gemeinschaftsvorschriften zunehmend betroffenen Bürger besser verständlich zu machen, müssen sich die Anstrengungen bereits bei der Ausarbeitung eines Vorschlags besonders auf eine klare, knappe Formulierung richten. Darüber hinaus müßte die Kodifizierung der Vorschriften in systematischer Weise erfolgen, wobei gegebenfalls, sobald mehrere Änderungen erfolgt sind, informationshalber eine Übersicht im Amtsblatt veröffentlicht werden sollte. Es geht nicht an, daß in einer Rechtsgemeinschaft Einzelpersonen und Unternehmen sich erst durch eine verwirrende Vielzahl von Vorschriften durcharbeiten müssen, um über ihre Rechte Klarheit zu gewinnen. V. Durchführung und Durchführungskontrolle Beim derzeitigen Stand des europäischen Aufbaus lassen sich hinsichtlich Durchführung und Durchführungskontrolle nur mit größter Vorsicht praktische Konsequenzen aus dem Subsidiaritätsprinzip ziehen. Angenommen, die Frage der Existenz der für die Subsidiaritätspraxis erforderlichen dezentralen Ebenen wäre bereits gelöst, dann gäbe es noch immer das Problem des Vertrauens zwischen den Organen, zwischen bestimmten Mitgliedstaaten und den Organen sowie zwischen den Mitgliedstaaten untereinander. Außerdem darf die Kommission die letzte Verantwortung für die Kontrolle nicht abgeben, wenn Mittel aus dem Gemeinschaftshaushalt bereitgestellt werden.

1. Subsidiarität und Durchführung der Gemeinschaftsmaßnahmen Bei der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Rahmen der Durchführung von Gemeinschaftsmaßnahmen stellt sich das wohlbekannte Problem der Übertragung von Durchführungsbefugnissen. Ein Beispiel dafür ist die Übertragung von Durchführungsbefugnissen durch den Rat auf die Kommission bzw. auf verschiedene Einrichtungen. Die Mitgliedstaaten werden - so ist zu hoffen - akzeptieren, daß die Durchführung bestimmter Gemeinschaftsmaßnahmen, die die Kommissionsdienststellen besonders belasten, dezentral erfolgt. Unbestreitbar bevorzugen die Mitgliedstaaten letzten Endes oft eine direkte Durchführung durch die Kommission, die sie anschließend gemeinsam kontrollieren, als daß nationale oder regionale Stellen mit der Durchführung beauftragt werden, deren Effizienz und Korrektheit sich nur schwer gemeinsam überprüfen lassen. Notwendig wäre dazu eine genaue Beschreibung der Art der zu dezentralisierenden Maßnahmen, der dezentralen Verwaltungsebenen und der Höhe der Mittel, die dafür bereitgestellt werden können.

2. Subsidiarität und Kontrolle der Durchführung Die derzeitige Lage ist unbefriedigend. Der Kommission, die als Hüterin des Gemeinschaftsrechts fungiert und die die Ausführung des Gesamthaushaltsplans zu überwachen hat, obliegt der Großteil der Kontrollen.

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Gleichwohl hat sie bereits bestimmte Kontrollaufgaben in Bereichen delegiert, die den freien Verkehr nicht gefährden: beispielsweise bei weniger wichtigen staatlichen Beihilfen sowie bei den "Schwellenwerten" für bestimmte Unternehmenszusammenschlüsse. Sie beabsichtigt, ihre Überlegungen hinsichtlich der geringfügigen Verstöße fortzusetzen. Über den "de minimis"-Grundsatz hinaus müssen jedoch stärker dezentralisierte Verfahren zur Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts eingeführt werden, um zu vermeiden, daß es zentral zu einem Befugnisstau kommt, während gleichzeitig die dezentralen Stellen handlungsunfähig werden. Die beste Lösung wäre, daß die Mitgliedstaaten bei der Prüfung der Vertragsverletzungsklagen noch enger zusammenarbeiten. Dazu müßten jedoch die innerstaatlichen Verfahren hinsichtlich der Garantien und Kosten für die Kläger hinreichend angeglichen sein. Hier sei daran erinnert, daß die Kommission zu diesem Zweck auf der Regierungskonferenz vorgeschlagen hat, daß dem von jedem Mitgliedstaat zu benennenden Mittler eine entsprechende Rolle zugewiesen wird. Denkbar wäre eine systematischere Durchführung der dezentralen Kontrollen, wie sie bereits auf dem Gebiet des "öffentlichen Auftragswesens" bestehen, wo die zuständigen einzelstaatlichen Stellen per einstweiliger Verfügung Ausschreibungsverfahren aussetzen können, die nicht den aus den Gemeinschaftsvorschriften resultierenden Transparenzund Gleichbehandlungserfordernissen entsprechen. Zu prüfen wäre auch die Möglichkeit, die Mitgliedstaaten unmittelbar für die Kontrolle der Durchführung der Gemeinschaftsvorschriften verantwortlich zu machen, beispielsweise in den Bereichen Umweltschutz oder technische Harmonisierung. Jeder Mitgliedstaat hätte den Gemeinschaftsorganen Jahresberichte zu übermitteln, wobei die Gemeinschaft sich für den Fall, daß ein Mitgliedstaat dieser Verpflichtung nicht nachkommt, das Recht vorbehielte, den Gerichtshof zu befassen und, als äußerstes Mittel, fmanzielle "Sanktionen" zu verhängen (ähnlich wie im Falle der EAGFL-Rechnungsabschlüsse oder auch Zwangsgelder gemäß Artikel 171 des Vertrags von Maastricht). Schließlich wäre es sinnvoll, in den Bereichen, in denen das gegenseitige Vertrauen besonders prekär ist, sich die Erfahrungen anderer Bereiche, beispielsweise der Eisenund Stahlindustrie in der offenkundigen Krise Ende der 70er Jahre zunutze zu machen und "gegenseitige" Kontrollen vorzusehen (seinerzeit wurde ein Ingenieur eines einzeIstaatlichen Unternehmens im Auftrag der Gemeinschaft in ein Unternehmen eines anderen Mitgliedstaates entsandt, um Hilfestellung zu leisten bei der Kontrolle des Kapazitätsabbaus und der Einhaltung von Preisen und Quoten).

VI. Die interinstitutionelle Vereinbarung als Lösung

1. Abstimmung der Erfordernisse Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips setzt voraus, daß mehrere Erfordernisse aufeinander abgestimmt werden: -

auf praktischer Ebene ist die Effizienz des gemeinschaftlichen Wirkens nach dem Prinzip "weniger, aber besser handeln" zu verbessern, auf politischer Ebene muß den Mitgliedstaaten und der öffentlichen Meinung die Gewähr geboten werden, daß die Kommission nicht beabsichtigt, überall regelnd einzugreifen,

128 -

Anhang 2 auf rechtlicher Ebene sind die Absichten in bindende Regelungen umzusetzen, auf institutioneller Ebene ist die Ausgewogenheit, insbesondere das Initiativrecht der Kommission zu wahren.

Durch eine interinstitutionelle Vereinbarung auf der Grundlage klarer Definitionen und genau abgegrenzter Zuständigkeiten könnten diese Ziele in Einklang gebracht werden, ohne das gegenwärtige institutionelle Gleichgewicht zu beeinträchtigen. Wird von der Kommission verlangt, daß sie in jedem Einzelfall den Nachweis der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips erbringt, so darf im Gegenzug bei der Prüfung ihrer Vorschläge keine Trennung zwischen Subsidiarität einerseits und dem Inhalt der behandelten Sache andererseits vorgenommen werden, damit nicht der Entscheidungsprozeß in jeder einzelnen Phase behindert wird. Die Subsidiarität darf nicht herangezogen werden, um das Entscheidungsverfahren zu blockieren; sie ist lediglich ein Entscheidungskriterium und muß zusammen mit allen anderen Elementen (Rechtsgrundlage, Bestimmungen) unter Einhaltung der für den betreffenden Vorschlag geltenden Abstimmungsregeln geprüft werden. Erst wenn das Parlament oder der Rat ,,Allgemeine Angelegenheiten" nach Prüfung eines Vorschlags der Auffassung sind, daß das Subsidiaritätsprinzip nicht beachtet wurde, sollte die Kommission ihren Vorschlag unter diesem Aspekt erneut prüfen, sofern eine ausdrückliche Aufforderung hierzu ergeht. Darüber hinaus muß der Kommission im Rahmen der interinstitutionellen Zusammenarbeit die Möglichkeit gegeben werden, "Alarm zu schlagen", wenn Abänderungen des Rates und des Parlaments gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. Zu diesem Zweck sollte auch ihr Recht anerkannt werden, Vorschläge zurückzuziehen.

2. Inhalt einer interinstitutionellen Vereinbarung Neben einer Definition des Begriffs der ausschließlichen Zuständigkeit bzw. einer Abgrenzung dieses Begriffs gegenüber den konkurrierenden Zuständigkeiten könnte diese Vereinbarung zwei Arten von Bestimmungen enthalten: a) Bestimmungen über Intensität der Gemeinschaftsaktion, d. h. die Umsetzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Unabhängig davon, ob es sich um ausschließliche oder konkurrierende Zuständigkeiten handelt, gilt für alle Bereiche folgendes: -

-

Programme zur Unterstützung und Koordinierung innerstaatlicher Maßnahmen bzw. Empfehlungen haben Vorrang vor der systematischen Harmonisierung der Rechtsvorschriften. Es wird eingehend geprüft, ob sich die Ziele des Vertrags nicht eher im Wege eines Beitritts der Gemeinschaft und / oder der Mitgliedstaaten zu internationalen Übereinkünften als durch einen gemeinschaftlichen Rechtsakt verwirklichen lassen.

-

Erweist sich ein zwingender Rechtsakt als notwendig, greift die Kommission vorrangig auf die Richtlinie, insbesondere die Rahmenrichtlinie, auf die Verfahren zur Festlegung von Mindestvorschriften, die Verfahren zur gegenseitigen Anerkennung und die durch Artikel 101 und 102 des Vertrags gebotenen Möglichkeiten zurück.

-

Besonderes Augenmerk wird auf die klare und prägnante Formulierung der Rechtsakte sowie ihre Kodifizierung gelegt.

Mitteilung der EG-Kommission

129

b) Bestimmungen über die Zusammenarbeit der Organe: -

Das Arbeitsprogramm der Kommission wird dem Parlament, dem Rat und den nationalen Parlamenten vorgelegt. Die Kommission verpflichtet sich, insbesondere den Bemerkungen der nationalen Parlamente zur Subsidiarität Rechnung zu tragen.

-

Jeder Vorschlag der Kommission an den Rat und an das Parlament enthält eine Begründung, die im Amtsblatt veröffentlicht wird, sowie einen Erwägungspunkt, in dem die Maßnahme in bezug auf die Subsidiarität begründet wird.

-

Die Prüfung, ob der Vorschlag der Kommission dem Subsidiaritätsprinzip gerecht wird, ist Teil des gesamten Prüfungsverfahrens und von diesem nicht zu trennen. Wesentliche Änderungen des Vorschlags der Kommission durch das Parlament und den Rat bedürfen einer ausdrücklichen Begründung in bezug auf das Subsidiaritätsprinzip.

-

-

Vertreten das Parlament oder der Rat (Allgemeine Angelegenheit) die Auffassung, daß der Vorschlag der Kommission dem Grundsatz der Subsidiarität nicht gerecht wird, können sie die Kommission mit entsprechender Begründung und unter Einhaltung der für die Abstimmung über den betreffenden Vorschlag geltenden Regeln bitten, ihren Vorschlag erneut zu erörtern. hn Anschluß daran setzen sie die Prüfung des Vorschlags fort.

-

Ist die Kommission der Auffassung, daß die an ihrem Vorschlag vorgenommenen Änderungen gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen, erstellt sie einen entsprechenden Bericht an den Rat (Allgemeine Angelegenheiten) und an das Parlament; gegebenenfalls zieht sie ihren Vorschlag zurück.

9 Merten

Anhang 3

Memorandum der Regierung der Bundesrepublik Deutschland zum Subsidiaritätsprinzip Der Vertrag über die Europäische Union sieht vor, daß das Subsidiaritätsprinzip in Artikel 3 b des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft (EGV) verankert wird. Im Hinblick darauf hat der Europäische Rat in Lissabon beschlossen, daß Rat und Kommission dem Europäischen Rat in Edinburgh Berichte darüber vorlegen sollen, wie das Subsidiaritätsprinzip angewandt werden kann. Für den Rat stellt sich somit die Aufgabe, verfahrenstechnische und praktische Maßnahmen zur Umsetzung des Grundsatzes der Subsidiarität zu prüfen. Die Bundesregierung übermittelt daher dem Rat als Beitrag zu dem von ihm zu erstellenden Bericht die folgenden Überlegungen.

I. Allgemeine Bemerkungen 1. Die Bundesregierung unterstreicht die große Bedeutung, die sie dem Subsidiaritätsprinzip für die weitere Entwicklung der Gemeinschaft im Rahmen der Europäischen Union beimißt. Als Rechtsprinzip und als politische Leitidee wird das Subsidiaritätsprinzip eine wichtige Rolle für die künftige Gestaltung der Gemeinschaft im Rahmen der Europäischen Union spielen. Es führt zu einer sinnvollen Abgrenzung der Aufgaben der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten und ist daher von den Gemeinschaftsorganen bei der Aufgabe, die Ziele des Vertrages zu verwirklichen, in allen Tätigkeitsbereichen der Gemeinschaft zu beachten. Das Subsidiaritätsprinzip ist nach Auffassung der Bundesregierung als Rechtsprinzip justitiabel.

Das Subsidiaritätsprinzip dient dem Ziel, daß die Entscheidungen in der Europäischen Union möglichst bürgernah getroffen werden und die nationale Identität der Mitgliedstaaten und ihrer Regierungssysteme gewahrt bleibt. Damit steht es in unmittelbarem Zusammenhang mit den Artikeln A und F des Vertrages über die Europäische Union. Die Mitgliedstaaten ihrerseits müssen sich dabei gemäß Artikel 5 EGV an den Zielen der Gemeinschaft ausrichten. Insbesondere ist das Subsidiaritätsprinzip geeignet, die Akzeptanz des Integrationsprozesses bei den Bürgern entscheidend zu erhöhen und zu verstärken. Die Gemeinschaft wird hierdurch nicht geschwächt, sondern gestärkt. Allerdings darf die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips nicht dazu führen, daß der Integrationsprozeß in Frage

Memorandum der Bundesregierung

131

gestellt und in seiner weiteren Entwicklung behindert wird. Nach dem Verständnis der Bundesregierung schließt der Begriff der Subsidiarität auch die Wahrung der Rechte und Zuständigkeiten der Sozialpartner sowie der Rechte von Gemeinden und Gemeindeverbänden zur Regelung der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft mit ein. 2. Das Subsidiaritätsprinzip ist ein bewährtes Handlungsprinzip jeder gegliederten staatlichen Ordnung. Seine bestimmungsgemäße Anwendung ist ein Beitrag zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt der Gemeinschaft. Denn es gewährleistet eine höhere Wirtschaftlichkeit und Effizienz der Maßnahmen, da Informationsprobleme und -kosten der zentralen Gestaltung von Politik und der Verwaltungsaufwand verringert werden. Die Berücksichtigung nationaler bzw. regionaler Bedürfnisse und Präferenzen trägt in den verschiedenen Politikbereichen wesentlich zur Wohlstandssteigerung bei. Vielfach können die erforderlichen Maßnahmen durch Unternehmen und private Initiative getroffen werden. 3. Das Subsidiaritätsprinzip liegt den EG-Verträgen bereits in ihrer bisherigen Fassung zugrunde. Durch die ausdrückliche Verankerung in Artikel 3 b Absatz 2 EGV im Ersten Teil des EG-Vertrages "Grundsätze" hat es für künftige Tätigkeit der Gemeinschaft jedoch eine neue Qualität als Rechtsnorm erhalten; es gilt als allgemeiner Rechtsgrundsatz für alle Bereiche der Gemeinschaftstätigkeit. Unbeschadet der Kompetenzen der Kommission nach Artikel 155 und 169 EWG-V ist das Prinzip von allen Gemeinschaftsorganen bei ihrem Handeln zu beachten, und zwar sowohl bei der Rechtsetzung in engerem Sinne, bei der Entwicklung der Gemeinschaftspolitiken und bei deren Finanzierung als auch bei der verwaltungsmäßigen Durchführung und bei der Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts. Die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips wird dabei allerdings den spezifischen Gegebenheiten in den einzelnen Politikbereichen Rechnung tragen müssen. Nach dem Wortlaut von Artikel 3 b Absatz 2 EGV gilt das Subsidiaritätsprinzip für Maßnahmen in den Bereichen, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen. Auch solche Maßnahmen sind - ebenso wie Maßnahmen aufgrund einer ausschließlichen Gemeinschaftszuständigkeit - außerdem am Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Artikel 3 b Absatz 1) und am Prinzip der Erforderlichkeit (Artikel 3 b Absatz 3) zu messen. 4. Bei den Überlegungen zur praktischen Anwendung des Subsidiaritätsprinzips muß vom Aufbau der Regelung in Artikel 3 b EGV ausgegangen werden: -

Artikel 3 b Absatz 2 EGV mißt die Ausübung der Gemeinschaftskompetenzen zunächst an den Möglichkeiten der Mitgliedstaaten. Danach wird die Gemeinschaft nämlich nur tätig, "sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können". Das heißt, daß im Bereich nicht ausschließlicher Kompetenzen prioritär die Mitgliedstaaten tätig werden sollen. 9*

132

Anhang 3

-

Erst wenn Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichen, um die Ziele der Gemeinschaft in angemessener Weise zu erreichen, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob die Maßnahmen wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.

-

Die beiden Kriterien sind durch das Wort "daher" verbunden; damit wird zum Ausdruck gebracht, daß das im zweiten Anstrich genannte Kriterium nur unter der Voraussetzung zu prüfen ist, daß das im ersten Anstrich genannte Kriterium erfüllt ist.

Die Bundesregierung hält es daher für unerläßlich, daß die Gemeinschaftsorgane in jedem Einzelfall- d. h. für jede einzelne Maßnahme gesondert - begründen, daß die Kriterien des Subsidiaritätsprinzips tatsächlich erfüllt sind, nämlich -

daß Maßnahmen auf mitgliedstaatlicher Ebene zur Zielverwirklichung nicht ausreichen,

-

daß durch Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene die Ziele der Gemeinschaft besser erreicht werden.

Diese Begründungspflicht der Gemeinschaft betrifft nicht nur das "Ob", sondern auch das "Wie" ihres Tätigwerdens. Dabei muß auf die Wirkungen eines Gemeinschaftshandelns auf diejenigen abgestellt werden, denen die Maßnahme letztlich nützen soll. Im Hinblick darauf hält es die Bundesregierung für notwendig, daß Kriterien und Verfahren für die Prüfung eines Tätigwerdens der Gemeinschaft im konkreten Einzelfall entwickelt werden. Andernfalls besteht die Gefahr, daß verfahrensmäßige Vorkehrungen, mit denen die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in der Praxis gewährleistet werden sollen, sich nicht als wirksam erweisen. 11. Das Subsidiaritätsprinzip in der Rechtsetzung 1. Das Subsidiaritätsprinzip ist in der Rechtsetzung zu beachten, wenn die Gemeinschaft von bestehenden nichtausschließlichen Kompetenzen Gebrauch machen will. a) Dabei ist zunächst zu prüfen, ob überhaupt eine Regelung auf Gemeinschaftsebene erlassen werden sollte. Insoweit bedeutet das Subsidiaritätsprinzip, daß die Gemeinschaft flexible Lösungen anstreben muß. b) Sie muß auch eine Rechtsform wählen, die auf die besonderen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten Rücksicht nimmt und ihnen einen ausreichenden Spielraum geben. Der Gemeinschaft steht insoweit ein breites Spektrum von Verhandlungsformen zur Verfügung. Daher muß die Gemeinschaft bei verbindlichen Rechtsakten stets prüfen, ob nicht Richtlinien der Vorzug vor Verordnungen zu geben ist; sie kann sich vielfach aber auch auf eine Koordinierung bzw. Vorschriften zur gegenseitigen Anerkennung nationaler Regelungen beschränken oder auf nicht-verbindliche Akte zurückgreifen.

Memorandum der Bundesregierung

133

c) Auch Regelungsumfang und Regelungsintensität bedürfen einer sorgfaltigen Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität. Vielfach wird es genügen, Rahmen- oder Mindestvorschriften zu erlassen. Vorschriften mit besonders großem Detailliertheitsgrad bedürfen einer besonderen Begründung. In manchen Bereichen kann sich die Gemeinschaft u. U. auf Empfehlungen, Untersuchungen und Stellungnahmen beschränken. 2. Im Anwendungsbereich horizontaler (funktioneller) Kompetenzen - z. B. im Rahmen der Harmonisierung aufgrund der Artikel 57, 66, 100 und 100 a sowie in Fällen des Artikels 235 EG-Vertrag - kann die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips in bestimmten Sachgebieten vielfach dazu führen, daß Maßnahmen auf mitgliedstaatlicher Ebene ausreichen; dies gilt z.B. für die Sozial-, Bildungs-, Kultur- und Gesundheitspolitik. 3. Zum Subsidiaritätsprinzip gehört auch die Abwägung, ob überhaupt Maßnahmen auf staatlicher (einschließlich EG-)Ebene erforderlich sind. Die Bundesregierung verweist insoweit besonders auf die wichtige Rolle der Sozialpartner, der Wohlfahrtseinrichtungen und sonstiger privater Organigationen bei der Gestaltung der gesellschaftlich-sozialen Verhältnisse.

111. Das Subsidiaritätsprinzip bei der Entwicklung der Gemeinschaftspolitiken und bei EG-Fördermaßnahmen 1. Die Tätigkeitsformen der Gemeinschaft bei der Entwicklung der Gemeinschaftspolitiken sind in den einzelnen Politikbereichen unterschiedlich ausgestaltet. Bei den vom Vertrag über die Europäische Union neu vorgesehenen Politiken ist die Tätigkeit der Gemeinschaft im wesentlichen darauf beschränkt, "Beiträge" zu leisten, um die Politik der Mitgliedstaaten zu unterstützen und zu ergänzen. Sie muß insoweit darauf achten, daß sie die eigenständigen Gestaltungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten bei der Verfolgung ihrer Politik in diesen Bereichen nicht beeinträchtigt. Soweit ihr der Vertrag nicht ausdrücklich Kompetenzen dafür zuweist, sollte die Gemeinschaft die Planung und Durchführung einzelner Maßnahmen den Mitgliedstaaten überlassen. 2. Im Rahmen ihrer Politik des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts (Kohäsion) unterstützt die Gemeinschaft die Mitgliedstaaten bei der Erreichung der gesetzten Ziele (Artikel 130 a und 130 b). Das Subsidiaritätsprinzip verlangt einen angemessenen Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten und ihrer Regionen im Bereich der Strukturpolitik der Gemeinschaft. Dies bedeutet, daß die Gemeinschaft im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die EG-Strukturfonds nur einen allgemeinen Ordnungsrahmen setzt, der auf der Ebene der Mitgliedstaaten und Regionen ausgefüllt wird. 3. Auch bei der Ausführung von Gemeinschaftsprogrammen sollte sich die Gemeinschaft auf die Fachbehörden und sonstigen Einrichtungen der Mitglied-

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Anhang 3

staaten stützen und nur in eng begrenztem Umfang selbst verwaltend tätig werden. Bei der Entwicklung der Programme sollten in allen Verfahrensphasen Fachleute aus den Mitgliedstaaten herangezogen werden. 4. Der Finanzierungsaspekt bei Gemeinschaftsmaßnahrnen ist wegen der finanziellen Eigenverantwortlichkeit der Mitgliedstaaten bei jedem Rechtsakt als eigenständiges Kriterium der Subsidiarität zu prüfen.

IV. Das Subsidiaritätsprinzip bei der Durchführung von Gemeinschaftsrecht 1. Die legislative Durchführung von Rechtsakten durch den Rat bzw. aufgrund einer Ermächtigung des Rates durch die Kommission bedarf im Lichte des Subsidiaritätsprinzips in jedem Einzelfall einer besonderen Begründung. Daher ist jeweils zu prüfen, ob solche Durchführungsmaßnahmen nicht den Mitgliedstaaten zu überlassen sind.

Durchführungsbefugnisse des Rates und auf eine Ratsermächtigung gestützte Befugnisse der Kommission, Durchführungsvorschriften zu erlassen, sollten auf das für eine EG-weite Anwendung der in Betracht gezogenen Maßnahmen unbedingt erforderliche Maß beschränkt werden. 2. Die verwaltungsmäßige Durchführung der Gemeinschaftsrechtsakte ist vom Grundsatz her Sache der Mitgliedstaaten. Die Gemeinschaft sollte nicht zu einer weiteren Verwaltungsebene neben derjenigen der Mitgliedstaaten und der Regionen bzw. Kommunen ausgebaut werden, die Aufgaben zentral wahrnimmt, die von den Mitgliedstaaten ausreichend wahrgenommen werden können. Das gilt auch für Einrichtungen außerhalb der Kommission (,,Agenturen" und ,,Netzwerke"). Gerade im Bereich der Verwaltung können Bürgernähe und Akzeptanz der Maßnahmen am besten erreicht werden, wenn die Aufgabenerfüllung in der Hand regionaler und örtlicher Behörden liegt. Dies schließt nicht aus, daß im Einzelfall Durchführungsmaßnahmen auf Gemeinschaftsebene erfolgen können, wo dies aufgrund der Notwendigkeit einer einheitlichen Regelung gerechtfertigt ist. 3. Für die Durchführung des Gemeinschaftsrechts und der Gemeinschaftspolitiken sollte den Mitgliedstaaten ein ausreichend großer Spielraum belassen werden, um die Gemeinschaftsvorschriften gemäß ihrem Verwaltungssystem durchzuführen. Durchführungsvorschriften sollte die Gemeinschaft nur erlassen, soweit zwingender Bedarf für eine einheitliche Regelung besteht.

V. Das Subsidiaritätsprinzip bei Kontrollmaßnahmen der Gemeinschaft 1. Nachprüfungen vor Ort durch Gemeinschaftsbedienstete (einschließlich "Inspektorate") sollten sich auf besondere Bereiche (z.B. Eigenmiuel) beschränken und müssen in enger Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten erfolgen.

Memorandum der Bundesregierung

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2. Die Kommission sollte sich auf die Kontrolle der Umsetzung von Maßnahmen der Gemeinschaft durch die Mitgliedstaaten konzentrieren und in der Regel nur solche Einzelfälle im Hinblick auf Vertragsverletzungsverfahren aufgreifen, die eine generelle Bedeutung haben. 3. Auch die Beihilfenkontrolle darf nicht über das zur Erreichung der Ziele des Vertrages erforderliche Maß hinausgehen. Sie muß sich deshalb auf Beihilfen beschränken, die den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, soweit sie den Handel beeinträchtigen.

VI. Konkrete Maßnahmen Um die praktische Wirksamkeit des Subsidiaritätsprinzips sicherzustellen, regt die Bundesregierung an, daß sich das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission im Wege einer gemeinsamen politischen Erklärung verpflichten, das Subsidiaritätsprinzip im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten und Verfahren nach möglichst einheitlichen Grundsätzen anzuwenden und dies in ihren Geschäftsordnungen festzulegen. Die Bundesregierung geht davon aus, daß der Regionalausschuß es als seine besondere Aufgabe ansehen wird, die Vorschläge für Maßnahmen der Gemeinschaft unter dem Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips zu prüfen.

Anhang 4

Europäischer Rat in Edinburgh Tagung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft am 11. -12. Dezember 1992 Schlußfolgerungen des Vorsitzes

*

Teil A Einleitung 1. Der Europäische Rat ist am 11. /12. Dezember 1992 in Edinburgh zusammengetreten, um die zentralen Probleme zu erörtern, die auf der Tagesordnung der Gemeinschaft stehen. Vor der Tagung fand ein Gedankenaustausch zwischen den Mitgliedern des Europäischen Rates und dem Präsidenten des Europäischen Parlaments über die verschiedenen Themen der Tagesordnung statt. 2. Der Europäische Rat gelangte zu Lösungen für eine sehr große Zahl von Themen, die für den Fortschritt in Europa wesentlich sind. Damit wird der Weg für die Wiederherstellung des Vertrauens der Bürger in das europäische Aufbauwerk geebnet und auch ein Beitrag zum Wiederaufschwung der europäischen Wirtschaft geleistet. Im einzelnen erzielte der Europäische Rat eine Einigung über folgende wichtige Themen: -

die Probleme Dänemarks angesichts des Ergebnisses des dänischen Referendums vom 2. Juni 1992 über den Maastrichter Vertrag,

-

Leitlinien zur Durchführung des Subsidiaritätsprinzips und Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz und der Offenheit beim Entscheidungsprozeß der Gemeinschaft,

-

die Finanzierung der Tätigkeit und der Politiken der Gemeinschaft in den restlichen Jahren dieses Jahrzehnts,

-

die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit einigen EFTA-Ländern,

-

die Erarbeitung eines Aktionsplans der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft zur Förderung des Wachstums und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

* Bulletin der Bundesregierung Nr. 140/S. 1277

vom 28.12.1992.

Stellungnahme von Edinburgh

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Vertrag über die Europäische UnionStand des RatiJikationsprozesses 3. Die Mitglieder des Europäischen Rates bekräftigten ihr Festhalten am Vertrag über die Europäische Union. Die RatifIkation ist notwendig, damit Fortschritte auf dem Weg zur Europäischen Union erzielt werden können und damit die Gemeinschaft auf ihren Erfolgen der letzten vier Jahrzehnte aufbauend weiter ein Stabilitätsanker in einem sich rasch wandelnden Kontinent bleiben kann. 4. Nach Prüfung des Stands des RatifIkationsprozesses billigte der Europäische Rat die in Teil B wiedergegebenen Texte zu den Fragen, die Dänemark in seinem Memorandum "Dänemark in Europa" vom 30. Oktober 1992 aufgeworfen hat. Dies wird die Grundlage für die gemeinsame Weiterentwicklung der Gemeinschaft auf der Grundlage des Maastrichter Vertrags schaffen, wobei - wie dies auch im Vertrag der Fall ist - die Identität und die Verschiedenheit der Mitgliedstaaten zu respektieren sind.

Subsidiarität 5. Der Europäische Rat einigte sich auf der Grundlage eines Berichts der Außenminister über das in Anlage 1 wiedergegebene Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des neuen Artikels 3 b. Der Europäische Rat ersuchte den Rat, eine interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission über die effektive Anwendung des Artikels 3 b durch alle Organe anzustreben. Der Europäische Rat erörterte diesen Aspekt mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments. Er begrüßte die Ideen in dem vom Europäischen Parlament vorgelegten Entwurf einer interinstitutionellen Vereinbarung. 6. Dem Europäischen Rat wurde vom Präsidenten der Kommission ein Bericht über die ersten Ergebnisse der von der Kommission im Lichte des Subsidiaritätsprinzips vorgenommenen Überprüfung der bestehenden und vorgeschlagenen Rechtsvorschriften unterbreitet. Die betreffenden Beispiele sind in Anlage 2 dargelegt. Der Europäische Rat nahm zur Kenntnis, daß die Kommission beabsichtigt, einige Vorschläge zurückzuziehen oder zu ändern und Vorschläge zur Änderung einiger Punkte bestehender Vorschriften zu machen. Er sieht dem Schlußbericht über die Überprüfung der bestehenden Rechtsvorschriften entgegen, den die Kommission für die Tagung des Europäischen Rates im Dezember 1993 erstellen wird.

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Anhang 4

Anlage 1 Gesamtkonzept für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Artikels 3 b des Vertrags über die Europäische Union durch den Rat I. Grundprinzipien Die Europäische Union beruht auf dem Subsidiaritätsprinzip, wie in den Artikeln A und B des Titels I des Vertrags über die Europäische Union dargelegt ist. Dieses Prinzip trägt dazu bei, daß die nationale Identität der Mitgliedstaaten gewahrt und ihre Befugnisse erhalten bleiben. Es bezweckt, daß Beschlüsse im Rahmen der Europäischen Union so bürgernah wie möglich gefaßt werden. 1. Artikel 3 b des EG-Vertrags besteht aus drei Hauptelementen: -

einer strikten Grenze für das Tätigwerden der Gemeinschaft (Absatz 1);

-

einer Regel (Absatz 2) zur Beantwortung der Frage: "Soll die Gemeinschaft tätig werden?" Dies gilt für Bereiche, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen;

-

einer Regel (Absatz 3) zur Beantwortung der Frage: "In welchem Maße und auf welche Weise soll die Gemeinschaft tätig werden?" Dies gilt unabhängig davon, ob die Maßnahme unter die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fällt oder nicht.

2. Die drei Absätze entsprechen drei verschiedenen Rechtsgrundsätzen, die Vorläufer in den bestehenden Gemeinschaftsverträgen bzw. in der Rechtssprechung des Gerichtshofs haben: i) Der Grundsatz, daß die Gemeinschaft nur dann handeln kann, wenn ihr hierzu die Befugnis erteilt wurde - demnach ist die Befugnis der einzelnen Staaten die Regel und die der Gemeinschaft die Ausnahme - , war schon immer ein grundlegendes Merkmal der Rechtsordnung der Gemeinschaft (Prinzip der Zuweisung von Befugnissen). ii) Der Grundsatz, daß die Gemeinschaft nur dann tätig werden soll, wenn ein Ziel besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedstaaten, ist im Ansatz oder implizite in einigen Bestimmungen des EGKSVertrags und des EWG-Vertrags enthalten; in der Einheitlichen Europäischen Akte wird dieser Grundsatz für den Umweltbereich aufgestellt (Subsidiaritätsprinzip im streng rechtlichen Sinn).

iii) Der Grundsatz, daß die von der Gemeinschaft einzusetzenden Mittel im Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen sollen, ist Gegenstand einer fest etablierten Rechtsprechung des Gerichtshofs, deren Reichweite allerdings begrenzt ist und die ohne die Grundlage eines besonderen Artikels im Vertrag entwickelt wurde (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder Intensität).

3. Der Vertrag über die Europäische Union definiert diese Grundsätze ausdrücklich und gibt ihnen eine neue rechtliche Bedeutung, -

indem er sie in Artikel 3 b als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts darstellt;

-

indem er das Subsidiaritätsprinzip zu einem Grundprinzip der Europäischen Union erklärt;

Stellungnahme von Edinburgh -

139

indem er den Gedanken der Subsidiarität in mehreren neuen Vertragsartikeln zum Ausdruck bringt.

4. Bei der Durchführung des Artikels 3 b sollte nach folgenden Grundsätzen verfahren werden: -

Die erfolgreiche Anwendung des Subsidiaritätsprinzips und des Artikels 3 b ist eine Verpflichtung für alle Organe der Gemeinschaft, ohne daß dadurch das Gleichgewicht zwischen ihnen berührt werden darf.

Zu diesem Zweck ist eine Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission im Rahmen des interinstitutionellen Dialogs zwischen diesen Organen anzustreben. -

Das Subsidiaritätsprinzip berührt nicht die Befugnisse, über die die Europäische Gemeinschaft aufgrund des Vertrags entsprechend der Auslegung des Gerichtshofs verfügt, und es darf diese Befugnisse nicht in Frage stellen. Es ist eine Richtschnur dafür, wie diese Befugnisse auf Gemeinschaftsebene, nicht zuletzt bei der Anwendung des Artikels 235, auszuüben sind. Das Prinzip muß unter Beachtung der allgemeinen Bestimmungen des Maastrichter Vertrags einschließlich der "vollen Wahrung des gemeinschaftlichen Besitzstandes" angewandt werden, und es darf weder den Vorrang des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen noch den in Artikel F Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegten Grundsatz, daß sich die Union mit den Mitteln ausstattet, die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihrer Politiken erforderlich sind, in Frage stellen.

-

Die Subsidiarität ist ein dynamischer Grundsatz, der im Licht der Vertragsziele angewandt werden sollte. Sie gestattet eine Ausweitung der Tätigkeit der Gemeinschaft, wenn die Umstände es verlangen, und umgekehrt auch deren Beschränkung oder Aussetzung, wenn sie nicht mehr gerechtfertigt ist.

-

Kommt aufgrund des Subsidiaritätsprinzips ein Tätigwerden der Gemeinschaft nicht in Frage, so müssen die Mitgliedstaaten bei ihren Tätigkeiten dennoch den allgemeinen Vorschriften des Artikels 5 des Vertrags genügen, indem sie alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus dem Vertrag treffen und alle Maßnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele des Vertrags gefahrden könnten, unterlassen.

-

Das Subsidiaritätsprinzip kann nicht als unmittelbar wirksam betrachtet werden; allerdings werden die Auslegung dieses Prinzips wie auch die Überprüfung seiner Einhaltung durch die Gemeinschaftsorgane vom Gerichtshof überwacht, soweit Bereiche betroffen sind, die unter den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft fallen.

-

Die Absätze 2 und 3 des Artikels 3 b gelten nur insofern, als der Vertrag es dem jeweiligen Organ überläßt, ob es tätig werden will und / oder auf welche Weise und in welchem Umfang es tätig wird. Je genauer eine Aufgabe durch den Vertrag definiert wird, desto weniger Raum bleibt für die Subsidiarität. Aufgrund des Vertrags haben die Gemeinschaftsorgane eine Reihe spezifischer Verpflichtungen, beispielsweise in bezug auf die Umsetzung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts, die Wettbewerbspolitik sowie den Schutz der Gemeinschaftsmittel. Diese Verpflichtungen werden von Artikel 3 b nicht berührt: Insbesondere kann das Subsidiaritätsprinzip nichts daran ändern, daß im Rahmen von Gemeinschaftsmaßnahmen angemessene Vorsorge dafür getroffen werden muß, daß die Kommission und die Mitgliedstaaten eine

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Anhang 4 korrekte Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherstellen und ihren Verpflichtungen zur Sicherung der Gemeinschaftsausgaben nachkommen.

-

Wird die Gemeinschaft auf Gebieten gemischter Zuständigkeit tätig, so ist die Art der zu treffenden Maßnahmen fallweise unter Berücksichtigung der einschlägigen Vertragsbestimmungen festzulegen.

11. Leitlinien Entsprechend den oben dargelegten Grundprinzipien sollten bei der Prüfung der Frage, ob ein Vorschlag für eine Gemeinschaftsmaßnahme mit Artikel 3 b in Einklang steht, die folgenden, den einzelnen Absätzen des Artikels 3 b entsprechenden Leitlinien herangezogen werden. Absatz 1 (Grenze für das Tätigwerden der Gemeinschaft) Die Erfüllung der Kriterien dieses Absatzes ist eine Bedingung für jedes Tätigwerden der Gemeinschaft. Um diesen Absatz korrekt anzuwenden, müssen sich die Organe davon überzeugt haben, daß die in Betracht gezogene Maßnahme innerhalb der Grenzen der in dem Vertrag zugewiesenen Befugnisse liegt und mit ihr eines oder mehrere der durch den Vertrag gesetzten Ziele erreicht werden sollen. Bei der Prüfung des Entwurfs der Maßnahme muß festgestellt werden, welches Ziel damit erreicht werden soll, ob sich die Maßnahme in bezug auf eines der Ziele des Vertrags begründen läßt und ob die für die Annahme erforderliche Rechtsgrundlage gegeben ist. Absatz 2 (Soll die Gemeinschaft tätig werden?) i) Dieser Absatz fmdet keine Anwendung in Bereichen, die unter die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft fallen. Damit ein Tätigwerden der Gemeinschaft gerechtfertigt ist, muß dem Rat der Nachweis erbracht werden, daß die beiden Anforderungen des Subsidiaritätskriteritims erfüllt sind: die jeweiligen Ziele der vorgeschlagenen Maßnahmen können auf der Ebene der Mitgliedstaaten durch deren Tätigwerden nicht ausreichend verwirklicht und daher besser durch Tätigwerden seitens der Gemeinschaft erreicht werden. ii) Folgende Leitlinien sollten bei der Prüfung der Frage, ob die obengenannte Bedingung erfüllt ist, zugrunde gelegt werden: -

Die zur Prüfung vorliegende Frage hat transnationale Aspekte, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht zufriedenstellend geregelt werden können, und / oder

-

Maßnahmen der Mitgliedstaaten allein oder das Fehlen gemeinschaftlicher Maßnahmen würden zu den Erfordernissen des Vertrags im Widerspruch stehen (beispielsweise zu dem Erfordernis, Wettbewerbsverzerrungen zu beheben oder verschleierte Handelsbeschränkungen zu vermeiden oder den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt zu stärken) oder in anderer Weise die Interessen der Mitgliedstaaten erheblich beeinträchtigen, und / oder dem Rat muß der Nachweis erbracht werden, daß Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene aufgrund ihrer Größenordnung oder ihrer Auswirkungen im Verhältnis zu einem Tätigwerden auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Vorteile erbringen würden.

-

iii) Die Gemeinschaft sollte nur dann tätig werden, um einzelstaatliche Rechtsvorschriften, Vorschriften und Normen zu harmonisieren, wenn dies zur Erreichung der Vertragsziele erforderlich ist.

Stellungnahme von Edinburgh

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iv) Das Ziel, gegenüber Drittstaaten einen einheitlichen Standpunkt der Mitgliedstaaten zu vertreten, reicht für sich genommen nicht aus, um innergemeinschaftliche Maßnahmen in dem betreffenden Bereich zu begründen. v) Die Feststellung, daß ein Gemeinschaftsziel von den Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklicht und somit besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann, muß auf qualitativen oder - soweit möglich - auf quantitativen Kriterien beruhen. Absatz 3 (Art und Umfang der Maßnahmen der Gemeinschaft)

i) Dieser Absatz findet auf alle Maßnahmen der Gemeinschaft Anwendung, unabhängig davon, ob die betreffenden Bereiche unter ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen oder nicht. ii) Die finanzielle oder administrative Belastung der Gemeinschaft, der Regierungen der Mitgliedstaaten, der örtlichen Behörden, der Wirtschaft und der Bürger muß so gering wie möglich gehalten werden und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen. iii) Gemeinschaftsmaßnahmen sollten den Mitgliedstaaten soviel Entscheidungsspielraum einräumen, wie sich mit der Gewährleistung des Ziels der Maßnahme und der Einhaltung der Bestimmungen des Vertrags vereinbaren läßt. Dabei wäre gleichzeitig Sorge dafür zu tragen, daß auch bewährte einzel staatliche Regelungen sowie die Struktur und das Funktionieren der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten beachtet werden. Vorbehaltlich des Erfordernisses einer ordnungsgemäßen Durchführung sollten die Maßnahmen der Gemeinschaft den Mitgliedstaaten alternative Möglichkeiten bieten, um die Ziele der Maßnahmen zu erreichen. iv) Erweist es sich als notwendig, auf Gemeinschaftsebene bestimmte Normen festzulegen, so sollten Mindestnormen in Erwägung gezogen werden; dabei wäre den Mitgliedstaaten freigestellt, selbst höhere Normen festzulegen, und zwar nicht nur in Bereichen, in denen der Vertrag dies erfordert (Artikel 118 a und 130 t), sondern auch in anderen Bereichen, soweit dies mit den Zielen der vorgeschlagenen Maßnahme oder dem Vertrag vereinbar ist. v) Für die Maßnahme ist eine möglichst einfache Form zu wählen, dabei muß jedoch darauf geachtet werden, daß das Ziel der Maßnahme in zufriedenstelIender Weise erreicht wird und die Maßnahme tatsächlich zur Anwendung gelangt. Die Rechtsetzungstätigkeit der Gemeinschaft sollte über das erforderliche Maß nicht hinausgehen. Dementsprech~nd~ wäre unter sonst gleichen Gegebenheiten eine Richtlinie einer Verordnung und eine Rahmenrichtlinie einer detaillierten Maßnahme vorzuziehen. Gegebenenfalls sollten Maßnahmen, die nicht rechtsverbindlich sind, wie beispielsweise Empfehlungen der Vorzug gegeben werden. Ferner sollte überlegt werden, ob nicht fakultative Verhaltenskodizes zweckmäßig wären. vi) Wo es nach dem Vertrag angebracht ist und sofern seine Ziele damit erreicht werden können, sollten bei der Wahl der Gemeinschaftsmaßnahmen solche Maßnahmen bevorzugt werden, mit denen die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten gefördert wird und die die Maßnahmen der Mitgliedstaaten koordinieren, ergänzen, vervollständigen oder unterstützen. vii) Bei örtlich begrenzten Schwierigkeiten, die nur bestimmte Mitgliedstaaten betreffen, sollten die erforderlichen Maßnahmen der Gemeinschaft nicht auf andere Mitgliedstaaten ausgedehnt werden, es sei denn, dies ist zur Erreichung eines Vertragsziels erforderlich.

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Anhang 4

ßI. Verfahren und Praxis Nach dem Vertrag über die Europäische Union sind alle Organe verpflichtet, bei der Prüfung von Gemeinschaftsmaßnahmen darauf zu achten, daß Artikel 3 beingehalten wird. Zu diesem Zweck werden - unbeschadet einer künftigen interinstitutionellen Vereinbarung - folgende Verfahren und Praktiken im Rahmen der in Abschnitt 11 aufgeführten Grundprinzipien angewandt. a) Kommission Der Kommission kommt aufgrund ihres im Vertrag verankerten Initiativrechts eine Schlüsselrolle bei der wirksamen Durchführung des Artikels 3 b zu; ihr Initiativrecht wird durch die Anwendung dieses Artikels nicht in Frage gestellt. Die Kommission hat mitgeteilt, daß sie vor der Unterbreitung von Vorschlägen für Rechtsvorschriften umfassendere Konsultationen durchführen wird; dies könnte Konsultationen mit allen Mitgliedstaaten und eine systematischere Verwendung von Konsultationsunterlagen (Grünbüchern) einschließen. In die Konsultationen könnten auch die Subsidiaritätsaspekte eines Vorschlags einbezogen werden. Die Kommission hat auch klargestellt, daß sie künftig nach dem Verfahren, das entsprechend der auf der Tagung des Europäischen Rates in Lissabon eingegangenen Verpflichtung festgelegt wurde, in einem Erwägungsgrund die Relevanz ihrer Initiative unter dem Aspekt des Subsidiaritätsprinzips rechtfertigen wird. Falls erforderlich, werden in der Begründung des Vorschlags nähere Einzelheiten dazu gegeben, welche Überlegungen die Kommission im Zusammenhang mit Artikel 3 b angestellt hat. Es ist wichtig, daß die Kommission die Einhaltung des Artikels 3 b bei allen ihren Tätigkeiten generell überwacht, und die Kommission hat entsprechende Vorkehrungen getroffen. Die Kommission wird dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament über den Rat "Allgemeine Angelegenheiten" einen jährlichen Bericht über die Anwendung des Vertrags auf diesem Gebiet vorlegen. Dieser Bericht wird wiederum einen wertvollen Beitrag zu den Beratungen über den jährlichen Bericht darstellen, den der Europäische Rat dem Europäischen Parlament über die Fortschritte der Union zu erstatten hat (siehe Artikel D des Vertrags über die Europäische Union).

b) Rat

Mit dem Inkrafttreten des Vertrags wendet der Rat nachstehendes Verfahren an. In der Zwischenzeit orientiert sich der Rat bei seiner Arbeit daran. Die Prüfung der Übereinstimmung einer Maßnahme mit Artikel 3 b sollte regelmäßige Übung werden; sie sollte Bestandteil der Gesamtprüfung eines Kommissionsvorschlags werden und sich auf den Kern des Vorschlags stützen. Die einschlägigen Regeln des Rates, einschließlich der Abstimmungsregeln, finden auch auf diese Prüfung Anwendung. Die Prüfung schließt ein, daß der Rat (ausgehend von der Prüfung der Erwägungsgründe und der Begründung der Kommission) selber beurteilt, ob der Kommissionsvorschlag völlig oder teilweise im Einklang mit Artikel 3 b steht und ob dies auch bei Änderungen,

Stellungnahme von Edinburgh

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die der Rat in Betracht zieht, der Fall ist. Die Entscheidung des Rates zu den Subsidiaritätsaspekten sollte gleichzeitig mit der dem Kern des Vorschlags geltenden Entscheidung und nach den Abstimmungsregeln des Vertrags erfolgen. Es sollte darauf geachtet werden, daß die Beschlußfassung im Rat nicht erschwert wird und kein System von vorgeschalteten oder parallel laufenden Beschlußfassungsprozessen entsteht. Die Prüfung und die Erörterung des Artikels 3 b finden in dem für den entsprechenden Bereich zuständigen Rat statt. Der Rat ,,Allgemeine Angelegenheiten" ist zuständig für allgemeine Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung des Artikels 3 b. In diesem Zusammenhang wird er dem jährlichen Bericht der Kommission (siehe Buchstabe a) gegebenenfalls entsprechende Überlegungen zur Anwendung des Artikels durch den Rat hinzufügen. Damit die Prüfung des Artikels 3 b auch wirksam durchgeführt wird, werden verschiedene praktische Verfahrensschritte eingeführt; hierzu gehören insbesondere folgende Schritte: -

In Berichten der Arbeitsgruppen und des AStV zu einem bestimmten Vorschlag wird gegebenenfalls dargelegt, wie Artikel 3 b angewandt wurde;

-

in allen Fällen, in denen die Verfahren der Artikel 189 bund 189 c zum Tragen kommen, wird das Europäische Parlament in der Begründung, die der Rat gemäß dem Vertrag vorzulegen hat, in vollem Umfang über die Auffassung des Rates zur Einhaltung des Artikels 3 b unterrichtet. Desgleichen unterrichtet der Rat das Parlament, wenn er einen Kommissionsvorschlag teilweise oder vollständig ablehnt, weil er dem Prinzip des Artikels 3 b nicht entspricht.

Anlage 2 Subsidiarität

Beispiele für die Überprüfung der derzeit vorliegenden Vorschläge und der geltenden Rechtsvorschriften Um das Subsidiaritätsprinzip mit konkretem Inhalt zu erfüllen, hat der Europäische Rat auf seiner Tagung in Birmingham vereinbart, auf seiner Tagung in Edinburgh die ersten Ergebnisse - mit Beispielen - der von der Kommission vorgenommenen Überprüfung der bisherigen Rechtsvorschriften der Gemeinschaft zu untersuchen. Die Kommission ist dabei nach folgenden Leitlinien vorgegangen: -

Seit Oktober werden den übrigen Organen die Ergebnisse vorgelegt, zu denen die Kommission nach politischer, fachlicher und rechtlicher Analyse des Subsidiaritätsprinzips gelangt ist.

-

Die Kommission hat die Hauptelemente einer interinstitutionellen Vereinbarung vorgeschlagen, die in ihren Grundzügen vom Europäischen Parlament übernommen wurde und auch die Zustimmung der Mitgliedstaaten gefunden hat. Das Subsidiaritätsprinzip gilt für alle drei Gemeinschaftsorgane, die - nach unterschiedlichen Modalitäten - am Entscheidungs- und Gesetzgebungsprozeß beteiligt sind.

Anhang 4

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Die Kommission hat ihre derzeit vorliegenden Vorschläge überprüft, die geltenden Rechtsvorschriften einer ersten Analyse unterzogen und ihre Überlegungen in bezug auf einige von ihr geplanten Initiativen weiter vertieft. Gemäß den Schlußfolgerungen des Europäischen Rates von Lissabon hat die Kommission "für die Tagung des Europäischen Rates im Dezember 1993" einen Bericht über die Ergebnisse der Überprüfung "bestimmter Gemeinschaftsvorschriften im Hinblick auf ihre Anpassung an das Subsidiaritätsprinzip" vorzulegen.

1. Die Kommission hat sich zunächst einen Überblick - im Lichte des Subsidiaritätsprinzips - über die dem Parlament wie auch dem Rat vorliegenden Vorschläge verschafft.

Sie hat das Prinzip eines Tätigwerdens sowohl hinsichtlich der Notwendigkeit als auch der Intensität eines solchen Tätigwerdens (Verhältnismäßigkeit der Mittel unter Berücksichtigung der verfolgten Ziele) überprüft. a) Die Kommission ist zu der Schlußfolgerung gelangt, daß einige ihrer Vorschläge nicht hinlänglich gerechtfertigt sind, sei es unter dem Gesichtspunkt des gemeinschaftlichen "Mehrwerts", sei es aus Gründen der Effizienz (gemessen an nationalen und internationalen Aktionsmöglichkeiten). Daher hat sie kürzlich die drei folgenden Richtlinienvorschläge zurückgezogen: -

Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln;

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Frequenzbänder für das TFTS (Terrestrial Flight Telecommunications System);

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RTT-Frequenzbänder (Road Transport Telematic Systems).

Außerdem beabsichtigt sie, nach entsprechenden Konsultationen, insbesondere mit dem Europäischen Parlament, folgende Vorschläge zurückzuziehen: -

während der Golfkrise vorgeschlagene Maßnahmen bei Versorgungsschwierigkeiten der Gemeinschaft mit Erdöl sowie über die Erdölvorräte;

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Haltung von Tieren in Zoos (in dieser Frage wird zu einem späteren Zeitpunkt ein Vorschlag für eine Empfehlung vorgelegt);

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Frequenzbänder für die koordinierte Einführung des digitalen Nahbereichsfunks (DSRR);

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indirekte Steuern auf Geschäfte mit Wertpapieren; indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital;

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Änderung der Sechsten MWSt-Richtiinie;

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Erhöhung der Freigrenzen für Dieselkraftstoff, der in den Tanks von Lastkraftwagen mitgeführt werden darf;

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Mehrwertsteuer auf Bordbedarf;

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vorübergehende Einfuhr von Beförderungsmitteln;

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Klassifizierung der Dokumente der Gemeinschaftsorgane;

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Netz von Zentren zur Information über Agrarmärkte und Qualitätsnormen.

b) Die Kommission hat - insbesondere im Anschluß an die Beratungen im Parlament oder im Rat - festgestellt, daß einige gegenwärtig geprüfte Vorschläge zu viele Detailvorschriften enthalten. Daher beabsichtigt sie, mehrere Vorschläge zu überarbeiten und lediglich allgemeine Grundsätze zu formulieren, die von den Mitgliedstaaten ergänzt werden können:

Stellungnahme von Edinburgh -

öffentliche Übernahmeangebote;

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gemeinsame Bestimmung des Begriffs "Gemeinschaftsreeder";

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vergleichende Werbung;

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Kennzeichnung von Schuhen;

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Haftung von Dienstleistungserbringern;

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Schutz von Personen bei der Verarbeitung von personenbezogenen Daten in diensteintegrierenden digitalen Telekommunikationsnetzen (ISDN).

2. Die Kommission hat ferner mehrere Beispiele für Gruppen von geltenden Regelungen ermittelt, deren Überprüfung sie in ihrem Arbeitsprogramm für das Jahr 1993 vorschlagen wird. Im Bereich der technischen Vorschriften gilt es, eine Reihe von Richtlinien zu straffen, deren technische Spezifikationen zu detailliert sind und nach dem neuen Harrnonisierungskonzept durch die Festlegung der wesentlichen Anforderungen ersetzt werden könnten, denen die fraglichen Erzeugnisse genügen müssen, um zum freien Verkehr in der Gemeinschaft zugelassen zu werden. Es handelt sich insbesondere um die Harrnonisierungsrichtlinien im Bereich der Lebensmittel (Konfitüren, natürliche Mineralwässer, Honig, Kaffee-Extrakt, Fruchtsäfte). Die Kommission wird ferner vorschlagen, den Geltungsbereich bestimmter Richtlinien abzuklären, die zwar nach dem neuen Harrnonisierungskonzept aufgebaut sind, bei denen jedoch Überschneidungsprobleme bestehen (z. B. Niederspannungsrichtlinie, Arbeitsmittel). Im Bereich der beruflichen Qualifikationen wird die Kommission die - schon relativ lange bestehenden - Richtlinien für bestimmte Berufe überprüfen, um ihre Anwendung zu vereinfachen und der gegenseitigen Anerkennung mehr Gewicht zu geben. Im Umweltbereich, vor allem auf dem Gebiet der Luftreinhaltung und des Gewässerschutzes, wird die Kommission die bestehenden Vorschriften nach Maßgabe der neuesten Erkenntnisse und des technischen Fortschrittes vereinfachen, konsolidieren und anpassen. Im Bereich der Landwirtschaft, und insbesondere in bezug auf den Rechnungsabschluß, beabsichtigt die Kommission, den nationalen Behörden eine größere Verantwortung bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu übertragen und ihnen unter bestimmten Bedingungen die Möglichkeit zu geben, Vergleiche mit Einzelpersonen abzuschließen. Im Bereich des Tierschutzes in Haltungsbetrieben werden aufgrund der Tatsache, daß alle Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft dem europäischen Übereinkommen zum Schutz von Tieren in landwirtschaftlichen Tierhaltungen beigetreten sind, die Richtlinien des Rates, die auf Verlangen des Parlaments sehr strenge Normen für den Schutz von Schweinen, Kälbern und Legehühnern enthalten, überflüssig. Allerdings besteht auch weiterhin die Notwendigkeit gemeinschaftlicher Vorschriften, die Minimalanforderungen für den Tierschutz festlegen, damit gleiche Weubewerbsbedingungen geschaffen werden und der freie Verkehr gewährleistet ist.

Im Bereich Sozialpolitik sind nach Auffassung der Kommission sämtliche auf Artikel 118 a gestützten Richtlinien jüngeren Datums und daher noch nicht zu überprüfen. Sie sollten vielmehr vorrangig durch die Umsetzung aller Bestimmungen der Charta der sozialen Grundrechte ergänzt werden. Allerdings erscheint es angezeigt, die zahlreichen veralteten Verordnungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schnellstmöglich zu vereinfachen und zu kodifizieren. 3. Schließlich wird die Kommission nach Konsultationen mit den betroffenen Kreisen bestimmte bereits geplante Initiativen nicht weiter verfolgen. 10 Merlen

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So verzichtete sie z. B. auf die Hannonisierung der Kennzeichenschilder von Kraftfahrzeugen und auf die Reglementierung der Glücksspiele. Die Kommission ist zudem der Auffassung, daß bestimmte Vorhaben zur Hannonisierung technischer Vorschriften (z. B. diätetische Lebensmittel, gebrauchte Maschinen, zerlegbare Konstruktionen und Ausrüstungen für Vergnügungsparks und -messen, Maschinenbauteile, vor allem Schraubenbolzen), die in Vorbereitung waren, nicht weiter verfolgt werden müssen. Die Kommission wird generell auf ihrem Initiativmonopol bestehen und sich weigern, Richtlinien vorzuschlagen, die vom Ministerrat auf seinen informellen Tagungen gefordert werden. Sie wird konsequenter als bisher Änderungsanträge des Rates und des Parlaments zurückweisen, wenn diese gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen oder die Richtlinien oder Empfehlungen über das erforderliche Maß hinaus komplizieren würden.

Sachverzeichnis Abkommen, interinstitutionelles 36, 43,62 Allgemeines Landrecht 92 Allzuständigkeit 89 Anerkennung, gegenseitige 10, 11, 17, 67 Angleichung 68 Arbeitsschutz 71 Asylpolitik 17 Aufgabenverteilung 27 Außenpolitik 20 "Baugesetz" 85 Bedürfnis 93 "Besser"-Klausel 30,67,80,82 Beteiligungsrechte 42 Beweislast 12 Bildungspolitik 18, 20 Binnenmarkt 12, 13, 14, 17, 19,32,61,68 BÜTokratiekritik 79 Bundesrat 84 Bundesrats-Sekretariat 49 Bundesratsverfahren 49 Bundesstaat, europäischer 9, 26 Bundestagsbeteiligungsgesetz 48 Bundesverfassung, österreichische 54 clausula integrationis 77 COREPER 36 Dänemark 21 Edinburgh 136 Effektivitätsprinzip 30 "effet utile" 30, 80 Effizienz 32 EFTA 21 EG-Strukturfonds 69 Eigenverantwortung 90 Eingriff, begrenzter 27 Einstimmigkeit 21, 22 Einstimmigkeitserfordernis 30 Einzelermächtigung, begrenzte 27, 29, 31, 42, 79 Empfehlung 35

Enzyklika "Quadragesimo anno" 12, 25, 43,53,91, Erforderlichkeit 77 Erweiterung der Gemeinschaft 17,20 Erziehungsbefugnis 81 Europäische Sozialunion 75 Europäische Union 48 Europäischer Rat 136 Europakommission der Länder 45 Ewigkeitsgarantie 87 EWR20 Exportpolitik 17 Fischereiabkommen 33, 34 Föderalismus 36 Föderalismusanker 84 Föderalismus in Österreich 53, 56 Formelkompromiß 25 Freiheit 85, 89 Freizügigkeit 33 Fürsorge 92 Gemeinschaftsaufgaben 12 Gemeinschaftsebene 67 Gemeinschaftskompetenz 36, 67 Gemeinschaftskompetenz, ausschließliche 32 Gemeinschaftsmaßnahmen 35 Gemeinschaftszuständigkeit, ausschließliche 34 Generalkompetenz 13 Gesetzgebung, konkurrierende 12 Gesetzgebungsbefugnisse der Länder 50 Giscard d'Estaing-Bericht 99 Grundfreiheiten 9 Handelshemmnis 12 Handelspolitik 33, 34 Handlungsverpflichtung 27 Handlungszuweisung 26 Harmonisierung 11 Harmonisierung, totale 9 "Herren der Verträge" 79 Homogenität 85, 86, 89

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Sachverzeichnis

Homogenitätsklausel, ,,hinkende" 86 Hyperregulierung 24 imperium patemale 91 Imprägnierungsvorschrift 11 Individualität 89 Institutioneller Ausschuß 99 Integrationshebel 84 Integrationsschranke 84 Interventionsminimum 79 Justitiabilität 94 Kompetenzabgrenzung 63 Kompetenzanmaßung 79 Kompetenzausübungsschranke 79, 81 Kompetenzbegrenzungsvorschrift 29 Kompetenzerweiterungsvertrag 18 Kompetenz-Kompetenz 79 Kompetenzübertragung 81 Kompetenzusurpation 79 Kompetenzverlust 47 Kompetenzverteilung 54, 55 Kompetenzverteilungsgrundsatz 33 Kompetenzverteilungsnorrn 31 Kompetenzzuweisung 81 Konferenz, interinstitutionelle 66 Konföderation 9 Kontrolle, gerichtliche 37, 39 Kontrollzuständigkeit 37 Korrespondenznorrn, staatsrechtliche 77 Kulturpolitik 18, 20 Kumulation, gestufte 81, 83 Länderbeobachter 50 Länderbeteiligung 41, 46, 48 Länderbeteiligungsgesetz 48, 49 Länderbeteiligungsrecht 47 Länderbeteiligungsverfahren 58 LänderbÜfos 50 Länderkammer, österreichische 57 Länderkompetenz 47 Ländervertreter 50 Landeshauptmann 56, 58 Leerforrnel, politische 23 Leitidee 90 Leitlinie, politische 35 Liberalismus 91 Mehrheit, qualifizierte 24, 71 Mehrheitsprinzip 13 Memorandum der Bundesrepublik 130

Menschenbild 89 Minderheitenschutz 40 Mindeststandard 74 Mindestvorschriften 45 Mitteilung der EG-Kommission 112 Mittel, mildestes 77 f. Nachrangigkeit 77 Naturrechtslehre 92 Notwendigkeit 31 Notwendigkeitsklausel 29 Notwendigkeitsprinzip 30 Nützlichkeitseffekt 80 Opportunitätsprinzip 13 Österreich 21 Policey-Staat 90 Prinzip, republikanisches 85 Privatglückseligkeit 90 Rahmenregelung 35 Rahmenvorschriften 45 Recht, einheitliches europäisches 10 Rechtssatzcharakter 23 Rechtsstaatsprinzip 85 Referendum, französisches 23 Referendum, in Dänemark 23, 64 Referendum, in der Schweiz 64 Regel-Ausnahme-Prinzip 90 Regelementierung 16 Regelungszuständigkeit 13 Regionalausschuß ~5 Regionalisierung 26 Regionen 26 Reinheitsgebot 67 Richtlinie 16, 35 Richtlinie über Umsturzvorrichtungen 24, 79 Risiko 89 Römische Verträge 21 Schweiz 21 Selbstverantwortung 89 Selbstverwaltung 92 Sicherheit, innere 17, 20 Souveränität 89 Sozialausschuß 74 Sozialpolitik 20 Sozialpolitik, europäische 70, 73 Staatlichkeit 88 Staats beglückung 90

Sachverzeichnis Staatsstrukturbestimmung 85 Staatsziel, -bestimmung 84, 85 Staatszweck 91 Strukturklausel 88 Strukturprinzip 26 Strukturreformkommission 59 Subsidiaritätsschranke 77 Tabaketikettierungsrichtlinie 79 Totalharmonisierung 10 Überreglementierung 16 Überregulierung 35 Übertragung von Hoheitsrechten 22 Umwelt 27,77 Umweltkompetenz 80 Unionstreue 87 Ursprungslandprinzip 9 Verbraucherschutz 20 Vereinbarung, interinstitutionelle 36, 43, 62 Verfassungsautonomie 57 Verfassungstextänderung 86 Verhältnismäßigkeitsprinzip, -grundsatz 42,77

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Verkehrspolitik 33 Verordnung 35 Verteidigungspolitik 20 Vertiefung 20 Vertiefung der Gemeinschaft 17 Veto 35 Währungsunion 70 Werbeverbot für Tabakwaren 19, 33, 39 WesensgehaIt 86, 88 Wirtschaftsgemeinschaft 9 Zentralisierung 55 Zentralismus 19 Zentralismusphobie 79 Zusammenarbeit von Bund und Ländern 47 Zusammenarbeit von Bundesregierung und Bundestag 47 Zuständigkeit, ausschließliche 32, 44 Zuständigkeit, integrative 32 Zuständigkeit, konkurrierende 32, 33 Zwischenbericht des Institutionellen Ausschusses 99 Zwischengewalten (pouvoirs intermediaires) 93