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German Pages [663]
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament • 2. Reihe Herausgeber/Editor Jörg Frey Mitherausgeber / Associate Editors Friedrich Avemarie • Judith Gundry-Volf Martin Hengel • Otfried Hofius • Hans-Josef Klauck
200
Volker Gäckle
Die Starken und die Schwachen in Korinth und in Rom Zu Herkunft und Funktion der Antithese in IKor 8,1-11,1 und in Rom 14,1-15,13
Mohr Siebeck
VOLKER GÄCKLE, geboren 1964; 1992 1. Theologisches Examen 1992; 1992/93 Theologischer Lektor beim R.Brockhaus- Verlag; 1993-1995 Vikariat in Ostfildern-Ruit; 1995 Ordination; 19952000 Studienassistent im Albrecht-Bengel-Haus, Tübingen; seit 1998 1. Vorsitzender des CVJMLandesverbandes in Württemberg; seit 2000 Studienleiter im Albrecht-Bengel-Haus, Tübingen; 2005 Promotion an der Ev.-theol. Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München.
ISBN 3-16-148678-1
ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe) 978-3-16-157098-8 Unveränderte eBook-Ausgabe 2019 Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2004 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Druckpartner Rübelmann GmbH in Hemsbach auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier der Papierfabrik Schleipen gedruckt und von der Buchbinderei Schaumann in Darmstadt gebunden.
Fur Bettina
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im September 2004 eingereichten und im folgenden Wintersemester von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München angenommenen Dissertation. Dass ich dieses Projekt durchführen und zu einem erfolgreichen Abschluss bringen konnte, habe ich in erster Linie meinem Doktorvater Prof. Dr. Jörg Frey zu verdanken. Seine in jeder Hinsicht vorbildliche Betreuung, seine ständige Ermutigung und seine freundschaftliche Beratung und Begleitung waren von unschätzbarem Wert. Er sorgte auch für die unkomplizierte Aufnahme in die WUNT-Reihe. Für all das schulde ich ihm meinen tiefen Dank. Zum Staunen hat mich auch das Zweitgutachten gebracht, das von Prof. Dr. Alexander J.M. Wedderburn erstellt wurde. Durch die Sorgfalt seines Gutachtens, die konstruktive Kritik und die vielen hilfreichen Hinweise hat dieses Werk einen wichtigen Zugewinn erfahren. Auch ihm möchte ich auf diesem Wege meinen herzlichen Dank sagen. Auf anderer Ebene grundlegend für das Zustandekommen dieser Arbeit war die Großzügigkeit des Vereins „Albrecht-Bengel-Haus", der mich für ein Jahr von einigen Pflichten bei meiner Tätigkeit als Studienleiter entlastet und das Projekt auch darüber hinaus mit Wohlwollen begleitet hat. Mein tiefer Dank gilt meinem Rektor Dr. Rolf Hille und den Kollegen im Albrecht-Bengel-Haus Pfr. Dr. Eberhard Hahn, Pfr. Hartmut Schmid, Pfr. Martin Flaig, Pfr. z.A. Joachim Kummer und Pfr. Dr. Rolf Sons für die rücksichtsvolle Entlastung und das ermutigende Mittragen meiner Anstrengungen. Ihre Freundschaft ist mir wert und teuer. Eine wichtige Hilfe bei Literatursuche, Korrekturen und Formatierungen waren Frau Referendarin Inka Armbrust, die sich durch eine erstaunliche Findigkeit bei der Suche abgelegener Literatur auszeichnete, Herr Vikar Andreas Wendt, der sich als höchst aufmerksamer und kompetenter Korrekturleser erwies, und Frau Ursula Hoffmann, ohne deren unermüdliche Hilfsbereitschaft bei der Formatierung und Endkorrektur das Werk nicht so rasch hätte erscheinen können. Mein Dank gilt auch Herrn Ziebritzki und Frau Trispel vom Verlag Mohr Siebeck für die unkomplizierte und gute Zusammenarbeit.
VIII
Vorwort
Ein tiefer Dank gebührt abschließend meiner Familie. Wie viel meine Frau durch ihr „Ja" nicht nur zu mir, sondern auch zu diesem Projekt zu seinem Gelingen beigetragen hat, lässt sich nicht ermessen. Für ihre liebevolle Ermutigung und ihre leidensbereite Geduld bin ich ihr von Herzen dankbar. Ihr möchte ich dieses Buch auch widmen. Nicht unerwähnt bleiben dürfen auch unsere beiden Söhne Christian und Daniel, die sich mit ihren Grundschulkenntnissen bei der Erstellung des Autorenregisters bereits wissenschaftliche Meriten erworben haben, sowie unsere Tochter Ann-Kristin, die zusammen mit ihren Brüdern stets eine wohltuende Erinnerung daran waren, dass es auch noch wichtigere Dinge im Leben gibt. Ich will am Ende nicht verhehlen, dass ich während meiner Arbeit über die Starken und Schwachen in Korinth und in Rom selbst immer wieder Schwachheit unterschiedlichster Art erfahren habe. Deshalb möchte ich am Ende auch einen Dank an meinen Herrn Jesus Christus zum Ausdruck bringen, der mir über allen Schwächen der eigenen Existenz immer wieder die Stärke verliehen hat, die im Sinne von 2Kor 12,9 „genügend" war. Tübingen, im Juni 2005
Volker Gäckle
Inhaltsverzeichnis Abkürzungen Einführung Kapitel I: Forschungsgeschichtlicher
XVIII 1 Überblick
1. Einleitung 2. Forschungsberichte 2.1 Zu IKor 8,1-11,1 2.2 Zu Rom 14,1-15,13 3. Die wichtigsten Untersuchungen zu IKor 8,1-11,1 3.1 Ferdinand Christian Baur (1831) 3.2 Wilhelm Lütgert (1908) 3.3 Max Rauer( 1923) 3.4 C. Kingsley Barrett (1964/65) 3.5 JohnC. Hurd (1965) 3.6 Gerd Theißen (1975) 3.7 Jerome Murphy-O'Connor (1978) 3.8 Gordon Fee (1977/1980/1987) 3.9 Hans-Josef Klauck (1982) 3.10 Wendell L. Willis (1985) 3.11 Peter D. Gooch (1988/1993) 3.12 Clarence E. Glad (1995) 3.13 Choon-Ho You-Martin (1995) 3.14 Khiok-Khng Yeo (1995) 3.15 Derek Newton (1998) 3.16 Alex T. Cheung (1999) 3.17 Helmut Merklein (2000) 3.18 Joop F.M. Smit (2000) 3.19 John Fotopoulos (2003) 4. Die wichtigsten Untersuchungen zum Rom 14,1-15,13 4.1 Max Rauer( 1923) 4.2 Albert E.S. Nababan (1963) 4.3 Robert J. Karris (1973)
3 3 4 4 5 5 5 6 6 7 8 8 9 10 11 12 13 14 15 17 18 19 20 21 22 22 23 24 24
X
Inhaltsverzeichnis
4.4 Ulrich Wilckens (1982) 4.5 Nelio Schneider (1989) 4.6 Francis Watson (1986) 4.7 J. Paul Sampley (1995) 4.8 John M.G. Barclay (1996) 4.9 Mark D. Nanos (1996) 4.10 Mark Reasoner (1999)
25 25 26 27 28 28 30
5. Erwägungen zur Herkunft der Gruppenattribute 5.1 Die Herkunft der Gruppenattribute in Korinth 5.2 Die Herkunft der Gruppenattribute in Rom 5.3 Ausblick
Kapitel II: „ Schwäche/schwach
32 32 33 34
sein " in der antiken Literatur 36
1. Der Ursprung des Begriffsfeldes aoöev- in IKor 8,1-11,1 1.1 „Korinthische" Zitate und Begriffe in IKor 8,1-11,1
36 37
1.1.1 Zitate
37
1.1.2 Begriffe
41
1.1.3. Ergebnis
42
1.2 Der Ursprung von SUV€L6T|OL; aoSevrji; 1.2.1 Der Begriff Suvciörioii;
43
1.2.2 Das Begriffsfeld aoöevf La/ao9evTiFrömmigkeit - Aberglaube< und >Vernunft - Emotion IV.2.1.2.1).
200
REASONER, S t r o n g ,
159-174.
201
REASONER, S t r o n g ,
175-199.
5. Erwägungen zur Herkunft der
Gruppenattribute
35
Konflikts. Von den in c. II gewonnenen Ergebnissen her werden dann die starke und schwache Gruppe in Korinth (Teil 2) sowie die paulinische Argumentation in IKor 8,1-11,1 (Teil 3) untersucht. Das Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung der paulinischen Argumentationsprinzipien (Teil 4) und einer kurzen Darstellung der bemerkenswerten Wirkungsgeschichte des Textes (Teil 5). Auch Kapitel IV beginnt mit einer ausführlichen Hintergrundanalyse erstens der Geschichte, Struktur und Prosopographie der stadtrömischen Christenheit in der Mitte des 1. Jh. n.Chr., zweitens des Abfassungszwecks des Römerbriefes als ganzem, drittens der in Rom 14,2f.20f. erwähnten Speiseabstinenz der römischen Schwachen und schließlich viertens der in Rom 14,5f. diskutierten Kalenderobservanz (Teil 1). Es folgen wie in c. III die Untersuchung der starken und schwachen Gruppe (Teil 2) und der paulinischen Argumentation in Rom 14,1-15,13 (Teil 3). Auch hier werden noch einmal in Kürze die paulinischen Argumentationsprinzipien zusammengefasst (Teil 4). Der fünfte Teil dieses Kapitels widmet sich der schwierigen Frage nach der Herkunft und Einführung der römischen Gruppenattribute. Das abschließende Kapitel V versucht dann die historische Entwicklung der theologischen Interpretation von Schwachheit bei Paulus zwischen den beiden Konflikten in Korinth und Rom bzw. seinen Briefen an diese Gemeinden nachzuzeichnen. Dabei kommt der Analyse der ¿oGev-Belege im 1. und 2. Korintherbrief (und hier v.a. in 2Kor 10-13) eine wichtige Bedeutung zu. Eine Zusammenfassung der erzielten Ergebnisse beendet die Arbeit.
Kapitel II
Schwäche/schwach sein" in der antiken Literatur 1. Der Ursprung des Begriffsfeldes ¿o9ev- in IKor 8,1-11,1 Im ersten Kapitel wurde deutlich, dass die Identifikation der streitenden Gruppen der Starken und Schwachen in Korinth und Rom sowie die Frage nach den kultur-, geistes- und religionsgeschichtlichen Hintergründen in der Forschungsgeschichte eine große Aufmerksamkeit erfahren hat. Dieser Fokussierung der Fragestellung auf die Identität der Gruppen steht aber ein eigentümliches Desinteresse am Hintergrund und der Bedeutung der Gruppenattribute selbst gegenüber. Was bedeutete es, wenn Paulus unterschiedliche Gruppen oder Personenkreise als „die Starken" (Rom 15,1) bzw. „die Schwachen" (IKor 8,7-12; Rom 14,lf.; 15,1) anredete? Die Antwort ist wiederum abhängig von der Frage, wer diesen Sprachgebrauch in Korinth und Rom jeweils einführte. Auf welche(n) Person(enkreis) ist die Einführung der Gruppenattribute zurück zu führen und welche Motivation(en) war(en) damit verbunden? Ausgangspunkt der Überlegungen muss dabei das Attribut „Die Schwachen" sein, denn zum einen kommt das Attribut „Die Starken" in IKor 8,1-11,1 überhaupt nicht vor und zum anderen ist es höchst unwahrscheinlich, dass sich der als „schwach" bezeichnete Personenkreis selbst so nannte. Es gibt kein plausibles Motiv, das sich für eine derartige Selbstbezeichnung denken lässt außer einem pathologischen. Ein solches liegt aber eindeutig nicht vor. Des weiteren enthüllt eine genaue Analyse der „starken" Position anhand der ihnen zuzuschreibenden Zitate und Schlagworte - wie sich noch zeigen wird - eben jene selbstbewusste und überhebliche Haltung, die zu einer pejorativ verstandenen Applizierung des Attributs „die Schwachen" auf den oppositionellen Personenkreis gut passen würde. Somit konzentriert sich die Suche auf die von Paulus in IKor 8,1-11,1 angesprochene Gegengruppierung der Starken und auf den Apostel selbst. In der ntl. Forschung besteht ein weitgehender Konsens, dass Paulus in IKor 8,1-11,1 eine Reihe korinthischer Slogans und Schlagworte zitiert. Umstritten ist lediglich der Umfang der als Zitat zu wertenden Sätze und Schlagworte. Zur umstrittenen Schnittmenge gehört auch der hier im Blickpunkt stehende Gebrauch des Wortfeldes aaGev- in IKor 8,7-12. Wurde die Begrifflichkeit von Paulus als Instrument der Konfliktdeutung
Kapitel II: „Schwäche/schwach
sein" in der antiken
Literatur
37
und -klärung eingeführt, oder nimmt Paulus ein bereits in Korinth gängiges und im Fragebrief enthaltenes Attribut auf? Bevor auf diese Frage eine Antwort gegeben werden kann, muss zuerst ein möglichst umfassendes Bild von den in IKor 8,1-11,1 zitierten korinthischen Slogans und Programmsätzen gewonnen werden. Denn die Frage nach der Provenienz und dem geistesgeschichtlichen Hintergrund des Gruppenattributs „die Schwachen" ist entscheidend davon abhängig, ob sich das Wortfeld in einen logischen Sinnzusammenhang der zu rekonstruierenden Position der korinthischen Starken einordnen lässt oder nicht. Daher soll im Folgenden zunächst der Umfang potentieller Zitate, Slogans und Schlagwörter der Korinther bestimmt werden, um anschließend das Begriffsfeld ¿a0eveia/aa0ev'n III.2.2.1.3), ist eijobaia sehr wahrscheinlich auf kynisch-stoischem Hintergrund zu verstehen22 und eng mit dem Slogan ircivTa emotiv verknüpft. 23 Schließlich dürfte auch noch das Verb oiKoßonetv (vgl. oiKoSofiriÖTioetai in V. 1 0 ) aus dem korinthischen Brief stammen. OLKOÖOUCLV ist zwar ein genuin paulinischer Begriff und bezeichnet die Grundausrichtung seines apostolischen Wirkens, 24 wird von ihm aber in der Regel nur auf die ganze Gemeinde bezogen und nicht auf Einzelne. Entscheidend ist jedoch, dass das Verb im Duktus von V. 10 nur ironisch verstanden werden kann und höchstwahrscheinlich auf eine pädagogische Maßnahme der Starken anspielt, die durch die Demonstration ihrer Freiheit im Blick auf den Verzehr von Götzenopferfleisch die Skrupel der Schwachen beseitigen und sie auf diese Weise „aufbauen" wollten. 25 1.1.3 Ergebnis Im Ergebnis sind IKor 8,lb.4b+c.8a und 10,23a+c als korinthische Zitate zu betrachten und IKor 8,6aß-d als ein Traditionsstück, das möglicherweise ebenfalls im Fragebrief der Korinther stand und als (evtl. von Paulus
20 HORSLEY, Consciousness, 579; You-MARTIN, Die Starken, 196. Die Wortgruppe ¿Souoia, f^cany und «¡jouaiaicj findet sich neben den zahlreichen Belegen in den Korintherbriefen (IKor 6,12; 7,4.37; 8,9; 9,4.5.6.12.18; 10,23; 11,10; 12,4; 15,24; 2Kor 10,8; 11,10; 13,10) und in Rom 13 (im politischen Sinn) sonst nur noch in 2Thess 3,9 und Röm 9,21. 21 Vgl. NEWTON, Deity, 296. 22 Für einen kynisch-stoischen Hintergrund treten ein: WEISS, IKor, 1 5 7 - 1 5 9 ; CONZELMANN, IKor, 131 f.; MURPHY-O'CONNOR, Freedom, 14, vgl. 29; VOLLENWEIDER, Freiheit, 226f.; MALHERBE, Determinism, 235f., YOU-MARTIN, Die Starken, 196-199; vorsichtiger WILLIS, Idol Meat, 101f. Vgl. SVF 3,544; Epikt 1,9,15; 1,25,2; 1,29,11.5052; 2,2,26 (vgl. 2,13,14; 4,7,10); 4,1,1.145f. 156-158; 4,12,8f.; Ench 14,2). VOLLENWEIDER, Freiheit, 203f.211 f., weist daraufhin, dass die in c. 9 im Zusammenhang mit e£ouo i a und kXtvQipia angesprochenen Probleme des Lohnes (V. 4 - 1 8 ) , der ¿VAYKRI (V. 16), der Knechtschaft (V. 19) und des ¿YCOV (V. 2 4 - 2 7 ) samt und sonders im Raum der hellenistischen Populärphilosophie im Blick auf die philosophische Existenz diskutiert wurden. 23
WILLIS, Idol Meat, 99. Vgl. IKor 3,9; 2Kor 10,8; 12,19; 13,10; Röm 15,20. 25 Vgl. GLAD, Philodemus, 282f.: „The term OIKO6O^R|9RIAeiör|• III.2.2.2.
Kapitel
II: „Schwäche/schwach
sein" in der antiken
Literatur
53
Koöo(ielv in V.10 hin, das ebenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit im Fragebrief der (starken) Korinther gestanden haben dürfte (-» II. 1.1.2). Dies würde daraufhin deuten, dass Schwäche prinzipiell als minderwertig und korrekturbedürftig angesehen wurde und diese Korrektur von den Starken im Sinne einer Umerziehung betrieben wurde.
3. Der antike Hintergrund des korinthischen Begriffsgebrauchs von „Schwäche/schwach sein" Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass das Begriffsfeld ao0€veia/ao0evTig/aa0€ve(o in IKor 8,7-12 nicht auf Paulus selbst, sondern auf die Gruppe der korinthischen Starken zurückgeht. Diese haben das Attribut „schwach" im Rahmen eines innergemeindlichen Konflikts um die Frage der ethischen Bewertung des Götzenopferfleisches auf die oppositionelle Gruppe angewandt. Der Begriffsgebrauch ist jedoch abgesehen von seiner pejorativen Intention alles andere als eindeutig. In einer vorläufigen Bestimmung der Bedeutungsmöglichkeiten wurden vier Kategorien (2.1 — 2.4.) eingekreist, verbunden mit der Beobachtung, dass die „schwache" Haltung der Schwachen von den starken Korinthern als prinzipiell korrekturbedürftig angesehen wurde (2.5.). Diese Grundzüge des Begriffsgebrauchs sollen nun im Sinne eines heuristischen Prinzips den Rahmen für die Suche nach der Herkunft des korinthischen Begriffsgebrauchs bilden. 3.1 Vorbemerkungen zum methodischen Vorgehen Es kann in diesem Kapitel nicht darum gehen, eine vollständige Analyse des Begriffsfeldes cfo0eveia/aa0€vr|OT|TÖI> xr)v cto6ei>caxepof} Kai \|/eu5fj ouyKaTaGeoiv), und die Erfassung, die Z u s t i m m u n g zu einer erfassenden Vorstellung ist, sei zwischen ihnen" ( S V F 2,90,1 ff.). 2 3 6
In umgekehrter Konsequenz bedeutet dies, dass der Unwissende bzw. Nicht-Weise in bloßem Scheinwissen oder Einbildung (öoä;a) bzw. Unwissen (ayvoia) verhaftet ist. „An einem anderen Orte sagt d a g e g e n C h r y s i p p : ,Gott sowohl als der W e i s e e r w e c k e n auch falsche Vorstellungen, nicht in der Absicht, dass wir ihnen z u s t i m m e n und uns überzeugen, sondern nur dass wir nach d e m Eindruck uns entschließen und h a n d e l n ; wir Toren aber geben aus S c h w ä c h e solchen Vorstellungen unsere Z u s t i m m u n g (r|^ä III.1.3.5, Pkt. 1). Die Kleineren Mysterien und die Thesmophoria im Oktober/November, die ausschließlich Frauen vorbehalten waren, fanden bis zum 2. Jh. v.Chr. auch in Korinth statt. Der bereits von Pausanias erwähnte Tempel der Demeter und Kore stand etwas abseits des Stadtzentrums auf einem Abhang auf der Nordseite der Akrokorinth, 109 bestehend aus Speiseräumen in der unteren Hälfte" 0 und Kulträumen (Opferraum, Theater und Tempel) im oberen Bereich. Das in seinen Anfängen auf das 8.-5. Jh. v.Chr. zurückreichende Heiligtum scheint bewusst so angelegt worden zu sein, dass die „heiligeren" Gebäudeteile auf einer höheren Ebene erbaut waren als die mehr für soziale Zwecke bestimmten Räume. 111 Die an sich schon bemerkenswerte Trennung (und möglicherweise auch „Gewichtung") von Kult- und Speisebereich gewinnt eine zusätzliche Bedeutung durch die Beobachtung, dass aufgrund des wesentlich geringeren Raumangebots jeweils nur ein Bruchteil der Speisenden gleichzeitig bei den Kulthandlungen teilnehmen konnte. Newton wirft daher die Frage auf, ob der räumlichen Trennung zwischen Kult- und Speisebereich eventuell auch eine spirituelle Trennung entspricht." 2
Für die hier fragliche Zeit der 50er Jahre kommt das Demeter-KoreHeiligtum als Kultort aus mehreren Gründen nicht in Frage. Neben der grundsätzlichen Begrenzung der Großen Mysterien auf Eleusis und der Beschränkung der Thesmophorien auf Frauen, lassen sich auch keine Belege für einen Vollzug der kleineren Mysterien für die fragliche Zeit finden. Und selbst wenn sie veranstaltet wurden, waren sie nur den Eingeweihten zugänglich, was sich auch für die korinthischen Starken und ihre liberale Argumentation und Praxis kaum denken lässt." 3 108
Vgl. B U R K E R T , Religion, 247-251. Paus 2,4,7. Diese Lokalisierung könnte ein Hinweis darauf sein, dass die römische Aristokratie diese Kulte bewusst nicht im Zentrum der Stadt ansiedeln wollte und mit städtebaulichen Maßnahmen eine Art Religionspolitik betrieb, vgl. E N G E L S , Roman Corinth, 106. 110 B O O K I D I S , Ritual Dining, 86f., konnte für die Zeit zwischen dem 6. und 2. Jh. v.Chr. 52 Speisekomplexe identifizieren. Im späten 5. und frühen 4. Jh. v.Chr. waren mindestens 30 Speiseräume in Gebrauch, die zwischen 200 und 240 Personen aufnehmen konnten. Bemerkenswerterweise ist das etwa die zweieinhalb- bis dreifache Zahl derer, die gleichzeitig im Kultbereich bzw. im Theater bei den vorausgehenden Opferriten Platz fanden, vgl. B O O K I D I S , Ritual Dining, 90, Anm. 30; sowie F O T O P O U L O S , Food Offered, 78-82. 111 G O O C H , Dangerous Food, 4. 112 N E W T O N , Deity, 9 1 f. 113 FOTOPOULOS, Food Offered, 91 f. 109
134
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Korinth
Hinzu kommt, dass die archäologische Evidenz für die hier fragliche Zeit der Mitte des l.Jh. n.Chr. problematisch ist. Bookidis und Stroud"4 datieren den römischen Neubau der Anlage erst in die zweite Hälfte des 1. Jh., was impliziert, dass während der 18monatigen Präsenz des Apostels hier noch keine Kultaktivitäten stattfinden konnten. Dies schließt jedoch nicht aus, dass der Kult bereits vorher in einem Provisorium vollzogen wurde, wofür es bisher aber keine klare archäologische Evidenz gibt."5 1.3.2.4 Das
Asklepiosheiligtum
Die Gottheit des Asklepios (röm. Aesculapius) ist in ihrer Identität ambivalent. Im vorhomerischen griechischen Mythos erscheint der Sohn des Apollon und der Coronis und Schüler des Cheiron als ein mit göttlicher Würde ausgezeichneter Arzt. Er wurde sowohl als sterblicher Held wie auch als chthonische Gottheit verehrt und schließlich zu den olympischen Göttern gerechnet, wo ihm das klassische Profil des antiken Heilgottes zuwuchs. Als solcher gilt er zusammen mit seiner Tochter Hygieia als heilvoller Mittler zwischen Zeus und den Menschen." 6 Die Heilmethode bestand dabei im Wesentlichen im Schlaf im Heiligtum, der sog. Inkubation. Der Patient schlief dabei in einem als Abaton bezeichneten Raum. Man verband damit die Hoffnung, dass der Gott im Schlaf die Heilung wirkt oder zumindest im Traum den Weg zur Heilung zeigt. Das Asklepieion im alten Korinth lag ca. 600 m entfernt von der Agora in der Nordstadt, grenzte an die Stadtmauer an und geht auf das 4. Jh. v.Chr. zurück. Dass das Asklepiosheiligtum zur Zeit des Paulus bereits wieder restauriert war, wird durch eine Inschrift im Tempel belegt." 7 Auch die Speiseräume scheinen während der gesamten römischen Periode benutzt worden zu sein." 8 Der heilige Bezirk selbst wurde auf einem Hügel errichtet, verbunden mit einer in einer Talsenke gelegenen Brunnenanlage. Diese wurde von C. Roebuck als die öffentliche Kuranlage von Lerna identifiziert, wobei nach Roebucks Einschätzung der Bereich von Lerna als profaner Teil der zusammengebauten Anlage fungierte und das Asklepieion mit dem Tempel den sakralen Teil darstellte." 9 Diese Interpretation der archäologischen
114
BOOKIDIS/STROUD, Demeter, 11. Ein ähnlich pessimistisches Urteil fällt SLANE, Sanctuary of Demeter, 5.11, die von einem funktionierenden Kultbetrieb erst ab dem dritten Drittel des 1. Jh. ausgeht. Ähnlich auch FOTOPOULOS, Food Offered, 84-86.90f. 115 Interessanterweise konnte STROUD, Sanctuary of Demeter, 69, für die römische Zeit keinen Opferraum bzw. Altar für Tieropfer mehr identifizieren. 116 Zentrale Heiligtümer waren Epidaurus mit den in der Antike berühmten Heilthermen und die Insel Kos. Die dortigen Ärzte wurden v.a. im 5. Jh. v.Chr. in der gesamten antiken Welt hoch geschätzt, unter ihnen auch Hippokrates. 117 KENT, Inscriptions, 123,311. Von der Wiederherstellung der vollen Funktionstüchtigkeit bald nach dem Wiederaufbau Korinths 44 v.Chr. geht auch FOTOPOULOS, Food Offered, 54, aus. 118 ROEBUCK, Asklepieion, 55. 119 ROEBUCK, Asklepieion, 24f. Vgl. auch LANG, Cure and Cult.
I. Analyse
des
Konfliktgegenstandes
135
Evidenz wird neuerdings in Frage gestellt. Eine seit Roebucks Untersuchungen neu entdeckte Brunnenanlage, die sog. „Lichterquelle", passt wesentlich besser zur Lokalisierung von Lerna, wie es Pausanias in seinem Reisebericht schildert. 120 In der Konsequenz wird die dem Asklepieion angrenzende Brunnenanlage als integraler Bestandteil des Heiligtums selbst verstanden, zumal auch eine Rampe die beiden auf unterschiedlichen Bodenniveaus gelegenen Anlagen verbindet. 121 Dieser Befund wird auch durch einen Vergleich mit den anderen Asklepieien in Epidauros, Pergamon, Kos, Troizen und Athen untermauert, w o sich überall Brunnen- bzw. Badeanlagen für rituelle Waschungen oder vorgeschriebene Bäder finden.
Mit diesem Befund erübrigt sich auch die Diskussion um die sakrale oder profane Funktion der drei Speiseräume, die zwischen Asklepieion und Brunnenanlage gefunden wurden. 122 Beide sind vielmehr strukturell und funktional verbunden. 123 Folglich dürften auch die hier gefeierten Mähler durch den Kontext des Asklepieion bestimmt gewesen sein, z.B. als Dankmahl für erfahrene Heilung. 124 Jedoch konnten ebenso andere Anlässe wie Geburtstage, Hochzeiten oder Beerdigungen mit einem Mahl im Asklepieion begangen werden. Aufgrund dieser Evidenz bietet das korinthische Asklepieion durchaus einen passenden Kontext für die in IKor 8,1-11,1 zur Debatte stehenden Kultmähler, 125 ohne dass eine direkte Identifikation zwingend oder angezeigt wäre. 1.3.2.5 Das Isis- und
Sarapisheiligtum
Isis galt als Frau und Schwester des Osiris und Mutter des Horus als ägyptische Nationalgottheit, der aber in der mediterranen Welt große Beliebtheit entgegen gebracht wurde, was wohl auch in Zusammenhang mit der enormen Flexibilität und Wandlungsfähigkeit dieser Gottheit stand. Isis wurde nach und nach zu einer Universalgottheit, die alle anderen Gottheiten beliebig in sich aufnehmen konnte. Die Form ihres Kultes war in Griechenland durch und durch hellenisiert. Sarapis war eine Heilgottheit und trug Züge eines Unterweltgottes, der mit den Irdischen durch Träume kommuniziert und in der Vorstellung ebenso an Opfermählern teilnimmt, wie es auch von den olympischen Göttern angenommen wurde.
120 WISEMAN, Fountain, 1 3 0 - 1 3 7 ; WlLLIAMS/ZERVOS, Route to Sikyon, 103; FOTOPOULOS, Food Offered, 5 4 - 5 9 ; vgl. Paus 2,4,5. 121 FOTOPOULOS, Food O f f e r e d , 56f. 122 Vgl. ROEBUCK, Asklepieion, 2 4 - 2 6 . 5 7 . 1 5 8 ; LANG, Cure and Cult, 1 If. 123 FOTOPOULOS, Food O f f e r e d , 66f. 124 Vgl. z.B. Herod Mim 4,19. 125 FOTOPOULOS, Food O f f e r e d , 6 7 - 7 0 .
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Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Korinth
Die Existenz dieser Kulte in Korinth konnte bisher noch nicht archäologisch belegt werden. Die einzige bisher existierende Evidenz stellt eine Inschrift auf einem Marmorsockel dar mit den Worten: 126 4>IAQTI£ (DIAQNIAA EAPAIII IEffl „Philotis, Tochter des Philonidas, dem Sarapis und der Isis" Ansonsten beruht die Annahme der Existenz der Heiligtümer in Korinth einzig auf dem Hinweis von Pausanias, der für die Zeit des späten 2. Jh. n.Chr. von zwei heiligen Bezirken der Isis und zweien von Sarapis in der Gegend zwischen dem Forum und dem Akrokorinth berichtet.' 2 7 D.E. Smith nimmt deren Existenz bereits für die hellenistische Periode an, 128 was durch zwei Inschriften aus dem 3.-2. Jh. v.Chr. bzw. aus der Mitte des 1. Jh. n.Chr. unterstützt wird, in denen Widmungen an Isis und Sarapis verzeichnet sind.' 29
Bis weitere Ausgrabungen endgültigen Aufschluss bringen, muss freilich offen bleiben, ob auch in römischer Zeit intakte Tempelanlagen und -bezirke des Isis- und Sarapiskults existierten, geschweige denn dazugehörige Speiseräumlichkeiten. Dagegen scheint eine gewisse archäologische Wahrscheinlichkeit für die Existenz eines Isisheiligtums in der benachbarten Hafenstadt Kenchreä am Saronischen Golf zu sprechen.' 30 Allerdings wurden auch hier keine Speiseräumlichkeiten gefunden noch konnte eine Existenz der Anlage vor 77 n.Chr. zweifelsfrei nachgewiesen werden. 1.3.2.6 Der Toten- und
Heroenkult
Die Existenz von Toten- und Heroenkulten in Korinth ist nur schwer nachzuweisen und wird für die Auseinandersetzung in IKor 8,1-11,1 auch nicht für zentral erachtet.131 Überhaupt sind diese Kulte kaum zu fassen, da
126 BOOKIDIS/STROUD, Sanctuary of Demeter and Kore, 6 und ROBINSON, Xpovixa, 139. FOTOPOULOS, Food Offered, 118-120, berichtet zusätzlich noch vom Fund eines dem Sarapis gewidmeten Schreins in einem Laden der Südstoa, dessen Existenz freilich keinerlei Vermutungen im Blick auf ein entsprechendes Heiligtum rechtfertigt. 127 Paus 2,4,6. FOTOPOULOS, Food Offered, 114-118, lokalisiert sie im sog. AnaplogaGebiet ca. 1 km südwestlich des Forums. 128 SMITH, Egyptian Cults, 201-231. 129 KENT, Inscriptions, 33.57. 130 Vgl. v.a. Apuleius, Met 11, der in diesem Heiligtum seine Initiation als Myste erlebt haben will, sowie FOTOPOULUS, Food Offered, 121-127. Dagegen bestreitet DEMARIS, Cults, Iii., die Identifikation der entsprechenden Gebäude als Tempel und geht von einer Villa aus. 131 Eine Ausnahme bildet KENNEDY, Cult of the Dead, 227-236. Er sieht in der Teilnahme korinthischer Christen am Totenkult bzw. Totenmählern den eigentlichen Hintergrund von IKor 8,1-11,1. Zweifellos mussten sich alle jungen Gemeinden des Mittelmeerraums mit diesem Phänomen auseinandersetzen, aber es gibt in IKor 8,1-11,1 kei-
1. Analyse des
Konfliktgegenstandes
137
sie oft mit dem Kult einer anderen Hauptgottheit verschmolzen waren. Die Tatsache, dass sie im hellenistischen Volksglauben einen breiten Raum einnahmen, legt die Vermutung nahe, dass sie auch im Korinth der römischen Epoche nicht gänzlich verschwunden waren, wenn sich auch der ursprüngliche Charakter und die Bedeutung abgeschliffen haben mögen. 132 Eine gewisse Evidenz könnten die elf im Demeterheiligtum gefundenen Fluchtäfelchen darstellen. 133 Solche Tafeln wurden gewöhnlich in Gräber gelegt, um die übernatürliche Hilfe des Toten bei der Verfluchung einer bestimmten Person zu gewinnen, wobei unklar ist, ob nach dieser Vorstellung die Toten die Fluchbitte lediglich an die jeweilige Gottheit weitergeben oder selbst den Fluchauftrag ausüben. Die Orte solcher Kulte waren häufig nicht die großen Tempelheiligtümer, sondern private Wohnhäuser, Gärten und Felder, in bzw. auf denen mit tragbaren Altären die Toten und Heroen im Rahmen einer kleineren Öffentlichkeit verehrt wurden.
Im Blick auf die Situation in Korinth ist bemerkenswert, dass die drei eben dargestellten Hauptkulte mehr oder weniger eng mit der Totenwelt verbunden waren.134 1.3.2.7 Der Herrscher- und Kaiserkult In der Epoche der Julier, Claudier und Flavier erfuhr der Kaiserkult eine wachsende Bedeutung v.a. in den Provinzen des Ostens. Diese Entwicklung umfasste sowohl politische, soziale wie auch wirtschaftliche und finanzielle Aspekte. Gerade für die römische Oberschicht der ehemaligen römischen Kolonie Korinth hatte der Kaiserkult auch eine kaum zu überschätzende identitätsstiftende Bedeutung. Der Herrscher- und Kaiserkult stellt in den verschiedenen Regionen des Mittelmeerraums ein äußerst komplexes und uneinheitliches Phänomen dar. 135 Er gestaltet sich regional sehr unterschiedlich. Ebenso schwierig sind seine Anfange zu greifen. Ein Ansatzpunkt bildet die Verehrung des Feldherrn Lysander auf der Insel Samos. 136 Nach militärischen Erfolgen wurde ihm im Jahre 404 v.Chr. ein Kult gestiftet, der die Errichtung von Altären, die Darbringung von Opfern und das Singen von Paianen einschloss. Als Ursprungsmotiv muss hier der Dank für die erfahrene Rettung und Hilfe gelten. Damit
nerlei Hinweise, dass Paulus speziell an den Totenkult und die damit verbundenen Mähler denkt. 132 NEWTON, Deity, lOlf.; vgl. Auch BRONEER, Hero Cults, 128-161. 133 BOOKIDIS/STROUD, Demeter, 30. Es handelt sich um dünne, zusammengerollte Bleitäfelchen. Darauf werden die Unterweltgötter angerufen, um die auf den Täfelchen genannte Person zu bestrafen. 134 NEWTON, Deity, 139. 135 Zur Überblicksliteratur siehe WLOSOK, Kaiserkult; PRICE, Rituals; STRÖM/PÖHLMANN/CAMERON, Herrscherkult, 244-255; FEARS, Herrscherkult; KLAUCK, Sendschreiben; auch in: DERS., Alte Welt, 115-143; sowie DERS., Umwelt II, 17-74. Die letzte Darstellung liegt dem folgenden Abschnitt im Wesentlichen zugrunde. Eine Bibliographie findet sich bei HERZ, Bibliographie. 136 Vgl. FGH 76 F 71; auch Plut Lys 18,3f.
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Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Kor int h
scheint eine Art Grundstruktur der weiteren Entwicklung vorgegeben zu sein: Die Erfahrung von Rettung und Hilfe werden auf die Manifestation einer göttlichen Macht zurückgeführt, der von nun an entsprechende Verehrung erwiesen wird. 137 Letztere sprengt insofern den Rahmen der in der griechischen Polis üblichen Ehrung verdienter Mitbürger, als nun eine eindeutig religiöse Konnotation hinzutritt. Affinitäten besitzt diese Verehrung zum traditionellen Heroenkult, wonach ein Mensch posthum heroisiert werden und zum Halbgott aufsteigen konnte, wie z.B. Herkules oder Asklepios. Während der Herrscherkult allerdings in der Regel noch lebenden Persönlichkeiten in formaler Analogie zu den olympischen Göttern zuteil wurde, war die Heroenverehrung ausschließlich Toten gewidmet. Eine wichtige Zäsur mit immenser Prägekraft bildet Alexander der Große (356-323 v.Chr.). 138 Seine Vergottung bereits zu Lebzeiten setzte neue Maßstäbe. Zum erstenmal geht der Anstoß zur Verehrung vom Herrscher selbst aus, und zum erstenmal wird die Vergöttlichung eines Herrschers zur ideologischen Einigung eines Großreich instrumentalisiert, um als identitätsstiftende Mitte eines in sich äußerst inhomogenen Sammelsuriums von Völkern, Kulturen und Religionen zu dienen. Von den Epigonen Alexanders in den Diadochenreichen wurde der Herrscherkult dankbar aufgenommen und am konsequentesten von den Ptolemäern weiterentwickelt. Im Zuge der Ausbreitung des Römischen Reiches übertrugen die Griechen den mittlerweile etablierten und gleichzeitig inhaltlich überaus variablen Herrscherkult auf die Römer; 139 zunächst mangels einer eindeutigen Zentralautorität auf die Figur der Dea Roma, der Göttin Roms, oder auf Vertreter der Reichsadministration wie Statthalter, Beamte und Legaten. 140 Erst in Augustus fand der hellenistische Herrscherkult jene ideale Gestalt, durch die er zu seiner endgültigen Form, dem Kaiserkult, mutierte. Der rasante Prozess der Adoption römischer Potentaten durch die Griechen wurde in der Forschung immer wieder als ein rätselhafter Ausdruck der Servilität gewertet. Demgegenüber deutet Price diesen raschen Aneignungsprozess als eine Form der Bewältigung der neuen politischen Situation. 141 Die politische und militärische Überlegenheit Roms wurde mit den genuinen Mitteln hellenistischer Religiosität bewältigt und in die überkommene ideologische Ordnung integriert. 142 Dass in diesem Aneignungsprozess eine enorme Vitalität sichtbar wird, zeigt sich auch in dem Umstand, dass die damit verbundenen Veränderungen für die Römer im geistig-religiösen Bereich tiefgreifender waren als für die Hellenen. Denn hier war ein dem griechischen Herrscherkult analoges Phänomen völlig unbekannt. Vielmehr war die Verbreitung des Herrscher- bzw. des späteren Kaiserkults eine Rückwirkung der mit den militärischen Eroberungen einhergehenden Hellenisierung der römischen Welt. 143 Die Entwicklung hin zum spezifisch römischen Kaiserkult 144 ist wiederum durch zwei markante Persönlichkeiten geprägt: Julius Caesar und der schon erwähnt Augustus. Was
137
KLAUCK, Umwelt II, 19f. Vgl. hierzu BALSDON, Göttlichkeit, 254-290; HABICHT, Gottmenschentum, 1741.225-229.245-252.272-274; KIENAST, Alexander, 309-333; sowie KLAUCK, Umwelt II, 28-35. 139 Vgl. hierzu BOWERSOCK, Augustus, 389^102; PRICE, Rituals, 23-52. 140 KLAUCK, Umwelt II, 41. 141 PRICE, Rituals, 29f.44.52. 142 KLAUCK, Umwelt II, 42. 143 KLAUCK, Umwelt II, 42-45. 144 Vgl. hierzu HERZ, Bibliographie, 833-910; DERS., Kaiser, 115-140. 138
1. Analyse
des
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Caesar betrifft, 1 4 5 so ist in der Forschung nach wie vor umstritten, inwiefern schon zu seinen Lebzeiten eine Vergottung stattfindet und ob sie von ihm selbst betrieben wurde oder vielmehr von außen, konkret von Seiten des Senats und der römischen Stadtbevölkerung, an ihn herangetragen wurde. Fakt ist, dass Caesar auf Betreiben seines Großneffen Octavian in den ersten Januartagen des Jahres 42 v.Chr. als Divus Julius unter die Staatsgötter aufgenommen wurde. Er erhielt einen Tempel mit Standbild, Kultpersonal und regelmäßigen Opfern, der freilich erst im Jahre 29 v.Chr. eingeweiht wurde, d.h. unter der Regentschaft Octavians, der fortan den Titel Divi fllius trug, was sich im Griechischen nur mit GeoC uicx; übersetzen lässt.' 4 6 Exakt dieser Vorgang blieb das grundlegende Muster für den Herrscher- bzw. von nun an Kaiserkult während des Prinzipats. Wenn nicht triftige Gründe, wie z.B. Tyrannei, dagegen sprachen, wurden die römischen Kaiser durch Volks- und Senatsbeschluss unter die Staatsgötter aufgenommen. Der griechische Fachterminus für diesen Vorgang ist auo9eioxH Exkurs 6).
Eine rasche Integration zunächst römischer Götter und später römischer Kaiser in den Herrscherkult ist auch für Korinth vorauszusetzen. Unklar ist allerdings, zu welchem Zeitpunkt der Herrscher- und Kaiserkult in Korinth etabliert wurde. C.K. Williams konnte wahrscheinlich machen, dass der Tempel E an der Westseite des korinthischen Forums eigens für den Kaiserkult gebaut wurde.151 Nach seiner Überzeugung geht die Einrichtung des Kaiserkults in Korinth spätestens auf die Herrschaft Caligulas (37-41 n.Chr.) zurück,152 wohingegen der Tempel E schon in der Zeit des Tiberius ( 1 4 - 3 7 n.Chr.) errichtet wurde. Der Beginn des Kaiserkultes in der ersten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. wird auch durch eine Reihe von Inschriften nahegelegt. 153 Jüngere Arbeiten vertreten mit Verweis auf eine offizielle Petition der Einwohner von Argos an den Gouverneur der Provinz Achaia 154 eine Einführung des Kultes für alle Städte des achaiischen Bundes in Korinth im Jahr 54 n.Chr., möglicherweise im Zusammenhang der Thronbesteigung Neros. Allerdings ist diese Datierung - wie schon erwähnt - alles andere als gesichert. Signifikanterweise stammt die Kenntnis dieses Kults wie überhaupt die Kenntnis römischer Kulte fast ausschließlich von lateinischen Widmungsbzw. Weiheinschriften. So sind von 38 erhaltenen Widmungsinschriften 32 in lateinischer Sprache. Von diesen sind wiederum 20 auf den Kaiserkult
150
PEKÄRY, Kaiserbild, 154. WILLIAMS, Refounding, 29. Neuerdings wird seine These allerdings von FOTOPOULOS, Food Offered, 138, in Frage gestellt. 152 WILLIAMS, Refounding, 36, Anm. 8. 153 KENT, Inscriptions, 31,50 PI. 8, Inv. 2178; 32,51 PI. 8, Inv. 1679; 33,55 PI. 8, Inv. 1282; vgl. NEWTON, Deity, 107. WEINSTOCK, Julius, 405, verweist auf den Beleg eines örtlichen flamen Divi lulii in Korinth, was für die Existenz eines Tempels oder zumindest eines Altars für die Verehrung Caesars spricht. Der erste oberste Priester dieses Kultes hieß laut einer Inschrift Gaius Iulius Spartiaticus, vgl. WEST, Latin Inscriptions, Nr. 68. Vorläufer des Kaiserkults in Achaia waren die Veranstaltung von Kaiserfesten anlässlich der Thronbesteigung von Gaius Caligula und Claudius durch die Panachaiische Versammlung, vgl. SPAWFORTH, Achaean Federal Imperial Cult I, 161. 154 Darin beklagen sich die Argiver über den von den Korinthern geforderten Tribut für die kostspieligen Festivitäten, zu denen eigens Bären und Panther für Tierhatzen „eingekauft" wurden, vgl. SPAWFORTH, Achaean Federal Imperial Cult I, 152-154. 151
I. Analyse
des
Konfliktgegenstandes
141
bezogen, fünf weitere auf andere Gottheiten römischer Provenienz.' 55 Ein ähnliches Bild zeigen die Belege, in denen Mitglieder der Priesterschaft erwähnt werden. Von den 31 erhaltenen Belegen sind 28 in Latein und 20 davon gelten wiederum Priestern, die im Kaiserkult ihr Amt versahen. Die Förderung des Kaiserkultes scheint vor allem ein Interesse der römischen Elite gewesen zu sein und die Teilnahme an Kulthandlungen bzw. die Übernahme entsprechender Kultfunktionen wurde als eine begehrte Möglichkeit zum sozialen Aufstieg betrachtet. Die starke Strahlkraft des Kaiserkults wird auch durch die in römischer Zeit vollzogene Verbindung mit den Isthmischen Spiele deutlich.156 Es war aber nicht so, dass dadurch die Verehrung des Poseidon und der anderen Olympier zurückgedrängt worden wäre, im Gegenteil. Der Kaiserkult trat nie in eine Konkurrenz zum überkommenen Götterglauben, so dass Loyalitätskonflikte, wie sie ab den 60er Jahren in den christlichen Gemeinden entstanden, ansonsten unbekannt waren. Vielmehr wurde der jeweilige Kaiser in eine Kultgemeinschaft mit der entsprechenden Gottheit aufgenommen. 157 Ein christlicher Bekenntniskonflikt, wie er im berühmten Pliniusbrief (Ep 10,96,1) für das zweite Jahrzehnt des 2. Jh. n.Chr. belegt ist, wo die Teilnahme am Kaiserkult bzw. -opfer als Loyalitätskriterium für Christen galt,158 kann für die hier fragliche Zeit des paulinischen Briefwechsels noch nicht vorausgesetzt werden.159 Klauck warnt generell vor einer Überschätzung des Kaiserkults in neutestamentlicher Zeit mit Verweis auf Rom 13,1-7. Diese Verse sprechen nicht dafür, dass der Kaiserkult bereits ein dominierendes Problem für die Gemeinden der 50er Jahre war.160 Überhaupt ist ein „Antagonismus zwischen Christuskult und Kaiserkult" im Neuen Testament abgesehen von der Johannesapokalypse nirgendwo spürbar. Allerdings deutet IKor 8,1-11,1 möglicherweise auf die sich in der zweiten Hälfte des 1. Jh. n.Chr. anbahnende Unterscheidung zwischen „,hartem' und ,weichem' Kaiserkult". 161 Während der „harte Kaiserkult" 155 156 157
ENGELS, Roman Corinth, lOlf. ENGELS, Roman Corinth, 102. K L A U C K , U m w e l t II, 7 2 .
158
Vgl. hierzu KLAUCK, Sendschreiben, 1 2 2 - 1 2 6 . Er geht davon aus, dass die hier berichteten Verhältnisse in ihren Grundzügen auch für die Zeit Domitians gültig waren und der Hintergrund des in Apk 2,13 erwähnten Martyriums des Antipas gewesen sein könnten. 159 Dies behauptet aber WINTER, After Paul, 276, der den 54 n.Chr. in Korinth eingeführten Kaiserkult des achaiischen Bundes sofort als unabdingbare Obligation für alle Einwohner verstanden wissen will. 160
K L A U C K , U m w e l t II, 7 4 .
161
So die Formulierung von KLAUCK, Sendschreiben, 141 f.
142
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Korinth
erst im Pliniusbrief und evtl. in der Apk162 sichtbar wird und das Opfer vor dem Kaiserbild verbunden mit der Verfluchung Christi verlangt, bestand der „weiche Kaiserkult" der 50er Jahre in der Erfüllung einer religiös veräußerlichten, gesellschaftlichen Obligation, die Grundlage für das berufliche und gesellschaftliche Fortkommen war. Dass es hier christlicherseits zu sehr unterschiedlichen Bewertungen kommen konnte, zeigt die verschärfte Tonlage in den Sendschreiben der Johannesapokalypse. 1.3.3 Opfermähler in der Antike Ein ganz wesentlicher Teil nicht nur des religiösen Lebens, sondern der Alltagskultur der hellenistisch-römischen Welt schlechthin vollzog sich im Rahmen von Mahlfeiern, deren Kern in einem Tieropfer bestand. Opfer und sich daran anschließende Mahlfeiern hatten nicht nur in regelmäßigen und offiziellen Anlässen ihren Platz, sondern auch durchgängig in fast allen Bereichen des Lebens. Sie wurden nicht nur im Zusammenhang familiärer Feste wie Hochzeiten (Long Poi 4,26.32; Xen Eph l,3f.), Geburtstagen (Hör Carm 4,11) oder Beerdingungen dargebracht, 163 sondern auch bei zahllosen weiteren Anlässen. Opfer wurden z.B. aus Dankbarkeit für die Bewahrung auf See (Horn Od 3,178f.; luv Sat 12,1-16.83-92) bzw. umgekehrt vor einer Seereise als Fürbitte für dieselbe (Apoll Rhod 2,685-719) dargebracht. Überhaupt bildet die Bewahrung auf Reisen (Horn Od 10,518-540; 13,24-27; II 2,305-307; Hör Carm 1,36,1-6 und 2,7,17f.) wie auch vor einem sonstigen Unglück (z.B. Rettung vor einem umfallenden Baum in Hör Carm 3,8,5-8) einen Anlass zu einem Opfer mit anschließendem Festschmaus. Ferner konnten Opfer einen Schwur begleiten (Horn II 3,103-106), den Loswurf für eine Stadt (Apollod 2,8,4), die Einholung eines Orakels (Plut Lyc 5,3) und die Bitte um Regen (Paus 8,38,4). Ein Opfer konnte aber auch im Rahmen eines ganz gewöhnlichen Mahles im Kreis von Freunden dargebracht werden. Alle Anlässe von sozialer oder biographischer Bedeutung waren potentielle Anlässe für ein mehr oder weniger umfangreiches Opferfest. Opfer konnten sowohl in Tempelbezirken als auch auf freien Plätzen, als private, vereinsinterne oder öffentliche Veranstaltung, an festen Tagen164 oder im Zusammenhang besonderer Ereignisse begangen werden. Selbst bei den täglichen, familiären Mahlzeiten wurde ein Teil der Speise den Göttern geopfert. 165 162
Apk 2,13; 13,4.7.10.15. Vgl. MURPHY-O'CONNOR, Freedom, 18; POLAND, Geschichte, 274.503-513. 164 So besaß jede griechische Stadt einen eigenen Festkalender, dessen Monatsnamen sich in der Regel von bestimmten Festen ableiteten. 165 Horn Od 14,434^136. Ovid berichtet aus Rom von der Sitte, bei der Mahlzeit eine Schüssel für die das Haus schützenden Mächte auf den Herd zu stellen (Ov Fast 6,305f.). 163
/. Analyse des
Konfliktgegenstandes
143
Während die religiöse Dimension oft nur im eigentlichen Opferritus greifbar ist, war der soziale Kontakt und Umgang ein zentrales Element bei allen Mahlfeiern. Die Teilnahme „... an kultischen Mählern [war] in vielen Fällen eine von der Konvention geforderte familiäre oder gesellschaftliche Verpflichtung. [...] Wer was und mit wem ißt, war immer - und ganz besonders in der Antike - eine Frage der sozialen Zugehörigkeit und der Identität."166 Insbesondere für die oberen Schichten war die Teilnahme an den öffentlichen, kommunalen Opfermählern obligatorisch. Für öffentliche Amtsträger war es sogar eine amtliche Pflichterfüllung und für die unteren Schichten eine willkommene Unterbrechung ihres tristen und harten Alltags. Durch die Ausrichtung und Platzverteilung bei öffentlichen oder privaten Mahleinladungen konnte der jeweilige Sozialstatus dokumentiert oder gehoben werden. Die Einladung bzw. Nichteinladung zu privaten Mahlfeiern war ein wesentlicher Indikator für sozialen Auf- oder Abstieg. Exkurs 6: Frömmigkeit in der hellenistisch-römischen Welt Die Beschreibung der Religiosität einer vergangenen Kultur kann höchstens eine Annäherung sein, ein tastender Versuch, Glaubens-, Denk- und Lebensvollzüge zu begreifen, die der eigenen subjektiven Erfahrung fremd sind. Der hier erfahrenen Grenze historischer Nachfrage wird sich der Forscher gerade auch beim Studium der griechischen und hellenistisch-römischen Religiosität bewusst, insbesondere dann, wenn er sich ihr vom Standpunkt des christlichen Glaubens her annähert. Vergleicht man die griechische Religion mit dem jüdischen und christlichen Glauben, so fällt zuerst das völlige Fehlen einer heiligen Schrift ins Auge. Es gibt kein kodifiziertes Offenbarungsdokument und auch keine dogmatische Fixierung des Glaubens, sehr wohl aber umgekehrt das Verdikt und die Verurteilung des Unglaubens. Weil sich der gemeinsame Glaube vor allem anderen in gemeinsamen tradierten Ritualen 167 und überkommenen Glaubensvorstellungen ausdrückt, ist Unglaube umgekehrt die Missachtung dieser Rituale und Glaubensvorstellungen. 1 6 8 Solche Missachtung war um so gravierender, als diese Rituale und Glaubensvorstellungen für die griechische Polis eine identitätsstiftende Funktion besaßen und mit ihrer Infragestellung auch die Einheit der Polis in Frage gestellt war. 169 „Prozesse wegen Unglaubens [...] scheinen die gewaltsame Reakti-
166
167
MERKLEIN,
1Kor
II,
168f.
Zur exakten Einhaltung der Riten finden sich ab dem 8. Jh. v.Chr. in Stein gemeißelte Aufzeichnungen von Ritualgesetzen. Hier wurde öffentlich gemacht, was beispielsweise in den orientalischen Religionen das z.T. esoterische Wissen der Priesterkasten war, vgl. Z A I D M A N / S C H M I T T - P A N T E L , Religion, 3 0 . 168 Z A I D M A N / S C H M I T T - P A N T E L , Religion, 15. 169 Eine Anklage wegen Unglaubens konnte z.B. erfolgen, wenn man Besitztümer der Götter beschädigte, die heiligen Bezirke verletzte, sich abfällig über die Götter äußerte, neue Götter einführte oder schlicht die überkommenen Glaubensvorstellungen in Frage stellte, vgl. Z A I D M A N / S C H M I T T - P A N T E L , Religion, 16. Das berühmteste Beispiel für das letzte Vergehen ist Sokrates, der 399 v.Chr. angeklagt wurde, weil er die Jugend verderbe, den Glauben an die Götter der Stadt zerstöre und neue Götter einführe. Der Ausgang des Prozesses ist bekannt.
144
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Korinth
on einer bürgerlichen Gemeinschaft zu sein, die sich in ihrer Einheit bedroht fühlte, weil doch die Religion ein unverzichtbarer Teil ihrer Identität ist." 170 Die hier spürbare und oft beobachtete Konzentration der griechischen Religion auf die öffentliche Religion der Polis schließt eine persönliche Frömmigkeit zwar nicht aus, aber drängt sie deutlich in den Hintergrund. Die religiöse Einheit war die Kehrseite der politischen Einheit und musste unter allen Umständen gewahrt werden. 171 Frömmigkeit muss folglich völlig anders definiert werden als beispielsweise in der abendländisch-christlichen Kultur. L. Zaidman und P. Schmitt-Pantel bestimmen sie als das Empfinden, „... das die Gemeinschaft oder ein einzelner gegenüber bestimmten Verpflichtungen hatte. Diese Verpflichtungen der Gemeinschaft betreffen in erster Linie die Achtung der Traditionen der Vorfahren: Sehr alte Rituale werden vollzogen, ohne daß die Bürger ihre Bedeutung genau verstehen [,..]." 172 Frömmigkeit ist damit „... weder Ausdruck eines Gefühls noch einer intimen Beziehung zu einer Gottheit noch Verlangen nach innerer Veränderung oder gar der Angleichung an Gott, andererseits aber auch nicht nur die Durchführung vorgegebener Riten." Vielmehr ist sie ein Glaube „an die Wirksamkeit des symbolischen Systems [...], das die Polis geschaffen hat, um die Beziehungen zwischen den Menschen und den Göttern zu regeln", und kommt in einer möglichst aktiven Teilnahme an diesen Symbolen und Ritualen zum Ausdruck. 173 Im Vordergrund steht eine „lebenspraktische Haltung", gemäß der die Götter nur nach Bedarf herangezogen wurden. Sofern der Einzelne seine religiösen Verpflichtungen in äußeren Ritus erfüllte, brauchte er sich keine religiösen Sorgen um sein Götterverhältnis zu machen. 174
1.3.3.1 Das öffentliche Ovo Ca Wie einleitend geschildert, konnten Opferfeiern im Blick auf Anlass, Durchführung und Bedeutung sehr unterschiedlichen Charakter haben.175 Religion, 16f. Erst in römischer Zeit nahm die Notwendigkeit und folglich auch das Bedürfnis nach religiöser Einheit ab. Die griechische Polis war nun ein kleiner, unbedeutender Teil eines riesigen multikulturellen und multireligiösen Reiches. Aufgrund der engen Verflochtenheit von Religion und Politik hatten die politischen Umwälzungen automatisch auch einen religiösen Paradigmenwechsel zur Folge. Auch die römische Religiosität richtete sich nicht auf eine innerliche Frömmigkeit des Individuums, sondern war eine gegenüber der griechischen Religion noch einmal gesteigerte Form öffentlicher Staatsreligion. Der cultus deorum galt als eine wesentliche Voraussetzung für Frieden und Größe des Imperiums. Der Staat trug die Verantwortung für den Kult, und die Bürger standen in der Pflicht, denselben zu achten und zu pflegen. Eine persönliche, religiöse Gottesliebe und Hingabe wurde dabei ebenso wenig erwartet, wie im griechischen Kult. Im Gegenteil galten solche religiösen Elemente eher als befremdlich, denn als vorbildlich. Ekstatische Ausdrucksformen der Religiosität galten in Rom eher als Phänomen der superstitio denn der religio; vgl. dazu M U T H , Einführung, 213.218. 170
ZAIDMAN/SCHMITT-PANTEL,
171
172
ZAIDMAN/SCHMITT-PANTEL, R e l i g i o n , 17; vgl. T h e o p h r F r g m . 5 8 4 a , 6 . 2 .
Religion, 19. Vgl. B U R K E R T , Frömmigkeit, 12f. 175 Vgl. zum Folgenden Z I E H E N , Opfer, 588-623; K L A U C K , Herrenmahl, 40-91; B R E M M E R , Opfer, 1240-1246, B U R K E R T , Religion, 101-115; D E R S . , Griechische Religion TRE, 236f.; 1240-1246; K J R K , Pitfalls; W I L L I S , Idol Meat, 17-64; Z A I D M A N / S C H M I T T - P A N T E L , Religion, 29-47; S C H M I T T - P A N T E L , La cité au banquet; G O O C H , 173
174
ZAIDMAN/SCHMITT-PANTEL,
1. Analyse des
Konfliktgegenstandes
145
Auch bei den Mählern der offiziellen kommunalen Kulte lassen sich abermals eine ganz Reihe von Opfern, Anlässen und Mahlformen unterscheiden.176 Die Normalform, die sich in der klassischen Zeit durchgesetzt hat, ist jedoch das sog. Guoia, ein Schlachtopfer'77 mit anschließendem Opfermahl. Trotz der Fülle von lokalen und regionalen Nuancen und Unterschieden lässt sich doch eine erstaunliche Stabilität des Opferritus im Allgemeinen feststellen, der sich zwischen 700 v.Chr. und 400 n.Chr. anscheinend kaum wesentlich verändert hat.178 Als Opfertiere dienten in der Regel kleinere Tiere (Schafe, Ziegen, Geflügel, seltener Schweine). Nur bei großen Festen bzw. besonderen Anlässen wurde ein Rind geopfert, was eine sehr kostspielige Angelegenheit war (als edelstes und wertvollstes Opfertier galt der Stier). Die Opferung bzw. Schlachtung erfolgte im Zusammenhang nicht selten umfangreicher und fest vorgeschriebener Rituale mit reichem Symbolcharakter.179 Oft stand Dangerous Food, 27—46. Zum weitgehend analogen römischen Opfer vgl. nach wie vor WISSOWA, Religion, 409^132, sowie MUTH, Einführung, 305-309. 176 Von den Opfern mit anschließendem Mahl sind die Opfer ohne anschließendes Mahl zu unterscheiden, die es ebenfalls in zahlreichen Formen und zu verschiedenen Anlässen gab, vgl. BREMMER, Opfer, 1243f. Neben den öuoia gab es Theoxenien („Götterbewirtungen", bei denen die Gottheit die Gastrolle übernimmt; vgl. KLAUCK, Umwelt I, 34f.), fleischlose Gabenopfer (Wein, Milch, Öl, Brot, Kuchen, anderes Backwerk usw.), Eid- und Bündnisrituale, Erntefeste, Bündnismähler und Alltagsmähler, die von den Symposien bis hin zu den gewöhnlichen Mahlzeiten reichten. Sog. Theophagien, die von der Vorstellung eines Essens der Gottheit geprägt sind, lassen sich für den hellenistisch-römischen Bereich nicht wirklich eindeutig belegen. Holokauste, d.h. die vollständige Verbrennung des Opfers (wie es z.B. beim Tamidopfer im Jerusalemer Kult die Regel war), waren in Griechenland eher selten und gehörten zunächst nur zum Totenkult als Entsprechung zur Leichenverbrennung. Sie waren wohl zunächst nur an die chthonischen Gottheiten adressiert. Später jedoch sind die Opferriten durchmischt. Es finden sich sowohl Opfermahlzeiten im Toten- und Heroenkult als auch Holokauste für Zeus, Artemis und Hera, vgl. BURKERT, Religion, 112. 177
Es gab neben Tieropfern noch eine Vielzahl unblutiger Opfer, angefangen von allen Arten von Agrarprodukten, über Trankopfer (z.B. die übliche Libation von Tischwein) bis hin zu Haaren u.ä. Im Kontext dieser Untersuchung müssen sie vernachlässigt werden. 178 JAMESON, Sacrifice, 959. Die Frage nach möglichen Transformationen des Ritus durch den römischen Einfluss muss wohl eher negativ beantwortet werden. Der einzige Bericht über ein griechisch-römisches Opferfest stammt von Dionysius von Halicarnassus um 30 v.Chr (Dion Hai Ant 7,71,3 und 7,72,15-18). Er betont in diesem Zusammenhang, dass die Opferriten eindeutig griechisch waren, aber von Römern vollzogen wurden. 179 Eingehende Beschreibungen eines solchen Opfermahls aus der Frühzeit finden sich bei Homer, II 1,457^468; Od 3,429-463; Od 14,413-438. Zur Grundform des Ritus vgl. ZIEHEN, Opfer, 598-623; BURKERT, Religion, lOlff.; BREMMER, Opfer, 1241 f. ; ZAIDMAN/SCHMITT-PANTEL, Religion, 33-37; KLAUCK, Umwelt I, 27-32. Eine ausführliche tabellarische Liste der Elemente findet sich bei KIRK, Pitfalls, 64.
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Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Korinth
am Beginn eine Prozession, mit der das Opfertier zum Altar geleitet wurde und an deren Spitze die lokalen Dorf- oder Stadtoberhäupter vorangingen. Um den Altar180 herum nahmen dann all jene kreisförmig Aufstellung, die am Akt der Tötung teilnahmen. Das waren neben den Opferherren'8' der bzw. die Priester u.U. mit mehreren Helfern, sowie Mädchen, die Gerste auf das Opfertier und den Altar streuten, und Wasserträgerinnen. Hinzu trat ein unterschiedlich großer Kreis weiterer Personen, z.T. auf Einladung. Nach mehreren Gebeten des Priesters, die oft von Libationen begleitet wurden,182 wurde das Tier vom ßoutuiroe, dem Rinderschlächter, getötet, indem er ihm mit Hilfe einer Axt den Schädel einschlug. Begleitet wurde die Tötung vom schrillen Schrei der umstehenden Frauen (6A.oA.uyii), wodurch der Tötungsakt als religiöser Höhepunkt der Handlung markiert wurde.183 Der zweite Akt der Tötung war das rituelle Abstechen, bei dem die Kehle des Tieres nach oben gebogen wurde, damit das Blut zum Himmel spritzte, bevor es Altar und Boden benetzte. Im dritten Akt wurde das Tier zerlegt und in Portionen zerteilt. Das Fleisch des Opfers diente im Wesentlichen drei Zwecken. Ein kleiner Teil, der weitgehend aus ungenießbaren Teilen bestand (neben den völlig entfleischten Schenkelknochen z.B. auch Galle oder Blase), wurde in Fett gewickelt und als Götteranteil verbrannt ([itpia).184 Vorher wurde er noch mit einer Trankspende, einer sog. Libation, und anderen wohl rie180
Der Altar (ßco^öq) befand sich zwar im Tempelbezirk, aber nicht im Tempel selbst. Auf ihm wurden die für die Götter bestimmten Fleischstücke verbrannt und anschließend, die für die Menschen bestimmten Stücke geröstet. Er ist archäologisch oft lediglich durch die hier auffindbaren Aschereste und Tierknochen identifizierbar. Nicht selten bestand der Altar lediglich aus einem zu einem kleinen Hügel angewachsenen Haufen von Aschen- und Knochenresten. Gewöhnlich aber war er aus Ziegeln aufgemauert bzw. aus behauenen Steinblöcken zusammen gefügt. In einem Tempelbezirk konnten durchaus auch mehrere Altäre für verschiedene Götter stehen, die möglicherweise in einer bestimmten Beziehung zueinander standen, vgl. BURKERT, Religion, 147. 181 Beim privaten Opfer war dies das Familienoberhaupt, bei offiziellen Opferfesten war es im ländlichen Raum der Dorfälteste, in der Polis die Magistrate und Archonten. Wo es noch ein Königtum gab wie in Sparta, war es Amt, Recht und Pflicht der Könige, das Opfer zu vollziehen. 182 Gebet und Libation bzw. die Trankspende (oiravöTi) waren stets eine Einheit. Dahinter steht der Gedanke, dass die Anrufung der Götter nur auf der Basis einer die Gebete begleitenden Gabe möglich ist, um das Gehör und erst recht das Wohlwollen der Götter zu erwirken, vgl. BURKERT, Religion, 122. 183 BURKERT, Homo necans, 20: „Ein dreigeteilter Rhythmus ergibt sich somit im Vollzug des Opfers, der von einem labyrinthisch gehemmten Anfang über eine erschreckende Mitte zum sorgfältig-klaren Abschluß fuhrt." 184 Sowohl das Verb 9üeiv als auch das Substantiv 9uoia haben bei Homer die Bedeutung „für die Götter verbrennen bzw. ins Feuer werfen". In klassischer Zeit wurde der Begriff jedoch für den gesamten Opferritus inklusive des sich anschließenden Opfermahls verwendet, vgl. ZAIDMAN/SCHMITT-PANTEL, Religion, 36.
1. Analyse des
Konfliktgegenstandes
147
chenden Essenzen Übergossen.185 Die ess- und kostbaren Eingeweide (otrA.aYxva)186 und evtl. weiteres Fleisch und andere Speisen (neben den begehrten Innereien z.B. auch Kuchen, Brote, Früchte und andere Köstlichkeiten, die als Opfer bestimmt waren, von denen aber nur ein Teil verbrannt wurde) wurde auf den schon erwähnten Tpcoreia187 neben dem Altar beiseite gelegt (daher der Name Tpane(wnara) und galten ebenfalls als Götteranteil, wurden aber anschließend von den Priestern verzehrt.188 Häufig wurden noch weitere Fleischteile auf die Tische gelegt, die theoretisch ebenfalls für die Gottheit bestimmt waren, aber praktisch auch von den am Opferritus Beteiligten verzehrt wurden (in Athen wurde es von den Prytanen, den Vorsitzenden des Rats, gegessen).'89 Der weitaus größte Teil jedoch wurde von dem gegenüber dem Kreis der Opfernden wesentlich erweiterten Kreis der Mahlteilnehmer verzehrt.190 Die mengenmäßige Benachteiligung der Götter wurde immer wieder als Problem empfunden und von zeitgenössischen Komödienschreibern mit
185 Die Trankopfer stellten einen wichtigen Teil des Ritus dar, der hier nicht in Gänze entfaltet werden kann. Für den Kontext von IKor 10,21 ist interessant, dass dazu spezielle Gefäße verwendet wurden: Zuerst wurde der Wein von einer der großen Vasen in einen Weinkrug geleert (oivoxöri), um aus diesem in die Trinkschale (i.äA.r|) gegossen zu werden. Letztere ist ausschließlich den Libationen vorbehalten. Aus dieser )" (Theophr Frgm. 584a, 12.1-3). 2 2 6 D a s allgemeine Verständnis der O p f e r p r a k t i k e n war gerade auch im Blick a u f die E m p f a n g e r sehr k o m p l e x . Es konnte eine Vielzahl von e m p f a n g e n d e n Gottheiten g e b e n , die im Laufe der Zeit auch w e c h s e l n konnten. 2 2 7 N e b e n den Göttern waren auch irdische Herrscher Adressaten des O p f e r s , insbesondere im Kontext des r ö m i s c h e n Herrscherkults, w o b e i es auch hier der individuellen religiösen Ü b e r z e u g u n g überlassen blieb, den j e w e i l i g e n Kaiser als politisches O b e r h a u p t zu respektieren, als göttlichen M e n s c h e n zu verehren oder als Gott anzubeten. 3) Das Opfer als
Communio
In der älteren F o r s c h u n g ging man von der G r u n d k o n z e p t i o n eines K o m m u n i o n s o p f e r mahls aus, 2 2 8 bei dem eine T i s c h g e m e i n s c h a f t z w i s c h e n dem göttlichen M a h l p a t r o n und den M a h l t e i l n e h m e r n entsteht bzw. hergestellt wird. 2 2 9 N e u e r d i n g s ist v.a. die a n g e l s ä c h sische Forschung mangels z w e i f e l s f r e i e r Belege f ü r den K o m m u n i o n s c h a r a k t e r w e s e n t -
224 225 226 227 228
BURKERT, Homo necans, 9. Plat Euthyphr 14c. Übersetzung des Vf. (Fragmentenzählung nach FORTENBAUGH). Vgl. die Belege bei NEWTON, Deity, 204. V g l . WILAMOWITZ-MÖLLENDORF, G l a u b e I, 2 8 1 ; ZIEHEN, O p f e r , 6 1 8 ; NILSSON,
Geschichte, 144f. 229 Vgl. Aristeid 45,27 ( - > III. 1.3.5, Pkt. 4 ) und das oben bereits zitierte D i k t u m Plutarchs ( M o r 1102a), w o n a c h v.a. die f r e u n d l i c h e G e g e n w a r t der Gottheit beim M a h l erwünscht und e r h o f f t wird. A u c h Athen 1 0 , 1 7 ( 4 2 0 e - f ) warnt davor, dass sich die Gottheit bei Missbrauch des Festes seitens der T e i l n e h m e r vom Fest zurückzieht: „ W e n n a b e r zufällig auch noch ein O p f e r stattfindet, verhüllt sich der Gott und macht, d a s s er hinausk o m m t , nicht nur aus dem Haus, sondern auch aus der ganzen Stadt" ( Ü b e r s e t z u n g nach FRIEDRICH, Orthographie an n e u e Regeln angepasst). Zur Frage der T h e o p h a g i e im Dionysoskult III. 1.3.5, Pkt. 2.
I. Analyse des
Konfliktgegenstandes
155
lieh skeptischer. 2 3 0 Verschiedene Belege legen den Schluss nahe, dass man in den Gottheiten mehr die Gastgeber als die Mitessenden sah, 231 deren Anwesenheit und Annahme des Opfers erwünscht und erbeten wurde, von denen man es sich aber nicht vorstellen konnte, dass sie wie die Sterblichen aßen. 232 In diesem Zusammenhang haben mit großer Wahrscheinlichkeit die häufig erwähnten TpaiTefuncrax eine entscheidende Funktion besessen. Indem eine Portion Opferfleisch vor der Gottheit, d.h. konkret vor ihrem Kultbild auf einen Tisch gelegt wurde, 2 3 3 konnte dies in archaischer Zeit als Essen in Gegenwart der Gottheit verstanden werden. Später fielen diese TpaueiaS^axa dann den Priestern zu. 234 Der soziale bzw. kulturelle Charakter der Mahlfeiern wird auch in der Religionskritik der Philosophen unterstrichen. Sowohl Epikureer als auch Stoiker unterstützten zwar die traditionelle Teilnahme am Kult, lehnten aber religiöse Hoffnungen und Erwartungen im Blick auf göttliche Gunsterweise als Aberglaube ab, denn der Kult beruhe auf Tradition und Gewohnheit, nicht auf Realität. 235
230 Vgl. NEWTON, Deity, 2 1 5 - 2 1 7 . Im Anschluss an die Arbeit von MEULI, Opferbräuche, 185-288, wird hier der soziale, sozio-politische und nicht-religiöse Aspekt des Opferfestes neu betont. MEULI kritisierte die Theorie, die olympischen Götter hätten ein gemeinsames Mahl mit den Menschen gehalten. Er betrachtete die Funktion des Opfers als sekundär und legte das Hauptaugenmerk auf die horizontale, soziale Ebene der Feier. Im angelsächsischen Raum nahm NOCK, Early Gentile Christianity; DERS., Cult of Heroes, diese Linie auf. Er lehnte die Theorie einer Tischgemeinschaft zwischen Göttern und Menschen nach Sichtung der Quellen völlig ab und betonte statt dessen die soziale Gemeinschaft der Opferteilnehmer. Dies gilt umso mehr für die öffentlichen, kommunalen Mahlfeiern. Seine Ergebnisse wurden in der Arbeit von WILLIS aufgenommen und neuerdings auch von NEWTON. Letzter, Deity, 219, formuliert im Blick auf IKor 8 , 1 11,1: „... when people offered sacrifice, they were by any means inevitably involved in .religious worship'. [...] The sacrificial offering thus appears to have fulfilled a socializing dimension among Greeks". Die primär soziale Funktion werde auch dadurch unterstrichen, dass die Benennung der jeweiligen Gottheit nicht entscheidend war und sogar unterbleiben konnte, ebd. Zwar blieben zivile und religiöse Funktionen untrennbar verbunden, aber die letzteren traten gegenüber der sozio-politischen Dimension deutlich in den Hintergrund. 231 Dies nimmt GILL, Trapezomata, 137, insbesondere für die spätere Periode an: „.... the god is more in the background, more a spectator at than a partaker in the sacral banquet." 232 Vgl. Horn Od 3,435f. Vgl. KLAUCK, Herrenmahl, 48f., und BREMMER, Opfer, 1244. WILLIS, Idol Meat, 17-64, bietet eine ausführliche Begründung für den rein sozialen Charakter der Mahlfeier, der nicht mit, sondern nur vor der Gottheit geschieht. Seine Darstellung ist allerdings massiv von seinem Interesse geleitet, eine sakramentale Bedeutung sowohl für die hellenistischen Opfermähler wie für das paulinische Verständnis des Herrenmahls zu widerlegen, vgl. FEE, IKor, 361, Anm. 18. 233 GILL, Trapezomata, 119.127. 234 GILL, Trapezomata, 128ff. 235 Vgl. Sen Benef 1,6,3.
156
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
4) Das Opfer als
in Korinth
Sündenbock-Ritual
Diese von R. Girard 236 in die Diskussion eingebrachte Opferdeutung wählt ihren Ausgangspunkt in der Gewaltbereitschaft, die in jeder Gesellschaft latent vorhanden ist. Um nicht ftir die Gesellschaft selbst zur Bedrohung zu werden, entlädt sie ihr Aggressionspotential in periodischen Abständen an Außenseitern, die für alle Unglückserfahrungen der Gemeinschaft verantwortlich gemacht werden. Der Opferkult stellt nun eine zivilisierte und institutionalisierte Form dieser Sündenbockmechanismen dar. Das Opfertier übernimmt als Sündenbock die Außenseiterrolle von Minderheiten. „Es bindet die aggressive Gewalt und dient als sozialer Kitt." 237 Die Nähe dieser Deutung zum atl. Sündenbockritual ist unübersehbar. Die Frage ist aber, ob diese Deutung auch den griechisch-römischen Opferriten wirklich gerecht wird. Denn eine entsprechendes Schuld- bzw. Sündenverständnis ist den antiken Texten fremd. 5) Das Opferritual
als Bewältigung
des
Tötungsaktes
Im Anschluss an K. Meuli deutet W. Burkert mit Hilfe der Verhaltensforschung das ritualisierte Schlachten als Rudiment der vor- und frühgeschichtlichen Jägerzeit. 238 Der institutionalisierte Opferritus hatte als ein Akt ritualisierter Gewalt und Aggression die Funktion einer Entlastung von Schuldgefühlen gegenüber dem getöteten Tier, dem man das Leben nahm, um das eigene Überleben zu sichern. Dieses Erklärungsmuster vermag in der Tat eine Reihe von Elementen beim Opferritus erhellen, wie z.B. die Notwendigkeit der Einwilligung des Tieres in die Opferung durch den bereitwilligen Gang zur Opferstätte und das provozierte Kopfnicken vor der Schlachtung. Gleichzeitig ist es ebenso wie Girards Sündenbockmodell eine von außen an die Texte herangetragene Hypothese, die auf der Voraussetzung beruht, dass die Beteiligten von dieser traditionsgeschichtlichen Genese des Opferritus nichts mehr wussten. An der Vielzahl der dargestellten antiken Rezeptionsmuster und neuzeitlichen Erklärungsmodelle wird deutlich, wie polyvalent die antiken Opfervollzüge bewertet wurden und werden. Es war exakt diese im Kontext des religiösen Pluralismus der Antike als unproblematisch empfundene Unschärfe und Ambivalenz, die in der jungen korinthischen Gemeinde früher oder später zu Konflikten fuhren musste. Der exklusive Anspruch des christlichen Glaubens und die damit korrespondierende Polemik gegen die hellenistische Götterverehrung, verlangte bald nach einer präzisen Antwort auf die Frage: Was genau konstituiert Götzendienst, und bis zu welchem Grad können Christen bei solchen Anlässen teilnehmen? Entsprechend der beinahe uferlosen Polyvalenz der verschiedenen Kulte und Anlässe und der ebenso fast grenzenlosen individuellen Interpretationsmöglichkeiten derselben, musste es fast zwangsläufig zu sich widersprechenden Antworten und Definitionsmustern kommen. Dafür ist gerade IKor 8,1-11,1 ein typisches Beispiel.
1.3.3.3 Die Trennung von Opferritus und
Opfermahl
So wenig eine strikte Trennung zwischen sakralen und profanen Handlungen bei Kultfeiern möglich ist, so deutlich kristallisieren sich doch gewisse Schwerpunkte heraus. Offensichtlich hatte der eigentliche Opferakt eine größere religiöse Dichte als die anschließende Mahlfeier, die stärker sozia236 237 238
GIRARD, Das Heilige. KLAUCK, Umwelt I, 47; vgl. die Kritik von BURKERT, Glaube, 110. Vgl. dazu BURKERT, Homo necans.
1. Analyse des
Konfliktgegenstandes
157
len Charakter hatte.239 Besonders W. Burkert unterstreicht den religiös verdichteten Charakter der eigentlichen Opferhandlung: „Heilig ist der Götterbereich: die ,heilige' Handlung aber, am ,heiligen' Ort zur ,heiligen' Zeit vom Akteur der ,Heiligung' vollzogen, ist das Schlachten der Opfertiere, das U p e i k i v der lepeloc." 240
Schon L. Ziehen machte auf den ins Auge stechenden Unterschied im Umgang mit den sog. anA.ayxva, die auf die sog. xpaireCa gelegt und an Ort und Stelle von den Priester bzw. Opfernden verzehrt wurden (vgl. Horn Od 3,461ff.) und dem restlichen Fleisch, das im anschließenden Opfermahl verteilt wurde, aufmerksam.241 Er führt einige Beispiele für den besonderen Sprachgebrauch von oTTlayxveueiv an und kommt schließlich zu dem Fazit: „Nach alledem ist es klar, daß das Verzehren der avXayyya. im Ritual eine besondere Bedeutung besaß."242 Ziehen sieht diese besondere Bedeutung im Verständnis des Opfers als Kommunionsopfer, das im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem eigentlichen Opfer eingenommen werden musste, weil nur hier und jetzt die Gottheit als gegenwärtig gedacht wurde.243 An solche Beobachtung knüpft auch D. Newton an, der in seiner Untersuchung ebensfalls besondere Aufmerksamkeit auf den differenzierten Umgang mit dem Fleisch des Opfertiers gelegt hat. Er fragt nicht nur, ob die differenzierte Handhabe der drei Opferportionen mit einer unterschiedlichen religiösen Bewertung derselben einher geht, sondern darüber hinaus, 239 Dies wird in den bereits erwähnten Belegen bei Athen 8,65(363d); Thuk 2,38; Liv 5,13,5f.; Men Dysk 447-453, deutlich. 240 BURKERT, Homo necans, 9. 241 ZIEHEN, Opfer, 616: „Aber es fällt auf, daß man sie (sc. die 0TRA.(IYXVA) über dem Altarfeuer briet [...] und sie gesondert von dem übrigen O.-Fleisch noch während oder unmittelbar nach der Darbringung auf dem Altar verzehrte, und das führt [...] zu der Frage, ob nicht aus dieser besonderen Stellung auch eine besondere Bedeutung zu folgern ist." Er verweist auf die Entwicklung, dass das ursprüngliche Verbot, Opferfleisch (zum privaten häuslichen Verzehr) aus dem heiligen Bezirk heraus zu tragen, schon in der klassischen Zeit in Vergessenheit geriet. In hellenistisch-römischer Zeit konnte das Fleisch praktisch überall hin mitgenommen und auch im Rahmen eines Privatmahles verzehrt werden, vgl. a.a.O., 621 f. 242 ZIEHEN, Opfer, 616. 243 ZIEHEN, Opfer, 617f.: „Für den tatsächlichen Kult war also die wichtigste und für den Sinn des O. notwendige Bedingung, daß der Genuß des O.-Fleisches wirklich gemeinsam stattfand. Das konnte aber nicht durch das Mahl geschehen, das die Opfernden, sei es die Gemeinde, seien es einzelne Bürger, eine halbe oder ganze Stunde nach der O.Handlung im Heiligtum oder gar zuhause von dem O.-Fleisch bereiteten. Da war j a der Gott, um mich primitiv auszudrücken, schon fort. Die Gemeinschaft war vielmehr nur in dem Moment der heiligen Handlung möglich, in dem dem Gott sein Anteil am Mahle auf dem Altar verbrannt wurde, und sie wurde dadurch erreicht, daß die O.-Teilnehmer die oirXaYxva, die sich am schnellsten braten ließen und dabei als ,Sitz des Lebens' wichtig waren, sofort während der Darbringung auf dem Altar verzehrten", vgl. auch a.a.O. 622.
158
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Korinth
ob das gros des von den Mahlteilnehmern konsumierten Fleisches im Vergleich mit den Fleischportionen, die auf dem Altar verbrannt wurden bzw. auf der TpccTre(a platziert wurden (und von den Opfernden als einem inner circle der Mahlteilnehmer verzehrt wurde) überhaupt Opferfleisch war oder nicht vielmehr Fleisch anderweitiger Herkunft, das zusätzlich zu dem Restfleisch des eigentlichen Opferfleisches zur Sättigung der Mahlteilnehmer angeboten wurde.244 Newton weist darauf hin, dass bei großen öffentlichen Festen die dazu benötigten Fleischmengen nicht im eigentlichen Sinn geopfert worden sein konnten, da die Tische für die „Götterportionen" (oTr^ayxva), die anschließend von den Priestern verzehrt werden durften, nur eine begrenzte Menge Fleisch fassten.245 Folglich vermutet er, dass das meiste beim Opfermahl verzehrte Fleisch diese Tische überhaupt nicht berührte und auch nicht im eigentlichen Sinn geopfert worden war.246 Dazu passt auch die archäologische Evidenz, wonach die Opferstätte bzw. der Altarbereich vieler Heiligtümer weit weniger Teilnehmern Platz bot, als die Speiseräumlichkeiten, die für das anschließende Opfermahl genutzt wurden.247 Aus der Summe dieser Beobachtungen ergibt sich die Schlussfolgerung, dass im Kontext des eigentlichen Opferritus und dem Essen der OTrA.ayxva,
244
NEWTON, Deity, 195. Im römischen Kontext wird beispielsweise von einem vielbesuchten Fest im Jahre 18 n.Chr. im Forum Clodii berichtet (ILS 154). Anlässlich des Geburtstags des Kaisers Tiberius waren zahlreiche Gäste auf Kosten des Quintus Cascellius Labeo zu einem Opfermahl geladen, aber es wird als Opfertier nur ein Kalb erwähnt, das keinesfalls zur Sättigung aller Gäste genügt haben konnte. 246 NEWTON, Deity, 190.228f. Wenn dies der Fall war, dann könnten christliche Mahlteilnehmer auf die untergeordnete Bedeutung des geselligen Opfermahls verwiesen haben. Das hier verzehrte Fleisch hätte dann nicht den Charakter von Opferfleisch für eine Gottheit gehabt und wäre für Christen unverdächtig gewesen, vgl. NEWTON, Deity, 196.198. 247 In den Grabungsberichten der korinthischen Heiligtümer sticht dieses Merkmal ins Auge, vgl. NEWTON 234f. ( - • III.1.3.2.1+3). Nach einer Beobachtung von BOOKIDIS, Ritual Dining, 51, im korinthischen Demeter-Heiligtum wurden im späten 5. Jh. v.Chr. die Initiationsriten für ein Opferkultfest im Theater begangen, in dem allerdings nur 8 5 90 Personen Platz fanden. Der eigentliche Mahl- und Festbereich bot dagegen bis zu 200 Personen Platz. Viele Teilnehmer einer Kultfeier konnten dem eigentlichen Opferakt selbst überhaupt nicht beiwohnen. Von dieser Evidenz her erscheint es wahrscheinlich, dass einige, wenn nicht die meisten, der Mahlteilnehmer keine aktive Rolle bei den Initiationsriten bzw. dem eigentlichen Opferakt inne hatten. Sie weist ferner auf das völlige Fehlen von Schweineknochen in den Speisesälen hin, die aber im Opferraum in großer Zahl anzutreffen waren. Umgekehrt gibt es keine Evidenz für Müllbehälter um das Heiligtum herum. Sie erwägt, ob Opferschweine überhaupt nicht gegessen wurden bzw. dass umgekehrt das in der Mahlfeier konsumierte Fleisch nicht von den im Opferakt getöteten Schweinen stammte, vgl. a.a.O., 54f. 245
1. Analyse
des
159
Konfliktgegenstandes
die vorher auf die tpaireCoc gelegt wurden, eine wesentlich höhere religiöse Verdichtung geglaubt wurde, als im anschließenden Opfermahl. 248 1.3.3.4 Die Unterscheidung zwischen Opfernden und
Mahlteilnehmern
Es gehört zu den Eigenarten der griechischen Religion, dass sie - anders als die Römer 249 - keine Priesterkaste im eigentlichen Sinn mit fester Tradition, Ausbildung, Weihe und Hierarchie kennt, die kultisches Wissen esoterisch verwaltet, unter sich weitergibt und dadurch einen Status der Unverzichtbarkeit und des zwischen Mensch und Gott vermittelnden Expertentums bekommt. Der griechische Opferritus verlangt demgegenüber bemerkenswerterweise keinen Vermittler. Grundsätzlich kann jeder Bürger im privaten Rahmen die freilich festgelegten rituellen Handlungen vollziehen.250 Im Rahmen der offiziellen Kulte übernimmt in der Regel die Polis die Verantwortung für den korrekten Vollzug des Rituals. Es gab eine Vielzahl von Ämtern in Zusammenhang mit der Organisation, der Durchführung und der Finanzierung der großen Opferfeste, die freilich von Stadt zu Stadt unterschiedlich strukturiert und tituliert waren. 251 Das Amt des Priesters bzw. der Priesterin 252 war an die einzelnen Kulte und Heiligtümer gebunden. Auch dabei handelte es sich nicht um eine besondere Profession, sondern um ein öffentliches Amt, das in der Regel jährlich neu und meistens durch Wahl oder Los vergeben wurde. 253 Grundsätzlich waren alle Bürger einer Stadt wählbar, außer jenen, die ein körperliches Gebrechen hatten. In einigen Städten gab es erbliche Priestertümer, die innerhalb einer aristokratischen Familie weitergegeben wurden. 254 In Kleinasien wurde das Amt des Priesters vereinzelt auch versteigert. 255 Grundsätzlich aber waren Priester und Priesterinnen kein Stand mit Ausbildung, Weihe und Hierar-
248 Vgl. im B e z u g auf den religiösen Charakter des anschließenden Opfermahls das Urteil von ZIEHEN, Opfer, 623: „ D i e Entwicklung der späteren (sc. nachklassischen) Zeit, in der die Freigiebigkeit von Fürsten oder reichen Privatleuten die Mittel für immer reichere und umfassendere Bewirtung des V o l k e s lieferte [...], hat nichts mehr mit Religion und Kult zu tun" (kursiv Vf.). 249
Siehe MUTH, Einführung, 291 ff.
250
ZAIDMAN/SCHMITT-PANTEL, R e l i g i o n ,
251
V g l . ZAIDMAN/SCHMITT-PANTEL, R e l i g i o n , 4 8 f .
252
Vgl. KLAUCK, U m w e l t I, 4 0 - 4 3 (mit einführenden Literaturhinweisen). Vgl. z.B. Plat Leg 7 5 9 a - 7 6 0 a . Vgl. KLAUCK, U m w e l t I, 41.
253
47.
254 Vgl. BURKERT, Religion, 159; KLAUCK, U m w e l t I, 41. In Athen scheinen einige aristokratische Familien die ehrenvollen Ämter eines Priesters bzw. Verwalters des Heiligtums unter sich aufgeteilt zu haben, vgl. ZAIDMAN, Ritual Eating, 2 0 0 . 255 BURKERT, Griechische Religion TRE, 237; ZAIDMAN/SCHMITT-PANTEL, Religion,
5 3 ; K L A U C K , U m w e l t I, 4 1 .
160
Kapitel
III: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in
Korinth
chie, sondern lokale Funktionäre in einem in der Regel befristeten Amt mit hohem Sozialprestige. 256 Entsprechend begehrt waren diese Ämter, was schon durch die Aufzählung von anderen Ehrentiteln einiger Priester in verschiedenen Inschriften, die auf ein hohes Sozialprestige hinweisen, unterstrichen wird. 2 " Die Aufgabe des Priesters bzw. der Priesterin bestand in der Sicherung des liturgisch korrekten Ritualvollzugs. Ihnen oblag die Weihe der Opfertiere und das Sprechen der Akklamationen und Gebete, die Aufteilung des Opferfleisches in den zu verbrennenden Götteranteil und die zu verzehrenden TpaneioVocTa, sowie die anschließende Verteilung derselben. Sie waren jedoch nicht notwendigerweise beim eigentlichen Tötungsakt beteiligt. Diese Aufgabe konnte an Opferdiener oder andere Amtsträger delegiert werden. In der Regel wurde hier ein [layei-pot; beauftragt, der als Schlachter und Koch gleichzeitig auch Spezialist für die kultisch korrekte Opferung war.258 Neben dem Priester und den anderen religiösen Amtsträgern waren vielerorts auch die politischen Amtsträger zur Teilnahme am Opferritual obligatorisch verpflichtet. 259 So berichtet Pausanias, dass im Athener 0öA.o III.3.5.1.1; -> III.4.2). 1.3.5
Mysterienmähler
Es wurden bereits einige korinthische Heiligtümer vorgestellt, in denen antike Mysterienkulte zu Hause waren ( - » III. 1.3.2). Unter den von Pausanias erwähnten Tempeln zählen die beiden Isis- und Sarapisheiligtümer (2.4.6), der Tempel der eleusinischen Gottheiten Demeter und Kore (2.4.7), sowie der Tempel der Göttermutter (2,3,4; vgl. 2,4,7) dazu, von dem jedoch außer der Erwähnung bei Pausanias keinerlei weitere Belege existieren. Auch von den Kulten, die im Einzugsbereich der Stadt erwähnt werden, 294 lässt sich kein genaues Bild gewinnen. Inwiefern diese Heiligtümer eine Rolle für das Verständnis von IKor 8,1-11,1 spielen ist angesicht der erwähnten archäologischen Unsicherheiten schwierig zu beantworten. Teils ist noch nicht einmal die Lokalisierung gesichert, teils ist die Existenz zur fraglichen Zeit der paulinischen Korintherkorrespondenz äußerst vage. Die zweifelsfreie Existenz eines Mysterienheiligtums in den 50er Jahren des 1. Jh. konnte in keinem einzigen Fall nachgewiesen werden. 295 Von besonderem Interesse für die von Paulus angesprochenen Mahlsituationen wären vor allem Mähler im Isis- und Sarapisheiligtum, da es hier scheinbar auch offene (Privat- bzw. Familien-) Mähler gab, zu denen (auch) nicht-eingeweihte Freunde und Verwandte eingeladen werden konnten (vgl. IKor 10,27). Ansonsten ist es unwahrscheinlich, dass Christen im Rahmen von Mysterienfeierlichkeiten an einem Kultmahl teilnahmen, da es dazu in der Regel der formalen Aufnahme in die Kultgemeinschaft durch einen bestimmten Initiationsritus, der sog. Mysterienweihe, bedurfte. 296 Diesem dürften sich Christen kaum unterzogen haben, auch wenn sie sich zu den „Starken" in Korinth zählten. Falls man dieser kaum verifizierbaren Annahme dennoch einmal folgen will, so würden diese Mysterienmähler aus paulinischer Sicht unter das Verdikt von 10,20f. fallen, da die Quellen hier eine ähnliche Verdichtung der religiösen Erfahrung (und damit auch der Gefahrdung) beschreiben, wie beim Opferritus. Relevant werden die Mysterienmähler für die Problematik von IKor 8,1-11,1 vielmehr durch die Eingliederung ehemaliger Mysten in die 294
Vgl. Paus 2,12,5; 2 , 1 4 , 1 - 3 ; 2,30,2; 2,36,7. Vgl. dagegen KÖSTER, Melikertes, 3 5 5 - 3 6 6 . 296 Dieser Initiationsritus musste im Falle der Eleusismysterien in Eleusis selbst stattfinden, ebenso das mystische Trinken des KUKEUV. Eine Initiation im korinthischen Demeter- und Koreheiligtum wäre von daher gar nicht möglich gewesen, vgl. FOTOPOULOS, Food Offered, 87.91. 295
1. Analyse
des
Konfliktgegenstandes
169
christliche Gemeinde und deren mitgebrachtem Vorverständnis von religiösen Mahlzeiten hinsichtlich des Herrenmahls. Wurden möglicherweise aus den Mysterienmählern Deutungskategorien auf das Herrenmahl angewandt und wenn ja, wie verhält sich Paulus zu diesen Deutungen? Diese Fragen können freilich erst im Rahmen der Auslegung von IKor 10,14-22 (-» III.3.6.2) endgültig beantwortet werden. Bei den Mählern297 im Rahmen der Mysterienkulte gilt es zwei Vorgänge zu unterscheiden. Zum einen gibt es Mahlhandlungen im Rahmen des mystischen Nachvollzugs des Kultmythos, z.B. in den Eleusis-, Dionysosund Attismysterien, die nur symbolische Bedeutung hatten und nicht die Intention einer Sättigung der Mahlteilnehmer verfolgten. Zum anderen gab es - in der Regel im Anschluss an die eigentliche Kulthandlung - ausgiebige aber exklusive Opfermähler für die Eingeweihten. So wurden in Eleusis am Tag nach der Mysteriennacht große Rinderopfer dargebracht, deren Fleisch von den Mysten in einer ebenso großen Mahlfeier gegessen wurde.298 Bei Isis und Sarapis gehören die 6eiiri>a zu den häufig bezeugten Bräuchen, für die es besondere Räume im Heiligtum gab. Auch im Dionysosmysterium gab es keinen Mangel an Opferfleisch und erst recht nicht an Wein, der wesentlich zur Charakteristik dieser Kultgottheit gehörte. In diesen Feierlichkeiten soll der Genuss und die Speisenfülle bewusst die Ärmlichkeit des Alltags kontrastieren. 299 Hinsichtlich der Gattung stellen diese Mähler eine Sonderform des griechischen und hellenistischrömischen Kults dar. Besonderes Augenmerk im Rahmen dieser Untersuchung verdienen freilich die Mahlhandlungen mit Symbolcharakter. Hier findet die Interaktion zwischen Mensch und Kultgottheit ihren verdichteten Ausdruck. Eine Rekonstruktion der Vorgänge und ihrer Bedeutung muss sich freilich immer mit der äußerst dürftigen Quellensituation auseinandersetzen. Diese wiederum hängt wohl weniger mit dem oft zu beklagenden Verlust paganreligiöser Literatur der Antike zusammen, als vielmehr mit dem Umstand, dass die Mysterien „unsagbar" waren. Damit wird nicht nur die strenge Schweigepflicht der Mysten umschrieben, sondern auch die eng begrenzte Verbalisierbarkeit und starke Irrationalität der Kulte. Eine eigene Mysterienliteratur hat es wohl nie gegeben, weil das Genus „Literatur" und die Mysterien inkompatibel sind.300
297 Vgl. hierzu K.LAUCK, Herrenmahl, 9 1 - 1 6 6 , dessen Untersuchung der folgenden Darstellung zugrunde liegt. 298 BURKERT, Antike Mysterien, 93. 299 BURKERT, Antike Mysterien, 93. 300 BURKERT, Antike Mysterien, 56ff.
170
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Korinth
Die einzelnen Mahltypen sind nach Charakter, Verlauf 01 und Bedeutung stark zu differenzieren, jedoch zeigen sich bei allen mehr oder weniger zahlreiche Berührungspunkte sowohl mit den öffentlichen Opferfesten302 als auch mit den Vereinsmählern.303 In der Regel stehen sie anders als bei den Opfermählern nicht im Mittelpunkt des Geschehens, sondern haben eher die Rolle einer einmaligen Nebenhandlung im Zusammenhang der Initiation eines neuen Mitglieds. Nur beim Dionysoskult stand zumindest in der Frühphase die Omophagie, der Verzehr von Rohfleisch, im Zentrum der Zeremonie. Die Sinngebung der Mähler, wie überhaupt der Mysterien, liegt in ihrem Stiftungs- und Nachahmungscharakter. Indem die Mysten die Trauer der leidenden Gottheit304 mitvollziehen, hoffen sie auch, an der glücklichen Lösung Anteil zu gewinnen. Diese stellt freilich immer eine Art Kompromiss dar, da es nie zu einer wirklichen Überwindung des Todes kommt.305 In der Regel hat die Gottheit selbst in einem überzeitlichen Urgeschehen ein Mahl gehalten bzw. gestiftet, und die Mysten vollziehen durch die Imitation eine wie auch immer geartete Annäherung an bzw. Verbindung mit der Gottheit. Durch die Initiation tritt der Myste in das mystische Drama ein, das dem Raum und der Zeit enthoben und deshalb ständig gegenwärtig ist und vergegenwärtigt werden kann.306 Die Teilnehmer erhoffen 301 Im Mysterienverlauf lassen sich die drei Bereiche öpconeva, 5eiKi'i5|iiva und teyö\ifva. unterscheiden. Mit den Spunfua werden die liturgischen Abläufe bezeichnet. AeiKviVeva bezeichnen die von einem Hierophanten im Kultablauf vorgezeigten heiligen bzw. mystischen Gegenstände und die A.«y6|iei'a sind die die Handlung begleitenden liturgischen Zurufe und Deuteworte. 302 Dies gilt insbesondere für die Mysterien von Andania und des Zeus Panamaros, vgl. KLAUCK, Herrenmahl, 151 f. 155f. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen esoterischer und öffentlicher Mahlfeier. 303 Dies drängt sich schon von der vereinsmäßigen Organisationsform vieler Kulte her auf. 304 Häufig wird das Verhältnis einer Muttergottheit zu ihrem Partner oder Kind, der bzw. das stirbt und wiedergefunden wird, bzw. in der Unterwelt weiterlebt und -wirkt, thematisiert. 305 ZELLER, Mysterien, 516. Vgl. auch BURKERT, Antike Mysterien, 64: „Es gibt kein Zeugnis für eine des Attis; auch Osiris bleibt bei den Toten; und wenn Persephone jeweils im Jahreslauf wiederkehrt, eine Freude für Götter und Menschen, so spricht nichts dafür, daß Mysten auf diesem Weg ihr folgen können. Es gibt eine Todesdimension in allen Mysterien, was ihnen ihren Ernst verleiht, aber die Verheißung einer oder , sei es des Gottes, sei es seiner Mysten, taucht kaum auf." 306 Dieses Zeit- und Wirklichkeitsverständnis wird in einer Bemerkung des Salustios, De diis 4,9, angesprochen, der sich im 4. Jh. n.Chr. über den Attis-und-Kybele-Kult äußerte: „Diese [sc. Ereignisse, die im Attiskult nachvollzogen werden] geschahen zwar niemals, sind aber immer. Und der Verstand sieht sie alle zugleich, die Rede aber sagt die einen zuerst, die anderen danach."
1. Analyse des
Konfliktgegenstandes
171
sich von der Verbindung zur göttlichen Kraft irdisches Wohlergehen, Befreiung von bindenden Schicksalsmächten (Isismysterien) vor allem aber eine konkrete Hoffnung auf ein glückliches Nachleben (Eleusis-, Isis- und Dionysosmysterien).307 Nach W. Burkert liegt der antike Erfolg der Mysterien in ihrer Funktion im Blick auf die Alltagsbewältigung des Einzelnen: „Für die großen und kleinen Nöte und Hoffnungen des Alltags hatten religiöse Praktiker ihre Rituale entwickelt, die offenbar wohl abgestimmt waren auf die Empfänglichkeit der menschlichen Psyche."308 Eine ausführliche Darstellung der antiken Mysterienkulte ist im Rahmen dieser Untersuchung weder möglich noch sinnvoll.309 Die folgende Darstellung fokussiert sich deshalb auf die für den korinthischen Kontext wichtigen Elemente der Mahlgemeinschaft und ihrer Bedeutung: 1) Der Kutceojp im
Eleusiskult
Grundlage für diesen wohl ältesten, berühmtesten und beliebtesten Mysterienkult 310 ist der Demeterhymnus Homers 3 " aus dem 7./6. Jh. v.Chr. Die ausschließlich in Eleusis vollzogenen Riten finden hier ihre ätiologische Grundlage. Nach diesem Mythos wird Persephone (genannt Kopri, das Mädchen), die Tochter der Göttin Demeter, vom Unterweltgott Hades geraubt und in die Unterwelt entfuhrt. Auf der Suche nach ihr kommt Demeter unerkannt an den Königshof von Eleusis. Als die Königin ihr Wein anbietet, lehnt sie ab und bittet stattdessen um ein Gemisch aus Gerste, Wasser und zarter Minze, den sog. KUKEGÖV. Am Königshof wirkt sie fortan als Amme für den Königssohn Demophon, den sie jede Nacht ins Feuer steckt, um ihm Unsterblichkeit zu verleihen. Als die Königin es eines Nachts bemerkt und fürchterlich erschrickt, gibt sich Demeter zornig zu erkennen und verlangt zur Versöhnung den Bau eines Tempels. Sie selbst verheißt die Stiftung von kultischen Weihen, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, sie selbst zu versöhnen. Nun tritt ein Bruch in der Erzählung ein. Der ursprüngliche, aber zwischendurch verlassene Handlungsstrang mit dem Motiv der Trauer um die Tochter wird wieder aufgenommen. Demeter verhindert das Wachstum des Getreides und provoziert so eine Hungersnot bis Zeus einlenkt und seinem Bruder Hades befiehlt, Persephone wieder freizulassen. Dieser verleitet sie vor der Freilassung noch zum Essen eines Granatapfelkerns, der kraft magischer Wirkung sie endgültig an die Unterwelt bindet. Fortan darf Perse307
KLAUCK, Herrenmahl, 164. BURKERT, Antike Mysterien, 25. 309 Deshalb wurde auch auf eine Darstellung der ab dem 2. Jh. n.Chr. verbreiteten Mithrasmysterien verzichtet, da sie weder für Griechenland im Allgemeinen noch für Korinth im Besonderen eine Rolle spielten. 310 Der Eleusiskult stellt eine Art Grundmodell für alle anderen Mysterienkulte dar. An ihm wird deutlich, dass die häufig geäußerten Vorurteile im Blick auf das junge Alter der Mysterien und deren orientalische Provenienz unbegründet sind. Die Mysterien sind von ihrem Ursprung her weniger ein Phänomen der spätantiken als vielmehr bereits der spätarchaischen Epoche. Die aus dem Eleusiskult erwachsenden anderen Kultformen integrieren zwar durchaus Elemente orientalischer Spiritualität, bleiben aber in ihrer Grundform durch und durch griechisch, vgl. BURKERT, Antike Mysterien, 10. 311 Horn hDem 192-211. 308
172
Kapitel
III: Der Konflikt
zwischen
Starken
und Schwachen
in
Korinth
p h o n e zwei Drittel des Jahres bei ihrer Mutter verbringen, m u s s a b e r w ä h r e n d eines Drittels immer w i e d e r zurück in die Unterwelt. Ritueller Teil der N a c h a h m u n g im M y s t e r i u m ist unter anderem ein Schluck G e r s t e n saft (KUKCCJV),312 den j e d e r Myste w ä h r e n d der Feier kostet. Dieser ist auch G e g e n s t a n d des von C l e m e n s von Alexandrien überlieferten K e n n s p r u c h s (aw9r||ia 3 ' 3 ): „Ich fastete; ich trank den M i s c h t r a n k (KUKtow); ich nahm aus der Kiste; n a c h d e m ich meine A u f g a b e erfüllt hatte, legte ich es in den K o r b und aus dem K o r b in die K i s t e " ( C l e m AI Protr 2,21,2). 3 1 4 In der älteren Forschung w u r d e dieser Schluck sakramental interpretiert, was sich a b e r an den Quellen kaum belegen lässt. Hinzu k o m m t , dass der Trank nicht ins Z e n t r u m der W e i h e h a n d l u n g gehörte. Der H ö h e p u n k t (Tt/Uxri) war vielmehr die Schau des heiligen Inhalts j e n e r Kiste, von der im o w ö r m a die Rede ist und der von b e s a g t e m H i e r o p h a n t e n h e r u m g e z e i g t wurde. M ö g l i c h e D e u t u n g s k a t e g o r i e n für das Herrenmahl sind hier nicht zu erkennen. 2) Die Omophagie
des
Dionysoskults
D i o n y s o s ist die schillernste und vielgestaltigste Gottheit unter den o l y m p i s c h e n G ö t tern. 3 1 5 Einerseits wird er als Gott des Weines meist mit Lebenslust und L e b e n s f r e u d e identifiziert. Entsprechend spielte der W e i n g e n u s s , verbunden mit bisweilen ekstatischer Ausgelassenheit eine b e d e u t e n d e Rolle bei den Mysterienfeierlichkeiten. A n d e r e r s e i t s kennt der M y t h o s auch brutale und g r a u s a m e Seiten. So entsteht nach N o n n o s der erste W e i n s t o c k aus dem Leichnam des toten Ampelos. 3 1 6 V o r allem aber wird D i o n y s o s selbst als blutrünstiger „ R o h f l e i s c h e s s e r " ( O m o p h a g ) und „ M e n s c h e n z e r r e i ß e r " vorgestellt, w a s sich in der vieldiskutierten O m o p h a g i e im Dionysoskult widerspiegelt. Ü b e r diesen Kult gibt es eine Fülle von Z e u g n i s s e n , wobei die B a c c h e n t r a g ö d i e des Euripides (406/5 v.Chr. u r a u f g e f ü h r t ) wohl den besten Einblick in das K u l t g e s c h e h e n gibt. Euripides beschreibt, dass r a s e n d e Frauen mit bloßer Hand Kühe, Kälber und Stiere zerreißen ( B a c c h 7 3 4 - 7 4 7 ) und schließlich auch Pentheus, den K ö n i g von Theben, ein V e r ä c h t e r und G e g ner des Dionysoskults, zerstückeln. Im Blick auf die B e d e u t u n g des V o r g a n g s sind zwei U m s t ä n d e b e m e r k e n s w e r t : Einmal erscheint Dionysos selbst o f t als Stier, 3 1 7 d.h. als Opfertier, und z u m anderen erscheint bei Euripides die Gestalt des Pentheus, der von den ekstatisch entfesselten Frauen in Stücke zerrissen wird. Seine eigene Mutter A g a u e trägt triumphierend sein H a u p t in
312 G e n a u e r eine M i s c h u n g aus Gerstengrütze, einer Flüssigkeit und einem W ü r z k r a u t , die vor dem V e r z e h r u m g e r ü h r t (KUKSV) wird. 313 Dabei handelt es sich um eine Art Parole, mittels der sich der Myste als e i n g e w e i h tes Mitglied des Kults „ a u s w e i s e n " konnte. Vgl. z.B. Apul Apol 56,7: „Ist j e m a n d hier (sc. vor Gericht), der in dieselben Mysterien eingeweiht ist, soll er mir das Signum (sc. K e n n w o r t ) geben, und du darfst hören, was ich v e r w a h r e . " 314 Ü b e r s e t z u n g nach STÄHLIN. 315 Vgl. Cic Nat deor 3,58: " D i o n y s o s multos habemus.."-, Plut M o r 3 8 9 b b e z e i c h n e t Dionysos als iroA.ü|j.opoc. 316 N o n n Dion 1 2 , 1 7 2 - 2 0 7 ; vgl. Plut M o r 3 5 3 b . Vgl. auch die Ikarios-Variante, w o nach Ikarios von Landleuten erschlagen wird, die sich nach dem ersten W e i n g e n u s s von Ikarios vergiftet f ü h l e n , w o r a u f h i n sich seine T o c h t e r erhängt (Apollod 3,14,7; N o n n Dion 4 7 , 3 4 - 2 6 4 ) . 317
Eur Bacch 100.618.920f. 1018.1159.
1. Analyse des
Konfliktgegenstandes
173
die Stadt und lädt zum makaberen Festmahl, bei dem die Stücke ihres Sohnes verzehrt werden. 3 1 8 Von besonderer Relevanz ist nun aber, dass Pentheus nach der mythischen Genealogie der Vetter des Dionysos ist und bei Euripides als dessen Doppelgänger auftritt, sozusagen als „Ersatzmann für den Gott" 319 . H.J. Klauck sieht in diesem Mythos im wesentlichen drei Bausteine, aus denen sich die Deutung des Ritus erschließt: „Ein Gott, der Tiergestalt annehmen kann, freut sich am Essen von rohem Fleisch, seine Gläubigen zerreißen lebende Tiere, sein Stellvertreter wird zerstückelt und zum Mahl angeboten. Wenn wir sie zusammensetzten, ergibt sich der Ritus, den das Drama umgesetzt hat. Die Verehrer des Dionysos zerstückeln ein Opfertier und verschlingen die rohen Bissen, in der Meinung, mit dem blutigen Fleisch den Gott substantiell in sich aufzunehmen. Die Grenzen zwischen Gott, Mensch und Opfer verschwimmen." 3 2 0 Entsprechend versteht Klauck die Omophagie des Dionysoskultes 3 2 1 als eine sakramentale Theophagie. 3 2 2 Seine Schlussfolgerung ist allerdings in der Forschung heftig umstritten. 3 2 3 In der römischen Epoche tritt der ekstatisch-wilde Charakter des Kultes deutlich zurück. Insbesondere nach dem sog. Bacchanalienskandal in Rom 186 v.Chr., 324 der zum zeitweilig offiziellen Verbot des Kultes führte, erscheinen die Mysterien nur noch in gemäßigter Form. Auch eine Omophagie lässt sich nicht mehr belegen. Auch in der Orphik 3 2 5 spielt der Dionysosmythos eine zentrale Rolle. Das Kind Dionysos, von Zeus zu seinem Nachfolger bestellt, wird von den Titanen überlistet und von ihnen - als verwandelter Stier - zerrissen und in einigen Varianten auch gekocht, gebraten und roh verspeist. 326 Umstritten ist allerdings, ob die letztgenannte Omophagie ein genuiner Grundzug des orphischen Mythos war und vor allem, ob sie in den Mysterien-
318
Eur Bacch 1184f.l214f.
319
K L A U C K , H e r r e n m a h l , 1 1 0 . ; DERS., U m w e l t I, 9 8 .
320
KLAUCK, Herrenmahl, 110f.; DERS., Umwelt I, 99. 321 Belege für die Omophagie im Dionysoskult sind Eur Frgm. 4 7 2 , 9 - 1 5 und eine Inschrift aus dem Jahre 276/75 v.Chr. in LSAM 48,2f. Vgl. auch die Hinweise bei KLAUCK, Herrenmahl, 112, Anm. 136. 322 Vgl. das Urteil von BURKERT, Religion, 361, zitiert auch bei KLAUCK, Herrenmahl, 108: „Der konsequenteste Mythos wäre der, daß Dionysos, der Gott des Weines, selbst getötet und zerstückelt wurde, um als Wein zu sakramentalem Genuß zu dienen." 323 Zu den Vertretern der Theophagiethese gehört u.a. NLLSSON, Geschichte I, 576f.; zu ihren Bestreitern u.a. WILAMOWITZ-MOLLENDORF, Glaube II, 67 und OTTO, Dionysos, 120f. Vgl. auch die Diskussion bei PROBST, Brief, 239ff. Ein wesentliches Argument der Bestreitung einer sakramentalen Interpretation ist eine Bemerkung Ciceros: „Wenn wir das Korn Ceres [lat. für Demeter] nennen und den Wein Uber [lat. für Dionysos], verwenden wir ein gebräuchliches Bild. Oder denkst du, daß irgendjemand so unvernünftig ist, zu glauben, das Ding, das ihn nährt, sei ein Gott?" (Nat deor 3,41). Zu Bedenken ist allerdings, dass Cicero zu den Skeptikern zu rechnen ist. Sein Urteil dürfte für die römische Zeit repräsentativ sein, während in der klassischen Epoche noch durchaus mit sakramentalen Vorstellungen gerechnet werden kann. 324 In farbiger Schilderung berichtet Liv 39,8,3-19,7 von dramatischen Auswüchsen, bei denen Mysten im ekstatischen Rausch misshandelt, ermordet und zerrissen worden sein sollen. Der römische Senat verhängte daraufhin drakonische Strafen (Liv 39,14,5-10 und 39,19,1). 325 Die orphischen Mysterien werden von Orpheus abgeleitet, der in der Antike als Stifter aller Mysterien galt, inklusive der eleusinischen und dionysischen. 326 Vgl. Plut Mor 996c.
174
Kapitel III: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in
Korinth
kulten selbst vollzogen wurde. Der strenge Vegetarismus der Orphik widerrät eher dieser Annahme. Möglicherweise gehörte sie zu dem einmaligen Initiationsgeschehen. 3 2 7 3) Das Mahl im Attis- und
Kybelekult
Auch hier finden sich unterschiedliche Mythen, die sich zwei Grundformen zuordnen lassen. 328 In einer Variante steht der junge Attis bei der Göttermutter Kybele 3 2 9 so hoch in Achtung, dass ihn der eifersüchtige Zeus auf der Jagd von einem wilden Eber anfallen und töten lässt. 330 In der zweiten Variante verliebt sich Kybele in Attis. Als dieser aber eine Königstochter heiraten will, bzw. nach einer weiteren Version sich mit einer Nymphe einlässt, bringt ihn Kybele zur Raserei, in der er sich selbst entmannt und stirbt. 331 Entsprechend sind auch für den Mysterienkult Selbstentmannungen belegt, die sich die künftigen Kultdiener während einer orgiastischen Feier selbst zufugten. 3 3 2 Ähnlich dem Eleusismythos ist auch im Attis-und-Kybele-Kult das eigentliche Kultmahl auf ein symbolisches Mahl begrenzt. Das oui/6r)|ia lautet in Nachbildung der eleusinischen Formel: „Aus der Pauke habe ich gegessen; aus der Zimbel habe ich getrunken; die Opferschale (Kcpvoq) habe ich getragen; in das Brautgemach bin ich heimlich eingedrungen" (Clem AI Protr 2,15,3). 333 Leider werden die Mahlsubstanzen nicht genannt, so dass die Forschung über Vermutungen kaum hinauskommt. 3 3 4 Deutlich ist dagegen, dass hier keine Theophagie vorliegt. Es geht vielmehr lediglich um eine Verbindung zur Göttin, die durch Imitation hergestellt wird. 335 Bezüge zum Herrenmahl - welcher Art auch immer - sind nicht sichtbar. 4) Theoxenie
und Gastmähler
im Osiris-, Isis- und
Sarapiskult
Während einzelne Motive und Themen des Mythos ägyptischen Ursprungs sind, ist die Form der Mysterienfeiern völlig hellenistisch. Dies kommt auch in der Quellenlage zum Ausdruck. Während aus Ägypten nur Bruchstücke des Mythos bekannt sind, stammt die einzige geschlossene Gesamtkonzeption von Plutarch, der sie zu Beginn des 2. Jh. n.Chr. in seiner Schrift De Iside et Osiride erzählt.
327
KLAUCK, Herrenmahl, 116ff. KLAUCK, Herrenmahl, 118f. 329 Der römische Kulttitel der Gottheit lautete Mater Deum Magna Idaea, oder verkürzt Mater Magna. In Griechenland wurde ihr phrygischer Name Matar Kubileya bestimmend. Oft wurde sie auch nur Meter Oreia, die „Mutter vom Berg" genannt. 330 Paus 7,17,9f. 331 Paus 7,17,10-12. 332 Mart 3,81,1-6; 2,86,4f.; luv Sat 2,115f.; 6,511-516. Als Sinn für diesen blutigen Eingriff wurden verschiedene Deutungen vorgeschlagen: Angleichung an die weibliche Göttin, kultischer Zeugungsakt, Fruchtbarmachen der Erde, Ermöglichung ständiger Reinheit, Sühneopfer, Blutbund, Sehnsucht nach androgyner Einheit, vgl. KLAUCK, Herrenmahl, 119. 333 Übersetzung nach STÄHLIN. Ebenso in Schol Plat Gorg 497c, dort aber bezogen auf Eleusis, und Eus Praep Ev 2,3,18. 334 Vgl. KLAUCK, Herrenmahl, 122. 335 KLAUCK, Herrenmahl, 124. 328
1. Analyse des
Konfliktgegenstandes
175
Am Ursprung des Mythos steht wieder ein blutiger, aus Ägypten herrührender Zerreißungsmythos. Osiris, ein junger Hirte, wird bei der Verteidigung seiner Herde gegen wilde Tiere von diesen zerrissen. Als seine Geliebte, der später der Name Isis gegeben wird, den Leichnam findet, beweint sie ihn, was im Sinne einer rituellen Bestattung interpretiert wurde. Damit wird das Weiterleben des Osiris in der Erde gewährleistet. In einer anderen Variante erscheint der Osirismythos ähnlich dem Demetermythos als Vegetationsmythos. Der Tod des Osiris erfolgt nicht mehr durch Zerreißen, sondern durch Ertrinken im Nil. So wirkt Osiris mit seiner Kraft die Fruchtbarkeit des Wassers und folglich auch des Nilschlamms, die Grundlage für agrarisches Wachstum und Gedeihen. In Plutarchs Endfassung werden konkurrierende Varianten nebeneinander gestellt, 336 sowie eine Angleichung an Demeter bzw. Dionysos unternommen. Im hellenistischen Kult rückte Isis ins Zentrum, 337 die mehr und mehr die Rolle einer Göttermutter einnahm und der magische Heilkräfte zugeschrieben wurden. 338 Hier sind üppige Opfermähler besonders gut bezeugt, wobei genauere Mahlriten nicht bekannt sind und es daher auch unklar bleibt, welche Beziehung diese Mähler zum eigentlichen Kultmythos hatten. Die Funde von Tprinfia bzw. mensa und KA.ivr| deuten auf eine Form der Theoxenie hin. Ein sakramentaler oder gar theophager Charakter ist aber ausgeschlossen. Der Sättigungscharakter der Mähler spricht viel mehr für den Sinn einer Abschlussmahlzeit nach dem vorauslaufenden Fasten der Initianten. 339 Eine Variante des Osiris- bzw. Isiskults bildet der Sarapiskult, der ein Kunstgebilde ist und auf die ptolemäische Religionspolitik zurückgeht. Im Lobpreis des Ailios Aristeides (143/144 n.Chr.) wird das Sarapismahl als Theoxenie beschrieben: „Und ferner feiern auch die Menschen mit diesem Gott allein in besonderer Weise die Opfergemeinschaft im wahren Sinne des Wortes (kolvcovoCoiv ... xr|i' ¿Kpißf) Kotvcoviav): Sie laden ihn zum Mahl, geben ihm als Tischherrn und Gastgeber den besten Platz, so dass dieser (sc. Sarapis) während an den anderen Festmahlen bald der, bald jener Gott teilnimmt, gleicherweise bei allen die ehrende Krone bedeutet, indem er als Symposiarch waltet inmitten derer, die sich in seinem Namen (kci-c' oüjtöi') versammeln. [...] ... so ist dieser Gott Spendegeber und Spendeempfänger in einem, ist zum Jubelfest Kommender und zugleich die Festteilnehmer zu sich Ladender, ..." (Aristeid 45,27). 340 Die Deutung als Kommunionsopfermahl liegt hier auf der Hand. Die Gottheit ist Gast und Gastgeber in einem und tritt mit dem Menschen in eine Mahlgemeinschaft. Bekannt sind im Zusammenhang des Sarapiskults auch zahlreiche Einladungbillets 341 zu Sarapismählern im Sarapeion bzw. f k K\tivr\v (toO Kupiou) EapäiuSoc. Die Papyrus336 Osiris wird von Typhon (= Seth) zunächst in einen kostbaren Sarg gelockt und dann ertränkt. Nachdem Isis den Sarg nach langem Hin und Her findet und nach Ägypten zurückbringt (vgl. Demetermythos), entdeckt Typhon ihn erneut, zerreißt Osiris daraufhin in 14 Teile und verstreut sie (Plut Mor 358a/b). 337 Hauptquelle für die Isismysterien ist das elfte Buch der Metamorphosen von Apuleius (ca. 125 n.Chr. in Nordafrika geboren). Dabei handelt es sich um den ausfuhrlichsten Mysterientext der antiken Literatur überhaupt. 338 Isis besitzt das ifjc ¿0avaaiac; ij)cipjiaKov (Diod 1,25,6). 339 K L A U C K , Herrenmahl, 131. 340 Übersetzung nach HÖFLER, Sarapishymnus. 341 POxy 110; 1484f; 1755; 2592, die wohl aus dem späten 1. Jh. n.Chr. herrühren. Vgl. darüber hinaus aus dem 2.-3. Jh. POxy 523; 3693; 4339; 4540; POslo 157; PFlor 7 (= Sammelbuch 11049); PYale 85; PColon 2555 (= PKöln 57 = Sammelbuch 10496); PColl Youti (= PCol 548a); PColl Youti 52 (= PCol 550a); PFouad 76. Siehe auch POxy
176
Kapitel III: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in
Korinth
einladungen weisen insofern interessante Berührungspunkte mit I K o r 10,27 auf, als die Einladung mit den Worten I p u r ä oe oder Kalti oe ausgesprochen wird. Die Einladung EI; KIEIVIIV (TOÖ Kupiou) ÜAPANIÖOQ darf nicht als Ortsangabe verstanden werden, da die Formel in Einladungen steht, die sowohl im Sarapeion als auch in anderen Tempeln oder in Privathäusern stattfanden. 3 4 2 Vielmehr wird mit dieser Wendung wohl der besondere Ereignischarakter bezeichnet, 3 4 3 der aber aus den Quellen kaum greifbar ist. Leider wird nur in einem Beleg der Anlass eines Gastmahls erwähnt. In POxy 1484 ist die Volljährigkeit eines Bruders Anlass für ein Gastmahl am Tisch des Sarapis. Dies könnte zumindest eine generelle Richtung anzeigen, wonach es bei diesen Einladungen in erster Linie um Familienfeiern geht, zumal die Lokalitäten sehr verschieden sind. Die Diskussion, ob bei diesen privaten Mählern, die zwar unter dem Patronat der Isis bzw. des Sarapis standen, aber offensichtlich nicht (nur) im Kreis von Mysten begangen wurden, 3 4 4 der religiöse 3 4 5 oder mehr der soziale 3 4 6 Charakter im Vordergrund stand, ist müßig. Wie bei den öffentlichen Opfermählern dürfte auch hier eine große Bandbreite individueller und unausgesprochener Vorstellungen für eine entsprechende Polyvalenz unter den Mahlteilnehmern gesorgt haben. 1.3.6
Der
Fleischverkauf
ev
/-¡atcfAAq)
Der von Paulus in 1 Kor 10,25 erwähnte [laKfAAoc (lat. macellum) bezeichnet die „Markthalle"347 antiker Städte. Im Unterschied zum forum bzw. der ayopa handelt es sich um ein geschlossenes Gebäude, in dessen Innerem sich an mindestens drei Seiten Geschäfte aneinander reihten. In der Mitte der nicht selten quadratisch angelegten Halle stand in der Regel ein 6ölo;,
4539; 4542; 4543. FOTOPOULOS, Food Offered, 102-114, v.a. 106-110 und Anm. 54, bietet eine Aufstellung aller bekannten und verwandten Einladungen zu Sarapismählern, ähnlich WILLIS, Idol Meat, 40^12. 342 FOTOPOULOS, Food Offered, 111. Nach HÖFLER, Sarapishymnus, 96, konnte ein Sarapismahl auch als Privatmahl begangen werden. In diesem Fall bringt der Gastgeber die Speisen „als Opfer zum Tempel, weiht sie dem Gotte und erhält sie als Gabe des Gottes wieder zurück, vielleicht nach Abzug des für Sarapis und seine Priester bestimmten Anteils". 343 WILLIS, Idol Meat, 42, mit Verweis auf MLLNE, Kline of Sarapis, 9. 344 In den Metamorphosen des Apuleius (11,23,1) ist im Zusammenhang des Initiationsfestes des Lucius davon die Rede, dass dieser nicht nur die eigenen Kosten übernommen habe, sondern auch die Kosten, die seine Freunde verursachten. Von diesem Beleg her erscheint es durchaus wahrscheinlich, dass im Isis- und Sarapiskult auch nicht eingeweihte Gäste an den Opfermählern teilnehmen konnten; vgl. FOTOPOULOS, Food Offered, 102. 345 Vgl. FOTOPOULOS, Food Offered, 110-114. 346 Vgl. WILLIS, Idol Meat, 4 2 - ^ 4 . 347 Es gibt in der Neuzeit keine wirkliche Entsprechung zu diesem antiken Gebäudetyp. Der Begriff „Markthalle" soll lediglich den Unterschied zur architektonischen Konzeption des römischen forum bzw. der griechischen ayopa als einem offenen Marktplatz andeuten, vgl. KOCH, macella, 194, Anm. 2 und 197.
I. Analyse des
Konfliktgegenstandes
177
d.h. ein Rundgebäude bzw. eine Kuppel auf Säulen, die zum wesentlichen Charakteristikum der macella zählte. 348 Ein weiterer Unterschied zum forum bzw. zur ayopa bestand im exklusiveren Warenangebot. Im macellum wurden besonders hochwertige Nahrungsmittel wie Fleisch, Fisch, Geflügel, Wild und erlesenes Gemüse und Obst angeboten. Die soziale Oberschicht Korinths konnte hier alles erwerben, was für eine standesgemäße Einladung mit einem anspruchsvollen Gastmahl nötig war.349 Dies kann als ein Indiz dafür gelten, dass die in 10,25 angesprochenen korinthischen Starken in den oberen Schichten zu suchen sind. Im Blick auf das macellum in Korinth besteht zunächst einmal die Schwierigkeit, dass bislang noch nicht einmal der Stadtkern des antiken römischen Korinth vollständig ausgegraben wurde, von der gesamten Stadtfläche gar nicht zu reden. Für Diskussionen sorgte eine 1898 in Korinth ausgegrabene Marmorinschrift. 350 Die entscheidende vorletzte Zeile lautet: macellufm — cum —Jet pi[scario — ]
A.B. West dachte zunächst an einen separaten korinthischen Fischmarkt. Weitere Untersuchungen von N. Nabers machten jedoch deutlich, dass es vielmehr um die Beschreibung von im macellum enthaltenen Elementen wie z.B. einem Fischteich geht, der zum Verkauf von Frischfisch genutzt wurde. 351 Die gesamte Inschrift ist unter dieser Voraussetzung folgendermaßen zu lesen: Quintus Cornelius Secundus, Sohn des [—], aus der Familie Aemilia, und seine Frau Maecia, Tochter des [Quintus], sein Sohn [— Cornelius Secundus] Maecianus, sein Sohn Quintus Cornelius Secundus, seine [Tochter] Cornelia [Secunda, welche ist die Frau des Quintus] Maecius Cleogenes, des Freigelassenen von Quintus [Maecius], [baute (?)] das macellum [—] mit den Einrichtungen für Fisch [—]. 352
Vorausgesetzt, die Inschrift ist korrekt gedeutet, enthält sie den Hinweis auf ein gestiftetes Bauwerk, das als macellum dienen sollte. Die Größe der Stiftung sowie die lateinischen Namen lassen nur den Schluss zu, dass es sich bei den Stiftern um Mitglieder der römischen Eliteschicht Korinths gehandelt hat.
348
349
CADBURY, M a c e l l u m ,
140f.
KOCH, macella, 198f. Das Angebot umfasste sogar das entsprechende Personal zum Zubereiten und Servieren entsprechender Speisen bei einer größeren Einladung. Damit avancierte das macellum zum Feinkostgeschäft und Partyservice in einem. 350 Veröffentlicht von WEST, Latin Inscriptions, Nr. 321. Vgl. CADBURY, Macellum, 137ff.; GILL, Meat-Market, 390. 351 NABERS, A note on Corinth, 73f. Siehe GILL, Meat-Market, 390f. 352 Vgl. GILL, Meat-Market, 390f., Übersetzung des Vf.
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Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Korinth
Eine sichere Lokalisierung ist allerdings aufgrund der begrenzten archäologischen Evidenz nicht möglich. 353 Am ehesten kommt nach wie vor die sog. Nordagora in Frage. Sie befindet sich nördlich von dem aus spätarchaischer Zeit stammenden Apollon-Tempel, nahe der Hauptverkehrsstraße zum Hafen von Lechaion und umfasst einen Raum von 56 mal 45 m und einen relativ großen Innenhof von 34 mal 23 m (782 m 2 ). Ausgegraben wurde bisher allerdings lediglich der Südteil. Im Nordteil wurden nur Stichproben gemacht. 354 Die Grabungsevidenz der Südseite lässt auf gleichseitig angelegte Ladenreihen schließen. An der Südseite selbst wurden 13 solcher Läden gezählt, von denen jeder einen Anschluss an die Kanalisation besaß, was die Grundlage für den Verkauf von Fisch, evtl. auch von Fleisch war.355 Eine letzte Sicherheit können hier nur weitere Grabungen bringen. Paulus setzt in 10,25 klar voraus, dass man im macellum sowohl „Götzenopferfleisch", das aus kultischen Schlachtungen stammte, erwerben konnte, als auch Fleisch von Tieren, die weder zu kultischen Zwecken noch in kultischen Zusammenhängen geschlachtet wurden. In der Forschung wurde seit Lietzmanns Kommentar, 356 der ausgehend vom Grundriss des pompejischen macellum den engen Zusammenhang zwischen Opferkult und macellum betonte, lange Zeit diskutiert, ob es „neutrales Fleisch" überhaupt gegeben habe, oder ob nicht ausschließlich alle Schlachtungen in kultischem Rahmen zu geschehen hatten. 357 Neuere Untersuchungen haben jedoch die paulinische Aussage in 10,25 und ihre Voraussetzungen erhärtet. 358 Denn selbst bei einem großen macellum wie dem von Pompeji, für das als einziges (!) gesicherte Hinweise auf 353
Vgl. die verschiedenen Vorschläge bei DE RUYT, Macellum, 60f. (mit Literaturhinweisen) und die Argumente bei FOTOPOULOS, Food Offered, 139-142, der für eine Lokalisierung beim Períbolos des Apollo eintritt. 354 Den letzten Stand des archäologischen Befundes dokumentiert SCRANTON, Monuments, 180-194. 355 KOCH, macella, 210. 356 LIETZMANN, IKor, 51 f. 357 So nimmt WEISS, IKor, 263 (vgl. auch 211), LIETZMANNS Hinweis auf den Befund in Pompeji auf, um seine religionsgeschichtlichen Erwägungen damit zu fundieren, und urteilt, dass „in einer Stadt wie K.(orinth) kaum anderes Fleisch zu (kaufen) war als aus dem Tempel stammendes; ...". So urteilen noch immer SCHNEIDER, IIÁKEAAOV, 374, und KLINGHARDT, Gemeinschaftsmahl, 29f., Anm. 1. In der Konsequenz würde das bedeuten, dass Paulus in IKor 10,25 den Korinthern den Ratschlag gab, sich nach der Herkunft des Fleisches lieber nicht zu erkundigen, da die Antwort sowieso von vornherein feststand. 358 Den gegenwärtigen archäologischen Forschungsstand im Blick auf die antiken macella fasst die Untersuchungen von DE RUYT, Macellum, zusammen, die in ihrer Studie nicht weniger als 78 nachweisbare macella untersucht und damit die wohl umfassendste Studie zu diesem Thema vorgelegt hat. Ihre Ergebnisse liegen dem Aufsatz von KOCH zugrunde.
1. Analyse des
Konfliktgegenstandes
179
kultische Schlachtungen existieren, „konnte der gesamte an einem Tag benötigte Bedarf an Hammel-, Schweine- und Rindfleisch unmöglich aus den im NO-Raum stattfindenden (sc. kultischen) Schlachtungen gedeckt werden, selbst wenn dort täglich geopfert wurde." 359 Im Blick auf alle anderen von De Ruyt untersuchten macella ist in „keinem einzigen Fall der Schluß wahrscheinlich oder auch nur naheliegend, daß innerhalb eines macellum Schlachtungen, seien sie kultischer oder auch nichtkultischer Art, stattgefunden haben."360 In gleicher Weise beschreibt Koch den derzeitigen Befund in Korinth: „Wenn diese Anlage das macellum von Korinth zur Zeit des Paulus war, dann gibt es auch hier keinen Hinweis auf einen Kultraum oder gar auf kultische Schlachtungen im macellum selbst."361 So offen manche archäologischen Fragen noch sein mögen, so wahrscheinlich ist doch die Tatsache, dass das im macellum zum Verkauf angebotene Fleisch für den Käufer hinsichtlich seiner Herkunft nicht von vornherein eindeutig war bzw. dass eine hohe Wahrscheinlichkeit bestand, auch nicht rituell geschlachtetes Fleisch bekommen zu können.362 Dies wird auch durch einen antiken literarischen Hinweis gestützt: Plinius der Jüngere erwähnt in seinem Brief an Kaiser Trajan,363 dass aufgrund seiner Repressionen gegen die Christen das Opferfleisch wieder Absatz finde, „für das sich bisher nur ganz selten Käufer fanden". Damit wird vorausgesetzt, dass „man seinen Fleischbedarf auch anderweitig decken konnte".364 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch ein Edikt von Kaiser Maximian Daia.365 Der Christenverfolger verfügte, dass alle Waren, die auf 359 KOCH, macella, 204. Dabei stellt KOCH fest, dass macella mit axialer Ausrichtung, wie das in Pompeji, insgesamt einen Sonderfall darstellen. Hinweise auf zwei Kulträume wie in Pompeji finden sich nirgendwo sonst, ebenso wenig wie Räume zur Aufnahme von Opfertieren, was darauf schließen lässt, dass das an sich bereits sehr begrenzte Ausmaß kultischer Schlachtungen in Pompeji eher zur Obergrenze des Gesamtbefundes aller macella zu rechnen ist (205.215). Umgekehrt gibt es z.B. im erst Ende der 80er Jahre vollständig ausgegrabenen macellum von Gerasa, einem ausgesprochen typischen Exemplar eines römischen macellum, überhaupt keine Hinweise auf kultische Schlachtungen, vgl. KOCH, macella, 208. Zum archäologischen Ausgrabungsbefund vgl. MARTINBUENO, Notes Préliminaires, 177-199. 360
361
KOCH, macella,
212.
KOCH, macella, 210. 362 So auch BARRETT, Things, 145f. 363 Ep 10,96,10; vgl. dazu auch die ironische Darstellung des christlichen Kaufverhaltens bei Tert Apol 42. 364 KOCH, macella, 214; vgl. auch KLAUCK, Herrenmahl, 274. Die gleiche Schlussfolgerung ist aus der Notiz von Plut Mor 729c zu ziehen, wonach die Pythagoräer nur Fleisch essen, wenn es UpöGuTov ist. Auch hier muss vorausgesetzt werden, dass offensichtlich auch anderes Fleisch angeboten wurde. 365 Eus Mart Pal 9,2.
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III: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in
Korinth
dem Markt angeboten wurden, mit Opferwein besprengt werden mussten, um ihnen den Charakter eines Kultopfers zu geben. Ohne jene künstliche Maßnahme war dieser offensichtlich nicht gewährleistet. 366 Über die Frage, ob darüber hinaus analog zur Stadt Sardis367 für die korinthischen Juden die Möglichkeit bestand, Fleisch im macellum zu erwerben, das nicht paganen Ritualen unterzogen wurde, lässt sich nur spekulie-
1.4 Ergebnisse 1. Für eine Hintergrundanalyse des korinthischen Konfliktes war es zunächst nötig, die literarische Gestalt des Textes zu bestimmen. Gegenüber den zahlreichen Teilungshypothesen hat sich die Annahme der Einheitlichkeit von IKor 8,1-11,1 als die bei weitem wahrscheinlichste erwiesen. Neben der einheitlichen Textüberlieferung, der Parallelität zu Rom 14,115,13 und zahlreichen Querverbindungen zwischen den spannungsvollen Textpassagen, war es umgekehrt v.a. die mangelnde Plausibiltät aller Teilungshypothesen, die zu diesem Fazit führten. Hinzu kommt, dass sich von der religions- und kulturgeschichtlichen Analyse her die textimmanenten Spannungen, die ausschlaggebend für alle Teilungshypothesen sind, weit besser erklären lassen, als durch literarkritische Lösungen. 2. Auch die Begriffsanalyse vom eiÖQA-öGutov bestätigte gegenüber den neueren Vorschlägen aus dem angelsächsischen Raum (Fee, Witherington), wonach sich der Begriff auf Opferfleisch beziehe, das auschließlich im Rahmen von Kultmählern im Tempelbezirk verzehrt wurde, die traditionelle Deutung. Danach handelt es sich bei eLöwloGutov um eine polemische Begriffsschöpfung des hellenistischen Judentums, die prinzipiell alle Speisen bezeichnet, die in ihrer Vorgeschichte einem paganen Opferritual unterzogen worden sind. 3. Die kulturhistorische Analyse fragte im Wesentlichen nach den wahrscheinlichen Hintergründen, der in IKor 8,1-11,1 erwähnten Szenarien, wie dem „zu Tisch liegen" im 6LÖGJA.€L0V (8,10), dem Essen von Opfern und der Anteilhabe am „Kelch bzw. Tisch der Dämonen" (10,14-22), dem Fleischkauf im macellum (10,25) und der Teilnahme an Privateinladungen (10,27f.). a) Auch wenn es mehr als fraglich ist, ob Paulus in 8,10 einen konkreten Fall vor Augen hatte oder nicht vielmehr allgemein auf ein in Korinth übli366
Vgl. KLAUCK, Herrenmahl, 275. Vgl. Jos Ant 1 4 , 2 5 9 - 2 6 1 . 368 Folglich ist auch die Annahme, dass eine mögliche Streichung dieses Privilegs im Zuge einer judenfeindlichen Politik des Nero und in Folge auch des Statthalters Gallio (vgl. Act 18,17) im Hintergrund der in IKor 10,25-18 angedeuteten Probleme stehen, vgl. WINTER, After Paul, 287-301, reine Spekulation. 367
1. Analyse des
Konfliktgegenstandes
181
ches Verhalten einging, bzw. einen alltäglichen Fall einfach konstruierte, gab es in Korinth in den 50er Jahren des 1. Jh. n.Chr. doch prinzipiell mindestens einen möglichen Schauplatz für die hier geschilderte Szene. Nach dem aktuellen Stand der archäologischen Evidenz (die freilich noch sehr begrenzt ist) war die Teilnahme von Christen an einem Kultopfermahl unter freiem Himmel am ehesten im Asklepieion möglich, unter Umständen auch im Rahmen der Isthmischen Spiele im Poseidonheiligtum, wobei hier große Unsicherheiten im Blick auf das Raumangebot und die Datierung bestehen. Unwahrscheinlich ist dagegen aus unterschiedlichen Gründen eine Mahlfeier im Demeter-Kore-Heiligtum, im Isis- und Sarapisheiligtum und allen anderen bis heute ausgegrabenen paganen Heiligtümern Korinths.369 Angesichts der noch sehr fragmentarischen Ausgrabungslage und der nur exemplarischen Funktion des paulinischen Beispiels ist es aber weder möglich noch nötig, sich auf die wahrscheinlichste Kulisse für 8,10 festzulegen. b) Für das Verständnis von 10,14-22 hat sich im Anschluss an die Untersuchung von D. Newton ein neuer Horizont eröffnet, der sich auch hier bestätigt hat. Danach ist der Hintergrund von 10,14-22 nicht mehr in einem kultischen Opfermahl allgemein zu sehen, sondern im eigentlichen Opferakt, der von einem begrenzten und oftmals elitären Kreis vollzogen wurde. Dieser eigentliche Opferritus und das damit verbundene Essen der tpaTTt-Coj|iotta fand in einem räumlich und personell verschiedenen Kontext als das anschließende Opferfest statt. Beide Akte zeichneten sich durch eine unterschiedliche religiöse Verdichtung aus. Während der Opferritus mit einer Vielzahl religiöser Zeremonien begangen wurde, hatte das sich daran anschließende Mahl einen durch und durch geselligen Charakter. Sowohl die Terminologie in 10,14-22 ( e u o i a o T i i p i o v , Oueiv, ö u a i a , iroTiipiov, tpaneCa) als auch die Spannung zu 8,10 legen nahe, dass Paulus sich mit seinem apodiktischen Verbot auf die Teilnahme an dem eigentlichen Opferritus bezieht. c) Ein möglicher Kontext sowohl für die Szenerie in 8,10 als auch für die Privateinladung in 10,25 waren die antiken Vereinsmähler. Solche Mähler konnten sowohl in einem Tempelbezirk als auch in Privaträumen veranstaltet werden. Sie boten ihren Mitgliedern in der Regel einmal monatlich einen erholsamen und geselligen Abend. Für Christen aus den höheren Schichten oder aus bestimmten Berufsgenossenschaften könnte die Teilnahme an solchen Anlässen von großer gesellschaftlicher Bedeutung gewesen sein. Ähnlich wie die allgemeinen Opferfeste waren diese Vereinsfeste in religiöser Hinsicht polyvalent. Die Beurteilung der einzelnen
369 Vgl. hierzu die neueste und ausfuhrliche Analyse von FOTOPOULOS, Food Offered, 69f.86-92.127f. 155-157.
182
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Korinth
religiösen Elemente war weitestgehend den subjektiven Glaubens- und Wertvorstellungen überlassen. Einen ähnlichen Kontext wie die Vereinsmähler bildeten die Einladungen zu Mählern im Isis- und Sarapiskult. Scheinbar konnten hier auch nicht-eingeweihte Gäste zu privaten Feiern in ein Sarapisheiligtum eingeladen werden, was eine Möglichkeit für die in 8,10 beschriebene Szenerie sein könnte. Die andere Möglichkeit ist, dass ein Sarapismahl im privaten Rahmen stattfand, nachdem das Fleisch vorher im Heiligtum kultisch geweiht und wieder mit nach Hause genommen wurde. Dies wäre für den Kontext von 10,27f. relevant. Allerdings bleiben hier angesichts der mangelhaften Quellenlage und der unsicheren Datierung der Sarapismysterien noch viele Fragen offen. d) Das von Paulus in 10,25 erwähnte macellum war der antike Fleischmarkt einer römischen Stadt, der im Unterschied zum forum bzw. der dyopa v.a. Fleisch und andere hochwertige Lebensmittel anbot. Es zeigte sich, dass die Vorgeschichte des hier angebotenen Fleisches alles andere als eindeutig war. Nach der neuesten archäologischen Evidenz wurde wohl nur ein Bruchteil des hier verkauften Fleisches vorher religiösen Riten unterzogen, so dass der religiöse Charakter des hier gekauften Fleisches für den Käufer nicht ohne weiteres ersichtlich und eindeutig war. e) Für den von Paulus in 10,16f. gezogenen Vergleich zwischen dem Herrenmahl und einem paganen Opfermahl spielen auch die antiken Mysterienmähler eine wichtige Rolle. Fraglich ist, inwiefern hier Analogien für ein sakramentales Verständnis des Herrenmahls vorliegen. Als einzige Analogie bietet sich lediglich die sog. Omophagie im Dionysoskult an, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in einer Frühphase des Dionysoskults mit der Vorstellung einer Theophagie verbunden war. Ob dijese Vorstellung Paulus bekannt war und ihm als Deutungsmodell des Herrenmahls diente, ist freilich eine ganz andere Frage. Bei Paulus geht es genau genommen nie um eine Theophagie, d.h. um ein Verspeisen der Gottheit selbst. Vielmehr werden im Herrenmahl die Elemente von Brot und Wein aufgenommen, wodurch eine communio mit dem in den Elementen gegenwärtigen Christus begründet wird (-» III.3.6.2). Mit größerer Sicherheit kann man von Aristeides her im Sarapiskult von einer koivwvloc im Sinne einer communio zwischen Gott und Mahlteilnehmern ausgehen, wobei der Beleg allerdings ca. ein Jahrhundert später datiert als der 1. Korintherbrief. Dieser Kommunionsgedanke, d.h. die Vorstellung der Tischgemeinschaft mit dem Kultgott, nicht nur dessen bloße Anwesenheit als Gastgeber, ist vielleicht der auffälligste Unterschied zu den klassischen Opfermählern. 370
370
KLAUCK, Herrenmahl, 165.
2. Die Starken und Schwachen in Korinth
183
2. Die Starken und Schwachen in Korinth 2.1 Grunddaten der korinthischen Gemeinde Die Gründung der korinthischen Gemeinde geht auf den 18-monatigen Paulusaufenthalt in der Stadt zurück, der wahrscheinlich in die Jahre 50/51 n.Chr. fällt.371 Die Zahl der Gemeindeglieder dürfte während der Gründungsphase kaum 10-20 Personen überstiegen haben. Zur Zeit der beiden Korintherbriefe (ca. 53-55 n.Chr.) und der Grußliste im Römerbrief (ca. 56/57 n.Chr.) lässt sich die Gemeindegröße auf 50-80 Personen schätzen.372 Im Blick auf die soziologische Schichtung steht nach IKor l,26ff. (vgl. 4,10; 12,24) eine kleine Oberschicht einer breiteren Mittel- und Unterschicht gegenüber.373 Diese Schichtung dürfte charakteristisch für alle hellenistischen Gemeinden und überhaupt für die urbane Gesellschaft der An371
Vgl. RIESNER, Frühzeit, 180-189.286. Orientierungspunkte solcher Schätzungen sind (1) die 17 in den paulinischen Briefen erwähnten Einzelpersonen in Korinth, von denen 14 männlich waren. Somit muss (2) eine ebenso große Zahl von Ehefrauen hinzugerechnet werden. Zu diesen ca. 30 Personen müssen noch (3) die Angehörigen der „Häuser" von Crispus (Act 18,8) und Stephanas (IKor 1,16; 16,15f.) mitgerechnet werden, die zusammen mit den Familienhäuptern getauft worden sind. Desweiteren sind (4) noch eine unbestimmte Anzahl von Kindern, Sklaven und Freunden anderer Gemeindeglieder hinzuzuzählen. Da (5) weder Paulus noch Lukas eine auch nur annähernd vollständige Aufzählung intendieren, dürfte 50 die untere Grenze der Gemeindegliederzahl markieren. Dafür spricht auch das Phänomen der erwähnten Parteiungen, die unter einer Zahl von 50 Gemeindegliedern nur schwer vorstellbar sind. Vgl. dagegen BANKS, Community, 35f., der eher von einer Zahl von 40-45 Personen ausgeht, ähnlich MURPHY O'CONNOR, St. Paul's Korinth, 156, der höchstens 50 Personen annimmt. Umgekehrt legen aber IKor 14,23 und Rom 16,23 nahe, dass es neben verschiedenen Hausgemeinden (vgl. IKor 16,19 mit Röm 16,23; vgl. auch Röm 16,5; Kol 4,15; Phlm 2) auch Gottesdienste der „ganzen Gemeinde" gab und ein gewisser Gaius dabei der Gastgeber war. Die von MURPHY-O'CONNOR, St. Paul's Corinth, 163ff., unternommenen Berechnungen der durchschnittlichen Raumgrößen in vier in Korinth ausgegrabenen Villen der römischen Epoche liegen für das Atrium bei etwa 55 qm für die Speiseräume etwa 36 qm. Diese Raumbegrenzung erlaubt eine maximale Zahl von etwa 50 Personen ftlr das Atrium und 30 Personen für das triclinium. Eine Zahl von mehr als 80 Personen fände nur in einem evtl. vorhandenen Innenhof Platz, der aber ftir Versammlungen im Winter ungeeignet gewesen wäre. 373 THEISSEN, Soziale Schichtung, 255f. Die Einwände von MEGGITT, Poverty, 99.102-106, können hier nicht überzeugen. THEISSENS prosopographische Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass von den 17 namentlich genannten Personen (bzw. der mit dem Namen Chloe in IKor 1,11 verbundenen Personengruppe) etwa neun zu den gehobenen Schichten gehören, während sich nur die „Leute der Chloe" mit gewisser Wahrscheinlichkeit durch einen geringen Sozialstatus auszeichnen (zur Identität der „Leute der Chloe" und ihrer Herkunft vgl. SCHRÄGE, IKor I, 141 f.). 372
184
Kapitel
III: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in
Korinth
tike gewesen sein.374 Insbesondere von der Oberschicht lassen sich aus den verstreuten Informationen genauere Kenntnisse gewinnen. So werden z.B. Inhaber öffentlicher Ämter (Act 18,8; Rom 16,23), Haus- und Sklavenbesitzer (IKor 1,11.16; 11,22.34; 16,14ff.), Personen, die bestimmte Dienstleistungen erbringen (IKor 16,15; Act 18,7; Rom 16,lf.23) oder weite Reisen (Aquila und Priscilla; Phoebe, Rom 16,1 f.) unternehmen, erwähnt. Solche Informationen deuten mehr oder weniger auf einen gehobenen Sozialstatus hin.375 Ein weiteres Indiz dafür ist auch die Häufigkeit lateinischer Namen wie Lucius (Rom 16,21), Gaius (IKor 1,14; Rom 16,23), Fortunatus (IKor 16,17), Tertius (Rom 16,22), Quartus (Rom 16,23), Titius Justus (Act 18,7) und Aquila und Priscilla (IKor 16,19; Act 18,2.28). Dies ist darüber hinaus auch ein Hinweis auf eine gewisse ethnische Inhomogenität der kleinen Gemeinde, in der sich sowohl griechische wie römische Landsleute getroffen haben. Der Eindruck der sozialen Inhomogenität wird verstärkt durch die Konflikte um die korinthische Herrenmahlspraxis, wo es zu einer Trennung zwischen Armen und Reichen kam (11,17-34), den Streit um das apostolische Unterhaltsrecht (9,3-15), der nur Sinn hat, wenn einige finanziell potente Gemeindeglieder ein entsprechendes Angebot gemacht haben, sowie die in Korinth zwischen Christen geführten Prozesse um ß i w c i K a , hinter denen wahrscheinlich Vermögens- bzw. Erwerbsangelegenheiten stehen (6,1-11). Auch die kulturgeschichtliche Analyse von IKor 8,1-11,1 hat zwei Hinweise auf sozial höhergestellte Gemeindeglieder geliefert. Wenn es in 10,14-22 um den Kasus der Teilnahme am eigentlichen Opferritus im Rahmen kommunaler Opferfeste geht, dann handelte es sich hier um einen elitären Kreis besonders geladener Personen mit hohem Sozialprestige. Die andere Beobachtung betrifft die Charakterisierung des macellum als dem „Feinkostmarkt" der Antike mit dem Angebot exklusiver Lebensmittel (—> III. 1.3.6). Wenn es hier konkrete Anfragen aus Korinth gab, stammen sie mit großer Wahrscheinlichkeit aus begüterten Kreisen, die hier ihren Bedarf für standesgemäße Gastmähler deckten. Die korinthische Gemeinde bestand aus Juden- wie Heidenchristen (vgl. IKor 1,22.24; 10,32; 12,13; vgl. Apg 18,4), wobei möglicherweise die Gruppe der sog. „Gottesfürchtigen" (oeßönevoi) eine wichtige Rolle spielte. Ein Hinweis darauf könnte Act 18,7 sein. Nachdem Paulus in der jüdischen Synagogengemeinde Widerstand und Ablehnung erfuhr, ging er zu dem Gottesfürchtigen Titius, der unmittelbar neben der Synagoge wohnte. In der Regel gehörten die Gottesfürchtigen den gehobenen Schichten an, da sich ihre soziale Stellung, ihre gesellschaftlichen Beziehungen und die 374
THEISSEN, Soziale Schichtung, 231; MEEKS, Stadtkultur, 156f. Vgl. hierzu THEISSEN, Soziale Schichtung, 2 3 5 - 2 5 7 ; sowie in Anschluss an THEISSENs Studie auch MEEKS, Stadtkultur, 1 2 0 - 1 5 7 . 375
2. Die Starken und Schwachen
in
Korinth
185
damit verbunden Verpflichtungen wie Essenseinladungen mit dem viel weitergehenden Übertritt zum Judentum als Proselyten nicht vereinbaren ließ. Hinzu kam der abschreckende Effekt der Beschneidung, der sich auch in der wesentlich höheren Zahl von Proselyt/nne« spiegelt. Insbesondere für jene Gruppe musste der christliche Glaube attraktiv sein. Schließlich waren sie durch ihre Neigung zum Judentum bereits Grenzgänger zwischen den Kulturen. Während sie aber im Judentum nur assoziierte Mitglieder sein konnten, bot ihnen die christliche Gemeinde die volle Aufnahme in eine monotheistische Glaubensgemeinschaft mit hochstehendem Ethos bei gleichzeitig weitgehenden Möglichkeiten zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben Korinths (—> IV. 1.1.1).376 2.2 Die Starken in Korinth Obwohl Paulus den fraglichen Personenkreis im 1. Korintherbrief im Unterschied zum Römerbrief (vgl. Rom 15,1) nirgends explizit als „die Starken" bezeichnet 377 und der Titel sich nur aus dem logischen Kontrast zu den korinthischen Schwachen und der analogen Gruppenbezeichnung in dem ähnlichen Konflikt in Rom ergibt, wurde im Rahmen dieser Arbeit die in der Forschung eingeführte Bezeichnung beibehalten. 378 Wie der Titel freilich zu füllen ist, hängt wesentlich von der Profilanalyse dieser Gruppe ab. Diese basiert im Wesentlichen auf den zu Beginn untersuchten Äußerungen in IKor 8,1-11,1, die als Zitate, Slogans und Begriffe aus dem Vokabular der korinthischen Starken identifiziert werden konnten ( - » II. 1.1). 2.2.1 Das theologische
Profil der Starken
Die Bestimmung der korinthischen Starken und damit verbunden die generelle Bestimmung der paulinischen Adressaten im 1. Korintherbrief und ihres geistesgeschichtlichen Hintergrunds war schon immer eines der
376
Vgl. THEISSEN, Soziale Schichtung, 264f. V o m Text her bietet sich allenfalls die Bezeichnung „die Erkenntnis habenden" aus 8,1 an; vgl. auch SELLIN, Hauptprobleme, 3004, Anm. 331, der von „Wissenden" spricht. Diese Attribute wären jedoch weder von Paulus noch von den Betroffenen selbst als Gruppenbezeichnung verstanden worden. Vgl. zum Problem auch MURPHY-O'CONNOR, Freedom, 9; KOCH, Seid unanstößig, 40f., Anm. 20. Zu den möglichen Gründen der fehlenden titularen bzw. namentlichen Anrede III.3.1.2. 377
378 Ein gewisser Hinweis stellt der Komperativ íoxupÓTepoi in 10,22 dar (vgl. 1,25 und 4,10; schon dort steht Loxupóxepoi' bzw. ioxupoi im Gegensatz zu áo0evií II.3.6.2). Entsprechend ihrer aufgeklärten Sicht über die Natur des eiöwloGuTov sahen die Starken sich nicht nur zum Besuch der öffentlichen bzw. vereinsinternen Opfermähler
d i e für P a u l u s früher einmal e i n e l e b e n s b e s t i m m e n d e B e d e u t u n g hatte, aber d i e s e nun v o l l s t ä n d i g verloren hat, v g l . M U R P H Y - 0 ' C O N N O R , F r e e d o m , 10. 396
STOWERS, R e a s o n , 2 7 6 f . ; z u Literatur s i e h e dort auch A n m . 8 4 .
397
LINDEMANN, I K o r 191: „oü6ei'
(l6wXov kv
KÖa|iO) ist ein .aufgeklärter' Satz, der
die reale E x i s t e n z der E'ISCOXA b e s t r e i t e t . . . " . E b e n s o WEISS, 1 Kor, 2 1 9 f . 398
Es war das h e l l e n i s t i s c h e Judentum, w e l c h e s d a s B e k e n n t n i s zur E i n z i g k e i t G o t t e s
mit s e i n e r S c h ö p f e r m a c h t verbunden und mit der h e l l e n i s t i s c h e n O n t o l o g i e v e r s c h m o l z e n hat; v g l . SCHRÄGE, I K o r II, 2 3 7 ; YOU-MARTIN, D i e Starken, 156. F o l g l i c h w u r d e u m g e kehrt das atl. B e k e n n t n i s zur N i c h t i g k e i t der Götter ( v g l . z . B . Dtn 4 , 3 5 . 3 9 ; 3 2 , 3 9 ; l K ö n 8 , 6 0 ; Jes 4 3 , 1 0 ; 4 4 , 6 . 8 ; 4 5 , 5 f . u . ö . ) im Sinne e i n e s o n t o l o g i s c h e n Prinzips u m f o r m u l i e r t ( v g l . S a p S a l 13,1; T e s t H i o b 2 , 4 ) , das der atl. K o s m o l o g i e in d i e s e r W e i s e f r e m d ist ( - > Exkurs 8). D i e s e S p a n n u n g s p i e g e l t sich in den b e i d e n T h e s e n v o n V . 4. Es klingt j e w e i l s d e u t l i c h das atl. S c h ' m a aus Dtn 6 , 4 f f . an ( v g l . Dtn 3 2 , 2 1 ; Ps 1 1 5 , 4 - 8 ; 1 3 5 , 1 5 - 1 8 ; Jes 4 0 , 1 9 f . ; 4 1 , 2 9 ; 4 4 , 9 - 1 7 ) . H e l l e n i s t i s c h - j ü d i s c h ist auch die V e r b i n d u n g z w i s c h e n W e i s heit und Erkenntnis ( v g l . SapSal 1 0 , 1 0 ; 4 M a k k 1,16; Phil A l l 3 , 4 6 - 4 8 ) . 399
CONZELMANN, IKor, 168.
400
R i c h t i g g e s e h e n v o n YOU-MARTIN, D i e Starken, 12: „ D i e Gruppenattribute ,stark
und s c h w a c h ' w e r d e n im T e x t im s e m a n t i s c h e n Z u s a m m e n h a n g mit den g e i s t i g e n Gütern und H a l t u n g e n der Korinther v e r w e n d e t , n ä m l i c h mit Erkenntnis
(yvwoic,
bzw.
U r t e i l s v e r m ö g e n (ouvei6r|oiaiav ex € 0- Ich hin von meinem Gott in Freiheit gesetzt worden, ich kenne seine Gebote, niemand vermag mich zum Knecht zu machen" (Epikt 4,7,16) !415
Im alltäglichen Leben verwirklicht sich Freiheit für die Stoiker freilich nur durch die unablässige Übung und Erziehung. Nur für die Erzogenen und Gebildeten kann es wahre Freiheit geben.416 Entsprechend entwickelten die Stoiker eine ausgefeilte Paideia zur (Selbst)Erziehung, mit dem Ziel, die egozentrischen Affekte und Triebe zu kontrollieren. 417 Dies trifft sich mit der in c. II gemachten Beobachtung, dass sowohl die antiken Bildungsund Reifegrade (-» II.3.6.3) als auch die stoische Affektenlehre (—» Exkurs 2) auf das Engste mit der Antithese „stark-schwach" verbunden war. Die Linien des kynisch-stoischen Freiheitsbegriffs sind im Verhalten und der Argumentation der korinthischen Starken unschwer zu erkennen. Mit dem Hinweis auf ihre eionoia und eA.eu0epia verbanden sie die individuelle Freiheit, Autorität und Vollmacht, ihre Erkenntnis und Einsicht in die Einzigkeit Gottes, die ontische Nichtexistenz der Götter und der daraus 411
Vgl. hierzu auch MALHERBE, Determinism, 236f. Vgl. Epict 3,22,39^19.72.79.85.95; vgl. IKor 4,8. Insbesondere in Epiktets berühmter Diatribe über die Eleutheria (4,1) zeigt sich die Dominanz des Freiheitsbegriffs für das gesamte stoische Denken. Vgl. die Urteile der Forschung bei VOLLENWEIDER, Freiheit, 24, Anm. 5. 413 Übersetzung nach MÜCKE. 412
414
VOLLENWEIDER, F r e i h e i t , 3 0 f .
415
Übersetzung nach MÜCKE. Vgl. auch SVF 3,360: „Frei sind die, welche mit dem Nomos leben. Der untrügliche Nomos aber ist der rechte Logos." 416 Epikt 2,1,22. 417
VOLLENWEIDER, F r e i h e i t , 4 3 f . 6 7 - 7 2 .
2. Die Starken und Schwachen
in Korinth
193
sich ergebenden Unbedenklichkeit des Opferfleisches im Alltag zu verwirklichen. 418 Die unbegrenzten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben einer hellenistischen Metropole wurde als ein Akt der Selbstverwirklichung verstanden 419 und die therapeutisch-psychagogischen Maßnahmen gegenüber den Schwachen als eine Hilfestellung zur Überwindung illegitimer Affekte ihres Gewissens. Diesem ganz vom Individuum her definierten Freiheitsverständnis musste die Rücksichtnahme auf fremde Empfindlichkeiten als illegitime Begrenzung sowohl der Persönlichkeitsrechte als auch der Glaubensfreiheit erscheinen. Symptomatisch ist das mangelnde Bewusstsein für die Gesamtheit und Einheit der Gemeinde, der sowohl Individual- als auch Gruppen- bzw. Parteiinteressen vorgeordnet wurden: „For Stoics and even Epicureans, the basic goal is the inner health of individuals. Community often seems to serve only an instrumental function toward that telos. For Paul, the goal is the Community itself, a Community of a certain quality to which the mutual enhancement of individuals is intrinsic." 420 Die enge Korrelation von starkem bzw. schwachem Erkenntnis-, Verstandes- und Urteilsvermögen mit rechtem und freiem bzw. falschem und im Irrtum gebundenen Handeln wurde in c. II unter 3.5. immer wieder deutlich. Es war diese unmittelbare Korrelation, die für die Starken ihre psychagogisch-therapeutischen Bemühungen an den Schwachen legitimierte. 2.2.1.4 Psychagogische
Bemühungen
Die Starken sahen sich nicht nur legitimiert, sondern auch berufen, die Schwachen Gemeindeglieder zur selben freiheitlichen Praxis zu erziehen und sie darin und dadurch „aufzubauen". Dieses Verhalten steht allerdings nicht im Einklang mit der paulinischen Gemeindeparänese, die zwar auch die gegenseitige Verantwortung, Korrektur, Ermahnung der Glieder untereinander betont, aber diese stets in Verbindung mit dem Aufbau und der Einheit der ganzen Gemeinde anstrebt. Die Heilung des Individuums und der Aufbau der Gemeinde bedingen sich für Paulus wechselseitig. Dagegen weist - wie bereits erwähnt die stoische und epikureische Tradition der Seelenleitung (Psychagogik) der Gemeinschaft nur eine instrumentelle Funktion zu, und die Heilung des
418 Vgl. WLTHERINGTON, Conflict, 187: „Those 'in the know' may have modeled themselves on the Stoic or Cynic ideal wise man who possessed an exousia or power that allowed him to claim that everything is permitted him because he is truly free." Ähnlich MURPHY-O'CONNOR, Freedom, 14; WILLIS, Idol Meat, 101. 419 FEE, IKor, 385: „Thus for them freedom became the highest good, since it led to the exaltation of the individual." 420
STOWERS, R e a s o n , 2 8 6 .
194
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Korinth
Individuums stellt das grundsätzliche Ziel dar. Ähnlich wie die atl.frühjüdische und christliche Tradition kannte auch der Hellenismus eine Fürsorgepflicht für die Schwachen (—> Exkurs 3). Die korinthischen Starken gaben dieser Fürsorgepflicht für die Schwachen nun dadurch Ausdruck, dass sie die Schwachen zum Essen von Götzenopferfleisch zu motivieren suchten. Auf ein solches Engagement deutet das Verb oiKoßoneiv in 8,10 hin, das sachlich an dieser Stelle völlig unbegründet ist, nicht dem sonstigen paulinischen Begriffsgebrauch entspricht und eher eine ironisch-sarkastische Anspielung auf „starke" Interpretation ihrer psychagogischen Anstrengungen darstellt ( - » II. 1.1.2; —> III.3.5. 2.1). 42 ' Ein Vorbild hat diese Psychagogik in den therapeutischen Modellen antiker Philosophenschulen. So dokumentiert die Arbeit von C.E. Glad wie beispielsweise die Epikureer das Ziel verfolgten, neue Mitglieder ihrer Gemeinschaft durch rationale Reflexion, Schulung und Lehre zu einer Aufgabe ihrer mitgebrachten (abergläubischen und unreifen) Vorstellungen zu bewegen und zu einer neuen Einstellung und einem neuen Verhalten zu motivieren. 422 Er kommt zum Ergebnis, dass auch bei den korinthischen Starken ein analoges Bemühen im Hintergrund steht: „Paul's argument in ICor 8:1-8 reveals, then, that the wise did not simply disagree with the inferences drawn by the weak, but attempted as well to persuade the weak of their ,illogical' position. In their attempt to cure the weak of their irrational false beliefs and passions (i.e., fears) about the pagan gods and meat offered to such gods, the 'wise' follow a procedure recommended by Seneca in the case of the weak who because of habituation cannot set themselves free." 423 Diese Untersuchung bestätigt im Wesentlichen die Ergebnisse von Glad. Allerdings dürfte bei den Starken weniger ein epikureisches Denken im Hintergrund stehen, sondern ein (popular)stoisches. Die in IKor 8 sich spiegelnde Psychagogik der Starken ist Teil jenes umfassenden Konzeptes der stoischen Lehre von der Seelenheilung durch praktische Förderung der Erkenntnis, Bildung und des Urteilsvermögens des/r Patienten (—> Exkurs 2).
2.2.1.5 Magisches
Sakramentsverständnis?
In der Forschung wurden die korinthischen Starken immer wieder mit einem magischen Sakramentsverständnis in Verbindung gebracht. 424 Dem421
Vgl. GLAD, Philodemus, 214.283. GLAD, Philodemus, 101-181; vgl. auch STOWERS, Reason, 277. 423 GLAD, Philodemus, 287. 424 Vgl. z.B. LIETZMANN, IKor, 46; WEISS, IKor, 250.254; SODEN, Sakrament, 245f.259; BORNKAMM, Herrenmahl, 143; BARRETT, IKor, 220.224; CONZELMANN, 422
2. Die Starken und Schwachen in Korinth
195
nach werde dem Empfanger beim Empfang des Sakraments eine Art Charakter indelebilis verliehen, der ihn unverwundbar gegen jegliche Gefahrdungen im Bereich des heidnischen Götzendienstes mache.425 Der einzige Anhaltspunkt für eine solche Auffassung ist neben der unklaren Erwähnung der Vikariatstaufe in IKor 15,29 und der Überhöhung des jeweiligen Täufers (1,13-17) lediglich die von Paulus hergestellte typologische Verbindung zwischen den Exoduswundern und den Sakramenten der Taufe und des Herrenmahls (10,1—4) im Exodusmidrasch in 10,113. Für R. Jewett ist IKor 10,4 ein Zeugnis dafür, dass „closely connected with the belief in having already achieved immortal existence in the spirit was the spiritualized sacramentalism ..."426 Nun ist die Erwähnung der Sakramente im Kontext von IKor 10,1—4 in der Tat überraschend, zumal Paulus durchaus auch andere Ausdrucksmöglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten, um das heilschaffende Befreiungshandeln Gottes zu veranschaulichen, wie z.B. die Loskauf-Motivik (IKor 6,20; 7,23; Gal 3,13; 4,5) oder das Wortfeld A.uw/(äTTo)A.UTpüXH II. 1.2.1 dargestellt, gibt es sowohl für eine Einführung des Begriffs durch die korinthischen Starken, als auch für eine paulinische Provenienz triftige Gründe, wobei die Argumente für die zweite Option etwas schwerer wiegen.
489
SODEN,
Sakrament,
242;
SCHRÄGE,
IKor
II,
254;
LINDEMANN,
IKor,
195;
MERKLEIN, I K o r II, 1 9 2 f . 490
THEISSEN, D i e Starken, 2 7 5 , A n m . 3 .
491
Von den flinf Belegen des Adjektivs äo8evr\ III.1.3.3.5; III.3.6). Im Zuge seiner eindringlichen Warnung vor einer Verstrickung in den Götzendienst im Zusammenhang des heidnischen Opferkultes will sich Paulus proleptisch gegen den Vorwurf verwahren, er würde quasi unter der Hand nun doch wieder die Götzen und das Götzenopferfleisch mit einer ontischen Dignität „beehren", was er doch in 8,4 im Konsens mit seinen Gesprächspartnern explizit abgelehnt hat. Deshalb spielt er in V. 19 in diatribischem Stil noch einmal auf 8,4 an, um wie in 8,5 eine konzessive Differenzierung vorzunehmen. Dass Paulus hier an die von ihm prinzipiell bestätigten Zitate von 8,4 denkt, wird nicht nur durch das betonte TL OUV T))T||J.L deutlich, sondern auch durch die Wiederholung sowohl von 6LÖWA.OÖUTOV und €L6Ü)A.OV, die nur in diesem Vers innerhalb von 10,1-22 erwähnt werden. Paulus steht nach wie vor zur Nichtigkeit der Götzen, aber er erblickt sozusagen hinter ihrer Maske die Macht und den Einfluss von Dämonen.615
615 FEE, IKor, 471; SCHRÄGE, IKor II, 448; KLAUCK, Herrenmahl, 265; WLTHERINGTON, Conflict, 226; BARRETT, lCor, 237. Anders dagegen WOYKE, Götter, 2 3 5 - 2 5 0 , der IKor 10,19f. nicht im beschriebenen „konzessiv-archontologischen", sondern im „affirmativ-ontologischen" und „alternativ-latreiologischen" Sinn verstehen möchte, wonach es Paulus um eine Depotenzierung der heidnischen Gottheiten und ihrer Degradierung zu bloßen Dämonen gehe, die „als Phantasieprodukte kosmologisch bedeutungslos" seien (238, kursiv bei W.); ähnlich IHISELTON, IKor, 773ff., der von einem social constructivism ausgeht. Das Verbot einer Teilnahme an entsprechenden Mählern ergibt sich dann aus der illegitimen Verehrung dieser Dämonen, die - auch wenn die Dämonen faktisch nicht existent sind - in einer Konkurrenz zum Willen Gottes steht, vgl. WOYKE, a.a.O., 239. Gefahr drohe folglich nicht von den ohnmächtigen „(Phantasie-) Wesen", die ontologisch irrelevant sind, sondern vom Gericht Gottes her (246ff.). Fraglich ist jedoch, ob die Qualifizierung als Phantasieprodukte und die Behauptung der „kosmologischen Bedeutungslosigkeit" dem unmittelbaren Kontext von IKor 10,1-22, v.a. aber dem ntl. Gesamtzeugnis und dem Zeugnis der Septuaginta standhält, w o die Annahme einer realen Mächtigkeit und eines faktischen, nicht nur eingebildeten Einflusses von Dämonen kaum
3. Paulinische
Argumentationslinien
in IKor 8,1-11,1
237
Mit diesem Begriff betritt Paulus eine breite und inhomogene antike Vorstellungswelt. In der Antike existierten divergierende Vorstellungen vom Wesen und Charakter der Dämonen bzw. des Dämonischen. 6 1 6 Der 6ai(itov gilt als gute oder böse, aber in j e d e m Fall undurchschaubare Macht, welche das menschliche Schicksal auf unberechenbare Art und Weise beeinflusst. 6 1 7 Diese Vorstellung dominiert auch den Dialog in Piatons Apologie des Sokrates. Für Sokrates waren Dämonen göttliche Mächte, die ihm Wegweiser in allen Lebensfragen waren. Auf den Vorwurf, mit diesem Dämonenglauben neue göttliche Wesen auf Kosten des überkommenen Götterglaubens einzuführen, verwahrte er sich mit dem Hinweis auf die göttliche Abkunft und das göttliche Wesen derselben, das sie in eine enge Verwandtschaft mit den olympischen Göttern stellt (Plat Apol 24c.27d; vgl. Xen Mem 1,1,1). In Symp 202e werden die Dämonen als Mittelwesen zwischen Gott und den Sterblichen beschrieben, deren Aufgabe es ist, den Göttern die Gebete und Opfer der Menschen zu überbringen und umgekehrt den Menschen die Befehle der Götter und die Vergeltung der dargebrachten Opfer zu verdolmetschen. Als Schicksalsmächte und Seelengeister bildeten sie einen gewissermaßen mystischen übermenschlichen Faktor, der das eigene Schicksal sowohl im Blick auf Glück wie auf Unglück oder gar Tod beeinflussen konnte. Auf diese Weise übernehmen sie in der griechischen Religion in bestimmter Hinsicht die Rolle des deus absconditus und werden zum notwendigen Gegenstück zu den plastisch und personal vorgestellten olympischen Göttern. Entsprechend sind Dämonen niemals Gegenstand bildlicher Darstellung oder kultischer Verehrung. Die einzige Ausnahme bildet der ¿70:801; 6aijitoi> oder auch dyaQoSouncov. Ihm gilt bei den Weinlibationen im Rahmen der Gastmähler die erste Weinspende, verbunden mit dem Wunsch, Glück und Wohlergehen zu gewähren. Eine weitere Deutung bietet Hesiod (Erga 122-126), nach der die Menschen nach ihrem Tod zu Dämonen werden und als Wächter über die Lebenden wohltätige Wesen sind. Demgegenüber ist der biblische Wortgebrauch wesentlich präziser. Sowohl in der Septuaginta als auch im Neuen Testament dominiert ausnahmslos das polemisch-negative Verständnis von Dämonen als antigöttlichen und zerstörerischen Mächten, die von heidnischen Völkern illegitimerweise als Götter verehrt werden, in Wirklichkeit aber jederzeit der souveränen Macht Gottes unterlegen und unterstellt sind, wenn auch unter seiner Zulassung durchaus wirksam. In der Septuaginta ist der Begriff 19-mal belegt. 6 1 8 In den ntl. Evangelien ist von Dämonen v.a. im Kontext der dämonischen Besessenheit einzelner Menschen die Rede. Solche Besessenheit wird in der Begegnung des Kranken und damit auch der Dämonen mit Jesus enttarnt und in der Regel beendet. Bemerkenswert ist, dass weder die Septuaginta noch das Neue Testament (inklusive Paulus) an einer definitorischen Unterscheidung zwischen Göttern, Dämonen, Geistern usw. interessiert sind. Entscheidend ist hier vielmehr die einhellig negative Bewertung, verbunden mit einer strikten Tabuisierung.
in Frage gestellt werden kann und auch ihre Depotenzierung nur in ihrer Relation zum einen und wahren Gott Gültigkeit besitzt (—»• Exkurs 8). 616 Vgl. zum Ganzen VRUGT-LENTZ, Geister, 5 9 8 - 6 1 5 ; BURKERT, Religion, 2 7 8 - 2 8 2 ; KLAUCK, Herrenmahl, 2 6 6 - 2 6 8 sowie WOYKE, Götter, 2 2 0 - 2 3 5 . 617 Vgl. z.B. Horn Od 5,396; 10,64; II 8,166; Soph OidK 76; Aischyl Pers 580.601; Ag 1342; Hes Erg 122-126, u.ö. 618 Dtn 32,17; ¥ 90,6; 95,5; 105,37; Jes 13,21; 34,14; 65,3.11; Tob 3,8.17; 6,8.14.15. 17; 8,3; Bar 4,7.35.
238
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Korinth
Es versteht sich von selbst, dass Paulus von der atl.-frühjüdischen Voraussetzung ausgeht und die heidnischen Götter und Götzen als eine Art Hülle der dämonischen Mächte versteht. Entsprechend formuliert F.F. Bruce: „The demons, for Paul, were probably not personal beings but impersonal forces which exerted a powerful influence over unregenerate man."619 Im Zuge der Anerkenntnis und Anrufung eines Götzen entfalten diese Dämonen eine Art Machtbereich, der für jeden, der sich (evtl. auch nur in naiver Weise) an dieser Götzenanrufung beteiligt, eine Gefahr darstellt.620 Wie sehr sich Paulus auch hier an der atl.-frühjüdischen Kosmologie und Dämonologie orientiert, zeigen die deutlichen Anklänge an Dtn 32,1518LXX, v.a. an V.17. 62 ' Dieser atl. Text, auf den Paulus nicht nur in V. 20, sondern auch in V. 22 anspielt, enthält alle Elemente der paulinischen Dämonologie in IKor 8,1-11,1: Der Götze ist einerseits ein „Nicht-Gott" (V. 21), andererseits ist er ein fremder (MT) bzw. anderer (LXX) Gott, der Jahwe eifersüchtig macht (V. 16), und die Opfer für diese Götzen/Götter werden de facto den Dämonen gebracht (V. 17).622 Von seiner Bindung an diese atl. Wirklichkeitsauffassung her wird auch deutlich, dass es für Paulus kein a-religiöses Kultopfer geben kann. Die Teilnahme am rituellen Opferakt ist immer per se eine religiöse Handlung, bei der eine fremde Gottheit angerufen wird und die deshalb immer in Konkurrenz zu dem einen Gott steht. Entscheidend dabei ist, dass die zentripetale Wirkung dieser dämonischen Mächte völlig unabhängig von der religiösen Überzeugung oder Erwartung des Opfernden ist und auch durch theologische yvwoLC (vgl. 8,1.4) nicht einfach aufgehoben werden kann. Weil schon durch die rein formale Anrufung der Gottheit ein dämonischer Machtbe619
BRUCE, 1 - 2 K o r , 9 6 .
620
Der hier von Paulus vorausgesetzte dämonische Machtbereich, vgl. WOLFF, IKor, 208, darf nicht im räumlichen Sinne eines kontaminierten Ortes oder Raumes missverstanden werden. Auch die bisweilen geäußerte Vermutung einer dämonisch infizierten Speise geht in die Irre, vgl. KLAUCK, Herrenmahl, 271; GOOCH, Dangerous Food, 56, und BÖCHER, Mächte, 14. Paulus geht hinter die Aussage von 8,4, wonach die Speise an sich - gleich welche Vorgeschichte sie hat - neutral bzw. gute Schöpfungsgabe Gottes ist, nirgends zurück (vgl. 10,26). Vielmehr liegt der Schlüssel für das korrekte Verständnis in den sakramentalen Aussagen der V. 16-18. So wie das Segenswort beim Herrenmahl die sakramentale Wirklichkeit durch die Gegenwart Christi konstituiert, so wird umgekehrt durch die im Zuge des Kultopfers vollzogene Anrufung eines Götzen eine dämonische Wirklichkeit konstituiert. 621 Nach ¥ 95,5LXX gilt, am>ei6r|oii' ist genau das, was jedem Juden zu tun aufgetragen war. FEE, IKor, 482, bemerkt; „[...] it is hard to imagine anything more un-Jewish in the apostle than this." In der Tat sind in V. 25f. die jüdischen Speisegebote in grundsätzlicher, d.h. nicht nur aus praktischer, sondern aus theologischer Überlegung heraus, aufgehoben, vgl. LINDEMANN, IKor, 231. 628
3. Paulinische
Argumentationslinien
in 1 Kor 8,1-11,1
241
freiheit der Starken.631 Dasselbe gilt auch für den Kasus einer heidnischen Einladung und der dort stets gegebenen Möglichkeit, Götzenopferfleisch serviert zu bekommen. 632 Eine Nachforschung ist an dieser Stelle weder nötig noch angebracht (|ir|öev avaicpivovT€ IV.3.9.1). 664 Zur christologischen Begründung in IKor 8,11 vgl. v.a. SÖDING, Starke und Schwache, 3 6 2 - 3 6 7 . 665 Wie gravierend Paulus diesen Sachverhalt einschätzt, zeigt die Rahmung von V. 12 durch das Verb ¿ixapxaveiv, vgl. WOLFF, IKor, 182. 666 PROBST, Brief, 1 4 3 - 1 4 8 , v.a. 145.147, hält diese V e r b i n d u n g w e n n auch nicht f ü r b e w e i s b a r , so doch für möglich. 663
250
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Korinth
zu Mt 25,31-45; Mk 9,42parr; Mt 10,42 vorliegen, wird noch zu erörtern sein (—> Exkurs 9). Der Appell zur seelsorgerlichen Rücksichtnahme auf die Schwachen ist damit in doppelter Weise motiviert: im Blick auf die Schwachen in eschatologisch-forensischer und im Blick auf die Starken in christologischer Perspektive. Zwischen den Zeilen ist freilich auch der ekklesiologische Aspekt hörbar. In Fortsetzung von 8,1-3 (vgl. yvcöoiv in V. 10) bemüht sich Paulus, den Konflikt auf einer überindividuellen Ebene zu behandeln, da der Dialog auf der Ebene individueller Erkenntnisse schnell in einer kommunikativen Sackgasse enden würden. In einem persönlichen Statement, das durch die Schwurformel geradezu gelübdeartigen Charakter gewinnt, beschließt Paulus mit V. 13 den ersten Gang seiner Argumentation. 667 Indem Paulus sich selbst als Beispiel anführt und in die 1. Person wechselt, bereitet er gleichzeitig den Übergang zu c. 9 vor, wo er in breiter und grundsätzlicher Weise sich selbst als Vorbild präsentiert. 3.5.2.2 IKor 9 Im Anschluss an das persönliche Statement von 8,13 fügt Paulus nun ein weit ausladendes persönlich-biographisches exemplum an.668 Den Begriff der eSouoia aus 8,9 aufgreifend, entfaltet Paulus nach einer einleitenden Verteidigung seines Apostolats, wie seine apostolische e^ouoia im Verzicht auf das ihm zustehende Privileg des Unterhalts ihre Wirkung entfaltet. Zielgedanke des ganzen Kapitels ist die Charakterisierung christlicher Freiheit (vgl. V. la: „Bin ich nicht frei?") als einer Freiheit zum Verzicht auf legitime Vollmachten (vgl. V. lb: „Bin ich nicht ein Apostel?") zugunsten anderer: „Indem er seine Würde wie seinen Verzicht verteidigt, präsentiert er sich als Paradigma christlicher Freiheit wider eine ungehemmte Beanspruchung zustehender Exusia." 669 Gerade in dieser freiwilligen Selbstbeschränkung (9,12.15) zugunsten derer, die mit dem Evangelium erreicht werden sollen, drückt sich für Paulus die eigentliche christliche Freiheit aus. Zuvor muss Paulus freilich die Legitimität seiner persönlichen apostolischen Vollmachten erst begründen ( V . l c - 1 2 a . l 3 f . ) , für deren Verzicht er nachher wirbt (V.12b-d. 15-27). Offensichtlich kann Paulus nicht selbst-
667
FEE, IKor, 389, macht auf den durativen Aspekt der Formulierung etc top oüüi'a aufmerksam, was der Schwurformel eine gesteigerte Intensität verleiht und die eschatologische Bedeutung des Problems für die Schwachen hervorhebt. 668
669
MITCHELL, R e c o n c i l i a t i o n , 2 4 3 - 2 5 0 ; THISELTON, I K o r , 6 6 6 f .
VOLLENWEIDER, Freiheit, 201. Zum Verhältnis von IKor 9 zum kynisch-stoischen Autarkie-Ideal vgl. HECKEL, Kraft, 268f.
3. Paulinische
Argumentationslinien
in 1 Kor 8,1-11,1
251
verständlich auf die mit seinem Apostolat verbundenen Rechte verweisen, da es kritische Rückfragen dazu gegeben haben muss.670 Skopus des ganzen Kapitels ist der rhythmisch geformte Abschnitt der V. 19-23.671 Hier beschreibt Paulus in großer Dichte die bereits vorher skizzierte Zurücknahme eigener Bedürfnisse und Vollmachten im Rahmen einer missionarischen Akkommodation zugunsten der Menschen, die es zu gewinnen gilt (-» III.3.5.1.2). In Aufnahme der in dem Schlüsselverb xep5a[v€iv (5x in V. 19-22) anklingenden Assoziation von sportlichem Gewinn/Sieg zieht Paulus in einem Schlussteil (V. 24-27) noch den Vergleich mit einem Läufer in der Kampfbahn (bei den Isthmischen Spielen?), der eigene leibliche Bedürfnisse zurückstellt, um das sportliche Ziel zu erreichen. Irritierend war und ist immer wieder die Weitschweifigkeit des exemplums, das den stringent und zielstrebig vorangetriebenen Diskussionsprozess von c. 8 zunächst zu hemmen, um nicht zu sagen zu unterbrechen scheint. Dabei dürfen freilich zwei Punkte nicht übersehen werden. Zum einen handelt es sich um ein literarisches Stilmittel, dessen sich Paulus im 1. Korintherbrief des öfteren bedient (-» III. 1.1). Zum anderen illustriert Paulus durch dieses sehr persönlich-biographisch gehaltene und für die Korinther angesichts der mit Paulus gemeinsam verbrachten anderthalb Jahre sehr anschauliche Beispiel annähernd die gesamte Linienführung von 8,7-13 bis hin zum zusammenfassenden Schlussappell von 10,31 ff. und dem abschließenden imitatio-Appell in 11,1. Auch wenn c. 9 den theologischen Diskurs der tiSwloGutoy-Frage nicht voranzubringen scheint, so kann der homiletisch-pädagogische Sinn dieses exemplums kaum überschätzt werden. 3.5.2.3 IKor
10,28-30
Das Motiv und Prinzip der Rücksichtnahme auf den schwachen Bruder wiederholt sich in dem zusammenfassenden Abschnitt 10,23-11,1 im letzten der drei Fallbeispiele (V. 28f.) in 10,25-28, das genau genommen eine hypothetische Variante des zweiten (V. 27) darstellt. Es geht um eine private Einladung bei einem Ungläubigen, die mit großer Wahrscheinlichkeit in dessen Privathaus stattfindet. Gegen eine Privat670 Über die Gründe für diese Apologie lässt sich nur spekulieren. Am besten erklärt sie sich aus dem Umstand, dass das Apostolat des Paulus in Korinth offensichtlich nicht unumstritten war, was vollends durch die Diskussionen im 2. Korintherbrief deutlich wird. Bevor Paulus daher den Verzicht auf seine apostolischen Rechte als Vorbild anfuhren konnte, musste er zuvor begründen, dass ihm solche Rechte überhaupt zustanden. Möglicherweise verbanden die Korinther mit seinem Unterhaltsverzicht auch eine fehlende Apostelwürde, vgl. V O L L E N W E I D E R , Freiheit, 200f. 671 V O L L E N W E I D E R , Freiheit, 2 0 9 , spricht sogar vom „Herzstück der gesamten Kapitel 8-10" (kursiv bei V.).
252
Kapitel III: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Korinth
einladung in einen Tempel spricht der Hinweis des unbekannten Informanten, dass es sich bei dem vorgesetzten Fleisch um iepööuxov handelt. Bei einem Privatmahl in einem Tempelbezirk wäre dieser Hinweis überflüssig, da dort kein anderes Fleisch zu bekommen wäre. Es ist aber dieser Hinweis, der ab V. 28 die Situation grundlegend verändert. Die genaue Analyse der Situation wird ob der knappen, nur skizzenhaften Schilderung der Situation stark erschwert. Offen ist nicht nur, von wem der Hinweis auf die kultische Vorgeschichte des Fleisches kommt: Stammt er vom heidnischen Gastgeber, einem heidnischen Gast oder einem ebenfalls eingeladenen (schwachen) Christen, der durch die ungeklärte Herkunft der Speise in einen Gewissenskonflikt gerät? Offen ist auch, aus welcher Motivation heraus dieser Hinweis gegeben wird. Ergeht die Warnung von Seiten eines heidnischen Gastgebers oder Mitgastes in freundschaftlicher Fürsorge und im Wissen um die religiösen Vorbehalte gegenüber Opferfleisch im Raum der christlichen Gemeinde? Oder geschieht sie im Sinne einer provokativen Herausforderung, bei der das Verhalten und die religiöse Konsequenz des christlichen Gastes auf die Probe gestellt werden soll? Gegen eine Identifikation des Informanten mit dem Gastgeber spricht die abermalige Verwendung des unbestimmten Pronomens TIC. Wäre damit dieselbe Person gemeint wie der in V. 27 ebenfalls mit dem Personalpronomen Ti; eingeführte Gastgeber, dann wäre ein bestimmendes Pronomen zu erwarten.672 Hinzu kommt, dass in diesem Fall erklärt werden müsste, warum dieser einen Christen einlädt, um ihn anschließend mit der für Christen potentiell problematischen Vergangenheit der vorgesetzten Speise zu konfrontieren. Dies wäre nur aufgrund intriganter Absichten denkbar, die aber nirgends in IKor 8,1-11,1 eine Rolle spielen. Für die heidnische Provenienz des Informanten 673 , der damit ein ebenfalls eingeladener Gast wäre, spricht der im Hinweis verwendete Begriff iepoöircoi/74, der im Gegensatz zum polemischen eiöwloöutov der profangriechische Ausdruck für den Göttern dargebrachtes Fleisch war.675 Zudem 672
ECKSTEIN, Syneidesis, 263; FEE, IKor, 484; LINDEMANN, IKor, 232f.
673
Sie wird u.a. von LlETZMANN, I K o r , 5 1 ; CONZELMANN, I K o r , 2 1 0 ; KLAUCK, Her-
renmahl, 2 7 6 f . ; VOLLENWEIDER, Freiheit, 2 2 2 , A n m .
1 1 6 ; FEE, I K o r , 4 8 4 f . ;
WOLFF,
I K o r , 2 3 8 ; MERKLEIN, I K o r II, 2 7 7 f . ; BORGEN, Y e s , 5 2 f . u.a. vertreten. 674
Der vorchristliche Begriff LepoOuxoc bezeichnet sowohl den menschlichen Opferbzw. Heldentod im Krieg als auch das Tieropfer im Opferkult. Der Begriff wird in der Regel mit positiv, neutraler bzw. deskriptiver Konnotation verwendet. Lediglich im Gebrauch von Apologeten wie Origenes (Cels 8,21,5; 8,31,7) bekommt er einen negativpolemischen Sinn, vgl. NEWTON, Deity, 179. 675 Man kann freilich einwenden, dass der Begriff UpoSutov im Munde eines schwachen Christen von der gesellschaftlichen Situation her motiviert war: Der christliche Informant wollte durch den Verzicht auf den polemischen Begriff einen Affront gegen-
3. Paulinische
Argumentationslinien
in IKor 8,1-11,1
253
ist schwer vorstellbar, wieso ein „schwacher Christ" eine derartige Einladung überhaupt hätte annehmen sollen.676 So gewichtig die Einwände gegen eine christliche Identität des Informanten sind, so gibt es andererseits eine Reihe triftiger Gründe, an einen schwachen Christen zu denken: (1) Die Reihe der drei Fallbeispiele hat für Paulus gerade die Funktion einer abschließenden und klärenden Zusammenfassung seiner ausgesprochen differenzierten Argumentation in den c. 8,1-11,1. So entspricht die Forderung nach Verzicht ÖTA TRJV OUVEIÖR|OIV . . . TOÜ eiepou exakt der Argumentation in 8,7-13. 677 (2) Die paulinische Aufforderung zum Verzicht wäre im Blick auf einen heidnischen Informanten nur schwer verständlich, da dieser sowieso keine Gewissenskonflikte im Zusammenhang des Essens kennt. Der Verzicht kann auch unmöglich als Bekenntnisakt verstanden werden, da dies geradezu einer Pervertierung des Bekenntnisses gleichkommen würde nach dem Motto: Wenn niemand etwas sagt, wird fröhlich genossen; wenn dagegen ein offizieller Hinweis erfolgt, wird aufrecht bekannt. Dies wäre eine grobe Verzeichnung des Bekenntnisaktes. 678 (3) Die bisweilen vorgenommene Unterscheidung 679 zwischen einem heidnischen Informanten (TLC) und dem „anderen" (TOO eiepou) in V. 29a, der ob seines Gewissens als schwacher Bruder identifiziert wird, aber gar nicht anwesend ist, sondern nur von dem Vorfall hört, wirkt sehr künstlich. Zusammen mit dem hier erneut zentralen Begriff der aweiör|ai IV. 1.1.1), spricht dies ebenso für die Existenz einer sozialen Mittelschicht. Ein weiterer Hinweis ist die paulinische Erwartung einer materiellen (und personellen?) Unterstützung seiner Spanienmission durch die Gemeinde (Rom 15,24.28). Nimmt man das Verb irpoTTe|iTrea0ai (vgl. IKor 16,6.11; 2Kor 1,16) wörtlich, so verbirgt sich dahinter nicht nur die Erwartung einer materiellen Ausstattung, sondern auch einer personellen Begleitung. Möglicherweise benötigte Paulus lateinkundige Reisebegleiter für das latinisierte Spanien. 65 Jedenfalls geht Paulus davon aus, dass die Römer über finanzielle Ressourcen verfügen. Ein anderes Indiz bildet die Ermahnung in Rom 13,7 (vgl. V. 6), in der vorausgesetzt wird, dass die römischen Gemeindeglieder nicht nur Steuern, sondern auch Zoll zahlen. Das setzt aber ein Gewerbe mit entsprechenden Handelsbeziehungen voraus. Schließlich können auch Personen wie Aquila und Priscilla nicht völlig mittellos gewesen sein angesichts ihres Zelt- bzw. Tuchgewerbes und ihrer häufigen Reisebewegungen im römischen Reich.66 Als Zelt- bzw. Tuchmacher produzierte Aquila wohl die damals in Privathaushalten üblichen Sonnensegel und Leinenzelte für den Privatgebrauch. 67 Wie einträglich dieses Handwerk war und welchen Wohlstand es dem Paar eröffnete, darüber lässt sich leider keine Klarheit finden. 68 Die Existenz von Mitgliedern wohlhabenderer Schichten legt auch der onomastische Befund der Grußliste in Rom 16 nahe. Klassisch lateinische Namen tragen Aquila und Priscilla, Urbanus und Rufus. Der relative Wohlstand der ersten beiden wurde schon angedeutet; bei Urbanus fällt auf, dass Paulus neben ihm sonst nur noch das eben genannte Paar als ouvepyöc bezeichnet, was im Falle einer Mitarbeit auf den Missionsreisen bürgerliche Freiheit, Mobilität und in der Konsequenz auch gewisse finanzielle Mittel voraussetzt. Wenn Paulus schließlich bei Rufus besonders die 65
Vgl. JEWETT, Spanish Mission, 145-147. Zu den Reisekosten im Römischen Reich im 1. Jh. n.Chr. vgl. LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 162-164. Er veranschlagt die Reisekosten der beiden relativ niedrig und zeigt, dass die häufigen Reisebewegungen bei niederen Ansprüchen an Komfort und Verköstigung auch mit einem niedrigen Budget zu bewältigen waren. 67 Vgl. LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 156ff. Zelte für den militärischen Bedarf wurden in der Regel in den kaiserlichen Werkstätten angefertigt. 68 LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 159ff., geht dagegen von eher bescheidenen Verhältnissen aus, da Paulus nach 2Kor 11,9 in deren Haus offensichtlich „Mangel" litt und weder in Korinth noch in Ephesus in ihrer Wohnung Versammlungen abhalten konnte, weil sie möglicherweise zu klein war. Während in den Grußlisten oft eine Gemeinde, die sich im „Haus" (OIKOC) des XY trifft, erwähnt wird, ist davon bei Aquila und Priscilla ebenso wenig die Rede, wie von evtl. Angestellten oder einem Hausgesinde. Der einzige Angestellte war Paulus. Gleichzeitig versammelte sich dennoch eine Hausgemeinde bei dem Ehepaar (IKor 16,19; Rom 16,5), evtl. in der Werkstatt. 66
1. Analyse der römischen
Konfliktsituation
307
Mutter hervorhebt, die auch ihm zur Mutter geworden sei, weist dies ebenfalls auf einen Aufenthalt der Familie im Osten hin. Möglicherweise war Rufus' Mutter eine Matrone, die Paulus bei seinen Missionsreisen an einem bestimmten Ort unterstützte. 69 Je länger, j e mehr scheint sich in den Gemeinden über der breiten Unterschicht eine Schicht von sozial Gehobenen gebildet zu haben. Im 1. Jh. mag dies noch ein kleiner Kreis gewesen sein, im 2. Jh. erfuhr diese Gruppe jedoch eine beträchtliche Zunahme. 70 So ist die Gemeinde, die der Hermasbrief anspricht, sehr vielgestaltig. Mehrfach fordert Hermas die Reichen auf, von ihrem luxuriösen Lebensstil Abstand zu nehmen. Auch bei dieser Entwicklung bildet die Gemeinde ein Spiegelbild zur Gesellschaft, denn im 2. Jh. ist das Gesamtgefüge der stadtrömischen Gesellschaft stärker geworden. Insgesamt dauerte es jedoch bis weit ins 4. Jh. hinein, bis das Christentum umfassenderen Eingang in die aristokratischen Kreise fand. Bis zu Konstantin blieb das stadtrömische Christentum in erster Linie ein Phänomen der untersten bis mittleren Schichten und entsprach damit im Wesentlichen dem gesamtgesellschaftlichen Verhältnis. Was die Gemeinde jedoch stets von der Gesellschaft unterschied, war die Tatsache, dass sich die verschiedenen sozialen Schichten hier näher kamen als irgendwo sonst. Der immense sozialintegrative Beitrag des frühen Christentums suchte in der Antike seinesgleichen. 1.1.2.3 Organisationsstruktur
der stadtrömischen
Christen
Die für die Klärung des in Rom 14,1-15,13 behandelten Gruppenkonflikts so wichtige Frage nach der Organisationsstruktur der römischen Gemeinde(n) lässt sich für die hier fragliche neronische Zeit angesichts der kargen Quellenlage nur mit Vorbehalten beantworten. Anders als z.B. der 1. Korintherbrief gibt der Römerbrief nur wenige Anhaltspunkte, die auf eine bestimmte Organisationsstruktur zurückschließen lassen. 7 ' Zunächst fallt ein negativer Befund ins Auge: Die römischen Christen werden von Paulus an keiner Stelle in ihrer Gesamtheit als €KKA.T]aia bezeichnet, auch nicht in Rom 1,7, wo man es gemessen an den anderen Briefen eigentlich erwarten könnte. Der Begriff fällt lediglich in 16,5 als Bezeichnung für die Hausgemeinde, die sich bei Aquila und Priscilla traf. Die Fraktionierung der römischen Christenheit in eine Mehrzahl von Hausgemeinden zeigt sich auch in weiteren Gruppennennungen in Rom 16. So ergeben sich Hinweise aus den Aufzählungen in V. 14f.: In V. 14 werden fünf Personen gegrüßt „und die Brüder mit ihnen"; analog findet sich in V. 15 wiederum eine fünf Personen umfassende Grußliste (vier davon 69
V g l . z u m G a n z e n LAMPE, D i e stadtrömischen Christen, 152f.
70
LAMPE, D i e stadtrömischen Christen, 113.
71
V g l . z u m F o l g e n d e n LAMPE, D i e stadtrömischen Christen, 3 0 1 - 3 3 4 .
308
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
namentlich) mit dem Zusatz „und alle Heiligen bei ihnen". Ferner werden in V. lOf. zwei Personenkreise erwähnt, die Paulus nach ihren jeweiligen Hauspatronen bezeichnet: „die aus dem Haus des Aristobul" und „die aus dem Haus des Narcissus" (16,10f.). Ob es sich dabei schon um eigene Hausgemeinden handelt, kann nicht eindeutig geklärt werden. Da die 14 anderen genannten Personen offensichtlich nicht zu den genannten Hausgemeinden gerechnet werden und durch die unzusammenhängende Aufzählung auch kaum zu nur einer einzigen weiteren gezählt werden können, lässt sich nach Lampe eine Zahl von mindestens fünf bis höchtens sieben „Kristallisationspunkten" bzw. „christlichen Inseln" voraussetzen. 72 Mindestens drei davon (vgl. die 16,5.14.15) dürften den Charakter einer Hausgemeinde gehabt haben. 73 Dieser Fraktionierungsbefund erklärt sich zum einen aus der für antike Verhältnisse immensen Größe Roms. Die Entfernungen zwischen den einzelnen Stadtvierteln machten wöchentliche „Vollversammlungen" unmöglich, erst recht nach Einbruch der Dunkelheit. Zum anderen entspricht dieser Befund der Fraktionierung der römischen Synagogen, von denen ebenfalls mindestens 11 bis höchstens 14 archäologisch für die Zeit des 1. Jh. nachgewiesen werden konnten. 74 Ebenso wenig wie die römische Judenschaft eine übergeordnete Leitungsebene gehabt zu haben scheint,75 gibt es Anzeichen für eine klare Leitungsstruktur der christlichen Gemeinden. Es gibt noch nicht einmal Hinweise, dass es eine Ämterstruktur oder eine Ver-
72 Vgl. LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 301 f. Dass Paulus diese - in Rom notwendige - dezentrale Struktur aus ekklesiologischer Sicht nicht grundsätzlich problematisch fand, zeigt auch der Umstand, dass offensichtlich schon bald nach seiner Ankunft in Rom in seiner eigenen Wohnung eine weitere Hausgemeinde entstand (Act 28,30f.). 73
V g l . WEDDERBURN, H i s t o r y , 1 3 1 .
74
Es gab schon vor dem Claudius-Edikt eine Mehrzahl unterschiedlicher Synagogen in Rom. In Inschriften sind die Namen von elf Synagogen erhalten geblieben, von denen mit großer Wahrscheinlichkeit sieben in Trastevere standen, vgl. LEON, Jews of Rome, 157. So konnte auch eine Synagoge der Hebräer und eine Synagoge der sog. Vernaculi nachgewiesen werden. Bei der ersten handelt es wohl um eine Synagoge für aramäischsprachige Neuankömmlinge in Rom, bei letzterer um eine Synagoge für etablierte griechischsprachige Juden, vgl. WIEFEL, Anfänge, 72-75. 75
Dass die stadtrömischen Synagogen anders als beispielsweise in Alexandrien keine gemeinsame Leitungs- oder Aufsichtsebene hatten, sondern autonom waren, wird von SCHÜRER, H i s t o r y I I I / l , 9 1 ; FREY, in: C I J I, C I I - C X I ; LEON, J e w s o f R o m e , 1 5 8 , DERS.,
Jews in Ancient Rome, 167-194, v.a. 170; WIEFEL, Anfänge, 74f„ und WALTERS, Ethnic Issues, 33-37, gegen die konträre Annahme von JUSTER, Juifs I, 420f. und LA PIANA, Foreign Groups, 361 f., vertreten.
1. Analyse
der römischen
Konfliktsituation
309
fassung in Analogie zu den Synagogengemeinden gegeben hätte,76 geschweige denn eine verfasste Form der Mitgliedschaft. 77 Die grundlegende Organisationsform war zunächst die der Hausgemeinde. 78 Ob diese eine gemischte Zusammensetzung hatten, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Watsons These von zwei unterschiedlichen Gemeinden, einer schwachen, die sich vornehmlich aus Judenchristen und ehemaligen Gottesfurchtigen zusammensetzte, und einer starken, zu der v.a. Heidenchristen und Judenchristen paulinischer Prägung zählten, lässt sich nicht nachweisen. Die Grußliste in c. 16 spiegelt eher eine Vielzahl als eine Zweizahl wider, und der Konflikt in Rom 14f. lässt sich besser erklären, wenn man eine bestimmte Form regelmäßiger Treffen und Begegnungen voraussetzt. Eine indirekte Bestätigung findet diese Annahme durch den weiteren Verlauf der römischen Kirchengeschichte. So hatte die römische Christenheit in der ersten Hälfte des 2. Jh. noch eine presbyteriale Verfassung, während sich ab der zweiten Hälfte des 2. Jh. nach und nach eine monarchische Struktur herausbildete. 79 Zieht man diese Linie ins 1. Jh. zurück, so fügt sich die Annahme unabhängiger Hausgemeinden ohne fixe Sozialgestalt nahtlos darin ein.80 Gleichzeitig muss es aber zwischen diesen Gemeinden mehr als nur lose Kontakte gegeben haben, da die Adressierung des Briefes und die Grußliste in Rom 16 eine mehr oder weniger intensive wechselseitige Bekanntschaft der Gegrüßten notwendig macht. Paulus kann selbstverständlich damit rechnen, dass sein Brief nicht nur dem kleinen Kreis einer Hausgemeinde zur Kenntnis gelangt, sondern mindestens all jenen, die ihm bekannt waren. 81 Ferner kann man voraussetzen, dass die 24 bzw. 26 von Paulus in Rom 16 (direkt oder indirekt) namentlich gegrüßten Personen sich zumindest weitgehend auch untereinander kannten. Paulus geht wie selbstverständlich davon aus, dass die Hausgemeinden auch die Frage der von ihm gewünschten Unterstützung seiner Spanienpläne gemeinsam beraten und entscheiden. Das alles deutet auf mehr oder weniger rege Kontakte zwischen den Hausgemeinden hin. In welchen Sozialformen und in wel76 Die jüdischen Synagogen organisierten sich im römischen Reich in der Regel als private, religiöse Vereine (sog. collegia); vgl. dazu BlCKHOFF-BÖTTCHER, Judentum, 8 2 ff. 77 BRÄNDLE/STEGEMANN, Entstehung, 8. 78 LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 305. 79 Vgl. LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 339. 80 BRÄNDLE/STEGEMANN, Entstehung, 8. Vgl. auch die von LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 306f., zusammengetragenen Belege aus dem 2. Jh. 81 LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 335. Dasselbe gilt auch für die Briefe von Ignatius (IgnRöm praescr) und Dionys von Korinth (Eus HE 4,23,10). Sie alle konnten ihre Briefe an die römische Gemeinde adressieren, wie auch umgekehrt der 1. Clemensbrief als Brief der römischen Gemeinde verstanden werden muss (vgl. auch Eus HE 4,23,11).
310
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
chen zeitlichen Abständen diese wechselseitigen Kontakte gepflegt wurden, ist nicht mehr auszumachen, 82 aber z.B. eine Art „Konvent der Hausgemeindeleiter" ist durchaus denkbar. Möglicherweise entstand bei eben diesen „über-hausgemeindlichen" Treffen das in Rom 14,1-15,13 beschriebene Schisma zwischen Starken und Schwachen. Die strukturellen Umstände machen die Entstehung des Schismas durchaus plausibel. Durch die dezentrale Struktur hatten die jeweiligen Konfliktparteien die Möglichkeit, sich in ihre Hausgemeinden zurückzuziehen und dort unter den Gesinnungsgenossen Mahlgemeinschaft zu praktizieren. Wenn Lampe zu dem Urteil kommt, dass die räumliche Fraktionierung die theologische Vielfalt begünstigt, 83 so gilt das nicht erst für das 2. Jh., sondern im Blick auf Rom 14,1-15,13 vielleicht bereits für die ersten Jahrzehnte der Gemeinde. Und wenn er darüber hinaus für das 2. Jh. eine Relation zwischen theologischem Partikularismus und landsmannschaftlich homogenen Gruppen bzw. Gemeinden feststellt, 84 so ist das ein Indiz, das auch für die Situation zur Zeit der Römerbriefes aufhorchen lässt. 1.1.3 Die prosopographische
Analyse von Rom 16
Über die in Rom 14,1-15,13 sich spiegelnden Verhältnisse hinaus bekommt die römische Gemeinde vor allem durch die Grußliste in Rom 16,1-16 bzw. 16,1-23 ein Gesicht. Für eine ausführliche Diskussion der Authentizität der Liste und ihrer ursprünglichen Zugehörigkeit zum Briefcorpus ist hier nicht der Ort. Diese Untersuchung folgt aus einer Vielzahl von Gründen der Mehrheit der Forscher, die die Grußliste für einen genuinen Bestandteil des Römerbriefs erachten. Das Hauptargument gegen die Authentizität der Liste in ihrer jetzigen Position ist, dass sie viel besser in einen Brief an die Gemeinde in Ephesus passen würde und es sich deshalb um einen vollständigen Brief oder auch nur um einen Briefteil handelt, der ursprünglich von Paulus nach Ephesus adressiert war. Der zweite Einwand betrifft die Vielzahl der gegrüßten Personen. Es erscheint merkwürdig, dass Paulus so viele Personen in einer Gemeinde kennt, die er vorher noch nie besucht hat.85 Dennoch ist die
82
Bekannt ist, dass die römische Christenheit im 2. Jh. ihre Einheit durch das gegenseitige Zusenden der Herrenmahlselemente durch Boten zum Ausdruck brachte, vgl. die Belege bei LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 324f. Hermas erwähnt im 2. Jh. auch eine Art „Außenminister" der römischen Gemeinden, der für die Kontakte zu auswärtigen Gemeinden zuständig war (Herrn Vis 2,4,3); vgl. LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 336. 83 LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 321. 84 LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 322. 85 Vgl. die ausführliche Zusammenstellung aller Argumente bei GAMBLE, Textual History, 36^17.
1. Analyse der römischen
Konfliktsituation
311
„Ephesus-These" aus mehreren Gründen extrem unwahrscheinlich. Folgende Argumente sprechen gegen die Ephesus- und für die Rom-Adressierung: 8 6 (1) Eine Auslassung von Rom 16,l-16(bzw. 23) ist nur in einer Minuskelhandschrift (1506) aus dem Jahre 1320 textkritisch belegt. Es lässt sich textgeschichtlich zeigen, dass die Minuskel 1506 abhängig ist von Textformen, in denen c. 15+16,1-23 eindeutig zusammengehören. Insofern belegt diese Ausnahme nur die Regel. 87 Zwar fehlen in zwei Handschriften die c. 15 und 16 gemeinsam, was für die Ephesus-Theorie allerdings nichts austrägt, da sich 15,22ff. eindeutig an die römische Gemeinde wendet. Auch die Textumstellung in P 46 , in der Rom 16,1—23 ganz am Ende des Briefes zu stehen kommt, ist kein Hinweis auf ein ursprüngliches Fehlen der Grußliste, da keine Urform ohne c. 16 denkbar ist, aus der sich die anderen Textformen ableiten ließen. 88 (2) Obwohl in der Antike reine Grußbriefe belegt sind, 89 wäre dies für Paulus eine gemessen an seinen unbestritten echten Briefen (wie auch am gesamten Corpus Paulinum und allen kanonischen Briefen) ungewöhnliche Form. (3) In der Grußliste begegnen lediglich Aquila und Priscilla, für die auch an anderer Stelle ein Aufenthalt in Ephesus belegt ist (Röm 16,3; vgl. Act 18,24-26; lKor 16,19). Jedoch wäre eine Rückkehr dieses Paares nach Rom angesichts ihrer Mobilität nicht überraschend. (4) Die Besonderheiten der Grußliste erklären sich aus der Besonderheit des Römerbriefs als eines Briefs an eine ihm nicht persönlich bekannte Gemeinde, der er selbst weitgehend unbekannt ist. So ist der globale Gruß „aller Gemeinden" in V. 16 als ein Brückenschlag von Ost nach West zu verstehen und gleichzeitig als eine Empfehlung des Apostels selbst durch die ganze östliche Christenheit. Als „vertrauensbildende Maßnahmen" sind auch die außergewöhnliche Länge der Grußliste und die ungewöhnlich vielen Grüße an Einzelpersonen verständlich, die Paulus nicht direkt ausspricht, sondern über die Gemeinde ausrichten lässt. Paulus „instrumentalisiert" seine Beziehung, wenn man so will, um über die Reputation seiner Bekannten das Vertrauen der gesamten Gemeinde zu gewinnen. (5) Dass Paulus so viele römische Gemeindeglieder kennt, ist angesichts der antiken Mobilität nicht überraschend. Allein die Existenz von griechischsprachigen Synagogen in Jerusalem als Anlaufstelle für die jüdischen Pilger aus der Diaspora (Act 6,9; vgl. 2,10) geben einen Eindruck davon, wie intensiv der Reiseverkehr auf dem und um das Mittelmeer war. Hinzu kommt, dass die Grußliste nicht voraussetzt, dass dem Apostel alle Gegrüßten persönlich bekannt waren. 90 (6) Röm 15,19-29 spricht dafür, dass der Römerbrief am Ende der dritten Missionsreise kurz vor dem Aufbruch des Apostels nach Jerusalem während eines dreimonatigen Aufenthalts in Griechenland (vgl. Act 20,3) in Korinth abgefasst wurde, wahrscheinlich im Frühjahr 57. Bemerkenswerterweise berührt sich dies mit einigen Angaben in Röm 16: Nach V. 1 sendet Paulus Phoebe vom korinthischen Hafen Kenchreae aus ab, und in V. 2 1 - 2 3 grüßen mit Timotheus, So(si)patros und Gaius dieselben Personen, die sich nach Act 20,4 unter anderen in der damaligen Reisegesellschaft des Apostels befanden.
86 Vgl. dazu GAMBLE, Textual History, 47-55; OLLROG, Abfassungsverhältnisse, 221-244; und LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 124-135. 87 LAMPE, Textgeschichte, 273-277. 88 Vgl. den Nachweis bei ALAND, Schluss, 284ff.; sowie GAMBLE, Textual History, 15-35.132-142. 89 MCDONALD, Romans XVI, 369-372. 90 GAMBLE, Textual History, 47.
312
Kapitel
IV: Der Konflikt
zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
( 7 ) L a m p e bietet darüber hinaus n o c h e i n e m i n u t i ö s e s p r a c h l i c h e A n a l y s e , 9 1 die die e n g e V e r f l o c h t e n h e i t d e s W o r t s c h a t z e s und Sprachstils z w i s c h e n R o m 1 - 1 5 u n d R ö m 16 b e l e g t , auf die an d i e s e r S t e l l e aber l e d i g l i c h h i n g e w i e s e n w e r d e n kann.
Von den 26 Einzelpersonen, die in Röm 16,3-16 genannt sind, werden nicht weniger als 24 namentlich erwähnt (nur die Schwester von Nereus und die Mutter des Rufus werden über ihre Angehörigen angeredet). Von den Genannten dürfte es sich bei Aristobul und Narcissus (V. lOf.) um nichtchristliche Patrone handeln, die christliche Sklaven beschäftigten und deshalb lediglich als Sklavenherrn der gegrüßten Sklaven erwähnt werden.92 Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass „Aristobul" kein römischer Name war,93 dafür aber im Osten des Reiches häufig anzutreffen ist, u.a. auch in der herodianischen Familie. Möglicherweise ist der hier erwähnte Aristobul aus dem Osten des Reiches nach Rom zugewandert und hat unter Umständen seine bereits christlichen Sklaven aus seiner Heimat mitgebracht. Diese von Lampe angestellte Erwägung wäre eine Möglichkeit für das Eindringen des Christentums in die römische Gesellschaft. 94 Eine andere interessante Beobachtung betrifft den hohen Frauenanteil unter den als aktiv vorgestellten Gemeindegliedern. Als Mitarbeiter/innen (auvepyöc), Apostel oder „sich Mühe gebende" Personen (vgl. das Verb K o i u a u ) werden fünf Frauen (mit Rufus' Mutter sechs) und vier Männer (mit Apelles und Rufus sechs) erwähnt. Hinzu kommt, dass Priscilla vor ihrem Mann Aquila genannt wird, was evtl. auch eine aktivere Rolle indiziert. Des Weiteren fallen die zahlreichen Personen ins Auge, die Paulus bereits persönlich kennt95 und die sich also irgendwann einmal im Osten des Reiches aufgehalten haben müssen, wo sie Paulus begegnet sind. Bei nicht weniger als elf Personen ist eine persönliche Bekanntschaft mit Paulus 91
LAMPE, D i e stadtrömischen Christen, 1 3 1 - 1 3 5 .
92
D i e s g e h t aus der Form d e s G r u ß e s hervor: D i e b e i d e n M ä n n e r w e r d e n nicht s e l b s t
v o n Paulus gegrüßt, sondern l e d i g l i c h die Z u g e h ö r i g e n ihres H a u s s t a n d e s . H i n z u k o m m t , d a s s die Gegrüßten als o i ¿K TGJV 'ApLaioßoüXou b z w . NapKtooou und nicht als ol xoßouA.ou b z w . o i
'ApLo-
N a p K i o o o u a n g e r e d e t w e r d e n , d.h. d a s s nur ein Teil d e s Haushalts
Christen sind, w a s n o c h einmal durch das attributive o i
ö m e c kv Kupico unterstrichen
wird, v g l . LAMPE, D i e stadtrömischen Christen, 1 3 5 f . 93
Er wird im C o g n o m e n - V e r z e i c h n i s in CIL V I , 6 , 2 , 2 2 4 nur z w e i m a l erwähnt.
94
LAMPE, D i e stadtrömischen Christen, 136.
95
D i e s gilt für Priscilla und A q u i l a ( V . 3: m e i n e Mitarbeiter), E p a e n e t o s ( V . 5: m e i n
Geliebter, aus der P r o v i n z A s i a ) , A n d r o n i k u s und Iunia(s) ( V . 7: m e i n e S t a m m v e r w a n d ten und M i t g e f a n g e n e n ) , A m p l i a t u s ( V . 8: m e i n e n G e l i e b t e n ) , Urbanus ( V . 9: unseren Mitarbeiter), S t a c h y s ( V . 9: m e i n e n G e l i e b t e n ) , Persis ( V . 12: m e i n e G e l i e b t e ) , R u f u s und s e i n e Mutter ( V . 13: „die auch mir zur Mutter g e w o r d e n ist"). LAMPE, D i e stadtrömis c h e n Christen, 138f., m ö c h t e n o c h A p e l l e s ( V . 10: den B e w ä h r t e n ) d a z u z ä h l e n , w a s aber nicht z w i n g e n d ist.
1. Analyse der römischen
Konfliktsituation
313
ausdrücklich genannt oder in hohem Maße wahrscheinlich, bei einigen anderen zumindest nicht ausgeschlossen. Mit Sicherheit aus dem Osten stämmig sind nur Aquila (Pontus), Epaenetos (Asia) und Andronikus und Iunia(s), die bereits vor Paulus Christen waren und daher zwingend während der ersten (zwei?) Jahre nach der Kreuzigung Jesu zum Glauben gekommen sein müssen, was nur im palästinischen Raum denkbar ist. Ob die anderen ebenfalls aus dem Osten stammen oder nur durch das ClaudiusEdikt in ein temporäres Exil getrieben wurden, lässt sich nicht sagen. In jedem Fall geben diese Auskünfte zweierlei zu erkennen: Zum einen waren die Wege, auf denen das Evangelium Rom erreichte, vielfaltig. Die antike Mobilität erlaubte einen raschen Austausch von Informationen, eine hohe Kontaktfrequenz von bekannten Personen und auch die unkomplizierte Übersiedelung von einem Reichsteil in einen anderen. Jahr für Jahr trafen Tausende von Immigranten aus allen Reichsteilen in Rom ein und versuchten in der Hauptstadt Fuß zu fassen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Christen in Rom auftauchten. Zum anderen zeigt die lange Liste von persönlichen Bekanntschaften, wie viele Kontakte Paulus in der römischen Gemeinde hatte, so dass man sogar vorsichtig sein sollte, von einer ihm „unbekannten" Gemeinde zu reden. Die Kontakte zeigen ferner, wie interessiert Paulus „seit vielen Jahren" (15,23; vgl. 1,13) an der römischen Gemeinde war. Nicht auszuschließen ist auch die Möglichkeit, dass er einige der von ihm als „Mitarbeiter" bezeichneten Personen selbst nach Rom gesandt hat, um dort eine Art Dependence seiner Mission aufzubauen. Schon von daher ist es völlig unbegründet, Paulus eine ausreichende Kenntnis der internen Probleme der römischen Gemeinde abzusprechen und Rom 14,1-15,13 als bloß hypothetisch-abstrakte Paränese zu bezeichnen. 96 Für die Fragestellung nach der ethnischen Zusammensetzung der römischen Gemeinde ist die Bezeichnung von drei Personen als ouyyeyeli; (Andronikus, Iunia97 und Herodion) von Bedeutung. Da der Begriff in den Paulusbriefen hier singulär ist, liegt die Annahme nahe, dass Paulus im Rom ein besonderes Interesse daran hat, seine Volksgenossen hervorzuheben. Dies erlaubt freilich nicht den Schluss, dass die übrigen 20 Personen der Grußliste paganer Herkunft sind,98 da die ebenso erwähnten Aquila und Priscilla ebenfalls jüdischer Herkunft waren (Act 18,2), obwohl sie in Rom 16,3f. nicht als ouYyevele vorgestellt werden. 99 Möglicherweise handelt es
96
S o s c h o n RAUER, D i e S c h w a c h e n , 7 6 - 7 8 ( - » I V . 1 . 2 . 2 ) .
97
Zum Genus des Namens vgl. LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 147f., und HAA-
CKER, R o m , 3 2 0 f . 98
So LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 58. Auch die Namensbildungen geben hier keine sichere Auskunft. Zwar wurden einerseits nach LAMPE nur drei der in Rom 16 erwähnten Namen auch von Personen, die von 99
314
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen
Starken und Schwachen
in Rom
sich bei den drei erwähnten Personen um Mitglieder der Schwachen, denen Paulus seine Verbundenheit signalisieren möchte, auch wenn er in Rom 14,14.20; 15,1 seine sachliche Übereinstimmung mit den Starken signalisiert. Doch auch dies muss eine Vermutung bleiben. Selbst wenn sich in Rom 16 eine gewisse Majorität der Heidenchristen andeutet, sollte man Vorsicht walten lassen, sie auf die quantitativen Verhältnisse zwischen Juden- und Heidenchristen zu übertragen. Denn gerade die Juden Roms gehörten zu den sozial niedrigeren Schichten. Hinzu kommt, dass Paulus in seinen Grußlisten häufig Personen in Leitungsfunktionen grüßt, die diese wiederum nicht selten ihrer sozialen Stellung innerhalb einer Gemeinde verdanken.100 1.1.4 Das Bild der stadtrömischen
Christen in der römischen
Öffentlichkeit
Die ersten Erwähnungen und Beurteilungen der christlichen Gemeinde in nichtchristlichen Quellen stammen alle aus der ersten Hälfte des 2. Jh., genauer gesagt aus dem kurzen Zeitraum zwischen 110 und 122 n.Chr. Sie stammen allesamt von Männern in hohen politischen Positionen des römischen Reiches, die sich auch noch untereinander kannten.' 01 Es ist daher nicht weiter verwunderlich, dass sie alle zu einer ähnlichen Beurteilung der noch jungen christlichen Gemeinden gelangten, die sich unter dem Begriff superstitio zusammenfassen lässt. Dieser Begriff fallt unisono in den Urteilen von Plinius, dem Jüngeren (61/62-113), 102 Tacitus (um 55-nach 116)103 und Sueton (um 70-nach 140).'04
F R E Y (CIJ) als stadtrömische Juden identifiziert wurden, getragen, andererseits sind einige der in Röm 16 erwähnten lateinischen und griechischen Namen außerhalb Roms auch für Juden belegt, vgl. L A M P E , Die stadtrömischen Christen, 5 8 , Anm. 1 5 4 . 100 Exakt dies gilt für die Judenchristen Aquila und Priscilla, deren herausragende Stellung schon durch ihre Voranstellung in der Grußliste angedeutet ist, sowie für Andronikus und Iunia(s), die von Paulus als „berühmt unter den Aposteln" beschrieben werden und eine entsprechende Autorität besessen haben dürften. 101 L Ü H R M A N N , SUPERSTITIO, 1 9 3 . 102 „Nichts anderes fand ich als widerlichen und maßlosen Aberglauben (nihil aliud inveni quam superstitionem pravam et immodicam)" (Ep 1 0 , 9 6 , 8 , Übersetzung nach L Ü H R M A N N , SUPERSTITIO, 1 9 8 ; Orthographie an neue Regeln angepasst). 103 „Der Urheber dieses Namens (sc. „Chresten"), Christus, war unter der Herrschaft des Tiberius durch den Statthalter Pontius Pilatus mit dem Tode bestraft worden; aber für den Augenblick zurückgedrängt brach der verderbliche Aberglauben (exitiabilis superstitio) erneut hervor, nicht nur in Judäa, dem Ursprung des Übels, sondern auch über die Hauptstadt, wo alles Scheußliche und Schändliche von überall her zusammenströmt und fleißig betrieben wird" (Tac ann 1 5 , 4 4 , 3 , Übersetzung nach L Ü H R M A N N , SUPERSTITIO, 201; Orthographie an neue Regeln angepasst). 104 „... mit dem Tode wurden die Christen bestraft, eine Art von Menschen neuen und schädlichen Aberglaubens (genus hominum superstitionis novae et malificiae)\ ..." (Suet Nero 1 6 , 2 , Übersetzung nach L Ü H R M A N N , SUPERSTITIO, 2 0 4 ) .
/. Analyse der römischen
Konfliktsituation
315
Man wird mit der Annahme kaum fehl gehen, dass diese Stigmatisierung auf einer längeren Tradition beruhte, zumal Sueton und Tacitus den Vorwurf bereits auf die Christen der neronischen Verfolgung beziehen. Mit dem superstitio-Vorwuri war aber gleichzeitig ein politisches Urteil über die Verdächtigten verbunden. Denn während im griechischen Sprachgebrauch das Äquivalent óeunóallovía mit der auch noch heute gängigen Vorstellung einer Furcht vor Göttern und dem daraus sich ableitenden skrupulösen Verhalten verbunden war,'05 hatte der Vorwurf und Argwohn des Aberglaubens in der Zeit des römischen Prinzipats eine wesentlich weitere Konnotation: Mit super st itio wurden in der Regel Kulte bezeichnet, seien sie ursprünglich römisch oder aus den Provinzen importiert, die eine Bedrohung für den Staat und/oder das familiäre Leben darstellten.106 Häufig waren aus dem Osten stammende Kulte mit obskuren Praktiken Gegenstand des superstitio-Verdachts.107 Das Verdikt impliziert daher nicht nur eine Verspottung des jungen Christentums als psychopathischer Unfug, sondern auch eine politische Verurteilung. Unter diesen Umständen wird es nachvollziehbar, dass die grausame Verfolgung durch Nero zwar Mitleid erregte, aber insgesamt als gerechtfertigt bewertet wurde.108 Die Christen werden von Tacitus eindeutig für schuldig befunden, wenn auch nicht unbedingt der Brandstiftung, so doch „des Hasses auf die Menschheit" (odium humani generis).m 105
REASONER, Strong, 160. Vgl. dazu die Karikatur eines abergläubischen Menschen in Theophrasts Charakteren mit dem Titel A€LaiSai.|iovia. Die dort skizzierte Person zeichnete sich bemerkenswerterweise durch die Beachtung des 4. und 7. Monatstages aus und war sehr sensibel im Blick auf potentielle Verunreinigung (Theophr Char 16,10). 106 REASONER, Strong, 159. Vgl. auch FRATEANTONIO, Superstitio, 1113: „Als s(uperstitio) wurden in der röm. Gesellschaft nicht in die eigene Rel. Integrierte bzw. nicht zu integrierende Teile der Rel. anderer Völker [...], wie z.B. die der Germanen, Gallier/Druiden, Kelten, Chaldäer, Etrusker [...] sowie der Juden bezeichnet [...], seit dem 1./2. Jh. n.Chr. auch zunehmend die christl. Rel. (vgl. Plin. Epist. 10,96)." Zur Literatur vgl. CALDERONE, Superstitio, 377, Anm. lf. 107 Möglicherweise lehnen sich auch Stellen wie Röm 1,23; 2,12-29 an die römische superstitio-Polemik an, die von Paulus hier freilich auf das Heidentum insgesamt angewendet würde. 108 Vgl. Tac Ann 15,44,5: „Daher regte sich Mitleid für die, die zwar schuldig waren und äußerste Strafen verdient hatten, aber doch nicht aus öffentlichem Interesse, sondern für die persönliche Grausamkeit eines Einzelnen umzukommen schienen" (Übersetzung nach LÜHRMANN, SUPERSTITIO, 202; Orthographie an neue Regeln angepasst). Die neronische Verfolgung zeigt, dass die Christen in den 60er Jahren bereits eine stattliche Mitgliederstärke hatten, aber im Ganzen in einem schlechtem Ruf in der römischen Öffentlichkeit standen. Ihnen schlug offensichtlich Unverständnis und ungebremster Hass entgegen (vgl. lClem 60,3; Just Mart Apol 1,1,1; l,4,4f.; 1,20,3; 1,24,1; 1,57,1; 2,8,lf.; Dial 134,6; Tat Or 4,1; 9,9; 25,7), was sie zu idealen Sündenböcken werden ließ, vgl. LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 65-67. 109 Tac Ann 15,44,4.
316
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
Bei Tacitus wird darüber hinaus spürbar, dass die Hinrichtung ihres „Namensgebers" durch einen römischen Statthalter von Anfang an ein Problem für die Christen in der Begegnung mit der römischen Öffentlichkeit darstellte und eine seriöse Wahrnehmung der Bewegung nicht gerade forderte. Die abschätzige Beurteilung wird bei Sueton dahingehend variiert, dass er den „neuen, schädlichen Aberglauben" der Christen in einer Reihe mit neuerdings um sich greifenden Unsitten in Rom geißelt, wie z.B. der Verschwendungs- und Konsumsucht (besonders im Blick auf Nahrung) oder dem impertinenten Auftreten der Wagenrennfahrer usw. Die christliche superstitio wird von ihm als neuartige Modeerscheinung unter anderen „Schmarotzern des Wohlstands" kritisiert.110 Bemerkenswert an diesen Beurteilungen ist, dass der den Christen vorgeworfene Aberglaube kein Delikt war, dass sich im strafrechtlichen Sinn präzise fassen ließ. Schon bei Plinius ist das Ringen spürbar, wie dem Phänomen des christlichen Glaubens formaljuristisch angemessen zu begegnen sei. Diese Unsicherheit findet sich auch bei Tacitus und Sueton, die sich in der moralischen und politischen Verwerflichkeit des neuen Glaubens ebenso einig sind wie im Blick auf die Gefährlichkeit der hier verkündeten Anschauungen und die zu ergreifenden restriktiven Maßnahmen. Aber auch sie tun sich schwer, konkrete Straftatbestände zu nennen, die den Christen angelastet werden können, sieht man einmal von dem unscharfen Vorwurf des „Hasses auf das Menschengeschlecht" ab." 1 Eben dieser letztgenannte Vorwurf gibt nun aber einen entscheidenden Hinweis auf die Genese der christlichen Stigmatisierung durch die römische Elite, denn die Misanthropie ist ein alter und häufer Vorwurf gegen das Judentum." 2 Insbesondere das römische Judentum hatte sich aufgrund seiner selbstgewählten Absonderung," 3 seiner Sabbatobservanz 114 und seiner Reinheitsregularien und -praktiken" 5 schon immer mit Ressentiments 116 110
LÜHRMANN, SUPERSTITIO, 204. LÜHRMANN, SUPERSTITIO, 206. 112 Diod 34-35,1,2; Phil Virt 141; Jos Ap 2,121 f. 148.291; Ant 11,212; Tac Hist 5,5,If.; vgl. Sen Dial 9,15,1; Plin Hist nat 7,80. Vgl. STERN, Authors II, 93. Vgl. dazu SCHÄFER, Judeophobia, 304 (Index zum Stichwort „misanthropia"), und WLOSOK, Rom und die Christen, 2 0 - 2 2 , die die Wendung odium humani generis als Übersetzung des griechischen Begriffs der iiiaavepcoiua erklärt. LÜHRMANN, SUPERSTITIO, 203, Anm. 21, will diese Deutung noch dahingehend zuspitzen, dass er das genus humanum auf die Einwohner des römischen Reiches bezieht, deren Schutz im Interesse der Behörden liegen musste. 111
113 Vgl. Jos Ap 2,79.148.258; Ant 4,137; Philo Virt 141; bAZ 1,3 (8a); lust 36,2,15; Orig Cels 5,41; Philostr VitAp 5,33; Tac Hist 5,5,2; AddEst 3,13de. 114 Vgl. Jos Ap 1,209; 2,21; Plut Mor 671e-672a; Mel 5,160; Hör Sat l,9,68f.; Mart 4,4; luv 6,159; 14,96; Seneca bei Aug Civ 6,11,1-5. 115 Vgl. Jos Ap 2,137; Petron Frgm. 37; Plut Mor 669d; luv 14,98f.; Epikt 1,22,4; Cic bei Plut Cic 7,6; luv 6,160; Sext Emp Pyrrh 3,223; Porph Abst 2,61; 4,14.
1. Analyse
der römischen
Konfliktsituation
317
und superstitio-Vorwürfen"7 auseinander zu setzen. Dass dieses Stigma rasch auf die christlichen Gemeinden überging, ist aufgrund ihrer jüdischen Provenienz mehr als wahrscheinlich, weil diese bis in die 50er und 60er Jahre hinein auch die Wahrnehmung der christlichen Gemeinde in der römischen Öffentlichkeit prägte."8 Unter dem Dach der Synagoge war die junge Gemeinde einerseits auch mit denselben Vorurteilen behaftet, konnte aber andererseits auch mit der Duldung durch die römischen Behörden rechnen. Während dieses Privileg im Zuge der mit dem Claudius-Edikt verbundenen Trennung von der Synagoge wegfiel, blieb an der Gemeinde das Verdikt der Misanthropie und superstitio aber offensichtlich haften." 9 Von nun an waren die Hausgemeinden wie alle anderen Erscheinungsfor116 Vgl. Val Max 1,3,3; Hör Sat 1,4,139-143; 1,5,100; evtl. auch 2,3,288ff.; Plut Mor 169c; Quint 3,7,21; Pers Sat 5,176-184; Petron Sat 6 8 , 4 - 8 ; frg 37; Mart 4,4; 7,30; 11,94; 12,57,1-14; 3Makk 3,4; 4,1; 5,3; Jos Ap 2,32; Philo LegGai 120; vgl. auch Hör Sat 1,9,69-71 und luv 14,99-104, wo Beschneidung als Signum des Aberglaubens bewertet wird. Superstitio lautete auch der Titel einer verlorengegangenen Schrift von Seneca, aus der jedoch Augustinus zitiert (vgl. Civ 6,11). Seneca polemisiert dort gegen die jüdische Sabbatobservanz, weil die Juden dadurch den siebten Teil ihres Lebens unnütz verbringen würden, und bezeichnet die Juden als „ganz verkommenes Volk" (sceleratissimae gentis, Civ 6,11,10; vgl. auch Sen Ep 95). 117 Cic Flacc 28,67 („barbara superstitio"); Tac Ann 2,85,4; vgl. Hist 5,5; BARCLAY, Diaspora, 286ff. Eine wesentliche Rolle spielte hierbei der jüdische Drang zur Separation bzw. ihr Widerstand gegen die bei anderen Ethnien übliche Assimilation, was in einer hellenistisch-römischen Kultur, die sich gerne als universale iroXueia verstand, Unverständnis hervorrufen musste. Juden beteiligten sich nicht an den paganen Opferfesten, die einen wesentlichen Teil des kulturellen Lebens ausmachten, j a sie verweigerten sich überhaupt der römischen Religiosität. Umgekehrt erschien das Diasporajudentum als eine „opferlose" Religion; ein Vorwurf, der auch nicht durch den Hinweis auf den Jerusalemer Kultus aufgewogen werden konnte. Völlig unverständlich waren die komplizierten Sabbat- und Speiseregelungen. Allerdings ist anzumerken, dass bei Cicero das Unverständnis gegenüber den als exotisch empfundenen jüdischen Bräuchen zwar in den zum Teil beißenden Spott einging, die jüdischen Sitten selbst aber nicht als Bedrohung der römischen Bräuche empfunden wurden. Das änderte sich gut 150 Jahre später in den ebenfalls mit Spott gespickten Satiren Juvenals (luv 14,96-106) und der Geschichtsschreibung des Tacitus (Tac Hist 5,4,1; 5,5,lf.); vgl. BARCLAY, Diaspora, 287ff.313ff.; GAGER, AntiSemitism, 5 5 - 6 6 . Vgl. zur römischen Haltung gegenüber dem Judentum SHERWINWHITE, Racial Prejudice, 86-101; GAGER, Anti-Semitism; WHITTAKER, Jews and Christians; SCHÄFER, Judeophobia, 180-195, sowie die Quellenbände von STERN, Authors, und WHITTAKER, Jews and Christians. Einen kurzen Überblick bietet LICHTENBERGER, Jews and Christians, 2 1 5 5 - 2 1 5 8 . 118 Zur Geschichte des römischen Judentums vgl. BERLINER, Juden in Rom; JUSTER, Juifs; LAPIANA, Foreign Groups, 183^103; LEON, Jews of Ancient Rome, 1 - 4 5 ; PENNA, Juifs, 321-347; WIEFEL, Anfänge, 6 5 - 8 8 ; WALTERS, Ethnic Issues, 19-66; BARCLAY, Diaspora, 2 8 2 - 3 1 9 , sowie die Quellenbände von STERN, Authors, und WHITTAKER, Jews and Christians. 1,9 Zu den Gründen der Kriminalisierung der frühen Christenheit vgl. STEGEMANN, Sozialgeschichte, 2 7 8 - 2 8 9 .
318
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
men östlicher Religiosität dem Misstrauen und Argwohn der Behörden, sowie möglicherweise auch der Denunziation verbitterter Juden (die ebenfalls aus dem Exil heimkehrten) ausgesetzt.120 Diesen Hintergrund gilt es im Auge zu behalten, sowohl wenn es um die Frage dem Abfassungszweck des Römerbriefs als Ganzem geht, als auch hinsichtlich einiger Nuancen in der paulinischen Argumentation, auch in dem hier besonders interessanten Abschnitt 14,1-15,13. 1.2 Der Abfassungszweck des Römerbriefs Die Vorschläge für den Abfassungszweck dieses längsten aller Paulusbriefe sind mittlerweile kaum mehr zu übersehen.121 Die Diskussion kreist im Wesentlichen um folgende Fragen: 1. Wie ist der stilistische Unterschied zwischen dem persönlichen Briefanfang (1,1-15) und -schluss (15,14-16,27) einerseits und dem relativ unpersönlichen122 Briefcorpus (1,16-15,13) zu bewerten? 2. Welche Beziehung besteht zwischen den im Briefrahmen erwähnten Absichten des Apostels, nach Abgabe der Kollekte in Jerusalem Rom zu besuchen, um von dort aus zu einem neuen Missionsprojekt nach Spanien „weitergeleitet" zu werden, und den im Briefcorpus behandelten Lehrfragen und Paränesen? 3. Welches der drei angegebenen Reiseziele (Jerusalem - Rom - Spanien) hat für die inhaltliche Gestaltung des Briefes das größte Gewicht? 4. Welche Beziehung besteht im Briefcorpus selbst zwischen dem ersten (1,16-11,36) und dem zweiten Hauptteil (12,1-15,13)? 120
Vgl. WALTERS, Ethnic Issues, 62. Den Juden musste in dieser Situation und auf dem Hintergrund der Erfahrungen in Verbindung mit dem Claudius-Edikt alles daran gelegen sein, ihre Unterschiedenheit von den christlichen Gemeinden zu betonen. Dass es zu gezielten Denunziationen von Seiten des Judentums kam, ist aus den Quellen nicht ersichtlich. Aber es fällt auf, dass z.B. in den Acta des Lukas nahezu alle offiziellen römischen Maßnahmen gegen die Apostel oder Christen allgemein auf eine jüdische Anzeige zurückgehen. Unter Umständen spiegeln sich schon in Rom 12,14.17-21 entsprechende Erfahrungen, und Paulus mahnt zur Feindesliebe, Besonnenheit und Vermeidung von Racheakten, wohlwissend, dass ein erneuter öffentlicher Aufruhr sowohl das Ende der römischen Gemeinde als auch der christlichen Mission im römischen Reich bedeuten könnte (man beachte in diesem Zusammenhang auch Rom 13,1-7). 121
Einen Überblick über die unterschiedlichen Hypothesen geben in knapper Form
C A M P B E L L , C o n t e x t , 1 4 - 2 4 , u n d JERVLS, P u r p o s e ,
1 1 - 2 8 , sowie ausführlich
REICHERT,
Gratwanderung, 22-70; kurze Forschungsberichte der Diskussion bis 1970 geben KUSS, Paulus, 178-204, und WEDDERBURN, Reasons, 1-6. Eine ausfuhrliche Einfuhrung gibt der Sammelband von DONFRIED, Romans Debate, der sich ausschließlich dieser Fragestellung widmet. 122 Zwar taucht auch hier vereinzelt das „Ich" des Verfassers auf (8,38; 9,1 ff.; 12,1; 14,14 u.ö.), aber die Anrede wirkt deutlich distanzierter als im Rahmen.
/ . Analyse
der römischen
Konfliktsituation
319
5. Welche Beziehung besteht im zweiten Hauptteil, zwischen den allgemein formulierten Paränesen in c. 12f. und der konkreten und aktuellen Paränese in 14,1-15,13? 6. Handelt es sich in 14,1-15,13 überhaupt um eine konkrete und aktuelle Paränese oder lediglich um ein literarisches Konstrukt, das einen hypothetischen Fall zu paränetischen Zwecken schildert? 7. Wie ist c. 16 text- und literarkritisch zu bewerten? Ist das Kapitel integraler Bestandteil des Briefes oder stand es ursprünglich in einem anderen oder selbstständigen Brief, der möglicherweise an die Gemeinde in Ephesus adressiert war (-» IV. 1.1.3)? I.2.1 Forschungsgeschichtliche Lösungsmodelle A. Reichert hat die Flut der Entwürfe und Ansätze in vier „klassische Lösungsmuster" unterteilt:123 (1) Der erste Ansatz sieht im Römerbrief eine Vorbereitung des Apostels auf seinen unmittelbar bevorstehenden Besuch in Jerusalem und die dort erwarteten Animositäten von jüdischer Seite,124 inklusive eines möglicherweise unfreundlichen Empfangs von der Jerusalemer Gemeinde (vgl. Rom 15,25-32). Die Funktion des ersten Hauptteils des Briefcorpus (1,16II,36) wäre damit völlig unabhängig vom Briefrahmen und der dort geschilderten Kommunikationssituation zu bewerten. Schwierig zu verstehen ist bei diesem Ansatz freilich, warum Paulus diese „Selbstreflexion" über die zentrale Frage seines apostolischen Dienstes bzw. sein „theologisches Vermächtnis" ausgerechnet nach Rom sendet und nicht als „Diskussionsgrundlage" gleich nach Jerusalem. Will er die römische Gemeinde auf seine Seite zu ziehen? Wieso bringt er dies dann nicht direkt zum Ausdruck? Vor allem aber stellt sich die Frage, in welcher Relation dann der sich mehr oder weniger direkt an die Adressaten wendende paränetische zweite Hauptteil (12,1-15,13) zum ersten steht. Während Rom 1,16-11,36 auch in seiner abstrakten Form zu den in Jerusalem wartenden Auseinandersetzungen gut passen würde, haben Rom 12,1-15,13, einmal abgesehen von 15,7-13, mit diesem Konflikt nichts zu tun.125
123
REICHERT, Gratwanderung, 2 2 - 3 3 ; ähnlich THEOBALD, R ö m e r b r i e f , 3 5 ^ 4 2 .
124
V g l . BORNKAMM, R ö m e r b r i e f als T e s t a m e n t , 1 2 0 - 1 3 9 ; und JERVELL, B r i e f nach
Jerusalem, 6 1 - 7 3 . 125
V g l . auch d i e Kritik v o n THEOBALD, R ö m e r b r i e f , 39, und WEDDERBURN, R e a s o n s ,
20: „ N o n e o f the assertions (sc. in R o m 1 4 , 1 - 1 5 , 1 3 ) are likely to w i n approval or f a v o u r with the J e w i s h Christians under J a m e s the Just in Jerusalem with their zeal for the J e w ish L a w ( A c t s 2 1 . 2 0 ) . [ . . . ] Such a line o f argument m a k e s no s e n s e a d d r e s s e d to the Jerus a l e m church, but m a k e s e x c e l l e n t s e n s e addressed t o the R o m a n church and to w h a t is [ . . . ] a p r e d o m i n a n t l y g e n t i l e church."
320
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
(2) Das zweite Modell versteht den Römerbrief als eine Werbeschrift für sein Missionskonzept, das eine Ausweitung seiner Mission bis nach Spanien im Blick hat (vgl. Rom 15,24.28). Paulus möchte die römische Gemeinde als Stützpunkt und als materiellen und personellen Sponsor gewinnen, um ihm bei der Missionierung eines Landes zu helfen, das weniger hellenisiert als vielmehr latinisiert war' 26 und wohl vor 70 n.Chr. noch keine jüdischen Gemeinden kannte, auf die Paulus wie üblich zuerst zugehen konnte.127 Das stellte Paulus vor Herausforderungen, für deren Bewältigung er neue Mitarbeiter brauchte, die des Lateinischen mächtig und mit den kulturellen Gegebenheiten vertraut waren. Während diese Deutung sich ohne weiteres aus dem Briefrahmen ableiten lässt, steht die Frage nach der Bedeutung des Briefcorpus im Raum. Ein Teil der Anhänger des missionstheologischen Modells rechnet mit jüdischen bzw. judenchristlichen Gegnern, die Paulus mit erheblichen Vorbehalten begegnet seien und ihn zu einer Apologie seines Evangeliums genötigt hätten.128 Es bleibt freilich das Dilemma dieser Hypothese, dass sich solche Gegner im Text - von der sehr unbestimmten Formulierung in 3,8 einmal abgesehen - nirgends wirklich fassen lassen. Von paulinischen Gegnern ist im Römerbrief nur in 16,17-20 die Rede.129 Die rhetorischen Fragen in 3,31; 6,1.15; 7,7.13 u.ö. lassen sich besser im Rahmen eines Diatribestils im Zusammenhang mit den vorauseilenden Gerüchten über die angebliche paulinische Torakritik begreifen als durch das Postulat von direkten Gegnern.130 Solche werden in der paulinischen Briefliteratur stets wesentlich direkter angesprochen. Wenn es sich bei den Schwachen in Rom 14,1-15,13 vornehmlich um Judenchristen handeln sollte, so forderten sie anders als die galatischen Judaisten nicht die Beschneidung oder die 126 Vgl. zum Grad der Latinisierung in den drei spanischen Provinzen Baetica, Terraconensis und Lusitania JEWETT, Spanish Mission, 145-147. 127 Dieser Hinweis wurde erstmals 1975 von BOWERS, Jewish Communities, 400f. gegeben und später von DEWEY, EIS THN EÜANIAN, 324-327, und JEWETT, Spanish Mission, 146f., aufgenommen und interpretiert; vgl. schon SCHÜRER, History III/1, 84. 128 Vgl. VIELHAUER, Geschichte, 181-184; KETTUNEN, Abfassungszweck, 6 5 73.159.166.172; STUHLMACHER, Abfassungszweck, 186ff. 129 Den Versen ist jedoch kein konkretes Profil der Gegner zu entnehmen. Eine Beziehung zu den Starken oder Schwachen in Röm 14,1-15,13 ist aufgrund des drastisch veränderten Tonfalls ausgeschlossen und Theorien über neue Informationen aus Rom vor der Absendung des Briefes sind reine Spekulation. Es scheint auch so zu sein, dass die erwähnten Gegner noch gar nicht eingetroffen sind, Paulus aber ihren künftigen Einfluss auf die Gemeinde fürchtet (man beachte das Verb CKKA.IU'ELI'), vgl. GAMBLE, Textual History, 52; DUNN, Röm II, 903; WLLCKENS, Röm III, 143; vgl. zum Ganzen auch die Hypothese von CLNEIRA, Religionspolitik, 3 8 6 - 3 8 9 . Wenn STUHLMACHER, Abfassungszweck, 189f., sie mit den Lästerern in Röm 3,8 verbindet, dann ist das zwar möglich, aber nicht zwingend. 130
Anders STUHLMACHER, Abfassungszweck, 190f.
/ . Analyse
der römischen
Konfliktsituation
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vollständige Toraobservanz, sondern lediglich Respekt gegenüber ihren jüdischen Essgewohnheiten. Eine Apologie wie Rom 1-11 wäre für sie gewiss zuviel des Guten gewesen. Deshalb verzichten andere Vertreter dieses Modells auf die Annahme bestimmter Gegner und sehen in Rom 1-11 eine grundsätzliche Rechenschaft des Apostels über sein Evangelium. Der ausführliche Exkurs zur Israelthematik in c. 9-11 verdankt sich nach D. Zeller wohl primär einem Problem, das für Paulus und weniger für seine Leser eine persönliche Schwierigkeit darstellte.' 3 ' Dann aber dienen diese drei Kapitel lediglich der Klärung eigener theologischer Schwierigkeiten und sind somit eine „gedankliche Abschweifung" vom Thema. Dies ist angesichts der Länge der „Abschweifung" bei gleichzeitiger Dichte und Stringenz der Argumentation kaum vorstellbar. Problematisch ist auch, dass keine Verknüpfung des Lehrteils mit seinem Wunsch nach Unterstützung der Spanienpläne erkennbar wird und dass auch bei diesem Modell die Paränesen in 12,115,13 keine wirklich befriedigende Erklärung finden. (3) Eine dritte Konzeption sieht hinter dem Römerbrief die hauptsächliche Absicht, der nicht von einem Apostel gegründeten römischen Gemeinde mittels des Briefes eine apostolische Lehrgrundlage zu vermitteln. Nach G. Klein erscheint „der Brief geradezu als ein vorweggenommener Akt jenes eüaYY€A.iaaa0oa", das Paulus in seiner Funktion als Apostel bei seinem Besuch in Rom noch nachholen möchte.' 32 Ähnlich sieht auch W. Schmithals den Zweck des von ihm literarkritisch erhobenen „Römerbriefes A": Paulus will „die aus dem Osten zugewanderten Heidenchristen der Hauptstadt, die als ehemalige Gottesfürchtige' zum Teil noch im Synagogenverband lebten, [...] zu einer eKKÄrioia im paulinischen Sinn" sammeln, „die das gesetzesfreie Evangelium des Paulus anerkennt" und so als Stützpunkt für seine Spanienmission dienen kann. „Den Römerbrief B" schreibt Paulus dann später an eine römische Gemeinde, die sich infolge von „Rom A" tatsächlich seinem Evangelium unterstellt hat.' 33 Die stark im Vordergrund stehende Verhältnisbestimmung zwischen Juden und Heiden sowie 131
ZELLER, Juden und H e i d e n , 110.
132
KLEIN, A b f a s s u n g s z w e c k , 144. Ä h n l i c h formuliert auch JERVIS, Purpose, 1 5 8 - 1 6 4 ,
den Z w e c k d e s B r i e f e s . Paulus v e r f o l g e mit der D a r l e g u n g s e i n e s E v a n g e l i u m s die A b sicht, die r ö m i s c h e n Christen unter s e i n e Führung zu bringen. N i c h t erst durch s e i n e n a n g e k ü n d i g t e n B e s u c h , sondern s c h o n durch den B r i e f an sich zielt Paulus a u f e i n e n „pastoral p u r p o s e " und die A u s ü b u n g s e i n e s a p o s t o l i s c h e n Mandats: „The m a i n f u n c t i o n o f the letter w a s to a l l o w the Christians at R o m e to hear the p o w e r o f the g o s p e l f r o m h i m , s i n c e h e k n e w h i m s e l f to be their d i v i n e l y c o m m i s s i o n a l apostle. [...] T h e f u n c t i o n o f R o m a n s is to e n c o u r a g e the R o m a n b e l i e v e r s to enter P a u l ' s a p o s t o l i c orbit s o that t h e y m a y b e included within his , o f f e r i n g ' through h a v i n g heard h i s preaching" ( 1 6 4 ) . 133
SCHMITHALS, P r o b l e m , 21 Of. In g e w i s s e r W e i s e k ö n n t e man auch den V o r s c h l a g
v o n AUNE, Logos
Protreptikos,
2 7 8 - 2 9 6 , in d i e s e K a t e g o r i e e i n o r d n e n .
322
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
die Israelthematik begründen sich aus der Zusammensetzung der römischen Gemeinde, die mehrheitlich aus Gottesfürchtigen bestehe. Paulus setze sich mit den Juden nur deshalb so intensiv auseinander, weil er die christlichen Gottesfürchtigen von der Synagoge lösen will. Doch auch diese Konzeption kann die Frage nach dem Sinn des umfangreichen paränetischen Teils sowie der Funktion der im Rahmen dargelegten Missionspläne des Apostels nicht wirklich beantworten.'34 (4) Der vierte Vorschlag setzt an den Defiziten der ersten drei an und sieht die Hauptintention des Briefs in der Lösung gemeindeinterner Spannungen, konkret in der Bearbeitung des Konflikts zwischen Starken und Schwachen.135 Nach A. Suhl wurde Paulus von der Gemeinde um Hilfe gebeten und schreibt deshalb als „vorläufigen Ersatz" für den durch seine Jerusalem-Reise sich verzögernden Besuch diesen Brief.'36 Weil der Konflikt zwischen den „schwachen" Judenchristen und den „starken" Heidenchristen einer grundlegenden theologischen Klärung bedurfte, stellt Paulus seinen ethischen Ermahnungen eine ausfuhrliche Verhältnisbestimmung des göttlichen Heilshandelns gegenüber Juden und Heiden im ersten Hauptteils des Briefcorpus (1,16-11,36) voran. Problematisch an dieser Hypothese ist freilich noch das starke Übergewicht der elf Kapitel langen theologischen „Einleitung" und der zwei Kapitel langen allgemeinen Paränese im Verhältnis zu den 29 bzw. 36 Ver134
SCHMITHALS, Problem, 152-189.210f., entledigt sich eines Großteils des Dilemmas, in dem er mit Hilfe literarkritischer Operationen die Teile Rom 12,1-15,7 und 15,14-16,27 vom Römerbrief A (Röm A: 1 , 1 ^ , 2 5 + 5 , 1 2 - 1 1 , 3 6 + 1 5 , 8 - 1 3 ) trennt und einem zweiten, überwiegend paränetisch ausgerichteten Brief zuordnet (Röm B: 12,1-21; 13,8-10; 14,1—15,4a.7.5f.; 15,14-32; 16,21-23; 15,33). Während durch seine literarkritischen Hypothesen in der Tat viele Fragen gelöst werden können, kommen jedoch auch neue hinzu: Wer hätte aus welchen Gründen die beiden postulierten Briefe ausgerechnet in dieser Weise zusammenstellen sollen? Warum hat die Vorgeschichte der beiden Briefe keine textkritischen Spuren hinterlassen? Die Textgeschichte spricht so einhellig für die Einheit des Römerbriefs, dass man entweder eine Redaktion der Briefe vor der ersten Abschrift oder ein Traditionsmonopol des unbekannten Redaktors annehmen müsste. Hinzu kommt, dass SCHMITHALS mit zu vielen unbeweisbaren Hypothesen arbeiten muss, um einen s.E. klaren Text zu bekommen (z.B. dem Verlust des ursprünglichen Briefschlusses von Röm A), als dass seine These überzeugen könnte. Letztlich bewegt sich SCHMITHALS in einem Zirkelschluss: Er begründet seine Hypothesen mit vermeintlichen inneren Spannungen der vorliegenden Langform des Römerbriefs, der aus zwei ursprünglich kohärenten Kurzbriefen zusammengesetzt worden sei. Warum aber hätte ein Redaktor aus zwei kohärenten Kurzbriefen einen inkonsistenten Langbrief bilden sollen, dessen innere Spannungen nach SCHMITHALS so evident sind, dass sie die ursprünglichen Kurzbriefe schnell sichtbar werden lassen? Vgl. hierzu auch die ausführliche Kritik von WEDDERBURN, Reasons, 25-29. 135 MARXSEN, Einleitung, 109-119; SUHL, Anlaß, 127f.; MINEAR, Obedience, 1 - 8 . 3 1 34; CAMPBELL, Why, 268f.; vgl. auch HAACKER, Röm, 12f. 136 SUHL, Anlaß, 129f.
1. Analyse der römischen
Konfliktsituation
323
sen, die den eigentlichen Briefzweck enthüllen sollen.137 Es kommt noch die Beobachtung hinzu, dass Paulus bei der Ankündigung seines Besuches zwar auf sein Anliegen der Spanienmission zu sprechen kommt, aber nicht auf die von diesem Vorschlag postulierte Gemeindeberatung und Konfliktlösung als dem zentralen Anliegen der Römer. Hilfreich, weil klärend wirkten die beiden methodischen Grundsätze, die K. Donfried Mitte der 70er Jahre in die Diskussion einbrachte. 138 Er postulierte zum einen, dass jede Untersuchung davon auszugehen habe, dass sich Paulus im Römerbrief mit konkreten und aktuellen Problemen der römischen Gemeinde auseinandersetzt, so wie er dies auch ausnahmslos in allen anderen Briefen tut.139 Damit liegt die Beweislast zunächst bei den Bestreitern eines solch konkreten und aktuellen Hintergrunds. Der zweite Grundsatz betrifft das Kapitel Rom 16. Nach Donfried hat jede Studie zunächst davon auszugehen, dass c. 16 ein integraler und authentischer Teil des Römerbriefs ist. Damit liegt die Beweislast bei jenen Exegeten, die das Kapitel, sei es paulinisch oder nicht, eher nach Ephesus adressiert sehen, als nach Rom. Ein weiterer Fortschritt in der Debatte war die wachsende Einsicht, dass monokausale Erklärungsmuster dem Abfassungsproblem kaum gerecht werden können.140 Das führte in den letzten Jahrzehnten zu verschiedenen Kombinationsmodellen, u.a. dem von A.J.M. Wedderburn. Er analysiert die historischen Umstände, die bei der Abfassung auf Seiten des Apostels und in der Situation der Gemeinde eine Rolle spielten bzw. gespielt haben könnten. Dabei kristallisieren sich v.a. zwei bedeutende Faktoren heraus: einmal die Existenz einer pauluskritischen, judaisierenden Gruppe, der eine heidenchristlich-freiheitliche Gruppe gegenübersteht, und zum anderen die bevorstehende Übergabe der Kollekte für und in Jerusalem. Paulus konnte sich der Unterstützung der Römer nicht sicher sein und legt deshalb werbend sein Evangelium dar, um sich der Unterstützung der römischen Gemeinde zu versichern. 141 Von einer Mehrzahl von Motiven für die Ab-
137 Vgl. THEOBALD, Römerbrief, 38. Er weist v.a. auf den „Überschuss an Argumentation, der sich nicht in dessen Aufarbeitung (sc. des römischen Konflikts) verbraucht und deswegen einer gesonderten Erklärung bedarf', hin. Nach WATSON, Paul, 106-174, bildet der Hauptteil c. 1-11 die Grundlage für das in Rom 14,1-15,13 verfolgte Ziel, die soziale Einheit der Gemeinde auf der Basis der Einsicht in die theologische Legitimität beider Positionen, sowohl die der Schwachen wie die der Starken, herzustellen. 138 DONFRIED, False Presuppositions, 103f.; zustimmend STUHLMACHER, Abfassungszweck, 185. 139 Vgl. hierzu auch WEDDERBURN, Reasons, 3f. 140 Vgl. STUHLMACHER, Abfassungszweck, 181; HAACKER, Friedensmemorandum, 29. 141 WEDDERBURN, Reasons, 140-142.
324
Kapitel
IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
fassung des Römerbriefs gehen auch Williams142, Watson,143 Dunn,144 Campbell,145 Haacker' 46 und Theobald147 aus. Den vorerst letzten Vorschlag einer Lösung des Abfassungsproblems hat A. Reichert vorgelegt.148 Sie will die inneren Spannungen des Briefes von der an sich spannungsvollen Situation seines Autors her verstehen. Paulus habe zwar die Absicht, nach Rom zu kommen, sei sich aber über das Gelingen dieses Vorhabens angesichts der Risiken seines bevorstehenden Jerusalembesuches alles andere als sicher, um nicht zu sagen auf höchste beunruhigt gewesen. In Anbetracht der Möglichkeit, dass seine „Erstkommunikation" mit den Römern auch seine „Letztkommunikation" sein könnte, müsse Paulus seine Absichten so darlegen, dass die sehnlichst auf seinen Besuch wartende Gemeinde nicht abermals von ihm enttäuscht wird, sondern vielmehr im Falle eines ungünstigen Ausgangs der Jerusalem-Reise sein Anliegen der Spanienmission begreift, sich aneignet und selbständig fortführt. 149 Der gesamte erste Hauptteil des Briefcorpus (1,1611,36) diene aus Sicht des Apostels eben dieser zwischen den Zeilen intendierten Zurüstung und Befähigung der Gemeinde, die angestrebte Spanienmission notfalls in eigener Regie und im paulinischen Sinne, d.h. mit „seinem Evangelium", durchzuführen. Dabei sei Paulus der Umstand entgegengekommen, dass die römische Gemeinde nicht durch eine konkrete Missionsverkündigung seitens eines anderen Apostels gegründet bzw. geprägt worden war. Die vornehmlich aus juden- und heidenchristlichen Im142
WILLIAMS, R i g h t e o u s n e s s ,
143
WATSON, P a u l , 9 0 .
245-255.
144
DUNN, Rom I, lv-lviii. CAMPBELL, Context, 82: „It seems to us that any balanced approach to the reason why Paul wrote the letter must find some basis both in the situation at Rome such as divisions within the Christian community there, and also some factor in the mission situation of Paul himself that is somehow intimately connected with, or influenced by, the situation o f the Roman Christians. Only in this way can we avoid seeing the letter as being completely determined by Paul's own needs and problems as he heads for Jerusalem, or as reflecting only the situation at Rome without any relation to the wider issues o f Paul's mission policy." 146 HAACKER, Friedensmemorandum, 2 9 f f . 147 THEOBALD, Römerbrief, 40ff. Er sieht den Hauptzweck des Briefes in der „Eröffnung einer apostolischen Partnerschaft". Um seine missionarischen Pläne zu verwirklichen, müsse Paulus zuerst eine persönliche Beziehung zur römischen Gemeinde aufbauen und um die Anerkennung seiner Autorität als „Völkerapostel" werben. Gleichzeitig müsse eine persönliche Beziehung jedoch auf einem gemeinsamen Fundament ruhen, das nur in einem grundsätzlichen Konsens hinsichtlich des beiderseitigen Verständnisses des Evangeliums bestehen kann. Unbeantwortet bleibt auch bei diesem Konzept jedoch die Frage nach dem Sinn der Paränesen ( 1 2 , 1 - 1 5 , 1 3 ) , besonders jener, die an die Starken und Schwachen adressiert ist ( 1 4 , 1 - 1 5 , 1 3 ) . 145
148
REICHERT, Gratwanderung, 7 7 - 1 0 0 .
149
REICHERT, G r a t w a n d e r u n g ,
83-91.
1. Analyse
der römischen
Konfliktsituation
325
migranten zusammengesetzte Gemeinde habe ein noch sehr unprofiliertes theologisches Bild abgegeben, das Paulus sich dahingehend zu nutze machen wollte, dass er mittels des Römerbriefs und der Darstellung seines Evangeliums der römischen Gemeinde eine paulinische Prägung gab.150 Freilich beruht auch der Lösungsvorschlag von Reichert auf einer Reihe von Prämissen, die hinter dem eigentlichen Text liegen. Dies gilt einmal für die Annahme, dass Paulus trotz des im Text geäußerten Wunsches (1,10-13; 15,22-24) und der Zuversicht (15,28f.32), demnächst nach Rom kommen zu können, dieses Vorhaben selbst angesichts der Situation in Jerusalem wesentlich pessimistischer eingeschätzt habe151 und deshalb konsequenterweise auch Vorkehrungen für ein negatives Ende seines Jerusalembesuchs und möglicherweise sogar seiner gesamten Mission und nicht zuletzt auch seines eigenen Lebens getroffen habe. Die zweite Prämisse geht davon aus, dass Paulus für den Fall seines Scheiterns in Jerusalem die Römer sozusagen zwischen den Zeilen zu seinen Stellvertretern und missionarischen Sachwaltern einsetzen wollte, um sein Missionswerk zu vollenden, und die römischen Leser dies auch so verstehen konnten, obwohl auf der Textebene selbst nicht der leiseste Ton von diesem Ansinnen erkennbar ist.152 Schließlich ist auch die letzte Prämisse, wonach Paulus die noch ungeprägte Gemeinde mit seiner Konzeption des Evangeliums „paulinisieren" wollte, von der Textebene her nicht zu begründen. Zwar ist jede mündliche oder schriftliche Verkündigung und Lehre um Zustimmung bemüht, aber im Unterschied zu anderen Briefen (vgl. Gal 1; 3,1; IKor 10,33 u.ö.) fehlt im Römerbrief jeglicher Appell an die Gemeinde, dass sie sich an die paulinische Form des Evangeliums binde und ihr nachfolge. 1.2.2 Rom 14,1-15,13
eine hypothetische
Paränese?
Der Abschnitt Rom 14,1-15,13 ist der einzige Abschnitt des Römerbriefs, in dem Paulus offenbar in direkter Weise auf eine konkrete und aktuelle 150
REICHERT, G r a t w a n d e r u n g ,
92-98.
151
REICHERT, Gratwanderung, 78ff. Die Autorin selbst ist sich dieser Prämisse durchaus bewusst: „Die Strategie des Textes (sc. Rom 1 5 , 2 5 - 2 9 . 3 0 - 3 2 ) zielt in die gegenläufige Richtung [...] Beide Abschnitte [...] wollen die Aufmerksamkeit der Adressaten also gerade nicht in die Befürchtungen verwickeln, die dem historischen Autor präsent g e w e sen sein müssen, sondern in deren positives Gegenstück" (81). 152 Die von REICHERT als Zurüstung für eine potentielle Missionstätigkeit verstandenen Texte des zweiten Hauptteils ( 1 2 , 1 4 - 2 1 ; 13,1-7; 14,16-18; 15,7-13, vgl. Gratwanderung, 3 2 2 ) können im Rahmen einer anderen Leitintention auch ihrerseits eine andere Funktion gewinnen. Hauptproblem bleibt, dass die von REICHERT den Texten zugeschriebene Hauptintention nirgendwo ausgesprochen wird, was sie selbst, Gratwanderung, 88, zugibt: „Die Hoffnung auf eine entsprechende Reaktion der Adressaten ist vom Adressanten nicht ausgesprochen ..."
326
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
Situation in Rom eingeht. Weitere aktuelle Bezüge lassen sich noch hinter anderen Abschnitten (z.B. 13,1-7.11-14; 16,19) sowie hinter einigen diatribischen Fragestellungen im lehrhaften ersten Hauptteil des Römerbriefs (c. 1-11) vermuten, aber nur schwer als solche identifizieren. 153 Doch auch der Umfang der situationsbezogenen Aussagen in Rom 14,1-15,13 ist in der Forschung stark umstritten und mit erheblichen Hypothesen belastet. Einige Ausleger vermuten sogar, dass Paulus überhaupt nicht auf eine reale, aktuelle Situation eingeht, sondern bloß eine hypothetische Situation konstruiert, um sein grundsätzliches Anliegen der gegenseitigen Annahme der Gemeindeglieder zu illustrieren. 154 Diese These wurde in den vergangenen Jahrzehnten vor allem von R. Karris und J.P. Sampley neu aufgegriffen. 155 Für Karris war die Geschichte der religionsgeschichtlichen Erforschung der Starken und Schwachen in Rom die Geschichte einer Sackgasse, was ihn zu dem Schluss führte, sie für bankrott zu erklären.156 Das Hauptargument der Befürworter einer hypothetischen Lösung war und ist nach wie vor die Spärlichkeit konkreter Informationen über die beiden Konfliktparteien und der ansatzlose Einstieg in die Konfliktthematik (14,1). Paulus erklärt weder, woher er um den Konflikt weiß, noch gibt er eine Legitimation für seine Stellungnahme an. Was aber, wenn Paulus das, was dem heutigen Lesern an Informationen fehlt, in seiner Kommunikation mit den Römern voraussetzen konnte? Warum hätte er seinen Erstlesern eine ausführliche Einführung in eine Konfliktproblematik geben sollen, in der sie selbst bereits seit geraumer Zeit die Hauptrolle spielten? Umgekehrt muss Paulus auch nicht erst beweisen, dass er über den Kon153 Vgl. z.B. die Verwendung der 2. Person Plural in 6,11-23; 8,9-17; 11,13-23. Die noch häufiger verwendete „Du"-Anrede hat dagegen kaum einen oder mehrere konkrete Adressaten vor Augen. Vielmehr führt Paulus mit dieser Anrede-Form einen hypothetischen Dialogpartner ein, dessen Profil stetig wechseln kann (vgl. ROM 2 , 1 - 5 . 1 7 - 2 7 ; 8,2; 9,19-21; 10,9f.; 13,3b-4). Lediglich in RÖM 11,17-24; 12,20f.; 14,4.10.15.20-22 wendet sich Paulus mit dem „Du" direkt an die römischen Adressaten, vgl. REICHERT, Gratwanderung, 14, Anm. 8-10. Es ist zuzugeben, dass weite Strecken des ersten Hauptteils (1,16-11,36) des eigentlichen Briefcorpus (1,16-15,13) von der im Briefrahmen (1,1-15; 15,14-16,27) greifbar werdenden Kommunikationssituation (Selbstvorstellung, Wunsch nach Kontaktaufnahme bzw. Besuch, Spanienreise, Bitte um Gebetsunterstützung für den bevorstehenden Jerusalembesuch) merkwürdig losgelöst und unvermittelt erscheinen. 154
S o s c h o n SANDAY/HEADLAM,
R ö m , 4 0 1 f . , u n d LEENHARDT, R ö m ,
194f.
KÄSE-
MANN, Röm, 350, stellt zumindest Erwägungen in diese Richtung an, will sich aber nicht endgültig entscheiden. 155 KARRIS, Occasion; SAMPLEY, Weak; vgl. auch MAGEE, Rhetorical Analysis, 143.146.149.271; MEEKS, Judgment, 292f.297.299, Anm. 3, der ebenfalls von einer „paradigmatic address" spricht (293), und GLAD, Philodemus, 330f., der hinter den Starken und Schwachen lediglich „psychological dispositions of character types" sehen will (333). 156 KARRIS, Occasion, 69f.
I. Analyse der römischen
Konfliktsituation
327
flikt informiert ist. Dies dürfte angesichts seiner zahlreichen römischen Bekanntschaften die römischen Adressaten nicht überrascht haben. Im Übrigen kann eine relativ genaue Kenntnis der Adressatensituation als geradezu charakteristisch für alle seine Briefe angesehen werden. Wedderburns Kritk an einem bloß hypothetisch konstruierten Fall wurde nie entkräftet und hat daher immer noch Gültigkeit: „For the weakness of the argument here is that we cannot infer from the fact that the identity of opponents is unclear to us that it must also therefore have been unclear to Paul (or his readers). [...] What does not make sense or seem apparent to us may well have seemed crystal clear to Paul and his readers."157 Weiter stellt Rom 14,1-15,13 für Karris aufgrund der zahlreichen Parallelen zu IKor 8,1-11,1 eine „generalized, expanded adaption of the position and arguments which Paul developed especially in 1 Cor. 8-10" dar.158 Allerdings sind die Unterschiede mit IKor 8,1-11,1 ebenso groß wie die Ähnlichkeiten: Es fehlt das Hauptthema von IKor 8,1-11,1, nämlich der Begriff „Götzenopfer". Dagegen kommen Themen wie „Gemüse essen" (V. 2) und die Kalenderobservanz (V. 5f.) hinzu. Eine genauer Vergleich der beiden Texte (-» IV.5.1.1) zeigt, dass die Ähnlichkeiten v.a. auf der Ebene der Argumentationsstruktur liegen, während sich die Unterschiede vor allem auf die jeweiligen historischen Hintergründe und Sachverhalte beziehen.159 Entscheidend aber ist, das sich Paulus hier klar auf die Seite der Starken stellt (15,1). Das setzt voraus, dass er um deren Standpunkt wusste: „... he would hardly donate his authority as a blank cheque cashable by any Pauline group claiming to be ,the strong'." 160 In neuester Zeit wurde die These einer hypothetischen Konstruktion in Ansätzen von A. Reichert wieder erneuert, die in den Starken und Schwachen des Abschnitts 14,2-13a lediglich literarisch aufgebaute „Typen" sehen möchte,161 „die sich in je unterschiedlicher Distanz zu der in V. 1 direkt angesprochen Adressatenschaft befinden". 162 Nach 14,1 richte sich
157
WEDDERBURN, R e a s o n s , 3 1 .
158
KARRIS, Occasion, 77. Vgl. auch die Auflistung der Parallelen in 73-75. Eine ausführliche Kritik der von KARRIS vorgetragenen Argumente findet sich bei SCHNEIDER, Die Schwachen, 50f. 159 RAUER, Die Schwachen, 123; SCHNEIDER, Die Schwachen, 46.58ff.; vgl. auch die Kritik bei MARCUS, Circumcision, 70f. 160
BARCLAY, L a w , 2 8 9 .
161
REICHERT, Gratwanderung, 271 ff. Sie kann freilich ihr erkenntnisleitendes Interesse kaum verbergen, das daraufhinausläuft, dass Röm 14,1-15,13 für die Abfassungsproblematik des Römerbriefs keinerlei Bedeutung besitzen soll, vgl. auch a.a.O., 6 0 - 7 5 , v.a. 71, was bei einem konkreten und aktuellen Hintergrund des Konflikts kaum ausgeblendet werden dürfte. 162
REICHERT, G r a t w a n d e r u n g , 2 7 6 .
328
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
erst wieder 14,13b direkt an die römische Adressatenschaft. Der folgende Abschnitt 14,13b—23 habe dann „die Funktion, die Adressaten zu solchen Starken zu machen, als die sie am Ende (sc. in 15,1) angesprochen werden."163 Die Schwachen blieben dagegen während der gesamten Argumentation ein irreales Gegenüber, was sich für Reichert v.a. in 14,21 zeigt, wo „die Palette der Merkmale des Schwachen völlig entschränkt [wird] (sc. zur Fleischabstinenz und Kalenderobservanz tritt nun noch die Weinabstinenz hinzu), und solche Entschränkung bietet ein klares Indiz dafür, daß der Schwache nicht für eine real existierende Gruppe, sondern für einen vorgestellten Typus steht".164 Hinter dem literarischen Typos der Schwachen sollen die paulinischen Adressaten nach Reichert allerdings Heidenchristen erkennen.165 Auf die Fragen, warum Paulus sich über anderthalb Kapitel mit einer hypothetischen und unaktuellen Ermahnung abgegeben haben soll, während er ähnliche Fragen in Rom 12,9-21 mit ein bis zwei 163
REICHERT, G r a t w a n d e r u n g , 2 8 7 .
164
REICHERT, Gratwanderung, 293f.298. Eine ähnliche Sichtweise verfolgen NABABAN und SAMPLEY. Nach NABABAN, Bekenntnis, 25, kann Rom 14,1 ff. nicht ohne weiteres „eine unmittelbare Auseinandersetzung über einen tatsächlichen Streit in Rom sein." Es gehe Paulus vielmehr darum, „daß der konkrete Anlaß ins Typische und Grundsätzliche erhoben wird." SAMPLEY will in seinem Beitrag in der paulinischen Argumentation eine figured speech und oblique address an die römische Gemeinde sehen. Paulus habe überhaupt nicht das Interesse die Kontrahenten zu identifizieren bzw. anzusprechen (Weak, 41 f.). Vielmehr benutze Paulus die rhetorische Tradition der figurativen Rede, um für die in Rom durchaus angebrachte allgemeine Ermahnung zur Einheit die direkte Rede zu umgehen, da sie für eine Gemeinde, die er weder gegründet noch vorher besucht hat, unangemessen sei (45f.). Die figurative Redeweise sei vielmehr ein Angebot an die römische Gemeinde, die Ermahnung auf die tatsächlichen Konflikte zu übertragen und anzuwenden: „Figured speech, oblique address, suggestion, encouragement of the readers to make application to themselves - these are the only avenues open to Paul ..." (52). Die partícula veri dieses Ansatzes ist die Beobachtung, dass es durchaus eine rhetorische Konvention war, in einer Situation wie derjenigen des Paulus gegenüber einer ihm weitgehend unbekannten Gemeinde, sich weder der Schmeichelei, noch der direkten Kritik, sondern der indirekten, figurativen Rede zu bedienen. Indem Paulus die antithetischen Attribute der „Starken" und „Schwachen" in den römischen Konflikt einführt, fügt er zwischen sich und die angesprochenen Konfliktparteien sozusagen einen rhetorischen Puffer ein, den die Situation erfordert. Die Frage ist allerdings zu stellen, ob Paulus für eine rein fiktive Redeweise nicht doch wieder viel zu konkrete Probleme, wie die Fleischabstinenz und die Kalenderobservanz, anspricht. Hinzu kommt, dass Paulus sich auf die Seite der Starken rechnet, was wiederum voraussetzt, dass bei Autor wie Adressaten ein klares Verständnis des Konflikts vorliegt. So gesteht SAMPLEY selbst ein, dass im Hintergrund der paulinischen Ausfuhrungen wohl ein ethnisch begründeter Streit in den römischen Hausgemeinden stehe, der sich möglicherweise um die jüdische Speisefragen und die Sabbatobservanz rankte (48). 165
REICHERT, G r a t w a n d e r u n g , 3 2 6 .
1. Analyse der römischen
Konfliktsituation
329
Versen beantworten konnte, und warum Paulus so zahlreiche Nebenzweige des Konflikts konstruiert haben soll, gibt Reichert letztlich keine Antwort. Für einen hypothetischen Diskurs, der in dieser Form bei Paulus sonst nicht nachzuweisen ist, hätte eine Beschränkung auf das Problem der Speiseabstinenz genügt. Warum hätte Paulus den Fall noch mit Fragen der Kalenderobservanz und Weinabstinenz verknüpfen sollen, wenn dies nach Reichert nur die Irrealität der Gruppe der Schwachen belegt? Welchen Ertrag bringt es der intendierten Schulung der Starken, wenn die bloß hypothetischen Schwachen ihrerseits von Paulus ermahnt werden, die Starken nicht zu richten (14,3f.l0)? Warum sollte Paulus in 14,14 ausgerechnet ein aus eindeutig jüdischem Hintergrund stammendes hapax legomenon gebrauchen, um einen möglichst allgemeinen Konfliktfall mit heidenchristlichem Hintergrund zu entscheiden? Und schließlich: Warum sollte Paulus das Risiko eingehen, in seinem Brief missverstanden zu werden, durch den er gerade um das Vertrauen der Römer werben will (1,11-12.15; 15,2232)? Der Gedanke, dass es sich hier um einen hypothetischen Fall handelt, ist selbst zu hypothetisch, als dass er Plausibilität beanspruchen könnte. Eine besondere Variante der Kritik an einem konkreten Verständnis der Starken und Schwachen als zwei realer Konfliktparteien, wurde von S.K. Stowers vorgebracht. 166 Nach Stowers handelt es sich bei den Starken und Schwachen bzw. den mature and immature nicht um Gruppen oder Parteien mit theologischen Positionen, sondern um relative Kategorien: „These are not fixed roles but relative categories that would differ for an individual at various times and in regard to the particular behavior or aspect of character in question." 167 Ensprechend will Stowers Rom 14,1-15,13 im Anschluss an C. Glad und in Entsprechung zu IKor 9,19-23 auf dem Hintergrund der antiken Psychagogik und dem verbreiteten therapeutischen Konzept der Anpassungsfähigkeit („adaptability") verstehen: „In 14:115:14, he (sc. Paulus) seeks to correct abuses that he finds typically connected with psychagogic practices and to recast them according to his ethic of adaptability to the needs of others." 168 Entsprechend übersetzt er 14,1a mit „Take into friendship ..." und sieht in der hier vertretenen Ethik der wechselseitigen Hilfe („mutual assistance") eine Kritik an in Rom vorfindlichen Fehlformen des hellenistischen Ideals der Selbstbeherrschung („self-mastery"). 169 Doch müssen auch an Stowers Interpretationsvorschlag kritische Fragen gestellt werden. Denn so sehr die Attribute „stark" und „schwach" in der Tat eine große semantische Flexibilität im antiken Begriffsgebrauch auf166
STOWERS, R e r e a d i n g ,
320-323.
167
STOWERS, R e r e a d i n g ,
321.
168
STOWERS, R e r e a d i n g ,
322.
169
STOWERS, R e r e a d i n g ,
322.
330
Kapitel
IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
weisen, so präzise ist doch ihre Verwendung als Gruppenattribute in IKor 8,1-11,1 und nicht weniger in Rom 14,1-15,13. Stowers markiert hier eine Alternative, die weder historisch noch sachlich gerechtfertigt ist: Die Verwendung der in den unterschiedlichsten Kontexten belegten Antithese „stark-schwach" schließt die Existenz konkreter Gruppenprofile nicht aus, sondern ein. Auch sind die Belege für ein hinter Rom 14,1-15,14 (sie!) stehendes Konzept der Psychagogik und der therapeutischen Anpassungsfähigkeit alles andere als überzeugend. Die von Stowers angegebenen Parallelbelege 170 können genau so gut als Konkretionen der urchristlichen Ethik der Nächstenliebe verstanden werden, und die Übersetzung von irpooXaußaveiv mit „Freundschaft schließen" ist tendenziös (und wirkt im Falle von 15,7 geradezu banal). 1.2.3 Der Römerbrief als Antwort auf römische
Problemstellungen
Die vorliegende Untersuchung ist zum Ersten dem historischen als dem nach wie vor verheißungsvollsten Ansatzpunkt verpflichtet, weil er die beiden Grundsätze Donfrieds ohne Einschränkung nachvollzieht und den Abfassungszweck aus dem überlieferten Datenmaterial zu ergründen sucht.171 Zum Zweiten geht diese Arbeit davon aus, dass im Briefrahmen und Briefcorpus durchaus verschiedene Abfassungsmotive zum Ausdruck kommen können, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben müssen. Schließlich basiert der folgende Entwurf auf den Beobachtungen von Lampe u.a., dass in der Grußliste in c. 16 Kontakte zwischen Paulus und Mitgliedern der römischen Gemeinde sichtbar werden, die eine längere wechselseitige Kommunikation wahrscheinlich machen. Der Römerbrief kann deshalb nur im Sinne eines offiziellen Schreibens an alle römischen Gemeindeglieder als „Erstkommunikation" verstanden werden, und ebenso kann auch nur bedingt von der römischen Gemeinde als einer Paulus unbekannten Gemeinde gesprochen werden. Nimmt man die verfügbaren Informationen aus den Quellen zusammen, so zieht sich das Verhältnis zwischen Juden, Judenchristen und Heidenchristen wie ein roter Faden durch die Texte. Dies gilt bereits für die Situation, die zum Claudius-Edikt führte und die sich aus demselben ergab: Innerhalb der römischen Synagogengemeinden kam es zum Konflikt über die Messiasfrage, was zu einer öffentlichen Unruhe führte, auf die der Kaiser
170 171
IKor 2 , 1 4 - 1 6 ; 5 , 1 - 1 3 ; 2Kor 2 , 5 - 1 0 ; 10,11; Gal 6 , l f . ; IThess 5 , 1 2 - 1 4 . Diese Lösung steht damit in der Tradition von MARXSEN, Einleitung,
109-119;
W I E F E L , A n f ä n g e ; S U H L , A n l a ß ; MLNEAR, O b e d i e n c e ; C A M P B E L L , W h y ; B R U C E , R o m a n s D e b a t e ; WATSON, Paul, 8 8 - 9 1 ; WEDDERBURN, R e a s o n s ; HAACKER, R o m ,
Friedensmemorandum, u.a.
1 2 f . ; DERS.,
1. Analyse der römischen
Konfliktsituation
331
mit der Ausweisung172 der jüdischen und judenchristlichen Agitatoren oder möglicherweise sogar der gesamten Führungsschicht reagierte.173 Dies hatte erstens die Separation zwischen Synagoge und christlicher Gemeinde zur Folge, zweitens die plötzliche Majoritätsposition der Heidenchristen in den römischen (Haus)Gemeinden, die anfänglich v.a. Gottesfurchtige gewesen sein mussten,174 und drittens den Verlust der politischen Privilegien, die die Gemeinde unter dem Dach der Synagoge genossen hatte. Das Judentum hatte in den Regierungszeiten Caesars und Augustus' eine ganze Reihe wichtiger Privilegien erhalten, die wesentlich zu seinem Wachstum beigetragen hatten. 175 Unter Caesars Herrschaft wurden die Juden als von alters her in Rom bestehende collegia anerkannt und damit offiziell genehmigt. 176 In der Forschung wurden diese Zugeständnisse oft im Sinne einer Anerkennung des Judentums als einer religio licita gewertet, was aber den Quellen nicht Stand hält und z.B. mit der Forderung Caligulas nach Aufstellung seines Standbildes im Jerusalemer Tempel nicht in Einklang zu bringen wäre.' 77 Vielmehr war die römische Toleranz Ausdruck der römischen Religionspolitik überhaupt, die den unterschiedlichen Kulten weitestgehende Entfaltungsfreiheit gewährten, solange sie nicht die hellenistisch-römische Kultur missionarisch oder politisch unterminierten. Eine gesetzliche Regelung oder Definition dieser Politik gab es allerdings nicht. Die Grenzen der Toleranz wurden jeweils aktuell neu bestimmt: „Roman policy toward foreign religions was clearly one of toleration. However, exactly what would be tolerated was determined by a complex set of factors that included a mix of the tradition of toleration, Roman fear of non-Roman religions, and an array of social and political settings within which particular administrative actions had to be contemplated. There was no elaborate policy by which Rome managed the religious affairs of the empire, no over-arching strategy that was broken down into logical divisions and executed on the local level accord-
172 Diese Ausweisung war für die römische Judenschaft durchaus nichts Neues. Ähnliche und z.T. brutalere Maßnahmen werden schon aus den Jahren 139 v.Chr. durch den Prätor Hispalus (Val Max 1,3,3) und 19 n.Chr. durch Kaiser Tiberius (Tac Ann 2,85,4; Suet Tib 36; Cass Dio 57,18,5) berichtet, vgl. B A R C L A Y , Diaspora, 298ff.; W A L T E R S , Ethnic Issues, 4 6 f f ; C L N E I R A , Religionspolitik, 189f. Wie schon erwähnt, erwog Claudius bereits in seinem ersten Regierungsjahr 41 n.Chr. eine Ausweisung der Juden, beließ es aber aufgrund der immensen Zahl der jüdischen Bevölkerung bei einem Versammlungsverbot (Cass Dio 60,6,6). 173 Wenn die Agitatoren des Aufruhrs nicht auszumachen waren, dann hatte Claudius aufgrund der „kongregationalistischen" Struktur der römischen Synagogen (-> IV. 1.1. 2.3) wahrscheinlich gar keine andere Möglichkeit als die Führungsschicht der jeweiligen Synagogen auszuweisen, da es sonst keine offiziellen Ansprechpartner eines übergeordneten Leitungsgremiums gab, die im Namen aller jüdischen Synagogen hätten sprechen können, vgl. W I E F E L , Anfänge, 76. 174
175
BRÄNDLE/STEGEMANN, E n t s t e h u n g , 2 .
Vgl. zu diesem Thema die umfassende Studie von P U C C I B E N Z E E V , Jewish Rights. 176 Suet Caes 42,3; vgl. auch Jos Ant 14,213-216; 16,27.162f.l67f.; 19,286-290.303306; Phil LegGai 155-158; sowie v.a. P U C C I B E N Z E E V , Jewish Rights, 412-419, und B A R C L A Y , Diaspora, 291ff., bes. Anm. 25. 177 Vgl. dazu die Diskussion bei WlTHERINGTON, Acts, 541-544.
332
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
ing to set patterns and precedents".' 7 8 Diese situative Religionspolitik wurde auch unter dem Philohellenen Claudius beibehalten. 1 7 9 Die den Juden eingeräumten Privilegien bestanden wahrscheinlich bereits in den hellenistischen Stadtstaaten des östlichen Mittelmeerraumes und wurden von den Römern lediglich übernommen und bestätigt. 1 8 0 Diese Privilegien erstreckten sich von einem allgemeinen Versammlungsrecht, verbunden mit dem Recht auf synagogale Einrichtungen (Philo LegGai 155-157), über die Erlaubnis, die Tempelsteuer einzusammeln (Jos Ant 14,213-216), einer internen Zivil- und Strafrechtsordnung, 1 8 ' der Befreiung vom Militärdienst, der Einhaltung der jüdischen Speisegebote (Jos Ant 14,227), der Befreiung von jeglichen öffentlichen Opfern (Jos Ant 12,125f.), bis hin zur Einhaltung der Sabbatruhe, einschließlich der Befreiung von Gerichtsterminen am Sabbat und der Erlaubnis, den Termin zum Empfang ihrer Getreideration zu verschieben, falls dieser auf einen Sabbat fiel (Phil LegGai 158). 182
Die verbliebenen Heidenchristen übernahmen nun auch nolens volens die Leitung und die von der Synagoge unabhängige Organisation, Verkündigung und Prägung der Gemeinden. 183 Die heidenchristliche Majorität bewahrte ihren Einfluss und ihre Position auch, als das Claudius-Edikt im Laufe der Zeit an Gültigkeit verlor184 und mit seiner Aufhebung wieder 178
W A L T E R S , E t h n i c I s s u e s , 4 2 ; v g l . a u c h PUCCI B E N Z E E V , J e w i s h R i g h t s , 4 6 0 - 4 6 8 .
179
V g l . PUCCI BEN ZEEV, J e w i s h R i g h t s , 4 1 9 ^ 4 2 9 ; CINEIRA, R e l i g i o n s p o l i t i k ,
160-
170.187-210. 180 PUCCI BEN ZEEV, Jewish Rights, 4 0 9 - 4 1 1 . 181 Vgl. SCHURER, History III/l, 119f.; P u c c i BEN ZEEV, Jewish Rights, 430^138. 182 Vgl. dazu CINEIRA, Religionspolitik, 165-170, und P u c c i BEN ZEEV, Jewish Rights, 2 2 - 3 7 7 , v.a. ihre Zusammenfassung, a.a.O., 3 7 4 - 3 7 7 . 183 Die These von NANOS, Mystery, 68f., dass die christliche Gemeinde bis mindestens 60 n.Chr., j a möglicherweise bis in die Mitte des 2. Jh. unter dem Dach der Synagoge geblieben sei, ist nicht haltbar. Die Auseinandersetzungen vor dem Claudius-Edikt und die Verwundungen in dessen Folge mussten so tiefgreifend gewesen sein, dass danach das gemeinschaftliche Leben oder sogar eine gemeinsame Kultausübung unvorstellbar sind. Deutlich ist zudem, dass die römischen Behörden im Zuge der 64 n.Chr. einsetzenden Verfolgung - anders als Claudius 15 Jahre zuvor - ein klares Bild über die von der Synagoge zu unterscheidenden christlichen Gemeinden hatten. Gegen eine christliche Gemeinschaft unter jüdischem Dach spricht nicht zuletzt der Bericht in Act 28,17-29, indem der auctor ad Theophilum die römischen Juden nicht nur als distanziert, sondern auch als relativ uninformiert schildert (vgl. V. 22: „... denn über diese Sekte [aipeon;] ist uns bekannt, dass ihr überall widersprochen wird."). Die Spätdatierung der (erzwungenen?) Separation der christlichen Gemeinde von der Synagoge ist vielmehr einer der Grundpfeiler von NANOS' umstrittenen Thesen und deshalb kritisch zu betrachten (—> 1.4.9; IV.2.1.1.7). 184 Die Frage, wann ein erlassenes Edikt wieder außer Kraft gesetzt wurde bzw. an Gültigkeit verlor, ist m.W. in der Forschung noch nicht hinreichend beantwortet. CINEIRA, Religionspolitik, 216, Anm. 275, verweist auf Suet Nero 33,1, wo der Historiker davon berichtet, dass Nero viele Beschlüsse und Verordnungen des Claudius wieder außer Kraft setzte „als rührten sie von einem Dummkopf und einem Verrückten her". Ferner verweist CINEIRA auf die römische administrative Praxis, gemäß der Edikte nur solange Gültigkeit hatten, solange der herausgebende Magistrat im Amt war. Vgl. dazu
1. Analyse der römischen
Konfliktsituation
333
zahlreiche Judenchristen zurückkehren konnten. Die ehemaligen Gemeindeleiter sahen sich nun einer selbstbewussten und von ihren judenchristlichen Ursprüngen emanzipierten heidenchristlichen Führerschaft gegenüber.185 Es wäre ungewöhnlich, wenn sich diese Emanzipation nicht auch in der alltäglichen Lebens- und Glaubenspraxis niedergeschlagen hätte. Gleichzeitig wird man kaum falsch liegen, wenn man davon ausgeht, dass sowohl die übrig gebliebenen jüdischen wie die von diesen sich nun separierenden christlichen Gemeinden in den Jahren nach den Unruhen, die zum Claudius-Edikt führten, unter verschärfter Beobachtung der römischen Behörden standen. Wie alle religiösen Strömungen und Kulte, die aus dem Osten des Reiches kommend sich in Rom ausbreiteten, standen auch Juden und Christen ständig unter erhöhtem superstitio-Verdacht. Stellt sich der historische Kontext so dar, dann schrieb Paulus seinen Römerbrief im Frühjahr 57 n.Chr. in eine für alle Beteiligten spannungsvolle Situation hinein. Dass er über die aktuellen Verhältnisse solide, wenn auch nicht unbedingt detaillierte Kenntnisse besaß, leidet angesichts der in der Grußliste sichtbar werdenden Beziehungen und Kontakte keinen Zweifel. Es wäre nicht überraschend, wenn der Impuls zu diesem umfassenden theologischen Entwurf von einem oder mehreren seiner römischen Bekannten ausging. Jedenfalls sieht sich Paulus einer doppelten theologischen Herausforderung gegenüber: Er ist zum einen genötigt, einer ihm in der großen Mehrheit nicht persönlich bekannten Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen eine theologische Bestimmung exakt dieses Verhältnisses bzw. des Verhältnisses zwischen Juden und Heiden als solchen zu geben. Zum anderen muss Paulus ein fundamentales Interesse daran haben, den KATZOFF, Roman Edicts, 143: „It was an essential characteristic of the edicts of Roman magistrates that they expired at the end of their issuers' tenure in office. They were not lex in the formal sense, but rather a personal statement of the intended policy of the magistrate. Succeeding magistrates might, and usually did, adapt and reissue edicts of their predecessors, but were not bound to do so.". Das Claudius-Edikt dürfte daher entweder tatsächlich von Nero formal außer Kraft gesetzt worden sein, oder wie auch frühere Vertreibungsedikte (vgl. Jos Ant 18,65.81-84; Tac Ann 2,85,4; Suet Tib 36; vgl. Phil LegGai 159ff.) mit seinem Verschwinden in den kaiserlichen Archiven im Laufe der Zeit einfach in Vergessenheit geraten sein, zumal dann, wenn der akute Grund ihres Erlasses nicht mehr gegeben war. Für wertvolle Hinweise danke ich Herrn Prof. A.J.M. WEDDERBURN und Herrn Prof. J . - U . KRAUSE in M ü n c h e n . 185 Vgl. WIEFEL, Anfänge, 81: „Die wohl erst nach der endgültigen Aufhebung des Claudiusedikts zahlreicher zurückkehrenden Judenchristen fanden demnach eine ,neue' Christengemeinde vor, die nach organisatorischer Struktur und geistlicher Haltung von der alten, noch im synagogalen Bereich beheimateten völlig verschieden ist. Sie sind in einer Gemeinde, der sie einst das Gepräge gaben, zu einer Minderheit geworden." Vgl. auch BRUCE, Romans Debate, 180, und WEDDERBURN, Reasons, 64f.l40ff., die die Entwicklungen in analoger Weise beschreiben.
334
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Rom
stets latent vorhandenen superstitio-Verdacht der römischen Bevölkerung und ihrer Offiziellen von der Gemeinde abzuwenden (vgl. dazu auch Rom 13,1-7).186 Was die erste Herausforderung angeht, so ist für Paulus dieses Unterfangen nur im Rahmen einer heilsgeschichtlichen Entfaltung des Evangeliums, wie es sich ihm von seiner Berufung her erschlossen hat, sachgemäß möglich (Rom 1-8). Insofern sind gerade auch die c. 5 - 8 keine Abschweifung vom Thema, sondern in ihrer Darstellung christlicher Existenz im Licht der Heilstat Christi ein essentieller Bestandteil der Paulus gestellten Aufgabe. Der Apostel muss erklären, wie das Sein des Christen (und zwar sowohl des Juden- wie des Heidenchristen) und sein Leben vor Gott bestimmt werden kann, wenn die Tora als die das jüdische Leben bestimmende und definierende Instanz in Christus ein heilsgeschichtliches Ende gefunden hat (Rom 10,4) und die Gabe des heiligen Geistes als Kraft des neuen Lebens den Christen geschenkt wurde. Der in Rom 11,17-24 sich spiegelnde emanzipierte Impetus der Heidenchristen 187 verlangt darüber hinaus nach einer Klärung der heilsgeschichtlichen Gegenwart und Zukunft Israels (Rom 9-11). Der paränetische Teil ist dagegen in erster Linie durch die Motivation bestimmt, die Gemeinde als heiliges und Gott wohlgefälliges Gottesvolk zu definieren, das gleichzeitig in seiner Außenwirkung jeglichen öffentlichen Anstoß und Anlass zur Lästerung vermeidet. Angesichts der aus der alltäglichen Missionspraxis des Apostels wohlbekannten paganen Vorbehalte erscheinen die Ermahnungen zu einer A.OYLKT) l a r p e i a (12,1),188 zum Streben nach dem 186 Dass dies das Hauptmotiv des Rom sein soll, wie REASONER, Strong, 235, behauptet, lässt sich nicht begründen. Es ist ein Motiv, möglicherweise in seiner Bedeutung weitgehend unterschätzt, aber nicht das Hauptmotiv. 187 WIEFEL, Anfänge, 68ff.83-88, weist in diesem Zusammenhang auf die zahlreichen antijüdischen Ressentiments hin, die in den römischen Quellen sichtbar werden (-> IV. 1.1.4); vgl. auch GAGER, Anti-Semitism, 55-66. Sie sind nur Ausdruck einer das ganze 1. Jh. prägenden Entwicklung. Möglicherweise sah Paulus die Heidenchristen in der Gefahr, sich diesen Ressentiments anzuschließen und so die Einheit der römischen Gemeinde zu gefährden. 188 Nach BETZ, Christianity as Religion, 317, Anm. 7, und 318-320.337.343 versucht Paulus im Römerbrief (im Unterschied zu seinen früheren Briefen) mit Hilfe der Begriffe Xaxpeia und Xaipeuco (Rom 1,9.25; 9,4; 12,1), die zu den wichtigsten griechischen Umschreibungen des römischen re/ig/o-Begriffs gehören (vgl. zum römischen Begriff religio STOCKMEIER, Christlicher Glaube, 875f.), den christlichen Glauben zum ersten Mal als vernünftige religio zu bestimmen und ihn damit sowohl vom Aberglauben als auch vom Atheismus abzugrenzen: „The term Xaxptia comes closest to what the ancient Romans meant by religio. [...] The adjective reasonable' (ioyLKoc) qualifying ,religion' identifies a special characteristic of that religion. By implication, the addition of this adjective means that ordinarily religion is not reasonable. [...] The additional qualification, therefore, separates Christianity as religion from irrational superstition. Despite its rejection of
1. Analyse
der römischen
Konfliktsituation
335
Guten, Wohlgefälligen und Vollkommenen (12,2), zu einer klaren Ordnung der Gemeindeaufgaben ( 1 2 , 3 - 8 ) , zum Frieden mit allen Menschen (12,18) und zur gesellschaftlichen Loyalität (13,l-7) 1 8 9 als durchaus plausibel. 190 Paulus sah sich angesichts des superstitio-Vorwurf genötigt, den christlichen Glauben gegenüber der römischen Öffentlichkeit als die eigentlich legitime Fortsetzung des Judentums zu präsentieren, die auf denselben alten Traditionen beruht, politisch unverdächtig ist, das Wohl der polis im Blick hat und aus diesem Grund Vertrauen und Akzeptanz verdient. Vor diesem Hintergrund wird jedoch deutlich, dass vor allem der schwelende Konflikt zwischen Starken und Schwachen rasch gelöst werden musste, da er mindestens so sehr die Außenwahrnehmung der Gemeinde bestimmte, wie das ethische Verhalten des Einzelnen es tut (vgl. 14,16.18). Dass für Paulus dieser Konflikt nicht isoliert von der Thematik des Verhältnisses zwischen Juden- und Heidenchristen behandelt werden kann, zeigt die Wiederaufnahme des Themas von c. 9 - 1 1 in 15,7-13. Lässt sich von den oben entfalteten historischen Prämissen eine plausible situationsbezogene und adressatenbezogene Erklärung für das gesamte Briefcorpus geben, so steht dieser Deutung der Briefrahmen ( 1 , 1 - 1 5 und 15,14-16,27) relativ unverbunden gegenüber. Dieser Eindruck entspringt dem Text und dürfte von Paulus beabsichtigt gewesen sein: Während er im all traditional religion, Christianity is neither atheism nor a new superstition. [...] The concept points to attempts made by many religious cults in the Greco-Roman period to rid themselves of the stigma of superstitious primitivism and to present themselves as enlightened. [...] Thus, the concept of r e a s o n a b l e religion' expresses an ideal of the Hellenistic and Roman era, which is here endorsed by Paul" (337). 189 Vgl. dazu FRIEDRICH/PÖHLMANN/STUHLMACHER, Situation, 131-166. Die Autoren deuten die paulinische Ermahnung auf dem Hintergrund einer Episode aus der Regierungszeit Neros. Etwa im Jahr 58 n.Chr. regte sich im Rom öffentlicher Widerstand gegen die Kollektoren von indirekten Steuern (Tac Ann 13,50f.; vgl. Suet Nero 10,1). Die Tumulte dürften einen gewissen Vorlauf gehabt und im Jahr 58 n.Chr. erst ihren Höhepunkt erreicht haben, so dass Paulus anno 57 n.Chr. seine mäßigenden Mahnungen möglicherweise in den wachsenden Unmut hinein sprach. Es ist jedoch bemerkenswert, dass Paulus prinzipiell zur Loyalität gegenüber der Obrigkeit mahnt, während Philo eine wesentlich kritischere Haltung gegenüber Steuerkollektoren einnimmt (vgl. SpecLeg 2 , 9 3 95; 3,159-163). 190 Es ist erwägenswert, in den einleitenden Worten des ersten Hauptteils „Ich schäme mich nicht des Evangeliums ..." eine Reaktion auf die superstitio-Worwürfe der römischen Umwelt zu vermuten, die der Gemeinde den seriösen und mit den diversen suspekten Kulten völlig unvergleichlichen Charakter des paulinischen Evangeliums nahe bringen sollen, wie REASONER, Strong, 167.171.225.233-235, meint. Es ist jedenfalls kaum bestreitbar, dass in der Formel ou yäp euouoxwo|j.(u ein über das übliche öiaoXoyeii/ hinausgehender Akzent liegt: „Auf jeden Fall ist mit dem Gedanken der Scham auf Normen der Gesellschaft angespielt, denen der einzelne sich schwer entziehen kann und deren Mißachtung mit Verachtung bestraft wird" (HAACKER, Rom, 37).
336
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Rom
Briefcorpus die für die römische Gemeinde relevanten Topoi behandelt hat, bringt er im Rahmen seine eigenen „Tagesordnungspunkte" und Wünsche vor. Diese drehen sich vor allem um seine Reisepläne, die ihn über Jerusalem nach Rom und von dort mit erbetener Unterstützung der römischen Gemeinde nach Spanien führen sollen (15,22-32). 191 Man sollte auch die von Paulus für seinen Jerusalembesuch erbetene Gebetsunterstützung nicht als bloße Rhetorik abtun bzw. als Chiffre, durch die Paulus den Römern eine Botschaft zwischen den Zeilen senden will.192 Die Suche nach versteckten Verbindungslinien zwischen Rahmen und Corpus führt hier in die Irre. Eine gewisse Berührung gibt es lediglich zwischen der für die römische Gemeinde wichtigen Verhältnisbestimmung zwischen Juden und Heiden, Juden- und Heidenchristen, Tora und Evangelium und seiner bevorstehenden Reise nach Jerusalem. Aus Rom 15,30f. wird deutlich, mit welchen (im Nachhinein berechtigten) Befürchtungen Paulus diese Reise antrat. Das bedeutet in der Konsequenz, dass Paulus sich zur Zeit der Abfassung des Römerbriefs in einer intensiven inneren Auseinandersetzung mit den Fragen befand, die schon sein gesamtes missionarisches Wirken begleiteten und mit denen er in massiver Weise in Jerusalem erneut konfrontiert werden würde. Dass Paulus deshalb seine theologische Verhältnisbestimmung im Römerbrief in einer Weise vornahm, die im 20. Jh. als „Brief an Jerusalem" 193 verstanden werden konnte, mag mit diesen Umständen zusammenhängen. 194
191
Vgl. zu den Hintergründen der paulinischen Spanienpläne die interessante T h e s e von RIESNER, Frühzeit, 2 1 6 - 2 2 5 , nach der Paulus in Jes 6 6 , 1 9 seine apostolische Reiseroute mit dem Endziel Spanien fand. Siehe auch SCOTT, Nations, der die paulinische Missionsstrategie in einer Relation zur Völkertafel in Gen 10 sieht und Paulus als den Apostel der japhetitischen Völker verstehen will. Die japhetitischen Völker aber umfassen auch Spanien. 192 Diesen Eindruck erweckt der Vorschlag von REICHERT, Gratwanderung, 7 7 - 8 2 . Aber die Bitte um Fürbitte wäre für Paulus durchaus Anlass genug g e w e s e n , einen Brief zu schreiben. Paulus maß dem Gebet eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Entsprechend versichert er die Gemeinden in seinen Briefen stets seiner Fürbitte und bittet sie umgekehrt ebenfalls, für ihn und seine Mission im Gebet einzustehen. 193
So der gleichnamige Titel des Aufsatzes von JERVELL aus dem Jahre 1971. In g e w i s s e r Weise, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichtungen, berührt sich dieser polykausale Ansatz mit dem Vorschlag von HAACKER, Friedensmemorandum, 2 5 41, der im Römerbrief ein „Friedensmemorandum" erblickt, in dem Paulus s o w o h l um eine globale Friedenslösung für den jüdisch-christlichen Konflikt ringt, der ihn bei seinem bevorstehenden Jerusalembesuch massiv einzuholen droht, als auch um eine lokale Friedenslösung für den römischen Konflikt z w i s c h e n den im Kern judenchristlichen Schwachen und heidenchristlichen Starken. 194
I. Analyse
der römischen
Konfliktsituation
337
1.3 Die Praxis der Speise- und Weinabstinenz in der Antike Von den textimmanenten Informationen gibt es lediglich zwei dünne Spuren, die bei der Identifizierung wenigstens der Gruppe der Schwachen hilfreich sein können. Dies ist zum einen die Fleisch- bzw. Weinabstinenz (vgl. Rom 14,2f.21) und zum anderen die Kalenderobservanz (14,5f.), wobei das erstgenannte Problem im Spiegel der paulinischen Reflexion in Rom 14 deutlich größeres Gewicht hat. Bedauerlicherweise fehlen direkte und eindeutige Angaben über die hinter der Fleischabstinenz stehende Motivation, so dass erst nach einer Sichtung aller in Frage kommenden Alternativen eine Indizienentscheidung getroffen werden kann. Da der Hintergrund des Vegetarismus in Rom 14 bereits in früheren Arbeiten zum Thema ausführlich dargestellt wurde195 und es keine neueren Untersuchungen gibt, beschränkt sich diese Studie darauf, den antik-paganen Vegetarismus im Anschluss an die noch immer maßgebliche Studie von J. Haußleiter über den „Vegetarismus in der Antike"196 in einem kurzen Überblick zusammenzufassen. 1.3.1 Philosophische 1.3.1.1 Philosophische
und pagane Speise- und und religiöse
Weinabstinenz
Motive
Philosophisch oder religiös motivierte Speise- und Weinabstinenz, insbesondere der Vegetarismus, ist in der Antike bereits am dem 7. Jh. v.Chr. belegt, auch wenn beides niemals zu einem Grundzug der griechischen Kultur wurde. Zwar gibt es eine Vielzahl von asketischen und vegetarischen Belegen, die alle auf eine temporäre Abstinenz verweisen, aber das Griechentum war im Ganzen eher unasketisch. Die Anfange der antiken Abstinenz sind nach Haußleiter im Orphismus zu suchen.197 Neben Vorläufern wie dem ekstatischen Seher Epimenides 195
Vgl. SCHNEIDER, Die Schwachen, 6 2 - 1 2 1 ; REASONER, Strong, 7 4 - 8 7 . 1 0 2 - 1 3 8 . Die wichtigste antike Schrift zum Vegetarismus ist die Abhandlung Ilepl ¿ttoxtic e|i\|jux"i' (lat. De abstinentia) des Neuplatonikers Porphyrios, der als Vegetarier stark vom Neupythagoreismus beeinflusst war. 197 HAUSSLEITER, Vegetarismus, 7 9 - 9 6 . Die orphische Askese zielte auf die Erlösung aus dem „Rad des Werdens" ( K Ü K A O C xfjc y i v t a i u o ) und ist eng mit dem Gedanken der Seelenwanderung verbunden. Dies wird explizit bei Plat Leg 7 8 2 c - d zum Ausdruck gebracht: „Die Sitte, dass Menschen einander als Opfer schlachten, sehen wir ja noch heute bei vielen Völkern bestehen; und umgekehrt hören wir bei anderen von einer Zeit, w o wir nicht einmal vom Ochsen zu kosten wagten und w o die Opfergaben für die Götter nicht in Tieren bestanden, sondern in Kuchen und in honiggetränkten Früchten und anderen derartigen reinen Opfergaben, während man sich des Fleisches enthielt, weil es nicht fromm sei, davon zu essen, oder die Altäre der Götter mit Blut zu besudeln; sondern bei unsern damaligen Artgenossen herrschte eine sogenannte orphische Lebensweise, die sich ausschließlich an Unbeseeltes hielt, des Beseelten dagegen sich völlig enthielt" (Übersetzung nach SCHÖPSDAU; Orthographie an neue Regeln angepasst). 196
338
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
von Kreta oder dem Katharten Abaris stehen v.a. die mythische Gestalt des Thrakers Orpheus und die sich auf ihn berufende Orphik im Mittelpunkt der Entwicklung. Hier lässt sich zum ersten Mal in der europäischen Antike eine religiös begründete Ablehnung von Fleisch als Nahrungsmittel nachweisen. 198 Der Orphismus ist nach Haußleiter auch als Ursprung des pythagoreischen Vegetarismus zu betrachten.199 Bei Pythagoras200 und in der auf ihn sich berufenden philosophischen Schule bzw. Bewegung der Pythagoreer und Neupythagoreer wird zum ersten und gleichzeitig auch nach dem momentanen Stand der Forschung zum einzigen Mal in der Antike der Vegetarismus als philosophisches Konzept vertreten.201 Ein prominentes Beispiel aus dem Rom zur Zeit des Paulus ist Seneca, der in einem Brief über seine einjährige Fleisch- und Weinabstinenz berichtet. Weil diese Passage einen sehr umfassenden Einblick sowohl in die unterschiedlichen Motivationen für, als auch in die Verdächtigung wegen Fleischabstinenz und vegetarischer Lebensweise bietet, sei sie hier ausführlich wiedergegeben: „Da ich dir darzulegen begonnen habe, mit wie viel größerem Schwung ich mich in meiner Jugend der Philosophie genähert habe, als ich jetzt im Alter bei ihr bleibe, schäme ich mich nicht einzugestehen, welche Liebe zu Pythagoras mir Sotion eingepflanzt hat. Er erklärte, weshalb jener sich des Fleischgenusses enthalten habe, weshalb später Sextius. Verschiedene Gründe hatte jeder von beiden, doch j e d e j eindrucksvolle. Sextius glaubte, für den Menschen gebe es genug Lebensmittel ohne Blut, und Grausamkeit werde zur Gewohnheit, wenn das Zerstückeln dem Genuss dienen solle. Er fügte hinzu, einschränken müsse man die Voraussetzungen zur Völlerei. Er zog den Schluss, mit guter Gesund198 Vgl. auch Eur Hipp 952f.; Plut Mor 159c; Hier Adv Iov 2,14. Die orphische Askese steht freilich in einem kaum auflösbaren inneren Widerspruch zu dem Initiationsritus der orphisch geprägten Dionysosmysterien (—> III.1.3.5, Pkt. 2), in dessen Zentrum das Essen von Rohfleisch, die sog. Omophagie, stand; K L A U C K , Herrenmahl, 117f. H A U S S L E I T E R , Vegetarismus, 95f., vermutet, dass Orpheus als „Heros der Zivilisation" auftrat und eine Sekte von Vegetariern gründete. Die Aufnahme in diesen Zirkel sei durch ein einmaliges omophagisches Kultmahl erfolgt, dem sich dann eine lebenslängliche Fleischabstinenz anschloss. 199 H A U S S L E I T E R , Vegetarismus, 1 5 1 - 1 5 7 . Gemeinsam sind beiden Bewegungen die Lehre von der Seelenwanderung und die kathartische und asketische Grundmotivation. 200 Die Quellenlage im Blick auf Pythagoras ist äußerst verworren, weil das Schulhaupt in den folgenden Jahrhunderten von den unterschiedlichsten Schulen und Traditionen in Anspruch genommen wurde. Entsprechend ist die Überlieferung entstellt und mit zahlreichen Widersprüchen durchsetzt. Die drei antiken Pythagorasviten des Porphyrios (üuSaYÖpou ßioii.ooo§ov ßiov Kai 5OYHKTGJV oui/aycoyTi, Buch 8) datieren alle frühestens ca. 700 Jahre nach seinem Tod. Neben einer strikten Speise- (vgl. z.B. Porph Abst 3,25f.; DiogLaert 8,13; Iambl VitPyth 69.108.168f. u.v.a.) und Weinabstinenz (vgl. Iambl VitPyth 69.107. 188.226) ist für ihn auch die Ablehnung von Tieropfern belegt (Iambl VitPyth 107.150). 201 H A U S S L E I T E R , Vegetarismus, 9 7 - 1 6 3 .
I. Analyse der römischen
Konfliktsituation
339
heit nicht vereinbar seien Lebensmittel, die vielfaltig und unserem Körper fremd [seien]. Pythagoras hingegen legte dar, es bestehe Verwandtschaft aller Lebewesen mit allen und ein Austausch der Seelen, weil sie bald in diese, bald in jene Körper eingingen. Keine Seele, wenn du ihm glaubst, vergeht, ist nicht einmal säumig, außer in dem kurzen Augenblick, wo sie in einen anderen Körper eingeht. [...] Als Sotion das ausgeführt und mit seinen eigenen Argumenten vervollständigt hatte, sagte er: ,Glaubst du nicht, dass die Seelen in andere und immer wieder andere Körper eingewiesen werden und eine Wanderung ist, was wir Tod nennen? Glaubst du nicht, in diesen zahmen und wilden Tieren oder Fischen halte sich die Seele eines einstmals [sc. ehemaligen] Menschen auf? Glaubst du nicht, nichts vergehe in dieser Welt, sondern wechsle lediglich den Platz? [...] Wenn diese Überlegungen zutreffen, bedeutet sich des Fleischgenusses zu enthalten Unschuld; wenn sie nicht zutreffen, ist es anspruchslose Lebensweise. Worin besteht hier deiner Leichtgläubigkeit Schaden? Die Nahrung von Löwen und Geiern nehme ich dir weg.' Aufgrund dieser Hinweise begann ich damit, mich tierischer Nahrung zu enthalten, und nach einem Jahr war es mir nicht nur selbstverständliche Gewohnheit, sondern auch angenehme. Lebhafter kam mir mein Geist vor, und ich möchte heute dir gegenüber nicht behaupten, ob er es war. Du fragst, warum ich damit aufgehört habe? In die erste Zeit der Regierung des Kaisers Tiberius fiel meine Jugend: Ausländische Kulte wurden damals entfernt, aber zu den Beweisen des Aberglaubens wurde auch gerechnet, sich des Genusses gewisser Tiere zu enthalten. Auf Bitten des Vaters - er fürchtete verleumderische Anklage nicht, aber hasste die Philosophie - kehrte ich also zu der früheren Gewohnheit zurück; [...]" (Sen Ep 108,17-22). 202
Das Zitat spiegelt verschiedene Motivationen für die Fleischabstinenz wider. Während sich bei Sextius schon hygienische und pazifistische Motive mischten, 203 stehen bei Pythagoras, den Neupythagoreern und Sextius' Schüler Sotion noch rein religiöse 204 und philosophische Motive im Vordergrund,205 wie die Beseeltheit aller Lebewesen, 206 die Seelenwanderung, 207 die Unsterblichkeit der Seelen, 208 und die Verwandtschaft des Menschen 202
Übersetzung nach R O S E N B A C H (Orthographie an neue Regeln angepasst). Vegetarismus, 298f. 204 H A U S S L E I T E R , Vegetarismus, 127ff., geht bei Pythagoras selbst von einer in erster Linie religiös geprägten Motivation aus. Die Speiseaskese diene bei ihm in erster Linie der Reinheit und Klarheit der Seele, die auf diese Weise zum Offenbarungsempfang im Sinne der Mantik disponiert wird (vgl. Iambl VitPyth 137). 205 Vgl. Cic Rep 3,11; Ov Met 15,60-175.453^78; DiogLaert 8,37f.44. Vgl. auch A R B E S M A N N , Fasten, 33f., und R E A S O N E R , Strong, 103-110. 206 Seit Anaxagoras gibt es eine philosophische Diskussion über die Egalität bzw. die Superiorität der Tiere gegenüber den Menschen. Von den Anhängern dieser Lehre wird entsprechend die Tötung eines Tieres als Ungerechtigkeit und Friedensbruch mit dem Leben betrachtet, da einem Mitglied der Koi^oina xric icofjc Gewalt angetan wurde, vgl. HAUSSLEITER, Vegetarismus, 99ff. 207 Vgl. Aristot An 407b21-24, wo die Lehre von der Seelenwanderung auf Pythagoras zurückgeführt wird. Zur Seelenwanderung als Abstinenzgrund vgl. neben dem Aristotelesbeleg auch Porph Abst 1,19; 2,47, und Diod 10,6. 208 Die pythagoreische Argumentation wird im 3. Jh. n. Chr. von Porphyrius in De abstinentia aufgenommen und wiedergegeben. In 3,26 legt er die Rationalität und Be203
HAUSSLEITER,
340
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
mit den Tieren.209 Sotions Schüler Seneca fügt selbst noch das pragmatische Argument des Wohlbefindens und -fühlens hinzu. Gleichzeitig enthüllt das Ende des Zitats aber auch den Argwohn der römischen Gesellschaft, die den Vegetarismus mit östlichen Religionen in Verbindung brachte. Eine für den Neupythagoreismus sehr wichtige Gestalt war der um die Zeitenwende in Kappadozien geborene Philosoph Apollonius von Tyana,210 der ebenso wie sein Vorbild Pythagoras auch die Weinaskese übte. Seine Askese ist wohl wie bei Pythagoras hauptsächlich in der Mantik begründet, die mit Hilfe seelischer Reinheit und Klarheit die Grundlage zum Empfang göttlicher Offenbarungen schaffen will. 2 " Ein weiteres Motiv ist bei ihm das hygienische Argument, wonach Fleisch- und Weinaskese für die Gesundheit und die Selbsterkenntnis förderlich seien und das philosophische Argument, wonach alles, was die Erde aus sich selbst hervorbringt, rein und aus diesem Grund zum Verzehr geeignet sei.212 Schließlich ist noch auf Plutarch zu verweisen, der seine vegetarische Überzeugung ebenfalls Pythagoras verdankt, ohne sich dabei selbst als Pythagoreer zu verstehen.213 Seine vegetarischen Beweggründe umfassen neben dem Glauben an die Seelenwanderung das philosophische Bedürfnis nach Klarheit der Seele und das hygienische Motiv der Gesunderhaltung. Vor allem aber sind es moralische Argumente: Er will den Tieren Gerechtigkeit widerfahren lassen, sind sie doch nach seiner Ansicht ebenso intelligent wie der Mensch. Eine milde und barmherzige Behandlung der Tiere, so war seine Überzeugung, fördert auch eine friedfertige Gesinnung des Menschen. 214 Widerspruch gegen die pythagoreischen Ansichten kam zunächst von Aristoteles, der die Legitimation des Fleischverzehrs mit der Priorität und Superiorität des Menschen begründete, die es ihm erlauben, nichtmenschliche Lebewesen zum eigenen Nutzen zu gebrauchen. 215 Auch die seeltheit der Tiere dar und entwickelt von da aus die These der moralischen Verwerflichkeit ihrer Tötung zum Zwecke des Fleischverzehrs, die er sogar mit dem Signum der Barbarei brandmarken kann. 209 Porph Abst 3,26; Diod 10,6; DiogLaert 8,37f.44; Plut Mor 730b. 210 HAUSSLEITER, Vegetarismus, 299-313. Maßgebliche Quelle ist die um 200 n.Chr. verfasste Biographie von Philostratos Tä ELC ~.6v TUAVEA 'ATTOXÄÖUIOV, vgl. dazu KosKENNIEMI, A p o l l o n i u s . 211 212 213
214
Philostr VitAp 2,37. Philostr VitAp 1,8; 6,11. HAUSSLEITER, V e g e t a r i s m u s ,
212-228.
Plut Mor 959f. 215 Vgl. Aristot Pol 1256b21—27, sowie HAUSSLEITER, Vegetarismus, 2 3 3 - 2 3 6 . Mit großer Wahrscheinlichkeit fand diese Auseinandersetzung ausfuhrlich in den verlorenen, aber bei DiogLaert 5,25 erwähnten Werken ITpoc TOÜC nuOayopeioiK; und Ilepi TG3I> IIU9ayopeicov statt.
/ . Analyse
der römischen
341
Konfliktsituation
Stoa - mit Ausnahme des Musonius Rufus 2 1 6 - folgte Aristoteles in dieser Auffassung. 217 1.3.1.2 Protologische
Motive
In eine andere Richtung weist die Begründung der Fleischabstinenz aus unterschiedlichen Schöpfungs- und Ursprungsanschauungen heraus. 218 Sowohl bei Hesiod, 2 ' 9 ,als auch bei Piaton 220 und Ovid221 wird der Mythos eines ursprünglich Goldenen Zeitalters beschrieben, von dem schon in den orphischen Schriften berichtet worden sei222 und in dem die Menschen vegetarisch gelebt hätten. Weitere Erzählungen dieses Zeitalters von Empedokles, Theophrast und Dikaiarch von Messene hat Porphyrius aufbewahrt. 223 Stets geht es um die Einfachheit und Reinheit der ursprünglichen menschlichen Ernährung. Ausgangspunkt ist hier in der Regel die Überzeugung oder ein Mythos von einem zwar kulturarmen, aber glücklichen und v.a. vegetarischen „Goldenen Zeitalter", das am Anfang der Weltzeit stand,224 und ein damit verknüpftes Verständnis der Geschichte als Verfallsprozess, in dessen Folge sich auch der Fleischgenuss als Nahrungsmittel für den Menschen durchsetzte. Als Wende weg von einer fleischlosen Ernährung hin zum Fleischkonsum wird die Einführung von Tieropfern gesehen. 225 Eine konkurrierende Herleitung vermutet eine Hungersnot als Ursache für den Beginn des Fleischkonsums und erst in zweiter Linie das Tieropfer. 226
2,6
V g l . HAUSSLEITER, V e g e t a r i s m u s ,
217
V g l . z . B . D i o g L a e r t 7 , 1 2 9 , s o w i e HAUSSLEITER, V e g e t a r i s m u s ,
245-254.
V g l . HAUSSLEITER, V e g e t a r i s m u s ,
110-121;
218
Kulturentstehungstheorien, 219
263-269.
5 4 - 7 8 ; REASONER, S t r o n g ,
HECKEL,
908-914.
Hes Erg 1 0 6 - 2 0 1 . Plat Polit 2 7 1 a - 2 7 4 d ; Leg 6 7 7 a - 6 8 0 e ; sowie Leg 782c. Möglicherweise steht Piaton hier unter dem Einfluss der sophistischen Kulturlehre des Demokrit, vgl. HAUSSLEITER, Vegetarismus, 69. Jedenfalls steht im Hintergrund auch hier der Gedanke der Beseeltheit der Tiere. Neu ist dagegen die Ansicht der kultischen Unangemessenheit blutiger Opfer in jener vergangenen Epoche. 221 Ov Met 1 , 1 0 1 - 1 1 2 ; 15,96-142. 222 GUTHRIE, Orpheus, 197. 223 Porph Abst 2,21.31; vgl. auch Plut Mor 998a. Theophrasts Schrift IlepL Euocßeia«; wurde von BERNAYS, Schrift, aus dem Werk des Porphyrios rekonstruiert. 224 Christlich-jüdische Analogien zu diesen Überzeugungen sehen in Gen l , 2 9 f . und 9,3 den Hinweis auf eine vorsintflutliche vegetarische Lebensweise, vgl. REASONER, Strong, 120, Anm. 98. 225 Porph Abst 2,57. Nach Ov Met 15,103ff. war es der Neid auf die Nahrung der Löwen, die den Menschen dazu verführte, Tiere nicht nur zu töten, sondern auch zu essen. 226 Nach Theophrast (Porph Abst 2,5) war es die abnehmende Frömmigkeit und die in der Folge aufkommende Not, die den Menschen zu fleischlicher Nahrung greifen ließ (vgl. auch Plut Mor 993c). 220
342
Kapitel
IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
Ein wesentliches Argument des sich auf einen idealen Urzustand berufenden Vegetarismus ist das Verständnis einer fleischlosen Lebensweise als im Einklang mit der Natur. So erklärt Plutarch, dass Fleischnahrung eigentlich wider die Natur des Menschen sei und dass man schon von der menschlichen Körperform her erkennen könne, dass der Mensch ursprünglich zur Fleischlosigkeit geschaffen sei.227 Analog dazu beschreibt der Stoiker Musonius Rufus, dass Fleisch als Nahrung passender für wilde Tiere sei, während es für den Menschen gänzlich ungeeignet sei, da es eine schwere Nahrung darstelle, die hinderlich sei für Denken und Vernunft (Mus 18a). Ein weiteres bei Porphyrius erwähntes Argument ist der Fleischverzicht aus gesundheitlichen Gründen. Die fleischlose Ernährung sei die dem Menschen angemessenere und deshalb auch gesündere. 228 Verglichen mit der Fleischabstinenz wird die Weinabstinenz wesentlich seltener im Rahmen von Konzeptionen idealer Ursprungszeitalter erwähnt. Nach den bei Porphyrius erhaltenen Theophrast-Fragmenten hat dieser die Weinabstinenz ebenfalls mit einem idealen Urzustand begründet, wenn er die Libationen als ursprünglich mit Wasser dargebracht beschreibt. 229 Die Umkehrung der antiken Dekadenztheorien begegnet in den sophistischen Kulturtheorien, die von einem evolutiven Fortschritt der menschlichen Kultur aus primitiven Anfangen ausgehen. Der möglicherweise wichtigste Vertreter ist hier Demokrit von Abdera, dessen evolutionistische Entwicklungstheorien sowohl bei Piaton als auch bei Aristoteles einen Nachhall finden. Für unseren Zusammenhang bemerkenswert ist auch bei dieser Anschauung, dass sie von einem ursprünglich vegetarischen Urmenschen ausgeht.230 1.3.1.3 Mystische und spirituelle
Motive
Eine dritte Grundmotivation zur Fleisch- und Weinabstinenz ist das Streben nach einer höheren mystischen oder spirituellen Reinheit gegenüber der Gottheit, wie sie schon bei Pythagoras und Apollonius von Tyana, vermischt mit anderen Motivationen, sichtbar wurde.231 Zu dieser Kategorie der religiösen Speise- und Weinabstinenz sind neben der für Pythagoras und Apollonius relevanten Mantik auch bestimmte Formen der antiken Mysterienkulte zu zählen, in denen im Rahmen des Initiationsgeschehens
227
Plut Mor 9 9 3 b - c . 9 9 4 f ; vgl. auch 9 9 4 f - 9 9 5 b und Theophil Autol 2,16. Porph Abst 1,52. Porphyrius entwickelt in diesem Zusammenhang auch die Theorie, wonach ein Körper desto gesünder sein müsse, j e weniger Exkremente er produziert. 229 Theophrast nach Porph Abst 2,20. 230 Demokrits Anschauung findet sich bei seinem Schüler Hekataios im Anfang seiner Aigyptika, die bei Diod 1,8 wiedergegeben ist. Eine ähnliche Sicht findet sich bei Lucr 5,937-940. 231 REASONER, Strong, 1 2 4 - 1 2 8 . 228
1. Analyse der römischen
343
Konfliktsituation
oder zum Zwecke des Visionsempfangs eine zeitlich begrenzte Abstinenz geübt wurde. 232 Generell gilt, dass in fast allen antiken Religionen die innere Freiheit von körperlichen Bedürfnissen eine wesentliche Voraussetzung für die Begegnung mit der Gottheit war. In zahlreichen Kulten und Religionen war die geglaubte Nähe und Anwesenheit der Gottheit der Anlass für Nahrungs- und Sexualaskese. Durch den Verzicht auf irdische Genüsse erstrebte man eine Angleichung an die körperlose Gottheit und in der Konsequenz ein erfolgreiches Bestehen vor der Gottheit in Tod und Gericht. 233 Neben mystischer und spiritueller Reinheit galt auch die kultische Reinheit als Anlass für Fleisch- oder Weinaskese. Askese zur Erlangung kultischer Reinheit war sowohl in der griechischen wie der römischen Religion bekannt. 234 Fazit: Eine programmatische und lebenslängliche Fleischabstinenz lässt sich in der Antike nur im (Neu)Pythagoreismus nachweisen. Alle anderen Erscheinungsformen sind entweder von ihm abhängig oder zählen zu seinen Vorläufern (Orphik). Die in philosophischen Kreisen durchaus weitverbreitete Sympathie für vegetarische Diät führte ansonsten nie zu einer prinzipiellen Fleischabstinenz, wie sie in Rom 14,2f.6.14f.20f. vorliegt. Gleichzeitig gibt es in Rom 14, wie überhaupt im gesamten Römerbrief, j a dem gesamten Neuen Testament nicht den geringsten Hinweis auf die erwähnten philosophischen Abstinenzmotive, geschweige denn auf pythagoreische Einflüsse. Weder finden wir Motive einer Seelenwanderung, noch die Behauptung der Beseeltheit aller Lebewesen oder der Verwandtschaft von Mensch und Tier. Auch hygienische oder kathartische Beweggründe spielen keine Rolle. Zwar war die Gepflogenheit des Fastens weit verbreitet, aber damit war gerade keine prinzipielle, sondern nur eine temporäre Speiseabstinenz verbunden. Schließlich spielt auch die Vorstellung eines ursprünglich vegetarischen „Goldenen Zeitalters", für das man sich jüdischer* und christlicherseits auf Gen 1,29 (vgl. 9,3) hätte berufen können, in unserem Zusammenhang keine Rolle. 1.3.2 Fleisch- und Weinabstinenz in der stadtrömischen
Gesellschaft
Für den Kontext von Rom 14,1-15,13 sind die allgemeinen gesellschaftlichen Tabus im Blick auf Speise- und Weinkonsum in der römischen Gesellschaft wesentlich wichtiger als die philosophisch begründete Abstinenz. 235 So erwähnt bereits Plinius der Ältere, dass die alltägliche Ernäh232
Vgl. Apul Met 1 l,23,3f. Das Motiv der Fleisch- und Weinaskese als Vorbereitung zum Offenbarungsempfang ist auch in der jüdischen Apokalyptik bekannt, vgl. Dan 10,3ff. 233
REASONER, S t r o n g , 1 2 5 .
234
Vgl. WÄCHTER, Reinheitsvorschriften; PARKER, MIASMA.
235
HAUSSLEITER, V e g e t a r i s m u s , 3 8 7 - 3 9 4 .
344
Kapitel
IV: Der Konflikt
zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
rung des durchschnittlichen Römers fleischlos war.236 Viele Heroen der römischen Geschichte wurden zu Vorbildern eines fleischlosen Lebensstils erhoben. Dieser stand in einer Linie mit den antiken und speziell römischen Tugenden der Sparsamkeit, Genügsamkeit und Mäßigung. Eine Wende in dieser Haltung bedeutete die Begegnung der römischen mit der hellenistischen Welt ab dem 2. Jh. v.Chr. Die Entdeckung der hellenistischen ars vivendi führte zunehmend zur Verachtung der römischen Anspruchslosigkeit. 237 Mit dem zunehmenden Streben nach luxuriöser Nahrung sah sich die Republik und später das Prinzipat zur Kontrolle des Fleischkonsums genötigt. So wurde in der römischen Gesetzgebung der Fleischkonsum immer wieder neu limitiert und damit zum Gegenstand imperialer Aufsicht und Reglementierung erhoben. 238 Es gab Gesetze wie z.B. die Lex Fannia von 161 v.Chr., die nicht nur die Zahl der Mahlteilnehmer begrenzten, sondern auch den Fleischkonsum regelten. 239 So war der Fleischverzehr im privaten Rahmen erlaubt, den Tavernenbesitzern war jedoch öffentlicher Verkauf von Fleischgerichten verboten. Diese Beispiele zeigen, dass Fleischkonsum eine Frage öffentlicher Moral war und maßloser Fleischverzehr ein Anlass öffentlichen Ärgernisses. Auf diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass sich Cassius Dio über die Maßlosigkeit Neros echauffierte, während dieser gleichzeitig den Verkauf von Fleischgerichten in den tabernae einschränkte. 240 Die Reglementierungen zeigen zugleich, dass der tatsächliche Fleischkonsum sich mehr und mehr von der Moralvorstellung des Maßhaltens entfernte. In reicheren Schichten wurde Fleisch ab dem 2. Jh. n.Chr. zur Hauptnahrung, und schon in der Zeit Juvenals gab sich selbst ein Sklave nicht mehr mit einfachem Gemüse zufrieden. 241 Eine für den Kontext von Rom 14,1-15,13 interessante Abhandlung stellt die Schrift „Über Medizin" von Aulus Cornelius Celsus dar. Der Verfasser unterscheidet Nahrungsmittel und Getränke in drei Klassen, konkret
236
Plin Hist nat 18,83.
237
ANDRE, E s s e n , 1 2 5 f .
238
REASONER, Streng, 7 8 ; ANDRÉ, E s s e n , 1 2 4 - 1 2 6 ; v g l . auch BRUNT, P a u l ' s Attitüde,
2 2 8 ; s o w i e Suet N e r o 16,2, und Gell N o c A t t 2 , 2 4 , 1 : „ D a s Einhalten der Sparsamkeit und E i n f a c h h e i t bei der N a h r u n g s w e i s e und bei den T a f e l f r e u d e n w u r d e bei den alten R ö m e r n nicht allein im h ä u s l i c h e n F a m i l i e n k r e i s e durch e i n e r e g e l m ä ß i g e B e o b a c h t u n g überw a c h t , sondern auch durch A c h t s a m k e i t und durch b e s o n d e r e v e r s c h ä r f t e V e r o r d n u n g e n mehrerer g e s e t z l i c h e r B e s t i m m u n g e n in B e z u g a u f das ö f f e n t l i c h e L e b e n streng b e a u f sichtigt" ( Ü b e r s e t z u n g nach WEISS). 239
Es g a b bereits in den letzten b e i d e n Jahrhunderten der R e p u b l i k e i n e R e i h e v o n
V o r l ä u f e r n und N a c h f o l g e r n der Lex Fannia,
die den T a f e l l u x u s e i n d ä m m e n sollten, aber
e r f o l g l o s waren, v g l . HAUSSLEITER, V e g e t a r i s m u s , 3 8 9 . 240
Cass Dio 62,14,2.
241
V g l . luv 1 1 , 7 8 - 8 9 .
/ . Analyse
der römischen
345
Konfliktsituation
in starke, mittlere und schwache Nahrungsmittel und Getränke, basierend auf ihrem Nährwert. 242 So fallen z.B. Getreidebrei, Vollkornbrot und Fleisch von männlichen Rindern unter die starken Nahrungsmittel, während Gemüse und Früchte zu den schwachen zählen (2,18,3). Der Sinn dieser Kategorisierung ist nun, dass nach Celsus die Stärke bzw. Schwäche der Nahrung auch der Stärke oder Schwäche des jeweiligen Konsumenten entsprechen sollte (2,18,13), wobei er leider keine Bestimmungskriterien für die letzteren hinterließ. Damit ist seine Kategorisierung für die Erhellung des Konflikts in Rom 14f. nicht verwertbar. Eine absolute Fleischabstinenz, wie sie bei den Schwachen in Rom 14 vorliegt, lässt sich aber auch aus diesem Überblick nicht erkennen. Bei einer allgemeinen und zeitweise sogar staatlich unterstützer Wertschätzung vegetarischer, asketischer oder wenigstens maßvoller Lebensweise, war der Fleischgenuss prinzipiell stets in allen Kreisen erlaubt. 1.3.3 Speise- und Weinabstinenz in der Gnosis? In verschiedenen Beiträgen wurde als religionsgeschichtlicher Hintergrund immer wieder die Gnosis bzw. ein gnostisch-synkretistisches Judentum ins Spiel gebracht.243 Rauer sah in den Schwachen ehemalige „heidnische Gnostiker", die sich zwar bei ihrer Bekehrung von ihren früheren Überzeugungen abgewandt hätten, „aber die ihnen lieb und wert gewordene Gewohnheit des Vegetarismus" beibehalten hätten, um damit nun den Herrn zu ehren.244 Die These ist jedoch aus mehreren Gründen unwahrscheinlich, denn die in Frage kommenden Texte sind im Blick auf eine Fleischaskese alles andere als ergiebig.245 Während sich in den späten gnostischen Schriften von Nag Hammadi durchaus eine asketisch-sexualfeindliche Tendenz feststellen lässt,246 zeichnen die Kirchenväter des 2. und 3. Jh. eher ein libertinistisches Bild der zeitgenössischen Gnostiker.247 In den großen gnostischen Systeme jener Zeit ist eine Speiseaskese nicht nachweisbar.
242
Cels Artes 2,18,1. RAUER, Die Schwachen, 165f.; BORNKAMM, laxavov, BARRETT, Rom, 257f. 243
244
RAUER, D i e
Schwachen,
67; SCHLIER, Rom, 405f.;
165f.; vgl. auch KÄSEMANN, R o m , 3 5 2 ;
KLAUCK,
Her-
renmahl, 282. RAUER begründet dies mit dem Hinweis auf die Formulierung KOLVÖV 6L' ¿auioO (Rom 14,14), hinter der eine Vorstellung natürlicher Unreinheit stehe, wie sie nur in der Gnosis belegt sei (106.166f.). RAUERS These bleibt sowohl im Detail wie im Allgemeinen eine spekulative Annahme, da er über allgemeine Mutmaßungen und unbelegte Schlussfolgerungen nicht hinaus kommt. 245
Vgl. dazu SCHNEIDER, Die Schwachen, 7 2 - 9 2 . Vgl. RUDOLPH, Gnosis, 2 6 3 - 2 7 9 ; DERS., Gnosis und Gnostizismus, Index „Askese", 849. 247 Vgl. Iust Mart Dial 3 5 , 1 - 6 ; Iren Haer 1,6,3; 1,24,5; 1,28,1 f.; 1,31,2; Epiph Haer 25,2,1 ff. 246
346
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Rom
H i n z u k o m m t , d a s s e i n e a s k e t i s c h e H a l t u n g z w a r für die s e x u e l l e Enthaltsamkeit h ä u f i g b e l e g t ist, aber i m B l i c k auf S p e i s e n l e d i g l i c h bei Satornil ( a u c h Saturnius genannt; wirkte u m 1 0 0 n.Chr. in A n t i o c h i e n ) 2 4 8 u n d s e i n e n A n h ä n g e r n s o w i e bei d e n Enkratiten 2 4 9 e i n d e u t i g b e z e u g t wird. D i e v o n d i e s e n b e i d e n Gruppen berichtete A s k e s e m u s s j e d o c h nicht u n b e d i n g t g n o s t i s c h e n U r s p r u n g s sein. S i e k ö n n t e s i c h e b e n s o gut d e m s y r i s c h e n b z w . a n t i o c h e n i s e h e n M i l i e u v e r d a n k e n , das a l l g e m e i n e i n „ a s k e t i s c h e r e s K l i m a " hatte. 250 S c h l i e ß l i c h m u s s a u f das g r u n d l e g e n d e c h r o n o l o g i s c h e P r o b l e m einer v o r c h r i s t l i c h e n G n o s i s h i n g e w i e s e n w e r d e n . Trotz a l l e m N a c h d r u c k , d e n d i e r e l i g i o n s g e s c h i c h t l i c h e S c h u l e a u f die T h e s e einer v o r c h r i s t l i c h e n b z w . rein j ü d i s c h e n G n o s i s legte, k o n n t e n n i e w i r k l i c h e B e w e i s e v o r g e l e g t werden. 251 Ein g n o s t i s c h e r Hintergrund ist d e s h a l b für die p a u l i n i s c h e n Schriften i m A l l g e m e i n e n u n d d i e F l e i s c h a b s t i n e n z der S c h w a c h e n in R o m 14 i m B e s o n d e r e n g a n z unwahrscheinlich. 2 5 2
248
Iren Haer 1,24,2. Iren Haer 1,28,1; vgl. Hippolyt Ref 8,20; Clem AI Paed 2,33,1; Strom 1,71,5; 7,108,2. 249
250
SCHNEIDER, Die S c h w a c h e n , 85f.
251
Nach wie vor können noch keine gnostischen Originalquellen vor das 2. Jh. v.Chr. datiert werden. Auch die klassischen Zeugen einer angeblich vorchristlichen Gnosis, Simon Magus und die Mandäer, können die ihnen aufgebürdete Beweislast nicht tragen; vgl. dazu nun H E N G E L , Frage, 477ff. Im Gegenteil mehren sich in jüngster Zeit die Stimmen, die die Gnosis als eine v.a. aus dem Christentum erwachsene Bewegung des 2. Jh. sehen. So konnte M A R K S C H I E S , Valentinus, 402^107, zeigen, dass selbst Valentin noch kein Gnostiker im strengen Sinne war, da der für die gnostischen Systeme klassisch gewordene schroffe Dualismus, der die Weltschöpfung als Katastrophe betrachtet, bei ihm noch nicht nachweisbar ist. Vielmehr hielt er noch an der Einheit Gottes fest und kannte noch nicht seine Zersplitterung in verschiedene Hypostasen. HENGEL, Ursprünge, 203, weist darauf hin, „dass der gnostische Mythos von Urfall und Erlösung das Christentum in statu nascendi bereits voraussetzt. Dementsprechend läßt sich eine Beeinflussung der neutestamentlichen Schriften durch eine vorchristliche Gnosis nicht belegen, sondern allenfalls eine erste Abgrenzung in den spätesten Schriften des Neuen Testaments ... Ein solcher (sc. von der Gnosis vorausgesetzter) von Gott auf die Erde gesandter Erlöser begegnet uns dagegen erst im Urchristentum. Die .Menschwerdung' einer himmlischen eschatologischen und zugleich universalen Erlösergestalt, die dem Menschen ewiges Leben bringt, läßt sich vor Paulus in der religiösen Umwelt des Urchristentums nicht nachweisen" (kursiv bei H.). 252 Vgl. H E N G E L , Ursprünge, 216-219; NBL, 869; DERS., Gnosis RGG, 1047f.
DERS.,
Frage, 494-502;
MARKSCHIES,
Gnosis
I. Analyse der römischen Konfliktsituation
347
1.3.4 Speise- und Weinabstinenz im Judentum 1.3.4.1 Temporäre
Abstinenz
Ein prinzipielles Verbot des Fleisch- oder gar des Weingenusses ist im antiken Judentum nirgendwo belegt, wie überhaupt das Judentum an sich keine asketische Religion war und ist. Bestimmte Formen der Enthaltsamkeit sind lediglich temporärer Art und durch individuelle Gelübde,253 das Nasiräat,254 Amtsverpflichtungen,255 bestimmte Fastentage oder unterschiedliche Fastenanlässe256 motiviert.257 Lediglich bei der jüdischen Sekte der Therapeuten in Ägypten258 ist ein prinzipieller Fleisch- und Weinverzicht belegt. Der Motivationshintergrund ist jedoch aufgrund der einseitigen Quellenlage unklar.259 1.3.4.2
Vermeidung von Götzendienst
Ein weiteres Motiv jüdischer Speise- und Weinabstinenz ist das für den korinthischen Konflikt zentrale Motiv der spirituellen Kontamination
Vgl. Act 2 3 , 1 2 mit Hui 8,1. Vgl. Num 6,2—4; Jdc 13,4.7.14; l S a m 1,14; Am 2,1 lf.; Jos Bell 2 , 3 1 3 . 255 Diensthabende Priester waren zur Weinabstinenz verpflichtet, vgl. Lev 10,9; Ez 4 4 , 2 1 ; Testisaak 5,5; J o s Bell 5 , 2 2 9 ; Jos Ap 1,199; mTaan 2,7. 2 5 6 Vgl. Dan 9,3; 10,2.3.12; TestRub 1,10; TestJud 15,4; TestJos 3,4f.; A s c J e s 2 , 1 1 ; b B B 3,8; syrBar 5,6; 9,2; 12,5; 2 0 , 5 ; 2 1 , l f f . ; 4 3 , 3 ; 4 7 , 2 ; 4Esr 5 , 1 3 . 2 0 ; 6 , 3 1 . 3 5 ; 9 , 2 4 - 2 6 ; 12,51; ApkAbr 9,7; Bill. IV/1, 7 7 - 1 1 4 ; Mk 2,18ff. 253
254
257 SCHNEIDER, Die Schwachen, 95, Anm. 14, erwähnt noch eine Reihe von jüdischen Gruppen und Einzelpersonen, von denen bestimmte Arten der Abstinenz bzw. Askese belegt sind, ohne dass sich dabei jeweils die konkrete Motivation bestimmen ließe, wie z.B. die Rekabiter (Jer 35,7f.), Johannes den Täufer (Mk 1,6; Mt 3,4; 11,18; Lk 7,33), sowie den Eremiten Bannus (Jos Vit 11). 258 Vgl. dazu REASONER, Strong, 1 2 2 - 1 2 4 . Zur Literatur siehe RLAUD, Therapeutes (mit ausfuhrlicher Bibliographie). 2 5 9 Die einzige Quelle, die von dieser Asketensiedlung am Mareotischen See in der Nähe von Alexandrien berichtet, ist Philos Schrift De vita contemplativa. Er berichtet darin von einer aus Frauen und Männern bestehenden Gemeinschaft, die sich eine strenge Askese auferlegt hatte und sich auf den Verzehr von Brot, Salz, Ysop und Quellwasser beschränkte (Phil VitCont 37). Ihre Weinabstinenz begründet sich nach Philo neben dem Wunsch nach intensiverer Selbstkontrolle und verstärkter Konzentration auf das Studium der jüdischen Schriften (Phil VitCont 3 4 ) vor allem mit konkurrierenden Ansprüchen gegenüber dem Jerusalemer Priestertum. Weil der Priesterdienst den Weinkonsum ausschloss, übten sie eine Generalabstinenz (Phil VitCont 74). Die Gründe, die Philo für diese Askese anfuhrt (VitCont 34: cYKpaifia), scheinen aber mehr seinen eigenen Interessen an einer Kritik des ausschweifenden Lebens der alexandrinischen Oberschicht zu entsprechen, als der tatsächlichen Motivation der Therapeuten. Denn einer Gruppe, die den Großteil des Tages mit dem Studium der jüdischen Schriften zubringt, dürften genuin jüdische Abstinenzgründe näher gelegen haben, als die von Philo nahegelegten hygienischen, philosophischen und kulturkritischen.
348
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
durch Götzenopferfleisch und/oder Libationswein. 260 Während es für die Fleischabstinenz in der römischen Gemeinde - abgesehen von der Parallelität in der Argumentationsstruktur zu IKor 8,1-11,1 - keinerlei Signale in diese Richtung gibt, bleibt für die Weinabstinenz die Vermeidung von Libationswein die einzig sinnvolle Deutung. 261 1.3.4.3. Beachtung der atl. -jüdischen Reinheits- und
Speisegebote
Die meisten Formen der jüdischen Fleischabstinenz stehen jedoch mit den atl. Reinheitsgesetzen 262 und ihrer halachischen Auslegung in Verbindung.263 Dabei geht es um einen zentralen Bereich jüdischer Frömmigkeit und Lebensgestaltung, der wie kaum ein zweiter prägend für das jüdische Leben in Israel selbst, aber auch in der Diaspora war.264 Denn aus der Reinheitsforderung ergibt sich die Notwendigkeit der Absonderung von allem Nichtjüdischen, und schon der nichtjüdische Mensch galt als unrein mitsamt seinem Hause. 265 Der unvermeidbaren Berührung mit Nichtjuden begegnete man mit Waschungen zur Wiederherstellung der kultischen Reinheit. 266 Besondere Sensibilität bei dieser spannungsvollen Koexistenz kam dabei dem Bereich der Speise und des gemeinsamen Essens zu. Konnte ein Kontakt mit Nichtjuden in der Diaspora aus lebenspraktischen, sozialen oder geschäftlichen Gründen nicht immer vermieden werden, achteten die meisten Juden jedoch beim Essen streng auf die Vermeidung möglicher Verunreinigungen und deshalb auf die Trennung von heidnischen Mahlge260
Vgl. Dan 1,5.8; AddEst 4,17x; vgl. Jos Ant 4,137. Vgl. DUNN, Röm II, 827; TOMSON, Law, 244. DUNN zieht darüber hinaus eine pharisäische Ausweitung des Weinverbots für Priester im Tempeldienst in Lev 10,9 und Ez 44,21 in Erwägung. 262 Ein zentraler Bereich dieser Gesetzgebung betrifft die Unterscheidung zwischen reinen und unreinen Tieren (Lev 11,1 —4*7; Dtn 14,3-21; sowie Gen 7,2 [ohne Spezifizierung]; 8,20; Lev 22,25; vgl. auch Hos 9,3; Ez 4,13; Jes 65,4; 66,17; Arist 144— 154.161.163.165.169; 2Makk 6,18; CD 12,8-15; 11QT 48,?-7; Philo SpecLeg 4 , 1 0 0 118; Jos Ant 3,259; TestAss 4,4f.; TestLev 9,13; 4Makk 1,34), sowie den korrekten Schlachtungsvorgang, die sog. Schächtung, der zum Verzehr bestimmten Tiere, bei der das Blut möglichst vollständig vom geschlachteten Tier getrennt werden soll, denn der Blutgenuss war explizit verboten (Gen 9,4; Lev 3,17; 7,26f.; 17,10-14; 19,26; Dtn 12,16.23-25; 15,23; Ez 33,25; Jub 6,7.12-14.18; 7,28-33; 21,6.18; TestLev 18,53-57 MS Athos Cod. 39; CD 3,6; 12,13f.; JosAs 8,5 und Phil SpecLeg 4,123-125; LibAnt 3,11; Jos Ant 3,260; vgl. auch Jdt 11,12, sowie Act 15,20.29.). 261
263
Vgl. zum Folgenden SCHNEIDER, Die Schwachen, 95ff.; BARCLAY, Diaspora, 4 3 4 -
437. 264
Arist 142.161 b—162; Jub 22,16-19; vgl. auch Orig Cels 5,41. Vgl. Dtn 14,21; Ez 44,9f.; JosAs 8,5; Act 10,28; Jos Ant 18,94. 266 Vgl. Jos Bell 2,149; Sib 3,591-593; Arist 305; Jdt 12,7-9; Jub 3,8-14; PsSal 8,12.22; 1QS 3,5; CD 12,19f. 265
1. Analyse
der römischen
Konfliktsituation
349
nossen.267 So sehr das Diasporajudentum in vielen Lebensbereichen sehr pragmatische Lösungen für die Vereinbarkeit des Lebens in einem paganen Umfeld einerseits und der Toraobservanz andererseits fand, so unlösbar war die Spannung zwischen der Reinheitsforderung der Tora und der antiken Mahlkultur. Gerade angesichts der Bedeutung dieser Mahlkultur für die antike Gesellschaft (-» III. 1.3.3-4) wird verständlich, wie fremd, irritierend und verdächtig die jüdische Ablehnung einer heidnischen Einladung wirken musste.268 Konnte hinsichtlich der Herkunft und dem Schlachtungsvorgang von Fleisch die Erfüllung der atl.-jüdischen Reinheitsgrundsätze nicht gewährleistet werden, oder konnte eine Mahlzeit nur in Gesellschaft mit Nichtjuden eingenommen werden, so verzichtete ein frommer Jude eher auf das Essen und den Wein als sich dem Risiko auszusetzen, unrein zu werden. Dies wird klassisch im Danielbuch am Beispiels Daniels und seiner Gefährten deutlich.269 Unklar bleibt, ob ihre Abstinenz in der Herkunft des Fleisches begründet war, das vermutlich vorher einem paganen Opferritual unterzogen wurde, oder in dem mit Sicherheit nicht toragemäßen Schlachtungsritus. Doch allein schon die Wahrscheinlichkeit, dass einer dieser Verunreinigungsgründe vorlag, reichte für die Entscheidung zur Abstinenz aus.270 Eine ähnliche Entscheidung zur Askese aufgrund einer drohenden Verunreinigung wird in 2Makk 5,27 von Judas Makkabäus berichtet. Dieser soll nach der Eroberung Jerusalems durch Antiochus IV. Epiphanes mit neun Freunden in die Wüste gezogen sein, wo er „... nach Art der wilden Tiere in den Bergen mit seinen Gefährten [lebte]. Sie nährten sich die ganze Zeit von Kräutern, um nicht teilzuhaben an der Befleckung." 271 Die Makkabäerbücher schildern eindrucksvoll, wie einige Juden im Zuge der 267
Vgl. Arist 142.181 f.; Jub 22,16; Jdt 12,2.19; AddEst 4,17x; Gal 2 , 1 1 - 1 4 ; Act 11,3. Besonders deutlich kommt dieser Umstand im Roman von „Joseph und Aseneth" zum Ausdruck, der am Beispiel des nach Ägypten verschleppten Jakobssohnes Joseph ein Modell jüdischer Existenz unter den Bedingungen der Diaspora zeichnet. So sehr Joseph Konzessionen gegenüber der heidnischen Kultur seines Gastlandes macht, so sehr achtet er jedoch gerade bei Speisefragen auf die Reinheit (JosAs 7,1; 8,5; 12,5). 268 Das Judentum war sich dieser separierenden und stigmatisierenden Wirkung der eigenen Speisegebote durchaus bewusst und hat versucht, sie theologisch aufzuarbeiten. Vgl. dazu Arist 1 3 9 - 1 4 2 . 1 5 0 - 1 5 2 ; 3Makk 3,4; Jos Ap 2,173f. Selbst Philo, der in Spec Leg 4 , 1 0 0 - 1 1 8 eine symbolische Erklärung der Speisegebote unternimmt, beachtete sie selbst freilich auf das strengste. 269 Dan 1,5.8-16; vgl. auch Tob 1,10-12; Jdt 10,5; 1 2 , l f . l 9 . 270 Interessanterweise verschweigt Josephus in seiner Nacherzählung der Geschichte diesen Hintergrund und ersetzt ihn durch die Angabe hygienischer und philosophischer Gründe (Jos Ant 10,190), die an die pythagoreische Begründung des Vegetarismus erinnern. 271 Übersetzung nach HABICHT.
350
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Rom
aggressiven Kultur- und Religionspolitik Antiochus' IV. Epiphanes sogar das Martyrium wählten, anstatt sich zum Genuss unreiner Speisen wie Schweinefleisch zwingen zu lassen.272 Besonders im Diasporajudentum, wo eine strenge kashrut nicht umsetzbar war,273 gehörte die Abstinenz von unreinem Fleisch zu den signifikantesten Merkmalen der Synagoge.274 Ein konkreter Beleg für Rom liegt in JosVit 13f. vor, wo Josephus von inhaftierten jüdischen Priestern berichtet, die sich im Gefängnis des Fleischgenusses enthielten. Das geschah ganz offensichtlich aus der begründeten Sorge, die Speisegebote zu verletzten. Diese jüdischen Reglementierungen im Blick auf Speise und Trank waren in der römischen Gesellschaft mehr oder weniger bekannt.275 Bei Petronius Arbiter wird beispielsweise der spöttische Vorwurf laut, die Juden würden einen Schweine-Gott verehren.276 Macrobius erwähnt ein Bonmot des Kaisers Augustus, wonach dieser im Blick auf die Blutrünstigkeit von Herodes dem Großen gegenüber der eigenen Familie bemerkt haben soll, er wäre lieber Herodes' Schwein als Herodes' Sohn.277 Die jüdische Verachtung von Schweinefleisch diente Kaiser Gaius Caligula gegenüber jener jüdischen Delegation, der auch Philo angehörte, als Anlass zu einer spöttischen Nachfrage. 278 Auch römische Satiriker wie Juvenal amüsierten ihre Leser mit Pointen über die jüdische Milde und Rücksicht, die es Schweinen erlaube, bis ins hohe Alter hinein zu leben,279 und über die jüdische Abscheu vor bestimmten Speisen, die Menschenfleisch und Schweinefleisch auf eine Ebene stelle.280 Die strenge Beachtung ihrer Speisegebote und -gewohnheiten, die häufig auch die Ausschlagung attraktiver Essenseinladungen mit sich brachte, wurde den Juden in Rom im besten Fall als Pedanterie, im schlechtesten als Asozialität, Misanthropie 281 oder superstitio ausgelegt, wie auch das Beispiel von Senecas Vater zeigt, der seinen Sohn
272
2 M a k k 6 , 1 8 f f . ; 7 , l f f . ; 4 M a k k 5 f f . ; v g l . auch Philo L e g G a i 1 1 7 . 3 0 8 ; F l a c c 5 4 - 9 6 ;
Jos B e l l 2 , 1 7 2 - 1 7 4 ; 2 , 1 9 5 - 1 9 8 ; 7 , 4 6 - 5 3 ; A n t 1 6 , 3 5 f . ; 1 8 , 5 5 - 5 9 ; A p l , 4 2 f , 1 9 0 f . ; 2 , 2 1 8 . 232. 273
O f t w u r d e n die j ü d i s c h e n R e i n h e i t s b e d ü r f n i s s e j e d o c h auch o b r i g k e i t l i c h g e s c h ü t z t
und garantiert, w i e e i n i g e B e l e g e bei J o s e p h u s verdeutlichen: Ant 1 4 , 2 2 5 - 2 2 7 ; 1 4 , 2 4 5 f . 274
V g l . hierzu Plut Mor 6 6 9 d ; T a c Hist 5 , 4 , 2 ; l u v Sat 14,98.
275
V g l . z u m f o l g e n d e n BARCLAY, Law, 2 9 4 f . , SCHÄFER, J u d e o p h o b i a , 6 6 - 8 1 , s o w i e
STERN, Authors II, 6 6 5 f . 276
Petron Frgm 37.
277
M a c r Sat 2 , 4 , 1 1 .
278
Philo LegGai 361.
279
luv Sat 6 , 1 6 0 .
280
luv Sat 1 4 , 9 8 f . ; v g l . auch Petron Frgm. 3 7 ; Plut M o r 6 6 9 d .
281
D i o d 3 4 , 1 , 2 ; v g l . auch Tac Hist 5 , 5 , 2 und Philostr V i t A p 5 , 3 3 .
1. Analyse
der römischen
351
Konfliktsituation
aufgrund der superstitio- Verdächtigkeit seiner Abstinenz zur Rückkehr zu einer normalen Ernährung aufforderte. 282 Die Bedeutung der Speise- und Reinheitsgebote für fromme Juden dürfte kaum zu überschätzen sein. Dies gilt im Anschluss an die eben notierten Belege ausdrücklich auch für das römische Judentum, dessen Profil in der Öffentlichkeit unlösbar mit den Speisereglementierungen verknüpft war.283 Auch wenn die Tischgemeinschaft zwischen Juden und Heiden in der Tora nicht per se verboten war,284 hätte jeder fromme Jude bei Reinheitsbedenken hinsichtlich der servierten Speise eher ganz auf den Fleischkonsum verzichtet, als sich potentiell durch den Genuss zu verunreinigen. Bis heute ist der Vegetarismus die einzige effektive Möglichkeit für fromme Juden, sich zweifelhaften Speisen zu entziehen. 285 A u ß e r b i b l i s c h e B e l e g e für e i n e j u d e n c h r i s t l i c h e F l e i s c h a b s t i n e n z sind n a t u r g e m ä ß selten. Ein w i c h t i g e r B e l e g betrifft den Herrenbruder Jakobus, der nach H e g e s i p p V e g e t a r i e r war. 2 8 6 W e i t e r e frühchristliche Gruppen, für die der V e g e t a r i s m u s b e l e g t ist, w a r e n die E b i o n i t e n , 2 8 7 die g n o s t i s c h e n Enkratiten 2 8 8 und die A n h ä n g e r Satornils. 2 8 9
1.4 Die Praxis der Kalenderobservanz in der Antike und in Rom Das zweite charakteristische Merkmal der römischen Schwachen ist die Unterscheidung bestimmter Tage von anderen (14,5-6a). Aus dem Text geht nicht eindeutig hervor, in welcher Relation die Frage der Kalenderobservanz zur Frage der Fleischabstinenz steht, j a ob es sich überhaupt um ein römisches Problem handelt oder nicht nur um ein zur Verdeutlichung herangezogenes Beispiel von Seiten des Paulus. Zunächst wurde v.a. in der altkirchlichen Exegese vorgeschlagen, die Kalenderobservanz in unmittelbarem Zusammenhang mit der Fleischabsti282
Sen Ep 1 0 8 , 2 2 . BARCLAY, Law, 2 9 5 , deutet den Z u s a m m e n h a n g , den S e n e c a in d i e
Frühzeit d e s Prinzipats v o n Tiberius datiert, in V e r b i n d u n g mit der V e r t r e i b u n g der Juden aus R o m 19 n.Chr. ( v g l . Jos Ant 1 8 , 6 5 - 8 4 ; Tac A n n 2 , 8 5 , 4 ; Suet Tib 3 6 ; C a s s D i o 57,18,5a). 283
D i e V e r b i n d u n g g i n g s o w e i t , dass auch H e i d e n , die sich in ähnlicher W e i s e d e s
F l e i s c h k o n s u m s enthielten, in den V e r d a c h t j ü d i s c h e r Herkunft oder
Sympathisanten-
s c h a f t gerieten. 284
S t e l l e n w i e m A z 5,5 oder Phil Ebr 2 0 f s e t z e n e i n e T i s c h g e m e i n s c h a f t z w i s c h e n Ju-
d e n und H e i d e n voraus. V g l . d a z u BORGEN, Y e s , 4 6 ( - » Exkurs 10). 285
SEGAL, Other Judaism, 177.
286
E u s e b H E 2 , 2 3 , 5 f . : „ S c h o n v o m Mutterleib an war er h e i l i g . W e i n und g e i s t i g e G e -
tränke nahm er nicht z u sich, auch aß er kein F l e i s c h [vgl. Lev 10,9; N u m 6 , 3 ] . E i n e S c h e r e berührte nie sein Haupt, n o c h salbte er sich mit Öl oder nahm er ein B a d [vgl. N u m 6 , 5 ] " ( Ü b e r s e t z u n g nach HAEUSER/GÄRTNER). 287
C o n s t A p 5 , 1 8 , 1 ; Epiph H a e r 3 0 , 1 5 , 3 (= E v E b ) .
288
V g l . z . B . Iren Haer 1 , 2 8 , 2 ; E u s e b H E 4 , 2 9 , 2 ; Hipp R e f 8 , 2 0 .
289
Iren Haer 1,24,1 f.; 1,28,2; Hipp R e f 7 , 2 8 .
352
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
nenz zu verstehen. 290 Der Streit würde sich dann auf konkrete Fastentage oder -Zeiten beziehen. 291 Diese Lösung ist aber von V. 2 her nicht zu halten, denn dort geht es nicht um einen bestimmten Rhythmus von Essen und Fasten, sondern um eine prinzipielle, nicht nur temporäre Fleischabstinenz bzw. um eine rein vegetarische Ernährung („Gemüse essen"). Es ist daher ratsam, die Tageobservanz nicht mit der Frage der Fleischabstinenz zu verschmelzen. 292 Gegen eine paulinische Einführung der Tageproblematik als bloßes Argumentationsbeispiel 293 spricht, dass es für die römische Konfliktsituation alles andere als hilfreich gewesen wäre, wenn Paulus noch einmal einen in der gesamten Antike sensiblen und umstrittenen Kasus (vgl. nur Kol 2,16) in die Diskussion eingebracht hätte. Insofern wird es sinnvoll sein, die Frage der Kalenderobservanz als ein weiteres Konfliktfeld zwischen den römischen Starken und Schwachen zu betrachten. Als religionsgeschichtlicher Hintergrund für die hier erwähnte Kalenderobservanz wurden folgende Alternativen erwogen: 294 1. Die pagane Observanz bestimmter Fastentage.295 2. Die abergläubisch-synkretistische Überzeugung, dass unterschiedliche Tage mit bestimmten Kräften und Wirkungen verbunden sind.296
290 Die beiden Themen tauchen auch in Jub 6,38 gemeinsam auf. In einer prophetischen Schau klagt Noah darüber, dass in kommenden Zeiten sowohl heilige Zeiten wie Neumond, Sabbat und andere Feste missachtet werden als auch die Speisegebote, indem das Blut mit dem Fleisch verzehrt werden wird. 291 Diese Lösung wurde in der Regel von den altkirchlichen Auslegern gewählt. Zuletzt wurde sie von RAUER, Die Schwachen, 180ff., vertreten. Zwar gab es auch im Judentum Fastentage (vgl. Lev 10,9; Ez 44,21; Bill. IV/1, 77-114; Mk 2,18ff.), allerdings spielte das Problem kultischer Unreinheit hier keine Rolle. Bei RAUER ergibt sich aus dieser Zuordnung eine Drei-Parteien-Konstruktion: Die Schwachen halten alle Tage als besondere Tage und praktizieren eine andauernde Fleischabstinenz, die „Allesesser" halten gar keine besonderen Tage und die dritte Gruppe besteht aus Christen, die manche Tage beachten, aber nicht alle (183f.). Diese Lösung fand zu Recht keine Anhänger, da sich RAUERS „Drei-Parteien-System" exegetisch nicht verifizieren lässt. 292
V g l . a u c h CRANFIELD, R o m , 7 0 4 .
293
Die These wird nicht nur von den Vertretern einer hypothetischen Argumentation
w i e KARRIS, SAMPLEY, REICHERT u . a . v e r t r e t e n ( - » I V . 1.2.2), s o n d e r n a u c h v o n
ZAHN,
Rom, 573f. („nur eine lehrreiche Parallele"), und OESTREICH, Argumentation, 103.108, die mit einem aktuellen Konflikt in Rom rechnen, diesen aber auf die Frage der Speiseabstinenz begrenzen wollen; vgl. auch SANDAY/HEADLAM, Rom, 386f. 294 Vgl. WEISS, Judging of Days, 137. 295 RAUER, Die Schwachen, 180ff.; NABABAN, Bekenntnis, 52, sowie Anm. 124; MEEKS, Judgment, 292f. 296 Erwogen, aber letztlich verworfen von ZLESLER, Rom, 329. KÄSEMANN, Rom, 352, spricht von einem synkretistisch beeinflussten Judentum, das diese Gedanken eingebracht hat.
I. Analyse
der römischen
353
Konfliktsituation
3. Die oben bereits diskutierte Verbindung von Speiseabstinenz und Kalenderobservanz, die auf von Juden, Heiden und Christen beachtete Fastentage hindeuten würde.297 4. Der jüdische Sabbat (und jüdische Neumondfeste). 5. Der christliche Sonntag. Unklar ist darüber hinaus die Frage, in welcher Hinsicht bestimmte Tage in Frage gestellt wurden. Ging es um die generelle Bestreitung „heiliger Zeiten" oder die generelle Bestimmung aller Tage als „heiliger Tage"? Im Folgenden sollen abgesehen vom Sonntag298 und den bereits diskutierten Fastentagen die religionsgeschichtlichen Vorschläge dargestellt, auf ihre Tragfähigkeit hin geprüft und daran anschließend die letzte Frage diskutiert werden. 1.4.1 Kalenderobservanz
im Rahmen der hellenistisch-römischen
Religion
Analog zur Fleischabstinenz hatte auch die Kalenderobservanz einen breiten Hintergrund in der römischen Geschichte und Gesellschaft. Grundsätzlich wurde in Rom zwischen dies festus und feriae unterschieden. 299 Während sich die erste Bezeichnung mehr auf die mit einem Feiertag verbundenen Handlungen bezog (Opfer, Festessen, Spiele), brachte der zweite Begriff mehr die mit dem Feiertag verbundene Ruhe von der Alltagsarbeit zum Ausdruck. 300 Die Einhaltung bestimmter Verhaltensweisen an bestimmten Tagen war in Rom ein Akt der Frömmigkeit und Staatsreligion in einem. Nach Nicolai war „... mindestens jeder dritte Tag, vielleicht sogar jeder zweite Tag, im Leben eines Römers der augusteischen Zeit ein Feiertag ...",301 was aber in der Praxis nicht unbedingt gleichbedeutend mit einer 297
RAUER, D i e S c h w a c h e n , 1 8 0 - 1 8 2 ; DEDEREN, E s t e e m i n g , 31; KARRIS, O c c a s i o n ,
298
D i e s e A l t e r n a t i v e w u r d e mit A u s n a h m e v o n REASONER, Strong, 149, v o n allen an-
77. deren E x e g e t e n z u R e c h t rasch w i e d e r v e r w o r f e n . Z w a r ist die O b s e r v a n z und h e r a u s g e h o b e n e S t e l l u n g d e s christlichen
S o n n t a g s bereits a n s a t z w e i s e
im N e u e n
Testament
greifbar, j e d o c h nur als V e r s a m m l u n g s - und G o t t e s d i e n s t t a g der christlichen G e m e i n d e n ( v g l . I K o r 16,2; Joh 2 0 , 1 9 . 2 6 ; A c t 2 0 , 7 ; A p k 1,10; v g l . auch Plin Ep 1 0 , 9 6 , 7 ; Barn 15,9; Iust Mart A p o l 1 , 6 7 , 3 - 7 ; D i d 14,1), nicht als Ruhetag. N a c h D i d 8,1 w u r d e er v o n a n d e ren T a g e n dadurch unterschieden, dass an ihm g e f a s t e t w u r d e . V o n einer b e w u s s t e n V e r drängung d e s Sabbats und einer B e o b a c h t u n g d e s S o n n t a g s ist erst in I g n M a g n 9,1 die R e d e . Für die hier f r a g l i c h e Zeit der 5 0 e r Jahre d e s 1. Jh. ist e i n e s p e z i e l l e B e a c h t u n g d e s S o n n t a g s n o c h g a n z u n w a h r s c h e i n l i c h , v g l . BERGHOLZ, S o n n t a g , 4 5 0 ^ 1 5 2 ; SCHALLER, Sabbat III, 5 2 7 ; GOLDENBERG, J e w i s h Sabbath, 4 4 3 . 299
V g l . Varro Ling 6 , 1 2 - 3 4 ; Macr Sat 1 , 1 2 - 1 6 .
300
NICOLAI, F e i e r t a g e , 195.
301
NICOLAI, Feiertage, 2 0 2 . 2 1 9 . A n g e s i c h t s der inflationären E i n f u h r u n g v o n Feierta-
g e n durch K a i s e r und Senat in der frühen Kaiserzeit m e l d e t e n sich z u n e h m e n d B e d e n k e n , o b m a n d i e Götter nicht auch ehren k ö n n e , o h n e die irdischen G e s c h ä f t e z u v e r n a c h l ä s s i gen (vgl. Tac Ann 13,41,4).
354
Kapitel
IV: Der Konflikt
zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
Arbeitsruhe war.302 So wurde in Rom hinsichtlich der Feiertage nochmals zwischen dies fasti und dies nefasti unterschieden, die aber lediglich für die Tätigkeit der Gerichte eine Rolle spielte. An dies nefasti durfte der Praetor die prozesskonstituierende Formel do, dico, addico nicht sprechen (Varro Ling 6,30) und analog durften keine Volksversammlungen stattfinden. Die Regelungen hatten jedoch keine Auswirkungen auf den militärischen, wirtschaftlichen oder privaten Bereich.303 Doch auch die dies fasti waren weit davon entfernt, als allgemeine Feier- und Ruhetage begangen zu werden.304 Für den privaten Bereich wesentlich einflussreicher war die Unterscheidung günstiger und ungünstiger Tage, die wie in allen antiken Kulturen auch in Rom üblich war. So kannte man dies religiosi, die für bestimmte Unternehmungen als ungünstig galten, an denen die Aktivitäten insgesamt eingeschränkt wurden305 und die mit bestimmten Kulthandlungen begangen wurden.306 Religionspsychologisch steht hinter dieser Praxis zunächst der Wunsch nach einem spirituellen Kraftzugewinn, verbunden mit der Vorstellung, dass bestimmte Zeiten und Tage eine besondere Potentialität enthalten. 307 Darüberhinaus lag der Tageobservanz aber auch ein politisches Interesse zugrunde, „da Orientierungstage das kulturelle Gedächtnis normierten sowie religiöse Handlungssteuerungen und Systematisierungen erlaubten". 308 Als Hintergrund für den von Paulus anvisierten Kasus kommt eine derartige Kalenderobservanz freilich kaum in Frage, weil Paulus in 14,6 ausdrücklich erwähnt, dass sowohl die Befürworter einer Tageunterscheidung als auch die Gegner dies K U P I W tun, also aus einer bewusst an Gott bzw. Christus ausgerichteten Motivation. Wenn Paulus entsprechend beide Gruppen ermutigt, an der jeweils eigenen Überzeugung festzuhalten
302 NICOLAI, Feiertage, 2 0 2 - 2 0 7 . Er kommt zum Fazit, dass es in der Kaiserzeit mehr und mehr ins B e l i e b e n des Einzelnen gestellt war, wenn er die Feiertagsruhe halten w o l l te und wann nicht. 303
Vgl. RÖPKE, Fasti, 4 3 5 . NICOLAI, Feiertage, 196: „Um es überspitzt auszudrücken: j e n e in den Staatskalendern konservierten alten Feste sind nicht die Feiertage, die tatsächlich gefeiert wurden; es sind die Feiertage, die man von Rechts w e g e n hätte feiern sollen." 304
305
Gell 4 , 9 , 5 f . ; 5,17,1; Macr Sat 1 , 1 6 , 2 1 - 2 9 ; Ov Fast l , 5 7 f . ; Liv 6 , 1 , 1 2 . Weitere Differenzierungen galten den dies atri („schwarze Tage"), an denen nichts N e u e s unternommen werden sollte (Macr Sat 1,15,22; Varro Ling 6,29). V g l . zum Ganzen STUCKRAD, Tagewählerei,1220f. 306
307 REASONER, Strong, 142. Einen Eindruck über die Kalenderobservanz im Rahmen der griechischen bzw. hellenistisch-römischen Religion geben Hesiod in seinem Werk opera et dies und Plutarch in De superstitione. Die Regeln für diese Tage haben delphischen Hintergrund und waren ein fester Bestandteil des religiösen Lebens. 308
STUCKRAD, Tagewählerei, 1221.
1. Analyse der römischen
Konfliktsituation
355
(14,5c), dann ist vom Gesamten der paulinischen Ethik und Paränese her ein paganer oder synkretistischer Hintergrund nur schwer denkbar.309 1.4.2 Der jüdische
Sabbat
Die mit Abstand größte Aufmerksamkeit hinsichtlich der Beachtung einzelner Tage erfuhr der jüdische Sabbat, und zwar sowohl was seine Häufigkeit wie auch was die Strenge der Arbeitsruhe angeht. 3 ' 0 Die Sabbatobservanz war und ist ein wesentlicher Bestandteil jüdischer Identität.3" Schon im Pentateuch nahm das Sabbatgebot einen prominenten Platz ein,3'2 aber erst in der Begegnung mit dem Hellenismus in und nach der Makkabäerzeit wurde es Gegenstand ausführlicher Reflexion. 313 Im Diasporajudentum kam es schließlich zu einer Glorifizierung des Sabbats aus apologetischen Gründen, waren die hier lebenden Juden doch häufig dem Spott über ihren regelmäßigen Müßiggang ausgesetzt. 314 Sowohl in Kleinasien 315 wie in Rom (Philo LegGai 155-158) wurde das Recht der Sabbatobservanz den jüdischen Gemeinden offiziell garantiert316 und fand auch unter Nichtjuden eine bemerkenswerte Attraktivität.317 Neben der
309
Ebenso WEISS, Judging of Days, 140. Vgl. hierzu z.B. IMakk 2,29-38; vgl. zur Frage der Kriegführung am Sabbat DOERING, Schabbat, 537-565. Weitergehende Sabbatpraktiken sind nicht eindeutig. In einigen Quellen ist das Fasten belegt (Strab 16,2,40; Suet Aug 76; Mart 4,4,7; zum Phänomen des Sabbatfastens vgl. GOLDENBERG, Jewish Sabbath, 439f.), in anderen das Fischessen (Pers Sat 5,183), und einige lassen sogar erkennen, dass manche Juden sich gerne am Sabbat betranken (Plut Mor 671d-672b); zu den Sabbatpraktiken im Diasporajudentum vgl. DOERING, Schabbat, 283-386.492-507. 311 Vgl. zu diesem Thema die umfassende Studie von DOERING, Schabbat. 3.2 Gen 2,2f.; Ex 16,22-30; 20,8-11; 31,12-17; 34,21; 35,2f.; Lev 19,3.30; 23,3; 26,2; Num 15,32-36; Dtn 5,12-15; vgl. Neh 9,13f.; 10,32; 13,15-22; Jes 56,2-7; Jer 17,19-27; Ez 20,16; Am 8,5. 313 Sir 33,7-9; IMakk 1,43; 2,29-41; Jub 2,17-33; 6,32-35; 50,6-13; 1QS l,14f.; CD 3,14f.; 10,14-11,18; Philo Abr 28-30; Decal 102; SpecLeg 2,59.70; Jos Ant 11,346; Aristob Frgm. 5f.; Euseb, Praep Ev 13,12,9-16. 314 Vgl. Hör Sat l,9,68f.; Mart 4,4; luv 6,159; 14,96; Seneca bei Aug Civ 6,11,1-5. Wie streng das Diasporajudentum auf die Sabbatobservanz drängte, wird aus einigen Notizen bei Philo und Josephus ersichtlich, die wiederholt das Verbot der Ausübung einer beruflichen oder wirtschaftlichen Tätigkeit reflektieren: Phil VitMos 2,211.219; Som 2,123-132. Vgl. hierzu auch RABELLO, L'observance, 1290-1293.1299-1302; und DOERING, Schabbat, 315-386.492-507. 3.3 Josephus nennt Laodicea (Ant 14,241-243), Milet (Ant 14,244-246), Halicarnassus (Ant 14,256-258) und Ephesus (Ant 14,263f.); vgl. auch Ant 16,27.162f. 167f. 316 Zu den Gründen für diese Toleranz siehe GOLDENBERG, Jewish Sabbath, 419-422. 3,7 Jos Ap 2,282: „... j a sogar unter den Volksmassen ist schon seit langem ein großer Neid auf unsere Frömmigkeit aufgekommen, und es gibt keine einzige Stadt weder der Griechen noch der Barbaren und kein Volk, wohin nicht die Sitte des Siebten Tages, an 310
356
Kapitel
IV: Der Konflikt
zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
Beschneidung, der Nichtteilnahme an paganen Kulten und den jüdischen Speise- und Reinheitsgeboten war die Sabbatheiligung das prägnanteste, sensibelste und für Außenstehende eindeutigste Identitätsmerkmal des Diasporajudentums in der nachmakkabäischen Zeit.318 War die Beschneidung ein einmaliger Akt und für Außenstehende nur in öffentlichen Bädern, bei Athleten oder nackt arbeitenden Sklaven erkennbar, 319 konnte sich sowohl die Diskussion um die Toraobservanz als auch die öffentliche Wahrnehmung jüdischer Identität auf die übrigen Topoi konzentrieren. Folglich erfuhr auch in Rom die jüdische Sabbatobservanz eine breite öffentliche Wahrnehmung. 320 Dies ist allein schon aus dem von Philo erwähnten Recht ersichtlich, dass die bedürftigen Juden ihre regelmäßige Getreideration auch an dem auf den Ausgabetag folgenden Tag abholen durften, falls die Ausgabe auf einen Sabbat fiel.32' Hinzu kommt das Versammlungsrecht am Sabbat, das den römischen Juden die Pflege ihrer religiösen Identität, die Weitergabe jüdischer Bildung und nicht zuletzt Geldsammlungen für Jerusalem ermöglichte. 322 Diese Konzessionen des römischen Staates mussten öffentliche Aufmerksamkeit erregen. Während sich unparteiische Zeitzeugen auf die Beschreibung jüdischer Riten beschränkten,323 verdächtigten kritischere Beobachter die Juden der Verschwendung des siebten Teils ihres Lebens324 bzw. schlicht der Faulheit.325 Ein interessanter Beleg für die Bedeutung der Sabbatruhe in Rom ist der Dialog zwischen Horaz und seinem Freund Fuscus. Während Horaz verzweifelt verd e m wir nicht arbeiten, sich ausgebreitet hätte; ..." V g l . auch Phil V i t M o s 2 , 2 1 ; K o l 2 , 1 6 ; luv sat 1 4 , 9 6 . 1 0 5 f . ; T e r t N a t 1,13; v g l . LEON, J e w s o f A n c i e n t R o m e , 1 2 - 1 4 . 318
V g l . BARCLAY, D i a s p o r a , 4 2 8 - 4 4 2 ; DUNN, R o m , 81 Of.; v g l . GOLDENBERG, Sabbat
II, 5 2 1 - 5 2 5 ; DERS., J e w i s h Sabbath, 414—447; SCHÄFER, J u d e o p h o b i a , 8 2 - 9 2 . N a c h d e m Index v o n STERN, A u t h o r s III, 1 1 3 . 1 4 2 . 1 4 6 , g e h ö r e n d i e s e vier T o p o i z u d e n m e i s t g e nannten
Identitätsmerkmalen der Juden bei g r i e c h i s c h e n und l a t e i n i s c h e n A u t o r e n . V g l .
das Fazit v o n GOLDENBERG, T h e J e w i s h Sabbath, 4 2 9 : „ T o s u m m a r i z e , all J e w i s h varieties o f o p i n i o n , with the s i n g l e e x c e p t i o n o f certain groups in the early Christian church, shared a c o n c e r n f o r the proper o b s e r v a n c e o f the Sabbath ... A s a result, J e w s all o v e r the R o m a n w o r l d b e h a v e d on the Sabbath in a d i s t i n c t i v e w a y , and this d i s t i n c t i v e behav i o r w a s v i s i b l e to their n o n - J e w i s h n e i g h b o u r s . " 319
Im Z u g e der S t e u e r e r h e b u n g d e s fiscus Iudaicus
berichtet S u e t o n d a v o n , dass ein
Jude, der versuchte, sich durch L e u g n u n g s e i n e r j ü d i s c h e n Identität v o n der S t e u e r p f l i c h t z u b e f r e i e n , einer U n t e r s u c h u n g s e i n e s G e s c h l e c h t s t e i l s u n t e r z o g e n w u r d e , w e i l d i e B e s c h n e i d u n g d a s e i n d e u t i g s t e Identitätsmerkmal j ü d i s c h e r E x i s t e n z war ( S u e t D o m 12,2). 320
V g l . z u m F o l g e n d e n LEON, T h e J e w s o f the A n c i e n t R o m e , 1 2 - 1 4 . 3 8 f . 2 4 4 ; BAR-
CLAY, Law, 2 9 6 - 2 9 9 , und GOLDENBERG, J e w i s h Sabbat, 4 3 0 - 4 4 2 ; DOERING, Schabbat, 285-289. 321
Phil L e g G a i 158.
322
Phil L e g G a i 156.
323
V g l . z . B . OV Ars L,75f.
324
Sen in A u g C i v 6 , 1 1 .
325
l u v Sat 1 4 , 1 0 5 f . ; T a c Hist 5 , 4 , 3 f .
I. Analyse der römischen
Konfliktsituation
357
sucht, einen leidigen Begleiter los zu werden, den er unterwegs getroffen hatte und der von ihm dem wohlhabenden Patron Maecenas vorgestellt werden möchte, sieht er seinen Freund Fuscus und bedeutet ihm, er möge ihn von der lästigen Gesellschaft seines Weggefährten erlösen: H: F:
„Wolltest du mit mir nicht über etwas im Privaten reden?" „Ja, ich erinnere mich, aber ich will mit dir darüber zu einem günstigeren Zeitpunkt reden. Heute ist der 30. Sabbat (hodie tricésima sabbata). Du möchtest doch nicht die beschnittenen Juden verhöhnen?" „Ich habe keine religiösen Skrupel (Nulla mihi religio est)." „Aber ich! Ich bin ein wenig schwächer, einer der vielen (sum paulo inflrmior, unus multorum). So entschuldige mich. Ich rede mit dir ein ander mal." (Hör Sat 1,9,67-72) 3 2 6
H: F:
Die schelmische Antwort von Fuscus, der mit seiner ironischen Begründung seine Faulheit kaschieren will, trifft nur dann die beabsichtigte Pointe, wenn der Sabbat tatsächlich auch von vielen nichtjüdischen Römern möglicherweise aus Aberglauben oder tatsächlich schlicht aus Faulheit als arbeitsfreier Tag gestaltet wurde. Dafür sprechen auch die kurzen Erwähnungen des Sabbat bei Ovid: Für das Hofieren eines Mädchens empfiehlt er u.a. den Sabbat, weil an diesem Tag die Geschäfte geschlossen hätten und es dem Kavalier somit erspart bliebe, teure Geschenke kaufen zu müssen.327 Ovid setzt offensichtlich voraus, dass am Sabbat tatsächlich die meisten kleineren Geschäfte, nicht nur die jüdischen, geschlossen hatten. Wahrscheinlich wurde die Sabbatruhe vor allem von den unteren Schichten als willkommene Freizeit übernommen, 328 ohne ihn jedoch mit 326 Übersetzung des Vf. Ein Rätsel ist bis heute das Syntagma tricésima sabbata; vgl. dazu den kurzen Forschungsüberblick bei GOLDENBERG, Jewish Sabbath, 437f. Nach STERN, Authors I, 326; LOHSE, oaßßaxoi^, 17, Anm. 136; THORNTON, Jewish New Moon Festivals, 97, u.a., bezieht sich die Bezeichnung auf das jüdische Neumondfest, was durch die Bedeutung des Begriffs tricésima in einer Passage des christlichen Poeten Commodian (3. Jh.) nahe gelegt wird (vgl. Commod Inst 1,40,3-4). Auch Porphyrius vermutete in seinem Horaz-Kommentar hinter dem Begriff eine Bezugnahme auf ein Mondfest (Porph Hör comm hrsg. von HOLDER, 278,15-17). LOHSE, im Anschluss an LEJAY, Sabbat, 328, punktiert „hodie tricésima, sabbata" und übersetzt „heute ist Neumond (sc. der 30. Tag des Monats), also Sabbatruhe". In der Tat waren die jüdischen Neumondfeiern in den ersten beiden Jahrhunderten nach der Zeitenwende ebenfalls wichtige Identitätsmerkmale der jüdischen Diasporagemeinden und wurden analog zum Sabbat als Ruhetag begangen, vgl. THORNTON, Jewish New Moon Festivals, 97 (vgl. Iust Mart Dial 8,4). Der Wortsinn der Passage spricht dennoch eher für eine Bezugnahme auf den Sabbat in irgendeiner Form. Ob dahinter allerdings ein bestimmter Sabbattag steht oder es lediglich eine ironische Begriffsbildung von Horaz selbst ist, lässt sich nicht mehr bestimmen. 327
Vgl. Ov Ars 1,413-416 (vgl. auch Ov Am 219f.). Dafür spricht auch, dass nach Sen Ep 95,47 und Pers Sat 5,180-184 viele Römer dem jüdischen Brauch folgten, am Sabbat Lampen aufzustellen, was bei den beiden Autoren als ein Synonym fur Arbeitsruhe gilt (vgl. auch Jos Ap 2,282). 328
358
Kapitel
IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
einem Synagogenbesuch und der strengen jüdischen Sabbatruhe zu verbinden. Von der leistungsorientierten Oberschicht wurde diese Arbeitsruhe am Sabbat als kaschierte Faulheit und Anstiftung zum Müßiggang gebrandmarkt.329 1.4.3 Die Sabbatobservanz in Rom 14,5f. Überblickt man die diskutierten Alternativen, dann ist in Rom 14,5f. die Annahme eines für das 1. Jh. n.Chr. typischen judenchristlichen Konflikts um die Sabbatfrage immer noch am wahrscheinlichsten, auch wenn die Konfliktbeschreibung letztlich unscharf bleibt und der Begriff „Sabbat" fehlt.330 Aber zusammen mit der Speise- und Götzendienstproblematik sowie der Beschneidungsfrage stellt die Sabbatobservanz das zentrale Identitätsmerkmal des Diasporajudentums dar, weshalb es in der Berührung mit dem christlichen Glauben gerade hier zu theologischen Konflikten kommen musste. Die große Affinität der Konfliktbeschreibung zu ähnlichen juden- und heidenchristlichen Konflikten, die Ausführlichkeit seiner Behandlung und der Bezug zur Gesamtthematik des Römerbriefes lassen auch für die Tageobservanz die Identifikation mit der Sabbatproblematik als plausibelste Lösung erscheinen. Doch damit sind noch nicht alle Fragen beantwortet. Worin lag der eigentliche Dissens in der römischen Gemeinde, wenn es um die Sabbatfrage ging? Ging es um die heidenchristliche Bestreitung des Sabbats zugunsten einer profanen Egalität aller Tage, oder um das Verständnis aller Tage als heiliger Tage? H. Weiss33' hat vorgeschlagen, dass es sich um einen rein innerjudenchristlichen Konflikt hinsichtlich des spezifischen Verständnisses der Sabbatobservanz handelt. Während der eine judenchristliche Teil nur den siebten Wochentag als Sabbat begangen habe, habe der andere ebenfalls judenchristlich denkende Gemeindeteil im Anschluss an ein auch im Thomasevangelium (27,2) belegtes Verständnis der Jesustradition alle Wochentage als Sabbat verstanden wissen wollen, weil er nach Tod und Auf329
BARCLAY, Law, 297f. Möglicherweise wurde die populäre Arbeitsruhe im SiebenTage-Rhythmus auch durch das Aufkommen der Planetenwoche gefördert, die ebenfalls im Sieben-Tage-Rhythmus einen arbeitsfreien Saturntag vorsah. Da Saturntag und Sabbat auf denselben Tag fielen - wie heute noch unschwer am englischen Saturday abzulesen ist - könnten sie sich wechselseitig als arbeitsfreie Tage gefördert haben, was die von den Quellen her sich nahelegende allgemeine Arbeitsruhe erklären würde, ebd. 330 Wie stark das Thema das Judenchristentum beschäftigte, zeigt sich auch an den vielen Sabbatlogien und -perikopen, die Eingang in die Evangelien fanden; vgl. Mk 1,21; 2,23ff.par; 6,2; Mt 12,1-14; Lk 6 , 1 - 1 1 ; 1 3 , 1 0 - 1 7 ; 14,1-6; Joh 5 , 9 - 1 8 ; 7,22f.; 9,14ff. 331 WEISS, Judging of Days, 1 4 2 - 1 5 0 , v.a. 148.
/ . Analyse
der römischen
Konfliktsituation
359
erstehung Jesu den Sabbat der ersten Schöpfungswoche nunmehr jederzeit als gegenwärtig verstand.332 Grundsätzlich aber seien sich alle über die bleibende Bedeutung des Sabbat einig gewesen.333 Es ging nach Weiss also um einen, was die Thematik (nicht die Beteiligten) angeht, durch und durch innerjudenchristlichen Konflikt. 334 Paulus habe deshalb auch nicht Stellung dazu genommen, da es um rein halachische Fragen gegangen sei. So sehr die Hypothese von Weiss sprachlich möglich ist, so unwahrscheinlich ist sie im Blick auf den Gesamtzusammenhang von Rom 14,115,13, wie des gesamten Neuen Testaments. Weiss muss nicht nur eine sehr hypothetische Sabbatanschauung eines Teils des frühen Judenchristentums aus dem im Blick auf seine Datierung und religionsgeschichtliche Einordnung sehr umstrittenen Thomasevangeliums rekonstruieren, sondern auch noch neben dem Streit um die Speisen eine zweite römische Konfliktlinie, die nun innerhalb der römischen Schwachen verläuft, postulieren.335 Außer seiner sprachlich möglichen, aber keineswegs zwingenden Exegese von 14,5+6a gibt es dafür aber keinerlei Anhaltspunkte. Deshalb bleibt es die sinnvollste Lösung, hinter den knappen paulinischen Formulierungen die Behauptung einer prinzipiellen Egalität aller Wochentage von Seiten der Starken anzunehmen. Ob diese Egalität auf der Basis der Profanität oder Heiligkeit aller Tage reklamiert wurde, muss die Detailexegese klären (-» IV.3.5). 1.5 Ergebnisse Aus der Untersuchung des historischen und religionsgeschichtlichen Hintergrundes des in Rom 14,1-15,13 behandelten Konflikts der römischen Gemeinde ergibt sich folgendes Bild: 1. Der Konflikt ist Teil eines historischen Umwälzungsprozesses, der sich in der römischen Christenheit seit dem Claudius-Edikt (49 n.Chr.) v.a. in den 50er Jahren des 1. Jh. n.Chr. vollzog. Während die Gemeinde anfangs noch in den jüdischen Synagogen Roms beheimatet war, vollzog sich mit den messianischen Konflikten, die zum Claudius-Edikt führten, und der Ausweisung der jüdischen und judenchristlichen Führungsschicht ein wesentlicher Wandel. Die Gemeinde konnte nicht mehr länger unter dem 332 WEISS, Judging of Days, 145ff. Die Frage sei nicht gewesen, „whether or not there was a special day, but whether ,the day' was contained in repeated twenty-four hour periods within created time, or present in primordial time and, therefore, available on all days within creation" (152). 333 Für WEISS ist der bestimmte Artikel in V. 6a das entscheidende Signal, dass die grundlegende Bedeutung des Sabbat für beide Parteien unstrittig war. 334 WEISS, Judging of Days, 149: „... it would be difficult to say which of the two positions held at Rome about ,the day' was more Jewish." 335 WEISS, Judging o f Days, 153.
360
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
Dach der Synagoge bleiben, verlor damit aber auch deren politische Privilegien und wurde nolens volens heidenchristlich dominiert. Die damit einhergehenden kulturellen Verschiebungen in der alltäglichen Glaubens-, Lebens- und Gottesdienstpraxis mussten nach der Aufhebung oder dem Vergessen des Edikts in der Regierungszeit Neros (ab 54 n.Chr.) und der nun folgenden Rückkehr zahlreicher Judenchristen in ihre Heimatstadt und -gemeinden zu Spannungen führen. Ob es diese Spannungen sind, die sich hinter dem Konflikt zwischen Starken und Schwachen verbergen, ist im nächsten Kapitel zu prüfen. 2. Die Struktur der römischen Gemeinden war aufgrund der Größe Roms eine fraktionierte und dezentralisierte. Es gab wahrscheinlich eine kleine Zahl von Hausgemeinden, die v.a. in den jüdischen Wohnvierteln in Trastevere und um die Via Appia lagen. Sie setzten sich wohl zunächst v.a. aus den ärmeren und weniger aus den mittleren Gesellschaftsschichten zusammen. Die konkrete Struktur des Informationsaustauschs und evtl. regelmäßiger gemeinsamer Gottesdienste ist nicht mehr zu erhellen. Dass es aber bestimmte Sozialformen gegeben haben muss, wird durch den im Römerbrief vorausgesetzten Informationsaustausch unter den Gemeindegliedern deutlich. Aus der Grußliste in Rom 16 ist ferner erkennbar, dass auch Paulus eine Reihe von Bekannten in Rom hatte, die er von seinem Wirken in Achaia und Asia her kannte und von denen er mehr oder weniger über die Situation der römischen Gemeinden informiert war. Für die Bewertung von Rom 14,1-15,13 könnte dies bedeuten, dass der Mangel an konkreten Hinweisen nicht auf eine nur hypothetische Konstruktion des Konflikts seitens des Paulus zurückzuführen ist, sondern auf den Umstand, dass Paulus in knapper Weise viele Punkte ansprechen und andeuten konnte, die seinen antiken Adressaten konkret vor Augen standen, aber dem heutigen Leser nicht mehr ohne weiteres verständlich sind. 3. Mit dem Römerbrief verbindet Paulus die Absicht einer inhomogenen und zerstrittenen Gemeinde aus Juden- und Heidenchristen, der er selbst weitgehend unbekannt war, eine theologisch-heilsgeschichtliche Bestimmung des gegenseitigen Verhältnisses zwischen Juden und Heiden und ihrer gemeinsamen Situation vor Gott zu geben, nachdem die Tora in ihrer allesbestimmenden und -definierenden Funktion an ein heilsgeschichtliches Ende gekommen ist (Rom 1-11; v.a. 10,4). Wenn es sich bei den in Rom 14,1-15,13 erwähnten Spannungen um einen für die Mitte des 1. Jh. n.Chr. charakteristischen judenchristlich-heidenchristlichen Konflikt handelt, dann wäre die theologische Klärung dieses Verhältnisses eine wesentliche Voraussetzung zur Konfliktlösung. Darüber hinaus sollen die Darlegungen des Römerbriefs als Argumentationshilfe gegenüber dem latenten superstitio-Verdacht der römischen Öffentlichkeit dienen. Seit dem Claudius-Edikt standen Juden und (Ju-
2. Die Starken und Schwachen
in Rom
361
den)Christen unter besonderer Beobachtung seitens der römischen Öffentlichkeit. Schon aus missionarischen Gründen musste Paulus ein immenses Interesse daran gehabt haben, das Stigma der superstitio oder gar ein offizielles Verbot des christlichen Glaubens zu vermeiden. In Rom 1 - 1 1 stellt Paulus den Glauben von Juden und Heiden an Jesus Christus als die sachgemäße Fortsetzung und Vollendung der göttlichen Heilsgeschichte mit dem jüdischen Volk dar. Er tritt mit dieser Darstellung nebenbei auch dem Verdikt entgegen, der christliche Glaube sei etwas neues und irrationales, wie es charakteristisch für viele östlichen Kulte jener Zeit war, die mit dem Stigma der superstitio behaftet wurden. Während das Briefcorpus den beschriebenen Zielen dient, bringt Paulus im Briefrahmen sein persönliches Anliegen einer Mission in Spanien und die dazu nötige römische Unterstützung zu Sprache. Für die Vielzahl der beschriebenen Interessen gibt es kein unmittelbar verbindendes Motiv, was aber weder sachlich notwendig noch von Paulus intendiert war. 4. Die für die römischen Schwachen greifbaren und viel diskutierten Charakteristika der Fleisch- und Weinabstinenz sowie der Kalenderobservanz lassen sich trotz der Vielzahl an alternativen Lösungsvorschlägen immer noch am sinnvollsten auf dem Hintergrund des Diasporajudenchristentums erklären. Das ist bereits ein Fingerzeig für eine mehrheitlich judenchristliche Identität der Schwachen. Es gibt zahlreiche Beispiele, wie Juden in der Diaspora sich im Zweifelsfall eher für die Speiseabstinenz entschieden, als Gefahr zu laufen, sich durch Speisen zu verunreinigen. Dieselbe Motivation dürfte auch hinter dem Halten der Tage stehen. Auch wenn der Begriff „Sabbat" nirgendwo fallt, ist seine Beachtung immer noch der wahrscheinlichste Hintergrund von Rom 14,5f. Schließlich kann es kaum ein Zufall sein, dass mit der Speiseabstinenz und der Sabbatobservanz zwei der wesentlichen Lebensbereiche zur Debatte standen, die neben der Beschneidung und der Nichtteilnahme an paganen Kult- und Religionsvollzügen gerade das Diasporajudentum von seiner hellenistisch-römischen Umwelt unterschied. 336 Diese Ergebnisse müssen sich nun in der Untersuchung der beiden Gruppen bewähren.
2. Die Starken und Schwachen in Rom Dass in diesem Kapitel anders als im vorigen zunächst mit der Analyse der Schwachen begonnen wird, hat seinen Grund darin, dass die Schwachen von den zwei nur schwer fassbaren Gruppen in Rom 14,1-15,13 die im 336 Vgl. zum Zusammenhang von Speiseabstinenz und Sabbatobservanz CD 10,22f.; Jos Ant 11,346; Mk 2,23-3,5.
362
Kapitel
IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
Text profilierteren sind. Während im 1. Korintherbrief die Starken von Paulus mit Hilfe der zitierten Slogans deutlich prägnanter beschrieben werden als die Schwachen, verhält es sich im Römerbrief umgekehrt: In einem an konkreten Informationen armen Text verrät Paulus von den Schwachen noch etwas mehr als von den Starken. Letzteren lässt sich ein Profil fast ausschließlich über die Kontrastierung gegenüber den Schwachen und dem Vergleich mit dem historischen Datenmaterial abgewinnen. 2.1 Die Schwachen in Rom Die Schwachen in Rom unterscheiden sich in einer Reihe wesentlicher Punkte von den Schwachen in Korinth. Der auffalligste und für die Identifikation entscheidende Punkt ist das Fehlen des Stichworts elöGoA.oöuToi' und damit der gesamten Götzen(opfer)thematik, die in IKor 8,1-11,1 die paulinische Argumentation beherrscht (vgl. 8,1.4.7.10; 10,19). Sollte dieses Motiv bei der Fleischabstinenz der römischen Schwachen eine Rolle gespielt haben, so wird es in Rom 14,1-15,13 jedenfalls an keiner Stelle explizit erwähnt. Umgekehrt ist der Schlüsselbegriff für das zentrale Motiv der römischen Fleischabstinenz k o i v ö v (Rom 14,14) ein paulinisches hapax legomenon und spielt entsprechend in Korinth keine Rolle, ebenso wenig wie das in Rom 15,8 thematisierte Verhältnis von Juden und Heiden bzw. irgendeine andere spezifisch judenchristliche Thematik. 337 Von eher untergeordneter Bedeutung ist die unterschiedliche Charakterisierung der korinthischen Schwachen durch ihr „schwaches Gewissen" und der römischen Schwachen durch ihren „schwachen Glauben". Die Schlüsselbegriffe für die Beschreibung ihrer Schwäche, nämlich auv6 l ö t i o l ; bzw. t t l o t l c , tauchen im jeweils anderen Kontext überhaupt nicht auf.338 Es gibt darüber hinaus auch eine Reihe soziologischer Unterschiede: Während es sich in Korinth um eine unorganisierte Anzahl von Einzelpersonen gehandelt hat, die nirgendwo mit eigener Stimme sprechen, handelt es sich in Rom um eine durchaus selbstbewusste Gruppe innerhalb der Gemeinde, deren Umrisse sich vor allem aus den beiden Merkmalen der Fleischabstinenz und Kalenderobservanz ergeben. Ihr Selbstbewusstsein äußert sich in einer kritischen Haltung gegenüber den Starken, deren unbegrenzter Fleischkonsum offensichtlich theologisch als illegitim verurteilt wird (14,3.10). Schneller als die Unterschiede lassen sich die Gemeinsamkeiten beider Gruppen auf den Nenner bringen: Bei beiden Personenkreisen bestehen 337
Vgl. hierzu auch TOMSON, Law, 243. Ausnahme ist lediglich das oiicoi'onica' iT€TTtoT€u^i(xi in IKor 9,17, das aber eine völlig andere Bedeutung hat als in Rom 14. 338
2. Die Starken und Schwachen
in Rom
363
innere Widerstände gegenüber Fleisch: in Korinth gegenüber potentiellem Götzenopferfleisch, in Rom gegenüber jeglichem Fleischgenuss. In beiden Gemeinden scheinen psychisch-emotionale Gründe eine wesentliche Rolle für die selbstauferlegte Abstinenz zu spielen, was für Rom noch zu zeigen sein wird. Analog zum korinthischen Konflikt steht auch bei den römischen Schwachen aus paulinischer Sicht nicht weniger als die Gottesbeziehung auf dem Spiel (vgl. 14,15). Dies zeigt die Angst vor einer Betrübung, ja Zerstörung des Bruders. Es wird wiederum deutlich, wie sehr die Speisefrage das Selbstverhältnis des Menschen betrifft und zum Prüfstein für die Gemeinschaft wird. 2.1.1 Forschungsgeschichtliche
Identifizierungsversuche
Entsprechend der Pluralität vegetarischer Motivationen sind auch die Identifizierungsversuche hinsichtlich der Schwachen zahlreich. Die entscheidende Rolle spielt dabei das Motiv der Fleischabstinenz, das gegenüber dem zweiten Motiv der Kalenderobservanz deutlich im Vordergrund steht. 2.1.1.1 Synkretistisches
(Juden- oder
Heiden)Christentum?
Die religionsgeschichtliche Schule präferierte die Ableitung aus einem synkretistischen Milieu jüdischer oder paganer Provenienz, das (früh-) gnostisch beeinflusst gewesen sein soll.339 Da sich jedoch bis heute die Existenz einer vorchristlichen Gnosis nicht belegen lässt und die frühesten gnostischen Systembildungen erst in der Mitte des 2. Jh. greifbar sind, konnte sich die Hypothese nicht durchsetzen (—> IV. 1.3.3). Neben den ungelösten chronologischen Schwierigkeiten bleibt auf der Textebene auch die Verurteilung der Starken durch die Schwachen (Rom 14,10-13) unerklärlich, ebenso wie die konziliante Haltung von Paulus. Wenn der Praxis der Fleischabstinenz und Tageobservanz von den Schwachen nach wie vor ein heilsnotwendiger Charakter beigemessen worden wäre, dann hätte Paulus mit Sicherheit ähnlich reagiert wie in Gal 4,10f. (vgl. auch Kol 2,16ff.). 340 2.1.1.2 Pagan-philosophischer
Hintergrund?
Überblickt man die dargestellten philosophischen und paganen Motive für eine Fleisch- und/oder Weinabstinenz (-» IV. 1.3.1-2), so scheiden die hy-
339 Für die jüdische Variante einer synkretistischen Herleitung sprechen sich z.B. BORNKAMM, lixava, 6 6 - 6 8 ; KÄSEMANN, Röm, 352; BARRETT, Rom, 257f., und KLAUCK, Herrenmahl, 282, aus. Die pagane Variante bevorzugen RAUER, Die Schwachen, 165, und NABABAN, Bekenntnis, 101 („enkratistische Tendenzen"). SCHLIER, Röm, 403—406, bleibt unentschieden. 340 WLLCKENS, Röm III, 112; M o o , Röm, 830, Anm. 17.
364
Kapitel
IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
gienischen Motivationen 341 schnell aus. Die Vehemenz, mit der die Schwachen ihre Position verteidigen, sowie die paulinische Angst vor der Zerstörung des Bruders bzw. seines Gottesverhältnisses, die durch die Begriffe irp00K0|inoßoij[i6voi T O T 9 E Ö V ) vermutet (-» IV. 1 . 1 . 1 ).352 Unterstützung findet diese Position bei P. Lampe, der ebenfalls eher an Gottesfürchtige aus dem Umfeld der Synagoge als an Judenchristen denkt.353 In der Tat spielte diese Gruppe von Sympathisanten der jüdischen Frömmigkeit eine wichtige Rolle in den frühen christlichen Gemeinden 354 und in Analogie zu den römischen Schwachen zeichneten sie sich auch durch die Einhaltung eines Teils der jüdischen Speise- und Kalenderobser348
V g l . auch CRANFIELD, S o m e O b s e r v a t i o n s ,
1 9 5 f . RAUER, D i e S c h w a c h e n ,
97,
w e i s t d a r a u f h i n , dass anders als bei den S c h w a c h e n in Korinth die F l e i s c h a b s t i n e n z der r ö m i s c h e n Christen nicht e m o t i o n a l e r , sondern prinzipieller Art ist. Es s t e h e n nicht nur v a g e Ä n g s t e im Hintergrund, sondern r e l i g i ö s e Ü b e r z e u g u n g e n . 349
CRANFIELD, R o m II, 6 9 2 f .
350
E i n e w e i t e r e H y p o t h e s e hat GLAD, P h i l o d e m u s , 2 3 1 , in d i e Debatte e i n g e b r a c h t ,
i n d e m er s o w o h l die korinthischen w i e d i e r ö m i s c h e n Gruppen in e i n e A n a l o g i e z u e p i k u r e i s c h e n G e m e i n s c h a f t e n in A t h e n , N e a p e l und H e r c u l a n e u m bringt. Es ist j e d o c h nur z u deutlich, d a s s d i e s e s h y p o t h e t i s c h e Konstrukt, w i e er e s s e l b s t nennt, m e h r v o n seiner T h e s e einer g e m e i n d e i n t e r n e n G r u p p e n p s y c h a g o g i k a n a l o g z u m E p i k u r e i s m u s gestützt wird, als v o n der j e w e i l i g e n T e x t b a s i s . 351
SCHMITHALS, R o m , 4 9 1 f.; DERS., P r o b l e m , 7 4 f f . 8 3 f f . 1 0 1 . 1 0 3 .
352
V g l . d a z u SIEGERT, G o t t e s f u r c h t i g e , 1 0 9 - 1 6 4 .
353
LAMPE, D i e s t a d t r ö m i s c h e n Christen, 56. Er v e r w e i s t a u f die T a t s a c h e , dass die
O b s e r v a n z v o n S p e i s e v o r s c h r i f t e n und b e s t i m m t e n T a g e n auch für d i e oeßonevoi b e l e g t ist (Jos A p 2 , 2 8 2 ; v g l . Tert N a t 1,13), und z w a r ausdrücklich auch für die G o t t e s f ü r c h t i g e n in R o m ( l u v Sat 1 4 , 9 6 - 1 0 6 ; Hör Sat 1 , 9 , 6 8 - 7 2 ) . 354
V g l . A c t 1 6 , 1 4 f . ; 1 7 , 4 . 1 2 ; 18,7; u.ö.
2. Die Starken und Schwachen
in Rom
367
vanz aus. Allerdings ist von ihnen im Kontext des Römerbriefs gerade nichts erwähnt und auch die innere Logik spricht eher gegen eine „gottesfürchtige Mehrheit" bei den Schwachen. Denn die partielle Speise- und Kalenderobservanz der Gottesfürchtigen war lediglich von dem Wunsch her motiviert, an der synagogalen Gemeinschaft und ihrem Gottesdienst teilnehmen zu dürfen. Hierzu war dieses Minimum an Toraobservanz unabdingbar. Zu einer vollen Toraobservanz, wie sie Proselyten auf sich nahmen, um damit Vollmitglieder der jüdischen Gemeinde zu werden, sahen sie sich nicht in der Lage. 355 Für sie war die rudimentäre Toraobservanz also ein gewisser Kompromiss. Dieser war aber mit ihrer Hinkehr zum christlichen Glauben obsolet. Wenn daher Judenchristen oder Proselyten auch als Christen die Toraobservanz übten, ist dies aufgrund ihrer kulturellen Identität verständlich, bei Gottesfürchtigen wäre es dagegen merkwürdig gewesen. Von daher ist es zwar nicht auszuschließen, dass sich auch eine bestimmte Anzahl Gottesfurchtiger aus einer inneren Gewissensbindung zu den Schwachen hielt, aber in ihrer Mehrheit dürften sie sich eher bei der Position der Starken wiedergefunden haben. 356 2.1.1.6 Urchristliche
Bußbewegung?
Eine neue Identifikation der Schwachen bietet K. Berger. Er möchte in den Schwachen „Anhänger eines Christentums, das sich erkennbar als Bußbewegung auffaßt" verstehen. 357 In Analogie zu den frühjüdischen Nasiräern358 sieht er in den Schwachen Christen, die das ganze Leben als strenge Buße betrachteten. Denselben Typus von Christentum sieht er auch in den Täuferjüngern in Ephesus (vgl. Act 19,2f.). Das entscheidende Manko dieser Gruppe war nach Berger ihr defizitäres Taufverständnis, konkret das Fehlen einer Geisttaufe. Mittels dieser Geisttaufe hätte auch das Problem der Schwachen in Rom 14 gelöst werden können, denn allein der Geistbesitz eröffne die Freiheit zum Essen alles vorher Unreinen. Die „Schwäche im Glauben" (14,1) sei demnach ein „Mangel an Kraft durch den heiligen Geist" gewesen. 359 Das Problem dieser Identifikation ist das Postulat eines lebenslangen Nasiräats, das lediglich in einer späten und historisch kaum belastbaren Notiz für Jakobus den Herrenbruder bezeugt ist.360 Alle anderen Formen einer Bußabstinenz waren zeitlich befristet im Gegensatz zur Abstinenz der römischen Schwachen. Die Verbindung der Schwachen mit den ephesini355
SIEGERT, G o t t e s f ü r c h t i g e , 1 4 0 f .
356
SCHNEIDER, Die Schwachen, 126ff. BERGER, Theologiegeschichte, 184. Dan 4,33aLXX; TestRub 1,10; Jub 33,9syr; Lk 1,15; Euseb HE 2,23,5. BERGER, Theologiegeschichte, 185. Euseb HE 2,23,5.
357 358 359 360
368
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen
in Rom
sehen Täuferjüngern bzw. mit einer fehlenden Geisttaufe, sowie die Definition der „Schwäche im Glauben" als „Mangel an Kraft durch den heiligen Geist" ist dagegen ein reines Postulat und hat keinerlei Anhaltspunkte auf der Textebene. 2.1.1.7 Nichtchristliche
Juden?
Ein völlig neuer Vorschlag für die Identität der Schwachen kommt von M.D. Nanos. Er will die Schwachen als nichtchristliche Juden verstehen36' und den Streit in Rom 14,1-15,13 als einen Konflikt, der seinen Ort noch innerhalb der jüdischen Synagogen hatte. Das Gruppenattribut „Die Schwachen (im Glauben)" beziehe sich folglich auf den von den Schwachen noch nicht angenommenen Glaubens an Jesus Christus. Verbunden seien die beiden Gruppen lediglich durch den Glauben an Gott.362 Eine ausführlichere Darstellung seiner Position wurde bereits im forschungsgeschichtlichen Überblick gegeben (—» 1.4.9), weshalb an dieser Stelle gleich in gebotener Kürze die Kritik seiner These folgen kann.363 1. Sowohl die Gruppenattribute „die Starken/ die Schwachen" als auch die Appelle in Röm 14,1 und 15,1 machen deutlich, dass sich die Starken gegenüber den Schwachen in der dominierenden Position befinden. Dies ist bei einem innersynagogalen Konflikt zwischen nichtchristlichen Juden und christlichen Gottesfurchtigen nicht vorstellbar. Auch wenn sich der Konflikt v.a. in den Hausgemeinden der Gottesfürchtigen abspielte, bleibt die Frage, warum nichtchristliche Juden dort hätten hingehen sollen. 364 Genauso wenig vorstellbar ist, wie Paulus als im Judentum heftig umstrittener Missionar der Heidenchristen einer starken und selbstbewussten nichtchristlichen Judenschaft Anweisungen geben könnte (vgl. 14,3f.l0b-12). 3 6 5 2. ITLOTK; bezieht sich bei Paulus immer auf den Glauben an Jesus Christus. Es gibt keinen paulinischen Beleg für eine Verwendung des Begriffs als Bezeichnung des jüdischen Gottesglaubens. 3. Wenn Paulus die Schwachen als „Brüder" anspricht und sie auch den Starken als solche in Erinnerung ruft (14.10.13.15), kann es sich nur um Christen handeln. Nanos kann zwar einen Beleg fiir die Bezeichnung der Juden als Brüder des Apostels aufbieten (Röm 9,3), aber keinen für die Bruderschaft zwischen Juden und Heidenchristen. 366 Seine theologischen Ableitungsversuche sind systematischer, nicht exegetischer Natur. Es gibt keinen einzigen ntl. Beleg, der einen nichtjüdischen Christen und einen nichtchristlichen
Mystery, 95-119.143f.
361
NANOS,
362
NANOS, M y s t e r y , 2 1 , A n m . 1.
363 Eine ausfuhrliche Kritik von N A N O S ' These wurde u.a. bereits von G A G N O N , Weak, veröffentlicht. Neben seinen Einwänden werden hier noch eigene Kritikpunkte ergänzt. 364
GAGNON, W e a k , 6 5 f.
365
GAGNON, W e a k , 6 6 f .
366 N A N O S , Mystery, U l f . Die Belege in Anm. 75 beziehen sich alle auf einen innerjüdischen Begriffsgebrauch.
2. Die Starken und Schwachen in Rom
369
Juden als „Brüder" bezeichnet. Die Bezeichnung wird lediglich innerjüdisch bzw. innerchristlich verwandt. 367 4. Die Beziehung von 14,7f. auf Christen und Juden 368 ist unmöglich, da die beiden Verse ihre Begründung von V. 9 her erhalten. Diese Begründung aber ist ausschließlich christologisch, was sie als Argument gegenüber Juden untauglich macht. 369 Abgesehen davon ist auch die von Nanos für Röm 14,1-8 behauptete ausschließliche Beziehung von KupLog auf Gott unwahrscheinlich, da sich in allen anderen 22 Belegen von KÜpLoc im Röm der Begriff auf Christus bezieht. 370 5. Nach dem Claudius-Edikt sind die von Nanos vorausgesetzten Verhältnisse kaum mehr denkbar. Entsprechend muss er versuchen, die Bedeutung des Claudius-Edikts als unerhebliche Randerscheinung ohne größere Auswirkungen herunterzuspielen, oder die Beziehung des Konflikts auf die Christusfrage zu bestreiten. 371 6. Wenn die Schwachen Juden waren und das Claudius-Edikt lediglich eine marginale Episode ohne größere Konsequenzen war, bleibt unklar, warum diese Juden Probleme mit der Versorgung mit koscherem Fleisch hatten und kein Wein zur Verfugung gestanden haben sollte, der vorher nicht für Libationen verwendet worden wäre. 7. Es gibt in der gesamten paulinischen Briefliteratur nicht einen Hinweis, der auf eine paulinische Übernahme des Aposteldekrets bzw. der noachidischen Minimalforderungen für Heidenchristen hindeutet.
2.1.1.8. Judenchristlicher
Hintergrund
Die überwiegende Mehrzahl der Forscher und Exegeten geht von einem judenchristlichen Hintergrund bei den Schwachen aus und sieht den Kern des Konflikts im Problem der jüdischen Speiseregelungen. 372 Dass es sich bei den Schwachen vornehmlich um Judenchristen handelt, ist durch folgende Überlegungen begründet:373 1. Das entscheidende und zentrale Argument ist nach wie vor die Verwendung des Begriffs KOIVOC, der in 14,14 die Bedeutung des hebräischen XDQ hat,374 und des konträren Begriffs Kaöapöc als Äquivalent von nintp in GAGNON, Weak, 67f., weist daraufhin, dass „(w)ithout exception, the 108 unqualified references to .brothers' in Pauline literature and the twenty in deutero-Pauline literature are references to Christian brotherhood' (kursiv bei G.). 368 NANOS, Mystery, 114. 369 Vgl. GAGNON, Weak, 68f. Interessanterweise wird Röm 14,9 bei N A N O S nicht ein einzigesmal erwähnt! 367
370
Vgl. GAGNON, W e a k , 69f.
371
NANOS, M y s t e r y , 3 7 2 - 3 8 7 , v.a. 3 8 4 .
372
ZAHN, R ö m , 5 7 1 f f . ; WILCKENS, R ö m
III,
11 I f f . ; HAACKER, R ö m , 2 7 8 . ;
CRAN-
Röm, 694ff.; LAMPE, Die stadtrömischen Christen, 57; DUNN, Röm II, 795ff.; WEDDERBURN, Reasons, 32ff.; WATSON, Congregations, 203ff.; DERS., Paul, 94f.; BARCLAY, Law, 289-293; BRUCE, Röm, 244; MLNEAR, Obedience, 9-11; MICHEL, Röm, 420; STUHLMACHER, Röm, 195; Moo, Röm, 829. Zu den älteren Exegeten vgl. RAUER, Die Schwachen, 108-120. 373 Vgl. CRANFIELD, Some Observations, 197-199. 374 Merkwürdig ist allerdings der Befund, dass in der Septuaginta das hebräische KOti nicht ein einziges Mal mit dem griechischen KOivöq übersetzt wird. „Während die AbleiFIELD,
370
Kapitel
IV: Der Konflikt
zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
14,20.375 Die beiden Begriffe sind fest in der jüdischen Kulttora verankert. Während Ka6apö IV.3.2). Für Paulus steht das Verhältnis von Schwachen und Starken in einer Entsprechung zum Verhältnis von Juden(christen) und Heiden(christen), was er mit einer Reihe von Schriftbeweisen in Rom 15,9b-12 unterstreicht. Dass Paulus den gesamten Textkomplex mit diesem Abschnitt abschließt, lässt sich kaum anders erklären, als dass zwischen Starken und Heidenchristen sowie zwischen Schwachen und Judenchristen eine weitgehende, wenn auch nicht totale, Identität besteht.379 Der Schlüsselbegriff in den Schriftbeweisen ist eövri. Für Paulus ist die Tatsache, dass Gott sowohl Schwache wie Starke, Juden wie Heiden in sein
t u n g s g r u p p e Ka0ap6 II. 3.6.4). V. 15 schließt inhaltlich an V. 13 an und charakterisiert V. 14 - wie schon erwähnt - als Paranthese. Hier nun fällt mit der Liebe das zentrale Stichwort, das die gesamte Paränese 12,1-15,13 zusammenhält und als Maßstab des Handelns an die Stelle der jüdisch-kasuistischen Toraobservanz getreten ist.570 Die Argumentation bewegt sich nun in den gleichen Bahnen wie in IKor 8,7-13. Wie in IKor 8,11 muss auch hier ¿TroA.A.ueiv im Sinne des eschatologischen Heilsverlustes verstanden werden, 57 ' und ebenso dient der Hinweis auf den Sühnetod Christi als Erinnerung an die
567 Im jüdischen Sprachgebrauch sind beide Begriffe eng mit der Polemik gegen den paganen Götzendienst verknüpft (npooKomia: Ex 23,33; 34,12; Jer 3,3; 1QS 2,11f. 17; oiccti'SaXcw: Jos 23,13; Jdc 2,3; 8,27; ¥ 105,36; Hos 4,17LXX; Zeph l,3Symm; SapSal 14,11; IMakk 5,4). Während dieser Hintergrund in IKor 8,9.13 deutlich mitschwingt, ist der Gebrauch der beiden Begriffe hier vielmehr durch die Aufnahme der Argumentationsstrategie von IKor 8 her erklärbar, vgl. DUNN, Rom II, 817. 568 Vgl. auch THEOBALD, Erkenntnis, 498f. Die Begriffe iTpooKoniia und ai«xvöaA.ov gehören zum paulinischen Grundwortschatz (vgl. Rom 9,32f.; 11,9; 14,13.20f.; 16,17; IKor 1,23; 8,9; Gal 5,11), sind aber auch darüber hinaus im Neuen Testament belegt (vgl. IPetr 2,8; Uoh 2,10; Apk 2,14). Die Kombination beider Begriffe schließt an Jes 8,14 an. Dass dieser atl. Vers sowohl in Rom 9,32f. als auch in IPetr 2,8 zitiert wird, legt die Vermutung nahe, dass der Vers ähnlich wie Ps 118,22 und überhaupt die Rede vom Anstoß und Ärgernis ein fester Bestandteil der urchristlichen Tradition war, vgl. CRANFIELD, Rom II, 51 lf. Ob Paulus hier auch auf Jesustradition Bezug nimmt (vgl. Mt 18,6f.; Mk 9,42; Lk 17,lf.), lässt sich allenfalls vermuten, aber kaum beweisen; vgl. MÜLLER, Anstoß, 42^14; DUNN, Röm II, 818; THOMPSON, Clothed, 174-184 (-> Exkurs 9). 569 Vgl. neben IKor 8,7-13 nur Mt 18,6-9; Mk 9,42^l8par; Lk 17,1 f. 570 Vgl. Röm 12,9a. 16; 13,8-10. 571 Das Verb ¿ITOXA.I)6LV mit personalem Objekt bezieht sich bei Paulus - abgesehen von drei Belegen - immer auf den Heilsverlust (vgl. Röm 2,12; IKor 1,18; 8,11; 15,18; 2Kor 2,15; 4,3; 2Thess 2,10; die Ausnahmen sind IKor 10,9.10 sowie 2Kor 4,9). Vgl. dazu die grundsätzlichen Einwände von GUNDRY-VOLF, Perseverance, 85-97, und die Replik von M o o , Röm, 854f., Anm. 28.
3. Paulinische
Argumentationslinien
in Rom
14,1-15,13
417
Ungeheuerlichkeit solchen Tuns.572 Schließlich steht wie in IKor 8,7-13 auch hier die unausgesprochene Voraussetzung im Hintergrund, dass der Mensch in dem Moment, in dem er in ein Spannungsverhältnis zu sich selbst gerät, auch in ein Spannungsverhältnis zu Gott gerät. Ist er in seinem Selbstverhältnis zerrissen, ist er dies auch in seinem Gottesverhältnis. Auch hier ist es für Paulus völlig unerheblich, ob die innere Zerrissenheit des Schwachen eine objektive Berechtigung hat oder nicht (-» Exkurs 11). Auch wenn der Starke mit seiner liberalen Praxis Paulus grundsätzlich auf seiner Seite hat, ist seine Erkenntnis im Blick auf die Speise nachrangig gegenüber dem Heil des Bruders. In V. 15 wird wie schon in IKor 8,7-13 deutlich, wie der ethische Maßstab der Liebe in eine Spannung zur Freiheit im Glauben treten kann. Die Priorität hat in diesem Spannungsverhältnis aber stets die Liebe.573 3.9.2
Rom
14,19-23
V. 19 zieht die paränetische Konsequenz aus der Indifferenz der Speise und der Superiorität der Gerechtigkeit, des Friedens und der Freude für das Reich Gottes (V. 17f.).574 Die Formulierung „dem Frieden nachjagen" ist atl.-jüdisch formuliert, war aber wohl eine im Urchristentum sehr gebräuchliche Redewendung. 575 Wie in IKor 8,1.10 fallt das Stichwort oiKoöonelv, hier allerdings eindeutig nicht im ironischen Sinn (vgl. IKor 8,10), sondern in der genuin paulinischen Begriffsbedeutung der wechselseitigen Auferbauung zum Leib Christi.576 Der Begriff geht auf eine breite und facettenreiche atl. und
572
BENGEL, G n o m o n , 9 0 , kommentiert prägnant: „Ne pluris feceris tuum cibum, quam Christus vitam suam ( S c h ä t z e deine S p e i s e nicht höher als Christus sein Leben g e s c h ä t z t hat)." 573
Ä h n l i c h SEGAL, Other Judaism, 180. Im B l i c k auf die textkritische E n t s c h e i d u n g bei öi.cko(co)nev z w i s c h e n Adhortativ und Indikativ g e h e n die Urteile der E x e g e t e n auseinander. Während sich KÄSEMANN, R o m , 3 6 2 , und MLCHEL, R o m , 4 3 6 , A n m . 2 6 , für die w e s e n t l i c h besser b e z e u g t e Indikativform (K A B F G L F 0 4 8 . 0 2 0 9 . 6 . 3 2 6 . 6 2 9 al) entscheiden, sprechen sich der N e s t l e Text 2 7 , WILCKENS, R ö m III, 94, CRANFIELD, R o m II, 7 2 0 f . , und MOO, R ö m , 8 4 9 , A n m . 1, für den Adhortativ ( C D f 3 3 . 1 7 3 9 . 1 8 8 1 ZH latt c o ) aus. CRANFIELD begründet s e i n e E n t s c h e i d u n g damit, dass in den alten Manuskripten in der R e g e l eher e i n u in ein o verw a n d e l t wurde als umgekehrt und dass der Adhortativ einen b e s s e r e n Ü b e r g a n g v o n V. 17f. zu V. 2 0 - 2 3 schafft. A n g e s i c h t s der geringen T r a g w e i t e der Entscheidung k ö n n e n wir die Frage hier o f f e n lassen. 574
575
V g l . ¥ 3 3 , 1 5 ; 2 T i m 2 , 2 2 ; Hebr 12,14; IPetr 3 , 1 1 ; s o w i e WILCKENS, R ö m III, 94, A n m . 4 6 7 und die B e l e g e bei Bill. I, 2 1 5 - 2 1 8 ; III , 7 4 8 . 7 6 5 . 576
V g l . R ö m 15,20; IKor 3 , 1 0 f f . ; 1 4 , 3 . 5 . 1 2 . 2 6 ; 2 K o r 10,8; 12,19; 13,10.
418
Kapitel IV: Der Konflikt zwischen Starken und Schwachen in Rom
frühjüdische Bilderwelt zurück, in der der Hausbau zu festen Bestandteil der religiösen Sprache zählt.577 Im negativen Kontrast zum Stichwort „Auferbauung" (V. 19) und in Aufnahme des Stichworts ¿iroAAueiv aus V. 15 sowie chiastischer Anknüpfung an die V. 14f.578 kommt Paulus in V. 20 noch einmal auf die zumindest am Horizont sich abzeichnende Möglichkeit der Zerstörung des schwachen Bruders im Sinne des eschatologischen Heilsverlustes zu sprechen.579 Hat Paulus ihn in IKor 8,11 als einen Bruder charakterisiert, „für den Christus gestorben ist", so beschreibt er ihn hier einfach als tö epyov TOÜ öeoü.580 Das Ziel dieser Titulierung entspricht ganz der korinthischen Umschreibung: Paulus will den Starken die schwachen Brüder als Menschen vorstellen, an denen Gott durch sein Schöpfungs- und Heilshandeln gewirkt hat und die deshalb einen unüberbietbaren Wert und eine unantastbare Würde besitzen. Eine Zerstörung dieses „Werkes" käme einem Vergehen gegenüber Gott selbst gleich. Wie sehr Paulus sich um die Balance zwischen theologischer Wahrheit und seelsorgerlicher Rücksichtnahme bemüht, kommt im zweiten Versteil zum Ausdruck, der mit seinem prinzipiellen Zugeständnis und der angeschlossenen Einschränkung an IKor 10,23 erinnert. Paulus will gegenüber seinen starken Adressaten an dieser Stelle verdeutlichen, dass die Rücksichtnahme auf die Schwachen keine Preisgabe von deren (und seiner eigenen!) theologisch richtiger Einsicht bedeutet: Prinzipiell ist jede Speise - ja im Grund jede Schöpfungsgabe Gottes - „rein" (vgl. Lk 11,41; Tit 1,15; sowie IKor 8,8; 10,19.26).58' Die Erklärung, warum etwas, was prinzipiell vor Gott „rein" ist, dennoch einen Menschen zerstören kann, erfolgt im dritten Satzteil. Zwar fallt 577 Vgl. Ps 89,4; 102,16; 147,2; Jer 1,10; 12,16; 3 1 [ L X X 38],4.28; 3 3 [ L X X 4 0 ] , 7 ; 4 2 [ L X X 4 9 ] , 1 0 ; 4 5 , 4 [ L X X 5 1 , 3 4 ] und im N T IKor 3,9; 2Kor 5,1; Eph 2,21; IPetr 2,4
u.ö. 578
V. 2 0 a entspricht V. 15 und V. 2 0 b den beiden Aussagen in V. 14. Der Begriff KaxaXw iv bildet dabei den sachlichen G e g e n b e g r i f f zu oLKoöo|iei>, v o n dem im vorigen Vers die Rede war (vgl. zum Begriff Mt 5,17; 24,2; 2 6 , 6 1 ; 2 7 , 4 0 ; 2Kor 5,1; Gal 2,18). 580 Anders SCHLIER, Rom, 4 1 7 , BARRETT, Röm, 2 6 5 , und KÄSEMANN, Rom, 3 6 2 , die hier eine Umschreibung der Gemeinde bzw. Kirche sehen möchten. V o m Kontext her ist j e d o c h die B e z i e h u n g auf den schwachen Bruder näherliegender. STUHLMACHER, Röm, 2 0 2 , will die Alternative erst gar nicht gelten lassen und sieht den Einzelnen und die Gemeinde als Ganze mit der Umschreibung angesprochen. 579
581 Auch hier ist die Antithese „rein - unrein" auf dem Hintergrund der frühjüdischen Diskussionen der nachmakkabäischen Ära bezüglich kultischer Reinheit zu verstehen: vgl. z.B. Jdt 10,5; 12,9; IMakk 1,48; PsSal 8,12.22; Arist 166; TestLev 15,1; 16,4f.; Philo S p e c L e g 4 , 1 0 0 - 1 1 8 ; Virt 147; Jos A p 1,307). D i e s e atl.-jüdische Konzeption von Reinheit wurde anderswo im N e u e n Testament zugunsten einer moralischen Konzeption verdrängt (vgl. Mt 5,8; Joh 15,3; l T i m 1,5; 3,9; Jak 1,27; siehe v.a. IPetr 1,22).
3. Paulinische
Argumentationslinien
in Rom
14,1-15,13
419
wie in IKor 8,9 das entscheidende Stichwort irpÖ0K0|i|ia, aber ebenso wenig wie in IKor 8,7-13 gibt Paulus hier eine explizite anthropologische Begründung dafür, warum der Verzehr einer vor Gott legitimen Speise das Gottesverhältnis eines Menschen beeinträchtigen, ja sogar „zerstören" kann. Diese erfolgt erstmals und einzig in V. 23. Wie in IKor 8,13 kommt Paulus auch hier in V. 21 auf den völligen Fleischverzicht zugunsten des Schwachen zu sprechen, wobei der Begriff „Fleisch" (Kpea) nur hier fällt. Während Paulus den Fleischverzicht in IKor 8,13582 als persönliches Gelübde formuliert, gibt er ihm hier die Form einer objektiven, thetischen Aussage583 und ergänzt die Fleischabstinenz noch um die Weinabstinenz. Wie gezeigt (-> IV.1.3.4; IV.2.1.1), ist der Hintergrund der Fleischabstinenz in den jüdischen Speise- und Reinheitsgeboten zu sehen, konkret dem Verbot von ungeschächtetem Fleisch, was auch immer die konkreten Hintergründe für den Versorgungsmangel gewesen sind. Schwieriger ist die Erwähnung der Weinabstinenz einzuordnen. Die Weinabstinenz ist auf jüdischem Hintergrund eigentlich nur erklärbar, wenn nicht gewährleistet werden konnte, beim Kauf keinen Libationswein zu erhalten, der bei paganen Opferfeiern Verwendung fand. Für Juden war der Verzicht schon dann angezeigt, wenn auch nur die Gefahr einer potentiellen Verunreinigung bestand. Es sollte allerdings auch nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei der Erwähnung der Weinabstinenz lediglich um ein literarisches Beispiel des Apostels handelt, das im Unterschied zur Fleischabstinenz und Tageobservanz keinen realen, sondern nur einen hypothetischen Hintergrund hat. Dafür spricht, dass von Wein in der einführenden Konfliktdarstellung in V. 2 - 6 nirgendwo die Rede war. Möglicherweise hat Paulus das Beispiel nur im Anschluss an das Begriffspaar „Speise und Trank" in V. 17 gewählt.584 Paulus formuliert an die römischen Starken somit nicht nur die Bitte, sondern mehr noch die Erwartung, sich der Abstinenz der Schwachen anzupassen, um keinen Anstoß zu erregen und die Schwachen so in ihrem Selbstverhältnis und in der Konsequenz in ihrem Gottesverhältnis zu irritieren.585 582
THOMPSON, Clothed, 179, macht darauf aufmerksam, dass die Parallelen zur Jesustradition durch den transitiven Gebrauch von axavhaXl^iv (vgl. Mk 9,43—47; Mt 1 8 , 8 9; 5 , 2 9 - 3 0 ; 17,27) nirgendwo größer sind als in IKor 8,13. Möglicherweise rekurriert Paulus also auch in Rom 14,21 auf Jesustradition. Beweisen lässt sich dies freilich ebenso wenig wie in 14,13b+14. 583 MICHEL, Röm, 437, spricht von einem apostolischen Lehrentscheid mit normativer Sprache. 584
585
C R A N F I E L D , R ö m II, 7 2 5 .
Der textkritisch belegte Zusatz fj OKavöcaiCcxai n aoeevet (p 4 6 v i d x 2 B D F i n lat sy h usw.) erklärt sich am besten als von IKor 8 , 1 1 - 1 3 her motivierte spätere Auffüllung,
420
Kapitel
IV: Der Konflikt zwischen
Starken
und Schwachen
in Rom
Wie sehr sich Paulus um Ausgewogenheit bemüht, zeigt sich gleich im nächsten Vers. Wieder betont er in V. 22 die objektive Legitimität der starken Position. Ihr Glaube hinsichtlich der Speisefrage findet Gottes Wohlgefallen und kann und soll deshalb von den Starken in ihrem Gottesverhältnis festgehalten, aber in der Gemeinde nicht offensiv kämpferisch vertreten werden.586 Umgekehrt macht Paulus hier auch deutlich, dass der Verzicht auf die Ausübung der im Glauben begründeten Freiheit nicht gleichzusetzen ist mit dem Verrat am eigenen Glauben. Möglicherweise gründete das Beharren einiger Starker auf den theologischen Freiheitsrechten in der Annahme, durch ihre Preisgabe den eigenen Glauben und damit die Wahrheit des Evangeliums zu verraten. Falls dieser Gedanke unter den Starken virulent war, so weist Paulus ihn hier als unbegründet zurück.587 In V. 22b und V. 23 erklärt Paulus sowohl in positiver wie in negativer Wendung die eigentliche anthropologische Problematik der Schwachen. Zunächst bestätigt Paulus in Form einer Seligpreisung die Starken: „Selig ist, wer sich nicht selbst richtet, in dem, was er für richtig hält." Damit erweist sich das anthropologische Phänomen als dasselbe wie in IKor 8,713. Im Kontext des aweiöricHg-Begriffs tritt sich der Mensch in Form des Gewissens als einer unabhängigen anthropologischen Instanz selbst gegenüber. Das Gewissen beurteilt die eigenen Handlungen nach vorgegebenen Normen objektiv und bringt sie kritisch oder bestätigend ins Bewusstsein.588 Während Paulus jedoch in IKor 8 die Argumentation mit dem Begriff der auyei6r|CHnctia A.oyou durch die A n n a h m e einer Hypallage in die Formulierung ev ^ o v u oo4>ia; u m d r e h e n , um bei den n e b u l ö s b l e i b e n d e n Korinthern die These einer Weisheitstheologie zu verankern. 1 2 A u c h die T h e s e einer soteriologischen Qualität dieser Weisheitstheologie lässt sich nicht einfach aus den soteriologisch konnotierten O p p o s i t a der Süi/ajiLi; 8eoö bzw. des loyoQ xoO oTaupoü ableiten. 1 3 Eine derartige Weisheitschristologie gleich welcher P r o v e n i e n z drängt sich in I K o r 1 - 4 nirgends z w i n g e n d auf. 1 4 Eine wirkliche A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit häretischem G e dankengut ist nirgends zu erkennen. V i e l m e h r lassen sich die korinthischen S p a n n u n g e n g e n a u s o gut, w e n n nicht besser von Konventionen der antiken Rhetorik, dem Milieu und 5 LlTFlN, Proclamation, 2 4 5 - 2 4 7 ; ähnlich WINTER, Philo, 235; vgl. d a g e g e n THEIS, Weisheitslehrer, 148. 6 Die W e n d u n g ooia loyou in 1,17 (vgl. 2,1.4.13) n i m m t ein aus der rhetorischsophistischen Literatur bekanntes W o r t f e l d auf und ist am ehesten mit „ R e d e g e w a n d t heit" zu übersetzen. Der A u s d r u c k ist daher auf die äußere Form bzw. die rhetorische Gestalt der V e r k ü n d i g u n g zu beziehen; so HEINRICI, I K o r , 65f.; HORSLEY, W i s d o m of W o r d , 224.230; LLTFLN, Proclamation, 1 8 7 - 1 9 2 ; VOS, A r g u m e n t a t i o n , 9 3 - 9 7 , bes. 93f., A n m . 1 2 - 1 4 ; THISELTON, I K o r , 1 4 3 - 1 4 7 u.v.a.; vgl. dagegen n e u e r d i n g s KAMMLER, K r e u z und Weisheit, 2 8 - 3 6 . 7
LlTFIN, Proclamation, 195f.244f. WlLCKENS, Weisheit und Torheit; DERS., OO V.l.3.1; sowie WINTER, After Paul, 31—43. 16 Im Hellenismus galt das Kreuz als die „schändlichste Bestrafung" (Orig, Comm in Mt 27,22-26 [GCS 38, 259]; vgl. auch Cels 7,53), als „verrufener Pfahl" (Anthologia Latina 415) und nach Cicero war schon „das bloße Wort Kreuz" für die Bürger Roms eine Beleidigung ihrer Gedanken, Augen und Ohren (Cic Rab 16). Widersinnig war auch der Tod eines Gottes bzw. Göttersohnes (Lucian Dial Mort 14,5); vgl. dazu HENGEL, Mors, 131. Diese spannungsvolle Begegnung zwischen dem Wort vom Kreuz (d.h. der Botschaft, dass ein Gekreuzigter das Heil der Welt erwirkt hat) und der hellenistischen Weisheit mit ihrem Tugend- und Wertekanon und die daraus oft resultierende spöttische Ablehnung des Evangeliums durch die griechischen und römischen Hörer gehörte zur alltäglichen Erfahrung des Apostels auf seinen Missionsreisen, vgl. HENGEL, Mors, 127— 131.13 5 f. 17 Vgl. SCHRÄGE, IKor I, 172: „Es ist das Urteil jener Weisheit, der der Kreuzeslogos radikal als Absurdität erscheinen muß, weil er Gottes Handeln in Niedrigkeit und Ohnmacht des Kreuzes verkündigt und somit zur Krisis für alle Religiosität wird, die Gottes Offenbarung nicht in der paradoxen und für den natürlichen wie religiösen Menschen anstößigen Tiefe des Kreuzes finden will." 18 STUHLMACHER, Achtzehn Thesen, 511 f.; HENGEL, Der vorchristliche Paulus, 2 8 7 289; HAACKER, Werdegang, 889-891.898-900, haben daraufhingewiesen, dass Paulus in diesen Versen sowohl seine eigene Berufungserfahrung vor Damaskus als auch seine Missionserfahrungen als Apostel theologisch verarbeitet. Vor Damaskus erschien ihm der
1. Schwäche
und Stärke im 1.
Korintherbrief
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Antithese zu der von den Apollosanhängern favorisierten noetischintellektuellen und rhetorisch eloquent dargebotenen Erkenntnis. Die Heilsaneignung vollzieht sich nach Paulus nicht in einem mit rhetorischen Kunstgriffen vermittelten kognitiven Erkenntnisprozess, sondern in der gehorsamen Annahme der Heilstat Christi, die dem Menschen durch das schlicht und einfach proklamierte Heilswort vom Kreuz erschlossen wird. Neben diesem sachlich-impliziten Gegensatz wird hier die Neuoffenbarung Gottes, d.h. die Enthüllung seiner Weisheit und Kraft unter dem Vorzeichen menschlicher Torheit und Schwäche, auch in begrifflich-expliziten Gegensätzen illustriert: So ist das „Wort vom Kreuz"19 nach 1,18 „den Verlorenen eine Torheit, uns, den Geretteten, eine Kraft Gottes". Entsprechende Antithesen wie „Weisheit" contra „Torheit bzw. Törichtmachen" (V. 20b.21), „Anstoß und Torheit" contra „Kraft und Weisheit" (V. 23f.) oder „Gott" contra „Welt", „dieser Äon" oder „die Menschen" (V. 20.21.25) ziehen sich durch den gesamten Abschnitt und verleihen dem Thema einen weltumspannenden, eschatologischen Horizont.20 Auch in l,24f. korrespondieren in chiastischer Struktur die Begriffe TÖ |awpov mit ootjua und TÖ aoöevec mit 5wa|iiiae i o y o n , had worked to ensure that the faith of the Corinthians kv OO4>L 157 LepoGu-cov 118, 179, 252-255 Kapöia (siehe Herz)
Koivöv 26, 46, 292, 345, 362, 365, 369/, 374, 400—402, 443 Koivcovia 165, 182 KoivGJvia mit Christus oder Dämonen 267-270, 283 KUKeuv 168, 171 f. ^ayeLpoi; 160 Haict 197 HiKpoi 256f.
Hlutioii; 280, 282 Hujavöpcoiua 281 voGq 214, 408 o£ko6oh€Xi> 42, 52f., 94, 105, 106, 194, 210,227, 248, 417f., 442 6A.oA.uyi 146 Ü€pi 5i-Einleitung 110 UEpLio^i 370, 374f., 385, 445 tugtu; 89, 368, 390, 398f., 420f„ 443 iropveia (siehe Unzucht) ttoti^p lov (siehe Kelch) oeßo^evoi (siehe Gottesfürchtige) oo(J)ia 452 oirA.ayxva 147, 157f. OTTA.ayxve\jei.v/ouairA.ayxveüeLV 157, 161 oüv8r|(iot 172, 174 auveiör|oi.