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German Pages [399] Year 2022
Isabell Schmock-Wieczorek
Die Stadt als künstlerischer Lebensund Schaffensraum
Bildende Künstler als Akteure im halleschen Kunstsystem in der Zeit der Klassischen Moderne
Bürgertum Neue Folge Studien zur Zivilgesellschaft Herausgegeben von Manfred Hettling und Paul Nolte Band 21
Isabell Schmock-Wieczorek
Die Stadt als künstlerischer Lebens- und Schaffensraum Bildende Künstler als Akteure im halleschen Kunstsystem in der Zeit der Klassischen Moderne
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022, Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Der hallesche Künstler Paul Horn bei einem von ihm geleiteten Kurs in der Volkshochschule Halle (Stadtarchiv Halle, Signatur: N 28 Nr. 5 Bd. 3). Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0890 ISBN 978-3-666-36766-3
Inhalt
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1. Die Stadt als Raum künstlerischen Schaffens und Lebens – Halle (Saale) um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Wie veränderte sich Künstlersein in der Klassischen Moderne? – Fragestellung und Analyseebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3. Kunst und Künstler – Begriffe und Aufbau der Arbeit . . . . . . 38 4. Forschungsstand und Mehrwert der Forschungsarbeit . . . . . . . 42 II. Kunst als Medium der Lebensbewältigung in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 1. Bürgerlichkeit als Nährboden gegensätzlicher Kunstbegriffe und Künstlerbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Der Künstler als Heilsbringer und Bürgerschreck – Künstleridentitäten im Spannungsfeld der bürgerlichen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3. Bildende Kunst zwischen Bildung und Besitz – der Hallesche Kunstverein im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . 54 III. Das hallesche Kunstsystem: Institutionalisierung öffentlicher und privater Kunstpflege in der Klassischen Moderne . . . . . . . . 69 1. Wege aus der Krise – der Kunstverein nach 1900 als Mediator eines modernen Kunstbegriffs und Künstlerbildes . . . . . . . . . 69 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 2. Aufbau und Etablierung einer kommunalen Förderstruktur . . . 2.1 Das städtische Museum als Basis öffentlicher Kunstpflege – zwischen Lokalkunst und künstlerischer Moderne . . . . . . 2.1.1 Das frühe Museum als Agent der städtischen Künstler . . 2.1.2 Das Museum als Anwalt der künstlerischen Moderne – Sauerlandt als Museumsdirektor . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2.2 Die Entwicklung der städtischen Kunstpolitik . . . . . . . . . 2.2.1 Rive als Förderer der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Rive als Gegner der freien städtischen Künstlerschaft – der Bau einer Stadthalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Kommunalpolitische Präsenz der halleschen Künstlerschaft in den zwanziger Jahren . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Private Stiftungen in kommunalpolitischem Gewand – alte und neue Formen bürgerlichen Mäzenatentums . . . . . 2.3.1 Bürgerliches Mäzenatentum im Anschluss an das städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe – bürgerliches Selbst- und Kunstverständnis der Reinhold-Steckner-Stiftung . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Die Haaßengier-Stiftung – Anerkennung der halleschen Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Der hallesche Kunstmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Hallescher Kunstbesitz und -bedarf um 1900 . . . . . . . . . 3.1.1 Kunst in Privatbesitz – hallesche Bürger als Käufer und Sammler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Kunst im bürgerlichen Salon . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kunstsalon und Galerie – Kunstförderung im Bereich privater Unternehmerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Zwischen Idealismus und Profit – Akteure auf dem lokalen Kunstmarkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Tausch & Grosse als Vermittler einer halleschen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Großstadtflair und Künstlertreff – Der Salon Willy Assmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Galerie Albert Neubert – ein »sachliche[r] Querschnitt durch das Schaffen der Zeit« . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Kunstgewerbe als Konzept zwischen Wirtschaftsförderung und Gesellschaftsutopie – ein bestimmender Faktor künstlerischer Entwicklung in Halle . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 4.1 Kunst, Gewerbe und Industrie – Bedingungen und Begriffe der Kunstgewerbebewegung um 1900 . . . . . . 171 4.2 Der Widerstreit um die kunstgewerbliche Ausbildung und die Etablierung der Handwerker- und späteren Kunstgewerbeschule in Halle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
Inhalt
4.2.1 Ansätze des (kunst-)gewerblichen Ausbildungswesens in Halle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Von der Handwerker- zur Kunstgewerbeschule unter Thiersch – der Konflikt um Lehrmethoden und Kunstbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Der Umbau der »Burg« zum städtischen Unternehmen . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Der Kunstgewerbeverein Halle – Treffpunkt und Ansprechpartner der ersten Generation hallescher Künstler . . 4.3.1 Der Kunstbegriff des Kunstgewerbevereins um 1900 . . 4.3.2 Instrumente der Vereinsarbeit und Angebote für hallesche Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Künstlersein in Halle – Entwurf und Etablierung des Künstlerberufs um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 1. Künstlersein als Berufswunsch – die Akten der Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Porträtmaler, Plakatmaler, Kunstgewerblerin – die Bewerber zwischen bildender und angewandter Kunst . . 1.2 Freier Künstler oder Angestellter – Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Ausbildungsweg und Berufsbild Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kategorisierungen des Künstlerberufs zwischen Kunst und Handwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Künstlerische Gewerbe in Halle – kunstgewerblicher Erfindungsgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Verortung des Künstlerberufs in der Reichsstatistik und Angaben zur Zahl hallescher Künstler . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Künstlertum als prekärer Berufsstand? – Einkommensverhältnisse hallescher Künstler . . . . . . . . . . . 3.1 Zeitgenössische Perspektiven auf die Künstlerarmut – das Kunstgewerbe als Ausweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Künstlersein und Armutsrisiko in Halle . . . . . . . . . . . . 3.3 Vergleichende Perspektive – Schmollers Mittelstand . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4. Die hallesche Künstlerschaft in Typen . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4.1 Künstlersein im Kleinstbetrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 4.2 Der Porträtmaler und die Herausforderung der Fotografie . . 268
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Inhalt
4.3 Zwischen Kunstgewerbe und bildender Kunst – Berufskünstler der ersten Generation . . . . . . 4.4 Der Aufstieg des Dekorationsmalers . . . . . . . 4.5 Die Künstlerin – Chancen im Kunstgewerbe . . 4.6 Der Künstler als Lehrer – zwischen Brotberuf und kunstpädagogischem Anspruch . . . . . . . 4.7 Architekten als Impulsgeber im Kunstgewerbe . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Die Künstlergruppen in Halle als Gestalter künstlerischer Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Künstlerverein auf dem Pflug – vom Geselligkeitsverein zum profilierten Künstlertreff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Vom Klausenbruder zum »ordentlichen Mitglied« des Pfluges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Stärkung des künstlerischen und beruflichen Selbstverständnisses auf ästhetischer und wirtschaftlicher Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Der Bund Deutscher Architekten als Vorreiter einer künstlerisch-berufsständischen Interessenvertretung . . . . 5.3 Kunst- und Künstlervision der Hallischen Künstlergruppe – Antworten auf die existenzielle Krise des Künstlerseins in der Klassischen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Der Hallische Künstlerrat und der Wirtschaftsverband bildender Künstler als berufliche Interessenverbände der halleschen Künstlerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Der Hallische Künstlerrat als Förderer einer gemeinsamen beruflichen Identität . . . . . . . . . . . . 5.4.2 Einheit der Künstler als wirtschaftliche Interessengruppe – die Ortsgruppe und der Dachverband des Wirtschaftsverbandes deutscher Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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V. Vom Vehikel des Bürgertums zur selbstbestimmten Berufsgruppe – Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Verzeichnis der Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375
Inhalt
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Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Publizierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Tageszeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Ungedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 2.1 Aufsätze und Monographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 2.2 Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Dank
Die vorliegende Arbeit ist das Ergebnis meiner von Ende 2011 bis Anfang 2018 dauernden Forschungsarbeit und deren Verschriftlichung. In dieser Zeit hatte ich die Möglichkeit mich meinen wissenschaftlichen Interessen hinzugeben und das selbstgewählte Thema nach eigener Vorstellung zu durchdringen. Die kaum an Wert zu überschätzende Gestaltungsfreiheit während meiner Promotion einerseits und die Herausforderungen der Selbstorganisation und -Motivation andererseits konnte ich nur dank zahlreicher Förderer und Wegbegleiter genießen bzw. bewältigen, die jeweils auf ganz unterschiedliche Weise zum Gelingen dieses Projektes beigetragen haben. Finanziell gefördert wurde mein Vorhaben durch Stipendien, die ich von der Landesgraduiertenförderung Sachsen-Anhalt, der Gerda Henkel-Stiftung sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhielt. Den Herausgebern Prof. Dr. Manfred Hettling (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) und Prof. Dr. Paul Nolte (Freie Universität Berlin) danke ich für die Aufnahme in die Reihe »Bürgertum N. F.« ebenso wie den Mitarbeitern des Verlags für die freundliche Unterstützung und flexible Terminierung in Pandemiezeiten. Die Anregung zum Promotionsprojekt, Unterstützung bei der Konzeption und Finanzierungsanträgen verdanke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Manfred Hettling (Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg). Von seinem analytischen Blick und seiner stetigen Ermutigung den Stoff sich seiner selbst bewusst zu gestalten, profitiert die Arbeit und ich als Historikerin weit darüber hinaus. Er ermunterte mich, meinen Arbeitsstand regelmäßig mit der kritischen Öffentlichkeit des Forschungskolloquiums am Institut für Geschichte zu diskutieren. Von dort erhielt ich viele hilfreiche Anregungen und Hinweise, die in meine Arbeit eingeflossen sind. Ich danke auch Prof. Dr. Patrick Wagner (Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Martin- Luther-Universität Halle-Wittenberg), der die Dissertation als Zweitgutachter begleitet hat. Mit der ihm eigenen Bedachtsamkeit hat er mich auf Schwachstellen hingewiesen und hatte zugleich Ideen zu deren Überwindung parat. Von großer Bedeutung sowohl für die Wahl meines Forschungsthemas als auch die für mich innige Verbundenheit der Forschungsbereiche Geschichte und Kunstgeschichte sind die Lehrkräfte des Instituts für Kunstgeschichte (und Archäologien Europas) der Martin-Luther-Universität. Sowohl Prof. Dr. Olaf Peters als auch Prof. Dr. Leonhard Helten haben die sozialgeschichtliche Dimension der Kunstgeschichte stets in Betracht gezogen und mir damit die interdisziplinäre Betrachtung meines Forschungsgegenstandes als selbstverständliche
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Dank
Option vermittelt. Prof. Dr. Olaf Peters gehörte ebenfalls der Prüfungskommission an und hat mich bei der Antragstellung zur Projektfinanzierung unterstützt. Prof. Dr. Heinrich Dilly (†) blieb auch nach seiner Emeritierung 2006 (Lehrstuhl für Neueste Kunstgeschichte und Kunsttheorie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) ein wertvoller Gesprächspartner. Gerade aus seiner schier unerschöpflichen Kenntnis der halleschen Kunst- und Kulturgeschichte durfte ich schöpfen: Während zufälliger Begegnungen in der Stadt nannte er Quellen und Personen, sodass ich nicht nur einmal nach diesen Begegnungen meine Schritte direkt in Richtung Bibliothek lenkte, um dort zu recherchieren. Im Prozess der Materialsammlung graste ich durch diverse Bibliotheken und Archive und wurde oft weit über die bloße Bereitstellung georderter Materialien bei der Recherche beraten oder anderweitig unterstützt. Frau Bethge vom Hauptlesesaal der Universitäts- und Landesbibliothek in Halle danke ich für ihre Hilfsbereitschaft, auch im Fall spontaner Anfragen. Den Mitarbeitern des Stadtarchivs Halle und dessen Leiter Herr Jacob danke ich für das Auf- und Abtragen diverser Aktenberge und Sammlungsbestände sowie die unkompliziert wie kostenfrei zur Verfügung gestellten Abbildungen für die Publikation. Auch Dr. Angela Dolgner danke ich, dass sie mir als Leiterin des Archivs der Burg Giebichenstein Kunsthochschule der Stadt Halle alle relevanten Materialien zugänglich machte. Zwei weitere wichtige Personen zeichnen dafür verantwortlich, dass die Arbeit auf den letzten Metern der Entstehung (vor der Abgabe zur Verteidigung) deutlich an Form und Leserlichkeit gewonnen hat: Dr. David Johst las das Manuskript (ich glaube auf einer Flugreise nach Tokio) und gab mir wertvolle Hinweise zur Synthese meiner Forschungsergebnisse. In Vorbereitung der Publikation der Schrift durchkämmte die Lektorin Caren Fuhrmann ambitioniert wie akribisch meinen Text und ich danke ihr, dass sie angesichts der zahlreich gesetzten Gedankenstriche nicht selbst in ihre flüchtete, sondern meinen Text von sprachlichen Unebenheiten befreite und jede Fußnote auf Herz und Nieren prüfte. Jenseits der oben Genenannten, die zum inhaltlichen Gelingen meines Vorhabens beitrugen oder die mir bei der Beschaffung der Quellen behilflich waren, sind da Familie und Freunde, die nicht minder am Entstehen der Arbeit Anteil genommen haben und auf ihre ganz persönliche Weise den Gang der Promotion positiv beeinflusst haben. Hier danke ich vor allem meinen Eltern, die mich – solange ich denken kann und besonders bei der Frage der Berufs- und Studienwahl – bestärkt haben, meinen Interessen zu folgen und damit die Voraussetzung schufen, dieses Projekt, dessen Ende wiederholt in die Ferne rückte, abzuschließen. Tino danke ich für seinen analytischen und wohltuend fachfremden Blick von außen. Er half mir manche Mauer im Kopf zu überwinden, meinen Sehepunkt zu klären.
Dank
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Ich bin dankbar für unsere beiden Kinder, die am Anfang der Promotion und kurz nach der Verteidigung in unser Leben kamen und den Promotionsprozess auf ihre unvermittelt stürmische Art prägten. Zuletzt erinnere ich an meinen Opa Franz Hempel (†), der mich zeitlebens mit der ihm eigenen kindlichen Neugier und seinem Forschergeist beeindruckt hat und der bis zuletzt ganz uneitel am Leben teilnahm, das für ihn und seine Zeitgenossen so tiefgehende Zäsuren schlug. Ihm ist dieses Buch gewidmet.
I. Einleitung
1. Die Stadt als Raum künstlerischen Schaffens und Lebens – Halle (Saale) um 1900 Der Künstler1 steht mit seiner Umwelt in vielfacher und wechselseitiger Weise in Verbindung. Seine Lebensumgebung formt ihn ebenso, wie er als Akteur auf seine soziale Umwelt Einfluss nimmt. Für seine geistige Entwicklung, seine sozialen Beziehungen und seine materielle Lebensgestaltung trägt das unmittelbare Lebensumfeld höchste Bedeutung. Obwohl Telekommunikation, die weitverzweigte Medienlandschaft und immer schnellere und günstigere Wege der Personenbeförderung räumliche Entfernungen überbrückten, bildete der Nahraum in den Jahrzehnten um 1900 weiterhin den primären Bezugsrahmen der Menschen. Die Stadt als größere Gemeinde, die zentrale Funktionen innerhalb eines weiteren Gebietes erfüllt und eigene Versorgungs- und Verwaltungsstrukturen unterhält, wurde in der Moderne zum prägenden Lebensumfeld.2 Für die Künstler einer Stadt, so die Vorannahme der Arbeit, prägten das lokale intellektuelle Klima, die Kultur- und Bildungsinstitutionen, kulturpolitisch handelnde Einzelakteure und Gruppen sowie die lokalen wirtschaftlichen Strukturen ihre Existenz. Sie beeinflussten seine Vorstellungswelt ebenso wie seinen Handlungsspielraum und seine Entwicklungsmöglichkeiten.3 Anhand der mitteldeutschen Stadt Halle werden in der vorliegenden historischen Studie die Lebens- und Schaffensbedingungen von bildenden Künstlern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft untersucht. Die an der Saale gelegene Stadt Halle ist in vielerlei Hinsicht für die Analyse künstlerischer Existenz ein geeigneter Untersuchungsraum. Einerseits ist sie
1 Ich verwende den Begriff des Künstlers geschlechtsneutral. Zwar war der Künstlerberuf im Untersuchungszeitraum männlich dominiert, doch entdeckten immer mehr Frauen ihre künstlerische Identität und übten den Künstlerberuf professionell aus. In diesen Fällen wird mit der entsprechenden Endung auf das weibliche Geschlecht der künstlerisch Schaffenden aufmerksam gemacht. Das Kollektiv der Künstler, das in einigen Fällen auch weibliche Berufsausübende umfasst, erscheint in der nicht gegenderten Form. 2 Zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Beginn des Ersten Weltkrieges verdoppelte sich der Anteil der städtischen Einwohnerschaft gemessen an der Zahl der europäischen Gesamtbevölkerung. Vgl. Lenger, Metropolen, S. 51. 3 Joan Weinstein beschreibt für die Städte Dresden und München, wie sich das städtisch fragmentierte Kunstklima auf künstlerisches Handeln während der Novemberrevolution auswirkte. Vgl. Weinstein, The end of expressionism, S. 12/13.
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Einleitung
Großstadt durch ihr industrialisierungsbedingtes Wachstum – das ermöglicht es, im Untersuchungszeitraum künstlerische Existenz in einer modernen Metropole zu beobachten. Ihre dennoch überschaubare Größe gestattet es andererseits, das lokale Kunstsystem gänzlich in die Untersuchung einzubeziehen. Vor allem die fast ruckartig erfolgte Expansion infolge einer zeitlich verzögert eintretenden Industrialisierung und damit verbundene Modernisierungserfordernisse lassen den Wandel der Künstlerexistenz in den Jahrzehnten um 1900 besonders deutlich hervortreten. Die in der preußischen Provinz Sachsen gelegene Stadt Halle, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zum Zentrum der mitteldeutschen Industrieregion entwickelte, weist im Gegensatz zur nah gelegenen Handelsstadt Leipzig oder den künstlerisch traditionsreichen Residenzstädten Dresden oder Weimar kaum eine kontinuierliche künstlerische Entwicklungslinie auf. Zwar besaß die Stadt mit dem gebürtigen Hallenser und späteren Universitätsprofessor Friedrich Christian Prange sowohl für die kunsthistorische Forschung als auch für die Entwicklung des praktischen Zeichenunterrichts um 1800 eine vielversprechende Kraft. Seine Bemühungen um den künstlerischen Nachwuchs, den er in einer der Berliner Akademie der Künste angeschlossenen Provinzialkunstschule ausbildete, wurden jedoch ausschließlich im Rahmen des universitären Zeichenunterrichts fortgeführt.4 Erst der 1834 durch hallesche Bürger gegründete Kunstverein gab dem in der Stadt erwachenden Kunstbedürfnis eine institutionelle Heimat. Bis auf wenige Ausnahmen war Halle in den darauffolgenden Jahrzehnten mit den vom Kunstverein im Zweijahresrhythmus veranstalteten Kunstausstellungen eine Stadt, in der Werke vor allem deutscher Künstler »bloß« rezipiert wurden. Die vorrangig in den Kunstzentren München, Düsseldorf, Berlin, Dresden, Amsterdam und ausnahmsweise in Magdeburg, Quedlinburg und Bernburg5 produzierten Kunstwerke fanden ihren Weg über die von verschiedenen lokalen Kunstvereinen gemeinsam organisierten Wanderausstellungen in die preußische Provinz. Erst in den letzten zwanzig Jahren des 19. Jahrhunderts gewann die Stadt als Ort künstlerischen Schaffens an Bedeutung. Vereinzelt und manchmal nur zeitweise gelang es Künstlern, in der Stadt beruflich Fuß zu fassen. In den Jahren um 1900 war erstmals eine größere Gruppe hallescher Künstler aktiv, die innerhalb der städtischen Öffentlichkeit Aufsehen erregte und die den Künstlerberuf in der Saalestadt etablierten. In den 4 Heinrich Dilly bemühte sich in einem 2005 veröffentlichten Aufsatz um die Anerkennung Pranges als einen der Begründer der universitären Kunstgeschichtsforschung, in der er Kunsttheorie, Kunstgeschichte und praktische Kunsttätigkeit aufs Engste miteinander verband. Seinen Forschungen zufolge lässt sich Pranges Tätigkeit in der künstlerischen Ausbildung zuletzt für das Jahr 1806 nachweisen. Vgl. Dilly, Christian Friedrich Prange, S. 184–194. 5 So liest sich der Katalog der 1838 eröffneten dritten Ausstellung des Kunstvereins. Vgl. Verzeichnis der dritten Kunstausstellung zu Halle, eröffnet am 1. Juni 1838 im Saale des Kronprinzen, Halle 1838.
Die Stadt als Raum künstlerischen Schaffens und Lebens
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folgenden drei Jahrzehnten wuchs ihre Zahl stetig und es eröffneten sich zunehmend Möglichkeiten künstlerischer Existenz in der industriell geprägten Stadt. Mit 113.454 Einwohnern war Halle a. S. neben 27 anderen deutschen Städten in der 1897 publizierten Berufsstatistik erstmals als Großstadt aufgeführt und lag damit deutlich über den für diesen Status notwendigen Hunderttausend. Der Trend der rasanten Bevölkerungszunahme, insbesondere im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, setzte sich über die Jahrhundertwende fort. Bei der allgemeinen Volkszählung vom 1.12.1900 überstieg die Einwohnerzahl 150.000 und Halle rangierte damit an zwanzigster Stelle der bevölkerungsgrößten Städte des Deutschen Reiches.6 Auch von höchster politischer Ebene wurde die neue großstädtische Qualität Halles anerkannt, indem der erste Bürgermeister der Stadt nunmehr den Titel eines Oberbürgermeisters verliehen bekam.7 Nach sinkenden Einwohnerzahlen während des Krieges setzte sich das Bevölkerungswachstum danach wieder fort und 1927 waren in Halle über 200.000 Einwohner gemeldet.8 Die bloße Anzahl der Einwohner einer Stadt stellt lediglich einen äußeren Anhaltspunkt ihrer Größe dar und verweist als Ursache und Folge der Industrialisierung auf tieferliegende Zusammenhänge. Es ist kaum eindeutig festzulegen, wann die Schwelle überwunden ist, ab der das Entstehen eines differenzierten Kunstsystems möglich ist. Dennoch lässt sich sagen, dass erst ein größeres Pu blikum den Bedarf nach einer institutionalisierten Kunstöffentlichkeit weckt und ein noch größeres von Nöten ist, um einen lokalen Kunstmarkt zu etablieren. In Halle, das während der Jahrzehnte um 1900 seinen Ruf als mitteldeutsches Wirtschaftszentrum begründete und einen erheblichen sozialstrukturellen Wandel erfuhr, lässt sich beobachten, wie sich aus einer kleinen bürgerlichen Kunstöffentlichkeit bis 1933 ein stark differenziertes Kunstsystem entwickelte. Das geltende Recht und die Praxis der kommunalen Selbstverwaltung erlauben es, die Stadt Halle als einen in sich funktionierenden Kosmos zu betrachten, in dem sich ein Kunstsystem ausdifferenzierte, das vor allem von internen Faktoren und Akteuren abhängig war; wenn auch Impulse von außen die lokale Szene immer wieder entscheidend beeinflussten. Freilich war das Besondere der halleschen Entwicklung von staatlichen Bedingungen gerahmt, die in ihrer Wirksamkeit berücksichtigt werden müssen.9 Einerseits sind zeit 6 Vgl. Berufsstatistik der deutschen Großstädte 1895, S. 109; Neuß, Stadtverwaltung, S. 2; Bericht über den Stand, S. 9. 7 Der Kaiser bewilligte die Amtsbezeichnung 1908, die mit Verweis auf die weiter gestiegene Einwohnerzahl (über 175.000) beantragt wurde. Vgl. GeStaPK, I. HA Rep. 89 Geh. Zivilkabinett, jüngere Periode, Nr. 14630. 8 Vgl. Wolff, binnenwirtschaftliche Verflechtung, S. 3. 9 Seit der Neuordnung der politischen Landkarte durch den Wiener Kongress gehörte die Stadt Halle ab 1815 wieder zum Staat Preußen, das im Jahrzehnt zuvor große Gebietsverluste hinnehmen musste. Als Stadtkreis, dem weitere Gemeinden wie Glaucha und Giebichenstein angehörten und deren verwaltungstechnischen Vorsitz der hallesche Bürgermeister innehatte, war sie dem Regierungsbezirk Merseburg zugeordnet. Mit den Regierungsbezirken
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Einleitung
genössische Tendenzen und politische Ereignisse, die das gesamte Deutsche Reich betrafen, auf regionaler Ebene zu berücksichtigen. Dabei ist an wirtschaftliche Konjunkturen, den 1914 ausbrechenden Weltkrieg sowie den damit verbundenen politischen Systemwechsel zu denken. Auch gesetzliche Vorgaben und institutionelle Zuständigkeiten waren für die Gemeinwesen verbindlich. Innerhalb dieser staatlichen Rahmenbedingungen operierten die städtischen Entitäten und erkämpften sich möglichste Handlungsfreiheit. Richard Robert Rive, Bürgermeister der Stadt ab 1906, betonte in seiner Abschiedsrede 1933, dass der Gedanke der städtischen Autonomie und die Herausforderung der bürgerlichen Selbstverwaltung die zentralen Anliegen und gleichsam integrierendes Element seiner Amtszeit gewesen seien.10 Die Anfänge der von Rive benannten Klammern seines politischen Handelns reichen weit zurück ins 19. Jahrhundert, in dem das sich seiner selbst und seiner gesellschaftlichen Führungsposition zunehmend bewusst werdende Bürgertum das Terrain der städtischen Selbstverwaltung als Tätigkeitsfeld entdeckte. Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte sich die durch die Erfüllung öffentlicher Aufgaben legitimierende städtische Autonomie nach innen rechtlich gefestigt und blieb bis zum Ende der Weimarer Republik für das Gebiet der Kultur weitestgehend erhalten. Trotz politischer Zentralisierungsbestrebungen schon während der Zugehörigkeit zu Preußen und später im politischen Kontext des Deutschen Reichs11 verblieben kulturelle Aufgaben in der Hoheit der Städte.12 Mit der einsetzenden Industrialisierung, die in Halle in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts durch die Ansiedlung von Zuckerraffinerien begann, übernahm die Stadt in der mitteldeutschen Industrieregion vor allem verwaltende Funktion und entwickelte sich zu einem Verkehrs-, Handels- und FinanzzentMagdeburg und Erfurt bildete Merseburg die 1815 neugeschaffene Provinz Sachsen, in der Magdeburg der Sitz des Oberpräsidenten und damit Provinzhauptstadt war. Auch nach der Gründung des Deutschen Reichs blieb diese Verwaltungsstruktur erhalten und Merseburg als Sitz des Regierungspräsidiums weiterhin maßgeblich für verwaltungstechnische Angelegenheiten. Vgl. v. Hagen, Stadt Halle, S. 301 f. 10 Vgl. StH, S15.RIV N 79,2 Nr. 7, Manuskript. Abschiedsrede veröffentlicht am 31.03.1933 durch die hallesche Presse (SZ vom 31.03.1933, Nr. 77; HN vom 31.03.1933, Nr. 77). 11 Inwiefern der Staat im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert versuchte, auf die Gestaltung der bildenden und angewandten Kunst Einfluss zu nehmen, wird am Anfang des Hauptteiles erörtert. 12 Vgl. Unruh, Staat und kommunale Selbstverwaltung, S. 560/561. Insbesondere für die Amtszeit des Ersten Bürgermeisters Richard Robert Rive (1906–1933) befanden sich Stadtverwaltung und die aufsichtsausübende Regierung in Merseburg in Einklang. In seinen Lebenserinnerungen berichtet Rive über das zu Beginn seiner Amtszeit beim Regierungspräsidenten zu Merseburg absolvierte Vorstellungsgespräch und die positive Entwicklung ihrer weiteren Beziehung, die durch gegenseitige Achtung geprägt gewesen sei und sich auch auf das politische Verhältnis auswirkte, denn »die Selbstverwaltung blieb von Seiten der Regierung ebenso unangetastet, wie sie seitens der Stadt streng innerhalb der gesetzlichen Grenzen gehalten wurde.« Vgl. Rive, Lebenserinnerungen, S. 99.
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rum.13 Der damit verbundene Zuwachs an kulturell anspruchsvollen und finanziell potenten Eliten beförderte das Interesse an einem lokalen Kulturangebot und erhöhte die Bereitschaft zum bürgerlichen Engagement im Kulturbereich, verbunden mit entsprechender finanzieller Ausstattung. Das wirtschaftlich bedingte Wachstum bereitete den Boden für das Entstehen einer lokalen Kunstlandschaft. Es entsprach der zeitgenössischen Wahrnehmung, dass eine wirtschaftlich prosperierende, sich infolge des Bevölkerungswachstums städtebaulich ausdehnende und in den Bereichen der Wissenschaft und Pädagogik reüssierende Stadt auch eines entsprechenden kulturell-künstlerischen Angebots bedürfe. In einem 1872 in der halleschen Tagespresse veröffentlichten Artikel wird bei aller erfreulichen Entwicklung beklagt, »daß für das Culturleben der Stadt die bildende Kunst noch nicht denjenigen Beitrag leistet, den sie in so reichem Maße zu leisten vermag.«14 Und erst die Steckner-Stiftung habe mit dem Bau eines Museumsgebäudes der Stadt Halle ein Vierteljahrhundert später den Zugang zur modernen Kunst ermöglicht, der ihr »nach dem Maß ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung seit langem gebührt hätte«15. Der Publizist Karl Scheffler kam in seiner Artikelserie »Deutsche Museen moderner Kunst« zu gleichem Fazit, als er die Museumsgründungen in werdenden Großstädten im ganzen Reichsgebiet beobachtete: »Man kann es im Norden und Süden, im Westen und Osten beobachten: wo immer eine Stadt zu einer gewissen Größe und Bedeutung kommt, da meldet sich früher oder später auch der Wunsch, eine eigene moderne Kunstsammlung zu besitzen und durch sie Einfluß auf das Kunstgefühl der Bürger, ja im weiteren Sinne der Provinzbewohner zu gewinnen.«16
Bildende Kunst als eine Variante der Hochkultur stellte er als einen einer Großstadt unabdingbar zugehörigen Bereich des sozialen Lebens dar. Kunst und Kultur wurden als zentrale Faktoren der großstädtischen und gesellschaftlichen Entwicklung empfunden und ihnen wurde eine bestimmte Aufgabe in der (groß-)städtischen Gesellschaft zugedacht. Demnach verstand sich auch die bildende Kunst als integraler Bestandteil gesellschaftlicher Entfaltung, die eine bestimmte »Leistung« erbringe. Dennoch sollte es bis zur Wende zum 20. Jahrhundert dauern, bis sich eine lebendige, untereinander vernetzte und gegenüber avantgardistischen Impulsen aufgeschlossene Kunstszene etablierte. Wie Franz Otto, Protagonist des Halle schen Kunstvereins und umtriebiger Rentier (ehemals Fabrikant) im Dienst der Kunst, anhand seiner Kontakte zur städtischen Wirtschaftselite feststellte, 13 Vgl. Neuß, Stadtverwaltung, S. 1; Hauser / Kügler / Minner / Petri, Stadt im Aufbruch, S. 15, 22. 14 HT vom 04.07.1872 (Nr. 153), S. 639. 15 Die Reinhold-Steckner-Stiftung, S. 7. 16 Scheffler, Deutsche Museen, S. 491.
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führte ökonomischer Wohlstand nicht zwangsläufig zu einem ausgeprägten Kunstinteresse – und so blieb die hallesche Kultur, zumindest bis zur Jahrhundertwende, vorerst den bürgerlichen Vereinen überlassen. So notierte Otto 1900 rückblickend: »Wem es vergönnt war, während der letzten 40 Jahre im näheren Verkehr mit den Kreisen sowohl der gelehrten Welt als auch denen der Industrie und Kaufmannschaft zu stehen und zu beobachten, der kann sein Erstaunen darüber nicht verbergen, welch eine erschreckende Bedürfnislosigkeit der wohlhabenden Classen in der bildenden Kunst herrschte.«17
In der kulturellen Abstinenz seiner Stadt sah er einen allgemeinen »Mangel an Kunstsinn in unserer Generation«18 und führte das gestörte Verhältnis zur Kunst zurück auf die mangelhafte staatliche Bildungspolitik. Trotz ihrer statistisch dokumentierten Größe und Zentrumsfunktion in der mitteldeutschen Industrieregion blieb Halle eine Stadt, die nur verkehrstechnisch im Güter- und Fernverkehr überregionale Bedeutsamkeit erlangte. Sie trug nicht, wie Berlin, Hamburg oder München, national bedeutsame Funktionen als Regierungssitz, internationales Handelszentrum oder etablierte sich gar als Kunstzentrum19. Selbst innerhalb der mitteldeutschen Region, in unmittel barer Nachbarschaft zur Messestadt Leipzig oder den künstlerisch bedeutsamen Traditionsstädten Weimar und Dresden, stand die Stadt im Wettbewerb um materielle und personelle Ressourcen. Insbesondere für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bemerkte Erich Neuß, langjähriger Direktor des Stadtarchivs und Stadtgeschichtsschreiber, einen um Arbeitskräfte und wirtschaftliches Potential geführten Konkurrenzkampf der Städte untereinander.20 Gleiches beobachtete und kritisierte der Hallesche Wirtschafts- und Verkehrsverband, der sich im August 1921 gründete, in seinem Geschäftsbericht vom Jahr 1928: »Der zähe Kampf, den die Großstädte im Herzen Mitteldeutschlands um die Vorherrschaft im Mitteldeutschen Wirtschaftsbezirk führen … nötigt die Stadtverwaltungen wie die Verbände, … zu erhöhter Aktivität. … Es ist einmal an der Zeit, auf die bedrohlichen Folgen des hemmungslosen Machthungers hinzuweisen, der ohne Rücksicht auf die Gesamtinteressen eines wirtschaftlich einheitlichen Gebietes einer einzelnen Gemeinde das Primat unter den mitteldeutschen Städten erzwingen möchte.«21 17 Vgl. Otto, Städtisches Museum, S. 7. 18 Vgl. ebd. 19 Alexander Schmidt benennt in seiner Stadtstudie über die Nürnberger Kultur Berlin, Hannover, Hamburg, Köln, Düsseldorf, Essen, Dresden, Leipzig, Breslau, Frankfurt am Main, Stuttgart, München als deutsche Kulturhauptstädte. Mit Leipzig und Dresden liegen zwei davon in unmittelbarer bzw. mittelbarer Nähe zu Halle. Vgl. Schmidt, Kultur in Nürnberg, S. 23. 20 Vgl. Neuß, Gegenwartsfragen, S. 17. 21 Geschäftsbericht des Halleschen Wirtschafts- und Verkehrsverbandes, S. 3.
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Im gleichen Papier heißt es auch, dass »kulturelle Einrichtungen« zur Steigerung der städtischen Attraktivität subventioniert würden und so vom Städtekampf profitierten. Kultur wurde als prestigesteigernder Faktor und als großstädtisches Merkmal begriffen, dessen Zweck letztendlich auf die Steigerung wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit hinauslaufe.22 Und auch auf dem Gebiet der Kunst maßen sich die Städte untereinander: Leipzig wurde auf diesem Gebiet als bedrohlicher Konkurrent wahrgenommen, weil dort im Gegensatz zu Halle künstlerische Ausbildungsmöglichkeiten und ein differenziertes Institutionennetzwerk schon um 1900 bestanden. Franz Otto, herausragender Förderer der bildenden Kunst in Halle in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, beobachtete besorgt den Kulturtourismus hallescher Bürger. Indem sie ihre hochkulturellen Bedürfnisse in der Nachbarstadt befriedigten, entstünden Halle seit Jahrzehnten »materielle Schädigungen«.23 Und auch nach dem Ersten Weltkrieg sorgte sich Lothar Gall in einem ausstellungsbegleitenden Aufsatz aus dem Jahr 1919 um die einheimische Künstlerschaft, die aufgrund mangelnden Kunstsinns von Stadt und Bürgern und damit fehlender wirtschaftlicher Existenzgrundlage eine kunstaffinere Stadt zum Arbeits- und Lebensort erwählten.24 Doch die Städte waren einander nicht nur in Konkurrenz verbunden, sondern waren – gerade innerhalb der mitteldeutschen Region – vielfach miteinander verwoben. Auf dem Gebiet der bildenden Kunst bestanden über Kunstvereine, Künstlergruppen und Ausstellungen vielfältige Verbindungen.25 Die vergleichsweise spät expandierende und urbanisierte Stadt Halle fügte sich damit in ein über Partnerschaften und Konkurrenzen verbundenes Städtenetzwerk, das auch für den Kunstbereich strukturgebend wirkte.26 Halle um 1900 war also eine Stadt, die innerhalb einer bestimmten Region vor allem wirtschaftlich und verkehrstechnisch von Bedeutung war. Noch 1874 erschien Halle von Berlin aus als »mittlere Provinzialstadt … deren sonst ziemlich reges Leben … ein warmes Interesse und Verständnis für die Kunst, damals noch so gut wie ganz vermissen ließ.«27 Bereits zeitgenössisch wurde der Begriff 22 Ebd. 23 Insbesondere die Theater, das Gewandhaus und die Museen seien die Ziele der Hallenser gewesen. Otto vermutet, dass sie bei dieser Gelegenheit auch gleich »die Bedürfnisse für den Haushalt befriedigt« hätten. Vgl. Otto, Städtisches Museum, S. 5/6. 24 Vgl. ebd., S. 6; Gall, Rede zur Eröffnung, S. 2. 25 So bestanden zwischen der Hallischen Künstlergruppe und der Magdeburger Kugel personelle Überschneidungen und nahmen Leipziger Expressionisten an der halleschen Kunstausstellung 1919 teil. Einzelkünstler und die hallesche Kunstgewerbeschule waren auf der Leipziger Grassimesse vertreten. Vgl. Gerstenberg, Hallesche Kunstausstellung 1919; Katalog der Hallischen Künstlergruppe; DW vom 06.03.1924 (Nr. 29); Schultz, Emailtechnik, S. 11/12. 26 Vgl. Hennicke, Der Hallesche Bezirk, S. 16. 27 So Wilhelm Dittenberger im Nachruf auf Heinrich Heydemann, der 1874 den Ruf an die hallische Universität erhielt und Berlin nur schweren Herzens verließ. Als Mitglied im
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der Provinz nicht nur als Bezeichnung einer politischen Verwaltungseinheit verwendet, sondern auch zur Umschreibung einer bedeutungsmäßigen Randlage gegenüber politischen oder anderen nationalen Zentren gebraucht. Er erschien, wie heute auch, besonders als Adjektiv in negativer Konnotation. Auch Karl Scheffler wusste um den bitteren Beigeschmack des Begriffs, wenn er das städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe wegen seiner Sammlung moderner Kunst lobte und in eine Reihe mit anderen Museen stellte, »von denen man in keiner Weise mit ironischer Betonung als von Provinzmuseen sprechen darf«28. Drei Jahre später bescheinigte Kurt Gerstenberg, Angehöriger der halleschen Universität und Kunstkritiker, dass auf der halleschen Kunstausstellung 1919 mit den Werken der Hallischen Künstlergruppe nicht nur »Provinzkunst« zu sehen sei.29 Indem man sich gegen das Etikett der Provinzialität verwehrte, rangen die zeitgenössischen Autoren um überregionale Bedeutung oder betonten den Anspruch der Stadt auf Weltläufigkeit. Das Bedürfnis, nicht größeren oder politisch bedeutsameren Städten nachgeordnet zu werden, kam in einer Polemik gegen den seit 1906 amtierenden Bürgermeister Rive zum Ausdruck. Ein 1908 im Luginsland30 veröffentlichter Artikel schildert die Episode des Ankaufs eines Gemäldes von einer halleschen Künstlerin. Nach der Schilderung des Autors griff der Oberbürgermeister selbstherrlich in die Entscheidung der Kunstkommission ein und verringerte den für das Kunstwerk festgelegten Preis um die Hälfte auf 500 Mark. Gekränkt schließt er seinen Bericht über die Verhandlung im Magistrat mit sarkastischen Worten: »… Du liebe Zeit, was kann denn auch aus Halle künstlerisches kommen. … Ja, wenn es vielleicht von einem Künstler aus der Residenzstadt Breslau, oder gar aus der Oberresidenzstadt Berlin stammte – ja, das wär’ ne Sache; – aber aus Halle – ? schließlich geschieht’s noch, daß in Halle die Kunst nur noch nach der Zahl der bemalten Quadratmeter Leinwand bemessen wird, allenfalls noch – nach dem Rahmen!«31
In künstlerischer Hinsicht galt die Provinz als rückständig gegenüber einer internationalen Avantgarde. Während die Expressionisten Emil Nolde und Oskar Kokoschka mittlerweile widerspruchslos zum nationalen Kunstkanon zählten, wurden sie in der Provinz noch immer umkämpft, urteilte ein hallescher KunstKunstverein, Kunstgewerbeverein und Kurator der ersten kunstgewerblichen Ausstellung in Halle auf der Industrie- und Gewerbemesse 1881 setzte er im hallischen Kunstleben des späten 19. Jahrhunderts maßgebliche Impulse. Vgl. Dittenberger, Heinrich Heydemann, S. 16 ff. 28 Scheffler, Deutsche Museen, S. 491. 29 Vgl. Gerstenberg, Hallesche Kunstausstellung 1919, S. 817. 30 Der Luginsland war die erste hallesche Kulturzeitschrift, die 1907 bis 1910 monatlich erschien. Der Luginsland sollte, ausgehend vom halleschen Kunstleben, auch die überregionale Entwicklung thematisieren und damit eben nicht provinziellen Charakters sein, wie der Herausgeber Walter Neubert-Drobisch im ersten Artikel verkündet. Vgl. Neubert-Drobisch, Zum Geleit, S. 1–2. 31 Der Luger, Hallische Kunst, S. 132.
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kritiker in der Saale-Zeitung 1923.32 Nach dessen Einschätzung hatte sich die provinzielle Kunstanschauung zahlreicher Stadtverordneter Halles während des Museumsstreites im Jahr 1913 offenbart, als sich die Mitglieder der Museumskommission gegen den von Rive bestellten Museumsdirektor Max Sauerlandt und den Ankauf des »Abendmahls« von Nolde wandten, während Ausstellungen seiner Werke in Halle 1905 und 1913 zuvor keinen Anstoß erregt hatten.33 Der negativ konnotierte Provinzbegriff und die pejorative Bezeichnung als »provinziell« waren eine Begleiterscheinung der Verstädterung im 19. Jahrhundert und zurückzuführen auf die voneinander abweichenden Lebensweisen und Denkgewohnheiten in den Stadtzentren und in der ländlichen Umgebung. Die Distanzierung von geistiger Provinzialität gehörte deshalb zum Sprachgebrauch des modernen Großstädters, zumal des sich der Moderne zurechnenden Künstlers oder Kunstvermittlers.34 Innerhalb des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert gelang es einigen an der Avantgarde orientierten Akteuren, moderne Kunst in Halle zu platzieren und ins öffentliche Bewusstsein zu heben und sich damit einem überregionalen Diskurs der künstlerischen Moderne anzuschließen. Zu Beginn der dreißiger Jahre konstatierte Paul Frankl, dass auch die künstlerischen Erzeugnisse der Stadt Teil der auf überregionaler Ebene agierenden Avantgarde geworden seien, wenn er beschreibt, dass »die Kunst, die in Halle geschaffen wird, nicht Ausdruck jeden Hallensers [ist] (Gott sei Dank!), sondern der geschmacklich Höchstkultivierten hier und sonst in Deutschland.«35 Um die spezifische künstlerische Qualität einer Stadt zu beschreiben, deren Akteure in der Regel nicht zur nationalen künstlerischen Avantgarde zählten, eignet sich der Begriff der Regionalität. Statt mit dem Etikett der Provinzialität die breite zeitgenössische Kunstproduktion und -Rezeption von einer verhältnismäßig kleinen, ästhetisch originären Gruppe von Künstlern und ihren Anhängern in abwertender Weise abzugrenzen, ermöglicht die Perspektive auf die Gesamtheit eines räumlich begrenzten Kunstsystems, die Bandbreite der künstlerischen Produktion und ihrer Wahrnehmung zu erforschen. In den Blick gerät damit, wie ästhetische Spannungen innerhalb der Gesellschaft ausgetragen wurden und wie und unter welchen Bedingungen sich der zeitgenössische Kunstdiskurs formierte, von dem gegenwärtig meistens nur noch die avantgardistischen Elemente beachtet werden. Der ausschließliche Fokus auf die künstlerische Avantgarde, der unter ästhetisch-kunsthistorischen Gesichtspunkten fraglos seine Berechtigung hat, marginalisiert die allermeisten Künstler und präsentiert vorrangig das Ergebnis eines historisch gewachsenen Kunstkanons.
32 SZ vom 30.10.1923, Nr. 255. 33 Vgl. Hüneke, Das schöpferische Museum, 45 ff.; StH, A 6.3.1. MUSE, Nr. 233, Bl. 31r. 34 Vgl. Linde, Aspekte des Provinziellen, S. 49/50. 35 Vgl. Frankl, Physiognomie, S. 37.
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Das von Gerd Simons entwickelte Konzept der künstlerischen Regionalität richtet die Aufmerksamkeit auf das Verhältnis regionalen Kunstschaffens und überregionaler Avantgarde. Das Untersuchungsfeld der Region und der dort tätigen Künstler, die unter lokal spezifischen Bedingungen arbeiten, stellt in seiner Theorie, anschließend an die individualgeschichtlich und kleinräumig interessierte historische Anthropologie, einen Erkenntnisgewinn jenseits nationaler Kunstgeschichtsschreibung in Aussicht und folgt damit Köllmanns Argumentation. Dabei wird besonders die ästhetische Dimension künstlerischen Schaffens in den Blick genommen und deren regional besondere Ausprägung zum Untersuchungsgegenstand erklärt. Dass die untersuchten Werke hinter den Schöpfungen der Avantgarde an Einfallsreichtum und Eigentümlichkeit zurückstehen und keine Berücksichtigung im offiziellen Kanon finden, tut dem Erklärungsansatz keinen Abbruch. Die Untersuchung der künstlerischen Regionalität ist vor allem interessiert an der Diffusion überregionalen Kunstschaffens und damit an der Frage, wie avantgardistische Standards in die Region transportiert und auf diesem Weg transformiert werden. Den auf regionale Wirksamkeit beschränkten Künstlern kommen kunstvermittelnde, identitätsstiftende als auch alternativ-schöpferische Funktionen innerhalb des ihnen erreichbaren Gemeinwesens zu.36 Diese drei Funktionsdimensionen der künstlerischen Regionalität sind auch in Halle zu beobachten: Die in Ausstellungen des Halleschen Kunstvereins, in der Kunst- und Buchhandlung Tausch & Grosse sowie durch die Künstlervereine präsentierten Kunstwerke vermittelten einen allgemeinen Zeitstil – der unabhängig vom Standtort existierte – in die Strukturen der lokalen Öffentlichkeit. Mit der Adaption avantgardistischer Stile durch ortsansässige Künstler verspürte das lokale Publikum eine Anbindung an überregionale Entwicklungen und damit eine Aufwertung der Herkunfts- bzw. Lebensregion. Ein Zeitgenosse rühmte die Kunst der halleschen Künstlergruppe, die das künstlerische Potential der Stadt voll zur Geltung bringe und die den Vergleich mit »anerkannten« Künstlern der Kunstzentren nicht zu scheuen brauchten: »Wir schweifen in die Ferne, betteln bei den ›Großen‹, daß sie uns das hierher schicken, was sie nirgends sonst sehen lassen können, … und haben doch in Halle selbst eine Künstlerschar versammelt, die malen kann, was man bekanntlich nicht von jedem Maler sagen kann. Was soll das Zeug, was uns kürzlich in der ›Tulpe‹ geboten wurde, und das von einem ›anerkannten Künstler‹ stammte, gegen diese Werke besagen, mit denen uns die jugendlichen Stürmer der Hallischen Künstlergruppe erfreuen? … Wir wollen gar nicht nach Berlin blinzeln, gar nicht an die Stürmer dort denken, die Namen Chagall, Kokoschka usw. usw. ebenfalls nicht aussprechen. Die hallische Künstlergruppe hat ihre eigene Note. Das sind [Hervorhebung im Original, I. S-W.] ›Expressionisten‹. Die wissen, was sie wollen und was wir wollen.«37 36 Vgl. Simons, Kunst, Region und Regionalität, S. 81–120. 37 SZ vom 17.11.1919, Nr. 540 (Abend-Ausgabe).
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Mit der Aussage, dass die Künstler der Stadt auch in schöpferisch-qualitativer Hinsicht den hochgelobten Zugpferden der rasch aufeinanderfolgenden Kunststile nicht nachstünden, gibt der Autor seinen Stolz auf die Kunststadt Halle kund und lädt ein, sich mit der örtlichen Kunstszene und damit der Stadt zu identifizieren. Inwieweit einzelne Künstler, wie hier behauptet, einen gänzlich eigenen Weg beschritten oder die überregional wirksamen Neuerungen und Stile nur adaptierten, kann nur anhand stilistischer Werkanalysen eruiert werden.38 Darauf, dass die Künstler aber zur Schöpfung von Werken regionalen Charakters im Sinn der alternativ-schöpferischen Funktion nach Simons fähig seien, verwies Frankl 1932, der anlässlich der Leipziger Kunstgewerbemesse feststellte, »daß es etwas gibt, wodurch sich die hallische Kunst absetzt von der anderer deutscher Städte«39. Die Theorie Simons bietet für meine Untersuchung wichtige Ansätze zur Erklärung des plötzlichen Entstehens eines Kunstsystems und der Differenzierung des Kunstbegriffs vor dem Ersten Weltkrieg. Es waren vor allem Akteure, die aus anderen Städten nach Halle kamen und ihre dort erworbene und am Diskurs der künstlerischen Avantgarde geschulte Kunstexpertise in die kulturell kaum diversifizierte Stadt brachten. Erstmals waren in Halle Werke der Avantgarde öffentlich zu studieren, die zum Teil eindrucksvoll auf die einheimischen Künstler wirkten und um die erregte öffentliche Debatten geführt wurden.40 Wegen fehlender künstlerischer Traditionen waren die halleschen Künstler, wie Sauerlandt 1910 feststellt, »auf mehr oder minder zufällig vermittelte Anregungen angewiesen, die ihnen aus den benachbarten Kunstzentren zugehen oder die sie dort selbst aufzusuchen genötigt sind.«41 Andererseits schuf die besondere Beschaffenheit der Stadt Halle als sich dynamisch entwickelnde Großstadt ohne traditionell festgefügte Wege der Künstlerausbildung und des Kunstkonsums Räume, um unkonventionelle Vorstellungen zu verwirklichen. Bedenkt man die trotz oppositioneller Strömungen von Naturalismus, Jugendstil, Lebensreformbewegung und Impressionismus allgegenwärtige Präsenz des Historismus, tritt die Bedeutung von Schutzräumen (mit ausreichend finanzieller Ausstattung) für alternative Entwürfe vom Zu 38 Simons geht davon aus, dass Werke aus dem Bereich künstlerischer Regionalität keinen originären Charakter aufweisen. Vgl. Simons, Kunst, Region und Regionalität, S. 102/103. 39 Frankl, Physiognomie, S. 33–38, S. 37. 40 So erinnerte sich Paul Horn, wie eindrucksvoll das Werk des Expressionisten Emil Nolde auf das hallesche Publikum und Künstler, wie Karl Völker, wirkte: »… Ich darf die Älteren unter den Anwesenden an den Ankauf des ›Abendmahles‹ von Emil Nolde durch das hallische Museum erinnern, das von Max Sauerlandt geleitet wurde. Welch leidenschaftliche Diskussion gab es unter den Berufenen und Nichtberufenen um dieses Bild. Ich weiß noch, welch kämpferische Stellung der Feuerkopf Karl Völker für Emil Nolde bezog. …«, StH, FA 2686. 41 Sauerlandt, Adolf Senff, S. 79.
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sammenhang von Kunst und Gesellschaft hervor. Die städtische Kunstpolitik schuf ein Biotop progressiver Kunstvermittlung und -Praxis in den Provinzen des Reiches.42 Zwar sorgten auch in der Reichshauptstadt bürgerliche Mäzene für das Gedeihen einer künstlerischen Moderne, die offizielle Kunstpolitik verharrte jedoch starr in alten Gleisen.43 Dass Kaiser Wilhelm II. sein Verständnis der Kunst als Hort kritiklosen Müßiggangs als verbindlich verstanden wissen wollte, kommt in seiner Rede anlässlich der Eröffnung der Berliner Siegesallee zur Geltung: »… sie [die Kunst] soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an dem Idealen wieder aufzurichten.«44 Er endete mit einer Warnung: »Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr …«45. Obwohl das Zitat des letzten deutschen Kaisers suggeriert, dass er als Monarch alleinige Verfügungsgewalt über die Grenzen der Kunst habe, war faktisch eine andere Gesellschaftsschicht für diesen Bereich tonangebend: Die gesellschaftliche Entwicklung seit der Sattelzeit um 1800 führte zur Ausprägung einer politischen Ordnung, in der – trotz kaiserlichen Anspruchsdenkens – das durch Besitz
42 Der sich zur nationalen Debatte auswachsende hallesche Museumsstreit, der sich am 1913 für das hallesche Museum angekaufte »Abendmahl« des Expressionisten Emil Nolde entzündete, zeigt, dass die in der Peripherie relativ autonom agierende Stadt als Ort für kulturelle Experimente geeignet war. Dort waren aufgrund einer besonderen Konstellation von Akteuren und machtpolitischen Verhältnissen Abweichungen vom Kanon möglich. Der Eklat sorgte für eine überregionale Wahrnehmung und kontroverse Diskussion um das hallesche Museum. Der Kunstkritiker Karl Scheffler veröffentlichte im Rahmen einer Serie über Kunstmuseen in den deutschen Provinzen in der renommierten Zeitschrift Kunst und Künstler 1916 einen Bericht über das städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe in Halle. Obgleich er Sauerlandts Neukonzeption der Sammlung und dessen didaktische Bemühungen lobt, steht er dessen Interesse an der expressionistischen Gegenwartskunst skeptisch gegenüber und urteilt über das Abendmahl: »Nach meinem Gefühl gehört es nicht in das Museum.« Vgl. Scheffler, Deutsche Museen, S. 502. – So beschreibt auch Meike G. Werner für Jena, dass in der Provinz künstlerische Experimente stattfinden, die der kulturellen Moderne zuzurechnen sind. Als Ursache beschreibt sie die dezentrale politische Struktur des Deutschen Reichs und fordert, die Provinz daher generell als potentiellen Raum moderner Kulturprojekte zu berücksichtigen. Vgl. Werner, Moderne, S. 9, 15–17. 43 Insbesondere die Einrichtung von privaten Kunstsalons bot eine Plattform für die französische Freiluftmalerei und machte den Impressionismus in der Hauptstadt bekannt. Vgl. Holtz, Kultusministerium, S. 543 f. 44 Rede abgedruckt in: Doede, Berlin, S. 82. Mit dem Verweis auf das »Abgleiten« der Künste zu praktischen Problemstellungen spricht er wohl auf die erstarkende Bewegung des Kunstgewerbes an. 45 Ebd., S. 82. Noch Wilhelm I. und sein von ihm 1871 als Protektor der Königlichen Museen eingesetzte Sohn Friedrich III. übten in den ersten Jahren des Kaiserreichs unumschränkte Gewalt auf die staatliche Sammlungs- und Förderpolitik aus und nutzten dieses Recht je nach persönlichem Interesse. Diese Verfügungsgewalt geriet jedoch schnell in die Kritik und wurde durch eine zentralisierte Kunstpolitik ersetzt. Vgl. Holtz, Kultusministerium, S. 500–504.
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oder Bildung zu Ansehen und Einfluss gekommene Bürgertum die zentrale Trägerschicht der Kunst bildete. Gerade nach der politischen Einigung 1871 fanden Kaiser und Teile des Bürgertums zu einem kulturellen Konsens, der vor allem das Nationale betonte und sich mit dem Historismus in Bewunderung der Vergangenheit erschöpfte.46 Dabei war das Verhältnis von Bürgertum und Kunst im Verlauf des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts bedeutend vielschichtiger und ambivalenter, als diese Interessengemeinschaft vermuten lässt. Das gesellschaftspolitische und soziokulturelle Klima der liberalen bürgerlichen Gesellschaft erlebte nach der Mitte des 19. Jahrhunderts einen deutlichen Wandel. Während Friedrich Lenger im Anschluss an Peter Wagner, Lutz Raphael und Andreas Reckwitz diesen Umbruch innerhalb der westlichen Moderne wertneutral als Übergang in die Phase der organisierten Moderne bezeichnet, beschreiben andere Autoren diese als Krisenzeit.47 Mit Blick auf die Ordnungsvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft betont Otto Gerhard Oexle diesen Moment der Irritation und Auflösung,48 von der auch bis dahin weitgehend sanktionierte Ansichten zu Form und Funktion der Kunst betroffen waren. Der seit der Sattelzeit um 1800 unter bürgerlicher Deutungsmacht etablierte Konsens über Erscheinung und Funktion der bildenden Kunst, der sie vor allem als Mittel der individuellen Vervollkommnung und Bildung sowie als fiktive Gegenwelt zur Realität definierte, wurde aufgebrochen. Kritik erfuhr vor allem der vorherrschende historistische Eklektizismus mit der Reduktion der bildenden Kunst auf ihre dekorative Funktion und der Verflachung künstlerischer Qualität zugunsten der Verkäuflichkeit von Kunstwerken. Damit wurden auch die Schattenseiten der künstlerischen Freiheit, die mit der Ablösung der absolutistischen Gesellschaftsordnung durch das vom Bürgertum dominierte Modell des Kapitalismus erkauft wurde, offenbar. Die Dialektik künstlerischer Autonomie ermöglichte den Künstlern jenseits kirchlicher oder herrschaftlicher Auftraggeber die freiheitliche Ausübung ihrer Tätigkeit und mutete ihnen zugleich die Aufgaben und Risiken unternehmerischer Selbstvermarktung zu. Erneut waren die Künstler von der Gunst einer gesellschaftlichen Gruppe ab 46 Vgl. Mommsen, Herausforderung, S. 12/13. 47 Lenger folgt mit seiner »europäischen Stadtgeschichte«, die er 1850 beginnen lässt, der dreigliedrigen Phaseneinteilung der Moderne in die durch eine liberal-bürgerliche Verfasstheit gekennzeichnete Sattelzeit (etwa 1750–1850), die durch Standardisierung, Konventionalisierung und Ausweitung der Partizipation weiterer Bevölkerungskreise charakterisiert sei (seit Mitte / Ende des 19. Jahrhunderts) und in den 1960er/70er Jahren von der Postmoderne abgelöst wurde. Vgl. Lenger, Metropolen, S. 12 f. 48 Vgl. Oexle, Krise, S. 11–116. Oexle datiert die Krise des Historismus ebenso wie Detlev Peukert die Klassische Moderne auf den Zeitraum zwischen 1880 und 1932/33. Was Peukert als epocheneigene Widersprüchlichkeit beschreibt, trifft auch den Kern des Zeitabschnitts bei Oexle, der den Begriff der »Polyfokalität« verwendet. Vgl. Peukert, Weimarer Republik, 11/12.
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hängig – diesmal rangen sie um die Aufmerksamkeit eines anonymen bürgerlichen Publikums.49 Die Jahrzehnte um 1900 waren einerseits geprägt durch die Irritation des Kunstbegriffs, der vor allem in ästhetischer und funktioneller Hinsicht differenziert wurde. Andererseits wurde die zunehmende Proletarisierung des Künstlerstandes thematisiert und nach neuen Modellen der Künstlerausbildung und -tätigkeit gesucht. Gemeinsam sorgten beide Problemlagen für eine dynamische Entwicklung im Bereich der Kunst in der Klassischen Moderne, die Detlev Peukert insgesamt als Epoche der Widersprüchlichkeit und des Nebeneinanders verschiedener Lebensentwürfe charakterisiert.50 Im gleichen Zeitraum waren die Bewohner Halles von Umbrüchen bewegt, die in direktem Zusammenhang mit ihrem sprunghaften Wachstum in quantitativer wie qualitativer Hinsicht standen. Der intensive Wandel der täglichen Lebensumwelt führte bei den Zeitgenossen zu einer veränderten Wahrnehmungsweise an sich. Das sich in städtebaulicher, technischer und in der Bevölkerungszunahme äußernde Großstadtwerden ging einher mit der Veränderung sozialer Verhaltens- und Denkweisen.51 Dass auch die Ebene der Wahrnehmung und Mentalität vom allgemeinen Wandel ergriffen war, beschrieben rückblickend Max Sauerlandt und Paul Frankl, die beide zeitweise in Halle tätig waren. Paul Frankl, ab 1920 bis zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 als ordentlicher Professor am kunstgeschichtlichen Seminar tätig, hatte Halle 1912 schon einmal besucht und empfand es zwanzig Jahre später noch immer als eine Stadt im Werden. Die »Physiognomie des Geistigen« Halles sei gekennzeichnet durch das zusammenhanglose Nebeneinander von Neu und Alt.52 Mit Verweis auf einen in der Stadt wirksamen Genius Loci, der bei allem Wandel unabhängig von den Bewohnern für einen konstanten Wesenskern der Stadt sorge, charakterisierte auch Sauerlandt, ab 1908 als Direktor des städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe, die Stadt als Stadt im Wandel:
49 Peter Bürger orientiert ausführlich in seiner Monografie über die »Theorie der Avantgarde« über diesen Zusammenhang. Vgl. Bürger, Theorie, S. 29 ff. 50 Der von Detlev Peukert aus der Kunstgeschichte entlehnte und auf den Bereich der Gesellschafts- und Politikgeschichte übertragene Epochenbegriff der Klassischen Moderne ist in der Forschung umstritten. Während von Peukert die Modernisierungstendenz im gesamten soziokulturellen Bereich als Signatur der Epoche benannt wird, problematisiert Helmuth Kiesel die diesem Zeitraum unterstellte Kontinuität und verweist auf die seiner Meinung nach nur sehr unvollständige Modernisierungstendenz. Vgl. Peukert, Weimarer Republik; Kiesel, Klassische Moderne, S. 35–44; Hörl u. a., Jahrhundertwende, S. 13–24. 51 Vgl. Lenger, Metropolen, S. 27. Für Halle beschreibt Andrea Hauser anhand der Kategorie des Raumes den Wandel städtischer Wahrnehmungs- und Gestaltungsweise. Hauser, Halle wird Großstadt. 52 Vgl. Frankl, Physiognomie, S. 33; Schenk / Meyer, Ästhetische und kulturphilosophische Denkweisen, S. 10–12.
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»Wirklich, ich wüßte keine andere Stadt zu nennen, die durch alle Jahrhunderte als ihr Besonderes eine solche Fähigkeit zur Selbstumgestaltung, zur beständigen Metamorphose bewiesen hätte, ohne sich selbst dabei aufzugeben.«53
Diese alle Wirklichkeitsbereiche erfassende Umgestaltung im Zug der Großstadtwerdung bildete den allgemeinen Hintergrund der institutionellen Entfaltung des Kunstsystems in Halle. Die Urbanisierung als der Moderne zugehöriger Prozess erfuhr in dieser wie in jeder anderen Stadt ihre lokalspezifische Ausprägung. Die von Sauerlandt und Frankl wahrgenommene Veränderung, die beide für das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts feststellten, meinte jedoch darüber hinausgehend eine Entwicklung jenseits industriellen Wachstums. Angesprochen wurde das Ineinandergreifen zweier Entwicklungen, die für das lokale Kunstleben von einschneidender Bedeutung waren. Zum einen fand im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine Belebung der halleschen Kunstszene durch das Auftreten neuer Akteure statt, die sich in Künstlervereinen organisierten, Geld für die Unterstützung von Künstlern oder Kunsteinrichtungen bereitstellten, Ausstellungen verwirklichten oder auf städtischer Seite den Ausbau einer öffentlichen Kunstpflege forcierten. Andererseits erreichte auch die seit den 1880ern auf nationaler Ebene fußfassende moderne Kunst die Stadt Halle, wurde ausgestellt, nachgeahmt, gekauft und sorgte für hitzige Diskussionen. Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stellt in vielerlei Hinsicht für die Entwicklung der städtischen Kunstlandschaft eine Zäsur dar: Sowohl die Strukturen des Kunstsystems als auch die Inhalte der Kunstdiskussion differenzierten sich und erreichten einen neuen Grad an Professionalität. In diesem Prozess veränderten sich die Zusammensetzung und die Zahl der Akteure, die am städtischen Kunstsystem partizipierten und über das Verständnis von Kunst und Künstler verhandelten. Während die ästhetische Tradition und das künstlerische Selbstverständnis vor allem in den künstlerischen Zentren Westeuropas diskutiert und von zeitgenössischen Künstlern in Frage gestellt wurden – nach Paris entwickelte sich vor allem Berlin zu einem Zentrum der ästhetischen Moderne – waren derlei Streitigkeiten in der preußischen Provinz vorerst nicht von Belang. Bevor in Halle die bisher sanktionierte natürliche Abbildfunktion der Kunst angezweifelt wurde, waren es vor allem pragmatisch-wirtschaftliche Erwägungen, die hier für die Entwicklung der Kunst wichtige Impulse lieferten. Aufgrund der Bedeutung Halles als Zentrum innerhalb der mitteldeutschen Industrieregion wurde die kunstgewerbliche Ausbildung vor Ort sowohl durch die preußische Regierung als auch die halleschen Bürger gefördert. Die spezifischen Bedingungen vor Ort erlauben es, einen anderen Blick auf die Klassische Moderne zu gewinnen, indem die Frage nach dem Wandel der Schaffensbedingungen und
53 Sauerlandt, Stadt in Wandlung, S. 1.
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der sozialen und ideellen Situierung der Künstler im städtischen Kontext in den Vordergrund rückt. Als dann im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die Ideen der ästhetischen Moderne nach Halle importiert wurden, kam die zeitgenössische Diskussion um die Kunst der Avantgarde auch im lokalen Kontext kontrastreich zum Tragen. So bescheiden und verspätet die Expansion des halleschen Kunstschaffens begann, so dynamisch und eindrucksvoll entwickelte es sich in den Jahrzehnten nach 1900 zu einem vielstimmigen Komplex, in dem die zentralen Probleme der Klassischen Moderne verhandelt wurden.
2. Wie veränderte sich Künstlersein in der Klassischen Moderne? – Fragestellung und Analyseebenen Meine Untersuchung stellt sich der Frage, wie die von Urbanisierung und Modernisierung verursachte Neugestaltung der halleschen Kunstlandschaft auf die Lebens- und Schaffensbedingungen der städtischen Künstlerschaft wirkten. Wie veränderten sich im Untersuchungszeitraum die Bedingungen des Künstlerseins und welchen Wandel zeitigten sie in Bezug auf den Arbeitsalltag des Künstlers, seine soziale Stellung in der Gesellschaft sowie sein Selbstbild? Wie etablierten sich die bildenden Künstler als Akteure des vielstimmig werdenden städtischen Kunstsystems und wie vertraten sie ihre Position gegenüber anderen Akteuren und Interessengruppen? Mein besonderes Augenmerk gilt dabei den umwälzenden Veränderungen, die um 1900 den Kunstbereich erfassten. Die institutionelle Verästelung, der Ausbau einer permanenten Kunstöffentlichkeit, die Etablierung und Professionalisierung einer öffentlichen Kunstpflege waren als umgebende Strukturen für den Künstler von wesentlicher Bedeutung. Ebenso gewichtig waren gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse, die das bürgerliche 19. Jahrhundert umwälzten, indem die Verstädterung, das enorme Bevölkerungswachstum und die Industrialisierung die wirtschaftliche Struktur und die Bedingungen des Zusammenlebens nachhaltig und tiefgreifend veränderten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand in der Phase der Hochindustrialisierung eine Kunstindustrie, die auf den gestiegenen Kunst- und Ausstattungsbedarf bürgerlicher Bevölkerungskreise mit der massenweisen Produktion alltäglicher Gebrauchsgegenstände reagierte. Die eigentliche Funktion der Gegenstände wurde durch dekorative Elemente verschleiert und erschöpfte sich zunehmend in historistischem Eklektizismus. Nachdem von staatlicher Seite bereits die qualitative Unterlegenheit der Industrieproduktion im internationalen Vergleich als Pro blem erkannt wurde, gingen von bildungsbürgerlicher Seite unter maßgeblicher Beteiligung bildender Künstler reformerische Impulse aus. Die in verschiedenen Phasen wirksame Kunstgewerbebewegung erfasste zunächst kaum die Industrieproduktion, sondern wurde vor allem in kleineren Produktionseinheiten
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bedeutsam.54 Obwohl sich für die Künstler hier neue Beschäftigungsmöglichkeiten boten, wird die prekäre wirtschaftliche Situation des Berufsstandes in zeitgenössischen Studien greifbar und nach der Wende zum 20. Jahrhundert verstärkt problematisiert.55 Der sich im 19. Jahrhundert entfaltende Kapitalismus sorgte dafür, dass sich bisherige Modelle der Künstlerausbildung und der Arbeitsgestaltung überlebten. Stattdessen mussten alternative Berufskonzepte etabliert werden, die zugleich künstlerisches Schaffen und wirtschaftliches Auskommen ermöglichten. Die spezifisch städtischen Bedingungen einerseits und die überregional und langfristig wirksamen Prozesse der Industrialisierung und Transformation der bürgerlichen Gesellschaft andererseits werden als Faktoren der Veränderung des Künstlerseins gleichermaßen einbezogen. Die erkenntnisleitende Frage wird auf vier Analyseebenen beantwortet: 1) Kunstsystem a) Kunstbegriff b) Netzwerk der Institutionen und Akteure 2) Künstlersein a) soziale Gestalt b) Künstleridentität und Künstlerberuf 1) Der analytische Begriff des Kunstsystems meint sowohl die institutionelle Struktur der städtischen Kunstlandschaft als auch die synchron und diachron konkurrierenden historischen Kunstbegriffe. Letztere erfassen die sprachlichen Bedingungen und damit vor allem auch überregional wirksame Veränderungen. Entsprechend des Zuschnitts meiner Untersuchung, die sich auf die Entität des städtischen Kunstgeschehens bezieht und sowohl die institutionellen Bedingungen als auch das zeitgenössische Kunstverständnis in seiner historischen Entwicklung einbindet, wird das von Hans Dieter Huber entwickelte Konzept von Kunst als sozialem System für meine Herangehensweise als theoretischer Ausgangspunkt in Anspruch genommen und für mein Analysemodell operationalisiert. Dazu wird im Folgenden sein erkenntnistheoretischer Ansatz mit Elementen anderer Theorien kombiniert und variiert.56 54 Vgl. Selle, Geschichte des Design, 85–101. 55 Im Zeitraum um 1910 ist eine besondere Dichte der Veröffentlichungen zum Thema der wirtschaftlichen Bedingungen des Künstlerberufs festzustellen und wird die Bezeichnung des »Künstlerproletariats« geläufig. Vgl. Wolf, Volkskunst; Uphoff-Hagen, soziale Stellung, S. 611–615; v. Bülow, Künstler-Elend; Naumann, Kunst und Volkswirtschaft; Märten, wirtschaftliche Lage; Hellwag, wirtschaftliche Lage. 56 Huber entwickelt zwei Möglichkeiten der Anwendung seiner Theorie auf den Bereich systemischer kunsthistorischer Forschung. Im Unterschied zu einer strukturellen Analyse des Kunstsystems sieht er als Erkenntnisgegenstand der kunsthistorischen Forschung die Genese des Kunstsystems (genealogische Analyse): »In einer genealogischen Perspektive erhält man dagegen eine historisch Re-Konstruktion. Hier kann man die Diachronie des Systems
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Der von mir prominent verwendete Begriff des Kunstsystems knüpft an Hubers erkenntnistheoretische Überlegungen zur Untersuchung von Kunst an. Er geht davon aus, dass im Mittelpunkt (kunst-)historischer Analysen nicht länger die positivistische Interpretation autonomer Kunstwerke stehen könne, sondern Kunstverständnis generell historisiert und in den Forschungsfokus rücken müsse. Die wissenschaftstheoretische Erkenntnis, dass die Aussagen des erkennenden Subjektes nicht letztgültig sein können und vom Betrachterstandpunkt abhängen, ist seit der Krise des Historismus am Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder vorgetragen und in der gegenwärtigen geistes- und sozialwissenschaftlichen Forschung mehrheitlich Konsens. Neu hingegen ist seine Adaption systemtheoretischer und diskurswissenschaftlicher Prämissen in das Programm kunsthistorischer Forschung.57 Die wirklichkeitsstiftende Bedeutung der Sprache, die (historische) Realität nicht nur beschreibt, sondern mittels sinnstiften der und kulturell vermittelter Codes Realität individuell überhaupt erst konstituiert, bildet die Grundlage von Hubers »Kunst als sozialer Konstruktion«. Begriffen kommt dabei die zentrale Rolle von Orientierungspunkten zu, anhand derer die Wahrnehmung der (historischen) Subjekte strukturiert ist. Die Veränderlichkeit der Begriffe bedingt, dass soziale Wirklichkeit im diachronen Verlauf unterschiedlich wahrgenommen wird. Sie sind deshalb als Analyseobjekt ein Indikator für veränderte Bedingungen der Realitätskonstruktion. Zum Zweiten speist sich Hubers Theorie aus systemtheoretischen Ansätzen und der Annahme, dass voneinander relativ unabhängige gesellschaftliche Teilbereiche entsprechend der funktionellen Differenzierung der modernen Gesellschaft entstehen. Die Kunst als ein gesellschaftlicher Teilbereich sei dabei – der grundlegenden Bedeutung der Sprache für die Konstruktion von Wirklichkeit geschuldet – durch relativ stabile Kommunikationswege strukturiert, die die einzelnen Teilnehmer des Systems untereinander verbinden und über die zentrale Begriffe verhandelt werden. Als Akteure des Kunstsystems bezeichnet Huber
beobachten. … Wenn ich die Interaktionsformen des Kunstsystems in einer genealogischen Perspektive beschreibe, erhalte ich eine Geschichte der Evolution des Kunstsystems. Man kann beschreiben, wie aus der Selektion, der Variation und der Restabilisierung bestimmter Interaktionsformen und Kommunikationsmedien eine spezifisch historische Identität des Kunstsystems entsteht.« Vgl. Huber, Kunst, S. 273. 57 Der linguistic turn erfasste weite Teile der Geistes- und Kulturwissenschaften, seitdem er in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der Sprachphilosophie entwickelt und von Richard Rorty verbreitet wurde. Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 33 ff. – Seit den achtziger Jahren fand die linguistische Wende auch Eingang in die Geschichtswissenschaften und wurde dort als »Historische Semantik« und später unter dem Begriff der »Historischen Diskursanalyse« für die Geschichtswissenschaft operationalisiert. Vgl. Busse, Historische Semantik; Busse / Hermanns / Teubert, Begriffsgeschichte; Eder, Historische Diskursanalysen; Sarasin, Geschichtswissenschaft; Landwehr, Historische Diskursanalyse.
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Individuen, die an der Kunstkommunikation teilhaben und eine bestimmte Wirklichkeitsauffassung teilen.58 Meine Untersuchung des halleschen Kunstsystems berücksichtigt beide Elemente der Theorie Hubers. Anhand institutioneller Knotenpunkte, deren Zahl im Verlauf des Untersuchungszeitraumes stark zunimmt und die ein von anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen unterscheidbares, relativ autonomes Teilsystem bilden, wird die Entwicklung des städtischen Kunstsystems untersucht. Die historischen Akteure als Träger des Kunstsystems – Wirklichkeit ist schließlich die Leistung individueller Wahrnehmung – agieren zumeist aus institutionellen Kontexten heraus, die deshalb als Ausgangspunkt der Analyse fungieren. Obschon Individuen und Institutionen keinesfalls gleichzusetzen sind, bildet die Institution einen verstetigten Zusammenhang einer Gruppe von Individuen, die über deren persönliche Beteiligung hinausreicht, und ist insofern Ausdruck individuellen Handelns und eines historisch spezifischen Kunstverständnisses.59 Das Verhältnis zwischen einzelnen Akteuren und institutionellen Zusammenhängen gestaltet sich nach Art der Institution und individuellem Temperament. Einerseits wird der aus einer Institution heraus handelnde Akteur mit institutionenspezifischer Kompetenz und Macht ausgestattet, sie erschwert jedoch infolge ihrer Beharrlichkeit auf Veränderung zielendes individuelles Handeln. Anhand der personellen Zusammensetzung, der Verbindungen der Institutionen untereinander, ihres Aufbaus und ihrer Funktion im kunstspezifischen Kontext ist also einerseits die institutionelle Struktur der städtischen Kunstlandschaft zu erkennen. Ausdifferenzierung und Professionalisierung sind dabei zentrale Entwicklungstendenzen, die sich vor allem im Wandel der in den Institutionen tätigen Akteure und der Bedeutungsverschiebung der Institutionen untereinander ausdrückt. Neben der zum Ausgangspunkt gewählten institutionellen Gliederung des Kunstsystems wird es wesentlich durch die in ihm vermittelten Kunstbegriffe charakterisiert. Die Institutionen sind zugleich Ergebnis historisch spezifischer Vorstellungen von Kunst und aufgrund ihrer strukturellen Langlebigkeit und Vernetzung Ausgangspunkt breitenwirksamer Veränderungen des Kunstverständnisses. Der ausschließlich individuell konstituierte, aber sozial vermittelte Kunstbegriff bedarf der Sprache und ist deshalb an die Gesetze der Kommu 58 »Die Mitglieder des Sozialsystems Kunst sind einzelne Individuen, insoweit sie auf eine bestimmte Rolle oder eine bestimmte Funktion im System handeln.« Huber, Kunst, S. 42. 59 Als Institution bezeichne ich Einrichtungen, die jenseits individuellen Handelns Bestand haben, eine relativ feste Organisationsstruktur ausbilden und einen bestimmten Zweck verfolgen – im Gegensatz zu Peter Bürger, der den Begriff der Institution für die Kennzeichnung des relativ autonomen Bereichs der Kunst verwendet. Vgl. Magerski, Theorien der Avantgarde, S. 67 ff.
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nikation gebunden.60 Der in den Quellen direkt thematisierte oder indirekt aufscheinende Kunstbegriff ist daher mehrfach gebrochen (Selektion durch Kommunikation, Interpretation durch den Historiker) und keineswegs der unmittelbare Ausdruck individueller Kunstrealität. Seine Analyse ermöglicht es aber, Orientierungspunkte und Brüche in der Konstruktion von Kunst als Wirklichkeitsbereich im diachronen Verlauf aufzuzeigen. Die hier angewandte Methode der hermeneutischen Interpretation das Verständnis von Kunst betreffender Aussagen will nicht den Anspruch der in den letzten Jahren vor allem konzeptuell vorangebrachten historischen Diskursanalyse erfüllen. Eine solche Studie müsste alle auf ein Diskursfeld bezogenen Handlungen (sprachliche Äußerungen inbegriffen) berücksichtigen, um die überindividuellen Strukturen des Denk- und Sagbaren sichtbar zu machen.61 Die in der vorliegenden Untersuchung betrachteten Kommunikationsstrukturen und Themenstränge geben zwar Ausblicke auf die Formation des historischen Kunstdiskurses. Ihre Analyse zielt aber nicht darauf, ihn und damit die Regeln historischer Wirklichkeitswahrnehmung und Kommunikation darzustellen. Für meine Forschungsfrage nach den Bedingungen künstlerischer Existenz in Halle betrachte ich stattdessen Ausschnitte der historischen Kunstkommunikation und ihrer institutionellen Verdichtung. Methodisch bedeutet das, dass die in den Quellen vorkommenden Worte »Kunst«, »Künstler« oder andere entsprechende Wortkombinationen auf ihre spezifischen Bedeutungsgehalt befragt werden.62 Die analysierten Situationen, in denen der Kunstbegriff in seiner Mehrdeutigkeit aufscheint, werden als Diskussion bezeichnet. Dabei lassen sich einzelne Diskussionslinien oder -tradi-tionen unterscheiden, wenn der Kunstbegriff beispielsweise wiederholt und über längere Zeiträume hinweg auf die Frage nach der Freiheit im Gegensatz zur Zweckgebundenheit der Kunst ausgelotet wurde.63 Im diachronen Verlauf lässt sich beobachten, dass in Halle um die Wende zum 20. Jahrhundert parallel zur institutionellen Ausdifferenzierung auch der Kunstbegriff großen Irritationen unterworfen ist.64 Das semantische Spannungsfeld ist 60 Auch dazu äußert sich Huber, wenn er zu bedenken gibt, dass der Sprechende sich den Erwartungen seines Gegenübers anpasst, um verstanden zu werden. Vgl. Huber, Kunst, S. 259. 61 Landwehr umreißt die einen Diskurs bildenden Elemente so: »Der Diskurs als historisches Phänomen lässt sich in seiner Gesamtheit als die Menge all jener textlichen, audiovisuellen, materiellen und praktischen Hervorbringungen beschreiben, die das Thema des Diskurses in irgendeiner Weise behandeln oder auch nebenher streifen.« Landwehr, Historische Diskursanalyse, S. 102. – Weiter zur Definition des Diskursbegriffs siehe Busse, Historische Semantik, S. 95; Haslinger, Diskurs, S. 45/46. 62 Schütte, Beruf des bildenden Künstlers, S. 6. 63 Peter Haslinger plädiert für eine sparsame Verwendung des Diskursbegriffs und schlägt vor, zur Entlastung des Begriffs und für die konkrete Analyse die Begriffe Debatte, Diskussion und Thema zu verwenden. Vgl. Haslinger, Diskurs, S. 40 und 45/46. 64 Wilhelm Trübner machte kurzerhand die zunehmende Uneindeutigkeit des Kunstbegriffs zum Titel eines Buches: Trübner, Verwirrung der Kunstbegriffe.
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besonders geprägt von Äußerungen zur kunstwerkbezogenen Ästhetik (Stil und Themen), der gesellschaftlichen Funktion von Kunst und der Rolle des Künstlers im gesellschaftlichen Kontext. Die institutionelle Systemstruktur und die daran angebundenen Kunstbegriffe und diskussionen sind zudem verortet innerhalb eines Machtgefüges, das über die Durchsetzung bestimmter Kunstvorstellungen entscheidet. Die Verfügbarkeit finanzieller Mittel, sozialer Reputation oder anderer Ressourcen nimmt Einfluss darauf, wie wirksam Ansichten über Kunst verbreitet werden können, und nimmt letztendlich auch darauf Einfluss, welche Künstler erfolgreich sind. Pierre Bourdieu macht in seiner Analyse der Genese des literarischen Feldes deutlich, dass die »Regeln der Kunst« stark abhängig von außerkünstlerischen Eliten und der Beschaffenheit des kapitalistisch organisierten Marktes sind.65 In vielen Aspekten lassen sich seine Untersuchungsergebnisse auf die Entwicklung der bildenden Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft übertragen und erklären zum Beispiel den Erfolg bestimmter Bildtypen im Rahmen der Kunstvereinsausstellungen im 19. Jahrhundert. Die Disposition des Publikums, das in der Mehrheit vor allem günstige Kunstwerke zu repräsentativen Zwecken erwarb, bestimmte über das Aufgabenfeld des Künstlers. Das Bürgertum als bestimmende Sozialformation des 19. Jahrhunderts verfügte sowohl über politische als auch wirtschaftliche Machtmittel und nahm auf die Formation des Kunstsystems entscheidenden Einfluss. Auch in Halle bestanden zwischen Kunst, Politik und Wirtschaft vielerlei Verbindungen und werden von einzelnen Akteuren Wertvorstellungen auf den Bereich der Kunst übertragen, die aus machtpolitischen oder ökonomischen Wissenszusammenhängen stammen und die Regeln des Kunstsystems bestimmen.66 2) Der bewusst weitgreifende Analysebegriff des Künstlerseins zielt darauf ab, den bildenden Künstler sowohl hinsichtlich seiner sozioökonomischen als auch seiner soziokulturellen Merkmale und ihrer Veränderungen zu untersuchen. Zweifellos gehörten die bildenden Künstler ebenfalls dem Kunstsystem an. Als werkproduzierende Kräfte spielten sie darin sogar eine zentrale Rolle und brachten die sie umgebenden Strukturen, wie die Kunstpolitik, den Kunstmarkt, das 65 Für Bourdieu setzt die Existenz des Kunstfeldes (Kunst als relativ autonomer gesellschaftlicher Teilbereich) voraus, dass einander widersprechende Kunstdeutungen aufeinandertreffen. Erst mit der Kritik der bürgerlichen Prägung der Kunst sei überhaupt das Feld der Kunst entstanden. Peter Bürger zufolge tritt die Autonomwerdung der Kunst gar erst mit den historischen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kraft, die die bisherige Existenz der Kunst negieren. Vgl. Magerski, Theorien der Avantgarde, S. 51 ff., S. 75; Vgl. Bourdieu, Regeln der Kunst, S. 84–93. 66 »… nahezu immer gibt es in jeder Gesellschaft eine Pluralität sozialer Mächte, die bisweilen in Konkurrenz miteinander, bisweilen in ›konzertierter Aktion‹ vermöge ihrer politischen oder ökonomischen Machtstellung sowie Kraft institutioneller Garantien in der Lage sind, einem mehr oder weniger ausgedehnten Bereich des kulturellen Kräftefeldes ihre kulturellen Nomen aufzupflanzen.« Vgl. Bourdieu, Soziologie der symbolischen Formen, S. 103.
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Publikum und vermittelnde Akteure und Instanzen, erst hervor. Die Künstler agierten im Rahmen fremd- und zunehmend selbstgeschaffener Strukturen, Machtverhältnisse und Kunstvorstellungen. Bevor sich in Halle eine nennenswerte Anzahl bildender Künstler niederließ, dominierten im lokalen Rahmen sekundäre, kunstverwertende Akteure und Institutionen, die sich vorrangig auf die Kunst außerhallescher Herkunft bezogen. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts etablierten und behaupteten sich Künstler innerhalb der bestehenden Strukturen, an die sie sich anpassten und mit deren Unterstützung oder unter deren Einfluss sie eigene Wirkung entfalteten. Schließlich übernahmen hallesche Künstler in selbstorganisierten Gruppen selbst eine aktive Rolle und bemühten sich ihre Existenzbedingungen zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Um zu erklären, wie die bildenden Künstler zunehmend stärker als Subjekte der lokalen Kunstlandschaft auftraten und sich schließlich in der Nachkriegszeit unter der Flagge des Wirtschaftsverbandes bildender Künstler jenseits stilistischer Unterschiede für berufsspezifische Interessen einsetzten, ist es unerlässlich, die Genese der halleschen Kunstlandschaft zu beobachten. Der auf eine Stadt gerichtete, mikrohistorische Blick enthüllt auf der Ebene einzelner Akteure, wie die Austauschbeziehungen zwischen Produzenten, Konsumenten und Vermittlern Gestalt annahmen und welche Inhalte (Begriffe) kommuniziert wurden und sich entsprechend der Machtverhältnisse und Ressourcen durchsetzten. Der in der Kunstgeschichte häufig in den Vordergrund gerückte Aspekt ästhetischer Originalität konstituiert in der vorliegenden Arbeit folglich nicht den Untersuchungsgegenstand. Die künstlerische Moderne mit ihren ästhetischen und funktionellen Vorstellungen von der Kunst und der moderne Künstler, der diesen neuen, von den etablierten Werten abweichenden Begriffen anhängt, bilden neben den Kunstvertretern, die sich auf ältere Kunsttraditionen berufen, einen gleichwertigen Bezugspunkt. Nicht einbezogen werden die einzelnen Kunstwerke, die in ihrer Ästhetik, das heißt in ihrem Bildprogramm, ihrer Ikonografie sowie ihrer Darstellungsweise eine über meine Forschungsfrage hinausgehende Qualität aufweisen. Indem das Kunstwerk eine überzeitliche Geltung beansprucht und sich sowohl der Intention seines Produzenten als auch einer bleibenden Interpretation der Rezipienten entsagt, kann darauf beruhend eine ganz andere Geschichte geschrieben werden, als sie hier beabsichtigt ist. Dennoch sind die Werke auch aus einer sprach- und sozialorientierten Geschichtsschreibung nicht wegzudenken und finden in groben Charakterisierungen Eingang in die Untersuchung. Im Zentrum stehen stattdessen die bildenden Künstler, die sich beginnend am Ende des 19. Jahrhunderts vermehrt in Halle niederließen und eine spezifische Künstleridentität ausprägten. Das mit dem Terminus des Künstlerseins67 67 Das Künstlersein ist nicht mit dem Künstlerberuf identisch. Zwar umfasst auch der Berufsbegriff materielle sowie ideelle Aspekte künstlerischer Tätigkeit, würde, bezogen auf
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umrissene Interesse der Arbeit gilt gleichermaßen dem vorgestellten Künstlerbild, der beruflichen Realität des Künstlers wie den Formen seiner Vergemeinschaftung.68 Einerseits stehen auf dieser Analyseebene zeitgenössische Vorstellungen vom Künstlersein im Fokus, wie sie von den angehenden oder bereits etablierten Künstlern entworfen wurden. Dazu zählt, welche Vorstellungen den Berufswunsch bei Nachwuchskünstlern prägten, wer die Künstler im gesellschaftlichen Rahmen gerne sein würden und wie sich die Künstler im gewerblichen Gefüge der Stadt selbst vorstellten. Daran anschließend ist auch darzustellen, welche Mittel den Künstlern zur Verfügung standen, um ihre Ziele – sei es den individuell gefassten Berufswunsch zur verwirklichen oder als Berufsgruppe in der Kommunalpolitik berücksichtigt zu werden – durchzusetzen. Auf der Ebene der sozialen Gestalt des Künstlers wird das Künstlersein anhand sozialer Parameter bestimmt und werden diachron Veränderungen hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Lage, seiner Ausbildungswege sowie Tätigkeitsmuster untersucht. Um seine soziale Lage bestimmen zu können, schließt dies auch die Betrachtung seiner sozialen Herkunft und der Einkommensentwicklung ein. So wenig die Bezeichnung Künstler am Beginn des Untersuchungszeitraumes für hallesche Kunstschaffende in der Schriftsprache gebraucht und sie stattdessen als Maler, Bildhauer oder Architekt angesprochen wurden, so fließend ragten ihre Tätigkeitsbereiche in das handwerkliche Gewerbe hinein und war eine rein künstlerische Tätigkeit nicht eindeutig abzugrenzen. Erst im Verlauf kommender Jahrzehnte wurde eine spezifisch künstlerische Identität entwickelt, die auch nicht immer mit der Erwerbstätigkeit der betreffenden Person identisch war. Wie bei den meisten Berufen in dieser Zeit spielte auch für den Künstlerberuf seine Professionalisierung eine wesentliche Rolle, die vor allem im Bereich der Ausbildung und der Organisation in Berufsverbänden vorangetrieben wurde.
den hier untersuchten Zeitraum und die spezifische Situation der Künstler in der Stadt Halle jedoch zu kurz greifen und bildet deshalb lediglich einen Teilaspekt der Untersuchung des historischen bildenden Künstlers. 68 Schütte stellt in seiner Dissertation die besondere Betonung des Spannungsverhältnisses zwischen der subjektivistisch-individualistischen und gesellschaftlich-funktionalen in der Betrachtung des Künstlerberufes / im Berufsbegriff der empirischen Kunstsoziologie fest. Vgl. Schütte, Beruf des bildenden Künstlers, S. 25/26.
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3. Kunst und Künstler – Begriffe und Aufbau der Arbeit Die leitende Forschungsfrage nach den veränderten Bedingungen des Künstlerseins in der Klassischen Moderne macht es erforderlich, dass Kunst und Künstler als analytische Begriffe weit gefasst sind. Maßgeblich für die Identifikation von Kunst und Künstler im vorliegenden Analyseraster – die zeitgenössisch mitunter nicht als solche benannt wurden, weil entsprechende Begriffe nicht zur Verfügung standen69 – ist das Vorhandensein eines kreativ-gestalterisches Elementes. Dabei wird der Begriff des Künstlerischen nicht exklusiv auf das frei schöpfende Künstlertum beschränkt, sondern umschließt auch den Bereich der angewandten Gestaltung. Von der als eigenständig und schöpferisch definierten Arbeit des Künstlers werden Tätigkeiten abgegrenzt, die nicht auch auf einer intellektuellen Leistung beruhen und ausschließlich nach fremden Vorgaben ausgeführt werden. Eingegrenzt wird der Analysebegriff Kunst auf den Bereich der bildenden Künste und schließt darstellende Kunst ebenso aus wie Literatur und Musik. Neben den gemeinhin der bildenden Kunst zugeordneten Bereichen der Malerei, Grafik und Bildhauerei sind Architektur und Kunstgewerbe für die Betrachtung grundlegend. Beide lieferten für das zeitgenössische Kunstbild und Künstler selbstverständnis wichtige Impulse. Als Disziplinen, die sich – leichter als autonome Kunstwerke – mit den zeitgenössischen Dauerthemen des funktionalen Anspruchs und ökonomischen Erfordernissen verbinden ließen, waren sie für das zeitgenössische Kunstsystem wichtige Bezugspunkte. Die Abgrenzung gegenüber anderen gestalterischen Disziplinen wie der Fotografie oder dem Film ist hingegen schwieriger. Als zugleich künstlerische Disziplinen und massenkulturelle Phänomene eröffnen sie einen weiteren Untersuchungsbereich, der hier nicht abgedeckt werden kann.70 Für das Kunstsystem, die Vorstellung vom Künstler sowie seine berufstypologische Entwicklung sind Formen der Populärkultur im halleschen Kontext im Untersuchungszeitraum nur indirekt von Bedeutung. Das Kunstsystem reagierte zwar auf die Technisierung der Alltagswelt und die im Zug der Industrialisierung stark angewachsene Stadtbevölkerung, deren soziodemografische Zusammensetzung und Kunsterfahrung sich stark vom bisher bürgerlichen Kunstpublikum unterschieden. Statt sich den Sehgewohnheiten des Massenpublikums anzupassen, versuchten Künstler und Kunstvermittler, es mittels pädagogischer Programme auf zeitgenössische ästhetische 69 Zum Beispiel bei der Berufsgruppenbestimmung, bei der unter den Bezeichnungen Maler, Bildhauer und Architekten sowohl Künstler als auch Handwerker subsummiert wurden. Siehe Kap. IV.2. 70 Ihre Entwicklung spielte vor allem für die (zeitgenössische) Gesellschaftstheorie eine bedeutsame Rolle: Vgl. Benjamin, Kunstwerk; Kracauer, Ornament.
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Entwicklungen einzustimmen.71 Ein wesentliches Motiv der Kunstgewerbebewegung war es, ein erweitertes Publikum anzusprechen und Kunst im Alltäglichen zu verankern. Misst man die teilweise utopischen Bestrebungen an ihrem unmittelbaren Erfolg in den Bevölkerungsschichten jenseits des Bürgertums, muss man ihr Scheitern konstatieren. Langfristig jedoch nahm die Ausdehnung künstlerischer Gestaltungsbereiche (Design) und die flächendeckend verbesserte Ausbildung von Handwerkern und Kunstgewerbetreibenden Einfluss auf die Konsumkultur. Ähnlich wie bei der Bildung des analytischen Kunstbegriffs verhält es sich mit der als Künstler bezeichneten Personengruppe, die in ihrer historischen Zusammensetzung im Zentrum der Arbeit steht. Die Schwierigkeit liegt auch hier darin, dass sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts und besonders unter Einwirkung des Kunstgewerbes die Grenzen des Künstlerberufs deutlich verschoben. Deshalb gehört es zur Fragestellung der Untersuchung, wie sich die Kriterien für die Zurechnung zum Künstlerstand historisch veränderten. Während zu Beginn des Untersuchungszeitraumes die Ausbildung an einer staatlichen Kunstakademie wesentlich über die Anerkennung als Künstler entschied, wurden die Kriterien um die Jahrhundertwende mit dem Entstehen neuer Schultypen und Tätigkeitsbereiche unschärfer. Die Wiederannäherung von Handwerk und Kunst im Verlauf des 19. Jahrhunderts, das Kunstgewerbe und die Kunstindustrie eröffneten Tätigkeitsbereiche, die dazu beitrugen, das Berufsbild des Künstlers zu diversifizieren.72 Diesem Trend wiederum begegneten die zeitgenössischen Künstler mit der Etablierung neuer beruflicher Standards und mit der Abgrenzung gegenüber vermeintlichen Etikettenschwindlern. Zuerst begannen die Architekten, sich über Berufsverbände zu organisieren und ihren künstlerischen Anspruch gegenüber anderen Berufsgruppen abzugrenzen. Anhand von Selbst- und Fremdzuschreibungen wird deutlich, inwiefern sich die Kriterien für die Zugehörigkeit zu oder den Ausschluss aus der Gruppe der Künstler veränderten. Die Untersuchung ist also nicht auf einen bestimmten Personenkreis festgelegt, sondern orientiert sich am zeitgenössischen Verständnis des Künstlerseins. Vor dem Hintergrund der Besinnung auf den Wertekanon des Handwerks und der fehlenden künstlerischen Tradition Halles stehen auch die Grenzbereiche des Künstlerseins im Fokus. 71 Eric Hobsbawm beschreibt in seinem programmatisch betitelten Aufsatz »Behind the times« das avantgardistische Kunstprogramm und die bildende Kunst insgesamt als an der zeitgenössischen Entwicklung gescheitert. Nach seiner Lesart wäre ihr Erfolg nur möglich gewesen, hätten sie sich den Bedürfnissen und Sehgewohnheiten des neuen Massenpublikums angepasst und auch formal eine Revolution durchlaufen. Vgl. Hobsbawm, Behind the times. 72 Nachdem sich die bildende Kunst im Verlauf des Spätmittelalters aus handwerklichen Zusammenhängen und Korporationsverbänden schrittweise löste, näherten sich bildende Kunst und Handwerk im Verlauf des 19. Jahrhunderts – zuerst im Rahmen der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung – wieder einander an. Vgl. Linares, Kunst an der Grenze, S. 2 ff.
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Die vorliegende Forschungsarbeit ist in drei Teile gegliedert, die von Einlei tung und Schluss flankiert werden. Bevor in den beiden Hauptteilen die eigentliche Forschungsfrage bearbeitet wird, schließen sich an die Einleitung einige Überlegungen zur Besonderheit und Bedeutung der Stadt als Forschungsraum im Allgemeinen und der Stadt Halle im Besonderen an. Neben den Erkenntnispotentialen, die der städtische Raum als Ort einer historiografischen Untersuchung bietet, geht es auch um die generelle Funktion, die Künstler im regionalen Kontext spielen. Darüber hinaus soll vergegenwärtigt werden, dass die Konzentration auf eine bestimmte Stadt nicht bedeuten kann, den sie umgebenden kulturellen und nationalen Rahmen auszublenden. Wie überregional wirksame Entwicklungen auf städtischer Ebene wirksam werden und die Stadt in der administrativen, staatlichen Struktur verankert ist, wird so für die weitere Auswertung geklärt. Um die Veränderung bzw. Pluralisierung der Modelle künstlerischer Lebensführung in Halle in den Jahrzehnten um 1900 erklären zu können, wird im ersten Hauptteil der Arbeit das städtische Kunstsystem seit der Gründung des Kunstvereins 1834 untersucht. Die im Kunstverein popularisierte Vorstellung von der Erscheinung und Funktion bildender Kunst und die durch ihn (und seinesgleichen) hervorgebrachten Strukturen der Kunstproduktion und des Kunstkonsums werden in die Untersuchung einbezogen, um die Transformation des bürgerlichen Kunstbegriffs und die darauf folgenden institutionellen Neuerungen kontrastreich darstellen zu können, obwohl zu diesem Zeitpunkt kaum bildende Künstler in Halle ansässig waren und der eigentliche Fokus auf den Jahrzehnten um 1900 liegt. Die Analyse des Kunstsystems einschließlich der in den verschiedenen Institutionen ausgebildeten Kunstvorstellungen und Künstlerbilder erfolgt unter zwei Aspekten, die für die Genese des städtischen Kunstsystems wesentlich waren: Einerseits waren der Aufbau und die Etablierung einer öffentlichen Kunstpflege entscheidend für die weitere Entwicklung der bildenden Kunst. Ausgehend vom bürgerlichen Vereinswesen, das in seinen Anfangsjahren der Idee von Kunst als Gemeingut auch durchaus skeptisch gegenüberstand, wurden Institutionen gegründet, die sich der Kunstpflege widmeten und Kunstwerke in öffentlichen Sammlungen zugänglich machten. In den Jahrzehnten um 1900 ist zu beobachten, wie parallel zu den privaten Initiativen die Stadt als Akteur in der Kunstförderung zunehmend an Bedeutung gewann. Kunstverein und bürgerliche Mäzene übernahmen zwar weiterhin wichtige Aufgaben in der Kunstförderung, passten sich der öffentlich-kommunalen Förderstruktur aber an und orientierten sich an den Prämissen der so professionalisierten Kunstpflege. Der institutionelle Umbau zog auch die Neuformierung des Kunstmarktes nach sich und wirkte sich auf die Kunstproduktion und wirtschaftliche Lage der Künstler aus. Andererseits war die am Ende des 19. Jahrhunderts an Kraft gewinnende Kunstgewerbebewegung für die Entwicklung des städtischen Kunstsystems von
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entscheidender Bedeutung. Von ihr wurde das traditionell problematische Verhältnis von Kunst und Wirtschaft in den Blick genommen und scharfe Kritik am oberflächlichen Stilwechsel des Historismus geübt. Die kunstgewerbliche Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts nahm auch die später von bildenden Künstlern geforderte Demokratisierung der Kunst vorweg. Anhand des Kunstgewerbevereins, des städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe sowie der mehrfach umbenannten und umgestalteten städtischen Institutionen für kunstgewerbliche Ausbildung lassen sich die maßgeblichen Einflüsse im Bereich des Kunstgewerbes auf das Kunstsystem beschreiben. Der im Wesentlichen anhand der Institutionen und ihrer Chronologie orientierte erste Untersuchungsteil konzentriert sich zum einen auf die personelle, strukturelle und organisatorische Beschaffenheit der Knotenpunkte des Systems. Zum anderen werden die aus institutionellen Kontexten heraus getätigten Aussagen oder dokumentierten Vorgänge untersucht, in denen sich die beteiligten Akteure zur gesellschaftlichen Funktion der Kunst, ihrer ästhetischen Erscheinung sowie zum Künstler positionieren. Damit wird der ständig in Verhandlung stehende Kunstbegriff konturiert und in einigen wichtigen Leitdiskussionen in seinen Brüchen und Kontinuitäten dargestellt. Der zweite Hauptteil der Untersuchung befasst sich mit den in Halle geborenen oder im Untersuchungszeitraum ansässigen Künstlern und verschiedenen Aspekten ihrer Künstlerexistenz, bezogen auf die im ersten Teil eruierten Bedingungen. Auch hier wird der begriffsgeschichtliche Wandel weiterhin einen wichtigen Erkenntnisbereich darstellen. Mit dem Fokus auf den Künstler als historische Person verschiebt sich jedoch der Schwerpunkt der Untersuchung auf sozialgeschichtliche Verhältnisse und Entwicklungen. Die künstlerische Existenz in Halle in den Jahrzehnten um 1900 wird auf fünf Untersuchungsebenen beschrieben. Die über einhundert Bewerbungen um ein Künstlerstipendium, die zwischen 1908 und 1923 bei der Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung eingingen, ermöglichen einen Blick auf den städtischen Künstlernachwuchs. Anhand des Konvoluts lassen sich sowohl soziale Parameter und Zusammenhänge bei der Entscheidung für eine künstlerische Laufbahn beschreiben als auch Aussagen zu zeitgenössischen Vorstellungen vom Künstlerberuf und Ausbildungswegen treffen. In einem zweiten Schritt werden zeitgenössische Ansätze zur Kategorisierung des Künstlerberufs synchron und diachron verglichen. Die aus dem halleschen Adressbuch und vergleichsweise herangezogenen Daten anderer Städte sowie der Reichsstatistik stammenden Berufsbezeichnungen geben einerseits Auskunft über die innere Differenzierung des Berufsstandes und sprechen andererseits vom wechselvollen Verhältnis zwischen bildender Kunst und Handwerk. Im dritten Abschnitt des zweiten Hauptteils steht die Frage nach den Einkommensverhältnissen der halleschen Künstler im Zentrum. Inwiefern die von zeitgenössischen Soziologen vorgelegten Studien und die gängigen Thesen vom Künstlerproletariat für Halle korrigiert werden müssen, zeigt die Auswer-
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tung der städtischen Steuerlisten und Gehaltstabellen. Der vierte Teil beschreibt typische Berufe, die Künstler in Halle im Verlauf des Untersuchungszeitraumes ausübten. Bezogen auf einzelne Künstlerpersönlichkeiten werden insgesamt sechs Typen künstlerischer Existenz vorgestellt. Abschließend richtet sich der Fokus auf die in Halle um 1900 aktiven Künstlergruppen, die mit- und gegeneinander als bestimmende Faktoren des halleschen Kunstsystems auftraten. Deren Verbandsarbeit war nicht nur wesentlich für die Vergemeinschaftung der ortsansässigen Künstler, sondern für die Ausprägung künstlerischer Identität und das Künstlersein als Beruf bedeutsam.
4. Forschungsstand und Mehrwert der Forschungsarbeit Die (Groß-)Stadt als kulturelles Zentrum wurde in verschiedenen historischen Studien zur Klassischen Moderne als Ausgangspunkt gewählt. Nürnberg, Hannover und die kleineren Städte Jena und Weimar bildeten jeweils den Untersuchungsraum für die Entwicklung der kulturellen Moderne in städtischen Zentren jenseits der Metropole Berlin als künstlerisch-experimentellem Nukleus Deutschlands. Alle genannten Stadtstudien konzentrieren sich auf die Darstellung des Konfliktes zwischen ästhetisch modernen und kulturell konservativen Positionen und betonen sowohl die Differenz zur metropolen Avantgarde als auch die Besonderheit und den Eigenwert der provinziellen Kulturlandschaft oder suchen nach »kulturellen Experimenten« (Werner), die zur Konstitution der Moderne jenseits avantgardistischer Zentren beitrugen. Die Arbeiten unterscheiden sich hinsichtlich des Untersuchungszeitraumes, wobei alle die Zäsur des Ersten Weltkrieges zum End- bzw. Startpunkt bestimmen und die Jahrzehnte um 1900 nicht als zusammenhängende Epoche (der Klassischen Moderne) bearbeiten. Auch in der Wahl des Untersuchungsgegenstandes unterscheiden sich die Arbeiten und wählen jeweils einen anderen Zuschnitt, um die kulturelle Moderne im städtischen Kontext zu fassen. Sowohl Alexander Schmidt in seiner Analyse der Kultur Nürnbergs in der Weimarer Republik als auch Angelika Pöthes Arbeit zur Weimarer Kulturlandschaft im Fin de Siècle dehnen ihren Untersuchungsgegenstand auf alle Bereiche der Hochkultur aus – Schmidt umklammert darüber hinaus auch massenkulturelle Phänomene und die Stadtgestaltung – und versammeln eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure. Die Studien von Ines Katenhusen zu Hannover während der Weimarer Republik und Meike G. Werner zu Jena seit der Jahrhundertwende bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges konzentrieren sich thematisch auf einzelne Aspekte der kulturellen Entwicklung und stellen einerseits die Reaktion kommunalpolitischer Akteure auf die ästhetische Moderne (Katenhusen) und andererseits einzelne Akteure bzw. Institutionen ins Zentrum, die ästhetisch moderne Positionen in der Provinz vertraten (Werner). Im Fokus stehen jeweils unterschiedliche
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Institutionen oder gesellschaftliche Gruppen, die als Akteure oder Rezipienten auf ihre Haltung zur ästhetischen Moderne zu untersuchen sind. Künstler bzw. Kulturschaffende werden in Verbindung mit den bestehenden Instanzen und Akteuren der Vermittlung, Kunstförderung und der Rezeption durch das Publikum thematisiert. Als einzelne Künstlerpersönlichkeiten oder Künstlergruppen betrachtet, werden ihre künstlerischen Positionen bewertet und im Spannungsfeld der Moderne verortet. Keine der Arbeiten ist jedoch daran interessiert, die Künstler als Berufsgruppe systematisch in den Blick zu nehmen und die Einflüsse der Modernediskussionen auf ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen zu untersuchen.73 Zur Geschichte der Stadt Halle als Großstadt erarbeitete Andrea Hauser eine Monografie, die anhand einzelner Themenstränge die mit der Großstadtwerdung verbundenen Wahrnehmungsveränderungen und neue Verhaltensmuster als Seismografen der urbanen Moderne untersucht.74 Bezüglich des städtischen Kunstsystems liegen Arbeiten zu einzelnen Institutionen und Akteuren vor. Besonders das Kunst- und Kunstgewerbemuseum und die Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein wurden als institutionelle Keimzellen der künstlerischen Moderne in Halle thematisiert.75 Auch einzelne Künstler standen im Fokus monografischer Forschungsarbeiten oder kleinerer und ausstellungsbegleitender Texte.76 Bis auf eine Publikation zur halleschen Künstlergruppe77 waren künstlerische Zusammenschlüsse in der Stadt bisher nicht Gegenstand umfangreicherer Forschungsarbeiten. Vor allem der Wirtschaftsverband bildender Künstler, dessen Ortsgruppe Halle sich 1923 konstituierte, und sein lokaler Vorläufer des halleschen Künstlerrates tauchen in der Stadtgeschichtsschreibung bisher nicht auf. Da der Wirtschaftsverband, später in Reichsverband bildender Künstler umbenannt, bisher generell wenig belichtet wurde, kann anhand der Ortsgruppe und ihrer Zusammenarbeit mit dem Dachverband ein weiterer Forschungsbeitrag geleistet werden.78 73 Vgl. Werner, Moderne in der Provinz; Pöthe, Fin de Siècle; Schmidt, Kultur in Nürnberg; Katenhusen, Kunst und Politik. 74 Von besonderem Interesse war dabei für die Bearbeitung meiner Fragestellung ihre Darstellung zur 1881 stattfindenden Gewerbe- und Industrieausstellung. Vgl. Hauser, Halle wird Großstadt. 75 Vgl. Hüneke, Das schöpferische Museum; Schneider, Burg Giebichenstein; Burg Giebichenstein. 76 Für die an der Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein beschäftigten Künstler bzw. ihre Schüler liegt eine publizierte Übersicht vor. Vgl. Biographien Burg Giebichenstein. 77 Vgl. Schulze, »Hallische Künstlergruppe«. 78 2008 wurde die umfangreiche Monografie Kristina Kraatz-Kessemeiers »Kunst für die Republik« veröffentlicht, in der sie die Gestaltung der Kunstpolitik in der Weimarer Republik untersucht. Der Wirtschaftsverband bzw. Reichsverband bildender Künstler taucht hier mehrfach als Akteur in der Interaktion mit Regierungsinstitutionen auf, steht jedoch nicht im Zentrum ihres Interesses. Vgl. Kraatz-Kessemeier, Kunst für die Republik.
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Im Gegensatz zur spärlichen Erforschung der Stadt als Raum der Kunstentwicklung untersuchten einige monografische Arbeiten und Aufsatzsammlungen den politischen Kontext und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte auf staatlicher Ebene. Zu Beginn der 1980er Jahre wurden im Rahmen der Publikationsreihe »Kunst, Politik und Kultur im deutschen Kaiserreich« Studien veröffentlicht, die den Anspruch hatten, den bisher primär verfolgten Ansatz der Kunstgeschichtsforschung, Kunstwerke als ästhetisch autonome Phänomene zu interpretieren, um sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen zu erweitern.79 Die preußische Kulturpolitik wurde im Rahmen der Neuen Folge der »Acta Borussica« durch den Beitrag von Bärbel Holtz erneut thematisiert und in einer von 1908/17 bis 1933 reichenden Gesamtschau vorrangig in ihrer institutionellen Entwicklung dargestellt. In diesem Zusammenhang fanden auch die Kunstgewerbebewegung und die staatlichen Impulse zu ihrer Förderung Aufmerksamkeit. Die Entwicklung der Kunstpolitik unter den Bedingungen des Systemwechsels nach dem Ersten Weltkrieg analysierte Kristina Kraatz-Kessemeier im Rahmen ihrer 2008 veröffentlichten Dissertation. Neben der institutionellen Neuordnung kommen hier vor allem die ministeriell verfolgten Konzepte im Umgang mit der bildenden Kunst zum Tragen.80 Den genannten Publikationen ist gemein, dass sie Kulturpolitik entweder mit Blick auf zentralstaatliche Strukturen und Konzepte analysieren oder im Rahmen lokaler Institutionen oder stadtbezogener Fallbeispiele einen Aspekt der Kunst- oder kunstgewerblichen Entwicklung beleuchten. Das komplexe Zusammenspiel von Akteuren aus dem politisch-administrativen, wirtschaftlichen und künstlerischen Bereich liegt bei ihnen nicht im Fokus der Untersuchung. In der überregional orientierten Forschung war es Wolfgang Ruppert, der den bildenden Künstler aus sozial- bzw. kulturhistorischer Perspektive untersuchte.81 In seiner 1998 veröffentlichten Monografie beleuchtet Ruppert sowohl dessen sozialstrukturelle Entwicklung als auch die Ausprägung eines typischen Künstlerhabitus im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Unter Berücksichtigung der ökonomischen, arbeitssoziologischen und ideologischen Genese, die der Autor sowohl typologisch als auch anhand beispielhafter Künstler eruiert, liefert er ein umfassendes Bild des modernen Künstlers. Die Umformung des Künstlers in seiner beruflichen sowie sozialen Existenz erklärt er in Bezug auf die sich entfaltende bürgerliche Gesellschaft und den sozialen Aufstieg des Bürgertums. Der 79 Vgl. Mai / Pohl / Waetzoldt, Kunstverwaltung; Mai, Kunstpolitik und Kunstförderung. 80 Vgl. Kraatz-Kessemeier, Kunst für die Republik. 81 Vgl. Ruppert, Der moderne Künstler. – Andere Historiker thematisierten die bildende Kunst ebenfalls im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft, konzentrierten sich dabei aber stärker darauf, das Entstehen eines autonomen Kunstbereichs theoretisch zu erklären, und bezogen die soziale Figur des bildenden Künstlers kaum in ihre Untersuchungen ein: Nipperdey, Wie das Bürgertum; Mommsen, Herausforderung; Busch, Autonomie der Kunst; Bürger, Theorie der Avantgarde.
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Künstler als gesellschaftliches Subjekt rückt vorrangig unter Betrachtung ästhetischer und selbstdarstellerischer Praktiken in den Fokus der Untersuchung. Wie künstlerische Identität durch Vergemeinschaftung – sei es aus ökonomischem Interesse, ästhetisch begründet oder aus sozialutopischer Zielsetzung – aktiv durch die Künstler geformt wurde, bespricht Ruppert nicht.82 Seine regional angelegten Exkurse nach »München-Schwabing« und andere Orte künstle rischer Existenz können dabei die Komplexität eines lokalen Kunstsystems nur skizzieren. Der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts deutlich werdende Wandel der strukturellen Bedingungen des Künstlerseins wird von ihm vor allem im abschließenden dritten Teil thematisiert. Die Umwälzungen, die sich vor allem mit dem Kunstgewerbe verbinden und sowohl die Ausbildung, die berufliche Realität und das künstlerische Selbstbild verändern, werden zwar angesprochen, bilden aber in der Studie eher den Epilog zur Etablierung eines bürgerlichen Künstlerhabitus im 19. Jahrhundert.83 Mit der vorliegenden Untersuchung der halleschen Künstlerschaft ab den 1880er Jahren über die Zäsur des Ersten Weltkrieges hinweg soll es gelingen, diese Leerstellen der historischen Forschung zum Künstlersein im städtischen Kontext im Zeitraum der Klassischen Moderne zu füllen: Indem die städtische Künstlerschaft auf ihre soziodemografische Zusammensetzung über einen Zeitraum von einem halben Jahrhundert beobachtet und künstlerisches Handeln anhand individueller und kollektiver Handlungsstrategien im Kontext des Kunstsystems untersucht werden, soll diese Arbeit dazu beitragen, die überregional gewonnenen Erkenntnisse Wolfgang Rupperts im stadtspezifischen Kontext zu vertiefen und um die Handlungsdimension zu erweitern. Als Quellen werden nicht nur Texte herangezogen, die explizit einen spezifischen Begriff von Kunst auf einer theoretischen Ebene zu bestimmen suchen, sondern auch Aussagen und Handlungen, die sich nur indirekt auf das zeitgenössische Kunstverständnis beziehen und es alltagspraktisch ausfüllen.84 So sind 82 Nur im Kapitel zu Wassily Kandinsky als »Repräsentant der künstlerischen Moderne« behandelt er die Münchener Künstlervereinigung Der Blaue Reiter. Vgl. Ruppert, Der moderne Künstler, S. 427 ff. – Das Phänomen der Künstlergruppen wird stärker thematisiert von Klaus von Beyme in seiner ebenfalls überregional angelegten Untersuchung der Avantgardekünstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Untersuchung der soziodemografischen Zusammensetzung der avantgardistischen Künstlerschaft erfolgt jedoch im Vergleich zur übergewichtigen Analyse der »Theorien und Theorienbereiche in der Kunstdebatte der Avantgarde« nur oberflächlich. Vgl. von Beyme, Zeitalter der Avantgarden. 83 Er zeichnet den Entwicklungsweg des Künstlers im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft nach und bezieht sich damit auf die Moderne als epochengeschichtliche Bezeichnung für den Zeitraum seit der Sattelzeit um 1800 bis ins frühe 20. Jahrhundert. Ich hingegen beabsichtige die Jahrzehnte um 1900, die als Klassische Moderne bezeichnet werden, als Zäsur in den Mittelpunkt zu stellen. 84 Nach dem Vorbild der Studie von Jörg Fisch ist dann für die Auswertung der Quellen zu unterscheiden, ob jeweils ein spezifischer Kunstbegriff deklamiert und damit eine bestimmte Deutung verbindlich werden soll oder dieser implizit die Aussage bestimmt und
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Monografien philosophisch-ästhetischen Inhalts, regionale und überregionale fachliche Periodika, Tageszeitungen, private und geschäftliche Korrespondenz, Selbstzeugnisse und Verwaltungsschriftgut85 ebenso für die Bearbeitung der vorgestellten Fragestellung relevant wie erhaltene Kunstwerke, Quellen über ihre öffentliche Präsentation, Werbegrafik und Propagandakunst. Dabei wird hier nicht unterschieden zwischen einer theoretischen Diskussion und deren Folgen auf praktischer Ebene bzw. zwischen Sprache und Handeln, zumal für die historiografische Aufarbeitung ohnehin alle Ereignisse sprachlich vermittelt sind und Begriffs- und Sozialgeschichte zwar nicht ineinander aufgehen, aber untrennbar miteinander verbunden sich gegenseitig hervorbringen.86 Insbesondere zur Analyse der sozialen und ökonomischen Bedingungen und Möglichkeiten der Künstlerexistenz liegen zwar zahlreiche, jedoch disparate Quellen vor. Beispielhaft sind hier zu nennen statistische Quellen zur Anzahl der Künstler, Steuerlisten, Berufsverzeichnisse sowie Lehrpläne der handwerklichen bzw. künstlerischen Ausbildungsstätten. Eine herausragende und ausnehmend vielseitige Quelle sind hier die Akten zu den Vorgängen der Bankier Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung, die Rückschlüsse auf die Kriterien der Stipendienvergabe an notleidende Künstler ermöglichen und beleuchten, wie Akteure aus Wirtschaft, Politik und Kunst miteinander agieren. Die seit 1908 bis in die Mitte der zwanziger Jahre vergebenen Stipendien sind besonders aufgrund der eingegangenen Bewerbungsbögen von insgesamt etwa 70 Künstlern interessant. Als serielle Quelle lässt der Fragenkatalog, der sowohl biografische Eckdaten, Stationen der Ausbildung, berufliche Zukunftswünsche als auch die soziale Herkunft und die ökonomische Situation des Bewerbers betrifft, ebenso eine kollektivbiografische wie qualitative Auswertung zu. Künstlernachlässe tragen dazu bei, ein konkretes Bild künstlerischer Berufsausübung und deren Abhängigkeit von den strukturellen Bedingungen der Stadt zu zeichnen.
damit einen Ist-Zustand beschreibt. Vgl. Fisch, Krieg und Frieden, S. 17. Siehe auch die von Steinmetz vorgeschlagene Methode der »Satzanalyse«, die auf der Ebene der impliziten, das heißt, theoretisch nicht-reflektierten Aussagen, vorgeht. Vgl. Steinmetz, Das Sagbare, S. 31. 85 Akten, die die kulturpolitische Ordnung der Stadt und die Verwaltung ihrer Institutionen betreffen, Institutionenordnungen und Statuten, Akten der notleidende Künstler unterstützenden Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung, Steuerlisten, Vereinsregisterakten. 86 Vgl. Koselleck, Sozialgeschichte, S. 100.
II. Kunst als Medium der Lebensbewältigung in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts
1. Bürgerlichkeit als Nährboden gegensätzlicher Kunstbegriffe und Künstlerbilder Das neunzehnte als das bürgerliche Jahrhundert bildet den empirischen Ausgangspunkt der vorliegenden Analyse des halleschen Kunstsystems. Eine Skizze der Grundthesen der neueren, semiotisch1 orientierten Bürgertumsforschung bezogen auf den beschriebenen Untersuchungsgegenstand spannt dabei die gedankliche Klammer für die Entwicklung des Kunstbegriffs und die Bedingungen des Künstlerseins. Das darauf folgende empirisch angelegte Kapitel zum Halleschen Kunstverein in den Jahren seit seiner Gründung bis zur Jahrhundertwende findet darin seinen geistes- und sozialgeschichtlichen Kontext. Zu dieser Zeit ist der Verein ein Solitär in der intensiven Beschäftigung mit und Verbreitung bildender Kunst in der Stadt. Für die Untersuchung des Kunstsystems in den Jahrzehnten um 1900 übernimmt der »frühe Kunstverein« die Rolle einer Kontrastfolie. Sie ermöglicht eine geschärfte Sicht auf die Differenzierung und Deutungsverschiebungen, die mit dem Entstehen eines Kunstsystems in der Stadt um die Jahrhundertwende passierten. Das Wachstum, die Differenzierung, die Professionalisierung und der Wandel des städtischen Kunstsystems sind (nicht nur) in seinen Anfängen eng verwoben mit der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Das Bürgertum, das die weltlichen und kirchlichen Fürsten als bisher dominante Kunstmäzene ablöste, formierte sich seit der Sattelzeit um 1800 und wurde in der Folgezeit zur gesellschaftlich prägenden Formation. Das Verhältnis von Bürgertum und bildender Kunst ist dabei als mehrdimensionales Beziehungsgeflecht vorzustellen, das weit über das ökonomische Gesetz von Angebot und Nachfrage hinausgeht. Vielmehr – und das wird in der folgenden Argumentation im Vordergrund stehen – dienten die bildende Kunst und andere Formen der Hochkultur ebenso wie zum Beispiel die Wissenschaft als Bereiche bürgerlicher Identitätskonstruktion.
1 Nach Geertz, für den der »Kulturbegriff … wesentlich ein semiotischer« ist, dass heißt, »dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich [Clifford Geertz] Kultur als dieses Gewebe ansehe.« Vgl. Geertz, Dichte Beschreibung, S. 9.
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Sowohl seine soziale Heterogenität als auch seine diversen kulturellen Praktiken erschweren die Bestimmung des historischen Bürgertums2 beziehungsweise der bürgerlichen Gesellschaft.3 Stattdessen bietet das Konzept der »Bürgerlichkeit« eine Definition, die die lebensweltliche Orientierungssuche der Zeitgenossen berücksichtigt. Statt typische Verhaltensmuster zu konstruieren, die immer wieder auch bürgerliche Gruppen ausschlossen, wird die Sinnsuche der Zeitgenossen als vereinendes Element an den Anfang der Beobachtung von Geselligkeitsformen und Praktiken ebendieser Suche nach einem widerspruchsfreien Selbst zur Bewältigung der vielfältigsten Herausforderungen der Lebenswelt gestellt.4 In der Konsolidierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft um 1800 wurden Werte, Leitideen und Praktiken geprägt, die Bürgerlichkeit als kulturelles System bis ins 20. Jahrhundert strukturierten, wobei nachfolgende Generationen diese jeweils auch neu deuteten und benutzten. Nach Manfred Hettling dienten der Identitätskonstruktion dabei durchaus gegensätzliche Orientierungspunkte, die jeweils bürgerliche Ideale verkörperten. In der Verhandlung des Kunstbegriffs, wie er in den halleschen Diskussionen auftaucht, kommen diese konträren Lebensentwürfe zum Tragen und gestalten die Auseinandersetzung um die Funktion von Kunst und Künstler. Alle vier von Hettling benannten Gegensatzpaare spielen in der Differenzierung des Kunstbegriffs und dem Aufund Ausbau des Kunstsystems eine Rolle: »Besitz und Bildung«, »Eigeninteresse und Gemeinwohlorientierung«, »Kreativität und (zweckgebundene) Rationalität und Nützlichkeit« sowie »Emotion und Vernunft«.5 Nachdem die eindeutigen Rollenbilder der Ständegesellschaft erodierten, wurde es notwendig, sich anderweitig in der modernen Gesellschaft zu verorten. Gerade die Künste erfuhren im Reigen verschiedener Deutungssysteme (wie Religion, Wissenschaft und Politik) als Reservoir individueller und kollektiver Selbstreflexion eine Aufwertung und entwickelten sich damit zu einer Sphäre, in der über Bürgerlichkeit verhandelt und ihre Bezugspunkte ausgelotet wurden. Nach Nipperdey war die bildende Kunst für die der Ständegesellschaft enthobenen Individuen für Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem Fortgang des Weltgeschehens und ihrem Platz darin besonders bedeutsam.6 Für die bildende Kunst als Deutungssystem gilt wie für die Bürgerlichkeit als kulturelles System, 2 Neben der Ausprägung bürgerlicher Interaktionsmuster gaben rechtliche Regelungen und Berufsangaben Hinweise auf die Zugehörigkeit zur sozialen Formation des Bürgertums. 3 Manfred Hettling stellt heraus, dass die bürgerliche Gesellschaft als prägende »Vergesellschaftungsform« nicht durch ausschließlich sozialgeschichtliche Kriterien zu bestimmen sei. Im Gegenteil ließe sich »›kulturelle Vergesellschaftung‹ … als Deutung und Interpretation der Wirklichkeit über soziale Grenzen hinweg« begreifen. Vgl. Hettling, Eine anstrengende Affäre, S. 224. 4 Vgl. Hettling, Bürgerlichkeit, S. 9 ff. 5 Vgl. ebd., S. 13. 6 Vgl. Nipperdey, Wie das Bürgertum, S. 7; Hettling, Bürgerlichkeit, S. 17.
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dass hier voneinander abweichende bis widersprüchliche Antworten auf die komplexen Herausforderungen der Realität gefunden wurden. Obwohl sich die Zeitgenossen eines Wertesystems bedienten, war die Geschichte der Kunst seit der Sattelzeit immer auch eine Geschichte der Auseinandersetzung um Kunst.7 Damit Kunst für die Selbstverortung der Träger der bürgerlichen Gesellschaft bedeutsam werden konnte, musste sie aus fremden Deutungskontexten heraustreten. Kant und danach Schiller bestimmten Autonomie8 als Bedingung reflexiv brauchbarer künstlerischer Äußerungen. In seiner ästhetischen Theorie stellte Kant die wechselseitige Wirkung einer sich frei entfaltenden Kunst und dem nach Autonomie strebenden Individuum fest, wonach das zweckfreie ästhetische Wohlgefallen ein konstitutives Element der individuellen Entscheidungsfreiheit sei.9 Dominierten in den Jahrhunderten zuvor religiöse und politische Auftraggeber und Interessen künstlerisches Schaffen10, entfaltete sich Kunst zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters als autonome Sphäre der Gesellschaft. Sie wuchs über ihre bisherige Funktion eines Repräsentationsmittels anderer Institutionen hinaus und stand für sich selbst. Indem aus der Kunstbetrachtung heraus die Realität in eine sinnhafte Ordnung gebracht und Erfahrungen bewältigt wurden, entwickelte sich Kunst als Moment bürgerlicher Weltdeutung selbst zu einem eigenständigen Bereich gesellschaftlicher Wirklichkeit.11 Die in diesem Sinn theoretisch formulierten Funktionen der Kunst gerieten im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit der komplexen Realität und sich daraus ergebenden innergesellschaftlichen Spannungen sowie dem gelebten Umgang 7 »Seit der Romantik waren immer auch Bürger die schärfsten Kritiker der eigenen Ausgestaltung von Bürgerlichkeit.« Hettling, Bürgerlichkeit, S. 1. Bereits Nipperdey stellte in seinem 1988 veröffentlichten Aufsatz das einfache Oppositionsschema von Kunst und Bürger bzw. Avantgarde und (arriviertem) Bürgertum oder auch von Autonomie der Kunst und Verbürgerlichung der Kunst im 19. Jahrhundert in Frage und beschrieb diese als parallele Erscheinungen, die einander bedingten. Vgl. Nipperdey, Wie das Bürgertum. 8 Der Autonomiebegriff findet sich zeitgenössisch und in der Forschung in unterschied lichen Zusammenhängen: Während institutionell argumentierende Autoren auf die selbstreferentielle Abgeschlossenheit der Kunst als System zielen (Luhmann) oder die relative Unabhängigkeit des Feldes der Kunst meinen (Bourdieu), verweist der formale Autonomiebegriff auf den ästhetischen bzw. inhaltlichen Gehalt der Kunst. Vgl. Einfalt, Art. Autonomie, S. 434 f.; Buckermann, Autonome Kunst, S. 175; Karstein / Zahner, Autonomie, S. 23. Nach den Autorinnen schließt hier Luhmann an Max Weber und Arnold Gehlen an, die ebenso »sowohl die innere Eigenlogik gesellschaftlicher Teilbereiche, als auch deren operative Geschlossenheit, die ihnen die Unabhängigkeit gegenüber äußeren Einflüssen sichert« beobachteten. 9 Vgl. Einfalt, Art. Autonomie, S. 444/445; Karstein / Zahner, Autonomie, S. 4. Vgl. Hettling, Politische Bürgerlichkeit, S. 1–4 und 291; Hettling, Bürgerliche Kultur, S. 319 f.; Nipperdey, Wie das Bürgertum, S. 29 f. 10 Obwohl den Disziplinen der bildenden Kunst und der Architektur schon seit der Renaissance schrittweise die Bedeutung besonderer, eigenständiger Leistungen zuerkannt wird, gelangen sie erst im bürgerlichen Zeitalter in den Status prinzipieller Autonomie. Vgl. Busch, Autonomie der Kunst, S. 232 und 145 ff. 11 Vgl. Tenbruck, Bürgerliche Kultur, S. 252.
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mit ihr in Konflikt. Die in ihrer idealistischen Phase konzipierte Utopie der bürgerlichen Gesellschaft, in der sich letztlich alle Individuen unter bürgerlicher Anleitung vervollkommnen sollten, war in der Realität nicht haltbar. Das »vormärzliche Bürgertum« beschwor die bildende und andere Disziplinen der Kunst in ihrem »Fortschrittsglauben und [ihrer] Zukunftsgewißheit«12 als quasireligiöse Sphären, in denen man durch Versenkung sein Menschsein ergründen könne. Außerdem trüge Kunst als Teil des Bildungskanons zur persönlichen Entwicklung und Vervollkommnung bei.13 Dieser Vorstellung vom ideellen Gebrauch künstlerischer Erzeugnisse wurden im 19. Jahrhundert bald weitere Praktiken und Funktionen an die Seite gestellt, die diese Variante bürgerlicher Selbstentfaltung ergänzten und teilweise konterkarierten. Das bezieht sich zum einen darauf, dass Werke der bildenden Kunst als persönlicher Besitz Bedeutung gewannen: ob zu repräsentativen Zwecken, für die häusliche Dekoration oder um die Zugehörigkeit zur Gruppe der neuen gesellschaftlichen Führungsschicht zu dokumentieren. Nicht umsonst waren bürgerliche Kunstvereine die frühen Träger eines Kunstmarktes, der das System von Angebot und Nachfrage auf den Bereich der Kunst applizierte und damit Einfluss sowohl auf Ästhetik, Inhalt der Werke und den Beruf des Künstlers nahm. Aber auch auf politischer Ebene wurde dem Ideal der künstlerischen Autonomie widersprochen. Nutzte die bürgerliche Schicht die Kunstvereinsgeselligkeit im Kleinen auf Gemeindeebene, um ihre politische Vorherrschaft zu stützen, bediente sie sich der Kunst im Großen, vor allem nach der gescheiterten Revolution von 1848/49, um die politisch nicht vollzogene nationale Einheit zu beschwören.14 Alle genannten funktionalen Zuweisungen und Inanspruchnahmen einerseits und das Postulat der Zweckfreiheit andererseits sind jeweils, wenn auch widersprüchliche, Aspekte bürgerlicher Aneignung des Bereichs der Kunst, die den von Hettling aufgemachten Polen des bürgerlichen Wertehimmels entsprechen. Demzufolge entwickelten sich verschiedene Varianten künstlerischen Schaffens, die als idealistisch-affirmative Kunst die Realität idealisierten und zur Versöhnung mit ihr aufriefen oder als realistisch-kritische Kunst Missstände offenlegten. Im Lauf der Stile und künstlerischen Bewegungen des 19. und mit den historischen Avantgarden im 20. Jahrhundert wurden jeweils unterschiedliche Aspekte des bürgerlichen Kunstbegriffs betont und wandten sich im Extrem und in Anlehnung an politisch linke Ideen (und unter Aufgabe ihrer Autonomie) gegen die bürgerliche Ideologie selbst. 12 Vgl. Hein, Bürgerliches Künstlertum, S. 112. 13 Vgl. Nipperdey, Wie das Bürgertum, S. 23/24. Bollenbeck beschreibt in seiner Analyse bürgerlicher Argumentationsfiguren das bildungsbürgerliche Ideal der Zeit um 1800 als besonders langlebig und verfolgt, wie nachfolgende Akteure und Gruppen sich darauf beriefen – sowohl um die kulturelle Moderne zu verteidigen als auch vehement zu bekämpfen. Vgl. Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion, S. 18 ff. 14 Vgl. ebd., S. 84 f.; Mommsen, Herausforderung, S. 20.
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2. Der Künstler als Heilsbringer und Bürgerschreck – Künstleridentitäten im Spannungsfeld der bürgerlichen Gesellschaft Ebenso wenig wie sich Bürger seit der Sattelzeit auf eindeutige Werte, Praktiken und soziale Zugehörigkeiten festlegen lassen, ist es möglich, den (bildenden) Künstler in seiner Beziehung zur bürgerlichen Gesellschaft mit widerspruchsfreien Attributen zu beschreiben. So vielfältig und gegensätzlich die Ideale der Bürger waren, so divers war das Erscheinungsbild der Künstler. Dennoch fiel ihnen innerhalb der bürgerlichen Kultur eine Sonderrolle zu. Die Figur des Künstlers war geeignet, an die Stelle der bisher unumschränkt gültigen religiösen Ordnungsmacht neue Interpretationen der Wirklichkeit zu setzen. Die bis dahin vor allem in den Rollen des Hofkünstlers (im Dienst eines weltlichen oder / und kirchlichen Auftraggebers waren die Künstler den ästhetischen Vorstellungen und programmatischen Wünschen ihres Dienstherren verpflichtet) und Kunsthandwerkers (als solche waren die Künstler an das handwerkliche Zunftsystem und deren Weisungen gebunden) tätigen bildenden Künstler erfuhren im Kontext der bürgerlichen Gesellschaft neue Freiheiten. Zum einen wurde der bildenden Kunst in ihrem Wertehimmel eine wesentliche Bedeutung bei der Vervollkommnung des Individuums beigemessen und diente sie als Gegenwelt und Sphäre des Rückzugs zur zunehmend rationalisierten, technisierten und beschleunigten Realität. Und die mit der Moderne einhergehenden Veränderungen in sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebensbereichen erzeugten einen großen Bedarf an positiven Leitbildern. So wurde der Kunst und damit dem Künstler innerhalb utopischer Gesellschaftsentwürfe der Zeit um 1800 eine visionäre Stellung zugeschrieben, auf die sich bis ins 20. Jahrhundert wiederholt unterschiedliche Gruppen unter verschiedenen Vorzeichen beriefen.15 Damit erfuhr auch der bildende Künstler eine Aufwertung, und der Grundstein zu Mythenbildung und Geniekult war gelegt. Im Zug dieser Entwicklung wurde die ästhetische Autonomie deutlich höher geschätzt als zuvor. Entgegen dem frühbürgerlichen Ideal des Künstlers als unabhängigem Geist wurden Künstler im 19. Jahrhundert von einem Prozess der Verbürgerlichung erfasst. Sie näherten sich nicht nur in Habitus und Erscheinungsbild »dem Bürger« an, sondern führten ihren Beruf auch nach den Tätigkeits- und Organisationsmustern bürgerlicher Erwerbsarbeit aus. Die Strukturen des Kunstmarktes sorgten außerdem dafür, dass Künstler sich, um ihren Lebensunterhalt zu erstreiten, am Bedarf des oft anonymen bürgerlichen Publikums orientierten. Statt frei von 15 So wurde um 1900 der autonome, freiheitsliebende und an hehren Idealen orientierte Künstler Figur des Vormärzes als Gegenbild zur arrivierten Gesellschaft des Kaiserreichs beschworen. Vgl. Hein, Bürgerliches Künstlertum, S. 4.
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Erwartungen im Sinn des bürgerlichen Idealismus Kunst zu schaffen, verengten viele Künstler ihr Repertoire auf bestimmte Genres und produzierten massenhafte Typenware. Nicht alle, die sich zum Bürgertum zählten, sahen sich auch den Idealen der bürgerlichen Gesellschaft verpflichtet, sondern legten im Bereich der bildenden Kunst eher Wert auf dessen Warencharakter oder erwarben Kunstwerke als Ausweis ihrer gesellschaftlichen Stellung. Aus dem Widerstand zu dieser Annäherung von Künstler und Bürger formte sich die Figur des Künstlers als Anti-Bürger, der auf seiner Autonomie16 beharrte. Der Künstler als Bohémien gerierte sich im Widerspruch zur »spießbürgerlichen« Existenz und wurde als solcher auch von außen betrachtet und geformt.17 Die aus der neu gewonnenen Freiheit erwachsende wirtschaftliche Abhängigkeit der Künstler von einer Gesellschaftsschicht, die sich anschickte, aufgrund ihrer Marktmacht ästhetische Standards zu definieren, rief unter den Künstlern zunehmend Widerstand hervor. Bourdieu beschreibt in seinem Werk »Die Regeln der Kunst« anhand Flauberts »Die Erziehung des Herzens« die Genese des literarischen Feldes als eines autonomen Gesellschaftsbereichs, der eigene Regeln ausbildete und sich bewusst den Gesetzen und Mechanismen der bürgerlich dominierten Sphären von Politik und Wirtschaft widersetzte, um eigene Sanktionsmechanismen zu entwickeln. Aus dieser Tradition entwickelte sich die Bohème der Schriftsteller wie der bildenden Künstler, die sich gegenüber außerkünstlerischen Wertmaßstäben verweigerten und durch eine bewusst antibürgerliche Lebensweise auffielen. Das Prinzip des L’art pour l’art, das keine außer innerästhetische Kriterien gelten lässt, bestimmt die künstlerische Kompromisslosigkeit des autonomen Künstlers.18 Weil Kultur und bildende Kunst integrative Bestandteile des bürgerlichen Selbstverständnisses und Inbegriff ihrer Definitionsmacht waren, weigerten sich große Teile des Bürgertums einen individualistischen, künstlerzentrierten Kunstbegriff, der zum Kennzeichen der Klassischen Moderne wurde, anzunehmen. Dennoch verhielt sich ein kleiner Teil des Bürgertums gegenüber der modernen Kunst, die sich um den bürgerlichen Wunsch nach Selbstvergewisserung nicht länger scherte, aufgeschlossen. Mit persönlichem und finanziellem Engagement förderten sie Künstler, die von der Bürgermehrheit missachtet wurden, und initiierten den Aufbau einer öf 16 Der Autonomiebegriff bezeichnet hier bewusst eine Erscheinungsform des Künstlers und sein Selbstverständnis in Bezug auf die Strukturen und Werturteile der bürgerlichen Gesellschaft. Der Begriff der autonomen Kunst hingegen meint die Funktionslosigkeit der Kunst im Konzept der bürgerlichen Gesellschaft, die mit ihrer Lösung aus politischen oder religiösen Funktionszusammenhängen erreicht wurde. Vgl. Busch, Autonomie der Kunst, S. 230–255. 17 Vgl. Hein, Bürgerliches Künstlertum, S. 103 f., S. 110, S. 117; Hettling, Bürgerlichkeit, S. 22. Hettling spricht vom Künstler als paradigmatischer Figur, von Bürgerlichkeit als kulturellem System, weil gerade er dessen Spannung und den immanenten, vorwärtstreibenden Widerspruch verkörpere. 18 Bourdieu, Regeln der Kunst.
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fentlichen Kunstpflege. Unabhängig von der bürgerlichen Konsum- und Wohnkultur sollte Kunst anhand innerästhetischer Kriterien beurteilt, gefördert und zu einem gesellschaftlichen Allgemeingut werden.19 Die Beziehung zwischen Künstler und Bürger war demnach vielgestaltig, die künstlerische Existenz im bürgerlichen Kontext aber immer problematisch, weil sie dem Spannungsverhältnis einer materialistischen und idealistischen Berufsauffassung ausgesetzt war.20 Komprimiert und deutlich benannt wurde die Verwerfung künstlerischer Identität durch Thomas Mann in seiner Erzählung »Tonio Kröger«, die 1903 in der »Neuen Rundschau« veröffentlicht wurde.21 Ausgangspunkt der Überlegungen des Protagonisten zur Frage »Aber was ist der Künstler?« ist der von ihm angenommene Antagonismus von Künstler und Bürger. Die autobiografisch gespeiste Figur Tonio Krögers sieht sich »zwischen zwei Welten« gefangen. Während die eine auf der Einhaltung gesellschaftlicher Konventionen bestehe, gehe es in der anderen um deren demonstrative Missachtung. Seine eigene Herkunft aus bürgerlichem Elternhaus und »gute[r] Kinderstube« stürzt ihn dabei in tiefe Verunsicherung. Nicht nur das soziale Umfeld seiner Kindheit betrachtet das Künstlerdasein mit Argwohn. Ihm selbst erscheint sein Lebensstil ungeheuerlich, wenn er nach vielen Jahren sein Elternhaus betritt und sinniert, »sein Vater könnte aus einer der Türen ebener Erde, an denen er vorüberschritt, hervortreten, … ihn anhalten und ihn wegen seines extravaganten Lebens streng zur Rede stellen, was er sehr in Ordnung gefunden hätte.«22 Auf seinen Monolog zu Beginn der Novelle, der vom Motiv der Unversöhnlichkeit künstlerischer und bürgerlicher Lebensführung geprägt ist, diagnostiziert seine Zuhörerin Lisaweta Iwanowna: »Sie sind ein Bürger auf Irrwegen, Tonio Kröger, ein verirrter Bürger.«23 Dass sein ausschweifender Lebensstil und Habitus ebenso der bürgerlichen Sinnsuche zugehören wie Bescheidenheit und Regelhaftigkeit anderer bürgerlicher Lebensentwürfe, bilanziert Kröger in einem abschließenden Brief an seine damalige Begleiterin: »… wie sehr Sie [Lisaweta Iwanowna] damit die Wahrheit trafen, wie sehr mein Bürgertum und meine Liebe zum ›Leben‹ eins und dasselbe sind.«24
19 Nipperdey, Wie das Bürgertum; Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion, S. 18–20. 20 Dieser Entwicklungszusammenhang ist vielfach in der wissenschaftlichen Forschung dargestellt und aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet worden. Unter anderem bei Bourdieu, Regeln der Kunst, S. 103–114; Nipperdey, Wie das Bürgertum, S. 10 f.; Ruppert, Der moderne Künstler, S. 13–16. 21 Mann, Tonio Kröger, S. 265–331. 22 Vgl. ebd., S. 305. 23 Vgl. ebd., S. 265–331, S. 299. 24 Vgl. ebd., S. 330.
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3. Bildende Kunst zwischen Bildung und Besitz – der Hallesche Kunstverein im 19. Jahrhundert Der Kunstverein ist unbedingt vor dem Hintergrund der Überlegungen zu Bürgerlichkeit als kulturellem System der Selbstverständigung zu betrachten. Der bürgerliche Verein trug dabei als ein Ort verstetigter kultureller Praxis selbst zur Etablierung von Kultur und Struktur der bürgerlichen Gesellschaft mit der Herstellung sozialer Bezugspunkte bei. Wie der Besitz von Kunstwerken lieferte auch die Mitgliedschaft und soziale Teilhabe am Vereinsleben ihren Beitrag zur Kohäsion der Gesellschaft.25 Der 1834 in Halle gegründete Kunstverein besetzte in der Saalestadt eine Leerstelle, da hier nach der Vertreibung des kunstsinnigen Kardinals Albrecht 1541 nie wieder eine bedeutendere Kunstsammlung angelegt wurde. Einzig die Universität und die über einige Jahre um 1800 bestehende Kunstschule Pranges repräsentierten die spärlich besiedelte hallesche Kunstlandschaft. Vor allem in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche Vereine im Bereich der bildenden Kunst gegründet. Bildende Kunst war neben Literatur, Theater und Musik ein Bereich der Hochkultur, in dem sich bürgerliche Vereine etablierten und als entscheidende Akteure prägten. Der anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Kunstvereins verfasste Bericht über die »Wirksamkeit des Kunstvereins für Halle« benennt zwei Elemente als Triebkräfte der allerorts entstehenden Kunstvereine: »Es beruht derselbe [der gute Grund der Vereinsgründung und -tätigkeit, I. S.-W.] aber in der dem unbefangenen und freien Blicke klar vorliegenden schnelleren Fortentwicklung des geistigen Lebens in unserer Zeit; denn dieses umfaßt, seinem Wesen nach, auch den Sinn für das Schöne, für die Kunst … und dieser regere Sinn für die
25 Die Vereinsgeselligkeit nahm innerhalb der als kulturelles System und der individuellen Aneignung von Werten verstandenen Kultur der Bürgerlichkeit eine wichtige Rolle als soziokulturelle Praxis ein. Diese und andere Formen der Geselligkeit dienten der Verständigung über Wertideen und der Verortung des Individuums in der Gesellschaft. Der Typ des bürgerlichen Vereins erstreckte sich auf diverse Felder gesellschaftlichen Handelns (Wirtschaft, Wissenschaft, Religion und Kunst) und verband die Sphäre der individuellen Selbstverwirklichung und der »kollektiven Selbstorganisation«. Vgl. Hettling, Bürgerliche Kultur, S. 319–339, S. 320. – Daniel Watermann betont in seiner Dissertation die Rolle der Vereinsgeselligkeit als soziokulturelle Praxis, die das sozial und kulturell heterogene Bürgertum zusammenband. Vgl. Watermann, Bürgerliche Netzwerke, S. 12 ff. – Ebenso hebt Wolfgang Kaschuba die Geselligkeit als konstitutives Element der bürgerlichen Kultur hervor. Er denkt Bürgerlichkeit als situativ gebundenes Attribut und die Geselligkeit (z. B. im Verein) oder den politischen Diskurs als Bürgerlichkeit konstituierende Situationen. Die Vereinstätigkeit sei dabei die wichtigste Form gesellig-politischen Bürgerlebens. Vgl. Kaschuba, Deutsche Bürgerlichkeit, S. 10–18.
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Kunst führt nothwendig zu gemeinschaftlicher Wirksamkeit; denn am wenigsten in der Kunst kann wahrhaftes Leben erweckt, erhalten, erhöhet werden, ohne ein ineinander greifendes Wirken Vieler.«26
Einerseits bemerken die Verfasser, dass der Bedarf an »geistige[m] Leben …«, also intellektueller Reflexion, erheblich gewachsen sei. Zum anderen wird betont, wie wichtig es sei, sich diesem Feld in kollektiver Verfasstheit zu widmen. In dem Zitat, das aus dem Umfeld des Vereinsvorstandes stammt, wird die Funktion der Kunst als Reflexionsbereich bestimmt, der den Zeitgenossen Orientierung zu bieten vermag. Als Früchte einer, auch über die Grenzen Preußens hinaus wahrgenom menen27, geistigen Bewegung kooperierten die Vereine untereinander seit der Gründungswelle in den dreißiger Jahren. In Preußen schlossen sich die links und rechts der Elbe liegenden Vereine 1836 beziehungsweise 1837 jeweils in Dachorganisationen »zur Vermeidung aller Hemmungen der Thätigkeit der einzelnen verbundenen Vereine«28 zusammen. Wie die 1836 veröffentlichten Statuten des halleschen Kunstvereins darlegen, pflegte er engen Kontakt insbesondere mit den Kunstvereinen in Halberstadt, Magdeburg und Braunschweig. Die Zusammenarbeit der Vereine senkte den organisatorischen Aufwand der Ausstellungsvorbereitung und ermöglichte eine hochwertigere Werkauswahl. Als Wanderausstellungen konzipiert, waren die gemeinsam zusammengetragenen Werke in allen vier Städten zu sehen.29 Der Verein stieß seit seiner Gründung am 1. April 1934 auf reges Interesse – im ersten Vereinsjahr traten ihm 21830 hallesche Bürger bei. Die Mitgliederzahl
26 Hallescher Kunstverein, General-Bericht. 27 Der Wirksamkeitsbericht zählt außerhalb von Preußen erfolgte Vereinsgründungen auf in Hamburg, Lübeck, Hannover, Braunschweig, Kassel, Leipzig, Darmstadt, Mannheim, Karlsruhe, Mainz und Straßburg. Preußen als ordnungspolitischer Rahmen wird hier als Garant von politischer Stabilität und Wohlstand als Voraussetzung künstlerischen Engagements hervorgehoben. Vgl. ebd. 28 Ebd. 29 Vgl. Statuten des Kunst-Vereins, § 11. 30 Aufgrund von Vereinsgründungen in Halberstadt und Merseburg sank die Zahl der Mitglieder im darauffolgenden Jahr um 69. Vgl. Hallescher Kunstverein, General-Bericht, S. 3; v. Hagen, Stadt Halle, S. 619. – Der im gleichen Jahr (1834) gegründete Kunst-Verein Halbstadt zählte für 1834/35 199 Mitglieder (davon 66 Auswärtige). Protector des Vereins war Prinz Wilhelm von Preußen. Im Gegensatz zu Halle, das keine fürstliche Tradition der Kunstpflege unmittelbar vor der Wirksamkeit des Kunstvereins aufweisen konnte, fanden in Halberstadt schon vor der Gründung des Kunstvereins Kunstausstellungen statt. Das nur 18.000 Einwohner zählende Halberstadt weist mit seiner monarchischen Protektion und der Vielzahl auswärtiger Mitglieder (1838/39: 113 Auswärtige plus 114 aus Halberstadt) Besonderheiten auf und unterscheidet sich vom Typ des großstädtischen bürgerlichen Kunstvereins. Vgl. Kunst-Verein Halberstadt, Nachrichten.
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lag 1842 bei 302 und stieg weiter auf 490 Mitte der sechziger Jahre. Im Vergleich mit den Mitgliederzahlen anderer hallescher Vereine (auf der Grundlage der Angaben der 1867 publizierten Stadtchronik von vom Hagen) zählte er damit bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den größeren Vereinen in der Stadt.31 Da keine Mitgliederlisten überliefert sind, liegen nur vereinzelt beziehungsweise bezogen auf die Vorstandsebene Angaben über Vereinsangehörige vor.32 Protagonist der Gründung und über 27 Jahre Vorsitzender des Vereins war der promovierte Mediziner Weber. Neben ihm unterzeichneten sieben weitere Vorstandsmitglieder das in der Generalversammlung vom 23. März 1836 angenommene Vereinsstatut.33 Mit Wilhelm August Ludwig Stapel und Adam Weise waren zwei der Gründungsmitglieder beruflich im Bereich der Kunst als Stadtarchitekt bzw. Künstler und Kunstgelehrter tätig. Besonders mit letztgenanntem Weise war innerhalb des über Ankäufe und die Ausstellungen entscheidenden Gremiums ein Kunstexperte von Rang vertreten. Weise lehrte ab 1820 bis zu seinem Tod 1850 als Professor für die Theorie und Geschichte der schönen Künste an der philosophischen Fakultät der halleschen Universität, gab Zeichenunterricht am Gymnasium und der Mittelschule der Franckeschen Stiftungen und arbeitete parallel als Maler und Kupferstecher.34 Von Ludwig Hermann Friedländer, der in Königsberg Medizin studierte und nach Auf enthalten in Berlin, Karlsruhe und Italien an der halleschen Universität seit 1819 Medizin lehrte, ist bekannt, dass er herausragendes Interesse für ästhetische und philologische Fragen hegte.35 Für eine konstante Expertise in künstlerischen Fragen sorgte nach dem Tod Adam Weises der Kupferstecher Moritz Voigt. Der 1834–1837 als Assistent Weises arbeitende Voigt erlernte die Kupferstecherei in seiner über zehnjährigen Ausbildungszeit auf Rat Professor Weises in Berlin. Auf den Ruf der Lateinischen Hauptschule des Königlichen Pädagogiums in Halle, wo er ab 1848 als Nachfolger Adam Weises als Zeichenlehrer arbeitete, kehrte er nach Halle zurück. Spätestens seit dieser Zeit war er auch im Kunst-
31 Der naturwissenschaftliche Verein für Sachsen und Thüringen zählte seit 1853 bis 1867 zwischen 260 und 300 Mitglieder, der Juristische Verein 1862–1867 um die fünfzig Mitglieder. In gleicher Größenordnung wie die Mitgliedszahlen des Kunstvereins bewegte sich die polytechnische Gesellschaft (1859: 215 und 1863: 280 Mitglieder), der Handwerkermeister-Verein (wächst bis 1863 auf 237 Mitglieder), das Allgemeine Hallische Leseinstitut (1865: unter 200 verbleibend) sowie die Loge von den Drei Degen (1830:178, 1863: 332). Vgl. v. Hagen, Stadt Halle, S. 595–640. 32 Seit 1864 findet sich auch der Kunstverein unter Angabe der Vorstandsmitglieder in diesem Verzeichnis. Ab 1905 werden nur noch die Funktionsträger innerhalb des Vereins namentlich aufgeführt. Für die Zeit vor 1864 lassen sich über Mitglieder und Vorstand nur vereinzelt Angaben finden. 33 Vgl. Statuten des Kunst-Vereins. 34 Vgl. StH, FA 3788. 35 Vgl. Hirsch, Friedländer, Ludwig Hermann.
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verein engagiert und dort seit 1864 bis 1886 mit Unterbrechungen im Vorstand tätig.36 Betrachtet man die Zusammensetzung des Vorstandes über den Verlauf des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der Besetzung mit Personen, denen aufgrund ihres Berufes eine künstlerische Sachkenntnis attestiert werden kann, sind nur einzelne Namen zu nennen. Trotzdem weist der Vorstand kontinuierlich mindestens ein Mitglied auf, das sich von Berufs wegen mit theoretischen und praktischen Fragen der bildenden Kunst auseinandersetzte. Ab 1878 profilierte sich der ehemalige Fabrikant Franz Otto, der ab 1872 als Rentier seine berufliche Karriere hinter seiner Kunstleidenschaft zurückstellte, im Vereinsvorstand. Der Besitzer einer umfangreichen Privatsammlung wurde erster Kurator des städtischen Museums und zentrale Person im halleschen Kunstleben des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Auch ihm sind theoretische Kenntnisse der bildenden Kunst jenseits laienhaften Kunstverständnisses zuzutrauen. Zwar agierten die meisten der Vorstandsmitglieder auf dem Gebiet der Kunst als Laien.37 Die überwiegende Mehrheit ist jedoch dem Bildungsbürgertum zuzurechnen und war der bildenden Kunst als Teil des bürgerlichen Bildungsideals eng verbunden. Vor allem die hallesche Universität bildete in den Jahren der Vereinsgründung ein wichtiges Reservoir zur Rekrutierung der Vorstandsmitglieder. Drei der sieben Gründungsmitglieder waren dort hauptberuflich tätig.38 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts und über die Jahrhundertwende hinaus lassen sich auf Vorstandsebene immer wieder Universitätsangehörige finden. Unter anderem waren der 1872 an die Universität berufene Historiker Gustav Droysen (1878–1885) und der seit 1874 in Halle lehrende Archäologe Heinrich Heydemann als Vorstände tätig.39 Neben den Universitätsprofessoren waren im Vorstand auch einige Lehrer vertreten. Mit Prof. Dr. Nasemann, der seit 1858 als erster Oberlehrer an der Realschule der Franckeschen Stiftungen Anstellung fand, und Moritz Voigt, der im Königlichen Pädagogium ebenfalls als Lehrkraft beschäftigt war, weisen sich vor allem die Lehranstalten der Franckeschen Stiftungen als Rekrutierungsquelle für den Vorstand des Kunstvereins aus. 36 Vgl. StH, AU 1831; Verzeichnis sämtlicher Lehrer der Lateinischen Hauptschule, S. 12 und 38; StH AU 1829. – Voigts Bemühungen um die Nachfolge Weises im Amt des Inspektors der universitären Kupferstichsammlung blieben dagegen erfolglos. Vgl. StH, AU 1831. 37 Das laienhafte Kunstverständnis sei typisch für die Kunstvereine im 19. Jahrhundert, so Großmann. Vgl. Großmann, Verloste Kunst, S. 354/355. 38 Ludwig Hermann Friedländer war 1817–1951 Lehrkraft in der medizinischen Fakul tät. Der Jurist Ernst Adolph Theodor Laspeyres lehrte von 1831–1844 ebenfalls dort. Auch Adam Weise kam auf einen Ruf der Universität nach Halle. Vgl. Hirsch, Friedländer, Ludwig Hermann, in: ADB, Band 8 (1878), S. 397–398 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutschebiographie.de/pnd116797487.html?anchor=adb), zuletzt besucht am 24.02.2016; Brandt, Laspeyre, Adolph, in: NDB, Band 13 (1982), S. 659 f. [Onlinefassung]; URL: http://www. deutsche-biographie.de/pnd116002050.html), zuletzt besucht am 24.02.2016. 39 Vgl. Adressbuch Halle 1878–1889.
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Darüber hinaus war die Berufsgruppe der Buchhändler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stark vertreten. Besonders Maximilian David Niemeyer, ab 1886 bis über die Jahrhundertwende hinaus Vorstandsmitglied, fällt wegen seiner langjährigen Vorstandstätigkeit auf.40 Die bildungsbürgerliche Dominanz im dreigliedrigen Vereinsvorstand wird erst mit der Wahl des Ingenieurs und Fabrikbesitzers Felix Weise 1912 zum ersten Vorsitzenden und der langjährigen Tätigkeit des Kommerzienrats und Bankiers Lehmann in der Funktion des Kassiers (ab 1906) gebrochen. Jenseits der Gruppe der Universitätsangehörigen, Lehrer und selbstständig arbeitenden Bildungsbürger stellte die städtische Funktionselite die zweite wesentliche Gruppe im Vereinsvorstand. Über das ganze 19. Jahrhundert hinweg hatten städtische Beamte Posten im Vereinsvorstand inne. Dem ersten Vorstand, der 1836 für die Statuten verantwortlich zeichnete, gehörte Carl Albrecht Ferdinand Mellin an, der um 1800 erst das architektonische Stadtbild in seiner Eigenschaft als Stadtbaumeister (1796–1817) und später das politische Weichbild Halles innerhalb der kommunalpolitischen Führungsriege (1818–1837) prägte.41 Den ersten langjährigen Vorsitzenden Weber beerbte ab spätestens 1864 der Stadtrat Friedrich Fubel42. Bis zur Ablösung durch Adolph Goldschmidt im Jahr 1905 führte er über 38 Jahre den Vereinsvorsitz. Zahlreiche weitere Mitglieder des Vorstandes waren im 19. Jahrhundert als Stadträte tätig (darunter Justiz-, Sanitäts- und Stadtbauräte). Für Halle bestätigt sich damit die These, dass kommunalpolitisches Engagement und organisatorisch leitende Tätigkeit innerhalb der Vereinslandschaft oft zusammenfielen. Mit der führenden Tätigkeit in den städtischen Vereinen festigte die städtische Honoratiorenschicht ihre Macht auch jenseits des politischen Feldes.43 Insgesamt lässt sich beobachten, dass die Besetzung des Vorstandes im Verlauf des 19. Jahrhunderts, nachweislich ab 1864, von großer Kontinuität geprägt war. Die Position des ersten Vorsit 40 Er gründete um 1870 den gleichnamigen Verlag (Max Niemeyer) und veröffentlichte vor allem sprach- und literaturwissenschaftliche Arbeiten. Vgl. Harsch-Niemeyer, Niemeyer, Max, in: NDB, Band 19 (1999), S. 234–235 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutschebiographie.de/pnd117002372.html; zuletzt besucht am 25.02.2016. 41 Vgl. Hertzberg, Mellin, Karl Albert Ferdinand, in: ADB, Band 52 (1906), S. 308–311 [Onlinefassung]; URL: http://deutsche-biographie.de/pnd136996477.html?anchor=adb), zuletzt besucht am 24.2.2016. 42 Fubel war nach und während seiner parlamentarischen Tätigkeit im Abgeordnetenhaus in der Stadtpolitik als Stadtverordneter (1857–1862) und Magistrat (1862–1881) tätig. Aufgrund seiner Verdienste um das Gemeinwohl und für seine ehrenamtlichen Tätigkeiten wurde ihm 1893 das Ehrenbürgerrecht verliehen. Vgl. StH, FA 5000. 43 Mommsen sieht hierin die Durchsetzung eines protestantisch-bürgerlichen Kulturideals, das seine »Verdinglichung als Herrschaftsinstrument« der Honoratiorenschicht einer Stadt erfuhr. Bürgerliche Kultur und liberale Politik seien gerade auf den unteren Ebenen der Stadtverwaltung aufs engste miteinander verwoben und drängten so Herrschaftsansprüche anderer Schichten zurück. Vgl. Mommsen, Herausforderung, S. 8–12.
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zenden wurde über sieben Jahrzehnte von nur zwei Amtsträgern ausgefüllt. Auch die meisten übrigen Vorstände wurden mehrmals in den alle zwei Jahre stattfindenden Wahlen44 in ihren Posten bestätigt. Spätestens ab Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hielt die Stadt Halle als Körperschaft Aktien am Kunstverein und nahm an den Verlosungen anlässlich der zweijährlich stattfindenden Ausstellungen teil. Die so in den städtischen Besitz gelangten Kunstwerke bildeten dann den Grundstock der städtischen Kunstsammlung, die ins städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe überführt wurden.45 Zwischen dem Kunstverein und der Stadt bestanden demnach nicht nur informelle Verbindungen über personelle Mitgliedschaften von Ratsmitgliedern. Die Stadt nahm auch schon am Ende des 19. Jahrhunderts auf institutioneller Ebene Anteil an der Entwicklung des Kunstvereins. Das 1836 erlassene Statut regelte vor allem die organisatorische Beschaffenheit des Vereins und legte Bestimmungen zum Ein- und Austritt, der Vorstandswahl und der Entrichtung des Mitgliederbeitrags dar. Der Verein finanzierte sich über einen jährlichen Mitgliederbeitrag von zwei Talern, für den im Gegenzug je eine Aktie ausgegeben wurde, die zugleich zu der Teilnahme am Losverfahren berechtigte.46 Wie für die bürgerlichen Kunstvereine im 19. Jahrhundert üblich, war er damit von staatlichen oder städtischen Institutionen und Zuschüssen unabhängig.47 Im Zentrum des Statuts und der Vereinstätigkeit der folgenden einhundert Jahre stand die Ausstellung von Kunstwerken. Besonders bis zur Jahrhundertwende war die Form der temporären Kunstausstellung konkurrenzlos das zen trale Veranstaltungsformat des Vereins. Erst nach 1900 ergänzten andere Formen der Kunstvermittlung und ein neues Verständnis des Ausstellens die über viele Jahrzehnte konstant gleichförmig bleibende Praxis der Kunstausstellung als Distributionsplattform. Als Vereinszweck wurde festgeschrieben »sowohl einheimischen als auch auswärtigen Künstlern eine Gelegenheit darzubieten, um sich durch ihre Werke öffentlich bekannt zu machen«48. Zu diesem Zweck war angestrebt, mindestens alle zwei Jahre in Verbindung mit anderen Kunstvereinen eine Ausstellung zu veranstalten. Die an einer Ausstellung interessierten Künstler sollten ihre Werke entweder auf Aufforderung durch die Vereine oder auf eigene Initiative einsenden. Eine knappe Werkbeschreibung (Künstlername und Herkunft, Titel, Technik) sowie Angaben zum Verkaufspreis – es bestand andererseits die Möglich 44 Gewählt wurde auf der Generalversammlung, bei der jedes Mitglied mit einer Stimme teilnehmen konnte. Vgl. Statuten des Kunst-Vereins. 45 Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1889/90, S. 117. 46 Vgl. ebd., § 3 und § 4; v. Hagen, Stadt Halle, S. 619/620. 47 Vgl. Holtz, Kultusministerium, S. 435/436. 48 Statuten des Kunst-Vereins, § 1.
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keit, die Werke zur bloßen Ansicht freizugeben – waren ebenfalls einzureichen. Das Statut legte fest, dass Käufe über den Vereinsvorstand erfolgen sollten. Ihm war es außerdem vorbehalten, Ankäufe aus dem Vereinsetat zu tätigen, wenn auch die Wünsche der übrigen Mitglieder berücksichtigt werden sollten.49 Die vom Verein erstandenen Werke kamen entweder bei der anschließenden Verlosung in den Besitz von Vereinsmitgliedern oder sollten in eine vereinseigene Galerie überführt werden. Der Kunsterwerb (bzw. die Verkaufsoption für Künstler) gilt im Gründungsdokument als wesentlicher Bestandteil der Kunstvermittlung.50 Einerseits erhielten die Ausstellungsbesucher die Möglichkeit, Werke für private Zwecke zu erwerben, andererseits war bereits im 1836er Statut das Ziel einer ständigen Kunstsammlung angelegt. Viel wirksamer für die Lebendigkeit des Vereinslebens war jedoch die an die Ausstellung anschließende Verlosung vom Verein angekaufter Werke unter den Vereinsmitgliedern. 1842 wurden 14 Ölgemälde, 2 Plastiken, 17 Kupferstiche und 34 Lithografien im Wert von insgesamt 1.055 Thalern verlost.51 Zehn Jahre später verwendete der Vereinsvorstand etwa 1.600 Thaler zum Erwerb von Gemälden aus der Ausstellung. Zusätzlich gingen Werke im Wert von circa 617 Thalern in privaten Besitz. Im westelbischen Zyklus ist Halle damit die Stadt mit dem geringsten Umsatz. 1855 erwarb der Vereinsvorstand zur Verlosung Werke im Wert von insgesamt 1.400 Thalern. Nach eigenen Angaben wurden keine Käufe durch Privatleute getätigt.52 Die gängige Praxis der Werkverlosung in den Kunstvereinen steigerte deren Attraktivität und regte zur Mitgliedschaft an. Noch bis 1907 gelangten Werke per Los und Zufall in den Besitz hallescher Bürger. Die in den bürgerlichen Kunstvereinen gepflegte Praxis der Verlosung von Kunstwerken und die so formulierten Bedürfnisse des bürgerlichen Publikums wirkten sich auf die künstlerischen Produktionsbedingungen aus. Obwohl an die Stelle persönlicher Auftraggeberschaft die Produktion für ein anonymes Publikum getreten war, sorgten die Mechanismen des auf Angebot und Nachfrage basierenden bürgerlichen Kunstmarktes dafür, dass Schaffende erneut vom Geschmack einer Konsumentengruppe abhängig wurden. Neben den Kunsthandlungen, die im Lauf des 19. Jahrhunderts an Bedeutung gewannen, basierte der Kunsthandel wesentlich auf den Wanderausstellungen der Kunstvereine.
49 Vgl. ebd., § 19 und § 20. 50 Da sonst kein Kunstmarkt vorhanden war, sollte mithilfe der Kunstvereine die Zahl der Künstler vermehrt und die Qualität ihrer Werke gehoben werden. Vgl. Hein, Bürgerliches Künstlertum, S. 108 f. 51 Vgl. Hallescher Kunstverein, General-Bericht. 52 Wenig mehr wurde in den Kunstvereinsausstellungen in Halberstadt und Gotha umgesetzt. In Magdeburg wechselten Kunstwerke im Wert von gut 6.000, in Hannover von 11.000 Thalern Wert den Besitzer. Vgl. Lucanus, Nachricht, S. 28.
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Zwar blieb der in den Kunstvereinsausstellungen umgesetzte Warenwert hinter der mäzenatischen bzw. fürstlichen Fördertätigkeit zurück, schuf für die Künstler aber einen neuen Absatzmarkt und etablierte die Ausstellung als wichtigste Form der Kunstöffentlichkeit.53 Der Geschmack des bürgerlichen Publikums und das Losverfahren beeinflussten die Kunstproduktion sowohl in thematischer, stilistischer als auch technischer Hinsicht. Die von den Künstlern zum Verkauf eingereichten Werke sollten möglichst dem Großteil des anonymen Publikums gefallen und durch die Vereine oder private Käufer erworben werden. Zeitgenossen kritisierten das Wirken der Kunstvereine, die das Mittelmäßige in der Kunst befördern würden. Vor allem das allseits praktizierte Losverfahren wurde von »Gegnern der Kunstvereine« abgelehnt, weil damit »ein künstliches Bedürfnis, Kunstwerke zu besitzen«54 erzeugt würde. Auch Else Biram bewertet in ihrer 1919 veröffentlichten Dissertation das bürgerliche Kunstvereinswesen als hemmend für die ästhetisch-künstlerische Entwicklung im 19. Jahrhundert. Biram argumentiert, dass in den Vereinen der Kunsterwerb in den Vordergrund rückte und kein Interesse daran bestand, die Rezeptionsfähigkeit der Mitglieder zu entwickeln.55 Mit Verweis auf das Verdienst »einer ganzen Stadt wiederkehrend das Schauspiel einer Ausstellung zu verschaffen«56 wurde die Tätigkeit der Kunstvereine im gemeinsamen Organ »Deutsches Kunstblatt« mehrfach verteidigt. Trotz der wiederholten Betonung ihrer besten Absichten räumten die Delegierten der dem westlichen Zyklus angehörenden Kunstvereine ein, dass »in neuerer Zeit alle Ausstellungen durch eine erhebliche Zahl offenbar zu geringer Bilder etc. beschwert« worden waren. Auf der 1851 in Leipzig stattgefundenen Tagung, an der auch der hallesche Vorsitzende Dr. Weber teilnahm, wurde beschlossen »von 1852 ab, alles das sofort und unter Umständen selbst auf Kosten der Absender zurückzuschicken, was als unpassend oder unwürdig erkannt wurde.«57 In der Folgezeit sanken die Zahlen der zur Ausstellung zugelassenen Werke. Während 1838 noch über 600 Ausstellungsstücke im begleitenden Katalog der halleschen Ausstellung verzeichnet waren, nahm ihre Zahl in den fünfziger Jahren weiter ab (1852: 570; 1853: 490; 1854: 422). 1867 waren noch 438 Werke zu sehen, bis
53 Auch zeitgenössisch wurde wahrgenommen, dass der Kunstverein als einzige institutionalisierte Form des Kunstkontaktes im 19. Jahrhundert bis zur Eröffnung des städtischen Kunst- und Kunstgewerbemuseums bestand. Vgl. Otto, Städtisches Museum, S. 3/4. Und selbst bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts galt der Kunstverein in seiner reformierten Form neben Kunstgewerbeschule, Museum und privaten Sammlern als zentraler Akteur im halleschen Kunstsystem. 54 Eggers, Die deutschen Kunstvereine, S. 338. 55 Vgl. Biram, Industriestadt, Jena 1919. 56 N. N., Kunstvereine, S. 346. 57 Lucanus, Protokoll, S. 356.
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im Jahr der Gründung des Kaiserreichs 1871 nur noch 306 Kunstwerke für die Ausstellung angenommen wurden. Da keine Angaben überliefert sind, wie viele Werke tatsächlich eingereicht wurden, kann das Ausmaß der Jurytätigkeit nicht eingeschätzt werden, zumal der Ausstellungsturnus zwischenzeitlich (beschlossen 1851) auf ein Jahr verkürzt wurde und die Zahl der eingereichten Werke deshalb verringert gewesen sein könnte.58 Abgesehen von dieser auch durch den halleschen Vereinsvorstand getragenen Initiative zeigte sich an einer weiteren Maßnahme, dass die Qualität der auf den zyklischen Ausstellungen versammelten Werke umstritten war. Während der 1836 stattfindenden Generalkonferenz, die die Deputierten der westelbischen Kunstvereine versammelte, wurde eine Schwachstelle des Systems der bürgerlichen Kunstförderung thematisiert. Festgestellt wurde, dass in der bürgerlich verantworteten Kunstförderung die Gattung der großen Historiengemälde bisher stark vernachlässigt wurde: »Andererseits ist die Beförderung, insbesondere der Malkunst durch die Kunstvereine, vor allen auf den wichtigsten und schwierigsten Zweig der letzteren, auf die, ihre Gegenstände aus der heiligen, oder aus der Geschichte der Völker entnehmende Geschichtsmalerei, zu beziehen, die durch Privatpersonen so zu sagen gar nicht befördert werden kann und auch mag ….«59
Da weder die Besitzer solcher Werke bereit waren, die Kostbarkeiten für die Wanderausstellungen als Leihgaben zur Verfügung zu stellen »noch in der Regel die Künstler vermögend genug sind, um ihre besten Kräfte und einen bedeutenden Zeitaufwand, ohne Bestellung, an ein Geschichtsbild zu wagen«, wurde beschlossen, dass »jeder Verein alle 2 Jahre sich ein großes Bild auf Bestellung schaffe.«60 Der 1842 publizierte Wirksamkeitsbericht des Halleschen Kunstvereins begrüßte das Ergebnis dieses Beschlusses: Die auf den Ausstellungen 1838, 1840 und 1842 gezeigten »Haupt-Cours-Bilder« (von den Vereinen selbst in Auftrag gegebene Historienbilder) hätten die Ausstellungen wesentlich bereichert und die übrigen gezeigten Werke an Bedeutung überragt.61 Inmitten der mehreren hundert kleinformatigen Landschafts- und Architekturbilder sowie Porträts waren die finanziell aufwendigeren Auftragswerke aus der Gattung der Historienmalerei in vielerlei Hinsicht herausragend. Arnold Ruge, Rezensent der 1838er Ausstellung, resümierte in den Hallischen Jahrbüchern für deutsche Wissenschaft und Kunst:
58 Vgl. ebd. 59 Hallescher Kunstverein, General-Bericht. 60 Ebd. 61 Vgl. ebd.
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»Das Schwelgen in der stummen, eintönigen Natur und die reintechnischen Kleinigkeiten sollten aufhören, das Hauptinteresse unseres Kunstvereins zu sein … Die Viehwirtschaft, die Kernerwagen, der Baumschlag, die Fruchtstücke und gar die Architektur sind auf die Länge nichts als die Langeweile und Geistlosigkeit, die nur gelten können als Zugabe zu dem wahren Mittelpunkte der Kunst, den historischen [Hervorhebung im Original, I. S.-W.] Bildern die aber durch Bestellung der Kunstvereine zu excitieren sind.«62
Sie waren nicht wie die meisten der übrigen Bilder den Bedürfnissen des bürgerlichen Publikums nach kleinformatigen, dekorativen und bezahlbaren Bildern angepasst.63 Vielmehr knüpfte die Hochschätzung der Historienmalerei an fürstliche Traditionen der Auftragskunst an und galt sowohl unter den zeitgenössischen Künstlern als auch Bildungsbürgern als höchste Bildgattung.64 Wie selbstverständlich konstatierte deshalb der Verfasser des Wirksamkeitsberichtes: »Daß die Bestellung eines großen Bildes wesentlich auf ein geschichtliches zu beziehen ist, liegt in der Natur der Sache.«65 Um die »Haupt-Coursbilder« entspann sich ein vereinsinterner Konflikt zwischen dem Vorstand und den übrigen Mitgliedern, der den Widerstreit der eingangs benannten Wertpaare Besitz und Bildung bzw. Eigeninteresse und Gemeinwohl aufzeigt. Bestehende Differenzen, die sich vor allem an der Funktion bildender Kunst auftaten, wurden offensichtlich. Anders als die vom Verein zur Verlosung angekauften Werke sollten die »alle 2 Jahre zu erwerbenden Hauptvereinsbilder den Grund zu einer Vereinssammlung legen« – so hatten es die Teilnehmer der Generalkonferenz beabsichtigt. Obwohl die Mitglieder des halleschen Vereins dieses Ansinnen erst in der Generalversammlung 1837 bestätigten, kam es in der Folge zu derartiger Kritik am Beschluss, dass die ersten drei Vereinsbilder schließlich auch unter den Mitgliedern verlost wurden. Der Verfasser des Wirksamkeitsberichtes erörtert aus der Perspektive des Vorstandes zähneknirschend das Scheitern der Initiative in Halle: »… und liegt darin der Grund, weshalb der Vorstand, jene Mißstimmung im Auge behaltend, selbst die Hinweisung auf § 23. der Statuten, demzufolge es ihm zusteht, von den Ueberschüssen … Kunstwerke anzukaufen, oder bei namhaften Künstlern zu bestellen, um daraus mit der Zeit eine dem Vereine gehörige Gemäldegalerie zu bilden, verschmäht (nachträglich hervorgehoben, I. S.-W.]), und das erste Vereinsbild sowohl, ›Narni im Kirchenstaat von Ahlborn‹, wie sodann das zweite, ›Paulus vor Agrippa und Festus von Pfannenschmidt‹, mit zur Verlosung gebracht hat.«66 62 Ruge, Die diesjährige hallische Kunstausstellung, Sp. 1398. 63 Dass hauptsächlich Landschaften, Architekturansichten und Porträts auf den Ausstellungen zu sehen waren, ist anhand der Werktitel in den überlieferten Katalogen von 1838, 1867 und 1871 ersichtlich. Vgl. Verzeichnis Kunstausstellung Halle 1838; Verzeichnis Kunstausstellung Halle 1867; Verzeichnis Kunstausstellung 1871. 64 Vgl. Biram, Industriestadt, S. 29; Behnke, Gründungsgeschichte, S. 5. 65 Vgl. Kunstverein, General-Bericht. 66 Ebd.
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Auf der Seite der Vereinsmitglieder bestand wenig Interesse daran, eine Vereinsgalerie einzurichten und die Hauptcours-Bilder einem »öffentlichen Zwecke« zu widmen. Der Vorwurf Birams, dass die Mitgliedschaft der meisten Bürger auf die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse abzielte und, im Gegensatz zu Ambitionen auf der Vorstandsebene, nicht auf gesellschaftliche Wirkung orientiert war, wird hier bestätigt.67 Zumindest bei den »einfachen« Mitgliedern war die Option auf persönlichen Besitz die wesentliche Motivation für eine Mitgliedschaft im Verein, obwohl die Wahrscheinlichkeit, in der Verlosung bedacht zu werden und eines der begehrten Gemälde zu gewinnen, eher gering war.68 Für weite Teile des Bürgertums, vor allem jene, die sich nicht über eine einfache Mitgliedschaft im Kunstverein hinaus engagierten, war das Gemälde vor allem ein materiell verstandenes Statussymbol, dass »so wie der Sammelplatz für Musik, das Pianoforte, in einem wohleingerichteten Hause nicht fehlen darf«69. Die im Wirksamkeitsbericht angesprochene Dimension der Selbstvergewisserung und Kontemplation trat in der Vereinsbasis hinter dem Wunsch des persönlichen Besitzes zurück. Der äußerliche Anschein einer standesgemäßen Haushaltung wurde mehrheitlich gegenüber der persönlichen Vervollkommnung durch bloße Anschauung vorgezogen. Der hier aufscheinende Interessenkonflikt zwischen Vorstand und Mitgliederbasis verweist wiederum auf die soziale und kulturelle Heterogenität der als Bürgertum bezeichneten Bevölkerungsschicht. Wenigstens für die Mitglieder des Vorstandes ließ sich über den Verlauf des 19. Jahrhunderts feststellen, dass sie mehrheitlich dezidiert bildungsbürgerliche Biografien aufwiesen. Es ist anzunehmen, dass sie daher tendenziell dem Bereich der Bildung eine besondere Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit beimaßen und bildende Kunst insbesondere in diesem Funktionszusammenhang dachten und im Verein so repräsentiert sehen wollten. Auf der Seite der Vereinsbasis stand jedoch der Wunsch nach erschwinglichen Kunstwerken im Vordergrund, dafür wurde ein Verlust an Originalität und Kreativität in Kauf genommen. In ihrer Perspektive auf die Kunstwerke waren deren repräsentative und dekorative Aspekte vorrangig. Das von Hettling entworfene Wertesystem mit einander widersprechenden Bezugspunkten scheint als Raster für den Konflikt im Kunstverein geeignet, weil anhand der Gegen 67 Vgl. Biram, Industriestadt, S. 29. Auch Christoph Behnke weist darauf hin, dass der Ursprung der mäzenatischen Tätigkeit der Bürger in der Gründungsphase der deutschen Kunstvereine wesentlich auf ökonomistisch-egoistischen Prinzipien beruhte. Die »Vision vom ästhetisch durchgebildeten Bürger« musste erst umgesetzt werden. Die Aktienbeteiligung und das Losverfahren galten dabei als Anreize, um den Bürger auf das Terrain der bildenden Kunst zu locken, das bis dahin dem Adel vorbehalten war. Vgl. Behnke, Gründungsgeschichte, S. 5. 68 Für 15 Silbergroschen konnten zusätzliche Lose gekauft und die persönliche Gewinnchance erhöht werden. Vgl. Verzeichnis Kunstausstellung Halle 1867; Verzeichnis Kunstausstellung Halle 1871. 69 N. N., Kunstvereine, S. 346.
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sätze von Besitz und Bildung, Eigeninteresse und Gemeinwohl, Nützlichkeit und Kreativität sowie Vernunft und Emotion hier über die Funktion der Kunst gestritten wird.70 Vorerst fiel die Funktionsbestimmung der Kunst auf der Ebene der Kunstvereine zugunsten der jeweils erstgenannten Wertepositionen aus: Obwohl auf den Generalkonferenzen die positive Wirkung der Hauptvereinsbilder wiederholt betont wurde, stellten die Vereine in Halle, Magdeburg und Halberstadt, vermutlich aufgrund vereinsinternen Widerspruchs durch die Mehrheit der Mitgliederbasis, die Bestellung von Kunstwerken bei überregional bedeutenden, akademischen Künstlern spätestens 1853 ein.71 Anhand der im Halleschen Kunstverein dominierenden ästhetischen und funktionalen Prämissen des Kunstbegriffs, wie sie oben erläutert wurden, und der überlieferten Kataloge der Ausstellungen des Kunstvereins im 19. Jahrhundert lassen sich auch Aussagen über das Verhältnis zum bildenden Künstler treffen. Indem die Kunstvereine als Instanzen agierten, die die eingereichten Kunstwerke an Käufer vermittelten, wandelte sich die vormals persönliche Beziehung zwischen Künstler und Auftraggeber in ein anonymes Verhältnis. Im Vorwort der Kataloge zu den Ausstellungen 1867 und 1871 wurden interessierte Käufer aufgefordert, sich mit dem Vorsitzenden Friedrich Fubel oder dem Konservator Moritz Voigt in Verbindung zu setzen.72 Unter den Ausstellern 1838 waren vor allem Künstler aus den deutschen Kunstzentren Berlin und München vertreten. Mit Abstand folgten Dresden, Düsseldorf und Amsterdam, die als Standorte von Kunstakademien ebenfalls Anziehungspunkte für zahlreiche Künstler waren. Aus den näherliegenden Städten Magdeburg, Quedlinburg und Halberstadt kam ebenfalls eine kleinere Anzahl der Werke. Als einziger Künstler aus Halle ist Anton Bernhard Burdach vertreten. Der später als Porträtmaler im Adressbuch der Stadt verzeichnete Künstler reichte eine Kreidezeichnung »nach Prof. Weise« ein und stellte sich im Katalog als dessen Schüler vor.73 Auf den Ausstellungen der Jahre 1867 und 1871 erhöhte sich die Zahl der von halleschen Künstlern eingereichten Werke nicht; Düsseldorf, Berlin und München lieferten weiterhin einen Großteil der Ware. Für die in Halle tätigen Künstler war der städtische Kunstverein offenbar keine relevante Plattform, weder zum Verkauf noch um ihre künstlerischen Fähigkeiten einem größeren Publikum zu präsentieren und ihre Bekanntheit zu steigern. Keiner der im Adressbuch für das Jahr 1869 verzeichneten »Portrait-resp. Landschafts- und 70 Vgl. Hettling, Bürgerliche Kultur, S. 321 und 324 f. 71 Vgl. Lucanus, Kunstvereine. Haupt-Coursbilder, S. 372. 72 Vgl. Verzeichnis Kunstausstellung Halle 1867; Verzeichnis der Kunstausstellung Halle 1871. 73 Vgl. Verzeichnis Kunstausstellung Halle 1838, S. 60.
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Genre-Maler« war im Katalog der Ausstellung desselben Jahres verzeichnet.74 In der 1871 stattfindenden Ausstellung war zumindest einer von sieben im Geschäftsverzeichnis des Adressbuchs aufgelisteten Künstler mit einem kunstgewerblichen Stück vertreten. Der Maler und Zeichenlehrer Hermann Schaper brachte eine Ziertischplatte zur Ausstellung und war im Nachtrag des 306 Nummern umfassenden Kataloges aufgeführt. Da seiner Darstellung einer Abendlandschaft im Katalog kein Preis beigefügt ist, steht zu vermuten, dass sie nicht zum Verkauf angeboten wurde.75 Inwieweit die Tätigkeit der Kunstvereine für das zur Mitte des 19. Jahrhunderts wachsende Künstlerproletariat verantwortlich war, wie es Christoph Behnke mit dem ersten preußischen Kulturdezernenten Franz Theodor Kugler vermutet, lässt sich anhand der halleschen Quellen nicht bewerten. Für die lokale Künstlerschaft war der Kunstverein im 19. Jahrhundert als Absatzmarkt jedenfalls kaum von Bedeutung. Anders für das hallesche Publikum: Die regelmäßig eingerichteten Ausstellungen, die jeweils über einen Monat auch für Nichtmitglieder des Kunstvereins gegen geringes Eintrittsgeld geöffnet waren, boten in Halle bis in die 80er Jahre die einzige regelmäßige Möglichkeit zur Kunstbetrachtung. Gemessen an der turbulenten Stadtentwicklung Halles in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts blieb es um den Halleschen Kunstverein zur selben Zeit seltsam ruhig. Zwar stieg seine Mitgliederzahl auf nahezu fünfhundert in der Mitte der sechziger Jahre an.76 Der industrielle »Take-off« und all die damit verbundenen sozialen Verwerfungen schlagen sich in den Quellen zum Verein nicht nieder. Er verblieb bei seinen gewohnt zyklischen Ausstellungen inklusive der Verlosung von Kunstwerken. Allein seine Beteiligung an der großen Gewerbe- und Industrieausstellung, die im Mai 1881 eröffnet und von etwa einer halben Million Menschen besucht wurde, brachte den Verein in engeren Kontakt zu den drängenden Gegenwartsproblemen einer Großstadt. Die zeitgleich mit der Gewerbe- und Industrieausstellung stattfindende Gemäldeausstellung des Kunstvereins wurde auf das weitläufige, in Bahnhofsnähe gelegene Ausstellungsgelände verlegt und sollte dem Großunternehmen »ein angenehmes Relief verleihen«77. Die von Prof. Heinrich Heydemann kuratierte und in einem fest gebauten Kunstpavillon präsentierte Ausstellung versammelte vorrangig kunstgewerbliche Gegenstände aus dem 18. Jahrhundert aus öffentlichem und 74 Vgl. Adressbuch Halle 1869, III. Nachweis, S. 71. 75 Vgl. Adressbuch Halle 1871, III. Nachweis, S. 65. 76 1870 hatte sich die Zahl der Einwohner gegenüber 1834, dem Jahr der Gründung des Kunstvereins, verdoppelt. Auch die Zahl der Vereinsmitglieder war um mehr als das Doppelte gestiegen. Vgl. Hallescher Kunstverein, General-Bericht; v. Hagen, Stadt Halle, S. 619; Hauser u. a., Stadt im Aufbruch, S. 12/13. 77 Officieller Katalog der Gewerbe- u. Industrieausstellung 1881 zu Halle a. S., Halle und Berlin 1881, S. V / V I.
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privatem Besitz. In den zeitgenössischen Publikationen tritt der Kunstverein als Akteur der Gewerbe- und Industrieausstellung hinter Heydemann zurück.78 Dem Kunstverein gelang es nicht, die durch die Ausstellung aufgeworfenen Fragen der Industrialisierung und neuen Urbanität zu adaptieren. Die wenige Monate später erfolgte Gründung des Kunstgewerbevereins im Anschluss an die Ausstellung zeigte nochmals deutlich, dass sich der Hallesche Kunstverein nicht als Plattform für die Verhandlung zeitgenössischer Problemlagen im Grenzbereich von bildender Kunst und Gesellschaft anbot. Auch in den beiden kommenden Jahrzehnten stagnierte die Vereinstätigkeit auf der Ebene der zyklischen Verkaufsausstellungen. Die über viele Jahrzehnte unveränderte Ausstellungspraxis und die Verteilung von Kunstwerken über den Erwerb von »Actien« findet ein sprechendes Bild beim Vergleich der ausstellungsbegleitenden Kataloge der Jahre 1838 und 1901. Die zur 3. und 35. Ausstellung erschienen Verzeichnisse mit jeweils 610 und 641 Werknummern unterscheiden sich weder formal noch inhaltlich wesentlich voneinander. Obwohl zwischen beiden mehr als 60 Jahre liegen und die Stadt Halle und ihre Bewohner in dieser Zeit sowohl in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, technischer und topografischer Hinsicht grundlegenden Wandel erfuhren, zeigte sich der Kunstverein von diesen Erscheinungen offenbar unbeeindruckt. Lediglich ein Bismarckporträt Franz von Lenbachs und ein Werk des Worpsweder Künstlers Otto Modersohn kündeten auf der Ausstellung in der Volksschule an der Neuen Promenade 1901 punktuell von einer künstlerischen Moderne jenseits der konventionellen Genremalerei des 19. Jahrhunderts. Das jüngere Ausstellungsverzeichnis verweist dennoch indirekt auf das qualitative und quantitative städtische Wachstum der vergangenen Jahrzehnte: Die teilweise prosperierende Bevölkerung begünstigte die Etablierung eines lokalen Kunstmarktes und einer städtischen Künstlerschaft, die zunehmend hauptberuflich ihrer Tätigkeit nachging. Unter den Nummern 301 bis 304 sind vier Werke des halleschen Malers Heinrich Kopp verzeichnet. Die vier Landschaftsdarstellungen standen allesamt zum Verkauf und wurden für 80 bis 300 Mark angeboten. Die überwiegende Mehrzahl der gezeigten Werke kam jedoch weiterhin aus den großen deutschen Kunstzentren Berlin und München.79 Auch obsiegte der Eindruck, dass der Kunstverein kaum dazu in der Lage war, zeitgenössische Entwicklungen in der bildenden Kunst in die preußische Provinz zu vermitteln, geschweige denn voranzutreiben. Franz Otto, selbst Mitglied im Kunstverein, resümierte um 1900, der Kunstverein sei in Halle zwar lange Zeit die einzige Möglichkeit gewesen, mit zeitgenössischer Kunst in Kontakt zu kommen, könne aber nicht über das allgemeine Desinteresse auch bürgerlicher 78 Vgl. Hauser, Halle wird Großstadt, S. 47 ff.; Heydemann, Pavillon. 79 Vgl. Verzeichnis Kunstausstellung Halle 1838; Katalog Kunst-Ausstellung Halle 1901, S. 26.
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Bevölkerungskreise an hochwertiger Kunst und Mittelmäßigkeit der in halleschem Privatbesitz befindlichen Werke hinwegtäuschen.80 Einige Jahre später monierte Gustav Wolff anlässlich des 25-jährigen Gründungsjubiläums des Kunstgewerbevereins 1907 vor allem dessen elitäre Beschränktheit: »Sogenannte Kunstvereine, deren fast ausschließliche Tätigkeit darin bestand, periodische Ausstellungen von Ölgemälden zu veranstalten, existierten längst fast in allen größeren Städten und so auch hier in Halle, aber man sah ein, daß sie nicht imstande waren, eine höhere künstlerische Kultur zu schaffen. Man empfand vielmehr das Bedürfnis nach einer Kunst, die wieder wie in früheren Zeiten unsere ganze Umgebung erfüllt, die ihre Strahlen nicht nur in die Wohnungen der Reichen, sondern auch der weniger bemittelten sendet, die jeden Gebrauchsgegenstand adelt und vor allem die Kluft zu überbrücken sucht, die allmählich sich zwischen den Werken der Industrie und den Forderungen der Ästhetik gebildet hatte.«81
Der Kunstverein verlor neben dem 1882 gegründeten Kunstgewerbeverein, der sich explizit auf gegenwärtige soziale, wirtschaftliche und künstlerische Pro blemlagen bezog, an Bedeutung. Auch in der Erinnerung Heinrich Kopps, der einige Werke auf der Ausstellung des Kunstvereins 1901 anbot und den ersten halleschen Künstlerverein mitbegründete, erschien das Angebot des Kunstgewerbevereins in den Jahren unmittelbar vor 1900 weitaus anregender als die vom Kunstverein gebotenen Formen des Kunsterlebens: »Der Kunstverein suchte seine Aufgabe hauptsächlich in der Veranstaltung von Ausstellungen, die damals in der Aula der Volksschule an der alten Promenade stattfanden und recht gut besucht waren. Gesellige Zusammenkünfte und sonstige Anregungen waren im Programm des Vereins nicht vorgesehen. Der Kunstgewerbeverein war schon vielseitiger. Er ließ Vorträge über zeitgemäße Fragen künstlerischer Art halten, veranstaltete Wettbewerbe, hielt eine kunstgewerbliche Bibliothek und hatte auch eine kleine ständige Ausstellung kunstgewerblicher Arbeiten.«82
80 Für Franz Otto, selbst Vorstandmitglied im Kunstverein, gilt dieser als einzige institutionalisierte Form des Kunstkontaktes im 19. Jahrhundert bis zur Eröffnung des städtischen Kunst- und Kunstgewerbemuseums in Halle. Vgl. Otto, Städtisches Museum, S. 3/4; Frankl, Physiognomie, S. 36–38. 81 Wolff, 25 Jahre Kunstgewerbe-Verein, S. 8. 82 Kopp, Künstlerverein, S. 71.
III. Das hallesche Kunstsystem: Institutionalisierung öffentlicher und privater Kunstpflege in der Klassischen Moderne
1. Wege aus der Krise – der Kunstverein nach 1900 als Mediator eines modernen Kunstbegriffs und Künstlerbildes Nach 1900 vollzog der Hallesche Kunstverein eine grundlegende Neuausrichtung. Noch bevor mit Adolph Goldschmidt 1904 ein Kunsthistoriker mit Interesse an der zeitgenössischen Kunst und persönlichen Kontakten in die Berliner Kunstwelt maßgeblich den organisatorischen Aufbau und die Ausstellungspraxis des Kunstvereins reformierte, leitete der Kunstverein mit der 1902 stattfindenden »Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz« eine neue Ära der Selbst- und Kunstbetrachtung ein. Indem der Verein seinen Blick auf den Kunstbesitz hallescher Bürger richtete, reflektierte er zum einen seine eigene Geschichte und Wirksamkeit der letzten Jahrzehnte. Andererseits stellte er damit auch die Tradition der Wanderausstellungen in Frage, die weder thematisch konzentriert noch lokal aussagekräftig waren. Die in Zusammenarbeit mit dem Kunstgewerbeverein veranstaltete Ausstellung wurde in der Villa des Mediziners Prof. Ernst Kohlschütter gezeigt und präsentierte über 800 Kunstwerke. Im Vorwort des begleitenden Kataloges, der zahlreiche Abbildungen und kurze Beschreibungen der einzelnen Ausstellungsstücke enthält, erklärten die Veranstalter »dem toten Bildermarkt gegenüber etwa Lebendiges«1 bieten zu wollen. Die Perspektive auf die Stadt und die Wohnzimmer ihrer Bürger entstand aus dem Unbehagen an der gegenwärtigen halleschen Ausstellungssituation und der allgemeinen Ausstellungspraxis. Vor allem die wandernden Lokalausstellungen, die durch die Kunstvereine organisiert wurden und an denen sich auch der Hallesche Kunstverein jahrzehntelang beteiligt hatte, wurden von den Veranstaltern kritisch als »Friedhöfe(n) künstlerischer Hoffnungen und Träume«2 bezeichnet. Statt weiterhin massenhaft Werke ohne regionalen Bezug zu versammeln, orientierten sie sich nun an Städten wie Dresden, Leipzig, Berlin und Frankfurt, die in ähnlichen Ausstellungen ebenfalls den städtischen Besitz ins Licht der Öffentlichkeit rückten. Die Bilanz der Ausstellung, die sowohl Bildwerke als auch kunstgewerbliche
1 Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz, S. XI. 2 Ebd.
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Gegenstände aus den vergangenen Jahrhunderten zur Schau stellte, fiel, was die Novität der Stücke angeht, ernüchternd aus.3 Im Bewusstsein, dass die Stücke aus halleschem Privatbesitz kaum an gegenwärtige künstlerische Entwicklungstendenzen anschlussfähig waren, rückte der kuratorische Ausschuss das städtisch-lokale Element ins Zentrum: »Was wir bieten ist nichts Neues, nicht einmal für Halle, und doch etwas, das in dieser Art etwas besonderes sein will, wenigstens für unsere Stadt. … So soll hier zur Geltung gebracht werden, was reine Freude am Schauen für die Dauer in ständiger Umgebung zurückzuhalten wünschte und deshalb müssen solche Ausstellungen für die Künstler selbst vom allerhöchsten Interesse sein. Die »Jungen« freilich werden ihre Werke hier leider noch vergeblich suchen. In diesem Punkte ist Halle konservativer, als wir gehofft hatten.«4
Die Ausstellung und der begleitende Katalog stellen in der Geschichte des Kunstvereins in vielerlei Hinsicht eine Zäsur dar. Indem er sein Aufgabenfeld neu definierte und seine Verantwortung als Agent der zeitgenössischen Kunstentwicklung suchte, überwand der Kunstverein die Krise des bürgerlichen Kunstvereinswesens am Ende des 19. Jahrhunderts. Schon in den Jahren seiner Gründung formulierte der Vorstand sein zentrales Anliegen, qualitativ hochwertige Kunst »zur Weckung und Nacheiferung aufzustellen«5. Damals war der Versuch, die Qualität der Bilder durch Investition des Vereinskapitals in Auftragswerke für eine vereinseigene Galerie zu heben, am Widerstand der Vereinsmitglieder gescheitert. Nun rückten im Vorwort, das die erste überlieferte programmatische Äußerung des Kunstvereins innerhalb eines Ausstellungskataloges überhaupt darstellt, wieder die Öffentlichkeit und das Ideal der künstlerischen Bildung in den Fokus. Im Vordergrund stand diesmal nicht die Veräußerung der präsentierten Werke. Stattdessen wurde versucht, einmal in der Privatsphäre »verschwundene« Besitztümer für die zweiwöchige Dauer der Ausstellung und darüber hinaus als Abbildungen im Katalog der Öffentlichkeit wiederzugeben. Dabei wurde das Kunstsammeln keineswegs als elitäre Praxis verurteilt, sondern dazu angeregt, die privaten Sammlungen weiter auszubauen. Wenn auch für einige weitere Jahre die Verkaufsausstellungen alten Stils fortgeführt wurden, änderte sich mit der »Ausstellung von Kunstwerken aus 3 Die Ausstellung versammelte Kunstwerke und kunstgewerbliche Gegenstände aus (mindestens) fünf Jahrhunderten, von denen die meisten jedoch im 19. Jahrhundert entstanden waren. Die zeitlich weit ausgreifende Zusammenstellung zeigt zum einen, dass die Organisatoren ihre Aufmerksamkeit potentiell auf alle Epochen der europäischen (und japanischen) Kunstgeschichte richteten. Andererseits wird offenbar, dass die meisten der ausstellenden Privatbesitzer ihren Kunstbesitz in den vergangenen Jahrzehnten erworben hatten. 4 Ebd., S. XII. 5 Hallescher Kunstverein, General-Bericht.
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Hallischem Privatbesitz« das Konzept der Vereinstätigkeit grundlegend. Mit der Ausstellung formulierte der Kunstverein den Anspruch pädagogisch tätig werden zu wollen. Zu diesem Ziel beschränkte er sich nicht länger auf die engere Vereinsöffentlichkeit, sondern wollte die Gesellschaft insgesamt zur Genussfähigkeit jenseits rationaler Lebensführung anleiten.6 Die bildende Kunst sei eine Möglichkeit, der allumfassenden Rationalisierung des Alltags und dem zielgerichteten Streben zu entgehen. Die Autoren sprechen damit der Kunst einerseits die Funktion zu, über den Alltag hinauszuführen, begrenzen sie zugleich jedoch auf den Aspekt der Alltagsflucht. Der Begriff der Kunst wird hier besetzt mit Elementen, die im Positiven über die Realität hinausweisen und insofern affirmativen Charakter tragen. Es wird nicht gedacht, dass von ihr ernstzunehmende Kritik an sozialen Zuständen oder an gesellschaftlichen Leitideen ausgehen könne. Kunst wird ausschließlich als Bereich konstruiert, der die Flucht aus der rationalisierten Arbeits- und Lebenswelt ermögliche.7 Trotzdem wird betont, dass nicht mehr so ausschließlich wie früher »Landschaften und bloße Stimmungsmalerei« vorherrschten, sondern das Gegenständliche den Werken inhaltliche Tiefe verleihe. Auch der Verweis auf die neue Intimität, die der Repräsentativität, Fassadenspiegelei und Prunkliebe der Gründerjahre entgegenstünden, lässt den Begleittext über das historistische Kunstverständnis hinausweisen. Kunst und Kunstgewerbe wurden von beiden Vereinen in der Ausstellung vorgestellt als Refugium der Besinnung, in dem die zweckrationalisierte Industriegesellschaft erneut zu Ruhe und Lebensqualität finden könne. Angesichts dieser weitreichenden Funktionszuschreibung an Kunst, die nichts weniger als die Rückbesinnung der Gesellschaft auf vorindustrielle Werte leisten sollte,8 verwundert ihre enge ästhetische Funktionsbestimmung. Die Wirkung der Werke wurde in erster Linie auf ihre dekorative Funktion beschränkt, obwohl der neu entdeckte kreative Wert bildender Kunst deutlich im Text spürbar ist: »Doch der leitende Gesichtspunkt, daß Bilder in erster Linie dazu dienen, eine Wandfläche zu gliedern und mit Möbeln und allem übrigen Ausstattungszubehör eine einheitliche Raum- und Farbenstimmung zu erzeugen, wird wenigstens in einer Anzahl unserer Räume zu erkennen sein.«9
Der inhaltlichen Aussagekraft von Kunst wird hier keinerlei Bedeutung beigemessen, sondern ihre »gute« Wirkung auf ihre formale Erscheinung und räumliche Kontextualisierung zurückgeführt. 6 Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz, S. XIV. 7 Vgl. Bürger, Theorie der Avantgarde, S. 26 ff. 8 Im Text wird dieses Argument damit ausgeführt, dass die Vergangenheit kunstdurchsetzt gewesen und deshalb vorbildhaft sei. Vgl. Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz, S. XIV. 9 Ebd., S. XIII.
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Das hallesche Kunstsystem
Die neue Aufmerksamkeit für die lokale Kunstlandschaft beschränkte sich vorerst auf den Kunstbesitz und klammerte die vor Ort tätigen künstlerischen Kräfte aus. Obwohl zum Zeitpunkt der Ausstellung nachweislich einige Künstler in Halle tätig waren und sich bereits erste Künstlergemeinschaften organisiert hatten, stellten die Veranstalter deren Schaffen gegenüber den Werken aus Privatbesitz zurück. Deren Sammlungen seien teilweise so umfangreich, dass eine zusätzliche Erweiterung der Ausstellung nicht in Frage gekommen sei und so »mußten diesmal leider die zahlreichen Werke von Künstlern ausgeschlossen bleiben, die in Halle selbst thätig sind«, so die Begründung im Katalogvorwort. Das offenbar große Interesse der örtlichen Künstlerschaft an einer solchen Ausstellung veranlasste die Organisatoren, für das kommende Jahr eine solche Präsentation des lokalen Kunstschaffens anzukündigen. Es ist nicht überliefert, dass eine solche Ausstellung tatsächlich stattfand. So blieb die Wirkung der Ausstellung, die vom inhaltlichen Wandel des Kunstvereins zeugte, auf die örtliche Künstlerschaft vorerst beschränkt. Weder konnten sie hier die zeitgenössische Kunstentwicklung studieren, noch war ihnen selbst die Möglichkeit gegeben, ihr Werk der Öffentlichkeit zu präsentieren. Erst durch den weiteren Umbau in den folgenden Jahren und äußere Impulse sollte der Kunstverein auch für die Künstler vor Ort ein wichtiger Schrittmacher werden. Das veränderte Selbstverständnis und die neue Art der Kunstbetrachtung, die im Herbst 1902 spürbar wurden, manifestierten sich in den folgenden Jahren personalpolitisch und konzeptuell. Verbunden war der auf das Jahr 1904 datierbare tiefe Einschnitt in der Vereinsgeschichte mit dem Namen Adolph Goldschmidt. Der ab diesem Zeitpunkt in Halle lehrende und das Institut für Kunstgeschichte begründende Goldschmidt fand nach seiner Ankunft in Halle sofort Anschluss an den hiesigen Kunstverein. Die am 3. Dezember 1904 neu errichteten Statuten wurden an erster Stelle von ihm unterzeichnet. Zu den Unterzeichnern gehörten des Weiteren Karl Steinweg, Oberlehrer am Hallenser Reformalgymnasium, der Großkaufmann Karl Haenert, der Rentier Heinrich Lehmann und der Künstler Sigmund von Sallwürk. Einzig der Stadtrat Hermann Keferstein war schon vorher als Mitglied des Vorstandes tätig.10 Die neue Satzung sah eine Verschlankung des Vereinsvorstandes auf drei Funktionsposten vor, der von einem Beirat ergänzt wurde. Goldschmidt übernahm anstelle des langjährigen Vereinsvorsitzenden Friedrich Fubel den Leitungsposten, den er bis zu seinem Weggang aus Halle 1912 bekleidete. Seit seinem Engagement waren bis zur Gleichschaltung des Vereins 1933 kontinuierlich Angehörige der Universität mit kunstwissenschaftlichem Schwerpunkt im Vereinsvorstand oder im Beirat vertreten. Neben Goldschmidt waren Wilhelm Waetzoldt und Kurt Gerstenberg sowie der Professor für Ästhetik Emil Utitz im Verein aktiv. 10 Im Vereinsverzeichnis des halleschen Adressbuchs wird Keferstein seit 1888 (mit Unterbrechung) als Vorstandsmitglied aufgeführt. Vgl. Adressbuch Halle 1888 ff.
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Der Museumsdirektor Max Sauerlandt und der Direktor der Kunstgewerbeschule und Architekt Paul Thiersch sowie der Universitätszeichenlehrer Otto Fischer-Lamberg trugen ebenfalls mit ihrer Expertise zur Professionalisierung der Vereinsarbeit bei.11 Darüber hinaus tauchen in den Protokollen der Mitgliederversammlungen wiederholt hallesche Künstler auf, die im Beirat oder als Mitglieder am Vereinsleben Anteil nahmen; im Vorstand waren sie hingegen, bis auf Thiersch, nicht vertreten. Neben den Kunstwissenschaftlern und Künstlern bildete eine dritte Gruppe hallescher Bürger das personelle Reservoir des Vereins im beginnenden 20. Jahrhundert: Sowohl im Vorstand als auch im Beirat waren wohlhabende Bürger vertreten, die aufgrund ihres wirtschaftlichen Erfolgs als Rentiers ihre Zeit und ihren Reichtum in Kunst und Wissenschaft investierten.12 Angesichts der personellen Zusammensetzung des Vereins ist um 1904/05 ein markanter Bruch festzustellen. Nicht nur räumten nahezu sämtliche Vorstandsmitglieder ihre Posten, sondern es verschob sich das Verhältnis der maßgeblichen Personengruppen, aus denen sich die neuen Funktionsträger rekrutierten. Insbesondere die Gruppe der kommunalpolitischen Würdenträger verlor an Gewicht und wurde zugunsten wissenschaftlich oder praktisch tätiger Kunstexperten verdrängt. In der sich sprunghaft ausdifferenzierenden halleschen Kunstlandschaft übernahm der Kunstverein seit seiner Neuaufstellung die Funktion einer Schnittstelle. Über personelle Überschneidungen bestanden nicht nur Verbindungen zur Universität, sondern ebenso zum Städtischen Museum für Kunst und Kunstgewerbe sowie zur Kunstgewerbeschule. Dass mit Paul Thiersch und Max Sauerlandt jeweils die Köpfe der beiden wichtigsten städtischen Kunstinstitutionen im Kunstverein engagiert waren, spricht für dessen Bedeutung und Ansehen. Über die Mitgliedschaft von Karl Völker, Alfred Weßner-Collenbey, Sigmund von Sallwürk sowie weiterer Künstler bestanden zwischen Kunstverein und verschiedenen halleschen Künstlerverbänden personelle Verbindungen: dem Wirtschaftsverband bildender Künstler Halles (Fischer-Lamberg als Vorsitzender seit 1924), der Hallischen Künstlergruppe (Karl Völker als Gründungsmitglied der 1919 bis in die Mitte der zwanziger Jahre bestehenden Hallischen Künstlergruppe und im Beirat des Kunstvereins ab 1921) und dem Künstlerverein auf dem Pflug (Alfred Weßner-Collenbey und Sigmund von Sallwürk als Mitglieder der ersten Stunde).13 Über die personellen Verbindungen hinaus 11 Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Hallescher Kunstverein. 12 Heinrich Lehmann und Emil Steckner waren beide Abkömmlinge hallescher Bankiersfamilien. Felix Weise, der seit 1912 (bis 1925) als erster Vorsitzender tätig war, und Karl Haenert waren beide als Großunternehmer bzw. Fabrikant zu Reichtum gelangt. Vgl. Hauser, Gewerbe- und Industrie-Ausstellung, S. 40; Hertner, Privatbanken, S. 49–57; Adressbuch Halle 1880. 13 Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Hallescher Kunstverein; Künstlerverein auf dem Pflug; Reichsverband bildender Künstler.
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kam es temporär zu institutionalisierten, öffentlichen Formen der Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Institutionen.14 Der personelle Wechsel in den führenden Positionen im Kunstverein brachte auch Neuerungen im Vereinsprogramm. Die Neufassung der Statuten 1904 bestimmte, als Vereinszweck »Liebe und Verständnis für die bildenden Künste zu pflegen.«15 Im Gegensatz zur ursprünglichen Satzung von 1836, in der als maßgebliches Ziel genannt wurde »sowohl einheimischen als auch auswärtigen Künstlern eine Gelegenheit darzubieten, um sich durch ihre Werke öffentlich bekannt zu machen«16, definierte der Verein seine Rolle zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die einer inhaltlich vermittelnden Instanz. Die Aufgaben des Vereinsvorstandes im 19. Jahrhundert waren hauptsächlich organisatorischer Natur. Die umfangreichen Wanderausstellungen mussten bestückt, der Transport und die Hängung beaufsichtigt sowie ein Werkverzeichnis erstellt werden. Zudem oblag es dem Vorstand, den Verkauf bzw. die Verlosung einzelner Kunstwerke zu dirigieren. Künstlerische Expertise war allein bei der Auswahl der Werke für die Ausstellungen und beim Ankauf von Kunstwerken für die vereinsinterne Verlosung gefragt. Mit der neu definierten Vereinsarbeit rückte die vermittelnde Tätigkeit ins Zentrum, die weit über das Organisieren für Verkauf und Ausstellung verfügbarer Werke hinausging. Ein Expertengremium innerhalb des Vereins nahm für sich in Anspruch, aufgrund ihrer professionellen Kunstkenntnisse sowohl den Vereinsmitgliedern als auch der städtischen Öffentlichkeit durch spezifische Vermittlungsangebote Zugang zur zeitgenössischen bildenden Kunst zu ermöglichen. Die veränderte Schwerpunktsetzung beruhte auf der Beobachtung, dass die Kunst der Gegenwart nicht mehr (ausschließlich) selbsterklärend und gefällig sei und Verständnis für die zeitgenössische Ästhetik beim Publikum erst generiert werden müsse. Bereits Ende 1904 war der Weg des Vereins, die nationale und internationale Avantgarde nach Halle zu holen, vorgezeichnet. 14 Gemeinsam mit dem Wirtschaftsverband bildender Künstler Halle bzw. dem halleschen Künstlerrat, dem Ortsverein des Bundes Deutscher Architekten und dem Kunstgewerbeverein trat der Kunstverein 1924 dafür ein, den Bau der Stadthalle öffentlich auszuschreiben. In der 1925 erstmals veröffentlichten Monatsschrift »Die Baulaterne« sollte die Korporation in eine längerfristige Arbeitsgemeinschaft überführt werden. Zumindest das gemeinsame Publikationsorgan hatte nur etwas über ein Jahr Bestand. Vgl. Gurlitt, Kunstverwaltung, S. 200; Die Baulaterne. MitteilungsBl. für den Wirtschaftsverband bildender Künstler, E. V., Halle, den Landesverband Sachsen-Anhalt des B. D.A., für den Kunstgewerbeverein und den Kunstverein zu Halle, Halle 1925–1926. – Anlässlich des 1927 veranstalteten Dritten Kongresses für Ästhetik und Kunstwissenschaft kam es zur Zusammenarbeit mit der Universität. Die Kongressteilnehmer wurden im Rahmen des kulturellen Veranstaltungsprogramms durch eine vom Kunstverein arrangierte Ausstellung geführt. Vgl. N. N., Allgemeines, S. 17. 15 LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Hallescher Kunstverein, überarbeitete Satzung vom Dezember 1904. 16 Statuten des Kunst-Vereins, § 1.
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Die pädagogische Ausrichtung wurde über verschiedene Formate umgesetzt. Weiterhin sollten Werke zum Zweck der Verlosung angekauft werden. Dieses Relikt der Kunstvereinspraxis des 19. Jahrhunderts wurde wenige Jahre später ersetzt durch die »Verteilung eines Prämienblattes«.17 Die an die Vereinsmitglieder ausgeteilte Jahresgabe, meistens eine limitiert aufgelegte Druckgrafik, ist bis heute ein üblicher Brauch und befriedigt(e) ersatzweise für das Losverfahren das Bedürfnis nach persönlichem Kunstbesitz, der nach dem Sinn der neuen Satzung nicht mehr den primären Anreiz einer Mitgliedschaft im Kunstverein darstellte. Trotzdem gehörte der Kunsterwerb und die Vermittlung von Werken an private Sammler weiterhin zum Geschäft des Vereins.18 Der Vermittlungszweck, den die führenden Organisatoren dem Verein im Dezember 1904 zugeschrieben hatten, sollte zudem durch persönliche Beratung der Mitglieder sowie »durch Veranstaltung von Vorträgen und Vorführungen« gewährleistet werden. Das wichtigste Medium, mit dem der Kunstverein in der städtischen Öffentlichkeit auftrat, blieb aber weiterhin die temporäre öffentliche Kunstausstellung. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges wurde im Verein eine für ihn neue Form der Kunstpräsentation entwickelt, die den Verein im halleschen Kunstsystem an führender Stelle positionierte. Von hier aus propagierte er neue Kriterien für die Wahrnehmung und Bewertung bildender Kunst und setzte wichtige Impulse für die regionale Kunstszene.19 Die Ausstellungspraxis des Kunstvereins zwischen 1902 (»Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz«) und dem Beginn des Ersten Weltkrieges unterschied sich wesentlich von den Wanderausstellungen des 19. Jahrhunderts. In mancher Hinsicht sorgten die Veranstalter nun dafür, dass die Ausstellungen vielfältiger wurden. Sie wählten die gezeigten Werke gezielt nach thematischen Setzungen und pädagogischen Zielstellungen aus und präsentierten sie dem Publikum unter bestimmten Gesichtspunkten. Einerseits wurden weiterhin umfangreichere Ausstellungen im Abstand von zwei Jahren veranstaltet, der Ausstellungsturnus durch »kleinere Ausstellungen, mit besonderer Berücksichtigung hallescher Künstler und halleschen Kunstbesitzes, tunlichst in kürzeren Zwischenräumen«20 aber erhöht. 1905 und 1907 zeigte der Kunstverein jeweils eine »Ausstellung Moderner Meister«, die Werke zumeist französischer und deutscher Maler versammelte, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu überregionaler Bekanntheit gelangten. Bei beiden lag der Schwerpunkt darauf, das hallesche Publikum mit einer Ästhetik vertraut zu machen, die sich von den naturalistisch orientierten 17 Adressbuch Halle 1908. 18 Vgl. StH, Vereine Nr. 164, Kassa-Buch des Hallischen Kunstvereins. 19 Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Hallescher Kunstverein, Satzung vom 3. Dezember 1904. 20 Ebd.
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Sehgewohnheiten ab- und einer individuellen, künstlerspezifischen Sichtweise der Welt zuwandte. Goldschmidt, der zum Zeitpunkt beider Ausstellungen den Vereinsvorsitz innehatte und der wenigstens den Einführungstext des Kataloges von 1905 verfasste21, trug vermutlich für beide Ausstellungen die kuratorische Verantwortung. Aus Berlin kommend, unterhielt er dorthin vielfach persönliche Beziehungen, unter anderem zu dem Maler Max Liebermann, der als Initiator der Berliner Sezession zu Beginn der neunziger Jahre die Opposition gegen künstlerischen Konservatismus anführte.22 Die jeweils erschienenen Kataloge, die neben einem Verzeichnis der gezeigten Werke einen einführenden Text enthalten, trugen dem selbst gestellten pädagogischen Auftrag der neuen Vereinsspitze Rechnung und waren gleichzeitig die folgerichtige Konsequenz der Subjektivierung in der bildenden Kunst. Mit der künstlerischen Moderne, in deren Zentrum zunehmend nicht mehr das Dargestellte an sich, sondern die künstlerische Perspektive auf die Realität stand, etablierte sich der Kommentar als die Kunst begleitendes Medium. Ohne die intersubjektiv wahrnehmbare Realität als gemeinsamem Bezugspunkt musste bei den Betrachtern um Verständnis und Geduld gegenüber einer Ästhetik geworben werden, die sich vom bisher Gewohnten unterschied.23 Während die Hallenser mit der ersten Ausstellung (1905) sowohl Künstler realistischer, symbolistischer als auch impressionistischer Orientierung präsentiert bekamen, wagte die zwei Jahre später gezeigte Schau mit einigen Werken Vincent van Goghs, der den deutschen Expressionismus um die Dresdner Künstlergruppe »Brücke« wesentlich inspirierte, einen weiteren Schritt in die künstlerische Gegenwart. Ausgehend von der Trägheit des menschlichen Sehens, das sich dem Vertrauten zuwendet und Unbekanntem tendenziell ablehnend begegnet, leitete Goldschmidt seinen vierseitigen Text zur ersten Ausstellung 1905 mit generellen Überlegungen zur menschlichen Wahrnehmung ein. Er wollte die Besucher der Ausstellung und Leser des Textes ermutigen, trotz zu erwartender negativer Empfindungen angesichts ungewohnter visueller Eindrücke länger bei den einzelnen Werken zu verweilen und die Bilder als Produkte künstlerischer Verarbeitung der Wirklichkeit zu betrachten:
21 Ausstellung moderner Meister 1905; Ausstellung moderner Meister 1907. Der Katalogtext zur Ausstellung 1905 ist handschriftlich unterzeichnet von Adolph Goldschmidt. 22 Von Liebermann selbst, der im Ausstellungsverzeichnis als »Begründer des Impressionismus in Deutschland« vorgestellt wird, wurden drei Werke präsentiert. Mit der »Kartoffelernte« von 1875 und dem »Biergarten« von 1900 wurden zwei Gemälde aus unterschiedlichen Schaffensperioden einander gegenübergestellt, die dessen Entwicklung zum Freilichtmaler dokumentieren. Aus dem Besitz Liebermanns fand sich in der Ausstellung ein Stillleben Edouard Manets, das wahrscheinlich ebenfalls über persönliche Absprache den Weg nach Halle fand. Vgl. Ausstellung moderner Meister 1905, S. 10–11. 23 Vgl. Gehlen, Zeit-Bilder, S. 53 ff.
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»Man darf eine Landschaft nicht nur nach der Deutlichkeit der weidenden Tiere beurteilen, wenn es dem Maler vielleicht darum zu tun war, das sonnige Flimmern in der Luft und auf den Wiesen zu erfassen, und man kann einen Künstler, der uns die romantische Farbenpracht seiner Phantasie vorführen möchte, nicht verwerfen, weil wir gewohnt sind, uns die Gegenstände in anderen Farben vorzustellen.«24
Die Kunst der Moderne, die künstlerische Sinneseindrücke visualisierte und – nicht wie auf den Ausstellungen der Kunstvereine im 19. Jahrhundert – primär potentiellen Käufern gefallen wollte,25 erforderte vom Betrachter eine geistige Anstrengung, die über die passive Anschauung und die Bekundung von Gefallen oder Missfallen hinausging. In diesem Sinn warb Goldschmidt dafür, das Betrachten der Kunst als erlernbare Fähigkeit zu begreifen und die Darstellung nicht nach dem ersten Eindruck oder ihrer Naturtreue zu beurteilen, denn: »Um ihnen [den Künstlern] folgen zu können, ist allerdings eine Arbeit nötig, es ist erforderlich, sich ein Bild lange und oft anzusehen, so lange, bis man es mitempfindet. … Die Künstler können darin unsere Lehrer sein, wenn wir versuchen ihnen zu folgen, sie können uns Neues in der Natur zu sehen erschließen, nicht aber, wenn wir sie in unsere angewöhnte Form zwängen wollen.«26
Auf die Verbürgerlichung der Kunst im 19. Jahrhundert folgte mit der modernen Malerei und der Emanzipation der ästhetischen Mittel vom Naturvorbild auch ein verändertes Verhältnis zwischen Künstler und Publikum. Wurden die Wanderausstellungen der Kunstvereine massenhaft mit gleichförmigen Bildern beschickt, mit dem Ziel, einen Käufer für die eigenen Werke zu finden, legt der Katalog von 1905 ein neues Rollenverständnis des Künstlers nahe. Nicht länger erschien er als Diener eines bestimmten Geschmacks, sondern wurde im Gegenteil als Visionär und Lehrer einer neuen Art und Weise der Wahrnehmung vorgestellt. Und auch die der Kunst zugeschriebene Funktion, die entsprechend der Begleitworte der »Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz« 1902 noch hauptsächlich in ihrer dekorativen Leistung bestanden hatte, wich einem anderen Verständnis. Demnach beanspruchte das einzelne Werk, für sich zu gelten und in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen und ergründet zu werden. Ob ein Kunstwerk Gefallen finde, sei für seine Qualität nicht ausschlagegebend. Vielmehr liege der Mehrwert der künstlerischen Darstellung darin, »dass er [der Künstler] aus der Welt der Erscheinungen Dinge herausholt, die das Publikum noch nicht entdeckt hat.«27 24 Ausstellung moderner Meister 1905, S. 3/4. 25 Goldschmidt verweist indirekt auf diese Art der Ausstellungen, wenn er das hallesche Publikum auf seine bisherige Erfahrung mit Kunst anspricht: »Denn die meisten sind aufgewachsen unter einer Art Durchschnittskunst …«. Vgl. ebd., S. 4. 26 Ebd., S. 4/5. 27 Ebd.
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Insgesamt wurden 43 Arbeiten von zwanzig zeitgenössischen Künstlern28 gezeigt, die »schon einige Zeit im Feuer der Kritik gestanden und sich als standhaft erwiesen haben.« Die »Bilder von Künstlern ersten Ranges«, zu den bekanntesten zählen Arnold Böcklin, Max Klinger, Max Liebermann, Edouard Manet, Adolph Menzel, Claude Monet, Max Slevogt und Hans Thoma, zeigten vorrangig Landschaften. Die manchen Werken beigegebenen kurzen Bildbeschreibungen verweisen auf die Entwicklung dieses Genres, das zuerst französische Künstler mittels der subjektiven Wiedergabe des flüchtigen äußeren Natureindrucks revolutionierten. Wie unter ihrem Einfluss die Freilichtmalerei auch in Deutschland Fuß fasste und eine deutsche Schule des Impressionismus hervorbrachte, teilt der Katalog in den Informationstexten zu Ulrich Hübner, Max Liebermann und Fritz von Uhde mit. Die kurzen werkbezogenen Texte konzentrieren sich auf die formale Erscheinung des Dargestellten und beschreiben das Changieren zwischen naturalistischer Detailtreue einerseits und impressionistischer Flüchtigkeit, die die Stimmung eines Augenblicks einfange, andererseits. Besonderen Wert legen die bildbeschreibenden Texte auf die Farbigkeit der Bilder, die Lichtführung, die erzeugte Gesamtstimmung und die Kontur der Bildgegenstände. Der ästhetische Formenkatalog reichte dabei von Wilhelm Leibls »Kopf eines Blinden«, »bei dem ganz anders als bei den Impressionisten das Sachliche des Gegenstandes mit möglichster Exaktheit wiedergegeben ist«, bis zu Manets »Melone«, die zeige »wie ein Objekt mit möglichst einfachen Mitteln, nur durch das Nebeneinander der richtigen Farbentöne lebendig gemacht werden kann, und zwar durch Farbentöne, wie man sie beim augenblicklichen Eindruck (Impression) zusammen sieht, unter gegenseitiger Beeinflussung, und nicht nach gesonderter Nachprüfung der einzelnen Stellen des Objektes.«29 Im Zentrum des erläuternden Textes zu den modernen Meistern 1907 stehen drei Maler, deren Werke bisher nicht in Halle ausgestellt worden waren und die deswegen eine besondere Erläuterung erfuhren. Neben Charles Schuch und Maurice Denis widmet sich ein Großteil des Katalogtextes dem Leben und Werk des 1890 jung verstorbenen niederländischen Malers Vincent van Gogh. Wieder wirbt der Text darum, nicht die Detailtreue und Naturfarbigkeit zu bewerten, sondern betont die Eigenwertigkeit der künstlerischen Sichtweise anhand Denis’ Gemälde »Epona«, »Göttin der Herden«, das sich auszeichne durch »das farbige Gemisch von Pflanzen und Tieren. Vieles ist nur angedeutet. … Ein Farbenspiel von kalten und warmen Tönen, von sonnigem Abendgold und grauen Schatten, mosaikartig, skizzenhaft, tändelnd, märchenhaft anmutig.«30 Einfühlsam 28 Bis auf Adolph Menzel (geb. 1815), Arnold Böcklin (geb. 1827) und Edouard Manet (geb. 1833) wurden die vertretenen Maler um die Mitte des 19. Jahrhunderts oder später geboren. 29 Dies und vorhergehende Zitate siehe Ausstellung moderner Meister 1905, Katalogteil Nr. 22 und 29. 30 Ausstellung moderner Meister 1907, S. 3/4.
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wendet sich der Autor an die Betrachter der Werke van Goghs, die unter den versammelten Werken aufgrund ihrer radikalen Farbigkeit wie der pastosen und linearen Auftragsweise wohl am meisten die Sehgewohnheiten des Publikums irritierten. Für die Betrachtung seiner Werke, von denen auch ein Gemälde der »Sonnenblumen« ausgestellt war, liefert er eine Art Rezeptionsanleitung: »Dieselben [die Kunstwerke van Goghs, I. S.-W.] machen zuerst einen befremdenden Eindruck, doch wächst das Verständnis stetig bei häufiger Betrachtung. Van Gogh ist ein feiner Beobachter der Farbentöne und setzt diese in festen Strichen unvermittelt nebeneinander. Was die Bilder dadurch an Glätte und Detailausführung verlieren, gewinnen sie an Lebendigkeit und Farbenfrische. Die Farbe ist so dick aufgelegt, dass sie Schatten wirft, wodurch die Trennung der Stücke noch mehr markiert wird. … Wem es ungewohnt ist, solche Spartelstriche zusammenhängend zu sehen, wird sich vielleicht eher in die schwarze Federzeichnung hineinfinden.«31
Anders als der Katalog der ersten Präsentation »moderner Meister« erläutert der Autor des einführenden Textes die erforderliche Einfühlungsleistung des Betrachters anhand der Werke eines Künstlers. Unter näherer Beschreibung der »Sonnenblumen« geht er dabei auch auf die technischen Grundlagen der neuartigen Erscheinungsweise des Gemäldes ein und wägt Gewinn und Verlust dieser künstlerischen Arbeitsweise ab, die nicht auf ein Abbild der Realität ziele, sondern »eine ganz bestimmte Empfindung zur Geltung bringen« wolle. Die expressive, »fast peinlich Eindringliche[s]«32 Farbigkeit und durch den besonderen Farbauftrag erzeugte große Bewegtheit sind dem Autor die wesentlichen Elemente von van Goghs Künstlerblick. Die diesmal gezeigten 58 Werke stammten mehrheitlich von deutschen Künstlern, mit zwei Werken von Max Liebermann war auch der Impressionismus vertreten. Im Katalog zur Ausstellung gab es allerdings keine Informationen zu den ausstellenden Künstlern und den einzelnen Werken. Dafür wurden nun einheitlich die Werktitel um die Herstellungstechnik ergänzt und darüber informiert, welche der gezeigten Werke erworben werden konnten. Konkrete Preisangaben zu den 42 verkäuflichen Arbeiten verzeichnet der Katalog indes nicht. Die restlichen Werke stammten entweder aus Privatbesitz, wie die gezeigten Bilder van Goghs (Privatbesitz Berlin), oder waren Eigentum der »Verbindung für historische Kunst«33. Insgesamt glänzte zwar die Ausstellung von 1907 weniger mit klangvollen Namen, konnte mit van Gogh aber einen der bedeutendsten 31 Ausstellung moderner Meister 1907, S. 8/9. 32 Ebd., S. 10. 33 Der Zusammenschluss verschiedener Kunstvereine erfolgte 1854. Seit wann der Hallesche Kunstverein dieser Verbindung angehörte ist unklar. Zweck des Zusammenschlusses war es, durch gemeinsame finanzielle Anstrengungen bedeutende Kunstwerke aus dem Genre der Historienmalerei in Auftrag zu geben bzw. anzukaufen. Vgl. Lenman, Kunstmarkt, S. 137.
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Vertreter des Postimpressionismus und für nachfolgende Künstlergenerationen wirkungsvollen Künstler präsentieren. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges baute der Kunstverein seine Rolle als führender Akteur im städtischen Kunstsystem aus und machte sich weiter einen Namen als Präsentationsplattform moderner und zeitgenössischer Kunst. Nach der zweiten »Ausstellung moderner Meister« 1907 holte er in den folgenden Jahren wiederum Werke der deutschen Impressionisten Max Liebermann und Max Slevogt nach Halle. Auch Arbeiten expressionistischer Künstler wie Emil Nolde, Christian Rohlfs und der Bildhauer Wilhelm Lehmbruck wurden dem halleschen Publikum gezeigt.34 Allein im Jahr 1913 organisierte der Verein mindestens fünf Ausstellungen, die jeweils einen besonderen Schwerpunkt in der Kunst der Gegenwart setzten. Nachdem Emil Nolde, neben den Malern der Dresdener »Brücke« ein führender Vertreter des deutschen Expressionismus, mit seinen Werken schon 1911 im Kunstverein gastierte, wurde er nochmals 1913 hier ausgestellt.35 Sauerlandt, der seit 1908 das Städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe leitete, setzte bald nach seinem Amtsantritt auch starke Impulse im Kunstverein, in dem er seit 1909 an der Seite des Vorsitzenden Adolph Goldschmidt und des Kassenwarts Lehmann den Vorstand stellte.36 Er brachte Kunstverein und Museum in ein taktisches Verhältnis zueinander und nutzte die temporäre Ausstellungsplattform des Kunstvereins dazu, die hallesche Öffentlichkeit auf seine Museumspolitik einzustimmen und ein der künstlerischen Moderne aufgeschlossenes Klima zu bereiten. Zu diesem Zweck erstreckten sich seine pädagogischen Bemühungen auf den Kunstverein, indem er als Eröffnungsredner für verschiedene Ausstellungen verantwortlich zeichnete. 1913 fand er einführende Worte sowohl für eine Ausstellung der Vereinigung bildender Künstler Berlin als auch für eine Präsentation der Werke Max Beckmanns und Paul Signacs, die im Frühjahr bzw. November des Jahres gezeigt wurden. Sein Assistent Kurt Freyer wiederum hielt anlässlich einer Plakatausstellung im Mai 1913 einen Vortrag, der das Genre der Plakatkunst als Genre vorstellte, das »zugleich wirksam und künstlerisch einwandfrei wirksam sein kann«37 und damit in den Bereich des Kunstgewerbes, genauer der Gebrauchsgrafik einführte. Das Konzept des 34 Vgl. Dolgner, Stadt, S. 133. 35 Aus dieser Nolde-Ausstellung heraus erwarb der hallesche Museumsdirektor Max Sauerlandt zwei seiner Gemälde und einige Tuschzeichnungen für das Museum. Das darunter befindliche »Abendmahl«, das die biblische Szene in großer Bewegtheit und expressiver Farbigkeit darstellt, sorgte im Folgenden nicht nur für eine interne Diskussion in der Museumsdeputation, sondern für eine landesweite Debatte über zeitgenössische Kunst in öffentlichen Museen. 36 Bis zum Kriegsbeginn wurde Sauerlandt in den Vorstand wiedergewählt. Er bekleidete jedoch zu keiner Zeit den Posten des ersten Vorsitzenden. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Hallescher Kunst-Verein, Bl. 27–42. 37 GA vom 21.05.1913 (Nr. 116).
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Museums unter Sauerlandt, das Kunst und Kunstgewerbe in einem engen Verhältnis zueinander bestimmte, wurde damit über die musealen Grenzen hinaus popularisiert. Für die lokale Künstlerszene von weitreichenderer Bedeutung und neuartig im Rahmen der Vereinsausstellungen war die ersterwähnte Ausstellung der Vereinigung Berliner Künstler, die sich seit 1911 bemühte in Berlin eine juryfreie Kunstschau zu etablieren: »Die Juryfreie sollte keine Ablagerung für refüsierte Bilder sein, sie wollte neuen Talenten, ganz gleich welcher Richtung, die Möglichkeit geben, sich mit Arbeiten herauszuwagen an die Öffentlichkeit ….«38
Während die künstlerische Qualität der ersten dieser Ausstellungen (1912) mit über eintausend eingesendeten Werken noch zu wünschen übrig ließ, konnte bei der Ausstellung im folgenden Jahr »schon ein Rückgang der Kitscheinsendungen konstatiert werden.«39 Durch die Unterstützung bekannter Künstler, die der Neuen Sezession angehörten, gelang es, ihr Ansehen weiter zu heben und Künstlern eine Plattform zu bieten, die auch »über den Impressionismus hinweg zu kompositionellen Gestaltungen«40 kamen. Die im Halleschen Kunstverein von der Vereinigung gehängten Werke wurden im General-Anzeiger als mehrheitlich impressionistisch, einige von ihnen als expressionistisch-abstrakt charakterisiert und würden das »Extremste« moderner Kunst zeigen. Die in der Volkslesehalle am Hallmarkt eingerichtete Ausstellung sollte die Vereinsmitglieder über die gegenwärtigen Entwicklungen in der bildenden Kunst aufklären.41 Während vorangegangene Gemäldeausstellungen »moderner Meister« Künstler zeigten, die schon länger im Licht der Öffentlichkeit standen und bereits auf einige gesellschaftliche Anerkennung verweisen konnten, hatten die hier gezeigten Künstler bisher kaum öffentliche Sanktion erfahren. Insofern war die Ausstellung ein Experiment, das das mit Goldschmidt begonnene Programm, den Blick der Peripherie auf das künstlerische Neue zu richten, konsequent fortführte. So, wie Goldschmidt die Besucher der »modernen Meister« 1905 und 1907 aufforderte, die Werke nicht vorschnell aufgrund ihrer ungewohnten Erscheinung zu verurteilen, trat Sauerlandt an die Zuhörer seines einführenden Vortrags mit der Bitte heran, sich den neuen ästhetischen Formen anzupassen. Wie der Zeitungskorrespondent und spätere Künstler Richard Horn im Vorfeld vermutete42, 38 Tappert, Berliner juryfreie Kunstschau, S. 122. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Vgl. GA vom 15.04.1913 (Nr. 87). Verfasst wurde der Artikel von Richard Horn, Bildhauer und späteres Mitglied der Hallischen Künstlergruppe und Vorsitzender des Wirtschaftsverbandes bildender Künstler Halles (unter dem Pseudonym »brk.« (Borgk). 42 Er schreibt: »Es ist ja fraglich, ob für diese Richtung sich bei uns in Halle eine nennenswerte Gemeinde finden dürfte. Immerhin wird es für jeden Kunstfreund von Interesse sein, auch das kennen zu lernen, was diese künstlerische Richtung leistet.« Ebd.
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fanden die Bilder unter den Vortragsbesuchern vor allem Kritiker und stieß Sauerlandts Fürsprache »bei der größeren Zahl der Zuhörer offenbar auf Widerspruch.«43 Für die städtische Künstlerschaft lieferten die Berliner Werke nicht nur Anlass zu wütender Ablehnung – so war der Schriftsteller und Vorsitzende des Künstlervereins auf dem Pflug Georg Klein zu vernehmen – sondern führten die Kunstvereinsausstellungen ebenso zu positiver bzw. produktiver Rezeption. Im Herbst des gleichen Jahres trat im Rahmen einer Ausstellung im Kunstverein die Freie Künstlervereinigung Halle ins Licht der städtischen Öffentlichkeit und differenzierte die bis dahin im Pflug zusammengefasste Künstlerschaft.44 Die schon in der Satzung von 1836 angestrebte Präsentation »einheimischer Künstler« wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Ausstellung der Freien Künstlervereinigung verwirklicht und sollte nach Ende des Ersten Weltkrieges45 noch, auch erzwungenermaßen, intensiviert werden: Die Dichte hochkarätiger Ausstellungen ließ sich unter den wirtschaftlichen Umständen der Nachkriegsjahre nicht durchhalten. Die extrem gestiegenen Kosten für die Ausstellung externer Künstler zwangen den Verein, sich auf die Zusammenarbeit mit lokalen Künstlern zu konzentrieren und von aufwendigen Gemäldeausstellungen Abstand zu nehmen. 1919 musste eine Ausstellung mit Vertretern des deutschen Expressionismus abgesagt werden.46 Der Verein konzentrierte sich unter diesen Bedingungen vor allem darauf, grafische Arbeiten deutscher Künstler zu zeigen. So gelangte der Dresdener und Münchener Expressionismus schließlich doch im Original nach Halle. Neben Grafiken und Aquarellen von Karl Schmidt-Rottluff (1919) wurden Werke von Erich Heckel und Paul Klee 43 Horn, der auch diesen zweiten Artikel über die Ausstellung verfasste, nennt namentlich Prof. Dr. Frese (Medizinprofessor der halleschen Universität), den Bergassessor und Schriftsteller Georg Klein sowie einen Redakteur der Saale-Zeitung als Wortführer der Widersacher dieser Ausstellung. Mit Frese und Klein traten zwei Mitglieder des Kunstvereins als Gegner dieser Berliner Gegenwartskunst auf. Beide wurden 1919 in den Beirat des Vorstandes gewählt. Der Schriftsteller Klein war zudem eine der zentralen Personen des ersten halleschen Künstlervereins. Vgl. GA vom 22.04.1913 (Nr. 93). 44 Es ist nicht überliefert, ob die Frühjahrsausstellung der Vereinigung bildender Künstler Berlins unmittelbar den Anstoß für die Gründung der Freien Künstlervereinigung Halle lieferte. Sicher ist davon auszugehen, dass sich in der neuen halleschen Gruppe vor allem junge künstlerische Kräfte zusammenfanden. Einige von ihnen bildeten nach dem Krieg die Kernmitglieder der vor allem expressionistisch arbeitenden Hallischen Künstlergruppe. 45 Mit Kriegsbeginn 1914 kamen die Vereinsgeschäfte zum Erliegen und erst nach 1916 fanden wieder kleinere Ausstellungen statt. Vgl. StH, Vereine Nr. 163. 46 »Die Weiterführung der Tätigkeit des Vereins wird sich im jetzigen Rahmen bei den außerordentlich gestiegenen Unkosten für jede Ausstellung und die Vorträge nicht durchhalten lassen, da die Einnahmen nicht steigen. Wahrscheinlich wird man sich auf Ausstellungen von Grafik, Zeichnungen, Aquarellen beschränken müssen und versuchen, eine grössere Ausstellung mit den Hallischen Künstlern zusammen unter Heranziehung eines oder des anderen auswärtigen Meisters zu veranstalten.« Aus dem Protokoll der Vereinssitzung am 27. Mai 1921. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Hallescher Kunst-Verein.
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(1920), Ernst Barlach und August Macke (beide 1921) gezeigt. Außerdem griff man vermehrt auf die Arbeiten hallescher Künstler zurück und veranstaltete in den zwanziger Jahren zahlreiche Personalausstellungen. Damit wurde der Kunstverein endlich direkt für einzelne hallesche Künstler tätig und bot ihnen eine öffentliche Ausstellungs- und Verkaufsmöglichkeit.47 Mit Goldschmidts Rückkehr 1912 nach Berlin war die direkte Verbindung des Kunstvereins zur Berliner Künstlerszene abgebrochen und mit Sauerlandts Wechsel an das Kunstgewerbemuseum Hamburg am Kriegsende verlor der Verein seinen ruhelosen Antreiber, der sich wiederholt getraut hatte, die Vereinsmitglieder und die städtische Öffentlichkeit mit den neuesten Entwicklungen auf dem Gebiet der bildenden Kunst zu konfrontieren.48 Die entstandene Lücke sollte mit der Wahl Paul Thierschs in den Vereinsvorstand 1919 geschlossen werden. Der Architekt und Leiter der halleschen Kunstgewerbeschule konnte während seiner Vereinstätigkeit jedoch nicht die gleiche Wirkung wie seine Vorgänger entfalten. Zum einen forderte die ihm anvertraute Handwerker- und Kunstgewerbeschule, die er seit 1915 neu konzipierte und im Verlauf der zwanziger Jahre zu einer vorbildhaften Ausbildungsinstitution ausbaute, seine volle Aufmerksamkeit. Andererseits konnte Thiersch kaum auf die Synergieeffekte zurückgreifen, die Sauerlandt als Direktor eines Kunstmuseums fruchtbar umgesetzt hatte. Im Beirat des Vorstandes waren in den zwanziger Jahren zahlreiche Personen vertreten, die sich aktiv im halleschen Kunstsystem bewegten. Dazu zählten sowohl weiter die Kunsttheoretiker und Universitätsangehörigen Wilhelm Waetzoldt, Emil Utitz und Kurt Gerstenberg. Auch bildende Künstler aus verschiedenen künstlerischen Zusammenhängen fanden hier zusammen. Über die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den zwanziger Jahren liegen keine Informationen vor. Zu Beginn der dreißiger Jahre zählte der Verein zweihundert Mitglieder49, so viel wie zur Zeit seiner Gründung 1834. Verglichen mit den fast fünfhundert Mitgliedern im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und angesichts der enorm gewachsenen Stadtbevölkerung, die in den zwanziger Jahren über zweihunderttausend Einwohner zählte, ist festzustellen, dass das
47 Schon 1902 und wieder 1927 waren Werke aus dem Besitz hallescher Bürger in Ausstellungen des Kunstvereins (1902 in Verbindung mit dem Kunstgewerbe-Verein) zu sehen. Mit Werken von Karl Völker (1918, 1925), Paul Thiersch (1929), Otto Fischer-Lamberg (1930 oder 1931), Erwin Haß (1930 oder 1931) und Alfred Weßner-Collenbey (1933) fanden in den zwanziger Jahren und später Ausstellungen unter Beteiligung hallescher Künstler statt. Vgl. Mauersberger, Das Wort; Gerstenberg, Paul Thiersch; Redslob, Rückschau, S. 103/104; StH, FA 2464. 48 Vgl. StH, Vereine Nr. 163 (Protokoll der Vorstandssitzung am 30. Mai 1919, der ersten Zusammenkunft nach dem Krieg). 49 Der Kunstgewerbeverein verzeichnete zu diesem Zeitpunkt nur 115 Mitglieder und musste nach zeitgenössischer Einschätzung um sein Fortbestehen fürchten. Vgl. Dressler, Kunsthandbuch 1934.
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Interesse am Verein zu Beginn der dreißiger Jahre in der breiteren Bevölkerung nachgelassen hatte. Zeit seines Bestehens war der Verein mit dem Problem konfrontiert, einen geeigneten Raum für die regelmäßigen Ausstellungen zu finden. Schon vor dem Krieg wurden funktionsfremde Räumlichkeiten für die Ausstellungen genutzt, so vor der Jahrhundertwende die Aula der Volksschule an der Alten Promenade oder danach die Villa Kohlschütter für die »Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz«. Schließlich wurde ein Ausstellungsraum in der Salzgrafenstraße fest bezogen, den jedoch während der Kriegszeit das Arbeitsamt belegte.50 Verhandlungen mit der Kunsthandlung Tausch & Grosse über die Nutzung ihrer Räumlichkeiten scheiterten 1919 und der Kunstverein präsentierte seine Ausstellungen während der gesamten zwanziger Jahre in wechselnden Etablissements.51 Dabei spitzte sich die prekäre Raumsituation zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Abwahl der zyklischen Wanderausstellung, die in der Volksschule präsentiert wurde, zu. Die wechselnden Räume der nun deutlich häufiger stattfindenden Ausstellungen und Veranstaltungen sind dabei symptomatisch für die Beschaffenheit des Vereins nach 1900. Während dieser sich im 19. Jahrhundert als Vertriebsplattform von Gemälden als Vehikeln bürgerlicher Repräsentationskultur legitimierte und sich innerhalb der Bevölkerung einen stabilen Zuspruch sichern konnte, sorgte die Neupositionierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts für vergleichsweise instabile Verhältnisse. Der Fokus auf der Vermittlung moderner bis zeitgenössischer künstlerischer Entwicklungen bedeutete zum einen, dass professionell geeignete Mitglieder unter hohem Engagement Künstler für die zeitweise häufigen Ausstellungen auswählen bzw. anfragen mussten. Darüber hinaus galt es, deren Werke einem weiteren Publikum aufzubereiten, das gegenüber neueren Strömungen in der Kunst nicht unbedingt aufgeschlossen war. Neben zahlreichen konkurrierenden Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und in einer stark vervielfältigten Vereinslandschaft musste der Kunstverein unter seinen (potentiellen) Mitgliedern und innerhalb der interessierten Öffentlichkeit seine Sinnhaftigkeit erst unter Beweis stellen, vor allem, da die Bezugspunkte der bürgerlichen Wertegemeinschaft seit seiner Gründung starken Veränderungen unterworfen waren.
50 Vgl. StH, FA 5899; StH, Vereine Nr. 163 (Protokoll der Vorstandssitzung am 30. Mai 1919); Kopp, Künstlerverein, S. 71; Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz. 51 So in der »Tulpe«, im Bibliothekssaal der Handwerkerschule, der Galerie Neubert und im Städtischen Kunstmuseum. Vgl. SZ vom 04.11.1919, Nr. 518 (Abend-Ausgabe); HN vom 19.02.1920, Nr. 42; Thiersch, Werkstätten der Stadt Halle; Redslob, Rückschau, S. 103/104.
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Fazit In der betrachteten hundertjährigen Vereinsgeschichte erfüllte der Hallesche Kunstverein im lokalen gesellschaftlichen Kontext unterschiedliche Aufgaben und besetzte im Kunstsystem im Lauf der Zeit verschiedene Positionen. Als erste Institution Halles, die sich dauerhaft in der Pflege der bildenden Kunst engagierte, übernahm er eine Vorreiterrolle. Einerseits wurden im Lauf seiner Geschichte kommunalpolitische Funktionsträger verdrängt. Andererseits wurde er als Agent einer gemeinwohlorientierten Kunstpraxis zum Fürstreiter der öffentlichen Kunstpflege. Während seiner Gründungsphase und Jahrzehnte darüber hinaus diente er als Arena bürgerlicher Selbstvergewisserung52. Dementsprechend förderte der Verein durch seine erwerbsorientierte Ausstellungspraxis den persönlichen Kunstbesitz als primäres Ziel bürgerlicher Kunstaneignung. Die der Kunst von den meisten Laien zugeschriebene Funktion der persönlichen Schaulust sowie Dekorations- und Repräsentationsästhetik sorgte für Irritationen beim stärker gemeinwohl- und qualitätsorientierten Vorstand, blieb aber weiterhin dominant. Hinsichtlich des ästhetischen Kunstbegriffs verschob sich ruckartig kurz nach der Jahrhundertwende der Schwerpunkt zu einer inhaltlich anspruchsvollen Bildsprache. Schließlich fand mit der Einführung des impressionistischen und expressionistischen Stils eine weitere Differenzierung ästhetischer Funktionsbestimmung statt. Indem der Kunst zugestanden wurde, sich von den gegenständlichen Sehgewohnheiten zu emanzipieren, wurde auch dem Künstler eine neue Rolle zugestanden, die außerhalb der eigenen Vernunft spielte. Kunst und Künstler erfuhren in diesem Verständnis gegenüber der Alltagswelt eine wesentliche Aufwertung. Dies förderte in hohem Maß das Entstehen eines autonomen Teilbereichs der Gesellschaft, der seine Regeln jenseits der bestehenden Alltagsrationalität aufstellte. Die Professionalisierung innerhalb des Kunstvereins, der sich von einer Verkaufsplattform zu einer vermittelnden Institution mit pädagogischem Anspruch entwickelte, und die Differenzierung des Kunstbegriffs auf diesen drei Ebenen sind zwei untrennbar miteinander verbundene Entwicklungen. Die veränderte Wahrnehmung der Wirklichkeit als zunehmend komplexer Realität mit Widersprüchen und Brüchen kommt in den ambivalenten und sich historisch wandelnden Begriffen von Kunst zum Ausdruck. Der Kunstverein unterstrich mit seinem Auftreten zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen am Gemeinwohl und der Bildung orientierten Kunstbegriff. Entsprechend transformierte sich die Bedeutung des Kunstvereins für die lokale Künstlerschaft im Lauf seines Bestehens. Während er im 19. Jahrhun 52 Nämlich zur Einübung demokratischer Praxis, Kunstförderung, zu repräsentativen Zwecken und als Ort der Geselligkeit. Vgl. Müller-Jentsch, Kunst in der Gesellschaft, S. 80.
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dert nur sehr punktuell direkt für hallesche Künstler als Marketingplattform fungierte, lag seine wesentliche Bedeutung für örtlich ansässige Künstler darin, die Praxis des Kunstkonsums zu popularisieren. Durch ihre Tätigkeit wurde Gegenwartskunst auch in den Provinzen erleb- und erwerbbar. Dabei kam es nicht darauf an, den Blick des bürgerlichen Publikums auf die heimische Kunstproduktion zu lenken. Um 1900 veränderte sich mit der Neudefinition der Vereinstätigkeit auch seine Bedeutung, die er für die einheimischen Künstler trug. Der Kunstverein rückte kurz nach der Jahrhundertwende öffentlichkeitswirksam den regionalen Kunstraum ins Bewusstsein der Stadtbevölkerung. Er gewährleistete, dass die zeitgenössische nationale und internationale Avantgarde in Halle zu studieren war und vermittelte künstlerische Impulse in die mitteldeutsche Provinz. Nicht nur die Künstler verarbeiteten die neuen Einflüsse, sondern auch dem städtischen Publikum wurde die Möglichkeit geboten, neue Sehgewohnheiten einzuüben. Als direkter Agent lokaler Künstler trat der Kunstverein nur in wenigen Fällen auf.
2. Aufbau und Etablierung einer kommunalen Förderstruktur 2.1 Das städtische Museum als Basis öffentlicher Kunstpflege – zwischen Lokalkunst und künstlerischer Moderne 2.1.1 Das frühe Museum als Agent der städtischen Künstler Als 1885 in einigen Zimmern im Eichamt am Großen Berlin das Städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe eingerichtet wurde, bestand die dort präsentierte Sammlung aus »zehn Kunstvereinsgewinnsten, einigen mehr alten als wertvollen kunstgewerblichen Arbeiten, die sich bis dahin im vorher genugsam geplünderten Rathause noch vorgefunden hatten und endlich aus ein paar dekorativen Gipsfiguren.«53 Trotz der anfänglich bescheidenen Sammlung bedeutete die von Kunstverein und Kunstgewerbeverein angestrengte Museumsgründung für die zukünftige Entwicklung des lokalen Kunstsystems eine einschneidende Zäsur,54 wurde doch die Kunstpflege, die bisher vom bürgerlichen Vereinswesen getragen war, als öffentliche Angelegenheit definiert.55 Zwar ruhte 53 Kfa, 15. Jg. (1899/1900), S. 408. 54 In vielen deutschen Städten entstanden städtische Kunstsammlungen auf bürgerliche Initiative. In Leipzig, Hamburg und Köln errichteten bürgerliche Kunstmäzene gleich ganze Museumsbauten. Vgl. Grasskamp, Einbürgerung, S. 108/109. 55 Das Museum gehörte mit der Einrichtung der »Commission zur Verwaltung der städtischen Kunstsammlung« 1885 fest zur städtischen Verwaltungspraxis. Verhandlungen über die Öffnungszeiten reichten über den engeren Beraterkreis der Museumskommission hinaus und wurden Gegenstand der Stadtverordnetenversammlung. Als Städtisches Museum gehörte die Einrichtung bald zum politischen Selbstverständnis der Stadt. Ab 1888/89
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die praktische Museumsarbeit weiterhin auf den Schultern ehrenamtlich tätiger Bürger. Sie gewährleisteten einerseits den Museumsbetrieb und ergänzten andererseits den schmalen Museumsetat.56 Dennoch war das in städtischer Trägerschaft begründete Museum wegweisend für die weitere Entwicklung der öffentlichen Kunstpflege, des Kunstbegriffs und Künstlerbildes sowie in verschiedener Weise auch für die lokale Künstlerschaft. Das Museum stand 1885 bis zu dessen Tod 1901 unter der kuratorischen Leitung von Franz Otto. Der ehemalige Fabrikbesitzer engagierte sich über viele Jahre als Stadtverordneter in der Lokalpolitik und verfolgte seine künstlerischen Interessen in leitenden Positionen sowohl im Kunst- als auch im Kunstgewerbeverein. Otto nahm großen Anteil am zeitgenössischen Kunstgeschehen und war mit seinen autodidaktisch erworbenen Kunstkenntnissen anderen Hallenser Bürgern seiner Zeit voraus: »Wem es vergönnt war, während der letzten 40 Jahre im näheren Verkehr mit den Kreisen sowohl der gelehrten Welt als auch denen der Industrie und Kaufmannschaft zu stehen und zu beobachten, der kann sein Erstaunen darüber nicht verbergen, welch eine erschreckende Bedürfnislosigkeit der wohlhabenden Classen in der bildenden Kunst herrschte.«57
Bei verwaltungstechnischen und inhaltlichen Angelegenheiten wurde der Ku rator durch eine Museumskommission unterstützt, die der städtischen Verwaltung angegliedert war und von Stadtverordneten beschickt wurde. Die Zusammensetzung der Kommission bildete das Nebeneinander privat-bürgerlichen und städtisch-offiziellen Engagements ab, das die Entwicklung des Museums bis ins erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bestimmte.58 Der vom Kurator Otto verfasste Bericht anlässlich des 15-jährigen Bestehens des Museums offenbart, dass die wenigen Stücke der Sammlung bald durch zahlreiche Schenkungen aus informierte der jährliche Verwaltungsbericht der Stadt – mal protokollarisch, mal ausführlicher – über Öffnungszeiten, Besucherzahlen, Ausstellungen sowie organisatorische Neuerungen. Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1899/1900, S. 159; Otto, Städtisches Museum, S. 33. 56 Ohne umfangreiche Geldspenden hallescher Bürger wäre der Bezug neuer Museumsräume zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht möglich gewesen. Franz Otto gibt sich im Museumsbericht anlässlich seines 15-jährigen Bestehens zuversichtlich, dass auch das private Mäzenatentum weiterhin als Stütze der Museumsarbeit wichtige Impulse liefern würde. Vgl. Otto, Städtisches Museum, S. 37. 57 Ebd., S. 7. 58 Neben jeweils zwei Magistrats- und Stadtverordneten war vorgesehen, dass der Kunstgewerbeverein in der Kommission durch ein Mitglied vertreten war. Später änderte sich die Zusammensetzung der Deputation und zu den zwei Magistratsmitgliedern und vier Stadtverordneten traten drei durch Wahl bestimmte Bürgervertreter hinzu. Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1898/99, S. 12; Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1899/1900, S. 13; Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1900/1901, S. 13; Rive, Lebenserinnerungen, S. 184.
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privater Hand, die sowohl Einzelstücke als auch ganze Nachlässe umfassten, erweitert wurde. Die so zufällig zusammengekommenen Bestände folgten dementsprechend keinem Sammlungskonzept und boten sich als Sammelsurium dar.59 Franz Otto, der an der Eröffnung der Museumsräume im Eichamt wohl entscheidenden Anteil hatte, konstatierte einen »Mangel an Kunstsinn unserer Generation« im Allgemeinen und der halleschen Bevölkerung im Besonderen und wollte diesem Missstand mit der Popularisierung von Kunst und Kunstgewerbe entgegentreten. Er brachte das Unternehmen Städtisches Museum nicht nur organisatorisch voran, sondern leistete das Gros der Museumsarbeit. Als unbesoldeter Kurator besorgte er die alltäglichen Museumsgeschäfte und war damit sowohl für die Ordnung und den Ausbau der Sammlung als auch für die Inventarisierung und für die Betreuung der Besucher zuständig. Es ist anzunehmen, dass er das Museumspublikum auch inhaltlich über die Sammlung informierte.60 Der von Otto verfasste Museumsbericht, der 1900 erschien und anlässlich des 15-jährigen Bestehens des Museums eine breitere Öffentlichkeit über die Entwicklung des Museums informierte, erschien in einer Auflage von 500 Stück. Neben Anmerkungen zu organisatorischen Belangen stehen die Beschreibungen der Museumssammlung und der jährlichen Erweiterungen durch Schenkungen und Ankäufe im Zentrum. Dabei ging er über die bloße Nennung der Werktitel, Künstler und Mäzene nicht hinaus. Die einzige aus den ersten zwanzig Jahren seines Bestehens überlieferte Museumspublikation gab der Öffentlichkeit keine inhaltlichen Erläuterungen zu Objekten der Sammlung und lieferte ihnen keine Deutungsangebote. Stattdessen hoffte er mit der Übersicht über die Museumssammlung das Interesse an historischer und zeitgenössischer Kunst wecken zu können. Mit scharfer Kritik am Bildungssystem beschreibt er als Ursache des mangelnden Kunstinteresses, »… dass unsere ganze Volkserziehung in Deutschland jenes unnatürliche Verhältniss mitverschuldet und seine Fortdauer weit mehr verlängert hat, als dies in den ärmlichen Zuständen unseres Vaterlandes begründet gelegen hätte.«61
Otto definierte seine Mittlertätigkeit und die Rolle des Museums in erster Linie als Möglichkeit, Kunst und Kunstgewerbe der städtischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei stand nicht das einzelne Werk oder der einzelne 59 Otto, Städtisches Museum, S. 13–31. 60 1898/99 führte Otto fünfzig Mitglieder des Halleschen Volksbildungsvereins durch die Sammlungen. Wie die Vortragsverzeichnisse des Kunstgewerbevereins der Jahre 1882 und 1886 bestätigen, hat er in Vorträgen zu künstlerischen Techniken und kunstpolitischen Themen sein fachspezifisches Wissen öffentlich weitergegeben. 1882 hielt Otto im Kunstgewerbeverein einen Vortrag »über Reproduktion künstlerischer Zeichnungen durch Holzschnitt, Lichtdruck etc.« und 1886 informierte er über »Die Culturaufgaben großer Stadtgemeinden«. Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1898/99, S. 159; Jahres-Bericht KunstgewerbeVerein 1882, S. 2 und Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1886, S. 6. 61 Otto, Städtisches Museum, S. 7.
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Gegenstand in seiner Beschaffenheit und Aussagekraft im Zentrum, sondern die Anschauung als Mittel der ästhetischen Bildung. Zu diesem Zweck veranstaltete das Museum zahlreiche Sonderausstellungen. Die Ausstellungen erstreckten sich sowohl auf die bildende Kunst als auch auf das Kunstgewerbe. Die enge Verbindung mit dem Kunstgewerbeverein, der in seinen Jahresberichten die Einrichtung des Museums sowie dessen Entwicklung in den Folgejahren begleitete, zeigte in den Museumsräumen mehrfach von ihm ausgeschriebene Konkurrenzen.62 Sie erzielten große Publikumserfolge, »namentlich aus dem Gewerbestand und von Seiten der Gehülfen und Lehrlinge, so dass wir mit gutem Recht sagen können, dieses Museum, so klein es angefangen hat, hat eine große Lücke in dem Bedürfnisse unserer Stadt ausgefüllt [Hervorhebungen im Original, I. S.-W.].«63 Auch höhere Klassen der gewerblichen Zeichenschule nutzten die Sammlung und kunstgewerblichen Sonderausstellungen des Museums zur Schulung ihrer Fähigkeiten.64 In diesem Sinn erfüllte das Museum in seinen Anfangsjahren vor allem die Aufgabe einer Vorbildersammlung, die auf die einheimischen Gewerbetreibenden durch direkte Anschauung beispielhafter Erzeugnisse für ihre eigene Ausbildung und Tätigkeit anregend wirken sollten. Kunstgewerbeausstellungen als der täglichen Lebenspraxis nahe Gegenstandssphäre und in der Tradition des 19. Jahrhunderts als Vorbildersammlungen für den Gewerbestand angelegt, bildeten für das kunstferne Publikum einen bequemen Zugang zum Museum. In Besucherzahlen besonders erfolgreich war eine zu freiem Eintritt veranstaltete Sonderausstellung von Kunststickereien der Firma Singer & Co. 1898 oder 1899, die innerhalb von acht Tagen etwa zenhntausend Besucher anzog.65 Zu Beginn der 1890er Jahre zog sich der Kunstgewerbeverein aus der Museumsarbeit zurück und konzentrierte sich auf die eigenen Geschäfte. Eine anlässlich seines zehnjährigen Bestehens veranstaltete Ausstellung präsentierte sich im alten Bürgerschulgebäude in der Poststraße, außerhalb der Museumsräumlichkeiten. Parallel zu den kunstgewerblichen Sonderausstellungen wurden im Museum zahlreiche kleinere Ausstellungen gezeigt, die Werke sowohl regional als auch auswärts tätiger Künstler und Kunstgewerbetreibender präsentierten. Neben überregional bekannten Künstlern wie Adolf Menzel und Hans Markart legte Otto bei der Künstlerauswahl auch Wert auf das lokale Kunstschaffen. In einer umfangreicheren Personalausstellung zeigte er über einhundert »Blumen- und Früchtestudien in Oelfarben« des 1785 in Halle geborenen Adolf Senff, dessen 62 Vor allem in den achtziger und frühen neunziger Jahren waren die Entwürfe für die Konkurrenzausschreibungen, unter anderem für Bucheinbände und eine Interims-Kirche, im Museum zu sehen. Vgl. ebd., S. 10 f. 63 Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1885, S. 13. 64 Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1899/1900, S. 174. 65 Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1898/99, S. 159.
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Werke Eingang in manche hallesche Privatsammlung fanden und dessen künstlerische Eigenständigkeit Sauerlandt in einem Aufsatz lobte.66 Der Kurator bemühte sich auch darum das künstlerische und kunstgewerbliche Schaffen lebender Zeitgenossen dem einheimischen Publikum zu präsentieren. Da sich um 1890 nur vereinzelt und oft auch nur zeitweise Künstler in Halle niedergelassen hatten, griff er in zwei Ausstellungen auf den mittlerweile in München ansässigen Glas- und Kunstmaler Carl Ule zurück, dessen Glasmalereien und Entwürfe er 1887 und 1891 zeigte. Auch Werke der Künstler Phillip Franck, Eugen Kirchner und Adolf Männchen holte er für Ausstellungen zurück nach Halle. 1891 konnten die Hallenser Aquarelle und Zeichnungen Hans von Volkmanns anschauen, der in Halle als Sohn des bekannten Chirurgen Richard von Volkmann geboren wurde und mittlerweile als Meisterschüler an der Kunstakademie Karlsruhe studierte.67 In den neunziger Jahren konnte Otto zunehmend Ausstellungen mit Werken in Halle sesshafter Künstler veranstalten, die jeweils auch auf dem Gebiet des Kunstgewerbes tätig waren und sich damit ihr Einkommen sicherten. Zu ihnen zählten die Dekorationsmaler Wilhelm Zander und Heinrich Kopp, der Architekt Hugo Wrede, die Künstlerin Margarethe von Brauchitsch sowie die Leiterin der Frauen-Industrieschule Elise Gehrts-Wildenhagen, deren Kunststickereien zu besichtigen waren.68 Für die lokale Künstlerschaft, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in Halle zu formieren begann, war das städtische Museum eine hervorragende Möglichkeit ihr künstlerisches oder kunstgewerbliches Schaffen der Öffentlichkeit zu präsentieren. Franz Otto, der innerhalb der Künstlerszene offensichtlich bestens vernetzt war, hielt Kontakt auch zu Künstlern, die nur für kurze Zeit in der Stadt tätig waren. Der ersten Generation der Künstler, die sich dauerhaft in Halle niederließen und die in den meisten Fällen sowohl im bildenden als auch angewandten Kunstbereich tätig waren, bot er die seltene Gelegenheit, sich als Künstler der lokalen Öffentlichkeit zu präsentieren. Damit trug er einerseits wesentlich zum Selbstbild der Ausstellenden als Künstler bei und machte andererseits die Hallenser auf die wachsende Künstlerszene ihrer Stadt aufmerksam. Die Ausstellungen trugen zur Popularität der Künstler bei und konnten ihnen auch in wirtschaftlicher Hinsicht hilfreich sein. Für die einheimischen Museumsbesucher wiederum boten die Ergebnisse regionalen Kunstschaffens die Möglichkeit, sich mit ihrer Stadt und deren kreativer Energie zu identifizieren. Das lokale Kunstschaffen war in den ersten fünfzehn Jahren seines Bestehens ein wichtiger Bezugsrahmen, der das Museum 66 Vgl. Sauerlandt, Adolf Senff, S. 79–82. 67 Volkmann unterhielt lebenslange Verbindung zu seiner Vaterstadt und war dem halleschen Publikum bekannt und der städtischen Künstlerschaft verbunden. Vgl. Busse-Dölau, Hans von Volkmann, S. 68–71; Dressler, Kunstjahrbuch 1907, S. 206. 68 Vgl. Otto, Städtisches Museum, S. 10–13.
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sowohl für die Künstler als auch das städtische Publikum zu einer festen Größe im Kunstsystem werden ließ. Für die Etablierung und öffentliche Anerkennung des Museums sprechen die seit seiner Gründung stetig gestiegenen Besucherzahlen: Bis zur Jahrhundertwende stieg die Zahl der jährlichen Besucher von geschätzten zweitausend im Eröffnungsjahr auf über zehntausend um die Jahrhundertwende. Während die Dauerausstellung der Museumsbestände im Eichamt unentgeltlich – anfangs nur am Sonntag über zwei Stunden am Mittag – zu besichtigen war, konnten die Sonderausstellungen69 unter der Woche gegen Eintrittsgeld besichtigt werden. Dem Besucherandrang suchte die Stadtverordnetenversammlung durch die Ausweitung der Öffnungszeiten und eine dafür erforderliche Etaterhöhung gerecht zu werden. Trotzdem blieb der Zugang zum Museum auf wenige Stunden an zwei Wochentagen beschränkt. Die Teilung der Sammlung durch den Bezug des 1904 fertiggestellten historischen Talamtes im Karree der Moritzburg mit der kunstgewerblichen Sammlung brachte zusätzliche Ausstellungsfläche und die Besucherzahlen stiegen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts weiter an. Das städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe etablierte sich als permanenter Raum einer lokalen Kunstöffentlichkeit. Im Gegensatz zu den diversen Kunst- und Künstlervereinen, die abgesehen von ihren zeitweisen Ausstellungen auf eine vereinsinterne Öffentlichkeit beschränkt waren, bot das Museum grundsätzlich jedem halleschen Bürger die Möglichkeit mit Kunst und Kunstgewerbe in Kontakt zu kommen. Die als städtische Einrichtung organisierte und wahrgenommene Einrichtung war Ausdruck eines veränderten Kunstverständnisses, das Kunst nicht mehr länger ausschließlich als Objekt privaten Besitzes vorstellte, sondern der bildenden Kunst volksbildende Fähigkeiten zuschrieb.70 Die Impulse für diesen neuen Kunstbegriff kamen aus dem Bürgertum und wurden auf ihr Drängen hin als Teil kommunaler Kulturpolitik installiert. Die städtischen Gremien wiederum taten sich lange schwer, das Museum mit ausreichend Kapital auszustatten, das eine weiterführende Entwicklung gewährleisten könnte. Und so war das Museum weiter auf bürgerliche Stiftungen angewiesen. Andererseits stellte die Museumsgründung in städtischer Hoheit einen bedeutenden Schritt dar, denn nun übernahm die Stadt politische Verantwortung für die Kunstentwicklung. Bis zur Museumsgründung war das städtische Engagement im Kunstverein und Kunstgewerbeverein symbolischer Natur. 69 Aufgrund mangelnder Mittel für den Ankauf von Werken für das Museum wurden in den Sonderausstellungen Kunst und Kunstgewerbe fremden Besitzes präsentiert. Vgl. ebd., S. 9–11. 70 Der hallesche Professor für Ästhetik Emil Utitz beschrieb für die Kunstlandschaft um 1900 ganz allgemein, dass sich damals der Gedanke des Volkseigentums an der Kunst und der Funktion des Museums als Stätte der Volksbildung durchsetzte. Vgl. Utitz, Kultur, S. 64.
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2.1.2 Das Museum als Anwalt der künstlerischen Moderne – Sauerlandt als Museumsdirektor Analog zur Reform des Kunstvereins bahnte sich auch im städtischen Museum für Kunst und Kunstgewerbe nach der Jahrhundertwende ein Richtungswechsel an. Die Initiative zur Neuordnung der Museumsgeschäfte nach dem Tod Franz Ottos ging von den beiden Vereinen aus, die schon die Gründung des Museums vorangetrieben hatten und nun im April 1902 eine Denkschrift an den Magistrat richteten, in der sie die Notwendigkeit eines hauptamtlich angestellten und entsprechend entlohnten Museumsleiters herausstellten. Dieser sollte über eine kunstwissenschaftliche Ausbildung verfügen und sich insbesondere um die Öffentlichkeitsarbeit des Museums bemühen: »… ein Leiter unserer städtischen Kunstsammlung [muss] nicht nur ein sicheres Kunsturteil haben …, sondern auch eine ebenso gediegene wissenschaftliche Bildung, vermöge deren er im Stande ist, durch Wort und Schrift ebensoviel Interesse und Verständnis für Kunst bei der Bürgerschaft zu wecken, wie durch den Ankauf von Kunstwerken, und daß sein persönlicher und gesellschaftlicher Einfluß in erster Linie von einem würdig dotierten selbstständigen Amte abhängt.«71
Orientiert am Profil anderer Museen sollte der neue Direktor das städtische Kunstmuseum als Bildungsinstitut profilieren. Damit schlossen sie an Ottos Diagnose einer allgemeinen künstlerischen Unbildung der Gesellschaft an. Der Schwerpunkt der Museumsarbeit könne nach ihrem Verständnis nicht länger darin liegen, eine lückenlose und hochkarätige Sammlung zusammenzubringen, sondern »durch unsere Erwerbungen Geschmack und Kunsturteil unserer Besucher zu bilden.«72 Trotz allem ließen sich die städtischen Vertreter nicht davon überzeugen, die kürzlich durch den einheimischen Bildhauer Paul Reiling besetzte Leitungsposition neu auszuschreiben.73 Bis zur Einstellung Sauerlandts 1908 blieb die Kuratorenstelle also unbesoldet.74 Obwohl Reilings Vorstoß zur Übernahme der Kuratorenposition im Kunstgewerbeverein für Unmut sorgte – nicht nur, weil dem Museum weiterhin eine professionelle Betreuung versagt blieb, sondern auch, weil sie einen Künstler für die Beurteilung und Auswahl von Kunst werken wegen seiner mutmaßlichen Parteinahme als ungeeignet empfanden75 – 71 Hüneke, Das schöpferische Museum, S. 16. 72 Vgl. ebd. 73 In der Phase der vor allem fürstlich erfolgten Kunstpflege betreuten häufig praktizierende oder pensionierte Künstler deren Kunstsammlungen. Nachdem im bürgerlichen 19. Jahrhundert Laienkorporationen als zentrale Organe der Kunstpflege aufgetreten waren, setzte sich um 1900 die Überzeugung durch, dass leitende Positionen öffentlicher Museen mit wissenschaftlich gebildetem Personal zu besetzen seien. Vgl. Biram, Industriestadt, S. 13. 74 Vgl. Hüneke, Das schöpferische Museum, S. 16. 75 Die Museumskommission hatte einen Berliner Kunstwissenschaftler für die Position eines besoldeten Museumsdirektors vorgeschlagen und stand bereits mit ihm in Verhandlungen, als Reiling seine Dienste anbot. Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1901, S. 8/9. –
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bezog die kunstgewerbliche Sammlung unter seiner Ägide den Gebäudeneubau in der Moritzburg und brachten bürgerliche Stiftungen für künftige Expansionsbestrebungen einen beachtlichen Kapitalstock ein. Inwiefern Reiling, der ja selbst als Künstler, Stadtverordneter und vielfaches Kommissionsmitglied fest im bürgerlichen Netzwerk verankert war, die von Otto gepflegte Praxis der Sonderausstellungen mit regionalem Bezug aufrechterhielt, ist unbekannt. Es ist zwar anzunehmen, dass auch er Kontakte zu einheimischen Künstlern unterhielt, jedoch lässt sich keine Zugehörigkeit zu einem der bestehenden Künstlervereine nachweisen. Während seiner Amtszeit gelangten vor allem lokale mittelalterliche kunsthandwerkliche Erzeugnisse in die Sammlung und ermöglichten private Spenden den Bezug neuer Räumlichkeiten.76 Andererseits wiederum zeigt die Entwicklung des Museums, dass innerhalb des städtischen Kunstsystems um 1900 ein verändertes Verständnis von Kunst und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft keimte, das den Boden für institutionelle Neuerungen bereitete. Dazu zählte die zitierte Denkschrift ebenso wie die finanzielle Ausstattung des Museums durch wohlhabende hallesche Bürger. Um diese Gedanken fruchtbar zu machen, bedurfte es im Fall des Museums jedoch politischer Entschlusskraft und eines geeigneten externen Kandidaten für die Direktorenstelle. Mit Richard Robert Rive erhielt die Stadt Halle 1905 eine politische Führung, die die Professionalisierung des öffentlichen Museumsbetriebs zu ihrem Anliegen machte. Auf sein Betreiben wurde eine Leitungsstelle im Museumsetat verankert und der Posten nach einem längeren Prüfverfahren 1908 per Wahl durch die Museumsdeputation mit Max Sauerlandt besetzt. Er erfüllte nun die einige Jahre zuvor von den beiden Vereinen formulierten Kriterien für eine erfolgreiche Museumsführung und entwickelte das Museum im Verlauf seiner intensiv ausgeübten Amtszeit zu einer führenden Institution im halleschen Kunstsystem. Der zuvor am Hamburger Museum für Kunst und Kunstgewerbe beschäftigte Assistent wurde 1908 zum besoldeten Verwalter berufen und zwei Jahre später zum hauptamtlichen Museumsdirektor ernannt. Er hob das Museum durch den konzeptionellen Ausbau der Sammlung und ihre Erweiterung um Schlüsselwerke der Klassischen Moderne ins überregionale Bewusstsein.77 Die Eignung von Künstlern als Museumsleitern wurde zeitgenössisch stark diskutiert. Während der Debatte, in der Künstlern mehrheitlich die Befähigung dazu abgesprochen wurde, etablierte sich der Beruf des Museumsdirektors bzw. angestellter Kuratoren als geisteswissenschaftlich fundierte Profession. Vgl. Koetschau, Museumsdirektor, S. 256. 76 Vgl. Gründig / Dräger, Kunsthandwerk, S. 20–33. Die Autoren schätzen die Leistung Reilings als Kurator des Museums als schwer bewertbar ein, weil einerseits zwar genannte bauliche und finanzielle Fortschritte unter seiner kuratorischen Führung zu verzeichnen waren, jedoch andererseits die Entwicklung der Sammlung konturlos und sein Konzept unbekannt blieb. 77 Die deutschlandweit erschienene Kunstzeitschrift »Der Cicerone« berichtete mehrfach über die Entwicklung des halleschen Museums. Vgl. DC, 3. Jg. (1911), S. 670 und DC, 6. Jg. (1914), S. 399 ff.; Hüneke, Das schöpferische Museum, S. 19.
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Durch seine pädagogischen Bemühungen gelang es ihm, das Museum als integralen Bestandteil der städtischen Kunstöffentlichkeit zu etablieren. Mit seiner praktischen Museumstätigkeit und seinen wissenschaftlichen Beiträgen sowohl zu kunsthistorischen Themen als auch zur zeitgenössischen Museumskultur wurde er zum gestaltenden Akteur des städtischen Kunstsystems und das hallesche Museum zum Gegenstand des Diskurses über die Funktion des Museums in der modernen Gesellschaft. Das Urteil Sauerlandts über das Kulturleben der Stadt im Allgemeinen und die Museumssammlung im Besonderen fällt – trotz seines Lobes über die autodidaktisch erworbene Expertise des langjährigen Kurators Otto – sehr ungünstig aus. Bis auf wenige Werke sei der Museumsbestand bei seiner Amtsübernahme bedeutungslos gewesen: »Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll, was mir an der Kehle würgt, es ist Unwille und bittere Empörung über den wuchernden Schund, der sich hier breitmacht …. Es wird fürs erste bitterwenig hier zu machen sein, und auch das nur fußbreit für fußbreit gegen das stumpfsinnige Beharrungsvermögen.«78
In Gestalt der Museumskommission, die seit der Geburtsstunde des Museums als begleitendes Gremium installiert wurde, trat ihm das kurz nach Amtsantritt befürchtete »Beharrungsvermögen« entgegen. Die Museumskommission als städtisches Gremium, das in Verwaltungsangelegenheiten und bei Ankäufen von über 250 Mark seine Zustimmung geben musste, erscheint für die Gründungsphase des Museums rückblickend als zeitgemäße und notwendige Einrichtung. Als zu Beginn ihrer Tätigkeit Sammlungserweiterungen vorwiegend aus privaten Schenkungen erfolgten, lief die Kommissionsarbeit weitgehend harmonisch ab. Mit der Professionalisierung des Museumsbetriebes – die auch in der Beschäftigung eines (unbezahlten) Volontärs zum Ausdruck kam79 – und seiner Verwaltung durch eine Persönlichkeit, die ihr Augenmerk auch auf modernste Strömungen richtete, gerieten die alten Verwaltungsstrukturen unter Druck. Durch das Eingreifen des Oberbürgermeisters wurde der Einfluss der Deputation, deren Mitglieder er zum Teil für unfähig und die Interessen des Museums gefährdend befand, stark beschnitten.80 78 Sauerlandt, Kampf, S. 41. 79 Von 1912 bis 1914 war Dr. Kurt Freyer, der zuvor als Assistent am Folkwang Museum in Hagen wirkte, als Volontär beschäftigt und zeichnete maßgeblich für den 1913 veröffentlichten Museumsführer verantwortlich. Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1912, S. 235; Freyer, Führer. 80 Indem Rive den Magistrat als der Deputation weisungsbefugtes Gremium zur Kontrolle einsetzte, unterband er eigenständige Entscheidungen derselben. So handelte er schon vor dem Amtsantritt Sauerlandts und wollte so »bei der Verwendung der Steckkner’schen Stiftungsgelder und auch der Etatmittel Fehlgriffen vor[zu]beugen«. Vgl. Rive, Lebenserinnerungen, S. 186; Gründig / Dräger, Kunsthandwerk, S. 43/44.
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In Halle fand der Umbruch von einer konsensorientierten Museumspraxis zu einer Institution, die ästhetisches Neuland beschritt und zeitgenössische Tendenzen ihrem Publikum vertraut machen wollte, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts statt. Die städtische Museumskommission, die aus der Gründungsphase der Museen stammte, erwies sich in diesem Prozess als überlebte Einrichtung. Der Deutsche Museumsbund bewertete nach Kriegsende die Museumskommissionen als hinderlich für die Entwicklung des Museums zu einer lebendigen, einflussreichen Institution: »In der großen Mehrzahl hinderten die Kommissionen, die ihre formalen Rechte voll ausnutzten, die Museen weit mehr, als daß sie sie förderten. Dann wurde nicht in der Zusammenarbeit, sondern im Kampfe mit ihnen durchgesetzt, was zur Entwicklung des Museums notwendig war, die Folge aber war auf beiden Seiten Verärgerung, und der verbitterte Museumsleiter, der seine Kräfte in diesem Kampf einzusetzen hatte, anstatt daß er sie für positive Arbeit hätte verwenden können, sah, wenn er seine Tätigkeit überblickte, mehr das, worauf er hatte verzichten müssen.«81
Die zur fachlichen Unterstützung im 19. Jahrhundert gegründeten Kommissionen wurden angesichts der mittlerweile üblichen geisteswissenschaftlichen Ausbildung des leitenden Museumspersonals überflüssig.82 Karl Koetschau, seit 1913 Leiter der Kunstsammlungen Düsseldorf und Mitinitiator des 1917 gegründeten Deutschen Museumsbundes, beschrieb den verbreiteten Gegensatz von Museumsdirektor und Museumkommission, der auch die halleschen Verhältnisse prägte. Oberbürgermeister Rive berichtet in seinen Lebenserinnerungen, dass es auch schon vor der Einstellung Sauerlandts zu Auseinandersetzungen innerhalb der Deputation gekommen war. Damals verlief die Konfliktlinie zwischen dem Wahlmitglied und Kunstexperten Adolph Goldschmidt und anderen Kommissionsmitgliedern, die der modernen Kunst gegenüber wenig Verständnis zeigten. Einen offenen Eklat provozierten jene, die schon vorher dessen Engagement für Emil Nolde und den Ankauf seiner Werke für das Museum heftig kritisiert hatten, jedoch erst in der Beratung über die Erhöhung des Direktorengehalts. Sauerlandt, der von dieser Frage seinen Verbleib in Halle abhängig machte, wurde energisch von Rive unterstützt, der die Gehaltserhöhung schließlich durchsetzte und Sauerlandt in seinen künstlerischen Entscheidungen vollen Beistand zusicherte.83 Die Phase der Kunstförderung, als kommunale Einrichtungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die bürgerlichen Kunstvereine als wichtigste Institutionen 81 Koetschau, Museumsdirektor, S. 259. 82 Vgl. ebd., S. 258/259. 83 Vgl. Rive, Lebenserinnerungen, S. 185 und 197; Hüneke, Das schöpferische Museum, S. 45. – Katja Schneider behandelt in ihrem Aufsatz das Bündnis der beiden Neuhallenser. Vgl. Schneider, »Wir können aus Halle noch viel machen …«, S. 90 f.
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der Kunstförderung ablösten, wurde geprägt vom Typ des markanten Museums direktors, der die Sammlung entsprechend seiner Vorlieben formte und der innerhalb der Gesellschaft für das Museum eine ästhetische Führungsrolle beanspruchte. Insofern war die hallesche Entwicklung kein Einzelfall und stand diesmal in der vorderen Reihe bei der Etablierung einer historischen Entwicklung, in der sich das Kunstmuseum zu einer öffentlichen Institution entwickelte, die innerhalb des Kunstsystems eine deutungsmächtige Position innehatte und durch Ankäufe, Ausstellungen und Vermittlungsangebote bestimmte Kunstwerke, Künstler und ganze Stilrichtungen mit gesellschaftlicher Bedeutung versah.84 Bis zur Einberufung Sauerlandts zu Kriegsbeginn und vereinzelt während seines Fronturlaubs erwarb er für das Museum aus den zur Verfügung stehenden städtischen Mitteln, mithilfe privater Stiftungen, über den zu Erwerbungszwecken gegründeten Museumsverein und durch erwirkte Schenkungen bedeutende Werke der Klassischen Moderne für das Museum. Er konzentrierte seine Sammlungsstrategie auf zentrale Werke herausragender Künstler der Gegenwart und baute damit den Museumsbestand planvoll aus. Noch nach seinem Wechsel an das Hamburger Museum im Mai 1919 war er für die städtische Sammlung vermittelnd tätig. Mit dem Erwerb von Werken aus der Sammlung Rosy Fischer im Jahr 1924, die 24 Werke vor allem des deutschen Expressionismus umfasste, führte er seine vor dem Krieg begonnene Ankaufspolitik fort. So fanden Werke von Picasso, Kokoschka, Kirchner, Heckel, Nolde, Schmidt-Rottluff, Marc und Rohlfs in die hallesche Sammlung. Die von Sauerlandt vorgenommene Neu ordnung der halleschen Museumsbestände Mitte der zwanziger Jahre wurde vom städtischen Publikum seinen eigenen Aussagen zufolge jedoch nur unzureichend gewürdigt.85 Neben seinen Verdiensten um die künstlerische Moderne, deren Werke er der Museumssammlung hinzufügte, entsprach er auch der in der Denkschrift von 1902 geforderten Öffnung des Museums nach außen. Sowohl quantitativ als auch qualitativ vermochte er das Interesse der städtischen Bevölkerung an der Entwicklung des Museums wesentlich zu steigern. 1910 besuchten insgesamt etwa 38.000 Personen das Museum86, das nun sowohl am Großen Berlin als auch in der Moritzburg untergebracht war; um die Jahrhundertwende schwankte die Besucherzahl noch um zehntausend. Sogar während des Krieges blieb das Museum zeitweise geöffnet und wurde von mehreren Tausend (5.000–7.000) Menschen jährlich besucht. Unter ihnen waren Verwundete und Soldaten im Urlaub, die freien Eintritt zu den Sammlungen erhielten. 1919 blieben die Sammlungen geschlossen. Als in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre die Museums 84 Zur Konsekrationsmacht von Museen, die symbolischen Gütern durch Transformation ihres symbolischen Kapitals Wert verleihen, siehe Bourdieu, Regeln der Kunst, S. 237 ff. 85 Vgl. Baumann, Max Sauerlandt, S. 34/35. 86 Rives Einschätzung, die Besucherzahlen des Museums hätten sich seit der Tätigkeit Sauerlandts verzehnfacht, ist übertrieben. Vgl. Neuß, Stadtverwaltung, S. 103.
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geschäfte auf Betreiben Rives weitestgehend ruhten, die Direktorenstelle jahrelang unbesetzt blieb und der Ankaufsetat gestrichen wurde, verlor das Museum an öffentlichem Interesse und verzeichnete sinkende Besucherzahlen.87 Der Ankauf der Expressionismussammlung von Rosy Fischer 1924, vermittelt und schließlich inszeniert durch Sauerlandt, blieb einsamer Höhepunkt in diesen Jahren. Erst Alois Schardt konnte in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre wieder an die Popularität des Museums unter Sauerlandt anknüpfen. Sauerlandt bemühte sich die Attraktivität des Museums zu steigern, indem er die Besucher mit einer Reihe von Vermittlungsangeboten an die Sammlungen heranzuführen suchte. In einer Publikationsreihe, die 1909 bis 1912 jährlich über Neuerwerbungen des Museums informierte und in Texten und Abbildungen den Ausbau der Sammlungen vorführte, machte er seine Tätigkeit publik.88 Der 1913 publizierte Museumsführer wiederum gab in monografischer Form zugleich eine Einführung zur Sammlung als auch zur allgemeinen kunstgeschichtlichen Entwicklung. Sauerlandt formulierte im Vorwort: »Unsere kleine Sammlung moderner Gemälde, Handzeichnungen und Bildwerke hat vielfältigen Ansprüchen zu genügen. Sie kann sich in einer Stadt wie Halle, wo das städtische Museum die einzige Gelegenheit bietet, die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts kennen zu lernen, der Aufgabe nicht ganz entziehen, andeutend wenigstens die Hauptetappen der vielverzweigten Entwicklung zu bezeichnen, die sich in der deutschen Kunst dieses Zeitraums vollzogen hat.«89
Dementsprechend orientiert der von Kurt Freyer erarbeitete Museumsführer, der einen systematischen Überblick über die Sammlung bietet und exemplarisch einzelne Bildwerke kommentiert, über die kunsthistorische Entwicklung anhand von Epochen und Ismen. Den gleichen Zugang wählte Sauerlandt, als er in einem Initiativschreiben an Rive für die städtische Lehrerschaft eine aus drei jeweils einstündigen Vorträgen bestehende Fortbildungsreihe vorschlug, die die Schuldeputation im Frühjahr 1911 bewilligte. Er bot Museumsführungen zu den Epochen Mittelalter und Frührenaissance, Hochrenaissance und Barock sowie Rokoko und Empire an. Die Führungen, die Sauerlandt anhand der Musemssammlung entwickelte und in denen er »mit sehr anschaulicher, klarer Darstellungsweise ein Bild der verschiedenen Zeiten der Kunstentwicklung«90 87 Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1901/1902, S. 201; Verwaltungsbericht der Stadt Halle 1910–1923. 88 In den Jahresberichten ist auch seine kunsthistorische Expertise und wissenschaftliche Methode dokumentiert. Vgl. Bericht über die Neuerwerbungen 1909; Neuerwerbungen 1910–1911; Verwaltung und Erwerbungen 1911–1912. Die Jahresberichte waren auch Anlass überregionaler Berichterstattung. Vgl. DC, 3. Jg. (1911), S. 670. 89 Freyer, Führer, S. 2. 90 Diese Äußerung des Schulrektors Schneider wurde in zahlreichen weiteren Bewertungen der Vorträge Sauerlandts durch die Lehrer bestätigt. Vgl. StH, A 2.36 Nr. 533 Bd. 1, Bl. 32.
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ausbreitete, wurden von den Lehrern in mehrfacher Hinsicht als anregend empfunden. Rückmeldungen der Teilnehmer betonen einerseits, dass die anschaulichen Führungen persönlich bereichernd waren und die Wahrnehmung des Museums grundlegend verändert hätten. Von den teilnehmenden Lehrern der Knaben-Mittelschule wurde darüber hinaus Folgendes berichtet: »Nicht nur [haben] sie selbst ein tiefergehendes Interesse an der Kunst und dem Kunstgewerbe genommen …, sie werden auch im Unterricht mannigfach Verwertung dafür haben.« In zahlreichen Rückmeldungen, die allesamt positiv ausfielen, zeigten sich die Teilnehmer beeindruckt von der städtischen Sammlung, die sie vorher kaum wahrgenommen hatten und die sie jetzt öfter besuchen wollten, um selbst »durch gelegentliche Besuche das erlangte Wissen zu vertiefen und zu vermehren.« Indem der Direktor die städtische Lehrerschaft explizit zu seinen Führungen einlud, förderte er indirekt die künstlerische Erziehung des Nachwuchses. Durch gemeinverständliche Erläuterungen und direkte Fühlung mit den Kunstwerken gewann er ihre Gunst für das Museum und weckte ihr Kunstinteresse, das sie im besten Fall an ihre Schüler weitergaben. Ein Teilnehmer berichtete nach Abschluss der Fortbildung im Mai 1911: »Sauerlandt hat uns einen Einblick in die Mannigfaltigkeit der im Museum angesammelten Kunstgegenstände gegeben. Durch eingehende Besprechung u. Vergleichung einzelner Stücke aus verschiedenen Kunstepochen, durch Hervorheben des hohen Wertes derselben, u. durch genaues Betrachten der Kunstgegenstände, welche von Hand zu Hand gingen, wurde bei den Teilnehmern das Verständnis u. dadurch das Interesse an unseren Museumsschätzen ungemein gesteigert, sodaß sie besser imstande sind als vorher, auch bei unseren Schülerinnen ein wachsendes Interesse für die städtischen Kunstsammlungen anzuregen.«91
Der Museumsdirektor arbeitete in seinen Führungen inhaltlich und auch im körperlichen Sinn werknah, was bei den Teilnehmern einen bleibenden Eindruck hinterließ. Auch über die regionale Herkunft mancher kunstgewerblicher Gegenstände suchte er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu gewinnen. Obwohl Sauerlandt dem Museum als wesentliche Aufgabe die Vermittlung zeitgenössischer Kunst zuwies, beschränkte er sich in seinen Lehrervorträgen auf vergangene Epochen, um so für Interesse zu werben, ohne gleich Verständnis für moderne Kunstformen einfordern zu müssen. Er verzichtete jedoch nicht auf den Hinweis, dass »der Kunstgeschmack sich im Wandel der Zeiten geändert habe und das auch an Erzeugnissen der hallischen Kunst zu sehen sei«92 und bereitete so den Kontakt mit Werken der Moderne, die das Museum ebenfalls beherbergte, vor.
91 Ebd., Bl. 37. 92 Ebd.
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Schon Otto hatte als Ursache des fehlenden Kunstinteresses die mangelhafte Volkserziehung ausgemacht. Der Besuch des Museums durch die Klassen der gewerblichen Zeichenschule, von dem für das Verwaltungsjahr 1899/1900 berichtet wird, versuchte ansatzweise diesem Missstand entgegenzuwirken.93 Sehr viel flächendeckender vermochte es die Strategie Sauerlandts, über die Begeisterung der Lehrer auf die Schüler einzuwirken und sie so zum Besuch des Museums zu animieren. Insgesamt meldeten sich 79 Lehrer aus neun Schulen für den ersten Durchgang im Mai 1911. Für die Folgeveranstaltung, die Sauerlandt aufgrund der großen Nachfrage ab Oktober 1911 anbot, gingen 135 Anmeldungen ein. Auch für die Fortsetzung, für die Sauerlandt um die Vermittlung neuer Teilnehmer bat und die diesmal unter dem Titel »Betrachtungen ausgewählter Gegenstände aus dem Besitz des städt. Moritzburgmuseums« stand, interessierten sich sowohl die Lehrerkollegien der halleschen Volks- und Mittelschulen als auch der Gymnasien.94 Mehrfach hatte Sauerlandt seit seinem Amtsantritt das allgemein niedrige Niveau der künstlerischen Bildung bzw. die konservative Haltung der städtischen Bevölkerung in Kunstangelegenheiten beklagt, die »nie ganz ohne bestimmenden Einfluß auf den Charakter und die Qualität der künstlerischen Produktion« sei. In dieser Hinsicht war sein Zugehen auf die Kerngruppe der Bildungsvermittlung auch eine Investition in die Zukunft der Stadt Halle als Kunststandort. Das von Sauerlandt angekaufte »Abendmahl« Emil Noldes hinterließ gerade bei der jüngeren Generation hallescher Künstler einen bleibenden Eindruck: »Welch leidenschaftliche Diskussion gab es unter den Berufenen und Nichtberufenen um dieses Bild. Ich weiß noch, welch kämpferische Stellung der Feuerkopf Karl Völker für Emil Nolde bezog. Seine Wandlung vom Jugendstil zum Expressionismus vollzog sich gewissermaßen über Nacht.«95
Im Museumsführer schrieb Freyer nieder, was Adolph Goldschmidt als Kurator der ersten Ausstellung im Katalog zu den modernen Meistern 1905 schon einmal beschrieben hatte: dass die künstlerische Moderne an anderen als den eingefahrenen Sehgewohnheiten, Wertmaßstäben und Gestaltungsprinzipien orientiert war und der Betrachter sich der neuen Werksprache anpassen müsse. Wo der Einführungstext Goldschmidts noch vorsichtig versuchte, den ungeübten Laien den Weg zum deutschen und französischen Impressionismus zu ebnen und die anfängliche Abneigung der Betrachter als legitimen Ausgangspunkt ansah, wird in den Erläuterungstexten im Museumsführer von 1913 diese Anpassungs
93 Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1899/1900, S. 173. 94 Vgl. StH, A 2.36 Nr. 533 Bd. 1, Bl. 4–20, Bl. 38–70. 95 StH, FA 2686.
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leistung des Publikums ausdrücklich erwartet. Vor allem der Expressionismus als neueste Entwicklung in der bildenden Kunst erscheint als Zielpunkt einer teleologischen Entwicklung, der »das Wesen der Kunst« offenbare. Zum Verständnis der bildenden Kunst und insbesondere moderner Werke sei es unbedingt notwendig, Kunst als Ausdruck individueller Realitätsverarbeitung zu betrachten. Wer Kunstwerke weiterhin an ihrer Naturähnlichkeit messe, verkenne ihren eigentlichen Kern: »Was das Wesen des Expressionismus ist, lässt sich kaum sagen, ohne über das Wesen der Kunst zu sprechen. Denn hier besonders ist ein richtiger Begriff vom Wesen der Kunst die notwendige Voraussetzung zum Verständnis. Wer sich nicht von dem Gedanken befreien kann, dass die Kunst Nachahmung der Natur sei und dass sie den Zweck habe, uns angenehme Unterhaltung zu verschaffen, wird von diesen Werken niemals empfangen, was sie uns geben wollen. Daß aber alle Kunst Umgestaltung der Natur ist, wurde schon im bisherigen Verlauf des Führers darzustellen gesucht.«96
Beispielhaft für den Expressionismus stehen im Museumsführer die 1913 angekauften Werke Emil Noldes mit dem »Abendmahl« in deren Zentrum. Der erläuternde Text beschreibt ausführlich die zugrundeliegenden Gestaltungsprinzipien und die dahinterstehenden Absichten des Künstlers, dem es darum gegangen sei, mittels Form und Farbe die innere Bewegtheit der Dargestellten aufzuspüren. Demgegenüber trete die faktische Erzählung von den Personen und der Szenerie, wie sie die Historiengemälde des 19. Jahrhunderts prägte, in den Hintergrund.97 In seiner Darstellung zum Expressionismus formuliert Freyer, ausgehend von der ästhetischen Kategorisierung (siehe oben), die gesellschaftliche Funktion der Kunst, die neben Religion und Philosophie eine weitere Möglichkeit zur Deutung des Weltganzen darstelle. Dementsprechend entwirft er auch ein Bild des Künstlers als Visionär, der aufgrund seiner metaphysischen Fähigkeiten innerhalb der Gesellschaft eine anleitende Position einnehme: »Wenn der menschliche Geist danach strebt, hinter den Einzeldingen das gemeinsame zu erkennen, das, worin sie ihren Ursprung und ihre tiefere Begründung haben und wodurch er selbst erst mit den Dingen zusammenhängt, so wird er die Antwort zumeist auf dem Wege der religiösen Ahnung oder der philosophischen Erkenntnis suchen. Es gibt aber noch einen dritten Weg, den des künstlerischen Schauens. Auf diesem Weg kann der hierzu Befähigte, der Künstler, gleichsam das Wesen des Seelischen selbst oder die Seele der Welt erkennen, und diese Erkenntnis kann er durch die Mittel der Kunst zur Anschauung bringen.«98
96 Freyer, Führer, S. 58. 97 Vgl. ebd., S. 62–65. 98 Ebd., S. 58/59.
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Der Museumsführer formuliert ganz explizit den der Museumsführung zugrundeliegenden Kunstbegriff, sowohl in ästhetischer als auch in funktionaler Hinsicht. Den so vertretenen Deutungsanspruch der Institution Museum definierte Sauerlandt im Museumsführer als Kern seiner gesellschaftlichen Verantwortung.99 Im gleichen Jahr des Streites um den Ankauf des »Abendmahls«, der erst zwischen Sauerlandt und Rive einerseits und der Museumsdeputation andererseits tobte, sich auf die städtische Öffentlichkeit übertrug und schließlich sogar überregional zwischen Museumsdirektoren geführt wurde, formulierte Sauerlandt im 1913 erschienen Museumsführer im Vorwort programmatisch, welche Rolle das Museum bezüglich der künstlerischen Moderne spielen sollte: »Unsere kleine Sammlung moderner Gemälde … muß weiter versuchen, die Bekanntschaft mit den führenden Meistern der Gegenwart zu vermitteln, in deren Werken sich das innere Wesen der Zeit sichtbar darstellt. Endlich aber muß sie auch den werdenden Meistern der Zukunft die Wege ebnen, jedem einzelnen seiner Besucher das Verständnis dieser Künstler und ihrer Kunst zu erleichtern bestrebt sein, denn in ihrem Wollen und in ihren Werken sind die in der Gegenwart noch schlummernden geistigen Regungen und Kräfte schon zu anschaulicher Klarheit entwickelt. Immer wird es doch die höchste Aufgabe einer öffentlichen Kunstsammlung bleiben, das Urteil der Allgemeinheit zu führen, nicht ihm zu folgen.«100
Nach Sauerlandts Ansicht übt das Museum nicht nur bewahrende Funktion aus, sondern greift durch aktiv getroffene ästhetische Urteile direkt in das gegenwärtige Kunstgeschehen ein. Sauerlandt verstand das Museum als Anwalt der jungen Künstlergeneration, das die künstlerischen Interessen der Gesellschaft lenke. Zeitgenössisch war die Neuinterpretation der Aufgabe des Museums und der Rolle seines Direktors stark umstritten. Die extreme Position Sauerlandts, der sich berufen sah, das gesellschaftliche Kunsturteil anzuführen, wurde insbesondere vom Generaldirektor der Berliner Museen Wilhelm Bode kritisiert. In Sauerlandts und an einigen anderen Museumsstandorten ebenso praktizierter Ankaufspolitik, die sich auf neueste Kunst und unbekannte Künstler richtete,
99 In seiner 1927 veröffentlichten Schrift »Die Deutschen Museen und die Deutsche Gegenwartskunst« stellte er ausführlich die seiner Meinung nach dem Museum zuwachsende Aufgabe der Kunstvermittlung dar, die auch zeitgenössische Tendenzen der Kunstentwicklung einschließe. Als öffentliche Institution müsse das Museum kunsterzieherisch tätig werden. Die 1927 veröffentlichte Schrift knüpfte direkt an seine hallesche Museumspraxis und die schon damals formulierten Grundsätze an. Der Aufsatz ist gemeinsam mit »Das Sofabild oder die Verwirrung der Kunstbegriffe« und »Original und Faksimile« in einem Band 1930 erschienen. Vgl. Sauerlandt, Sofabild. 100 Sauerlandt, Das städtische Museum, S. 2. – 18 Jahre später verwies Sauerlandt in seinem Aufsatz »Die Deutschen Museen und die Deutsche Kunst« auf seine damals niedergeschriebene Definition des Museums als die die ästhetische Urteilskraft der Gesellschaft anführende Institution. Vgl. Sauerlandt, Sofabild, S. 40/41.
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sah dieser eine Fehlentwicklung. Er warf den zumeist jungen Museumsdirektoren vor, der Gegenwartskunst kritiklos gegenüberzustehen und vorschnell zu handeln. Stattdessen solle das Museum künstlerische Entwicklungen beobachten und auf außer ihm liegenden Sanktionsmechanismen vertrauen. Aus britischer Perspektive beobachtete Herbert Read, einflussreicher Kunstgelehrter und Museumsbeamter, eine besondere Nähe der modernen deutschen Kunst zur Gesellschaft. Diesen Umstand führte er hauptsächlich zurück auf die Toleranz der öffentlichen Museen, die Werke der »am weitesten vorgetriebenen Form der modernen Kunst« präsentierten. Im Gegensatz zu Bode lobte er die funktionale Neubestimmung des Museums in der Gesellschaft, wie Sauerlandt sie in Halle vertrat.101 Die intensive Entwicklung des städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe stockte jäh mit Beginn des Krieges und kam mit dem Weggang Sauerlandts vorerst zum Erliegen. Ab Januar 1920 übernahm Burkhard Meier für ein Jahr auf Probe die Leitung des Museums und scheiterte schließlich an Rives Erwartungen, die sich an Sauerlandts Museumsarbeit orientierten. Mit Meiers Abgang wurde die Position des Museumsleiters auf Betreiben des Ober bürgermeisters vorerst stillgelegt.102 Rives Eingreifen in die Museumsgeschäfte brüskierte abermals die Deputationsmitglieder und trug ihm Kritik diverser Interessenverbände ein.103 Im Gegensatz zu Sauerlandt, der in seiner Sammlungspolitik die nationale und internationale Avantgarde in den Fokus rückte, legte Meier gegenüber dem Magistrat dar, dass dem Museum eine lokale Identität fehle und deshalb ein Schwerpunkt seiner Amtszeit auf der regionalen Kunstproduktion liegen werde. Wenn er auch die von Sauerlandt zusammengetragene hochrangige Moderne sammlung sehr schätze, so sei sie doch wenig geeignet dem halleschen Publikum einen Zugang zur Kunst zu schaffen.104 Nachdem in den letzten beiden Jahrzehnten das lokale und regionale Schaffen zeitgenössischer Künstler nicht oder kaum berücksichtigt wurde, wollte der avisierte neue Direktor die vor der Jahrhundertwende durch Franz Otto stark fokussierte örtliche Künstlerszene er 101 Vgl. von Bode, Oberbürgermeister. Der Aufsatz Reads erschien 1931 in einer autorisierten Übersetzung durch Sauerlandt selbst in der Zeitschrift Kreis von Halle. Vgl. Read, Moderne deutsche Kunst, S. 267. 102 Die mit finanzieller Not begründete Streichung des Direktorenpostens erfolgte nach der autobiografischen Darstellung Rives auf äußeren Zwang. Es sollte verhindert werden, dass das Amt des Museumsdirektors extern auf staatliche Zuweisung besetzt würde. Vgl. Rive, Lebenserinnerungen, S. 202. 103 Zwar zeigte sich auch Sauerlandt von der Tätigkeit Meiers nicht überzeugt, in einem Brief an Felix Weise lehnte er aber die Reaktion Rives, der Meier zu Beginn des Jahres 1921 entlassen will und die Position des Direktors streicht, ab. Vgl. Hüneke, Das schöpferische Museum, S. 88/89. 104 Vgl. ebd., S. 85–90.
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neut im Museumskontext präsentieren. Diese Schwerpunktsetzung hätte freilich Sauerlandts Verständnis vom Museum als einem Schutzraum neuester künstlerischer Strömungen, mit denen sich die Künstler vor Ort in Sachen ästhetischer Novität kaum messen konnten, gestört. Die explizite Förderung der städtischen Künstlerschaft im musealen Kontext lag weder in Sauerlandts noch in Rives Interesse. Stattdessen erfüllte die nationale und internationale Avantgarde deren Kunstbegriff und sorgte zugleich dafür, dass Halle als Kunststandort über die Landesgrenzen hinaus Beachtung fand. Nach der Entlassung Burkhard Meiers zu Beginn des Jahres 1921 wurde das Museum interimsmäßig von Paul Thiersch, dem Leiter der Kunstgewerbeschule, geführt. 1926 schließlich übernahm Alois Schardt das vakante Amt. Nach weiterhin niedrigen Besucherzahlen 1926 und 1927, in denen kaum mehr Menschen als während der Kriegsjahre das Museum besuchten, wurde dessen Wiederbelebung durch Schardt mit steigenden Besucherzahlen ab 1928 belohnt. Die unter seiner Direktorenschaft eingeführten Öffnungszeiten gingen weit über die bisher auf wenige Stunden und Wochentage beschränkte Zugänglichkeit des Museums hinaus.105 Fast ganzwöchentlich war das Museum nun drei Stunden über Mittag und von Dienstag bis Freitag auch in den Abendstunden von 18 bis 21 Uhr Kunstinteressierten geöffnet. Erst jetzt bekam das Museum den Charakter einer permanent offenen städtischen Institution, die auch die arbeitende Bevölkerung unter der Woche besuchen konnte. Die Öffnung zur städtischen Bevölkerung wurde weiter unterstützt durch die Außenstelle in den Anbauten des Roten Turms. Die mit Sonderausstellungen bespielten Räume waren täglich außer sonntags für mehrere Stunden am Vor- und am Nachmittag geöffnet. Obwohl die Abendöffnungszeiten aus Kostengründen ab September 1930 wieder eingespart wurden, vermochte das Museum zwischen 1928 und 1932 jährlich um die 20.000 Gäste anzuziehen.106 Schardt bestimmte die gesellschaftliche Führungsrolle des Museums behutsamer als sein Amtsvorgänger Sauerlandt vor Ausbruch des Krieges: »Meiner Ansicht nach ist es möglich, gefühlsvorbereiteten Menschen – und deren gibt es heutzutage sehr viele – den Weg zu zeigen.« Er sah das Museum in der Pflicht der Gesellschaft, dessen Kunstbedürfnisse der Museumsdirektor aufspüren müsse. Mäzenatische Unterstützung einzelner, persönlich geschätzter Künstler, die noch keinerlei gesellschaftliche Anerkennung erlangt haben, schloss er aus seinem Aufgabenbereich aus; das sei Sache des Staates und privater Sammler.107 Sein Selbst- und Museumsverständnis hinderte ihn jedoch nicht daran, die 105 In den Jahren 1924 und 1925 hatte das Museum Dienstag, Donnerstag und Sonntag jeweils von 11 bis 13 Uhr geöffnet. Vgl. Verwaltungsbericht Halle 1924/25, S. 58. 106 Vgl. ebd., S. 31; Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1899–1906; Verwaltungsberichte Halle 1907–1932; Dolgner, Stadt, S. 136; Verwaltungsbericht Halle 1929, S. 35. 107 Vgl. Schardt, Museumsgestaltung, S. 122–124.
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Sammlung des Museums um weitere bedeutende Werke der Klassischen Moderne zu erweitern.108 Anders als der unter der Ägide Sauerlandts entstandene Museumsführer, der zwischen einem richtigen und falschen Kunstbegriff unterschied, suchte Schardt nach den Ursachen der weitverbreiteten Verständnislosigkeit der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber der gegenstandsfernen Moderne. Während sich in der Kunst der Klassischen Moderne die formalen Gestaltungsprinzipien fundamental änderten, bestimmte die Realität als Schlüssel der Bildrationalisierung ihre Rezeption.109 Diese Diskrepanz markierte Schardt als wesentliches Grundproblem der Kunstvermittlung: »Wir leben in einer Zeit, in der die meisten Menschen materiell gegenständlich sehen. Dieses gegenständliche Sehen besteht darin, daß man die Darstellung eines Bildes als Erinnerungsbild seines gewohnheitsmäßigen realen Lebens sieht und die damit verbundenen alltäglichen Gefühle auch mit der Darstellung verbindet. … den meisten Menschen unserer Zeit [ist] dieser Weg in die übersinnliche Bedeutung des Werkes verschlossen …«110
Statt in der abbildenden Funktion sah Schardt das Entscheidende der ästhetischen Moderne in der gefühlsmäßigen Ausdruckskraft eines Bildes. So äußerte er sich zu Anselm Feuerbachs Gemälde »Musizierende Kinder«, »daß ein Thema nicht durch gegenständliche Darstellung künstlerisch zu lösen ist. Denn die Musik kommt nicht aus dem Instrument des Kindes heraus – das Instrument ist hier fast nur Beiwerk –, sondern von der Melodie seines ganzen formellen Aufbaues und von den Farbglänzen, die sich mit diesen Melodien zu den wundervollen Akkorden des Bildes vereinigen.« Seine Argumentation basierte auf den gleichen ästhetischen Prämissen wie die Beschreibung des »Abendmahls« von Nolde im Museumsführer.111 Auch hinsichtlich der Bestimmung der gesellschaftlichen Funktion der Kunst und der Rolle des Künstlers im gesellschaftlichen Kontext stimmen die theoretischen Positionen Sauerlandts und Schardts im Wesentlichen überein und distanzieren sich von Funktionszuschreibungen, die auf die allgemeine Gefälligkeit und Unterhaltsamkeit abzielen, mithin den Künstler als jemanden vorstellen,
108 Im städtischen Verwaltungsbericht wird über Ankäufe von Gemälden und Grafiken von Senff, Feuerbach, Marc, Carus, Graff, Kandinsky, Menzel (1927), Werken von Feininger, Klee, Feuerbach (1928) und wiederum von Lissitzky, Marees, Feininger, Caspar David Friedrich (1929) berichtet. Einen Höhepunkt bildete dabei der Ankauf von Marcs großformatigem Werk »Tierschicksale« (1930) und der Erwerb des Halle-Zyklus von Lyonel Feininger (1931), der auf Einladung Schardts vor Ort entstanden war. 109 Vgl. Gehlen, Zeit-Bilder, S. 14–16. 110 Schardt, Museumsgestaltung, S. 124. 111 Vgl. Schardt, Anselm Feuerbach, S. 60.
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der die Bedürfnisse Einzelner befriedigt. Auch bei Schardt ist der Künstler als »geistige[r] Führer« dazu berufen, »ihnen [den Menschen, I. S.-W.] neue Erlebnis- und Sehformen vor[zu]empfinden.« Vage bleibt er in einem 1931 in der lokalen Kulturzeitschrift erschienen Artikel zur sozialen Bedeutung bildender Kunst, wenn er sie als »harmonisierende Kraftumwandlung« beschreibt, die ein negatives in ein positives Lebensgefühl umdeute. Letztlich wird aber deutlich, dass auch er der Kunst metaphysische Bedeutung zuerkennt, wenn Schardt auf die »Funktion, die das Kunstwerk für die Psyche des Einzelnen und für die Psyche der Gemeinschaft hat«112 hinweist. Aus diesem unbedingten Zusammenhang von Kunst und individueller bzw. sozialer Selbstbestimmung leitete er auch die Existenzberechtigung der Museen in öffentlicher Hand ab.113 Um seiner selbstauferlegten Verantwortung gerecht zu werden und eine »Verbindung zwischen Kunstwerk und Volk herzustellen«114, intensivierte Schardt die Öffentlichkeitsarbeit des Museums. Verlängerte Öffnungszeiten und die Ausweitung des pädagogischen Angebots sollten dem Museum neue Besucherkreise erschließen. Für den Kunstverein bereitete er ebenso Vorträge vor wie für die Volkshochschule, über die ein noch weiterer Kreis der Kunst- und Museumsinteressierten zu gewinnen war. Die neu konzipierte Ausstellung und die optische Akzentuierung der Werke sollten sowohl die sinnliche Wahrnehmung des Publikums stimulieren als auch dazu beitragen, dem Betrachter den metaphysischen Wert der Kunst zu lehren.115
Fazit Das Museum entstand an der Schnittstelle vereinsgetragener Kunstpflege und des ausgreifenden kommunalen Verwaltungsnetzwerkes. Dabei folgte die Anbindung des Museums an kommunale Strukturen dem veränderten funktionalen Kunstbegriff, bei dem sich – wenigstens unter den Kunstexperten – der Schwerpunkt auf die Gemeinwohlorientiertheit und den Bildungsaspekt der Kunst verlagert hatte. Während unter der Kuratorenschaft Ottos städtische Funktionsträger noch von der Nützlichkeit öffentlicher Kunstpflege in städtischer Obhut überzeugt werden mussten und die Museumsgeschäfte kaum von ihr tangiert wurden, musste sich Sauerlandt später gegen die Einmischungen der laienbesetzten Museumskommission durchsetzen. Er erstritt die Freiheit bei inhaltlichen Angelegenheiten der Museumsführung, plädierte dennoch ent 112 Schardt, Museumsgestaltung, S. 122. 113 Vgl. ebd. 114 Ebd., S. 124. 115 Vgl. Dolgner, Stadt, S. 138; Schneider, »Jede Museumsgestaltung hat vom Kunstwerk auszugehen.«, S. 151 ff.
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schieden für die Verantwortung, die die Kommunalpolitik für die Sicherung der öffentlichen Kunstpflege trug. Sauerlandts Beharren auf dem kommunalpolitischen Engagement einerseits und seiner unbedingten Unabhängigkeit in inhaltlichen Fragen der Museumsgestaltung andererseits beruhte auf seinem Kunstbegriff, der gegenüber Ottos Kunstverständnis wesentlich geschärft war. Das Museum, dem er als Direktor vorstand, erfüllt in diesem funktionalen Kunstverständnis, das die Notwendigkeit ästhetischer Bildung für jedes Mitglied der Gesellschaft betonte, eine Schlüsselrolle: Als Experte wähle der Museumsdirektor die künstlerischen Positionen aus, die für die Gesellschaft bildungsrelevant seien. Innerhalb des Gefüges des Kunstsystems machte er sich und seine Institution per Definition damit unverzichtbar. Die Bedeutung, die das 1885 eingerichtete Städtischen Museum für Kunst und Kunstgewerbe für die hallesche Künstlerschaft trug, liegt auf unterschiedlichen Ebenen. Je nach den Vorstellungen von der Aufgabe eines Museums und der gesellschaftlichen Funktion der Kunst variierte das Bemühen der wechselnden Führungskräfte um die Künstler vor Ort. Franz Otto, der als erster Kurator den Übergang des Museums von einer privat betreuten Einrichtung hin zu einer Institution begleitete, die die Kunstpflege als eine öffentliche Aufgabe definierte, präsentierte das Kunstschaffen vor Ort tätiger oder mit der Stadt verbundener Künstler ganz selbstverständlich im musealen Kontext. Als kunstvermittelnder Akteur stärkte er erstmals die künstlerische Identität einheimischer Kunstschaffender und machte sie als solche einer weiteren Öffentlichkeit bekannt. Im Vordergrund seiner Tätigkeit stand nicht, die Stadtbevölkerung mit den neuesten künstlerischen Strömungen zu konfrontieren. Vielmehr wollte er den Kunstsinn der Hallenser an sich wecken und fand in der regionalen Kunstproduktion ein geeignetes Lockmittel. Entsprechend seinem Verständnis von Kunst, die als Mittel ästhetischer Bildung durch Anschauung für alle Bevölkerungskreise zur Verfügung gestellt werden sollte, integrierte er ganz selbstverständlich das Kunstgewerbe in seine Präsentationen. Für den städtischen Kontext betonte er damit die enge Verwandtschaft von bildender und angewandter Kunst. Ganz anders verhielt sich die Wirkung Sauerlandts als Museumsdirektor, der die direkte Förderung der lokalen Künstler im Museumskontext ausschloss. Dennoch ist sein Verdienst auch um die Künstler vor Ort hoch einzuschätzen. Zum einen erreichte seine Öffentlichkeitsarbeit, die auf breiter Basis beim Schulwesen ansetzte, ganz allgemein Aufmerksamkeit und Wertschätzung bildender Kunst und kunstgewerblicher Erzeugnisse. Andererseits war sein Kunstbegriff von einer enormen Wertschätzung des Künstlers als gesellschaftlichem Akteur getragen und strahlte über seine Museumsarbeit in die Umgebung. Für die Künstler, die sich vor allem während der turbulenten Nachkriegsjahre als wichtige Akteure der Gesellschaft begriffen, war Sauerlandts Künstlerbild wegweisend. Nicht zuletzt versorgte Sauerlandt als Museumsdirektor (und Kunstvereins-
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mitglied) die einheimischen Künstler mit künstlerischen Vorbildern, die seiner Ansicht nach vor Ort dringlich fehlten: »Daß Halle während des 19. Jahrhunderts kein günstiger Boden für die bildende Kunst gewesen ist, wird noch lange hemmend nachwirken. Unsere Halleschen Künstler stehen heute nicht im festen Zusammenhang einer von Generation zu Generation treulich weiterentwickelten Tradition, sie finden keine Anknüpfungspunkte in der Vergangenheit … Es fehlt der Halleschen Kunst der Gegenwart die Wurzelhaftigkeit, das Bodenständige, das den Kunstprodukten anderer deutscher Städte die Geschlossenheit und den bestimmenden Lokalton verleiht.«116
Einen versöhnlicheren Ton gegenüber der lokalen Künstlerschaft fand Alois Schardt, der sich in seiner Sammlungspolitik zwar weiter auf die Avantgarde konzentrierte, mit den Ausstellungen am Roten Turm jedoch auch direkt für die Künstler vor Ort tätig wurde. Am Ende der zwanziger Jahre wurden die Bande zwischen Museum und städtischen Künstlern damit erneut gestärkt: Die in den Ladenanbauten um den Roten Turm eingerichtete Außenstelle des Museums bemühte sich intensiv um die Zusammenarbeit mit halleschen Künstlervereinen und halleschen Künstlern. Es begann eine kurze aber intensive Phase, in der sich das Museum der städtischen Künstlerschaft zuwandte und diese in Sonder ausstellungen präsentierte.117
2.2 Die Entwicklung der städtischen Kunstpolitik 2.2.1 Rive als Förderer der Moderne Die Stadt als eigenständiger Organismus, der von einheimischen Funktionseliten verwaltet wurde, genoss in der Moderne europaweit allgemeine Hochschätzung. Gewährleistet wurde die Eigenständigkeit durch das staatlich zuerkannte Recht auf Selbstverwaltung und ihre steuerbasierte finanzielle Unabhängigkeit. In den Jahrzehnten der Klassischen Moderne wurde der Sektor der (Hoch-)Kultur als Gegenstand planmäßigen städtischen Verwaltungshandelns entdeckt und durch institutionelle Neugründungen fester Bestandteil kommunaler Selbstverwaltung. Öffentliche Kulturförderung war für die städtische Verwaltungselite einerseits ein Instrument, um mit den verschiedenen städtischen Bevölkerungsgruppen in Kontakt zu treten und sie in ihrem Sinn zu beeinflussen. Außerdem bestand angesichts massenkultureller Phänomene und dem schichtenübergreifenden Wunsch nach Freizeitgestaltung der Bevölkerung hier Handlungsbedarf. Insofern war die Gründung städtischer Kultureinrichtungen Ausdruck des 116 Vgl. Sauerlandt, Adolf Senff, S. 79. 117 Vgl. Verwaltungsbericht 1929, S. 35. Trotzdem bleiben Ankäufe von Werken hallescher Künstler jedoch eine Seltenheit. Vgl. Dolgner, Stadt, S. 136.
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politischen Herrschaftsanspruches des Bürgertums.118 Andererseits wurde die Förderung von Musik, Schauspiel und bildender Kunst als prestigeträchtiger Bereich der Kommunalpolitik im Wettstreit der Städte untereinander zu einem wichtigen Konkurrenzfaktor. Das Selbstvertrauen der städtischen Führungselite und ihr Glaube an die Gestaltbarkeit städtischen Lebens äußerte sich in der Stadtplanung und im Auf- und Ausbau der städtischen Infrastruktur, die um die Jahrhundertwende (und vereinzelt schon vorher) mit besonderem Elan betrieben wurden.119 Die im 19. Jahrhundert in den Händen bürgerlicher Vereine liegende Verwaltung und Gestaltung lokaler Kulturangebote ging in öffentliche Verantwortung über, indem Expertengremien als Ausschüsse der Stadtverordnetenversammlung bzw. des Magistrats gebildet wurden. Das galt insbesondere für Institutionen der Hochkultur wie Theater, Museen und Orchester.120 Bürger, die nicht explizit einen politischen Posten innerhalb der lokalen Verwaltung bekleideten, blieben in ehrenamtlicher Tätigkeit oder als in die Kommissionen gewählte Bürgerdeputierte weiterhin eine wesentliche Stütze der öffentlichen Kultureinrichtungen. Richard Robert Rive, 1906–1933 Oberbürgermeister der Stadt Halle, lobte im Rückblick auf seine Amtszeit das unlösbare Miteinander städtischer Beamter und ehrenamtlich engagierter Bürger als ideale Trägerschaft öffentlicher Kulturförderung: »Mit Stolz blicke ich auch auf die zahlreichen Arbeitsstätten, in denen Hand in Hand mit dem Berufsbeamtentum bürgerlicher Sinn still und ungesehen die Arbeit des Alltags im Gemeindeleben verrichtet: Ohne diese Arbeit der Deputationen und Kuratorien der Stadt einschließlich der Stiftungen, und ohne die opferwillige Mitwirkung der Ehrenbeamten wäre unser Gemeinwesen in seinen Zwecken unmöglich und die Selbstverwaltung undenkbar.«121
In der städtischen Verwaltungsstruktur seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren stets vor allem die städtische Infrastruktur, das Finanzwesen, Handel und Gewerbe sowie die soziale Fürsorge wesentliche Bereiche städtischer Selbstverwaltung. Die mit den Herausforderungen des plötzlichen Bevölkerungswachstums und der Industrialisierung konfrontierten Verwaltungseliten 118 Der zeitweise kostenfreie Eintritt ins städtische Kunst- und Kunstgewerbemuseum und die am halleschen Stadttheater stattfindenden »Volksvorstellungen«, für die Vorzugsscheine an einkommensschwache Theaterbesucher ausgegeben werden, machen Kulturpolitik als Instrument der Bevölkerungsintegration sichtbar. Vgl. VB vom 01.09.1910, Nr. 205, Beilage S. 2; Mai / Paret, Mäzene, Sammler und Museen, S. 9. 119 Vgl. Lenger, Metropolen, S. 21, 149/150, 203; Höpel, Demokratisierung, S. 139. 120 Der Prozess der Kommunalisierung bestehender hochkultureller Institutionen in vielen Großstädten fand um die Jahrhundertwende (1900) statt. Vgl. Schmidt, Kultur in Nürnberg, S. 140. 121 StH, S15.RIV N 79,2 Nr. 7, Abschiedsrede.
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waren besonders mit Fragen des Transports, der Hygiene und der Sicherheit beschäftigt.122 Die bildende Kunst war nur vereinzelt Gegenstand kommunalpolitischen Interesses, bis die 1884 eingerichtete Museumskommission die öffentliche Förderung bildender Kunst in der städtischen Verwaltung dauerhaft installierte. Außerdem wurden Fragen kunstpolitisch-ästhetischer Relevanz im Rahmen des städtischen Hochbaus sowie des städtischen Erscheinungsbildes erörtert.123 Kommunalpolitisch wurden Belange der bildenden Kunst darüber hinaus im Curatorium der gewerblichen Zeichenschule innerhalb des traditionell öffentlich geführten Schulwesens virulent. Mit dem Aufstieg der daraus hervorgehenden Kunstgewerbeschule zu einer überregional wahrgenommenen künstlerischen Ausbildungsstätte war die Stadt als kunstpolitischer Akteur im Verlauf des Untersuchungszeitraumes besonders gefragt und einflussreich. Die 1884 eingerichtete Commission zur Verwaltung der städtischen Kunstsammlung stellte eine Zäsur innerhalb der städtischen Kunstpolitik dar, insofern hier erstmals ein von Stadtverordneten und Räten beschicktes Gremium gesondert über die Belange der öffentlichen Kunstpflege beriet. In den jährlichen Verwaltungsberichten der Stadt wurde über die Angelegenheiten von Museum und Theater124 abwechselnd unter der Rubrik »Bildung« oder in der eigens geschaffenen Abteilung »Pflege der Kunst« informiert.125 Beide Institutionen waren durch permanent bestehende Kommissionen im kommunalen Verwaltungsapparat vertreten. Zur grundlegenden Reform der städtischen Verwaltung kam es in der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts mit dem neuen Ersten Bürgermeister der Stadt. Richard Robert Rive trat sein Amt im April des Jahres 122 Helmuth Croon stellt für die Zeit zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg einen Generationswechsel in der Stadtverwaltung fest. Zwar bleibe das Personal vorrangig bürgerlich geprägt. Die Vorstellungen von der Aufgabe der Stadt hätten sich jedoch grundlegend geändert: Während die vorhergehende Generation (geb. 1835 bis 1860) die Industrialisierung von Beginn an miterlebte, sei die folgende Generation (geb. 1865 bis 1875) mit unmittelbar drängenden Aufgaben konfrontiert, die das ungeheure Städtewachstum mit sich gebracht hätten. Vgl. Croon, Aufgaben, S. 43. 123 Im Verwaltungsjahr 1883/84 wurde ein Architekturwettbewerb für den Neubau des Stadttheaters ausgeschrieben. Die von einer überregional besetzten und erfahrenen Jury begleitete Ausschreibung war für die Stadt kulturpolitisch ein herausragendes Ereignis. Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1883/84, S. 6. 124 Eigenständig aufgeführt wurden im Anschluss an das Theater der »Theater-Erneuerungsfonds« und die »Pensions- und Unterstützungskasse für das Personal des Stadttheaters und des Stadt- und Theater-Orchesters«. Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1898/99, Inhaltsverzeichnis. 125 Im Bericht über das Verwaltungsjahr 1884/85 erscheinen beide Einrichtungen der Bildung untergeordnet im Anschluss an die Referate über die einzelnen städtischen Schulen. Seit Beginn der neunziger Jahre wurden Angelegenheiten des Theaters und des Museums in einem gesonderten Kapitel behandelt, bevor sie später wieder dem Bildungsbericht eingegliedert wurden. Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1884/85–1933.
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1906 an. Mit seinen Erfahrungen, die er als Stadtrat in der ostpreußischen Großstadt Breslau126 gesammelt hatte, ging Rive eilig an die Reform der städtischen Verwaltung: »Das Wachsen der Stadtgemeinde vermehrt die Aufgaben ihrer Verwaltung und hat, wenn die Verwaltungsbehörden leistungsfähig bleiben sollen, eine entsprechende Erweiterung durch Verstärkung der bestehenden oder durch Schaffung neuer Organe zur Folge.«127
Um die Kommunalverwaltung effizient zu gestalten, wurden entsprechend der realen Arbeitslast neue Deputationen gebildet, die spezifische Probleme verhandelten und diese gegebenenfalls übergeordneten Gremien zur abschließenden Prüfung vorstellten. Ergänzt wurden die schon bestehenden Ausschüsse um Expertengremien, die sich mit Fragen des Grundbesitzes befassten sowie um das Rechnungswesen und Rechts- und Verfassungsangelegenheiten kümmerten. Eine neu geschaffene Baudeputation, die aus Mitgliedern des Magistrats und der Stadtverordnetenversammlung sowie fachkundigen Bürgern gebildet wurde, sollte die bisher besonders harten Zusammenstöße zwischen dem Bauvorlagen einbringenden Magistrat und der darüber abstimmenden Stadtverordnetenversammlung verhindern.128 Außerdem sollten vorübergehend eingerichtete Deputationen auf momentane Obliegenheiten reagieren. Obwohl die Verwaltung von Museum und Theater in den jeweiligen Deputationen verblieb, wurde ihre Arbeit vom Wirken des neuen Bürgermeisters stark beeinflusst. Erich Neuß, Stadtarchivar ab 1928, bilanzierte für die Jahre 1906–12 erstmals städtisches Interesse für Halles Ruf als Kunst- und Universitätsstadt.129 Ihren Bedeutungsgewinn verdankte der Bereich der städtischen Kunstförderung vor allem Rives persönlichem Interesse an der bildenden Kunst. Durch sein Engagement und den Aufbau eines Expertennetzwerkes beförderte er ihre Entwicklung. Bei der Verteilung der Dezernate behielt sich Rive unter anderem den Vorsitz der Museumskommission vor, den er energisch führte. Auch innerhalb anderer kunstpolitisch relevanter Institutionen, wie der Museums-Gesellschaft, der Kommission der Handwerker- und späteren Kunstgewerbeschule sowie der Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung, war Rive in verantwortungsvollen 126 Die Bevölkerungszahl Breslaus hatte sich von 1871 (ca. 200.000) zu 1910 (ca. 500.000) mehr als verdoppelt. Zwar stieg die Einwohnerzahl in Halle im gleichen Zeitraum sogar um das Dreieinhalbfache (von ca. 50.000 auf 180.000), blieb aber weit hinter den absoluten Zahlen von Breslau zurück. Im Jahr 1895 zählten von insgesamt 36.2041 Ortsanwesenden in Breslau 88 zu den bildenden Künstlern (Maler und Bildhauer), während die Berufsstatistik für Halle im gleichen Jahr elf Berufszugehörige der gleichen Kategorie bei 113.454 Einwohnern verzeichnete. Vgl. Berufsstatistik der deutschen Großstädte 1895, S. 77 und 89. 127 Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1906, S. 66. 128 Vgl. Rive, Lebenserinnerungen, S. 120/121. 129 Vgl. Neuß, Stadtverwaltung, S. 37.
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Positionen vertreten. Über seine maßgebliche Mitarbeit in diesen Gremien steuerte er persönlich die Entwicklung der städtischen Kunstpolitik.130 Jenseits der institutionenbezogenen Deputationen wurden die bildende Kunst betreffende Angelegenheiten auch in der Stadtverordnetenversammlung und dem Magistrat, in dem wiederum der Bürgermeister eine starke Position einnahm, zur Diskussion gestellt. Nicht selten griff er in die Geschäfte der verhandelnden Gremien ein, um seine Interessen durchzusetzen, oder überzeugte seine Zuhörer in leidenschaftlichen Reden, für seine Ideen zu stimmen. Vor allem die Museumsdeputation wurde mehrfach das Ziel seiner Interventionen. Aus Unzufriedenheit mit ihren Ankaufentscheidungen und der Geringschätzung seiner Mitglieder – der Kunstgelehrte Adolph Goldschmidt unterlag regelmäßig der Stimmenmehrheit nur laienhaft kunstgebildeter Mitglieder – ordnete Rive an, dass Entscheidungen der Deputation vom Magistrat zu überprüfen seien. Ein Beobachter berichtete 1908 von einer Magistratssitzung, während der Rive den Ankaufswert eines Kunstwerkes einer halleschen Künstlerin, den die Museumskommission zuvor auf 1000 Mark festgesetzt hatte, auf 500 Mark korrigierte.131 Für Rive war die Entwicklung der städtischen Kulturlandschaft mehr als nur eine Notwendigkeit großstädtischer Verwaltung: »Museum, Theater, Archiv, Kunstwerkstätten, Zoologischer Garten und so manche andere Pflegestätte der Schönheit und Kunst, der Wissenschaft und Natur gaben mir inmitten ernster Amtssorgen Stunden, in denen die ganze Seligkeit des Schaffens über mich kam.«132
Umso mehr war sein Engagement von persönlicher Anteilnahme geprägt, die die bisher vorherrschende Gleichgültigkeit unter vielen Lokalpolitikern durchbrach und Halle als Kunststandort voranbrachte. Sie verleitete ihn andererseits zunehmend dazu, ihm missliebige Positionen und Personen politisch zu isolieren und seinen persönlichen Standpunkt autoritär durchzusetzen. In seiner zeit genössischen Diagnose der »Probleme des Kunstgewerbes in der Gegenwart« formulierte Werner Sombart die Befürchtung, die kommissarisch getroffenen Entscheidungen würden dem künstlerischen Niveau schaden. Seine Hoffnung, dass
130 Vgl. Verwaltungsbericht Halle 1910; StH, A 6.3.1.MUSE, Nr. 233, S. 2; StH, A 2.3 Nr. 130; StH, A 2.36 Nr. 891 Bd. 1. 131 Beispielsweise im Fall von Bilderankäufen, wie sie 1908 und 1924 (Sammlung Rosy Fischer) erfolgten. Vgl. Luger, Hallische Kunst; Scherf / Ritter, Glamour, Glanz, Geschwindigkeit, S. 25/26; Rive, Lebenserinnerungen, S. 186. – Stolz berichtet Rive in seinen Lebenserinnerungen: »Die heutige Museumsschöpfung, die eigentlich erst mit der Tätigkeit des Museumsdirektors und der erneuerten Deputation einsetzte, enthält nicht ein Stück, das beim Erwerb nicht auch durch die Hand des Oberbürgermeisters gegangen wäre.« Ebd., S. 189. 132 StH, S15.RIV N 79,2 Nr. 7. Manuskript.
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in »diesem Reich der geschwollenen Mittelmäßigkeiten« der Künstler »einem verständigen, diplomatisch geschickten und energischem Manne begegnet, der seinen Willen gegen den Unverstand der Mehrzahl durchzusetzen vermag und die zu den Beschlüssen erforderlichen Majoritäten zusammenbringt«, entsprach Rives kulturpolitischem Ansatz.133 Einerseits trat er selbst in den verschiedenen Gremien oft als energischer Widersacher einer konservativen Mehrheit auf und vermochte seine Meinung durchzusetzen; in seinen Lebenserinnerungen stilisierte er sich als kampflustigen Diskutanten.134 Andererseits installierte er bzw. wurden mit seiner Billigung Persönlichkeiten an die Spitze städtischer Kultur- und Bildungseinrichtungen berufen, die die ihnen anvertrauten »Häuser« grundlegend reformierten und mit denen er ein einvernehmliches persönliches Verhältnis pflegte. So leitete ab 1908 Max Sauerlandt das städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe, Wilhelm Jost wurde 1912 als Stadtbaurat berufen und Paul Thiersch übernahm 1915 die Staatlich-städtische Handwerkerschule, die er in den Folgejahren zu einer überregional geachteten Kunstgewerbeschule ausbaute.135 Sauerlandt, Jost und Thiersch wurden zu engen Vertrauten des Oberbürgermeisters und genossen dessen Unterstützung in Auseinandersetzungen mit opponierenden Akteuren. Erinnert sei an Rives Auftritt in der Museumskommission zugunsten des Museumsdirektors. Obwohl Rive persönlich dem Werk Noldes skeptisch gegenüberstand, setzte er gegenüber den Kommissionsmitgliedern den Ankauf des »Abendmahls« durch. Anfang des Jahres 1911 wandte sich Max Sauerlandt mit seiner Idee, die städtische Lehrerschaft in Museumsvorträgen und -führungen fortzubilden, in einem Brief direkt an den Oberbürgermeister. Sein Vorgehen vertraute der unmittelbaren Beziehung beider zueinander und zeigt personenbasierte kunstpolitische Praxis. Anschließend überstellte Rive den Vorschlag Sauerlandts zur Verhandlung an die Schuldeputation, die am 15.3.1911 – bereits neun Tage, nachdem Sauerlandt den Brief an Rive verfasst hatte – die Lehrerfortbildung bewilligte. Schon Anfang Mai trafen die ersten Rückmeldungen zu Sauerlandts Veranstaltung ein.136 Andererseits macht dieses Beispiel kunstpolitischer Praxis auch deutlich, dass Sauerlandt Rive als ersten Adressaten künstlerischer Belange empfand. Auch Paul Thiersch kam in den Genuss der persönlichen Unterstützung durch den Oberbürgermeister. Obwohl Rive seiner Wahl aus zahlreichen Be 133 Sombart, Probleme des Kunstgewerbes, S. 517. 134 Vgl. Rive, Lebenserinnerungen, S. 26 ff. 135 Auch das städtische Theater erhielt 1915 (in Halle bis 1922) mit Leopold Sachse einen Direktor, der das Theater zu einer Blüte führte und das hallesche Publikum mit modernen Strömungen des Schauspiels vertraut machte. Auf seine Initiative hin kam es zur Zusammenarbeit mit Paul Thiersch, der für die expressionistische Gestaltung einiger Bühnenbilder verantwortlich war. Vgl. Lenk, Halles Bühnen, S. 400–403. 136 Vgl. StH, A 2.36 Nr. 533 Bd. 1, Bl. 2–3, 26.
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werbern nicht gleich mit ungebremster Freude begegnete – Thierschs Verschlossenheit beim ersten persönlichen Zusammentreffen hatte ihn Abstand nehmen lassen –, entwickelte sich zwischen beiden eine enge Zusammenarbeit.137 Das Vertrauensverhältnis begünstigte die Entwicklung der 1915 als Handwerkerschule vom neuen Direktor übernommenen Einrichtung. Zum einen arbeiteten beide in der Kommission der Handwerker- und späteren Kunstgewerbeschule zusammen. Zum anderen engagierte sich Rive als Vorsitzender des Magistratskollegiums dafür, dass die zahlreichen Anträge Thierschs auf finanzielle Unterstützung und organisatorische Kompetenzen bewilligt wurden. Unter persönlichem Einsatz wandte Rive Mitte der zwanziger Jahre ministerielle Eingriffe in die Organisationsstruktur und das künstlerische Leitbild der Schule ab. Indem Rive dem Schuldirektor weitgehende Autonomie und finanzielle Mittel zugestand, ermöglichte er ihm, die Schule zu einer überregional beachteten künstlerischen Ausbildungsstätte auszubauen.138 Im Gegenzug profitierte die Stadt vom Renommee der Kunstgewerbeschule. Der 1921/22 eingeführte Beiname »Werkstätten der Stadt Halle«139 dokumentierte öffentlich sichtbar die Symbiose von Stadt und Kunstgewerbeschule. Gemessen am finanziellen und politischen Aufwand wurde die Schule seit Thierschs Wirkungszeit zum zentralen Betätigungsfeld der städtischen Kunstpolitik. Ihren Urteilen vertrauend, gewährte Rive sowohl Max Sauerlandt als auch Paul Thiersch umfassende Kompetenzen und große Summen, die ihnen den Ausbau und die Modernisierung ihrer Institute ermöglichten, wodurch sie daraufhin auch zu überregionalem Ansehen gelangten. Dieses auf persönlichen Beziehungen beruhende System der Kunstförderung, das der letztgültigen Einflussnahme des Oberbürgermeisters unterlag, wurde von zahlreichen, vor allem innerhalb öffentlicher Institutionen agierenden Akteuren als positiv und neuartig wahrgenommen. Wie schon Max Sauerlandt lobten auch Alois Schardt, Paul Frankl und Emil Utitz – allesamt Kunstgelehrte im öffentlichen Dienst – die Verdienste Rives um das künstlerische Klima der Stadt140. Anlässlich des 1927 in Halle ausgerichteten dritten Kongresses für »Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft«, zu dem Rive als Festredner geladen war, würdigte Schardt ihn als zentrale Kraft im Aufbau eines lebendigen Kunstgeschehens: »Wenn Halle neben seiner industriellen Entwicklung zur modernen Großstadt auch in echt großstädtischer Weise aller künstlerischen Belange sorglich sich annimmt, ist es uns klar bewußt, daß die weithin sichtbaren Erfolge dieses Strebens Ihre Energie und Ihre Gesinnung, hochverehrter Herr Bürgermeister, in erster Linie ermöglicht. 137 Vgl. Homagk, »Gebaut habe ich genug«, S. 38/39; Dolgner, Stadt, S. 139. 138 Vgl. Nauhaus, Burg Giebichenstein, S. 34/35, 67–70; ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33 und Rep. 1, 1921–1933. 139 Vgl. Dolgner, Stadt, S. 141. 140 Vgl. Schardt, Stadtbild, S. 57; Frankl, Physiognomie, S. 33; N. N., Allgemeines, S. 12.
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So wenig es in der Absicht von Ästhetik und allgemeiner Kunstwissenschaft liegen kann, unmittelbar einzugreifen in lebendigen Kunstbetrieb, so wenig können sie an Stätten gedeihen, denen der pochende Pulsschlag zeitgenössischer Kunstpflege fehlt. Hier ist er.«141
Durch die Professionalisierung städtischer Kunsteinrichtungen, ihre monetäre Ausstattung und die Verteidigung progressiver Projekte gegenüber innerbehörd lichen Widerständen etablierte Rive eine wirksame öffentliche Kunstförderung. Gegenüber der lokalen und freien Künstlerschaft Halles übte er sich jedoch in Geringschätzung.142 Als es zu den Verhandlungen über die Künstlernotstandshilfen für die einheimischen Künstler kommt, verweist er rechtfertigend auf sein kunstpolitisches Engagement der letzten Jahre: »Ich habe immer versucht, die Kunst dem Volke nahe zu bringen und ich begrüße das Bestreben des Volkes, aus sich heraus an der Betätigung in der Kunst teilnehmen zu wollen. Bei meinem Dienstantritt in Halle habe ich gefunden, daß in den Kunstausstellungen und Museen hier wohl Raritäten und Kuriositäten, aber keine Kunst zu finden war. … Erfreulich ist der sich mehr und mehr steigernde Besuch aus den Reihen der niederen Volksschichten. Leider läßt der Besuch der Museen durch die sogenannten gebildeten Stände sehr zu wünschen übrig. … Längst schon hat man erwogen, einen Kunstfonds zu schaffen. Vor Jahren sind ihm aus Sparkassenüberschüssen einmal 10 000 Mk. überwiesen und ohne weitere Erhöhung besteht er heute noch.«143
Sein Interesse galt anfänglich vor allem der Etablierung einer qualitativ hochwertigen öffentlichen Kunstsammlung. Die bildenden Künstler an sich rückten verstärkt erst im Rahmen des Umbaus der Handwerkerschule in den Fokus städtischer Kunstförderung. Dass die spätere Kunstgewerbeschule unter Paul Thiersch zu einer künstlerischen Ausbildungsstätte von Ruf avancierte und die Werkstätten der Stadt Halle zu einer weltweit beachteten kunstgewerblichen Produktionsstätte unter städtischem Siegel wurden, kam der Stadt, die seit den zwanziger Jahren verstärkt ihre Außenwirkung pflegte, sehr gelegen. Jenseits der Kunstgewerbeschule und der dort beschäftigten Künstler war die Stadt gegenüber halleschen bildenden Künstlern bei der Vergabe öffentlicher Aufträge nicht generös. Bereits 1919 benannte ein anonym publizierter Beitrag im 141 Vgl. ebd. 142 Dass die Stadt streng zwischen städtischer Kunstförderung und der freien Kunstszene unterschied, zeigt auch eine abgelehnte Anfrage der Hallischen Künstlergruppe. Ihre Bitte, im Kuppelsaal der Moritzburg ausstellen zu dürfen, wurde mit der Begründung, dass dieser zum städtischen Museum gehöre, abgelehnt. Auch einer erneuten Anfrage nach alternativen Ausstellungsmöglichkeiten kam die Stadt nur schleppend nach. Schließlich erhielten die Künstler 1924 die ehemalige Garnisonkirche auf dem Gelände der Moritzburg zur Verfügung, die sie in Eigenarbeit für Verkaufsausstellungen präparierten. Vgl. StH, Kap. IX Abt. 63 Nr. 10 Band 2 (05.07.1919); HN vom 25.11.1924, Nr. 277. 143 SZ vom 03.08.1919, Nr. 359 (Morgen-Ausgabe).
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sozialdemokratischen Volksblatt dieses Ungleichgewicht in der Künstlerförderung, die über die zwanziger Jahre immer wieder zur Konkurrenz der Künstler untereinander und zu Kritik an der Stadt führte.144 1928 forderte der örtliche Wirtschaftsverband bildender Künstler in einem Schreiben an die Stadtverordnetenversammlung, bei öffentlichen künstlerischen Aufgaben berücksichtigt zu werden. In gleicher Weise verlangte die Stadtverordnetenversammlung vom Magistrat, die freien bildenden Künstler der Stadt zukünftig zu berücksichtigen. Im selben Zusammenhang kritisierte die SPD-Fraktion die Auftragsvergabe um die Gestaltung der neuen Giebichensteinbrücke, bei der trotz Anordnung der Stadtverordnetenversammlung ausschließlich die an der Kunstgewerbeschule beschäftigten Künstler einbezogen wurden.145 Insgesamt entsteht der Eindruck, dass der Magistrat bewusst die freie Künstlerszene gegenüber den städtisch angestellten Künstlern benachteiligte. Das einseitige Agieren des städtischen Magistrats, der die Förderung »ihrer« im Hochbauamt und an der Kunstgewerbeschule beschäftigten Künstler verfolgte, teilte die Künstlerschaft in zwei Gruppen. Die einen waren durch ihre Anstellung und die Gunst des Magistrats in einer privilegierten wirtschaftlichen Position. Die freien Künstler hingegen mussten sich die Beteiligung an öffentlichen Projekten erst mühsam erstreiten. Dabei zeigte sich die städtische Politik ambivalent, als die Stadtverordnetenversammlung die Interessen der freien Künstlerschaft gegenüber dem Magistrat geltend machte. Die Stellung der Kunstgewerbeschule und ihr privatwirtschaftlich anmutendes Treiben, das unter städtischer Protektion stand, führte sowohl mit der freien Künstlerschaft als auch den ortsansässigen Handwerkern zum Streit. Utitz’ Einschätzung, der 1906 nach Halle berufene Politiker habe der bildenden Kunst in Halle Raum und Mittel zur Entfaltung gegeben146, wurde von vielen seiner Zeitgenossen geteilt.147 Auf der anderen Seite erlebten freischaffende Künstler und andere außerhalb seines Patronagesystems stehende Akteure Rive vielfach als unzugänglichen Eigenbrötler, der eifersüchtig einmal »eroberte« Einflussbereiche verteidigte.148 Die Leidenschaft, mit der Rive den 144 Vgl. VB vom 01.08.1919, Nr. 178. 145 Vgl. StH, A 2.44 Nr. 3 Bd. 11, Stadtverordnetenversammlung vom 17.09.1928. 146 N. N., Allgemeines, darin: Begrüßungsansprache Emil Utitz’, S. 12. 147 Sowohl Max Sauerlandt als auch Alois Schardt, beide Direktoren des von Rive zu einem Zentrum seiner Kunstpolitik erhobenen städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe, lobten Rive als Initiator öffentlicher Kunstförderung. Vgl. Sauerlandt, Halle a. S., S. 209/210; Schardt, Stadtbild (Der rote Turm 12), S. 57. – Auch Paul Frankl, der ab 1920 als Professor für Kunstgeschichte in Halle lehrte, wertete den Beitrag der »städtischen Behörden« für die »Lebendigkeit des Strebens auf allen Gebieten der Kultur« als maßgeblich. Vgl. Frankl, Physiognomie, S. 33. 148 Unter dem Kürzel H. L. urteilte ein Autor über Rives Kunstpolitik: »Die künstlerische Seite, die er zu terrorisieren entschlossen ist, gehört kaum in die Hände eines Oberbürgermeisters …«, DW vom 16.08.1924, Nr. 95.
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Fortgang der Kunstentwicklung verfolgte, prägte seine Kunstpolitik in positiver und negativer Hinsicht. Während sein Engagement vor dem Ersten Weltkrieg half, eine innovative Kunstpolitik zu etablieren, stand sie vor allem nach 1918 neuen Entwicklungen in einem demokratisierten Umfeld und differenzierten Kunstsystem im Weg.
2.2.2 Rive als Gegner der freien städtischen Künstlerschaft – der Bau einer Stadthalle Schon bevor die Künstler selbst Kritik an der einseitigen und autoritativen Kunstpolitik übten, zeigte sich Rive in seiner Geringschätzung der HaaßengierStiftung, die Stipendien an angehende hallesche Künstler vergab, der lokalen Kunstszene gegenüber wenig zugänglich.149 Auch als nach dem Ersten Weltkrieg eine zunehmend größere Künstlerszene Anspruch auf öffentlich-städtische Förderung erhob, blieb er reserviert. Nach finanziellen Zugeständnissen im Rahmen der Künstlernotstandshilfen, die der veränderten parteipolitischen Zusammensetzung der Stadtverordnetenversammlung und dem energischen Auftreten Knauthes zu verdanken waren, kühlte sich das Verhältnis zwischen Rive und der halleschen Künstler- und insbesondere Architektenschaft im Streit um die öffentliche Ausschreibung des Stadthallenbaus weiter ab. Im Verlauf des Betrachtungszeitraumes kam es im öffentlichen Bauwesen mehrfach zu Konflikten zwischen der städtischen Baubehörde und der Öffentlichkeit. Insbesondere freie Architekten, bildende Künstler und Intellektuelle stießen sich sowohl an den ästhetischen Prämissen des städtischen Bauwesens als auch an seiner marktmäßigen Dominanz. Der Bereich der Architektur, die mit dem städtischen Hochbauamt fester Bestandteil der städtischen Selbstverwaltung war, wurde im Verlauf des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts zu einem umkämpften Einflussbereich. Mit dem »Ausschuss zur Beratung in künstlerischen Fragen«, »dessen Aufgabe es sein sollte, zu künstlerischen Fragen von öffentlichem Interesse in aufklärendem und bewertendem Sinne Stellung zu nehmen«150, geriet das städtische Bauwesen erstmals in weithin wahrnehmbare öffentliche Kritik. Dem 1908 als Ableger des Kunstgewerbevereins gegründeten Ausschuss gehörten die namhaften halleschen Architekten und Mitglieder des BDA Franz Wilhelm Adams, Friedrich Kallmeyer und Gustav Wolff sowie die Professoren für Kunstgeschichte Wilhelm Waentig und Adolph Goldschmidt an. Nachdem sich der Ausschuss bereits zur Erhaltung des Stadtgottesackers geäußert und Anfragen verschiede 149 In einem Brief vom Dezember 1919 schrieb Haaßengier: Das »Oberhaupt der Stadt« habe durch die »häßliche Herabwürdigung meiner … Haaßengier-Stiftung« die zusätzliche finanzielle Ausstattung der Stiftung zugunsten der Kunsthandwerker unmöglich gemacht. StH, A 2.3 Nr. 131, Bl. 38. 150 StH, A 6.3.1. KUNG Nr. 179.
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ner Städte und Amtspersonen bearbeitet hatte, wurde der von der Stadt vorgesehene Um- bzw. Neubau auf dem Gut Gimritz zu einem dauerhaften und intensiv beobachteten Streitpunkt. Die Kritik, die sich besonders an der Wahl des Materials sowie der Architekturform entzündete, wurde unter dem Schlagwort des Heimatschutzes formuliert. Der an den städtischen Magistrat, dem das Hochbauamt unterstand, gerichtete Protest wurde durch prominente Architekten, Künstler und Kunsttheoretiker unterstützt. Neben anderen bekräftigten Alfred Lichtwark und Paul Schultze-Naumburg, denen vom Ausschuss sowohl der städtische als auch ein von ihnen erarbeiteter Alternativentwurf zugesandt wurde, die Kritik. Die eingesandten Reaktionen auf den Magistratsentwurf stellten ganz allgemein die Befähigung städtischer Verwaltungsbehörden für städtebauliche Aufgaben infrage. Der Ausschuss versuchte durch Mitteilungen in halleschen Tageszeitungen sowie eine Broschüre die Bevölkerung für Fragen öffentlicher Bauaufgaben zu sensibilisieren und breite Unterstützung zu finden. Parallel bemühte sich die Initiative auch um politischen Beistand, indem sowohl die Stadtverordnetenversammlung als auch das Ministerium für öffentliche Angelegenheiten vom Ausschuss ersucht wurden, die Baumaßnahmen kritisch zu überprüfen. Schließlich präsentierte der Magistrat infolge der vielfachen Beanstandungen und der vom Ausschuss mobilisierten politischen und öffentlichen Wachsamkeit einen überarbeiteten Entwurf. Das im Fall des Gutes Gimritz von der Stadt selbstverständlich in Anspruch genommene Baurecht wurde aufgrund ästhetischer Bedenken durch fachkundige Beobachter gebremst. Im Zentrum des in den zwanziger Jahren kulminierenden Streits um den Bau einer Stadthalle stand dann generell die Entscheidungshoheit der Stadtverwaltung in öffentlichen Bauaufgaben. Es wurde um die Teilhabe der Öffentlichkeit an städtebaulichen Entscheidungen sowie ihre öffentliche Ausschreibung gerungen. Noch vehementer als in der Affäre um Gut Gimritz wehrte sich allen voran Rive dagegen, Entscheidungsgewalt abzugeben und freie Künstler und Architekten in die Planung und Ausführung öffentlicher Bauaufgaben einzubeziehen. Wilhelm Jost, der 1912 zum Stadtbaurat für den Hochbau von der Stadtverordnetenversammlung gewählt wurde,151 widmete sich in den ersten Jahren nach seiner Ankunft vor allem größeren öffentlichen Bauaufgaben. Während vor Josts Amtsantritt prestigeträchtige, der halleschen Bevölkerung zugeeignete Bauten auch öffentlich ausgeschrieben und Entwürfe frei arbeitender Architekten prämiert und angekauft wurden, erledigte der neue Stadtbaurat Bauaufgaben vorwiegend amtsintern. Damit stellte er sich in die Tradition der 151 Neben zwei anderen Kandidaten wurde Wilhelm Jost von Rive empfohlen, durch eine Kommission der Stadtverordnetenversammlung begutachtet und zur Wahl durch das städtische Parlament vorgeschlagen. Vgl. Rive, Lebenserinnerungen, S. 109 ff. Für die Reform der städtischen Verwaltung behielt sich Rive als Dezernent der Personalien die Überwachung und Umgestaltung der städtischen Beamtenschaft und ihrer Anstellungsbedingungen vor. Vgl. ebd., S. 113.
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im Kaiserreich begründeten Verwaltungsstrukturen, die den Ersten Weltkrieg überdauert hatten. Die städtischen Hochbauämter beschäftigten selbst oft namhafte Architekten und verfügten über einen eigenen Planungsstab.152 Darüber hinaus regulierten die von der Stadt erlassenen Baupolizeiordnungen und die darüber wachende Baupolizei das Schaffen der privaten Architekten und trugen zu einer konfrontativen Beziehung zwischen Stadt und freien Architekten bzw. Künstlern bei.153 Die so produzierte Intransparenz war mitverantwortlich für den um die Mitte der zwanziger Jahre eskalierenden Streit um den Bau einer Stadthalle. Die Allianz der Akteure, die verhindern wollten, dass Planung und Umsetzung einer Stadthalle unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der freien Architektenschaft erfolgte, umfasste sowohl den Bund Deutscher Architekten (BDA), den Wirtschaftsverband hallescher Künstler als auch den Kunst- sowie den Kunstgewerbeverein. Der BDA war mit seinem Vorsitzenden Cornelius Gurlitt ein Hauptakteur der Auseinandersetzung mit dem städtischen Magistrat, der durch Rive und Jost vertreten wurde. Die Idee zum Bau einer Stadthalle reichte zurück in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg und wurde 1924 durch Jost wieder aufgegriffen, der eine öffentliche Ausschreibung ablehnte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatten sich hallesche Künstler und Architekten unter den politisch turbulenten Bedingungen und wirtschaftlicher Not in Organisationen zusammengeschlossen und die Vertretung ihrer Interessen, auch gegenüber politischen Akteuren, bereits erprobt. Das nicht nur infrastrukturell, sondern vor allem gesellschaftspolitisch bedeutsame Projekt der Stadthalle sollte keinesfalls den Stadtarchitekten vorbehalten bleiben und unter Ausschluss der Öffentlichkeit entwickelt werden. In einer Versammlung der genannten Verbände am 25. Juni 1924 forderten sie in einer Resolution, »… daß die Planung der Stadthalle zum Gegenstand eines Wettbewerbes gemacht wird, der 1. die Platzfrage nach städtebaulichen Rücksichten eingehend zu klären und 2. die Erfordernisse einer modernen Stadthalle an der Hand eines weitherzigen Programms in künstlerischer Form zu umschreiben hat.«154 152 Vgl. Fuhrmann, Stadtkrone, S. 25. Jost griff auf Entwürfe seines Amtsvorgängers Gustav Zachariae zurück, die er entweder leicht überarbeitet oder aufgrund ästhetischer und ingenieurtechnischer Mängel ganz verwirft. Homagk berichtet in seinem Porträt über das Schaffen Josts in Halle, dass Rive Zachariae aufgrund fehlenden Sachverstandes bewusst von drängenden Bauaufgaben abgehalten habe. Jost errichtete ein neues Sparkassengebäude, das erste hallesche Hallenbad, Fürsorgeeinrichtungen sowie den Gertraudenfriedhof. Vgl. Homagk, »Gebaut habe ich genug«, S. 12–35. 153 Johannes Hage lobte einerseits die städtische Kunstpolitik, warnte andererseits aber vor kleinlichen Eingriffen in die künstlerischer Gestaltungsfreiheit der freien Architekten. Vgl. Hage, Baupolizei, S. 4–5. 154 Gurlitt, Kunstverwaltung, S. 200.
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Die versammelten Künstler, Architekten und Stadtbürger verbanden mit ihren Forderungen in Bezug auf den Stadthallenneubau, dass das städtische Bauwesen insgesamt neu zu strukturieren und »das gekennzeichnete Verfahren in Zukunft auf alle namhaften Bauten der Stadt«155 anzuwenden sei. Rive und Jost, die die Offensive ignorierten, schürten mit ihrem Verhalten den Konflikt und wurden in der Folge in öffentlichen, auch überregional publizierten Medien persönlich das Ziel verbaler Angriffe: »Die eigenbrötlerische Methode der beiden Herren [Rive und Jost, I. S.-W.], die beispiellose Mißachtung, mit der jede Äußerung aus der Oeffentlichkeit übergangen wurde, hat, so fühlt man, dahin geführt, daß das Interesse für das Projekt, das einmal aufgeflammt war, erlahmt. … In den Dampfwolken des oeffentlichen Geschwätzes gedenkt die Kompagnie weiter zu handeln. Vielleicht entwickelt sich daraus auch Zahlungslust, denn das ist die Hauptsorge. Und das ist das einzige Recht, das der Oeffentlichkeit zugestanden wird: zahlen. Alles andere wird mit unnachahmlicher Geste beiseite geschoben; ….«156
Wie schon im Fall der Umbaupläne für das Gut Gimritz wandte sich die Initiative an die Stadtverordnetenversammlung. Mit schriftlicher Unterstützung durch anerkannte Sachverständige157 forderten sie das Gremium auf, das Vorhaben des Magistrats nochmals zu prüfen, und hofften, auf diese Weise doch noch auf die Planung und Realisierung des Stadthallenprojektes Einfluss nehmen zu können.158 Ohne dass die inhaltlichen Einwände diskutiert worden seien, hätten daraufhin Stadtrat und Stadtverordnetenversammlung entschieden, »daß die Stadthalle – lediglich um die Stellung des Stadtbaurats nicht zu beeinträchtigen, – allein vom städtischen Hochbauamt richtig und gut gebaut werden könne.«159 In der kommunistischen Zeitung »Das Wort« missbilligte H. (vermutlich Johannes Hage, Syndikus des Wirtschaftsverbandes bildender Künstler Halle) die Ignoranz gegenüber der halleschen Künstlerschaft und den Umgang mit der Öffentlichkeit, die er durch das Verhalten von Rive und Jost betrogen sieht. Der Autor schließt seine Darstellung des Falls mit der Bemerkung, dass »Die künstlerische Seite … kaum in die Hände eines Oberbürgermeisters«160 gehöre. Cornelius Gurlitt, der als Vorsitzender des BDA das Protestschreiben mit 155 Ebd. 156 DW vom 16.08.1924, Nr. 24. 157 Die von den halleschen Künstlerverbänden verfasste Eingabe wurde unterzeichnet von Otto Bartnig, Adolf Behne, Walter Curt Behrendt, Paul Fechter, Prof. Gerstenberg, Cornelius Gurlitt, Hugo Häring, Prof. Paul Mebes, Erich Mendelsohn, Max Osborn, Prof. Heinrich Straumer, Paul Westheim. OB Rive kritisierte die Unterstützung durch die auswärtigen Unterzeichner, die die hallesche Situation nicht hinreichend kennen würden. Vgl. Hage, Bau der Stadthalle, S. 18/19. 158 Vgl. ebd., S. 17–29. 159 Vgl. ebd., S. 19/20. 160 DW vom 16.08.1924, Nr. 95.
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verfasste, bemühte sich um eine persönliche Aussprache mit Rive. Nach einem unbeantworteten Schreiben empfing ihn Rive schließlich – wie sich Gurlitt erinnert – »mit der Zurückhaltung, die lästigen Bittstellern gegenüber üblich ist.«161 Gurlitt schildert in der Baugilde (Presseorgan des BDA), dass der Oberbürgermeister zu Verhandlungen mit den Verfassern der Eingabe und insbesondere den im BDA organisierten Architekten nicht bereit sei. Außerdem habe sich die hallesche Künstlerschaft für jede Beteiligung am Stadthallenprojekt disqua lifiziert, weil sie versucht hätte, ihn zu erpressen, so Rive gegenüber Gurlitt.162 Nach Aussage Gurlitts beharrte Rive darauf, dass das künstlerisch-städtebauliche Antlitz allein in der Verantwortung des Stadtbaurates liege und freie Architekten keinerlei Anspruch auf eine Beteiligung daran hätten.163 Die ergebnislose Intervention wurde in einer linken halleschen Tageszeitung mit Spott begleitet, weil die halleschen Künstler mit dürftiger Entschlossenheit aufgetreten seien, die dem »entschlossenen Willen zur Diktatur der hallischen Stadtleitung« nichts anhaben könne: »Wenn der Oberbürgermeister wieder einmal fragen sollte, wo denn die hallischen Künstler sind: im ›Neumarktschützenhaus‹ bei hellem Bier und Resolutionen! Seine Wirksamkeit ist in höchstem Grade verderblich und wenn unter seiner Aegide mehr solche Dinge entstehen, wie das Transformatorenhaus am Hallmarkt, wird er sich über Generationen hinaus in den Verruf einen Mannes bringen, der aus selbstischen Gründen, persönlicher Machtlust mit dem Gut schöpferischer Begabung, das ihm die Zeit entgegenbrachte, nicht umzugehen gewußt hat. Trotzdem ist er sympathischer als die Figur, die die hallische Künstlerschaft in dieser Versammlung gespielt hat.«164
Berücksichtigt man, dass das Stadthallenprojekt 1927 vom Magistrat doch öffentlich ausgeschrieben wurde und lokale sowie überregional bekannte Architekten und Künstler Entwürfe vorlegten, erscheint die im Wort erschienene Persiflage auf die Initiative ungerechtfertigt. Die Besetzung der Jury mit Rive und dem Stadtbaurat sowie einem externen Fachmann offenbart jedoch, wie wenig Bereitschaft die Stadt zeigte, andere Einflüsse gelten zu lassen.165 Das Projekt wurde schließlich aufgrund wirtschaftlicher Krisen und der bleibenden Unsicherheit über den Bauplatz nicht realisiert. Trotzdem war es ein wichtiger Katalysator in der Diskussion um die Machtverteilung in Fragen des Städte 161 Gurlitt, Kunstverwaltung, S. 200. 162 Nach der Schilderung Gurlitts wurden die Künstler aufgefordert an der Gestaltung eines Stadtfestes mitzuwirken. Diese wollten wiederum nur zusagen, wenn sie beim Bau einer Stadthalle berücksichtigt werden würden. Vgl. ebd. 163 Gurlitt zitierte Rive: »Alles, was die Stadt zu bauen hat, muß vom Stadtbaurat erledigt werden.« Vgl. ebd. 164 DW vom 28.06.1924, Nr. 74. Unter dem Pseudonym Ls. werden im Wort vor allem Rezensionen von Theaterstücken am halleschen Stadttheater veröffentlicht. 165 Vgl. Homagk, »Gebaut habe ich genug«, S. 43/44.
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baus. Indem sich die freien Künstler und Architekten in dieser Angelegenheit organisierten, forderten sie autokratisch auftretende Amtspersonen heraus und gewannen für die Kunst und die Öffentlichkeit an Einfluss gegenüber der politischen Sphäre.
2.2.3 Kommunalpolitische Präsenz der halleschen Künstlerschaft in den zwanziger Jahren In der politisch turbulenten Nachkriegszeit, in der die Weimarer Republik gegründet wurde und das monarchische System des Kaiserreichs ablöste, blieben die Strukturen der städtischen Selbstverwaltung bestehen. Der in Halle gegründete Arbeiterrat arbeitete mit den etablierten Institutionen der Stadtverordnetenversammlung und dem von Rive geführten städtischen Magistrat zusammen. Für Rive, seit 1916 Mitglied der Deutschen Vaterlandspartei, gestaltete sich die Zusammenarbeit mit der Stadtverordnetenversammlung, die nach der Neuwahl im April 1919 von der USPD dominiert wurde und sich politisch weiter radikalisierte, jedoch zunehmend schwierig. Zwar nahm deren Stärke zugunsten der KPD schon in den Folgejahren stark ab (1919: 27, 1920: 17; 1921: 2), die politischen Gegensätze zwischen rechts und links – die auch die Auseinandersetzungen im öffentlichen Raum prägten – bestimmten aber weiterhin die Arbeit des städtischen Parlamentes.166 Diese parteipolitischen Spannungen bildeten den Hintergrund einer neuen Phase städtischer Kunstpolitik, die geprägt war durch politische Präsenz der halleschen Künstlerschaft. Der Weltkrieg und die auf ihn folgende Novemberrevolution hatten als Katalysator auf die Künstler eine politisierende Wirkung entfaltet. Sie schlossen sich in Interessenverbänden zusammen und wandten sich unter dem Eindruck gesellschaftsutopischer Zukunftsvorstellungen und drängender wirtschaftlicher Probleme lokalen und staatlichen Regierungsstellen zu. In Halle war Martin Knauthe, der ab 1919 als Vertreter der USPD bzw. ab 1920 der KPD in der Stadtverordnetenversammlung saß, ein zentraler Akteur, der sowohl innerhalb der künstlerischen als auch der politischen Sphäre aktiv war. Als Lokalpolitiker engagierte er sich für die Belange der halleschen Künstler und brachte in der Stadtverordnetenversammlung mehrfach Anträge zu ihrer Unterstützung ein. Als Mitglied der Hallischen Künstlergruppe, die in ihrem Manifest für die Künstler eine staatstragende Rolle und ihre Entlohnung aus öffentlichen Mitteln einforderten, als Vorsitzender des Hallischen Künstlerrates, der die ökonomischen Interessen aller halleschen Künstler vertrat und nicht zuletzt als selbstständig arbeitender Architekt (ab 1919) war Knauthe aus eigenem Erleben mit den Nöten der Künstlerexistenz und ihren drängendsten
166 Vgl. Schmuhl, Halle in der Weimarer Republik, S. 239 ff.; Verwaltungsbericht 1919 und 1920, S. 3–5.
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Bedürfnissen vertraut.167 Im ersten Jahr seiner Wahl zum Stadtverordneten 1919 bewilligte die Stadt im Rahmen der Künstlernotstandshilfen 100.000 Mark. Laut Protokoll der Stadtverordnetenversammlung vom 4. August 1919 wurde der Magistrat »ersucht, nach dem Beispiele andere Grossstädte Massnahmen zu ergreifen, die der großen wirtschaftlichen Not der gesamten halleschen Künstlerschaft (Maler, Bildhauer, Architekten, Schriftsteller u. a.) in umfassender Weise abhelfen.« Beschlossen wurde zudem, dass ein gesonderter Ausschuss, besetzt mit drei Magistratsmitgliedern, vier Stadtverordneten und drei freien Künstlern, die »Hilfsaktion« vorbereiten und durchführen sollte.168 Der von der USPD eingebrachte Antrag wurde schließlich gegen eine große Opposition im Haushaltsausschuss bewilligt, nachdem Rive in einer längeren Rede seine Skepsis darüber zum Ausdruck gebracht hatte, dass die bereitgestellten Mittel allein halleschen Künstlern zugutekommen sollen: »Was den heutigen Antrag anlangt, so begrüße ich ihn zwar, aber ich habe auch ernste Bedenken; denn der Antrag birgt die Gefahr, daß uns nur mittelmäßige Kunst geboten wird, da die Arbeiten nur an hiesige Künstler vergeben werden sollen. … Auch gegen die Mittelbewilligung in der jetzigen Zeit sind wegen der zu erwartenden Verarmung große Bedenken vorhanden.«169
Wie bei einigen anderen Gelegenheiten auch sprach sich Rive gegen die explizite Förderung lokalen Kunstschaffens aus. Stattdessen betonte er sein kunstpolitisches Prinzip, das sich an der nationalen Avantgarde orientierte und Halle zu einem weithin wahrnehmbaren Hort der künstlerischen Moderne machen wollte. In seiner Kunstpolitik maß er der regionalen Kunstproduktion, die der einheimischen Bevölkerung durch Adaption den avantgardistischen Formenkanon näherbringen konnte, keine Bedeutung bei. Für Rive galt die breite, zumal lokal orientierte Kunstförderung nicht als öffentliche Aufgabe. Der Hallische Künstlerrat bekräftigte mit seiner Gründung am 14. August 1919 die an den Magistrat ergangene Forderung nach Bewilligung von Künstlernotstandshilfen. Er erhob Anspruch darauf, bei der Verteilung der Mittel mitbestimmen zu können, sowohl was die Bedürftigkeit als auch die künstlerische Qualität der Antragsteller anging. In einer Denkschrift legte der Künstlerrat seiner Vorstellung nach geeignete Arbeitsfelder dar.170 Aus der bewilligten Gesamtsumme wurden auch zwei größere Projekte verwirklicht. In einer Hallischen Kunstausstellung, die von einer »Kunstausstellungs-Zeitung« begleitet wurde, präsentierten sich die im Künstlerrat zusammengeschlossene Hallische 167 Vgl. Stadtmuseum, S III 4531. 168 Vgl. StH, Kap. VII, Abt. IV, N. 3, Band VI. 169 SZ vom 03.08.1919, Nr. 359 (Morgen-Ausgabe). 170 Vgl. SZ vom 18.08.1919, Nr. 384 (Abendausgabe); Denkschrift des Hallischen Künstlerrates über die Künstler-Notstandsarbeiten, in: Stadtmuseum, S III 4531; VB vom 01.08.1919, Nr. 178.
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Künstlergruppe, der Künstlerverein auf dem Pflug sowie die Ortsgruppe Halle des BDA der halleschen Öffentlichkeit. Knauthe dankte in seiner Eröffnungsrede der Stadtverordnetenversammlung und dem Magistrat für ihre Unterstützung.171 Mit 25.000 Mark Ausstattung wurde ein großer Teil der Mittel zur Nothilfe für die Ausschreibung eines Architekturwettbewerbs aufgewandt. Der Wettbewerb sammelte Ideen für die Bebauung des Roßplatzes mit einem Volkshaus – Knauthe hatte diesen Bautyp gegenüber den anderen Parteien im Haushaltsausschuss verteidigt und die Ausschreibung schließlich durchgesetzt. Von den 18 eingesandten Beiträgen hallescher Architekten wurden einige von einer prominent besetzten Jury (u. a. Bruno Taut, Hans Poelzig) prämiert.172 Knauthe, der selbst 1914–16 als Angestellter des städtischen Hochbauamtes gearbeitet hatte und unter Jost am Bau des Stadtbades, am Innausbau des Gertraudenfriedhofs sowie am Umbau des Rathauses beteiligt gewesen war, geriet zunehmend in Frontstellung zu der von OB Rive und Stadtbaurat Jost betriebenen städtischen Baupolitik. Er spielte in der sich 1924 zuspitzenden Auseinandersetzung um die öffentliche Ausschreibung des Stadthallenprojektes eine prominente Rolle.173 Als Stadtverordneter war Knauthe in zahlreichen Deputationen vertreten und überall zu finden, wo in Ausschüssen auch künstlerische Angelegenheiten verhandelt wurden: so im Kuratorium der Handwerker- und Kunstgewerbeschule, der Museumsdeputation, des künstlerischen Beirates der Baupolizeibehörde, der Baudeputation und des Theater-Ausschusses. Vor dem Hintergrund seiner praktischen Ausschusstätigkeit forderte er, dass freie Künstler durch Mitarbeit in den Deputationen an der städtischen Selbstverwaltung teilhaben müssten, und stellte am 1. Dezember 1919 einen dahingehenden Antrag an den städtischen Magistrat.174 Bis zu seinem Ausscheiden aus dem Stadtparlament 1924 vertrat Knauthe punktuell sehr wirkungsvoll die Interessen der halleschen Künstlerschaft und schaffte es, kurzfristig städtische Mittel für ihre Unterstützung gegen politische Widerstände freizumachen. Für sein weitreichendes Ziel, die Künstler auch längerfristig in die lokale Politik einzubinden bzw. den freien Künstlern der Stadt mehr Anerkennung durch öffentliche Körperschaften zu sichern, nutzte er sein politisches Amt und seine Stellung im Kunstsystem gleichermaßen: Indem er den halleschen Künstlerrat zur rechten Zeit installierte, um den Künstlern die Hoheit über die Vergabe der Notstandsarbeiten zu sichern, transferierte er Macht aus dem politischen ins künstlerische System.
171 Vgl. Knauthe, Dank bei der Ausstellungs-Eröffnung, S. 2. Die Stadt gewährte einen Zuschuss von fünfzehntausend Mark. Vgl. StH, A 2.44 Nr.3 Bd. 5. 172 Vgl. Fuhrmann, Stadtkrone, S. 29/30. 173 Vgl. Stadtmuseum, S III 4535; Knauthe, Formen oder umformen?, S. 20–21. 174 Vgl. Stadtmuseum, S III 4531.
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Fazit Die in drei Aspekten beleuchtete Genese der städtischen Kulturpolitik erlaubt vor allem einen Blick auf das machtpolitische Gefüge, das die Entwicklung des lokalen Kunstsystems beeinflusste. Voraussetzung für die gegenseitige Beeinflussung zwischen Lokalpolitik und Kunstsystem war die, anfangs zaghafte175, Integration des Kulturbereichs in städtisches Verwaltungshandeln. Das kommunalpolitische Engagement im Kunstbereich wuchs schlagartig mit dem Amtsantritt Rives und war sowohl seinem persönlichen Interesse als vor allem auch seiner Breslauer Erfahrung mit den Potentialen städtischer Kulturpolitik zu verdanken. Rive konzentrierte seine Kunstpolitik im Wesentlichen auf zwei Institutionen, von deren Entwicklung er sich den höchsten Prestigegewinn und die meiste überregionale Strahlkraft versprach. Trotz der weitreichenden Entscheidungsbefugnis und Unterstützung, die er den von ihm installierten Führungskräften gewährte, war die enge persönliche Bindung zu ihnen und die institutionelle Abhängigkeit von seiner Gunst ein mächtiges Kontrollinstrument. Während seiner Amtszeit wehrte sich Rive dauerhaft, die freie Künstlerschaft der Stadt in öffentliche Angelegenheiten einzubeziehen und damit seinen Einflussbereich zu beschränken. Rives Kunstverständnis erscheint dabei durchaus widersprüchlich, da sein kunstpolitisches Handeln vor allem am Imagewert der Kunst interessiert war. Insofern förderte er indirekt avantgardistische Positionen im Kunstsystem. Obwohl er gegenüber dem Stadtparlament behauptete, die Demokratisierung der Kunst unterstützt zu haben, war ihm die Förderung der freien Kunstszene nie ein ernsthaftes Anliegen. Stattdessen beschränkte er sich auf die »Leuchttürme« dezidiert kommunalpolitisch institutionalisierter Projekte und bemühte sich den Einfluss der politisch nicht kontrollierbaren freien Künstler zu behindern. Mit der Verschiebung der politischen Machtverhältnisse in der Kommune nach Kriegsende schwand Rives absolute Vorherrschaft in der städtischen Kunstpolitik. Zum einen war es der Person Knauthes zu verdanken, dass die städtische Künstlerschaft kunstpolitisch berücksichtigt wurde. Andererseits entwickelten Akteure jenseits des politischen Feldes schon zuvor Instrumente dafür, sich bei der politischen Sphäre Gehör zu verschaffen: Um ihre Interessen wirksam gegenüber Lokalpolitikern vertreten zu können, schlossen sich Kunstschaffende und andere Vertreter des Kunstsystems zusammen und verfassten gemeinsame Stellungnahmen. Sie verliehen ihren Positionen Nachdruck, indem sie über Publikationen, Zeitungsartikel und Veranstaltungen eine weitere Öffentlichkeit aktivierten, das städtische Verwaltungshandeln in die 175 Gerade dem städtischen Kunstmuseum wurden von der Stadt anfänglich nur geringe Ressourcen zugeteilt. Erst das große öffentliche Interesse veranlasste die städtische Verwaltung dem Museum mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Siehe Kap. III., 2.1.
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sem Bereich nun genauer zu beobachten. Nicht zuletzt versicherten sie sich der Unterstützung überregional angesehener Kunstexperten und verwiesen damit empfindlich auf die beschränkte Expertise systemfremder Akteure. Gerade die Konflikte zwischen kommunalpolitischen Vertretern und davon unabhängigen Künstlern festigten das Selbstbewusstsein der halleschen Künstlerschaft und beleuchten die lokale Kunstlandschaft in ihrem Prozess der Autonomisierung.
2.3 Private Stiftungen in kommunalpolitischem Gewand – alte und neue Formen bürgerlichen Mäzenatentums 2.3.1 Bürgerliches Mäzenatentum im Anschluss an das städtische Museum für Kunst und Kunstgewerbe – bürgerliches Selbst- und Kunstverständnis der Reinhold-Steckner-Stiftung Mit dem expandierenden und differenzierter werdenden Kunstsystem, das im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts weitere wichtige Impulse erhielt, trat der Typ des bürgerlichen Mäzens in den Vordergrund. Durch Universitätsangehörige und andere Verwaltungseliten importiertes Gedankengut traf auf eine gönnerhafte bürgerliche Elite, die durch den wirtschaftlichen Aufschwung der Stadt in den letzten Jahrzehnten zu Reichtum gekommen war. Einige Angehörige dieser schmalen Schicht des gehobenen (Wirtschafts-)Bürgertums verschrieben sich und einen Teil ihres Vermögens der Förderung der bildenden Kunst. Abgesehen von ihrer Tätigkeit als private Kunstsammler stifteten hallesche Bürger größere Summen oder Kunstwerke für den Ausbau der städtischen Kunstsammlung oder die Unterstützung bildender Künstler.176 Über viele Jahrzehnte im 19. Jahrhundert dominierte das Modell der Künstlerförderung im Rahmen des bürgerlichen Vereinswesens. Trotz des an sich uneigennützigen Ziels, zeitgenössischen Künstlern zu Bekanntheit und Verkaufsmöglichkeiten zu verhelfen, war das persönliche Interesse der Mitglieder ein zentrales Motiv, das durch die Aussicht auf einen Gewinn im Losverfahren befriedigt werden sollte. Diese korporative Form der Kunstförderung wurde mit der Eröffnung des Städtischen Kunstmuseums in eine der Öffentlichkeit gewidmete, uneigennützige Form bürgerlichen Kunstengagements überführt.177 Seit der Gründung des städtischen Museums wandten ihm zahlreiche hallesche Bürger monetären oder materiellen Besitz zu. Der zur Jahrhundertwende publizierte Museumsbericht liest sich über weite Teile als Auflistung aller an das Museum ergangener Schenkungen, die am Anfang im Wesentlichen überhaupt den Bestand der Sammlung bildeten. Franz Otto würdigte die privaten Schenkungen als 176 Gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte das private Sammlertum einen enormen Aufschwung. Vgl. Mai / Paret, Mäzene, Sammler und Museen, S. 4. 177 Vgl. Statuten des Kunst-Vereins.
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unverzichtbare Stütze der Institution und markierte bürgerliche Stiftungen auch für die Zukunft als wesentliches Instrument der Sammlungspolitik. Da der aus öffentlichen Mitteln bereitgestellte Museumsetat gerade ausreichte, um den laufenden Betrieb aufrechtzuerhalten, gründeten hallesche Bürger 1898 einen Museumsverein, um Geld für eine gezielte Erweiterung der Sammlung zusammenzutragen. Die vierzig Mitglieder brachten gemeinsam etwa 1.000 Mark zusammen. Franz Otto, ehrenamtlicher Kurator des Museums, beklagte, »dass es immer nur dieselben Personen sind, auf welche bei einem Appell an die Allgemeinheit zu rechnen ist« – »Immerhin … ein Anfang zum Fortschritt« sei gemacht.178 Der Museumsverein unter Vorsitz des Ersten Bürgermeisters Staude fand eine erfolgreichere Fortsetzung unter Max Sauerlandt. Die 1911 gegründete Museums-Gesellschaft erinnert an den zur Jahrhundertwende aktiven Museumsverein, dem seinerzeit größere Wirkung versagt blieb. Zur Gründungssitzung fanden sich führende Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Neben dem Oberbürgermeister und diversen Geheimräten verzeichnete die Anwesenheitsliste die Bankiers Emil und Kurt Steckner, den Großkaufmann Karl Haenert und drei Professoren, darunter Adolph Goldschmidt. Offenbar verfügte Max Sauerlandt bereits wenige Jahre nach seinem Amtsantritt über Kontakte in die hallesche Oberschicht. 1913 trat das Bankiersehepaar Haaßengier, das sich mit der Vergabe von Stipendien an hallesche Künstler bereits in der öffentlichen Kunstförderung engagierte, der Gesellschaft bei. Zum Zweck des Ankaufs von Kunstwerken für das Museum erhob die Gesellschaft einen Mitgliedsbeitrag von jährlich 100 Mark und verlieh für 5.000 Mark die lebenslange Mitgliedschaft. Neben Erwerbungen und der Vermittlung von Schenkungen für das städtische Museum wurden »Fragen der öffentlichen und privaten Sammeltätigkeit (Kunstversteigerungen, Stimmung des Kunstmarktes, Fälschungsfragen) innerhalb des Kreises der Mitglieder« diskutiert.179 Die zur Weiterbildung angebotenen Vorträge von Sauerlandt und Goldschmidt hätten jedoch nur wenige besucht. Die knappgehaltenen Geschäftsberichte lassen vermuten, dass die Museumsgesellschaft vorrangig für den Erwerb von Kunstwerken für die Museumssammlung genutzt wurde. Die Vereinseinnahmen aus den Mitgliedsbeiträgen – die Zahl der Mitglieder stieg vor Kriegsbeginn auf über fünfzig – ermöglichten Sauerlandt Ankäufe im Wert von 5.000 Mark (1912) bzw. 5.900 Mark (1913). Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung in der Museumskommission um den Ankauf von Werken Emil Noldes erwartete Sauerlandt von den Gesellschaftsmitgliedern Aufgeschlossenheit gegenüber der 178 Otto, Städtisches Museum, S. 28. 179 § 1 der Statuten bestimmte den Zweck der Gesellschaft folgendermaßen: »Die Museums-Gesellschaft in Halle a. S. mit dem Sitz in Halle bezweckt die Förderung des städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe in Halle a. S. Sie will zugleich die private Sammeltätigkeit und das Kunstinteresse im allgemeinen fördern. …«. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Museums-Gesellschaft.
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zeitgenössisch-modernen Kunst. Im Geschäftsbericht zum Jahr 1913 formuliert er im Namen des Vorstandes: »Wenn der Vorstand auch bisher im Prinzip davon abgesehen hat, aus Mitteln der Gesellschaft Ankäufe moderner Kunstwerke zu bewirken, bei denen erfahrungsgemäß die Werturteile zumeist weit auseinandergehen, glauben wir bei unseren Mitgliedern doch ein Interesse auch für die Entwickelung des modernen Kunstbesitzes unserer Stadt voraussetzen zu dürfen.«180
Die Einberufung Sauerlandts zum Militärdienst und der Erste Weltkrieg mit folgender Inflation und Wirtschaftskrise in den zwanziger Jahren bedrohte die auf Geldakkumulation zielende Gesellschaft existenziell. Ab 1925 wurden keine Mitgliedsbeiträge mehr erhoben und bei ihrer Löschung aus dem Vereinsregister 1929 zählte die Gesellschaft nur noch drei Mitglieder.181 Ab den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts spendeten hallesche Bürger immer wieder größere Summen mit dem Ziel, dem »mit zu geringen Mitteln und ungeeigneten Räumen ausgestatten Institut« den Umzug in ein eigens für Museumszwecke eingerichtetes Gebäude zu ermöglichen. Die Erben des 1892 verstorbenen Stärkefabrikanten Johann Albert Schmidt, der in seinen letzten Lebensjahren starkes Interesse an der Entwicklung des Museums zeigte, richteten zuerst eine Stiftung für den »Bau eines Kunstmuseums« ein. Die mit über 60.000 Mark Kapital ausgestattete Stiftung wurde 1905 und 1906 durch weitere Großspenden ergänzt, die den Um- bzw. Ausbau der Museumsräume in der Moritzburg ermöglichten. Dorthin war 1904 mit der Fertigstellung des Nachbaus des historischen Talamtes schon der kunstgewerbliche Sammlungsbestand umgesiedelt worden. Sowohl der Bankier Reinhold Steckner als auch der Maurermeister Friedrich Kuhnt stifteten für Ankäufe und Baumaßnahmen 1905/1906 jeweils 50.000 Mark. 1910 wurden für den weiteren Ausbau der Museumsräume in der Moritzburg wiederum 50.000 Mark von privat an die Stadt überwiesen.182 Kuhnt, Steckner und andere Stadtbürger traten jenseits der dem Museum angeschlossenen Vereine mit ihrem Vermögen auch wiederholt für Ankäufe für das Museum ein.183 Die 1911 veröffentlichte Broschüre »Die Reinhold Steck 180 StH, A 6.3.1.MUSE, Nr. 233, Bl. 13r. 181 Vgl. StH, A 6.3.1.MUSE, Nr. 233le; LHA Sachsen-Anhalt Rep. C 129 AG. 182 Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1898/99, S. 129; Otto, Städtisches Museum, S. 17; Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1885; Die Reinhold Steckner-Stiftung, S. 5/6; Verwaltungsbericht Halle 1906/07, S. 244; Gründig / Dräger, Kunsthandwerk, S. 20; Die Neuerwerbungen 1910, S. 4. 183 Stadtrat Keferstein, der die Sammlung des Museums wiederholt auch durch materielle Schenkungen bereicherte, richtete ebenfalls eine Stiftung ein, die mit einem Kapital von etwa 3.000 Mark und einem jährlichen Ertrag von etwa 120 Mark Ankäufe für das Museum ermöglichen sollte. Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1898/99, S. 126; Otto, Städtisches Museum, S. 13.
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ner-Stiftung« stellte die Stiftung des Bankhauses Reinhold Steckner vor und informierte über deren großzügige Spenden für Kunstankäufe und den Bau des Museumsgebäudes. Das Heft würdigt rückblickend die Verdienste der Stiftung um das Städtische Kunstmuseum als Standort der künstlerischen Moderne. Die Reinhold-Steckner-Stiftung war 1905 von den Söhnen des Unternehmensgründers Reinhold Steckner anlässlich des fünfzigjährigen Firmenjubiläums eingerichtet worden. Emil, Albert und Curt Steckner leiteten das Bankhaus seit 1894. Insbesondere Emil Steckner, der als Stadtverordneter und Kommerzienrat auch politisch aktiv war, engagierte sich bei vielen Gelegenheiten für die bildende Kunst.184 Die Wohltätigkeit der Familie wird in dem besagten Heft über die ReinholdSteckner-Stiftung als entscheidender Impuls für die künstlerische Moderne in der Stadt Halle gefeiert. Ohne ihren Freimut und ihre Aufgeschlossenheit gegenüber der zeitgenössischen Kunstentwicklung wäre die Stadt weiterhin von der künstlerischen Avantgarde isoliert, so der Autor: »Jetzt erst war es möglich, in den frischen Kampf für die verheißungsvoll sich entfaltenden künstlerischen Bestrebungen der Gegenwart einzutreten, gegen die unsre Stadt sich bis dahin so gut wie verschlossen gehalten hatte. Erst die Reinhold StecknerStiftung hat der heiß umstrittenen modernen deutschen Kunst Raum und Gelegenheit gegeben, ihre Kraft auch in Halle zu bewähren.«185
Die Figur des uneigennützigen Wohltäters, der »den Bürgern die mitgenießende Anteilnahme an dem großen Aufschwung der modernen Kunst ermöglicht«186, wird in die Tradition der Fürsten und Patrizier vergangener Zeiten gestellt.187 Angesichts der natürlichen Trägheit und Scheu der »Allgemeinheit«, für die »das Neue, das Ungewohnte ungenießbar«188 sei, falle dieser exklusiven Gesellschaftsschicht eine Führungsrolle zu. Mit ihrer vor allem finanziellen Unterstützung und liberalen Haltung sollte es unabhängig agierenden Museumsdirektoren möglich werden, ihre Häuser mit bedeutender zeitgenössischer Kunst zu bestücken. Das hier entworfene Ideal der Museumsführung erinnert auffallend
184 Emil Steckner gehörte beispielsweise dem Ehren-Ausschuss der 1892 veranstalteten Ausstellung aus halleschem Privatbesitz an, war Mitglied des Halleschen Kunstvereins sowie der Museums-Gesellschaft, der auch sein Bruder Curt (in den Quellen auch in der Schreibweise »Kurt« angegeben) angehörte. Vgl. Kunstgewerbeausstellung Halle a. S. 1892; StH, A 6.3.1.MUSE, Nr. 233, Bl. 2. 185 Die Reinhold Steckner-Stiftung, S. 6. 186 Ebd., S. 7. 187 »Zu allen Zeiten hat die Pflege der Kunst zum Besten und zum Genuß der Allgemeinheit als eines der edelsten Vorrechte der Einsichtigen und Vermögenden gegolten. Mehr als die Hälfte der künstlerischen Verlassenschaft der Vergangenheit verdankt ja die Welt fürstlichen und patrizischen Stiftungen.« Ebd., S. 13. 188 Ebd., S. 7.
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an Sauerlandts Konzept des Museums und seine Praxis als Direktor. Sauerlandt konzipierte das Museum als Institution, die die ästhetischen Prämissen der Gesellschaft formen sollte. Zu diesem Zweck erstrecke sich die Sammeltätigkeit und pädagogische Anstrengung auch auf zeitgenössische Künstler, die anderweitig noch keine Anerkennung gefunden hatten.189 Vor diesem Hintergrund kritisiert der Autor der Stiftungsbroschüre die kompromissbehafteten, dem durchschnittlichen Geschmack genügenden Ankaufentscheidungen in laienbesetzten Museumsgremien.190 Auch dieser Aspekt scheint direkt aus Sauer landts Erfahrungen gespeist. Der Text benennt weithin etablierte Vertreter des deutschen Impressionismus als herausragende Vertreter der künstlerischen Moderne. Die aufgezählten Künstler Max Liebermann, Wilhelm Trübner, Max Slevogt, Max Klinger und Walter Leistikow waren sämtlich schon einige Jahre zuvor in Ausstellungen des Kunstvereins zu sehen gewesen und in der Sammlung des Museums vertreten – insofern der halleschen Öffentlichkeit bekannt und durch verschiedene Institutionen sanktioniert. Gemessen am behaupteten ästhetischen Führungspotential des Museums, das Sauerlandt mit seinen Ankäufen deutscher Expressionisten ausschöpfte, mutet diese Künstlerauswahl fast übervorsichtig an. Trotzdem ist der hier vertretene Kunstbegriff einer künstlerischen Moderne verpflichtet, die den ästhetischen Kern der bildenden Kunst in der individuellen Künstlerperspektive verortete und sich eben nicht in der Nachahmung der Natur erschöpfte. Die 1911 veröffentlichte Broschüre, die weder als Produkt des Museums noch des Bankhauses bzw. der Familie Steckner gekennzeichnet ist, behauptet gleichermaßen die politische Führungsrolle des gehobenen Bürgertums und die ästhetische Führungskompetenz des modernen Museumsdirektors. Diese Veröffentlichung diente sowohl den Stiftern, die durch ihre Stilisierung zum altruistischen Mäzen die Reputation ihrer Familie und ihres Unternehmens steigerten, als auch Sauerlandt, der sein Konzept des Museums popularisierte. Zum anderen warb sie um potentielle Geldgeber, denen gesellschaftliches Renommee versprochen und an deren Selbst- und Verantwortungsbewusstsein als gesellschaftliche Führungsschicht appelliert wurde. Weltanschaulich-politisch berief sich der Autor der Broschüre auf die im 19. Jahrhundert etablierte gesellschaftliche Ordnung, in der das Bürgertum seine Funktion als führende Gesellschaftsschicht ausübte. Darüber hinaus wurde das System der Honoratiorenschaft, in dem eine wirtschaftliche und / oder bildungsbürgerliche Elite die Kommunalpolitik beherrscht, als legitim anerkannt. Demokratisierung erschien dem Verfasser weder im Politischen noch auf ästhetischem Gebiet erstrebenswert. Dessen ungeachtet wurde hier die integrative Funktion der Kunst beschworen, wie sie im
189 Vgl. Sauerlandt, Museum, S. 2. 190 Vgl. Die Reinhold Steckner-Stiftung, S. 8.
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Modell der bürgerlichen Gesellschaft bestimmt war. Sie hatte die Aufgabe die Vielzahl unterschiedlicher Entwürfe bürgerlicher Existenz zusammenzuführen. Der Broschürentext knüpft an die Vorstellung der vereinenden Kraft der bildenden Kunst an, die geistige und wirtschaftliche Kräfte zu bündeln vermöge. Speziell der kulturellen Moderne sprach der Autor die »Macht« zu, gesellschaftlich integrierend zu wirken. Im weiteren Verlauf des beginnenden 20. Jahrhunderts wurde jedoch zunehmend deutlich, dass die künstlerische Moderne das Bürgertum weiter entzweien würde. Ihre antibürgerlichen Elemente, die sich gegen die im 19. Jahrhundert etablierte Idee einer affirmativen, autonomen, metaphysisch orientierten Kunst wandten, spalteten das Bürgertum. Während sich eine kleine Gruppe für die Avantgarde engagierte, empfand sie eine Mehrzahl der Bürger als destruktiv und lehnte sie ab.191 Vor dem Hintergrund der Gründung der halleschen Museumsgesellschaft 1911 erscheint das Heft über die Reinhold-Steckner-Stiftung als Prospekt, das die Versammlung dieser schmalen, der künstlerischen Moderne gegenüber aufgeschlossenen Bürgerschicht der Stadt Halle begleitete. Wie der Museumsverein war auch die Steckner-Stiftung stark vom Kunst- und Museumsbegriff Max Sauerlandts geprägt. Das brachte mit sich, dass die Künstler vor Ort nur indirekt von dieser Form der Kunstförderung profitierten. Da der Museumsdirektor vor allem die Entwicklung der künstlerischen Avantgarde verfolgte und ihn Halle als Ort künstlerischen Schaffens wenig interessierte, fielen die halleschen Künstler nicht ins Förderprogramm. Manche empfingen dennoch von den von Sauerlandt lancierten und den Mäzenen finanziell ermöglichten Kunstankäufen wichtige künstlerische Einflüsse. Überhaupt dürften die durch Sauerlandt in das hallesche Bürgertum getragene Wertschätzung bildender und angewandter Kunst sowie seine pädagogischen Bemühungen letztlich auch die Künstler vor Ort erreicht haben, indem sich das lokale Klima für ihre Existenz und ihre Produkte erwärmte.
2.3.2 Die Haaßengier-Stiftung – Anerkennung der halleschen Künstler Eine andere Form und Zielrichtung mäzenatischer Kunstförderung wurde durch die Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung verfolgt. Der Stifter war – wie die Nachfahren des Bankiers Reinhold Steckner – ebenfalls als Leiter eines Bankhauses zu Reichtum gelangt, den er regelmäßig bedürftigen Bevölkerungsgruppen zugutekommen ließ.192 Neben seiner Wohltätigkeit für verschämte Arme, Kriegsveteranen sowie Schüler und kaufmännische Lehrlinge richtete er 191 Georg Bollenbeck sieht in dieser ambivalenten Haltung des Bürgertums den Grund für die besondere Heftigkeit der Auseinandersetzung zwischen ästhetischen Traditionalisten und Anhängern der Moderne. Vgl. Bollenbeck, Tradition, Avantgarde, Reaktion, S. 29–31. 192 Haaßengier eröffnete nach seiner Lehrzeit im halleschen Bankgeschäft Lehmann und bei Bleichröder in Berlin 1872 sein eigenes Geschäft in der Großen Steinstraße. Vgl. SZ vom 10.04.1931, Nr. 88; StH, A 2.36 Nr. 911 Bd. 2, Bl. 55–56.
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1906 eine Stiftung ein, die »in erster Linie … begabte und strebsame Künstler und Künstlerinnen« finanziell unterstützen sollte. In Form von Stipendien wurden zwischen 1908 und 1922193 zweimal jährlich die Zinserträge aus dem Stiftungsvermögen, das zur Einrichtung 100.000 Mark betrug, ausgeschüttet. In verschiedenen Bewerbergruppen, die zwischen »tüchtige[n] Opern-, Oratorienund Konzertsänger[n] und -sängerinnen«, »auf dem Gebiet der Instrumentalmusik befähigte[n] junge[n] Leute[n]«, »begabte[n] Maler[n] und Malerinnen auf dem Gebiete der Ölmalkunst, der Landschafts-. Genre- und Porträtmalerei etc.« und »talentvolle[n] Bildhauer[n]« unterschied, konnten sich Interessierte um ein Stipendium bewerben. Auch Kunsthandwerker waren als Antragsteller zugelassen, wurden aber nicht als eigenständige Bewerbergruppe aufgeführt. Wie die vorgesehene prozentuale Verteilung der Zinserträge nahelegt, förderte das Stifterehepaar insbesondere die Unterstützung der Sänger. Der Anteil, der auf die Förderung der bildenden Künstler und Kunsthandwerker entfiel, machte weniger als die Hälfte der für die Künstler zur Verfügung stehenden Fördersumme aus. Die einmalig ausgezahlten Stipendien sollten zwischen 100 und 500 Mark betragen und in Ausnahmefällen auch zweimal an einen Bewerber fallen. Zielgruppe der Stiftung waren junge hallesche Künstler, die »in bedürftigen Verhältnissen lebend wirklich der Beihülfe benötigen, um ihr Talent nicht durch äußere Not verkümmern zu lassen.« Als Kinder hallescher Bürger mussten die Bewerber »die Künstlerlaufbahn zu ihrem Lebensberufe erwählt und ihre wirkliche Befähigung für diese dargetan haben.« Damit unterschied sich die Stiftung wesentlich von den zuvor genannten Einrichtungen zur Kunstförderung, die der Verwaltung des städtischen Museums zugutekamen. Das Museum als Mittler zwischen Kunst und Publikum zielte auf die ästhetische Bildung der Gesellschaft. Erst in zweiter Linie profitierten die Künstler selbst von den Stiftungen; entweder direkt über Ankäufe und symbolisches Kapital oder indirekt durch ein allgemein gesteigertes Interesse der städtischen Gesellschaft an der bildenden Kunst. Zwar wurden einheimische Künstler auch schon vorher durch Ankäufe und Ausstellungen durch das städtische Museum unterstützt, aber erst jetzt rückte die lokale Künstlerschaft systematisch ins Zentrum bürgerlichen Interesses. Das streng verfolgte Kriterium der lokalen Herkunft194 war vielleicht auch verantwortlich für den Bruch Ernst Haaßengiers mit Richard Robert Rive, in dessen Kunstpolitik die einheimische Kunstproduktion keinen hohen Stellenwert genoss. Die Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung wurde in enger Verflechtung mit den Gliedern der städtischen Selbstverwaltung eingerichtet. Die 15 Vorstands 193 1923 fand die Ausschüttung nur noch einmal im Februar statt. 194 Die Vorlage für Zeitungsinserate, die Interessierte zum Einsenden einer Bewerbung aufforderte, verschärfte dieses Kriterium noch und forderte: »Möglichst sollen sie alle ihre Studien in Halle begonnen und hallesche Institute [nachträgliche Hervorhebung, I. S.-W.] 2 bis 3 Jahre zwecks ihrer Ausbildung besucht haben.« Vgl. StH, A 2.3 Nr. 130.
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mitglieder unter dem Vorsitz des Ersten Bürgermeisters wurden in der Stiftungssatzung genau benannt und rekrutierten sich aus verschiedenen Dezernenten, drei Stadtverordneten und sechs Bürgern, die durch ihren Beruf zur Mitarbeit befähigt sein sollten.195 Sowohl bezüglich der Besetzung des Vorstandes als auch der zur Förderung ausgewählten Künstler behielt sich der Stifter das Vorschlagsrecht vor. Nach zähen Verhandlungen wurde die Stiftung schließlich im Oktober 1907 vom Merseburger Regierungspräsidium als wohltätige Stiftung anerkannt und steuerbefreit. Die erste Vergaberunde erfolgte im Februar 1908, für die insgesamt zwölf Bewerbungen für die Klassen III. Maler und Malerinnen (fünf), IV. Bildhauer (drei) und V. Kunsthandwerker (vier) eingingen. Bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges gelang es nicht, die Zahl der Bewerber zu steigern, stattdessen rutschte ihre Zahl deutlich unter zehn. Während der Kriegsjahre verblieb die Zahl der Bewerber zumeist unter fünf. Das kurzzeitig gestiegene Interesse nach Kriegsende sank im Oktober 1920 drastisch ab. Nicht eine Bewerbung ging für diese Vergaberunde beim Stiftungsvorstand ein. Bis zur Einstellung der Bewerbungsverfahren nach der Vergabe im Februar 1923 bemühten sich ebenfalls nur vereinzelt hallesche Künstler um Unterstützung aus der Haaßengier-Stiftung. Insgesamt bewarben sich 83 Künstler und Künstlerinnen bzw. Kunsthandwerker und Kunsthandwerkerinnen auf ein Stipendium der Stiftung. Ab 1910 gingen vor allem Bewerbungen für die Klasse der Kunsthandwerker ein, während in der Kategorie Bildhauerei nur sehr vereinzelt Anträge eingereicht wurden. Zeit ihres Bestehens gelang es der Stiftung nicht, sich als attraktives Angebot für werdende bildende Künstler und Kunsthandwerker bzw. Kunstgewerbetreibende zu etablieren. Paul Thiersch, der als Direktor der Handwerkerschule bzw. später der Kunstgewerbe- und Handwerkerschule als Vorstandsmitglied der Stiftung gesetzt war, führte das schwache Interesse an der Stiftung auf ihren geringen Bekanntheitsgrad zurück und versuchte dem ab 1918 durch Anschläge in der Kunstgewerbeschule abzuhelfen. Nachdem Haaßengier sich von Rive distanziert hatte, trat Paul Thiersch in Kontakt zum Stifter und beeinflusste ihn dahingehend, den Bereich des Kunstgewerbes stärker als bisher und insbesondere die Schüler der halleschen Kunstgewerbe- und Handwerkerschule zu berücksichtigen.196 Dementsprechend wurde § 3 vom Vorstand im Juni 1920 wie folgt abgeändert:
195 Unter ihnen sollten neben dem Kapellmeister des Stadtchores auch der Leiter eines angesehenen Gesangsvereins sowie ein Angehöriger des Bankhauses Ernst Haaßengier und der Neffe des Stifters Dr. med. Max Flemming sein. 196 Das Stiftungskapital wurde um 15.000 Mark, deren Zinsen bei Auszahlungen ausschließlich den Bewerbern aus dem Kunstgewerbe zufließen sollten, aufgestockt. Zudem durften die zur Verteilung stehenden Summen bei unzureichender Bewerberzahl nicht auf die anderen Klassen verteilt werden, sondern mussten bis zur nächsten Vergaberunde zurückgestellt werden. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 131, Bl. 36.
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»Weiter sollen auch Unterstützungen gewährt werden an jugendliche Personen, welche sich auf dem Gebiete des Kunsthandwerkes durch hervorragende künstlerische Leistungen in ihrem Fache besonders hervorgetan haben.«197
Tatsächlich änderte sich die Zusammensetzung der Bewerber seit der Intervention Thierschs spätestens ab Januar 1918. Bis auf vereinzelte Anfragen für die Bewerberklassen III und IV bekundeten Bewerber vor allem für die Stipendienklasse des Kunsthandwerks Interesse. In einem ausführlichen Schreiben erläuterte Thiersch dem Vorstand der Stiftung, welche tiefgreifenden Veränderungen das Kunstgewerbe im vergangenen Jahrzehnt erfahren hatte. Anhand der Entwicklung der kunstgewerblichen Ausbildung in Halle unter seiner Leitung wies er darauf hin, dass zunehmend auch Frauen das Kunstgewerbe zum Beruf wählten. Dass daraufhin auch Frauen zur Bewerbung um ein Stipendium in dieser Kategorie zugelassen und sowohl das Mindestalter der Bewerber als auch die Anforderungen an ihre bisher erbrachten Leistungen herabgesetzt wurden, verdankte sich dem persönlichen Engagement Thierschs.198 Sowohl gegenüber dem Vorstand als auch dem Stifter selbst warb er für sein Ausbildungsinstitut und bemühte sich die Stiftung, die bis dahin über Jahre von Künstlern und Öffentlichkeit wenig beachtet wurde, für seine Interessen fruchtbar zu machen. Es gelang ihm, Ernst Haaßengiers mäzenatischen Eifer auf seine Schule zu lenken. Der Stifter sah sich wiederum in seiner Rolle als Wohltäter, der die günstige Entwicklung seiner Heimatstadt förderte und ihr Ansehen steigerte, bestätigt, nachdem ihn das »Oberhaupt der Stadt« empfindlich gekränkt hatte: »Nun ist es mir aber eine große Freude, zu vernehmen, dass diese Hallesche Handwerker- und Kunstgewerbeschule einen weiteren Ausbau erfährt und dass durch ihre Ausstellung in der Kunstgewerblichen Abteilung der Mustermesse in Leipzig einen überragend großen Erfolg erringen konnte. Möge sie weiter wachsen, blühen und gedeihen zu Ehren meiner Vaterstadt Halle a. S.«199
Im Zusammenhang mit Thierschs Vorstoß zur Abänderung der Satzung zu Gunsten des Kunstgewerbes stand auch eine Verschlankung des Vorstandes per Satzungsänderung vom September 1920. Die Gruppe der berufsmäßig mit den bildenden Künsten befassten Vorstandsmitglieder erhielt deutlich mehr Gewicht. Der Oberbürgermeister gehörte dem Gremium hingegen nicht mehr an. Dieser Versuch der Neubelebung der Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung war unter den krisenhaften Bedingungen der Nachkriegswirtschaft jedoch 197 Ebd. 198 Insgesamt bewarben sich für beide Vergaberunden 1921 vier Kunsthandwerkerinnen und drei Kunsthandwerker. Zuvor gingen nur vereinzelt Bewerbungen von Frauen ein. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 135, Bl. 236–237. 199 StH A 2.3 Nr. 131, Bl. 38v.
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zum Scheitern verurteilt. Schon während der Kriegsjahre hatte die Inflation allmählich den Wert der ausgezahlten Beträge verringert. Die Hyperinflation ab 1920 machte das Stiftungskapital schließlich vollends zunichte. Die Stiftung versuchte diese Entwicklung zu mildern, indem sie die Auszahlungen auf wenige Bewerber konzentrierte. Wurden vor dem Krieg zwischen 100 und 200 Mark je erfolgreicher Bewerbung ausgezahlt, bewegte sich der Betrag ab 1918 zwischen 200 und 400 Mark je bedachtem Bewerber. Der Wertverlust war dennoch nicht aufzuhalten: Während die vor dem Krieg häufig vergebenen 100 Mark nur etwas unter dem durchschnittlichen Monatslohn eines Gehilfen im Malergewerbe lagen, entsprach die selten vergebene Summe von 400 Mark 1920 nur noch weniger als der Hälfte seines monatlichen Einkommens.200 Für die Auszahlung im Februar 1923 erreichten den Vorstand in allen Klassen nur noch zwei Bewerbungen. Für die zur Verfügung stehenden 1131,18 Mark für Kunsthandwerker fand sich kein Interessent.201 Vergleicht man das mäzenatische Selbstverständnis Haaßengiers mit dem der Steckner-Stiftung, wie es in der 1911 publizierten Broschüre zum Ausdruck kommt, werden einige Unterschiede deutlich. Während die Bankiersfamilie Steckner ihre Aufgabe in der politischen und ästhetischen Führung der Gesellschaft sah und explizit einen idealen Kunstbegriff formulierte, nahm Haaßengier dahingehend keine Setzungen vor. Dafür hatte er ganz bestimmte Vorstellungen von einer idealen künstlerischen Lebensführung, die dem bürgerlichen Arbeitsethos und Leistungsbegriff entsprach. Dementsprechend wollte er auf die Auswahl der Stipendiaten Einfluss nehmen und antibürgerliche Formen des Künstlerseins, wie sie der Bohémien verkörperte, ausschließen. In einem Brief an den Vorstand im Oktober 1914 wünschte er, sich selbst ein Bild von den Bewerbern zu machen: »Ich würde es auch dankbar anerkennen, wenn mir die Anträge vorher zur persönlichen Prüfung zugestellt werden könnten, da ich kein Interesse daran habe, Leute zu unterstützen, die sich fortwährend in Geldklemme befinden, nie zu wirtschaften verstehen und gewöhnlich zu viel durch die Gurgel gehen zu lassen. Mir haben schon viele Anträge von Künstlern vorgelegen, die sich bei genauerer Prüfung absolut nicht zu Berücksichtigung empfahlen.«202 200 Bedenkt man zudem, dass die Lohnentwicklung nicht mit der inflationären Teuerung von Lebensmitteln und Heizkosten mithalten konnte, wird der Wertverfall des Stipendiums noch deutlicher. Die Studie Perschmanns über die Entwicklung der Lebenshaltungskosten zwischen 1913 und 1920 errechnet eine durchschnittliche Teuerung des Lebensmittelbedarfs für einen erwachsen Mann um das 8,5-fache. Vgl. Perschmann, Kosten der Lebenshaltung, S. 84 und 95. – In einem Brief vom Anfang des Jahres 1922 lehnte Haaßengier eine Abänderung der Satzung, nach der die Höchstsumme der Auszahlung hochgesetzt werden sollte, ab. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 131, Bl. 78v. 201 Vgl. StH, A 2.3 Nr. 136, keine Blattzählung. 202 StH, A 2.3 Nr. 130, Bl. 224–225 (Brief vom 04.10.1914).
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Ernst Haaßengier nahm zwar die wirtschaftlich prekäre Situation der städtischen Künstlerschaft wahr, war aber weit davon entfernt, einen Zusammenhang mit den Prinzipien des Kapitalismus zu erkennen. Er führte wirtschaftlichen Misserfolg auf fehlende Leistungsbereitschaft und den freisinnigen Lebensstil einiger Künstler zurück. Um festzustellen, ob die Bewerber für den Erhalt des Stipendiums geeignet seien, wurde im Fragebogen nach der beruflichen Qualifikation gefragt. Vom Antragsteller sollte sowohl der Verlauf der bisherigen Ausbildung und Studien angegeben, über Erfolge etwa in Form von Zeugnissen und Kritiken informiert und »kunstverständige[r] Auskunftspersonen« benannt werden. Ein Vordruck bat um Auskunft, ob die Bewerber nach »Leistungen, Fleiß, Begabung und sonstigen Verhältnissen schon jetzt für die Ergreifung des Künstlerberufes als« geeignet erschienen und »ob es sich um eine das Durchschnittsmaß überragende Begabung handelt, die eine Förderung durch Verleihung eines Stipendiums verdient.«203 Viele der angefragten Experten bezogen sich in ihren Bewertungsschreiben auch auf die genannten Kriterien »Fleiß«, »Leistung« und »Begabung«, die dem traditionellen bürgerlichen Arbeitsideal entsprachen. Dabei spielte die ästhetische Orientierung des Bewerbers keine Rolle. Die Indifferenz der Stiftung demgegenüber darf jedoch nicht als Desinteresse des Ehepaars Haaßengier missverstanden werden. Im Gegenteil – in einem kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges an den Vorstand gerichteten Schreiben suchten sie persönlich Kontakt zu den Begünstigten ihrer Stiftung und stellten deren weitere Förderung in Aussicht: »Meine Frau und ich haben den lebhaften Wunsch die aus unserer Stiftung bedachten Stipendiaten persönlich kennen zu lernen [Unterstreichung im Original, I. S.-W.] und dürfen sie wohl höfl. bitten, Meldung des ihnen zufallenden Stipendiums die Stipendiaten anzuregen, sich uns persönlich vorzustellen. So lange wir am Leben sind möchten wir gern deren Bekanntschaft machen, nebenbei war es bisher nie zu ihrem Schaden, wir helfen noch nach bei passenden Gelegenheiten …«204
Wenn auch die letztlich ausgezahlten Stipendienbeträge kaum ausreichten, über längere Zeit den Lebensunterhalt zu sichern, waren sie in manchen Fällen dennoch ausschlaggebend für die Weiterführung der künstlerischen Ausbildung. Mit ihnen ermöglichten sich manche Bewerber, den Unterricht an der hiesigen Handwerker- und Kunstgewerbeschule zu besuchen oder für das Studium wichtige Materialien zu besorgen. Nicht zuletzt war ein zuerkanntes Stipendium auch eine Auszeichnung der künstlerischen Leistung des Bewerbers und bestätigte insofern seinen Berufswunsch. Bereits die Einrichtung eines Künstlerstipendiums ausschließlich für Hallenser formte bei den Lesern der Werbeanzeige 203 StH, A 2.3 Nr. 134, Bl. 209. 204 StH, A 2.3 Nr. 135, Bl. 205.
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und insbesondere bei allen, die sich explizit davon angesprochen fühlten, das Bewusstsein, als relevante Berufsgruppe wahrgenommen und anerkannt zu sein. Schließlich befanden sowohl der renommierte Stifter ebenso wie die Stadt als ausführendes Organ den Künstler als wertvolles Mitglied der Gesellschaft, den es zu unterstützten galt. Auch berufstypologisch war das Stipendium in seiner zunehmenden Wertschätzung des Kunsthandwerks wirksam, indem es die Bereiche der bildenden und angewandten Kunst eng aneinander band, wie es durch Thiersch an der Kunstgewerbeschule konzipiert und durch die Stiftung weiter popularisiert wurde.
Fazit Die in den Jahrzehnten um 1900 von halleschen Bürgern ausgehenden oder getragenen mäzenatischen Initiativen, die die öffentliche Förderung der bildenden Kunst zum Ziel hatten, wurden systematisch an die kommunalpolitische Verwaltungsstruktur angebunden, ohne die Nähe von privater Fördertätigkeit und städtischer Verwaltung einseitig anzustreben. Sowohl von Seiten der Bürger, die mit ihren Fördervorhaben das Ansehen heben und die Entwicklung der Stadt Halle unterstützen wollten, als auch durch die städtischen Gremien und einzelne Verwaltungsträger wurde die enge Bindung forciert. Damit begaben sich die Mäzene in die Hand öffentlich angestellter, professioneller Akteure des Kunstsystems. Indem sich die Mäzene in diese Strukturen einstellten, folgten sie dem Gedanken einer politisch-öffentlichen Verantwortung für die Kunstförderung und eines gesamtgesellschaftlichen Anspruchs auf ihren (zumindest visuellen) Konsum. Die Reinhold-Steckner- und die Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung unterstützten die Entwicklung der bildenden Kunst in der Stadt mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung. Beide verbanden ihr Mäzenatentum mit bestimmten Kunstbegriffen und Künstlerbildern, die im einen Fall vor allem durch Sauerlandt und im anderen durch Thiersch beeinflusst wurden. Ihre Wohltätigkeit war insofern zwar uneigennützig, aber keineswegs interesselos, weil mit den von ihnen zur Verfügung gestellten Mitteln bestimmte Vorstellungen von Kunst und Künstlertum sanktioniert wurden.205 Der Steckner-Stiftung, die dem städtischen Museum für Kunst und Kunstgewerbe zugutekam, fiel ein größerer Wirkungskreis zu, weil der Institution des Museums und der regen Tätigkeit Sauerlandts als Verfechter der künstlerischen Moderne in der regionalen und überregionalen Öffentlichkeit weit mehr Aufmerksamkeit beschieden war. Die Haaßengier-Stiftung hingegen machte sich als 205 Zur Problematik des Begriffs des Mäzens bzw. Mäzenatentums, der die Interesselosigkeit des Stifters suggeriert, siehe Mai / Paret, Mäzene, Sammler und Museen, S. 3.
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erste öffentliche Einrichtung um die Förderung des heimischen künstlerischen Nachwuchses verdient und auf dessen prekäre wirtschaftliche Lage aufmerksam. Obwohl die Stiftung zeit ihres Bestehens um öffentliche Aufmerksamkeit ringen musste, war sie für die Bewerber und noch wichtiger für die Erfolgreichen unter ihnen zum Teil von großer Bedeutung und in einigen Fällen für die weitere künstlerische Karriere sogar ausschlaggebend. Während sie die künstlerische Arbeit vor Ort und auf vergleichsweise demokratischer Grundlage förderte, wurden die Mittel der Steckner-Stiftung dazu eingesetzt, solitäre moderne künstlerische Positionen auch gegen gesellschaftliche Widerstände zu unterstützen.
3. Der hallesche Kunstmarkt 3.1 Hallescher Kunstbesitz und -bedarf um 1900 3.1.1 Kunst in Privatbesitz – hallesche Bürger als Käufer und Sammler Vor der Wende zum 20. Jahrhundert war es vor allem der Hallesche Kunstverein, der mit seinen Ausstellungen den Umgang der Einwohner mit Kunstwerken prägte. Erst mit der Expansion des Kunstsystems ab Ende des 19. Jahrhunderts und dem qualitativen Wachstum seiner institutionellen Knotenpunkte insbesondere in wenigen Jahren um 1900 vervielfältigten sich die Akteure und die Einflüsse auf den Kunstgeschmack des Publikums und damit den der potentiellen Käufer. Franz Otto, der als erster Kurator des städtischen Museums und Protagonist des Kunstgewerbevereins entscheidend den Aufbau einer permanenten Kunstöffentlichkeit sowie eines Netzwerkes aus Kunstinteressierten und Künstlern unterhielt, war selbst als Sammler zeitgenössischer Künstlergrafiken aktiv. Auf seinen Reisen orientierte sich der Rentier an der zeitgenössischen Entwicklung der bildenden Kunst und trug seine aus über 700 Zeichnungen, Aquarellen und Ölstudien bestehende Privatsammlung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts jenseits der Stadtgrenzen zusammen. Ganz sicher überstieg sein Kunstbedürfnis das Angebot des städtischen Kunstmarktes. Mit seiner Sammlung trat Franz Otto für einige Wochen im Frühjahr 1894 an die Öffentlichkeit, um »die Freude an der Kunst so viel als möglich mitzutheilen und zu erwecken«. Der begleitende Katalog, der alle Werke der insgesamt 419 Künstler verzeichnet und um biografische Informationen, technische Details der Werke und knappe Beschreibungen der Bildgegenstände ergänzt, ist anhand verschiedener deutscher Kunstzentren strukturiert. Unter den Verzeichneten sind viele zeitgenössisch populäre Künstler vertreten.206 206 Vgl. Katalog einer Privatsammlung. Alle wörtlichen Zitate dieses und des folgenden Abschnitts ebd., Vorwort, S. III, IV.
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Otto, der sich mit seiner Sammlung das Ziel gesetzt hatte »ein Bild der Entwicklung der deutschen Malerei des 19. Jahrhunderts« zu zeichnen, begründet im Katalogvorwort seine Konzentration auf das Medium der Zeichnung erst in zweiter Linie mit den ihm zur Verfügung stehenden »bescheidenen privaten Mitteln«. Er stärkt die Zeichnung gegenüber der Malerei, die durch »grössere Intimität, durch die Annäherung an die Entstehung eines Werkes, an die erste Empfindung des Künstlers« in mancher Hinsicht dem »berauschenden Eindruck einer Ausstellung farbiger Gemälde« vorzuziehen sei. Schließlich hätte auch die eigentliche Stärke einiger »der besten deutschen Maler in der Mitte unsres Jahrhunderts« im zeichnerischen Medium gelegen und sei eine Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts ohne deren Berücksichtigung unvollständig. Unter den ausgestellten Werken befanden sich vor allem Historien, Landschaftsdarstellungen, Genrebilder, Stadtansichten und Porträtstudien. Nur ein dreiviertel Jahr nach der öffentlichen Präsentation seiner in über 30 Jahren zusammengetragenen Sammlung in der halleschen Volksschule kündigte das Berliner Auktionshaus Rudolf Lepke deren Versteigerung an. Anfang Januar des folgenden Jahres fand die Auktion der ersten Hälfte seiner Sammlung, die die Künstlernamen A–L umfasste, statt. Der gesamte Erlös der 356 Nummern umfassenden ersten Versteigerungsrunde betrug 16.348 Mark. Warum Otto seine mühevoll zusammengestellte Sammlung auflöste, ist nicht bekannt. Alle in der Auktionsankündigung aufgezählten Künstler hatten Anerkennung entweder durch eine Professur, Auszeichnungen oder finanziellen Erfolg erreicht.207 Unter ihnen waren sowohl Landschafts-, Historien- und Porträtmaler als auch Illustratoren vertreten.208 Mit Arnold Böcklin, Anselm Feuer 207 Darunter waren die Künstler Andreas und Oswald Achenbach, Hans von Bartels, Arnold Böcklin, Wilhelm Camphausen, Paul Chodowiecki, Franz Defregger, Wilhelm Diez, Anselm Feuerbach, Edmund Harburger, Eduard Hildebrandt, Ferdinand Keller, Max Klinger und Franz von Lenbach vertreten. Vgl. Kfa, 10. Jg. (1894–1895), S. 191 und S. 127. 208 Vgl. Hanfstaengl, Achenbach, Oswald, in: NDB, Band 1 (1953), S. 30–31, [Onlinefassung, URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd119540363.html#ndbcontent, zuletzt besucht am 30.08.2016]; Daelen, Camphausen, Wilhelm, in: ADB, Band 47 (1903), S. 431–433 [Onlinefassung, URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd116436689.html#adbcontent, zuletzt besucht am 30.08.2016; Rümann, Chodowiecki, Daniel, in: NDB, Band 3 (1957), S. 212 f. [Onlinefassung, URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd118520512.html#ndbcontent, zuletzt besucht am 30.08.2016]; Uhde-Bernays, Defregger, Franz von, in: NDB, Band 3 (1957), S. 557 [Onlinefassung, URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd118524283. html#ndbcontent, zuletzt besucht am 28.08.2017]; Uhde-Bernays, Diez, Wilhelm von, in: NDB, Band 3 (1957), S. 711–712 [Onlinefassung, URL: https://www.deutsche-biographie.de/ gnd11902165X.html#ndbcontent, zuletzt besucht am 30.8.2017]; Wirth, Feuerbach, Anselm, in: NDB, Band 5 (1961), S. 111–113 [Onlinefassung, URL: https://www.deutsche-biographie. de/gnd118532731.html#ndbcontent, zuletzt besucht am 30.08.2016]; Bellm, Keller, Ferdinand, in: NDB, Band 11 (1977), S. 434–435 [Onlinefassung, URL: https://www.deutschebiographie.de/gnd118561065.html#ndbcontent, zuletzt besucht am 30.08.2016]; Bayer-Klötzer, Klinger, Max, in: NDB, Band 12 (1979), S. 90–94 [Onlinefassung, URL: https://www.
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bach und Max Klinger befanden sich Werke von Künstlern in Ottos Besitz, die sich kritisch mit der akademischen Kunsttradition auseinandersetzten. Vor allem Böcklin und Klinger wiesen mit ihren symbolistischen Bezügen über den Realismus und die abbildende Funktion der Kunst hinaus und wurden damit für bildende Künstler der folgenden Generation, die endgültig mit den akademischen Traditionen brachen, vorbildhaft.209 Insgesamt war Ottos Sammlung auf zeitgenössische Künstler konzentriert, die sich beim breiten bürgerlichen Publikum großer Beliebtheit erfreuten.210 Wie schon in der Förderung der bildenden Kunst über das Vereinswesen kam dem Bürgertum eine herausragende Rolle als Käufer originaler Kunstwerke zu. Für ihre Vertreter war Kunstbesitz lange über die Wende zum 20. Jahrhundert hinaus notwendiges Zubehör ihrer Lebensführung und Wohnraumausstattung. Im Gegensatz zum Großteil der Bevölkerung standen ihnen mehrheitlich die finanziellen Mittel zum Kunsterwerb überhaupt zur Verfügung. Dennoch bestanden innerhalb des sozial höchst heterogen zusammengesetzten Bürgertums bezüglich des Kunstbesitzes Unterschiede. Else Biram identifizierte in ihrer empirisch fundierten Analyse der schichten- und standesspezifischen Verteilung der Rezeptionsweise von Kunst in Mannheim vor Beginn des Ersten Weltkrieges Großindustrielle und Bankiers, Ärzte und Akademiker, ältere Kaufleute und Frauen der oberen Schichten, die bevorzugt Kunst für den privaten Wohnraum erwarben und dort rezipierten.211 Eine Untersuchung des Leihgeberverzeichnisses der 1902 vom Kunstverein und Kunstgewerbeverein veranstalteten Ausstellung aus hallischem Privat besitz auf die soziale Zusammensetzung der Leihgeber ergibt ein ähnliches Bild wie bei Biram für Mannheim. Zwar gibt die hier vertretene Auswahl privater Leihgeber kein Abbild der überhaupt in halleschem Privatbesitz befindlichen Kunstwerke – aufgrund der Überfülle des Angebots und der begrenzten Vorbedeutsche-biographie.de/gnd118563335.html#ndbcontent, zuletzt besucht am 28.08.2017]; L. Baranow, Lenbach, Franz Ritter von, in: NDB, Band 14 (1985), S. 198–200 [Onlinefassung, URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd118571516.html#ndbcontent, zuletzt besucht am 28.08.2017]. 209 Vgl. Klinger, Malerei. – Auf Klinger und Böcklin als vorbildhafte Künstler bezogen sich sowohl Alfred Kubin als auch Giorgio de Chirico. Vgl. Hüttel / Schmidt, Max Klinger. 210 Rückblickend wurde vor allem über Franz Defregger geurteilt, er habe sich nach seinem verheißungsvollen Frühwerk übermäßig dem Publikumsgeschmack angedient. Vgl. Uhde-Bernays, Diez, Wilhelm von, in: NDB, Band 3 (1957), S. 711–712. 211 Biram ordnet den von ihr als »Eingangspforten« bezeichneten verschiedenen Arten der Kunstrezeption (Führungen, Lesen, Schaulust, Besitz und Wohnkultur bzw. Dilettantismus) sozial determinierte Gruppen zu, die sich jeweils unterschiedlich darauf verteilen. In einem Fragebogen eruierte sie in privatem Besitz befindliche Kunstwerke und erfragte die Künstler, Motive sowie die Herkunft und die Vorlieben der Besitzer. Vgl. Biram, Industriestadt ab S. 67 (II. Teil Erlebniszentren der Bevölkerungsschichten), Grafik »Eingangspforten« und Fragebogen A im Anhang.
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reitungszeit konnten nicht alle potentiellen Leihgeber und damit Kunstbesitzer eingeladen werden. Dennoch ist davon auszugehen, dass für die Ausstellung ein Teil der in Frage kommenden Besitzer angefragt wurde und die letztlich insgesamt etwa achtzig Leihgeber repräsentativ für die Berufsgruppen stehen, die sich privat mit Kunst umgaben.212 Die größte der beruflich bestimmten Gruppen stellten die Universitätsprofessoren bzw. Privatdozenten (14). Unter ihnen waren besonders der Professor für Medizin Ernst Kohlschütter, in dessen Villa die Ausstellung stattfand, der Mediziner Carl Fraenkel und der Jurist und Politiker Robert Friedberg mit zahlreichen Werken vertreten. Mediziner stellten unter den Professoren etwa die Hälfte der Leihgeber. Gemeinsam mit der Gruppe der Ärzte (11) – Biram fasste Ärzte und Akademiker in einer Gruppe zusammen – ergibt sich damit die äußerst starke Präsenz einer bestimmten Berufsgruppe unter den Beteiligten. In Birams Schaubild wird das Engagement der Ärzte und Akademiker nur übertroffen von den Großindustriellen und Bankiers, die vereinzelt auch im halleschen Kontext eine herausragende Rolle spielten. Ganz anders verhält es sich mit der Gruppe der Beamten, die im Mannheimer Kontext kaum eine Rolle spielten und wie Handwerker, junge Kaufleute und Arbeiter kaum in privaten Kunstbesitz investierten. In Halle dagegen stellte die Spitze der städtischen Verwaltung mit zehn Zugehörigen eine wichtige Gruppe der privaten Leihgeber. Dies erklärt sich aus ihrer engen Verbundenheit mit dem Halleschen Kunstverein über Mitgliedschaften und aus dem öffentlich bekundeten Interesse der kommunalen Verwaltung an den Belangen des Kunstvereins. Die als Bauräte bzw. Regierungsbaumeister ohnehin mit ästhetischen Fragen beschäftigten Architekten oder Sachverständigen sowie Justizräte treten in dieser Gruppe hervor. Sowohl in Mannheim als auch in Halle (hier 14 Personen) gab es eine Reihe von verheirateten und unverheirateten Frauen der oberen Schichten, die als Leihgeberinnen und Sammlerinnen und damit Besitzerinnen und Käuferinnen auftraten. Vor allem die Ehefrau des Oberlandesgerichtsrates Siedler, die Ehefrau des Maschinenfabrikaten Ludwig Leutert und die Witwe des kurz zuvor verstorbenen Rentiers Emil Otto stellten zahlreiche Gemälde, Aquarelle, Grafiken und Zeichnungen zur Verfügung. Mit jeweils drei Berufszugehörigen waren Ingenieure und Lehrer (Oberlehrer und Schuldirektor) vertreten. Leihgaben hallescher Bankiers, die in anderen Zusammenhängen als großzügige Förderer der bildenden Kunst in Halle im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts wirkten, waren hingegen kaum zu sehen. Allein Heinrich Lehmann beteiligte sich mit wenigen Leihgaben an der Ausstellung.
212 Die Organisatoren der Ausstellung wählten aus den ihnen geöffneten Privatsammlungen einzelne Stücke aus, wobei sie kaum alle potentiellen Leihgeber befragt hätten. Vgl. Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz, S. XIII.
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Das Bild, das die kurz nach der Jahrhundertwende veranstaltete Ausstellung vom Kunstinteresse, Kaufverhalten und der Wohnkultur der oberen bürgerlichen Schicht bietet, verweist in seinen wesentlichen Zügen auf den Kunstkonsum des 19. Jahrhunderts, wie ihn das bürgerliche Kunstvereinswesen geprägt hatte.213 Die hallesche Ausstellung kurz nach der Jahrhundertwende konzentrierte sich auf Originale, bezog aber auch Reproduktionen ein. Unter den nahezu zweihundert Blättern der zweiten Ausstellungsgruppe (»Aquarelle, Pastelle, Handzeichnungen, Miniaturen«) befanden sich auch zahlreiche Stiche und Drucke nach berühmten Gemälden.214 Die erschwinglichen Ölfarbendrucke, Farblithografien, grafischen Reproduktionen und später Fotografien ermöglichten auch weniger wohlhabenden Familien, ihre Wohnzimmerwände mit Bildern auszustatten und so die großbürgerliche Wohnkultur nachzuahmen.215 Unter den 117 verzeichneten Ölgemälden, die um dreißig Werke »Alte[r] Schulen« ergänzt wurden, waren vorrangig zeitgenössische bzw. Maler des 19. Jahrhunderts vertreten. Der Schwerpunkt lag auf Landschaftsdarstellungen, er wurde durch größere Gruppen von Porträtdarstellungen, Genrebildern, Tierbildern und einigen Historienbildern sowie Veduten vervollständigt. Auch unter den über 160 ausgestellten Grafiken, Zeichnungen und Aquarellen überwogen Arbeiten des 19. Jahrhunderts. Landschaftsdarstellungen und Porträts stellten wiederum die häufigsten Motive und wurden um diesmal zahlreichere Historiendarstellungen ergänzt. Ein Bezug zur städtischen oder regionalen Heimat ist vereinzelt vor allem in den Porträtdarstellungen zu finden. Ererbte oder durch die Besitzer selbst in Auftrag gegebene Bildnisse zeigten hallesche Persönlichkeiten. Weit weniger häufig fanden sich Ansichten der landschaftlichen Umgebung 213 Erinnert sei, dass die Ausstellung selbst vom transitiven Zustand des Kunstvereins kündete und aus sich heraus die bisher betriebene Konsumkultur kritisierte (siehe Kap. III., 1.2). 214 Die Kunstvereine hatten mit der Vergabe von Nietenblättern zum Ausgleich für erfolglose Lotterieteilnehmer selbst erheblich dazu beigetragen. 215 Die bürgerlichen Schichten verband in der Phase der Hochindustrialisierung, die etwa mit der Reichsgründung begann, eine gegenüber der Vorzeit veränderte Gegenstandsund Wohnkultur. Das bisher ausgewogene Verhältnis von Erscheinung und Funktion eines Gegenstandes geriet unter den Bedingungen der alle Lebensbereiche durchdringenden Technisierung ins Wanken. Historisches Dekor und üppige Dekoration sollten den industriell gefertigten Massenprodukten, die jetzt auch für weniger Wohlhabende käuflich waren, Wert verleihen. Gert Selle spricht vom Stil der Industriebourgeosie, die ihre politische und ökonomische Macht im Stil des historistischen Ekklektizismus zum Ausdruck brachte und der auch für weniger wohlhabende bürgerliche Schichten vorbildhaft und durch die Möglichkeit der massenhaften Maschinenproduktion auch erschwinglich war. Vgl. Selle, Geschichte des Design, S. 59–70. – Genremaler lieferten Originale oder Vorlagen für Reproduktionen unterschiedlicher Themen. Vgl. Pieske, Wandschmuck, S. 257. Die Wohnung einer gehobenen bürgerlichen Familie umfasste etwa 5–7 Zimmer. Neben den privaten Schlaf- und Speisezimmern, dem Bad, der Küche und einer Gesindekammer waren Vorzimmer und Salon auch der Öffentlichkeit zugänglich. Eine großbürgerliche Villa um 1880 hingegen beherbergte nach idealen Vorstellungen etwa 20 Zimmer. Vgl. ebd., S. 258.
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Halles, Veduten oder Interieurs mit halleschem Bezug. Dennoch wird offenkundig, dass Künstlern, die biografisch mit der Saalestadt verbunden waren, innerhalb der Privatsammlungen eine besondere Bedeutung zukam. Neben Werken von Adolf Senff, der 1875 in Halle geboren wurde und sich ab Mitte der vierziger Jahre in Ostrau am Petersberg niederließ, waren auch Werke von Adam Weise, Fritz Schaper, Adolf Maennchen, Hans von Volkmann und Carl Ule im Besitz hallescher Kunstsammler. Diese Künstler gehörten alle einer Generation an, die die Stadt Halle für ihr Studium der bildenden Kunst verließen und ihren beruflichen Erfolg in anderen Städten begründeten. Werke hallescher Künstler, von denen sich einige in den beiden Jahrzehnten vor 1900 beruflich in Halle niederließen, fanden sich keine im hier präsentierten Privatbesitz. Im Fokus der hier präsentierten privaten Sammlungen bzw. einzelnen Kunstbesitze standen weder hallesche Künstler noch explizit hallesche Motive. Werke der ab den 1880er und neunziger Jahren von Franz Otto im städtischen Museum präsentierten Künstler, die oft in Halle geboren oder ansässig waren, spielten bis zu diesem Zeitpunkt im Besitz von Hallensern kaum eine Rolle. Stattdessen folgte der hier präsentierte Kunstbesitz den Prämissen, die das Kunstvereinswesen im Verlauf des 19. Jahrhunderts gesetzt hatte. Es ist anzunehmen, dass ein nicht geringer Teil der Werke aus den Wanderausstellungen der Kunstvereine heraus erworben oder erlost wurde. Else Biram leitete gar aus ihrer Beobachtung des bürgerlichen Kunstbesitzes die These ab, dass Kunstbesitz in der Regel »nichts Künstlerisches« sondern vielmehr Ausdruck der finanziellen Potenz und äußerliche Repräsentation gewesen sei: »Für die wenigsten ist das, was sie besitzen, Ausdruck ihrer Gesinnung. Da sprechen viele Zufälle mit: Ererbtes, Erzogenes, Rücksichten hier und da, die die freie Wahl beeinflussen; und die Wohnungen mit allem, was sie enthalten, wovon die Bilder nur den kleinsten Teil ausmachen, zeigen weniger Persönlichkeit, als was für standesgemäß gilt.«216
Ungeachtet dessen verwies der mit der Ausstellung formulierte Kunstbedarf nach Landschaftsdarstellungen einerseits und Porträts andererseits für die Künstler vor Ort auf einen potentiellen Markt. Wenn auch die Repräsentationspraxis und ausufernde Raumdekoration mit dem Ende des 19. Jahrhunderts in bürgerlichen Kreisen selbst unter Kritik geriet, so blieb der Bedarf nach Ausschmückung der Wohnräume durch Bilder bestehen. Vorherrschend war um 1900 die Nachfrage nach Typenbildern, bei denen nicht die Originalität der Bildschöpfung und Individualität der Künstlerempfindung im Mittelpunkt stand, sondern bestimmte Muster gefragt wurden. Erst mit der vom Kunstverein und dem städtischen Museum nach der Jahrhundertwende eingeleiteten Öffnung des Kunstbegriffs konnte sich auch ein Markt für moderne ästhetische Positionen entwickeln. 216 Biram, Industriestadt, S. 110 und 112.
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Planlos durch Vererbung, Vereinsgewinne und Schenkungen akkumulierter Kunstbesitz, der vorrangig sozialer Distinktion diente, bestand neben strategisch ausgebauten Sammlungen, die in Halle existierten und die im Fall Franz Ottos jenseits der privaten Liebhaberei eine gesellschaftliche Wirkung entfalteten. Eine über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Sammlung legte der Kaufmann und Besitzer einer Kaffeerösterei bzw. Kolonialwarengroßhandlung Karl Haenert ab den achtziger Jahren an. In seiner über vier Jahrzehnte andauernden Sammeltätigkeit entwickelte sich der vielreisende Kaufmann zu einem Kenner und leidenschaftlichen Käufer mitteldeutscher Porzellane und Fayencen, während anfangs »die Wünsche eines Kunstfreundes ausschlaggebend [waren], der allen Räumen seines Hauses eine angemessene Ausstattung mit Kunstwerken zukommen lassen wollte«. Unter dem Einfluss Max Sauerlandts, der 1908 an das städtische Kunst- und Kunstgewerbemuseum wechselte, wurde Haenert zum »kluge[n] und vorsichtig wählende]n] Sammler, der nur durch Qualität, nicht durch die Menge, seine Sammlung zu vervollständigen und zu verbessern suchte.«217 Sein Kunstinteresse erstreckte sich – insbesondere vor der Begegnung mit Sauerlandt – auch auf die Malerei, und so war er zur Ausstellung 1902 einer der am meisten genannten Leihgeber. Von den 113 Gemälden stammten allein fünfzehn Werke aus seinem Besitz. Auf der Ausstellung waren vor allem seine Landschafts- und Genredarstellungen sowie einige Porträts vertreten, darunter von Anton Braith, Franz von Defregger, Hans Thoma und Georgios Jacobides – alle waren zeitgenössisch populäre und angesehene Maler. Haenerts Besitz an Gemälden entsprach der zeitgenössischen Mode und ist Ergebnis der umfangreichen finanziellen Mittel, die er in bildende Kunst und kunstgewerbliche Arbeiten investierte. Sowohl Otto, Haenert als auch andere umherreisende Fabrikanten trugen ihren Kunstbesitz jenseits der Stadtgrenzen zusammen. Dieses Muster setzte sich fort bei den an die hallesche Universität berufenen Professoren, die in der Ausstellung privaten Kunstbesitzes 1902 eine große Gruppe stellten. Trotzdem waren – nach Einschätzung der Organisatoren – kaum Werke in der Ausstellung, die die Grenzen des allgemein Üblichen überschritten.
3.1.2 Kunst im bürgerlichen Salon Zeitgenössische Fotografien (groß-)bürgerlicher Wohnräume in Halle veranschaulichen, wie Gemälde und Skulpturen fest in das Raumprogramm eingebunden waren und wesentlich deren Gesamtwirkung bestimmten. Je nach sozialem Stand variierten die Zimmerzahl und die Wertigkeit der zur Gestaltung eingesetzten Materialien. Der Salon bzw. das Wohnzimmer bildeten das Zen trum der Repräsentation von Bildung und Kultur in der bürgerlichen Wohnung, 217 Sammlung Haenert Halle a. S., S. 3. Am 23. und 24. Mai 1927 wurde der erste Teil der Sammlung Haenert in Berlin versteigert. Haenert war 1925 in Halle verstorben.
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wie sie sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entwickelt hatte. Nachdem zuvor die verschiedenen Wohnräume weder ihrer Funktion nach getrennt waren noch die einzelnen Mitglieder des Hausstandes Möglichkeiten für Rückzug und Intimität hatten, kennzeichnete die bürgerliche Wohnung eine Aufteilung in Räume für körperliche und kulturelle Funktionen. Die Raumstruktur, die sich um die Kernfamilie als zentralem Sozialverband entwickelte, grenzte auf neuartige Weise das Private von der Sphäre des Öffentlichen ab. Dem Salon bzw. dem Wohnzimmer kam dabei die Aufgabe der Repräsentation des geistigen und kulturellen Anspruchs seiner Einwohner zu. Hier wurde Besuch empfangen und der private Bereich einer eng begrenzten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Bilder, Plastiken und anderer Zierrat bestimmten das Klima dieses Raumes, der Konversation, Müßiggang und Freizeit gewidmet war. Eine um 1900 von dem Hallenser Fotografen Ernst Motzkus angefertigte Aufnahme gibt den Blick frei auf einen großbürgerlich eingerichteten Salon (Abb. 1). Im Zentrum des Bildes ist zentriert um einen Stubentisch eine Sitzgruppe angeordnet. Auf der gepolsterten Bank, die an die Wand gerückt ist, sitzt eine Frau in aufrechter Haltung und wendet den Blick vom Betrachter ab. Ihre Identität ist nicht bekannt. Die strenge Erscheinung der Frau, die durch die schlichte und geschlossene Form des Kleides und ihre Haltung hervorgerufen wird, kontrastiert die üppige und kleinteilige Raumausstattung. Zur überbordenden Raumwirkung tragen sowohl die ornamentierte Tapete, der reiche Deckenstuck sowie die Struktur des Parketts und der darauf liegende stark gemusterte Teppich bei. Die Wandfläche ist auf der linken Bildseite neben der Sitzgruppe durch eine Tür, auf der rechts daneben befindlichen Wandseite durch Fenster durchbrochen, die jeweils mit dunklen, bodenlangen Vorhängen umrandet werden und mit einem Lambrequin abgeschlossen sind. Diverse Beistelltische, Blumenarrangements und eine Palmenpflanze füllen den Raum. An der Wand über der Sitzbank sind vier verschieden große Porträts angebracht. Sie zeigen als Brust- bzw. Schulterstück Frauen und Männer verschiedenen Alters. Unterhalb des großformatigen, fast quadratischen und üppig gerahmten Gemäldes im Wandzentrum sind drei kleinere Gemälde gruppiert. Neben einem weiteren rechteckigen Bild sind zwei oval geschnittene Porträts in ebenfalls aufwendig gestaltetem Rahmen angeordnet. Zwischen den zwei Fenstern auf der rechten Bildseite erlaubt ein gerahmter Spiegel einen Blick auf die ihm gegenüberliegende Wand, an der weitere Bilder angebracht sind, deren Motive und technische Ausführung jedoch nicht erkennbar sind. Die Fotografie, die nicht nur die Dame und mutmaßliche Wohnungseigentümerin zeigt, sondern bei der der sie umgebende Raum ganz wesentlicher Teil der Abbildung ist, zielt auf repräsentative Zwecke. Sie stellt die Dame im Raumzentrum als Urheberin der von ihr gestalteten Zimmerumgebung dar. Der für Empfänge und Zusammenkünfte genutzte Raum kündet durch seine materielle Ausstattung nicht nur vom vorhandenen Vermögen, sondern ebenso von der
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Abb. 1: Stadtarchiv Halle, Mot 745, Bewohner unbekannt, Fotograf: Ernst Motzkus, um 1900, Glasplatte, 18 × 24 cm
Zugehörigkeit seiner Bewohner zum kulturell gefassten Bürgerlichkeitsbegriff. Neben den zahlreichen anderen gestalterischen Elementen im Zimmer sind die Bilder an der Wand zentrale Ausstattungsstücke. Sie führen einerseits die reich verteilte Zimmerdekoration auf den freien Wandflächen fort. Abgesehen von ihrer gestalterischen Funktion demonstrieren die Porträts, die wahrscheinlich Vorfahren oder andere Familienangehörige der Frau im Bildzentrum darstellen, ihre bewusste Einordnung in einen familiären Kontext. Indem sie sich, ähnlich der Anlage eines Familienstammbaums, unterhalb der Personenansichten postiert, wird ihre Nachkommenschaft bzw. familiale Verbindung zu den Abgebildeten noch betont. Obwohl während der Jahrhundertwende die Fotografie und insbesondere die Porträtfotografie bereits weit verbreitet waren, und wie hier auch in höheren Kreisen in Anspruch genommen wurde, blieb das gemalte Porträt gerade für großbürgerliche Haushalte ein wichtiges Mittel der Selbstvergewisserung. Für Maler, die sich auf das Porträtfach spezialisierten, eröffnete dieses Bedürfnis ein konstant gefragtes Betätigungsfeld. Auch der renommierte hallesche Fotograf Max Strauch fertigte Aufnahmen an, die zeigen, wie selbstverständlich bildende Kunst – vorrangig Gemälde und andere Bilder, seltener Plastiken – zur Ausstattung des Wohnraums gehörten. Um 1930 fotografierte er in zwei Ansichten einen innerhalb einer Zimmerflucht
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Abb. 2 und 3: Stadtarchiv Halle, Str 2282 und 2283, Bewohner unbekannt, Fotograf: Max Strauch, um 1930, Foto, beide 8,5 × 13,5 cm
gelegenen Raum, der wie der zuvor beschriebene die Merkmale eines Wohnzimmers bzw. Salons aufweist (Abb. 2 und 3). Das Durchgangszimmer ist mit einer Sitzgruppe sowie weiteren Sitzgelegenheiten, einer halbhohen Vitrine, einer Kommode und einem Kamin ausgestattet. Die Wände sind dunkel tapeziert und ebenso wie die bodendeckenden Teppiche und sämtliche Polster stark gemustert.
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Da die Ausstattungsstücke eng an die Wand gerückt sind und nur ein schmaler Vorhang in der Tür zum Nebenraum angebracht ist, erscheint der Raum weniger überfüllt und strukturierter als der zuerst beschriebene. Trotzdem füllen zahlreiche Objekte, die auf den Möbeln und sichtbar in der Vitrine stehen, die freien Flächen. Neben Dekortellern, die auf den Türstürzen an der Wand lehnen, einer gefüllten Vase und anderen Gegenständen auf der Kommode ist die Wandfläche mit zahlreichen groß- und kleinformatigen Bildern behangen. Rechts neben dem Türdurchgang beherrscht ein Blumenstillleben das Zentrum dieser Wandhälfte und wird rechts und links jeweils von zwei kleineren Darstellungen flankiert. Über der Sitzbank links des Durchgangs spiegelt ein weiteres Stillleben die hier aufgestellte Tischsituation. An der links daran anschließenden Wand über der langen Seite der Eckbank befinden sich eng neben- und übereinander weitere Bilder, von denen die beiden größeren Landschaften zeigen. Die Motive der darunter in einer Reihe angebrachten Kleinformate sind nicht erkennbar. Auch die Wände der der Sitzgruppe gegenüberliegenden Zimmerhälfte (Abb. 3) sind mit Gemälden oder anderen Bildern bestückt. Rechts der Tür ist wiederum eine Landschaftsdarstellung angebracht, die motivisch die eben beschriebene Bilderreihe fortsetzt. Unterbrochen wird die Reihe der Landschaftsbilder von einem Ofen, an dessen Frontseite ebenfalls ein Rahmen, allerdings mit unbestimmbarem Motiv, angebracht ist. Links der Tür, über Vitrine und Sessel, schließen zwei weitere Darstellungen, von denen die kleinere ein Porträt zeigt, das Bildprogramm des Raumes zur Fensterseite hin ab. Alle Wände, abgesehen von der auf den Fotos nicht mit erfassten Fensterseite des Raumes, sind mit mehreren Bildern bestückt. Ob es sich bei allen um originale Gemälde handelt oder auch Kunstdrucke oder Grafiken darunter sind, lässt sich anhand der Fotos nicht beurteilen. Ersichtlich wird jedoch, dass im gehobenen bürgerlichen Wohnzimmer Bildwerke unterschiedlichen Inhalts Verwendung finden und thematisch gruppiert auf alle Wände verteilt sind. Auch in den Villen der wohlhabendsten halleschen Bürger stellten Bildwerke ein wesentliches Element der Wohnraumgestaltung dar. Überliefert ist eine Fotografie eines der repräsentativen Räume im Erdgeschoss der Bankiersvilla Lehmann, die zwischen 1890 und 1892 auf einem Felsen am Saaleufer erbaut wurde (Abb. 4). Das von den halleschen Architekten Reinhold Knoch und Friedrich Kallmeyer errichtete Gebäude gilt als einer der prominentesten Bauten des Historismus in Halle.218 Der gezeigte Raum bietet zahlreiche Sitzgelegenheiten, die freistehend bzw. mit einer wandstehenden Eckbank um zwei kleine Tische gruppiert sind. Ein Flügel füllt die hintere linke Zimmerecke und wird vom einfallenden Licht eines 218 Das architekturkritische Urteil der Verfasser des Architekturführers Halle fällt bezüglich des stilistischen Eklektizismus negativ aus. Vgl. Brülls / Dietzsch, Architekturführer, S. 123.
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Abb. 4: Stadtarchiv Halle, N 122 Nr. 67, Villa Lehmann, Burgstr. 46, unbekannter Fotograf, um 1889–1930, Foto, 17 × 22,5 cm
großen, mit Vorhängen umrahmten Fensters beleuchtet. Die Deckenhöhe, der vielarmige Kronleuchter, der aufwendig gestaltete und verzierte Türdurchgang und der fast raumfüllende Teppich sprechen vom Reichtum des Erbauers und grenzen sich von der vorher beschriebenen Zimmereinrichtung deutlich nach oben ab. Neben den Sitzgruppen und dem Flügel, die den Raum als Ort der Geselligkeit kennzeichneten – vielleicht handelt es sich um das Gesellschaftszimmer oder den Salon, das bzw. der an die zentrale Halle anschloss –, bilden Kunstwerke die wichtigsten Ausstattungsstücke. Groß- und kleinformatige Bilder sind an den freien Wandflächen zwischen den Türen angebracht. Wie in den zuvor beschriebenen Räumen sind auch hier mehrere Bilder übereinander oder nebeneinander gehängt, wobei die kleineren Formate unterhalb der großen Gemälde platziert sind. Soweit ersichtlich, handelt es sich bei den meisten der Darstellungen um Landschaften. Anders als bei den Räumen zuvor spielen plastische Bildwerke bei der Raumausstattung eine gewichtige Rolle. Spezielle Möbelstücke dienen ihrer Aufstellung und Anordnung im Raumgefüge. Besonders exponiert erscheint eine weibliche Aktfigur, die auf einem hohen Holzsockel links vor dem Fenster steht und deren Silhouette sich deutlich durch das einfallende Tageslicht abhebt. Das Möbelarrangement in der rechten Zimmerecke wird nach oben
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durch vier gerahmte Bildwerke abgeschlossen. Die Sitzbank in der Zimmerecke ist bekrönt durch eine fein gearbeitete Arkadenarchitektur. Auf der unteren von zwei Ebenen stehen zwischen dünnen Säulen zwei kleine Figurinen. Darüber füllt eine Büste mit Helm im klassizistischen Stil die obere Ebene. Zwischen der Sitzbank und der Zimmertür auf der rechten Bildseite dient ein weiteres Möbel der Aufstellung kleinerer Figuren und Gegenstände. Aussparungen im Schrankkörper im unteren Bereich und ein mehrstufiger Aufbau scheinen speziell für die Präsentation kleinerer Gegenstände angefertigt. Den nach oben sich verjüngenden Gesamtaufbau bekrönt wiederum eine entblößte, gestreckte Frauengestalt. Der der geselligen Zusammenkunft vorbehaltene Raum der Villa Lehmann war mit zahlreichen plastischen und zweidimensionalen Bildwerken ausgestattet, die den eklektizistischen Stil, in dem die Villa erbaut wurde, widerspiegelt. Die im Stil der Renaissance gestaltete Villa, die zahlreiche barocke Elemente kombiniert,219 zeigte in ihrer Innenausstattung ebenfalls das für den Historismus typische Nebeneinander verschiedener Stile. Sie standen aber nicht unverbunden beieinander, sondern wurden durch die Anordnung der Möbel und ihre Verteilung im Raum bewusst platziert und inszeniert. Die Bilder und Skulpturen rahmten dabei den Ort gesellschaftlichen Austauschs und repräsentierten gemeinsam mit dem Flügel den Anspruch bürgerlicher Lebensführung und Wohnkultur. Der Bankier und Geheime Kommerzienrat Lehmann hatte eine Vorliebe für die Kunst des Klassischen Altertums. Er sammelte originale antike Skulpturen bzw. deren Nachbildungen. Abgesehen von den auf der Fotografie erkennbaren Figuren und Büsten, die dem klassischen Schönheitsideal folgen, besaß er einen antiken »Homerkopf« sowie ganzfigurige Nachbildungen von »Venus«220 und »Apollo«. Die weitläufigen Räumlichkeiten seiner Villa ermöglichten es, zahlreiche Plastiken aufzustellen, die sich weit weniger häufig als Gemälde oder Grafiken in privatem Besitz befanden. Für die 1902 stattfindende »Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz« entlieh er unter anderem eine plastische Arbeit Fritz Schapers, der kurzzeitig als Steinmetzlehrling in Halle tätig war und später als Künstler einige Verbindungen in die Stadt unterhielt. Die Marmorfigur eines badenden Mädchens hat eine Höhe von 1,25 Metern und bedurfte besonderer Platzverhältnisse, wie sie die Lehmann’sche Villa bot.221 Auch das Genre der Landschaftsdarstellungen war in der Villa prominent vertreten, und insofern waren hallesche Künstler um die Jahrhundertwende 219 Vgl. ebd. 220 Es ist möglich, dass es sich bei der isoliert auf dem Sockel stehenden Frauenfigur am linken Bildrand um jene im Katalog der Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz bezeichnete »Venus« handelt (Nr. 381). Vgl. Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz, S. 67. 221 Vgl. ebd., S. 62.
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potentielle Auftragnehmer oder Profiteure des Kunstgeschmacks und -bedürfnisses Heinrich Lehmanns und seiner Frau. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert waren in Halle Künstler ansässig, die sich insbesondere der Landschaftsmalerei widmeten und im Künstlerverein auf dem Pflug die heimatliche Landschaft zum Ziel ihrer künstlerischen Bemühungen erklärten.222 Der 1869 geborene und an den Akademien in Karlsruhe und München ausgebildete Maler Heinrich Kopp hielt die Villa der Lehmanns in der sie umgebenden Parklandschaft auf dem Felsen oberhalb der Saale 1909 in einem Aquarell fest. Ebenso widmete Hildegard Zeyss, Porträt- und Landschaftsmalerin und wie Kopp Mitglied des Künstlervereins, der die Villa umgebenden Landschaft ein Ölgemälde. Die Veröffentlichung der beiden Bilder in der Hallischen Mappe 1910 lässt vermuten, dass die Werke nicht im Auftrag des Villenbesitzers entstanden.223 In der Mappe präsentierten sich noch weitere hallesche Künstler, die stilistisch als Landschafts- und Porträtmaler oder Bildhauer als Lieferanten für die künstlerische Ausstattung der Villa infrage gekommen wären. Als akademisch ausgebildete Künstler verfolgten sie einen an klassischen Schönheitsidealen und dem Erscheinungsbild der Natur orientierten Stil, den Lehmann in seiner Sammlung pflegte. Bis auf die beiden erwähnten Künstler, die den Lehmannsfelsen zum Ausgangspunkt ihrer Naturbeobachtung machten, und dem Bildhauer Fritz Schaper lässt sich jedoch nicht belegen, dass Heinrich Lehmann eine besondere Nähe zur halleschen Künstlerschaft pflegte und als deren Mäzen auftrat. Stattdessen lassen sich Werke überregional anerkannter deutscher Künstler in seinem Besitz nachweisen.224 Zuletzt sei eine Fotografie des Wohnzimmers des Industriellen Ferdinand Raab auf die Rolle bildender Kunst in der bürgerlichen Wohnung befragt (Abb. 5). Der Generaldirektor und Vorstandsvorsitzende verschiedener anhaltischer Braunkohlewerke erwarb in den zwanziger Jahren eine um 1900 erbaute Villa in der Kurallee 15 in Halle und bezog dort das Erdgeschoss.225 Der in Wetzlar geborene Raab stammte aus einer Familie, die schon seit Generationen in führenden Positionen im Bergbau aktiv war. Der studierte Bergingenieur ließ sich mit Mitte vierzig vorübergehend in Halle nieder, nachdem er in Köln, Borna und schließlich Halle beruflich tätig gewesen war.
222 Vgl. Kopp, Künstlerverein, S. 71 f. 223 Vgl. Dressler, Kunstjahrbuch 1907, S. 112/113; StH FA 8771; Hallische Mappe, S. 13 und 19. 224 So ein Gemälde Adolf Böhms, der sich nach seiner Ausbildung an der Berliner Akademie der Künste in Venedig niederließ und dessen Ansichten italienischer und deutscher Städte sowie Interieurs vor allem von deutschen Kunden erworben wurden. Das 1899 entstandene Gemälde zeigt den Innenraum eines im Stil des Rokoko errichteten venezianischen Palastes. 225 Vgl. Adressbuch Halle 1926, Teil II, S. 56.
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Abb. 5: Stadtarchiv Halle, Str. 479, Villa Raab, Kurallee 15, Fotograf: Max Strauch, um 1930, Glasplatte, 18 × 24 cm
Das zur Straßenseite liegende Zimmer mit Erker im geräumigen Erdgeschoss wurde als Wohnzimmer genutzt. Neben einer mit Stühlen, Sesseln und einem Sofa bestückten Sitzgruppe in der fensterabgewandten Zimmerecke ergänzen ein kleiner Beistelltisch für den Fernsprecher, ein Schreibtisch und Stuhl im Erker sowie ein Sekretär am linken Bildrand nebst Hocker das Mobiliar des Raumes. Das Parkett, ein großer Teppich mit floralem Motiv und die ebenfalls floral geprägte Wandbespannung füllen die Flächen des Raumes und erzeugen eine kontrastreiche Raumwirkung. Das durch den Erker und weitere Fenster einfallende Licht erhellt den gesamten Raum. Wieder sind alle Wandflächen mit mindestens einem Bildwerk versehen, die an der oberen Abschlussleiste der stoffbespannten Wand aufgehängt sind. Über dem Telefontisch an der linken Bildseite befinden sich zwei Porträts, wobei erneut das größere über dem kleineren Format angebracht ist. In altmeisterlicher Manier erscheint auf dem oberen Bild ein bärtiger Mann auf dunklem Hintergrund. Darunter – in deutlich kleinerem Format – eine Brustfigur auf hellem Grund. Bei dem Bild in flachem Rahmen handelt es sich wahrscheinlich um eine Fotografie. Links daneben umhegt ein prunkvoller Goldrahmen eine Flusslandschaft. Am Horizont zeugen Türme von einer größeren Siedlung. Das darunter angebrachte Bild ist nicht näher zu erkennen. An der nach links anschließenden Wand über dem Sofa hängt die Darstellung
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einer Interieurszene. Das schräg von links durch das Fenster einfallende Licht, die klare figürliche Darstellung, die gestaffelte Anordnung der Personen und das einer alltäglichen Handlung nachempfundene Motiv erinnert an die flämische Malerei des 17. Jahrhunderts. Links davon erscheint ein Puttenkopf in einem kreisrunden Bildausschnitt in quadratischem Rahmen. Darunter und an der schräg links den Erkerbereich eröffnenden Wand befinden sich wiederum zwei kleinerformatige Landschaftsbilder. Über dem Sekretär an der Wand zwischen den Fenstern befindet sich ein weiterer, besonders aufwändig gestalteter Rahmen, dessen Fläche wahrscheinlich als Spiegel fungiert. Im Gegensatz zu den Bildprogrammen der anderen bürgerlichen Wohnräume erscheint das hier präsentierte ungeordnet. Porträts, Landschaften und Interieurs wurden ohne erkennbare Ordnung angebracht. Starke stilistische und technische Differenzen zwischen den einzelnen Bildern, die sowohl die Bildgröße als auch die Art der Herstellung betreffen, verstärken den Eindruck der Unordnung. Der hier präsentierte Privatbesitz wirkt wie zufällig zusammengetragen und unterscheidet sich von den sorgsamen Arrangements der anderen fotografierten Wohnräume. Trotz fehlender ästhetischer Neigung gehörten Bilder für Raab selbstverständlich zur Ausstattung des Wohnraumes.
Fazit Im Kontext der übergeordneten Fragestellung nach der Entwicklung des städtischen Kunstsystems und der Positionierung der lokal ansässigen Künstlerschaft in diesem wurde der Blick auf den privaten halleschen Kunstbesitz gelenkt. Dabei beschränkte sich die Rolle des kunstkaufenden Publikums in Halle im Wesentlichen darauf, auf äußere ästhetische Impulse zu reagieren. Es setzte keine Anreize, die den Einzug eines modernen Kunstbegriffs in der Stadt begünstigten. Stattdessen zeigten die Auswertung des Ausstellungsverzeichnisses von 1902 und die Betrachtung der zeitgenössischen Fotografien, dass bei den meisten Kunstkäufern die dekorative, repräsentative und memoriale Funktion der Kunst im Vordergrund stand. Als Publikum verarbeitete es nur träge die Idee einer autonomen Kunst, die sich von äußeren Verwendungsansprüchen löst und die Künstlerperspektive in den Mittelpunkt stellt. Die Quellen zeugen jedoch auch davon, dass originale Kunstwerke für einen Teil der städtischen Bevölkerung verpflichtend zur Ausstattung ihrer Wohnräume gehörten. Insofern gab es bis ins 20. Jahrhundert einen Bedarf an bestimmten Bildmotiven, auf den lokale Künstler einen Teil ihrer wirtschaftlichen Existenz bauen konnten. Dass nach 1900 die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Heimat und regionale Besonderheiten gerichtet wurde, kam ihnen außerdem zugute. Der Kunstgeschmack in der großstädtischen Provinz orientierte sich in der Regel an dem lokal Bekannten und ließ sich kaum auf ästhetische Experimente
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ein.226 Obwohl Assmann in seinem Kunstsalon in einer Ausstellung im Jahr 1900 Werke der französischen Avantgarde in Halle präsentierte, dauerte es noch Jahre, bis sich das hallesche Publikum an eine veränderte Bildsprache gewöhnte. Goldschmidt und vor allem Sauerlandt war es einige Jahre später zu verdanken, dass neue ästhetische Impulse in der Saalestadt Einzug fanden. Der Museumsleiter wurde dabei auch ganz praktisch in der Vermittlung moderner Kunst in Privatbesitz tätig.227 Das Bild der halleschen Sammlerlandschaft zu Beginn der dreißiger Jahre beschrieb Paul Frankl, der im Sommer 1921 die Nachfolge Wilhelm Waetzoldts am kunstgeschichtlichen Institut der Universität annahm, mit der Gegenüberstellung einer großen Gruppe der Desinteressierten und einer kleinen, der Avantgarde gegenüber offenen Gemeinschaft. Darunter seien »einige private Sammler …. Manches gute Stück von Munch, Kolbe, Haller findet sich in Häusern der Stadt.«228 Für die Vermittlung der ästhetischen Avantgarde gewannen hallesche Künstler ab 1913 und verstärkt nach 1918 an Bedeutung. Sie popularisierten mit der Verarbeitung und Adaption neuer Stile die vor dem Ersten Weltkrieg begonnene ästhetische Revolution. Die Verkaufsanteile der im Winter 1919 veranstalteten Hallischen Kunstausstellung, die sowohl den gegenständlich-beharrlichen Künstlerverein auf dem Pflug als auch die Hallische Künstlergruppe, deren Vertreter sich am Expressionismus orientierten, vereinte, verteilte sich jedoch weiterhin zugunsten der gegenständlich arbeitenden Landschaftsmaler.229
3.2 Kunstsalon und Galerie – Kunstförderung im Bereich privater Unternehmerschaft 3.2.1 Zwischen Idealismus und Profit – Akteure auf dem lokalen Kunstmarkt Der Hallesche Kunstverein bestimmte bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen den lokalen Kunstmarkt und bot mindestens im Abstand von zwei Jahren die Gelegenheit zum Erwerb oder Gewinn von Kunstwerken. 226 Das konstatierte Else Biram auch für Mannheim. Vgl. Biram, Industriestadt, S. 69. 227 Gegenüber einem Freund bemerkte er nach einer Emil-Nolde-Ausstellung im Kunstverein 1913, dass er Nolde-Werke im Wert von 5.600 Mark in private Sammlungen vermittelt hatte. Im Besitz der Werke waren sowohl Zugezogene, die Halle nach einigen Jahren wieder verließen (Max Sauerlandt selbst, Hans Fehr und Kurt Freyer) als auch »Ur-Hallenser« (Frau Kurator Meyer, Landeskonservator Max Ohle, Paul Raabe). Später (nach 1913) erwarben noch weitere hallesche Bürger Werke Noldes (Hans Jantzen, Hermann Krause, Margarete Clausen). Vgl. Hüneke, Emil Nolde, S. 8–9. 228 Frankl, Physiognomie, S. 36. 229 Während Künstler, die unter dem Banner des Künstlervereins auf dem Pflug ausstellten, Werke im Wert von insgesamt 7.385 Mark verkauften, erzielten die Verkäufe von der Hallischen Künstlergruppe nur 2.220 Mark. Insgesamt blieben die Verkaufszahlen hinter den Erwartungen der Veranstalter zurück. Vgl. VB vom 06.01.1919, Nr. 4 (Beilage).
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Die starke Rolle, die bürgerliche Kunstvereine als Akteure des Kunstmarktes bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts spielten, war eine direkte Folge der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft als sozial und kommunalpolitisch dominierendes Modell. Ihre Tätigkeit stimulierte den bürgerlichen Kunstbedarf und wies den privaten Kunstbesitz als obligates Merkmal des bürgerlichen Haushalts aus. Erst ab der Mitte des gleichen Jahrhunderts – im internationalen Kontext vergleichsweise spät – entwickelte sich in den großstädtischen Zentren des Deutschen Reichs ein auf Erwerbsbasis wirtschaftendes Galeriewesen.230 Bis sich in Halle Unternehmen speziell auf den Handel mit Kunstwerken einließen, fanden sich originale zeitgenössische Kunstwerke gelegentlich auch im Sortiment der Buchhandlungen. Ab 1852 bis in die Mitte der neunziger Jahre wurde im Adressbuch für Halle auf solche Geschäfte unter der Sammelbezeichnung »Buch-, Kunst-, Verlags-, Musikalien- u. resp. Landkartenhandlungen« hingewiesen. Bis dahin blieb in Halle der Kunstverein mit seinen temporären Verkaufsausstellungen der einzige Distributeur originaler Kunstwerke, der mit einem breiten Angebot zeitgenössischer Kunst im Format einer Ausstellung aufwarten konnte.231 Insbesondere im westelbischen Ausstellungszyklus, dem neben Halle auch Magdeburg, Dessau, Gotha und Kassel angehörten, stieg das Verkaufsvolumen 1890 gegenüber den Vorjahren weiter an, nachdem es bereits in den achtziger Jahren zu einer enormen Steigerung der Verkaufszahlen gekommen war. Als eine der »zur Zeit … kaufkräftigsten derartigen Verbindungen« wurden im Ausstellungsjahr 1890 an allen Stationen insgesamt 222.140 Mark umgesetzt (gegenüber 234.845 Mark im Jahr zuvor). Auch die kleineren der beteiligten Vereine, zu denen der in Halle zu rechnen ist, waren mit durchschnittlich 20.000 Mark an den Umsätzen beteiligt.232 Auf dem Kunstmarkt, der von einer Vielzahl an vermittelnden Akteuren und Institutionen geprägt wurde, kamen Produzenten und Konsumenten von Kunst zusammen. Neben Akteure, die nicht-kommerzielle Interessen verfolgten und als Kunstkritiker, Kuratoren und Museumsdirektoren sowie in Kunstvereinen Einfluss auf den Wert von Kunstwerken nahmen, traten Distributeure, die auf privatwirtschaftlicher Grundlage den Verkauf von Kunst organisierten. Um 1900 changierte das Bild der im Kunstverkauf aktiven Unternehmer zwischen dem vorrangig profitorientierten Kunsthändler, der mit antiquarischen Objekten besonders den sekundären Kunstmarkt bediente, einerseits und Kunstsalons und Galerien andererseits, die die Popularisierung zeitgenössischer künstlerischer 230 Vgl. Lenman, Kunstmarkt, S. 138. 231 Gelegentlich machten auch Kunsthändler mit ihren mobilen Geschäften Station in Halle. Ein Zeitgenosse berichtet, dass diese fliegenden Händler vorrangig »fabrikmässig hergestellte[n] sogenannte[n] Kunstwerke an den Mann zu bringen suchten und den Geschmack des Publikums gründlich verdarben.« Vgl. Reinus, Kunstausstellung, S. 259. 232 Vgl. N. N., Ausstellungen, Sammlungen, S. 173.
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Positionen als wesentlichen Bestandteil ihrer Tätigkeit begriffen. Alle mussten – sofern sie nicht, wie die in Berlin tätigen Brüder Cassirer, aus wohlhabenden Familien stammten – aus den Gewinnen des Geschäftes ihren Lebensunterhalt bestreiten. Zwischen diesen überzeichneten Idealtypen existierten zahlreiche geschäftliche Mischformen, deren Verortung im Spannungsfeld ernsthaften künstlerischen Interesses und Profistrebens wesentlich von den persönlichen Interessen des Geschäftsführers abhingen.233 So entstand in der Epoche der Klassischen Moderne die Figur des Galeristen, der einzelne Künstler exklusiv in sein Programm aufnahm, ihn bei seiner künstlerischen Entwicklung unterstützte, sein Werk öffentlich machte und schließlich auch verkaufte. Zu diesem Zweck stand er nicht nur in engem Kontakt mit den Künstlern selbst, sondern auch mit Museen und Sammlern. Sein Interesse galt und gilt vor allem noch nicht etablierten Künstlern, deren atelierfrischen Werke er auf den Markt (Primärmarkt) brachte. Deswegen besetzen Galeristen bei der Veröffentlichung, Vermittlung und Distribution avantgardistischer Kunst eine zentrale Position.234 In Halle traten nach der Mitte des 19. Jahrhunderts Kunsthändler an die Seite des Halleschen Kunstvereins. Im Verein waren einzelne Personen berechtigt, Käufe aus der Ausstellung abzuwickeln. Während die Kunsthandlungen in erster Linie den sekundären Kunstmarkt bedienten, also Objekte aus zweiter Hand anboten, waren die Ausstellungen des Kunstvereins mit zumeist atelierfrischen Werken aus Künstlerhand bestückt. Bis zur Wende zum 20. Jahrhundert bewegten sich die hier wie dort dar- und angebotenen Kunstwerke im Rahmen ästhetischer Konventionen. Die in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in der Regel an Buchhandlungen angegliederten Kunsthandlungen wurden kaum von sachkundigem Personal betreut, sondern unterstanden ebenfalls den Literaturexperten. So fehlte es sowohl an Sachkenntnis bei der Auswahl der Werke als auch bei der Betreuung der Kunden. Max Sauerlandt, der sich als Direktor des städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe dafür einsetzte, das Museum als Förderer der Kunst der Gegenwart und nicht etablierter Künstler zu positionieren, sah die Qualität der Arbeit in Personalunion vereinigter Buchund Kunsthändler gerade in kleineren Großstädten kritisch: »Gewiß sind die Bedürfnisse verschieden nach Lage, Art und Größe der Städte. Ganz besonders groß scheint mir das Bedürfnis in den kleineren Städten von 100–500 000 Einwohnern zu sein. Meist fehlt es in diesen Städten noch an einer sachlich geleiteten Kunsthandlung. Ein ebenso für die Kunst begeisterter wie für sein Büchergeschäft interessierter Buchhändler pflegt nebenher Ausstellungen zu machen, denen das Publikum auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist …«235
233 Vgl. Thurn, Kunsthändler, S. 119 ff. 234 Vgl. Müller-Jentsch, Kunst in der Gesellschaft, S. 60 ff. 235 Sauerlandt, Sofabild, S. 57.
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Die halleschen Verhältnisse und sein Selbstverständnis als Agent der Avantgarde236 veranlassten Sauerlandt im Rahmen der mit dem Halleschen Kunstverein veranstalteten Nolde-Ausstellung im Februar 1913 selbst als Vermittler tätig zu werden: Abgesehen von den Ankäufen, die er für die Museumssammlung tätigte, konnte er einige der Arbeiten, die er zuvor im Atelier des Künstlers für die Ausstellung ausgewählt hatte, in halleschem Privatbesitz unterbringen.237 Anders als im kommerziellen Kunsthandel standen bei Sauerlandt unbedingt die Förderung des Künstlers und das Interesse an seinem Werk im Vordergrund. Um 1900 wurden sehr unterschiedliche Geschäftsmodelle im Kunsthandel in Halle praktiziert. Den einen Pol bildeten dabei rein profitorientierte Kunstkaufhäuser, die den Verkaufspreis kunstgewerblicher Gegenstände und Kunstwerke »nach Zoll« berechneten und die ausschließlich Reproduktionen nach bekannten Gemälden im Sortiment führten.238 Davon zu unterscheiden waren mobile Händler, die zwar ebenfalls vorrangig mit Kopien handelten, deren Interessen jedoch variierten.239 Jenseits solcher Geschäfte, die nicht am künstlerischen Wert des einzelnen Werkes interessiert waren, standen fast alle der bedeutenderen halleschen Kunsthandlungen noch fest in buchhändlerischer Tradition. Für die Analyse des Kunstmarktes aus unternehmerischer Perspektive werden drei Akteure vorgestellt, die sich durch ihr über ökonomische Interessen hinausgehendes Engagement im Bereich der bildenden Kunst auszeichneten. Gegenüber anderen, die sich nur nebenbei oder aus vorrangig wirtschaftlichen Motiven dem Kunstgeschäft widmeten, grenzten sie sich durch dreierlei ab: Erstens nahmen sie primär originale Kunstwerke in ihr Verkaufsprogramm auf. Zum Zweiten 236 Nach seinem Verständnis des Kunstmuseums als Vorkämpfer avantgardistischer Künstlerpositionen wollte er jenseits der institutionellen Arbeit als Mittler zwischen Künstler und Sammler agieren. Vgl. ebd., S. 58. 237 Für insgesamt 5.600 Mark wurden Werke Noldes über Sauerlandt aus der Ausstellung gekauft. Vgl. Hüneke, Emil Nolde, S. 8. 238 Eine solche Kunsthandlung eröffnete im Dezember 1889 in der Geiststraße 13. Eine Anzeige in der Saale-Zeitung wirbt mit einer Auflistung der zum Verkauf stehenden »Luxusund Kunstgegenstände[n]« und nennt neben allerlei Wohnraumaccessoires »Statuetten von 50 Pf bis 100 Mark«, Gemälde sowie gerahmte Kopien berühmter Maler im Angebot. Der österreichische Maler Hans Makart, herausragender Vertreter der Epoche des Historismus, der mit seiner Prachtliebe und üppigen Bild- und Atelierausstattung sprichwörtlich und für die bürgerliche Wohnung am Ende des 19. Jahrhunderts vorbildhaft wurde, wird im Anzeigentext als Referenz genannt. Vgl. SZ vom 12.12.1889. 239 Im September 1913 bot eine auf dem Jahrmarkt in Halle stationierte »Bilderbude« des Dürerbundes eine »reichhaltige Sammlung der besten Reproduktionen von Gemälden alter und neuer Meister« zum Verkauf an. Die Initiative des Dürerbundes zielte vor allem auf Interessenten jenseits des Bürgertums. Unterbürgerliche Schichten sollten hier ihr Bedürfnis nach Ausstattung ihrer Wohnräume stillen. Der Verkaufsstand diente erklärtermaßen der Volksbildung und arbeitete nicht profitorientiert. Vgl. VB vom 06.09.1913, Nr. 209. Anders die fahrenden Händler, »die ihre zum grössten Teil fabrikmässig hergestellten sogenannten Kunstwerke« in »Wanderlagerausstellungen« zu verkaufen suchten. Vgl. Reinus, Kunstausstellung, S. 260.
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richteten sie Räumlichkeiten ein, die speziell auf die Präsentation der Kunstwerke zugeschnitten waren und in denen wechselnde Ausstellungen stattfanden. Nicht immer standen die dort gezeigten Werke auch zum Verkauf, sondern boten die temporären Ausstellungen dem städtischen Publikum die Möglichkeit, sich über zeitgenössische Entwicklungen in der lokalen und überregionalen Kunstwelt zu informieren. Drittens wurde diese kuratorische Leistung flankiert von verschiedenen Veranstaltungsformaten, die die Bildung des Publikums und den Austausch über verschiedene Aspekte der Kunstentwicklung zum Ziel hatten. Als Galerien im heutigen Sinn, die bestimmte Künstler dauerhaft begleiteten und gezielt deren Werk in der Öffentlichkeit vertraten, kann man sie nicht bezeichnen. Jenseits der vorhandenen Lagerbestände, die eine unsortierte Vielzahl an Kunstwerken und kunstgewerblichen Gegenständen verschiedenster Produzenten versammelten, widmeten die Geschäftsführer Walter Tausch (Buchund Kunsthandlung Tausch & Grosse), Willy Assmann (Kunstsalon Assmann) und Albert Neubert (Galerie Neubert) ihre Räumlichkeiten temporären Einzeloder Kollektivausstellungen einheimischer und auswärtiger Künstler.240 Das Interesse dieser unterschiedlich beschaffenen Unternehmen reichte jedenfalls deutlich über bloßes Gewinnstreben hinaus und galt der Popularisierung der bildenden Künste im Allgemeinen wie der Unterstützung jeweils bestimmter Künstler und Kunstrichtungen im Besonderen. Die drei genannten Institute verbanden ideelle und kommerzielle Interessen.
3.2.2 Tausch & Grosse als Vermittler einer halleschen Moderne Auf die gestiegene Nachfrage reagierten zuerst Walter Tausch und Max Grosse. Sie ergänzten die 1862 von Hermann Tausch gegründete Buchhandlung241 1896 240 Mit eigens für Kunstausstellungen eingerichteten Räumlichkeiten unterschieden sie sich damit von den übrigen bestehenden Kunsthandlungen, die meistens im Anschluss an ihre Buchhandlungen auch noch eine Anzahl an Kunstwerken oder Kopien nach Kunst werken anboten. Die Zahl der im Adressbuch aufgeführten Kunsthandlungen zwischen 1898 und 1925 rangierte zwischen fünf und zehn. Vgl. Adressbuch Halle 1898–1925, jeweils Verzeichnis der Geschäfts- und Gewerbetreibenden. 241 Die Geschäftsanzeigen im halleschen Adressbuch ermöglichen, die Firmengeschichte anhand einiger Eckdaten zu rekonstruieren: Zuerst (bis 1868) eingetragen als »Verlags- und Antiquariatsbuchhandlung und Leihbibliothek«, wurde das Geschäft ab 1869 offiziell auch als Kunsthandlung bezeichnet. Zu dieser Zeit führte Hermann Tausch das Geschäft in der großen Steinstraße 63 zusammen mit dem Buchhändler Paul Behrens. Ab 1879 war der Buchhändler Max Grosse Compagnon Hermann Tauschs. Seitdem war die Buch- und Kunsthandlung bis zu ihrer Schließung 1926 trotz wechselnder Inhaber unter dem Namen »Tausch & Grosse« bekannt. Spätestens ab 1885 übernahm Walter Tausch neben Grosse die Geschäftsführung und beerbte den Firmengründer und Familienangehörigen Hermann Tausch. 1903 erscheint Edgard Thamm als dritter Inhaber des Geschäftes, das schon ein Jahr darauf auf Max Grosse verzichten musste. Vgl. Adressbuch Halle 1867, Erster Nachweis, S. 97; Adressbuch Halle 1869, Erster Nachweis, S. 105; Adressbuch Halle 1885, Erster Nachweis, S. 173; Adressbuch Halle 1902, Erster Theil, S. 416.
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um eine ständige Kunstausstellung und professionalisierten damit ihr Kunstgeschäft. Damit war das Geschäft Tausch & Grosse bis zur Schließung 1926 über dreißig Jahre der Anlaufpunkt einer kunstinteressierten Öffentlichkeit und Käuferschaft. Die Inhaber wagten es schon vor 1900 und als erste, für ihr im Buchhandelsgeschäft wurzelndes Unternehmen den üblicherweise in Halle nur nebensächlich betriebenen Zweig des Kunsthandels zu einem Kern des Unternehmens zu machen. Mit ihm wurde der professionelle Kunsthandel in Halle öffentlichkeitswirksam entwickelt. Mittels der eingerichteten Ausstellungsfläche, auf der dauerhaft Kunstwerke zeitgenössischer Künstler präsentiert wurden, hob sich das Geschäft von den übrigen bestehenden Buch- bzw. Kunsthandlungen ab.242 Die Ausstellung traf auf reges Interesse243 in der halleschen Bevölkerung und wurde wenige Jahre später weiter ausgebaut. Die Eröffnung der neuen Geschäftsräume in der Großen Ulrichstraße 38 im Jahr 1906, in der ein Oberlichtsaal bessere Bedingungen für die Inszenierung der Werke schuf, weist auf die gut gehenden Geschäfte hin. Mithilfe der ständig wechselnden Einzel- und Kollektivausstellungen boten sie dem einheimischen Publikum die Möglichkeit sich jenseits der im städtischen Kunstmuseum gezeigten Ausstellungen über die Entwicklung der zeitgenössischen Kunst zu informieren und stimulierten so das allgemeine Interesse an der bildenden Kunst.244 Wie für öffentliche Ausstellungen üblich, wurde ein Eintrittsgeld (einmalig oder als Abonnement) erhoben.245 Die Selbstbezeichnung als »Kunstsalon« in Dresslers Kunstjahrbuch von 1907 erinnert an den bürgerlich geführten Salon um 1800, in dem Intellektuelle, Künstler und andere Persönlichkeiten von Ansehen in Gesprächen und Darbietungen zueinanderfanden. Die Einrichtung eines Lesezimmers, in dem die Besucher die neuesten Ausgaben der führenden Kunstzeitschriften einsehen konnten, betonte den Aspekt der in 242 Im Geschäftsverzeichnis des Jahres 1896 sind insgesamt fünf Unternehmen aufgeführt, die mit Kunst handelten. Neben Tausch & Grosse bezeichneten sich noch die Pfeffer’sche Buchhandlung (Inhaber K. Stricker) und die Firma Schrödel & Simon (Inhaber Martin Schilling) in ihrer Firmenbeschreibung als Kunsthandlungen. Die Buchhandlungen J. Fricke (Inhaber Adolf Kegel) und Albert Neubert konzentrierten sich stattdessen auf den Handel mit Büchern, Musikalien und antiquarischen Werken. Vgl. Adressbuch Halle 1898, Zweiter Theil, S. 43. 243 Der von der Stadtverwaltung verantwortete Jahresbericht über kommunale Angelegenheiten vermutet, dass die rückläufigen Besucherzahlen des Städtischen Kunstmuseums im Jahr 1899 auf zwei neu eröffnete ständige Ausstellungen (Tausch & Grosse und Kunstsalon Assmann) zurückzuführen seien. Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1898/99, S. 159. 244 Ein Artikel, der anlässlich der Schließung des Geschäftes 1926 erschien, betont in seiner Würdigung der Verdienste Walter Tauschs die ideellen Momente seiner Initiative. Vgl. HN vom 04.09.1926. 245 Der Eintritt betrug einmalig 50 Pfennige, im Abonnement 4 Mark. Die gleichen Eintrittspreise verlangte Assmann für den Besuch seines Kunstsalons, der 1899 bis Ende 1901 bestand. Vgl. Dressler, Kunstjahrbuch 1907, S. 565/566; JbK, 1. Jg. (1902), Sp. 325.
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tellektuellen Beschäftigung mit künstlerischen Belangen. Auch mittels anderer Veranstaltungsformate – Lesungen und offenen Wettbewerben – versuchte das Geschäft ein größeres Publikum zu gewinnen und Barrieren in der Wahrnehmung bildender Kunst abzubauen. Ob sich die Intentionen der Geschäftsführer dezidiert in den Kontext der »Volkskunstbewegung« einordnen lassen, wie es Frieda Teltz in einem Beitrag für die Hallischen Nachrichten suggeriert, kann nicht eindeutig bejaht werden. Zumindest Aspekte dieser zeitgenössischen Bewegung, die anstrebte »echte deutsche Kunst zum Volksgut zu machen« und »die Kunst in Familie und Haus zu tragen«246, haben die Veranstalter wohl geteilt, berücksichtigt man, dass das Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm nicht direkt zum Umsatz des Unternehmens beitrugen. Jenseits der ideell motivierten Kunstpflege und als deren geschäftliche Grundlage war Tausch & Grosse als privatwirtschaftlich geführte Kunst- und Buchhandlung auf Erträge aus dem Kunstgeschäft angewiesen. Zum Verkauf standen originale Gemälde, Plastiken sowie kunstgewerbliche Gegenstände. Dabei gehörten auch weniger Wohlhabende zu ihrer Zielgruppe, denen sie mit Grafiken oder anderen »Schmuckstücken« den Genuss privaten Kunstbesitzes ermöglichen wollten.247 Das Geschäft geriet nach Ende des Krieges zunehmend unter wirtschaftlichen Druck. Nachdem das geschäftliche Bemühen scheiterte und die Ausstellungsräume »dem Eigentümer nachweislich nicht nur nichts einbrachten, sondern zu Opfern im Interesse der Allgemeinheit« führten, kündigte das Geschäft im Spätsommer 1926 den »Total-Ausverkauf« seiner Bestände an.248 Ob der Kunstsalon als Multiplikator der künstlerischen Moderne auftrat oder sich eher im gediegenen bis konservativen Spektrum bewegte, war zeitgenössisch umstritten. Zumindest bis zum Herbst 1913 schien der Kunstsalon nicht durch ein besonders modernes Ausstellungsprogramm aufgefallen zu sein. Im März rezensierte ein Kritiker im General-Anzeiger eine eben eröffnete Ausstellung, von der nur einzelne Werke dem Autor einer Würdigung wert erschienen: »Den Rest der Ausstellung verhülle Schweigen.«, so der Autor über den größten Teil der gezeigten Werke, die er zwar als zeitgenössisch, aber keinesfalls »modern« beschreibt. Mit Verweis auf die populären und kommerziell erfolgreichen Nolde-Ausstellungen des Kunstvereins empfahl er den Salonbetreibern, »den hiesigen Kunstfreunden einmal einige moderne Künstler«249 zu zeigen. Nur ein halbes Jahr später erschien in gleicher Zeitung im Feuilleton ein knapper Ausstellungsbericht, der nahelegt, dass in einer weiteren Ausstellung dann doch Werke moderner Ästhetik präsentiert wurden. Wie der Begleittext der ersten 246 Vgl. HN vom 04.09.1926. 247 Reinus, Kunstausstellung, S. 260. 248 Vgl. ebd. 249 GA vom 15.03.1913, Nr. 63.
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Moderneausstellung des Kunstvereins 1905 kommt dieser Artikel verständnisheischend daher: »Von vornherein ist gleich betont, daß es bei derartigen Äußerungen eines neuartigen Kunstempfindens für den betrachtenden Laien zunächst nicht auf Gefallen oder Abneigung ankommt, sondern vor allem um ein verständnisvolles Kennenlernen der neuen Ziele.«250
Für die Bekanntschaft der halleschen Bürger mit der künstlerischen Avantgarde vor dem Ersten Weltkrieg spielte die Ausstellungstätigkeit des Kunstsalons Tausch & Grosse wohl keine entscheidende Rolle. Dafür waren der Kunstverein und der um 1900 agierende Kunstsalon Assmann von weit größerer Bedeutung. Stattdessen werden im Rückblick auf das Ausstellungsprogramm die Namen zahlreicher, vorrangig deutscher, akademischer Maler genannt, die bereits im Kaiserreich zu großer Popularität und öffentlicher Anerkennung gelangt waren. Ihre stilistische Orientierung reichte von der akademischen Historienmalerei über Vertreter des deutschen Symbolismus bis hin zu impressionistischen Landschaftsbildern. Auch Hans von Volkmann, gebürtiger Hallenser und Akademieprofessor in Karlsruhe, stellte bei Tausch & Grosse aus. Um Ausstellungen dieser »langen Reihe der besten unserer Künstler« dem halleschen Publikum zu präsentieren, habe die »Firma mit größter Opferbereitschaft« gehandelt.251 Ein weiterer Schwerpunkt des Ausstellungsprogramms lag auf der heimischen Kunstproduktion. Walter Tausch wollte »den hallischen Künstlern speziell Gelegenheit … geben, ihre Werke zuerst den kunstliebenden Kreisen ihrer Stadt zu zeigen, um so lebendige, fruchtbare Beziehungen zwischen Künstlern und Publikum herzustellen.«252 In zwei Ausstellungen nach Kriegsende präsentierte der Kunstsalon die Werke hallescher Künstler, die sich jeweils durch eine moderat-moderne Ästhetik auszeichneten. Sowohl die Ausstellung der Werke Otto Fischer-Lambergs, ab 1912 Zeichenlehrer an der halleschen Universität, und seiner Ehefrau Margarete im Sommer 1919253 als auch des »Rings«, einem Kollektiv hallescher Künstler, im Herbst 1920254, wurden von der Presse positiv besprochen. Beide Artikel heben hervor, dass die gezeigten Werke auf angenehme Weise den Akademismus des 19. Jahrhunderts hinter sich ließen, ohne dem »Extrem modernster Kunstrichtungen«255 zu verfallen. Auf diese Weise 250 GA vom 28.05.1913, Nr. 122. 251 Unter anderem waren Walther Fierle (1859–1929), Max Rabes (1968–1944), Gabriel von Max (1840–1915), Eduard Cucuel (1875–1954), Albert Stagura (1866–1947), Ludwig Fahrekrog (1867–1952) und Hans von Volkmann (1860–1927) in Ausstellungen zu sehen. Vgl. HN vom 04.09.1926. 252 HN vom 04.09.1926. 253 Vgl. SZ vom 23.07.1919, Nr. 340 (Beilage). 254 Vgl. HN vom 04.10.1920, Nr. 220. 255 Ebd.
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wurde die Vermittlung der künstlerischen Moderne in die Provinz vorangetrieben. Die Aneignung und Abmilderung avantgardistischer Stilmittel durch lokal verwurzelte Künstler trug zur Anerkennung der künstlerischen Moderne bei einem breiten Publikum bei. Der Rezensent der ersten Ausstellung zwang sich zu Einfühlung in die Werke Fischer-Lambergs, der »bald nach rechts und bald nach links auf den dornenvollen Pfaden der Modernen«256 schlendere. Der Zeichner und Maler Fischer-Lamberg zeigte sich in seinen Werken sowohl vom Expressionismus als auch von kubistischen Einflüssen inspiriert. Vor allem mit der Abweichung von der Naturfarbe bei einem Damenporträt tat sich der Autor schwer: »Das grüne Porträt ist ein Experiment. Die grüne Farbe ist an und für sich schwer zu meistern. Hier ist sie um so rätselhafter, als der Kopf nicht etwa von einer grün umhangenen Lampe beleuchtet, sondern einfach grün ist.«257
In anderen der gezeigten Werke sei er wiederum »unbedingt akademisch zeichnerisch richtig« oder auch »der Impressionist, der er eben ist und bleibt – voraussichtlich.« An der ästhetischen Vielfalt Lambergs und seinen mannigfaltigen Bezügen zur künstlerischen Avantgarde wird der Stellenwert der regionalen Identität eines Künstlers bei der Vermittlung an ein mehrheitlich konservatives Publikum deutlich. Dass Tausch & Grosse als traditionsreiches hallesches Unternehmen regionale Künstler moderner Prägung ausstellte, war für die Integration der künstlerischen Moderne in die künstlerische Provinz bedeutsam. Nach allen kritischen Anmerkungen zu den ästhetischen »Experimenten« des Künstlers kam der Autor zu einem positiven Urteil: »Aber aus allen Bildern spricht der Meister, der moderne Lehrer und Priester einer Kunst, wie sie eben in unsere Zeit hineinpaßt.«258
Mit einer Ausstellung von Werken der halleschen Sezession im Frühjahr 1923 setzte die Kunsthandlung ihre Unterstützungstätigkeit für städtische Vertreter der künstlerischen Moderne fort. Mit Werner Lude, Max Radegast und Paul Radojewski waren hier Künstler vertreten, die sich unmittelbar nach Kriegsende der expressionistisch orientierten Hallischen Künstlergruppe angeschlossen hatten.259 Die Kunsthandlung Tausch & Grosse war seit Eröffnung der ständigen Ausstellung einer der lebendigsten Orte öffentlich zugänglicher Kunstpflege. Vor allem bis zur Neubelebung des Kunstvereins nach 1904 und dem Ausbau des 256 HN vom 04.10.1920, Nr. 220. 257 SZ vom 23.07.1919, Nr. 340 (Beilage). 258 Ebd. 259 Die Stil- und Bildbeschreibungen in der halleschen Presse weisen darauf hin, dass die genannten Künstler in impressionistischer und postimpressionistischer, jedenfalls nicht naturalistischer, Bildsprache arbeiteten. Vgl. HN vom 19.04.1923.
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städtischen Kunst- und Kunstgewerbemuseums zu einem Standort der modernen bildenden Kunst ab 1908 erfüllte das Geschäft eine wichtige Rolle im städtischen Kunstsystem.260 Während der Kriegsjahre, als die Tätigkeiten des Kunstvereins ruhten und der Direktor des städtischen Museums Kriegsdienst leistete, bemühte sich der Kunstsalon, der halleschen Öffentlichkeit weiterhin originale Kunstwerke in wechselnden Ausstellungen zu zeigen.261 Tausch & Grosse war einerseits Anlaufstelle für das kunstinteressierte städtische Publikum. Hier konnten, wenn auch kaum avantgardistische, wenigstens aber zeitgenössische künstlerische Positionen studiert werden. Als erste professionell betriebene Kunsthandlung in Halle besetzte das Geschäft neben dem Kunstverein eine wichtige Position im örtlichen Kunstverkauf und war ein zentraler Umschlagplatz für das Bedürfnis nach Ausstattung der Wohnzimmer mit Gemälden oder Grafiken – zumal der Kunstverein ja nur in längeren Abständen ausstellte. Dass auch hallesche Künstler bereits um 1900 im Sortiment der Kunsthandlung vertreten waren, ist anzunehmen, aber nicht belegt.262 Spätestens nach Ende des Krieges waren die Namen hallescher Künstler eng mit der Kunsthandlung verbunden. In zahlreichen Ausstellungen boten die neuen Geschäftsführer einheimischen Künstlern Gelegenheit sich öffentlich bekannt zu machen. Zwar ist das Wirken der Kunsthandlung für die hallesche Künstlerschaft nicht monetär zu beziffern, übte aber auf die Wahrnehmung der lokalen Kunstproduktion in der halleschen Öffentlichkeit eine ernstzunehmende Wirkung aus. Neben dem Halleschen Kunstverein und der Lokalpresse war Tausch & Grosse einer der Anwälte der vor Ort ansässigen Künstler. Das Unternehmen ergänzte deren Aktivitäten zur Selbstvermarktung und setzte sich mit seinem Renommee der ersten professionellen und langlebigen Kunsthandlung öffentlichkeitswirksam für die halleschen Künstler ein.
3.2.3 Großstadtflair und Künstlertreff – Der Salon Willy Assmann Ein Unternehmen, das nicht nur den Unterhalt des Personals erwirtschaften, sondern dessen Gewinn auch die darüber hinaus betriebene Kunstpflege (Ausstellungen, Zeitschriften-Abonnements) ermöglichen sollte, stand innerhalb des halleschen Kunstsystems, das sich um 1900 entfaltete und in dem sich die Ansichten über Kunst erst ausdifferenzierten, unter starkem wirtschaftlichen Druck. Bevor die Buch- und Kunsthandlung Tausch & Grosse mit dem Bezug der neuen Ausstellungsräume in der Ulrichstraße zum bedeutendsten Akteur 260 Vgl. Ausstellung Originalzeichnungen »Jugend«. – 1898 wurden im Rahmen der Salon ausstellung originale Zeichnungen aus der avantgardistischen Zeitschrift »Jugend«, die die Entwicklung des Jugendstils begleitete und vorantrieb, präsentiert. Vgl. Rennhofer, Kunstzeitschriften, S. 20/21. 261 Vgl. HZ vom 01.09.1917, Nr. 446 (Erste Beilage). 262 Vgl. Hallische Mappe; Kopp, Künstlerverein, S. 72.
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im halleschen Kunsthandel avancierte, versetzte der Kunstsalon Assmann dem Kunstleben der Stadt in den wenigen Jahren seines Bestehens starke Impulse.263 Der 1872 in Halle geborene und in Berlin an der Technischen Hochschule ausgebildete Architekt Willy Assmann entwarf und baute für das Grundstück in der Alten Promenade 8 ein viergeschossiges Stadthaus, das sich stilistisch und farblich deutlich von den sonst historistisch orientierten halleschen Bauten unterschied. Den Jugendstilbau, der sich an Vorbildern aus Belgien und England orientierte und auch sonst von großstädtischem Charakter ist, plante Assmann als multifunktionales Gebäude, das sowohl Wohn- als auch Geschäftsräume beherbergte. Im Erdgeschoss des Vorderhauses waren die Räumlichkeiten für ein Ladenlokal und eine Weinstube eingerichtet. In den Stockwerken darüber befanden sich Mietwohnungen großbürgerlichen Zuschnitts. Im verwinkelten Gebäudekomplex lagen außerdem zwei Kneipsäle, die abendlichen Veranstaltungen studentischer Verbindungen vorbehalten waren. Die hofseitige Bebauung zum Kaulenberg 4 nutzte Assmann selbst als Wohn-, Arbeits-, Ausstellungs- und Geschäftsraum.264 Der spezielle, funktionale Zuschnitt des Hinterhauses deutet darauf hin, dass Assmann – der zum Baubeginn gerade einmal Mitte Zwanzig war – sich dauerhaft in Halle niederlassen wollte. Als Bauherr und Eigentümer trug er das finanzielle Risiko für den gesamten Baukomplex. Bevor Assmann den Neubau in der Alten Promenade 8 bezog, betrieb er gemeinsam mit seinem Kollegen Emil Seydel, der im Mai 1898 an den Folgen eines Schlaganfalls verstarb, ein Architekturbüro.265 Als »Atelier für Architektur und Bauausführung« bzw. »Kunsthandwerk« führte Willy Assmann das Unternehmen in seinem Neubau fort. Später benannte er sein Geschäft in »Hallesche Werkstätten für Kunst und Kunstgewerbe« um. Der Kunstsalon, in dem er eigene und die Arbeiten anderer Künstler bzw. Kunsthandwerker zeigte und der fester Bestandteil der Gebäudeplanung war, wurde im November 1899 eröffnet. Zur Eröffnung der »permanenten Ausstellung für Kunst und Kunstgewerbe« fanden sich nicht nur zahlreiche hallesche Bürger, sondern auch Mitglieder des städtischen Magistrats und der Stadtverwaltung ein. Die Anwesenheit des halleschen Oberbürgermeisters Gustav Staude, der durch seinen jahrelangen Ehrenvorsitz im Kunstgewerbeverein sein Interesse an dessen Entwicklung bezeugt hatte, würdigte das Unterfangen Assmanns zusätzlich.
263 Tina Ehlers hat in ihrer unveröffentlichten Magisterarbeit erstmals das Wirken des Kunstsalons Assmann beschrieben. Sie arbeitete heraus, dass der Kunstsalon für die früheste Präsentation moderner französischer Impressionisten in Halle überhaupt verantwortlich war. Eine Zusammenfassung ihrer Forschungsergebnisse zum Kunstsalon erschien unlängst: Vgl. Ehlers, Kunstverein und Kunstsalon. 264 Vgl. Brülls / Dietzsch, Architekturführer, Nr. 59. 265 Vgl. Adams, Todtenschau, in, S. 264. Es ist denkbar, dass die Kollegen planten ihr »Büro für Architektur und Bauausführung« an der neuen Adresse gemeinsam fortzuführen.
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Der Kunstsalon Assmann, der in der öffentlichen Wahrnehmung bald das Zentrum des Assmann’schen Unternehmens ausmachte, war in seiner Anlage und der Konzentration sowohl auf die bildende Kunst als auch auf das Kunstgewerbe im halleschen Kunstsystem einmalig. Diesen Eindruck musste auch der Oberbürgermeister gehabt haben, der in seiner Eröffnungsansprache den Kunstsalon als »eigenartiges Unternehmen« bezeichnete. Während Tausch & Grosse zu diesem Zeitpunkt keine kunstgewerblichen Produkte in ihr Ausstellungsbzw. Verkaufsprogramm aufnahmen266, thematisierte Willy Assmann in seiner Eröffnungsrede das Kunsthandwerk, das »in Anlehnung an die Kunst … neue Nahrung und Verständnis gefunden« habe, explizit als herausragende Leistung des zeitgenössischen Kunstschaffens. Die Erwähnung des Salons in der überregional erscheinenden »Kunstchronik« stellte in erster Linie auch das kunstgewerbliche Sortiment mit »Wohnungseinrichtungen, Zimmerausstattungen, Möbel[n], Teppiche[n], Stickereien, keramische[n] und Metallgefäße[n], Gläsern, kurz alle[n] Gegenstände[n] des modernen Kunsthandwerkes«267 vor. Assmanns Mitgliedschaft im Verwaltungsrat des Kunstgewerbevereins in den Geschäftsjahren 1901/02 und 1902/03 zeigt zudem seine Nähe zum Kunstgewerbe.268 Seine Intention schloss sich eng an den Bildungsanspruch des Kunstgewerbevereins, der »unseren Mitbürgern, den arbeitenden wie den kaufenden«, eine »höhere Ausbildung« durch »praktischen Anschauungsunterricht … an mustergültigen Werken« zukommen lassen und so »den Geschmack des Laien und des Handwerkers vertiefen«269 wollte. Ganz ähnlich erklärte Willy Assmann das Ziel seines Instituts, das »weiteren Kreisen auch, soweit das einem privaten Unternehmen möglich ist, durch Vorführung mustergültiger Werke den Geschmack zu veredeln und den Sinn für Kunst und Kunstgewerbe zu erwecken« suche.270 Die mondäne Ansicht des Hauses Assmann spiegelte sich in den Ausstellungräumen des Kunstsalons wieder, dessen Ausstellungsprogramm und Präsentationsformat von Berliner Einrichtungen dieser Art inspiriert war. In einer zeitgenössischen Einschätzung heißt es, er könne »sich den in Berlin seit einigen Jahren bestehenden Salons ebenbürtig an die Seite stellen.«271 Im Oktober 1897 – nur zwei Jahre vor Eröffnung des Salons in Halle – hatten der Innenarchitekt Martin Keller und Carl R. Reiner in Berlin den Kunstsalon »Keller 266 Vgl. Jbk, 2. Jg. (1903), Sp. 325. 267 v. M., Halle a. S., Sp. 413–414. 268 1901 beteiligte sich Assmann selbst erfolgreich an einer Konkurrenzausschreibung des Kunstgewerbevereins. Als Gewinner führte er das Goldene Buch der Stadt Halle aus, das anschließend für einige Zeit in seinem Salon präsentiert wurde. Den Mitgliedern des Kunstgewerbevereins gewährte er freien Eintritt zu seinen Ausstellungen. Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1901, S. 5. 269 Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1894, S. 7. 270 Zitiert nach Tina Ehlers aus einem Bericht über die Eröffnung des Kunstsalons im Generalanzeiger der Stadt Halle vom 02.12.1899. Vgl. Ehlers, Kunstverein und Kunstsalon, S. 83. 271 v. M., Halle a. S., Sp. 413/414.
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& Reiner« gegründet, der als erster seiner Art sowohl Kunstgewerbe als auch Werke der bildenden Kunst in seinen Räumen ausstellte und verkaufte.272 Das erfolgreiche273 Unternehmen, das »eine Sammelstelle der modernen decorativen Kunst sein sollte, um zugleich die Werke der hohen und angewandten Kunst harmonisch zu vereinigen und so das geistige Band um alle künstlerischen Ausdrucksformen zu schlingen«274 scheint für die Einrichtung des Salon Assmann geradezu vorbildhaft gewesen zu sein. Wie bei Keller & Reiner bildeten auch im halleschen Kunstsalon Zimmereinrichtungen einen grundlegenden Bestandteil des Ausstellungsarrangements, in das andere kunstgewerbliche Gegenstände und einzelne Kunstwerke eingefügt wurden. Hier wie dort war das Konzept der Raumkunst verbindliche Grundlage der Präsentation.275 Beide Unternehmen ähnelten sich auch in ihrem Bezug zur künstlerischen Moderne, die sie schwerpunktmäßig, aber nicht ausschließlich vertraten. So reichte das Möbelangebot des Berliner Kunstsalons von Schöpfungen van de Veldes bis zu historistischprunkvollen Raumausstattungen im Stil von Louis XVI.276 Der größte Coup gelang Assmann Anfang des Jahres 1901 mit einer Ausstellung von Werken des französischen Impressionismus, die so erstmals in Halle zu sehen waren und die der halleschen Presse mehrheitlich positive Beurteilungen entlockte.277 Berücksichtigt man, dass Werke des französischen Impressionismus erst ab Mitte der 1890er Jahre überhaupt im deutschen Kunsthandel erhältlich waren und selbst in Berlin vor 1900 nur eine Handvoll Sammler und Liebhaber hatten,278 wird die Nähe der halleschen Ausstellung zur Avantgarde deutlich. In Berlin war es wiederum der Salon Keller & Reiner, der eine Vorreiterrolle in der Popularisierung der Kunst des französischen Impressionismus einnahm. Seine erste Ausstellung »Moderner französischer Meister« fand im November 1898 statt. Danach waren führende französische Impressionisten, die auch in Halle von Assmann gezeigt wurden, regelmäßig im Salon vertreten.279 272 Vgl. Berding, Kunsthandel, S. 129. 273 Laut Alfred Lichtwark hatte der Salon 300–400 zahlende Besucher und viele Käufer täglich zu verzeichnen. Der Erfolg des Unternehmens machte mehrere Geschäftsvergrößerungen notwendig. Bis 1936 ist seine Existenz nachzuweisen. Vgl. ebd., S. 130 f. 274 Kunstsalon Keller und Reiner, Ausstellung erster deutscher Meister. 275 Vgl. -u-, Halle, Sp. 76; Berding, Kunsthandel, S. 139 f. 276 Tina Ehlers kommt zu diesem Schluss nach der Auswertung zahlreicher Artikel aus halleschen Tageszeitungen, die einen Rückschluss auf das Ausstellungsprogramm ermöglichen. Demnach gelang Assmann »der Spagat zwischen konservativer und moderner Kunst«. Vgl. Ehlers, Kunstverein und Kunstsalon, S. 86. Ebenso changierte das Programm der Berliner Kunsthandlung zwischen historistischer und moderner Ausrichtung. Vgl. Berding, Kunsthandel, S. 132 ff. 277 Vgl. Ehlers, Kunstverein und Kunstsalon, S. 89 f. 278 Vgl. Feilchenfeldt, Einleitung, S. 13–18. 279 Von den bekannten Teilnehmern der halleschen Ausstellung waren auch Alfred Sisley, Camille Pissaro, Auguste Renoir und Edgar Degas im Bestand der Kunsthandlung Reiner & Keller vertreten. Vgl. Berding, Kunsthandel, S. 164; Ehlers, Kunstverein und Kunstsalon, S. 89.
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Anders als Tausch & Grosse, die Galerie Albert Neubert und andere, weniger bedeutende Akteure des städtischen Kunsthandels kam der Kunstsalon Assmann nicht aus dem Kreis der traditionsreichen städtischen Buchhandlungen, deren Besitzer der bildenden Kunst als Liebhaber verbunden waren und deshalb ihre öffentliche Pflege betrieben. Stattdessen firmierte die Geschäftsadresse Assmanns im Gewerbeverzeichnis des Adressbuchs als »kunstgewerbliches Atelier«, in dem kunstgewerbliche Gegenstände nicht nur ausgestellt, sondern auch produziert wurden. Die eigenen und fremden kunsthandwerklichen Erzeugnisse sowie Kunstwerke wurden zudem in den Ausstellungsräumen präsentiert und zum Kauf angeboten. Auch in diesem Punkt verfolgten Reiner & Keller in Berlin und Assmann in Halle die gleiche Strategie und verbanden Werkstatt und Salon in einem Unternehmen. Jenseits von Produktion und Verkauf pflegte Assmann in seinem Salon auch den intellektuellen Austausch über die Entwicklung der künstlerischen Moderne. Unter anderen sprachen Paul Schultze-Naumburg und Alfred Köppen in öffentlichen Vorträgen über Aspekte der gegenwärtigen Kunstentwicklung.280 Seinen Anspruch, einen »Sammel- und Stützpunkt« für künstlerische Bestrebungen zu bilden, erfüllte das Haus Assmann, das im Jahrbuch für bildende Kunst unter der Bezeichnung »Künstlerhaus St. Lukas« firmierte, um 1900 auch als Wohn- bzw. Atelieradresse für einige hallesche Künstler.281 Die Zusammensetzung der Mieter fluktuierte stark. Einzig der Kunst- und Porträtmaler Sigmund von Sallwürk unterhielt dort bis 1909 über fünf Jahre sein Atelier mit angeschlossener Malschule. Bis zu ihrer Auflösung war das Haus auch Heimstätte der »Skizzenklause Jugend«, aus der 1903 der erste hallesche Künstlerverein hervorging. Mit seinen Räumlichkeiten, die den Anforderungen an künstlerische Arbeitsräume genügten, seinen Kontakten zu halleschen Künstlern sowie seinen Kunst- und Kunstgewerbeausstellungen schuf Assmann eine Begegnungsstätte sowohl für die Künstlerschaft als auch ihr Publikum. Umso überraschender erscheint sein Rückzug – zuerst mit einer umfassenden Versteigerung seiner Lagerbestände Ende 1901282, schließlich mit seinem Weggang aus Halle spätestens 1904.283 Sein dortiges Haus, das er nach seinem Umzug nach Berlin von einem Familienangehörigen verwalten ließ, geht spätestens 1909 in den Besitz des Rentiers Hugo Heckert über. Trotz des öffentlichen Erfolgs, 280 Vgl. ebd., S. 85. Auch im Salon von Keller & Reiner fanden derartige Veranstaltungen statt. Vgl. Berding, Kunsthandel, S. 132. 281 Adressbuch Halle 1900–1909, jeweils Verzeichnis der Straßen und Häuser. 282 Vgl. Ehlers, Kunstverein und Kunstsalon, S. 92/93. 283 Das hallesche Adressbuch nennt Hannover als Assmanns Aufenthaltsort, bevor er sich als Architekt in Berlin niederließ. Es legt zudem nahe, dass er in Berlin als Buchhändler beschäftigt war. Das Adressbuch des deutschen Buchhandels 1920 verzeichnet Willy Assmann als Geschäftsführer der Verlagsbuchhandlung Gose & Tetzlaff in Berlin. Vgl. Müllers Adreßbuch des Deutschen Buchhandels und verwandter Berufszweige, 25. Jg. (1920), S. 86.
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den der Kunstsalon Assmann feierte, war dem Unternehmen in Halle keine lange Existenz beschieden. Bisher ist ungeklärt, ob Assmann sein Unternehmen aus finanzieller Bedrängnis aufgab oder ihn andere Gründe zum Weggang veranlassten. In der Landschaft des halleschen Kunsthandels hinterließ er mit dem Ende seines vielgliedrigen Unternehmens eine Lücke. Für kurze Zeit hatte er die Stadt in der preußischen Peripherie in die Nähe aktueller künstlerischer Entwicklungen gerückt. Er ermöglichte für ein größeres Publikum neuartige Kunsterfahrungen, brachte hallesche Künstler zusammen und stellte ein für Halle neuartiges Modell des ideell motivierten Kunsthandels vor. Das Geschäft Tausch & Grosse profitierte gewiss von dieser Situation und konnte das durch Assmann gesteigerte Kunstbedürfnis auf sich lenken. Die Kunsthandlung adaptierte nicht nur die Bezeichnung als Kunstsalon, sondern machte sich auch dessen Praktiken der Kunstpflege zu eigen.
3.2.4 Galerie Albert Neubert – ein »sachliche[r] Querschnitt durch das Schaffen der Zeit«284 Das Geschäft Albert Neuberts avancierte in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zum zentralen Umschlagplatz des halleschen Kunsthandels einerseits und der Kunstpflege andererseits. Während sich Neubert in den ersten Jahren seiner geschäftlichen Tätigkeit auf den Buchhandel konzentrierte – 1890 übernahm er die Geschäftsführung einer seit 1875 bestehenden Buchhandlung und kaufte 1906 den Bestand der traditionsreichen Pfeffer’schen Buchhandlung an –, ergänzte er darauf seinen Betrieb um eine Kunsthandlung. Mitte der zwanziger Jahre umfasste die Kunstabteilung des Geschäftes, das sonst vor allem belletristische und akademische Literatur vertrieb, »etwa 150 Original-Gemälde erster zeitgenössischer Künstler«, etwa 1.200 Radierungen und 1.500 Reproduktionen aller Art.285 Zwei Jahre nachdem die Kunsthandlung Tausch & Grosse aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten geschlossen wurde, eröffnete Albert Neubert nach einjähriger Bauzeit im Anschluss an seine Buch- und Kunsthandlung eine »Verkaufs-Gemäldegalerie«. Die von dem Architekten Sigmund Strudel geleiteten Umbaumaßnahmen betrafen sowohl die Verkaufsräume im Erdgeschoss des Ladengeschäftes als auch die erste Etage. Während die Einrichtung der Buch- und Kunsthandlung modernisiert und mit neuen technischen Details ausgestattet wurde, war der Umbau der darüber liegenden Wohnräume zu einem Rundgang aufwendiger. Bei der offiziellen Einweihungsfeier im Juni 1929 verwies Albert Neubert, der inzwischen seinen Sohn zum Teilhaber des Geschäftes gemacht hatte, auf die krisenhafte Situation des Buchhandels und seinen trotzigen Op 284 HN vom 22.11.1928, Nr. 275. 285 Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, C 110 Halle Nr. 907, Diverses, S. 12; HN vom 04.09.1928, Nr. 218.
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timismus, den er mit der Erneuerung und Erweiterung seines Ladengeschäftes ausdrücken wollte. Neuberts Zuversicht wurde von den Zeitgenossen geteilt und die Bedeutung des Geschäfts für den lokalen Buch- und Kunsthandel von verschiedenen Seiten betont.286 Die Gäste- und Rednerliste der Einweihungsfeier war prominent besetzt mit auswärtigen und städtischen Persönlichkeiten. Aus Jena reiste Eugen Diederichs an, der die Schriften Friedrich Nietzsches, Klassiker der Romantik und Schriften zur »Deutschen Kultur« verlegt hatte. Anwesend waren zudem der Direktor der Universitätsbibliothek als größtem Abnehmer Neuberts im Bereich der wissenschaftlichen Literatur sowie der Kreisschulrat und Vorsteher der Stadtverordnetenversammlung Friedrich Busse, der dem Akt als ranghoher Kommunalpolitiker beiwohnte. Neuberts Gespür täuschte ihn nicht: Anders als Tausch & Grosse überstand die Buch- und Kunsthandlung Neubert die wirtschaftlich schwierige Nachkriegszeit und expandierte 1924 mit einer Zweigstelle nach Leuna. Auch zu Beginn der dreißiger Jahre konnte das Geschäft seine Umsätze weiter steigern und beschäftigte 1933 elf Mitarbeiter. Die Kunsthandlung und Galerie Neubert bestand über die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten hinaus.287 In den Galerieräumen über dem Geschäft konnten Besucher noch zu Beginn der vierziger Jahre Gemälde aus Neuberts Privatsammlung betrachten.288 Nach Ende des Krieges wurde die Galerie Neubert bis 1953 in Halle fortgeführt und präsentierte weiter Ausstellungen.289 Neuberts Interesse galt sowohl der zeitgenössischen Literatur als auch der bildenden Kunst. Diese beidseitige Neigung zeigte sich unter anderem in seiner verlegerischen Tätigkeit, in der er 1931 die Novelle »Mönch« des Schriftstellers und Theaterintendanten Günther L. Barthel in seinem Verlag »Kreis von Halle« mit einer Radierung des jahrelang in Halle ansässigen Künstlers Rudolf Baschant herausgab. Sie wurde aber auch greifbar in den in den Galerieräumen stattfindenden Lesungen und Vortragsabenden, zu denen Neubert zum Teil vielgelesene Schriftsteller einlud.290 286 Anlässlich des fünfzigjährigen Firmenjubiläums gratulierte ihm 1925 die Handelskammer zu seinem erfolgreichen Geschäft, dass »eine glückliche Entwicklung genommen hat und zu den angesehensten Firmen unserer Vaterstadt gehört.« LHA Sachsen-Anhalt, C 110 Halle Nr. 907, Bl. 14; HN vom 27.06.1929, Nr. 148. 287 Vgl. ebd., Bl. 7. 288 Vgl. HN vom 12.09.1940, Nr. 215. 289 Vgl. Müller-Wenzel, »Kunst oder Dekadenz«, S. 104. 290 Im Oktober 1930 war Eugen Diesel für einen öffentlichen Auftritt in den Galerie räumen Neuberts zu Gast. Diesel, der in den Naturwissenschaften promoviert hatte und eine Zeit lang im Automatengeschäft tätig war, sich aber ab 1925 ganz der Schriftstellerei zuwandte, entsprach sowohl Neuberts Interesse an zeitgenössischer als auch an Industrieliteratur. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, C 110 Halle Nr. 907, Diverses, S. 8/9; »Diesel, Eugen« in Munzinger Online / Personen – Internationales Biographisches Archiv, URL: http://www. munzinger.de/document/00000001931 [zuletzt abgerufen am 09.06.2016, I. S.-W.]. – Außer-
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Ähnlich wie Assmann um die Jahrhundertwende war Neubert im städtischen Kunstsystem auch über seine geschäftliche Tätigkeit hinaus verwoben: Gemeinsam mit dem Kunstverein veranstaltete er um die Jahreswende 1930/31 eine Ausstellung mit Werken des halleschen Künstlers Otto Fischer-Lamberg, von Alfred Kubin, Max Beckmann und Erich Heckel. Neben Fischer-Lamberg, der im lokalen Kunstgeschehen eine bedeutende Größe war, zeigte er damit herausragende Vertreter der Klassischen Moderne in Halle. Andererseits präsentierte er im Schaufenster seines Geschäftes auch Aquarelle des halleschen Landschafters Wilhelm Busse-Dölau, der mit seinen Alpendarstellungen eher an die Traditionen der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts anschloss.291 Auch in seiner Tätigkeit als Verleger trat er mit Akteuren des Kunstsystems in Verbindung. In seinem Verlag erschienen 1930/31 die ersten vier Ausgaben der Monatsschrift »Kreis von Halle«, in der hallesche Künstler und Intellektuelle kulturelle und wirtschaftliche Zeitfragen diskutierten und Nachrichten über die städtische Kulturlandschaft publiziert wurden.292 Die Galerie Neubert verfolgte im Buch- wie im Kunsthandel sowohl kommerzielle als auch künstlerische Interessen. Der Bestand erstreckte sich von günstigen künstlerischen Reproduktionen bis zu hochdotierten Gemälden zeitgenössischer Künstler. Er wandte sich damit einerseits an den Kleinverdiener, der auf der Suche nach »gute[m] Wandschmuck« im ersten der vier Galerieräume eine »Auswahl, vom wohlfeilsten Farbdruck bis zum künstlerischen und drucktechnisch vollkommensten Lichtdruck« ansehen und »sicher etwas seinem Geschmack und seinen Mitteln Entsprechendes«293 finden würde. Die originalen Gemälde in den drei übrigen, teilweise mit natürlichem Oberlicht ausgestatteten Sälen waren von der Hand zeitgenössischer Künstler. Unter den bei der Eröffnung der Galerieräume angebotenen Werken befanden sich Werke der Zeitgenossen Ernst Dorn, Alexander Köster, Hans Maurus und August Rösler,294 die vorrangig als Landschafts- und Historienmaler arbeiteten und deren Bildsprache grob als gemäßigt modern beschrieben werden kann. Zwar bedienten sie sich impressionistischer Stilmittel, standen dem Expressionismus und den avantgardistischen Strömungen der zwanziger Jahre aber fern. Diese Künstler konnten sich weder mit der experimentellen Farbigkeit der Werke Fischer-Lambergs noch mit der unverwechselbaren Bildsprache und den bedrückenden Motiven Max Beckmanns oder Alfred Kubins messen. Insofern stellte
dem sprachen die im deutschsprachigen Raum populären Schriftsteller Servatius Josef Ponten, Karl Heinrich Waggerl und Ernst Wiechert an Veranstaltungsabenden bei Neubert. Vgl. HN vom 02.01.1937, Nr. 1. 291 Vgl. Redslob, Rückschau; HN vom 25.10.1927. 292 Vgl. Dietzel / Hügel, Deutsche literarische Zeitschriften, S. 669. 293 HN vom 22.11.1928, Nr. 275. 294 Vgl. ebd.
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die gemeinsam mit dem Kunstverein veranstaltete Ausstellung eine Besonderheit in Neuberts Kunstkanon dar.295 Neuberts Bedeutung für die hallesche Künstlerschaft lag in erster Linie in seinem Engagement für die Vernetzung der Akteure des Kunstsystems untereinander. Zwar tauchen punktuell hallesche Künstler in seinem Programm auf, stehen aber nicht im Zentrum seiner Förder- und Geschäftstätigkeit. Stattdessen setzte er in seinen Lesungen und seiner Ausstellung auf auswärtige und überregional bedeutende Künstler.
Fazit Der privatwirtschaftliche Kunsthandel in Halle bildet einen wichtigen Aspekt in der Entwicklung des städtischen Kunstsystems, war er doch seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gegenüber der städtischen Kulturpolitik ein ernstzunehmendes Gewicht. Das bisher von der Allianz von Bürgertum und Stadtverwaltung dominierte Machtgefüge im Kunstsystem wurde um eine spezifische Gruppe von Akteuren erweitert, die in verschiedener Form eine enge Verbindung zur lokalen Künstlerschaft pflegte. Durch die zum Teil intensive Zusammenarbeit mit halleschen Künstlern unterstützen die Kunsthandlungen deren Vernetzung und Positionierung im Kunstsystem. Für die halleschen Künstler bedeutete die Professionalisierung des örtlichen Kunsthandels zweierlei: Einerseits konnten sie als Besucher der wechselnden Ausstellungen Impulse für ihre eigene künstlerische Arbeit empfangen. Andererseits waren die Kunsthandlungen für die vor Ort tätigen Künstler eine wichtige Ergänzung zur Vermarktung ihrer Werke. Mit den Kunsthandlungen trat ein neues Scharnier zwischen Publikum und Künstler, die ihre Werke bis dahin vorrangig direkt aus ihrem Atelier verkauft hatten. Die prominent im Stadtbild situierten Geschäfte generierten für die Ausstellungen einheimischer Künstler eine weitere städtische Öffentlichkeit, die die Künstler in ihren eigenen Anstrengungen zur Selbstvermarktung nur punktuell erreichten. Mit der Auswahl einzelner Künstler, deren Werke sie in Ausstellungen bewarben oder die sie auf Kommission in ihrem Lager bereithielten, sanktionierten die Kunsthändler bestimmte künstlerische Positionen im halleschen Kunstsystem und stärkten die soziale Position der Künstler darin. Die mit den Namen Tausch & Grosse und Willy Assmann verbundene Professionalisierung des örtlichen Kunsthandels, der sich zuvor im Wesentlichen auf die Veräußerung von Antiquitäten und Reproduktionen beschränkt hatte, begleitete das in der Klassischen Moderne neu erwachte Interesse an der ästhe 295 Ein zur Ausstellungseröffnung erschienener Zeitungsartikel beschrieb die in den Galerieräumen dargebotenen Werke als »einen sachlichen Querschnitt durch das Schaffen der Zeit«. Die Wortwahl verrät, dass ästhetische Experimente nicht Bestandteil des Galerieprogramms waren. Vgl. HN vom 22.11.1928.
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tischen Dimension der Kunst. Die Angebote der vorgestellten Geschäfte gingen schrittweise über den dekorativen Gehalt des Kunstwerkes hinaus und ergänzten ihr materielles Angebot um Informations- sowie Diskussionsveranstaltungen. Sie hoben sich von anderen Kunsthandlungen vor allem aber dadurch ab, wie sie die Werke präsentierten. In eigens präparierten Räumlichkeiten wurde den Besuchern die Möglichkeit eröffnet, die Werke im Rahmen einer Kunst ausstellung zu besichtigen.296 Damit konnten die Werke als individuelle Schöpfungen wahrgenommen werden und rückte ihr jeweils eigener ästhetischer Gehalt in den Mittelpunkt. Stand die ständige öffentliche Kunstausstellung, die besonders von Tausch & Grosse intensiv beworben wurde, auch im Zeichen der möglichst vorteilhaften Präsentation zu kommerziellen Zwecken, ging ihr Ziel doch auch darüber hinaus. Jenseits der reinen Verkaufsausstellungen veranstalteten die Kunstgeschäfte wechselnde Einzel- und Kollektivausstellungen, die nicht in erster Linie den Verkauf der Ausstellungsstücke zum Ziel hatten, sondern in denen sich das Publikum »auf dem Gebiete der Malerei und der grafischen Künste auf dem Laufenden«297 halten konnte. Der Schauwert der Kunstwerke wurde gegenüber ihrem Wert als Besitz betont, wenngleich die Kunsthandlungen weiterhin ein großes Sortiment an »Sofabildern«298 bereit hielten. Es ging nicht mehr ausschließlich darum, den Geschmack des Publi kums zu bedienen, sondern auch ihn zu bilden und weniger leicht konsumierbare Werke vorzustellen. Die Kunsthändler nahmen damit zwischen den produzierenden Künstlern und den Konsumenten eine Mittlerrolle ein, die das mitunter spezielle Angebot und die Nachfrage zusammenführten und an wenigen Orten konzentrierten.
4. Kunstgewerbe als Konzept zwischen Wirtschaftsförderung und Gesellschaftsutopie – ein bestimmender Faktor künstlerischer Entwicklung in Halle 4.1 Kunst, Gewerbe und Industrie – Bedingungen und Begriffe der Kunstgewerbebewegung um 1900 Das Nachdenken über eine fruchtbare Verbindung von bildender Kunst und Gewerbe hatte seit Beginn der Moderne in der Sattelzeit um 1800 immer wieder Konjunktur. Das Kunstgewerbe als theoretisches Konzept wurde jedoch erst in 296 Allgemein zur Einführung der öffentlichen Kunstausstellung als wesentlichem Merkmal des nachhöfischen Kunstsystems siehe Bätschmann, Ausstellungskünstler. 297 Reinus, Kunstausstellung, S. 259. 298 Sauerlandt bezeichnete mit dem Begriff des Sofabildes die Unterordnung des Künstlers unter die Bedürfnisse des Publikums, das ihnen sowohl die ästhetische Gestalt als auch den Preis vorschreibe. Vgl. Sauerlandt, Sofabild, S. 7 f.
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der Klassischen Moderne entwickelt und langfristig erfolgreich. Den historischen Hintergrund der Wiederannäherung von bildender Kunst und Handwerk in der Moderne bildet die seit dem Ende des Mittelalters und deutlich dann in der Renaissance von den Künstlern vorangetriebene Absonderung vom Handwerkerstand. Zuvor waren sie fest in handwerklichen Korporationsverbänden integriert und künstlerische und handwerkliche Tätigkeit eng miteinander verwoben. Indem die Künstler ihre Werke per Signum als die einer individuellen Künstlerpersönlichkeit kennzeichneten, veränderte sich ihre soziale Stellung. Wie der Künstler im gesellschaftlichen Ansehen stieg, so veränderte sich auch die Wahrnehmung des Kunstwerks, das der Sphäre alltäglichen Gebrauchs enthoben und zu einem Objekt kontemplativer Anschauung wurde. Nachdem in den Jahren um 1800 an provinzialen Kunstschulen – unter anderen wurde eine solche in Halle unter der Leitung Christian Friedrich Pranges gegründet, die in engem Austausch zur Berliner Akademie der Künste stand und auch Handwerker aufnahm – von staatlicher Seite die Nähe von Kunst und Handwerk noch befördert wurde, löste sich diese Verbindung kurze Zeit später erneut und nachhaltiger als zuvor. Wilhelm Waetzoldt, der 1912 auf Adolph Goldschmidt als Professor für Kunstgeschichte folgte und 1920 ins Kultusministerium nach Berlin berufen wurde, geißelte die aktiv betriebene Entfremdung von (akademischer) Kunst und (Kunst-)Handwerk: »Ja selbst innerhalb der freien Künste unterschied ein wissenschaftlich-ästhetischer Hochmut zwischen akademiefähigen Kunstgattungen und solchen zweiten Ranges. In diesen Auffassungen wurzelt die fast das gesamte 19. Jahrhundert herrschende Entfremdung zwischen den Bildungswegen und Zielen der Nation und dem künstlerischen Leben; hier wurde zuerst das Band gelöst, das bisher Kunst und Handwerk verknüpfte.«299
Der Kunstbegriff des Klassizismus als vorherrschender geistiger Strömung der bürgerlichen Gesellschaft zementierte diese Unterscheidung auf lange Sicht. Die Befreiung von außerkünstlerischen (politischen, religiösen und eben auch praktischen) Verwendungsansprüchen gipfelte im L’art pour l’art. Der Schritt in die scheinbar absolute Freiheit stürzte die Kunst in eine Sinnkrise und viele Künstler in finanzielle Nöte. In der Kunstgewerbebewegung um 1900 wurden Wege einer neuerlichen Annäherung eröffnet, die zu diesen im 19. Jahrhundert aufgebrochenen Problemlagen Lösungen versprachen. Im Kunstgewerbe fanden Künstler eine neuerliche Bindung an die Gesellschaft und der Erlös gebrauchsfähiger, nach ästhetischen Gesichtspunkten gestalteten Gegenständen ermöglichte ihnen eine wirtschaftliche Existenz. Auf einer anderen Ebene hatten die Industrialisierung im 19. Jahrhundert und die industrielle Warenproduktion ebenfalls einen Weg für eine neuer 299 Waetzoldt, Entwicklung, Teil 1, S. 240.
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liche Synthese von Kunst und Gewerbe geschaffen. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und damit in der Frühphase der Industrialisierung in Deutschland hatten Karl Friedrich Schinkel und Peter Beuth Kunst und Gewerbe in ihren Überlegungen zusammengebracht. In staatlichem Auftrag fertigte Schinkel Vorlagen für die industrielle Produktion, die bald für den Bedarf der Industrien und der Konsumenten nicht mehr ausreichten. Diese frühe Form der künstlerischen Anleitung der industriellen Produktion wurde nicht fortgeführt und bald darauf bestimmte massenhaft produzierte Billigware das Warenangebot. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden in immer schnellerer Abfolge Gegenstände nach neuen Moden in Rückgriff auf historische Stile gestaltet. Einerseits galt die handwerkliche Produktionsweise in Verbindung mit künstlerischem Gestaltungssinn als Gegenmittel zur massenhaft produzierten Billigware der deutschen Industrie. Andererseits suchte man das Problem des niedrigen Qualitätsstandards deutscher Industrieprodukte dadurch zu beheben, dass eine künstlerisch und technisch gebildete Person Musterstücke entwarf, die die formalen und funktionalen Anforderungen an einen Gebrauchsgegenstand bestmöglich zusammenbrachte.300 In der Klassischen Moderne schließlich kulminierten verschiedene komplexe Probleme, die sich in den Jahrzehnten zuvor angedeutet hatten und für die sich das Kunstgewerbe als Lösung anzubieten schien. Das Konzept des Kunstgewerbes wurde dabei von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen für unterschiedliche Problemlagen in Anspruch genommen und durchlief während der fünf Jahrzehnte um 1900 (1880–1933) Phasen voneinander abweichender Deutungen. Künstler, Politiker und Akteure der bürgerlichen Gesellschaft sahen in der gegenseitigen Befruchtung von Kunst, Handwerk und Industrie jeweils die Möglichkeit zu wirtschaftlichem Wachstum und Konkurrenzfähigkeit, zur Überwindung historistischer Krisenerscheinungen in ästhetischer und moralischer Hinsicht, zur Demokratisierung der Kunst und Egalisierung der Gesellschaft und schließlich zur Befähigung zu ökonomischer Selbstständigkeit der Künstler. Zahlreiche Begriffe und ihre vielfältigen, sich ausdifferenzierenden Bedeutungsgehalte kennzeichnen die unübersichtliche Gemengelage der zeitgenössischen Diskussion um den Zusammenhang von Kunst und Gewerbe. »Kunstgewerbe« meint einerseits ganz allgemein das Zusammengehen künstlerischer und gewerblicher Anstrengungen und beschreibt unterschiedliche historische Phänomene. Erst die deutsche Kunstgewerbebewegung, die zum Ende des 19. Jahrhunderts entstand und den merklichen Qualitätsverfall der industriellen Produktion und ihrer historistischen Ausrichtung überwinden wollte, formulierte jedoch umfassend das »Konzept, angewandte Kunst zur Förderung der Wirtschaft ein 300 Vgl. ebd., S. 231–248, S. 234; Linares, Kunst an der Grenze; Holtz, Kultusministerium, S. 497 ff. und 521 ff.; Selle, Geschichte des Design, S. 36 ff.
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zusetzen«301. Innerhalb der Bewegung konkurrierten verschiedene Ansätze, die entweder mit Blick auf das Handwerk und die handwerkliche Produktionsweise Kritik an der industriellen Massenproduktion übten oder in einer Erneuerung der technisierten Produktion unter künstlerischer Anleitung die Zukunft der Warenproduktion sahen. Der in diesem Zusammenhang häufig gebrauchte Begriff des »Kunsthandwerks« verweist auf diese Akzentsetzung innerhalb der Kunstgewerbebewegung. Vielen Zeitgenossen erschien die Beschränkung des künstlerischen Einflusses auf die handwerklich-manuelle Produktionsweise jedoch als anachronistisch und sie lenkten die Kunstgewerbebewegung auf das Feld der seriellen, industriellen Herstellung von Gebrauchsgegenständen, die nicht nur der begüterten Mittelschicht zugutekommen, sondern als ästhetisierte Warenwelt auch die Schichten jenseits des Bürgertums erreichen sollten.302 Die für die moderne Kunstgewerbebewegung grundlegende Auseinandersetzung manifestierte sich in der Spaltung des 1906 gegründeten Werkbundes in die Positionen von Hermann Muthesius und Henry van de Velde am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Während van de Velde weiterhin die künstlerische Individualität in den Vordergrund stellte, war für Muthesius, der für die Reform der Kunstgewerbeschulen ab 1904 verantwortlich zeichnete, die Typisierung das letztendliche Ziel der Bewegung.303 Der Versuch, mit dem Begriff der »Werkkunst« die differierenden Momente des Kunstgewerbes zusammenzufassen und nun »Architektur und Kunstgewerbe, Handwerk und Industrie, Einzelstück und Massenware«304 gleichermaßen zu berücksichtigen, wurde nicht prägend. Wenigstens war der Typ des mittelalterlichen Kunsthandwerkers mit dem Werkbundprogramm nicht gemeint. Der Begriff der »Kunstindustrie« stammt aus der Frühphase der Industrialisierung und bezeichnete, ebenso wie der Begriff des »Kunstfleißes«, in technisierter Produktionsweise hergestellte Gebrauchsgegenstände, die dezidiert auch ästhetischen Ansprüchen genügen sollten.305 Er bezeichnete, was später 301 Holtz, Kultusministerium, S. 478. 302 Sombart wandte sich gegen eine Rückkehr zum handwerklich organisierten Verständnis des Kunstgewerbes. Trotz der Probleme, die dem Kunstgewerbler in Gestalt profitgieriger Unternehmer entgegentreten würden, sah er in der technisierten Produktion den optimalen Partner für den entwerfenden Künstler. In diesem Sinn betonte er die positive Wirkung, die von der Trennung der Kunst vom Handwerk für die Künstlerpersönlichkeit ausgegangen sei und für einen erweiterten Wirkungskreis des Künstlers als Geistesarbeiter gesorgt habe. Der deutsche Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler setzte sich mit Fragen der zeitgenössischen Kunstgewerbebewegung in zwei umfangreichen Aufsätzen auseinander: Vgl. Sombart, Kunstgewerbe und Kultur; Ders., Probleme des Kunstgewerbes. 303 Vgl. Nauhaus, Burg Giebichenstein, S. 13 ff. 304 Jessen, Werkbund, S. 2–10, S. 3. 305 Nachdem Kunstindustrie und Kunstfleiß in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Begriffe Kunsthandwerk und Kunstgewerbe abgelöst wurden, verengte sich das Verständnis von Kunstindustrie auf Fabriken, die in maschineller Anfertigung Gebrauchs-
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unter dem Begriff des Kunstgewerbes verstanden wurde. Das für die Kunstindustrie in Anspruch genommene Ideal der »Durchdringung des frei Künstlerischen und des gebunden Zwecklichen in der Herstellung eines Geräthes, das einem bestimmten Bedürfnisse dient«306, beschränkte sich in der Realität bald darauf, Gebrauchsgegenstände in jeweils unterschiedlichen historischen Stilen zu dekorieren. Die Kunstindustrie wurde daraufhin Ziel der kunstgewerblichen Reformbewegung, gegen deren Ansprüche sie sich erst verweigerte. Ohne die grundsätzliche Kritik an Oberflächlichkeit, Eklektizismus und Verfallsgeschwindigkeit zu begreifen, adaptierten Fabriken Elemente des Jugendstils, der auf ein neues Verständnis des Zusammenhangs zwischen Form und Funktion zielte.307 In Halle, das im 19. Jahrhundert vorrangig als wirtschaftlicher Knotenpunkt in Mitteldeutschland überregionale Bedeutung entfaltete und in diesem Sinn von der preußischen Zentralregierung wahrgenommen wurde, war zuerst ein stark ökonomisch konnotiertes Konzept des Kunstgewerbes wirksam. Basierend auf privater und vor allem staatlicher Initiative stand die künstlerische Bildung Gewerbetreibender im Fokus. Die kommunalpolitischen Gremien reagierten anfänglich sehr zurückhaltend und wurden erst durch das Engagement des Kunstgewerbevereins, der auf breiter Basis eine Verbindung zwischen lokalen Gewerbetreibenden und Konsumenten sowie die künstlerische Bildung größerer Bevölkerungskreise anstrebte, auf das Potential kunstgewerblicher Ideen aufmerksam. Die Staatlich-städtische Handwerkerschule entwickelte sich zum institutionellen Zentrum dieser Bemühungen. Rive, der schon im Bereich der bildenden Kunst mit der Professionalisierung des städtischen Museums Gewährsmann zukunftsweisender Entwicklungen wurde, setzte auch in diesem Bereich durch die Erneuerung der besagten Schule wichtige Impulse. Mit Paul Thiersch kam eine für das städtische Kunstsystem und die Weiterentwicklung des Kunstbegriffs an der Schnittstelle von Kunst und Kunstgewerbe zentrale Figur nach Halle. Im Anschluss an die von ihm aufgebaute Kunstgewerbeschule entwickelte er sowohl praktisch wirksame wie theoretisch differenzierte Modelle kunstgewerblicher Tätigkeit. Sein Engagement gestaltete das Geflecht staatlicher, kommunalpolitischer und anderer städtischer Akteursgruppen – darunter Handwerker und Künstler – unter kunstgewerblichem Aspekt neu. Insgesamt waren die von den unterschiedlichen Impulsgebern ausgehenden Initiativen und Gestaltungsversuche, die aus dem Komplex des Kunstgewerbes heraus erwuchsen, für die Formung der lokalen Künstlerschaft von ebenso zentraler Bedeutung wie die Professionalisierung und Differenzierung des Kunstgegenstände produzierten und dabei – zumindest theoretisch – auch ästhetische Ansprüche verfolgten. Vgl. Holtz, Kultusministerium, S. 497. 306 Meyer, Beziehungen, S. 486. 307 Vgl. Muthesius, Wirtschaftsformen, S. 3 f.
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begriffs. Diskussionen zur Positionierung des Kunstgewerbes sind geradezu wesentlich für die Entwicklung des lokalen Kunstsystems und die Aushandlung des Kunstbegriffs vor Ort. Jenseits der im Anschluss an das Kunstgewerbe erdachten Konzepte, die eine Neuverortung von Kunst und Künstler im gesamtgesellschaftlichen Gefüge erklärten, war es vor allem auch eine Beschreibung der Lebensrealität der meisten halleschen Künstler.308
4.2 Der Widerstreit um die kunstgewerbliche Ausbildung und die Etablierung der Handwerker- und späteren Kunstgewerbeschule in Halle 4.2.1 Ansätze des (kunst-)gewerblichen Ausbildungswesens in Halle Nachdem die Integration von bildender Kunst und Gewerbe – sei es in industrieller oder handwerklicher Produktion – mehrfach scheiterte, ergriffen verstärkt ab den 1860er Jahren staatliche Akteure die Initiative zur Reform von Industrie und Gewerbe. Insbesondere die Weltausstellungen in London (1851), Paris (1867) und Philadelphia (1876) führten vor Augen, dass die deutschen Produkte im internationalen Vergleich mangelhaft erschienen.309 Noch anlässlich der Weltausstellung in Chicago 1893 berichtete Wilhelm von Bode, der spätere Generaldirektor der Königlichen Museen zu Berlin, dass »das Kunsthandwerk im besten Falle über eine mehr oder weniger verstandene Nachahmung der alten Kunst gar nicht hinausgekommen ist.«310 Damit berührte Von Bode den Kern der zeitgenössischen Kritik am historistischen Stil, der die Warenproduktion bis zur Jahrhundertwende beherrschte und der nur allmählich verdrängt wurde. Der qualitative Mangel der Waren sei das Ergebnis der ausschließlich verkaufsorientierten Massenindustrie, die in immer schnellerer Folge neue Moden in Nachahmung historischer Stile produzierte, um 308 Otto Sonne beschreibt für Halle, dass die Verbindung zwischen »Kunst und Handwerk« bzw. »Künstlern und Gewerblern« tiefer und fruchtbarer als andernorts gewesen sei. Vgl. Sonne, Zum Geleit!, S. 6. 309 Wiederholt verwiesen zeitgenössische Autoren und Reformer auf das schlechte Abschneiden deutscher Produkte auf den Weltausstellungen als unmittelbare Ursache für die angestrengten Reformen. Wilhelm Waetzoldt nahm sie zum Ausgangspunkt seiner Darstellung der Entwicklung des kunstgewerblichen Schulwesens: »Die technische Rückständigkeit, ästhetische Minderwertigkeit und ökonomische Kleinlichkeit der deutsche Kunstindustrie enthüllte sich erschreckend deutlich in den deutschen Abteilungen der Ausstellungen in Paris (1855 und 1867), London (1862), Wien (1873) und Philadelphia (1876). Man erkannte auch in den amtlichen Kreisen die Gefahr, daß die deutschen Erzeugnisse vom Weltmarkt verdrängt würden, wenn nicht ihre künstlerische Hebung gelänge.« Vgl. Waetzoldt, Entwicklung, Teil 2, S. 377. Ebenso argumentierten: Waentig, Wirtschaft und Kunst, S. 145–152; Meyer, Beziehungen, S. 498. 310 von Bode, Weltausstellung, S. 4.
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ständig neue Absatzmärkte zu erschließen. Weil nicht die Funktion eines Gebrauchsgegenstandes im Mittelpunkt der Produktentwicklung stand, sondern vorrangig die äußere Erscheinung eines Gegenstandes interessierte, blieb die technische und materielle Qualität auf der Strecke. Kunst und Handwerk, die bis zur Epoche des Biedermeier im Einklang gestanden und ästhetisch-funktionell ausgewogene Produkte hervorgebracht hätten, entfernten sich im Zeitalter des historistischen Eklektizismus voneinander.311 Zuerst sollte die zeichnerische Ausbildung der Handwerker und anderer Gewerbetreibender eine qualitative Besserung der Produktwelt bringen und es wurden auf staatliche Initiative Gewerbeschulen in den preußischen Provinzen eingerichtet. Im August 1868 erreichte den halleschen Oberbürgermeister Franz von Voß ein Erlass des Oberpräsidenten der preußischen Provinz Sachsen betreffs der »Einrichtung von Provinzial-Zeichenschulen«. Das Schreiben konstatiert ganz allgemein die Mangelhaftigkeit heimischer Produkte und zeichnet einen Ausweg in der künstlerischen Unterrichtung der Gewerbetreibenden: »Von der Überzeugung aus, dass unser Gewerbefleiss, wenn er diese Mängel nicht beseitigt, sich für das Gebiet der sogenannten Kunstgewerbe auf dem Weltmarkte nicht würdig behaupten können, sind schon seit einiger Zeit die Mittel und Wege in Erwägung genommen worden, um den Sinn für schöne und geschmackvolle Arbeit in den gewerblichen Erzeugnissen unter unserer Bevölkerung, und namentlich in den Kreisen der Gewerbetreibenden lebhafter anzuregen.«312
In allen »grösseren gewerbefleissigen Städten« sollten Zeichenschulen gegründet werden, in denen jugendliche und erwachsene »Gewerbetreibende, Handwerker, wie Fabrikarbeiter« im Zeichnen und Modellieren ausgebildet werden. »Künstlerisch gebildete[r] Techniker, tüchtige[r] Zeichenlehrer anderer Lehranstalten oder ausübende[r] Künstler« sollten dabei die Leitung des Unterrichts übernehmen und die Schüler darin ausbilden, die »künstlerischen Gesetze für die Benutzung von Formen und Farben in der gewerblichen Arbeit« anzuwenden.313 Nach zweijährigen Verhandlungen zwischen dem preußischen Handelsministerium, dem Präsidium der Provinz Sachsen und der städtischen Verwaltung wurde schließlich im Januar 1870 im Anschluss an die bestehende Gewerbeschule eine gewerbliche Zeichenschule eröffnet.314 Nachdem sich zu Beginn über 120 Schüler für die zwei Zeichenklassen und die Modellierklasse angemeldet hatten, sank deren Zahl bis zum Jahresende um mehr als die Hälfte. Auch in den folgenden Jahren konnte, so der spätere Schuldirektor Gustav Brumme, 311 Zur Problematik des Historismus als ästhetischer Kategorie und gesellschaftlichem Konsens: Vgl. Brönner, Schichtenspezifische Wohnkultur; Selle, Geschichte des Design, S. 52–82; Holtz, Kultusministerium, S. 497/498. 312 ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, S. 1. 313 Ebd., S. 1/2. 314 LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 20 I, I b Nr. 1387 Bd. 1.
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den örtlichen Gewerbetreibenden nicht die Relevanz der hier vermittelten Fähigkeiten unter Beweis gestellt werden. Wegen zu geringer Schülerzahlen und ihrer zu kurzen Besuchszeiten – vorgesehen war, dass sich an die einjährige erste Zeichenklasse eine eineinhalb- bis zweijährige Ausbildungszeit in der fortführenden Zeichen- oder der Modellierklasse anschloss – sowie ungenügend befähigten Personals blieb die hallesche Zeichenschule weitgehend erfolglos. In einem Schreiben vom 22. Juni 1878 berief sich der preußische Minister für Handel und Gewerbe auf eine Ausstellung, in der die Arbeiten der verschiedenen provinzialen Zeichenschulen gezeigt wurden, und urteilte, »daß die in dieser Anstalt beschäftigten Lehrer zur Erteilung des Unterrichts nicht hinreichend geeignet sind.«315 Der in den Abendstunden im Anschluss an den Arbeitstag stattfindende Unterricht bestand im Wesentlichen darin, die Schüler im Zeichnen nach »Vorzeichnungen« (erste Zeichenklasse) oder »körperlichen Modellen« (zweite Zeichenklasse) bzw. im Modellieren zu schulen. Der so angelegte Unterricht hatte die Aufgabe, »… durch eine zweckentsprechende Ausbildung in der Kunst des Zeichnens und Modellierens das Verständnis für schöne und geschmackvolle Arbeit in den Gewerben zu wecken und damit die einheimische Industrie mehr und mehr zu einer schönen und geschmackvollen Ausstattung ihrer Erzeugnisse anzuregen.«316
Paragraf eins des Statuts der gewerblichen Zeichenschule in Halle bestimmte den Zweck der Ausbildungsstätte als einen dezidiert wirtschaftlichen. Die dem Unterricht zugrundegelegte Methode des zeichnenden und modellierenden Nachahmens von gezeichneten oder plastischen Vorgaben war nicht geeignet, das Missverhältnis von Funktion und Gestalt zu überwinden. Die vage Zielsetzung, »zu einer schönen und geschmackvollen Ausstattung ihrer Erzeugnisse anzuregen«, bestätigt die nur oberflächlich bleibende Intention zur Reform des Gewerbe- und Industriewesens. Die als künstlerisch missverstandene Technik des möglichst detailgenauen Nachahmens war kaum geeignet die Missstände der deutschen Handwerks- und Industrieproduktion zu beheben, die sich eben nicht auf das Dekor beschränkten. Die Fähigkeit, Funktion und Form eines Gebrauchsgegenstandes in Einklang zu bringen, bedurfte weitgehenderer Schul- und Reformmaßnahmen. Die im Sinne des Historismus zu »Ornamentierschulen« gewordenen Provinzial-Zeichenschulen scheiterten an dem Ziel, deutsche Produkte international konkurrenzfähig zu machen. An ihre Stelle sollten kunstgewerbliche Fachschulen mit daran angeschlossenem praktischen Unterricht in Werkstätten treten.317 315 GeStaPK, I. HA Rep. 120 Ministerium für Handel und Gewerbe E X, Nr. 217, Bl. 230/231. 316 Brumme, S. 3. 317 Vgl. Waetzoldt, Entwicklung, Teil 2, S. 377 f.
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Anläufe zur Einrichtung einer solchen Ausbildungsstätte in Halle, die ganztägigen Unterricht und praktische Ausbildung verband, scheiterten sowohl am städtischen Unwillen als auch an der fehlenden Einsicht ansässiger Gewerbe treibender in die Notwendigkeit einer Reform des gewerblichen Ausbildungswesens. Der Architekt Robert Schmidt, der sich als Gründer diverser Kunstgewerbeschulen einen Namen gemacht hatte, bat im März 1882 in einem Schreiben an den halleschen Magistrat um Unterstützung für sein Vorhaben, eine solche Kunstgewerbeschule zu errichten. Da das Kunsthandwerk »nicht auch in Halle in hoher Blüthe« stehe und »noch keine Kunstgewerbe-Schule in der Provinz existiert« glaube er, »daß gerade Halle der geeignete Platz hierfür ist«318. Das zuständige Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten in Magde burg unterband die Initiative Schmidts mit der Feststellung: »Für eine Kunstgewerbeschule mit vollem Tagesunterricht sei Halle nicht der geeignete Ort.«319 Schließlich wurde im Rahmen der Gewerbeschule 1888 eine Tagesklasse für Dekorationsmaler eingerichtet. Obwohl die Schülerzahlen der mit der allgemeinen Fortbildungsschule zusammengelegten Zeichenschule ab Mitte der achtziger Jahre kontinuierlich auf über 400 stiegen, reichte das Interesse nicht aus, die ganztätige Ausbildung für Dekorationsmaler aufrechtzuerhalten. Nach fünfjähriger Tätigkeit wurde die von Adolf Maennchen geleitete Klasse geschlossen. Sein Werdegang, der ihn über eine handwerkliche Ausbildung zum Dekorationsmaler über die Kunstgewerbeschule Dresden bis zu den Kunstakademien Berlin und Paris geführt hatte, wies ihn als jemanden aus, der handwerkliche Praxis und die Regeln der akademischen Kunst gleichermaßen beherrschte.320 Mit seiner staatlich-städtischen Anstellung als Ausbilder von Dekorationsmalern wurde das zeitgenössisch virulente Konzept, das Handwerk durch künstlerische Anleitung zu befruchten, vor Ort umgesetzt. Für Halle bedeutete seine Tätigkeit als Künstler und Lehrer die beginnende praktische Umsetzung des neu entwickelten kunstgewerblichen Ausbildungswesens, das sich im Rahmen von ganzen Kunstgewerbeschulen andernorts erfolgreicher etablierte. Immerhin wurde mit der Einrichtung einer Tagesklasse der Versuch gewagt, Gewerbetreibende über wenige Stunden am Abend und über Übungen im bloßen Kopieren nach Vorlagen hinaus innerhalb einer wesentlich schulisch basierten Ausbildung auf eine handwerkliche Tätigkeit vorzubereiten und so die Qualität der geleisteten Arbeit zu heben.321 318 StH, A 2.36 Nr. 168, Bl. 2. 319 ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 5. 320 Dass sich sein Interesse auf das Kunstgewerbe und die Vermittlung seiner Grundsätze konzentrierte, zeigte auch Maennchens Engagement im Kunstgewerbe-Verein, in dem er sich besonders um die neu angelegte Vorlagensammlung bemühte. Vgl. Jahres-Bericht Kunst gewerbe-Verein 1894, S. 7. 321 Näheres zur Person und dem beruflichen Kontext des Künstlers Adolf Maennchen siehe Kap. IV.4.4.
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Tagesklassen für die unterschiedlichen Gewerke wurden erneut 1897 eröffnet, nach dem Umbau der Fortbildungs- zu einer Handwerkerschule. Aufgrund der eingeführten Schulpflicht für Lehrlinge stieg die Schülerzahl beträchtlich auf mehrere hundert. Der Zeichen- und der Modellierunterricht blieben dabei weiter die zentralen Unterrichtsfächer, wurden jedoch auf die einzelnen Gewerke spezialisiert und um Inhalte ergänzt, die nun stärker darauf abzielten, die technischen und konstruktiven Grundlagen der Produktgestaltung und -Entwicklung zu vermitteln. So sah der Lehrplan für das Jahr 1901 vor, dass die Schüler im »Freihandzeichnen, Dekorationsmalen, geometrische[n] Zeichnen, darstellende[r] Geometrie, Perspektive und Schattenkonstruktion« ausgebildet wurden. Neben Unterricht in naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächern vermittelten »Baukonstruktionslehre, Baustofflehre …, Mechanik, architektonische und kunstgewerbliche Formenlehre«322 Kenntnisse im Stoffumgang und der Funktionsweise von Gebrauchsgegenständen. Im Gegensatz zu den Grundsätzen der historistischen Materialbehandlung, die darauf zielte, die stoffliche Grundlage und Funktion eines Gegenstandes durch Dekor zu verdecken, bemühte man sich im Schulwesen nun darum, dass Handwerker, Gewerbetreibende und Arbeiter ein tieferes Verständnis der Dingwelt jenseits der dekorativen Hülle erlangten. Gustav Brumme, der ab 1893 als Direktor den Umzug der Schule in ein neu errichtetes Gebäude in der Gutjahrstraße begleitete und ihren Ausbau zur ganztägigen Handwerkerschule verantwortete, hoffte in der 1901 publizierten Jubiläumsschrift, dass sie nicht nur das wirtschaftliche Wachstum der Stadt, sondern auch die Entwicklung der Kunst positiv beeinflussen werde: »Möge sie [die Handwerkerschule] in ihrem neuen Heim sich glücklich weiter entfalten, möge sie beitragen zur Blüte unserer Stadt Halle, zur Hebung deutschen Fleißes und deutscher Kunst!«323
Brummes Aussage folgt einem zeitgenössisch verbreiteten Narrativ, das die bisher dominierende Sichtweise, das Handwerk habe sowohl hinsichtlich der Arbeitsqualität als auch seiner Traditionslinien schwere Verluste hinnehmen müssen und bedürfe künstlerischer Impulse, um seine Leistungsfähigkeit zu steigern, erweiterte. Dass jedoch das Handwerk und das Kunsthandwerk für bildende Künstler in den Jahrzehnten um 1900 attraktiver wurden und Elemente zum Ausgleich akademischer Traditionen und ihrer Ferne zur Alltagspraxis bereithielt, wurde anfangs kaum herausgestellt. Gerade in der Bewegung des Jugendstils fand eine Aufwertung des Handwerks statt, das mit Wertarbeit und Qualität verbunden wurde, dessen Arbeits- und Lebensrealität aber völlig un-
322 Brumme, Handwerkerschule, S. 6. 323 Ebd., S. 7.
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beachtet blieb. Diese Idealisierung erfolgte von außen durch die Künstler und lag nicht in der Intention des Handwerkerstandes selbst.324 Die Vorzüge des Kunsthandwerks gegenüber der bildenden Kunst wurden stattdessen vorrangig in wirtschaftlicher Hinsicht gesehen. Julius Lessing erhoffte im Rahmen der neuen Kunstgewerbebewegung wenige Jahre vor der Jahrhundertwende wohltuende Entwicklungen für die wirtschaftliche Bedrängnis vieler Künstler: »Statt eines Proletariats beschäftigungsloser Künstler durfte man eine arbeitsfreudige Schar leistungsfähiger Kunsthandwerker erwarten.« Auf der anderen Seite meinte er, wie Wilhelm von Bode, dass das Kunstgewerbe »den Handwerkerstand wieder aufbauen [soll], welcher durch die Einführung der Fabrik- und Maschinenarbeit in unserem Jahrhundert Schritt für Schritt dem Verfall preisgegeben ist.«325 Vor allem im Jahrzehnt nach der Wende zum 20. Jahrhundert wurde im Kontext der Kunstgewerbebewegung die Ausbildung von jungen Handwerkern, Kunsthandwerkern bzw. Kunstgewerbetreibenden und Künstlern stark diskutiert. Die Entwicklung des preußischen Gewerbeschulwesens und die Einrichtung von Handwerker- und Kunstgewerbeschulen allerorts zeugt mit ihren vielfachen Schultypen und -programmen sowie Richtungswechseln von dieser heftigen Debatte, an der sich Kunstwissenschaftler, Politiker, Handwerker, Künstler und Wirtschaftsfachleute gleichermaßen beteiligten. Während auf preußischem Territorium bereits 1887 in Magdeburg und in den neunziger Jahren in Hannover, Barmen und Elberfeld Kunstgewerbeschulen errichtet wurden,326 setzte die hallesche Anstalt unter der Bezeichnung »Staatlich-städtische Handwerkerschule« in Ansätzen die gebotenen Reformen in der gewerblichen Ausbildung um. Der Architekt Gustav Brumme, der zuvor gemeinsam mit Fritz Fahro ein Atelier für Architektur und Kunstgewerbe an der Alten Promenade betrieb, machte sich um den umfassenden Ausbau der Schule verdient. Neben Klassen für Baugewerkschüler und Maschinenbauer richtete er Tageskurse für Dekorationsmaler und Kunsthandwerker ein. Zudem bemühte er sich in Verhandlungen mit den zuständigen kommunalen Gremien darum, künstlerisch befähigte Lehrkräfte zu gewinnen.327 Nachdem Ende der siebziger Jahre die Lehrer Hinze, Wittstock und Rheinsberg auf Geheiß des zuständigen Ministers entlassen wurden, kamen 1902 die Stellen eines Lehrers für die Klasse 324 Vgl. Foit, Identitätskonstruktion, S. 116–120. 325 Vgl. Lessing, Kunstgewerbe als Beruf, S. 4; von Bode, Künstler im Kunsthandwerk, S. 86 ff. 326 Magdeburg 1887, Hannover 1896, Barmen 1896, Elberfeld 1897, Altona 1900, Krefeld 1904. Vgl. Moeller, Kunstgewerbeschulen, S. 116. 327 Vgl. ABgG, Rep. 1, 1921–1933. – Unter anderem gehörten zur Ausstattung des Schulgebäudes Atelierräume. Die dem Bereich der bildenden Kunst entlehnte Bezeichnung verweist auf den Anspruch Brummes, die Ausbildung über die rein handwerklich-technische Materie hinaus zu konzipieren. Vgl. Rehorst, Neubau der Handwerkerschule, S. 8–15.
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der Dekorationsmaler und eines kunstgewerblichen Architekten zur Ausschreibung. Schließlich entschied sich das Gremium der Handwerkerschule für den Leipziger Dekorationsmaler Karl Jolas, der nach einer praktischen Ausbildung zum Dekorationsmaler die Kunstschule Nürnberg und die Kunstakademie in Paris besucht hatte. Neben den nebenamtlich angestellten Lehrern Heinrich Kopp und Heinrich Keiling, die die Zeichen- und Modellierklassen betreuten, war er für die kunstgewerbliche Ausbildung in Halle verantwortlich.328 Die Besetzung der Stelle des kunstgewerblichen Architekten scheiterte mehrfach aus Mangel geeigneter Bewerber, bis 1907 schließlich Hans Lichtwald die Stelle antrat. Die Einrichtung einer Bildhauerklasse, die Brumme als große Stärkung für das hallesche Kunsthandwerk betrachtete, lehnte der städtische Magistrat ab.329 Trotz seiner Verdienste, die sich Brumme um den Aufbau eines gewerblichen Schulwesens erwarb, blieben seine Erfolge bezüglich der überregionalen Beachtung des halleschen Kunstgewerbes vergleichsweise bedeutungslos. Ungeachtet der geografischen Nähe waren auf der 1906 in Dresden ausgerichteten III. Deutschen Kunstgewerbe-Ausstellung weder hallesche Firmen noch die hiesige Handwerkerschule vertreten.330
4.2.2 Von der Handwerker- zur Kunstgewerbeschule unter Thiersch – der Konflikt um Lehrmethoden und Kunstbegriffe Als Brumme 1913 starb und die Stelle des Direktors neu zu besetzen war, nahm der 1906 ins Amt gekommene Oberbürgermeister Richard Robert Rive starken Einfluss auf die zukünftige Entwicklung der Schule. Bereits die von ihm lancierte Stellenausschreibung kündigte an, dass die Schule nach seinem Dafürhalten tiefere Fühlung mit der zeitgenössischen Kunstgewerbebewegung und ihren Einflüssen auf die gewerbliche Ausbildung nehmen sollte.331 Schließ 328 Schon vor dem Amtsantritt Paul Thierschs wurde die kunstgewerbliche Abteilung der Handwerkerschule ausgebaut. Brumme reagierte mit dieser »Neuorganisation des Lehrerprogrammes für Kunsthandwerker« auf die zeitgenössische Entwicklung des Kunstgewerbes und seiner Bedeutung für die gewerbliche Ausbildung. Vgl. GeStaPK, I. HA Rep. 120 Ministerium für Handel und Gewerbe, Anhang Nr. 2361. 329 Vgl. StH, A 2.36 Nr. 863 Bd. 1, Bl. 26, 33 f, 51, 247, 274. 330 Stattdessen fanden sich unter den Ausstellern öffentliche Institute und private Unternehmen aus Magdeburg, Leipzig, Meißen und anderen, weiter entfernten Städten. Vgl. Das deutsche Kunstgewerbe 1906. 331 Der aus Breslau nach Halle berufene Rive, der in der ostpreußischen Großstadt in der kommunalen Verwaltung tätig war, beobachtete wahrscheinlich die von dem Architekten Hans Poelzig vorgenommene Umgestaltung der Breslauer Kunst- und Kunstgewerbeschule. Poelzig, der ab 1900 dort als Lehrer angestellt war und ab 1903 als Direktor das Institut leitete, führte die handwerkliche und künstlerische Ausbildung im Werkstättenprinzip zusammen und nahm damit die später am Bauhaus und in Halle an der Kunstgewerbeschule eingeführte Unterrichtsform vorweg. Vgl. Schirren, Poelzig, Hans, in: NDB, Band 20 (2001), S. 565–567 [Onlinefassung]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/gnd118741217.html#ndbcontent; Brade, Geschichte, S. 19–28, S. 21; Schneider, Burg Giebichenstein, S. 12–14.
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lich fiel die Wahl auf den Architekten Paul Thiersch, der in Düsseldorf und Berlin unter Peter Behrens und Bruno Paul, später als selbstständiger Architekt in Berlin gearbeitet hatte. In seinem Bewerbungsschreiben skizzierte er seine Pläne zum Umbau der halleschen Lehranstalt, in der fortan die handwerklichpraktische Ausbildung die Grundlage für die weitere künstlerische Ausbildung bilden sollte. Seine an Rudolf Bosselt und der Weimarer Kunstgewerbeschule unter Henry van de Velde orientierte Schulreform sah die Einrichtung von Werkstätten vor, die unter der Leitung von Handwerksmeistern standen und parallel zu den künstlerisch geleiteten Fachklassen für die einzelnen Disziplinen ausgerichtet werden sollten. Als Thiersch sein Amt als neuer Direktor während des Krieges antrat und nur wenige Schüler die Klassen besuchten, begann er mit dem alten Lehrerkollegium den Umbau der Anstalt. Stärker als zuvor stand die Ausbildung des künstlerischen Empfindens im Vordergrund, das durch intensiviertes Entwurfszeichnen und Zeichnen aus dem Gedächtnis bzw. nach der Natur geschult werden sollte. Klare Strukturen schaffte er durch die organisatorische Aufteilung in eine Kunstgewerbeabteilung, die Handwerkerschule sowie die Baugewerk- und die Maschinenbauschule. Seine besondere Aufmerksamkeit galt dem Ausbau der kunstgewerblichen Abteilung, die er mit der Einrichtung von Fachklassen und der Berufung neuer Lehrkräfte vorantrieb. Auf Maria Likarz, die ab 1916 den Zweig der kunstgewerblichen Frauenarbeit betreute, folgte Gustav Weidanz, der noch im gleichen Jahr die Leitung der Fachklasse für Bildhauerei übernahm. Thierschs Auftreten und sein dynamisch vorangetriebenes Programm des Auf- und Ausbaus der halleschen Kunstgewerbeschule brachte ihn mit verschiedenen städtischen Interessengruppen und sogar dem zentralen Ministerium für Handel und Gewerbe in Konflikt. In Rive hatte er einen loyalen Verbündeten, der ihn sowohl in finanzieller, bürokratischer und persönlicher Hinsicht unterstützte und gegenüber anderen politischen Akteuren verteidigte. Wie Max Sauerlandt und Wilhelm Jost war Paul Thiersch für Rive eine zentrale Figur und Verbündeter im Sektor der städtischen Kulturpolitik, dem er nahezu bedingungslos beistand und von dessen Zielstrebigkeit und überregionaler Strahlkraft er und die Stadt Halle profitierten.332 Der seit längerem schwelende Konflikt zwischen Thiersch und den Lehrern, die vor seiner Amtszeit die kunstgewerbliche Ausbildung an der Handwerkerschule verantworteten, kulminierte im Sommer 1921, als die Stadtverordnetenversammlung eine von Wilhelm Breiting verfasste und von den Lehrern Licht 332 Mehrfach setzte Rive die Bewilligung umfangreicher Mittel für den Ausbau der Kunstgewerbeschule in den städtischen Gremien durch. Als das preußische Handelsministerium die Organisationsweise und Unterrichtsgestaltung der Schule attackierte, ergriff Rive für Thiersch Partei und verteidigte dessen Konzeption gegenüber ministeriellen Beschränkungsversuchen. Vgl. Nauhaus, Burg Giebichenstein, S. 39, S. 76–70.
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wald, Brückner, Kopp, Jolas, Gabler und Hoffmann unterzeichnete Eingabe erreichte.333 Darin bezweifelten sie zum einen grundsätzlich die Zukunftsfähigkeit des von Thiersch aufgebauten Instituts und stellten dem die Bewährtheit der Handwerkerschule gegenüber, die »Jahrzehnte der Stadt und ihrem Handwerk mit anerkanntem Erfolg diente«. Mit dem Hinweis, »dass an der Handwerkerschule keine hervorragend selbsttätigen Künstler ausgebildet werden sollen, dass das Handwerk vor allem tüchtige Gehilfen brauche«334, stellten sie Thierschs »Plan, die Kunstgewerbeschule auf eine Höhe zu bringen, auf der sie sich mit den Leistungen der ersten Kunstinstitute Deutschlands und Wiens messen kann«335, in Frage. Sie forderten, die Handwerkerschule von der Kunstgewerbeschule abzutrennen und einem eigenen Direktor zu unterstellen. Heftige Kritik übten die Lehrer an der Orientierung Thierschs am Expressionismus, den dieser bereits vor Beginn des Ersten Weltkrieges mit großem Interesse verfolgt und in sein künstlerisches Werk integriert hatte. An seinem Beispiel stellten sie wiederholt die Tradition der Handwerkerschule der angeblich über die Maßen experimentierfreudigen und deshalb als riskant und dubios empfundenen Verwaltungsund Unterrichtspraxis des neuen Direktors gegenüber: »Weil die Schüler den Expressionismus ablehnen, sucht man sie zu bekehren, indem man ihnen die Gelegenheit nimmt, sich bei ihren bisherigen vollbewährten Lehrern weiterhin auszubilden. Das ist einfach Vergewaltigung der Interessen des Handwerks. Unterdrückung des Alten fördert nie eine neue Richtung, sondern nur freies Spiel aller Kräfte. Einer organischen Fortentwicklung werden sich Lehrer und Schüler der Handwerkerschule nicht verschliessen. Was aber der Expressionismus in 5 Jahren bedeutet, das ist doch recht unbestimmt, für sehr viele allerdings nicht mehr als zweifelhaft.«336
Mehr noch, sie behaupten, dass die Schülerschaft geschlossen ihre Ansicht teile und durch die neue Direktion gehindert würde, ihren Unterricht zu besuchen. Diese Einlassung nutzte Thiersch, um gegenüber der Stadtverordnetenversammlung wiederum deren pädagogische und künstlerische Unzulänglichkeiten darzustellen. Jolas, Kopp und Breiting, die an der ehemaligen Handwerkerschule den kunsthandwerklichen Unterricht leiteten, seien »Ueberbleibsel eines veralteten Lehrsystems und erweisen sich auch auf die Dauer als dem neuen Organismus der Schule uneinfügbar.«337 Aus diesem Grund habe er deren Lehrtätigkeit auf Hilfsfächer im Rahmen des Abendunterrichtes der Handwerkerkerschule beschränkt. Die zuvor von Kopp und Jolas geleiteten Tagesklassen 333 Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 13. 334 Ebd., Hülle 13, S. 1. 335 Thiersch über seine Pläne für die Umgestaltung der Schule vom Dezember 1921. Vgl. ebd., Hülle 14. 336 Ebd., Hülle 13. 337 Ebd., Hülle 14, Entwicklungsbericht des Direktors Thiersch vom 21.10.1921, S. 2.
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für Dekorationsmalerei und Kunsthandwerk wurden aufgelöst und durch neue Fachklassen mit angeschlossenen Werkstätten ersetzt. Der zum 1. April 1919 berufene Erwin Hahs, der als Dekorationsmaler und an der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums ausgebildet wurde, betreute stattdessen die neue Malklasse. Vor allem seine stilistische und kunsttheoretische Orientierung am Expressionismus wurde das Ziel der Anfeindungen der alten Lehrerschaft. Der in der Novembergruppe, dem Arbeitsrat für Kunst und der Hallischen Künstlergruppe engagierte Hahs vertrat das Verständnis von einer Kunst, die sich ganz auf die alltägliche Lebensrealität beziehen sollte. »Der Mensch« und »das Leben« standen im Fokus seiner Tätigkeit als Lehrer. Hahs stand damit der Kunstauffassung und der dementsprechenden Lehrgestaltung Thierschs sehr nah, der die Lösung des »Problem[s] der kunsterzieherischen Frage« darin sah, »den Kunstunterricht auf die Grundlage der handwerklichen Ausbildung zu stellen und eine einseitige Ausbildung nach der künstlerischen Seite hin aus den Schulen zu verbannen, d. h. es soll eine enge Verbindung hergestellt werden zwischen dem ausübenden Kunsthandwerk und der entwerfenden künstlerischen Betätigung.«338 Um dem Anspruch einer Einheit von Kunst und Leben gerecht zu werden, der vor allem den politisierten Expressionismus der zweiten Generation beherrschte, sollte nicht ein Lehrplan den Inhalt des Unterrichts bestimmen, sondern sollten von außen an die Schule herangetragene Aufträge die Grundlage für die handwerkliche und künstlerische Auseinandersetzung mit dem »Arbeitsobjekt« in den Werkstätten bilden.339 Den alten Lehrern hingegen warf Thiersch vor, die Bezeichnung »Expressionismus« »missdeutet und missbraucht zu haben«, um Vorbehalte gegenüber dem neuen Leiter der Fachklasse Erwin Hahs zu schüren, in der »den Schülern Gelegenheit geboten wird, sich einer künstlerischen Ausbildung zu widmen, die von neuzeitlichem künstlerischen Geiste erfüllt ist und die Schüler zu einer Reife bringt, die ihnen im praktischen Leben unter den heutigen veränderten Verhältnissen und Kunstanschauungen eine Zukunft sichert.«340 Die von Machtkämpfen und persönlicher Missgunst geprägte Rhetorik dieser Auseinandersetzung lässt Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Auffassungen von Kunst und kunstgewerblicher Ausbildung zu. Offenbar wird, dass zwischen der älteren Lehrergeneration und dem Lehrerkollegium um Thiersch grundsätzliche Unterschiede in der Vorstellung vom Verhältnis von Kunst und 338 ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 8, Bericht Thierschs vom 10.03.1918 über die Entwicklung der Schule während seiner bish. Amtszeit. 339 Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 4, Arbeitspläne Werkstätten und Fachklassen. – Die Zusammenarbeit mit dem lokalen Gewerbe zu praktischen Übungszwecken hatte Thiersch schon in seiner Bewerbung um die Stelle des Direktors zu einem Grundsatz der Ausbildung erhoben. Vgl. Schneider, Burg Giebichenstein, S. 60. 340 ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 14, Entwicklungsbericht des Direktors Thiersch vom 21.10.1921, S. 8.
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Kunstgewerbe bestanden. Während für Thiersch Handwerk und Kunst im Kunstgewerbe eine Einheit bildeten, waren künstlerische und kunsthandwerkliche Ausbildung für Kopp und Jolas unterschiedliche Ziele. Die jeweils angewandten Lehrmethoden unterstrichen nicht nur diesen Gegensatz, sondern sprachen auch von den ministeriell vorangebrachten Reformen der kunstgewerblichen Ausbildung, die an zahlreichen Kunstgewerbeschulen mittlerweile praktisch umgesetzt wurden. Eine 1904 vom preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe verfasste Direktive über die Gestaltung des Unterrichts an kunstgewerblichen Fachschulen schreibt Materialfühlung, inneres Formenverständnis, Sachlichkeit und Zweckdienlichkeit als neue Leitsätze vor, die in praktischer Ausführung erlernt werden sollten.341 Diese im Kontext der Kunstgewerbebewegung entwickelten Ideale sollten die historistische Gegenstandsbehandlung und Produktgestaltung ablösen. Thiersch erarbeitete auf dieser Grundlage und nach dem Vorbild anderer Schulen eine neue Unterrichtskonzeption, die handwerkliches Wissen und Fähigkeiten als Grundlage künstlerischer Gestaltung begriff. »Abweichend von den bisher allgemein gepflegten überwiegend zeichnerischen und entwerfenden und vom Handwerk abgelösten Lehrmethoden wurde der besondere Wert auf die Anwendung des künstlerischen Schaffens gelegt aus der Erwägung heraus, dass nur in Verbindung mit der handwerklichen Leistung sich die künstlerische Formung bilden, aus den praktischen Aufgaben des täglichen Lebens, aus dem das Handwerk unmittelbar lebendige Kunst entfalten soll.«342
In deutlichem Widerspruch dazu standen die Lehrmethoden des seit 1910 als hauptamtlicher Lehrer angestellten Wilhelm Breiting. Thiersch beobachtete und notierte in seinem Entwicklungsbericht, dass der Architekt und Baumeister Breiting seine Schüler meistens werkfern, nämlich vorrangig im Zeichnen unterrichtete. Dabei werde weit »mehr Wert auf die Blendwirkung des zeichnerischen Entwurfs als auf die kunsthandwerkliche Durcharbeitung«343 gelegt. Anhand von Vorlagen aus Kunstzeitschriften und Fotografien sollten sie Zimmereinrichtungen inklusive der Möblierung entwerfen. Einerseits habe diese Aufgabenstellung die Fähigkeiten der Auszubildenden weit überstiegen. Auf der anderen Seite entspreche diese Vorgehensweise keinesfalls zeitgemäßen Lehrmethoden. Ähnlich urteilte er über die pädagogischen und künstlerischen Fähigkeiten der Lehrer Heinrich Kopp und Karl Jolas, deren Unterricht sich ebenso auf das Abzeichnen von Vorlagen beschränkte und keine Möglichkeit biete, sich 341 Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Einrichtung von Lehrwerkstätten (ministerielles Schreiben vom 15.12.1904). 342 Vgl. ebd., Hülle 12, Bericht über Unzulänglichkeit der Handwerkerschule (um 1920), S. 6/7. 343 Vgl. ebd., Hülle 14, Entwicklungsbericht des Direktors Thiersch vom 21.10.1921, S. 5.
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praktisch in verschiedenen Maltechniken auszubilden oder eine eigenständige Formensprache zu entwickeln: »Im Übrigen zeigte der Dilettantismus die bedenklichsten Früchte. Das Landschaftsmalen und Porträtieren war zum Sport der ›höheren Töchter‹ geworden. Das Entwerfen für Wandmalerei, Plakate und sonstige dekorative Graphik entbehrte jeden künstlerischen Inhaltes und erhob sich nie über die konventionellsten Leistungen künstlerischer Unreife. Der Jugendstil trieb noch immer Blüten, besonders beliebt war das Bemalen von seidenen Bändern mit Stiefmütterchen und ähnlichen Dingen. Soweit ein gedanklicher Inhalt im Entwerfen von Illustrationen darzustellen versucht wurde, wurde die trivialste Sentimentalität und Geschmacklosigkeit gebilligt. In handwerklicher, d. h. maltechnischer [Hinsicht – I. S.-W.] wurden auch die elementarsten Unterweisungen versäumt, von den Maltechniken auf Putz und Holz haben die Schüler kaum jeweils etwas erfahren.«344
Seinem Bericht über die seiner Ansicht nach nicht nur veralteten, sondern auch technisch und künstlerisch unzureichenden Leistungen der Lehrer fügte er hinzu, dass Vertreter des Ministeriums ihm in seiner Einschätzung beipflichteten. Sein Bemühen, den Unterricht der genannten Lehrer sinnvoller zu gestalten, indem er seine eigenen pädagogischen Konzepte zur Nachahmung empfahl, sei unerwünscht gewesen. Paul Thiersch setzte in seiner Unterweisung auf Zeichenübungen, in denen nach kurzer Begutachtung eines Gegenstandes aus dem Gedächtnis gezeichnet werden sollte. Die gemeinsame Diskussion der Ergebnisse und das Konkurrieren im Wettbewerb sollten die Schüler zur ständigen Verbesserung ihrer Arbeit anregen. Die Staatlich-städtische Handwerkerschule in Halle wurde 1922 in »Kunstgewerbe- und Handwerkerschule« umbenannt und vergleichbaren Einrichtungen geleichgestellt. Thiersch, der den Aufbau der Kunstgewerbeschule verantwortete, war schließlich für die organisatorische und räumliche Trennung der handwerklichen von der kunstgewerblichen Abteilung verantwortlich. Mit der Abspaltung gelang ihm die Trennung vom unliebsam gewordenen alten Lehrerkollegium, das gänzlich andere Vorstellungen von den Idealen einer kunsthandwerklichen Ausbildung, dem Verhältnis von Kunst und Kunstgewerbe hatten sowie in ästhetischer und funktioneller Hinsicht unterschiedliche Kunstbegriffe zugrunde legten.345 Die generationell gebundenen Kunstanschauungen trafen an der halleschen Schule nahezu unvermittelt aufeinander und führten zu einer weiteren Differenzierung des Kunstsystems, in dem moderne künstlerische Positionen an Gewicht gewannen. Neben dem Museum und dem Kunstverein, die beide vor Kriegsbeginn Vertreter des Expressionismus gezeigt hatten, und 344 Ebd., S. 5/6. 345 Trotzdem blieben die Lehrer Breiting, Jolas, Kopp und Lichtwark weiterhin als Oberlehrer der Anstalt besoldet und verdienten weit mehr als die von Thiersch berufenen neuen Lehrkräfte. Vgl. StH, A 2.36 Nr. 889 Bd. 1.
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jungen halleschen Künstlern, die sich davon inspirieren ließen, gewann das städtische Kunstsystem einen machtvollen Akteur, an dessen Lehranstalt die künstlerische Moderne verbreitet wurde.
4.2.3 Der Umbau der »Burg« zum städtischen Unternehmen Auch über Thierschs Amtsantritt hinaus bestand das Problem, ausreichend Schüler für die neu eingerichteten Klassen zu werben.346 Darauf weisen einerseits Äußerungen aus der Schülerschaft hin, die die Eignung einiger ihrer Mitschüler bezweifelten. Andererseits unternahm Thiersch einige Anstrengungen, um sowohl einheimische als auch auswärtige Schüler zum Besuch der Schule anzuregen. Dazu wollte er unter den 10–14-jährigen Schülern der Gymnasien und Realschulen für eine Ausbildung in einem kunsthandwerklichen Beruf werben, denn so würden »dem Kunsthandwerk … neue junge Kräfte gewonnen werden und der Mangel an Lehrlingen in diesen Berufen könnte zum Teil gehoben werden.«347 Zugleich wies Thiersch darauf hin, dass es nicht hinreichend sei, sich allein auf die personellen Ressourcen der Stadt Halle zu konzentrieren, sondern dass es darauf ankomme, Schüler von auswärts anzuziehen. Damit begründete er auch den notwendigen Ausbau der Schule und die Einrichtung der Werkstätten, die bereits an anderen Kunstgewerbeschulen aufgebaut würden und mit denen die hallesche Einrichtung konkurrieren müsse.348 Während die Schülerzahlen bis zum Kriegsende weiter fielen (im Sommersemester besuchten 15 Vollschüler, 17 Halbtagsschüler und 30 Abendschüler die kunstgewerbliche Abteilung), erreichte die Zahl der Vollschüler 1926 60 und wuchs bis 1930 auf 80 an, wobei sie unter den Fachklassen bzw. Werkstätten stark variierte. Besuchten 1923 nur wenige Schüler die Bildhauerei bzw. die keramische Werkstatt (6), die Emailwerkstatt (5) und die Buchdruckerei (6), hatten sich deutlich mehr für die Ausbildung als Raumausstatter, Tischler oder Buchbinder eingeschrieben.349 Damit sich auch Schüler aus weniger begüterten Verhältnissen die Ausbildung an der Handwerker- bzw. Kunstgewerbeschule leisten konnten, bemühten sich sowohl Brumme als auch sein Nachfolger Thiersch darum, den Auszubildenden finanzielle Erleichterungen in Form von Schulgelderlassen, -ermäßigungen und Stipendien zuteilwerden zu lassen. Vor allem
346 Dieses Problem bestand nicht nur für die kunstgewerbliche Abteilung. Auch die höheren Klassen der Baugewerk- und Maschinenbauschule konnten aufgrund des geringen Besuchs nicht zur Vollanstalt ausgebaut werden. Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 12. 347 So lautete ein Antrag Thierschs an den halleschen Magistrat vom 12.03.1917. Ebd., Hülle 7. 348 Thiersch verweist auf den Aufbau der Bauhaus-Werkstätten in Weimar, der für erhöhten Zulauf der Schüler sorgte. Vgl. ebd., Hülle 8. 349 Vgl. ebd., Hülle 15 und Denkschrift Kunstgewerbeschule 1930.
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Thiersch versuchte durch persönliche Kontaktnahme mit Ernst Haaßengier und Anträgen an die Stadtverordnetenversammlung Schülern den Besuch der Schule zu ermöglichen.350 Thierschs Ausbildungskonzept und seine wirtschaftlichen Ambitionen, die bald weit über gelegentliche Aufträge aus der freien Wirtschaft hinausgingen, brachten ihn jedoch zunehmend mit lokalen Akteuren sowie dem zuständigen Ministerium in Konflikt. Seine ursprünglich pädagogisch begründete Einbeziehung des lokalen Gewerbes und die Bearbeitung von privatwirtschaftlichen Aufträgen wurden schon zu Beginn seiner Leitungs- und Lehrtätigkeit arg wöhnisch beäugt. In ihrem Beschwerdebrief vom Juli 1921 sahen die Lehrer bereits die Ausbildung des Nachwuchses zugunsten des Vertriebs kunstgewerblicher Gegenstände vernachlässigt. Tatsächlich forcierte Thiersch während der ersten Hälfte der zwanziger Jahre weiter den Ausbau der kunstgewerblichen Abteilung der Schule zu einem produzierenden Unternehmen unter seiner persönlichen und künstlerischen Leitung. Schrittweise handelte er mit den zuständigen städtischen Gremien – als Kunstgewerbe- und Handwerkerschule wurde sie weiterhin zu großen Teilen von Staat und Stadt finanziert – größtmögliche Autonomie und finanzielle Mittel zum Ausbau der Werkstätten aus. Für sich und seine Rolle als Leiter der Werkstätten erbat er im Sommer 1921 vom Magistrat die volle Verfügungsgewalt über die schulischen Mittel, um die Materialbeschaffung besser koordinieren zu können und aus der bürokratischen Verwaltungspraxis der Kommune erwachsende Wartezeiten zu umgehen. Gerade für die Bearbeitung privater Aufträge sei dies unerlässlich. Um sich der künstlerischen Leitung des Werkstättenbetriebs widmen zu können, wollte er außerdem von organisatorischen Aufgaben, die im Zusammenhang mit der Schulleitung standen, entbunden werden. Entlastet wurde er außerdem durch die Einstellung eines Verwaltungssekretärs, der den Werkstättenbetrieb kaufmännisch verwaltete und den Verkauf der »Erzeugnisse in geeigneter Weise … im Laden, auf Ausstellungen und Messen«351 koordinierte. Ab 1920 wurden in den An-
350 Vgl. ebd., Denkschrift Kunstgewerbeschule 1930; Hülle 13, Dankesschreiben Thierschs an Martin Knauthe (vom 29.07.1921), der sich als Stadtverordneter (KPD) für die Mittelbewilligung für den Ausbau der Kunstgewerbeschule und die Einrichtung eines Fonds für hilfsbedürftige Schüler eingesetzt hatte. 351 Thiersch empfahl in diesem Schreiben auch dringend die Anstellung eines Gehilfen für die kaufmännische Abteilung. Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 14, Gesuch um Entlastung des Direktors vom Dezember 1921. – In einem Schreiben Thierschs an den Dezernenten der Kunstgewerbeschule Velthuysen vom 24. Januar 1923 erbittet er, den Verwaltungssekretär Finken besser zu entlohnen, da er über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus die Geschäfte leite und daher auch eine Gewinnbeteiligung erfahren sollte. Er begründet: »Bei der kaufmännischen Artung des Betriebes erachte ich es für recht und billig, dass der Geschäftsführer oder Prokurist am Gewinn beteiligt ist«, ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 15.
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bauten am Roten Turm Produkte der Werkstätten ausgestellt und zum Verkauf angeboten. An seinen Vorschlägen für den Ausbau der keramischen Abteilung werden Thierschs unternehmerischen Ambitionen besonders deutlich. Er schlug vor, aus städtischen Mitteln eine Fabrikationsstätte zur Ausführung an der Burg entworfener Produkte anzukaufen, die dann als Betrieb unter seiner Leitung und unter städtischer Beteiligung organisiert wäre. Zugleich machten es die vorliegenden Aufträge sowie Ausstellungs- und Messebeiträge notwendig, für die keramischen Werkstätten sowohl zwei ausgebildete Töpfergesellen als auch eine kunsthandwerkliche Fachkraft einzustellen.352 Das für Vorarbeiten und als technisch versierte Fachkräfte benötigte Personal sollte nicht aus der Schülerschaft rekrutiert werden. Vor dem Hintergrund, dass der Auftrag zur Ausbildung des kunsthandwerklichen Nachwuchses weiterhin die immense öffentliche Bezuschussung rechtfertigen sollte, erscheinen die Anträge Thierschs an die Stadt wenigstens widersprüchlich. Die von der Stadt bewilligten Sonderzuschüsse in Höhe von 40.000 und 30.000 Mark sowie das zur Verfügung gestellte Gelände der Unterburg der Burg Giebichenstein und ihr Umbau für 3 Millionen Mark wurden zu geringen Teilen aus Verkaufserlösen zurückgezahlt. Darüber hinaus unterhielten Stadt und Staat die schulischen und betrieblichen Einrichtungen. Für 1929 wurde ermittelt, dass die Unterhaltskosten von 200.000 Mark bis auf 75.000 Mark Einnahmen aus dem Verkaufsgeschäft öffentlich zu tragen waren. Das Kuratorium stellte im August 1920 die besondere Anteilnahme der Stadt fest: »In vorwiegendem Maße ist jedoch die Stadt durch Bereitstellung besonderer Mittel beteiligt. Neben dem Lehrzweck haben die Kunstwerkstätten jedoch auch den Erwerbszweck zu erfüllen. Sie sollen durch Verkauf ihrer Erzeugnisse Einnahmen erzielen, welche dazu beitragen, die Kosten für Unterhaltung und Erweiterung der Einrichtungen und Materialbeschaffungen zu decken. Die Kunstwerkstätten sind deshalb darauf angewiesen, Aufträge kunsthandwerklicher Art, welche für ihren Betrieb geeignet sind, gegen Rechnung anzunehmen und die üblichen Marktpreise dafür zugrundezulegen.«353
Gleichzeitig sperrte sich Thiersch dagegen, unter gleichen Bedingen, das heißt, ohne öffentliche Subventionierung, mit anderen Unternehmen in Konkurrenz zu treten, da nur so die Unabhängigkeit von Bedürfnissen der Konsumenten gewahrt werden könne. Als Lehrwerkstätte müsste die Einrichtung gleich zeitig die Ausbildung in der Praxis und die Möglichkeit des Scheiterns bzw. des Abweichens vom Bewährten und gesellschaftlich Anerkannten ermöglichen.
352 Vgl. ebd., Hülle 16. 353 StH, S 16, Sammlung Nauhaus »Die Burg«, Karton 1, Nr. 44.
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Mit seiner Konzeption des Unterrichts im Werkstättenprinzip entfernte sich Thiersch zunehmend von den ursprünglichen Intentionen der Erneuerung des Ausbildungswesens. Insbesondere die von Muthesius in den zwanziger Jahren geforderte Normierung des Unterrichts anhand eines festen Lehrplanes bedeutete für Thierschs Institut eine existenzielle Bedrohung. Gemeinsam mit dem Kulturdezernenten Wilhelm Waetzoldt, dem halleschen Magistrat und seinem Vorsitzenden und Oberbürgermeister Rive gelang es vorerst, diese ministerielle Forderung abzuwenden.354 Doch auch nach seinem Ruf nach Hannover und dem baldigem Tod 1928 blieb die Schule, die von Gerhard Marcks als kommissarischem Direktor im Sinne Thierschs fortgeführt wurde, im Visier des Ministeriums. Der Vorwurf, »Giebichenstein sei eine Künstlerkolonie mit Fabrikationsbetrieb und keine Kunstgewerbeschule«, wurde erneut erhoben. Der Eindruck, dass die Kunstgewerbeschule mit ihren Werkstätten »dem Handwerk Konkurrenz machten«355, bestand auch unter den lokalen Handwerkerverbänden. Sie richteten Anfang November 1927 ein Schreiben an den halleschen Magistrat und forderten, dass die Kunstgewerbeschule sich auf den Bereich der kunstgewerblichen Ausbildung beschränken und sich von der Ausführung privatwirtschaftlicher Aufträge zurückziehen sollte. Die Teilnahme der Schule an Ausschreibungen, in denen sie zudem noch durch die Befreiung von der Gewerbesteuer bevorteilt werde, entspreche nicht ihrer eigentlichen Aufgabe, »dem Gewerbe unseres Bezirkes künstlerische Anregungen zu geben, d. h. durch ihre künstlerischen Arbeiten und Entwürfe dem Gewerbe, vornehmlich dem Handwerk Anregungen für neuzeitliche Innen- und Außenarchitektur zu geben.«356 Die versammelten Verbände richteten ihre Kritik auch an die städtische Verwaltung selbst, die das Entstehen eines »Stadtregiebetriebes« schließlich selbst gebilligt habe und deren finanziellen Erfolg in den Bilanzen zu verschleiern suche. Insgesamt plädieren die Unterzeichner für eine Liberalisierung der Wirtschaftspolitik und den Rückzug der kommunalen Verwaltungen aus diesem Sektor. Dass das Verhältnis des finanziellen Aufwandes für die zu großen Teilen öffentlich finanzierte Kunstgewerbeschule einerseits und die Zahl der tatsächlich ausgebildeten Lehrlinge und Meister in einem Missverhältnis stehe, deutete diese Eingabe an den Magistrat bereits an. Am 16. August 1930 wurde im Mitteldeutschen Echo ein ausführlicher Artikel publiziert, der unter dem Titel »Burg
354 Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 24; Thiersch, »Die Werkstätten der Stadt Halle«, S. 90–92; Nauhaus, Burg Giebichenstein, 67–70. 355 ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33. 356 ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 21, Schreiben gerichtet an den halleschen Magistrat vom 02.12.1927, unterzeichnet vom Mitteldeutschen Handwerkerbund Ortsgruppe Halle, dem Zentral-Verband der Halleschen Unternehmerverbände sowie der Handwerkskammer für den Regierungsbezirk Merseburg zu Halle a. S., S. 1.
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Giebichenstein, ein Feudalinstitut auf Kosten der Steuerzahler« diesen Vorwurf erneut aufgriff und zur Anklage steigerte. Abgesehen von den wenigen (ein stellig) Schülern, die jede – nach Meinung des Verfassers – überbezahlte Lehrkraft ausbilde,357 habe die Schule das Ziel verfehlt, die breite Gesellschaft mit den Errungenschaften modernen Designs bekannt zu machen. Zwar schätzte der Autor die künstlerische Qualität der an der Burg entstanden Produkte, zeigt sich angesichts ihrer Exklusivität vom Wirken der Kunstgewerbeschule aber enttäuscht. Stattdessen forderte er: »Vom kommerziellen wie vom künstlerischen Standpunkt muß das Gesicht der werktätigen Masse zugekehrt werden. Massenartikel nach den Erfordernissen des modernen Haushaltes sind herzustellen oder mindestens zu entwerfen, Menschen sind auszubilden, die dieses Prinzip in der Industrie der Serienwaren durchsetzen.«358
Ausdrücklich zeigt er sich den bestimmenden Gedanken des Dessauer Bauhauses zugewandt, dass die Massentauglichkeit der Produkte in den Vordergrund stellte und die Zusammenarbeit mit der Industrie verfolgte.359 Die Anstrengungen der halleschen Werkstätten hingegen waren im Wesentlichen auf das individuell gefertigte Einzelstück konzentriert, das für Geringverdiener unerschwinglich blieb. Keramiken, Metallstücke und Möbel überstiegen die durchschnittlichen Warenpreise um ein Vielfaches. Gleiches gelte für die »Handwebereien, deren Schönheit nur durch ihre Preise übertroffen wird. Nichts für Arbeiter und Kleinbürger!«360 Eine vermutlich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre veröffentlichte Preisliste der Webereiabteilung bot eine Produktpalette, die von Teppichen über Dekorationsstoffe bis zu Kleiderstoffen reichte. Die in laufendem Meter berechneten Preise lagen für Teppiche zwischen 30 und 100 Mark, für Dekorations- und Kleiderstoffe zwischen 12 und 20 Mark, die Stückpreise für Schals betrugen je nach Technik 12–16 oder 50 Mark. Die Preisangaben waren insofern variabel, als je nach Herstellungsaufwand mehr berechnet werden konnte.361 Gemessen an den für eine fünfköpfige Familie statistisch ermittelten monatlichen Lebenshaltungskosten (ohne Bekleidung) waren die in der Burg produzierten Textilien nicht geeignet, die von Thiersch postulierte Idee, Kunst und Leben auf der Ebene einer für alle Bevölkerungsschichten bezahlbaren 357 Die Handwerkerverbände gaben an, dass auf einen Lehrer sechs auszubildende Schüler kamen. Vgl. ebd., Hülle 15 und Denkschrift Kunstgewerbeschule 1930. 358 ME vom 16.08.1930. 359 Vgl. Schneider, Burg Giebichenstein, S. 102. Wilhelm Nauhaus machte deutlich, dass unter Gerhard Marcks, der seit dem Weggang Thierschs 1928 die Kunstgewerbeschule leitete, eine Annäherung an die Industrie und den Gedanken der massenhaften Produktion erfolgte. Vor allem Marguerite Friedlaender fertigte keramische Modelle an, die in industriellen Betrieben produziert werden konnten. Vgl. Nauhaus, Burg Giebichenstein, S. 79. 360 Ebd. 361 Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 1.
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Gegenstandskultur zu verwirklichen.362 Andererseits schuf Thiersch mit der Einrichtung ständiger Verkaufs- und Ausstellungsräume in den Umbauten des Roten Turms ein Schaufenster, das es der Stadtöffentlichkeit ermöglichte, die Gestaltungstendenzen und Produktideen der Werkstätten zu verfolgen und – freilich nur den Wohlhabenderen – die Ergebnisse zu erwerben.
Fazit Die Schule etablierte sich erst im Laufe der Klassischen Moderne mit der Anerkennung gewerblicher Schulbildung als Faktor wirtschaftlicher Konkurrenzfähigkeit als fester Bestandteil des öffentlichen Bildungswesens. Frühestens mit Thierschs Leitungstätigkeit wurde die Schule auch zu einem wichtigen Akteur innerhalb des städtischen Kunstsystems. Obwohl schon früher Berührungspunkte zu künstlerischen Fragestellungen vorhanden waren, brachte erst der neue Direktor mit seinem Konzept, das Handwerk als integralen Bestandteil künstlerischer Tätigkeit verstand, die spätere Kunstgewerbeschule in den Bereich der bildenden Kunst. Innerhalb des halleschen Kunstsystems war die Schule Exponent und wichtiger Partner der kommunalen Kulturpolitik. Zwischen dem Oberbürgermeister Rive und dem Schuldirektor Thiersch bestand eine enge Verbindung, die auf gegenseitiger Loyalität beruhte und von der beide Partner profitierten. Sowohl aufgrund wiederholter finanzieller Zugeständnisse, die Rive gegenüber Magistrat und Stadtversammlung rechtfertigte, als auch mit Blick auf die Verteidigung seiner Konzepte und (wirtschaftlichen) Tätigkeit gegenüber überregionalen und lokalen Interessengruppen war Thiersch ihm zur Loyalität verpflichtet. Thiersch revanchierte sich im Gegenzug für die ihm zugestandene künstlerische und wirtschaftliche Freiheit mit einer loyalen Haltung gegenüber seiner Kulturpolitik, die ihn unter den freien Künstlern der Stadt sowie unter anderen im Kunstbereich aktiven Gruppen in Verruf brachten. Zu Beginn der zwanziger Jahre sprang er interimsmäßig für die Verwaltung des städtischen Kunstmuseums ein, als Rive die dauerhafte Neubesetzung des Direktorenpostens gegen den Widerstand des Museumsvereins und anderer verhinderte. Seine eigentliche Gegenleistung bestand jedoch in der überregionalen Strahlkraft und Anerkennung, die sich die Kunstgewerbeschule als »Werkstätten der Stadt Halle« auf Messen und Ausstellungen verdiente und die auf die Stadt Halle unter Führung Rives zurückwirkten. Insgesamt erscheint Thiersch als Mittler zwischen der stark von Rive gelenkten städtischen Kulturpolitik und 362 Die vierteljährlich neu festgestellten Indexziffern (Ernährung, Wohnung, Kleidung, Heizung, Beleuchtung) lagen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre zwischen 135,50 Mark (16.12.1925) und 148,97 Mark (März 1930). Zwischenzeitlich lag die Indexziffer nur geringfügig darüber. Vgl. Aus der Statistik der Stadt Halle, Nr. 14–32, Halle 1925–1930.
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der freien Kunst- und Künstlerszene. Er unterhielt sowohl zu Rive als auch zu dessen Widersachern gute Beziehungen, wobei er für keine der beiden Seiten öffentlich Partei ergriff. Er manövrierte geschickt zwischen den verschiedenen Akteuren des Kunstsystems mit dem Ziel, seine eigene Position zu stärken und die Kunstgewerbeschule möglichst autonom führen zu können.363 Für die Prägung des lokalen Kunstbegriffes spielte die Handwerker- und spätere Kunstgewerbeschule eine sehr bedeutsame Rolle. Zahlreiche der Schüler, die später als bildende Künstler oder Kunstgewerbetreibende in Halle tätig waren, hatten ihre Ausbildung dort absolviert und erhielten von ihr wichtige Impulse für ihr künstlerisches Selbstverständnis, sowohl hinsichtlich ihres Selbstbildes als Künstler als auch ihres Verständnisses von Kunst und künstlerischer Tätigkeit. Dass Thiersch die Handwerkerschule nicht nur in organisatorischer Hinsicht, sondern vor allem auch inhaltlich-programmatisch umgestaltete und einen anderen als den bisher vertretenen Kunstbegriff einführte, war deshalb für die Formung und Prägung der halleschen Künstlerschaft von zentraler Bedeutung. Am Widerstreit der künstlerischen Positionen der alten und neuen, von Thiersch berufenen Lehrerschaft und seinem Betreiben, die Lehrer Kopp, Jolas, und Breiting aus dem kunstgewerblichen Schulbetrieb zu verdrängen, ist das Gegenüber älterer und modernerer Ausbildungsziele sowie dahinterstehender Kunstbegriffe und Künstlerbilder deutlich zu erkennen. Die schon vor dem Krieg aufbrechende Homogenität des Kunstbegriffs wich mit Thierschs Wirken dem Neben- und Gegeneinander unterschiedlicher Ansichten über die ästhetische Erscheinung und die Funktion der Kunst. Das Institut war ab 1915 im halleschen Kunstsystem ein wichtiger Ort für den Zufluss moderner ästhetischer Konzepte und einer konsequenten Synthese handwerklicher und künstlerischer Ausbildung. Die hallesche Schule war damit eng angeschlossen an die auf nationaler Ebene intensiv und kontrovers geführte 363 Andererseits vernetzte sich Thiersch innerhalb des Kunstsystems vielfältig und nahm im Kunstverein (Vorstandsmitglied ab 1919), im Bund Deutscher Architekten (Schriftführer 1916) und dem Kunstgewerbeverein (Wahl in den Vorstand während des Krieges) wichtige Ämter ein. Für das Stadttheater, das ab 1915 unter der dramaturgischen Leitung von Leopold Sachse stand, fertigte er zahlreiche Bühnenbilder für dessen Inszenierungen an und erreichte auf diese Weise mit seiner expressionistischen Bildsprache ein weiteres Publikum. Als es zum Bruch zwischen Ernst Haaßengier und Rive kam, verstand es Thiersch durch persönliche Fühlung mit dem Stifter, die Haaßengier-Stiftung für den Bereich des Kunstgewerbes fruchtbar zu machen. Er flickte diplomatisch das durch Rive ins Ungleichgewicht gebrachte Verhältnis zwischen Stifter und Stadt. Auch zu Martin Knauthe, Architekt und Wortführer der Hallischen Künstlergruppe und in dieser Position sowie als Abgeordneter der KPD in der Stadtverordnetenversammlung ein Widersacher Rives, unterhielt Thiersch eine freundliche Beziehung. Vgl. Roediger, Geschichte des Kunstgewerbevereins, S. 158; LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Bl. 48; LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 Halle, Bund Deutscher Architekten, Bl. 21; ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 13; StH, A 2.36 Nr. 891 Bd. 1, S. 1r; DW vom 22.04.1923; Paul Thiersch und die Bühne.
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Diskussion nicht nur um die Grundlagen künstlerischer Ausbildung, sondern die Beschaffenheit und soziale Funktion der Kunst in Gegenwart und Zukunft. Obwohl Thiersch und explizit manche der Burg-Lehrer die eng mit dem Kunstgewerbe verknüpfte Idee einer demokratisierten Kunst unterstützten, blieb dieser Wunsch hinsichtlich der Verbreitung ihrer Produkte unverwirklicht. Für die hallesche Künstlerschaft war die Entwicklung der handwerklichen und später kunsthandwerklichen Ausbildung an der gewerblichen Zeichenschule und späteren Handwerker- und Kunstgewerbeschule von prägender Bedeutung. Als einzige öffentliche Lehranstalt, die in der Stadt erst eine zeichnerische und ab den zwanziger Jahren eine vollumfängliche künstlerische Ausbildung bot, war sie für den einheimischen künstlerischen Nachwuchs oft die erste Anlaufstelle, bevor er seine künstlerische Ausbildung an Kunstakademien oder -schulen andernorts fortsetzte.364 Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein schulisches Angebot für die handwerkliche Ausbildung aufgebaut und mit Elementen des Kunstgewerbes verknüpft wurde, eröffnete sich für den Handwerkernachwuchs in manchen Fällen überhaupt erstmals die Perspektive auf eine künstlerische berufliche Zukunft. Je nachdem, wann zukünftige Künstler den Unterricht an der Schule besuchten – im Wesentlichen lassen sich hier die Phasen der gewerblichen Zeichenschule (Klasse für Dekorationsmaler unter Adolf Maennchen), der Handwerkerschule (1901–1915) und der Handwerker-bzw. Kunstgewerbeschule (ab 1915 unter der Leitung Paul Thierschs) unterscheiden – machten die Schüler höchst unterschiedliche Erfahrungen. Während die gewerbliche Zeichenschule und spätere Handwerkerschule Arbeitsort einer handwerklich und anschließend akademisch gebildeten Künstlergeneration war, die auf einer strengen Trennlinie zwischen bildender Kunst und Kunstgewerbe bzw. Kunsthandwerk beharrte, verflüssigte sich unter Thiersch dieser Grenzbereich zusehends. Im Vergleich mit andernorts zur Jahrhundertwende und davor eingerichteten Kunstgewerbeschulen blieb die hallesche Einrichtung hinter den zeitgenössischen Ausbildungsmöglichkeiten in diesem Bereich zurück. Ursächlich für den verpassten Anschluss an die wegweisenden Lehrkonzepte, die in Magdeburg oder Breslau Erfolge zeitigten, waren sowohl die fehlende Unterstützung durch die Stadtverwaltung als auch die ablehnende Haltung der halleschen Gewerbetreibenden gegenüber dem Gedanken einer verbesserten Ausbildung ihrer Lehrlinge. Die dennoch gesetzten staatlichen Impulse und das Engagement Einzelner vermochten unter diesen Bedingungen nur ansatzweise eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu gewährleisten. Die an der Schule engagierten Künstler bzw. Kunstgewerbler 364 Zahlreiche der um 1890 in Halle geborenen Künstler entstammten dem handwerklichen Milieu und absolvierten, bevor sie sich für eine künstlerische Laufbahn entschlossen, eine handwerkliche Ausbildung und besuchten zeitweise die Tagesklassen oder den Abendunterricht an der Handwerkerschule. Siehe Kap. IV.1.
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ermöglichten in Halle erstmals den Besuch künstlerischen Unterrichts jenseits kostenintensiver Privatstunden. Wenn auch die bis 1915 lehrenden Fachkräfte für den Zeichen- und Modellierunterricht kaum eine überregionale Bedeutung entfalteten, so waren sie doch für den Kreis ihrer Schüler unter Umständen in beruflicher Hinsicht ein Vorbild. Eine Vielzahl der Nachwuchskünstler, die sich ab 1908 um ein Stipendium bei der Haaßengier-Stiftung bewarben, gaben ihre Lehrer an der Handwerkerschule als Referenzen für ihr künstlerisches Talent und ihrer Leistungen an.
4.3 Der Kunstgewerbeverein Halle – Treffpunkt und Ansprechpartner der ersten Generation hallescher Künstler 4.3.1 Der Kunstbegriff des Kunstgewerbevereins um 1900 Der 1882 gegründete Kunstgewerbeverein für Halle spielte im städtischen Kunstsystem vor allem in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine herausragende Rolle. Nach der Jahrhundertwende und besonders ab Beginn des Ersten Weltkrieges schwand seine Bedeutung zusehends. Bevor der Kunstverein nach seinem schleichenden Bedeutungsverlust mit den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts wieder an Innovationspotential gewann, war es der Kunstgewerbeverein, der den Kunstbegriff belebte und mit neuen ästhetischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Verbindung brachte. Mit verschiedenen öffentlichen Angeboten sorgte er für die Popularisierung der Kunstgewerbebewegung. Nicht zuletzt bot er mit seiner Ausrichtung für viele hallesche Künstler und Kunstgewerbetreibende vor und um 1900 eine Anlaufstelle, die ihre Lebensund Arbeitsrealität berücksichtigte. Als Zweck bestimmte der 1882 ins Leben gerufene Verein »die Förderung des deutschen Kunstgewerbes und zwar durch Einwirkung sowohl auf die Vervollkommnung der kunstgewerblichen Leistungen bei den Producenten, wie auf die Förderung des Geschmacks in den Kreisen der Konsumenten.«365 Mit dieser Zielstellung sicherte er sich nicht nur breite Unterstützung unter den halleschen Bürgern366, die aus zum Teil sehr verschiedenen Arbeitsbereichen
365 Statuten des Kunstgewerbe-Vereins zu Halle, Halle 1882, § 1. 366 Bei seiner Gründung zählte er 196 Mitglieder, deren Zahl im ersten Jahr rasant auf 354 anwuchs. Gerade für die ersten Vereinsjahre waren zahlreiche Ein- und Austritte zu verzeichnen, bis die Mitgliederzahl im März 1885 auf ein Hoch von 427 anstieg. Seit den neunziger Jahren sanken die Mitgliedschaften stetig und lagen kurz nach der Jahrhundertwende noch bei über 300. Ein weiterer Mitgliederschwund erfolgte nach dem Ersten Weltkrieg und 1934 gab Dresslers Kunsthandbuch nur noch 115 Mitglieder an. Vgl. Jahres-Bericht KunstgewerbeVerein 1885, S. 3; Dressler, Kunsthandbuch Bd. 1 1934, S. 448. – Trotz der Vielzahl an Vergemeinschaftungsangeboten, insbesondere auf gewerblichem Gebiet – diverse Berufsgruppen
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und sozialen Milieus stammten, sondern auch die Anteilnahme kommunal- und regionalpolitischer Akteure. Die große Aufmerksamkeit, die der Verein von städtischer Seite erfuhr, fand symbolischen Ausdruck in der Besetzung des Vorstandspostens mit dem Ersten Bürgermeister der Stadt367. Auch die regelmäßige finanzielle Zuwendung aus städtischen Mitteln, die sich auf 500 Mark belief und ab 1892 um 1.000, später 2.000 Mark Zuschuss durch die Provinzialverwaltung ergänzt wurde, gibt Zeugnis vom politischen Interesse an der Vereinsarbeit.368 Die anhaltende Hochschätzung auf verschiedenen politisch-administrativen Ebenen spiegelte sich in der Gästeliste anlässlich einer Ausstellung des Vereins im Jahr 1892 wieder. Sie wurde angeführt von Gustav von Diest, dem Regierungspräsidenten des Bezirks Merseburg in der preußischen Provinz Sachsen.369 Seine Ansprache folgte auf die Eröffnungsrede von Oberbürgermeister Staude, der die Vermittlung zwischen Konsumenten und Produzenten als hauptsächliches Vereinsinteresse beschreibt. Von Diest formulierte grundsätzlicher als sein Vorredner: »Das Kunstgewerbe sei von höchster Bedeutung für jedes Volk, denn es drücke einerseits demselben sein Gepräge auf, andererseits sei es, aus dem Charakter des Volkes geboren, ein Spiegel desselben.«370
Diese zum Teil institutionalisierten Kontakte des Vereins zu kommunalpolitischen Akteuren371 und staatlichen Regierungsvertretern zeigen, dass das Kunstgewerbe von starkem politischen Interesse war. Der personelle Befund des Kunstvereins wiederholt sich beim Kunstgewerbeverein: Auch hier waren zahlreiche Inhaber stadtpolitischer Ämter als Mitglieder und Vereinsvorstände schlossen sich in eigenen Interessenverbänden zusammen – erntete der Kunstgewerbeverein »verständnißvolle Theilnahme … in den verschiedenen Kreisen der Halle’schen Bürgerschaft«, die »ihn in steigendem Maße durch sein erstes Lebensjahr hindurch begleitet[e].« Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1882. 367 Das war seit 1882 Gustav Staude. Das Vereinsverzeichnis des städtischen Adressbuches verzeichnete ihn 1883/1884 als Vorsitzenden, danach bis 1892 als Ehrenvorsitzenden. Vgl. Adressbuch Halle 1882–1892. 368 Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1882, S. 5; Kunstgewerbeausstellung 1892, S. 7. 369 Von Diest war in seiner Funktion als Regierungspräsident Mitglied des Kunstgewerbevereins und stand im Austausch mit dessen Führung, nicht zuletzt wegen der gewährten finanziellen Unterstützung. Die Arbeit des Vereins war ihm jedoch auch ein persönliches Anliegen, wie seine Anwesenheit auf der Generalversammlung des Jahres 1884 zeigt. An verschiedenen Stellen ergriff er das Wort und brachte Vorschläge ein, wie die Arbeit des Vereins noch popularisiert werden könne. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Kunstgewerbe-Verein für Halle und den Regierungsbezirk Merseburg; SZ vom 04.10.1884, Nr. 233 (4. Beilage). 370 HZ vom 01.09.1892, Nr. 204 (Zweite Ausgabe). 371 So waren auch die Bibliothek und der Lesesaal des Vereins im Waagegebäude des Rathauses eingerichtet. Vgl. Adressbuch Halle 1887, S. 368.
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vertreten.372 Im Vereinsjahr 1884 wurden sieben Magistratsangehörige als Vereinsmitglieder gezählt. Der Verein suchte auch institutionell die Nähe zu den städtischen Behörden, indem er bestimmte, dass Stadtverordnetenversammlung und Magistrat jeweils zwei ihrer Angehörigen für ein Jahr als Nicht-Mitglieder entsenden sollten.373 Die Förderung des Kunstgewerbes diente, neben ideellen und sozialutopischen Motiven, vor allem wirtschaftlichen Zwecken und vereinte öffentliche wie private Interessenlagen. Während der Staat über das Ausbildungswesen und die kunstgewerbliche Unterrichtung der örtlichen Gewerbetreibenden den Rückstand der preußischen gegenüber der englischen und süddeutschen handwerklichen und industriellen Produktion aufzuholen suchte,374 war der Verein vor Ort ein Bündnis vieler Kräfte, die jenseits zentralstaatlicher Maßnahmen das lokale Kunstgewerbe förderten und repräsentierten. Als Motiv ihres Engagements verkündete der Verein anlässlich einer Ausstellung: »… der verlockendste Gedanke blieb immer der, dem einheimischen Publikum das eigene Kunsthandwerk in seinen Leistungen vorzuführen, um dasselbe nicht in den grossen Städten ausserhalb suchen zu müssen, was es hier in der Provinz finden kann.«375
Bürgermeister Staude thematisierte die Entwicklung des halleschen Kunstgewerbes im Zusammenhang mit dem explosiven Wachstum der Stadt und ihrer Urbanisierung in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts anlässlich der ersten großen Ausstellung des Vereins 1892.376 Entsprechend seines selbstgegebenen Auftrages, zwischen produzierenden377 und konsumierenden lokalen 372 Das hallesche Adressbuch verzeichnet namentlich und unter Angabe des Berufs bis inklusive 1893 neben den Vereinsämtern die einzelnen Vorstandsmitglieder. Im Vereinsvorstand sind für diesen Zeitraum (1882–1893) durchgängig wenigstens zwei Stadträte oder Stadtbauräte vertreten. So war Regierungsbaumeister Reinhard Knoch ab 1885 Vorstandmitglied. Er war bis 1905 als Vorsitzender bzw. stellvertretender Vorsitzender in verantwortlicher Position an den Vereinsgeschäften beteiligt. 373 Das Vereinsblatt berichtet, dass im Jahr 1885 die vorgesehene Entsendung von insgesamt vier Magistratsmitgliedern bzw. Stadtverordneten nicht erfolgte. Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1884, S. 5; Adressbuch Halle 1883–1893. Vgl. Statuten des Kunstgewerbe-Vereins, § 9. Außerdem sollte das Vereinsvermögen im Fall seiner Auflösung an die Stadt fallen. Siehe ebd. 374 So publizierte es Hermann Schwabe 1862 im Auftrag der preußischen Prinzessin Viktoria. Vgl. Holtz, Kultusministerium, S. 498. 375 Kunstgewerbeausstellung 1892, S. 7/8. 376 Ebd.: »Die Ausstellung solle ein Bild der Leistungen des hiesigen Kunstgewerbes geben, das sich im Laufe der letzten zehn Jahre, die für den Aufschwung unserer Stadt so bedeutungsvoll gewesen seien, erfreulich entwickelt habe …«, so Bürgermeister Staude zur Eröffnung der Kunstgewerbeausstellung 1892. 377 »Eine noch lebhaftere Betheiligung der vielen Gewerbetreibenden, welche Halle zählt, wäre zu wünschen.« Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1885, S. 4.
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Kräften zu vermitteln, differenzierte der Verein seine Mitglieder nach ihrer Berufszugehörigkeit. Die insgesamt 427 Mitglieder im März 1885 teilten sich in 169 Produzenten und 258 Konsumenten. Wie im Vorstand waren auch hier Baumeister, Handwerker, Kunstgewerbler und Industrielle stark vertreten. Besonders das Baugewerbe war durch die Vielzahl an Architekten (24), Bauunternehmern (3), höheren Baubeamten (14) und Maurermeistern (12) präsent. Die in der Zimmerei (10), Schlosserei (16) und Tischlerei (21) tätigen Handwerksmeister sowie Buchbinder (12) und Maler (15) stellten ebenfalls größere Berufsgruppen. Ob es sich bei den Malern um Anstreicher, Dekorations- oder Kunstmaler handelte, wurde nicht weiter differenziert. Auch für die Berufsgruppe der Bildhauer und Steinmetze (8) wurde die Frage nach der künstlerischen Qualität nicht gestellt.378 Obwohl bildende Künstler als für das Handwerk und die Industrie potentiell maßgebliche Impulsgeber galten,379 spielte das Künstlersein als Beruf für die Selbstanalyse nach beruflicher Zusammensetzung keine Rolle. Auch auf Seiten der Konsumenten dominierten bestimmte Berufsgruppen. Sie waren primär im Bereich der Warenproduktion und des Verkaufs tätig. Als Fabrikdirektoren (12), Industrielle (38) und Kaufleute (58) arbeiteten und handelten sie mit kunstgewerblich optimierbaren Erzeugnissen. Mit 10 Angehörigen versammelte auch die Berufsgruppe der Bankiers eine beträchtliche Zahl an Mitgliedern. Innerhalb der großen Gruppe der Intellektuellen (20 Techniker und Ingenieure, 9 Lehrer, 3 Juristen, 12 Mediziner und Apotheker) fallen die 21 dem Verein beigetretenen Professoren auf. Hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Vereinsorganisation ist diese Gruppe von großem Interesse. Sie stellte das zentrale Reservoir an Führungskräften.380 Darüber hinaus gehörten dem Vorstand jedoch zahlreiche Vertreter der produzierenden Gewerbe an: In der Zusammenarbeit von Handwerksmeistern verschiedener Gewerke (Tischlermeister, Schlossermeister, Maurermeister, Steinmetzmeister), Kunsthandwerkern (Kunstschlosser), Künstlern (Maler, Bildhauer) und in deren Grenzbereich anzusiedelnden Berufsgruppen (Fotograf, Lithograf, Dekorationsmaler) einerseits und Industriellen (Fabrikbesitzer)381 378 Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1885. 379 Vgl. Holtz, Kultusministerium, S. 522. 380 Der 1876 an die Universität Halle berufene Archäologe Heinrich Heydemann gab wesentliche Impulse zur Vereinsgründung und kuratierte die erste in Halle präsentierte kunstgewerbliche Ausstellung. Vgl. Dittenberger, Heinrich Heydemann. 381 Vgl. Adress-Buch Halle 1883–1893, Vierter Nachweis. Für die Folgejahre ist die Zusammensetzung des Vorstandes nicht mehr nachzuvollziehen, da sich das Adressbuch dann auf die Nennung der Funktionsposten bzw. des Vorsitzenden beschränkt. Den ersten gewählten Vorstand bildeten: Staude, Erster Bürgermeister – Dehne, Fabrikbesitzer – Heydemann, Prof., Stellvertreter des Vorsitzenden – Höpfner, Fotograf, Archivar – Kuhnt, Maurermeister, Kassierer – Lohausen, Stadtbaurat – Müller, Kunstschlosser – Saran, Oberprediger, Kunstschlosser – Schober, Steinmetzmeister – Schönbrodt, Tischlermeister – Zander, Dekorationsmaler. – Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1882, S. 5.
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andererseits spiegelte sich das Credo des Vereins wieder, industrielle Massenproduktion, handwerkliche Qualität und künstlerische Kreativität einander nahezubringen. Seit Beginn seiner Tätigkeit betrachtete der Verein im Sinn der Kunstgewerbebewegung bildende Kunst und Kunstgewerbe als einander verwandte, sich überschneidende Bereiche der Gestaltungarbeit. Der bildenden Kunst kam dabei die Rolle zu, die handwerkliche wie die industrielle Produktion bei der Gestaltung ihrer Produkte in qualitativer und ästhetischer Hinsicht zu verbessern. Schon im Gründungsdokument des Vereins heißt es, dass »Belehrende Vorträge und Diskussionen aus dem Gebiet der Kunst und des Kunstgewerbes« als Mittel der Konsumentenbildung einzusetzen seien.382 Auch Franz Otto, der sowohl im Kunst- als auch im Kunstgewerbeverein in führenden Positionen tätig war, betonte den Zusammenhang zwischen Kunst und Kunstgewerbe, der besonders für Halle von großer Bedeutung sei, hätten sich Künstler hier doch vor allem auf dem Gebiet des Kunstgewerbes hervorgetan: »Es ist dem in jüngster Zeit zunehmenden Sinn und Geschmack des halle’schen Publikums und der wohlhabenden Bevölkerung … zu danken, dass sich trotzdem auf einzelnen Gebieten tüchtige und strebsame Künstler entwickelt haben. So wird auf dem Gebiete der Dekorationsmalerei, der Kunstschlosserei, der Holz- und Stuckbildhauerei Erfreuliches, zum Teil Hervorragendes geleistet, auch Lithographie und Buntdruck (Spielkartenfabrik) ist gut vertreten und die Möbelindustrie im Aufschwung begriffen.«383
Erneut wurde 1907 anlässlich des 25-jährigen Vereinsjubiläums der Austausch zwischen »erfindenden und ausführenden Künstlern« der Stadt sowie zwischen Handwerk, Kunst und Industrie als Grundgedanke hervorgehoben.384 Nur zwei Jahre später betonte der Volkswirt und Statistiker Hellmuth Wolff385 auf dem in Halle stattfindenden Delegiertentag der Kunstgewerbevereine stärker die Grenzen zwischen »Phantasiekunst« und »Gebrauchskunst«. Wolff leitete seit 1908 das Statistische Amt der Stadt Halle und widmete sich als Mitglied des Werkbundes vor allem Fragen der gesamtgesellschaftlichen Wirksamkeit des Kunstgewerbes. In seinem Vortrag »Volkskunst als wirtschaftsästhetisches Problem«386 machte er deutlich, dass der Gebrauchszweck eines Gegenstandes 382 Vgl. Statuten des Kunstgewerbe-Vereins, Zitat § 19. 383 Vgl. Knoch, Kunstgewerbe-Verein, S. 376. 384 Vgl. Sonne, Zum Geleit, S. 6. 385 Ab 1909 war Wolff als Privatdozent nebenberuflich an der Universität beschäftigt, die ihm schließlich 1914 den Professorentitel verlieh. Vgl. UA Halle, Rep. 11, PA 16380. 386 Den Begriff der »Volkskunst« wollte Wolff verstanden wissen als »Phantasiekunst, die das Volk (im alten, guten Sinne des Wortes) aufgrund seiner primitiven Techniken zur Ausschmückung seiner Gebrauchsgeräte, und auch zur Herstellung eigener Luxusgegenstände, befähigt.« Vgl. Wolff, Volkskunst, S. 17.
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bei dessen Gestaltung oberste Priorität habe und betont, die »freie Kunst … darf, soweit es sich um Gebrauchsgegenstände handelt, nur ganz surrogativ dazu treten. Nötig ist die Phantasiekunst überhaupt nicht, um einen Gebrauchsgegenstand schön zu machen.« Insofern beschränkte sich für ihn der Impuls der bildenden Kunst bei der Gestaltung von Gebrauchsgegenständen auf ihre dekorative Funktion.387 Da sich der Kunstgewerbeverein hauptsächlich jenseits volkswirtschaftlicher Theorien um das Verständnis und den Kontakt zwischen Produzenten und Konsumenten bemühte, wurde von ihm der Unterschied zwischen bildkünstlerischer und angewandt-gestaltender Tätigkeit weniger reflektiert. Das lag wohl nicht zuletzt daran, dass Künstler, die sich vor und in den Jahren um 1900 in Halle niederließen, kaum vom Verkauf zweckbefreiter Kunstwerke leben konnten und sich neben ihrer Tätigkeit als Dekorationskünstler (Malerei und Bildhauerei) auch bildkünstlerischen Projekten widmeten. Der für den Kunstgewerbeverein tätige Otto Sonne stellte 1907 für Halle fest, dass Kunst und Handwerk in enger Fühlung miteinander standen: »Die Nervosität, die sich vielfach in dem kunstgewerblichen Schaffen unserer Zeit bemerkbar macht, der bedenklich wachsende Zwiespalt zwischen Künstlern und Gewerblern hat der stetigen Entfaltung unserer heimischen Bestrebungen nur geringen Einhalt bieten können. Wenn anderswo darüber Klage geführt wird, daß es im Kunstgewerbe an der notwendigen gegenseitigen Verständigung und Würdigung zwischen Kunst und Handwerk fehlt, so dürfen wir wohl sagen, daß Halle von diesem Hemmschuh so ziemlich verschont geblieben ist, daß in ruhiger Selbstverständlichkeit zweiundeinhalb Jahrzehnte hindurch beide Faktoren neben- und miteinander gewirkt und gewirtschaftet haben.«388
Für Halle fiel die Entfaltung der Kunstgewerbebewegung mit der Expansion des Kunstsystems zusammen, in dem sich auch nach der Jahrhundertwende vor allem Künstler mit starker handwerklicher Tradition bewegten und ihre wirtschaftliche Tätigkeit im gewerblichen Bereich ansiedelten. Insofern war die Beobachtung Sonnes eine Folge der vor Ort fehlenden künstlerischen Tradition, die im Vergleich mit anderen Städten für die enge Bindung von Kunst und Handwerk im Kunstgewerbe sorgte. Der Entwicklungsgrad des städtischen Kunstsystems und vor allem das berufliche Profil seiner Künstler boten dem Kunstgewerbe, das in den Jahrzehnten um 1900 zu einem prägenden kulturpolitischen Faktor und einer intellektuellen Strömung aufstieg, besonders günstige Bedingungen. 387 In einem 1910 publizierten Aufsatz äußerte er sich grundlegender über den Zusammenhang zwischen Wirtschaftssystem und Ästhetik. Das kapitalistische System tendiere dabei zwangsläufig dazu, den Gebrauchswert der industriell gefertigten Produkte zu vernachlässigen und erzeuge damit einen »Warenverfall«. Vgl. Wolff, Aesthetik und Wirtschaftslehre, S. 270–274. 388 Sonne, Zum Geleit, S. 6.
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4.3.2 Instrumente der Vereinsarbeit und Angebote für hallesche Künstler Die vom Kunstgewerbeverein propagierte Nähe von bildender Kunst und Kunstgewerbe war im Selbstbild und der Öffentlichkeitsarbeit präsent. So verwundert es kaum, dass der Kunstgewerbeverein zeitweise als überlegener Konkurrent des Kunstvereins auftrat. Mit Vorträgen zur bildenden Kunst389, Zeichenkursen und regelmäßigen geselligen Zusammenkünften war er auch für viele Kunstinteressierte eine Anlaufstelle. Heinrich Kopp, Gründungsmitglied des ersten halleschen Künstlervereins, begrüßte die vom Kunstgewerbeverein gebotenen verschiedenen Veranstaltungsformate. Gegenüber dem Kunstverein, der seine Tätigkeit lange auf die zweijährlich stattfindenden Verkaufsausstellungen beschränkte, lockte der Kunstgewerbeverein durch sein vielfältiges Angebot: »Der Kunstverein suchte seine Aufgabe hauptsächlich in der Veranstaltung von Ausstellungen, die damals in der Aula der Volksschule an der alten Promenade sattfanden und recht gut besucht waren. Gesellige Zusammenkünfte und sonstige Anregungen waren im Programm des Vereins nicht vorgesehen. Der Kunstgewerbeverein war schon vielseitiger. Er ließ Vorträge über zeitgemäße Fragen künstlerischer Art halten, veranstaltete Wettbewerbe, hielt eine kunstgewerbliche Bibliothek und hatte auch eine kleine ständige Ausstellung kunstgewerblicher Arbeiten.«390
In der Erinnerung desselben Künstlers war es der Kunstgewerbeverein, der seit Mitte der neunziger Jahre Kurse im Aktzeichnen organisierte. Auf Initiative des Vereins kam auch ein über drei Monate laufender Bildhauerlehrgang zustande, der von einem Leipziger Bildhauer geleitet und von insgesamt zwölf jüngeren und älteren Teilnehmern besucht wurde.391 Im Gegensatz zum Kunstverein, dessen Aktivitäten sich in erster Linie an das Kunstpublikum wandten, bot der Kunstgewerbeverein künstlerische Weiterbildung in praktischer Hinsicht. Nachdem die Dekorationsmalereiklasse Adolf Maennchens geschlossen hatte und auf längere Sicht keine Bildhauereiklasse an der Handwerkerschule eingerichtet wurde, bot sich dem potentiellen städtischen Künstlernachwuchs hier eine seltene Gelegenheit. Aus den regelmäßig stattfindenden Zeichenkursen, in denen künstlerische Talente zusammenfanden, ging schließlich der erste 389 Theodor Volbehr, seit 1908 Vorsitzender des Magdeburger Kunstgewerbevereins und Gründungsdirektor des dortigen Kunst- und Kunstgewerbemuseums (1906), informierte in zwei Vorträgen (1907: »Kunst und Natur vor 100, vor 50 und vor 25 Jahren«; 1920: »Gedanken über die Zukunft der deutschen Kunst«) über die Entwicklung der Kunst. Vgl. Volbehr, Kunst und Natur, S. 14–21; SZ vom 18.11.1919, Nr. 542 (Abend-Ausgabe). 390 Kopp, Künstlerverein, S. 71 f. 391 Die Honorarkosten für den aus Leipzig angereisten Bildhauer Adolf Lehnert, der an der Königlichen Kunstakademie Leipzig studierte und später lehrte, trugen die Kursteilnehmer selbst. Der Unterricht umfasste vier Wochenstunden. Vgl. Adolf Lehnert, in: ALbK, Band 22 (1928), S. 585; Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1895, S. 5.
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informelle Künstlerbund Skizzenklause Jugend hervor.392 Zwar ließen die gemeinsamen Aktivitäten der Klausenbrüder in den Jahren nach 1900 bald nach. Dennoch bildete dieser kleine Kreis die Keimzelle des 1905 gegründeten Künstlervereins auf dem Pflug, der die Künstlertreffen und Veranstaltungen bis in die dreißiger Jahre fortschrieb. Bis sich der Kunstverein im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts unter der Ideenzufuhr Goldschmidts reformierte und mit der Orientierung an der Klassischen Moderne ein neues Profil gab, war der Kunstgewerbeverein für praktisch Kunstinteressierte eine attraktive Alternative. Der langjährige Vorsitzende Baumeister Gustav Wolff (im Adressbuch ab 1904 bis in die erste Hälfte der zwanziger Jahre verzeichnet) bilanzierte in seinem Rückblick anlässlich des 25-jährigen Vereinsjubiläums, dass der Kunstverein aufgrund seiner unzeitgemäß erscheinenden und ausschließlichen Praxis der Ausstellungsveranstaltungen an Anziehungskraft verlor. Angesichts der drängenden sozialen Fragen der Gegenwart und des Siegeszugs der Nippesindustrie stellte Wolff die Tätigkeit der Kunstvereine insgesamt in Frage: »Sogenannte Kunstvereine, deren fast ausschließliche Tätigkeit darin bestand, periodische Ausstellungen von Ölgemälden zu veranstalten, existierten längst fast in allen größeren Städten und so auch hier in Halle, aber man sah ein, daß sie nicht imstande waren, eine höhere künstlerische Kultur zu schaffen. Man empfand vielmehr das Bedürfnis nach einer Kunst, die wieder wie in früheren Zeiten unsere ganze Umgebung erfüllt, die ihre Strahlen nicht nur in die Wohnungen der Reichen, sondern auch der weniger Bemittelten sendet, die jeden Gebrauchsgegenstand adelt und vor allem die Kluft zu überbrücken sucht, die allmählich sich zwischen den Werken der Industrie und den Forderungen der Ästhetik gebildet hatte.«393
Anstelle der vom Kunstverein kultivierten Exklusivität und Distanz gegenüber seinem Publikum, so nahm es Wolff retrospektiv wahr, setzte der 1882 neu gegründete Verein darauf, das Kunstgewerbe als Teil der Alltagswelt zu etablieren und jedes seiner Mitglieder über pädagogische Angebote und vergesellschaftende Aktivitäten zu integrieren. Schließlich sollte der Vereinszweck der »Vervollkommnung der kunstgewerblichen Leistungen bei den Producenten, wie … die Förderung des Geschmacks in den Kreisen der Consumenten«394 über den direkten Austausch der Vereinsmitglieder untereinander im Rahmen »periodische[r] Versammlungen … zu wechselseitiger Anregung und Belehrung« erreicht werden. An den besonders im Winterhalbjahr stattfindenden öffentlichen Vorträgen (mindestens einmal monatlich) nahmen zahlreiche Hörer teil. 392 Vgl. ebd. Der Geschäftsbericht des Vereinsjahres 1902/03 vermerkt, dass zur Unterstützung ihres Aktkurses 60 Mk. an die Skizzenklause »Jugend« geflossen sind. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, C 48 If, Nr.15, Bl. 22. 393 Wolff, Kunstgewerbe-Verein, S. 7–13, S. 8. 394 Statuten des Kunstgewerbe-Vereins, § 1.
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1885 besuchten durchschnittlich 100, im darauffolgenden Jahr 70 Mitglieder die angebotenen Vorträge. Als Referenten zu praktisch-kunstgewerblichen Fragestellungen oder Experten zu kunstgeschichtlich-archäologischen Themen traten sowohl Vereinsmitglieder als auch, seltener, externe Gäste auf. Die Bandbreite der Vorträge reichte von Referaten über einzelne historische oder zeitgenössische Kunstwerke bzw. kunstgewerbliche Gegenstände, Einführungen in konkrete künstlerische oder kunsthandwerkliche Techniken und Branchen bis hin zu Überblicksdarstellungen zur »kunstgewerblichen Entwicklung in der Gegenwart« und »Gedanken über die Zukunft der deutschen Kunst«.395 Den Zuhörern bot sich eine große Vielfalt an Vortragsthemen. Je nach Interesse konnten die Hörer sich auf kunstgeschichtlichem Gebiet bilden, sich über die aktuelle Kunstlandschaft und -politik informieren oder sich über künstlerische Techniken fortbilden. Als weiteres wichtiges Element der Vereinsarbeit etablierte sich die kunstgewerbliche Ausstellung. Innerhalb der Gründungsgeschichte des Vereins spielte das Format »kunstgewerbliche Ausstellung« eine bedeutsame Rolle. Auf die »Ausstellung kunstgewerblicher Alterthümer«, die aus Anlass der 1881 eröffneten »Gewerbe- und Industrieausstellung« in Halle zur Gründung des Kunstgewerbevereins führte, folgten viele weitere temporäre und schließlich dauerhaft präsentierte Ausstellungen kunstgewerblicher Erzeugnisse.396 Andererseits wurde längerfristig die Einrichtung eines Museums für Kunst und Kunstgewerbe angestrebt. Eine vom Verein angelegte Sammlung kunstgewerblicher Musterstücke sollte den Grundstock des in der Zukunft zu errichtenden Kunstgewerbemuseums bilden – so ist es schon in der Satzung festgeschrieben.397 Wie der Jahresbericht dokumentierte, war vorgesehen, das Vorhaben unter tätiger Mithilfe der Mitglieder umzusetzen. Der Ausbau der Sammlung sollte besonders durch private Leihgaben und Schenkungen erfolgen und dem Zweck der ästhetischen Bildung der Bevölkerung dienen.398 395 Die thematische Bandbreite reichte dabei von Prof. Heydemanns Beitrag »Ueber den Parthenon-Fries« bis zum Vortrag des Leipziger Hof-Buchbinders Fritsche über »Die Herstellung geschnitzter und gepunzter Lederarbeiten. Eine wiederaufblühende Hausindustrie« (1885) und von der »Bedeutung der darstellenden Geometrie für die Gewerbetreibenden« aus Perspektive eines Ingenieurs zur »Entwicklung der Plastik und Malerei in Japan« (1886). Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1885, S. 5–7; Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1886–1900; SZ vom 25.11.1919, Nr. 552 (Abend-Ausgabe). 396 Zum Beispiel eine 1884 veranstaltete kunstgewerbliche Weihnachtsausstellung oder während der achtziger Jahre in den Museumsräumen zur Ausstellung gebrachte kleinere Präsentationen. Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1884, S. 11. 397 Vgl. Statuten des Kunstgewerbe-Vereins, § 2. 398 Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1893. – In gleicher Intention hatte schon Mitte der vierziger Jahre Alexander Freiherr von Minutoli in Liegnitz eine solche Vorbildersammlung eingerichtet und lokale Erzeugnisse sowie Muster der Industrie präsentiert. Das Modell der musealen, staatlich unterstützten Musterausstellung mit daran angeschlossenen
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Dass sich der hallesche Verein dieses Unterschiedes bewusst war, zeigte der 1890 in der Generalversammlung gefasste Beschluss, dass als Vorbildersammlung »etwa 2000 Blatt aus der Bibliothek des Vereins aufgezogen und in 30 Mappen geordnet werden« sollen, so »dass jeder Gewerbetreibende Vorbilder für den Gegenstand, den er gerade anzufertigen wünscht, leicht finden kann.«399 Die Einrichtung eines kunstgewerblichen Museums und das Anliegen einer vereinsintern zugänglichen Vorlagensammlung, die sich als Blattsammlung mit Ansichten kunstgewerblicher Gegenstände und Muster mit relativ geringem Aufwand bewerkstelligen ließ, waren also zwei verschiedene Vereinsprojekte.400 Mit der Bestellung eines Archivars bzw. ab 1892 Bibliothekars, der die Musterstücke und Vereinsliteratur, darunter zahlreiche Periodika, verwaltete, und der Einrichtung eines Lesesaals (in wechselnden Räumlichkeiten) mit stundenweisen Öffnungszeiten generierte der Verein eine dauerhafte physische Präsenz in der halleschen Öffentlichkeit.401 Großes Echo in Presse und Bevölkerung haben drei temporäre Ausstellungen mit je eigenem inhaltlichen Schwerpunkt hervorgerufen, die jeweils im Abstand von etwa 10 Jahren stattfanden. Einen ersten Schwerpunkt in der Vereinsarbeit bildete eine »Concurrenz-Ausschreibung« (in den Vereinsstatuten generell als Mittel der Bildungsarbeit aufgeführt), die 1883 in der »Ausstellung billiger Zimmereinrichtungen« mündete. Die erstplatzierten Einreichungen (Platz 1–3) der Ausschreibung bildeten zugleich den Grundstock der 1884 eingerichteten dauerhaften Museumsausstellung.402 Die explizit »für den kleinen Geldbeutel«403 entworfenen Wohnraumausstattungen waren Ausdruck des sozialen Impetus, mit dem der Kunstgewerbeverein seine Arbeit aufnahm: Die von Kunsthandwerkern aus Chemnitz, Frankfurt am Main, Magdeburg und Halle angefertigten Modelle waren für die Einrichtung verschiedener Zimmertypen (Wohnzimmer, Schlafzimmer, Empfangszimmer u. a.) bestimmt. Ausführlich besprochen wurde die Zeichenschulen für Handwerker wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielerorts umgesetzt. Vgl. Holtz, Kultusministerium, S. 477/478; Waetzoldt, Entwicklung, Teil 2, S. 377/378. 399 Pallas, 10. Jg. (1890), Heft März, S. 1. 400 Die für die Eintragung ins Vereinsregister überarbeitete Satzung nennt beides als Vereinsziele: »Seinen Zweck sucht der Verein insbesondere zu erreichen … 2. Durch eine Bibliothek und Vorbildersammlung, 3. Durch eine Sammlung kunstgewerblicher Musterstücke …«. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, C 48 If, Nr.15, Satzung vom 24.02.1900. 401 Anfangs fand die Bibliothek mit städtischer Unterstützung Räumlichkeiten im Rathaus. Nach der Jahrhundertwende waren Bibliothek und Sammlung für einige Jahre in der Gr. Märkerstr. 22 und später in der Handwerkerkerschule untergebracht. Schließlich kam die Bibliothek in der Moritzburg. Vgl. Adressbuch Halle 1902–04 und 1906–1915; Neues Adreßbuch 1905. 402 Vgl. ebd., S. 12/13; Wolff, Kunstgewerbe-Verein, S. 10/11. 403 Konkret richteten sich die Entwürfe an den »kleinen bürgerlichen Haushalt«. Vgl. Knoch, Kunstgewerbe-Verein, S. 375–378, S. 377.
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Ausstellung in der Zeitschrift des Magdeburger Kunstgewerbevereins. Der Autor hob hervor, dass endlich auch Schichten jenseits des gehobenen Bürgertums durch die Kunstgewerbebewegung Beachtung fänden. Die 14 ausgestellten Modelle beurteilte er dabei durchaus zwiespältig anhand ihrer industriellen Ausführbarkeit (eine bestimmte Stückanzahl sei notwendig, um den angegeben Preis zu gewährleisten) sowie ihrer Wirkung, Farbe und Zusammenstellung, Qualität der Ausführung und ihrer Praktikabilität (Gemütlichkeit, Polsterung, Größe). Allen Zimmereinrichtungen gestand er zwar zu, »daß jeder Unbefangene sich sagen mußte, in diesem oder jenem Zimmer möchte ich selbst wohl hausen.« Als Fachmann zeigte sich der Verfasser von der Qualität und Haltbarkeit einzelner Möbelstücke weniger überzeugt und kritisierte den teilweise angebrachten historisierenden Zierrat. Trotz seiner Kritik im Detail zeigte er sich von der originären Ausschreibungsidee des Kunstgewerbevereins beeindruckt: »Das Resumé meiner Auseinandersetzungen aber gipfelt darin, daß die ganze Ausstellung einen unberechenbaren Fortschritt repräsentirte, daß auch die, meiner unmaßgeblichen Ansicht nach, wenigst befriedenden Ausstattungen sich weit über das seither Bekannte und Gebräuchliche erheben und daß dem halleschen Kunstgewerbe-Verein aufrichtiger Dank für diese seine erste öffentliche Thätigkeitsäußerung gebührt!«404
Ganz anders beurteilte ein weiterer Artikel der gleichen Zeitschrift die Ausstellung, die »den kunstgewerblichen Bestrebungen der Jetztzeit im Allgemeinen wenig Vortheil gebracht hat und … wie manche andere bald in die übliche Vergessenheit geraten muß.« Dabei kritisierte der Autor – anders als der Beitrag zuvor – die Begrenzung des Kostenaufwands mit 350 Mark je Zimmereinrichtung. Der geringe Preis, der laut Clericus auch Geringverdienern die Teilhabe ermögliche, sei irreführend, weil eine Ausführung der Ausschreibung zu diesem Preis bei angemessener Qualität nicht durchführbar sei.405 Der Verfasser weist auf die Arbeitsbedingungen der Kunsthandwerker und die Stellung des Kunsthandwerks insgesamt hin, die unter solchen Niedrigpreisen leiden würden. Der hier aufscheinende Widerspruch zwischen Kunstgewerbe und Massenproduktion blieb ein virulentes Problem der Kunst- und Kunstgewerbediskussion in den nächsten Jahrzehnten. Der Verein formulierte mit der Ausschreibung und anschließenden Ausstellung eine zentrale Frage der Kunstgewerbebewegung. Vor dem Hintergrund des steigenden Arbeiteranteils an der halleschen Stadtbevölkerung erhielt diese Frage besonderes Gewicht. Zwar wurde auch in den folgenden Jahren der Vereinsarbeit und Ausstellungstätigkeit das Bedürfnis der 404 Clericus, Ausstellung billiger Zimmereinrichtungen, S. 22. 405 Wie zuvor schon Clericus bemängelt auch der Autor dieses Artikels, dass die Qualität der einzelnen Möbelstücke mangelhaft sei, zum Beispiel weiches Kiefernholz für Stühle verwendet würde. Vgl. H., Ausstellung billiger Zimmereinrichtungen, S. 36–37.
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Bevölkerung nach kunstgewerblicher Qualität weiter verfolgt, so direkt wie hier aber nicht mehr thematisiert. Auf diesem Diskussionsfeld übernahmen andere Akteure die Führerschaft. Damit verabschiedete sich der Kunstgewerbeverein aus einer zunehmend bedeutender werdenden Debatte, die er gerade für die Stadt Halle mit angestoßen hatte und die im beginnenden 20. Jahrhundert zu einem machtvollen Diskurs wurde. Hellmuth Wolff bilanzierte in einem Rückblick aus dem Jahr 1932, dass der Werkbund einerseits und die Kunstgewerbevereine andererseits jeweils eigene Zielstellungen verfolgten. Während der Werkbund stärker »die Erfüllung einer sozialen Idee der Gebrauchs-Qualität in der normierten Ware« verfolgte, widmeten sich die Kunstgewerbevereine »dem einzelnen Benutzer [Hervorhebungen im Original, I. S.-W.]«, dem sie »Augenfreude, Ablenkung, Konzentration und Anregung durch die Erzeugnisse der Handwerkskunst geben wollten.« Wolff konstatierte, dass dem Werkbund damit die größere Aufmerksamkeit und Wirksamkeit beschieden war.406 Er trat dafür ein, dass die Kunstgewerbevereine im Unterschied dazu weiterhin ihr Ziel verfolgen sollten, zwischen den kunstgewerblichen Produzenten und Konsumenten vermittelnd aufzutreten. Er prognostizierte, dass in Zukunft erneut der Bereich der »individuellen Gebrauchskunst« erstarken und die Arbeit der Kunstgewerbevereine damit wieder an Bedeutung gewinnen würde.407 Eben diese Frage nach dem Verhältnis von kunsthandwerklicher und massentauglicher Warenproduktion und die Rolle der Kunstgewerbevereine wurde auf dem 1909 vom halleschen Kunstgewerbeverein ausgerichteten Verbandstag diskutiert, auf dem auch Protagonisten des Werkbundes, darunter Hermann Muthesius, Richard Riemerschmid, Peter Behrens, Theodor Fischer, Ferdinand Schmidt, Wolf Dohrn, Henry van de Velde, Karl Groß und Albin Müller anwesend waren. Der berichterstattende Robert Breuer fragte in seinem in der Deutschen Kunst und Dekoration erschienen Artikel nach der Berechtigung der Kunstgewerbevereine. Dabei erklärte er die Vereine geselligen Typs für obsolet angesichts der volkswirtschaftlichen Tragweite kunstgewerblicher Fragestellungen. Die lokalen Kunstgewerbevereine seien dennoch für die zukünftige Entwicklung von wichtiger Bedeutung, wenn sie sich überregionalen wirtschaftlichen, rechtlichen und pädagogischen Aufgaben widmeten. Auf dem 1909 stattfindenden Delegiertentag wurden dann auch vorrangig überregional relevante Aspekte der Kunstgewerbeentwicklung besprochen. So wurde die sogenannte Eisenacher Ordnung angenommen, die die 406 Wolff, Aufgaben der Kunstgewerbevereine, S. 160. 407 Vgl. ebd., S. 160 f. –Zwar stand in der Philosophie der halleschen Kunstgewerbeschule auch das kunsthandwerkliche Einzelstück im Vordergrund. Es ist aber nicht bekannt, dass der Kunstgewerbeverein eine besondere Zusammenarbeit mit der Schule gepflegt hätte. Mit der Anstellung eines kaufmännischen Verwalters und der Eröffnung von Verkaufsstellen am halleschen Markt und dem Vertrieb ihrer Waren in andere Städte und Länder kümmerten sich die Schule bzw. die »Werkstätten der Stadt Halle« ohnehin selbst um ihr Marketing.
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Entlohnung des entwerfenden Künstlers für kunstgewerbliche Produkte in drei Kategorien festschrieb.408 Zudem wurde über Fragen des Urheberrechtes diskutiert und die Konsumentenbildung zur weiterhin zentralen Aufgabe erklärt.409 Die folgende größere Ausstellung 1892 ließ sich nicht auf soziale Frage- und Problemstellungen ein. Sie versammelte vorrangig zeitgenössische Gebrauchsgegenstände aus hallescher Produktion. Als Aussteller der 1892 im »alten Bürgerschul-Gebäude« an der Poststraße sind diverse hallesche Kunsthandwerker bzw. kunstgewerbliche Ateliers aufgeführt, deren Werke zum Teil im ausstellungsbegleitenden Katalog abgebildet wurden. Die Bandbreite der Exponate reichte von optischen Instrumenten und elektrotechnischen Erzeugnissen über Kunstblumen-Arrangements und Porzellanmalereien bis hin zu Schmuck und Kunstschnitzereien.410 Dem Ausstellungsausschuss selbst gehörten vor allem Vertreter handwerklicher und kunstgewerblicher Berufe an. Neben Dekorateuren, Handwerksmeistern, Fotografen und Lithografen waren unter den Ausstellungsorganisatoren einige Künstler vertreten. Zwar arbeiteten sie ihrer Tätigkeit nach auch im gewerblichen Bereich, waren ihrer Ausbildung und ihrem Selbstverständnis nach jedoch dem Künstlerstand zuzurechnen. Unter ihnen befanden sich der Kunstmaler und Illustrator Franz Gehrts sowie die Malerin und später erfolgreiche Textilgestalterin Margarethe von Brauchitsch. Dem Ausschuss gehörten darüber hinaus zahlreiche Maler und Bildhauer an, die sich im Bereich des Kunstgewerbes bewegten.411 Die von insgesamt 13.000412 Personen innerhalb von sechs Wochen besuchte Präsentation trug den Charakter einer Werbeausstellung, die dem zeitgenössischen halleschen Kunstgewerbe eine öffentlichkeitswirksame Plattform bot – damit erfüllte der Verein sein Ziel, zwischen Produzenten und Konsumenten zu vermitteln und das heimische Kunstgewerbe zu fördern. Die hier präsentierten Ausstellungsstücke sollten »das deutsche Heim, dem sie weitaus in größter Zahl zur Ausstattung und zum Schmuck zu dienen bestimmt sind, immer wohnlicher … gestalten«413. Der dem Katalog angefügte umfangreiche Anzeigenteil mit Annoncen der Aussteller diente darüber hinaus der zukünftigen Auftragsvermittlung. 408 In drei Produktklassen, die anhand der Wertigkeit von Material und künstlerischer Leistung bestimmt wurden, wurde festgelegt, wie viel Prozent des Verkaufspreises eines Produktes an den entwerfenden Künstler zu zahlen war. Vgl. Gebührenordnung für das Kunstgewerbe, S. 312. 409 Vgl. Breuer, Arbeit der Kunstgewerbe-Vereine. 410 Vgl. Kunstgewerbeausstellung 1892. Der Katalog umfasst 44 Seiten mit Illustrationen. 411 Vgl. ebd., Ausschuss-Mitglieder, o. S. 412 Darunter 2.000 nicht-zahlende Besucher und 11.000 Besucher, die zum Preis von 30 Pf. ein Eintrittsbillett erwarben. Vgl. ebd. – Informationen zur Besucherzahl wurden einem Zeitungsartikel entnommen, der dem Exemplar der Universitätsbibliothek Halle beigelegt war (wahrscheinlich hallesche Tageszeitung, ohne bibliografische Angaben). 413 HZ vom 01.09.1892, Nr. 204 (Zweite Ausgabe).
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Fazit Der Kunstgewerbeverein war ganz direkt als Agent lokaler Gewerbe tätig. Innerhalb der breiten Palette der Produkte und Anbieter waren auch Akteure vertreten, die sich ihrer Tätigkeit und ihrem Selbstverständnis nach zwischen den Bereichen Kunst und Kunstgewerbe verorteten. Die vermittelnde Tätigkeit des Vereins beschränkte sich dabei nicht auf die temporär stattfindenden Ausstellungen, sondern entfaltete sich ebenso informell über das gesellige Vereinsleben. Während der Mitgliederversammlungen, anlässlich der Vorträge oder sonstiger Zusammenkünfte bestand häufig Gelegenheit für die Kontaktaufnahme. Der Kunstmaler und Werbegrafiker Heinrich Kopp, der spätestens ab 1904 bis nach Ende des Ersten Weltkrieges im Vereinsvorstand tätig war, unterhielt zum Beispiel vielfache geschäftliche Verbindungen zu diversen Fabriken und anderen Auftraggebern. Der Kunstgewerbeverein war ein Treffpunkt für Interessierte aus diversen wirtschaftlichen Tätigkeitsbereichen und erleichterte so den Kontakt zwischen potentiellen Geschäftspartnern. Der Verein entfaltete darüber hinaus auch bei der Einrichtung des Städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe, bei der Reform des städtischen Zeichenunterrichts und mit der Einrichtung einer Bibliothek und Vorlagensammlung erhebliche Wirkung auf die Entwicklung des lokalen Kunstsystems. Auch die Gründung des Ausschusses zur Beratung in künstlerischen Fragen, »dessen Aufgabe es sein sollte, zu künstlerischen Fragen von öffentlichem Interesse in aufklärendem und bewertenden Sinne Stellung zu nehmen«414, war einer Initiative der Vereinsmitglieder zu verdanken. Insgesamt erscheinen die ersten drei Jahrzehnte seit seiner Gründung als intensivste Phase seiner Wirksamkeit. Der Kunstgewerbeverein hatte sich in der Phase des Take-off des halleschen Kunstsystems etabliert.415 Er bot eine ideale Plattform für vielfältige Interessen. Im Kontext der von der wirtschaftlichen Expansion angetriebenen Großstadtwerdung funktionierte der Kunstgewerbeverein als Katalysator, der das Bedürfnis nach kultureller Entwicklung institutionell bündelte.416 Sein Erfolg ging einher mit dem Grad der städtischen Entwicklung, indem er eine klaffende Lücke füllte. Mit der Ausdifferenzierung des Kunstsystems wurde der Verein zunehmend obsolet, weil nun andere, spezifischer tätige Institutionen ins öffentliche Leben traten, die für einzelne Interessen in Anspruch genommen wurden. Es gelang dem Kunstgewerbeverein nicht, wie 414 StH, A 6.3.1. KUNG Nr. 179. 415 Diese Einschätzung teilte auch Georg Roediger in seiner rückblickenden Einschätzung des Kunstgewerbevereins. Vgl. Roediger, Geschichte des Kunstgewerbevereins, S. 155. 416 Im halleschen Adressbuch, das seit 1905 eine Systematisierung der Vereine vornahm, war er den »Kunst- und Künstlervereinen« und nicht den Vereinen für »Handel, Gewerbe und Industrie« zugeordnet.
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Das hallesche Kunstsystem
dem Kunstverein zum Beispiel durch die Bindung der städtischen Handwerkerschaft, ein neues Profil zu entwickeln und über die Jahrhundertwende hinaus eine relevante Position im Kunstsystem zu behaupten. Vor allem neben dem städtischen Museum und der Kunstgewerbeschule, deren leitende Positionen von innovativen und energisch auftretenden Persönlichkeiten besetzt wurden, die zentrale Felder der kunstgewerblichen Theorie und Praxis besetzten, verlor der Verein an Bedeutung. Das galt insbesondere für die Gruppe der Künstler, für die der Kunstgewerbeverein am Ende des 19. Jahrhunderts noch ein nahezu alternativloser Partner war, die sich nach der Jahrhundertwende jedoch in eigenen Zusammenschlüssen organisierten. Im Künstlerverein auf dem Pflug, dem Hallischen Ausstellerbund, dem Bund Deutscher Architekten und später dem Wirtschaftsverband bildender Künstler schufen sie sich Organisationen, die ihren spezifischen beruflichen Interessen entsprachen.
IV. Künstlersein in Halle – Entwurf und Etablierung des Künstlerberufs um 1900
1. Künstlersein als Berufswunsch – die Akten der Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung 1.1 Porträtmaler, Plakatmaler, Kunstgewerblerin – die Bewerber zwischen bildender und angewandter Kunst Die Akten der Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung eröffnen einen vielschichtigen und doch spezifischen Blick auf die Formation der halleschen Künstlerschaft. Während die Stiftung im ersten Hauptteil der Untersuchung als ein wichtiges Beispiel für die Verbindung bürgerlichen Mäzenatentums und öffentlicher Kunstförderung hinsichtlich ihrer institutionellen Entwicklungsgeschichte und des hier ausgeprägten Kunst- und Künstlerbegriffs betrachtet wurde (siehe Kap. III, 2.3.2), stehen im Folgenden die Bewerber um die Stipendien im Fokus der Analyse. Zwischen der ersten Ausschreibung für die Vergabe des Stipendiums im Januar 1908 und der letzten Vergabe im Februar 1923 erreichten den Stiftungsvorstand 142 Bewerbungen. Alle Bewerber um eins der Stipendien, die mit maximal 400 Mark dotiert waren, mussten für die zweimal jährlich stattfindende Verteilung einen Fragebogen ausfüllen, der dem Vorstand »eine einheitliche Prüfung der eingehenden Gesuche«1 ermöglichen sollte. Bis auf wenige Lücken sind im Bestand der Stiftungsakten alle Bewerbungsbögen überliefert und können zur Auswertung herangezogen werden.2 Der maßgeblich von den Interessen des Stifters geprägte Zuschnitt des Stipendiums führte zu einer spezifischen Zusammensetzung der Bewerbergruppe und ist nicht mit der Analysegruppe der halleschen Künstlerschaft aus der vorliegenden Untersuchung identisch, wenn es auch zahlreiche Überschneidungen gibt. Bevor die Fragebögen als serielle Quelle bzw. die Einzelaussagen ausgewertet werden können, ist zu klären, auf welche Forschungsfragen dieses spezielle Quellenkonvolut Antworten liefern 1 So der Wortlaut des Entwurfs zu den Zeitungsinseraten, die jeweils anlässlich der aktuellen Vergaberunde in den lokalen Tageszeitungen aufgegeben wurden. StH, A 2.3 Nr. 130, Bl. 144–145. 2 Insbesondere für die Vergaberunden 1916 fehlen die Bewerbungsunterlagen nahezu vollständig. Deren Inhalt wurde jedoch teilweise in Überblickstabellen erfasst.
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kann und in welchem Verhältnis die daraus gewonnenen Erkenntnisse zur übergeordneten Fragestellung stehen. Die 1906 ausgearbeitete Satzung der Stiftung sah vor, dass sich Bewerber entweder in einer der vier Künstlerklassen als »tüchtige Opern – Oratorien – und Konzertsänger und – Sängerinnen« (Klasse I)«, »auf dem Gebiet der Instrumentalmusik befähigte junge Leute« (Klasse II) sowie »begabte Maler und Malerinnen auf dem Gebiete der Ölmalkunst, der Landschafts-, Genre- und Porträtmalerei etc.« (Klasse III) und »talentvolle Bildhauer« (Klasse IV) oder als »Kunsthandwerker« (Klasse V) auf ein Stipendium bewerben sollten. Dabei galt für die Klassen I–IV, dass die »Betreffenden … die Künstlerlaufbahn zu ihrem Lebensberufe erwählt und ihre wirkliche Befähigung für diese dargetan haben« mussten. Für die Kunsthandwerker wiederum wurde festgelegt, dass sie sich »auf dem Gebiete des Kunsthandwerks durch hervorragende künstlerische Leistungen in ihrem Fache besonders hervorgetan haben.«3 Jenseits dieser jeweils interpretationsbedürftigen und kunstbezogenen Qualitätskriterien legte die Satzung eine Zahl an Auswahlkriterien fest, die die Bewerbergruppe anhand sozialer Kriterien definierte. So wurden nur Personen akzeptiert, die das 18. Lebensjahr vollendet hatten4 und deren Eltern zugleich Bürger der Stadt Halle waren. Zusätzlich sollten sie bereits eine künstlerische Ausbildung begonnen und dies »durch mindestens ein- oder zweijährigen Besuch von Konservatorien, Hochschulen oder Akademien oder ähnlichen Ausbildungsinstituten oder auch durch Unterricht bei Privatlehrern oder Privatlehrerinnen ihren Studien mit Erfolg obgelegen haben.«5 Schließlich wurde bestimmt, dass Unterstützung nur gewährt wurde, wenn die Antragsteller »in
3 StH, A 2.3 Nr. 130, Bl. 22–26. Beim Verfassen der Satzung im Februar / März 1906 wurden als potentielle Stipendiaten nur in der Rubrik der »Maler- und Malerinnen« weibliche Bewerber explizit benannt. In den Kategorien der Bildhauer und Kunsthandwerker erscheint dagegen ausschließlich die männliche Form auszubildender Künstler. Mehr noch wird in der Gruppe der Kunsthandwerker der Kreis der Bewerber auf »junge Männer« eingegrenzt und erst später durch die Intervention Thierschs auch für Kunsthandwerkerinnen geöffnet. Die Diskrepanz zwischen der im Statut festgeschriebenen Vorstellung vom Künstler als primär männlichem Identitätskonstrukt und der Realität, die diese Vorstellung insbesondere auf dem Gebiet des Kunstgewerbes zunehmend aufbricht, zeigt die Dynamik, mit der sich Künstleridentität in der Klassischen Moderne verändert. Für die bessere Lesbarkeit der Studie wird jeweils die maskuline Bezeichnung verwendet, meint aber generell Bewerber beiden Geschlechts. Vor allem gegen Ende des Bestehens der Stiftung zu Beginn der zwanziger Jahre gab es in allen Stipendienklassen auch weibliche Bewerber. 4 Die Altersgrenze wurde auf Initiative Thierschs um ein Jahr auf 17 herabgesetzt. Er hatte in einem Grundsatzschreiben von 1920 darauf hingewiesen, dass aufgrund der langen Ausbildungszeiten für Kunstgewerbler (4–5 Jahre) gerade jüngere Berufsanwärter einer Unterstützung bedürften. Eine Obergrenze für das Alter der Bewerber gab es nicht. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 131, Bl. 17–21. 5 StH, A 2.3 Nr. 130, Bl. 22–26.
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bedürftigen Verhältnissen lebend wirklich der Beihülfe benötigen, um ihr Talent nicht durch äußere Not verkümmern zu lassen.«6 Die aufgeführten Kriterien waren durch Inserate in halleschen Tageszeitungen publik geworden und trugen zur Formation der Bewerbergruppe bei.7 Vor allem in den ersten Jahrgängen schieden einige der Bewerber durch ihr zu geringes Alter, fehlende künstlerische Ausbildung oder die Ortsansässigkeit ihrer Eltern außerhalb Halles aus (neun dokumentierte Fälle). Nur ein Bewerber wurde als »nicht bedürftig« eingestuft: der Maler Ewald Manz, dessen Vater durch seine Tätigkeit als Administrator der Buchhandlung des Waisenhauses und Inspektor der Cansteinschen Bibelanstalt 1908 über ein Jahreseinkommen von knapp 10.000 Mark verfügte und damit um ein Vielfaches über dem Jahresverdienst der Handwerker-Eltern der anderen Bewerber lag, die durchschnittlich 1.500 Mark jährlich verdienten.8 Höhere Einkommen – der Rechnungsrat und Vater des Bildhauers Georg Rinck erzielte ein Einkommen von etwa 5.000 Mark – wurden nicht beanstandet. Obwohl auch Bewerber berücksichtigt wurden, deren Eltern ein verhältnismäßig hohes Einkommen erwirtschafteten, richtete sich die Ausschreibung der Stiftung gezielt an Nachwuchskünstler und Kunstgewerbler, die aus weniger wohlhabenden Verhältnissen stammten. Die Zusammensetzung der Bewerber erlaubt deshalb vor allem den Blick auf Angehörige des Handwerkerstandes, die einen künstlerischen oder kunstgewerblichen Beruf ausübten oder anstrebten. Insofern ist dieser Quellenbestand für die vorliegende Forschungsarbeit, die das Spannungsfeld von bildender Kunst, Kunstgewerbe und Handwerk fokussiert, von besonderem Wert. Vor allem die von den Bewerbern formulierten Vorstellungen von ihrer zukünftigen Künstlerlaufbahn und ihre unterschiedliche soziale Herkunft ermöglichen es, nach schichtspezifischen Vorstellungen vom Künstlersein und vom Kunstbegriff zu fragen. Des Weiteren ergibt sich eine markante Definition der Bewerbergruppe bei der Betrachtung des Stadiums ihrer Ausbildung; nur eine Minderheit der Bewerber bezeichnete sich als reife Künstler. Obwohl die Satzung nicht explizit verlangt, dass sich die Bewerber noch in Ausbildung befinden, wird der Eindruck vermittelt, dass das 6 Ebd. 7 Implizite Kriterien für die Vergabe der Stipendien werden bei der Bewertung der Bewerbungen durch den Stiftungsvorstand deutlich. In wenigen Fällen wirkten sich das überdurchschnittlich hohe Alter negativ bzw. durch den Krieg erlittene physische oder psychische Schäden sowie die Empfehlung durch den Stifter positiv auf die Entscheidungsfindung aus. 8 Durchschnittsverdienste wurden berechnet aus den verfügbaren Angaben zum Jahreseinkommen der Eltern von Bewerbern, die einen Handwerksberuf ausübten. Die Angaben zum Jahreseinkommen bewegten sich dabei zwischen 900 und 2.815 Mark. Da die bis zum Kriegsende schleichende Inflation 1920 exponentiell in die Höhe schnellte, werden absolute Verdienstangaben nur bis einschließlich 1919 in die Auswertung einbezogen. Dass im Durchschnitt erst nach 1919 auch die Löhne der Preisinflation folgten, zeigt Perschmann in seinem Vergleich der Lebenshaltungskosten und Lohnentwicklung zwischen 1913 und 1920. Vgl. Perschmann, Kosten der Lebenshaltung.
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Stipendium vorrangig für Auszubildende im künstlerischen oder kunstgewerblichen Bereich angelegt wurde.9 Andererseits regelt das Statut, dass potentielle Stipendiaten bereits ihre künstlerische »Befähigung« dargelegt und eine künstlerische Ausbildung mindestens begonnen haben mussten. Für die Auswertung und die Kongruenz mit der Analysegruppe der halleschen Künstlerschaft ist deshalb zu beachten, dass sich die meisten der Bewerber am Anfang ihrer Laufbahn als bildende Künstler befinden und kaum in allen Fällen dieses Ziel auch erreichen würden. Während der 15 Jahre, in denen die Stiftung Stipendien ausschrieb, bewarben sich insgesamt 87 Interessenten, von denen sich 32 mehrfach um den Erhalt einer Unterstützung bemühten. Die Anzahl der Bewerbungen je Ausschreibung differierte dabei stark. Nach der großen Nachfrage im ersten Jahr der Stipendienausschreibung (1908) sank die Zahl der Bewerbungen ab 1909 kontinuierlich auf einige wenige bis zum Kriegsende. Auf die erneut starken Bewerberrunden 1919, in denen Direktor Thiersch um Aufmerksamkeit für die Stiftung unter seinen Schülern an der Kunstgewerbeschule geworben hatte, folgten der völlige Bedeutungsverlust der Stiftung und schließlich das Ende des Künstlerstipendiums 1923. Unter den Bedingungen der Inflation war der auszahlbare Höchstbetrag von 500 Mark kein ausreichender Anreiz für eine Bewerbung.10 Den größten Zuspruch erhielt die Kategorie der Kunsthandwerker, der 73 Bewerber zugeordnet wurden. Im diachronen Vergleich der Kategorien gewann die Klasse der Kunsthandwerker zunehmend an Bedeutung. In den ersten beiden Jahren war noch die Klasse der Maler am stärksten frequentiert und überwogen die Anfragen im kunsthandwerklichen Bereich (insgesamt wurden hier 45 Bewerbungen zugeordnet). Die Klasse der Bildhauer fand am wenigsten Beachtung. Nur über 14 Anträge wurden in dieser Kategorie entschieden, wobei sechs davon innerhalb des ersten Jahres eingingen. Die kategorialen Zuschreibungen veränderten sich dabei im Lauf der Jahre und verdienen unter Berücksichtigung der Berufsgruppe, der sich die Bewerber zuordneten, eine tiefergehende Betrachtung. Nachdem im Fragebogen die Personenstammdaten abgefragt wurden, sollten sich die Bewerber einer Berufsgruppe zuordnen, wobei eine Erläuterung beispielhaft Hinweise auf mögliche Antworten zur Verfügung stellte. Je nach Künstlerklasse waren das »z. B. Opern-, Oratorien-, Konzertsänger, Instrumentalmusiker mit genauer Bezeichnung des Hauptinstruments, Landschafts-, Genre-, Porträtmaler usw., Bildhauer mit genauer Bezeichnung des Faches, Kunsthandwerker mit genauer Bezeichnung 9 In diese Richtung deutet die Ablehnung eines Bewerbers mit dem Hinweis auf sein Alter (31 zum Zeitpunkt der Bewerbung). Zudem wurden im Statut die potentiellen Stipendiaten als »talentvoll«, »begabt« und im Fall der Kunsthandwerker explizit als »jung« gekennzeichnet. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 130, Bl. 22–26. 10 Siehe Kap. IV, 3.2.
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des Faches.«11 Während die Bezeichnung der Maler anhand ihres primären Bildgegenstandes als Porträt-, Genre- oder Landschaftsmaler im Gewerbe verzeichnis des halleschen Adressbuchs seit der Ausgabe von 1905 durch die Bezeichnung des »Kunstmalers« abgelöst wurde, behielt die Stiftung diese Formulierung im Fragebogen bis zur letzten Vergaberunde im Januar 1923 bei. Die Bewerber lösten sich nur selten von dieser Vorgabe und ordneten sich einer oder mehreren der Subspezifikationen zu.12 Nur einer der Bewerber bezeichnete sich selbst als »Kunst- und Dekorationsmaler«13 und bediente sich damit der Berufsbezeichnung, die sich zeitgenössisch durchzusetzen begann. Eine wesentliche Schärfung erfuhr die vom Vorstand eingerichtete Künstlerklasse der »Maler und Malerinnen« während der Vorstandssitzung im Oktober 1909. Auf Wunsch des Stifters Ernst Haaßengier wurden von nun an die Dekorationsmaler den Kunsthandwerkern zugeordnet und damit eine Beschränkung der Künstlerklasse III auf bildende Künstler vorgenommen.14 Auch für Bildhauer stand eine Reihe an spezifizierenden Merkmalen zur Verfügung und Bewerber kennzeichneten sich nach der Art ihrer Werkmaterialien als Stein-, Holz- oder Gipsbildhauer bzw. wiesen sich als Modelleure aus. Mehrfach verzichteten die Antragsteller jedoch auf eine nähere Erläuterung. In einigen Fällen ist es wahrscheinlich, dass mit der einfachen Bezeichnung als »Bildhauer« der schöpferische bzw. bildkünstlerische Aspekt der Tätigkeit betont wird und sich die Bewerber vom handwerklichen Berufsspektrum abgrenzten, wie es auch mit der Neuordnung des Gewerbeverzeichnisses im städtischen Adressbuch 1905 erfolgte, in der Bildhauer und Bildhauerwerkstätten unterschieden wurden.15 Zugleich verschwammen in der Bewerberklasse der Bildhauer 11 Das Fragebogenmuster siehe StH, A 2.3 Nr. 130, Bl. 113–115. 12 Neu ist die Bezeichnung der »figürlichen Malerei« (Margarete Grössler im August 1908), »figürliche Composition« (Werner Lude im August 1912) bzw. die Berufsgruppe des »Figurenmalers« (Max Henze Ende 1915), die mehrere der Bewerber zur Selbstbeschreibung verwandten. Trotz der meistens mehrfachen Zuordnung zu einzelnen Malereifächern wird deutlich, dass die Ausbildung der angehenden Maler weiterhin nach Bildgegenständen erfolgte. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 133, Bl. 50–51; A 2.3 Nr. 134, Bl. 6–9; Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 197–198. 13 So beschrieb Karl Schmidt seine Berufszugehörigkeit in seinem Bewerbungsbogen vom August 1908. Ein halbes Jahr zuvor hatte er auf die gleiche Frage noch mit »Landschaftsund Dekorationsmaler« geantwortet. Vgl. StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 81–82; Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 186–188. 14 Zuvor waren sowohl Dekorationsmaler als auch Zeichner, Glasmaler und Lithografen den Malern zugeschlagen worden. Nur wer sich in der Folge als Landschafts-, Porträt-, Akt- oder anders spezialisierter Maler zu erkennen gab, konnte sich in der Klasse III um ein Stipendium bemühen. Maler, Dekorationsmaler, Zeichner und Lithografen zählten fortan zur Gruppe der Kunsthandwerker und überholten damit zahlenmäßig die Stipendienklasse der »Maler und Malerinnen«. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 130, Bl. 126. 15 Als einziger bezeichnete sich Reinhold Walter als akademischen Bildhauer und machte deutlich auf seine künstlerische Berufsauffassung aufmerksam.
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bildende und angewandte Kunst. So weist einer der Antragsteller darauf hin, dass er als »Bildhauer zu den Kunsthandwerkern gehöre.«16 Wiederum erklärt ein anderer Bewerber seine berufliche Zuordnung: »Ich … habe 4 Jahre Holzbildhauerei gelernt … Habe mich jetzt dem künstlerischen Beruf zugewendet, jetzt bin ich Modelleur.«17 Auch in späteren Jahrgängen blieben die Grenzen zwischen Bildhauerei und Kunsthandwerk verschwommen und die Zuordnung zu dieser oder jener Klasse undurchsichtig.18 Der aus der Analyse des Gewerbeverzeichnisses gewonnene Eindruck, dass sich innerhalb der Bildhauerei der Übergang zwischen Handwerk, Kunstgewerbe und bildender Kunst fließend gestaltete, bestätigt sich angesichts der Bewerbungsakten der Haaßengier-Stiftung. Die Bandbreite der Berufsgruppen fällt in der Klasse der Kunsthandwerker besonders weit aus. Neben den Dekorationsmalern bewarben sich in dieser Kategorie vor allem Lithografen und Zeichner (9) sowie Tischler bzw. Möbelzeichner (9), die ihr berufliches Profil um künstlerische Aspekte erweitern wollten. Wenige Antragsteller hatten eine Ausbildung als Glasmaler (2) oder im Buchgewerbe (2) absolviert. Sie strebten danach, sich entweder in ihrem erlernten Beruf in künstlerischer Hinsicht zu vervollkommnen und wie im Fall Kurt Völkers »auf dem Gebiet der Malerei mehr [zu] erreichen als der gewöhnliche Dekorationsmaler«19 oder wie Max Henze aus Enttäuschung seinen Ausbildungsberuf zugunsten der Künstlerlaufbahn aufzugeben: »Habe 4 Jahre lang die Lithographie erlernt, will aber, da mir diese mechanische Arbeit nicht gefällt, durch rastloses lernen und schaffen ein tüchtiger Figurenmaler werden.«20 Ebenso zur Kategorie der Kunsthandwerker zählten (angehende) Architekten, von diesen gingen 7 Bewerbungen ein. Nicht berücksichtigt wurde das Gesuch des Bautechnikers Alfred Kramer, »weil er nicht Architekt, sondern Tiefbautechniker ist, somit nicht zu den Kunsthandwerkern gezählt werden kann.«21 – im Gegensatz zu anderen Baugewerkschülern, obwohl ihr Berufsverständnis kaum künstlerisch anmutende Züge trägt. Einer der sich als Architekt bezeichnenden Bewerber beschrieb seine beruflichen Aussichten sehr konkret als zukünftiger Eisenbahn-Betriebsingenieur.22 Die künstlerisch-schöpferische Seite des Architektenberufs betonte hingegen Adolf Friedrich Pabst in seiner 16 So Georg Rinck im August 1908. Die Gutachter ordneten ihn dennoch den Bildhauern zu. Vgl. StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 312–314. 17 Hans Miehlich im Dezember 1908. StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 202–204. 18 Fritz Steinhoff, der sich als »Bildhauer, Modelleur für kunstgewerbliche Gegenstände« bezeichnete, wurde im Herbst 1910 den Bildhauern zugeordnet. Anders Magdalena Olszewski, die sich im Dezember 1920 bewarb und als »Bildhauerin für Keramik, insbesondere für Terrakotten und Kunstgewerblerin« den Kunsthandwerkern zufiel. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 132, Bl. 77–78 und A 2.3 Nr. 135, Bl. 232–233. 19 StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 193–194. 20 StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 189–190. 21 StH, A 2.3 Nr. 132, Bl. 124–127 (Januar 1911). 22 Alfred Kramer im August 1910. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 132, Bl. 79–80.
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Bewerbung vom Januar 1908, in der er als »künstlerisch arbeitender Architekt … in inniger Gemeinschaft mit den Schwesterkünsten, der Bildnerei wie der Malerei« arbeiten wolle.23 Insofern spiegelt die in den Bewerbungsbögen aufscheinende Bandbreite des Architektenberufs, der zwischen technischem und künstlerischem Profil schwankt, die zeitgenössische Realität wider, in der sich eine Gruppe der Architekten als Künstler definierte und sich von ihren Berufsgenossen abzusetzen versuchte. Zuletzt verdienen neue Berufe im kunstgewerblichen Bereich sowie die Berufsgruppe der sich allgemein als Kunstgewerbler bezeichnenden Bewerber Aufmerksamkeit. Unter dem Einfluss der stark im Umbau zu einer modernen Kunstgewerbeschule befindlichen Handwerkerschule und der dort angesiedelten kunstgewerblichen Klassen erweiterte sich ab 1918 das berufliche Spektrum der Bewerber, unter denen auch der weibliche Anteil wuchs.24 Zum einen tauchte nun mehrfach die Werbebranche als Ziel grafischer Anstrengungen auf, die namentlich fünf der Bewerber und Bewerberinnen als ihre berufliche Zukunft bezeichneten. Dabei wurde die Plakatmalerei durchaus mit künstlerischen Ansprüchen verbunden. Es waren nicht mehr ausschließlich die klassischen Fächer der Landschafts- und Porträtmalerei, die mit dem Beruf des Künstlers assoziiert wurden. Auch das zeitgenössisch junge Fach der Plakatmalerei wurde – aufgewertet durch eine akademische Ausbildung – von den Bewerbern als künstlerische Tätigkeit bewertet.25 Auf der anderen Seite wurden mehrfach das Kunstgewerbe im Allgemeinen und kunstgewerbliche Fächer als Berufsperspektive bezeichnet, die vor 1918 nicht zum Spektrum der Berufsgruppen zählten. Vor allem Bewerberinnen bezeichneten sich selbst als Kunstgewerblerin und beschrieben ihren Tätigkeitsbereich anhand der spezifischen Materialien, mit denen sie arbeiteten (Textil, Keramik, Tapeten). Mittlerweile war das »Kunstgewerbe« zu einem gängigen Begriff und Tätigkeitsprofil gereift, das jenseits einer genauen Berufsbezeichnung einen spezifischen, künstlerisch-schöpferischen Materialumgang beschrieb, für den Bewerber in den Jahrgängen zuvor noch umständliche Beschreibungen lieferten, um ihrem künstlerischen Anspruch jenseits der bildenden Kunst Geltung zu verschaffen.26 23 StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 108–111. 24 Während der Anteil der weiblichen Antragsteller bis inklusive 1917 bei 8,4 % lag (95 Bewerbungen von Männern gegenüber 8 Bewerbungen von Frauen), erhöhte sich der Anteil ab 1918 auf 25 % (28 zu 7). 25 Dieser Aspekt wird vor allem deutlich in den Bewerbungsunterlagen der Plakatmalerin Irma Thieme, der Wilhelm Waetzoldt bescheinigte, »als Plakatkünstlerin Wertvolles« leisten zu können. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 134, Bl. 285–286. 26 So Max Thalmann, der anstrebte, »sich in allen Zweigen der Kunstbuchbinderei sowie auch im Zeichnen auszubilden. Selbstständiges Entwerfen u. Anfertigen von künstlerischen Adressen, Bucheinbänden etc.« oder Kurt Völker, der »auf dem Gebiet der Malerei mehr erreichen [wolle] als der gewöhnliche Dekorationsmaler.« Vgl. StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 223–224 und Bl. 193–194.
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1.2 Freier Künstler oder Angestellter – Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft, Ausbildungsweg und Berufsbild Im Folgenden wird der Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft der Bewerber und ihren Berufsvorstellungen bzw. ihrem Bild vom Künstler untersucht. Dazu wird der jeweilige Beruf des Vaters, sein Einkommen sowie die Schulbildung der Antragsteller einerseits und ihrer qualitativen Aussagen zur beruflichen Perspektive andererseits in Beziehung zueinander gesetzt. Dieses Vorgehen stützt sich auf die Annahme, dass das soziale Umfeld der Bewerber ihre Perspektive auf den Künstlerberuf in starkem Maß prägte und vor allem auch die Stationen ihrer Ausbildung beeinflusste. Die Aufmerksamkeit bei der Untersuchung der Gesamtheit der Bewerber liegt dabei auf dem Unterschied zwischen einem handwerklichen und einem nicht-handwerklichen Berufs milieu, dem die Bewerber angehörten bzw. in dem sie aufwuchsen. Insbesondere im Fall der selbstständigen Handwerksmeister, deren Söhne zu einem sehr hohen Anteil den gleichen Berufsweg, wenigstens aber ebenfalls eine handwerkliche Berufslaufbahn einschlugen, prägte das Umfeld der Werkstatt wesentlich ihre beruflichen Ambitionen. Die Väter der insgesamt 78 Antragsteller sind verschiedenen Berufskategorien zuzurechnen. Von immerhin 20 Bewerbern waren die Väter zum Zeitpunkt der Antragstellung verstorben, einige davon während des bis 1918 andauernden Krieges. Unter ihnen waren gleichermaßen sowohl Handwerker, Angestellte im öffentlichen Dienst wie Kaufmänner.27 Über die Hälfte der damit Verbliebenen sind dem Handwerkerstand zuzurechnen (33). Von 13 Bewerbervätern in dieser Kategorie ist bekannt, dass sie sich in ihrem Handwerk mit dem Meistertitel qualifizierten. Wenige von ihnen betrieben bekanntermaßen ein eigenes Geschäft. Am zweithäufigsten bewarben sich jene, deren Väter ihren Beruf als Angestellte im öffentlichen Dienst oder in einem privatwirtschaftlichen Unternehmen bzw. in zwei Fällen im Dienst der Kirche ausübten (12). Diese heterogene Gruppe der Angestellten umfasst einen Straßenbahnchauffeur, einen Oberpostsekretär genauso wie einen Pastor und einen Gymnasialprofessor. Als weitere Gruppe lassen sich insgesamt 10 selbstständige Unternehmer, darunter Kaufmänner, Händler und freiberuflich Tätige zusammenfassen.28 Schließlich wurden 3 der Väter in den Bewerbungsbögen als Arbeiter bezeichnet.
27 Im Anschluss an die Analyse der verschiedenen Berufszugehörigkeiten der zum Zeitpunkt der Antragstellung lebenden Väter werden die Einkommensverhältnisse der Hinterbliebenen beschrieben, machen sie doch etwa ein Viertel der Bewerber aus. 28 Darunter zählen ein Ingenieur, ein Arzt und ein Kalkulator.
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Um darüber hinaus den sozialen Stand der Familien der Bewerber genauer zu beschreiben, werden die jeweiligen Jahresverdienste der Eltern und ihr Vermögensstand29 – beides wurde im Bewerbungsbogen abgefragt und in den meisten Fällen durch die Behörden verifiziert – herangezogen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die absoluten Verdienstzahlen aufgrund des 1914 begonnen Krieges und der spätestens ab 1920 rasant steigenden Inflation nur bedingt miteinander vergleichbar sind.30 Ihre Aussagekraft liegt daher vor allem im relativen Vergleich der Berufsgruppen untereinander. Innerhalb der Handwerkerschaft lag das jährliche Einkommen der Eltern zwischen 1908 und 1919 mehrheitlich zwischen 1.000 und 2.000 Mark: von 39 ermittelbaren jährlichen Handwerkereinkommen lagen 32 innerhalb dieser Spanne, ein Zimmermann verdiente unter 1.000 Mark im Bewerbungsjahr und 6 darüber (zwischen 2.200 und 3.010 Mark jährlich). Das höchste zu versteuernde Einkommen unter den Handwerkern erzielten die Eltern des angehenden Kunsttischlers Arno Fritzsche, das bei 3.100 Mark lag und sich aus verschiedenen Quellen speiste.31 In der höheren Verdienstkategorie über 2.000 Mark bewegten sich zudem ein Malermeister (2.200 Mark, Fragebogen vom August 1912), ein Zimmermann (2.815 Mark, Fragebogen vom September 1919), ein Former (2.377 Mark, im September 1919) sowie ein Gärtner (2.400 Mark, Fragebogen vom Dezember 1919). Der Durschnitt des jährlichen Handwerkereinkommens lag mit etwa 1.500 Mark deutlich über dem durchschnittlichen Jahresverdienst eines ungelernten Arbeiters, der 1907 bei wenig mehr als 1.000 Mark lag32. Die unteren Einkommen der Handwerker näherten sich dennoch diesem Durchschnittswert des Arbeitereinkommens. Nur zwei der Handwerker vermochten von ihren Erträgen ein kleineres Vermögen anzusparen (4.600 und 5.500 Mark). Wiederum deutlich über dem Durchschnitt der Handwerkereinkünfte lagen die Jahresverdienste der Angestellten im Rang des Oberpost- und Postsekretärs, des Oberbahnassistenten (zwischen 3.000 und 4.000 Mark), des Rechnungsrates (um 1908 etwa 5.300 Mark) sowie eines Angestellten der Buchhandlung des Waisenhauses (Buchhandelsgehilfe: 4.792 Mark für 1909). Dem Handwerkerdurchschnittsverdienst näherten sich hingegen das Jahresgehalt eines angestellten Bürogehilfen (um 1910 etwa 1.200 Mark) sowie die Jahresverdienste eines Beamten und eines Hausdieners (beide 1.800 Mark, aus dem Fragebogen vom Dezember 1919). Weiterhin lagen über dem Durchschnittsverdienst der Handwerker auch die 29 In die Analyse wurden die Jahresverdienste sämtlicher Bewerberrunden, sofern ermittelbar, einbezogen. Das heißt, auch bei Mehrfachbewerbungen wurde das Jahreseinkommen des Vaters bzw. der Mutter berücksichtigt. 30 Vgl. Perschmann, Kosten der Lebenshaltung. 31 Davon wurden 1.853 Mark als Verdienst erwirtschaftet. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 133, Bl. 307–308. 32 Das Statistische Amt der Stadt Halle ermittelte durch Befragung hallescher Arbeitgeber diesen Wert im Jahr 1907. Vgl. Hesse, Einkommensverhältnisse, S. 27.
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jährlichen Verdienste der Unternehmer und freiberuflich Tätigen (durchschnittlich 1.990 Mark Jahresverdienst, bereinigt um den hervorstechenden Verdienst des Verlegers Carl Manz, Inhaber der Buchhandlung des Waisenhauses33) sowie die der Angehörigen der freien Berufe, von denen den beiden Geistlichen etwa 2.300 Mark zur Verfügung standen. Größere Vermögen ersparten sich sowohl der Rechnungsrat, zwei der Kaufmänner, ein Gastwirt, ein zum Zeitpunkt der Antragstellung verstorbener Steinbruchbesitzer, ein Arzt und ein Ingenieur. Der Vergleich der Jahreseinkommen der unterschiedlichen Berufsgruppen (Grafik 1) ergibt, dass den als Handwerker tätigen Eltern bis auf wenigen Besserverdienenden verhältnismäßig geringe Mittel zur Verfügung standen und mitunter den Verdienst eines ungelernten Arbeiters kaum übertrafen. Nicht selten verdienten Angestellte in einer mittleren Position doppelt so viel. Vor allem wenn es um die Finanzierung der künstlerischen Ausbildung ihres Nachwuchses ging, konnten diese Verdienstunterschiede über den weiteren Berufsweg entscheiden. In einer besonders prekären Lage befanden sich die Witwen, die nicht über ein eigenes Einkommen, Vermögen oder Hausbesitz verfügten und ihre Kinder bei der Finanzierung einer Ausbildung nicht unterstützen konnten bzw. selbst auf den Erwerb ihrer Kinder angewiesen waren. Von den Witwen verfügten acht über ein größeres eigenes Vermögen, das sich aus der Witwenrente, Vermietungseinkünften oder Zinseinkünften sowie in wenigen Fällen aus einem eigenen Verdienst speiste. Die übrigen elf erhielten eine Witwenrente von wenigen hundert Mark oder Angaben zum geringen Einkommen fehlen aufgrund der Geringfügigkeit. Viele der Antworten auf die abschließende Frage des Fragebogens nach »Besondere[n] Gründe[n], aus denen das Stipendium erbeten wird«, wurden von den Bewerbern dahingehend beantwortet: Das Stipendium sollte einerseits überhaupt die Fortsetzung der Studien bzw. der künstlerischen Ausbildung ermöglichen und andererseits dazu dienen, die Eltern von der finanziellen Last der Ausbildungskosten zu befreien. In 24 Bewerbungen beteuern die Antragsteller, dass ihnen eine weitere künstlerische Ausbildung ohne die Gewährung eines Stipendiums nicht möglich sei. Kurt Richter, Sohn eines verstorbenen Straßenbahnchauffeurs, dessen Mutter eine geringe Rente von 255 Mark erhielt, sagt deutlich: »Es wäre mir aus eigenen Mitteln nicht möglich, eine Kunstschule besuchen zu können.«34 Als jährliche Kosten für seine bisherige Ausbildung gibt er 150–200 Mark für Schulgeld und benötigte Utensilien an. 2.000 Mark hätte seine vierjährige Ausbildung zum Lithografen und der parallele Besuch der halleschen Handwerkerschule bisher insgesamt die Eltern gekostet.35 Zwar 33 Nach Auskunft des städtischen Finanzamtes betrug sein Einkommen 1907 9.665 Mark. Vgl. StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Blatt 89 verso. 34 StH, A 2.3 Nr. 134, Bl. 248–249. 35 Beides wurde im Fragebogen erhoben: »10 f. Wie viel kostet die Ausbildung des Bewerbers den Eltern jährlich? Wieviel hat die Ausbildung den Eltern bis jetzt überhaupt gekostet?«.
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Künstlersein als Berufswunsch Jahreseinkommen der Väter bzw. Witwen der Bewerber und Berwerberinnen um ein Stipendium der Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung 3500
Einkommen des Vaters (Median*)
Jahreseinkommen in Mark
3000
Einkommen des Vaters (Mittelwert**)
2500
Einkommen des Vaters (bereinigter Mittelwert***)
2000 1500
* Der Median als Zentralwert teilt die ermittelten Einkommen in zwei Hälften, d. h. er ist weniger anfällig ggü. Ausreißern als …
1000 500
** … der Mittelwert, der den Durchschnitt der Jahreseinkommen angibt.
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An ge ste ne llt hm e er /F re ib er ufl er
*** Der bereinigte Mittelwert gibt den durchschnittlichen Verdienst unter Ausschluss des höchsten und niedrigsten Einkommen an.
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H an dw er ke r
0
Grafik 1: Die in der Grafik zusammengefassten Werte der Jahreseinkommen als Mittelwert bzw. Median weisen darauf hin, dass die Jahreseinkommen innerhalb der verschiedenen Berufsgruppen unterschiedlich verteilt waren. Während innerhalb der Gruppe der Handwerker die einzelnen Jahreseinkommen relativ nah beieinanderliegen, fallen sie in den anderen weniger homogen aus. Vor allem unter den Angestellten und Unternehmern liegen die niedrigen und hohen Verdienste vergleichsweise weit auseinander. Auch bei den Witwen sind die verfügbaren Jahreseinkommen sehr unterschiedlich.
war er zum Zeitpunkt der Antragstellung im August 1918 bereits selbst berufstätig und gab seinen Verdienst mit 29 Mark wöchentlich an. Für eine ganztägige Ausbildung an einer Akademie oder Kunstgewerbeschule reichten seine Mittel jedoch nicht aus, da er nicht auf eigene Rücklagen zurückgreifen oder von seinen Eltern weiterhin unterstützt werden konnte. Dieses Dilemma, dass die Zeit zu einer weiteren Ausbildung fehlte, weil die Bewerber bereits selbst ihren Lebensunterhalt verdienen mussten, beschrieben einige der Antragsteller. Es traf vor allem die Kinder aus Handwerkerhaushalten, die bereits eine handwerkliche
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Lehre absolviert hatten und nun nach einem künstlerischen Beruf strebten, der der weitern Ausbildung bedurfte. Je nach gewähltem Ausbildungsweg und formuliertem -ziel variierten die jährlichen Kosten der Ausbildung beträchtlich. Während es denjenigen, die bereits eine Berufsausbildung abgeschlossen hatten und sich ausschließlich in den Abendkursen der halleschen Handwerkerschule weiterbilden wollten, möglich war, die Kosten des Schulbesuchs (5–9 Mark im halben Jahr, je nach Stundenzahl) selbst zu tragen und ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, wünschten die meisten Bewerber eine vollumfängliche Ausbildung, die den Großteil ihrer Arbeitskraft in Anspruch nehmen würde. 1918 kostete der Besuch der allgemeinen Abteilung der kunstgewerblichen Abteilung der Handwerkerschule, die absolvieren musste, wer in eine der Fachklassen eintreten wollte, 70 Mark im Jahr.36 Die anschließende Ausbildung in den Fachklassen (80 Mark jährlich) wurde um Unterricht in den Werkstätten ergänzt (10 Mark jährlich) und war ebenfalls auf den ganztägigen Besuch ausgerichtet. Hinzu kamen Materialkosten, die die Schüler aufzubringen hatten, sodass für den Schulbesuch etwa 100–150 Mark anfielen.37 Ausgehend davon, dass die Schüler selbst nichts für ihre Ausbildungskosten beitragen konnten, erscheint allein schon dieser Betrag angesichts des durchschnittlichen Jahreseinkommens eines Packers (1.620–1.760 Mark, Angabe im Fragebogen vom August 1918) oder eines Silberarbeiters (1.869 Mark, Angabe im Fragebogen August 1918) hoch. Aufgrund der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Lage während des Krieges und der ersten Nachkriegsjahre, in denen sich »insbesondere Kunstgewerbeschülern die Möglichkeit für einen Nebenverdienst sehr vermindert« bot, war Thiersch sehr daran gelegen, bedürftige Schüler von der Last des Schulgeldes zu befreien. Nicht nur über die Haaßengier-Stiftung, sondern auch in seiner Funktion als Schuldirektor umwarb er verschiedene andere Geldgeber (Hallesche Bauinnung und Innungsausschuss) mit dem Ziel, möglichst vielen Schülern das Schulgeld teilweise oder ganz erlassen zu können.38 Insgesamt machten das Schulgeld und etwaige Materialkosten jedoch nur den kleineren Teil der aufzubringenden Kosten eines ein- oder mehrjährigen Schulbesuchs aus. Die Kosten für den jährlichen Unterhalt beliefen sich nach den Angaben der Schüler der Handwerker- und späteren Handwerker- und Kunstgewerbeschule auf mehrere Hundert 36 In diesem Modell war der Schüler berechtigt, an wenigstens 30 Unterrichtsstunden in der Woche teilzunehmen. In einer reduzierten Variante konnten Schüler für 40 Mark im Jahr bis zu 20 Stunden Unterricht wöchentlich absolvieren. Vgl. Adressbuch Halle 1918, Teil IV, S. 35. – Gegenüber 1901 war das Schulgeld um 140 % gestiegen. Damals zahlte ein Schüler der Tagesvollklassen 50 Mark im Jahr für 36 Wochenstunden. Vgl. Brumme, Handwerkerschule, S. 6. 37 Diese Rechnung wird bestätigt durch die Angaben von Schülern der Handwerkerschule, die diese im Fragebogen machten. 38 1922 beantragte er die Erhöhung des Stipendienfonds an der Handwerker- und Kunstgewerbeschule auf 2.000 Mark. Vgl. ABgG, Rep. 1, 1921–1933, Hülle 12.
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Mark. Zusätzlich zum Schulgeld (100–150 jährlich) bezifferte der Bewerber Paul Pfund die Unterhaltskosten im Jahr auf 380 Mark.39 Wesentlich höher fielen die Ausbildungskosten inklusive Schulgeld, Unterhalt und Kosten für Material aus, setzten die Bewerber ihre Studien an einer Kunstgewerbeschule oder Akademie in einer anderen Stadt fort. Für den Besuch der Leipziger Akademie für Graphische Künste und Buchgewerbe stellten verschiedene Bewerber zwischen 800 und 1.000 Mark je Jahr in Rechnung. Etwas mehr veranschlagte Traugott Juckoff, Vater des halleschen Bildhauers Paul Juckoff. 1897, etwa 10 Jahre, bevor die Stiftung ihre Fördertätigkeit aufnahm, richtete er ein Gesuch um Unterstützung der künstlerischen Ausbildung seines Sohnes an den Regierungspräsidenten in Merseburg. In seiner präzisen Aufschlüsselung der Kosten von 1.386 Mark, die für einen einjährigen Besuch der Leipziger Akademie anfallen würden, bezog er sowohl Mietkosten (25 Mark monatlich), Essengeld (43,50 Mark monatlich), Wäschegeld (15 Mark monatlich) sowie Modellgelder (10 Mark monatlich) und monatliches Schulgeld in Höhe von 5 Mark ein. Angesichts des väterlichen Einkommens von 1.310 Mark, das er als Zimmerermeister mit einem kleinen Baugeschäft erwirtschaftete, erscheint diese Summe astronomisch. Mit der Begründung, dass der Besuch nichtpreußischer Akademien durch das Ministerium nicht gefördert werden könne, wurde das Gesuch erst abgelehnt, bevor die errechnete Summe im März 1897 dann doch bewilligt wurde.40 Ab Ostern 1896 besuchte Paul Juckoff die Kunstakademie in Leipzig und ließ sich 1902 als freischaffender Bildhauer in Skopau nieder.41 Ähnlich waren die Angaben über die Kosten für den Jahresbesuch adäquater Ausbildungsstätten in Berlin (Kunstgewerbeschule der Königlichen Museen)42, Charlottenburg (Kunstgewerbeschule)43, Dresden (Akademie und Kunstge 39 Andere nannten als jährliche Ausbildungskosten, die während ihrer Ausbildung in Halle entstanden waren, Summen zwischen 300 (Karl Schmidt im Fragebogen von Januar 1908) und 700–900 Mark (Arthur Schubarth im Fragebogen vom August 1912). Vgl. StH, A 2.3 Nr. 133, Bl. 13–18; Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 81–82. 40 Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Zweigstelle Merseburg, Rep. C 48 I f Nr. 121, keine Blattzählung. 41 Vgl. Dressler, Kunstjahrbuch 1906, S. 110/111; Dressler, Kunstjahrbuch 1907, S. 101; Dressler, Kunstjahrbuch 1911/12, Sp. 303/304. Juckoff, der sich später Juckoff-Skopau nannte, erhielt außerdem finanzielle Unterstützung als Stipendiat der Eugen Felix-Stiftung. Schuttwolf, Hallesche Plastik, Anhang 1, S. 83. 42 Johannes Hahne: 900 Mark (Fragebogen vom August 1908); Paul Hartmann: 1.000 Mark (Fragebogen vom Dezember 1911); Ludwig Friedrich Wilhelm Krüger: 1.200 Mark (Fragebogen vom September 1919). Von allen Bewerbern besuchten sechs höhere künstlerische Ausbildungsstätten in Berlin, am häufigsten die Kunstgewerbeschule der Königlichen Museen. Weitere vier wünschten sich ausdrücklich in nächster Zukunft dort ihre Ausbildung an einer Akademie oder »Kunstschule« fortsetzen zu können. 43 Irma Thieme: 1.200 Mark (Fragebogen vom August 1918). Insgesamt absolvierten 3 Bewerber einen Teil ihrer Ausbildung an der Handwerker- und Kunstgewerbeschule Charlottenburg. Ein weiterer wünschte sich, seine Ausbildung dort fortzusetzen.
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werbeschule)44 sowie Weimar45, die neben Leipzig46 von den Bewerbern als Ausbildungsorte gewählt wurden. Vereinzelt besuchten Bewerber auch die Kunstgewerbeschulen in Düsseldorf47 und Kassel48, das Technikum in Bremen und die Baugewerk- bzw. Kunstgewerbeschule in Hildesheim. In den meisten Fällen wählten die Bewerber ihre Studienorte im mitteldeutschen Raum oder Berlin. Nur vereinzelt suchten sie weiter entfernt liegende Städte zur Fortsetzung ihrer Studien auf. Für die meisten Familien bedeutete die künstlerische Ausbildung ihres Nachwuchses an einer Kunstakademie, Kunstgewerbeschule oder anderen höheren Bildungseinrichtung gemessen am Familieneinkommen eine enorme finanzielle Belastung. Da Halle bis zum Umbau der Handwerkerschule unter Thiersch keine höhere künstlerische Ausbildungsstätte beheimatete, blieb der Wunsch nach einer höheren künstlerischen Ausbildung bis wenigstens 1915 untrennbar mit einem Ortswechsel verbunden, der im Vergleich zum durchschnittlichen Verdienst einer Handwerkerfamilie kaum erschwinglich war. Trotzdem fanden angehende Künstler auch aus weniger bemittelten Haushalten Wege, ein Kunststudium aufzunehmen. Eine Möglichkeit bestand darin, durch Stipendien und Schulgelderlasse einen Teil der Studienkosten abzudecken. Konnten oder wollten die Eltern die Ausbildungskosten nicht übernehmen, mussten die Bewerber durch ihren eigenen Verdienst (in den Ferien49 oder nebenher) zur Finanzierung beitragen. Einige der Bewerber gaben auch an, dass sie sich zum Zweck der wei 44 Andreas Rudolf Erich Brenner: 1.260 Mark (Fragebogen vom Dezember 1910); Paul Schmude: 1.200 Mark (Fragebogen vom August 1918).Vier der Bewerber genossen eine künstlerische Ausbildung an der Akademie und Kunstgewerbeschule Dresden bzw. an der Fachschule für Fotografie. Für zwei weitere Bewerber war Dresden der favorisierte Ort ihrer weiteren künstlerischen Ausbildung. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 132, Bl. 163–164; A 2.3 Nr. 134, Bl. 271–272. 45 Ewald Manz: 1.200 Mark (Fragebogen vom Januar 1908). Von den Bewerbern studierten noch Werner Lude, Max Henze (alle Kunstakademie) und Max Weise (Baugewerkschule) in Weimar. 46 Otto Liersch: 800–900 Mark (Fragebogen vom August 1908); Johannes Langenberg: 120 Mark Schulgeld und Zeichenmaterial + 800 Mark Unterhaltskosten (Fragebogen vom August 1911). Mit ihren Angaben zu den jährlichen Studienkosten in Leipzig weit unter den anderen lag Anny Hingst, die diese mit 468 Mark angab. Zur Verbilligung der Kosten sei sie täglich mit der Bahn den Weg zwischen Halle und Leipzig gefahren, habe dadurch jedoch erheblich an Zeit verloren. Zwei weitere Bewerber wollten gern dort ihre Ausbildung fortsetzen. Vgl. StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 223–224; A 2.3 Nr. 132, Bl. 234–235; A 2.3 Nr. 134, Bl. 142–143. 47 Karl Schmidt ohne Angaben zu den Ausbildungskosten. Werner Lude besuchte die Kunstgewerbeschule Düsseldorf für ein Semester (1911). 48 Franz Vetter besuchte ab 1910 bis mindestens 1913 die Kunstgewerbeschule Kassel. Bis zu diesem Zeitpunkt zahlte der Vater die Ausbildung in Höhe von 2.000 Mark. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 133, Bl. 163–164. 49 Werner Lude gab an, dass er in der dreimonatigen Ferienzeit in der Werkstatt seines Vaters für einen Monatslohn von 100 Mark arbeitete und so einen Teil der Kosten seiner Ausbildung an der Kunsthochschule Weimar selbst bestritt. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 133, Bl. 50–51.
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teren Ausbildung an einer Akademie bzw. Kunstgewerbeschule oder auf Reisen bei Gönnern oder Familienangehörigen verschuldet hatten.50 Im Fall von Max Henze übernahm ein nicht näher bezeichneter Mäzen die Kosten des vierjährigen Studiums (1908–1912) des Landschafts- und Figurenmalers.51 Oftmals verkürzten die Studenten die akademische Studienzeit auf wenige Semester, um ihre vorhergehende Ausbildung an einer Handwerker- oder Kunstgewerbeschule zu krönen, sich aber dennoch nicht weiter massiv zu verschulden oder sie sich überhaupt leisten zu können.52 Unter den Bewerbern um das Ernst und Anna Haaßengier-Stipendium strebten nicht alle unmittelbar den Besuch einer Kunstgewerbeschule oder Kunstakademie an, sondern wollten vorerst für ein oder mehr Semester als Vollschüler die hallesche Handwerkerschule besuchen, die lange vor Thierschs Leitung kunstgewerbliche Unterrichtsfächer anbot. Angehörige der unterschiedlichsten Handwerke konnten Kurse im Zeichnen und Modellieren belegen oder die Tagesklasse für angehende Dekorationsmaler besuchen. Der künstlerische Ausbildungsweg der meisten Bewerber, die aus einem Handwerkerhaushalt stammten, führte ohnehin über die hallesche Handwerkerschule, die sie begleitend zu einer handwerklichen Ausbildung für einige Semester, meistens als Schüler der Abendklassen in den Wintermonaten, besuchten. Nur zwei aller Auszubildenden, deren Väter im Handwerk arbeiteten, besuchten diese Ausbildungsstätte nicht.53 Auch unter den übrigen Bewerbern, deren Eltern nicht als Handwerker tätig waren, besuchten einige die Handwerkerschule. Alternativ erhielten sie ihre erste künstlerische Ausbildung durch Privatunterricht bei ausgebildeten Künstlern oder Zeichenunterricht in den Schulen. Betrachtet man den Ausbildungsverlauf in Abhängigkeit von der schulischen Ausbildung der Bewerber54, zeigt 50 Franz Vetter lieh sich 300 Mark für eine Studienreise nach Süditalien, »um die Werke der Malerei der italienischen Renaissance – nach vorangegangenen eingehenden Studien auf kunstgeschichtlichem Gebiete – vor den Originalen zu studieren«. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 133, Bl. 163–164. – Alfred Kramer lieh sich zu Ausbildungszwecken 1.000 Mark. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 132, Bl. 79–80. 51 Vgl. StH, A 2.3 Nr. 134, Bl. 103–104. 52 Klaus von Beyme bemerkt zu seiner Gruppe von Künstlern, die die künstlerische Avantgarde 1900–1950 bildete, dass kurze Ausbildungszeiten und hohe Abbrecherquoten an den Akademien üblich waren. Von den Bewerbern beabsichtigten drei Auszubildende für ein Jahr bzw. 2–3 Semester eine akademische Ausbildung zu durchlaufen. Vgl. Beyme, Zeitalter der Avantgarden. 53 Ein weiterer Auszubildender erhielt Privatunterricht von einem Künstler. 54 Die Kinder von Handwerkereltern besuchten zu gleichen Teilen (jeweils 15) die Volksschule (8 Jahre) und Einrichtungen des mittleren Schulwesens (9 oder 10 Jahre). Zwei der Bewerber aus dem handwerklichen Milieu besuchten eine Anstalt des höheren Schulwesens. Bei den übrigen Berufsklassen (nach dem Beruf des Vaters) war die Verteilung auf die verschiedenen Schularten gestreuter. Die Bewerber aus einem Haushalt, dessen Vorstand den freien Berufen zugeordnet wird, besuchten sowohl die Volksschule (1), eine Anstalt des mittleren Bildungsbereichs (3) sowie eine Einrichtung des höheren Schulwesens (1). Ähnlich
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sich, dass vor allem die soziale Herkunft und in Folge der Besuch einer höheren Schule darüber entschied, ob die weitere Ausbildung vorerst im Rahmen einer handwerklichen Ausbildung oder gleich an einer Akademie erfolgte. Von 15 Bewerbern, die eine höhere schulische Ausbildung genossen55, also über insgesamt 12 Jahre eine Schule (Oberrealschule, Gymnasium, Lyzeum) besuchten, schlossen drei direkt eine akademische Ausbildung an einer Kunstakademie oder Hochschule an. Ein weiterer Abiturient wollte ebenso verfahren. Drei Bewerber begannen nach ihrem höheren Schulabschluss ihre weitere künstlerische Ausbildung ganztätig an der Kunstgewerbeschule in Halle. Ein Großteil der Bewerber mit einem Abschlusszeugnis einer höheren Schule besuchte dennoch die Handwerkerschule in Halle bzw. eine vergleichbare Einrichtung (hier vor allem Baugewerkschulen). In den meisten Fällen waren sie im Unterschied zu den Handwerkernachkommen Vollschüler, d. h. ohne parallel eine Lehrausbildung in einem handwerklichen Betrieb zu absolvieren. Fragt man danach, inwieweit der Weg der künstlerischen Ausbildung von der sozialen Herkunft abhängt, ist festzustellen, dass die Kinder aus Handwerker familien in der Regel nach 8- bis zehnjährigem Besuch der Volksschule oder einer Anstalt des mittleren Bildungsweges eine Lehrausbildung in einem (kunst-) handwerklichen Betrieb und parallel dazu die Handwerkerschule absolvierten. Dieser Ausbildungsweg war jedoch nicht auf Handwerkerkreise beschränkt und es findet sich auch unter den Nachfahren der anderen Berufsgruppen ein solches Muster. Für die Kinder der Kaufmänner und Händler, der leitenden und Angestellten in einem Hilfsberuf differenzierten sich jedoch die Wege der Ausbildung. Sie nahmen tendenziell häufiger privaten Unterricht bei einem Künstler, besuchten die kunstgewerblich orientierten Unterrichtsfächer der halleschen Handwerkerschulen als Vollschüler oder setzten ihre Ausbildung nach der Schule an einer Akademie fort. Bezüglich der von den Bewerbern formulierten Berufswünsche ergeben sich ebenfalls Unterschiede zwischen der Gruppe der Handwerkernachkommen und den Bewerbern, die aus einem nicht-handwerklichen Milieu stammten. Nur in der ersten Bewerbergruppe wollten Auszubildende den Beruf des Dekorationsmalers ergreifen. Es steht zu vermuten, dass die Dekorationsmalerei aufgrund ihrer besonderen Nähe zum Handwerk für die übrigen Bewerbergruppen nicht attraktiv war oder außerhalb ihres Sichtfeldes lag. Stattdessen waren der Beruf des Zeichners und der des Zeichen- oder Gewerbeschullehrers unter den verhielt sich die Streuung der schulischen Ausbildung des Nachwuchses bei den leitenden Angestellten und der Gruppe der Händler / Kaufleute und Gastwirte: Sie absolvierten vor allem Anstalten des mittleren Schulwesens. Die Nachkommen der leitenden Angestellten hingegen absolvierten häufiger Einrichtungen des höheren Schulwesens. 55 Sie stammten vor allem aus Familien, deren Haushaltsvorstand zur Gruppe der leitenden oder Angestellten in einer Hilfstätigkeit, den Kaufmännern und Händlern sowie in wenigen Fällen des Handwerks zu rechnen ist.
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Söhnen und Töchtern der Angestellten, frei Berufstätigen sowie Kaufmännern und Händlern stärker vertreten. Eine Besonderheit stellte der Beruf des Architekten dar, den Bewerber aus Haushalten der freien Berufe (zwei von sechs), von Arbeitern (einer von drei) und Kaufmännern bzw. Händlern (einer von sechs) ergreifen wollten. Unter den Handwerkern bezeichneten sich hingegen nur zwei der Bewerber als Bauschüler und einer als Ingenieur, ohne dass sie als Berufsziel den Architekten nannten. Das Berufsziel des bildenden Künstlers wurde in allen Bewerbergruppen offen formuliert und nicht an bestimmte soziale Verhältnisse gebunden, wenn auch die Künstlerlaufbahn prozentual von weniger Nachwuchs aus Handwerkerfamilien explizit gewählt wurde.56 Die von den Bewerbern im Fragebogen gemachten Angaben zu ihrer beruflichen Zukunft spiegeln die Bandbreite der zeitgenössischen Perspektive auf Kunst wider. Die Berufsbilder bewegten sich zwischen den Polen des Kunstgewerbes als qualitätssteigerndem Moment im Handwerk und der bildenden Kunst, die als Beruf einen spezifischen Lebensstil nach sich zog. Dementsprechend schwanken die Aussagen der Bewerber um ein Stipendium der Stiftung, der ja eine explizit künstlerische bzw. kunsthandwerkliche Ausrichtung zu eigen war, zwischen leidenschaftslosem Hoffen auf eine Anstellung »als bautechnischer Berater bei einer Behörde«57 und dem flammend formulierten Wunsch »Architekt zu werden, der in inniger Gemeinschaft mit den Schwesterkünsten, der Bildnerei wie der Malerei arbeitet«. Dies, so erklärte der Arbeiternachkomme Adolf Friedrich Pabst, sei »von jeher der Gegenstand meiner kühnsten Hoffnungen und Träume«58 gewesen. Die Vorstellungen von der beruflichen Zukunft reichten von der Anstellung im öffentlichen Dienst oder einem kunstgewerblichen Betrieb bis zur beruflichen Selbstständigkeit als bildender Künstler im eigenen Atelier. Die wirtschaftlichen Aussichten in diesem Berufsfeld schätzten die wenigsten als problematisch ein. Der angehende Architekt Pabst versprach sich als »künst 56 Ohne die Bewerber zu berücksichtigen, die sich zum Bildhauer ausbilden wollten (hier besteht Unklarheit darüber, ob sich die Bewerber als Bildhauer zu den Kunsthandwerkern oder bildenden Künstlern rechneten), gab es unter 21 gezählten Handwerkernachfahren 3 Bewerber, die sich explizit zum bildenden Künstler ausbilden wollten. Unter den Kindern der Väter, die einen freien Beruf ausübten, sagten 2 von sechs Gezählten, dass sie Kunstmaler werden wollten, unter den Bewerbern aus Haushalten mit einem leitenden Angestellten als Familienvorstand waren es 3 von sechs. Unter den Kindern der Arbeiter verfolgte explizit einer (von drei) und den Angestellten in einer Hilfsfunktion 2 von neun gezählten Bewerbern das Ziel, Künstler zu werden. Schließlich entschieden sich 2 von sechs Bewerbern aus Kaufmanns- bzw. Händlerfamilien für eine Künstlerlaufbahn. 57 So der Maurergeselle Alfred Beyer, Sohn eines Kalkulators, im Dezember 1912. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 133, Bl. 128–129. 58 Der Sohn eines Arbeiters, Adolf Friedrich Pabst, absolvierte einen Teil seiner Lehrzeit im Salon des Architekten Wilhelm Assmann, der in den Jahren um 1900 eine zentrale Figur des städtischen Kunstsystems war. Er unterhielt außerdem Kontakt zu dem akademischen Bildhauer Karl Schmidt, der ihm zum Besuch der Dresdener Kunstakademie riet. Vgl. StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 108–111.
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lerisch arbeitender Architekt (auch Innen-Dekoration) gute Chancen«59, wobei er Halle als Ort einer zukünftigen beruflichen Existenz ausschloss und traditionelle Kunstzentren wie Dresden, München, Düsseldorf, Berlin und Nürnberg in Betracht zog. Das Beispiel Willy Assmanns, der in vielerlei Hinsicht ein berufliches Vorbild für Pabst darstellte und der nach vielversprechenden Anfängen nach nur wenigen Jahren Halle wieder verließ, war ihm wohl noch in guter Erinnerung. Auch die Aussicht auf eine Lehrtätigkeit im eigenen Atelier oder als angestellter Zeichenlehrer erfüllte einige Bewerber mit Zuversicht. Während Margarethe Grössler die Eröffnung einer eigenen Lehranstalt bzw. den Beruf der Kunstlehrerin als Ziel ihrer Ausbildung anstrebte60, war der Beruf des Zeichenlehrers für Franz Vetter lediglich eine Station auf seinem Weg zum Künstler, die ihn vor wirtschaftlicher Not schützen sollte: »Ich betrachte als Hauptziel meiner Studien mich zum bildenden Künstler (vielleicht Kunstmaler oder Modelleur) auszubilden, da ich diesem Ziele aber nur näher kommen kann, wenn mir wenigstens durch einen festen Erwerb Sicherheit geboten ist, so habe ich mir als nächstes Ziel den Zeichenlehrer gesetzt.«61
Fazit Die im Nachlass der Stiftung gesammelten Bewerbungsunterlagen zeigen vor allem, dass eine Stadt von der Größe und Infrastruktur Halles, die zwar bis ins 20. Jahrhundert nur über mäßige künstlerische Netzwerke und Institutionen verfügte, aktuelle Impulse der künstlerischen und kunstgewerblichen Entwicklung jedoch bereitwillig aufnahm, ein bedeutendes Reservoir an jungen Leuten aufwies, die die Künstlerlaufbahn zu ihrem Lebensziel erwählten oder wenigstens Interesse an der zeitgenössischen Entwicklung im Kunstgewerbe zeigten. Der Stand der Handwerker bildete dabei in Halle eine wichtige Gruppe zur Rekrutierung künstlerischen Nachwuchses. Aufgrund ihrer Sozialisation erkannten sie das Potential des an Bedeutung gewinnenden und sich weiter entwickelnden Kunstgewerbes. Bis zum Ausbau der Handwerker- und Kunstgewerbeschule Anfang der zwanziger Jahre zu einer Lehranstalt, die vor Ort eine künstlerische Ausbildung anbot,62 führte der Weg der Hallenser, die eine Ausbildung zum bildenden Künstler anstrebten, über Akademien außerhalb der Stadt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Dominanz des akademischen 59 Ebd. 60 Vgl. StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 197–198. 61 Zu diesem Zweck besucht Vetter parallel die Kunstgewerbeschule Kassel und das dortige Zeichenlehrerseminar. StH A 2.3 Nr. 132, Bl. 89–90. 62 In langen, letztlich erfolglosen Verhandlungen hatte sich Thiersch in Auseinandersetzung mit dem Ministerium darum bemüht, die hallesche Kunstgewerbeschule in den Stand einer Kunstakademie zu erheben. Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 17.
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Ausbildungsmodells durch die vielerorts entstehenden Kunstgewerbeschulen gebrochen. Zudem zeigt sich, dass kunstgewerbliche Berufe durch die zeitgenössische Aufwertung des Kunstgewerbes (vor allem durch die überall entstehenden Kunstgewerbeschulen) auch für Auszubildende jenseits handwerklicher Familientradition attraktiv wurden.
2. Kategorisierungen des Künstlerberufs zwischen Kunst und Handwerk 2.1 Künstlerische Gewerbe in Halle – kunstgewerblicher Erfindungsgeist Auch in Halle wuchs die Zahl der ansässigen Künstler ab Mitte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich. Obwohl Zeitgenossen immer wieder die Rückständigkeit der Stadt in künstlerischen Belangen bedauerten, siedelten sich bildende Künstler zumindest zeitweise als Gewerbetreibende in der Stadt an. Das hallesche Adressbuch, das in einem gesonderten Verzeichnis die Handel- und Gewerbetreibenden der Stadt auflistet, ermöglicht sowohl Rückschlüsse auf die Anzahl der geschäftlich niedergelassenen Künstler und Kunstgewerbetreibenden als auch auf den Wandel der Berufsbezeichnungen, die das Spektrum künstlerischer Berufe abbilden. Dabei ist das Adressbuch als Quelle für Informationen über die Entwicklung der halleschen Künstlerschaft sowie das städtische Kunstsystem insgesamt mit Bedacht zu gebrauchen. Zwar ist davon auszugehen, dass die Geschäfts- und Gewerbetreibenden im eigenen Interesse auf die jährliche Aufnahme und Aktualisierung ihrer Daten im Verzeichnis achteten. Trotzdem erfasst das Adressbuch im Geschäfts- wie im Einwohnerverzeichnis nicht ausnahmslos alle für die Untersuchung relevanten Künstler. Eine eklatante Leerstelle ergibt sich in Bezug auf alle weiblichen Berufszugehörigen, die zwar im Lauf der Zeit zunehmend, jedoch nicht annähernd vollständig verzeichnet wurden. In der Regel wurden weibliche Familienmitglieder dem männlichen Familienvorstand zugeordnet und tauchten nur dann im Adressbuch auf, wenn sie als beruflich Selbstständige ein Geschäft oder Gewerbe betrieben. Künstlerinnen, die durch Heirat den Familiennamen ihres Ehemannes annahmen, verschwanden oft spurlos in späteren Jahrgängen.63 Ein weiteres Problem ergibt sich in Bezug auf das Zustandekommen des Gewerbeverzeichnisses, das einen wichtigen Zugriff auf die städtische Künst 63 War der männliche Familienvorstand verstorben, tauchten die hinterbliebenen Ehefrauen als Witwe und unter Angabe der Berufsbezeichnung ihres Gatten auf. Blieben Frauen unverheiratet und führten einen eigenen Hausstand, wurden sie als Frl. bezeichnet.
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lerschaft und das Spektrum ihrer Berufsrollen überhaupt erst ermöglicht. In quellenkritischer Hinsicht ergeben sich auch hier Besonderheiten, die bei der Interpretation zu berücksichtigen sind: Zum einen oblag es den Gewerbetreibenden selbst, sich um die Aufnahme in das jährlich aktualisierte Verzeichnis zu bemühen und war an bestimmte Bedingungen geknüpft. Das bedeutet, dass die Gewerbetreibenden unter der selbstgewählten Berufsbezeichnung Eingang in das Verzeichnis fanden und die berufliche Selbstbeschreibung keinen objektivierten Kriterien unterlag. Für die historiografische Deutung wird somit der Blick auf das berufliche Selbstbild der Akteure frei, beschränkt andererseits aber den Zugang zur Außenperspektive und der klaren Normierung beruflicher Rollen.64 Die Rollenzuschreibung von außen wird jedoch über die Kategorisierungsbestrebungen der Redaktion sichtbar (siehe dazu weiter unten in diesem Kapitel). Eingang in das Verzeichnis konnte nur finden, wer seinen Beruf selbstständig, also als Geschäftsinhaber ausübte. Angestellte wurden nicht aufgenommen. Damit werden dennoch zahlreiche der einen Künstlerberuf Ausübenden erfasst, da Künstler im Vergleich mit Anderen ihren Beruf überdurchschnittlich häufig als selbstständig Gewerbetreibende ausübten.65 Umgekehrt wird die Tendenz, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts Künstler als Entwurfs- und Musterzeichner in Betrieben angestellt waren, in dieser Quelle nicht adäquat berücksichtigt. Darüber hinaus waren Künstler in der Stadt ansässig, die ihren Beruf als Künstler ausübten, aber dennoch nicht im Verzeichnis der Gewerbetreibenden genannt wurden, weil sie als Lehrkräfte öffentlich angestellt waren66 oder sich trotz künstlerischer Berufstätigkeit nicht im gesonderten Verzeichnis mit Geschäftsadresse exponierten. Nicht für alle Künstler, deren Positionierung im Berufs leben sehr different und in hohem Grad von den persönlichen Lebensumständen geprägt war, findet sich also ein entsprechender Eintrag. Und dennoch bilden die Eintragungen im Adressbuch einen wichtigen Zugang zur Formierung der halleschen Künstlerschaft. Ergänzend zu den reichs-
64 Im Gegensatz zu anderen Berufen, die durch die Zugehörigkeit zu Berufsverbänden oder andere Zertifikate normiert waren, war der Künstlerberuf keinen Zugangsbeschränkungen unterworfen und die Bezeichnung »Künstler« nicht geschützt. Zuerst änderte sich das im Bereich der Architektur mit der Gründung des Bundes Deutscher Architekten. 65 In der 1882 durchgeführten Berufszählung waren reichsweit 373 von 1.000 Angehö rigen der Berufsgruppe 109 (»Kunstgewerbe, auch Malerei und Bildhauerei als Kunst«) selbstständig tätig. Dieser Befund, das Vorherrschen des Kleinbetriebes mit einer unterdurchschnittlich großen Zahl unselbstständiger Angestellter im Künstlergewerbe, bestätigte sich auch in den 1895 und 1907 durchgeführten Berufs- und Betriebszählungen. Vgl. Berufsstatistik nach der allgemeinen Berufszählung vom 5. Juni 1882, N. F., Band 2, S. 62; Drey, Grundlagen, S. 77. 66 Die an der Handwerkerschule und späteren Kunstgewerbeschule lehrenden Künstler tauchten nicht nur nicht im Verzeichnis der Geschäfts- und Gewerbetreibenden auf, sondern wurden auch im Einwohnerverzeichnis als »Lehrer« bezeichnet.
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weit durchgeführten Berufszählungen von 189567, 1907, 1925 und 1933 können Aussagen nicht nur über die Zahl, sondern auch über die Differenzierung künstlerischer Berufe sowie ihre kategoriale Verortung im gesamten Spektrum der Berufe getroffen werden – wobei hier der Aspekt des Zusammenhangs mit dem Handwerk und das Verhältnis zwischen bildender und angewandter Kunst in seiner diachronen Entwicklung interessiert. Der Vergleich mit Dresden, das während des Untersuchungszeitraumes etwa dreimal so viele Einwohner zählte und das als Residenz- und Hauptstadt mit einer Kunstakademie als traditionsreiches deutsches Kunstzentrum gilt, kann zudem die Besonderheiten der halleschen Entwicklungen herausstellen. Entsprechend des der Arbeit zugrundeliegenden offenen Kunstbegriffs, der die Disziplinen Architektur, Malerei, Bildhauerei sowie das Kunstgewerbe einschließt, zielt die Suche im Gewerbeverzeichnis des Adressbuchs auf Berufsangehörige, die sich einer dieser künstlerischen Tätigkeitsfelder zuordneten. Ungeachtet der zahlreichen kategorialen Neuordnungen, Verschiebungen und Differenzierungen, die das Gewerbeverzeichnis des städtischen Adressbuches zwischen 184968 und 1933 erfuhr, wurde »Künstler« nie als eigene Berufskate gorie eingerichtet. Künstler wurden immer den disziplinbezogenen Oberbegriffen »Maler«, »Bildhauer« und »Architekten« zugeordnet. Demzufolge verorten sich die darunter gefassten Berufsbezeichnungen (bezüglich der hier verfolgten Fragestellung) zwischen den Polen einer künstlerischen und nicht-künstlerischen Tätigkeit. Als künstlerisch werden im Folgenden Berufe bezeichnet, denen ein kreativ-gestalterisches Element innewohnt, die entweder frei schöpfen oder auch zweckgebunden gestalten. Im Gegensatz dazu stehen Tätigkeiten, die keine eigenständig-schöpferische Leistung erfordern und sich auf die Ausführung einer Vorgabe beschränken.69 Der Begriff des Handwerks bzw. des dazugehörigen Adjektivs ist als Gegenpol zum Kunstbegriff ungeeignet und würde als abwertend verstanden.70 67 Halle wurde seit der Berufszählung 1895 als Großstadt (ab 100.000 Einwohner) gesondert ausgewertet und war seitdem in den Publikationen des Statistischen Reichsamts aufgelistet. In der 1882 durchgeführten Berufszählung gehörte Halle in der Auswertung zum weiträumigen Regierungsbezirk Merseburg. Dort waren insgesamt 188 Personen im Hauptoder Nebenberuf als Künstler tätig (von insgesamt 360.030 hauptberuflich Beschäftigten). Vgl. Berufsstatistik nach der allgemeinen Berufszählung vom 5. Juni 1882, N. F., Band 3, S. 1404/1405 und 1842. 68 Erstmals war in diesem Jahr dem halleschen Adressbuch ein »Verzeichnis der Einwohner von Halle nach ihren verschiedenen Gewerben und Verrichtungen« beigegeben. Vgl. Adressbuch Halle 1849, S. 198–221. 69 Zur Definition des Kunstbegriffs siehe auch Kap. I, 3. 70 Gegenwärtig ist das Handwerk wieder verstärkt von wissenschaftlichem Interesse und hat in diesem Zusammenhang eine Aufwertung erfahren. Dabei fungiert das Handwerk vor allem auch als normativ aufgeladener Begriff, der zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Makers movement des 20. Jahrhunderts die Selbstverwirklichung durch Selbermachen thematisiert. Vgl. Schmock-Wieczorek, [Tagungsbericht].
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In den Jahrzehnten um 1900 wurde der Begriff des Handwerks im Kontext der Kunstgewerbebewegung stark thematisiert. Rudolf Bosselt versuchte in seinem Beitrag zum Bericht über den Entwicklungsstand der Kunstgewerbeschulreform 1922 eine begriffliche Trennung der Bereiche Kunst und Handwerk, wobei er Handwerk als »die Verbindung der guten werkgerechten Arbeit mit der guten Form«71 definierte. Im Unterschied zum Kunstwerk, das sich durch seine Einmaligkeit, seine Originalität und Individualität auszeichne, werde das Handwerk dadurch bestimmt, »daß es viele können, daß der formale Ausdruck ein Gemeingut ist.« Letztlich plädierte Bosselt jedoch dafür, dass die Grenzen zwischen Handwerk und Kunst nicht dogmatisch verteidigt werden müssten: »Wenn der herausgehobene Handwerker Künstler in seinem Fach genannt wird, der schlechte Künstler aber ein Handwerker, so ergibt sich als Mehr einer Arbeit, das Auszeichnende, nicht nur die beseelte durchgeführte Form, sondern auch ihre Zugehörigkeit zu dem, der sie schuf, ihre individuelle Färbung, um nicht zu sagen ihre Einmaligkeit.«72
So lautete erklärtermaßen das Ideal der Vertreter der Kunstgewerbebewegung. Dass in der Realität Handwerk und Kunst weiterhin weit voneinander entfernt lägen, beklagte stattdessen der hallesche Künstler Richard Horn, der ebenfalls die Integration beider Bereiche zu beiderseitigem Vorteil wünschte. Zum Stand der Fortschritte bei diesem Unternehmen stellte er etwa zur gleichen Zeit wie Bosselt fest: »Wir müssen an dieser Stelle klar ausdrücken, daß einerseits die Kunstgewerbeschulen auch heute noch zu viel ›nur Kunstschulen sind‹, und daß andererseits das Handwerk zu viel ›Schema-Arbeit‹ ohne Seele und erfinderischen Geist ist. … wir müssen unbedingt diese beiden Pole in Einklang bringen.«73
Die Differenzierung der Berufe im Verlauf des Untersuchungszeitraumes zeigt, dass zwischen beiden eine Annäherung stattfand, wobei vor allem von der Kunst Impulse zur Adaption handwerklicher Standards (praktische Ausbildung, Berufsabschlüsse) ausgingen. Die Spannung zwischen ausführend-schematischer und kreativ-schöpferischer Tätigkeit blieb trotzdem bestehen, ohne dass der Begriff des Handwerks einem der beiden Pole eindeutig zugeordnet werden könnte. Erst nach 1900 wurde »Kunst« überhaupt Bestandteil der Berufsbezeichnung, als den Malern eine Unterkategorie »Kunst-Maler« (ab 1905) und den Bildhauern die Spezifikation »Kunst-Bildhauer« (ab 1929) zugefügt wurde. Zuvor waren malende Künstler je nach ihrer Spezialisierung auf bestimmte Genres verzeichnet:
71 Bosselt, Handwerk und Kunst, S. 21. 72 Ebd. 73 Vgl. HN vom 26.07.1921, Nr. 172.
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als Porträt-, Landschafts- oder Genremaler.74 Sie wurden von den mehrheitlich entwurfsausführenden Stuben- bzw. Dekorationsmalern, Lackierern, Schilderund Schriftmalern unterschieden. Zudem etablierten sich Berufsbezeichnungen in der Kategorie der Maler, die der angewandten Kunst zuzuordnen sind und sich auf die jeweils bearbeitenden Materialien bezogen. Je nach ausübender Person erfüllten die Porzellan- und Glasmaler, Fahnen- und Wappenmaler sowie Theater-Dekorationsmaler ein mehr oder weniger künstlerisches Berufsprofil. Gleichfalls dieser Kategorie der angewandten bzw. kunstgewerblichen Berufe zuzuordnen sind die um 1900 auftauchenden Berufe des Musterzeichners (ab 1886) bzw. des Industriezeichners (ab 1905), des Plakatmalers (ab 1923) und des Reklamemalers (ab 1930), die erst mit Technisierung, industrieller Massenproduktion und Massenkultur von Künstlern erschlossen wurden. Obwohl die Berufsbezeichnung des privat tätigen Mal- oder Zeichenlehrers seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gängig war, fluktuierte deren zahlenmäßige Bedeutung stark. Während sich besonders um 1900 Mal und Zeichenlehrer im Gewerbeverzeichnis eintragen ließen (1900: 11, 1905: 11), wurde die Kategorie im Adressbuch 1910 nicht mehr aufgeführt und finden sich bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes nur noch vereinzelte Einträge. Mit dem 1905 erschienenen Adressbuch, das einer grundsätzlichen Überarbeitung unterlag75, wurde die Berufskategorie der Maler in 11 Unterkategorien differenziert. Erstmals tauchten die Kunstmaler und die Maler für Kunstgewerbe als eigenständige Berufsbezeichnungen auf und trugen der Etablierung erfolgreicher künstlerischer Unternehmen und der entsprechenden Nachfrage in der Stadt Rechnung. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts fand innerhalb des Berufsstandes der Maler eine starke Differenzierung statt, die das Spektrum zwischen den Polen des Anstreichers und des Porträtmalers ausmaßen. Während die gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeführte Berufsbezeichnung des »Dekorationsmalers« den mitunter künstlerischen Anspruch handwerklicher Tätigkeit betonte,76 öffnete der 1905 etablierte »Maler für Kunstgewerbe« künstlerische Ambitionen für zweckgebundene Auftragsarbeiten. In der Regel ordneten sich die Gewerbetreibenden einer der Kategorien zu. Im Verzeichnis des Jahres 1905 gab es nur 74 Langfristig ersetzte die Bezeichnung des Kunstmalers die im 19. Jahrhundert vorherrschenden genrespezifischen Berufsbezeichnungen, wobei die Kategorie des Porträtmalers bis über die Ausgabe für 1933 hinaus erhalten blieb. 75 Statt der bisher zwei erschienen Adressbücher wurde ab 1905 nur noch ein Adressbuch für die Stadt herausgegeben. Die Redakteure des im Verlag August Scherl publizierten Verzeichnisses strebten für den Jahrgang 1905 explizit eine Neufassung des »Gewerbenach weises« an, der auf Wunsch der Unternehmer »sachgemäßer und eingehender« gestaltet wurde und weitere Spezialisierungen enthielt. Vgl. Adressbuch Halle 1905, Zur Einführung (nicht nummeriert). 76 Widmer betont in seinem Berufsverzeichnis, dass die Dekorationsmalerei sowohl auf sehr hohem künstlerischen Niveau erfolgen als auch im Sinne des Anstreichers und Tünchers ausgeführt werden konnte. Vgl. Hebing, Dekorationsmaler, S. 71.
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vereinzelt Mehrfachnennungen, die vor allem unter den spezialisierten angewandten Gewerken bestanden. Zwischen den (vorrangig) ausführenden Malergewerben (Dekorationsmaler, Schilder- und Schriftenmaler, Stuben- und Dekorationsmaler) und den künstlerisch orientierten Unternehmern (Kunstmaler und auf bestimmte Genres und Materialien spezialisierte Maler) kam es hingegen nur in einem Fall zur Überschneidung. Betrachtet man über verschiedene Jahrgänge die Zuordnung der einzelnen Gewerbetreibenden, wird deutlich, dass die Unterscheidung freier (Kunstmaler) und angewandter Kunst (Kunstgewerbemaler, Plakatmaler, Porträtmaler) mehrfach durchbrochen wurde und die Betreffenden sich in einem Jahr als Kunstmaler, im nächsten ihre Dienste als Kunstgewerbe- oder Plakatmaler anpriesen. Generell ist jedoch das Auftauchen und die starke Bedienung der Kategorie des Kunstmalers gegenüber den spezialisierten Kunst- und kunstgewerblichen Gewerben als begleitende Erscheinung eines neu etablierten Künstlertyps des Universalkünstlers, der über Genregrenzen und die Unterscheidung freier und angewandter Kunst hinweg agierte, zu bewerten. Ein weiteres Indiz für die Integration freier und angewandter Kunst in der halleschen Berufswelt ist das Auftauchen »kunstgewerblicher Ateliers«, das ab 1894 als eigenständige Gewerbekategorie firmierte und im Jahr 1900 zehn Einträge verzeichnete. Deren Zahl nahm in der Folge rapide ab, weil sich innerhalb der Berufszweige der Malerei und Bildhauerei Bezeichnungen etablierten, die die kunstgewerblich tätigen Berufsangehörigen absorbierten. Erst um 1930 wurden wieder zahlreiche Unternehmungen als kunstgewerbliche Ateliers betrieben, von denen eine Vielzahl von Frauen geführt wurden.77 Während die Betreiber der kunstgewerblichen Ateliers im Adressbuch des Jahres 1900 sich den verschiedenen künstlerischen Disziplinen Architektur und Malerei oder Grafik zuordnen lassen, dominierte am Ende der zwanziger Jahre das Bild des Kunstgewerblers, der sich bis dahin zu einem eigenständigen Berufstyp entwickelt hatte. Ähnlich den Malern entwickelte sich die berufliche Differenzierung hin zu einem größeren Spektrum bei den Bildhauern, wobei hier die Unterscheidung künstlerischer und handwerklicher Berufsauffassung nicht schon seit Beginn des Gewerbeverzeichnisses an den Berufsbezeichnungen abzulesen war. Erst 1929 wurde explizit eine Kategorie der »Kunst-Bildhauer« eingerichtet. Zuvor war zwischen Holz- und Steinbildhauern sowie Modelleuren, die sich auf das »Formenschaffen« und weniger deren Ausführung konzentrierten, unterschieden worden.78 Ab 1905 diente die Unterscheidung von Bildhauern und Bildhauerwerkstätten (wiederum nach Art des bearbeiteten Materials unterteilt) der 77 1928 wurden 4 der 7 genannten Ateliers von Frauen geführt. 1930 entfielen 6 der 13 kunstgewerblichen Ateliers auf weibliche Inhaber. Vgl. Adressbuch Halle 1928, III. Teil, S. 5; Hallesches Adressbuch 1930, III. Teil, S. 34. 78 Vgl. Widmer, Buch der kunstgewerblichen Berufe, S. 52.
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Abgrenzung des schöpfenden vom ausführenden Berufsprofil. Im Gegensatz zu den stark diversifizierten Malergewerben beschränkte sich die Bildung der Untergruppen im Bildhauergewerbe darauf. Etwas anders verhielt es sich bei der Berufsgruppe der Architekten. Die hier zuzuordnenden Begriffe des »Baumeisters«, »Privat-« oder »Regierungsarchitekten« widerspiegeln diesen zwischen handwerklicher, technischer und künstlerischer Ausrichtung changierenden Beruf. Er unterscheidet sich zudem von den vorgenannten Malern und Bildhauern dadurch, dass er zum Teil im öffentlichen Dienst ausgeübt wurde und damit gänzlich anderen wirtschaftlichen Bedingungen unterlag als freiberuflich arbeitende Architekten. Dass beide oftmals über die gleiche akademische Ausbildung verfügten, darauf wiesen freiberuflich tätige Architekten hin, indem sie den Titel des Regierungsbaumeisters »a. D.« führten.79 Bis 1883 die Kategorie des »Architekten« eingeführt wurde, war die Bezeichnung des »Baumeisters« maßgeblich. Aus langer Tradition gehörten zur Tätigkeit des Baumeisters neben dem Entwurf auch die Bauplanung sowie die Überwachung der Bauausführung. Die Einführung der Berufsbezeichnung des Architekten spiegelte zum einen die Konzentration auf die entwerfende Tätigkeit wider, womit der künstlerische Aspekt in den Vordergrund trat. Zwischen 1883 und 1900 stieg die Zahl der verzeichneten Architekten von 11 auf 42 sprunghaft an. Um auf ihre besondere Qualifikation hinzuweisen, führten im Jahr 1900 11 der 42 Verzeichneten Architekten weiterhin den Titel des Privatbaumeisters.80 Ab 1905 bemühten sich die Herausgeber des Gewerbeverzeichnisses, den Ansprüchen einer neuen Architektengeneration gerecht zu werden, die sich in erster Linie als Künstler verstand. Zum einen wurde nun zwischen der handwerklich geprägten Generation der Baumeister und den Architekten unterschieden. Andererseits verriet die neu eingeführte Kategorie der »Architektur-Ateliers« das gewandelte Selbstverständnis der Berufsangehörigen.81 Mit dem 1909 erschienen Adressbuch wurde erstmals auf die Mitgliedschaft im Bund Deutscher Architekten aufmerksam gemacht. Der Berufsverband hatte sich 1903 gegründet und strebte an, mit seinem Prädikat die künstlerisch befähigten und technisch versierten von der Vielzahl übermäßig profitorientierten 79 Diese Bezeichnung wurde verwendet, um auf die genossene akademische Ausbildung hinzuweisen, wenn keine öffentliche Anstellung gefunden wurde. Die Berufsbezeichnung des Architekten oder des Baumeisters war nicht geschützt. Vgl. Bolenz, Vom Baubeamten, S. 22. 80 Vgl. Adressbuch Halle 1900, Zweiter Teil, S. 19. – Anders als bei Malern und Bildhauern übten Baumeister ihre Tätigkeit oft in öffentlichem Dienst aus und trugen einen Amtstitel. Je nach Verwaltungsebene waren sie Stadtbaurat, Kreisbaumeister oder Königlicher Landbaumeister. Im Unterschied dazu kennzeichneten sich die selbstständigen Architekten als Privatbaumeister. Vgl. Adressbuch Halle 1878, Dritter Nachweis, S. 72; Reuter, »Privat-Architekt«, S. 4 f. 81 1910 fanden sich 4 und fünf Jahre später bereits 14 Einträge unter der Kategorie der Architektur-Ateliers. Zum Ende der zwanziger Jahre nahm ihre Zahl jedoch wieder ab.
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Unternehmer zu unterscheiden.82 Mit dem Verzeichnis von 1910 wurde zusätzlich zwischen Architekten mit und ohne Unternehmerbetrieb getrennt, womit eine weitere Distanzierung zur Bauausführung betont wurde. Die ebenfalls neu auftauchende Kategorie der Architekten für Innenarchitektur wies auf einen neuen, von der Kunstgewerbebewegung stark popularisierten Tätigkeitsbereich hin.83 Im Vergleich mit dem Gewerbeverzeichnis der etwa 200 Kilometer entfernt gelegenen sächsischen Haupt- und Residenzstadt Dresden werden einige Besonderheiten der halleschen Gewerbelandschaft deutlich.84 Im Gegensatz zu Halle galt Dresden als Kunstzentrum und verfügte mit der 1764 gegründeten Kunstakademie und der 1875 eingerichteten Kunstgewerbeschule über zwei renommierte künstlerische Ausbildungsstätten. Die vorhandenen Lehrinstitute und die gegenüber Halle deutlich höhere Einwohnerzahl – 1929 wohnten in Dresden etwa 633.000 und in Halle etwa 200.000 Menschen85 – waren ursächlich dafür, dass in Dresden im gesamten Untersuchungszeitraum deutlich mehr Künstler ansässig waren und die Infrastruktur des städtischen Kunstsystems dort deutlich stärker und früher entwickelt war.86 Demzufolge fällt im Vergleich der Gewerbestruktur im künstlerischen und kunstgewerblichen Bereich auf, dass die Dresdener Maler bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts hochspezialisiert auftraten. Während in Halle zu diesem Zeitpunkt einzig »Porträtmaler« nach ihrer Berufsbezeichnung dem künstlerischen Feld zuzuordnen waren, gliederte sich die Dresdener Zunft in sechs verschiedene Unterkategorien (Historienmaler, Landschaftsmaler, Genremaler, Porträtmaler, Schlachtenmaler und Tiermaler) sowie die Porzellan- und »Decorations- und Zimmermaler«. Die über 80 verzeichneten Maler, die sich jeweils den diversen Bildgegenständen widmeten, standen einer kleineren Zahl anwendungsorientierter Porzellanmaler (24) und etwa 40 Dekorations- und Zimmermalern gegenüber. In Halle war das Mehrheitsverhältnis stets umgekehrt. In der Folge ist zu beobachten, wie sich in Halle das Malergewerbe, vor allem um 1900, weiter ausdifferenzierte und im Bereich der angewandten Gestaltung neue Berufsbezeichnungen ent 82 In folgenden Ausgaben des Adressbuches wiesen die Mitglieder mit ganzseitigen Anzeigen und besonders hervorgehoben im Gewerbeverzeichnis auf ihren Berufsverband und dessen Berufscodex hin. Zum Bund Deutscher Architekten siehe Kap. IV, 5.2. 83 Adreßbuch Halle 1910, III. Teil, S. 2. 84 Vgl. Adreß- und Geschäftshandbuch der königlichen Haupt- und Residenzstadt Dresden, 1855–1925. 85 Vgl. Volks-, Berufs- und Betriebszählung vom 16. Juni 1925. Berufszählung 1925, N. F., Band 406. 86 Dresden war deshalb auch für einige hallesche Künstler ein Anziehungspunkt, wo sie ihre künstlerische Ausbildung absolvierten oder nach besseren beruflichen Perspektiven suchten. Karl Völker, Lili Schultz und Alfred Weßner-Collenbey absolvierten jeweils einen Teil ihrer künstlerischen Ausbildung an der Dresdener Kunstgewerbeschule. Vgl. StH, FA 3316; StH, FA 2464; Meinel, Karl Völker, S. 11/12.
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standen (Wappenmaler, Theaterdekorationsmaler, für Kunstgewerbe). In Dresden hingegen wurden die traditionell nach ihren Bildgegenständen benannten Malerberufe erst 1913 durch die Bezeichnung des »Kunstmalers« ersetzt.87 Insgesamt blieb das Gewerbeverzeichnis dort stark an den traditionell gebrauchten Berufsbezeichnungen orientiert. Anders als in den halleschen Kategorisierungsansätzen wurden hier kaum neue Berufsbezeichnungen für den breiten Bereich zwischen freier und angewandter Kunst entwickelt und benutzt. So verfestigt sich der Eindruck, dass die handwerklichen und künstlerischen Berufe in Dresden – wenigstens in der Wahrnehmung – stärker getrennt waren. Dieser Befund erhärtet sich, betrachtet man das Auftauchen der »kunstgewerblichen Ateliers«, die in Halle schon 1894 zahlreich für sich warben, in Dresden aber erst 1912 als eigenständige Bezeichnung auftauchten.88 Auch für die Bildhauer galt, dass sich frühzeitig eine Unterscheidung zwischen einer handwerklichen und einer künstlerischen Berufsauffassung im Gewerbeverzeichnis dokumentierte. Waren auch hier bis in die Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts die Bildhauer nach dem Material ihrer gestaltenden Tätigkeit differenziert worden (Elfenbein, Stein, Holz), setzte sich 1887 die Unterscheidung zwischen den akademisch gebildeten und den übrigen Bildhauern durch. Eine solche schärfere Differenzierung der Bildhauerberufe wurde erst 1905 im halleschen Adressbuch eingeführt, indem weniger deutlich als in Dresden zwischen Bildhauern und Bildhauerwerkstätten unterschieden wurde. Obwohl Dresden sich jenseits seiner langen kunstakademischen Tradition in den Jahrzehnten um 1900 auch einen Namen als Standort kunstgewerblicher Ausbildung und Produktion machte – 1906 fand hier die dritte Deutsche Kunstgewerbeausstellung statt, auf der zudem die Gründung des Werkbundes avisiert wurde89 – blieb das städtische Gewerbeverzeichnis stark der im 19. Jahrhundert zementierten Trennung zwischen Kunst und Handwerk verhaftet. In Halle hingegen reagierte das Verzeichnis weitaus stärker auf die lokalen Besonderheiten, die im Gegensatz zu Dresden in der starken handwerklichen Tradition der städtischen Künstlerschaft wurzelte. Ob dieser Befund der unterschiedlichen Kategorisierung in den beiden Adressbüchern tatsächlich auf Unterschiede im beruflichen Selbstverständnis der Künstler und Kunstgewerbler vor Ort zurückzuführen sind, muss aus Unkenntnis der Dresdener Künstlerschaft offen bleiben. 87 In Halle gab es ab 1910 unter der Hauptkategorie der Maler die Bezeichnung des »Malers für Kunst«. 88 Schon um 1900 wurde hingegen die Kategorie der »kunstgewerblichen Frauenarbeiten« eingerichtet, die jedoch nur vereinzelt besetzt waren. 89 Vgl. Das deutsche Kunstgewerbe 1906. Vor allem die »Dresdener Werkstätten für Handwerkskunst« wurden weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt und galten Muthesius aufgrund ihrer Werbe- und Verkaufsstrategien als vorbildhaft. Vgl. Muthesius, Problem, S. 34/35.
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2.2 Verortung des Künstlerberufs in der Reichsstatistik und Angaben zur Zahl hallescher Künstler Anders als im Kategorisierungsansatz auf städtischer Ebene erfolgte die Einbettung des Künstlerberufs durch das Statistische Reichsamt anlässlich der 1882 durchgeführten Berufszählung: Statt disziplinbezogen zwischen Malern und Bildhauern zu unterscheiden, wurden hier beide Tätigkeitsfelder unter der Berufsart »109. Künstler (Kunstmaler und Kunstbildhauer) und künstlerische Betriebe für gewerbliche Zwecke« zusammengefasst und auch in der Ausdifferenzierung in einzelne Berufe nicht voneinander getrennt. Der Fokus der Unterscheidung lag darauf, die Künstler und kunstgewerblichen Berufe von Berufen zu trennen, denen in der Regel keine eigenständig schöpferischen Aufgaben oblagen.90 Dennoch wurde die Dinglichkeit ihrer Produktion in der Gesamtklassifikation betont, denn sie gehörten nicht wie Schauspieler oder Musiker der Berufsklasse der freien Berufe (E) an, sondern zählten zu »Industrie einschl. Bergbau und Bauwesen« (Berufsklasse B). Die Berufsart 109. umschließt sowohl Kunstmaler, Kunstbildhauer sowie »künstlerische Betriebe für gewerbliche Zwecke«. Das 1875 für die Gewerbe zählung entworfene Verzeichnis dieser künstlerischen Berufe umfasst 56 Berufsbezeichnungen und bildet das Spektrum der zeitgenössisch als künstlerisch definierten Berufe. Neben den allgemeinen Bezeichnungen als Bildhauer, Kunstbildhauer, Kunstmaler und Maler (Künstler) wurden die genrespezifischen Künstlertypen genannt, die auch im halleschen Adressbuch bis nach der Jahrhundertwende präsent waren: der Historienmaler, Landschaftsmaler, Miniaturmaler und Porträtmaler. Das Verzeichnis beschränkte sich jedoch nicht auf Berufe, bei denen das künstlerische Einzelstück im Vordergrund steht, sondern umschloss auch die Tätigkeiten, die den Entwurf für industrielle Zwecke betrafen: Mustermaler, Manufakturzeichner, Modelstecher, Mustermacher, Musterschläger, Musterzeichner. Zusätzlich wurde eine Vielzahl kunsthandwerklicher Berufe aufgeführt, deren Ausübende innerhalb ihrer zweck- und materialgebundenen Tätigkeit schöpferisch arbeiteten, wie Edelsteinschneider, Glasgraveure, »Gypsgießer«, Medailleure, Münzgraveure, Silhouettenschneider und Walzengraveure. Im Unterschied dazu wurde in der Auswertung der Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907 innerhalb der »Künstlerischen Gewerbe« zwischen verschiedenen Berufsarten unterschieden. Neben Malern und Bildhauern, die 90 Diese waren als Bühnenmaler, Dekorationsmaler, Firmamaler, Flachmaler, Schildermaler, Staffirer, Stubenmaler, Stuckateure, Tüncher, Zimmermaler der Gruppe XIV. Bau gewerbe zugeordnet. Vgl. Berufsstatistik nach der allgemeinen Berufszählung vom 5. Juni 1882, N. F., Band 2, S. 29.
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ihren Beruf als Künstler ausübten (B 162), erschienen unter B 163 »Graveure, Steinschneider, Ziseleure und Modelleure«, »Musterzeichner und Kalligraphen« (B 164) und sonstige künstlerische Gewerbe (B 165). Innerhalb der künstlerischen Berufe wurde somit eine weitergehende Differenzierung nach dem Grad ihrer alltagspraktischen Anwendung eingeführt. Innerhalb der einzelnen Berufsgruppen fächerten sich die Bezeichnungen weiter auf und künden von der weiteren Spezialisierung innerhalb der einzelnen Tätigkeitsfelder.91 Streng wurde darauf geachtet, die Berufsgruppe der Künstler von Handwerkern zu unterscheiden. Durch die zusätzliche Bezeichnung als »Künstler« oder »nicht Künstler«, wie im Falle der Marmorbildhauerei oder Grabdenkmalbildhauerei, wurden nicht eindeutige Berufsbezeichnungen voneinander abgegrenzt bzw. wurde ausgedrückt, dass identische Berufsbezeichnungen sowohl eine künstlerische als auch eine nicht-künstlerische Tätigkeit bedeuten konnten (z. B. Dekorationsmaler, Glasmaler und Theaterdekorationsmaler).92 Die Architekten stellten wiederum eine Besonderheit dar, insofern sie nicht nach ihrem künstlerischen Anspruch ausgewiesen wurden, sondern gemeinsam mit Zivilingenieuren, Bautechnikern, Bausachverständigen, Bauzeichnern und anderen eindeutig technisch-ausführend orientierten Berufen in einer Berufsgruppe (B 141) zusammengefasst wurden. Anders als im Adressbuch, das mit der Verbandszugehörigkeit Hinweis auf das künstlerische Selbstverständnis der Architekten gab, taucht dieser Aspekt in der Reichsstatistik nicht auf.93 Der Trend, Kunst und Handwerk kategorial voneinander zu unterscheiden, setzte sich mit der 1925 durchgeführten Berufszählung verstärkt fort. Statt weiterhin der Berufsklasse »Industrie und Handwerk« anzugehören, wurden die bildenden Künstler gemeinsam mit Privatgelehrten und Schriftstellern zu einer Berufsgruppe (W 142) zusammengefasst und der Abteilung »Berufe der Verwaltung, des Heereswesens, der Kirche, freie Berufe« (D) zugewiesen. Damit wurde die intellektuelle Qualität künstlerischer Tätigkeit profiliert. Trotz der Distanzierung vom Handwerk spiegelte sich die Bereicherung der künstlerischen Berufsspektren unter dem Eindruck des Kunstgewerbes wider und erschienen Berufe, die bei der vorangegangenen Berufszählung den künstlerischen Gewerben zugeordnet waren, unter dem Oberbegriff des Künstlers.94 91 Allein der Beruf des Malers (Künstler) verzeichnet vierzig zugeordnete Berufe vom Altarmaler bis zum Tiermaler. Vgl. Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907. Gewerbliche Betriebsstatistik, N. F., Ergänzungsband: Verzeichnis der in der gewerblichen Betriebszählung vorgekommenen Gewerbebenennungen, S. 43. 92 Vgl. ebd. 93 Vgl. ebd., S. 41. 94 So zum Beispiel der Plakatmaler, Zeichner und Möbelzeichner. Andere kunstgewerbliche Berufe wurden wiederum den verwandten handwerklichen Berufsfeldern zugeordnet. Vgl. Berufszählung. Die berufliche und soziale Gliederung der Bevölkerung des Deutschen Reichs, Teil I: Einführung in die Berufszählung 1925, S. 136.
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Vergleicht man die Systematisierungsbestrebungen der reichsweiten Berufsstatistik im diachronen Verlauf, so fällt auf, dass insbesondere zwischen den Ausgaben zur Berufszählung 1907 und 1925 deutliche Unterschiede bestehen. Stand der Künstlerberuf in der Systematik des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts noch dem produzierenden Gewerbe nahe, so wurde er nach dem Ersten Weltkrieg anderen geistig begründeten Berufen gleichgestellt. Damit erfolgte eine Absonderung der handwerklichen, stoffgebundenen, manuellen Arbeit von der Tätigkeit des Künstlers. Die zeitgenössisch stark geforderte Annäherung zwischen Kunst und Handwerk erfolgte vorrangig von der Seite der Künstler, die ihre Tätigkeiten auf Berufe ausdehnten, die Jahrzehnte zuvor noch dem Handwerk zugerechnet wurden. Die Neukategorisierung 1925 verweist zudem darauf, dass die Grenzen zwischen freier und angewandter Kunst nivelliert wurden.95 In Bezug auf die historische Entwicklung der Berufskategorien im Gewerbeverzeichnis des halleschen Adressbuchs lassen sich sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede konstatieren. Obwohl beide Unternehmen gänzlich andere Intentionen verfolgen – die vollständige und eindeutige Erfassung aller reichsweit vorkommenden Berufe einerseits, die von den Gewerbetreibenden einer Stadt zu Werbezwecken erwünschte Auflistung in einem möglichst einfach zu handhabenden Verzeichnis andererseits – erlaubt der Vergleich Rückschlüsse auf das jeweils zugrundeliegende Künstlerbild. Dabei ist für die Einschätzung der Stadt Halle als Künstlerstandort bedeutsam, dass das Adressbuch bis 1933 zu keinem Zeitpunkt eine eigenständige Kategorie für bildende Künstler etablierte, während die Reichsstatistik seit ihrer ersten Ausgabe eine solche führte. Dieser Umstand erklärt sich aus der Tatsache, dass Halle erst im 19. Jahrhundert zu einer Großstadt wurde, die kaum künstlerische Traditionen aufweisen konnte. Die Stadt war vor allem durch das Handwerk und den späten Erfolg der Industrialisierung geprägt und der Bedarf an zweckfreier Kunstausübung – in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein wesentliches Identitätsmerkmal bildender Kunst – gering. Mit der Differenzierung des Maler- und Bildhauerberufs bildete jedoch auch das Adressbuch den für die Reichsstatistik festgestellten Trend ab, dass Künstler sich der Bezeichnung nach zunehmend deutlich vom Handwerk abhoben. Wesentlich schwieriger wird es, Aussagen über die Anzahl der in Halle ansässigen Künstler zu treffen. In Anbetracht dessen, wie das Gewerbeverzeichnis im Adressbuch zustande kam, können nur die aus der Berufszählung gewonnen Zahlen ernsthaft berücksichtigt werden. Die – zumindest innerhalb eines 95 Wolfgang Ruppert führt die Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklung der Berufskategorien in den Reichsstatistiken ab 1882 auf semantische Verschiebungen zurück, wobei die Statistik von 1882 stark vom historistischen Deutungsrahmen geprägt worden sei. In den folgenden Jahrgängen sei vor allem die Annäherung (1925) und Distanzierung (1933) zu den technisierten künstlerischen Berufen wesentliche Veränderungen zu verzeichnen. Vgl. Ruppert, Der moderne Künstler, S. 117–124.
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Jahrgangs – vereinheitlichten Standards der Zählung und das Ziel, die Berufstätigen möglichst vollständig zu erfassen, lassen die Statistiken als valide Quelle erscheinen. Erstmals wurden die Zählungen der einzelnen Berufe für die Stadt Halle für den Jahrgang 1895 gesondert veröffentlicht. Unter 113.454 ortsanwesenden Personen überhaupt befanden sich 40.089 Erwerbstätige, 3.173 Dienende, 56.645 Angehörige ohne Hauptberuf sowie 13.547 ohne Beruf bzw. Berufsangabe. Insgesamt wurden in Halle als Künstler (Maler und Bildhauer) 11 Berufsausübende gezählt. Davon waren 9 selbstständig Erwerbstätige (a), 2 in leitender Anstellung beschäftigt (b) und übten 2 Personen diese Tätigkeit im Nebenberuf aus. Von den insgesamt 11 gezählten Künstlern war eine Person weiblich.96 Laut der darauf folgenden reichsweiten Berufszählung aus dem Jahr 1907 hatte sich die Zahl der ortsansässigen Erwerbstätigen in diesem Beruf mehr als verdoppelt, wobei nun 14 selbstständigen Künstlern 12 Gehilfen gegenüberstanden. Der Anteil der Frauen war auf 6 (eine selbstständige Künstlerin und fünf Frauen in der Stellung von Gehilfen) gestiegen. Blickt man über die Gruppe der bildenden Künstler hinaus, wurden insgesamt 72 Erwerbstätige in der Gruppe der künstlerischen Gewerbe gezählt.97 Die Neudefinition des Künstlerberufs als im Wesentlichen intellektuelle Tätigkeit mit der Berufszählung von 1925 führte für die Zählung in Halle dazu, dass nur noch 7 hauptberuflich tätige Künstler erfasst wurden.98 Demnach waren Mitte der zwanziger Jahre nur noch halb so viele Künstler (Maler und Bildhauer) wie 1907 und etwa so viele wie zur Zählung 1895 hier tätig. Demgegenüber warben im selben Jahr im Gewerbeverzeichnis des Adressbuchs 12 Bildhauer und 18 Kunstmaler für ihre Dienste. Die deutlich höhere Zahl der sich als Künstler bezeichnenden Berufsvertreter im Adressbuch sowie in den Künstlervereinen engagierten Mitglieder deutet darauf hin, dass die Berufsdefinition des Künstlers in der Reichsstatistik stark von der Eigenwahrnehmung der in Halle tätigen Berufszugehörigen abwich.99 Es ist anzunehmen, dass mit der statistisch forcierten Trennung künstlerischer und handwerklicher Berufsbilder zahlreiche der in Halle ansässigen Künstler aus dieser Kategorie ausschieden und kunstgewerblichen bzw. handwerklichen Berufen zugeordnet wurden. 96 Vgl. Berufsstatistik der deutschen Großstädte 1895, S. 120. 97 Die differenzierte Erfassung der Zählung 1907 ermöglicht darüber hinaus Angaben zu Ausübenden anderer künstlerischer Berufe. Als Graveure, Steinschneider, Ziseleure und Modelleure (Berufsart 163) wurden insgesamt 26 Erwerbstätige erfasst, 4 als Musterzeichner und Kalligraphen (B 164) gezählt und schließlich 16 Erwerbstätige den sonstigen künstlerischen Berufen zugerechnet. Vgl. Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907. Berufsstatistik, Abteilung VI: Großstädte, S. 103. 98 Volks-, Berufs- und Betriebszählung 1925, Großstädte, S. 152. 99 Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Zweigstelle Merseburg, Rep. C 129 AG Halle; StH, FA 1343, S. 27 und 38.
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Unter den sieben Künstlern befand sich, anders als in vorigen Berufszählungen, keine Frau. Die ebenfalls publizierte Altersstruktur der Berufsausübenden zeigt, dass vier der Künstler zwischen 25 und 40 Jahren alt waren, zwei Künstler befanden sich zwischen dem 31. und 60. Lebensjahr und ein Künstler war zwischen 16 und 18 Jahre alt. Nur einer der Künstler war zum Zeitpunkt der Untersuchung verheiratet, einer verwitwet. Die Zahl der in Halle (etwa 200.000 Einwohner) ansässigen Künstler lag deutlich unter den Angaben für die benachbarten Städte Leipzig (22 bei etwa 691.000 Einwohnern) und Dresden (35 Künstler bei etwa 633.000 Einwohnern), die beide deutlich größer waren und über ein traditionsreiches und länger institutionalisiertes Kunstsystem verfügten. Weniger Künstler bei vergleichbarer oder höherer Einwohnerzahl wiesen die industriestarken Städte Chemnitz (6 Künstler bei etwa 335.000 Einwohnern), Bochum (3 Künstler bei etwa 215.000 Einwohnern) und Gelsenkirchen (3 Künstler bei etwa 211.000 Einwohnern) auf. Gegenüber den vergleichsweise niedrigen Angaben zur Künstlerzahl der Erhebung von 1925 sind die Ergebnisse der Statistik der 1933 durchgeführten Berufszählung erklärungsbedürftig. Obwohl das Spektrum der Berufsbezeichnungen für die Berufsgruppe der »bildenden Künstler« sich nur punktuell veränderte,100 lag die Zahl der in Halle ansässigen Künstler nun bei 67. In gleichem Maß haben sich die Künstlerzahlen für Magdeburg (72), Leipzig (336), Chemnitz (35) und Dresden (625) vervielfacht. Ursächlich für die viel öfter verwendete Künstlerbezeichnung war die mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 erfolgte Umdeutung des Kunstbegriffs, für den die »Wiedergeburt des Künstlerischen aus dem Handwerk«101 maßgeblich wurde. Unter diesem Leitgedanken kam es nicht weiter darauf an, autonomes Künstlerschaffen von kunstgewerblichem oder handwerklichem sauber zu trennen, wie es in den Jahrzehnten zuvor betrieben wurde. 100 Während zum Beispiel der Bilderreiniger, Idyllenmaler sowie Plakatmaler, Plakatzeichner und Reklamezeichner in der Aufzählung zur Berufsgruppe 374 im Jahr 1907 noch aufgezählt wurden, erschienen sie in der Berufszählung des Jahres 1933 in der Berufsgruppe der Bildenden Künstler (362) nicht mehr. Dafür wurden Berufe wie der Bühnenbildner und Bühnenmaler sowie Kopierer und Kunstbildhauer hinzugefügt. Jedoch fand keine Veränderung des Berufsverzeichnisses der bildenden Künstler statt, die das erhebliche Anwachsen der Zahlen zwischen den Zählungen 1925 und 1933 erklären würde. 101 So formulierte Wolfgang Herbert Keiser in einem Beitrag im Monatsprogramm Halle aus dem Jahr 1939 den Kerngedanken, dem die umbenannte »Meisterschule des deutschen Handwerks ›Burg Giebichenstein‹« Folge leistete. Im Artikel vermischt er mehrfach die Begriffe Kunst und Handwerk. Dabei entwertet er die der Kunst zugeschriebenen und wesenhaften Eigenschaften des Schöpferischen, Phantasievollen und Experimentierfreudigen als »mißverstandene[r] Freiheit oder unsinnige[r] Willkür«. Keiser war ab Februar 1938 als Assistent, ab 1939 als Kustos und später stellvertretender Direktor beim halleschen Kunstund Kunstgewerbemuseum angestellt. Vgl. Keiser, Die bildenden Künste, S. 8; Hüneke, Das schöpferische Museum, S. 22.
Künstlertum als prekärer Berufsstand?
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Fazit Die Untersuchung des Gewerbeverzeichnisses des halleschen Adressbuches über acht Jahrzehnte weist für die drei künstlerischen Disziplinen Architektur, Bildhauerei und Malerei ähnliche Entwicklungstendenzen auf. Insgesamt erfolgte eine Differenzierung der Berufe, die sich zwischen den Polen der ausführenden und gestalterischen Tätigkeit ansiedelten. Das führte zum einen dazu, dass sich Künstler im Verlauf des 19. Jahrhunderts explizit als solche ihrer Bezeichnung nach vom Handwerker unterschieden. Auf der anderen Seite entstand eine Vielzahl neuer Berufe, die Handwerk und Kunst auf der Grundlage angewandter Gestaltung integrierten. Zwar lassen die durch das Statistische Reichsamt ermittelten Daten insgesamt darauf schließen, dass die Zahl der in Halle ansässigen Künstler seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gestiegen war. Die enormen Schwankungen sind zurückzuführen auf Schwierigkeiten bei der Zuordnung und Definition des Künstlerberufs. Insbesondere in einer Stadt von der Konstitution Halles, in der der Künstlerberuf stark von handwerklichen Traditionen und kunstgewerblichen Aspekten gespeist wurde, und in einer Zeit, in der der Beruf und die Berufung des Künstlers hinterfragt wurden, führte die Anwendung eines starren Kriterienkatalogs zu widersprüchlichen Ergebnissen. Zudem berücksichtigte die Definition des Hauptberufs als desjenigen, »auf dem hauptsächlich die gegenwärtige Lebensstellung beruht und von dem im allgemeinen der Gesamterwerb oder dessen größter Teil herrührt«102, nicht die besondere Konstitution des Künstlerberufs, der von dem Widerspruch des werkrelevanten Schöpfens und berufspragmatischen Erwägungen geprägt war.103
3. Künstlertum als prekärer Berufsstand? – Einkommensverhältnisse hallescher Künstler 3.1 Zeitgenössische Perspektiven auf die Künstlerarmut – das Kunstgewerbe als Ausweg »Es gibt Arbeiten auf dem Berufsfelde des Malers, die ganz angemessen bezahlt werden können, und es gibt Maler wie Sand am Meer, die nichts zu leben haben. Aber die Leute sind für die Arbeit nicht tauglich. Die Arbeit wird infolgedessen von rein handwerklichen Kräften getan, und die künstlerisch Ausgebildeten hungern. Die
102 Vgl. Berufszählung. Die berufliche und soziale Gliederung der Bevölkerung des Deutschen Reichs, Teil I: Einführung in die Berufszählung 1925, S. 12. 103 Vgl. Thurn, Kunst als Beruf, S. 104–106.
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Wirkung für den Stand der Künstler ist die, daß neben verhältnismäßig ganz wenigen, die Anerkennung und Verdienst erringen, ein großes Proletariat heranwächst, das entsprechend seiner geringen Leistungen gering geschätzt wird.«104
Paul Schultze-Naumburg, bekannt geworden als Protagonist der traditionalistischen Kunsttheorie, Heimatschützer und späterer NSDAP-Politiker, beschrieb in einem 1906 erschienen Beitrag im Kunstwart die wirtschaftlichen Aussichten der Mehrzahl der Künstler als düster. Verantwortlich für die Untauglichkeit der zeitgenössischen Künstlerschaft waren seiner Ansicht nach Versäumnisse im künstlerischen Ausbildungswesen, das – egal ob Akademie oder Kunstgewerbeschule – keinen Wert auf die zeichnerische Ausbildung nach der Natur lege. So würden die ausgebildeten Künstler an den tatsächlich bestehenden und entsprechend entlohnten Aufgaben im Bereich der Entwurfszeichnung scheitern.105 Dabei war das Phänomen der Künstlerarmut schon früher, um die Mitte des 19. Jahrhunderts, in den Fokus des preußischen Kultusministeriums gerückt. Als Franz Theodor Kugler 1843 dort Referent wurde, beschrieb er in Bestandsberichten den Zusammenhang von Künstlerpauperismus, dem Auftreten der Kunstvereine als Distributionsplattformen, dem Verfall der Kunstpreise und dem generellen Absinken der Qualität der Kunstwerke. Seinen Berichten und der aus seinen Beobachtungen hervorgehenden kunstpolitischen Grundsatzerklärung, die ein visionäres Konzept zur Rolle des Staates in der Pflege der bildenden Kunst beinhaltete, folgten jedoch aufgrund fehlender finanzieller Ausstattung und politischen Desinteresses keine grundlegenden Taten.106 Größere Aufmerksamkeit erfuhr die Künstlerarmut auf Initiative der Künstlerverbände erneut in den Jahren nach der Wende zum 20. Jahrhundert. Die Meinungen über die Ursachen der verbreiteten Künstlerarmut gingen in den zeitgenössischen Analysen auseinander. Auch Paul Drey, der eine umfassende Studie zu den »wirtschaftlichen Grundlagen der Malerei« vorlegte, sah eine Ursache der wirtschaftlichen Bedrängnis in der fehlenden Ausbildung der Künstler, legte jedoch den Schwerpunkt auf die Vernachlässigung der Lehre in wirtschaftlich-pragmatischen Angelegenheiten, die den Künstler auf eine Existenz als Kleinunternehmer vorbereiten sollten. Andere sahen die nicht ausreichend kontrollierte Zulassung zum Kunststudium als einen wichtigen Grund für ein Übermaß an (untalentierten) Künstlern.107 Auch der Staat wurde als Schuldiger benannt, der die Interessen der Künstler nicht ausreichend und vor allem nicht gegenüber der Kunstindustrie schütze.108 Nicht wenige Autoren 104 Schultze-Naumburg, Maler-Erziehung, S. 384. 105 Vgl. ebd., S. 383. 106 Vgl. Holtz, Kultusministerium, S. 458–470. 107 Vgl. Drey, Grundlagen, S. 69/70. 108 Vor allem das Steuerrecht (Umsatzsteuer, Gewerbesteuer, Luxussteuer) beeinträchtige das Künstlergeschäft. Vgl. Hellwag, wirtschaftliche Lage, S. 171.
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lasteten den Künstlern selbst ihr Abrutschen unter das Existenzminimum an. Hier trat wiederum Drey als scharfer Kritiker auf, der den Künstlern mangelnde Anpassungsbereitschaft an die wirtschaftlichen Gegebenheiten der Gegenwart vorwarf: »Nicht aus zwingenden Motiven, nicht aus der Unmöglichkeit einer Organisierung resultiert diese organisationsfeindliche Tendenz des Berufes; eingewurzelte Vorurteile und eine grenzenlose wirtschaftliche Kurzsichtigkeit und Interesselosigkeit [Hervorhebung im Original, I. S.-W.] sind die Gründe dafür, daß es der Künstler nicht verstanden hat, sich einzugliedern in unser System der sozialen Zusammenhänge.«109
Im Gegensatz dazu kennzeichneten Lu Märten und Joachim von Bülow wirtschaftliche Misserfolge künstlerischer Unternehmungen als notwendige Eigenschaft künstlerischen Tuns, das jenseits der Gesetze von Angebot und Nachfrage seine Berechtigung habe. Dementsprechend sahen beide Autoren die gesellschaftliche Bedeutung künstlerischer Tätigkeit unterschätzt, die über den individuellen Bedarf hinaus gehe und deshalb außerhalb kapitalistisch organisierten Warentauschs gestützt werden müsse.110 Weitgehende Einigkeit herrschte in der Frage, wie dem Phänomen der Künstlerarmut zu begegnen sei. Neben der Forderung, dass sich bildende Künstler in einer Berufsgenossenschaft organisieren und auf parlamentarischer Ebene oder gegenüber anderen Berufsverbänden für ihre wirtschaftliche Besserstellung streiten müssten,111 legten die Zeitgenossen große Hoffnungen auf das Kunstgewerbe. Die Betätigung bildender Künstler im kunstgewerblichen Bereich, also die Konzentration auf Gegenstände alltäglichen Gebrauchs und Nutzens, sollte dabei nicht nur das Problem von Angebot und Nachfrage lösen. Man ging davon aus, dass ästhetisch anspruchsvoll gestaltete Gebrauchsgegenstände, als Einzelstück oder als Modell für die massenweise maschinelle Anfertigung, ein breiteres Publikum zum Kauf animieren würde. Zugleich beantwortete das Kunstgewerbe die Frage nach dem gesellschaftlichen Stellenwert künstlerischer Tätigkeit, die ihre Beziehung zum volksnahen Handwerk im 19. Jahrhundert verloren habe (Schultze-Naumburg). Ähnlich argumentierten andere Theoretiker und Künstler, die mit dem Kunstgewerbe sowohl einen Ausweg aus der Künstlerarmut als auch den pädagogischen und demokratisierenden Auftrag der bildenden Kunst erfüllt sahen. Drey sprach in diesem Zusammenhang von »ästhetischer Nutzproduktion«, die einerseits den Künstlern ein neues Betätigungsfeld zur finanziellen Sicherung erschlossen und andererseits den Beweis ihrer gesellschaftlichen Relevanz erbracht habe.112 Dennoch gab es erhebliche 109 Vgl. Drey, Grundlagen, S. 86 ff., Zitat S. 88. 110 Vgl. Märten, wirtschaftliche Lage, S. 136; Bülow, Künstler-Elend, S. 1 und 7 ff. 111 So forderten es Lu Märten und Paul Drey. 112 Vgl. Drey, Grundlagen, S. 183 f.
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Unterschiede und Wichtungen in der Frage, in welchem Verhältnis bildende und angewandte Kunst zueinander zu stehen hätten. Eine radikale Antwort auf diese Frage formulierte Joachim von Bülow, der forderte, dass jedwede künstlerische Äußerung »aus dem Volksbewußtsein entspringen …« müsse: »Es gibt nur einen Weg die Kunst wieder zu dem zu machen, was sie war, zu einem geachteten Beruf, der seinen Mann nährt: Die Kunst der Zeit anpassen [Hervorhebung im Original, I. S.-W.]. Die Forderung der Zeit ist jedenfalls nicht, daß Bilder geschaffen werden, wie es heute geschieht. Der überwiegende Zug geht in Richtung des Kunstgewerbes. Daß muß eine Warnung auch für den Bildermaler sein. Das Gemälde gehört schließlich an einen bestimmten Platz, die Skulptur nicht blos in die Mitte des Ausstellungssaales. Das Kunstobjekt ist kein selbstständiger Gegenstand und es ist deshalb unlogisch, von angewandter Kunst im Gegensatz zu reiner Kunst zu sprechen. Das Bild ist angewandte Kunst im Hause, wie die Beschläge an der Truhe und der zeichnerische Schmuck am Buche.«113
Er stand mit seiner Forderung nach der Unterordnung künstlerischen Schöpfertums unter den materiellen und ideellen Bedarf der Allgemeinheit vollkommen im Gegensatz zu Max Sauerlandt, der das hallesche Kunstmuseum zu einer überregional anerkannten Institution für die künstlerische Moderne machte und der in seinen Schriften die antizipative Fähigkeit des Künstlers beschwor und gegenüber der gewohnheitsmäßigen Ablehnung durch die Mehrheit der Gesellschaft verteidigte.114 Weniger dogmatisch betrachtete die Publizistin und Kunstkritikerin Lu Märten das wirtschaftliche Potential, das das Kunstgewerbe als Betätigungsfeld für bildende Künstler bot. Sie richtete ihr Augenmerk dabei, anders als Bülow, auf die industrielle Ausführung von von Künstlern entworfenen Modellen, über die diese dann im Sinn des Urheberschutzes auch weiterhin verfügen müssten, um langfristig davon zu profitieren.115 Der weitverbreiteten Wahrnehmung grassierender Armut unter den Künstlern gingen einige zeitgenössische Untersuchungen auf den Grund, die Anhaltspunkte für die tatsächliche Einkommenssituation bildender Künstler in Deutschland am Vorabend des Ersten Weltkrieges liefern.116 113 Bülow, Künstler-Elend, S. 30. 114 Vgl. Sauerlandt, Künstler im Staat, S. 109. Siehe zum Künstlerbild Sauerlandts Kap. III., 2.1.2. 115 Abgesehen davon plädierte sie für die Autonomie der Kunst, die generell nicht mit den wirtschaftlichen Strukturen des Kapitalismus kompatibel sei: »Die Konsequenzen einer gesicherten Künstlerexistenz sind in erster Linie in der Unabhängigkeit gegenüber dem Markt zu suchen, in der Freiheit des Schaffens ohne Einfluss unkünstlerischer Tendenzen.« Vgl. Märten, wirtschaftliche Lage, S. 139. 116 In dieser Riege scheinen die Schätzungen Joachim von Bülows am wenigsten nachvollziehbar und valide. Dabei wägt er die Zahl der jährlich produzierten, ausgestellten und verkauften Kunstwerke unter Berücksichtigung von Material- und Transportkosten sowie Verkaufsprovisionen und Ausstellungsbeteiligungen mit der von ihm geschätzten Zahl von
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Beruhend auf den reichsweit durchgeführten Berufs- und Gewerbezählungen sowie Befragungen der Künstlerverbände berichteten Paul Drey und Fritz Hellwag, die die Ergebnisse ihrer Untersuchungen 1910 bzw. 1922 veröffentlichten, von einer erheblichen Zunahme der Künstler vor allem in den Großstädten. In den traditionellen Kunststädten München, Weimar, Dresden und Karlsruhe war nach Drey die Zahl der Künstler zwischen 1913 und 1922 um 10–15 % gestiegen. Ihre Gesamtzahl hätte sich im gleichen Zeitraum von etwa 8.000 auf 10.000 vermehrt. Um der ökonomischen Notlage zu entgehen, habe parallel zur Expansion des Künstlertums in den Großstädten eine Abwanderung in kleinere Städte stattgefunden. Als Ursache dieser Entwicklung kritisierte Drey die Vielzahl der zur Ausbildung zugelassenen Berufsanwärter sowie das literarisch kolportierte Bild vom brotlosen, aber zufriedenen Künstler. Zudem seien die Expansion und der Erfolg kunstgewerblicher Industrien und Manufakturen verantwortlich für den Zustrom. Zunehmend würden sich auch Frauen als Künstlerinnen oder im kunstgewerblichen Bereich beruflich betätigen und die ohnehin gewachsene Konkurrenzsituation der Künstler untereinander noch belasten. Das künstlerische Überangebot habe in der Folge zu einer spürbaren Verarmung der Künstler geführt.117 Hellwag konstatierte für seine Untersuchung, die sich auf einen »reichen Bezirk einer sehr großen norddeutschen Kunststadt« bezog, dass die Einnahmen aus künstlerischer Tätigkeit von über 80 % der Malerinnen, knapp 35 % der Maler, etwa 20 % der Bildhauer und 10 % der Architekten im Jahr 1921 unterhalb des Existenzminimums lagen.118 In seine Studie waren die Angaben von 40 Künstlerinnen, 101 Malern, 29 Bildhauern und 20 Architekten eingegangen. Gegenüber 1913 war das durchschnittliche Einkommen der Künstler nach dem Krieg nur wenig gestiegen (um etwas das Fünffache) und gemessen an den extrem höheren Lebenshaltungskosten (etwa 40-fache Steigerung) äußerst bescheiden.119 Dementsprechend seien die Zahl der unterstützungsbedürftigen Künstler und die Bedeutung des nebenberuflichen Verdienstes gestiegen. Zudem bemerkte er im Tätigkeitsprofil der Künstler eine Entwicklung hin zur Produktion kunstgewerblicher Gegenstände, die aufgrund ihrer Nützlichkeit besseren Absatz fänden, ohne dass die befragten Probanden einen dezidierten Berufswechsel vorgenommen hätten. Aussagen zur Sozialstruktur der deutschen Künstlerschaft trifft Paul Drey in seiner 1910 erschienen Monografie. Seine Aussagen basieren auf der Auswer3.000 praktizierenden Künstlern ab (1911). Seiner Schätzung zufolge können ca. 1.000 Künstler von den Einkünften aus ihrem Beruf leben. Vgl. Bülow, Künstler-Elend, S. 1–6. 117 Drey, Grundlagen, S. 74 ff. 118 Hellwag geht von einem jährlichen Existenzminium von 8.000 Mark für Frauen und 15.000 Mark für Männer aus. Vgl. Hellwag, wirtschaftliche Lage, S. 155/156. 119 Hellwag zufolge stand einer Steigerung der Lebensmittel- und Materialpreise um durchschnittlich 40 % ein prozentuales Wachstum des Künstlereinkommens um nur 5 % gegenüber (verglichen wurden die Zahlen von 1913 und 1921).
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tung der Reichsstatistiken der Jahre 1895 und 1907 (allgemein und beispielhaft in Bayern) sowie eigenen Beobachtungen: So zeigten die reichsweit durchgeführten Berufs- und Gewerbezählungen dieser Jahre, dass die Zahl der einen künstlerischen Beruf Ausübenden (siehe Kap. IV, 2.2) besonders in den Städten stark angestiegen war. Die dominierende Wirtschaftsform im Künstlergewerbe bestand dabei im wirtschaftlich selbstständig geführten Kleinbetrieb mit einer unterdurchschnittlichen Anzahl an unselbstständigen Beschäftigten oder Gehilfen. Die soziale Herkunft der Künstler beschrieb Drey als sehr heterogen, wobei alle »Klassen« vertreten seien.120 Unter den Künstlern selbst nahm er eine Dreiteilung der sozialen Schichtung vor, die zwischen einer kleinen Klasse der Malerfürsten, einem heterogenen Mittelstand sowie einem breiten Künstlerproletariat unterschied. Der Dreiteilung zugrunde legte er die »wirtschaftlichen und künstlerischen Erfolge im Kampfe um Anerkennung und Existenz«.121 Nähere Aussagen über die Zuordnungskriterien und Grenzverläufe zwischen den Schichten machte er dabei nicht. Das künstlerische Talent habe dabei keinen Einfluss auf die Zugehörigkeit zu einer der Gruppen.122
3.2 Künstlersein und Armutsrisiko in Halle Tatsächlich ist es methodisch sehr schwierig, valide Aussagen über die soziale Zusammensetzung der Künstlerschaft zu treffen und den Anteil der in prekären Verhältnissen lebenden Künstler zu bestimmen. Dabei stellt das größte Problem die Konstruktion einer Bezugsgruppe dar, von der ausgehend die Zuordnung zu verschiedenen sozialen Formationen erfolgen könnte. Selbst bei der Beschränkung auf die Künstler einer Stadt in einem klar umgrenzten Zeitraum ist es kaum möglich, alle in Frage kommenden Personen zu ermitteln, die als Ausgangspunkt statistischer Analyse dienen können, ganz zu schweigen von der Verfügbarkeit vergleichbarer Daten für eine bestimmte Dimension sozialer 120 Genauere Angaben über die soziale Herkunft macht Klaus von Beyme, allerdings in Bezug auf die zwischen 1905 und 1955 der künstlerischen Avantgarde angehörenden Künstler, die seiner Analyse nach vorrangig aus dem mittleren Bürgertum stammten. Danach ordnete er 18,2 % ihrer sozialen Herkunft nach dem Handwerkerstand bzw. kleinen Händlern und Gewerbetreibenden zu, 26,6 % stammten aus Akademikerhaushalten (darunter 8,3 % aus Künstlerfamilien), 22,4 % der erfassten Künstler wuchsen in Unternehmerfamilien auf, das Beamtentum bzw. das Militär bildete den familiären Hintergrund von 12,5 % der Künstler, 7,3 % stammten aus landwirtschaftlich orientierten Familien und schließlich 5,2 % kamen aus Arbeiterfamilien. Dabei stellte er zwischen der sozialen Herkunft und der politischen Orientierung der Avantgardekünstler eher einen evidenten Zusammenhang als zwischen sozialer Herkunft und stilistischer Orientierung fest. Vgl. Beyme, Zeitalter der Avantgarden, S. 44–46. 121 Drey, Grundlagen, S. 82. 122 Vgl. ebd., S. 81/82.
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Ungleichheit, die es erlauben, die Gruppe der Künstler zu kategorisieren. Und dennoch besteht eine Möglichkeit, die sozio-ökonomische Stratifikation der halleschen Künstlerschaft quantitativ zu beschreiben. Serielle Quellen, die jeweils einen Ausschnitt der Gesamtheit der in Halle tätigen Künstler zu bestimmten Zeiten oder Zeitpunkten nach spezifischen Merkmalen erfassten, bieten einen pointierten Zugang für die Frage nach der sozialen Beschaffenheit des historischen Künstlerstandes der Stadt. Die für die Wahl des preußischen Abgeordnetenhauses im Januar 1894 angefertigte Liste der Urwähler (die zunächst Ende Oktober 1893 die Wahlmänner ihres Wahlbezirks bestimmten) in Halle verzeichnet alle in den 62 städtischen Abstimmungsbezirken wahlberechtigten Personen.123 Wahlberechtigt waren alle männlichen Gemeindemitglieder ab 24, die im Besitz der bürgerlichen Ehrenrechte und nicht auf öffentliche Unterstützung angewiesen waren. Die Wahl erfolgte nach den Regeln des Dreiklassenwahlrechts, bei dem auf kommunaler Ebene die Wähler anhand ihres Steueraufkommens jeweils einer der drei Steuerklassen zugeordnet wurden.124 Mit der Steuerreform vom 24. Juni 1891 wurde die bisher anhand der Lebenshaltung bzw. Berufszugehörigkeit ermittelte Klassen- bzw. klassifizierte Steuer durch eine progressive Einkommensteuer ersetzt, die das individuelle Einkommen berücksichtigte.125 Anhand der Eintragungen in der Urwählerliste kann demnach auf das Einkommen der betreffenden Personen geschlossen werden. Lag das jährliche Einkommen der veranlagten Person unter 900 Mark, wurde keine Einkommensteuer erhoben. Um jedoch die zahlenmäßige Verteilung der Wähler auf die drei Wahlklassen nicht zu stark umzuverteilen, wurde bei den nicht zur Einkommensteuer veranlagten Wählern ein fingierter Betrag von 3 Mark eingesetzt.126 Die Ermittlung der Steuern erfolgte mehrstufig. Bei Einkommen bis 3.000 Mark jährlich musste nicht zwingend eine Steuererklärung abgegeben werden und erfolgte die Steuerermittlung durch die Einschätzung einer örtlichen Kommission. Die von der Kommission gegebene Voreinschätzung wurde schließlich durch die von der Gemeinde bestellte Veranlagungskommission überprüft und gegebenenfalls korrigiert. Die Eintragungen der Voreinschätzungskommission beruhten auf behördlichen Auskünften und Informationen, die sie direkt vom Steuerpflichtigen erhob. Die Richtigkeit der Angaben wurde zum einen durch die erwähnte 123 StH, Wahlbüro, Kap. IX Abt. Nr. 10, Bd. 1. 124 Neben der Einkommensteuer wurden auch die Gewerbe-, Grund- und Gebäudesteuer für die Zuordnung zu den Klassen herangezogen. Vgl. ebd. 125 Vgl. Kühne, Handbuch, S. 18–20. 126 Die vom preußischen Finanzminister Johannes von Miquel verantwortete Steuerreform belastete zwar die höheren Einkommen durch die progressive Gestaltung der Steuer sowie durch die neu eingeführte Ergänzung (Vermögenssteuer) stärker als bisher, die Grundstrukturen des Dreiklassenwahlrechts blieben jedoch beibehalten. Vgl. Meitzen, Einkommensteuergesetz.
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Veranlagungskommission überprüft und unterlag zum anderen der Kontrolle durch das soziale Umfeld, indem die Wählerlisten öffentlich ausgelegt wurden und damit auch für den Nachbarn einsichtig waren.127 Im Gewerbeverzeichnis des halleschen Adressbuchs für das Jahr 1893 sind 30 Architekten, 39 Holz- und Steinbildhauer sowie 10 Porträt-, Landschaftsund Genremaler verzeichnet. Nicht alle der aufgeführten Personen gingen jedoch einer dezidiert künstlerischen oder kunstgewerblichen Tätigkeit nach. Die 1895 durchgeführte Berufszählung des Statistischen Reichsamtes erfasste insgesamt nur 11 Künstler (Maler und Bildhauer) in Halle. Während die Porträt-, Landschafts- und Genremaler als relativ homogene Gruppe künstlerisch orientierter Berufstätiger erscheint, waren innerhalb der Architekten und Bildhauer die Übergänge zu einer handwerklich orientierten Berufsauffassung fließend. Wie die näheren Berufsangaben bzw. Geschäftsbezeichnungen nahelegen, befinden sich unter den Architekten zahlreiche Handwerksmeister, Bauunternehmer und Techniker. Bei den Bildhauern herrscht ebenfalls eine große Nähe zum Handwerk, wie die hohe Zahl an Drechsler- sowie Steinmetzmeistern und Stuckateuren zeigt. Unter den Architekten befinden sich insgesamt neun Einträge im Adressbuch, die sich als »Ateliers für Architektur« mit Betonung ihres schöpferischen Anspruches von den übrigen Firmen und Büros unterscheiden.128 24 der 30 im Adressbuch verzeichneten Architekten waren in der 1893 erstellten Urwählerliste auffindbar und unter anderem mit »Stand oder Gewerbe«, Lebensalter129 sowie einzelnen Steuerbeträgen (Einkommensteuer, Gewerbesteuer, Gebäudesteuer und Grundsteuer) und der Summe der Steuern eingetragen (Grafik 2). Die Hälfte der Architekten (13) erwirtschaftete ein mittleres Einkommen von jährlich 2.100 bis 5.000 Mark130 (zum Vergleich: Der durchschnittliche Jahresverdienst von Arbeitern in Deutschland in Industrie, Handel und Verkehr lag 1895 bei 665 Mark131; ein hallescher Lokomotivführer verdiente zwischen 1.200 und 2.700 Mark). Sieben dieser Berufskategorie Angehörenden verdienten deutlich mehr oder waren sehr vermögend (hohe Beträge 127 Vgl. ebd., S. 40 und 48 ff. 128 Ein weiterer Architekt verweist in seiner Geschäftsanzeige auf seine akademische Ausbildung. Erst nach 1900 wurde die sich praktisch durchsetzende Unterscheidung entwerfender Architekten und bauausführender Unternehmer mit der Gründung des Bundes Deutscher Architekten und damit das Selbstverständnis eines Teils der Architekten als Künstler Rechnung getragen. Zum Zeitpunkt der Zusammenstellung der Urwählerliste wurde darauf nur in Ansätzen Wert gelegt, und die meisten Architekten boten sowohl ihre Dienste als Entwurfszeichner als auch als Bauausführer an. Siehe voriges Kapitel. 129 Die Hälfte der 24 Architekten war zwischen 31 und 40 Jahren alt. Weitere 9 lagen in der Altersgruppe der 42–50-Jährigen und 3 lagen in ihrem Alter noch darüber. 130 Anhand einer Tabelle, die den einzelnen Einkommensstufen den jährlichen Steuersatz zuordnet, lässt sich das Einkommen der Personen bestimmen. Vgl. Meitzen, Einkommensteuergesetz, S. 108 ff. 131 Vgl. Desai, Real Wages, S. 125.
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Künstlertum als prekärer Berufsstand? Einkommen »Architekten« in der Wählerliste 1893 1
0
2
3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
5000
18 Mittelwert*
10000
19 20
21
1 P. v. Kloch, Architekt, Atelier f. Bauausführungen 2 E. Lutze, Baumeister, Atelie r f. Kirchen- und Profanarchitektur 3 K. Höhne, Baumeister und Architekt 4 K. Herr, Architekt 5 A. Schulze, Privatbaumei ster und Stadtverordneter 6 G. Buchwald, Architekt, Baugeschäft 7 M. Berner, Architekt und Maurermeister 8 E. Lohausen, Baumeister 9 K. Göhring, Privatbaumeister 10 F. Fahro, Baumeister, Baustube f. Architektur und Bauausführungen 11 K. Hernsdorf, Architekt 12 A. Giese, Baumeister, Büro f. Architektur und Bauausführung 13 W. Freytag, Reg.baumeister 14 Th. Lehmann, Baumeister, Bureau f. Architektur 15 F. Gygas, Privatbaumeist er, Atelier f. Architektur 16 E. Giese, Baumeister, Büro f. Architiektur und Bauausführung 17 G. Zimmermann, Architekt, Atelier f. akadem. Architektur u. Bauausfühungen 18 H. Wrede, Baumeister, Atelier f. Architektur u. Bauausführungen 19 F. Thierichens, Baumeister, Ate lier f. Architektur und Bauausführungen 20 O. Stengel, Architekt, Atelier f. Architektur u. Ingeneuerwesen 21 F. Kallmeyer, Reg.baumeister, Tec hnisches Büro f. Hoch- u. Tiefbau 22 R. Knoch, Reg.baumeister 23 H. Walter, Privatbaumeister 24 F. Kuhnt, Maurer- und Zimmermeister
22
15000
23 20000
25000
30000
24** 35000
40000
Jahreseinkommen in Mark
Grafik 2: Den aus dem Adressbuch und weiteren Quellen ermittelten Architekten, Bildhauern und Malern wurden ihre Berufs- und Geschäftsbezeichnungen laut dem Adressbuch der Stadt Halle beigegeben. Die Berufsbezeichnungen der Wählerliste fallen zumeist weniger spezifisch aus. Da aus der Wählerliste lediglich die gezahlten Staatssteuern und nicht das erzielte Einkommen hervorgeht, wurde jeweils das arithmetische Mittel einer Einkommensstufe zugrunde gelegt (siehe Abb. 7). * bereinigter Mittelwert: Die Einkommen von Paul von Kloch und Friedrich Kuhnt wurden aus der Berechnung des durchschnittlichen Einkommens herausgenommen. ** Das Jahreseinkommen Friedrich Kuhnts lag 1893 bei etwa 71.000 Mark. Um die Darstellung der Einkommen im Vergleich anschaulich zu halten, wurde sein Einkommen auf 35.000 Mark gesetzt.
vor allem in der Gebäudesteuer).132 Das Spitzeneinkommen lag mit deutlichem Abstand bei 70.000–72.000 Mark und verdankte sich dem Aufstieg Friedrich Kuhnts, der sich in der Urwählerliste als »Architekt, Maurer- und Zimmermeister« bezeichnete, zum Fabrikbesitzer. Deutlich über dem Durchschnitt lagen auch die Einkommen der Geschäftspartner und Firmeninhaber Friedrich Kallmeyer (12.500–13.500 Mark) und Reinhold Knoch (16.500–17.500 Mark), 132 Von den 24 Architekten wählten 6 in der ersten und 5 in der zweiten Wählerklasse.
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Künstlersein in Halle
Künstlertum als prekärer Berufsstand?
Abb. 6 und 7: Beispiele für die nach dem neuen Steuergesetz von 1901 festgelegten Einkommensteuersätze. Die Tabelle endet auf S. 111 bei der 94. Steuerstufe, die Einkommen von 160.000–165.000 Mark mit 6.400 Mark versteuert. (Besteuerung wird »in Stufen von je 5.000 Mark um je 200 Mark« fortgesetzt.) Meitzen, Einkommensteuergesetz, S. 108 und 109.
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die gemeinsam ein »Technisches Büro für Hoch- und Tiefbau« führten und mit Gustav Wolff zu den halleschen Begründern der Ortsgruppe Sachsen-Anhalt des Bundes Deutscher Architekten zählten. Deutlich darunter lag der durchschnittliche Verdienst der Stein- und Holzbildhauer (Grafik 3). 22 der 30 (von 39 Einträgen im Gewerbeverzeichnis) in der Urwählerliste auftauchenden Bildhauer waren den ersten zehn Steuerstufen zugeordnet, sie hatten demnach ein jährliches Einkommen zwischen 900 und 3.000 Mark. Sie bewegten sich damit in den gleichen Einkommensklassen wie die meisten der zeitgleich in Halle beschäftigten Lokomotivführer. Immerhin 5 Berufszugehörige verdienten weniger als 900 Mark und waren nicht zur Einkommensteuer veranlagt. Den höchsten Verdienst erzielte der Bildhauer Paul Reiling, dessen jährliches Einkommen zwischen 5.500 und 6.000 Mark lag und der ein »Atelier für Cement- und Stuckdekoration« betrieb. Sein Einkommen war dem eines Oberrealschuldirektors, Postdirektors oder Rechtsanwalts vergleichbar. Reiling wurde 1877 an der Berliner Akademie der Künste immatrikuliert133 und leitete interimsmäßig nach dem Tod von Franz Otto als Kurator das hallesche Museum für Kunst und Kunstgewerbe. Neben ihm erscheinen noch drei weitere Bildhauer, die durch andere Quellen als Künstler gekennzeichnet werden und sich von den kunsthandwerklichen bzw. handwerklichen Vertretern des Bildhauereifaches abheben: Gustav Glück stammte wie Reiling aus dem Umfeld des Berliner Professors Fritz Schaper und betrieb bis zum Beginn der neunziger Jahre ein Geschäft für Holzbildhauerei, Stuckarbeiten und Zinkgießerei. War er in der Wählerliste des Jahres 1873 noch in der dritten Wählerklasse verzeichnet, zahlte er 1877 einen Steuersatz, der ihn für die Wahl in der zweiten Wählerklasse berechtigte.134 Auch Heinrich Keiling verfügte zum Zeitpunkt der Erfassung in der Urwählerliste über ein Einkommen von 2.400 bis 2.700 Mark (zahlreiche Handwerksmeister erreichten ein ähnliches Ein
133 Vgl. StH, AU 1708. Seinen Titel eines akademischen Bildhauers fügte er seiner Geschäftsbeschreibung hinzu und konnte sich so von den meisten seiner Mitbewerber absetzen. 134 Gustav Glück wird neben Heinrich Keiling und Paul Reiling im Museumsführer Franz Ottos (1900) als einer der wenigen Künstler genannt, die sich im 19. Jahrhundert in Halle niederließen. Als Schüler aus dem Umfeld des Berliner Professors Fritz Schaper habe er sich aufgrund der wirtschaftlichen Bedingungen dem Kunstgewerbe zugewandt. Wahrscheinlich starb er zu Beginn der neunziger Jahre. In der Urwählerliste aus dem Jahr 1893 ist er nicht mehr verzeichnet. Die Urwählerliste aus dem Jahre 1873 verzeichnet ihn mit einem Einkommen von 600 Mark in der dritten Wählerklasse (damit verdiente er genau so viel wie ein Konditor und Buchhändler in der gleichen Liste). 1877 zahlte er insgesamt 326,50 Mark Steuern und war in die zweite Steuerklasse aufgestiegen. Vgl. StH, Wahlbüro Kap. VII, Nr. 6, Nr. 904; StH, Wählerliste, Kap. VII, Nr. 7, Abteilungsliste der wahlberechtigten Bürger der Stadt Halle, WK 2, Latus 1.
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Künstlertum als prekärer Berufsstand? Einkommen »Bildhauer« in der Wählerliste 1893 1 2 3 4 5
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500
6 7 8 9
1000
10 11 12
13
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1500
19 20 Mittelwert 22 23 24
2000
25
2500
26 27 28
29 3000
30 3500
4000
31 4500
5000
Jahreseinkommen in Mark
1 2 3 4 5
R. Hahn, Stuckateur H. Koch, Holzbildhauer O. Kohlbach, Stuckateur A. Lutz, Holzbildhauerei und Drechslerei E. Schurig, Drechslermeister und Holzbildhauer 6 F. Augustin, Drechsler und Bildhauer 7 H. Langrock, Holzbildhauer u. Drechsler 8 K. Wittstock, Bildhauer, Werkstatt für Stuckarbeiten 9 G. Zimmermann, Bildhauer 10 H. Hühn, Holzbildhauer 11 A. Kohlbach, Bildhauer und Stuckateur 12 E. Kronefeld, Holzbildhauer 13 H. Seifert, Bildhauer und Stuckateur 14 R. Besser, Holzbildhauer, Anfertigung von Entwürfen und Ausführungen kunstgewerblicher Gegenstände für Holzbildhauerei und Drechslerarbeiten 15 H. Diedrich, Holzbildhauer u. Drechslermeister 16 G. Feseler, Bildhauer und Drechslermeister 17 E. Riedel, Holzbildhauerei und Drechslerei
18 O. Staudte, Bildhauerei, Lager von Grabdenkmälern 19 F. Eschke, Schnitz- und Kunstdrechslerei 20 P. Reiling, Akad. Bildhauer, Atelier f. Cement- und Stuckdecoration 21 W. Zschäge, Bildhauer, Stuck- u. Cementwarengeschäft 22 K. Schellenberg, Holzbildhauer 23 F. Mänicke, Bildhauer 24 A. Kohlbach, Bildhauer und Stuckateur 25 H. Keiling, Bildhauer, Bildhauerei und Stuckgeschäft 26 F. Söllinger, Bildhauer und Steinmetzmeister 27 R. Thieme, Steinmetzmeister, Stein- und Bildhauerei 28 M. Keferstein, Bildhauer 29 F. Schulze, Steinmetzmeister, Größtes Lager von Grabmonumenten in Granit, Synit, Serpentin, Marmor und Sandstein, sowie Werkstatt zur Ausführung sämmt licher Stein- und Bildhauerarbeiten 30 E. Schober, Stein- und Bildhauerei
Grafik 3: Die im Adressbuch zugegebenen Berufsangaben bzw. Leistungsbeschreibungen bezeichnen ihre häufige Nähe zum dekorativen statt schöpfenden Tätigkeitsprofil als Stuckateure und Drechsler.
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Künstlersein in Halle
kommen).135 Innerhalb der Gruppe der Holzbildhauer lag ihr Einkommen damit deutlich über dem Durchschnitt. Anders als bei den Steinbildhauern, deren durchschnittliches Einkommen deutlich höher lag und die zudem öfter zur Gewerbesteuer veranlagt waren, gab es zahlreiche Holzbildhauer, die sehr geringe Verdienste aufwiesen.136 Fritz Mänicke, der gemeinsam mit Martin Keferstein ein Geschäft für Steinbildhauerei betrieb, erwirtschaftete ein persönliches Einkommen, das zwischen 2.100 und 2.400 Mark lag, und bewegte sich damit im Mittelfeld der Einkommen der Steinbildhauer. Innerhalb der gesamten Gruppe der Bildhauer, in der nicht zwischen Handwerk, Kunstgewerbe und bildender Kunst unterschieden wurde, erwirtschafteten die Künstler (als solche durch eine akademische Ausbildung sowie die Mitgliedschaft in einem Künstlerverein gekennzeichnet) ein überdurchschnittliches Einkommen. In der Kategorie der Landschafts-, Porträt- und Dekorationsmaler im Gewerbeverzeichnis des Adressbuchs im gleichen Jahr waren deutlich weniger Personen als bei den Architekten und Bildhauern verzeichnet. Wie im Vorfeld betrachtet, war auf dem Gebiet der Malerei die Unterscheidung entwerfender (künstlerischer) und ausführender (handwerklicher) Berufszugehöriger bereits am Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Die 10 verzeichneten Maler, von denen 6 in der Wählerliste mit Angaben zu Person und Steueraufkommen aufzufinden waren, glichen sich in ihrer Tätigkeit und ihrem Verständnis als Künstler deutlicher als die Zugehörigen der beiden vorstehenden Berufsgruppen (Grafik 4). Unter den sechs Berufsvertretern finden sich sowohl niedrige als auch hohe Einkommen. Der Porträtmaler Otto Rosenbaum erzielte in diesem Jahr ein Einkommen von 900–1.050 Mark, der Kunstmaler Emil Palm war in der nächsthöheren Steuerstufe (1.050–1.200 Mark) veranlagt. Drei mit ihrem Einkommen (1.650–3.000 Mark) darüber liegende Kunstmaler führten ihre Berufsbezeichnung zugleich als Zeichenlehrer bzw. akademischer Zeichenlehrer.137 Das höchste Einkommen erzielte der Landschaftsmaler Karl Nietschmann, dessen jährliche Einnahmen zwischen 4.500 und 5.000 Mark lagen. Die für die Gemeindewahlen 1915 angelegte Wählerliste ist aufgrund der nur noch summarisch erfassten Steuerbeträge für Angaben über das Einkommen einzelner Personen weniger geeignet. Die für etwaige Gebäude, Grundstücke 135 Keiling und Mänicke waren Mitglieder des Künstlervereins auf dem Pflug und in der Hallischen Mappe mit Abbildungen ihrer Werke vertreten. Vgl. Hallische Mappe, S. 17/18, 91/92. 136 Von den 19 in der Wählerliste erfassten Holzbildhauern waren 5 in den untersten beiden Steuerstufen eingetragen (Verdienst unter 1.200 Mark im Jahr) und weitere 5 hatten ein Einkommen von unter 900 Mark. 137 Das Einkommen des Akademischen Zeichners und Zeichenlehrers Hermann Schenck, der seit 1870 im Dienst der Universität stand, belief sich auf etwa 3.000 Mark und lag damit ebenfalls in der mittleren Einkommensgruppe wie die übrigen Künstler, die sich ebenfalls als Kunstlehrer betätigten.
257
Künstlertum als prekärer Berufsstand? Einkommen »Maler« in der Wählerliste 1893 H. Arendsen, Dekorations- und Porträtmaler O. Rosenbaum, Portraitmaler A. Boltze, akadem. Maler und Zeichenlehrer E. Palm, Kunstmaler K. Zielke, Glasmaler F. Gehrts, Kunstmaler und Illustrator
Mittelwert J. Schwartz, Kunstmaler und Zeichenlehrer H. Schenk, Maler und akadem. Zeichenlehrer K. Nietschmann, Landschaftsmaler 0
500
1000
1500
2000
2500
3000
3500
4000
4500
5000
Jahreseinkommen in Mark
Grafik 4: Die im Gewerbeverzeichnis eingetragenen malenden Künstler verdienten demnach durchschnittlich weit weniger als die Architekten, rutschten aber nicht unter die unterste Einkommensteuerstufe von 900 Mark. Trotzdem weisen die Einkommen der Maler eine hohe Spannbreite zwischen den niedrigsten und vergleichsweise hohen Steuerstufen auf.
und Gewerbe entrichteten Steuern waren darin ebenso enthalten wie die aussagekräftigere Einkommensteuer. Erschwerend kommt hinzu, dass der im September 1914 begonnene Erste Weltkrieg den wirtschaftlichen Normalverlauf stark irritierte und Wehrdienstpflichtige ihrem beruflichen Alltag entzog. Dennoch erlaubt auch diese Wählerliste eine Einschätzung der relativen Verteilung des Wohlstandes unter den Künstlern (Grafik 6). Unter den 33 verzeichneten Architekten im Gewerbeverzeichnis des Adressbuchs von 1915 zeichnen sich 8 durch ihre dort vermerkte Mitgliedschaft im Bund Deutscher Architekten und damit durch ein künstlerisches Selbstverständnis aus. Weitere 5 Architekten gehörten dem BDA ab einem späteren Zeitpunkt an und werden in der Auswertung ebenfalls berücksichtigt.138 Die Zahl der Bildhauer139 (4) und Maler (8)140, die einerseits durch genauere Kategorisie 138 Darüber hinaus war Georg Rödiger Mitglied des Deutschen Werkbundes. Vgl. Adressbuch Halle 1915, III. Teil, S. 2. 139 Neben der Kategorie der Bildhauer werden Werkstätten für Holz- und Steinbildhauerei aufgeführt, die ich aufgrund ihrer Nähe zum Handwerk jedoch nicht in die Untersuchung einbeziehe. 140 Als bildende Künstler zähle ich in der weit aufgefächerten Kategorie der Maler (a–i) c) Kunstmaler und e) Porträtmaler.
258
Künstlersein in Halle
Vergleich der Künstlereinkommen nach Disziplinen 1893 10000
Jahreseinkommen in Mark
9000 8000 7000 6000
Mittelwert
5000
bereinigter Mittelwert
4000
Median
3000 2000 1000 0
Architekten
Bildhauer
Maler
Grafik 5: Der Vergleich der drei Berufsgruppen anhand des Mittelwertes bzw. des Medians ihrer Jahreseinkommen weist darauf hin, dass insbesondere unter den Architekten die geringsten und höchsten Einkommen weit auseinander lagen. Der gegenüber Ausreißern weniger sensible Median bestätigt, dass einige der Architekten wesentlich mehr verdienen als der größere Teil der Berufszugehörigen. Im Vergleich dazu liegen die Einkommen der Bildhauer und Maler deutlich näher beieinander.
rungsbestrebungen im Adressbuch und andererseits mithilfe weiterer Quellen als Künstler identifiziert werden können, ist gegenüber 1895 nicht gestiegen. Im Zug der Verselbstständigung kunstgewerblicher Berufsmodelle kommen für die Auswertung jedoch weitere Berufsgruppen hinzu (Glasmaler, Maler für Kunstgewerbe, Theater-Dekorationsmaler, Zeichner für Kunst und Industrie). Von den 11 in der Wählerliste auffindbaren Architekten (von 13 Angehörigen des BDA) waren 2 in der ersten, 3 in der zweiten und 6 in der dritten Wählerklasse verzeichnet. Das Steueraufkommen der in dieser dritten Klasse Wählenden betrug durchschnittlich 186 Mark (keiner zahlte unter 125,40 Mark). Ein sehr deutlicher Zusammenhang besteht dabei zwischen Lebensalter und Steuer- bzw. Einkommensniveau. Während die etablierten Architekturbüros und diejenigen, die schon 1915 mit dem Prädikat des BDA versehen waren, durchschnittlich zu etwa 1.880 Mark Steuern veranlagt waren, lagen die Jüngeren (die erst später Mitglied im Architektenbund werden und sich erst in den vorangegangenen Jahren als Architekten selbstständig gemacht hatten) mit 250 Mark deutlich darunter.141 141 Die durchschnittliche Steuersumme der Architekten, die nicht dem BDA angehörten, lag mit 700 Mark deutlich unterhalb des Betrages der fünf etablierten Architekten, die diesen Titel 1915 trugen.
259
Künstlertum als prekärer Berufsstand?
Summarisches Steueraufkommen versch. Berufsgruppen und Einzelpersonen 1915 1200
Jahressteueraufkommen in Mark
1000
Mittelwert Median
800
personenbezogenes Steueraufkommen
600
400
200
Ar ch Bi ite ld ha kt en ue rw er ks tä tte n G las D m ek ale or r at io ns m ale r Pa ul Re ili Fr ng itz M än ick e Th Pa eo ul do H or rP n re e tz W m ilh an elm n O Sc tto h rö Fi sc de he r r-L am be rt
0
Grafik 6: Im Unterschied zu den Grafiken, die das Jahreseinkommen der Personen und Berufsgruppen basierend auf der Wählerliste des Jahres 1893 ermitteln, können für 1915 lediglich die summarischen Steuerbeträge für den Vergleich der jeweiligen Einkommensverhältnisse herangezogen werden. Zwar ist damit keine konkrete Aussage zum Jahresverdienst möglich, da im Steuerbetrag auch Grund- und Wohneigentum sowie die Selbstständigkeit als Gewerbetreibender berücksichtigt wird. Dennoch liefert auch der Jahressteuerbetrag in Summe Hinweise auf die ökonomische Situation bestimmter Berufe oder einzelner Berufsangehöriger.
Wie schon beim Vergleich der Einkommen 1895 zwischen Architekten einerseits und den Malern und Bildhauern andererseits (Grafik 5) wird auch 1915 deutlich (Grafik 6), dass die klassischen Kunstdisziplinen im Durchschnitt wirtschaftlich weniger lukrativ waren. Das durchschnittliche Jahressteueraufkommen der Bildhauer (zu sechs der insgesamt neun verzeichneten Bildhauer liegen Steuerangaben vor) lag bei etwa 330 Mark.142 Vier der Bildhauer treten durch ihre 142 Und damit über dem Steueraufkommen der Holzbildhauerwerkstätten (etwa 200 Mark) und dem höheren Durchschnittswert der Steinbildhauerwerkstätten), die sich jeweils auf die serienmäßige Anfertigung weniger künstlerisch anspruchsvoller Stücke konzentrierten.
260
Künstlersein in Halle
akademische Ausbildung, Mitgliedschaften in Künstlervereinen und erhaltene Werke als bildende Künstler hervor. Die ermittelbaren Steueraufkommen von Fritz Mänicke143 und Paul Horn liegen mit 148,20 und 114,55 Mark deutlich unter dem Durchschnittswert der Bildhauer.144 Wie schon in der Veranlagung 1893 liegt der akademische Bildhauer Paul Reiling, mittlerweile Hauseigentümer und Stadtverordneter, mit seinem Steueraufkommen weit darüber und war in der zweiten Steuerklasse zu etwa 1.060 Mark veranlagt.145 Zu den verzeichneten Kunstmalern liegen nur sehr unvollständige Angaben zu ihrem Steueraufkommen vor (nur 2 der 8 im Gewerbeverzeichnis erfassten Kunstmaler konnten in der Wählerliste aufgefunden werden), sodass es nicht ratsam erscheint, einen Durchschnittswert zu bilden. Beide liegen mit 17,10 Mark (Kunstmaler Theodor Preetzmann) und 10,40 Mark (Kunst- und Porträtmaler Wilhelm Schröder) im Vergleich mit den Steuerverhältnissen bei den Architekten und Bildhauern sehr niedrig. Ergänzt man die wenigen Angaben um Künstler, die aus anderen Quellen bekannt zur gleichen Zeit in Halle tätig waren, verfestigt sich der Eindruck eines niedrigen Einkommensniveaus. Der als Lektor bei der Universität beschäftigte Kunstmaler Otto Fischer lag mit seiner Steuersumme von 66,56 Mark jedoch nicht wesentlich darüber. Ein weiterer Porträtmaler, der aus dem Gewerbeverzeichnis 1914 bekannt ist, zahlte ebenfalls nur 10,40 Mark Steuern. Im Vergleich dazu lagen die Einkommen der Maler, die im kunstgewerblichen Bereich als Glasmaler, Maler für Kunstgewerbe sowie Zeichner für Industrie und Gewerbe zur Steuer veranlagt wurden, wesentlich höher.146
3.3 Vergleichende Perspektive – Schmollers Mittelstand Vergleicht man den Verdienst der Maler und Bildhauer mit den für 1893 ermittelten Durchschnittswerten anderer Berufsgruppen des kreativen Bereichs, wird deutlich, dass mit den Fotografen und den Instrumentalmusikern sowohl besser als auch noch wesentlich schlechter verdienende Berufe existierten (Grafik 7). Der Durchschnittsverdienst der Musiker lag sogar nur bei etwa der Hälfte der
143 1893 wählte Mänicke noch in der zweiten Steuerklasse, während er 1915 in der dritten Steuerklasse veranlagt war. 144 Die Bildhauerin Elisabeth Wächtler-Rödiger wurde nicht erfasst, da Frauen erst ab 1919 wählen durften. Christian Schmidt war unter bekannten Adressen nicht in den Wählerlisten aufzufinden. 145 Vgl. StH, Wahlbüro Kap. VIII, Nr. 19, Altstadt II. Abstimmungsbezirk 1, Nr. 415. Im Gewerbeverzeichnis taucht er für 1915 nicht auf. 146 Die fünf verzeichneten Glasmaler zahlten im Durchschnitt knapp 300 Mark Jahressteuern. Für einen Kunstgewerbemaler lag der Steuerbetrag bei 136,89 und für einen Zeichner und Maler für Kunst und Industrie bei 74,10 Mark.
261
Künstlertum als prekärer Berufsstand?
16000
Jahreseinkommen in Mark
14000
Durchschnittliche Einkommen (ber. Mittelwert) verschiedener Berufe 1893 13822
Professoren
12000 10000 8000 6557 6000 4000
1895 1884 1613 1532
2000 0
Architekten
699
Musiker
Lokomotivführer Photografen Maler Bildhauer
Grafik 7: Die Zugehörigen der Berufsgruppen wurden anhand der in einer Datenbank erfassten Wählerliste für Halle des Jahres 1893 ermittelt. Der bereinigte Mittelwert der Jahreseinkommen basiert bei den Professoren auf 96, den Architekten auf 25, den Lokomotivführern auf 60, den Fotografen auf 22, den Malern auf 10, den Bildhauern auf 31 und den Musikern auf 37 Berufsausübenden.
mittleren Jahresverdienste der Maler und Bildhauer.147 Zwar bewegte sich das Einkommen der Letztgenannten im Durchschnitt deutlich über dem durchschnittlichen Jahresverdienst eines Arbeiters. Sie erwirtschafteten im Mittel jedoch um etwa ein Viertel weniger als die Lokomotivführer. Setzt man die Mittelwerte der Jahresverdienste der Maler und Bildhauer schließlich ins Verhältnis zu denen der Architekten und Professoren,148 zeigt sich, dass in renommierten bürgerlichen (Spitzen-)Berufen oft ein Vielfaches verdient wurde.
147 Keiner der 37 verzeichneten Musiker zahlte mehr als 12 Mark Steuern (entspricht einem Einkommen von 1.350 Mark). 19 waren zu 3 Mark veranlagt, hatten also ein Einkommen von unter 900 Mark im Jahr. – Martin Rempe recherchierte in seiner deutschlandweit angelegten Studie, dass die durchschnittlichen Jahresverdienste der Instrumentalmusiker um 1900 je nach Stadt zwischen 500 (Stettin) und 1.100 Mark (Essen) jährlich betrugen und sie meistens auf einen Nebenverdienst angewiesen waren. Sogar die maximalen Verdienste von Musikern in Festanstellung bei größeren Opernhäusern bzw. Theatern wurden von nicht wenigen Malern und Bildhauern erreicht bzw. überschritten. Vgl. Rempe, Kunst, Spiel, Arbeit, S. 74–76. 148 Die Jahreseinkommen lagen 1893 zwischen etwa 1.275 und 81.000 Mark.
262
Künstlersein in Halle
Um jenseits des Vergleiches der durchschnittlichen Einkommen einzelner Berufsgruppen in Halle Aussagen über die Zuordnung der Künstler zur sozialen Stratifikation der Gesellschaft vornehmen zu können, eignen sich die sozialstatistischen Überlegungen des zeitgenössischen Ökonomen und Sozialwissenschaftlers Gustav Schmoller (1838–1917). In seinem 1897 auf dem achten Evangelisch-sozialen Kongress in Leipzig gehaltenen und später publizierten Vortrag »Was verstehen wir unter dem Mittelstande? Hat er im 19. Jahrhundert zu- oder abgenommen?«149 beschreibt Schmoller als Ergebnis seiner jahrzehntelangen Beobachtungen und Analysen einerseits längerfristige Dynamiken der gesellschaftlichen Differenzierung, die innerhalb des sozialen Gefüges zum Auf- und Abstieg gesellschaftlicher Gruppen führten und in seiner Gegenwart weiter führen. Andererseits unternimmt er im Anschluss daran den Versuch, die Gesellschaft des Kaiserreichs anhand von Vermögen, Einkommen und sozialer Stellung sowie Betriebsmerkmalen150 in vier Gruppen zu stratifizieren. So wie die einzelnen Dimensionen nach Individuen unterschiedlich zu gewichten sind, seien die Übergänge zwischen den Klassen, insbesondere zwischen den unteren Klassen und dem unteren Mittelstand, fließend. Als einen trennenden Faktor benennt Schmoller das Vorhandensein eines Vermögens, das den unteren Mittelstand von den unteren Klassen absondere. Abgesehen davon unterteilt Schmoller die einzelnen Segmente anhand ihres Einkommens, wobei er anmerkt, dass die offiziell ermittelte jeweilige Steuerlast, die der Schätzung der wirklichen Einkommen diente, tendenziell zu niedrig angesetzt sei151. Legt man seine Klasseneinteilung152 der Bewertung der 1893 ermittelten Einkommen zugrunde, ergibt sich für die soziale Zuordnung der halleschen Künstler nach Berufsgruppen, dass die meisten der Maler und Bildhauer (ihrem Einkommen
149 Schmoller, Mittelstande. 150 Das meint die Stellung Berufsausübender im Betrieb, den sie selbst als Unternehmer besitzen oder dem sie als leitende bzw. dienende Angestellte angehören. Diese Unterscheidung wurde vor allem in den staatlich veranlassten Statistiken berücksichtigt. 151 Schmoller benennt verschiedene Gründe, warum die Einkommensteuer nur ein annähender Wert der Bestimmung des sozialen Standes sein kann. Zum einen erfasse sie lediglich das zur Steuer veranlagte Einkommen und nicht das Familieneinkommen, wobei gerade in den unteren Klassen mehrere »Verdiener« zu einer Familie gehörten. Außerdem schätze die preußische Einkommensteuer das Einkommen der meisten, vor allem derer, die unter 900 Mark verdienten, als zu gering, weil nicht alle Einkommen erfasst würden. Vgl. ebd., S. 28. 152 Schmoller setzt für die oberen Klassen ein jährliches Einkommen von 8 .000–9.000 Mark und ein Vermögen von über 100.000 Mark, für den höheren Mittelstand ein Einkommen von 6.000–8.000 Mark und ein Vermögen von 6.000–100.000 Mark, für den unteren Mittelstand ein Einkommen von 1.800–2.700 Mark sowie etwas Vermögen, ein eigenes Geschäft oder eine sichere Anstellung. Darunter ordnet er die unteren Klassen, die über ein kleineres Jahreseinkommen verfügen und nicht auf andere Einkünfte oder Besitz zurückgreifen können. Vgl. ebd., S. 29.
263
Künstlertum als prekärer Berufsstand? Soziale Zuordnung der Berufsangehörigen nach Gustav Schmoller 6
2
2
Maler 22
6
3
Bildhauer
untere Klassen unterer Mittelstand höherer Mittelstand
3
obere Klassen
3
11
8
Architekten
0%
20%
40%
60%
80%
100%
Grafik 8: In der Grafik erfolgt die Verortung der hallischen Künstler nach Berufsgruppen innerhalb des von Schmoller entworfenen sozialen Schichtsystems.
nach) nicht dem Mittelstand angehörten (Grafik 8). Ganz im Gegensatz zu den Architekten, von denen die überwiegende Mehrheit dem höheren Mittelstand und ein beträchtlicher Teil sogar den oberen Klassen zuzuordnen ist.153 Jenseits ihrer Einkommensverhältnisse wird die soziale Stellung eines größeren Teils der Architekten und Bildhauer, von denen 7 bzw. 17 ein eigenes Geschäft betrieben sowie 12 bzw. 7 als Hausbesitzer galten, durch ihren Besitz eines Betriebes und / oder eines Gebäudes begründet. Unter den Malern verfügte lediglich Emil Palm über Gebäudebesitz. Dennoch nimmt der Berufsstand der Künstler bei Schmollers Entwurf einer nach sozialen Ständen unterschiedenen Gesellschaft eine Sonderstellung ein: Mehrfach benennt er explizit »Künstler« und die »liberalen Berufe« als Gruppen, die nicht eindeutig dem von ihm konzipierten System zuzuordnen seien. Wohlhabende Künstler zählen bei ihm einerseits zu der Viertelmillion Familien, die der aristokratischen bzw. vermögenden Gruppe zuzurechnen seien. Als Angehörige der liberalen Berufe, die mitunter ein wesentlich geringeres Einkommen und Vermögen aufwiesen, unterschieden sie sich von den Zugehörigen der unteren Klassen durch »ihre Interessen und ihre soziale
153 Inwiefern die hier ihrem Einkommen nach dem oberen Stand bzw. dem höheren Mittelstand zugerechneten Architekten über ein entsprechendes Vermögen verfügten, kann nicht belegt werden. Auch für Bildhauer und Maler fehlen Angaben zu ihren Vermögensverhält nissen.
264
Künstlersein in Halle
Stellung, ihre Lebenshaltung«154. Während erstere vor allem aus Lohnarbeitern bestand, die im Wesentlichen »angestrengte, oft harte Arbeit und zwar überwiegend mechanische Arbeit«155 ausführten, waren Künstler ihrem Bildungsstand und der (zumindest teilweise) kreativ-schöpferischen Tätigkeit nach, trotz ihrer prekären ökonomischen Lage, eher dem unteren Mittelstand zuzurechnen.
Fazit Insgesamt ergeben sich deutliche Unterschiede im Einkommen der verschiedenen künstlerischen Disziplinen, wobei die Architekten im Durchschnitt wesentlich besser verdienten als Maler und Bildhauer. In dieser Berufsgruppe sind durch die Untersuchung keine ganz niedrigen Einkommen dokumentiert. Selbst Berufseinsteiger, die später dem BDA angehörten, begannen ihre Karriere mit einem vergleichsweise hohen Einkommen (1915). Dabei war die Zugehörigkeit zum BDA jedoch nicht gleichzusetzen mit besseren Verdienstmöglichkeiten, da das allgemeine Einkommensniveau der Architekten (ohne und mit Unternehmerbetrieb) sehr hoch lag. Unter den Bildhauern konnten sich die künstlerisch tätigen Bildhauer mit ihrem Einkommen 1893 noch deutlich nach oben absetzen. 1915 lagen die Einkommen der Künstler unter dem durchschnittlichen Verdienst sowohl der Bildhauer als auch der Stein- und Holzbildhauerwerkstätten. Aufgrund der nur vereinzelt vorliegenden Angaben ist dieses Ergebnis jedoch nicht zu generalisieren. Sehr niedrige Steuerbemessungen wie noch 1893 (5 von 30 Bildhauern erreichten nicht die niedrigste Steuerstufe) gab es unter den Bildhauern 1915 nicht mehr. Dafür aber bei den Kunstmalern: Alle ermittelbaren Veranlagungen lagen ganz deutlich unter den niedrigsten Angaben für die Kunstbildhauer und damit weit jenseits der Veranlagungen der Architekten. Als kunstgewerblich tätiger Maler hatte man stattdessen eine erheblich bessere Verdienstaussicht. Die von Paul Drey 1910 auf seine Gegenwart und die Gesamtheit der deutschen Künstler (Maler und Bildhauer) bezogene Einschätzung, dass innerhalb des Berufes eine weite Schere zwischen Spitzen- und Geringverdienern klaffte, kann mit dem Blick auf die halleschen Einkommensverhältnisse bestätigt, muss aber differenziert werden: Die Ergebnisse der Auswertung der Steueraufkommen der Kunstmaler im Vergleich von 1893 und 1915 legen nahe, dass zwar schon am Ende des 19. Jahrhunderts das Armutsrisiko unter dieser Berufsgruppe vorhanden, aber erst 1915 stark verbreitet war. Die mittleren Verdienste unter den Malern wurden vor allem von denen erzielt, die sich nicht ausschließlich auf die bildende Kunst konzentrierten, sondern als Lehrer oder Kunstgewerbler auch in 154 Vgl. ebd., S. 29. 155 Vgl. ebd., S. 30.
Die hallesche Künstlerschaft in Typen
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anderen Bereichen ihre Dienstleistung anboten, ihren Status als Künstler aber beibehielten. Die Architekten, die sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend in ihrer Rolle als Künstler wahrnahmen, fügten den künstlerischen Berufsmodellen eine weitaus weniger prekäre Perspektive hinzu.
4. Die hallesche Künstlerschaft in Typen 4.1 Künstlersein im Kleinstbetrieb In den folgenden Unterkapiteln stehen hallesche Künstler im Zentrum der Analyse, die für die Stadt typische historische Berufsrollen und Künstleridentitäten verkörpern. Je nach Quellenlage wird auf jeweils einen oder mehrere Künstler fokussiert (Hauptkünstler) und um Hinweise auf andere, weniger prominente oder lückenhaft dokumentierte Persönlichkeiten ergänzt. Ziel ist es, die Bandbreite künstlerischer Lebensentwürfe abzubilden, die in Halle in den Jahrzehnten um 1900 praktiziert wurden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sollen dennoch die prägendsten Modelle künstlerischer Lebensführung und beruflicher Verwirklichung erfasst werden. Wer ist hallescher Künstler und demzufolge Bestandteil meiner Untersuchung? Die Berufsbezeichnung des Künstlers war unter Zeitgenossen keine selbstverständliche Kategorie, zu der sie auf breiter Ebene erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts avancierte. Zuvor firmierten Künstler, wie sie das Personal meiner Analyse bilden, unter spezifischen Berufsbezeichnungen wie Historienoder Porträtmaler, nannten sich »akademischer Bildhauer« oder Architekt. Ausschlaggebend für die Zugehörigkeit zur Gruppe der Künstler ist deren Selbstverständnis, wie es im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert unter verschiedenen Vorzeichen definiert wurde. Auskunft über das künstlerische Selbstverständnis geben vor allem die Mitgliederlisten der lokalen Künstlervereine, Ausstellungsverzeichnisse und andere Selbstzeugnisse, in denen sich die betreffenden Personen als Künstler identifizieren. Hallescher Künstler ist, wer in der Stadt Halle geboren wurde oder sich als Künstler zeitweise oder dauerhaft hier niederließ. Ausgenommen von der Untersuchung sind Schüler der Kunstgewerbeschule, die, aus anderen Städten kommend, lediglich ihre Ausbildung in der Stadt absolvierten und sich dann andernorts niederließen. Für sie war Halle eine Durchgangsstation und oft gab es kaum Berührungspunkte zur Stadt und der lokalen Künstlerschaft.156 Nicht betrachtet werden auch Dilettanten. Sie unterschieden sich nach ihrem Selbstverständnis von den anderen Künstlern und sind für die Untersuchung des beruflichen Selbstverständnisses nicht relevant. Zudem unterlagen sie anderen ökonomischen Bedingungen. 156 Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Denkschrift Kunstgewerbeschule 1930.
266
Künstlersein in Halle
Im Untersuchungszeitraum gewann die Frau als Künstlerin an Bedeutung. Die spezifisch weibliche Künstlerkarriere wird im Bereich des Kunstgewerbes betrachtet. Ansonsten werden die weiblichen Berufszugehörigen gemeinsam mit ihren männlichen Berufskollegen unter den übrigen Typen betrachtet. Das vorherrschende Geschäftsmodell der betreffenden Künstler unter den Bedingungen der Gewerbefreiheit war das selbstständige Unternehmertum im Kleinbetrieb. In Preußen, zu dem Halle seit 1815 wieder gehörte, liberalisierte die bereits 1810 erlassene Gewerbefreiheit den Marktzugang und beschränkte den Einfluss der Zünfte erheblich. Seitdem konnten Künstler ohne Nachweis ihrer Befähigung oder eines Ausbildungsprädikats ihre Dienstleistung anbieten. Je nach Auftrags- oder Verkaufslage schwankte der Verdienst des künstlerisch tätigen Kleinunternehmers erheblich. Einen stetigen und relativ sicheren Erwerb hatte nur, wer in einem Unternehmen oder im öffentlichen Dienst angestellt war. In Halle war vor allem der Lehrerberuf verbunden mit einer Anstellung an einer staatlich-städtischen Bildungseinrichtung eine Möglichkeit längerfristiger ökonomischer Stabilität. Die frühesten statistischen Daten für die Dominanz der freien Unternehmerschaft unter den bildenden Künstlern versammelt die allgemeine Berufszählung aus dem Jahr 1882, die zwar für den Regierungsbezirk Merseburg, nicht jedoch für die Stadt Halle ausgewertet wurde: Von 188 haupt- oder nebenberuflich tätigen Künstlern waren 103 Berufszugehörige in der Stellung des Eigentümers oder sonstigen Geschäftsleiters eines künstlerischen Unternehmens. Nur etwa ein Viertel dieser Selbstständigen (25) kam ohne Nebeneinnahmen aus. Die überwiegende Mehrheit (78) ging einem Nebenerwerb nach.157 Zu Beginn der 1880er Jahre verwendete nur eine kleinere Anzahl der Künstler im Regierungsbezirk ihre gesamte Arbeitskraft auf die Kunstproduktion, viel mehr von ihnen erwirtschafteten einen Teil ihres Unterhalts jenseits künstlerischer Tätigkeit. Das legt den Schluss nahe, dass der aus künstlerischer Arbeit erzielte Erwerb für die Deckung der Lebenshaltungskosten nicht ausreichte. Dieser Umstand belegt die prekäre wirtschaftliche Lage vieler Künstler im letzten Drittel des Jahrhunderts. Für Halle ist jedoch von diesem Befund abweichend festzustellen, dass der Anteil der Künstler, die einem Nebenerwerb nachgingen, in der Folgezeit deutlich geringer war. In den Zählungen 1895158 und 1907159 machten die neben 157 16 der nebenerwerblich Tätigen arbeiteten in der Landwirtschaft, 7 in der Industrie und 3 im Bereich von Handel und Verkehr. 158 Einer von neun als Selbstständige arbeitenden Künstlern ging einem Nebenerwerb nach. Zwei von ihnen übten den Künstlerberuf im Nebenerwerb aus. Vgl. Berufsstatistik der deutschen Großstädte 1895, S. 120. 159 Von 14 selbstständig arbeitenden Künstlern gab einer an, einem Nebenerwerb nachzugehen. Zwei der selbstständigen Künstler übten diesen Beruf als Nebenerwerb aus. Vgl. Berufs- und Betriebszählung vom 12. Juni 1907. Berufsstatistik, Abteilung VI: Großstädte, S. 103.
Die hallesche Künstlerschaft in Typen
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beruflich Tätigen oder den Künstlerberuf als Nebenberuf Ausübenden nur ein Drittel bzw. etwa ein Fünftel der Künstler aus. Die Betriebs- und Gewerbezählung vom Juli 1907 bestätigt für die Stadt Halle die Tendenz zum selbstständigen Unternehmertum im Kleinstbetrieb: Von 26 als Künstler bezeichneten Malern und Bildhauern führten 14 ihre berufliche Tätigkeit als Eigentümer. 12 der Berufszugehörigen waren als Gehilfen angestellt. In den übrigen den künstlerischen Gewerben zugerechneten, kunstgewerblich orientierten Berufsarten (B 163–B 165) lag der Anteil derer, die ihren Beruf in einem Anstellungsverhältnis ausübten, bei deutlich über 50 %.160 Die Auswertung der Betriebszählung wiederum ergab, dass von 21 hauptbetrieblichen künstlerischen Unternehmen über die Hälfte als Zwergenbetriebe mit nur einer Person geführt wurden. Auf die übrigen 8 Kleinbetriebe verteilten sich insgesamt 13 Angestellte.161 Innerhalb der Gruppe der künstlerischen Unternehmer bestanden über die Gemeinsamkeit ihrer Marktteilnahme hinaus jedoch bedeutsame Unterschiede. Die Bandbreite reichte dabei vom Leiter einer Großwerkstatt mit angeschlossenem Einrichtungshaus bis zum Kunstgewerbezeichner, der seinen Erwerb mit verschiedensten Projekten künstlerischer und technischer Natur sowie einer Nebentätigkeit als Aushilfslehrer bestritt. Innerhalb des halleschen Kunstsystems wurde der autonome Künstler bzw. das autonome künstlerische Schaffen verschiedentlich thematisiert und im diachronen Verlauf gestärkt. Während im Kunstverein der Gründungszeit der Vorstand den Konsuminteressen der Mitgliedermehrheit nachgab, gelang es Franz Otto mit der Gründung des Museums und später Richard Robert Rive und Max Sauerlandt, dem autonom schaffenden Künstler Geltung zu verschaffen. Durch einen Nebenerwerb oder eine Anstellung ermöglichten sich Künstler – freilich auf Kosten der verfügbaren Zeit – Raum für künstlerische Experimente. Mit dem Ausbau der öffentlichen Kunstförderung zu Beginn des 20. Jahrhunderts öffneten sich weitere Einnahmequellen. Nicht zuletzt gab es einen kleinen Teil des Bürgertums, der der ästhetischen Moderne gegenüber aufgeschlossen war und – manches Mal trotz persönlicher Vorbehalte – als Förderer des Experimentellen auftrat.
160 Bei den Graveuren, Ziseleuren, Steinschneidern und Modelleuren (B 163) lag der Anteil der Gewerbeinhaber bei etwa 65 % (von insgesamt 26 Berufszugehörigen). Bei den sonstigen künstlerischen Gewerben (B 165) lag ihr Anteil bei etwa 69 %. Zwar waren bei den Musterzeichnern und Kalligraphen (B 164) 50 % selbstständig erwerbstätig. Insgesamt wurden hier jedoch nur 4 Berufszugehörige gezählt und das Ergebnis erscheint damit weniger repräsentativ. Vgl. ebd. 161 Vgl. Statistische Jahresübersichten für Halle a. S. 1909, S. 43 und 46/47.
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Künstlersein in Halle
4.2 Der Porträtmaler und die Herausforderung der Fotografie Den Porträtkünstler als repräsentativen Künstlertypen in Halle in den Jahrzehnten um 1900 zu bestimmen, folgt zwei Motiven: Zum einen wird damit ein wichtiger Aspekt des Künstlerberufs und seiner Entwicklung unter den Bedingungen des bürgerlichen Kunstmarktes beleuchtet. Andererseits zeigen die Schnittstellen zur Fotografie die Wechselwirkung zwischen technischer Entwicklung und bildender Kunst auf. Das Porträt als malerische oder plastische Darstellung einer bestimmten Person nahm und nimmt als Gattung in der bildenden Kunst aufgrund seiner repräsentativen Funktion eine Sonderstellung ein und war seit dem Mittelalter ein dauerhaft nachgefragtes Bildgenre. Diente das Porträt in der ständischen Gesellschaft vor allem der visuellen Verdeutlichung hierarchischer und genealogischer Ordnungen, wurde es unter dem Vorzeichen der bürgerlichen Gesellschaft zum Medium der ins Zentrum gerückten individuellen Persönlichkeit des Menschen. Das Porträt dokumentierte deren Vervollkommnung und stellte die gesellschaftliche Wirksamkeit dieser Person zur Schau. Nicht zuletzt diente die Darstellung des Menschen seiner Visualisierung und damit Erinnerungsfähigkeit über den Tod hinaus. Neben der Historien- und Genremalerei war die Porträtkunst eines der zentralen Lehrfächer an den preußischen Kunstakademien. Die Akademien, die die Autonomisierung der bildenden Kunst in der Bürgergesellschaft institutionell begleiteten,162 räumten der Porträtmalerei damit einen hohen Stellenwert ein und orientierten die Künstlerausbildung auf ein zentrales Auftragsgebiet.163 Die Bezeichnung als Porträtmaler reagierte auf spezifisch bürgerliche Bedürfnisse und war im 19. Jahrhundert in Halle als Tätigkeitsfeld und Berufsbezeichnung – im Gegensatz zum später populär werdenden »Kunstmaler« oder »Künstler« – sehr geläufig.164 Im 1849 erstmals im Hallischen Adressbuch publizierten Gewerbeverzeichnis war der »Portraitmaler« gar die einzige Kategorie unter den Malern, die ihrer Berufsbezeichnung nach den bildenden Künsten zuzurechnen 162 In der Renaissance wurde mit der Einrichtung von Kunstakademien die Institutionalisierung der bildenden Kunst jenseits handwerklich-zünftigen Zugriffs vorangetrieben und manifestierte den offensiv formulierten Anspruch von Malern und Bildhauern, als wissenschaftlich gebildete Fachkräfte in den Kreis der artes liberalis aufgenommen zu werden. Mit der Akademisierung der Ausbildung wurden die intellektuellen und schöpferischen Aspekte des Kunstschaffens betont. Mit den Akademien, die sich im 16. und 17. Jahrhundert über ganz Europa ausbreiteten, wurde die Vorherrschaft der Zünfte im 18. Jahrhundert endgültig gebrochen. Damit war ein neuer, exklusiver Weg der Künstlerausbildung geschaffen, der dazu führte, dass der Berufszugang beschränkt wurde. Vgl. Krieger, Künstler, S. 13 ff.; Busch, Autonomie der Kunst, S. 240/241. 163 Vgl. Ruppert, Der moderne Künstler, S. 69 ff. 164 Zur Entwicklung der künstlerischen Berufsbezeichnungen und ihre Entspezialisierung siehe Kap. IV, 2.
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ist.165 Damit war das Porträtieren in Halle zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine wirtschaftliche Basis künstlerischer Tätigkeit, wenn auch Franz Otto den Bedarf der halleschen Bürger nach gemalten Porträts in den 1870er und achtziger Jahren als überschaubar beschrieb und den kunstgewerblich tätigen Bildhauern bessere wirtschaftliche Aussichten nachsagte: »Noch weniger Glück hatten die Porträt- und Landschaftsmaler jener Zeit; in ersterem Fache genügte dem Kunstsinn der Hallenser die bescheidene Lithographie … bis auch diese bescheidene Kunstgattung der Photographie Platz machen musste; ….«166
So erklärt sich, dass sich die acht eingetragenen Porträtmaler bis auf eine Ausnahme ihrer Berufsbezeichnung nach nicht ausschließlich der Porträtmalerei widmeten. Stattdessen wird eine besondere Nähe der Porträt- zum Fach der Porzellanmalerei deutlich: Die Hälfte der betreffenden Maler bezeichnete sich zugleich als Porzellanmaler bzw. Besitzer einer Porzellanmalerei. Zwei weitere boten ihre Dienste auch als Zeichen- bzw. Schönschreiblehrer an. Im Verlauf des Untersuchungszeitraumes gab es zwar einzelne Künstler, die sich besonders auf das Porträtieren konzentrierten und sich so einen Namen machten. Selbst in diesen Fällen beschränkten die Künstler ihre Tätigkeit und ihr Angebot nicht auf diese Spezialdisziplin, die neben Mal- und Zeichenkursen sowie anderen Produkten nur ein Standbein ihrer wirtschaftlichen Existenz darstellte.167 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beeinflusste die Ende der dreißiger Jahre in Frankreich entwickelte fotografische Technik der Daguerreotypie168 das Bildgenre des Porträts und die berufliche Praxis der Porträtisten in Halle. Sofern es durch den Hallischen Wohnungsanzeiger zu ermitteln ist, führte der Porträtund Porzellanmaler Heinrich Christian Weber die neue Technik der für die Zeitgenossen erstaunlich naturgetreuen Abbildungsverfahrens der Daguerreotypie in der Stadt ein.169 Ab der Ausgabe des Gewerbeverzeichnisses von 1852 165 Darüber hinaus wurde im Gewerbeverzeichnis zwischen »Malern und Lackierern«, »Stubenmalern« und »Glasmalern« unterschieden. Vgl. Adressbuch Halle 1849, Gewerbeverzeichnis. 166 Otto, Städtisches Museum, S. 5. 167 Im Anzeigenteil des Hallischen Adressbuchs veröffentlichten Hans Hallfahrt und Sigmund von Sallwürk Anzeigentafeln, in denen sie sowohl ihre Dienste als Porträtmaler als auch als Mal- und Zeichenlehrer sowie für weitere künstlerische Produkte anboten. Vgl. Adressbuch Halle 1906, Allgemeine Inserate, S. 18 und 1910, Allgemeine Inserate, S. 21. 168 Mittels chemischer Dämpfe wurde eine polierte Metallplatte beschichtet und somit lichtempfindlich gemacht. Das durch das Objektiv einer Kamera einfallende Licht projizierte auf der Platte eine seitenverkehrte (und auf dem Kopf stehende) Aufnahme des Motivs. Die zu Beginn der Entwicklung bis zu einer Viertelstunde dauernde Belichtung wurde bald auf wenige Minuten reduziert und machte das Verfahren für Porträtaufnahmen einsetzbar. Vgl. Photographie, in: WdK, S. 657 f. 169 Erstmals bezeichnete er sich im Verzeichnis von 1846 als Daguerreotypist. Vgl. Adressbuch Halle 1846, S. 40.
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wurde das Verfahren, das vor allem für Porträtaufnahmen eingesetzt wurde, als eigenständiges Gewerbe gezählt; vier Jahre später ebendort der Beruf des Fotografen ergänzt, der schließlich den Daguerreotypisten verdrängte und die Zahl der Porträt-, Landschafts- und Genremaler weit überstieg.170 Bis zur Wende zum 20. Jahrhundert und darüber hinaus zeichnet sich im Gewerbeverzeichnis quantitativ eine abnehmende Bedeutung der Porträtmalerei als Aspekt des künstlerischen Berufsspektrums ab. Die Fotografie, die bald die gesundheitsschädigende und relativ aufwändige Daguerreotypie ablöste, machte das Einzel- oder Familienporträt auch für weniger wohlhabende Bevölkerungsschichten zugänglich. Trotzdem ersetzte dieses technische Verfahren die Porträtmalerei nicht vollends, sondern führte – im Verbund mit anderen Faktoren und Diskursen – zu einer Neukonstitution der Porträtmalerei, die sich durch ihre künstlerische Subjektivität von der unbelebten Fotografie abhob. In der Kunst der Klassischen Moderne spielte das Porträt weiterhin eine bedeutende Rolle und wurde als Ausdruck künstlerischer Individualität und bürgerlichen Selbstbewusstseins wertgeschätzt. Sauerlandt erwarb 1910 Max Beckmanns großformatiges »Doppelbildnis Max Beckmann und Minna Beckmann-Tube« für das städtische Kunstmuseum.171 Der Volontär Freyer machte in seinem 1913 veröffentlichten Museumsführer auf die Aufwertung dieser Bildgattung gerade unter impressionistischem Vorzeichen aufmerksam, bei dem das Individuelle und Flüchtige der Persönlichkeit jenseits fotografischer Genauigkeit eingefangen würde. Die Aufmerksamkeit der Künstler richte sich dabei nicht auf die Äußerlichkeit der Person, sondern versuche, ihre wesenhaften Züge zu erfassen.172 Unter den gebildeten und wohlhabenden Bürgern blieb das gemalte Porträt populär und diente auch aufgrund seiner Preisintensität der sozialen Distinktion. An verschiedenen Punkten lässt sich dennoch das Wechselspiel von Fotografie und Porträtmalerei, technischem Fortschritt und bildender Kunst aufzeigen. Heinrich Christian Weber und Ferdinand Anders-Paltzow, die beide über lange Jahre in Halle als Fotografen und Porträtmaler tätig waren, stehen exemplarisch für die enge Verbindung beider Bereiche. Sie waren nicht nur in beiden Berufsgruppen im Branchenverzeichnis zu finden, sondern es chan 170 Das Gewerbeverzeichnis von 1856 zählt acht Maler, die sich dezidiert als Porträtmaler bezeichneten. Demgegenüber waren insgesamt drei Daguerreotypisten bzw. Fotografen verzeichnet. Heinrich Christian Weber gehörte als »Portrait- und Porzellanmaler, Daguerreotypist u. Photograph« allen drei Kategorien an. 1867 wurden 13 Fotografen und 1890 dann 20 Fotografen im Gewerbeverzeichnis gezählt (gegenüber 12 bzw. 7 Porträt-, Landschaftsund Genremalern). Vgl. Adressbuch Halle 1856. 171 Vgl. Hüneke, Das schöpferische Museum, S. 26 f. 172 Vgl. Freyer, Führer, S. 35. –Sauerlandt selbst ließ sich 1912 von der in Halle geborenen Malerin Martha Bernstein-Neuhaus, die 1909–12 bei Henri Matisse in Paris studiert hatte, porträtieren. Vgl. Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Fragment des Sauerlandt-Porträts, http://www.museum-digital.de/san/index.php?t=objekt&oges=15407 (zuletzt besucht am 09.01.2016).
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gierte auch ihre berufliche Zuordnung in den Urwählerlisten.173 Im Vergleich mit den Jahressteuerabgaben aller in den Steuerlisten von 1873, 1875, 1877 und 1887 verzeichneten Fotografen ordnete sich das Steueraufkommen Webers und Anders-Paltzows im unteren bzw. oberen Mittelfeld ein. Als Porträtmaler und Fotografen errangen sie gegenüber den auf den Bereich der Fotografie Spezialisierten keinen verdienstlichen Vorteil.174 Dass die Porträtfotografie (auch) bei der städtischen Elite populär war, offenbart der Nachlass der Familie Lehmann, in dem unter vielen anderen eine Aufnahme des Bankiers und Unternehmers Ludwig Lehmann zu finden ist, die Anders-Paltzow angefertigt hatte.175 Die Umgestaltung des Adressbuchs 1905 brachte die neuerliche Einführung der Spezialkategorie der »Porträtmaler« mit sich, die zuvor in der Kategorie der »Porträt-, Landschafts- und Genremaler« aufgegangen war. Während im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts noch einige Maler diese Kategorie bespielten, teilten sich danach bis 1933 im Wesentlichen nur noch zwei Künstler diese Branche: Sigmund von Sallwürk und Susanne von Nathusius. Neben der Bildhauerin Grete Budde waren v. Sallwürk und v. Nathusius die bekanntesten zeitgenössischen Porträtisten Halles. Im Gegensatz zu Otto Rosenbaum, der in einer 1906 geschalteten Anzeige seine nach »eingesandten Photographie[n], auch Verstorbener, in anerkannt trefflich. Weise in Kreidemanier, Pastell od. als Oelgemälde« gefertigten Porträts als »prachtvolle Geschenke«176 zu Listenpreisen anbot, betonte v. Sallwürk in seiner Offerte seine künstlerische Qualifikation.177 Der 1874 in Baden-Baden geborene Maler studierte in München (Privatmalschule) und an der Kunstakademie Karlsruhe, wo er als Meisterschüler in das Atelier von Leopold von Kalckreuth eintrat. Von diesem, der sich mit dem französischen Impressionismus und Naturalismus auseinandersetzte und in seiner Zeit als einflussreicher und populärer Künstler galt, erhielt v. Sallwürk insbesondere Impulse für die einfühlsame Darstellung des Menschen und der Figur in der Landschaft.178 Wie sein Karlsruher Lehrer bestand v. Sallwürk auf der figürlich-naturalistischen Darstellung des Menschen und seiner Um 173 Während Weber in den Listen 1875 und 1877 als Fotograf verzeichnet ist, taucht er in der Wählerliste von 1887 als Porträtmaler auf. Anders-Paltzow bezeichnete sich dort nur 1873 als Fotograf bzw. Maler und für die folgenden Jahre 1875, 1877 und 1887 als Porträtmaler. 174 Vgl. StH, Wahlbüro, Kap. VII, Nr. 6; StH, HS, b 27–29; StH, Wahlbüro, Kap. VII, Nr. 7; StH, Wahlbüro, Kap. VII, Nr. 9. 175 Vgl. StH, N 122 Nr. 3. 176 Das Anfertigen von Porträts nach Fotografien wurde auch von anderen Malern praktiziert. Vgl. Adressbuch Halle 1905, Teil III, S. 35; Adressbuch Halle 1906, Allgemeine Inserate, S. 18. 177 Er verweist zum einen auf seine akademische Ausbildung und zum anderen auf seine Auszeichnung während der 1898 in Dresden präsentierten Großen Deutschen Kunstausstellung. Vgl. Adressbuch Halle 1910, Allgemeine Inserate, S. 21. 178 Vgl. Freiherr von Löhneysen, Kalckreuth, Leopold Graf von in: NDB, Band 11 (1977), S. 51–53 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de / g nd118714864.html #ndbcontent.
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gebung. Der Zeitungsredakteur Willy Hermann Lange zitierte v. Sallwürk anlässlich einer Serie von Künstlerporträts in den Hallischen Nachrichten 1924 über den Expressionismus. Demnach habe er »keine Zeit, vor einem Gemälde dieser Art so lange zu stehen, bis ich etwas hineingesehen habe, was nicht drin ist.«179 Lange, der den Künstler als »Porträtist par excellence« bezeichnete, sah in dessen Beliebtheit bei den Hallensern und seiner guten Beschäftigungslage den »Konservatismus des Publikums [wirksam], der die Revolution in Politik und Kunst überdauert hat«. In Langes Einschätzung, dass die »Porträts von der Hand v. Sallwürks in ihrer naturgetreuen Art … dem Publikum die Abwendung von der Photographie leichter«180 machten, wird bestätigt, dass die Porträtkunst nach dem Siegeszug der Fotografie eine neue Relevanz und gesellschaftliches Ansehen gewann. Nur schwer ließ sich ein Großteil der Hallenser davon überzeugen, dass das gemalte Porträt eine Wertigkeit jenseits seiner Abbildungs funktion und mit ihren Darstellungsmitteln über die Fotografie hinausgehen könne. Auch nachdem der Impressionismus am Ende des 19. Jahrhunderts wirkungsvoll veranschaulicht hatte, dass die Malerei Persönlichkeitsaspekte einfangen kann, die keine fotografische Abbildung transportieren könnte, hielten sich viele hartnäckig am Prinzip der Naturtreue fest. Der Rezensent einer Ausstellung in Halle bescheinigte daraufhin dem Harzburger Maler Hans Kempen, dass sein »›Herrenporträt‹ so gut vielleicht seine Gesamtstimmung ist, nicht viele Aufträge ernten« würde. Er begründete: »Das Fleisch ist wohl doch etwas zu bunt geraten.«181 Der Vorbehalt gegenüber Abweichungen vom Naturvorbild hielt auch nach dem Krieg noch an, als Martin Knauthe 1919 über einige Porträts lästerte: »Von den gemalten Porträts fällt ein Kinderbild wegen der süßlichen Malweise auf; die Ausstellung ist doch kein Photographenladen.«182 Sigmund von Sallwürk, der auch als Illustrator, Landschafts- und Historienmaler tätig wurde, porträtierte vor allem Männer der gehobenen Bürgerschicht. Unter seinen Auftraggebern waren der hallesche Althistoriker Gustav Hertzberg, von dem er mehrere Porträtzeichnungen anfertigte, sowie der Juwelier Amand Schmidt, den v. Sallwürk 1913 im Schmuck des Schützenkönigs in Öl porträtierte.183 Im Rahmen eines Großauftrags fertigte er zu Beginn der 1940er Jahre eine Vielzahl von Porträtgemälden von historischen und zeitgenössischen Persönlichkeiten, die als Räte, Direktoren und anderes Führungspersonal im Bergbau beschäftigt waren.184 179 HN vom 13.02.1924, Nr. 37. 180 Ebd. 181 K., Kunstausstellungen, S. 133. 182 VB vom 16.12.1919, Nr. 294 (Beilage). 183 Die Zeichnungen und das Ölgemälde befinden sich beide im Stadtarchiv Halle. Vgl. StH, D 32 und D32 a; StH, A 1907 und A 586. 184 Die Gemälde befinden sich im Archiv des Deutschen Bergbaumuseums. Die Datensätze und Abbildungen sind durch das Digitalisierungsprojekt DigiPortA des Deutschen
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Der ab 1903 in Halle ansässige v. Sallwürk war eine feste Größe im städtischen Kunstsystem. Sowohl innerhalb der Künstlerschaft als auch durch seine Beliebtheit beim städtischen Publikum als Porträtist war er im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Stadt eine präsente und prägende Künstlerfigur. Während seiner kontinuierlichen Mitgliedschaft in diversen Künstlerverbänden185 und im Halleschen Kunstverein seit seiner Ankunft in Halle begleitete er den Prozess der Vergemeinschaftung hallescher Künstler und ihr erwachendes Engagement für berufsständische Interessen. Mit seiner naturalistischen Bildsprache und seiner Spezialisierung auf das Porträtfach fand er in Halle ein ihm zugeneigtes Publikum und einen Markt. In seinem Atelier unterhielt er zudem eine Malschule und erschloss sich damit eine weitere Einnahmequelle. Dass er in exponierter Lage in der Innenstadt an der Alten Promenade ein Atelier führte, während er seine Privatwohnung in Dölau nahm, spricht für seine etablierte Position auf dem städtischen Kunstmarkt. Auf einer Verkaufsausstellung der Pflüger, die im Herbst 1921 in der Handwerker- und Kunstgewerbeschule veranstaltet wurde und auf der v. Sallwürk mit neun Landschaftsgemälden bzw. Bildnissen vertreten war, stechen seine Bildpreise als höchste unter den 16 halleschen und einigen Leipziger Künstlern hervor.186 Sigismund v. Sallwürk lebte von Aufträgen aus dem mehrheitlich konservativen städtischen Bürgertum. Dabei bediente er einen Zweig der Malerei, der bei der Schicht des Bürgertums aufgrund seiner repräsentativen, Hierarchie und Tradition betonenden Funktion angesehen war und gebraucht wurde. In Kombination mit seiner Malschule und seinen entwerfenden Tätigkeiten (für Plakate und Muster) schuf er sich ausreichend Einnahmequellen, die ihm eine gesicherte Existenz ermöglichten.
Museums zugänglich (http://www.digiporta.net/index.php?sf=2&bs=0&pe=Sallw%C3%BC rk&rp=3&rd=1, zuletzt besucht am 21.04.2019). 185 Von Sallwürk gehörte bereits dem Vorgänger des ersten eingetragenen Künstlervereins »Auf dem Pflug«, dem Kunstklub, an und war dann dort langjähriges Mitglied. Als Angehöriger des kurzzeitig aktiven Hallischen Ausstellerbundes, später des Künstlerrates sowie des nachfolgenden Wirtschaftsverbandes bildender Künstler engagierte er sich für die wirtschaftlichen Belange der halleschen Künstlerschaft. Schließlich war er, nachweislich ab 1919, auch im Halleschen Kunstverein aktiv. Er war damit Mitglied aller künstlerischen Gemeinschaften, die seinem inhaltlichen und stilistischen Kunstverständnis entsprachen. Vgl. Kopp, Künstlerverein, S. 71; LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle; SZ vom 18.08.1919, Nr. 384 (Abendausgabe); Dressler, Kunstjahrbuch 1906, S. 169; Dressler, Kunstjahrbuch 1911/12, Sp. 546/547; Dressler, Kunsthandbuch 1921, S. 499. 186 Für die Ölgemälde verlangte er zwischen 500 und 25.000 Mark. Vgl. Ausstellung des Künstlervereins a. d. Pflug, Halle 1921.
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4.3 Zwischen Kunstgewerbe und bildender Kunst – Berufskünstler der ersten Generation Der zweite Künstlertyp ist weniger durch seine Konzentration auf ein bestimmtes Bildsujet als vielmehr durch seine berufliche Stellung und öffentliche Identifikation als bildender Künstler definiert. Insofern kennzeichnet dieser Typus eine zeitlich begrenzte Phase in der Entwicklung des halleschen Kunstsystems in den Jahren vor der Wende zum 20. Jahrhundert. Zu diesem Zeitpunkt war nicht nur das quantitative Wachstum der Stadtbevölkerung, sondern auch die Ausdifferenzierung der lokalen Institutionen im Bereich der Kunstpflege so weit fortgeschritten, dass bildende Künstler Anknüpfungspunkte für ihr künstlerisches Schaffen fanden und das Bedürfnis, sich als solche zu organisieren, in konkreten Vergemeinschaftungsprojekten mündete. Franz Otto, der maßgeblich an der Einrichtung des Städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe beteiligt war und dessen Sammlung er als ehrenamtlicher Kurator betreute, war einer der zentralen Multiplikatoren und Kenner der örtlichen Kunstszene im ausgehenden 19. Jahrhundert. Er berichtete von den vor allem wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen sich Künstler konfrontiert sahen, die sich im 19. Jahrhundert in der Stadt niederließen. Dennoch fanden einige Bildhauer und Maler, die ihre Ausbildung an einer Akademie oder einer Kunstgewerbeschule erhalten hatten, den Weg in die Saalestadt und nahmen hier dauerhaft ihren Wohnsitz. Nach Ottos Aussage reichte die Auftragslage für Kunstwerke autonomen Charakters nicht aus, sodass »sie … sich sehr bald begnügen [mussten], ihre Kräfte in decorativen Stuckarbeiten zu verbrauchen«. Es gelang ihnen dennoch, als Künstler wahrgenommen zu werden und einen spezifisch künstlerischen Habitus zu entfalten. Paul Reiling (1856–1922), der sich im April 1877 an der Königlichen Akademie der Künste in Berlin immatrikuliert hatte187, ließ sich zu Beginn der achtziger Jahre in Halle als selbstständiger Bildhauer nieder.188 In einem in der Großen Ulrichstraße eingerichteten Atelier bot er seine Dienste als Stukkateur, Holz- und Steinbildhauer an. Genau wie Gustav Glück und Heinrich Keiling hatte er in Berlin bei Fritz Schaper studiert – der selbst seine schulische Ausbildung und eine Bildhauerlehre in Halle absolviert hatte und Zeit seines Lebens Verbindungen zur Stadt hielt – und wählte die Stadt fortan zu seinem Lebensmittelpunkt. Zur Unterscheidung von seinen handwerklich gebildeten Mitbewerbern, die ebenfalls als Bildhauer im Adressbuch und Gewerbeverzeichnis firmierten, führte er dort und zu anderen Gelegenheiten den Hinweis auf seine höhere Ausbildung an einer Kunstakademie (»akad.« oder »ak.«). Auch die Be 187 Vgl. StH, AU 1708. 188 Erstmals taucht er im Adressbuch des Jahres 1882 auf.
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zeichnung seiner Arbeitsstätte als Atelier nutzte er ganz bewusst, um sich von den übrigen Werkstätten für Bildhauerei abzusetzen189. Kurze Zeit später legte er seine Privatwohnung und sein Atelier im Wohnhaus am Harz 11 zusammen. Dass er dieses repräsentative Wohnhaus in Innenstadtnähe nur kurze Zeit nach seiner Niederlassung im Alter von erst Mitte zwanzig Jahren erwerben konnte, verweist auf seine Herkunft aus einem vermögenden Elternhaus. Sein Vater Gustav Reiling, von Beruf Drechslermeister, hatte sich bereits mit Anfang fünfzig zur Ruhe gesetzt und lebte fortan als Rentier und Hausbesitzer unter verschiedenen Adressen in Halle. Sein Geschäft einer »Spiel-, Galanterie- u. Korbwaarenhandlung«, das er bis spätestens 1879 führte, hatte er veräußert. Auch sein Sohn führte erfolgreich sein Geschäft und erzielte deutlich höhere Einnahmen als zeitgleich tätige Bildhauer. Die anlässlich der Urwahl angefertigten Steuerlisten für 1887 und vor allem 1895 zeigen, dass Reiling eine vergleichsweise hohe Einkommen- und Gewerbesteuer zu zahlen hatte.190 Der Künstler war vor allem als Gestalter ornamentaler und figuraler Bauplastiken tätig. Für die Neugestaltung der Fassade seines Wohn- und Geschäftshauses fertigte er Büsten der vier bekanntesten Künstler der italienischen Renaissance an. Seitdem verbildlichen und verkünden die Bildnisse Da Vincis, Tizians, Raffaels und Michelangelos das Selbstverständnis des Hauseigentümers als Künstler. Neben seiner Tätigkeit als Bildhauer engagierte sich Reiling als Stadtverordneter und Mitglied diverser Ausschüsse für stadtpolitische Belange. Sein kommunalpolitisches Engagement und seine Vernetzung innerhalb der städtischen Honoratiorenschaft unterstrich seine bürgerliche Existenz. In einem Nachruf, der in der ersten Ausgabe der Hallischen Nachrichten des Jahre 1923 erschien, würdigte ihn der Verfasser in diesem Sinn: »Er war unter seinen Mitbürgern und Freunden geachtet und geehrt als fester, freier Künstlercharakter, und darum wurde er in den 80er Jahren in das Stadtverordnetenkollegium gewählt, wo er jahrelang zum Wohle der Stadt in vielen Kommissionen gewirkt hat.«191
Nach Franz Ottos Tod fungierte Reiling als ehrenamtlicher Kurator des Städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe, bevor mit Sauerlandt erstmals ein besoldeter und als Kunsthistoriker ausgebildeter Direktor die Geschäfte 189 In Bezug auf das Handwerk und den Werkstattcharakter ihrer Arbeits- und Präsentationsräume verstanden sich Künstler der folgenden Generationen ganz anders. Sie betonten explizit die Nähe der bildenden Kunst zum Handwerk. Siehe folgendes Kapitel. 190 Er entrichtete eine Einkommensteuer in Höhe von 160 Mark. Nach dem 1891 reformierten Einkommensteuergesetz verdiente er damit zwischen 6.000 und 6.500 Mark in diesem Jahr. Durchschnittlich zahlten die in der Steuerliste von 1894 verzeichneten 32 Bildhauer knapp 17 Mark Einkommensteuer, was einem jährlichen Einkommen von etwa 1.500 Mark entsprach. Vgl. StH, Wahlbüro, Kap. IX, Nr. 10; Meitzen, Einkommensteuergesetz, S. 108. 191 HN vom 02.01.1923, Nr. 1. 1907 war er auch Vorstandsmitglied der Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 130, Bl. 117.
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des Museums übernahm.192 Hingegen gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass er einer Künstlergruppe angehörte oder durch Ausstellungen seiner Werke auf sich aufmerksam machte. Den ebenfalls Mitte der 1850er Jahre geborenen und in der Oberlausitz aufgewachsenen Heinrich Keiling traf er vermutlich während des Studiums bei Fritz Schaper in Berlin. Keiling war ab 1874 an der Berliner Akademie immatrikuliert und bis 1880 Meisterschüler in Schapers Atelier. Nachdem er zu Beginn der achtziger Jahre an verschiedenen Orten in Keramik- bzw. Porzellanfabriken tätig gewesen war, ließ er sich 1885 in Halle nieder, wo er zuerst bei Paul Reiling in dessen Haus am Harz 11 unterkam.193 Anders als bei Reiling, der gleich nach seinem Studium mit dem Hauserwerb und seiner Gremientätigkeit eine solide Stellung in der städtischen Bürgerschicht zu etablieren begann, waren Keilings Lebensweg und Karriereentwicklung über viele Jahre von Unbeständigkeit geprägt. Erst nach Ende des Ersten Weltkrieges, also 35 Jahre nachdem er sich in Halle niedergelassen hatte, bezog er im Advokatenweg eine dauerhafte Wohnstätte. Zuvor war er als wahrhafter Mietnomade unter mindestens zwölf verschiedenen Adressen gemeldet. Seine geschäftliche Präsenz in der Stadt zeigte sich ähnlich sprunghaft: Zwischen 1894 und 1920 wechselte er wenigstens fünf Mal seine Geschäfts- bzw. Arbeitsräume.194 Wie Reiling verlegte auch er sich auf das Fach der Baudekoration – er bot seine Dienste vor allem als Stukkateur an – und unterschied sich wie jener vor allem begrifflich von den BildhauerHandwerkern.195 Nur wenige freistehende Plastiken oder Skulpturen zeugen von seinem künstlerischen Schaffen. Der Ankauf einer seiner Büsten durch das städtische Museum 1892 würdigte sein künstlerisches Schaffen und brachte ihn ins Bewusstsein einer lokalen, kunstinteressierten Öffentlichkeit. Erfolgreich ging er aus einem Wettbewerb um die Gestaltung der Brunnenfigur für den Alten Markt in Halle hervor. Der »Esel der auf Rosen geht« wurde 1913 eingeweiht und festigte Keilings Ruf als Künstler. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde er wenige Jahre zuvor mit der Publikation der Hallischen Mappe bekannt, in der er mit einer Skulptur (»Junger Germane«) und einer Zeichnung (»St. Lucas, Schutzpatron der Maler«) vertreten war.196 Im Gegensatz zu Reiling war er Mitglied des ersten halleschen Künstlervereins, der die Mappe initiiert hatte, und unterstrich durch den Zusammenschluss mit anderen Künstlern sein Selbstverständnis als solcher. Weniger erfolgreich war Keiling in seiner Funktion als Zeichen- und 192 Vgl. Hüneke, Das schöpferische Museum, S. 16. 193 Vgl. StH, FA 735; StH, A 2.36, Nr. 863 Bd. 1, Bl. 248–251. 194 Zu Beginn der neunziger Jahre war Reiling Teilhaber von »Keiling & Comp. Bildhauerei und Stuckgeschäft«. Sie trennten sich nach wenigen Jahren wieder. Vgl. Adressbuch Halle 1893. 195 Nicht durchgängig führte er vor seiner Berufsbezeichnung im Adressbuch den Zusatz »akad.« und bezeichnete seinen Arbeitsraum nicht als Werkstatt, sondern als Atelier. Adressbuch Halle, 1886–1933. 196 Vgl. HZ vom 19.11.1892, Nr. 272 (Zweite Ausgabe); Hallische Mappe, S. 91 und 92.
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Modellierlehrer. Ab 1886 (bis 1927) erteilte er in nebenamtlicher Position Unterricht an der Staatlich-städtischen Handwerkerschule. Als er sich 1906 um eine Festanstellung bemühte, um fortan allein von der Lehrtätigkeit seinen Unterhalt bestreiten zu können, wurde sein Gesuch abschlägig beschieden, nachdem ihn der Schuldirektor Brumme aufgrund seiner »Schwerfälligkeit« in der Lehre als voll beschäftigten Lehrer ablehnte. Trotz eines Beschlusses des Kuratoriums der Handwerkerschule vom 17. März 1909, Keiling »mit Rücksicht auf seine unzureichenden Lehrergebnisse«197 entlassen und für die eventuelle Neueinrichtung einer Bildhauerklasse definitiv einen anderen Lehrer einstellen zu wollen, blieb er weiterhin als Hilfslehrer beschäftigt. Mit dem Amtsantritt Thierschs, der einen gänzlich anders ausgerichteten Kunstbegriff und ein neues pädagogisches Konzept verfolgte, wurden Keiling und andere Kollegen des »alten« Lehrkörpers für den Abend- und Ergänzungsunterricht abgestellt.198 Richard Horn, einer seiner Schüler und in den zwanziger Jahren einer der populärsten Künstler der Stadt, urteilte ebenso negativ über die pädagogisch-künstlerischen Fähigkeiten Keilings lakonisch: »Was wir Schüler bei ihm lernten war für die Katz.«199 Trotz der Geringschätzung seiner Fähigkeiten als Lehrer vermochte er aus dieser Quelle über drei Jahrzehnte sein Einkommen aufzubessern, das im Vergleich mit seinen Bildhauerkollegen in den Jahren 1893 und 1915 deutlich höher ausfiel. Offenbar wurde ihm als Bildhauer und Baudekorateur deutlich mehr Vertrauen entgegengebracht. Dennoch wollte er seine Tätigkeit als selbstständiger Bildhauer gegen eine Festanstellung im öffentlichen Dienst und damit für ein regelmäßiges Einkommen tauschen. Auch Gustav Glück, den Otto als dritten Schüler Fritz Schapers benannte, bewegte sich mit seinem Geschäftsmodell im gleichen Tätigkeitsfeld, zählte jedoch die Kunstbildhauerei explizit zu seinen Aufgabenbereichen. Andererseits erweiterte er seine Kunst und Kunstgewerbe umfassende Produktpalette auch um ein »Lager … sämmtlicher Beleuchtungsgegenstände, Kunst-, Luxus- und Industrie artikel«200 sowie »Gas- und Wasseranlagen, Bauklempnerei« und ein »Magazin für deutsches Kunstgewerbe«201, was weniger dem Berufsprofil eines Künstlers entsprach.202 Glück scheute sich nicht, seine Geschäftstätigkeit um Sparten zu erweitern, die weder an seine künstlerische Ausbildung erinnerten noch überhaupt seine (kunst-)handwerklichen Fähigkeiten erforderten. Stattdessen bot er in seinem Geschäft auch Produkte aus fremder Hand an und popularisierte das 197 StH, A 2.36 Nr. 863 Bd. 1, Bl. 774. 198 Vgl. StH, A 2.36, Nr. 863 Bd. 1, Bl. 248–251; StH, S 16, Nr. 46. 199 StH, FA 1343. 200 Vgl. Adressbuch Halle 1885. 201 Vgl. Adressbuch Halle 1890. 202 Mit seinem Geschäft war Gustav Glück überaus erfolgreich, wie seine Veranlagungen zur Einkommensteuer 1873, 1877 und 1887 zeigen. Vgl. StH, Wahlbüro, Kap. VII, Nr. 6, Nr. 7 und Nr. 9.
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zeitgenössische Kunstgewerbe. Dass sein Interesse über den Gewinn am Verkauf billig produzierter Industrieware hinausging und er die Verbreitung einer neuen, auf Qualität und Zweckdienlichkeit ausgerichteten Produktästhetik zum Ziel hatte, belegt seine Mitgliedschaft im halleschen Kunstgewerbeverein, dem er am Ende der achtziger Jahre vorsaß.203 Was ihr Kerngeschäft anbetraf, bewegte sich die erste Generation akademisch gebildeter Bildhauer eng am Tätigkeitsbereich ihrer handwerklich geschulten Konkurrenten. Dennoch hoben sie sich hinsichtlich ihres finanziellen Erfolges deutlich von ihnen ab. Sie konzentrierten sich im Alltagsgeschäft auf den Bereich des Kunsthandwerks und blieben ihrer handwerklichen Herkunft verbunden.204 Entsprechend des lokalen Bedarfs schufen sie mit ihren Geschäften ein Angebot für gehobene ästhetische Ansprüche wohlhabenderer Bevölkerungsschichten. Um ausschließlich vom Verkauf freikünstlerischer Auftragsarbeiten zu leben, reichte der Bedarf nicht aus. Für ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung als Künstler war es daher umso wichtiger, sich durch einen bestimmten Habitus, Teilnahme an Ausstellungen oder der Mitgliedschaft in kunstbezogenen Gemeinschaften als Künstler zu definieren. Der Gruppe der Berufskünstler der ersten Generation, die eine explizit künstlerische Ausbildung genossen und sich in ihrem öffentlichen Auftreten als Künstler von Beruf kennzeichneten, sind auch einige Maler zuzurechnen. Heinrich Kopp und Alfred Weßner-Collenbey wurden 1869 bzw. 1873 jenseits der halleschen Stadtgrenze geboren und ließen sich Ende der neunziger Jahre beruflich in der Saalestadt nieder. In beider Biografien und künstlerischen Karriereverläufen lassen sich weitere Parallelen und intensive Berührungspunkte entdecken. Obwohl sich ihre Tätigkeiten als Künstler sehr ähnelten, führten Kopp und Weßner unterschiedliche Wege in ihr künstlerisches Berufsleben. Weßner absolvierte Ende der achtziger Jahre eine Ausbildung zum Dekorationsmaler und besuchte parallel die Gewerbeschule des Gewerbevereins in Dresden. Dort erhielt er nicht nur Unterricht im Freihandzeichnen, Projektionslehre und gewerblichem Zeichnen, sondern wurde auch in allgemeinbildenden Fächern wie Rechnen, Schönschreiben und Orthografie geschult. Außerdem belegte er das Fach »Buchhalten«, das ihn auf seine potentielle Zukunft als Gewerbetreibender vorbereiten sollte.205 Nach seiner Wanderzeit als Dekorationsmaler besuchte 203 Vgl. Adressbuch Halle 1885, Vierter Nachweis, S. 155. 204 Sowohl Reilings als auch Glücks Väter waren beide selbstständige Handwerksmeister (Drechslermeister bzw. Holz- und Metalldrechslermeister). Vgl. StH, Wahlbüro, Kap. VII, Nr. 6; Adressbuch Halle 1866. 205 Die Forderung, auch Künstler in solchen berufspraktischen Fächern auszubilden, wurde vor allem im Kontext der Kunstgewerbebewegung erhoben. An Akademien waren diese Fähigkeiten nicht Bestandteil des Curriculums. – Sein Zeugnis für das Winterhalbjahr 1888/89 bescheinigt Weßner, ein sehr fleißiger und guter Schüler gewesen zu sein. Vgl. StH, N 45 Nr. 10.
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er in Halle die private Malschule des Dekorationsmalers Wilhelm Zander. In seiner Ausbildung hielt Weßner, dessen Vater selbst Malermeister war, enge Verbindung zum malenden Handwerk. Heinrich Kopp hingegen führte seine Ausbildung nach zweijähriger Lehrzeit und dem Besuch einer Zeichenschule an der Karlsruher Kunstschule für drei Jahre und für ein Semester an der Münchener Akademie der Künste fort. Nach dem Ende ihrer Ausbildungszeit waren beide vorerst als Zeichner angestellt. Weßner arbeitete eine Zeit lang in der »Graphischen Kunst- u. Verlagsanstalt Schurade & Co.«, Kopp in einer Firma in Aschers leben. In einer wohlmeinenden Persiflage, die seine halleschen Künstlerfreunde anlässlich seiner Heirat auf sein bisheriges Leben dichteten und zeichneten, wird seine Anstellung in Aschersleben wenig schmeichelhaft als »Verwahrung Für einen Wochenlohn« beschrieben.206 Nach einer ausartenden Streiterei, so legt dieselbe Erzählung nahe, verließ Kopp Aschersleben in Richtung Halle und etablierte sich seitdem als selbstständiger Zeichner und Kunstmaler.207 Kopp ordnete sich im Lauf der Jahre sowohl der Kunst als auch dem Kunstgewerbe zu. Im Gewerbeverzeichnis des Jahres 1914 pries er insbesondere seine Fähigkeiten beim Entwerfen von Plakaten und anderen grafischen Arbeiten an.208 Einen Hauptteil seiner Arbeitskraft widmete er der Lehre an der Staatlich-städtischen Handwerkerschule, an der er im April 1900 als Hilfslehrer angestellt wurde.209 Mit dem Ausbau der kunstgewerblichen Abteilung der Handwerkerschule nahm sein Lehrumfang stetig zu, sodass ihm schließlich die Leitung der Klasse für Dekorationsmalerei übertragen wurde. Seine Berufung als hauptamtlicher Lehrer erfolgte jedoch erst im April 1917 und verhalf ihm zu einer Anstellung auf Lebenszeit.210 Im Gegensatz zu Keiling wurden die pädagogischen Qualitäten und künstlerischen Leistungen Kopps hoch geschätzt. Dennoch ereilte ihn unter der Direktorenschaft Thierschs das gleiche Schicksal wie Keiling und er wurde für den Unterricht in den Abend- und Ergänzungskursen eingeteilt. Jenseits seiner Lehrtätigkeit hatte sich Kopp »durch gute Leistungen auf künstlerischem Gebiete auch außerhalb der Schule Ansehen verschafft.«211 Zuerst trat er 1899 mit 206 Wahrscheinlich zeichnet sein Freund Weßner-Collenbey für diesen illustrierten Reim »Die blutige Geschichte vom roten Heinrich« verantwortlich, in dessen Nachlass sie sich befindet. Vgl. StH, N 45 Nr. 28. 207 Erstmals erscheint Kopp im halleschen Adressbuch des Jahres 1900. Sein Atelier richtete er in seiner Wohnung in der Albrechtstraße 46 ein. Später unterhielt er ein Atelier in der Alten Promenade 8, wo auch andere Künstler zu arbeiten pflegten. 208 Vgl. Adressbuch Halle 1914, Teil III, S. 41. 209 Schließlich betrug sein Arbeitsumfang 24 Wochenstunden in den Tages- und Abendklassen. 210 Als hauptamtlich angestellter Lehrer verdiente Kopp etwa 4.000 Mark jährlich (1917). Dieses Einkommen lag um ein Vielfaches höher als der durchschnittliche Verdienst eines Dekorationsmalers 1915. Vgl. GeStaPK, I. HA Rep. 120 Ministerium für Handel und Gewerbe, Anhang Nr. 2361; StH, A 2.36 Nr. 863 Bd. 1, Bl. 33. 211 Vgl. GeStaPK, I. HA Rep. 120, Nr. 2361.
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einer Ausstellung seiner Werke im Städtischen Museum für Kunst und Kunstgewerbe an die Öffentlichkeit. Zwei Jahre später war er mit vier Werken in der Wanderausstellung des halleschen Kunstvereins vertreten.212 Seine Beiträge zur 1910 publizierten Hallischen Mappe vermessen die Spannbreite seiner künstlerischen Tätigkeit als Landschaftsmaler, Grafiker und Illustrator. Wenige Jahre später als Kopp wagte auch Weßner den Schritt in die künstlerische Selbstständigkeit. Im Gegensatz zu Kopp bekleidete er keine Lehrstelle, sondern war ausschließlich auf sein Einkommen als freischaffender Künstler und kunstgewerblicher Zeichner angewiesen. Sein Nachlass enthält eine Fülle an Entwürfen, die seinen Tätigkeitsbereich umreißen. Weßner, der von 1907 bis 1920 sein Atelier im Schloss zu Collenbey unterhielt und danach gemeinsam mit Kopp an der Alten Promenade 8 arbeitete, zeichnete für verschiedene hallesche Auftraggeber. Er machte sich insbesondere bei Süßwaren- und Genussmittelproduzenten im mitteldeutschen Raum einen Namen und entwarf jahreszeitlich entsprechende Motive für das Packpapier.213 Mit seinen Entwürfen für Werbeanzeigen, Plakate, Einladungskarten und Vereinsgaben belieferte er auch verschiedene Vereine und Gesellschaften, darunter den Hallischen Alpenverein und den Vaterländischen Frauenverein der Stadt. Er wurde auch tätig für die Stadtverwaltungen von Halle und Merseburg mit Ansichten ihrer markanten Gebäude und Plätze, die unter anderem als Vorlagen für Ansichtskarten dienten. Seine Tätigkeit als Illustrator nimmt in seinem Nachlass besonders großen Raum ein. In unterschiedlicher Qualität und Detailreichtum der Ausführung lieferte er Grafiken und Aquarelle zur Bebilderung von Monografien und Zeitschriften214. Vor allem zu Sigmar von Schultze-Galléras jeweils mehrbändigen Werken »Geschichte der Stadt Halle« und »Wanderungen durch den Saalkreis« fertigte er zahlreiche kleinformatige Zeichnungen von Landschaften und Architekturensembles an. Seine Tätigkeit als Illustrator führte zu einer dauerhaften Zusammenarbeit mit dem renommierten halleschen Verlag Gebauer- Schwetschke.215
212 Vgl. Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1898/99, S. 159; Katalog Kunst-Ausstellung 1901, S. 26. 213 Unter anderem wurde er tätig für die Mignon-Schokoladen-Werke, Most GmbH Halle Kakao- und Schokoladenfabrik, Gebrüder Hillers Schokoladenfabrik Gräfrath, Gebrüder Spoer Kakao- und Schokoladenwerke Barleben-Magdeburg, Kurt Schmiedicke LutherstadtWittenberg Schokoladen- und Konfitürenfabrik sowie Robert Berger GmbH Pössneck i. Thür. Kakao-und Schokoladenfabrik, Lucca. 214 Er fertigte Entwürfe für die Titelseiten der Zeitschriften »Landwirtschaftliche Wochenschrift« (1933, 1934) und »Landelektrizität. NachrichtenBl.« (1935). Außerdem war er mehrfach für die Illustration des halleschen Heimatkalenders zuständig. Vgl. StH, N 45, 4 und 8. 215 Unter anderem illustrierte er den mehrmals aufgelegten (1905 bei Gebauer-Schwetschke, 1907 Verlag Curtius Berlin) erschienen Reisebericht von H. Hackmann »Von Ohmi bis Bhamo.
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Als Werbegrafiker und Illustrator gestaltete sich sein Verdienst je nach Auftragslage. In einer für ein Jahr überlieferten Liste notierte Weßner alle Einnahmen aus seiner kunstgewerblichen Tätigkeit. Insgesamt erwirtschaftete er in diesem Jahr 3.610 Mark, die sich aus Beträgen zwischen 50 und 210 Mark speisten; für den Entwurf einer Banderole für den Schokoladenfabrikanten Riquet für ihre Weihnachtsverpackungen stellte er beispielsweise 70 Mark in Rechnung. Er lag damit nur wenig unter dem Einkommen, das Kopp ab 1917 jährlich als hauptamtlich angestellter Lehrer erhielt. Bei diesem Vergleich ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Verdienst in wirtschaftlicher Selbstständigkeit Schwankungen unterworfen war (in dem dokumentierten Jahr lag der monatliche Verdienst zwischen 140 und 490 Mark) und den Einnahmen Ausgaben für Material und Ateliermiete gegenüberstanden.216 Bei Betrachtung der Bandbreite seiner kunstgewerblichen Tätigkeit, der Anzahl und Unterschiedlichkeit seiner Auftraggeber und der Angaben zu seinen Einkünften sowie Preisangaben auf einzelnen seiner Entwurfsarbeiten lässt sich konstatieren, dass Alfred Weßner als Werbegrafiker und kunstgewerblicher Zeichner etabliert war und diese Tätigkeit ihm gute Verdienstmöglichkeiten bot. Heinrich Kopp und Alfred Weßner waren bald nach ihrer Niederlassung als freischaffende Künstler in Halle im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Protagonisten der ersten aktenkundlichen Künstlergemeinschaft im modernen Halle. Gemeinsam mit Robert Moritz und wenigen anderen begründeten sie eine Künstlerklause, die Skizzenklause »Jugend«217, die aus einem vom Kunstgewerbeverein veranstalteten Aktzeichenkurs hervorgegangen war. In wechselnden Lokalen trafen sie sich regelmäßig zum gemeinsamen Arbeiten und anderen Aktivitäten. Die Einladungen zu den meist abendlichen Treffen ergingen schriftlich an die Mitglieder und wurden von Weßner gereimt und grafisch gestaltet. Die Einladungstexte weisen darauf hin, dass es sich um eine lockere kleine Künstlergemeinschaft handelte, deren Mitglieder nicht eben regelmäßig zu den Versammlungen erschienen. In drängendem Ton lud Weßner daher am 28. Januar 1898 zur nächsten Sitzung: »Das Aktzeichnen hat seinen Anfang genommen, Doch bis jetzt ist noch niemand wiedergekommen. Macht hin, kommt Dienstag wieder! Man muss sich ja vor dem Modelle schämen.«218
Wanderungen an den Grenzen von China, Tibet und Birma«. Die zahlreichen, im Nachlass befindlichen originalen Zeichnungen, die teilweise aquarelliert sind, beeindrucken durch ihren Detailreichtum und ihre Farbigkeit. Vgl. StH, N 45, Nr. 18. 216 Der Vergleich mit Kopps Einkommen trägt jedoch nur, insofern die zitierte Liste der Einnahmen nicht während der Inflationszeit der unmittelbaren Nachkriegsjahre entstammt. Vgl. StH, N 45, Nr. 1. 217 Vgl. Kap. IV, 5.1.1. 218 StH, N 45, Nr. 28.
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Um die Jahrhundertwende löste sich die Gemeinschaft, deren Oberhaupt W eßner war, wieder auf. Bedeutender als die Anfänge waren die nachfolgenden Initiativen zur Bildung einer künstlerischen Gemeinschaft, die 1905 schließlich in der Gründung des Künstlervereins auf dem Pflug gipfelten, der über die Machtergreifung der Nationalsozialisten hinaus Bestand hatte. Sowohl Weßner als auch Kopp waren Mitglieder und zeitweise Vorstandsvorsitzende des Pfluges. Auch in den stärker wirtschaftlich orientierten Künstlerverbänden der Nachkriegszeit waren beide organisiert.219 Jenseits ihrer kunstgewerblichen bzw. Lehrtätigkeit machten sich Weßner und Kopp vor allem als Landschaftsmaler einen Namen. In verschiedenen Ausstellungen des Pfluges und in der Hallischen Mappe präsentierten sie vorrangig – wie es Kopp auch als Kern der im Pflug gepflegten Künstlergeselligkeit definierte220 – Ansichten ihrer mitteldeutschen Heimat.221 Die erste Generation hallescher Berufskünstler, die sich als Maler oder Bildhauer in der Stadt niederließen, bestritt ihren Lebensunterhalt aus kunstgewerblicher Tätigkeit, d. h. aus Auftragsarbeiten, die einen nicht ausschließlich künstlerischen Zweck verfolgten. Sie boten ihre Dienste auf der Grundlage wirtschaftlicher Selbstständigkeit an oder waren neben- bzw. hauptamtlich an der Staatlich-städtischen Handwerkerschule beschäftigt. Dabei waren sie mitunter sehr erfolgreich. Als bildende Künstler machten sie außerhalb ihrer geschäftlichen Tätigkeit auf sich aufmerksam, indem sie mehr oder weniger aktive Teilnehmer des städtischen Kunstsystems wurden, das sich zum Ende des 19. Jahrhunderts zu entfalten begann.
4.4 Der Aufstieg des Dekorationsmalers Der Beruf des Dekorationsmalers erlangte im Kontext der Kunstgewerbe bewegung in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts besonderes Gewicht. Der reichsweite Trend des Wachstums der Betriebe und Beschäftigtenzahlen im Malergewerbe widerspiegelte sich auch in Halle. Vor dem Hintergrund des vergleichsweise späten Industrialisierungsschubes, Bevölkerungs- und Wohl 219 Kopp starb im Jahr 1922. Zuvor war er Mitglied im 1919 gegründeten Hallischen Künstlerrat. Weßner war Mitglied der Ortsgruppe Halle des Wirtschaftsverbandes bildender Künstler und im Künstlerverein vor allem am Ende der zwanziger und in den frühen dreißiger Jahren im Künstlerverein auf dem Pflug im Vereinsvorstand aktiv. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Künstlerverein auf dem Pflug, Bl. 73,77,81, 87; LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband bildender Künstler, Bl. 48. 220 Vgl. Kopp, Künstlerverein, S. 72. 221 Vgl. SZ vom 30.10.1923, Nr. 255; VB vom 18.11.1930, Nr. 270; VB vom 21.11.1930, Nr. 272; StH, FA 2464; Hallische Mappe, S. 13 und 55/56; Katalog Kunst-Ausstellung 1901, S. 26.
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standswachstums während der Gründerjahre stieg die Zahl der Malerbetriebe zwischen 1870 und 1900 um das Zweieinhalbfache von 60 auf 152.222 Vor allem bei der Ausmalung von Privathäusern und öffentlichen Gebäuden bot sich ihnen Arbeit. Jenseits des wachsenden Bedarfs durch die wirtschaftliche Entwicklung profitierte das Fach der Dekorationsmalerei von der zunehmenden Aufmerksamkeit für Stil und Qualität im Rahmen der Kunstgewerbebewegung. Die allerorts eingerichteten kunstgewerblichen Sammlungen sowie Handwerker- und Kunstgewerbeschulen sahen in der Unterrichtung der angehenden Maler einen Schwerpunkt ihrer Bestrebungen. Auch in Halle wurde mit der Einrichtung einer Tagesklasse für Dekorationsmaler Ende der achtziger Jahre an der Handwerkerschule diese Entwicklung aufgegriffen. Mit der Einstellung des gelernten Dekorationsmalers Adolf Maennchen223, der vor dem Antritt dieser Stelle an den Kunstakademien in Berlin und Paris studiert hatte, wurde der künstlerische Anspruch der Dekorationsmalerei betont. Maennchen, der neben seiner öffentlichen Anstellung ein privates Schüleratelier führte, war während seiner Zeit in Halle Mitglied des Kunstgewerbevereins und als bildender Künstler in einer Ausstellung im städtischen Museum und in halleschen Privatsammlungen präsent. Als die Dekorationsmalerklasse zu Beginn der neunziger Jahre aufgrund mangelnden Interesses wieder geschlossen wurde, verließ Maennchen Halle in Richtung Danzig, wo er von 1893 bis 1901 an der Gewerkeschule erneut als Kunstgewerbelehrer tätig war. Dem folgte ein Ruf an die Kunstakademie Düsseldorf, wo er ab 1902 als Professor lehrte.224 Maennchens Karriereweg – anlässlich des Rufs nach Düsseldorf wurde er beschrieben als »aus dem Kunstgewerbe herausgewachsen«225 – von der handwerklichen Lehre und Wanderzeit als Dekorationsmaler über sein Kunststudium zur akademischen Lehrstelle vermisst die Spannweite der Dekorationsmalerei. Der Beruf des Dekorationsmalers war an der Schnittstelle zwischen Handwerk und Kunst angesiedelt und entwickelte den Beruf des Stubenmalers in kunstgewerblicher Stoßrichtung weiter. Max Koch, Professor und Lehrer an der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums, definierte den Dekorationsmaler in seinem Vortrag, 222 Vgl. Manig / Schlegel, Handwerk, S. 12. – Hugo Hilligs Auswertung der reichsweit durchgeführten Berufs- und Gewerbezählungen ergab, dass das größte Wachstum im Malergewerbe – sowohl hinsichtlich der Zahl der Gewerbebetriebe (um 29 %) als auch der Berufszugehörigen (90 %) – zwischen 1882 und 1895 erfolgte. In seinem Bericht über die Entwicklung der Dekorationsmalerei zeichnet Hillig eine sehr düstere Entwicklung des Malergewerbes in den Jahren um 1900, in denen sowohl die Qualität als auch das berufliche Selbstverständnis der Maler stark gelitten hätten. Vgl. Hillig, Der kunstgewerbliche Arbeiter. 223 Maennchen wurde 1860 in Rudolstadt geboren und starb 1920 in Düsseldorf. 224 Vgl. Brumme, Handwerkerschule, S. 4; Dressler, Kunstjahrbuch 1906, S. 135; Ausstellung von Kunstwerken aus Hallischem Privatbesitz, S. 16 und 44; Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1894, Halle 1893–95, S. 7; Otto, Städtisches Museum, S. 10/11. 225 N. N., Von Ausstellungen und Sammlungen.
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den er im Januar 1893 im Verein für Kunstgewerbe in Berlin hielt und der später im Kunstgewerbeblatt veröffentlich wurde, so: »Dekorationsmaler nenne ich den Maler, welcher die durch die Architektur an den Wänden und der Decke gegebenen Flächen mit Malwerk verziert.«226
Im Gegensatz zum Maler an der Staffelei müsse sich der Dekorationsmaler am räumlichen Kontext orientieren, die Funktion und Wirkung seiner Malerei im gestalterischen und inhaltlichen Umfeld verorten. Darüber hinaus sei er zudem mit besonderen technischen und körperlichen Anforderungen konfrontiert, die sich aus den Malgründen und räumlichen Dispositionen ergäben. Jenseits dieser ortsabhängigen Vorgaben sei die Dekorationsmalerei ein Feld sowohl für handwerklich-ausführende als auch bildkünstlerisch-schöpferische Kräfte. Der Beruf des Dekorationsmalers zählte zeitgenössisch zum Malergewerbe, wenn sich auch oftmals Künstler in der dekorativen Malerei betätigten, die ein wirtschaftlich lukratives Tätigkeitsfeld darstellte. Diverse zeitgenössische Berufspädagogen beharrten auf der handwerklichen Grundlegung des Berufs des Dekorationsmalers, hielten ihn aber gleichwohl als Ausbildungsberuf für künstlerisch begabte Kräfte als wirtschaftliche Basis geeignet.227 Ausgehend von der Ausbildung zum Dekorationsmaler strebten viele hallesche Nachwuchskünstler eine künstlerische Berufslaufbahn an. Nach der Schließung der Klasse für Dekorationsmaler an der Handwerkerschule bestand die Möglichkeit, an der von Wilhelm Zander geführten privaten Malschule weiterbildenden Unterricht zu erhalten.228 Zander, der bis zu seinem Tod 1906 oder 1907 ein Atelier und besagte Schule unterhielt, war ab 1861 als selbstständiger Unternehmer und Geschäftsinhaber in Halle tätig. Als Malermeister erhob er sich in kunsthandwerklicher Hinsicht weit über seine Mitstreiter und wurde von Franz Otto, dem ersten Kurator des Städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe, für seine Fähigkeiten gelobt, die über handwerkliche Fertigkeit hinausgingen.229 Gemeinsam mit Maennchen zeichnete Zander für die Einrichtung einer kunstgewerblichen Sammlung unter dem Schirm des Kunstgewerbevereins verantwortlich, die 1894 eröffnet wurde und mit der die Unterzeichnenden die Hoffnung verbanden, die in der Stadt vorhandenen
226 Koch, Dekorationsmaler, S. 105. 227 Vgl. ebd., S. 105–107; Hebing, Dekorationsmaler, S. 54–62; Lessing, Kunstgewerbe als Beruf, S. 14–19; Widmer, Erziehung, S. 8–9. 228 Im Gewerbeverzeichnis des Adressbuchs von 1900 wurde Zander als »Lehrer für Zeichnen und Malen« geführt. In seiner Schule lernten sich die beiden Maler und kunstgewerblichen Zeichner Alfred Weßner-Collenbey und Heinrich Kopp kennen (siehe Kap. IV., 4.3.). Vgl. Adressbuch Halle 1900, II. Teil, S. 50; StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1. Bl. 90–91; StH, FA 2464. 229 Otto, Städtisches Museum, S. 6.
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»künstlerischen Kräfte …, die einer höheren Ausbildung fähig und wert sind« zu inspirieren.230 Der 1835 geborene Zander durchlebte den Aufstieg der Dekorationsmalerei im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in eigener Person231 und nahm als Lehrer sowie Mitglied und Vorsitzender des Kunstgewerbevereins aktiv an der kunstgewerblichen Orientierung des Berufsbildes Anteil. Im Sinne der Annäherung von Handwerk und bildender Kunst, die von der Kunstgewerbebewegung vorangetrieben wurde und für die der Beruf des Dekorationsmalers besonders augenfällig war, ist Zander für den halleschen Kontext in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine typische Figur.232 Mit seinem Geschäftsprofil war er wirtschaftlich erfolgreich, sodass er 1894 in der II. Klasse wählte.233 Kurz nach der Jahrhundertwende wurde erneut eine Tagesklasse für Dekorationsmaler an der städtischen Handwerkerschule eröffnet. Für ihre Leitung empfahl deren Kuratorium dem Magistrat Karl Jolas, den es aus 29 Bewerbern ausgewählt hatte. Der Leipziger Dekorationsmaler hatte seine vierjährige Ausbildung an der Nürnberger Kunstschule, die vor allem in den lokal bedeutsamen Malergewerben ausbildete, erhalten und nach praktischer Tätigkeit als Dekorationsmaler an der Münchener Akademie fortgesetzt.234 Erneut fiel die Wahl also auf einen akademisch gebildeten Maler. Im Gegensatz zu Maennchen hatte Jolas im Anschluss an seine gymnasiale Schulzeit keine klassische Handwerkerausbildung als Lehrling durchlaufen, sondern den Beruf des Dekorationsmalers auf schulischem Weg erlernt. Die von Jolas geleitete Klasse wurde für eine neue Generation hallescher Dekorationsmaler, die später in städtischen Künstlerkreisen verkehrten oder sich als Kunstmaler bezeichneten, eine Station ihrer beruflichen Ausbildung. Die um 1890 geborenen Hallenser Moritz Zeschmar, Paul Pabst, Werner Lude, Friedrich Altmann, Karl Schmidt sowie Kurt und Karl Völker besuchten wäh 230 Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1894, S. 7. 231 In den Steuerlisten der Jahre 1875, 1877 und 1887 bezeichnete er sich nacheinander als Stubenmaler, Malermeister und Dekorationsmaler. Vgl. StH, Wahlbüro, Kap. VII, Nr. 6; StH, Wahlbüro, Kap. VII, Nr. 7 und Nr. 9. 232 Zander war nicht nur aktives Mitglied des Kunstgewerbevereins, sondern übernahm auch wichtige Posten in der Handwerkskammer, war Mitglied der Museumskommission und Stadtverordneter. Vgl. Adressbuch Halle 1894, Teil I, S. 282; Bericht Gemeindeangelegenheiten Halle 1898, S. 13; Bericht der Handwerkskammer zu Halle a. S. über das Geschäftsjahr 1900 (1. April 1900 bis 31. März 1901), Halle 1901. 233 Sein Einkommen im Jahr 1893 lag etwa gleichauf mit dem des akademischen Bildhauers Paul Reiling. Zander erreichte unter den vier verzeichneten Dekorationsmalern das höchste Einkommen. Neben ihm bezeichneten sich noch drei weitere Personen explizit als Dekorationsmaler. Zwei davon unterhielten jeweils ebenfalls einen eigenen Gewerbebetrieb, zahlten jedoch wesentlich geringere Einkommen- sowie Gewerbesteuern. Einer der Dekorationsmaler arbeitete als solcher im Angestelltenverhältnis und erwirtschaftete nur ein vergleichsweise geringes Einkommen. Vgl. StH, Wahlbüro, Kap. IX, Nr. 10. 234 Vgl. StH, A 2.36 Nr. 863 Bd. 1, Bl. 30, 33 und 34.
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rend ihrer Lehrzeit als Dekorationsmaler oft über mehrere Semester den Unterricht bei Karl Jolas und Heinrich Kopp.235 Die Bewerbungsunterlagen, die sie für eine finanzielle Unterstützung ihrer Ausbildung durch die Ernst und Anna Haaßengier-Stiftung einreichten, machen deutlich, dass die Berufsausbildung zum Dekorationsmaler eng mit der Perspektive auf eine Künstlerlaufbahn verbunden war.236 Von Werner Lude, Paul Pabst und Karl Völker ist bekannt, dass sie ihre praktische und schulische Ausbildung zum Dekorationsmaler auf weiterführenden Schulen ergänzten. Lude besuchte für ein Semester die Kunstgewerbeschule in Düsseldorf, bevor er schließlich für mindestens ein Jahr an der Kunstakademie Weimar studierte.237 Karl Völker und Paul Pabst wiederum erhielten für einige Semester Unterricht im Meisteratelier für Wandmalerei an der Dresdener Kunstgewerbeschule.238 Während manche der Dekorationsmaler mit künstlerischen Ambitionen ihrer Tätigkeit nach stark im handwerklichen oder kunsthandwerklichen Bereich arbeiteten,239 bildeten andere eine starke Künstlerpersönlichkeit aus und waren als solche auf Ausstellungen und als aktive Mitglieder der Künstlergruppen präsent. Von den anfangs genannten gelernten Dekorationsmalern waren Werner Lude, Paul Pabst und Karl Völker Fixpunkte im städtische Kunstsystem. Erste öffentliche Auftritte wagten alle drei vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Während Pabst im städtischen Museum ausstellte und seine dort gezeigten Werke in der lokalen Presse als »äußerst korrekte und saubere Malerei« beschrieben wurden, die »auf alle impressionistischen Wirkungen« verzichteten, erregten Lude und Völker als Mitglieder der Freien Künstlervereinigung in einer Ausstellung im Halleschen Kunstverein 235 Der Schulbesuch gestaltete sich oft so, dass die Lehrlinge im Winter die Tagesklassen der Handwerkerschule und im Sommer aufgrund der besseren Auftragslage den Abendunterricht oder den Unterricht am Wochenende besuchten. 236 In seiner soziologischen Studie, die Peter Stromberger zu Beginn der 1960er Jahre durchführte, bemerkte er den abnehmenden Anteil der Künstler, die vor ihrer Künstler laufbahn eine Ausbildung zum Dekorationsmaler durchlaufen hatten. Vgl. Stromberger, Malerei, S. 58. 237 Vgl. HN vom 16.01.1925, Nr. 13. 238 Meinel, Karl Völker, S. 11 und 45. 239 Friedrich Altmann, der in seiner Bewerbung an die Stiftung 1911 die Absicht formulierte »im Fach der dekorativen und monumentalen Malerei künstlerisch gutes zu leisten«, konzentrierte sich in der Folge als Malermeister auf die Dekorations- und Firmenmalerei. In zeitgenössischen Ausstellungsverzeichnissen und unter den Mitgliedern der verschiedenen künstlerischen Vereinigungen taucht er hingegen nicht auf. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 132, Bl. 228–229; Adressbuch Halle 1925, Teil I, S. 4. – Ebenso schmale Spuren hinterließ Moritz Zeschmar in der städtischen Kunstgeschichte. Erst 1933 taucht sein Name auf der Ausstellerliste (»Die Heimat im Bilde«) in künstlerischen Zusammenhängen auf. Im Adressbuch war er ab 1921 wechselnd als Kunst-, Theater-, Dekorations- und Reklamemaler zu finden. Insofern erfüllte sich seine 1911 formulierte Absicht »die hallische Kunst zu pflegen, um mich später als Hallescher Künstler niederzulassen«. Ende der zwanziger Jahre führte er für kurze Zeit ein Café im Alten Markt 20. Vgl. StH, A 2.3 Nr. 132, Bl. 79–80.
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1913 Aufsehen, weil sie sich vom lieblichen und naturalistischen Stil der Pflüger entfernten.240 Nach Ende des Krieges traten die seit der Vorkriegszeit einander bekannten Künstler als Initiatoren bzw. Mitglieder der Hallischen Künstlergruppe auf und entwickelten unter dem Eindruck der politischen und gesellschaftlichen Umbruchzeit nach Ende des Ersten Weltkrieges einen utopischen Kunstbegriff.241 Ihr hier formuliertes Kunstbild stand stark unter den Einflüssen, die sie vor dem Krieg vom Expressionismus erhalten hatten und die die Oktoberrevolution aus Russland nach Deutschland gespült hatte. Nicht zuletzt waren jedoch die vor der Jahrhundertwende einsetzende Kunstgewerbebewegung, die das Verhältnis von autonomer und angewandter Kunst nachhaltig veränderte,242 sowie ihre Sozialisation im Handwerkermilieu243 und der beruflichen Herkunft aus der Dekorationsmalerei prägend. Unmittelbar nach ihrer Gründung forderten die Mitglieder der Gruppe, dass ein öffentlicher Fonds zur Gewährung wirtschaftlicher Hilfen für bildende Künstler eingerichtet würde. Ein im selben Jahr veröffentlichter Zeitungsartikel unterbreitete Vorschläge zu möglichen »Künstlernotstandsarbeiten«. Darunter finden sich einige, die explizit dekorationsmalerische bzw. kunstgewerbliche Arbeiten empfehlen, so könne man »Alle öffentlichen Gebäude mit guter Kunst schmücken«, »Verschönerungsvorschläge für Denkmäler, Straßen und Plätze einholen«, »Entwürfe zu Theaterdekorationen, Kostümen und Plakaten« in Auftrag geben sowie Ausschreibungen für »Entwürfe für ein Denkmal der Gefallenen … und für Holzkreuze der Kriegsgräber« veranstalten.244 Die genannten Faktoren ließen den wesenhaften Unterschied zwischen freier, bildender Kunst und angewandter, auf das Dekorative zielender Malerei zwar verblassen. Unter den realen wirtschaftlichen Bedingungen, mit denen die Dekorationsmaler und Künstler konfrontiert waren, ereignete sich dennoch eine 240 Vgl. Zeitungsausschnitt in: StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 270–271; SZ vom 03.09.1913, Nr. 412 (Abendausgabe). 241 Im Kern besagt ihr Manifest, dass die Kunst als Volkskunst demokratisiert werden müsse und die Künstler als Volkspädagogen öffentlich anzustellen seien. Weiteres zur Hallischen Künstlergruppe und ihrem Manifest siehe Kap. IV, 4.5. Vgl. Aus einem Manifest der »Hallischen Künstlergruppe. 242 In Halle wurde die Integration künstlerischer und kunstgewerblicher Tätigkeiten nicht zuletzt durch Max Sauerlandt popularisiert. Während eines Vortrages im Kunstverein habe er darüber gesprochen, dass »der Kunsthandwerker heute zugleich Künstler sei. Die ganze Bewegung werde, so berichtete eine hallesche Zeitung, von Künstlern getragen. Zuerst stellte sich der Maler dem Kunstgewerbe zur Verfügung, daher trüge die Epoche des Kunstgewerbes um 1900 zunächst auch ein malerisch dekoratives Gepräge.« Vgl. HN vom 04.12.1925 (Nr. 184), S. 2. 243 Die Väter der drei genannten Künstler übten allesamt den Beruf des Malers als selbstständige Malermeister (Hugo Lude und Karl Völker) bzw. als Werkführer (Paul Pabst) aus. 244 Vgl. VB vom 01.08.1919, Nr. 178.
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Zweiteilung ihrer Tätigkeit. Auf der einen Seite boten Lude und Völker ihre Dienste als Dekorationsmaler an, um mit dekorativen Arbeiten ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie wurden von privaten Auftraggebern engagiert oder führten Arbeiten in öffentlicher Bestimmung aus. Dabei bewegten sie sich in einem architektonisch und inhaltlich gesetzten Rahmen, der nur bedingt Raum für künstlerische Freiheit ließ.245 Andererseits arbeiteten alle drei im klassischen Medium der Ölmalerei oder der Zeichnung. Ihre Werke, die landschaftliche Darstellungen zeigten (vor allem bei Pabst und Lude), religiöse Themen behandelten (vor allem Karl Völker) und auch den Menschen thematisierten, wurden in verschiedenen Ausstellungskontexten als autonome Werke inszeniert und zum Verkauf angeboten.246 In ihren Bildwerken, die lediglich den Grenzen des Rahmens unterworfen waren und bei denen sie Themen, Technik und Stil bestimmten, zeigten sie sich als freie Künstler. Karl Völker, der mit seinen nach dem Krieg entstandenen Werken (Gemälde, Grafiken und Architekturentwürfe) als einer der wenigen halleschen Künstler überregionale Bekanntheit erlangte, fiel Rezensenten schon früh als Talent für dekorative Malereien auf.247 Die expressionistische Formensprache seiner früheren Werke war auch in Völkers dekorativen Arbeiten deutlich spürbar. Durch einen zeitgenössischen Artikel in der Zeitschrift »Innendekoration« ist Völkers Tätigkeit beim Umbau des Café Bauer 1917 in Halle in Wort und Bild dokumentiert.248 Bevor der Autor überhaupt auf die erneuerte Ausstattung des Caféraums eingeht, erörtert er im ersten Teil ausführlich die Frage nach der künstlerischen Qualität dekorativer Malerei. Er kommt zu dem Schluss: »Es ist nicht höchste und hohe Kunst, der man gegenübersteht, es ist Augenblickskunst, vielleicht auch stark von jenem Geiste durchtränkt, der zum Widerspruch reizen will, weil er so einen größeren Kreis in den Bann einer Auseinandersetzung zwingen und dadurch jene gewollte Aufmerksamkeit erregen kann, die solch ein Augenblickswerk fordert, um den gewünschten materiellen Zweck zu fördern und zu erreichen.«249 245 Lude eröffnete zu Beginn der zwanziger Jahre gemeinsam mit dem Grafiker Hans Markowski und dem Dekorationsmaler Karl Schmidt ein Gemeinschaftsatelier (»Atelier für Malerei«), in dem er selbst als Kunstmaler tätig war. Später arbeitete er als Angestellter im familieneigenen Malergeschäft, bevor er selbst ab Ende der zwanziger Jahre eine »Werkstatt für Malerei und Kunstgewerbe« betrieb. Vgl. Adressbuch Halle, 1920–1931. In der Reihe »Halle und die bildenden Künste« benennt der Autor explizit diese Zweiteilung der Tätigkeit in handwerkliche bzw. kunstgewerbliche Arbeiten, die dem eigentlichen Broterwerb dienten, und dem künstlerischen Schaffen. Vgl. HN vom 16.01.1923, Nr. 13. 246 Vgl. StH, Vereine Nr. 164, Kassa-Buch des Hallischen Kunstvereins; Katalog der Hallischen Künstlergruppe; SZ vom 30.10.1923, Nr. 255; HN vom 19.04.1923 und vom 21.10.1922; VB vom 21.11.1930, Nr. 272; Hallische Kunstschau.; Kunstausstellung »Die Heimat im Bilde«. 247 Vgl. SZ vom 03.09.1913, Nr. 412 (Abend-Ausgabe). 248 Vgl. Kraft, Ein neuer Kaffeeraum. 249 Ebd., S. 172.
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Der Autor begründet den Wert dekorativer Kunst mit der zeitgenössischen Notwendigkeit, die Aufmerksamkeit Vieler zu erreichen und sie durch wirkmächtige Reklame mit »Gefühlen und Stimmungen« zu infizieren. Dass die Kunst dabei zum Zweck der Gewinnschöpfung gebraucht wurde, verstand der Autor als Notwendigkeit, die er nicht hinterfragte. Völkers späteren Gedanken, dass Kunst für die Masse der Werktätigen einen kulturellen Gewinn erbringen kann, bemühte er nicht. Dabei sprach er der dekorativen, zu Werbezwecken eingesetzten Malerei ihren Kunstcharakter nicht ab. Stattdessen unterschied er zwischen »hoher« Kunst, die dauerhaft und jenseits modischer Zyklen wirkt, einerseits, und der »Augenblickskunst«, die gebunden an einen unmittelbaren Zweck nur die jeweils gegenwärtige Bedürfnislage befriedige, andererseits. Anders argumentierte der Kunstwissenschaftler Emil Utitz, der ab 1925 als ordentlicher Professor am philosophischen Institut der Universität in Halle lehrte und dessen Schwerpunkt in der Philosophie der Ästhetik lag. Er betonte deutlicher den Unterschied zwischen dekorativer und freier Kunst. In Bezug auf den Expressionismus, dem er aufgrund seiner Veranlagung zur Monumentalität und Konzentration großes dekoratives Potential bescheinigte, stellte er in einem etwa zeitgleich erschienenen Beitrag heraus, dass die meisten Vertreter dieser Richtung dem »Begriff einer erweiterten dekorativen Kunst« zugeordnet werden könnten. Gleichzeitig betonte er die kulturelle und soziale Bedeutung dieser »Dekorationen«. Den Expressionisten rät er eine »klare Besinnung auf dekorative Anforderungen«, statt, wie es mehrheitlich geschehe, sich und sein Werk mit metaphysischer Rhetorik zu überfordern, »denn der metaphysische Gehalt kommt von selbst durch Gnade in das große Kunstwerk.«250 Die 1917 ausgeführte Raumgestaltung im Café Bauer in der halleschen Innenstadt fügt sich in eine lange Reihe dekorationsmalerischer Tätigkeiten Völkers.251 Die von den Architekten Bruno Föhre und Martin Knauthe geplante Neuorganisation des an den Hauptraum angeschlossen Raumes setzte den Malereien Völkers einen strengen Rahmen. Eine umlaufende Wandtäfelung, in der die Bildfelder durch kannelierte senkrechte Elemente und Spiegel voneinander abgegrenzt wurden, umfing den gesamten Raum. Nach oben wurden die Malereien jeweils durch hölzerne Giebel, die wiederum ein stoffbespanntes Bogenfeld in sich schlossen, eingefasst. Ein umlaufender Fries oberhalb der Wandbilder sowie Stuckornamente an der Decke gliederten den Raum zusätzlich mit plastischen Elementen. Wie der Rezensent mitteilt, bestach die neue Raumgestaltung durch ihre starke Farbigkeit, die den Nebenraum wunschgemäß in den Fokus der ein 250 Vgl. Utitz, Über dekorative Kunst, S. 313–320. 251 Nach seiner Studienzeit an der Dresdener Kunstgewerbeschule hatte er bereits gemeinsam mit seinem Bruder Kurt Völker den Besuchsraum eines anderen Cafés gestaltet. Einen Großteil seiner Arbeiten machten Aufträge im kirchlich-religiösen Bereich in öffentlichem Auftrag aus. Unter anderem sorgte er für die Ausmalung der Kapelle des Gertraudenfriedhofs sowie eines Alters- und Pflegeheims. Vgl. Meinel, Karl Völker, S. 16 ff.
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tretenden Besucher rückte. Völkers Wandbilder hätten dabei den dunklen Rotton der Täfelung und der Möbel aufgegriffen und würden insgesamt »eben jenen Unterton unterstreichen, der das Charakterbestimmende der ganzen Arbeit ist, vielleicht sogar ihn erst in das Ganze hineintragen.« Völkers Malereien fügten sich demnach in das allumfassende Raumkonzept und trugen wesentlich zu seiner Stimmung bei. Seine Darstellungen verbildlichten die in den schwellenden Ornamenten aufgegriffene und in der Vielfarbigkeit der Raumausstattung zum Tragen kommende künstliche Exotik.252 Auf den Bildern selbst gaben seitlich geöffnete Vorhänge den Blick auf ähnlich gestaltete Interieurs frei. Der Bildvordergrund der zwei im Detail abgedruckten Bilderfelder ist jeweils mit einer Frauenfigur gefüllt. Die auf niedrigen Sitzmöbeln ausgestreckten Frauenkörper teilen das Bild diagonal in zwei Hälften. Aus dem Bildhintergrund, dessen Ausmalung keine weiteren räumlichen Details preisgibt, tritt ein Diener oder Kellner an die Hauptperson heran und reicht ihr ein Tablett, auf dem verschiedene Gefäße stehen. Offensichtlich stellte Völker hier den Betrieb eines Cafés dar. Die genießerische Haltung der Frauenfiguren warb dabei für den Cafébesuch, in dem sie das Gefühl des Bedientwerdens und die Hingabe an den Moment zelebrierten. Mit seiner Ausmalung stellte sich der Künstler in den Dienst des Raumkonzepts und der werbenden Funktion seiner Neugestaltung. Seine bis heute erhaltenen und restaurierten Wandmalereien in der Kirche in Schmirma, die Völker ab 1921 vorbereitete, verweisen auf ein weiteres zen trales Betätigungsfeld dekorativer Malerei.253 Nachdem er bereits die Kuppel der Kapelle des Gertraudenfriedhofs farbig gefasst hatte, wurde er vom Provinzialkonservator Max Ohle mit der Neufassung des Schmirmaer Kirchenraumes beauftragt. In einem Brief des Konservators an den Pfarrer der Kirche, den er von dem jungen Maler überzeugen wollte, spricht er Völker explizit als Künstler an, dem er bei seiner Arbeit größtmögliche »Entfaltungsmöglichkeiten« gewährleisten wollte.254 Deshalb bat er den Pfarrer: »Beengen Sie bitte nicht den Künstler durch zu genaue Vorschriften, die er künstlerisch nicht verarbeiten kann.« Im Gegensatz zu seinen modischen Wandbildern im Café Bauer sollte die Neuausmalung des Kirchenraumes etwas Bleibendes schaffen. In diesem Sinn schwärmte Ohle:
252 Kraft umschrieb die Gesamtstimmung der Raumdekoration wie der Malereien mit der Metapher der »Treibhausluft«, die hindurchwehe. Vgl. Kraft, Kaffeeraum, S. 176. 253 Der ab 1908 geschäftlich in Halle ansässige Fritz Braue etablierte sich in den kommenden Jahrzehnten mit seinem »Atelier f. monumentale Ausmalung« und besonders als Restaurator kirchlicher Kunst. In der Provinz Sachsen war er in über 300 Kirchen bei Restaurierungsarbeiten beschäftigt. Vgl. StH, FA 716. 254 Der Brief des Landeskonservators Max Ohle an den Pfarrer Küstermann zu Schmirma ist als Faksimile und Transskript abgedruckt in: Meinel, Neugestaltung, S. 17–20.
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»Können wir heute moderne Künstler für die Ausmalung der Kirchen heranziehen, so haben wir die Gewähr, daß wir etwas schaffen, das die Jahrhunderte überdauert – auch wenn heute sehr viele den neuzeitlichen Bestrebungen gleichgültig oder feindselig gegenüberstehen.«255
Diesmal war Völker selbst für die Gesamtkonzeption der Neufassung des Kirchenraumes verantwortlich und entwarf sowohl das Bildprogramm mit 10 Szenen aus dem Leben Christi als auch die farbliche Neugestaltung der einzelnen Raumelemente in eigener Regie. Zwar besprach er seine Skizzen zu den insgesamt 14 Deckenbildern mit dem Pfarrer und Landeskonservator vor Ort, hatte in der Gestaltung im Sinn Ohles jedoch weitreichende Freiheiten.256 Karl Völker entwickelte sich vom handwerklich gebildeten Dekorationsmaler zu einer Künstlerpersönlichkeit, die auch in baugebundenen Aufträgen eine eigene Formen- und Bildsprache entwickelte. Umgekehrt gab es eine Reihe hallescher Maler, die nach ihrer Ausbildung an einer Kunstakademie dekorative Malerarbeiten ausführten. Insofern war das Gebiet der Dekorationsmalerei in den Jahrzehnten um 1900 ein fruchtbares Feld für das Zusammengehen von bildender und angewandter Kunst.
4.5 Die Künstlerin – Chancen im Kunstgewerbe Die Geschichte der Frau als Künstlerin in den Jahrzehnten um 1900 war geprägt sowohl von der Permanenz geschlechtsspezifischer Rollenbilder als auch ihrer schleichenden Erosion. Vereinzelt gab es, auch in der mitteldeutschen Peripherie, starke weibliche Künstlerpersönlichkeiten, die gegen weithin sanktionierte und auch die Kunstwelt dominierende Vorstellungen von der Mangelhaftigkeit der Frau und die Ungleichbehandlung von Mann und Frau aufbegehrten. Bezüglich ihrer Befähigung zur bildenden Kunst wurde die Erzählung von der unzureichenden Kreativität des weiblichen Geschlechts fortgeschrieben und so das Vorurteil manifestiert, Frauen könnten auf diesem Gebiet nichts Herausragendes vollbringen. Und würden sie sich dennoch der Kunst beruflich widmen, würden ihre Fähigkeiten als Ehefrau und Mutter darunter leiden. Karl Scheffler, einer der einflussreichsten Kunstpublizisten im späten Kaiserreich und Verteidiger des Impressionismus gegenüber der wilhelminischen Kunstpolitik, veröffentlichte 1908 seine Studie »Die Frau und die Kunst«, in der er das unkünstlerische Wesen der Frau propagierte: 255 Ebd., S. 20. 256 Ohle räumte zwar ein, dass explizite Wünsche der Gemeindemitglieder unbedingt vom Künstler berücksichtigt werden müssten. Gleichzeitig wies er darauf hin, dass die künstlerische Leistung ja gerade in der möglichst freien Ausführung des Auftrages bestünde und sonst bloßes Handwerk sei. Vgl. ebd., S. 17.
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»Der schöpferischen Kraft, im Schaffen wie im Genuß der Kunst, ist die Frau durchaus unfähig, weil ihr die Triebfeder dazu fehlt … Die Natur hat ihr, mit dem einseitig gerichteten Willen zugleich, die Kraft versagt, die Talent genannt wird. … Zwingt sie sich zur Kunstarbeit, so wird sie gleich männisch. Das heißt: sie verrenkt ihr Geschlecht, opfert ihre Harmonie und gibt damit jede Möglichkeit aus der Hand, original zu sein. Denn echte Originalität ist nur dort, wo innere Notwendigkeit ist.«257
Andererseits war es im Bürgertum üblich, dass die weiblichen Familienmitglieder in Musik, Kunst oder Handarbeiten dilettierten, um das Familienleben kulturell zu bereichern. In diesem Sinn hatte sich der künstlerische Ehrgeiz einer Frau auf den häuslichen Bereich zu beschränken, damit sie sämtliche Energie auf das Fortkommen ihres Ehemannes und das Wohlergehen der Familie richten konnte.258 Dieses Familien- und Frauenbild widerspiegelte sich in den beschränkten Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen im Bereich der bildenden Kunst. Bis 1914 war es Frauen im Deutschen Reich nicht möglich, an einer staatlichen Kunstakademie zu studieren. Nur in München wurde schon vorher eine Frauenklasse eingerichtet, die den Teilnehmerinnen jedoch nicht die gleichen Ausbildungsmöglichkeiten bot, weil weibliche Studierende von den anatomischen Zeichenkursen und den Aktkursen ausgeschlossen waren. Innerhalb der Reichsgrenzen blieb den Frauen nur der Besuch privater Kunstschulen, die für ihre Leiter ein einträgliches Geschäft darstellten und jenseits der hohen Kosten keine Zugangsbeschränkungen aufstellten. Das daraus resultierende relativ niedrige künstlerische Niveau – viele der Frauen zielten mit ihrer Ausbildung auch auf den beschriebenen Hausgebrauch – wurde wiederum als Beleg der unzureichenden künstlerischen Befähigung der Frau per se angeführt. Dennoch entschieden sich um 1900 Frauen vermehrt für den Künstlerinnenberuf.259 Der Blick auf die weibliche Künstlerschaft, die in Halle vor 1914 aktiv wurde, zeigt, dass sie im Gegensatz zu ihren männlichen Berufskollegen nicht aus dem handwerklichen Milieu, sondern aus gehobenen bürgerlichen oder adligen Familien stammten. Zum einen erhielten sie aus dem schichtenspezifischen Selbstverständnis und der häuslich gepflegten Kultur Anregungen, sich mit den bildenden Künsten zu beschäftigen. Andererseits ermöglichten ihnen ihre
257 Scheffler konstruiert in seiner Studie, die wissenschaftlicher Standards entbehrt, einen wesenhaften Antagonismus zwischen Mann und Frau. Während die Frau in ihrem rezeptiv bestimmten Sein Harmonie verkörpere, strebe der Mann linear nach Ausdruck seiner Persönlichkeit. Scheffler, Die Frau und die, S. 29–33. 258 Vgl. Gutbrod, Malweiber, S. 11 ff. 259 Paul Drey, der die Entwicklung des Kunstbetriebs im Jahrzehnt nach 1900 untersuchte, kam zu dem Ergebnis, dass vor allem die Anzahl der Kunstmalerinnen überproportional anstiegen war und den ohnehin angespannten Kunstmarkt weiter strapazierte. Er kritisierte den weit verbreiteten Dilettantismus und in diesem Zusammenhang, dass Frauen die Ausbildung an den Akademien versagt wurde. Vgl. Drey, Grundlagen, S. 74/75.
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Familien den kostspieligen Unterricht, der sie häufig in weit entfernte Kunstzentren führte.260 Die 1850 in Königsborn geborene und in großzügigen Verhältnissen aufgewachsene Susanne von Nathusius studierte an der Pariser Privatakademie des Künstlers Rodolphe Julian, die nach dessen Tod von seiner Witwe, ebenfalls Malerin, fortgeführt wurde. Die private Kunstschule genoss internationales Ansehen und war insbesondere unter angehenden Künstlerinnen gefragt, sodass mehrere Klassen parallel bestanden. Neben der Akademie Julian unterhielten zahlreiche andere berühmte Künstler private Klassen. Die Kurse an der Nationalakademie, bei Matisse oder Rodin boten gleichberechtigten Unterricht für Frauen und Männer und die Möglichkeit, neben etablierten Künstlern zu arbeiten. Zahlreiche deutsche Künstlerinnen, unter ihnen Paula ModersohnBecker, Käthe Kollwitz und Clara Westhoff, zog es in den Jahren um 1900 nach Paris, das zu diesem Zeitpunkt als westliches Zentrum der bildenden Kunst galt. Den Unterricht dort – die Gebühren an der Akademie Julian lagen für weibliche doppelt so hoch wie für männliche Studierende – konnten sich nur Frauen aus wohlhabenden Verhältnissen leisten.261 Susanne von Nathusius richtete sich in Paris ein Atelier ein, das sie bei Kriegsbeginn jedoch aufgeben musste. Als Künstlerin unterhielt sie weit überregionale Verbindungen und Kontakte, die sie aufgrund ihrer Ausbildung in Paris und Berlin knüpfen konnte.262 Mit Kriegsbeginn wählte sie dennoch Halle zu ihrem Lebensmittelpunkt und ließ sich dort regelmäßig als Porträtmalerin ins lokale Gewerbeverzeichnis eintragen.263 Als solche übernahm sie Aufträge für zahlreiche Universitätsangehörige.264 260 Lisbeth Stohmann berechnete in ihrem 1899 publizierten Aufsatz in der Reihe »FrauenBerufe« die monatlichen Kosten der Künstlerinnenausbildung an einer Kunstschule oder im Atelier eines Künstlers inklusive Schul- bzw. Honorargeld, Materialkosten und Kosten für Unterbringung und sonstige Lebenshaltung mit etwa 150–200 Mark. Die Kosten für ein Jahr entsprachen etwa dem Jahresgehalt eines halleschen Pastors (im Jahr 1908) oder beliefen sich auf das Doppelte des Jahresgehaltes eines ungelernten Arbeiters (in Halle am Ende des 19. Jahrhunderts). Vgl. Stohmann, Frauen-Berufe; N. N., Ergebnisse der Wohnungszählung, S. 33/34; StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 216–219. 261 Vgl. Umbach, Malweiber, S. 11 ff.; Krull, Kunst von Frauen, S. 15 f. 262 Eine Zeit lang besuchte sie auch die Königliche Kunstschule in Berlin und bewegte sich im Künstlerkreis der Brüder Karl und Reinhold Begas. Sie nahm an internationalen Ausstellungen in Paris und Chicago teil. Vgl. HN vom 30.04.1930 (Beilage »Hallische Frauenzeitung«). 263 Die Künstlerin muss jedoch schon zuvor Verbindungen zu Halle unterhalten haben, denn der Luginsland berichtet in einer Ausgabe von 1908 vom Ankauf eines ihrer Gemälde (»Hallore«) für das Städtische Museum. 264 Abbildungen der Gemälde dreier hallescher Professoren versammelt das Bildarchiv Marburg. http://www.bildindex.de/document/obj00032701?part=0&medium=mi00778f03; http://www.bildindex.de/document/obj00032716?part=0&medium=mi00778g04; http://www. bildindex.de/document/obj00032723?part=0&medium=mi00778g12. Zuletzt besucht am 02.10.2017.
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Mehr noch galt Grete Budde als Porträtistin intellektueller Größen der Universität und ihrer Familien. Budde wurde 1883 in Luckenwalde geboren, als Ehefrau des Chirurgen und Professors Werner Budde ließ sie sich in Halle nieder. Sie hatte sowohl in Berlin und München als auch in Paris (bei Auguste Rodin) studiert. In Halle bewegte sie sich in einem umfassenden Intellektuellennetzwerk, das neben Berufskollegen ihres Mannes auch Wissenschaftler anderer Disziplinen und Künstler umfasste.265 Bei beiden diente ihre künstlerische Tätigkeit nicht der Sicherung des Lebensunterhaltes, sondern folgte anderen Motiven. Anders als v. Nathusius und Budde266, die kaum als aktive Teilnehmer im halleschen Kunstsystem auftraten, waren Marie und Elise Peppmüller ab 1909 als Pflüger aktiv. Im Statut des 1905 begründeten Künstlervereins auf dem Pflug wurde ausdrücklich bestimmt: »Mitglieder des Vereins können auch Frauen sein.«267 1914 befanden sich unter den 52 ordentlichen und außerordentlichen Mitgliedern 12 Frauen.268 In der Vereinsorganisation, die lückenhaft durch an das Vereinsregister zugesandte Protokolle dokumentiert ist, traten sie jedoch kaum in Erscheinung. Anders im Vereinsleben: 1910 wurde beschlossen, dass die weiblichen Vereinsmitglieder einmal im Monat samstags einen Pflügerabend gestalten sollten. Die 1866 und 1875 geborenen Malerinnen Elise und Marie Peppmüller waren nicht blutsverwandt, sondern fanden durch die Heirat Maries (geborene Fikentschen) mit dem Mediziner und Sanitätsrat Felix Peppmüller in Halle zusammen. Nach dessen Tod (spätestens 1904) lebten sie gemeinsam unter gleicher Adresse im Haus Marie Peppmüllers, das sie seit dem Tod ihres Mannes besaß. Elise Peppmüller, Tochter des klassischen Philologen und Oberlehrers Rudolf Peppmüller, besuchte zwischen 1891 und 1893 das Atelier des Künstlers Adolf Maennchen, der zu dieser Zeit parallel die Klasse für Dekorationsmalerei an der halleschen Handwerkerschule betreute und über eine klassische akademische Künstlerausbildung verfügte. Ab 1896 bis zu ihrer Rückkehr nach Halle studierte sie, da war sie bereits 30 Jahre alt, an der Malerinnenschule Karlsruhe, einer im Deutschen Reich einmaligen Einrichtung. Die privat geführte Kunstschule, an der Karlsruher Künstler die Schülerinnen unterrichteten (auch solche, die an 265 Vgl. Schuttwolf, Hallesche Plastik, Anhang S. 20 ff.; Speler, Veranstaltungsinformation der Zentralen Kustodie, (StH, FA 8608). 266 Grete Budde tauchte lediglich als Teilnehmerin der 1930 vom Künstlerverein auf dem Pflug veranstalteten Ausstellung sowie der Ausstellungen »Heimat im Bilde« 1933 auf, in den Protokollen der Vereinssitzungen oder als aktives Mitglied jedoch nie. VB vom 18.11.1930. 267 Das mit der 1911 erfolgten Eintragung ins Vereinsregister überlieferte Statut wurde wahrscheinlich schon vor diesem Zeitpunkt verfasst. Der in den Mitgliederbestimmungen beigefügte Satz weist in seiner Ausdrücklichkeit darauf hin, dass die Mitgliedschaft von Frauen als nicht selbstverständlich galt. Vgl. LHA, Rep. C 129 AG Halle. 268 Als weibliche Mitglieder schlossen sich unter anderen Johanna Förstemann, Johanna Wolff, Hildegard Hedwig Emilie Zeyss und Frau Frieda von Düring (Weimar) an. Vgl. Hallische Mappe.
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der Akademie Karlsruhe beschäftigt waren), wurde von städtischer und staatlicher Seite finanziell unterstützt und »stellt[e] sich die Aufgabe, dem weiblichen Geschlechte dieselben Vorteile zur Ausbildung in der Malerei zu verschaffen, wie sie den Schülern der Kunstakademien gegeben« waren.269 Der Besuch der Malerinnenschule, ihre Mitgliedschaft im Karlsruher Künstlerinnenverein sowie ihre Rolle im Künstlerverein auf dem Pflug lassen vermuten, dass das lebenslang unverheiratete Fräulein Peppmüller sich intensiv mit den scheinbar widersprechenden Rollenbildern der Frau als Haus- und Ehefrau einerseits und der Künstlerin andererseits auseinandersetzte. Anders verhielt sich die rund zehn Jahre jüngere Marie, die Felix Peppmüller ehelichte und die demzufolge zunächst nicht als eigenständige Person im halleschen Adressbuch auftauchte. Erst nach seinem Tod – Marie war zu diesem Zeitpunkt kaum 30 Jahre alt – trat sie, zuerst als Witwe des Sanitätsrates und Eigentümerin des Hauses Karlstr. 36, später als Kunstmalerin in Erscheinung. Zwar gibt es keine verbürgten Angaben zu ihrer Ausbildung, ihre Mitgliedschaft im Karlsruher Künstlerverbund legt jedoch nahe, dass sie ebenfalls die Malerinnenschule besuchte. Sie war zudem Mitglied des Deutschen Künstlerbundes und des Künstlerinnen-Vereins München, der selbst eine Malerinnenschule eingerichtet hatte.270 Die beiden Damen Peppmüller waren durch ihre Tätigkeit im Verein, der regelmäßig Ausstellungen veranstaltete, ihr Schüleratelier und andere öffentliche Auftritte in der lokalen Kunstöffentlichkeit bekannt und insofern für eine »normalisierte« Vorstellung der Frau als Künstlerin wichtig. Dass beide, Marie wenigstens zu großen Teilen ihres Lebens, unverheiratet waren, war für ihre Entwicklung als Künstlerin nicht unerheblich und traf auf zahlreiche Berufskolleginnen zu. Auch Luise Wiedemann, die als akademische Kunstmalerin spätestens ab 1907 in Halle ansässig war, blieb alleinstehend. Den Einträgen im Adressbuch zufolge, die sie wechselnd als »Rentiere« oder Malerin kennzeichneten, verfügte auch sie bzw. ihre Familie über ein größeres Vermögen. Ihre Ausbildung zur Malerin nutzte sie, um neben ihrem Atelierbetrieb, in dem sie »Portrait, Landschaft, Stilleben und alle Arten der Malerei« anbot, Schüler im anatomischen Zeichnen und anderen Techniken zu unterrichten.271 Ihre Schülerin Elina Schneider, die zwischen April 1912 und Dezember 1916 zweimal wöchentlich von ihr unterrichtet wurde, strebte selbst eine berufliche Zukunft als Malerin an, um ihren Lebensunterhalt damit zu bestreiten. Die beim städtischen Postamt für einen Monatslohn von 90 Mark beschäftigte Schneider konnte sich aus 269 Die Autorin nennt die Karlsruher Malerinnenschule neben ähnlichen Instituten in Berlin, München und Hannover als potentielle Ausbildungseinrichtungen, die im Gegensatz zu den Privatateliers der Künstler eine umfassende Ausbildung auch in den Hilfsfächern biete. Vgl. Stohmann, Frauen-Berufe, S. 11 f. 270 Vgl. Dressler, Kunsthandbuch 1921, S. 440; Stohmann, Frauen-Berufe, S. 11. 271 Sowohl für Künstlerinnen als auch für Künstler war der Kunstunterricht eine übliche, meist zusätzliche Einnahmequelle.
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eigener Kraft den Unterricht bei der Kunstmalerin Wiedemann kaum leisten, geschweige denn die Kosten für die Ausbildung an einer auswärtigen Akademie tragen, die sie auf jährlich 500–600 Mark schätzte. Auch ihr Vater, der selbst als Oberassistent bei der Post beschäftigt war und den Berufswunsch seiner Tochter zunächst ablehnte, sah sich unter den wirtschaftlich schwierigen Umständen der Kriegszeit nicht in der Lage, die Ausbildung der Tochter weiter finanziell zu unterstützen.272 Angesichts dieser Rechnung verwundert es kaum, dass viele der bekannten halleschen Künstlerinnen wohlhabenden Familien entstammten. Anders hätten sie sich den kostspieligen Unterricht an privaten Akademien in Paris, Berlin und München kaum leisten können.273 Für zahlreiche hallesche Künstlerinnen war das Kunstgewerbe wie für viele ihrer männlichen Berufskollegen ein attraktiver Tätigkeitsbereich. Während vor allem die um 1900 ausgebildeten Künstlerinnen sich dem Kunstgewerbe aus der bildenden Kunst heraus und als Absolventinnen von Kunstakademien zuwandten,274 hatte die nachfolgende Generation der Kunstgewerblerinnen, die sich auch als Künstlerinnen verstanden, ihr Metier auf Kunstgewerbeschulen erlernt. Ihre Tätigkeit beschränkte sich nicht nur auf das Entwerfen, sondern sie waren oft selbst an der Herstellung der fertigen Produkte beteiligt. Anhand der halleschen Akteurinnen lässt sich eine Professionalisierung im kunstgewerblichen Bereich beobachten.
272 Vgl. StH, A 2.3 Nr. 134, Bl. 224–225; Adressbuch Halle, verschiedene Jahrgänge. 273 Dazu gehörten z. B.: Martha Bernstein-Neuhaus, 1878 als Tochter des Mediziners und Rektors der halleschen Universität Julius Bernstein geboren, sie studierte um 1890 in München an der Privatschule bei Ludwig Schmid-Reutte und Christian Ladenberg und 1909–12 bei Henri Matisse in Paris; Elsa Weise, geborene Banse, sie studierte 1905–11 an der Kunstakademie Berlin bei Lovis Corinth sowie in Rom und Paris; Margarete Grössler, Tochter eines Gymnasialprofessors, sie besuchte private Lehrinstitute in Halle und München (um 1904/05). Vgl. Gutbrod, Malweiber, S. 67 ff.; StH FA 2680; StH, Kap. V Abt. E Nr. 27 Bd. 1, Bl. 197/198. 274 Sowohl Martha Bernstein-Neuhaus als auch Elsa Weise, die beide ihre Ausbildung als Kunstmalerinnen in München, Paris bzw. in Berlin, Rom und Paris erhielten, betätigten sich auch im kunstgewerblichen Bereich. In erster Linie arbeiteten sie jedoch als bildende Künstlerinnen. Bernstein-Neuhaus war Mitglied im Deutschen Werkbund und trat als Mitglied im Preisrichterkollegium eines 1910 in Halle ausgelobten Schaufensterwettbewerbes auf. Nach ihrer Rückkehr aus Paris hielt sie an der Städtischen Frauenschule in Halle Vorträge über die Grundlagen der angewandten Kunst, zu denen sie nach dem Krieg auch ein Buch publizierte. Als bildende Künstlerin war sie auf den Ausstellungen der Berliner Sezession präsent sowie in einer von Sauerlandt organisierten Einzelausstellung ihrer Grafiken. Elsa Weise, die vor allem Bildnisse, Stillleben und Landschaften schuf, war in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration mehrfach mit Entwürfen für Stickereien vertreten. Vgl. Wolff, SchaufensterWettbewerb; Dressler, Kunsthandbuch Bd. 2 1921, S. 41; Gutbrod, Malweiber, S. 67–75; StH, FA 2680; DKuK, 12. Jg. (1903), S. 387 und 6. Jg. (1900), S. 506 und 7. Jg. (1900), S. 77; Elsa Weise, in: TB, Band 35 (1942 und 1947), S. 311.
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Die leuchtendste Vertreterin dieser bildenden Künstlerinnen, die sich dem Kunstgewerbe zuwandten, war Margarethe von Brauchitsch. Die 1865 auf Rügen als von Boltenstern geborene Künstlerin275 heiratete 1888 den Fotografen (»für Architektur-, Landschafts- und gewerbliche Aufnahmen«) Ernst von Brauchitsch, der sich daraufhin geschäftlich in Halle niederließ.276 Über die Neigungen und nachschulische Ausbildung der zu diesem Zeitpunkt mittzwan zigjährigen Tochter aus adeliger Familie ist bis dahin nichts bekannt. Etwa fünf Jahre nach der Geburt ihres Sohnes Johannes (1889) begann sie in Halle als Mal- und Zeichenlehrerin zu unterrichten.277 Es ist denkbar, dass sie die Befähigung dazu vor ihrer Zeit in Halle erwarb. Sicher ist, dass sie von Halle aus in die Nachbarstadt Leipzig pendelte, um dort an der Akademie und Königlichen Kunstgewerbeschule bei Max Klinger zu studieren. In den Jahren vor der Wende zum 20. Jahrhundert debütierte sie dann erfolgreich als Künstlerin – sie selbst bezeichnete sich zu diesem Zeitpunkt als Malerin – und kunstgewerbliche Entwurfszeichnerin. Das städtische Museum unter dem Kurator Franz Otto präsentierte 1897 30 Aquarelle aus ihrer Hand. Zwei Jahre später war sie auf der jurierten Deutschen Kunstausstellung in Dresden vertreten.278 In den nächsten Jahrzehnten machte sie sich vielmehr noch als Kunstgewerblerin einen Namen und wurde international zur Referenzfigur für moderne Textilgestaltung.279 Wenn auch ihre Stationen in Dresden und Wien für ihre Vervollkommnung als Kunstgewerblerin maßgeblich waren, so erhielt sie richtungsweisende Impulse für ihre spätere Karriere aus ihrem halleschen Umfeld. Der hallesche Kunstgewerbeverein, der zu dieser Zeit der virulenteste Akteur im städtisch-kulturellen Institutionennetzwerk war, ermöglichte Margarethe von Brauchitsch den Kontakt zu den maßgeblichen Akteuren des lokalen Kunstgewerbes und in seinen Vortragsreihen, Lesezirkeln und Sitzungen die Teilhabe an zeitgenössischen Debatten und Entwicklungen. Wie ihr Ehemann, der Mitte der neunziger Jahre als Sekretär einen zentralen Posten in der Vereinsorgani 275 Sie starb 1957. 276 Das Adressbuch des Jahres 1889 führt ihn erstmals als Inhaber des Photographischen Ateliers M. Hinzelmann. Vgl. Adressbuch Halle 1889. 277 1894 tauchte sie erstmals als eigenständige Person im städtischen Adressbuch auf. Vgl. Adressbuch Halle 1894. 278 Vgl. Ebnet, München, S. 111; Otto, Städtisches Museum, S. 12; AKL, Band 13 (1996), S. 678. 279 In der deutschlandweit publizierten und renommierten Fachzeitschrift »Deutsche Kunst und Dekoration« erschien in loser Folge die Artikelserie »Neue Stickereien von Margarete von Brauchitsch«, in der vor allem ihre Originalität und die Lebensnähe ihrer Produkte gelobt wurden: »Margarete von Brauchitsch hat Schule gemacht und viele Nachahmer gefunden, aber keine, die sie irgendwo überträfen, so wenig in Originalität wie im Geschmack.« Vgl. Schulze, Neue Stickereien, S. 32. In der Forschung wird Brauchitsch als maßgebliche Urheberin der Reform des Frauenkleides zu Beginn des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Vgl. Houze, Textiles, Fashion and Design Reform, S. 179.
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sation besetzte, war sie Mitglied des Ausstellungsausschusses, der die Kunstgewerbeausstellung des Vereins im Jahr 1892 vorbereitete. Unter den 30 Ausschussmitgliedern befand sich neben ihr nur eine weitere Frau, die ebenfalls nicht unter Angabe ihres Berufes, sondern als »Frau«280 neben den männlichen Dekorateuren, Bildhauern und Dekorations- und Theatermalern auftauchte.281 Trotz der offensichtlich auch hier wirksamen gesellschaftlichen Strukturen, die den Beruf einer Frau im Gegensatz zur männlichen Identität nicht als sozial und persönlich bestimmende Eigenschaft betrachtete, errang M. v. Brauchitsch innerhalb des Vereins gehörige Aufmerksamkeit: Infolge der Ausstellung, die unter einheimischen Konsumenten und Produzenten einen Nachholbedarf in kunstgewerblicher Hinsicht konstatierte, organisierte sie gemeinsam mit Adolf Maennchen, dem Dekorationsmaler Wilhelm Zander und dem Regierungsbaumeister Reinhold Knoch – allesamt Protagonisten der lokalen Kunstgewerbe szene – eine ständige Ausstellung kunstgewerblicher Musterstücke.282 Für einige städtische Kunsthandwerker lieferte sie Entwürfe, nach denen diese dann Gebrauchsgegenstände wie Notenständer oder Bleiverglasungen formten und die als vorbildhaft in überregionalen Zeitschriften abgedruckt wurden.283 In der deutschlandweit erschienen Zeitschrift »Deutsche Kunst und Dekoration« errang sie regelmäßig Platzierungen in Wettbewerbsausschreibungen für Entwürfe für Tapetenmuster, Fensterverglasungen und Textilarbeiten. Nach privaten Verwerfungen – spätestens 1898 trennte sie sich von ihrem Ehemann, dessen Namen sie jedoch beibehielt – und auf der Suche nach neuen beruflichen Entfaltungsmöglichkeiten und künstlerischen Anregungen verließ sie Halle zur Jahrhundertwende. Nachdem sie für kurze Zeit als freie Mitarbeiterin der Dresdener Werkstätten für Handwerkskunst arbeitete, ihr Wunsch nach einem eigenen Atelier jedoch unerfüllt blieb, zog sie weiter nach München, wo sie als Leiterin des Damenateliers für ornamentalisches Entwerfen an den Vereinigten Werkstätten München Schülerinnen ausbildete. Bald darauf konzentrierte sie sich in ihrem Atelier für Damenschneiderei und mit der Gründung eines Betriebs für Maschinenstickerei auf ihre künstlerische Entwurfsarbeit, die sie eng mit der maschinellen Ausführung verband284: »Wenn je die Maschine menschliche Arbeit geadelt hat, so trifft das hier zu. … sie sind beide so miteinander verwachsen, daß man wohl sagen könnte, die Maschine ist die Hand der Künstlerin geworden.«285 280 Gemeint ist Elise Gehrts-Wildhagen, geboren 1853, zuletzt 1924 im Adressbuch Halle erwähnt.. 281 Vgl. Kunstgewerbeausstellung 1892. 282 Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1894, S. 7. 283 So ein Notenständer oder Bleiverglasungen für Fenster. Vgl. DKuK, 3. Jg. (1898/99), S. 127 und S. 145. 284 Vgl. Ebnet, München, S. 111; AKL, Band 13 (1996), S. 678. 285 Schulze, Neue Stickereien, S. 31.
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Innerhalb der Kunstgewerbebewegung, die gerade auch in Halle über die Potentiale der Verbindung von Kunst und Industrie bzw. der Zusammenarbeit von Künstler und Maschine diskutierte und bisweilen stritt, nahm Brauchitsch eine eindeutige Position zugunsten der maschinellen und damit potentiell massenhaften Herstellung ihrer Produktgestaltungen ein.286 Gemeinsam mit v. Brauchitsch war Elise Gehrts-Wildhagen im Vorbereitungsgremium der 1892er Ausstellung aktiv.287 Erst kurz zuvor hatte sie den Hamburger Maler und Zeichner Franz Gehrts geheiratet, der im gleichen Jahr erstmals unter ihrer Anschrift gemeldet war.288 Gehrts-Wildhagen hatte einerseits auf lokaler Ebene in der historischen Entwicklung der gesellschaftlichen Rolle der Frau eine bedeutsame Funktion und kann andererseits als frühe Figur auf dem Weg zur Entwicklung der herausragenden Stellung der Künstlerin im Kunstgewerbe gedeutet werden.289 Bereits im April 1879 gründete sie in Halle eine Frauen-Industrieschule, die in drei Abteilungen Frauen einerseits im traditionellen gesellschaftlichen Verständnis auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau vorbereitete,290 doch andererseits mit ihrem Bildungsangebot im 286 Im Gegensatz dazu standen die Künstler der halleschen Kunstgewerbeschule in den zwanziger Jahren, deren Schwerpunkt mehrheitlich auf dem individuell gefertigten Einzelstück und dem kunsthandwerklichen Aspekt der Ausbildung lag. Überliefert ist eine Preisliste der Textilabteilung der Werkstätten der Burg Giebichenstein. Obwohl die Preise anhand der Meterzahl und der verwendeten Materialien berechnet und insofern standardisierte Maßeinheiten verwendet wurden, charakterisiert das Prospekt die Textilien ansonsten in ihrer künstlerischen Eigenart und hebt ihren Wert als Einzelstücke hervor. Ganz bewusst werden die Produkte der Werkstätten von der industriell gefertigten Massenware unterschieden. Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Hülle 1. 287 Im Ausstellungsausschuss, der für die Gewerbe- und Industrieausstellung in Halle 1881 eingerichtet wurde, und anderen vorbereitenden Gremien fand sich hingegen keine Frau. Andrea Hauser spricht in ihrer Untersuchung zum Urbanisierungsprozess anhand der Ausstellung von einer männlich besetzten Sphäre unter Ausschluss von Frauen, die zwar ausstellten, jedoch nicht an der Organisation beteiligt waren. Vgl. Hauser, Halle wird Großstadt, S. 31. 288 Vgl. Adressbuch Halle 1892–1894. Franz Gehrts, geboren 1860 in Hamburg, starb im Alter von 34 Jahren in Halle. Er war hier und zuvor als Landschaftsmaler, Illustrator sowie als Zeichenlehrer (möglicherweise an der Schule seiner Frau) tätig. 130 seiner Aquarelle und Zeichnungen wurden im Rahmen einer Sonderausstellung im Städtischen Museum 1892 gezeigt. Vgl. AKL, Band 51 (2006), S. 45; Otto, Städtisches Museum, S. 11. 289 Dass sie als kunstgewerbliche Sachverständige Ansehen genoss, belegt ihre Nominierung in der Jury der von der Stadt 1910 veranstalteten Schaufensterausstellung, der auch Rive, Sauerlandt und v. Sallwürk angehörten. Letztlich wurde sie wegen Krankheit von der Malerin Martha Bernstein-Neuhaus vertreten. Vgl. Wolff, Schaufenster-Wettbewerb. 290 Ab 1898 verhandelte Gehrts-Wildhagen mit Vertretern der Stadt und dem Ministerium für Handel und Gewerbe über die Überführung der Privatschule in öffentliche Hand mit dem Ziel, das Ansehen der Schule zu stärken und ihren Ausbau voranzutreiben. Im Mai 1902 endeten die Verhandlung mit dem Beschluss, die Schule als »Städtische Gewerbe- und Handelsschule für Mädchen« in kommunale Obhut zu übernehmen. Gehrts-Wildhagen blieb bis in die zwanziger Jahre weiter als Vorsteherin der Schule im Dienst. Vgl. StH, A 2.36 Nr. 1682 Bd. 1, Bl. 20 ff.
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kunstgewerblichen und gewerblichen Bereich (Beruf der Directrice) sowie in der Pädagogik (als gewerbliche Lehrerinnen und später Kindergärtnerinnen) die Rolle der berufstätigen Frau popularisierte. In unterschiedlicher Intensität (je nach Ausbildungsziel) wurden die Schülerinnen in allgemeinbildenden Fächern, darüber hinaus im Nähen und Flicken sowie Zeichnen unterrichtet. Im Lauf der Zeit gestaltete sie das Schulprogramm zunehmend professioneller, in dem sie einen kunstgewerblichen Kurs und außerdem eine Sonderabteilung für die Ausbildung von Kindergärtnerinnen einrichtete. In einem 1898 veröffentlichten Prospekt der »Wildhagen’schen Frauen-Industrie und Kunstgewerbeschule« distanzierte sie sich jedoch ausdrücklich vom Anspruch einer künstlerischen Ausbildung: »… der Unterricht im Zeichnen zielt mit Ausschluss des künstlerischen Zeichnens darauf ab, das Auge an schnelles Erfassen der Formen und Größenverhältnisse zu gewöhnen und klares Verständnis für geometrische Grundformen und Construction und Anwendung auf weibliche Handarbeiten und Musterschnittzeichnen anzustreben.«291 Damit bewegte sich der Lehrinhalt im Rahmen des zeitgenössischen Verständnisses der weiblichen Handarbeit, die sich statt in originärer Entwurfsarbeit im Kopieren erschöpfte. Stattdessen projizierten bildende Künstler im Rahmen der Kunstgewerbebewegung ihr Schöpfertum auf alltägliche Gebrauchsgegenstände.292 Auch Margarethe von Brauchitsch bezog ihre gestalterischen Fähigkeiten aus einer klassisch-künstlerischen Ausbildung und erarbeitete sich von dort aus das Gebiet der angewandten Kunst. Es liegt nahe anzunehmen, dass sie ihr späteres künstlerisches Kernthema und die technischen Grundlagen dazu während der Bekanntschaft mit Elise Gehrts-Wildhagen entwickelte, denn zum Unterrichtsumfang gehörte auch eine Kunststickereischule, die »alle korrekten, edlen Stickereitechniken, bei deren Ausübung sich die ausübende Hand den strengen Gesetzen des Styls, des Ornaments und der Farbengebung zu unterwerfen hat«293, vermittelte. Freilich entwickelte v. Brauchitsch einen sehr viel autonomeren Begriff der Gestaltungsarbeit, als er in der Wildhagen’schen Frauenschule vermittelt wurde. Die Kurse für Kunsthandarbeiten sowie für Malen und Zeichnen innerhalb der weiterführenden Mädchenschule bestanden weiter parallel zur Einrichtung der »Fachklasse für kunstgewerbliche Frauenarbeiten« an der von Paul Thiersch geleiteten Handwerker- und späteren Kunstgewerbeschule im Jahr 1916. Die Einrichtung dieser Klasse und die Berufung der zu diesem Zeitpunkt erst 23-jährigen Maria Likarz als deren Fachlehrerin verdeutlichen als einer der ersten Schritte seiner Schulreform den Stellenwert, den Thiersch der Entwicklung dieses Kunstgewerbezweiges beimaß. Die 1893 geborene und an den Wiener Werkstätten ausgebildete Likarz betreute den Unterricht der Schülerinnen und 291 Ebd. 292 Vgl. Ganzenmueller, Bedeutung der Handarbeit, S. 115 f. 293 StH, A 2.36 Nr. 1682 Bd. 1, Bl. 20.
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Schüler sowohl im Naturstudium, der Stickerei und vor allem der Emaillekunst. In der Folgezeit vermochte es Thiersch, zahlreiche Künstlerinnen von außerhalb an der halleschen Schule als Lehrkräfte zu verpflichten. Auch zur Schülerschaft gehörten zahlreiche Frauen, die zwecks ihrer Ausbildung nach Halle kamen und die Stadt nach ihrer bestandenen Gesellen- oder Meisterprüfung wieder verließen.294 Mit der Kunstgewerbeschule und dem von Thiersch für alle kunstgewerblichen Fächer erhobenen künstlerischen Anspruch wurde das Kunstgewerbe als potentieller Frauenberuf in der Stadt institutionell verankert. Im Gegensatz zur früheren Generation hallescher Künstlerinnen, die aus wohlhabenden Verhältnissen stammend und aus der bildenden Kunst kommend sich mit der Gestaltung alltäglicher Gebrauchsgegenstände befassten, wuchs mit dem Schultyp der Kunstgewerbeschule und der Thiersch’schen Institution vor Ort eine neue Generation heran. Mit ihrer Einrichtung war es Frauen aus halleschen Handwerkerfamilien möglich, ihr künstlerisches Potential vor Ort zu schulen und im Bereich des Kunstgewerbes zu entfalten. Johanna Wolff (1896–1965), die Tochter des Baumeisters Gustav Wolff, der in sämtlichen Gremien und Gemeinschaften am städtischen Kunstsystem der Jahrhundertwende beteiligt war, lernte erst an der halleschen Handwerker- und Kunstgewerbeschule, bevor sie nach München zur weiteren Ausbildung ging und dann selbst an der Kunstgewerbeschule ihrer Heimatstadt unterrichtete.295 Auch die Hallenserinnen Eva Mascher-Elsässer (geb. 1908), Hildegard Risch (geb. 1903) und Anneliese Geist (geb. 1906 als A. Schniggenfittig) profitierten von dem erweiterten Kunstbegriff, der sich mit der Kunstgewerbebewegung auf den Alltagsbereich auszudehnen begann. Die Integration (vermeintlich) aus dem Handwerk stammender Ideale in die künstlerische Ausbildungs- und Gestaltungspraxis, die von Thiersch an der halleschen Anstalt ebenso wie anderswo betrieben wurde, erleichterte ihnen die Wahl eines künstlerischen Berufs. Eva Mascher-Elsässer und Hildegard Risch eröffneten nach ihrem Abschluss als Silber- bzw. Goldschmiedin in der Metallwerkstatt der Burglehrers Karl Müller 1927 gemeinsam eine Werkstatt im Anschluss an das Geschäft des Vaters Gustav Elsässer, der selbst unter dieser Adresse als Juwelier, Gold- und Silberarbeiter verzeichnet war. Nachdem 294 Eine Übersicht über die erfolgreichen Absolventen zeigt, dass der Großteil nach der abgeschlossenen Ausbildung in anderen Städten wie Hamburg, Berlin oder Weimar Stellungen in größeren Firmen begleiteten, sich selbstständig machten oder als Lehrkräfte berufen wurden. Da es in der vorliegenden Arbeit um hallische Künstler geht, wird nicht näher auf diese Gruppe eingegangen. Vgl. ABgG, Rep. 1, Aktenmaterial 1915–33, Denkschrift der Kunstgewerbeschule 1930, Bl. 4–6. 295 Ähnlich verlief der berufliche Werdegang der später geborenen Hallenserin Gertraud Aleithe-Brückner (1911–1975), die erst als Schülerin in der Emailleklasse von Lili Schultz lernte, später dort angestellt war und schließlich eine eigene Werkstatt gründete. Vgl. Biographien Burg Giebichenstein, S. 507.
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Mascher-Elsässer in Köln an der Werkkunstschule ihre Ausbildung bei Richard Riemerschmied fortgesetzt hatte, führte sie 1929 erneut ihre Werkstattarbeit in Halle fort. Die Nähe der Kunstschmiedin zur zeitgenössischen Künstlerszene – ihre Werkstatt entwickelte sich zum Künstlertreff, in dem auch Lyonel Feininger und Karl Schmidt-Rottluff verkehrten – offenbart die enge Verschwisterung der bildenden und angewandten Kunst zu jener Zeit.296
4.6 Der Künstler als Lehrer – zwischen Brotberuf und kunstpädagogischem Anspruch Fast regelhaft boten bildende Künstler und Künstlerinnen in ihrem Atelier Unterricht im Malen und Zeichnen an, um ihre Einkünfte aufzubessern. Viele der in den vorangegangenen Kapiteln erwähnten Personen gaben über kürzere oder längere Zeiträume solche privaten Lehrstunden, die vor allem vom bürgerlichen Nachwuchs wahrgenommen wurden – zählte doch der künstlerische Dilettantismus zum kulturellen Kanon dieser Gesellschaftsschicht. Im Gegensatz dazu stehen in der anschließenden Untersuchung Künstler im Mittelpunkt, die als Zeichen- oder Kunstlehrer in einer Schule oder an der Universität in öffentlichem Dienst standen. Ausgenommen sind die Lehrkräfte an Kunst- bzw. Kunstgewerbeschulen und Akademien, die sich oft hinsichtlich ihrer Befähigung und der an sie gestellten Anforderungen von den Lehrern an den allgemeinbildenden Schulen und den Universitäten unterschieden. Anders als bei der Einstellung der Zeichenlehrer in den Schul- oder Universitätsdienst entschied vorrangig ihre künstlerische Fähigkeit über die Berufung an eine Akademie und es bedurfte keines Nachweises über ihre wissenschaftliche und pädagogische Befähigung. Angehende Zeichenlehrer – diese offizielle Bezeichnung galt bis in die Weimarer Republik und überdeckt die inhaltliche Verschiebung des Berufsbildes – waren für ihre Anstellung durch das Ablegen eines speziellen Examens qualifiziert. Der Prozess der Professionalisierung des Zeichenlehrerberufs schritt in unterschiedlicher Geschwindigkeit in den verschiedenen deutschen Territorialstaaten im Verlauf des 19. Jahrhunderts voran. In Preußen wurde mit einem Erlass des Jahres 1831 auch die fachliche Eignung der Aspiranten durch die Kunstakademien in Berlin und Düsseldorf überprüft. Erst gegen Ende des Jahrhunderts wurden spezielle Kurse für die Ausbildung von Zeichenlehrern eingerichtet, die zum Beispiel an der Lehranstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums angegliedert waren. An diesen Instituten mussten die Bewerber auch eine Prüfung ablegen, die ihr künstlerisches Talent, ihr technisches Können und ihre Allgemeinbildung dokumentierten. Insgesamt fanden in dieser Ent 296 Vgl. Biographien Burg Giebichenstein, S. 527, S. 534 und S. 515; AKL, Band 87 (2015), S. 451.
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wicklung eine deutliche Verschiebung zugunsten der künstlerischen Leistung und eine Formalisierung des Ausbildungsgangs statt. Im Reigen der Schulfächer wurde der Zeichenunterricht zwar aufgewertet, um seine Gleichstellung mit den anderen Fächern und ihren Lehrkräften musste jedoch bis ins 20. Jahrhundert gerungen werden. Die Erkenntnis der Rückständigkeit der deutschen Industrie im internationalen Vergleich sicherte dem schulischen Zeichenunterricht von staatlicher und bürgergesellschaftlicher Seite nach der Mitte des 19. Jahrhundert verstärkte Aufmerksamkeit. Dementsprechend zielte der Unterricht zu diesem Zeitpunkt auf die ästhetische Bildung aller Bevölkerungsschichten in der Hoffnung, ihren Geschmack als künftige Konsumenten und Produzenten zu bilden.297 Der Unterricht bestand darin, nach Vorlagen zu zeichnen und Abbildungen möglichst genau zu kopieren. Die Einsicht, dass sich diese Methode zur ästhetischen Erziehung nicht eignete, folgte bald darauf: »Ein Zeichenunterricht aber, der die Kinder einseitig und gedankenlos mit der Abmalung von allerlei Vorlegeblättern beschäftigt und dessen Resultat darin besteht, dass wenige Kinder eine ziemliche Fertigkeit in der Darstellung von Zeichnungen erlangen, die ins Auge fallen, während die allermeisten gar nichts lernen, sei von den Volksschulen auszuschließen.«298
Die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Fahrt aufnehmende Kunstgewerbebewegung reformierte auch den schulischen Zeichenunterricht unter pädagogischen Gesichtspunkten. Indem das Zeichnen und Modellieren nach lebenden Modellen und nach der Natur den Hauptteil des Zeichenunterrichts ausmachen sollte, würde die ästhetische Erziehung jedes Einzelnen gelingen, prognostizierten die Protagonisten des pädagogischen Reformansatzes. Sie konzentrierten sich damit weiterhin auf das Ziel, die Schüler als zukünftige industriekritische Konsumenten auszubilden und wollten ihre Aufmerksamkeit auf das kunsthandwerklich gefertigte Einzelstück im Gegensatz zum billigen Massenprodukt lenken.299 Dieser allgemeine Wandel in der Wertschätzung und Aufgabe des Zeichenunterrichts, die Professionalisierung des Zeichenlehrerberufs sowie die Verschiebung hin zum Ideal des Originär-schöpferischen steigerte die Attraktivität des Zeichenlehrerberufs für Anwärter, die eine starke Neigung zum bildenden Künstler empfanden. Die Aussicht, in öffentlicher Anstellung ein festes Gehalt zu beziehen und in einem Feld zu arbeiten, das der Künstlerarbeit verwandt 297 Vgl. Holtz, Kultusministerium, S. 513; Trunk, Ausbildung, S. 38 f. (Fortsetzung und Schluss in den beiden darauffolgenden Heften); Peter Joerissen, Kunsterziehung und Kunstwissenschaft im Wilhelminischen Deutschland 1871–1918, Köln 1979, S. 28. 298 So referierte Rudolf Trunk sinngemäß einen preußischen Regierungserlass aus dem Jahr 1864. Trunk, Ausbildung, S. 37. 299 Joerissen nennt Alfred Lichtwark und Konrad Lange als Wortführer der von ihm auf 1886–1905 datierten Kunsterziehungsbewegung. Vgl. Joerissen, Kunsterziehung, S. 63–65.
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ist, stellte für viele angehende Künstler eine vielversprechende Alternative zur ökonomischen Unsicherheit der Berufsnorm des Künstler-Kleinunternehmers dar.300 In auffallend vielen Bewerbungen, die zwischen 1908 und 1923 bei der halleschen Ernst Haaßengier-Stiftung eingingen, wurde der Lehrerberuf als Perspektive benannt. Der 1886 in Halle geborene Franz Vetter, der in Kassel die Kunstgewerbeschule und das Zeichenlehrerseminar besuchte, verstand das Lehrerexamen als notwendige Station auf dem Weg zu seinem eigentlichen Ziel: »Ich betrachte als Hauptziel meiner Studien mich zum bildenden Künstler (vielleicht Kunstmaler oder Modelleur) auszubilden, da ich diesem Ziele aber nur näher kommen kann, wenn mir wenigstens durch einen festen Erwerb Sicherheit geboten ist, so habe ich mir als nächstes Ziel den Zeichenlehrer gesetzt.«301
In ähnlicher Weise bewertete Franz Otto, der die künstlerischen Berufsoptionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Halle einzuschätzen wusste, die Befähigung zum Lehramt, wenn er schrieb: »Künstler von Beruf in Halle zu fesseln, gelang der Stadt ebensowenig, wenn dieselben nicht durch Lehrerstellung vor äusserer Noth geschützt waren, und auch dann nicht immer.«302
Ottos Beschreibung, die Halle im 19. Jahrhundert als ökonomisch unattraktiven Künstlerstandort kennzeichnet, trifft auf den Karriereverlauf des 1860 geborenen Philipp Franck zu, dessen Werke er 1892 als Sonderausstellung im Städtischen Museum präsentierte. Franck, der nach seinem Kunststudium und der bestandenen Zeichenlehrerprüfung an der Lateinischen Mittelschule der Franckeschen Stiftungen als Zeichenlehrer beschäftigt wurde, verließ Halle schon nach einem Jahr wieder und wechselte an die Kunstschule Berlin. Dort stieg er bis ins Amt des Direktors auf und wurde sowohl in künstlerischer als auch in pädagogischer Hinsicht zu einer prägenden Figur.303 Neben der 300 Der in Halle 1830 geborene Kunstmaler (Historien-, Landschafts- und Porträtmaler) Julius Wilhelm Albert Günther beispielsweise absolvierte nach seiner vielversprechenden akademischen Kunstausbildung mit Stationen in Berlin, Antwerpen, Düsseldorf und Weimar sowie einer von König Wilhelm spendierten Studienreise nach Italien im Alter von 35 Jahren die Zeichenlehrerprüfung an der Kunstgewerbeschule in Berlin. Danach war er über 25 Jahre als Lehrer an höheren Schulen in Halberstadt, Berlin und Breslau beschäftigt. An seinem Lebensabend hielt er sich für wenige Jahre erneut in seiner Geburtsstadt auf und konzentrierte sich wieder auf sein künstlerisches Schaffen. Vgl. AKL, Band 64 (2009), S. 404; Adressbuch Halle 1895–1897. 301 StH, A 2.3 Nr. 132, Bl. 89–90. 302 Otto, Städtisches Museums, S. 5. 303 Als Mitbegründer der Berliner Sezession und Mitglied der Münchener Sezession sowie des Künstlerbundes besaß er als Maler, Aquarellist, Zeichner und Radierer einen herausragenden künstlerischen Ruf. Vgl. AKL, Band 43 (2004), S. 458 f.; Verzeichnis sämtlicher Lehrer, S. 31; Otto, Städtisches Museum, S. 11.
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Universität waren die Franckeschen Stiftungen die wichtigste Schulstätte, an denen Zeichenlehrer mit ernsthaften künstlerischen Ambitionen eine Anstellung fanden.304 Unter ihnen befanden sich im frühen 19. Jahrhundert Adam Weise, Kunstgelehrter und Kunstlehrer, der nach seinem Engagement an den Franckeschen Stiftungen hauptamtlicher Professor an der Universität wurde, und der Kupferstecher Moritz Voigt, der ihm in diesem Amt nachfolgte. Ab 1915 gab der Maler und Zeichenlehrer Wilhelm Busse-Dölau den Unterricht im Zeichnen an der Oberrealschule. Seine künstlerische Ausbildung führte von der Magdeburger Kunstgewerbeschule über die Kunstakademien in Berlin und Königsberg ins Atelier des bekannten deutschen Impressionisten Lovis Corinth. Während seiner Lehrtätigkeit pflegte er sorgfältig seine künstlerische Existenz und schloss sich diversen halleschen Künstlergruppen an, mit denen er gemeinsam ausstellte und kunstpolitisch aktiv war.305 Seinen Unterricht orientierte er an den Werten und Erkenntnissen der zeitgenössischen Kunstpädagogik, wobei er das Beobachten und Zeichnen nach der umgebenden Natur als wirkungsvollstes Mittel beschrieb, um »die gestaltenden Kräfte des Schülers [zu] entwickeln, zum andern zu Kunstverständnis, zum Erleben der Kunstwerke [zu] führen.«306 Als zentralen Bezugspunkt aller Elemente des Kunstunterrichts (zu dem der Zeichenunterricht in den zwanziger Jahren ausgebaut wurde) bestimmte BusseDölau die Heimat, deren Kultur durch Beobachtung und künstlerische Verarbeitung erkannt werden sollte.307 Seine Interpretation der Aufgabe des schulischen Kunstunterrichts spiegelt die Bedeutungsverschiebung innerhalb des zeitgenössischen Kunstbegriffs, bei dem nicht mehr nur die äußere Form, sondern die Innenansicht und individuelle Wahrnehmung in den Vordergrund rückte. Die bildende Kunst, die im Rahmen der Kunstgewerbebewegung zur Schulung des Geschmacks instrumentalisiert wurde, sollte nun »den Beschauer oder Hörer zu einer gesteigerten Empfindung seines Daseins verhelfen«. Der Oberlehrer 304 Umgekehrt bedeutete eine Anstellung als Zeichenlehrer nicht, dass die betreffende Person auch selbst als bildender Künstler aktiv war. Friedrich August Albert Dewerzeny, der die Königliche Kunstschule zu Berlin für ein Jahr zum Zweck der Vorbereitung auf die Zeichenlehrerprüfung besuchte und danach als Zeichenlehrer an der Latina fungierte, tauchte an keiner Stelle in den Quellen zum halleschen Kunstgeschehen auf. Vgl. Verzeichnis sämtlicher Lehrer, S. 31. 305 Er war Mitglied des Oldenburger Künstlerbundes, bekleidete über viele Jahre den Posten des Vorsitzenden des Künstlervereins auf dem Pflug, schloss sich dem Künstlerrat und der Ortsgruppe des Wirtschaftsverbandes bildender Künstler an. Darüber hinaus war er Mitglied im kurzzeitig aktiven »Ring« in Halle und aktiv im Halleschen Kunstverein. Vgl. Dressler, Kunstjahrbuch 1913, S. 581/582; LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband bildender Künstler Halle, Bl. 46, 55, 65, 73, 77, 145; HZ vom 13.10.1920; SZ vom 18.08.1919; LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Künstlerverein auf dem Pflug. 306 Busse-Dölau, Die Franckeschen Stiftungen, S. 6. 307 In den 1925 neugefassten Lehrplänen für weiterführende Schulen wurde das technische Hilfsfach »Zeichnen« zum vollumfänglichen Kunstfach ausgebaut. Vgl. Busse-Dölau, Die Franckeschen Stiftungen; Busse-Dölau, Beurteilung.
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und Professor am Reformalgymnasium in Halle Dr. Carl Steinweg forderte in diesem Sinn, dass die Kunst in die Gestaltung des gesamten Schulunterrichts einbezogen werden sollte. Die durch die Kunst vermittelten Werte der Achtsamkeit, Geduld und Konzentration konnten demnach den Menschen zu einer »Welt- und Lebensanschauung führen, die ihn und andere glücklich macht«308. Wenige Jahre, bevor Wilhelm Busse-Dölau den Zeichenunterricht an der Oberrealschule der Franckeschen Stiftungen unter kunstpädagogischen Vorzeichen gestaltete, bekam auch die hallesche Universität einen neuen Zeichenlehrer, mit dem frischer Wind im akademischen Zeichenunterricht einzog. Otto Fischer-Lamberg wurde 1912 eingestellt und löste damit den langjährig in dieser Position tätigen Hermann Schenk ab. Schenk, der nach seiner Ausbildung und Tätigkeit als Lithograf in den Universitätsdienst berufen wurde, verkörperte den Typus des naturwissenschaftlichen Zeichners.309 Vor allem für die naturwissenschaftliche und philologische Fakultät fertigte er Zeichnungen als Lehrvorlagen für den Unterricht an. Darüber hinaus zählte auch der universitäre Zeichenunterricht, der für zweimal zwei Stunden pro Woche den Studenten aller Fakultäten offen stand und vor allem für die künstlerisch Begabten unter ihnen gedacht war, zu seinen Aufgaben. Das Unterrichtsziel bestand der zeitgenössischen Auffassung nach entsprechend mehr in der »Aufnahme und Ausführung von Natur- und Kunstgegenständen«310 als in der ästhetischen und ethischen Bildung des Lernenden.311 Zwar pflegte Schenk gleichzeitig seine künstlerische Identität – im Adressbuch bezeichnete er sich sowohl als Maler als auch als akademischen Zeichenlehrer – von ihm sind jedoch wenige Werke überliefert, die jenseits seiner Beschäftigung an der Universität entstanden. Die 1873 formulierte »Instruktion für Zeichenlehrer« der Universität forderte vom Stelleninhaber, dass universitätsinternen Aufträgen klare Priorität einzuräumen sei und »Originalzeichnungen und Kopien [im Auftrag der Lehrbeauftragten der Universität zu Unterrichts- und wissenschaftlichen Zwecken, I. S.-W.] vor allen Privatarbeiten«312 erledigt werden müssten. Diese wurden ihm 308 Dies und das vorhergehende Zitat: Steinweg, Kunst und Wissenschaft, Zitate S. 46 und 52. 309 Elke Schulze identifizierte in der Entwicklung des Universitätszeichenunterrichts ab 1800 verschiedene Phasen und Lehrertypen, die von den drei aufeinanderfolgenden Zeichenlehrern der Universität in Halle geradezu paradigmatisch verkörpert würden. Während Adam Weise für die »kunstpraktische[r] und ästhetische[r] Lehre stehe, habe Hermann Schenk das Zeichnen vorrangig in den Dienst der Naturwissenschaften gestellt. Fischer-Lamberg schließlich habe die zeitgenössischen kunstpädagogischen Strömungen aufgegriffen. Vgl. Schulze, Nulla dies sine linea, S. 86 f. 310 UA Halle, Rep. 11, PA 6093. 311 Vgl. UA Halle, Rep. 4 951, Bl. 26–27 (09.04.1981), abgedruckt in Schulze, Nulla dies sine linea, S. 258. 312 UA Halle Rep. 11, PA 6093.
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dann zu einem Vorzugspreis abgekauft. Die Einnahmen aus dem Zeichenunterricht richteten sich nach der Zahl der eingeschriebenen Studenten (10 Mark je Student je Semester) und waren damit ebenfalls Schwankungen unterworfen.313 Schenks Einkommen 1875 (zu diesem Zeitpunkt war er seit fünf Jahren im Universitätsdienst) fiel im Vergleich mit weiteren vier verzeichneten Zeichenlehrern bzw. Zeichenlehrern und Malern gering aus. Im Verlauf der folgenden zwanzig Jahre verbesserte sich seine Einkommenssituation. Sein Jahresverdienst Mitte der neunziger Jahre belief sich schließlich auf etwa 3.000 Mark und lag damit deutlich höher als bei den meisten Kunstmalern und Zeichenlehrern, wobei er von den Spitzenwerten in beiden Berufsgruppen weit entfernt blieb.314 Zwar bot die Stelle des universitären Zeichenlehrers verschiedene Möglichkeiten des Verdienstes, die letztendliche Höhe war ihm jedoch nicht garantiert und richtete sich nach der Auftragslage bzw. dem Interesse der Studierenden. Mit dem Amtsantritt Otto Fischer-Lambergs, der Schenck 1912 nachfolgte, wurde die Stelle des Universitätszeichenlehrers finanziell durch eine jährlich gezahlte, feste Summe stabilisiert und aufgewertet.315 Bevor er sich im Januar an der halleschen Universität bewarb, hatte er sich für ein Jahr in Weimar im Anschluss an sein Studium an der dortigen Kunsthochschule als selbstständiger Maler niedergelassen. Die Prüfung zum Zeichenlehrer für höhere Schulen hatte er zuvor 1907 in Berlin abgelegt316, wo er 1904 bis 1908 an der Hochschule für bildende Künste und der Königlichen Kunstschule studiert hatte. Fischer-Lamberg war demnach für eine Anstellung als Zeichenlehrer qualifiziert, gleichwohl er auch selbstständig als bildender Künstler hätte arbeiten können. Sein Weima rer Lehrer Fritz Mackensen, in dessen Atelier er als Meisterschüler arbeitete, empfahl den Bewerber für das Amt des Zeichenlehrers und betonte einerseits seine technisch-zeichnerischen Fähigkeiten und andererseits seine soziale und pädagogische Kompetenz: »Fischer würde nach meiner festen Überzeugung so wie nur irgend einer dem Amte des Zeichen- und Mallehrers an der Universität gewachsen sein. Er ist sehr gewandt im Zeichnen und kennt jede Technik, auch die Maltechniken. Ich wüßte keinen unserer Schüler, dem so sehr klares Formsehen und exakte Linienführung obläge als ihm. Fischer ist auch gebildet genug, um in akademischen Kreisen verkehren zu können und die Studenten in allem was mit Kunst zusammenhängt anzuregen.«317
313 Vgl. ebd. 314 StH, Wahlbüro, Kap. VII, Nr. 6; Wahlbüro, Kap. IX, Nr. 10. 315 Die Remuneration belief sich auf 1.800 Mark. Aus den Personalakten ist nicht ersichtlich, ob Fischer-Lamberg die Übernahme der Stelle an die finanzielle Ausstattung des Amtes geknüpft hatte. Vgl. UA Halle, Rep. 11, PA 6093. 316 Hier studierte er unter anderem bei dem Kunstpädagogen und kurzzeitig als Zeichenlehrer in den Franckeschen Stiftungen beschäftigten Philipp Franck. Vgl. ebd. 317 Vgl. ebd.
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Diese Einschätzung wurde durch die kurzen Statements der Universitätsprofessoren Carl Robert (Archäologie) und Adolph Goldschmidt (Kunstgeschichte) bestätigt, die ihn ebenfalls vorrangig für die Exaktheit seiner Zeichnungen lobten. Unter den studentischen Besuchern seiner Zeichenkurse war er wegen seines pädagogisch orientierten Unterrichts beliebt, die sich von den speziellen Studienfächern distanzierten und die Kunsterfahrung des Einzelnen in den Mittelpunkt rückten.318 Neben seinen Dienstverpflichtungen ging er kontinuierlich seiner Tätigkeit als bildender Künstler nach. Gleich zu Beginn seiner Ankunft in Halle wurden 1913 Werke von ihm in der Lesehalle am Hallmarkt gezeigt. Intensiv widmete er sich nach Ende des Krieges seinem künstlerischen Werk, das immer wieder in Ausstellungen in Berlin, Leipzig, Rostock, Würzburg, Bremen, Greifswald und natürlich Halle präsent war. Formal orientierte er sich an den zeitgenössischen Strömungen des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit.319 In seinem modernen Verständnis des Kunstbegriffs, das die individuelle Wahrnehmung und Verarbeitung der Realität ins Zentrum stellte, verblüffte er noch manchen zeitgenössischen Kommentator seiner Werke: »Das grüne Porträt ist ein Experiment. Die grüne Farbe ist an und für sich schwer zu meistern. Hier ist sie um so rätselhafter, als der Kopf nicht etwa von einer grünumhangenen Lampe beleuchtet, sondern einfach grün ist. Man vermißt gerade an diesem Kopf, der an sich ausgezeichnet gemalt ist, abgesehen von dem harten Ansatz der Schultern am Halse, die flotte Handschrift der übrigen Porträts. Ein Experiment.«320
In der Rezension bespricht der Autor eine Ausstellung von Werken Fischer- Lambergs und seiner Frau, die im Sommer 1919 im Oberlichtsaal der Kunsthandlung Tausch & Grosse gezeigt wurde. Mehrfach beschreibt er die Spannung, die zwischen des Künstlers technischem Können – »Der ›Wolkenkratzer‹ ist unbedingt akademisch zeichnerisch richtig«321 – und seiner Abwendung vom Naturalismus hin zu farblicher Expressivität und räumlicher Verzerrtheit besteht. In seiner Person vereinte Fischer-Lamberg unterschiedliche Tätigkeitsbereiche, die jeweils spezielle Anforderungen an ihn stellten. Als Universitätszeichner hatte er die Aufgabe, exakte Zeichnungen nach plastischen Gegenständen anzufertigen. Goldschmidt lobte seine »Zeichnung nach einem kunstgewerblichen Gegenstand[, die,] den Charakter vorzüglich wiedergibt und eine gewisse Gewähr gibt, daß er auf die Schulung der künstlerischen Anschauung des Studenten von sehr gutem Einfluß sein kann.«322 Als Lehrer, der mit unterschiedlich ausgeprägten Talenten und Interessen konfrontiert war, und Anhänger der 318 Vgl. Schulze, Nulla dies sine linea, S. 86 f. 319 Vgl. Otto Fischer-Lamberg (1886–1963). 320 SZ vom 23.07.1919, Nr. 340 (Beilage). 321 Ebd. 322 UA Halle, Rep. 11, PA 6093.
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modernen Kunstpädagogik bewältigte er wiederum gänzlich andere Anforderungen. Als bildender Künstler schließlich rang er zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit um einen eigenen Stil, den er am ehesten in seinem grafischen Werk fand.323 Schon allein die Tätigkeit als Universitätszeichenlehrer hatte sich im Vergleich zur Amtsführung seines Vorgängers diversifiziert. Hinzu kam noch sein ausgeprägtes ehrenamtliches Engagement für die Belange der bildenden Künstlerschaft in Halle in der Position des Vorsitzenden der Ortsgruppe des Wirtschaftsverbandes bildender Künstler.324 Als solcher trug er die Verantwortung für die organisatorische Führung der hier organisierten Künstler, deren Zahl sich auf zeitweise über achtzig belief und die sich einmal monatlich trafen.325 Jenseits stilistischer Unterschiede verfolgte der Verband die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen der Berufsgruppe der bildenden Künstler. Dezidiert sprach sich Fischer-Lamberg in einem Beitrag in der Verbandszeitschrift dafür aus, dass Künstler sich zur Besorgung ihrer Materialien in einer Genossenschaft zusammenschließen und die Zwischenhändler umgehen sollten. Seine persönliche wirtschaftliche Lage stellte sich zu Beginn der zwanziger Jahre unter den Bedingungen der Inflation bedrückend dar. Immer wieder bat er seinen Arbeitgeber um Sonderzahlungen. Die Anpassung seines Grundgehalts und weiterer Zulagen 1920 und 1922 sorgte dennoch dafür, dass er weniger unter der wirtschaftlich beklemmenden Situation litt als viele seiner Künstlerkollegen. Auch in der Folge verstand er es mit wiederholter Beharrlichkeit, staatliche Beihilfen zu erwirken, mit denen er private Mehrausgaben kompensierte.326 Durch seine Tätigkeit für die hallesche Volkshochschule, an der er zwischen 1923 und 1929 insgesamt 24 praktische Mal- und Zeichenkurse gab, erwarb er zusätzliche Einkünfte. Neben der finanziellen Motivation stand die pädagogische Herausforderung, weiteren Bevölkerungskreisen Halles und künstlerischen Laien die persönlichkeitsbildenden Potentiale der Kunstausübung aufzuzeigen.327 Die Stellung und die Aufgabenbereiche der Zeichenlehrer durchliefen seit dem 19. bis ins 20. Jahrhundert mehrstufige Veränderungen und waren eng an die Entwicklungen im Bereich des Kunstgewerbes und die Diversifizierung des Kunstbegriffs, insbesondere seine Demokratisierung, gebunden. Für Halle lässt 323 Vgl. AKL, Band 40 (2004), S. 431. 324 Fischer-Lamberg war Gründungsmitglied und Vorsitzender der Ortsgruppe bis 1927. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband bildender Künstler Halle, Bl. 15, 17, 19, 21. 325 Die im Verbandsorgan »Kunst und Wirtschaft« erschienenen Einladungen und Verlautbarungen waren von ihm unterzeichnet. 326 So gestand ihm das preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Sonderzahlungen wegen eines Todesfalls, Krankenbehandlung und Kuraufenthalts sowie zum Umbau einer neu bezogenen Wohnung zu. 327 Vgl. 10 Jahre Volkshochschule Halle, S. 34/35; UA Halle, Rep. 11, PA 6093.
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sich feststellen, dass vor allem im beginnenden 20. Jahrhundert die Lehrerstellung auch von Künstlern angenommen wurde, die neben ihrer Lehrtätigkeit als bildende Künstler eine deutliche Kontur gewannen.
4.7 Architekten als Impulsgeber im Kunstgewerbe Die berufliche Identität des Architekten war in den Jahrzehnten um 1900 starken Veränderungen unterworfen, in deren Verlauf vor allem der künstlerische Aspekt seines Selbst- und Fremdbildes gestärkt wurde. Die Kunstgewerbebewegung spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle, in der wiederum vor allem Architekten wichtige Positionen besetzten und theoriebildend wirkten. Unter dem Primat der Architektur sollte eine Annäherung der verschiedenen künstlerischen Disziplinen stattfinden und ihre Einheit am Bau präsentiert werden. Die in diesem Konzept eingeforderte Vorrangstellung der Architektur als Mutter der Künste folgte einerseits kunstgeschichtlichen Traditionen und war andererseits wegen ihrer unumstrittenen gesellschaftlichen Relevanz sinnfällig. In Zeiten, in denen die Wiederannäherung von Kunst und Leben gefordert und die gesellschaftliche Isolation des bildenden Künstlers beendet werden sollte, hatte die Architektur als Leitdisziplin Konjunktur. In engem Zusammenhang mit den begrifflichen Verschiebungen standen soziale und institutionelle Veränderungen, die vor allem die Ausbildung und die berufsständische Organisation der Architekten betrafen. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht dabei jene Gruppe von Architekten, die für sich beanspruchte, ihren Beruf aufgrund einer künstlerischen Befähigung auszuüben. Da die Berufsbezeichnung des Architekten nicht geschützt, also weder an eine bestimmte berufliche Qualifikation noch an einen genauen Leistungskatalog gebunden war, wurde sie vielfach auch von Personen verwendet, die zwar im Bauwesen tätig waren, jedoch keinerlei schöpferische Tätigkeit ausführten. Zeitgenossen kritisierten die verbreitete Praxis sich als Architekten bezeichnender Bauunternehmer, deren berufliche Tätigkeit sich auf die Bauausführung beschränkte. Zur Abgrenzung von den Bauunternehmern gründete sich kurz nach der Jahrhundertwende der Bund Deutscher Architekten, dessen Mitglieder ihre künstlerisch-wissenschaftliche Befähigung darlegen mussten und sich einem Ehrenkodex verschrieben. Zur Kennzeichnung ihrer Mitgliedschaft trugen die Architekten das Kürzel »B. D. A.« in allen Geschäftsund Personenanzeigen.328 Wenngleich zum Ende des 19. Jahrhunderts die Gemeinsamkeiten zwischen Architektur und bildender Kunst betont wurden, bestanden hinsichtlich ihrer Ausbildungswege und Karriereverläufe deutliche Unterschiede. Seit der Ein 328 Ausführlich dazu siehe Kap. IV, 5.2.
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richtung einer selbstständigen Bauakademie in Preußen, die 1799 als Ausgrün dung der Berliner Akademie der Künste entstand, wurde vermehrt Wert auf den technisch-wissenschaftlichen Aspekt der Ausbildung für das Bauwesen gelegt. Bis zur Mitte des Jahrhunderts trug die zwischenzeitlich als Bauschule bezeichnete Einrichtung den Charakter einer Fortbildungsschule, weniger einer wissenschaftlichen Hochschule oder Akademie. Der Anspruch an die schulische und praktische Vorbildung der Studenten wurde stetig angehoben und um die Mitte des Jahrhunderts durch die Lockerung des Stunden- und Lehrplanes ein freieres Studium möglich. Mit der 1875 erfolgten Neuordnung wurde die Königliche Bauakademie in den Stand einer technischen Hochschule mit akademischem Charakter gehoben. An der dem Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten unterstellten Einrichtung und ihrem institutionellen Nachfolger, der Technischen Hochschule Charlottenburg, wurden seitdem in getrennten Studiengängen Architekten, Bauingenieure, Maschinenbauer und weitere technische Berufsträger ausgebildet.329 Die Akademie bzw. die seit ihrer Vereinigung mit der Gewerbeschule 1879 entstandene Technische Hochschule bemühte sich vor allem um eine standardisierte wissenschaftliche Ausbildung von Baufachkräften für den Staatsdienst330 und den privaten Bereich. Wie an anderen technischen Hochschulen im Deutschen Reich besuchten die angehenden Architekten neben den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern vor allem Vorlesungen zur Kunstund Architekturgeschichte sowie praktische Kurse im Ornamentzeichnen und Unterricht im Figurenzeichnen, Modellieren und Landschaftszeichnen. Seit dem Ende der siebziger Jahre wurden auch Vorlesungen und praktische Übungen für den kunstgewerblichen Bereich angeboten.331 Vor allem im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bildete die Berliner Einrichtung für zahlreiche hallesche Architekten eine zentrale Station ihrer Ausbildung.332 329 Vgl. Becker, Bauakademie, S. 7–13; Waetzoldt, Entwicklung, Teil 1, S. 240–245. 330 Als Anwärter der Baubeamtenlaufbahn mussten die Studierenden nach einem vierjährigen akademischen Studium an der Bauakademie oder einer anderen technischen Hochschule (namentlich bestimmt) die erste Staatsprüfung ablegen. Die zweite Staatsprüfung folgte, nachdem die Aspiranten eine zweijährige praktische Ausbildungszeit im öffentlichen Bauwesen absolviert hatten, an der Berliner Bauakademie. Vgl. Programm der Königlichen Bau-Akademie 1876/77–1878/79, S. 16. 331 Im Studienjahr 1878/79 bot Julius Lessing eine Vorlesung über die Geschichte des Kunstgewerbes im Umfang von zwei Semesterwochenstunden an. Vgl. Programm der Königlichen Bau-Akademie 1877/78, S. 33. 332 Unter den Studenten an der Bauakademie waren Willy Assmann (1893–95), Julius Kallmeyer (1894–98), Wilhelm Facilides (1903–05 und 1906–08) und Alfred Gellhorn (zwischen 1903 und 1908 studierte er an den Technischen Hochschulen in München, Berlin und Stuttgart). Vgl. Krause, Kallmeyer und Facilides, S. 36–38 und S. 82–86; DLL, Band 4, Sp. 634 (Willy Assmann unter dem Pseudonym Rudolf Burghaller); Dressler, Kunsthandbuch Bd. 2 1930, S. 299.
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Neben Berlin waren die Technischen Hochschulen in München und Karlsruhe wichtige Ausbildungsstätten für Architekten und Bauingenieure um 1900. Mit den seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts gegründeten Kunstgewerbeschulen diversifizierten sich die Ausbildungsmöglichkeiten angehender Architekten. Für Paul Thiersch, selbst Architekt und ab 1915 Leiter der Handwerker- und späteren Kunstgewerbeschule, gehörte Architektur selbstredend in den Lehrplan. Sowohl ihrer Ausbildung, Tätigkeit als auch ihrer Berufsstruktur nach bestanden zwischen bildenden Künstlern und Architekten deutliche Unterschiede. Während Bildhauer und Maler potentiell frei arbeiteten und Werke ohne konkreten Adressaten schufen, war der Architekt viel stärker an menschliche Bedürfnisse, Naturgesetze und die Gunst eines Auftraggebers gebunden. Der hohe Bedarf an öffentlich bestellten Architekten und Ingenieuren für den Hoch- und Tiefbau an den Bauämtern unterschied zudem die Berufsgruppe der Architekten deutlich von anderen Künstlerberufen, die bis auf wenige Ausnahmen in die berufliche Selbstständigkeit führten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ermöglichte die Kunstgewerbebewegung, die den Aspekt der angewandten Bildhauerei und Malerei in den Vordergrund rückte, eine starke Annäherung zwischen Architektur, Malerei und Plastik. In dem Maß, wie sich die bildende Kunst – sei es aus ökonomischen oder ideologischen Beweggründen – an den Erfordernissen des Alltags orientierte, strebten Architekten danach, selbst als Künstler zu gelten. In Halle, das mit seinem enormem Wachstum ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen großen Bedarf im Bereich des öffentlichen und privaten Bauens hatte, gab es bis zum Ersten Weltkrieg sowohl für öffentlich angestellte wie für selbstständige Architekten, die sich häufig in Büro- und Ateliergemeinschaften organisierten und wiederum selbst Architekten beschäftigten, ein weites Betätigungsfeld. Die zum Teil weit überdurchschnittlichen Jahresverdienste, die sie im Vergleich zu anderen künstlerischen Berufen erzielten, sprechen von der wirtschaftlichen Blüte dieses Berufsstandes bis ins beginnende 20. Jahrhundert. Einen erheblichen Einschlag erlitt der Berufsstand mit Beginn des Ersten Weltkrieges. Bruno Föhre, Architekt B. D. A. und Leiter eines Architekturbüros, berichtete bereits im August 1914, kriegsbedingt seien »auch die letzten Arbeiten zum Erliegen gekommen«, womit er gezwungen war, seinen geschätzten Mitarbeiter Martin Knauthe zu entlassen.333 Auch in den wirtschaftlich angespannten Jahren der Nachkriegszeit hatten Architekten mit Auftragsschwierigkeiten zu kämpfen.334 333 Vgl. Stadtmuseum, S III 4535. 334 Selbst bis dahin erfolgreiche Architekturbüros, wie das von Reinhard Knoch & Julius Kallmeyer geführte Geschäft, mussten in den Nachkriegsjahren aus wirtschaftlichen Gründen verkleinert werden. Vgl. Krause, Kallmeyer und Facilides, S. 44 und 86.
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Die zunehmend enger werdende Verbindung zwischen Architektur und bildender Kunst über das Kunstgewerbe lässt sich anhand der Biografien und Kunstbegriffe einiger hallescher Architekten nachverfolgen. Im Rückblick erscheinen sie dabei als wichtige Impulsgeber für das Wachstum und die Transformation des halleschen Kunstsystems. In diesem Sinn tauchen sie in großer Zahl im halleschen Kunstgewerbeverein auf. Kurz nach dessen Gründung 1882 waren sie als stärkste Berufsgruppe beteiligt (24 von 169 Produzenten und insgesamt 427 Vereinsmitgliedern im fünften Vereinsjahr 1886)335 und durchgehend auf der Führungsebene des Vereins präsent. Vor allem Gustav Wolff war seit der Jahrhundertwende bis in die zwanziger Jahre als Vorsitzender bzw. stellvertretender Vorsitzender für die Aufstellung des Vereins im städtischen Kunstsystem eine maßgebliche Figur. Dieser Befund ist kein Zufall, sondern drückt die Bedeutung der Architektur und ihrer führenden Kräfte für die Entwicklung des Kunstgewerbes auch auf lokaler Ebene aus. Henry van de Velde und Hermann Muthesius, die als wichtige Impulsgeber der Kunstgewerbebewegung gelten und später als Widersacher im »Werkbundstreit«336 einander gegenüberstanden, gehörten ebenfalls der Zunft der Architekten an. Die enge Verwandtschaft von Architektur und Kunstgewerbe ergibt sich aus der beiden Bereichen zugrundeliegenden Funktionslogik, die sie als Elemente des Alltagslebens erfüllen. Anders als die bildende Kunst musste sich die Architektur – wollte sie verwirklicht werden – den Gesetzen der Schwerkraft, Rationalität und Funktionalität unterwerfen.337 Die Nähe zum Kunstgewerbe, das sich um die sinnhafte sowie qualitativ hochwertige und dennoch ästhetisch wertvolle Gestaltung von Gebrauchsgegenständen bemühte, ergab sich zudem über den Bereich der Innenraumgestaltung. Architekten richteten zunehmend ihre Aufmerksamkeit auf Gestaltungsaufgaben innerhalb der Wohn- und Geschäftshäuser sowie öffentlicher Gebäude. Die ersten kunstgewerblichen Ateliers, die kurz vor der Jahrhundertwende in Halle eröffneten, wurden von Architekten geführt. Das Angebot der Ateliergemeinschaft der Architekten Franz Wilhelm Adams und Alwin Zander, die um 1897/98 ein »Atelier für Architektur und Kunstgewerbe« betrieben, umfasste eine »Baufachausstellung«, »patentierte[r] 335 Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1886. 336 Innerhalb des 1907 gegründeten Werkbundes konkurrierten zwei Sichtweisen miteinander, die jeweils die Bedeutung der individuellen künstlerischen Leistung beziehungsweise der maschinellen Massenproduktion betonten. Im 1912 publizierten Jahrbuch versuchte Peter Jessen die unterschiedlichen Strömungen unter dem Begriff der »Werkkunst« zu vereinen, der sowohl »Architektur und Kunstgewerbe, Handwerk und Industrie, Einzelstück und Massenware« zusammenband. Vgl. Jessen, Werkbund, S. 3. 337 In der französischen Architekturgeschichte gab es am Ende des 18. Jahrhunderts eine Strömung utopischer Architektur, die später als »Revolutionsarchitektur« bezeichnet wurde, da sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung stand. Vgl. Metken, Utopien, S. 9.
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Baufachartikel« sowie »Ausstattungsstücke vornehmer Wohnräume«338. Ähnlich lesen sich die Anzeigen weiterer hallescher Architekten, die ihre Dienstleistungen sowohl für den Bereich der Architektur als auch für das Kunstgewerbe anboten.339 In Halle traten besonders zwei Personen in den Vordergrund, die sich intensiv um die zeitgenössisch verbreitete Verschmelzung von Architektur, bildender Kunst und Kunstgewerbe bemühten. Der für wenige Jahre in Halle tätige Willy Assmann, von dem als impulsivem Knotenpunkt des städtischen Kunstsystems bereits die Rede war,340 war einer der Protagonisten dieser Entwicklung auf lokaler Ebene. Der kaum 30-jährige Architekt (geboren 1872), für dessen fachliche und künstlerische Befähigung das von ihm errichtete Wohn- und Geschäftshaus an prominenter Stelle im halleschen Stadtbild spricht, konzentrierte sich während seiner Tätigkeit in Halle darauf, das Kunstgewerbe beziehungsweise die »Kunst im Handwerk« zu popularisieren. Diesem Ziel versuchte er sich sowohl auf praktischer wie intellektueller Ebene zu nähern. Einerseits stand er mit seiner eigenen Tätigkeit für die Verbindung künstlerischer Ambitionen und praxistauglicher Gestaltungsarbeit. So nahm er selbst an der Ausschreibung des Kunstgewerbevereins für die Gestaltung des Goldenen Buches der Stadt Halle mit einem Entwurf teil, der schließlich als Gewinner gekürt und von ihm ausgeführt wurde.341 Das fertige Buch wurde anschließend für einige Zeit in seinem Salon der Öffentlichkeit präsentiert. Die von ihm eingerichtete Kunst- und Kunstgewerbeausstellung, zu der die Mitglieder des Kunstgewerbevereins freien Eintritt erhielten, boten dem halleschen Publikum zudem die Möglichkeit, zeitgenössische Entwicklungen zu beobachten und nicht zuletzt kunstgewerbliche Produkte zu erwerben. Assmann sorgte sich dabei auch um die intellektuelle Annäherung zeitgenössischer Entwicklungen in Kunst und Kunstgewerbe durch Vortragsreihen. Dass Assmann sich nicht allein auf die technischen Aspekte seiner Tätigkeit beschränkte, sondern auch an den geistigen Zusammenhängen der Phänomene interessiert war, belegt sein Philosophiestudium, das er zusätzlich zu seiner Ausbildung zum Architekten an der Technischen Hochschule Charlottenburg absolvierte. Nicht zuletzt sorgte er auch unter den Künstlern für Synergieeffekte, indem er der ersten explizit künstlerischen Vereinigung 338 Vgl. Adressbuch Halle 1897 und 1898. 339 Beispielhaft dafür sind die Geschäftsanzeigen von Gustav Wolff / Theodor Lehmann und Georg Rödiger, der seit 1915 mit einem Büro für Architektur und Kunstgewerbe in Halle ansässig war. 1933 warb er in seiner Geschäftsanzeige auch für die neu eingerichtete »Werkkunststube«, in der kunstgewerbliche Artikel verkauft wurden. Vgl. Adressbuch Halle 1898–1912 und 1915–1933. 340 Siehe Kap. III, 3.2.3. 341 Assmann gehörte selbst dem Verwaltungsrat des Kunstgewerbevereins über zwei Vereinsjahre an (1901/1902 und 1902/1903. Vgl. Jahres-Bericht des Kunstgewerbe-Vereins 1901, S. 5.
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»Skizzenklause Jugend« in seinem Haus Raum für regelmäßige Zusammenkünfte bot. Zahlreiche Künstler wohnten, arbeiteten und begegneten sich hier. Beispielsweise vereinbarten die Künstlerin Martha Bernstein-Neuhaus und die Glasmalerei »Guckeisen und Ewald« eine Zusammenarbeit von entwerfender und ausführender Instanz. Mit seiner vielfältigen Tätigkeit als Künstler, Architekt, Kulturvermittler und Netzwerker ist Willy Assmann eine wichtige Figur für das Zusammenkommen der künstlerischen Disziplinen und ein früher Multiplikator des Gedankens, dass Kunst Teil des Alltags und damit größerer gesellschaftlicher Kreise sein könne.342 Der über ein Jahrzehnt ältere Gustav Wolff gehörte zwar einer anderen Generation hallescher Architekten an – in Geschäfts- und Personenanzeigen bezeichnete er sich noch als Baumeister, später als Architekt und Baumeister – stand aber wie Assmann für das Zusammengehen von bildender Kunst und Handwerk im Kunstgewerbe. Ganz im Sinn der Kunstgewerbebewegung hierarchisierte er dabei das Verhältnis von Kunst und Handwerk: »Sie [die bildenden Künstler, Maler, Bildhauer, Architekten, I. S.-W.] wiesen dem Handwerker neue Wege und befruchteten seine Arbeit mit künstlerischen Gedanken.« Er schloss dabei die autonom-funktionslose Kunst aus seinem Konzept des Kunstgewerbes aus und betonte dabei den Gedanken der Demokratisierung ästhetischer und qualitativer Prämissen: »Zu diesen Erfolgen [Anerkennung des Deutschen Reichs auf dem Weltmarkt, I. S.-W.] führte vor allem die Erkenntnis, daß die Entwicklung unserer heutigen Kultur trotz der gewaltigen Fortschritte auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik nur eine einseitige und lückenhafte bleibt, so lange die Kunst für unser Leben nicht die Bedeutung erlangt, die ihr zukommt, so lange sie nicht unser Dasein verschönt und veredelt. Seit dieser Erkenntnis kann man sehr wohl von einem ›Hunger nach Kunst‹ in weiten Kreisen unseres Volkes sprechen. Hier kann natürlich nicht eine Kunst gemeint sein, die exklusiv ist, die ihre Stätte vorwiegend in Museen und Kunstsammlungen hat, sondern eine Kunst, die alles durchdringt und sich auf alles erstreckt, was in den Bereich der menschlichen Tätigkeit gehört.«343
Im halleschen Stadtbild verewigte sich Wolff, der 1858 in Maar in Oberhessen geboren wurde und 1930 in Halle starb, durch zahlreiche Bauten, die er gemeinsam mit anderen Architekten oder in Eigenregie verantwortete.344 Er war mit Umbauarbeiten an prominenten Gebäuden in der halleschen Innenstadt 342 Vgl. Adressbuch Halle 1898–1904; Brülls / Dietzsch, Architekturführer, Nr. 59. 343 Wolff, Kunstgewerbe-Verein, S. 13. 344 Vgl. Dressler, Kunsthandbuch 1921, S. 663. Gustav Wolff führte ca. 1898–1912 sein »Bureau für Architektur und Kunstgewerbe« gemeinsam mit dem Baumeister Theodor Lehmann. 1924–1929 arbeitete er gemeinsam mit seinem Neffen und Architekten Wilhelm Ulrich zusammen. Vgl. Adressbuch Halle 1898–1912 und 1924–1929.
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beauftragt345 und schuf unter anderem das Kaufhaus Assmann, das in der Gegenwartsliteratur »trotz seiner bescheidenen Dimensionen als eine klassische Leistung zeitgenössischer Kaufhausarchitektur«346 bewertet wird. Auch in den von ihm entworfenen Villen und Wohnhäusern kommt sein Kunstbegriff, der den Historismus als »Zeit des Scheins, des öden Prunks, der Schundware«347 ablehnt, zum Tragen.348 Die ihm angetragenen prestigeträchtigen Aufträge, sein überdurchschnittlich hoher Jahresverdienst, seine Wahl zum Stadtverordneten, seine Mitgliedschaft im Kuratorium der Handwerkerschule sowie seine Position innerhalb des Kunstgewerbevereins und später des Kunstvereins verweisen auf seine Anerkennung als Architekt und halleschen Bürger.349 An seinem Selbstverständnis als Künstler ließ er keinen Zweifel.350 In gewisser Weise führte Martin Knauthe, der sich im Herbst 1913 in Halle niederließ, den universalistischen Gedanken Assmanns und Wolffs fort. Der 1889 in Dresden geborene Knauthe gehörte einer späteren Architektengeneration an, er erhielt seine Ausbildung an der Dresdener Kunstgewerbeschule. An der Schule bestanden, ähnlich wie in Halle, Fachklassen für allgemeines Kunstgewerbe, Architektur, Textil, Glas- und Porzellanmalerei sowie Werkstätten für Metall und Keramik. Angehende Architekten besuchten zu Beginn des Studiums gemeinsam mit den Schülern anderer Fachklassen die grundlegenden Zeichen- und Malkurse. Seine weiterführende Ausbildung im Architekturfach erhielt Knauthe bei den Raumkünstlern bzw. Möbel- und Innenraumgestaltern Wilhelm Kreis, Karl Simmang und Alexander Hochrath. Ihm war nicht nur die innige Verbindung von Architektur, Malerei und Bildhauerei selbstverständlich. Die Bereiche bildender und angewandter Kunst inklusive sämtlicher kunstgewerblicher Spielarten waren in seiner Perspektive stark integriert. Diesem Verständnis folgte Knauthe, als er 1912 gemeinsam mit dem Kunstmaler Paul Freund am Neustädter Markt in Dresden die »Lehr- und Entwurfsateliers für Malerei und angew. Künste« eröffnete. In dem privaten Institut, in dem Knauthe als Lehrer für Baukunst auftrat und unter anderem in »Schrift, Kunstgewerbe, Perspektive, Text« unterrichtete, wurden auch Mal- und Grafikunterricht sowie Stunden in Handarbeiten, Modellieren und Fotografie erteilt. Nachdem das Geschäft im Juni 1913 von den beiden Inhabern wieder aufgelöst wurde351, trat 345 und sorgte 1905 für die Umgestaltung des Bankhauses Lehmann sowie 1914 des sogenannten Riesenhauses, das in seiner Geschichte viele berühmt gewordene Persönlichkeiten beherbergte. Vgl. Brülls / Dietz, Architekturführer, Nr. 30 und 50. 346 Ebd., Nr. 82. 347 SZ vom 25.11.1919. 348 Vgl. Brülls / Dietz, Architekturführer, Nr. 61 und 148. 349 Vgl. StH, A 2.36 Nr. 891, Bd. 1. 350 Wolff war sowohl Mitglied des Bundes Deutscher Architekten als auch des Werkbundes und des Künstlervereins auf dem Pflug. Vgl. StH, A 6.3.2. KUNG Nr. 176; Dressler, Kunsthandbuch, 1921, S. 663; Mitteilungen des Bundes Deutscher Architekten 1905. 351 Vgl. Stadtmuseum, S III 4535.
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Knauthe für ein knappes Jahr als Architekt in das hallesche Architekturbüro von Arthur und Bruno Föhre ein.352 Aufgrund der wirtschaftlichen Bedrängnis, in die das Büro Föhre mit Kriegsbeginn geriet, wurde Knauthe entlassen, jedoch übergangslos auf Empfehlung Föhres beim städtischen Hochbauamt eingestellt. In dieser Position verantwortete er unter anderem unter Leitung Wilhelm Josts den Innenausbau der Kapelle des neu gebauten Gertraudenfriedhofs. Für die Ausbauarbeiten wurden der Bildhauer Paul Horn und der Dekorationsmaler Karl Völker herangezogen. Auch hier kam es zwischen Architekt, Bildhauer und Maler zur engen Zusammenarbeit, die sie 1919 erneut in der Hallischen Künstlergruppe zusammenführte. Nachdem Knauthe von November 1911 bis April 1918 in Berlin beruflich tätig war, kehrte er im Mai 1918 nach Halle zurück und arbeitete erneut für kurze Zeit im Büro Bruno Föhres. Ein knappes Jahr wurde Knauthe selbst in den Bund Deutscher Architekten aufgenommen und machte sich beruflich selbstständig. Jenseits seiner regen Entwurfs- und Bautätigkeit – zwischen 1919 und 1932 wurden 34 seiner Entwürfe ausgeführt – war er als Stadtverordneter der KPD (1921–24) aktiv und machte sich auch darüber hinaus für kunstpolitische Themen stark. In seiner Tätigkeit als Kommunalpolitiker und als Mitglied des Hallischen Künstlerrates setzte er sich für die öffentliche Unterstützung aller künstlerischen Disziplinen ein und betonte den Nutzen kunstgewerblicher Arbeiten im öffentlichen Raum für die Künstler und die Gesellschaft. In diesem Sinn lobte er die hallesche Kunstgewerbeschule unter Thiersch und das Bauhaus für ihre Kooperation mit wirtschaftlichen Akteuren, Handwerkern und der Industrie. Für die Nachkriegszeit stellte er jedoch fest, dass während der kriegsbedingten Wirtschaftskrise das allgemeine Interesse an qualitativ hochwertigen Produkten wieder gesunken sei. Die Ursache dafür erkannte Knauthe auch im »undiplomatischen« Umgang der Reformer des Kunstgewerbeschulwesens mit Industrie und Handwerk, die sie lediglich als Handlanger behandelt hätten. Von einer zweiten Epoche kunstgewerblicher Schulen erwartete er, dass sie »Aufklärung der Industrie und des Handwerks bringen.«353 Auch in seinem persönlichen Schaffen blieb neben den Architekturprojekten Raum für anderweitige Entwürfe. Zur 1919 stattfindenden Hallischen Kunstausstellung, an deren Zustandekommen er wesentlich beteiligt war, lieferte er neben Entwürfen zu einem Sanatorium, einer Bildhauerwerkstatt und einem Kino auch eine Porträtskizze sowie ein in Öl gemaltes Selbstporträt.354 352 Beide waren Mitglieder des Bundes Deutscher Architekten und schätzten Knauthes Mitarbeit, die aufgrund des Krieges wieder beendet wurde. Zum Ende des Krieges wandte sich Bruno Föhre erneut an Martin Knauthe, ob er nicht als Teilhaber eines größeren Geschäftes den Leitungsposten einer »Abteilung für Baukunst, Kunstgewerbe und städtebauliches Entwerfen« übernehmen würde. Die Antwort Knauthes auf dieses Ansinnen ist nicht überliefert. Tatsächlich kam Knauthe aus Berlin nach Halle zurück und wurde erneut für kurze Zeit (01.05.1918–01.02.1919) für Bruno Föhre tätig. Vgl. Stadtmuseum, S III 4535. 353 Knauthe, Bauhausbücher, S. 6. 354 Vgl. Katalog der Hallischen Künstlergruppe.
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Umgekehrt wurde die Architektur im Kollektiv der Hallischen Künstlergruppe auch von der Malerei und der Bildhauerei herkommend fruchtbar gemacht. Karl Völker, der seine Künstlerkarriere als Dekorationsmaler begann, hatte aufgrund seiner Ausbildung ohnehin eine enge Beziehung zur Architektur, dem Raum und baubezogenen Aufgaben. Als Entwurfszeichner eines Gebäudes trat er mit der öffentlichen Ausschreibung einer Halle für die Stadt hervor, für die er gemeinsam mit seinem Bruder Kurt und Georg Schramme einen Entwurf erarbeitete.355 Auch Paul Horn, der als Bildhauer zahlreiche baugebundene plastische Arbeiten ausführte, widmete sich in verschiedenen Projekten der räumlichen Gestaltungsarbeit. Als Bühnenbildner entwarf er für die Bühnen Halle verschiedene Szenerien und im Rahmen einer Veranstaltung an der Volkshochschule thematisierte er gemeinsam mit seinen Schülern die Entwicklung von der »Fläche zum Raum«.356 Ein zeitgenössischer Kritiker hob Horns Bereitschaft hervor, sich entgegen dem gegenwärtigen Spezialisierungstrend anderen künstlerischen Disziplinen zuzuwenden, wobei ihm der Raum aber »nichts statisches, sondern dynamisches Wesen [sei]; nicht Ruhe, sondern Bewegung, nicht Form, sondern Ausdruck; nicht ornamentales Beiwerk, sondern mitwirkende Kraft und geistige Atmosphäre.«357 Die deutlich spürbare Versachlichung des Bauens seit den zwanziger Jahren sah Horn dabei sehr kritisch. Während diese unter Führung der Architektur die wechselseitige Annäherung der künstlerischen Disziplinen untereinander und an das Gewerbe gebracht hatte, böte sie gegenwärtig für Malerei und Bauplastik keine Beteiligungsmöglichkeiten mehr. In einem 1925 in der »Baulaterne« veröffentlichten Artikel lastete er den Architekten an, sich zunehmend den Gesetzen der Rationalität und Funktionalität zu beugen und so die Einheit der Künste zu spalten: »Unsere Architektenschaft, die ganz und gar auf das Praktische, bestenfalls in dyna misch räumlicher Form, eingestellt ist, hat die geistige Beziehung zu den freien Künsten, die im Gegensatz zu dem dynamisch Räumlichen der Architektur, das dynamisch Menschliche betonen, verloren … // … So ist langsam ein Architektengeschlecht herangewachsen, das die gleichen Symptome materieller Weltauffassung zeigt, wie sie die heutige Wirtschaftsform kennzeichnen. Die reine materielle Einstellung unserer Zeit ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen …«358
Im Untersuchungszeitraum änderte sich das Selbstverständnis der Architekten grundlegend. Statt technischer Fähigkeiten rückten in der Ausbildung und im Berufsbild verstärkt gestalterische Aspekte in den Vordergrund. In enger Anleh 355 Vgl. Fuhrmann / Helten, Stadtkrone, S. 123 ff. –Später intensivierte er seine berufliche Beschäftigung mit der Architektur im Rahmen seiner Mitarbeit im Architekturbüro Otto Haeslers in Celle. Vgl. Meinel, Karl Völker, S. 147 ff. 356 Vgl. StH, N 28 Nr. 1. 357 Donath, Bühnenbilder, S. 283–289. 358 Horn, Architektur, S. 29/30.
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nung an das Kunstgewerbe erschlossen sich die Architekten eine neue Nähe zu den künstlerischen Disziplinen der Bildhauerei und Malerei und waren insofern für deren Integration verantwortlich. Aufgrund der notwendig rationalistischen Grundlegung der Architektur blieb dennoch eine Grenze zur bildenden Kunst bestehen, die sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre erneut verfestigte.
Fazit Alle Berufszugehörigen orientierten einen Teil ihrer Tätigkeit an der auf dem lokalen Markt vorhandenen Nachfrage nach bestimmten künstlerischen und vor allem kunstgewerblichen Dienstleistungen. Im Verlauf des Untersuchungszeitraumes veränderte sich jedoch wesentlich das Verhältnis, wie viel Energie aufgeboten wurde, um zuvorderst die wirtschaftliche Existenzsicherung bzw. den geschäftlichen Erfolg zu stabilisieren bzw. voranzutreiben: Im Mosaik der künstlerischen Identitätskonstruktion wurden neben dem finanziellen und dem Erfolg beim Publikum andere Faktoren zunehmend bedeutsam. Zwar war die Lebens- und Arbeitsrealität stets auch vom Mechanismus von Angebot und Nachfrage bestimmt, verhielten sich hallesche Künstler ab der Wende zum 20. Jahrhundert jedoch skeptischer gegenüber den Gesetzen der freien Marktwirtschaft. Stattdessen installierten sie über verschiedene Wege kunstinterne Kriterien für ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung als Künstler. In der lokalen Künstlergeschichte zeigt sich, wie die mit der Klassischen Moderne formulierten Kunstbegriffe, die das Künstlerindividuum aufwerteten, die Lebensrealität der einzelnen Künstler veränderte. Während die ältere Generation hallescher Künstler (Keiling, Glück, Reiling, v. Sallwürk) ihr Selbstbild als Künstler noch stark an außerkünstlerischen Kriterien (akademische Ausbildung, hohes Einkommen und Spezialisierung auf konkrete Marktsegmente) definierten, richteten nachfolgende Generationen (seit den unmittelbaren Jahren um 1900 sozialisiert) ihr Augenmerk auf andere Wertideen und Tätigkeitsbereiche. In Ausstellungen suchten sie durch zweckbefreite Werke sich öffentlich als Künstler zu identifizieren oder verwandten ihre Energie darauf, auf ihre gesellschaftliche Bedeutung jenseits der Erfüllung materieller Wünsche aufmerksam zu machen. Trotz dieser Tendenzen, die das autonome Schaffen als wichtigen Baustein künstlerischer Identität hervorhoben, blieb der Typ des autonomen Künstlers, der sich gegen jedwede äußere Verwendungsansprüche verweigerte, in Halle in der Klassischen Moderne unpopulär. Keiner der besprochenen Künstler unternahm den Versuch, seine Existenz kompromisslos allein auf der Grundlage autonom geschaffener Kunstwerke zu gründen. Dafür waren erstens die starke handwerkliche Tradition der in Halle arbeitenden Künstler und zweitens die Popularität der Kunstgewerbebewegung verantwortlich, die künstlerische Überlegungen immer eng an die materiale Funktion ihrer Erzeugnisse band.
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Später, als nach dem Ersten Weltkrieg Ideen für die Neuverortung der Kunst in der Gesellschaft keimten, stand der Aspekt der sozialen Funktion zu sehr im Fokus, als dass die Künstler ihre Identität jenseits davon konstruiert hätten. Vor diesem Hintergrund grenzte sich ein Teil der Künstler (wenigstens zeitweise) von den Ordnungsprinzipien und Wertideen der bürgerlichen Gesellschaft ab und solidarisierte sich mit Bevölkerungsschichten jenseits der gut Situierten und Gebildeten. Damit knüpften sie jedoch durchaus an Gedanken an, die in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelt wurden (Gemeinsinn) und in der Etablierung einer öffentlichen Kunstpflege ihren Ausdruck fanden.
5. Die Künstlergruppen in Halle als Gestalter künstlerischer Identität Die bildenden Künstler, die im 19. Jahrhundert nur vereinzelt und zeitweise in Halle in Erscheinung traten, fanden sich um die Wende zum 20. Jahrhundert erstmals in Gruppen zusammen. Sie sind sowohl Ausdruck der steigenden Künstlerzahl als auch ihres Bedürfnisses, sich als Künstler zu organisieren und nach außen zu präsentieren. Insofern war die Vergemeinschaftung von Künstlern in Gruppen für ihre künstlerische Identität und ihre Außenwahrnehmung von großer Bedeutung. Nachdem der Hallesche Kunstverein und der Kunstgewerbeverein eine städtische Kunstöffentlichkeit institutionalisierten und vor allem das Kunstpublikum versammelten, bildeten die Künstler mit ihren berufsspezifischen Interessen einen qualitativ neuen Faktor innerhalb des sich formierenden Kunstsystems. Die Zunahme der Künstlerzahl in Halle, die sich in Gruppierungen unterschiedlichen Organisationsgrades und verschiedener Zielrichtung zusammenfanden, ging einher mit einer überregional wirksamen Entwicklung, während der allerorts Künstlergemeinschaften gebildet wurden. Auch hier mündete die Erfahrung des modernen Künstlers, der in der bürgerlichen Gesellschaft sowohl nach einem sozialen Ort als auch einer neuen wirtschaftlichen Position suchte, in dem Bedürfnis, sich seiner selbst zu vergewissern. Die wirtschaftlichen und gesellschaftsideologischen Veränderungen hatten die Künstler in eine identitäre Krise geführt, die sie veranlasste, sich gegenseitig Halt zu geben. Daher kam es insbesondere um 1900 verstärkt zur Bildung von Künstlergemeinschaften. Die Zahl der Gruppengründungen stieg dann nochmals signifikant nach 1918, als das Ende des Ersten Weltkrieges Raum für gesellschaftspolitische und künstlerische Experimente schuf.359 359 Vgl. Müller-Jentsch, Kunst in der Gesellschaft, S. 109 f.; Beyme, Zeitalter der Avantgarden, S. 103–105; Thurn, Kunst als Beruf, S. 144 ff.; Wilhelmi, Künstlergruppen, S. 2 ff. und S. 32 f.
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Am Beispiel der Stadt Halle lässt sich beobachten, wie die Motive und Zielstellungen unterschiedlich orientierter Gruppen abhängig vom Grad der Institutionalisierung und der Reife des Kunstsystems sowie gesellschaftlicher und politischer Umstände entstanden und sich gegenseitig beeinflussten. Die verschiedenen Gruppen, ihre Aktivitäten und die von ihnen konstruierten Künstlerbilder geben Aufschluss über integrierende und spaltende Dynamiken, die im Untersuchungszeitraum innerhalb der halleschen Künstlerschaft wirksam wurden. Anhand der korporativen beziehungsweise desintegrativen Verhaltensweise der Gruppen lassen sich nicht zuletzt jeweils wichtige Faktoren der künstlerischen Identität und Lebensführung identifizieren. Die Spannweite der Gründungsmotive reichte dabei von ästhetischen über kultur- und gesellschaftspolitische bis zu berufsständischen Anliegen. Die Untersuchung der halleschen Künstlergruppen zielt demnach darauf, die dort jeweils etablierten Aspekte künstlerischer Identität zu beschreiben.360 Als Künstlergruppen werden Zusammenschlüsse hallescher Künstler betrachtet, die sich selbst als solche definierten und nicht allein durch stilistische Zuschreibungen von außen bezeichnet wurden.361
5.1 Künstlerverein auf dem Pflug – vom Geselligkeitsverein zum profilierten Künstlertreff 5.1.1 Vom Klausenbruder zum »ordentlichen Mitglied« des Pfluges Bis der Künstlerverein auf dem Pflug 1905 gegründet wurde, fanden sich hallesche Künstler und Kunstgewerbler in der Skizzenklause Jugend zusammen, die aus einem vom Kunstgewerbeverein veranstalteten Aktkurs hervorgegangen war. Der Kunstgewerbeverein hatte in den Jahren vor 1900 den Halleschen Kunstverein mit seiner vielfältigen Aktivität überflügelt und fungierte auch als Sammelbecken künstlerisch schaffender Kräfte, versammelte er doch neben den Konsumenten auch zahlreiche kunstgewerblich Produzierende. Die Klausenbrüder, die ihre Gemeinschaft vor allem als Vereinigung zur Weiterbildung ihrer Mitglieder verstanden, behielten die Praxis der gemeinsamen Zeichenabende bei. Um die Kunstmaler Heinrich Kopp und Alfred Weßner-Collenbey, 360 Nicht zu unterschätzen sind auch die innerhalb der Gruppen wirksamen desintegrierenden Momente. Zeitgenossen stellten mit Blick auf den Künstlerstand wiederholt fest, dass bei dieser Berufsgruppe aufgrund des mit der künstlerischen Moderne gesteigerten Aspekts der künstlerischen Individualität die Kompromiss- und Organisationsfähigkeit nicht gerade stark ausgeprägt war. Vgl. Jahn, Künstlerindividualität, S. 13–14. 361 Müller-Jentsch unterscheidet in seiner Gemeinschaftstypologie »nominelle Gruppierungen«, die als solche von außen definiert wurden, Künstler-Kolonien, Künstler-Orden, die Kunst als Lebens-Welt (meint die integrative Zusammenlegung von Arbeits- und Lebensraum) sowie programmatische Zusammenschlüsse und »Künstlerbünde zur gegenseitigen Förderung«. Meine Untersuchung bezieht sich auf die beiden letztgenannten Typen. Vgl. Müller-Jentsch, Kunst in der Gesellschaft, S. 112–115.
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die Dekorationsmaler Emil Mügge und Julius Wolf und den Lithografen und Dichter Robert Moritz versammelten sich noch wenige weitere Mitglieder, die sich regelmäßig zum gemeinsamen Arbeiten und zu geselligen Anlässen zusammenfanden. Die Skizzenklause verfügte über ein Statut, das die Vergabe der Funktionsposten regelte, und wurde im Februar 1897 an öffentlicher Stelle angemeldet.362 Zu den gemeinsam verbrachten Abenden – das hallesche Adressbuch kündet von zweimal wöchentlichen Zusammenkünften363 – traf man sich in wechselnden Restaurationen in Halle und zeichnete nach lebenden Modellen (meistens Akt), im Sommer nach der Natur. Außerdem wurden die Mitglieder aufgefordert eigene Skizzen mitzubringen, die dann gemeinsam besprochen werden sollten, gelegentlich wurden Werke auswärtiger Künstler vorgestellt und gemeinsam neue Techniken ausprobiert. Die gemeinsame praktische Arbeit auf dem Gebiet des Zeichnens identifiziert die Klause als Übungs- und Inspirationsort hallescher Zeichner. Wie die überlieferten Dokumente, vor allem Einladungen an die Klausenbrüder und von Moritz verfasste Reime, nahelegen, ging es hier nicht darum, einen exklusiven Künstlerverein und damit eine exklusive künstlerische Identität zu etablieren.364 Vielmehr dokumentierte sich in der Mitgliederzusammensetzung eine deutliche Nähe zur Dekorationsmalerei365 und konzentrierten sich die Aktivitäten auf praktisch-zeichnerische Tätigkeit. Die Quellen deuten nicht darauf hin, dass die Klause gegenüber anderen Akteuren als künstlerische Interessenvertretung auftrat. Andererseits ist die Wirkung der gemeinsamen Abende, seien sie mehr dem Zeichnen oder dem geselligen Austausch gewidmet gewesen, auf das Selbstbild der Mitglieder als Künstler nicht zu unterschätzen. Immerhin gründete sich erstmals eine Gemeinschaft, deren Zweck sich auf künstlerische Praktiken richtete und die unter anderem von akademisch gebildeten Künstlern besucht wurde. Insofern ist die Klause als Keimzelle des Gedankens des Zusammenschlusses künstlerisch tätiger und interessierter Hallenser zu verstehen, die im Künstlerverein auf dem Pflug zu vollumfänglicher Entfaltung kommen sollte.366 362 Robert Moritz erwähnt in einem Gedicht anlässlich des dreijährigen Bestehens der Klause, dass er diese beim Inspektor (»Ober-Polizei-Inspektor, Kgl. Amtsanwalt u. Hauptmann der Landwehr«, Vgl. Adressbuch Halle 1900, S. 378) angezeigt habe. Vgl. StH, N 45 Nr. 28. 363 Das hallesche Adressbuch verzeichnet die Klause unter der Rubrik »Kunst- und Künstlervereine« in den Ausgaben von 1905 und 1906. Wie Heinrich Kopps Erinnerungen nahelegen, hatte sich die Klause jedoch schon zuvor aufgelöst. Vgl. Adressbuch Halle 1905, Teil IV, S. 65; Kopp, Künstlerverein, S. 71. 364 Vgl. StH, N 45, Nr. 28; Adressbuch Halle 1905, Teil IV, S. 65; Kopp, Künstlerverein S. 71 f.; Klein, Chronik, S. 114 f. 365 Die Klause stand Künstlern, Kunstgewerblerinnen und Kunstinteressierten offen. Vgl. Kopp, Künstlerverein, S. 71. 366 Abgesehen von personellen Kontinuitäten – Weßner, Kopp und Moritz gehörten dem Künstlerverein ebenfalls an – wurde die von den Klausenbrüdern begonnene Chronik zur Gründung des Künstlervereins auf dem Pflug reaktiviert. Vgl. Klein, Chronik, S. 114.
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Trotz einiger engagierter Mitglieder schlummerten die Aktivitäten der Klausengemeinschaft bald nach der Jahrhundertwende ein. Robert Moritz, der das Klausenleben teilweise ausführlich in Schrift und Bild dokumentierte, klagte mehrfach über das Fernbleiben der ohnehin wenigen Mitglieder, sodass die bestellten Modelle manches Mal vergeblich warteten. Seine kokett illustrierten Schriftstücke, in denen zum Beispiel ein Klausenbruder im Schlaf seine Mitstreiter als schaffensmüde Greise vorstellte und das Ende der Klause prophezeite, vermochten es letztlich auch nicht, die Klause am Leben zu erhalten. Die einmal auf diese Weise verbundenen künstlerisch Schaffenden und Interessierten fanden sich bald darauf erneut in der »Freien Vereinigung für Kunst und Literatur« zusammen und gründeten mit dem Umzug in das Gasthaus »Zum goldenden Pflug« 1905 den gleichnamigen Künstlerverein.367 Als »Künstlerverein auf dem Pflug« wurde er 1911 ins Vereinsregister des Regierungsbezirks Merseburg eingetragen und bestand bis in die vierziger Jahre.368 Vor allem in den Anfangsjahren der Gruppengründung galt das Interesse der Mitglieder abgesehen von der bildenden Kunst auch der Musik, der Literatur und der darstellenden Kunst. In der von Kurt von Rohrscheidt369 gegründeten »Vereinigung für Kunst und Literatur« waren auch die beiden halleschen Theaterdirektoren Eugen Moritz Mauthner und Max Richards engagiert. Obwohl weiterhin auch lyrische und musikalische Darbietungen das Vereinsleben mitgestalteten, stellte sich bald die bildende Kunst als Leitdisziplin heraus. Die bildenden Künstler waren in der Mehrzahl und prägten die organisatorische Entwicklung des Vereins. Trotzdem stand der Künstlerverein laut seiner Satzung allen Künstlern offen und wandte sich gezielt auch an Schriftsteller, Schauspieler und Musiker. Insgesamt verzeichnete der Verein im Jahr 1914 56 (Jahresanfang) bzw. 52 (Jahresende) ordentliche und außerordentliche (jeweils 3) Mitglieder. 1934 gab Dresslers Kunsthandbuch eine Mitgliederzahl von 60 an. Beachtenswert ist die Zahl der auswärtigen Mitglieder, die 1913 bei 21 (zu 35 Einheimischen) lag und bis Ende des Folgejahres auf 15 absank. Der Verein, der in seinen Statuten (1911) noch ausdrücklich festschrieb, dass auch Frauen370 Mitglieder sein können, zählte in seinen Reihen Ende des Jahres 1914 12 Frauen gegenüber 40 Männern. 367 Sowohl Heinrich Kopp als auch der Dichter Georg Klein erinnern sich an die Übergangsphase. Unterschiedliche Angaben machen sie über die Gruppenbezeichnung. Es ist jedoch anzunehmen, dass der Kunstklub (Klein) und die Freie Vereinigung (Kopp) dieselbe Gruppe bezeichnen. Nach ihren Aussagen beschäftigten sie sich jeweils mit Kunst und Literatur. Vgl. Kopp, Künstlerverein, S. 71 f.; Klein, Chronik, S. 114. 368 Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Künstlerverein auf dem Pflug. 369 Von Rohrscheidt verfolgte neben seiner juristischen Tätigkeit und seiner Anstellung als Regierungsrat auch literarische Ambitionen. Vgl. von Rohrscheidt, Burenlieder; Ders., Preussisches Schulunterhaltungsgesetz. 370 Frauen hatten einen geringeren Mitgliedsbeitrag zu zahlen. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Künstlerverein auf dem Pflug.
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Anhand der in den Vereinsregisterakten erhaltenen Satzungen der Jahre 1911, 1925 und 1934 lässt sich nachvollziehen, wie sich der Verein von einer Gemeinschaft der Interessierten zu einem exklusiven Künstlerverein entwickelte. In der 1911 zur Eintragung ins Vereinsregister eingereichten Satzung mussten ordent liche Mitglieder lediglich »in irgendeiner Art künstlerisch schaffen«.371 Bewerber, die den Status einer ordentlichen Mitgliedschaft erlangen wollten, mussten sich an den regelmäßig stattfindenden Vereinsabenden beteiligen und durch eine Zweidrittelmehrheit der übrigen ordentlichen Mitglieder bestätigt werden. Zunehmend restriktiver handhabte die Satzung von 1925 die »ordentliche« Mitgliedschaft, zu der ausschließlich Künstler berechtigt waren, die ihren frei oder in Anstellung ausgeübten künstlerischen Beruf zum Broterwerb bzw. als Hauptberuf ausübten oder »Personen von künstlerischem Rufe« seien. Die außerordentliche Mitgliedschaft, die in der zuvor gültigen Satzung für Interessierte, aber nicht selbst künstlerisch tätige Kunstfreunde vorbehalten war, wurde 1925 umdefiniert: Neben den ordentlichen Mitgliedern und den Kunstfreunden bildeten die außerordentlichen Mitglieder nun eine dritte Gruppe von Mitgliedern, »deren Hauptberuf keine künstlerischen Fähigkeiten erfordert, die jedoch eine gewisse künstlerische Reife besitzen, ferner jüngere Leute, von denen erwartet werden kann, dass sie die Aufnahmefähigkeit als ordentliches Mitglied erlangen werden.«372 Zwischen den drei Gruppen bestanden Unterschiede sowohl hinsichtlich ihrer Mitbestimmungsrechte als auch ihrer Integration ins Vereinsleben. So waren die Kunstfreunde lediglich berechtigt, am letzten der wöchentlich stattfindenden Vereinsabende im Monat, der zugleich auch Geschäftsabend war und auf dem Vereinsangelegenheiten besprochen und beschlossen werden konnten, teilzunehmen. Innerhalb des Vereins bestand eine Mitgliederhierarchie, wobei zwischen Berufskünstlern und Künstlerlaien bzw. Nachwuchskünstlern sowie zwischen künstlerisch Tätigen und Kunstfreunden unterschieden wurde. Letztere übernehmen die Rolle von Beobachtern mit mäzenatischer Funktion.373 Die Entwicklung vom egalitären »Stammtisch« zum hierarchisierten und exklusiven Künstlerverein erfolgte parallel zur Ausdifferenzierung und Professionalisierung des halleschen Kunstsystems. Indem neue Barrieren für die 371 Vgl. ebd., Satzung des Künstlervereins auf dem Pflug 1911, § 4. 372 Vgl. ebd., Bl. 19 (Geänderte Satzung des Künstlervereins auf dem Pflug 1925, § 4). –Schon in einer Satzungsänderung von 1917 wurde das »ordentliche Mitglied« als »ausübender Künstler« definiert. Die außerordentlichen Mitglieder werden ab dato »Kunstfreunde« genannt. Vgl. ebd., Bl. 31. 373 Der jährliche Beitrag der außerordentlichen, in Halle und den halleschen Vororten ansässigen Mitglieder betrug 18 Mark, der auswärtigen Kunstfreunde 9 Mark. Die ausübenden Künstler zahlten 12 bzw. 6 Mark. In einer nachträglichen Änderung der Vereinssatzung im Juni 1919 wurden die Mitgliedsbeiträge auf 50 Mark (ordentliche Mitglieder) bzw. 80 Mark (Kunstfreunde) erhöht. Vgl. ebd., Künstlerverein auf dem Pflug, Bl. 3 und 46.
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Aufnahme in den Verein und verschiedene Klassen der Vereinsmitgliedschaft geschaffen wurden, reagierte die erste der in Halle entstehenden Künstlervereinigungen auf die Expansion des Kunstsystems und die wachsende Zahl der Künstler bzw. »Möchtegernkünstler«. Mit den strenger werdenden Aufnahmebedingungen ging der Bestandsschutz der alten Mitglieder einher, die bei Inkrafttreten der jeweils neuen Satzungen 1911 und 1925 sämtlich als ordentliche Mitglieder galten, ganz gleich, ob sie den neuen Kriterien einer ordentlichen Mitgliedschaft entsprachen.374 Die geänderte Satzung des Jahres 1925 sah vor, dass potentielle Neumitglieder nach einem schriftlichen Antrag und nachdem sie sich persönlich vorgestellt hatten, durch den Aufnahme-Ausschuss geprüft werden. Außerdem mussten sie zwei vereinsinterne Bürgen benennen, die gegenüber dem Ausschuss zur Auskunft verpflichtet waren. Auf Aufforderung mussten die Bewerber auch eine Auswahl ihrer Werke bzw. ihrer Darstellungskunst im Verein präsentieren.375 Die Bedingungen der Aufnahme und die Regeln des Aufnahmeverfahrens erschienen gegenüber den anfänglichen Bestimmungen stark ergänzt. Der Mitgliederzuwachs war durch verschiedene Mechanismen reguliert, die garantieren sollten, dass sowohl berufsständische als auch künstlerisch-qualitative Anforderungen erfüllt wurden. Im Vergleich zum Kunst- und Kunstgewerbeverein war die Mitgliedschaft streng reglementiert. Ansonsten entsprach die organisatorische Struktur des Vereins, bestehend aus Vorstand und Mitgliederversammlung (und seit 1925 dem Aufnahme-Ausschuss) jedoch im Wesentlichen dem Modell des bürgerlichen Vereins, wie er im 19. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte.376 Mit der Satzungsneufassung von 1934 lockerte er die Aufnahmebedingungen für Neueintretende insofern, als sie für die ordentliche Mitgliedschaft »kunst tätige Volksgenossen« zulässt, ohne dass diese einen Nachweis über ihre hauptberuflich ausgeübte Tätigkeit als Künstler oder Kunstgewerbler erbringen müssen. Mit der Aufnahme in die Reichskunstkammer 1937 nach ausführlicher 374 Georg Klein, der über viele Jahre den Vereinsvorsitz führte, der nach der Satzung von 1925 ausdrücklich ordentlichen Mitgliedern vorbehalten war, profitierte von dieser Regelung. Der als Bergassessor und Verwaltungsdirektor tätige Bauingenieur erfüllte das Kriterium einer hauptberuflichen künstlerischen Tätigkeit nicht, wie es in der gleichen Satzung gefordert wurde. 375 Ein Nachtrag zur Satzung von 1911, der im Januar 1923 in Kraft trat, räumte bereits die Möglichkeit ein, die künstlerische Qualität des Werkes eines Bewerbers zu prüfen: »Zum Nachweis der künstlerischen Reife hat der Bewerber Werke seiner Hand auf Ersuchen in den Vereinsräumen auszustellen.« Vgl. ebd., Bl. 53. 376 Der Vereinsvorstand wurde erst zweijährlich und später jedes Jahr durch Wahl neu besetzt und umfasste neben dem Vorsitzenden zwei Vertreter sowie nach dem Krieg hinzugekommene Funktionsämter. 1919 wurden die drei Vorstandsmitglieder durch einen Schriftführer und einen Kassenwart ergänzt. 1925 wiederum wurde festgeschrieben, dass der dreiköpfige Vorstand unterstützt wird durch Schriftführer, Kassenwart und zwei Beisitzer. Vgl. ebd., Bl. 5, 31 und 19.
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Diskussion auf Antrag des Vereins wird auch der Künstlerverein gleichgeschaltet. Nichtmitglieder der Reichskunstkammer dürfen vorerst weiterhin dem Verein angehören. Der Präsident der Reichskammer ernennt den Vereinsvorsitzenden und behält sich Eingriffe in die Besetzung der Vereinsposten sowie in die Satzung vor. Busse-Dölau, der auch Mitglied des Kunstvereins ist und bis nachweislich 1940 als Vorsitzender agiert, beschreibt die neuen Vereinsziele, die sich nunmehr verstärkt auf die Interaktion mit anderen Akteuren nach außen richten: »Pflege des Gemeinschaftsgeistes im Inneren, Vorträge, Aussprachen, Mitwirkung jedes Einzelnen. Nach außen will er mit der Partei, der Verwaltung, der Presse, vor allem der Reichskulturkammer Fühlung nehmen und Veranstaltungen machen, zu denen Gäste eingeladen werden.«377 Nicht nur die Bestimmungen zur Aufnahme von Neumitgliedern führten zu einer zunehmend exklusiven Vereinskultur, auch das Klima und der Umgang der Mitglieder untereinander betonte die Besonderheit der künstlerischen Gemeinschaft. Das gesellige Miteinander im Künstlerverein an den allwöchentlich stattfindenden Vereinsabenden, an denen sich die Mitglieder im »Goldenen Pflug« trafen, war geprägt durch persönliche Beziehungen und informellen Austausch. Das Vereinsleben bestand wesentlich aus diesen Zusammenkünften, die um gemeinsame Ausflüge in die Umgebung, vereinsinterne künstlerische Darbietungen, Vorträge und öffentliche Auftritte durch Ausstellungen und Publikationen ergänzt wurden.378 Bei allen Aktivitäten standen die Künste und insbesondere die bildende Kunst im Mittelpunkt. Im Gegensatz zur Skizzenklause, die sich ganz bewusst auch auf den Bereich des Kunstgewerbes erstreckte, lag die Betonung des Künstlervereins auf der bildenden Kunst. Zwar wurden kunstgewerbliche Tätigkeiten und Themen nicht ausgeschlossen, standen aber auch nicht im Mittelpunkt der Überlegungen und Äußerungen der Vereinsmitglieder.
5.1.2 Stärkung des künstlerischen und beruflichen Selbstverständnisses auf ästhetischer und wirtschaftlicher Ebene Georg Klein erinnert an anderer Stelle, wie kontrovers unterschiedliche Kunstanschauungen diskutiert worden seien und vor allem die Vorbereitungen zur Hallischen Mappe (1910 publiziert) geprägt hätten: »Meinung stand gegen Meinung, starrsinnig manchmal, auch rechthaberisch, und es entluden sich die Gedanken in eifriger, zorniger Rede ….«379 Dass unter den Künstlern verschiedene Anschauungen über den Begriff der Kunst bestanden, seien sie ästhetischer oder 377 LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Künstlerverein auf dem Pflug, Bl. 119–145, Zitat Bl. 120. 378 Die »Pflege des geselligen Lebens« und der »angemessenen Gestaltung der Vereinsabende« diene ebenso wie die Präsentation in Ausstellungen und Publikationen nach außen der »Förderung des künstlerischen Lebens und der künstlerischen Interessen«. Vgl. ebd., Statut 1911, Bl. 2. 379 Klein, Chronik, S. 114.
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funktionaler Art, ist Ausdruck einer internen Differenzierung, die insgesamt im halleschen Kunstsystem zu beobachten ist, die der Entwicklung der Kunst in der Klassischen Moderne auf überregionaler Ebene folgte. Die Diskussionen und damit Reflexionen über den Kunstbegriff auf einer theoretischen Ebene sind zudem ein Merkmal eines modernen künstlerischen Selbstverständnisses. Indem sich die Künstler ihrer Individualität und Gültigkeit ihrer persönlichen Anschauung und Ausdrucksweise bewusst wurden und diese nach außen vertraten, intensivierte sich auch ihr Selbstverständnis als Künstler. Nach außen hin sichtbar wurden die inhaltlichen Spannungen innerhalb der halleschen Künstlerschaft mit einer 1913 stattfindenden Ausstellung. Die »Freie Künstlervereinigung« hatte sich im selben Jahr gegründet und sammelte vor allem jüngere Künstler in ihren Reihen. Wie die 1910 publizierte Hallische Mappe offenbart, pflegte der Künstlerverein auf dem Pflug vor Kriegsausbruch in der Außendarstellung ein ausschließlich gegenständliches Kunstbild. Postimpressionistische oder gar expressionistische Stilmittel tauchen in den hier versammelten Werken nicht auf. Den avantgardistischen Kunstströmungen am nächsten scheinen noch die jugendstilhaft-geometrischen Elemente in den Grafiken von Ewald Manz. Während einer von Max Sauerlandt geleiteten Einführungsveranstaltung zu einer im Kunstverein im April 1913 eröffneten Ausstellung von Werken Berliner bildender Künstler fiel der Pflüger Georg Klein als ein Wortführer der die moderne expressionistische Kunst ablehnenden und verurteilenden Gruppe auf. Die vom Kunstverein veranstaltete »Programmausstellung« sollte die Mitglieder über die zeitgenössische Entwicklung der modernen Kunst informieren. Sauerlandt forderte das Publikum auf, den Werken jenseits von Gefallen oder Missfallen einfühlend zu begegnen und verlangte, sich dem künstlerischen Werk anzupassen. Ein Beobachter berichtete, dass »[d]iese Auffassung … bei der größeren Zahl der Zuhörer offenbar auf Widerspruch«380 stieß und die betreffenden Künstler sich bald dem Vorwurf des Pathologischen ausgesetzt sahen. Wie die im gleichen Jahr eröffnete Ausstellung der Freien Künstlervereinigung Halle im Hallischen Kunstverein zeigte,381 hatte diese Kunstschau (wie die Werke Emil Noldes) bei einem Teil der halleschen Künstlerschaft einen tiefen Eindruck hinterlassen und gab eventuell auch den unmittelbaren Anlass für die Gründung einer Künstlergruppe jenseits des bestehenden Künstlervereins auf dem Pflug. Künstler, die sich unter dem Eindruck der in der Moritzburg und im Kunstverein gezeigten Expressionisten382 einer abstrahierenden Malweise 380 Vgl. GA vom 22.04.1913, Nr. 93. Der Verfasser des Artikels im General-Anzeiger R ichard Horn, der unter dem Synonym brk. bzw. Borgk veröffentlichte, ist 1919 ein Gründungsmitglied der Hallischen Künstlergruppe. 381 Vgl. SZ vom 03.09.1913 (Nr. 412 (Abend-Ausgabe). 382 So berichtet Richard Horn über Karl Völker, der angeregt von Noldes »Abendmahl« für den Expressionismus entbrennt. Seine Erinnerungen legen nahe, dass auch andere Künstler die nach Halle vermittelten Anregungen durch den Expressionismus aufnahmen.
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und einem anderen künstlerischen Leitbild zuwandten, fanden im Pflug offenbar keine Heimat und gaben ihrem abweichenden Selbst- und Kunstverständnis in einer konkurrierenden Vereinigung Ausdruck. Zwar finden sich Hinweise, dass die Künstlervereinigung auch jenseits ihrer Ausstellung im Kunstverein Zusammenkünfte veranstaltete – im Nachlass des Grafikers Paul Radojewski ist eine Einladungskarte zu einem Bauernball überliefert383 – ihr gelang es jedoch nicht, ähnliche feste Gruppenstrukturen wie jene des Künstlervereins auf dem Pflug zu etablieren. Der bald darauf beginnende Krieg, der sich zum Weltkrieg ausweitete und in dem auch zahlreiche Künstler an der Front standen, unterband weitere Institutionalisierungsbestrebungen unter den Künstlern und lähmte insgesamt die Weiterentwicklung des Kunstsystems. Der Künstlerverein trug auch auf der Ebene des beruflichen Selbstverständnisses zur Entwicklung des Künstlerseins bei. Für diesen Bereich war die öffentlichkeitswirksame Präsentation des Schaffens der Vereinsmitglieder von besonderer Bedeutung. Nicht nur, dass auch die öffentliche Wahrnehmung und der Rahmen den Künstlern Reputation eintrug, aufgrund derer sie Selbstbewusstsein als Künstler sammeln konnten. Die durch die öffentlichen Veranstaltungsformate des Vereins hergestellte Bekanntheit einzelner Künstler war auch eine Grundlage ihres wirtschaftlichen Erfolgs. Neben dem ideellen »Streben, die Kunst dem Volke näher zu bringen«384 verfolgten die Pflüger mit ihren etwa zweimal jährlich stattfindenden Ausstellungen das Ziel, unter dem halleschen Publikum Käufer für ihre Werke zu finden.385 Das Bestreben, mit den Gruppenausstellungen eine Plattform zum Verkauf ihrer Werke zu etablieren, stand jedoch nicht im Vordergrund der Vereinstätigkeit. Die Gründung des »Ausstellerbundes hallischer Künstler« 1906, ein Jahr, nachdem der Künstlerverein auf dem Pflug ins Leben gerufen wurde, macht deutlich, dass die (ökonomischen) Interessen der bildenden Künstler einer spezifischen Institution bedurften. Der Bund, der auch in der 1921 erschienen achten Ausgabe des Dressler’schen Kunsthandbuchs im Institutionenverzeichnis noch aufgeführt ist, »bezweckt die Förderung der idealen und materiellen Interessen 383 Vgl. StH, N 80,2 (ohne Jahresangabe). 384 STH, A 2.36 Nr. 533 Bd. 1 (ohne Blattzählung), Schreiben vom Vorsitzenden Busse vom 21.11.1926. 385 Die Saale-Zeitung kündigte für den Winter 1916 an: »Der Künstlerverein auf dem Pflug veranstaltet vom 26. November ab in den Räumen des Kunstvereins am Hallmarkt seine übliche Vorweihnachts-Ausstellung. Die Einsendungen dafür sind überaus reichlich, und die Sichtung hat eine Auswahl bemerkenswerter Gemälde, Zeichnungen, Radierungen, Plastiken und kunstgewerblicher Arbeiten ergeben, von denen hoffentlich manches Stück einen Weihnachtstisch schmücken wird, zur Freude des Käufers und des Beschenkten und zur Förderung der heimischen Kunst, deren berufener Vertreter der Künstlerverein auf dem Pflug ist.« SZ vom 25.11.1916, Nr. 554 (1. Beiblatt). – Zu einer 1921 stattfindenden Ausstellung, an der auch Leipziger Künstler teilnahmen, erschien ein Katalog, der die ausgestellten Werke mit Preisangaben verzeichnete. Vgl. Ausstellung des Künstlervereins a. d. Pflug, Halle 1921.
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der in Halle und der Umgebung lebenden bildenden Künstler durch korporativen Schutz des Einzelnen in künstlerischer und geschäftlicher Beziehung.«386 Den Vorsitz führte der Maler und Pflüger der ersten Stunde Paul Juckoff-Skopau. Auf die Ausstellungstätigkeit konzentriert, war der Bund ausschließlich für bildende Künstler bestimmt und verstand sich vorrangig als Gremium, das sowohl selbstständig Ausstellungen organisierte als auch die gemeinschaftliche Beteiligung an fremden Ausstellungen koordinierte. Eine Jury und Hänge kommission sollte dabei über die künstlerische Qualität und die Präsentation der Werke befinden. Das Amt des Schriftführers bekleidete der Porträtmaler Sigmund von Sallwürk, Mitglied des Kunstklubs und später des Künstlervereins auf dem Pflug. Seine primär berufsständischen Interessen rückten den Ausstellerbund in die Nähe der Allgemeinen Kunstgenossenschaft.387 Diese bündelte als erste überregionale Organisation die Interessen der deutschen Künstler. Ihre Aktivität konzentrierte sich darauf, im Abstand mehrerer Jahre die sogenannte »deutsche Kunstausstellung« in wechselnden deutschen Städten gemeinsam mit der Münchener Ortsgruppe zu veranstalten. Diese Ausstellungen boten den teilnehmenden Künstlern sowohl den ökonomischen Reiz einer Verkaufs ausstellung als auch die Aussicht auf eine kaiserliche oder anderweitig gestiftete Auszeichnung.388 Um dem Bund anzugehören, mussten Beitrittswillige künstlerische Qualifi kationen vorweisen und einen jährlichen Beitrag von 16 Mark zahlen. Der Bund stand, was seine selbstständig organisierten Ausstellungen betraf, auch Nichtmitgliedern offen. Im Gegensatz zum Künstlerverein handelte es sich beim Ausstellerbund um eine zweckorientierte und auf die Ausstellungstätigkeit konzentrierte Gruppe. Im Vergleich zu anderen zeitlich parallelen oder folgenden Künstlergruppen bleibt der Ausstellerbund konturlos. Bis auf die Nennung im Kunstjahrbuch, in dem Willy Oskar Dressler sowohl die institutionelle 386 Die Existenz des Ausstellerbundes bezeugt das für den deutschsprachigen Raum erschienene Kunstjahrbuch von Willy O. Dressler in den Jahrgängen 1907–1913 und sein Kunsthandbuch von 1921. Vgl. Dressler, Kunstjahrbuch 1907, S. 252 und 1913, S. 259/260. 387 Der Beitritt zur Kunstgenossenschaft, die in den Jahren nach der Jahrhundertwende an Einfluss und Integrationskraft verlor, war für die dem Ausstellerbund beitretenden Künstler obligatorisch. 388 Die Auszeichnung erfolgte durch den Vorschlag einer aus den Reihen der Künstlergenossenschaft bestellten Jury. Der hallesche Maler Sigmund von Sallwürk errang mit seinem Beitrag zur 1899 in Dresden stattfindenden allgemeinen deutschen Kunstausstellung eine goldene Medaille. Das mit der Medaille verbundene Prestige war derart bedeutsam, dass v. Sallwürk in einem Inserat (»Ausführung von Gemälden« und »Mal-Unterricht«) seine akademische Ausbildung mit dem Hinweis auf den Ausstellungserfolg in Dresden (»Goldene Medaille grosse Kunstausstellung Dresden 1899«) unterstrich. Noch 1924 erwähnte ein Zeitungsartikel über den Künstler die Prämierung seiner Arbeit, die mittlerweile ein Vierteljahrhundert zurücklag. Vgl. Deiters, Geschichte, S. 30; Adressbuch Halle 1910, Allgemeine Inserate, S. 21; HN vom 13.02.1924.
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Struktur des Kunstsystems der Städte als auch die einzelnen Künstler verzeichnete, hinterließ der Ausstellerbund kaum Spuren.389 Er lag, anders als die Freie Künstlervereinigung, im Einklang mit den ästhetisch-künstlerischen Prämissen des Pfluges und war eine auf die bildende Kunst und ihre spezifischen Vermarktungsbedürfnisse abgestimmte Institution, die mit dem Instrument der Ausstellung die wirtschaftlichen Interessen der Künstler verfolgte. Auf inhaltlicher und damit verbunden gesellschaftlich-funktionaler Ebene trug der Künstlerverein auf dem Pflug auf spezifische Weise Elemente künstlerischen Selbstverständnisses zusammen. Im Unterschied zum Städtischen Museum unter Sauerlandt und dem Kunstverein unter Goldschmidt, die einen Schwerpunkt auf den nationalen Kunstkanon und überregionale avantgardistische Strömungen konzentrierten, bot der Pflug der kunstinteressierten städtischen Öffentlichkeit ein heimatorientiertes Kunstprogramm. Nach Einschätzung des langjährigen Mitglieds Heinrich Kopp »erschloß der Pflugverein dem breiten Publikum das Verständnis für die Reize der Heimat.«390 Die Hallische Mappe dokumentiert in ihren zahlreichen Abbildungen mit landschaftlichen bzw. baulichen Motiven aus Halle oder der näheren Umgebung die Verbundenheit der Pflüger zu ihrer Umgebung.391 Besonders die Gründergeneration des Künstlervereins auf dem Pflug bekannte sich zur halleschen Heimat und engagierte sich künstlerisch in heimatverbundenen Publikationen.392 In einer Note an den städtischen Magistrat im Jahr 1926 verwies der Verein auf sein Bemühen, »auch sein Teil zur kulturellen und künstlerischen Förderung der Einwohnerschaft beizutragen.«393 Zu diesem Zweck sollte in den städtischen Schulen auf die Herbstausstellung des Pfluges hingewiesen und die Schüler zu ihrem Besuch aufgefordert werden. Wie schon Sauerlandt in den Vorkriegsjahren mit seinen Lehrervorträgen rückte auch der Künstlerverein die Jugend in den Fokus seiner Öffentlichkeitsarbeit und versuchte die künftige Publikumsgeneration mit der bildenden Kunst vertraut zu machen.394 389 Weder liegt eine Eintragung im Vereinsregister vor, noch zeugt das örtliche Adressbuch von seiner Existenz. Auch ausstellungsbegleitende Druckerzeugnisse wie Kataloge bzw. Broschüren, Eintrittskarten oder Inserate und Ausstellungskritiken in den halleschen Tageszeitungen tauchten während der Recherche nicht auf. 390 Kopp, Künstlerverein, S, 71 f. 391 Vgl. Hallische Mappe. Auf der 1914 stattfindenden Generalversammlung wurde über die Herausgabe einer zweiten Hallischen Mappe verhandelt, die jedoch nicht erschienen ist. 392 Frühe Mitglieder des Pfluges, Heinrich Kopp und Georg Klein, pflegten Verbindungen zum jährlich erscheinenden Heimatkalender, in dem sie sowohl literarische Beiträge als auch Illustrationen veröffentlichten. Alfred Weßner-Collenbey fertigte für die vielbändige Heimatbeschreibung »Wanderungen durch den Saalkreis« viele Zeichnungen an. Vgl. SchultzeGalléra, Wanderungen. Sigmund von Sallwürk war schon vor seiner Mitgliedschaft im Pflug engagiert im Bund Heimatschutz. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 40 Ib. 393 StH, A 2.36, Nr. 533 Bd. 1, Schreiben des Vorsitzenden Busse-Dölau vom 21.11.1926. 394 Vgl. ebd.
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Mit der Gründung der Hallischen Künstlergruppe 1919, deren zentrale Akteure vor dem Krieg in Verbindung mit der Freien Künstlervereinigung s tanden395, manifestierte sich erneut nach Kriegsende eine inhaltliche und stilistische Spaltung der Künstler Halles. Besonders auf der 1919 gemeinsam veranstalteten Ausstellung im Rahmen der Künstlernotstandshilfe traten die stilistischen und inhaltlichen Unterschiede zwischen dem etablierten Künstlerverein auf dem Pflug und der gerade gegründeten Hallischen Künstlergruppe zutage. Im Verlauf der zwanziger Jahre betonten Mitglieder des Pfluges in Selbstdarstellungen ihre Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Kunstströmungen und versprachen »kunstfreudige[n] Elemente jeder Richtung zu sammeln«.396 Als sich die Hallische Künstlergruppe in der Mitte der zwanziger Jahre auflöste – ihre Präsenz im halleschen Kunstsystem war vergleichsweise kurz, hinterließ durch ihre vielfältigen Aktionen und öffentlichen Auftritte aber tiefe Spuren – stand der Künstlerverein auf dem Pflug für die Kontinuität der organisierten halleschen Künstlerschaft. Dass sich der Hallesche Künstlerverein jenseits seiner nach innen gerichteten Aktivitäten und seiner Funktion, den organisierten Künstlern in Ausstellungen und Publikationen eine weitere Öffentlichkeit zu genieren, als Interessenvertretung der Künstler gegenüber anderen öffentlich auftretenden Akteuren verstand, versicherte bereits das Statut von 1911: Als Vereinszweck wurde »die Förderung des künstlerischen Lebens und der künstlerischen Interessen« festgeschrieben, was unter anderem »durch geschlossene Stellungnahmen zu den das öffentliche Kunstleben betreffenden Fragen« erreicht werden sollte. Mit der Wahl des Stadtbaumeisters Wilhelm Jost an die Vereinsspitze 1918 wurde explizit formuliert, dass die Stadt den Künstlern als wichtiger Ansprechpartner galt: »Der Verein erkennt die Zweckmäßigkeit an, einen im öffentlichen Kunstleben bekannten und bewährten Mann zum Vorsitzenden zu wählen, auch wenn er bisher nicht Mitglied des Vereins ist. Der Vorschlag, Herrn Stadtbaurat Jost zum Vorsitzenden zu wählen, findet allgemein Beifall.«397 395 Richard Degenkolbe, Karl Völker, Werner Lude und Paul Hartmann waren sowohl auf der Ausstellung der Freien Künstlervereinigung als auch auf der Ausstellung der Hallischen Künstlergruppe 1919 vertreten. Vgl. Meinel, Karl Völker, S. 23. Auch Paul Radojewski sympathisierte mit der Gruppe. Vgl. StH, N 80,2. 396 So Heinrich Kopp in einem Artikel 1922. 1925 schränkte Georg Klein ein: »Die Pflüger verschließen nicht ihre Ohren neuen Kunstoffenbarungen, sind nicht blind vor den Zeichen der Zeit. Aber sie stehen ihnen besinnlich gegenüber und bemühen sich, das Ehrliche solcher Richtungen zu erkennen und Auswüchse abzulehnen, manchmal in humoristischer Weise, wie in einem grotesken Vortrag mit Cimbel-, Pauken- und Raschelblechbegleitung ›über den Ueberexpressionismus‹, in dem die Kunst der Entrejambisten und der Sürtetisten verkündet wurde.« Vgl. Klein, Chronik, S. 114. 397 Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Bl. 41.
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Die machtpolitisch begründete Entscheidung fand schon in der nächsten Amtsperiode keine Fortsetzung mehr. Ob Jost aktiv auf eine Wiederwahl verzichtete oder andere Gründe gegen ihn als Vereinsvorsitzenden sprachen, ist nicht überliefert. Sein Verhalten während der Auseinandersetzung mit der städtischen Künstlerschaft um die öffentliche Ausschreibung für den Bau einer Stadthalle um 1924 brachte ihn auch mit dem Künstlerverein in Konflikt. Nach dem Krieg wandte sich der Künstlerverein auf dem Pflug in verschiedenen Angelegenheiten an die städtischen Behörden, verstand er sich doch als künstlerische Interessenvertretung. Insofern formte er in seinen Aktivitäten auch ein Bild des Künstlers, der es verstand, sich für seine Interessen zu organisieren und sie notfalls gegenüber anderen Akteuren zu behaupten. Das wiederum wirkte vor allem auf das Selbstverständnis der Künstler als Berufsgruppe und auf ihr Selbstbewusstsein, als solche wirksam werden zu können.
5.2 Der Bund Deutscher Architekten als Vorreiter einer künstlerisch-berufsständischen Interessenvertretung Die sozialgeschichtliche Entwicklung des Architektenberufs im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war im Wesentlichen durch zwei Prozesse geprägt: Zum einen erfuhr die Architektur eine Aufwertung als künstlerische Disziplin und wurde im Reigen der bildenden Künste sogar als Leitdisziplin angesehen. Obwohl wichtige Unterschiede vor allem in der Ausbildung und im Hinblick auf die jeweiligen Berufsbilder bestehen blieben, wurden Architekten den anderen bildenden Künstlern gleichgestellt.398 Damit in enger Verbindung erfolgte die Professionalisierung des Architektenberufes sowohl hinsichtlich seiner Ausbildung und Berufsführung.399 Der Bund Deutscher Architekten (BDA) formierte sich als Bewegung eines Teils der sich als Künstler verstehenden Architektenschaft – auch vom Verband wurde die Bezeichnung »Baukünstler« genutzt, um sich gegenüber anderen Baufachleuten abzugrenzen400 –, die sich von den vielerorts bestehenden Archi 398 Willy Oskar Dressler, selbst Architekt von Beruf, fasst in seinem Nachschlagebuch für deutsche bildende und angewandte Kunst »Maler, Malerinnen, Bildhauer, Bildhauerinnen, Kunstgewerbler, Kunstgewerblerinnen, Graphiker und Maler-Architekten« in der Rubrik der Künstler und Künstlerinnen der Gegenwart zusammen. Die von ihm verwendeten Bezeichnungen Maler-Architekt bzw. Baukünstler geben dem im Gang befindlichen Prozess der Differenzierung der Architektenschaft Ausdruck, die zwischen Architekten mit einer künstlerischen Anspruchshaltung und anderen am Bau beteiligten Technikern, Beamten und Gewerbetreibenden, die sich ebenfalls Architekten nennen, unterscheidet. Vgl. Dressler, Kunstjahrbuch 1907, S. 11. 399 Siehe Kap. IV., 2.1, IV., 3.2 und IV., 4.7. 400 Vgl. N. N., Was wir wollen!
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tekten- und Ingenieurvereinen emanzipierten, in denen hauptsächlich Ingenieure und Baubeamte vertreten waren. Auch in Halle bestand ab 1887 ein solcher Verein, der verschiedene Berufsgruppen umfasste. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich die einzelnen beruflichen Zweige in eigenständigen Vereinen zu organisieren: 1895 existierten in Halle ein dem Ingenieurwesen vorbehaltener Verein und zwei Technikervereine.401 Zahlreiche Architekten (und Baubeamte) waren auch im Kunstgewerbeverein für Halle und den Regierungsbezirk Merseburg aktiv (24 Architekten waren 1885 zu zählen und stellten die größte Berufsgruppe unter den insgesamt 427 Mitgliedern)402, der jedoch mit der allgemein gefassten Förderung des Kunstgewerbes keine berufsspezifischen Ziele verfolgte. Als Vereinsvorsitzende haben Architekten, die dem BDA angehörten, ab den 1890ern den Kunstgewerbeverein geleitet und nach außen vertreten.403 1908 wurde unter maßgeblicher Beteiligung hallescher Architekten der »Ausschuss zur Erteilung von Ratschlägen in künstlerischen Fragen« gegründet.404 Im Rahmen des Ausschusses, der in der Folgezeit Gutachten und Berichte zu städtebaulichen Anfragen in Halle und für andere Städte anfertigte, übernahmen sie gemeinsam mit anderen Experten (darunter Max Sauerlandt und Adolph Goldschmidt) Verantwortung für die städtebauliche Entwicklung, wie sie der BDA auch in seinem Gründungsmanifest forderte.405 Innerhalb des halleschen Kunstsystems traten Architekten als wichtige Impulsgeber auf und trieben mit ihrem Engagement seine Institutionalisierung voran. Zuerst hatten sich in Berlin und Köln am Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Berufsverbände für Architekten gegründet. Ein Aufruf zum Zusammenschluss aller deutschen Architekten erging von der Kölner und Aachener Architektenvereinigung und schließlich erfolgte im Juni 1903 die Gründung des Bundes Deutscher Architekten. Dabei zielte der Aufruf explizit auf die »künstlerisch tätigen Fachgenossen«. Mit diesem Schritt zur Gründung einer überregionalen Interessen- und Berufsvertretung sollte das praktisch längst etablierte Berufsbild des Baukünstlers nach außen hin sichtbar konturiert und die inflationäre und 401 Namentlich sind das der Thüringer Bezirksverein Deutscher Ingenieure, der Techniker-Verein Halle a. S. und der Techniker Verein »Vulkan«. Vgl. Adressbuch Halle 1895, S. 507. 402 Vgl. Jahres-Bericht Kunstgewerbe-Verein 1884, S. 4/5. 403 Regierungsbaumeister Knoch leitete den Kunstgewerbeverein ab 1890 (gehörte mit Gustav Wolff und Friedrich Kallmeyer zu den ersten halleschen Architekten, die dem BDA beitraten und schon 1905 als Mitglieder genannt werden) und übergab den Posten 1904 an Gustav Wolff, der in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre durch Georg Roediger (ebenfalls Architekt B. D. A.) abgelöst wurde. (Gleichbleibend für die beiden Folgejahre für Halle, zwei Mitglieder in Stendal kommen hinzu.) Vgl. N. N., Mitglieder des B. D. A. 404 Gustav Wolff (auf dessen Antrag der Ausschuss eingerichtet wurde), Franz Wilhelm Adams und Friedrich Kallmeyer waren unter den sieben bestellten Ausschussmitgliedern 1908. Vgl. StH, A 6.3.1 KUNG Nr. 176, Bl. 1. 405 Vgl. ebd.
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missbräuchliche Verwendung der Berufsbezeichnung »Architekt« beschränkt werden.406 Die Abgrenzung bezog sich einerseits auf das Bauunternehmertum als auch andererseits auf die teilweise unqualifizierten staatlichen und städtischen Baubeamten.407 Zwei Jahre nach seiner Gründung verzeichnete der BDA siebzehn Ortsgruppen mit insgesamt knapp 200 Mitgliedern. Dem initiierenden Aufruf waren drei hallesche Architekten gefolgt, die zusammen mit einem Magdeburger Kollegen die Gruppe »Magdeburg – Halle« bildeten. 1909 gründeten dann zehn Mitglieder des Bundes in Halle die »Ortsgruppe Sachsen-Anhalt«, die im März 1910 ins Vereinsregister des Regierungsbezirks Merseburg eingetragen wurde. Bis zu den Kriegsjahren und während des Krieges veränderte sich die Zusammensetzung der Mitglieder und des Vorstandes kaum. Bis zur Auflösung der Ortsgruppe Sachsen-Anhalt im Sommer 1920 und der anschließenden Neuformierung als Ortsgruppe Halle im Einheitsverband BDA stagnierte die Zahl der Mitglieder weiter bei etwa 10.408 Gemessen an der Zahl der insgesamt in Halle tätigen Architekten, die mit und ohne Unternehmen im Verzeichnis der Gewerbetreibenden im Adressbuch eingetragen waren, gehörte nur eine kleiner Teil dem Bund bzw. der Ortsgruppe an (1910 waren es beispielsweise 6 von insgesamt 45 verzeichneten Architekten). Anhand der Mehrfachmitgliedschaften hallescher Architekten sowohl im BDA als auch in lokalen Künstlergruppen lässt sich beobachten, dass die Anforderungen des BDA an die künstlerischen Fähigkeiten seiner Mitglieder tatsächlich eingelöst wurden. Die im BDA organisierten halleschen Architekten waren zugleich im städtischen Kunstleben über die Künstlervereinigungen bzw. den Kunstgewerbevereinsausschuss engagiert. Sie waren sowohl im Künstlerverein auf dem Pflug und in der Hallischen Künstlergruppe vertreten. Vergleicht man die Teilhabe der Architekten am Pflug vor dem Ersten Weltkrieg mit der Rolle, die Architekten in der danach aktiven Hallischen Künstlergruppe spielten, ist festzustellen, dass sie ins Zentrum der Gruppe rückten. Von ihnen, namentlich Martin Knauthe und Alfred Gellhorn, gingen wichtige organisatorische und inhaltlich bestimmende Impulse aus.409 Das Manifest der Künstlergruppe trägt mit »Was wir wollen!« den gleichen Titel wie das Gründungsdokument des BDA und lässt auf den, wenigstens formalen, Einfluss der hier versammelten Archi 406 Vgl. N. N., Was wir wollen!. 407 Vgl. R. V., Geschichte des Bundes Deutscher Architekten. 408 Arthur Leinbrock und Paul Thiersch traten dem Verein 1914 bzw. 1915/16 bei und übernahmen den Posten des Säckelmeisters bzw. Schriftführers. Zuvor bildeten Friedrich Kallmeyer, Bruno Föhre und Franz Wilhelm Adams den Vorstand. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 Halle, Bund Deutscher Architekten Halle, Bl. 17 und 21. 409 Gemessen an der Gesamtmitgliederzahl stellten Architekten eine große Gruppe innerhalb der Hallischen Künstlergruppe: Martin Knauthe (Gründungsmitglied), Alfred Gellhorn, Hanns Markowski und Otto Glaw.
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tekten schließen. Auch im 1905 begründeten Künstlerverein auf dem Pflug waren Architekten vertreten,410 übernahmen dort jedoch kaum eine führende Rolle. Hier waren es vor allem Schriftsteller, Maler / Zeichner und Bildhauer, die das Vereinsleben organisierten und nach außen repräsentierten. Der reichsweite Zusammenschluss der Architekten im BDA zielte explizit auf berufsständische Interessen. Sein Programm verfolgte berufsspezifische, soziale und ökonomische Ziele. Mit den beiden genannten lokalen Künstlervereinigungen, die sich ebenfalls beide für den Berufsstand des Künstlers engagierten, gab es zahlreiche inhaltliche Überschneidungen. Der Bund Deutscher Architekten betrieb die Pflege des Berufsstands im Gegensatz zu den Künstlervereinigungen jedoch mit institutionalisierter Ernsthaftigkeit: Ein Verhaltenscodex formulierte die Ideale »guten« geschäftlichen Gebarens und wollte über die gezielte Prüfung von Neumitgliedern einen Qualitätsstandard etablieren, der mit der Bezeichnung »Architekt B. D. A.«411 gewährleistet werden sollte.412 Den vorrangig im städtischen Wirkungskreis agierenden Künstlergruppen lag ein derartiger Eingriff in die gewerbliche Existenz ihrer Mitglieder jedoch fern. Zwar knüpfte auch der Künstlerverein auf dem Pflug im Lauf seiner Existenz die Aufnahme von Neumitgliedern zunehmend an Kriterien eines professionalisierten Künstlerverständnisses, stellte an ihre gewerbsmäßige Berufsausübung jedoch keine speziellen Anforderungen. Im Gegenzug verlieh die Zugehörigkeit zum Pflug oder einer anderen Künstlergruppe auch kein Gütesiegel, was deren gewerbliches Auftreten betraf. Die Kriterien für eine Neuaufnahme von Mitgliedern war in den Statuten des Bundes Deutscher Architekten festgeschrieben und erfolgte auf Einladung der jeweiligen Ortsgruppen. Entsprechend des vordringlichsten Zieles der Organisation, die Arbeit des Architekten zu schützen, war sie an bestimmte Bedingungen geknüpft: Eine Mitgliedschaft setzte einerseits einen Nachweis über »nennenswerte baukünstlerische[r] Leistungen« voraus. Andererseits wurde bestimmt, dass die Arbeit als Architekt in selbstständiger Tätigkeit ausgeführt werden muss. Deutliche Bestimmungen erließ der BDA in Bezug auf die strikte Trennung von unternehmerischen Interessen. Der Architekt durfte nicht auch als Bauunternehmer tätig sein und Arbeiter zur Ausführung seiner Entwürfe 410 Namentlich sind während der Recherchearbeiten bekannt geworden: Franz Wilhelm Adams, Wilhelm Breiting, Wilhelm Jost und Gustav Wolff. Vgl. Hallische Mappe. 411 Auf der Vorstandssitzung in Hannover im Oktober 1904 wurde beschlossen, dass Mitglieder des Bundes die Bezeichnung »N. N. – Architekt B. D. A.« führen sollten. Vgl. N. N., Sitzung des Vorstandes des Bundes Deutscher Architekten. 412 Dem Statut der Ortsgruppe waren die »Grundsätze, die der BDA für die Tätigkeiten seiner Mitglieder als selbstverständlich betrachtet« angehängt. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 Halle, Bund Deutscher Architekten Halle. – Der Titel »Architekt B. D. A.« erfährt auch im halleschen Adressbuch besondere Beachtung. Die dem Bund angehörenden Architekten waren besonders gekennzeichnet und für das Jahr 1911 sogar in einer eigenen Kategorie aufgeführt. Vgl. Adressbuch Halle 1910 und folgende Jahrgänge.
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beschäftigen. Schließlich hatten die Gründer des Bundes das Bauunternehmertum als ein zu bekämpfendes Übel identifiziert: »Die größte Gefahr für unser Kunstleben, den schlimmsten Gegner unserer eigenen Bestrebungen sehen wir in dem rücksichtslosen Unternehmertum, das ohne Ideale, nur von Gewinnsucht beherrscht, die sonst so segensreiche Gewerbefreiheit ausbeutet.«413
Das von den Gründern des BDA aufgesetzte Manifest wurde wortgleich in die Statuten der Ortsgruppe Sachsen-Anhalt übernommen. Als zentrales Anliegen wird hier gefordert, dass künstlerisch arbeitende Architekten an der Gestaltung der urbanen Lebenswelt teilhaben sollten und die bisherige Isolation im öffentlichen Leben korrigiert werden müsse: »Wie uns eine wertvolle Mitwirkung am Bau der neuen Straßen unserer Städte durch das von unten heraufquellende Unternehmerwesen beschränkt oder ganz verloren gegangen ist, so droht uns die gleiche Gefahr beim Bau der öffentlichen Gebäude, in der Monumentalkunst, durch das Baubeamtentum der weltlichen und kirchlichen Behörden.«414
Besonders brisant wurde diese Aufforderung zur öffentlichen Einmischung im Kontext des von Richard Robert Rive ab 1906 umstrukturierten öffentlichen Bauwesens. Die von Rive forcierte Zentralisierung der öffentlichen Bauaufgaben im städtischen Bauamt und sein intransparentes Auftreten gegenüber der privaten Architektenschaft kollidierten mit dem Selbstverständnis und den Bemühungen des BDA und seiner Vertreter vor Ort.415 Als der Dachverband BDA als Einheitsverband416 nach Kriegsende neu organisierte wurde, ergaben sich auch auf der Ebene der Ortsgruppen Veränderungen. Die Ortgruppe Sachsen-Anhalt wurde im März 1920 aus dem Vereinsregister des Regierungsbezirks gelöscht und als »Bezirksgruppe Halle« neu eingerichtet. Die örtliche Zweigstelle des BDA wurde nicht mehr als eigenständiger Verein geführt, sondern bestand innerhalb des Landesbezirks Sachsen-Anhalt, dem wiederum innerhalb des Dachverbandes relative Autonomie gewährt wurde. Mit der Neuorganisation des BDA stieg zu Beginn der zwanziger Jahre die Mit 413 Vgl., N. N., Was wir wollen!. 414 LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 Halle, Bund Deutscher Architekten Halle, Statut der Ortsgruppe Sachsen-Anhalt, Was wir wollen!, S. 4. Einschränkend werden zahlreiche städtische und staatliche Baubeamte, die künstlerisch-qualitativen Anforderungen genügen, von der Kritik ausgenommen. Der Bund stellt jedoch die weitreichenden Kompetenzen niederer Baubeamter in Frage, die kaum eine zureichende Ausbildung genossen hätten. 415 Siehe Kap. III, 2.2.2. 416 1919 schlossen sich die Freie Deutsche Architektenschaft und die Deutsche Architektenschaft mit dem BDA zusammen. Eine neue Hauptverwaltung mit Sitz in Berlin wurde eingerichtet. Vgl. Denk, Leben für die Baukunst, S. 4.
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gliederzahl der halleschen Bezirksgruppe. Während 1913 nur 6 BDA-Mitglieder in Halle ansässig waren (weitere 3 stammten aus anderen Städten), waren es 1925 16 hallesche Architekten. 1930 verzeichnet das hallesche Adressbuch in einer dem BDA vorbehaltenen Spalte insgesamt 13 Architekten und 2 Architektenbüros.417 Nur noch drei der Mitglieder waren schon vor Ausbruch des Krieges im Ortsverband organisiert.418 Innerhalb einer Dekade seit der Gründung der Ortsgruppe Sachsen-Anhalt hatte sich der lokale Ableger des BDA stark verändert und zeugte von der Expansion und dem Generationswechsel, der die städtische Künstlerschaft und damit das Kunstsystem der Stadt Halle über die Zäsur des Ersten Weltkrieges prägte. Die Vielzahl neuer Mitglieder und die gesellschaftlichen Nachkriegsumstände brachten auch ein verändertes Auftreten der Gruppe mit sich: Gab es aus den Anfangsjahren kaum Dokumente über Aktivitäten der Gruppe419 – der Protest gegen den Umbau von Gut Gimritz erfolgte im Namen des Kunstgewerbevereins – häuften sich nach Kriegsende Nachrichten über ihr öffentliches Engagement. Vor allem im Verbund mit anderen Künstlergruppen und als Träger des Hallischen Künstlerrates trat er in Erscheinung.420 Gemeinsam mit dem Künstlerverein auf dem Pflug und der Hallischen Künstlergruppe wagte sich der BDA Halle Ende des Jahres 1919 mit einer gemeinsamen Ausstellung ins Licht der halleschen Öffentlichkeit. In der Debatte um den Neubau einer Stadthalle übernahm er naturgemäß die Führungsrolle. Darüber hinaus war er als Herausgeber an der in zwei Jahrgängen erscheinenden »Baulaterne. Mitteilungsblatt für den Wirtschaftsverband bildender Künstler e. V., den Landesverband B. D. A. Sachsen-Anhalt, für den Kunstgewerbeverein und den Kunstverein für Halle« beteiligt. Das vom BDA formulierte Ziel, durch Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung (in Presse und durch Vorträge) und Entsendung von Vertretern in städtische Gremien Einfluss auf das Feld der Stadtgestaltung und Städteplanung zu gewinnen,421 wurde in Halle punktuell realisiert. Einerseits über lautstarkes Engagement im Protest gegen die amtsinterne Verwirklichung einer neuen Stadthalle
417 Vgl. Adressbuch Halle 1930, Teil III, S. 2. 418 Vgl. Verzeichnis der Ortsgruppen und ihrer Mitglieder; N. N., Mitteilungen der Verbände, in: Die Baulaterne 1. Jg. (1925), Heft 1, S. 8. 419 Das regionalisierte Verbandsblatt des BDA ruft die Mitglieder der Ortsgruppe dazu auf, regelmäßig Publikationsmaterial einzusenden. In den 1913 und 1914 erschienen Ausgaben finden sich keine Meldungen, die Halle betreffen. In der zweiten Ausgabe des Jahres 1913 sind Entwurfsarbeiten der halleschen Architekten Knoch & Kallmeyer für einen Schulbau abgebildet. Vgl. HH, 1. Jg. (1913), Heft 2, S. 22. 420 Martin Knauthe wurde als selbstständiger Architekt 1919 in den BDA aufgenommen. Er war sowohl Gründungsmitglied der Hallischen Künstlergruppe als auch Vorsitzender des Künstlerrates. 421 Vgl. N. N., Was wir wollen!.
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und andererseits über Veröffentlichungen einzelner Angehöriger des Bundes in Zeitungen, Zeitschriften und einer Monografie. Darüber hinaus blieb es den Architekten in ihrer täglichen Arbeit überlassen, die ideellen und baupraktischen Grundsätze des BDA umzusetzen. Zahlreiche ihrer Bauten sind in Halle entstanden und prägten (bzw. prägen) das architektonische Bild der Stadt und das Leben in ihr. Inwiefern die selbstständig arbeitenden Architekten, die früher zum Teil als öffentliche Baubeamte tätig waren und den Titel eines »Regierungsbaumeister a. D.« führten422 bzw. als Mitglieder städtischer Gremien Einfluss auf das öffentliche Bauwesen ausüben konnten, ist jedoch nicht zu ermessen. Im Vergleich mit den vor Ort gegründeten Künstlergruppen scheint die Ortsgruppe des BDA im halleschen Kunstsystem eine weniger gewichtige kulturpolitische Bedeutung gespielt zu haben. Die Zugehörigkeit zum Bund Deutscher Architekten war für seine Mitglieder eher auf der Ebene des persönlichen beruflichen Status relevant. Die Zugehörigkeit zum Bund bestimmte die berufliche Identität als Künstlerarchitekt, der sich vom gewinnorientierten Bauunternehmer absetzte und primär die Interessen des Bauherren verfolgte. Weitaus stärker als der Künstlerverein auf dem Pflug oder auch später die Hallische Künstlergruppe formulierte der Bund berufsspezifische Interessen und setzte auch auf nationaler Ebene verbindliche Regeln durch: In direkten Verhandlungen mit der Regierung gelang es dem Verbandsvorsitzenden Cornelius Gurlitt, eine allgemein verbindliche Gebührenordnung für Architekten gesetzlich festzuschreiben. Ebenso wurden die Leistungen bzw. der Tätigkeitsbereich der Architekten durch den Bund normiert. In einer ganzseitigen Geschäftsanzeige im halleschen Adressbuch (1930) wird der Leistungskatalog umrissen: »Die B. D. A.-Architekten übernehmen zu jedem, dem kleinsten wie dem größten Bauwerk, die Anfertigung der Pläne und Zeichnungen, der Kostenanschläge und Berechnungen, die Verdingung, Beaufsichtigung und Abrechnung der Bauarbeiten und Lieferungen und die ganze mit einem Bau verbundene Geschäftsführung. Die B. D. A.-Architekten sind Sachverständige, Gutachter und Schätzer. … Uneigen nützige und gewissenhafte Wahrung der Interessen seines Bauherrn ist dem Architekten B. D. A. Ehrensache. Darum wende sich jeder, der bautechnischen Rat braucht, an einen Architekten B. D. A.«423
In Geschäftsanzeigen und bei anderen öffentlichen Bekanntmachungen wurde das Kürzel »B. D. A.« als Titel geführt, der den jeweiligen Architekten in positivem Sinn auszeichnete und ihm in seiner beruflichen Identität bestimmte Fähigkeiten attestierte. Ihre darüber hinausgehende Identität als Künstler und die damit verbundenen Interessen sahen einige der Mitglieder eher in ande 422 Friedrich und Julius Kallmeyer, Reinhold Knoch, Georg Roediger und Wilhelm Facilides standen in öffentlichem Dienst. 423 Adressbuch Halle 1930, Geschäftsanzeigen, ohne Nummerierung.
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ren, lokal gewachsenen und engagierten Vereinigungen repräsentiert. Martin Knauthe, 1919 in den Ortsverein des BDA aufgenommen, Alfred Gellhorn und Otto Glaw waren sowohl im BDA als auch in der Hallischen Künstlergruppe organisiert, deren leidenschaftlich formuliertes sozialutopisches Manifest kaum an die sachlich-nüchterne Interessenpolitik des BDA erinnert. So bestand die Ortsgruppe aus Mitgliedern, die jenseits ihrer gemeinsamen beruflichen Inte ressen ganz unterschiedliche ästhetische und kulturpolitische Ziele verfolgten. Für die berufliche Identität als Architekt war der BDA zwar von großer Bedeutung, er spielte in den Diskussionen um den ästhetischen Kunstbegriff jedoch keine Rolle. Und auch in den kunstpolitischen Auseinandersetzungen vor Ort tauchte die Ortsgruppe des Bundes nur in konzertierten Aktionen mit den anderen Künstlervereinigungen auf.
5.3 Kunst- und Künstlervision der Hallischen Künstlergruppe – Antworten auf die existenzielle Krise des Künstlerseins in der Klassischen Moderne Die Hallische Künstlergruppe gründete sich zu Beginn des Jahres 1919 unter dem Eindruck des gerade beendeten Krieges und seiner desaströsen Folgen für die Gesellschaft im revolutionären Nachkriegsklima. Zeit ihres Bestehens lebte die Künstlergruppe vom Eifer eines kleinen Gruppenkerns, den die Gründungsmitglieder Richard und Paul Horn, Martin Knauthe, Karl Österling und Karl Völker bildeten.424 Der Kreis der Mitglieder wuchs schnell an und im Katalog ihrer ersten Ausstellung im Winter 1919/20 finden sich bereits 21 hallesche (und zwei Leipziger) Künstler verzeichnet. Richard Horn erinnerte die Zusammensetzung, die der typischen Struktur der Künstlergruppen entsprach: Ein stabiler und aktiver Kern wurde von einer größeren, fluktuierenden Peripherie von weiteren Künstlern umlagert: »Es waren 5 Künstler, die den Kern bildeten, 5 Menschen, die an ein neues Deutschland glaubten. … Schnell wuchs der Kreis, aber die Gründer blieben die eigentlichen Träger dieser Gruppe.«425 424 Der Bildhauer und Innenarchitekt Paul Horn (1876–1959), war der Vater des Bildhauers, Grafikers und Malers Richard Horn (1898–1989). Der Bildhauer Karl Österling verstarb schon kurze Zeit später im März des Jahres 1919. Vgl. Meinel, Karl Völker, S. 31. – Horn benannte diese fünf Künstler als Kern und Gründungsmitglieder der Hallischen Künstlergruppe. Auch für die folgenden Jahre hob er diesen inneren Kreis für die Aktivität der Gruppe deutlich hervor. Nicht bekannt ist, wer an den Platz des noch im Gründungsjahr verstorbenen Österling trat. Vgl. StH, FA 1343, Horn, Autobiographischer Rückblick, S. 26. – Anders Ingrid Schulze, die Paul und Richard Horn, Karl Österling sowie Karl und Kurt Völker als gründende Mitglieder aufzählt. Vgl. Schulze, Karl Völker. 425 StH, FA 2686, Gedenkworte.
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Als »Organisation aller neuschaffenden Künstler (Architekten, Bildhauer, Maler, Musiker, Schauspieler und Schriftsteller)« stand die Künstlergruppe wie schon der Künstlerverein auf dem Pflug Ausübenden aller künstlerischen Disziplinen offen.426 Bis auf einen Musiker gehörten alle anderen bekannten Mitglieder jedoch den bildenden Künsten an. Auf der Hallischen Kunstausstellung im Winter 1919/20 – insgesamt präsentierten 21 hallesche Künstler dort ihre Werke – verschob sich das Bild der Professionen zugunsten der Kunstmaler, Zeichner und Grafiker. Ohnehin verschwammen jedoch die Grenzen in Schaffen und Selbstverständnis der Künstler. Der junge Richard Horn und Karl Völker fühlten sich beide zur Architektur hingezogen und arbeiteten im Grenzbereich zwischen den Disziplinen.427 Nicht zuletzt nutzten auch die Künstler, die nicht der Gruppe der Maler zuzuordnen sind, die Zeichnung und andere grafische Ausdrucksmittel. Vor allem Richard Horn, Martin Knauthe und Karl Völker als das organisatorische und inhaltlich bestimmende Zentrum der Gruppe gewinnen in den Quellen an Kontur. Die Architekten Otto Glaw und Alfred Gellhorn trugen mit ihren Publikationen ebenfalls zur inhaltlichen Positionierung bei.428 In ihren
426 Mit Georg Radegast, der als Pianist im halleschen Adressbuch verzeichnet ist und mit schriftstellerischen Arbeiten im Rahmen der Hallischen Kunstausstellungs-Zeitung an die Öffentlichkeit trat, waren die musischen und literarischen Künste in der Hallischen Künstlergruppe nur sehr marginal vertreten. Vgl. Adressbuch Halle 1919; Radegast, in: HKaZ, S. 7–9, 12. 427 Horn notierte in seinen Erinnerungen, dass er den zwischenzeitlichen Berufswunsch des Architekten, den er während seiner Lehrzeit hegte, bald aufgab. Als Lehrling führte er bereits die Ornamentierung an Gebäuden aus. Und auch später als selbstständiger Bildhauer, der von zahlreichen privaten Architekten der Stadt und dem städtischen Hochbauamt Aufträge erhielt, war er mit baukünstlerischen Herausforderungen vertraut. Vgl. StH, FA 1343, Horn, Autobiographischer Rückblick, S. 16, 31 ff. – Auch Karl Völker, der vor dem Krieg seine Tätigkeit als Dekorationsmaler begann, war mit der Ausmalung verschiedener kirchlicher und weltlicher Räumlichkeiten (z. B. Kapelle Gertraudenfriedhof, Deckengemälde der Kirche in Schmirma, Café Bauer, Sitzungssaal der KPD im ehemaligen Glauchaer Schützenhaus) mit baugebundenen Aufgaben betraut. Zum städtisch ausgeschriebenen Architekturwettbewerb für eine Volkshalle reichte er gemeinsam mit Georg Schramme und seinem Bruder Kurt Völker einen Entwurf ein. Während seiner Tätigkeit im Architekturbüro von Otto Haesler in Celle konzentrierte sich seine Erwerbsarbeit auf baukünstlerische Aufgaben. Vgl. Meinel, Karl Völker, S. 17, 42, 148; Fuhrmann / Helten, Stadtkrone, S. 123–127. 428 Auch der später hinzutretende Alfred Gellhorn (1885–1972) veröffentlichte unter dem Pseudonym Dr. Grell zahlreiche Artikel in Zeitschriften. Otto Glaw verfasst unter dem Titel »Das schöne Halle« eine Monografie zum architektonischen Bild der Stadt. Mit seinem anhand von Straßen und öffentlichen Plätzen vorgehenden Architekturführer wollte Glaw nicht nur auf gelungene und missratene Bauten der Stadt hinweisen, sondern zukünftige Projekte anregen und »dazu beizutragen, weitere Kreise zum schönen Schauen mitzuerziehen.« Vgl. Glaw, Halle, VIII. – Die Hallische Künstlergruppe ist im Gegensatz zu den anderen hier behandelten Gruppenzusammenschlüssen hallescher Künstler ein historisch gut erschlossener Untersuchungsgegenstand. Zur Künstlergruppe selbst veröffentlichte seit den 1960er Jahren Ingrid Schule zahlreiche Aufsätze und eine Monografie, die jedoch stark von der partei-
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öffentlichen Äußerungen (in Bild und Schrift) zu kunst- und tagespolitischen Themen unterscheiden sich die Künstler wesentlich vom Erscheinungsbild des Künstlervereins auf dem Pflug, deren Austausch, zumindest vor Kriegsbeginn 1914, sich meist auf die vereinsinterne Öffentlichkeit und rein künstlerische Themen beschränkte. Vor allem die KPD-nahe Zeitschrift »Das Wort«, die sich laut ihrem Untertitel neben wirtschaftlichen und politischen Belangen den Bereichen Kunst und Kultur verpflichtet sah, war für einige Künstler der Gruppe ein Sprachrohr. Hier veröffentlichten sie kürzere Hinweise organisatorischer Art, längere Artikel zur halleschen Kulturlandschaft oder zu allgemeinen kulturpolitischen Themen.429 Besonders häufig kommentierte Karl Völker die gesellschaftspolitische Entwicklung der Nachkriegsjahre in seinen Grafiken, die ebenfalls im »Wort« publiziert wurden.430 Rückblickend schrieb Völker seine damals entwickelte Anteilnahme an seiner sozialen Umgebung einer generellen Neuorientierung seiner Generation zu, die die Erfahrung des Krieges zutiefst erschüttert hatte: »Die Zeit, in welcher der Künstler seine Aufgabe darin sah, der Mitwelt das Seine zu sagen, liegt nicht nur für mich lange zurück. Seit Beginn des ersten Weltkriegs habe ich nichts mehr mit unbekümmerter Hingabe geschaffen, denn es war nicht mehr ›meine‹ Sache, es wurde immer ›unsere‹ Sache, um die ich im wahrsten Sinne des Wortes rang. Meine Entwicklung wurde von der Zeit bestimmt, die die Gesichter derer prägte, die überhaupt ein Gesicht hatten.«431
Die im Impressionismus und der ersten Generation des Expressionismus gesteigerte Wertschätzung der künstlerischen Individualität, die Völker und andere in der Freien Künstlervereinigung 1913 erprobten, verlor unter den Kriegsereignissen und damit aufbrechenden sozialen Gräben an Bedeutung. Besonders in seinem malerischen und grafischen Werk richtete er sich gegen die »Ausbeutung und Entrechtung, aber auch gegen Abgestumpftheit und Lethargie der politisch-sozialistischen Perspektive geprägt sind und das sozialistische Engagement der Künstler in den Vordergrund stellt. In jüngerer Zeit erschien die von Sabine Meinel verfasste und sehr gründlich recherchierte Künstlermonografie zu Leben und Werk des bei weitem am bekanntesten und besterforschten Mitglieds der Gruppe, Karl Völker. Auch zu Martin Knauthe liegen zwei monografische Arbeiten vor, in denen zahlreiche Materialien verarbeitet wurden. Im Jahr 1976 reichte Allmuth Schuttwolf, die später eine Dissertation zur Bildhauerei in Halle vorlegte, ihre Diplomarbeit zu Richard Horn ein. Vgl. Meinel, Karl Völker; Hermann, Martin Knauthe; Scharfe, Architekt Martin Knauthe 1979; Schuttwolf, Richard Horn. 429 Vor allem Martin Knauthe, Alfred Gellhorn und Richard Horn verfassten für die Zeitschrift schriftliche Beiträge. Auch Gerhard Merkel ist mit einem Artikel zur Stadthallenfrage vertreten. Vgl. DW. 430 Außerdem sind die Bildhauer Gerhard Merkel und Richard Horn sowie die Architekten Martin Knauthe und Alfred Gerhard im Illustratorenregister der Zeitschrift »Das Wort« verzeichnet. Vgl. Mauersberger, Das Wort, S. 193–197. 431 Völker, in: Gerhard Voigt, 1000 Jahre Halle.
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Massen«432. Auch Richard Horn erinnerte, dass der Krieg und die russische Oktoberrevolution Themen in den Fokus rückten, die jenseits ästhetischer oder kunstpolitischer Überlegungen lagen. Von der kurzzeitig offen scheinenden politischen Situation beflügelt, fühlten sie sich berufen, als Künstler auf die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung einzuwirken.433 Mit den massenhaften Protestbewegungen in der Bevölkerung noch während des Krieges und den Arbeiter- und Soldatenräten, die im Anschluss an den Aufstand der Kieler Matrosen Anfang November 1918 kurzzeitig in vielen Städten die amtierenden Machthaber verdrängten, wurde die monarchische Vorkriegsordnung obsolet. Obwohl wenig später die neue Staatsregierung mithilfe alter Eliten und der kaiserlichen Armee die sich radikalisierende Revolutionsbewegung untergrub, schien eine völlige Neuordnung der Gesellschaft kurzzeitig möglich. In diesem Klima entstanden die revolutionär gestimmten Künstlergruppen und entwarf auch die Hallische Künstlergruppe ihr Manifest, das Kunst und Künstler in einer neuen gesellschaftlichen Verfasstheit verortet und den Volksbildungsauftrag der Künstler betont. Die Hallische Künstlergruppe war damit Teil einer künstlerischen Nachkriegsbewegung, die auch in zahlreichen anderen Städten, darunter in Berlin, Dresden, Düsseldorf, Darmstadt und Magdeburg, zur Gründung von Künstlergruppen führte.434 Stilistisch knüpften sie an den Vorkriegsexpressionismus an und spitzten dessen soziales Interesse in politischer Hinsicht zu.435 432 Vgl. DW vom 29.07.1924, Nr. 87. In der Ausstellung präsentierte die Künstlergruppe zahlreiche Werke der Künstlerin Käthe Kollwitz. 433 Karl Völker war als Wachmann zum Militärdienst eingezogen worden. Von Otto Glaw, Alfred Gellhorn und Erwin Hahs ist bekannt, dass sie ebenfalls Militärdienst leisteten. Martin Knauthe arbeitete während des Krieges in verschiedenen Architekturbüros in Halle (bei Bruno Föhre, dessen Büro er wegen der kriegsbedingt schlechten Auftragslage verlassen musste) und Berlin. Vgl. StH, Stadtmuseum, S III 453; Meinel, Karl Völker, S. 20 und 39; Glaw, Halle, S. 9; Biographien Burg Giebichenstein, S. 507–544. 434 Die lokalen Künstlergruppen waren teilweise untereinander verbunden. Im Juli 1919 informierte das Volksblatt über den Anschluss der Hallischen Künstlergruppe an die Berliner Novembergruppe als Ortsgruppe. Die anfangs von der Novembergruppe angestrebte Vernetzung mit gleichgesinnten Gruppen in der Peripherie als Ortsgruppen wurde bald wieder aufgegeben, weil deren Ziele zu heterogen und ihr Wille zur Eigenständigkeit zu groß waren. Vgl. Kliemann, Novembergruppe, S. 12. 435 Der vor 1914 vor allem als stilistisch revolutionär empfundene Expressionismus weitete sich nach Ende des Krieges zu einer künstlerischen Bewegung aus, die sich als dezidiert politisch verstand. Zwischen der ersten und zweiten Generation des Expressionismus bestehen hinsichtlich ihrer Solidarität mit den sozial schwachen Bevölkerungskreisen und ihrer stilistischen Ausdrucksmittel Gemeinsamkeiten. Unterschiede ergeben sich mit Blick auf die personelle Zusammensetzung und die Zäsur des Krieges, die unter den Künstlern für Ernüchterung der Augusteuphorie und für eine Politisierung der Bewegung sorgte. In der Forschung wird die expressionistische Bewegung seit den 1980er Jahren als Phänomen gedeutet, das über den Einschnitt des Ersten Weltkriegs hinaus wirksam war (1905–1923). Stephanie Barron schlägt eine zweigeteilte Periodisierung des Expressionismus vor und be-
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Viele der um die Wende 1918/19 gegründeten Gruppierungen verloren unter der sich stabilisierenden politischen Lage bald an Integrationskraft. Während infolge der politischen Ernüchterung zahlreiche Künstlergruppen wenige Jahre nach ihrer Gründung wieder verschwanden – 1921 lösten sich sowohl die Künstlergruppen in Magdeburg und Karlsruhe als auch der Berliner Arbeitsrat für Kunst auf – überlebten manche von ihnen den Niedergang der Anfangseuphorie und fanden zu einem neuen künstlerischen wie politischen Programm.436 Mit ihren Forderungen bezogen sich die Künstler nach 1918 auf Erfahrungen aus der Zeit des Kaiserreichs. Vor diesem Horizont formulierten sie ihre Wünsche für eine zukünftige Stellung der Kunst in der Gesellschaft. Die erste Generation deutscher Expressionisten gelangte im Kaiserreich zwar in einigen Provinzmuseen zu Anerkennung und scharte einen kleinen Kreis aufgeschlossener Bürger um sich. Den in der Brücke und dem Blauen Reiter und ihrem Umkreis prominent geworden Künstlern blieb Anerkennung durch die Reichsregierung oder eine breite Öffentlichkeit aber versagt. Die deutlich spürbare Ablehnung der künstlerischen Moderne und die einseitige öffentliche Förderung etablierter Kunstformen wurde nur punktuell durchbrochen. Auch in Halle zeigte sich das Gegenüber einer konservativen Mehrheit gegen eine kleine Avantgarde an der Auseinandersetzung um Noldes Gemälde in der städtischen Kunstsammlung auf lokaler Ebene.437 Die von der Hallischen Künstlergruppe in ihrem Manifest438 formulierten Ziele für die zukünftige Stellung des Künstlers in der Gesellschaft im Allgemeinen und der ästhetisch modernen Strömungen innerhalb des Kunstsystems im Besonderen speisten sich also aus zwei Quellen: Einerseits sensibilisierten die gesellschaftsumwälzenden Kriegs- und Nachkriegserfahrungen die Künstler für soziale Belange. Andererseits bildeten das kulturelle Klima des Kaiserreichs und der ästhetische Konservatismus unter halleschen Künstlern wie Kunst trachtet die zweite Generation des Expressionismus von 1915 bis 1925 als »idealistische Phase in der Entwicklung des Expressionismus«. Vgl. Barron, Ruf nach einer neuen Gesellschaft, S. 11–13. 436 Vgl. Peukert, Weimarer Republik, S. 43/44; Guenther, Künstlergruppen, S. 118. 437 Für Karl Völker und Richard Horn, zwei der treibenden Kräfte der Hallischen Künstlergruppe, waren diese Erfahrungen für ihre folgende Entwicklung und Positionierung nach dem Krieg bedeutsam: »Schon während der ersten Zeit unserer Zuneigung – für mich war Karl Völker selbstverständlich der hochgeschätzte Meister – ereiferten wir uns für die neue Kunst, die unter dem Begriff ›Expressionismus‹ immer größere Kreise von Künstlern und Kunstliebhabern erfasste.« Vgl. StH, FA 2686, Gedenkworte. 438 Richard Horn verfasste das verschollene Manifest unter dem Titel »Was wir wollen«. Seiner Erinnerung nach wurde es im März 1919 veröffentlicht. In Auszügen in der zehnjährigen Jubiläumsschrift der Novembergruppe abgedruckt, ist es so teilweise überliefert. Vgl. StH, FA 1343, Horn, Autobiographischer Rückblick, S. 27/28; Aus einem Manifest der »Hallischen Künstlergruppe«, S. 22–23, wieder abgedruckt bei: Kliemann, Novembergruppe, S. 179 f.
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konsumenten für die Gruppe eine Kontrastfolie für ihre Vorstellung von der Zukunft als Künstler. Der im Manifest aufgestellte Forderungskatalog bezieht sich sowohl auf die wirtschaftliche Stellung der Künstler als auch auf ihre Funktion innerhalb der Gesellschaft. Nicht zuletzt beinhaltet es auch konkrete Forderungen für eine Aufwertung moderner ästhetischer Positionen. Als Adressat des offenen Briefes wird der »Neue Staat« genannt, auf dessen Verwirklichung die Gruppe hoffte. Im Unterschied zum Künstlerverein auf dem Pflug, der die Interessen der halleschen Künstlerschaft gegenüber lokalen Akteuren vertreten wollte, zielte die Erklärung der Hallischen Künstlergruppe auf die Gesamtheit der freien Künstler. Das Manifest (»Was fordern wir vom neuen Staate?«) wird eröffnet mit der Forderung nach einer »gesicherten materiellen Grundlage der freien Künstler«. Als Angestellte im Staatsdienst sollten die freien Künstler an elementaren und fortbildenden Schulen eingesetzt werden. Insofern wird die Forderung nach einer öffentlichen Trägerschaft künstlerischer Existenz verbunden mit ihrer funktionellen Einbindung in das öffentliche Bildungssystem. Freischaffende Künstler sollten anderen »volksbildenden Berufen« gleichgestellt werden. Als Gegenleistung für ihre materielle Grundversorgung wollten sie den neuen Staat »zu kultureller Blüte … bringen.« Zu diesem Ziel sei es unbedingt erforderlich, dass bereits in den Elementarschulen schichtübergreifend künstlerische Bildung vermittelt werde. In Schulwerkstätten sollten »die praktischen und künstlerischen Fähigkeiten des Kindes geweckt und für das zukünftige Leben zunutze gemacht werden ….«439 Die von freien Künstlern geleiteten Werkstätten bilden in diesem Konstrukt die Voraussetzung für das Entstehen einer Volkskunst. Um die Kluft zwischen autonomer Kunstpraxis und den Bedürfnissen auch weniger gebildeter Bevölkerungskreise zu überbrücken, wird zum Ende des Manifestes die Nähe zum Handwerk betont. Die Autoren verweisen hier ganz bewusst auf eine Gruppe jenseits der »Berufskünstler«, die im Bereich der angewandten Kunst bzw. des Kunstgewerbes arbeiten und so in engerer Fühlung zur alltäglichen Lebenswelt stünden. Mit ihrem Manifest entwerfen die Verfasser ein Bild künstlerischer Existenz, das sich wesentlich von seiner bisherigen Form unterscheiden würde. Es reagiert auf Verunsicherungen, die Künstler unter den Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft erfahren hatten und die sich in den Jahrzehnten um 1900 zuspitzten. Auf der einen Seite stand die Erfahrung der Künstler als Akteure auf dem Kunstmarkt, der gerade für diese Berufsgruppe ein hohes und steigendes Armutsrisiko bot. Auf der anderen Seite führte die unbeantwortete Frage nach der Bedeutung künstlerischer Tätigkeit zu dem Wunsch, einen festen Platz im gesellschaftlichen Gefüge zu beziehen. Die mit der kunstgewerblichen Bewegung um 1900 vorangetriebenen Antwortmöglichkeiten auf diese existenziellen Probleme bildeten für die Mitglieder der Künstlergruppe 439 Dies und die vorigen Zitate siehe: Aus einem Manifest der »Hallischen Künstlergruppe«.
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den argumentativen Werkzeugkasten, auf den sie beim Schreiben des Manifestes zurückgriffen. Nicht zuletzt wiederspiegelt das im Manifest entworfene Bild künstlerischer Existenz die persönlichen sozialen Hintergründe und Karriere wege der in der Gruppe versammelten Künstler. Über den engen Kern der Gründungsmitglieder hinaus stammten die meisten aus Handwerkerfamilien und hatten zu Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn eine handwerkliche bzw. kunstgewerbliche Ausbildung durchlaufen.440 Dass die Künstler vor allem den Staat in der Pflicht sahen, künstlerisches Schaffen durch die Bereitstellung von materiellen Ressourcen und Aufwertung ihrer Stellung als Volkspädagogen zu fördern, wird im Manifest noch durch weitergehende Forderungen unterstrichen. Der Kontakt zwischen zeitgenössischer Kunst und der Gesellschaft sollte nicht auf die schulische Bildung beschränkt bleiben, sondern sich in vielfältigen Angeboten fortsetzen. Vorgesehen war auch, für Ausstellungen Räume zu schaffen, »die kostenlos allen Kunstrichtungen zur Verfügung gestellt werden müssen.« Dabei sollten »moderne[n] und sogenannte anerkannte[n] Kunst« gleichermaßen zu Wort kommen. Das Konzept der Gruppe sieht auch vor, Künstler generell für öffentliche Aufgaben in Anspruch zu nehmen und in (kultur-)politische Entscheidungen einzubeziehen. Auch innerhalb des höheren künstlerischen Bildungswesens (Akademien und Kunstgewerbeschulen) beanspruchten die Künstler mehr Mitspracherecht und forderten, dass Zugangsbeschränkungen aufgehoben und Hierarchien innerhalb der Institute abgebaut werden sollten. Die Umstände der Gründung der Hallischen Künstlergruppe und ihr programmatisches Auftreten mit dem Manifest macht die Gruppe innerhalb des halleschen Kunstsystems zu einer singulären Erscheinung. Vor allem im Vergleich zum Künstlerverein auf dem Pflug lässt sich ermessen, inwieweit die Visionen der Hallischen Künstlergruppe in ihrer Andersartigkeit bedeutsam waren. Während der 1905 gegründete Künstlerverein stark der Tradition des bürgerlichen Vereinswesens verpflichtet war und künstlerische Identität vor allem in ästhetischer Hinsicht und im lokalen Rahmen auslotete, war das Manifest der Künstlergruppe auf grundsätzlichere Fragen des Künstlerseins orientiert. Die strenge statuarische Regelung der Mitgliedschaft im Künstlerverein macht deutlich, dass die Definition des Künstlerseins ein Kernanliegen seines Selbstverständnisses war. Im Verlauf seines Bestehens wurden zunehmend strengere Kriterien für eine Aufnahme definiert und Künstlersein als exklusiver Berufsstand konstruiert. Ganz anders verhielt sich die Künstlergruppe, die ohnehin auf feste Strukturen und einen Eintrag ins Vereinsregister verzichtete. Skeptisch gegenüber Hierarchien und vertraut mit den fließenden Übergängen zwischen 440 Die Künstlergruppenmitglieder Karl und Kurt Völker, Werner Lude, Heinrich Staudte sowie Paul und Richard Horn stammten aus dem handwerklichen Milieu. Siehe Kap. IV, 1 und 2.
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Handwerk und bildender Kunst, sah sie keinen Grund, das Künstlersein nach festen Kriterien zu definieren. In ihrem Manifest loteten die Verfasser die denkbaren Möglichkeiten für eine Stabilisierung künstlerischer Existenz aus und entwarfen in utopischem Sinn eine zukünftige Position des Künstlers in der Gesellschaft. Die Einsicht, dass die hochgesteckten Ziele der realen politischen Entwicklung nicht standhielten, stellte sich bald ein. Die Künstlergruppe, ihr Auftreten und ihre Ziele wurden stark vom Verlauf der scheiternden Revolution und der anschließenden Radikalisierung der politischen Landschaft und städtischen Öffentlichkeit in Halle beeinflusst. Bis zum April 1921 erschütterten gewaltsame massenhafte Auseinandersetzungen auf der Straße und parteipolitische Kämpfe in den politischen Gremien die Stadt Halle und die mitteldeutsche Industrieregion. Es folgte eine Phase der relativen Stabilisierung, in der sich aber weiterhin das politisch rechte und linke Spektrum unversöhnlich gegenüberstanden.441 In diesem gespannten Klima und unter dem Eindruck wachsender gesellschaftlicher Gegensätze und sozialer Nöte der Arbeiterschaft solidarisierte sich die Hallische Künstlergruppe mit den Arbeitern und ihren Anliegen.442 In diesem Prozess näherte sich die bis in die Mitte der zwanziger Jahre aktive Künstlergruppe zunehmend an Positionen der politischen Linken an.443 Mit dem Scheitern der Revolution traten die idealistischen Forderungen ihrer Gründungsphase zugunsten konkreter gesellschaftspolitischer Forderungen zurück. Nachdem sich die Postulate ihres Manifests, verfasst von Richard Horn und publiziert wahrscheinlich im März 1919, in dem sich die Künstler von der gesellschaftsverändernden Macht der Kunst überzeugt sahen und eine dementsprechende Rolle des Künstlers in der Gesellschaft beanspruchten, als unerfüllbar herausstellten, suchte der Kern in der sozialistischen Gesellschaftsideologie eine neue Zielstellung.444 Jenseits ihres Manifestes, das das ferne Ziel einer gesellschaftlichen Neuordnung beschrieb, unternahm die Künstlergruppe viele kleinere, pragmatische Schritte, um die wirtschaftliche Situation der Künstler zu verbessern und öf 441 Vgl. Schmuhl, Halle in der Weimarer Republik. 442 DW vom 15.07.1923, Nr. 29. 443 Als Abgeordneter saß Martin Knauthe, Gründungsmitglied und zentraler Akteur, erst für die USPD (ab 1919) und 1921–1924 für die KPD in der halleschen Stadtverordnetenversammlung. Schon seit Kriegsbeginn beschäftigte er sich mit den Ideen der Arbeiterbewegung und rückte im Zuge der politischen Radikalisierung innerhalb des Parteienspektrums weiter nach links. Auch Karl Völker engagierte sich mit zahlreichen künstlerischen Entwürfen (u. a. für Plakate, Einladungen, Programme) und der Raumgestaltung der 1921 im Glauchaer Schützenhaus eröffneten Druckerei und Produktivgenossenschaft. Das Gebäude, in das auch die Parteileitung einzog, wurde durch Martin Knauthe erweitert und der Sitzungssaal mit Wandmalereien Völkers geschmückt. Vgl. Stadtmuseum, S III 4531. 444 Vgl. Schmock, Verhältnis, S. 108–111.
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fentliche Aufmerksamkeit zu erlangen. Zu diesen Zweck entfaltete die Künstlergruppe eine rege Ausstellungstätigkeit und übernahm auch in kunstpolitischer Hinsicht innerhalb der halleschen Künstlerschaft eine führende Rolle. Die erste Hallische Kunstausstellung, die im Winter 1919/29 in der Oberrealschule am Wettiner Platz zu sehen war und sowohl beim heimischen Publikum als auch überregional viel Beachtung und Anerkennung fand, war das Ergebnis des Engagements der Künstlergruppe. Auf Eingabe Martin Knauthes erwirkte sie städtische Mittel zur Unterstützung der lokalen Künstlerschaft. Aus den vom Hallischen Künstlerrat, der ebenfalls auf Initiative der Künstlergruppe eingerichtet wurde,445 verwalteten Mitteln wurde unter anderem diese erste umfassende Präsentation der heimischen Kunstproduktion, die zugleich als Verkaufsausstellung den Künstlern die Möglichkeit zum Gelderwerb bot, bestritten. Dieser ersten Kunstausstellung nach dem Krieg, die die Existenz einer lokalen Künstlerszene für viele überhaupt erst ins Bewusstsein rückte, folgten jährlich weitere Kunstausstellungen, die unter dem Titel »Hallische Kunstschau« einen Überblick über das lokale Kunstschaffen boten.446 Die Künstlergruppe veranstaltete darüber hinaus auch in eigener Regie 1924 eine Ausstellung mit Werken von Käthe Kollwitz in Verbindung mit der Galerie Emil Richter in Dresden. Als Aussteller ihnen künstlerisch und politisch vorbildhafter Kunst, die »das Entsetzen über millionenfache Katastrophen, die Tag für Tag sich ereignen, die Hunderttausenden von Männern und Frauen den Stempel des Knechttums aufdrücken …«447, treten sie auch als Mittler anderer künstlerischer Positionen auf. Sie stimulieren das hallesche Publikum nicht nur mit ihrer eigenen künstlerischen Verarbeitung des Expressionismus, sondern suchen ihren selbstgestellten Bildungsauftrag bzw. die angestrebte Wiederannäherung von Kunst und Publikum mittels öffentlicher Vorträge zu erreichen. Auf Einladung der Künstlergruppe referierte der Leipziger Kunsthistoriker Eckart von Sydow, der auch eine Monografie448 zum Thema verfasste, im Winter 1919 und Frühjahr 1920 insgesamt dreimal in Halle über den Expressionismus als künstlerische und kulturelle Erscheinung.449 Im Rahmen der halleschen Volkshochschule 445 VB vom 01.08.1919, Nr. 178. Der Autor kritisiert zum einen die ausbleibende städtische Unterstützung für die einheimischen Künstler und entwirft andererseits einen Katalog möglicher Künstlernotstandsarbeiten, die von einem Arbeitsrat zu koordinieren wären. 446 Richard Horn erinnert, dass die Kunstschauen oft in der ehemaligen Garnisonkirche sowie einmal jeweils in den Anbauten des Roten Turmes und im Hof des Kaufhauses Ritter stattfanden. Die letzte wurde 1933 durchgeführt. Vgl. StH, FA 1343, Horn, Autobiographischer Rückblick. 447 DW vom 29.07.1924, Nr. 87. 448 Vgl. von Sydow, Kultur und Malerei, Berlin 1920. 449 Vgl. VB vom 25.11.1919, Nr. 276 (Beilage); Meinel, Karl Völker, S. 40 f. – Sydow verfasste einen wohlwollenden Artikel über die im November 1919 eröffnete Hallische Kunstausstellung, die erstmals aus Halle stammende expressionistische Kunst präsentierte. Vgl. von Sydow, Ausstellungen, S. 251.
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boten Mitglieder der Künstlergruppe Vorträge bzw. Kurse an, in denen sich die Besucher mit Kunst selbst praktisch auseinandersetzen bzw. in Vorlesungen über Aspekte der zeitgenössischen Kunst informieren konnten.450 Die Mitte der zwanziger Jahre markiert das Ende der Hallischen Künstlergruppe. Richard Horn erinnert die Auflösung der Gruppe vor dem Hintergrund einer allgemein spürbaren Ernüchterung. Diese habe einen Wandel im Verhalten der Künstler zur Folge gehabt, die sich zunehmend aus den künstlerischen Kollektiven zurückgezogen und wieder vereinzelt ihrer Wege gegangen seien. Die kleine Kerngruppe blieb jedoch weiterhin bestehen und verlagerte ihre Aktivität auf einen anderen, ökonomisch orientierten Zusammenschluss »in der Erkenntnis, daß eine gewerkschaftliche Organisation in den sich stark verändernden Verhältnissen notwendig wurde.«451
5.4 Der Hallische Künstlerrat und der Wirtschaftsverband bildender Künstler als berufliche Interessenverbände der halleschen Künstlerschaft 5.4.1 Der Hallische Künstlerrat als Förderer einer gemeinsamen beruflichen Identität Nur wenige Monate, nachdem sich die Hallische Künstlergruppe formiert hatte, wurde eine weitere Gemeinschaft ins Leben gerufen, die in diesem Fall die Interessen aller halleschen Künstler vertreten sollte. Zuvor stand die Einsicht, dass die gemeinschaftliche Organisation aller künstlerisch Berufstätigen als gebündelte Interessenvertretung effektiver in der vielstimmigen Nachkriegsgesellschaft um öffentliche Fördermittel konkurrieren würde.452 Der aus 14 Mitgliedern und 6 Stellvertretern bestehende Künstlerrat wurde angeführt von einem dreiköpfigen Vorstand. Jenseits ästhetischer Grenzziehungen, die gerade in den ersten Jahren nach dem Krieg und vor allem in der ersten Hallischen Kunstausstellung im Winter 1919 betont wurden, agierte der Künstlerrat vor allem im wirtschaftlichen Interesse der Künstlerschaft. Der Hallische Künstlerrat konstituierte sich am 14. August 1919. Seine Wahl erfolgte durch die Mitglieder des Künstlervereins auf dem Pflug, der Hallischen 450 Paul Horn hielt zwischen 1926 und 1929 insgesamt 12 Kurse im Modellieren und Karikaturenzeichnen ab. Knauthe und Gellhorn sprachen in ihren Vorträgen über moderne Architektur bzw. stellte Knauthe im ersten Trimester 1923 zeitgenössische hallesche Künstler vor. Vgl. Verzeichnis der Dozenten und Themen seit 1919, S. 29–63. 451 StH, FA 1343, Horn, Autobiographischer Rückblick, S. 27/28, 38. 452 Längst hatten sich für diverse andere Berufe Interessenverbände gegründet. Georg Jahn erklärte die späte berufsgenossenschaftliche Organisation bildender Künstler mit der hohen Bedeutung künstlerischer Individualität, die der zwangsläufigen Uniformierung in einer gemeinsamen Organisation entgegen stehe. Vgl. Jahn, Künstlerindividualität.
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Künstlergruppe und der Ortsgruppe des BDA.453 Alle der zwanzig gewählten Ratsmitglieder waren zugleich Mitglied der wählenden Künstlergruppen. Nach öffentlich geäußerter Kritik an seinem Zustandekommen und seinem Anspruch, für die gesamte Künstlerschaft zu sprechen, räumten seine Sprecher ein: »Der ›Hallische Künstlerrat‹ wurde gewählt von dem Künstlerverein ›Auf dem Pflug‹, von der ›Hallischen Künstlergruppe‹ und vom ›Bund Deutscher Architekten‹: diesen drei Gruppen sind jedoch nicht alle hallischen Künstler beigetreten: Der Künstlerrat vertritt damit zwar nicht sämtliche hallische Künstler, war und bleibt aber für die Interessen aller Künstler tätig.«454
Die im August bewilligten Mittel für die »Künstlernotstandshilfe« gaben den Anlass für seine Gründung und waren in seiner Anfangsphase das zentrale Thema seiner Aktivität. Erstmals aktiv wurde der Künstlerrat im Vorfeld der für den Winter 1919 vorbereiteten Hallischen Kunstausstellung, die aus den von der Stadt zur Verfügung gestellten Mitteln finanziert wurde.455 Auf Anregung der Hallischen Künstlergruppe, die in ihrem Manifest gefordert hatte, dass Künstler selbst an öffentlichen kunstpolitischen Entscheidungen und Gremien teilhaben sollten, begann das Gremium seine Arbeit.456 Den Vorsitz des Hallischen Künstlerrates führte der Architekt und Stadtverordnete (USPD, später KPD) Martin Knauthe. In den dreiköpfigen Vorstand wurden außerdem Wilhelm Busse-Dölau – zeitgleich im Vorstand des Künstlervereins auf dem Pflug – als zweiter Vorsitzender sowie der Schriftsteller Georg Radegast in die Position des Schriftführers gewählt. Damit waren zwei Mitglieder der initiierenden Hallischen Künstlergruppe im Vorstand vertreten. Die übrigen Mitglieder verteilten sich mit sieben zu sechs zu vier auf die Hallische Künstlergruppe, den Künstlerverein auf dem Plug und die Ortsgruppe des Bundes Deutscher Architekten. In dem Gremium trafen jeweils die beiden Kerngruppen des älteren Künstlervereins auf dem Pflug und der gerade gegründeten Künstlergruppe aufeinander.457 Mit dem Künstlerrat wurde in Halle erstmals eine Instanz gebildet, deren Augenmerk sich bewusst auf die berufsbedingt 453 Vgl. SZ vom 18.08.1919, Nr. 384. 454 SZ vom 05.12.1919, Nr. 570. 455 Insgesamt 100.000 Mark wurden von der Stadtverordnetenversammlung bewilligt. Angeregt und vorangetrieben hatte dies das Mitglied der Hallischen Künstlergruppe Martin Knauthe. Zu den Verhandlungen und Hintergründen siehe auch Kap. III, 2.2, S. 107. 456 Die Künstlergruppe rief in verschiedenen halleschen Tageszeitungen dazu auf, ästhetisch-stilistische Gegensätze der Künstler untereinander im gemeinsamen Interesse zu überwinden. Vgl. VB vom 01.08.1919, Nr. 178; SZ vom 29.07.1919, Nr. 350. 457 Bis auf den 1919 verstorbenen Österling gehörten alle Gründungsmitglieder (Richard Horn, Paul Horn, Martin Knauthe, Karl Völker) der Hallischen Künstlergruppe dem Künstlerrat an. Für die dem Pflug zugehörigen Künstler Wilhelm Busse-Dölau, Georg Klein und Heinrich Kopp kann ebenfalls von einer Kerngruppe gesprochen werden, waren doch alle für einige oder mehrere Jahre im Vereinsvorstand. Ewald Manz und Sigmund von Sallwürk
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gemeinsame ökonomische Interessenlage der Künstler richtete und die Differenzen ästhetischer und weltanschaulicher Natur ebenso bewusst überbrückte. Kurz nach Aufnahme seiner Geschäftstätigkeit überreichte der Hallische Künstlerrat der Stadt eine Denkschrift über die Durchführung der Künstlernotstandsarbeiten. Der Katalog potentieller Arbeitsaufgaben ähnelte dabei stark den von der Künstlergruppe erarbeiteten Vorschlägen, die schon Anfang August in der Presse veröffentlicht wurden. Dieser 22 Nummern umfassende Katalog beinhaltete vor allem Vorschläge, die die künstlerische Gestaltung von öffentlichen Denkmalen, Plätzen sowie Wohn- und anderen Gebäuden betraf. Auch der Einsatz der Künstler im Bildungswesen wurde genannt und greift damit eine wesentliche Forderung aus dem Manifest der Künstlergruppe auf. Einige der Vorschläge betrafen auch die Gesamtheit der lokalen Kunstszene, die mit Ausstellungsräumen und Publikationsprojekten gefördert werden könnte.458 Der Künstlerrat behielt sich die Auswahl der Künstler vor, die Aufträge im Rahmen der Künstlernotstandshilfe ausführen würden. Dazu wurden sowohl die finanzielle Bedürftigkeit459 des bewerbenden Künstlers als auch seine künstlerische Qualität beurteilt. Mehrfach sah sich der Künstlerrat zu Kritik an den städtischen Gremien veranlasst, die den Künstlerrat als Interessenvertretung der halleschen Künstlerschaft nicht berücksichtigte und Aufträge stattdessen amtsintern vergab. Als die Stadt bei der Neugestaltung der Straßenbahnreklame die selbstständig tätigen Künstler wieder nicht berücksichtigte, forderte der Künstlerrat, diese endlich als Experten für Stadtraumgestaltung anzuerkennen.460 Die im November 1919 eröffnete Hallische Kunstausstellung war die erste große öffentliche Veranstaltung, die der Künstlerrat organisierte. Wie die an einzelne Künstler bewilligten Künstlernotstandsarbeiten und durchgeführten Wettbewerbe war deren Intention vor allem, den Künstlern eine Möglichkeit zum Verkauf ihrer Werke zu geben. Über Zeitungsinserate rief der Künstlerrat waren beide seit 1914 Mitglied im Pflug (Manz Wiedereintritt). Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband, Bl. 1–46. 458 Alle bis Punkt 21 benannten potentiellen Künstlerarbeiten betreffen nur den Bereich der bildenden Kunst und zielen vor allem auf kunstgewerbliche Beschäftigungsmöglichkeiten ab. Der Hinweis auf »Komponisten, Schriftsteller und andere[r]«, für die »Notstandsarbeiten … unter fachmännischer Mitberatung dieser Künstlergruppen zu schaffen« seien, erfolgt am Ende der Aufstellung. Obwohl der Künstlerrat auch andere Berufsgruppen jenseits der bildenden Kunst ansprach, blieb deren Beteiligung marginal. Unter den zwanzig gewählten Mitgliedern des Künstlerrates waren lediglich zwei Schriftsteller vertreten. Im Rahmen der Künstlernotstandsarbeiten ist lediglich die Veröffentlichung einer ausstellungsbegleitenden Zeitung als Maßnahme zur Unterstützung von Schriftstellern bekannt. Hermann Lange beschreibt darin die wirtschaftlich prekäre Lage der Schriftsteller, die »unvergleichlich schlechter[e] als die der Maler und Bildhauer« sei. Vgl. Lange, Zum Geleit, S. 1–2. 459 Bewerber um die Teilhabe an den Künstlernotstandsarbeiten mussten in ihrem schriftlichen Antrag auch ihre »wirtschaftliche Zwangslage« begründen. Vgl. StH, Vereine, Nr. 163, Bl. 9 (Denkschrift des Hallischen Künstlerrates, Anlage B). 460 Vgl. HN vom 10.06.1921, Nr. 133.
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alle bildenden Künstler der Stadt dazu auf, ihre Werke vorzulegen. Eine von ihm bestellte Jury sollte dann über ihre Zulassung zur Ausstellung entscheiden. Aufgrund der erheblichen künstlerischen Unterschiede der beteiligten Gruppen wurden innerhalb der Jury drei Unterabteilungen anhand der Gruppengrenzen eingerichtet, die die eingereichten Werke beurteilten. Die teilnehmenden Künstler waren dazu verpflichtet, ihren Werken eine Liste mit Werkdetails und dem Preis, von dem im Fall des Verkaufs zehn Prozent an den Künstlerrat abzuführen waren, mitzugeben. Die in drei Sektionen aufgeteilte Ausstellung, die jeweils von den drei im Künstlerrat zusammengeschlossenen Gruppen bespielt wurden, fand sowohl unter der heimischen Bevölkerung als auch überregional großes Interesse. Der Verkaufserfolg war jedoch bescheiden. In den Folgejahren fanden weitere Ausstellungen dieses Formats unter Beteiligung der drei Künstlergruppen statt.461 Aus ihrer Zusammenarbeit im Künstlerrat erwuchs eine engere Verbindung der Künstler untereinander, die darin gipfelte, dass sie in der ehemaligen Garnisonkirche am Domplatz in gemeinsamer handwerklicher Tätigkeit Ausstellungsräume herrichteten: »Ein großer Teil der bekannten hallischen Architekten, Maler und Bildhauer verrichteten hier Anstreicher-, Zimmerer- und Handlangerarbeiten. Ob es im Deutschen Reiche noch eine Stadt gibt, in der die Künstler aller Richtungen, das muß betont werden, sich so zu gemeinsamer, handwerklicher Arbeit finden? Gott sei Dank, daß hier wenigsten der Dünkel des Bohème-Künstlers, des Staffeleimalers und Salonbildhauers, überwunden ist; daß die hallischen Künstler genauso Handwerker sind wie Künstler. … Es soll eben alles daran gesetzt werden, daß nicht auch die bildende Kunst von den schweren wirtschaftlichen Verhältnissen verdrängt wird. Ein Symbol des Aufbaus einer Kultur ist dieses Zusammenarbeiten: und der Zufall wollte es, daß gerade in dem Teile unserer Stadt, der im Mittelalter entstand, wo alles Gemeinschaftsarbeit war, die Künstler sich zu gemeinsamer Arbeit gefunden haben.«462
Der hier im Herbst 1922 beschworene Gemeinschaftssinn der Künstler, der über kunstphilosophische und stilistische Differenzen scheinbar spielerisch hinwegtrug, gründete vor allem auf der Wahrnehmung der Künstler als einer Schicksalsgemeinschaft. Das Einvernehmen der Künstler untereinander bröckelte jedoch schon im Frühjahr des Folgejahres: In einer Art Nachruf auf den Künstlerrat beschwert sich der Autor, dass unter den fortschrittlicheren Künstlern ein gemeinsamer Wille fehle und die reaktionären Künstler an Macht gewännen.463 Der Leitgedanke der vom Künstlerrat herausgegebenen Hallischen 461 Schon im Frühjahr 1920 fand eine kleinere Verkaufsausstellung im Restaurant »Zum Schultheiß« statt, die die anhaltende Not der Künstler lindern sollte. Vgl. HZ vom 10.03.1920, Nr. 59. 462 HN vom 02.10.1922, Nr. 230. 463 DW vom 22.04.1923.
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Kunstausstellungszeitung »das Alte zu achten und das Neue zu suchen«464 hatte innerhalb des Künstlerrates binnen kurzer Zeit an Gültigkeit verloren. Dass sich der Künstlerrat auch für überregionale Aspekte des Wirtschaftslebens der Künstler engagierte, ist nur in einem Punkt überliefert. So geriet die zu Beginn der zwanziger Jahre reformierte Steuergesetzgebung in den Fokus des Rates. Im Rahmen des im Dezember 1919 erlassenen Umsatzsteuergesetzes wurde Kunst als Luxusgut definiert und sollte zukünftig mit 15 % Umsatzsteuer belegt werden. Problematisch sieht er vor allem, »daß der jetzt meist in wirtschaftlicher Bedrängnis lebende bildende Künstler 15 v. H. des Ertrages abführen soll, während der meist viel mehr verdienende Filmschriftsteller durch das Umsatzsteuergesetz nur zu einer Abgabe von 1 ½ v. H. gezwungen wird.«465 In einem Protestschreiben an die Nationalversammlung wollte der Hallische Künstlerrat, nach dem Vorbild anderer lokaler Wirtschaftsverbände, gegen das Gesetz Einspruch erheben. Obwohl sich der Hallische Künstlerrat auf überregionaler Ebene um Vernetzung bemühte, kam es erst mit der Neugründung des Wirtschaftsverbandes bildender Künstler Halle Ende 1922 zur institutionalisierten Zusammenarbeit mit anderen Wirtschaftsverbänden.466 Die Zusammenarbeit mit dem national agierenden und in Ortsgruppen organisierten Reichswirtschaftsverband im Herbst 1923 war eine der letzten Aktionen des Künstlerrates. Wie schon bei seiner Gründung war der Künstlerrat erneut damit betraut, staatlich gewährte Hilfsleistungen unter bedürftigen städtischen Künstlern zu verteilen. Auf Drängen des Reichswirtschaftsverbandes bewilligte die Regierung 250 Milliarden Mark, die in eigener Organisation innerhalb der »Notgemeinschaft der deutschen Kunst« über lokale Künstlerverbände verteilt werden sollten. In Halle übernahm der Künstlerrat die Aufgabe, an »besonders befähigte, zugleich aber bedürftige und möglichst jüngere künstlerische Persönlichkeiten«467 nach vorheriger schriftlicher Anmeldung Künstlermaterialien zu ¹⁄₅ des aktuellen Preises auszugeben. Zur Auswahl der Künstler wurde ein Kuratorium eingesetzt, das auch Künstler zu berücksichtigen hatte, die nicht den im Künstlerrat organisierten Künstlervereinigungen angehörten.468 464 Lange, Zum Geleit, S. 2. 465 HN vom 10.03.1920, Nr. 59. 466 Auf einem Treffen mit Abgesandten anderer mitteldeutscher Künstlerräte im Juni 1920 forderte er die Schaffung eines Reichskünstlerrates und wurde von einem Berichterstatter als Ausgangspunkt der Künstlerratsbewegung bezeichnet. Als sich in Weimar im gleichen Jahr Delegierte verschiedener lokaler Wirtschaftsverbände trafen und den Reichswirtschaftsverband bildender Künstler begründeten, waren Vertreter aus Halle jedoch nicht dabei. Vgl. HAZ vom 23.06.1920; Marcus, Reichswirtschaftsverband bildender Künstler Deutschland (1920). 467 HN vom 04.10.1923, Nr. 233. 468 Vgl. ebd. – Der Reichswirtschaftsverband kritisierte, dass den lokalen Künstlervereinen zugetraut wurde, die Auswahl nach qualitativen Kriterien vorzunehmen. Um eine
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Während der Künstlerrat an Zustimmung verlor und sich Vorwürfe über seine Bürokratisierung und Untätigkeit gefallen lassen musste,469 etablierte sich mit dem »Wirtschaftsverband bildender Künstler Halle« ein neuer Zusammenschluss. Es scheint, als sei der Künstlerrat, der noch einige Monate parallel zum Wirtschaftsverband bestand, im Verlauf des Jahres 1923 obsolet geworden.470 Zum einen hatte sich mit dem Niedergang der revolutionären Rätebewegung die organisatorische Form des Künstlerrates, dessen Legitimität seit seiner Gründung in Zweifel stand, überlebt. Der im Vereinsregister des Regierungsbezirkes eingetragene Wirtschaftsverband, der gemäß seiner Satzung einen Vorstand wählte und dem alle bildenden Künstler, jenseits ihrer sonstigen Gruppenmitgliedschaften, beitreten konnten, entsprach den zeitgenössischen Anforderungen an eine wirtschaftliche Standesvertretung in weit höherem Maß. Der Zuspruch, den der Verband erhielt – Richard Horn erinnert sich, dass er etwa 80 Mitglieder umfasste –, belegt, dass die wirtschaftliche Not der Künstler auch über die unmittelbare Nachkriegszeit hinaus anhielt und ihrem Bedürfnis nach einer statuarisch geordneten Interessengemeinschaft Rechnung trug.471 Andererseits war mit dem schnellen Verfall der von der Stadt zugesprochenen Künstlernotstandshilfen während der Inflationsjahre dem Künstlerrat ein wesentlicher Antrieb verlorengegangen und musste eine neue Arbeitsgrundlage ersonnen werden. Ungeachtet dessen war der Künstlerrat als erstes gemeinsames Gremium verschiedener hallescher Künstlergruppen und Vertretung der gesamten lokalen Künstlerschaft bedeutsam für die Entwicklung eines spezifischen berufsständischen Bewusstseins. Das Besinnen auf die gemeinsamen Problemlagen, die sie vor allem in der wirtschaftlich prekären Lage des Künstlerberufs im kapitalistischen Kontext erkannten, bildete die Grundlage für ihre Zusammenarbeit. Nicht zuletzt waren die gemeinsam errungenen, wenn auch bescheidenen Erfolge Motivation, sich auch in Zukunft gemeinschaftlich zu organisieren.
gerechte Verteilung der Mittel zu gewährleisten, wäre die Wahl eines Vergabegremiums durch die freie Künstlerschaft vor Ort zu bevorzugen gewesen. Da im Hallischen Künstlerrat verschiedene Künstlergruppen vertreten waren, bestand hier weniger die Gefahr, dass bestimmte Stilrichtungen bevorzugt würden. Vgl. N. N., Notgemeinschaft. 469 Vgl. DW vom 22.04.1923. 470 Zuletzt zeugt ein Zeitungsbericht über die Ausgabe verbilligten Künstlermaterials im Auftrag der Notgemeinschaft der deutschen Kunst von seiner Existenz. Vgl. HN vom 04.10.1923, Nr. 233. 471 Vgl. StH, FA 1343, Horn, Autobiographischer Rückblick, S. 38. –Die beim Amtsgericht des Regierungsbezirks Merseburg archivierten Akten und andere Quellen belegen namentlich die Zugehörigkeit von 47 Künstlern (insgesamt während der Bestehens 1922–1933). Mitgliederlisten sind nicht überliefert und es ist anzunehmen, dass mehr als die 47 namentlich bekannten Künstler dem Wirtschaftsverband zugehörten. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband.
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5.4.2 Einheit der Künstler als wirtschaftliche Interessengruppe – die Ortsgruppe und der Dachverband des Wirtschaftsverbandes deutscher Künstler Obwohl beide Institutionen eine Zeit lang parallel bestanden, kann der Wirtschaftsverband als Nachfolger des Künstlerrates bezeichnet werden. Wenn auch sein Zustandekommen und seine Verfasstheit anderer Art waren, bestehen sowohl hinsichtlich der beteiligten Personen als auch der Ziele wichtige Gemeinsamkeiten. Unter Führung Otto Fischer-Lambergs, bildender Künstler und tätig als Universitätslektor und Zeichenlehrer, wurde während der Gründungssitzung am 2. November 1922 eine Kommission zur Erarbeitung einer Satzung eingesetzt. Neben Fischer-Lamberg gehörten Paul Horn, Alfred Gellhorn und Clemens Vaccano dem ersten gewählten Vorstand an. Gemeinsam mit Franz Dubbick, Willy Martini und Georg Schramme erarbeiteten sie eine Satzung, die auf einer zweiten Sitzung am 11. November 1922 von den anwesenden Mitgliedern angenommen wurde. Horn, Dubbick und Schramme waren schon im Hallischen Künstlerrat vertreten. Im Gegensatz zum Künstlerrat, der sich aus Angehörigen des Künstlervereins auf dem Pflug, dem Bund Deutscher Architekten und der Hallischen Künstlergruppe speiste, erscheint der Wirtschaftsverband als gruppenunabhängigere Institution. Die Eigenständigkeit verfestigte sich in der Personalie des Vorsitzenden. Fischer-Lamberg, seit 1912 in Halle ansässig und bis 1927 jährlich als Vorsitzender wiedergewählt, war keiner der halleschen Künstlergruppen durch eine aktive Mitgliedschaft verbunden.472 Die anderen Vorstandsmitglieder bzw. Angehörigen des Satzungsausschusses gehörten jeweils der Hallischen Künstlergruppe bzw. dem Künstlerverein auf dem Pflug an. Wie im Künstlerrat fanden Vertreter unterschiedlicher stilistischer und weltanschaulicher Prämissen in Fragen wirtschaftlicher Standesinteressen zusammen.473 Die Hallische Künstlergruppe, die den Künstlerrat initiiert hatte, war zwar weiterhin über die Mitgliedschaft ihrer Anhänger im Wirtschaftsverband präsent, verlor aber ihre Führungsrolle zugunsten des eigenständigen Charakters des Wirtschaftsverbandes. Ebenso zog sich Martin Knauthe aus der Führungsriege des Wirtschaftsverbandes zurück. Nach Ende des Weltkrieges hatte er als Lokalpolitiker und Künstler Schlüsselpositionen im halleschen Kunstsystem besetzt und die öffentliche Wahrnehmung und Unterstützung sowie Vernetzung der Künstler untereinander vorangetrieben. Stattdessen wurde Alfred Gellhorn, 472 Vgl. ebd., Bl. 2 und 15–21. 473 Paul Horn und Alfred Gellhorn zählten beide zum Kern der Hallischen Künstlergruppe, der auch der Architekt Schramme angehörte. Clemens Vaccano und Franz Dubbick waren Mitglieder des Künstlervereins auf dem Pflug. Wie Fischer-Lamberg war Martini den Quellen nach keiner der beiden Gruppen zuzuordnen. Auch zahlreiche der anderen bekannten Mitglieder sind entweder im Pflug oder der Künstlergruppe organisiert.
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Mitglied der Hallischen Künstlergruppe und Bürokollege Knauthes, in der Anfangsphase des Wirtschaftsverbandes einflussreich.474 Die nach anfänglicher Euphorie mancher Künstler einsetzende Ernüchterung bestimmte das Auftreten des Wirtschaftsverbandes, der sich gänzlich unpolitisch gab. Er wandte sich von weltanschaulichen Fragestellungen ab und konzentrierte sich stattdessen auf wirtschaftliche Aspekte der Künstlerexistenz. Die Interessenverschiebung entsprach der veränderten Haltung eines Teils der Künstler, sodass die Hallische Künstlergruppe Mitte der zwanziger Jahre im Wirtschaftsverband aufging. Richard Horn, einst im Zentrum der revolutionsgetriebenen Künstlergruppe, löste 1928 Fischer-Lamberg an der Vereinsspitze ab und blieb bis zu seinem erzwungenen Abschied 1933 Vorsitzender.475 Zudem fand innerhalb des Verbandes eine Zuspitzung der hier vertretenen Interessen statt, indem sich das berufliche Spektrum seiner Mitglieder verengte. Im Verband waren weder Angehörige des Bundes Deutscher Architekten an erwähnenswerter Position vertreten noch waren länger Komponisten und Schriftsteller in dem Zusammenschluss erwünscht.476 Der Wirtschaftsverband beabsichtigte als »Berufsorganisation die bildenden Künstler von Halle und Umgebung in Berufs- und Existenzfragen durch Beratung und Vertretung ihrer Interessen zu fördern«477 und konzentrierte seine Aufmerksamkeit auf eine künstlerische Berufsgruppe. Anders als der Künstlerrat, in dem sich nur ein kleiner Teil der lokalen Künstlerschaft als gewählte Interessenvertretung wiederfand, stand der Wirtschaftsverband allen »in Halle und Umgebung wohnende[n] Künstler[n]« für eine Mitgliedschaft offen. »Sonstige Künstler und Kunstfreunde« hatten die Möglichkeit, dem Verein als außerordentliche Mitglieder beizutreten. Der Vorstand, bestehend aus einem Vorsitzenden und mehreren Beisitzern, wurde jährlich von der Mitgliederversammlung neu bestellt und entschied über den Eintritt 474 Gellhorn war Mitglied des ersten Vorstandes und unterzeichnete als Mitautor die Vereinssatzung, die er den Mitgliedern in der folgenden Versammlung vorstellte. In Berlin schloss er sich erneut dem Wirtschaftsverband an und wurde zu Beginn der dreißiger Jahre in den Vorstand der Dachorganisation gewählt, dem sich zuvor die hallesche Gruppe als Ortsverein angeschlossen hatte. Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband, Satzung und Bl. 2; Nungesser, III. Der Gau Berlin, S. 65. 475 Vgl. StH, FA 1343, Horn, Autobiographischer Rückblick, S. 27/28, 40. 476 Obwohl weiterhin Architekten aufgenommen wurden, zogen sich die Mitglieder des Lokalverbandes des BDA aus aktiven Posten der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessenvertretung mit den bildenden Künstlern zurück. Es ist anzunehmen, dass der inzwischen reformierte Bund Deutscher Architekten und seine Neuordnung auch auf lokaler Ebene zu Beginn der zwanziger Jahre dem Bedürfnis nach einer berufsspezifischen wirtschaftlichen Organisation der Architektenschaft genügte. Julius Kallmeyer, Reinhold Knoch, Georg Rödiger und Arthur Leinbrock finden sich nicht mehr unter den bekannten Mitgliedern des Wirtschaftsverbandes. 477 LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband, Satzung, § 2.
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von Neumitgliedern, den diese vorher schriftlich anzuzeigen hatten. Wenigstens einmal jährlich kamen die Mitglieder satzungsgemäß zusammen, konnten aber bei Bedarf (auf Wunsch von mindestens 15 Personen) weitere Versammlungen einberufen. Die Satzung des Wirtschaftsverbandes, dessen Eintragung im Mai 1923 vom Vorsitzenden Otto Fischer-Lamberg beantragt wurde, bleibt in ihren 14 Paragrafen beschränkt auf bürokratisch-organisatorische Regelungen. Nur bei der Bestimmung des Vereinszwecks gibt sie Hinweise auf die inhaltliche Ausrichtung des Vereins. Im Unterschied zur Künstlergruppe und dem Künstlerrat erfolgte die Einrichtung des Wirtschaftsverbandes wohlüberlegt und nach pragmatischen Grundsätzen. Angelehnt an die Strukturen anderer Berufsvertretungen bzw. Vereine strebten die Gründer an, eine stabile und effektive Interessenvertretung zu etablieren.478 Der hallesche Wirtschaftsverband ist unbedingt vor dem Hintergrund deutschlandweiter Gründungen von lokal agierenden künstlerischen Berufsverbänden einzuordnen. Sie konzentrierten sich allesamt auf die wirtschaftlichen Interessen der Künstler. Im Gegensatz zum überregionalen Bund Deutscher Architekten, dessen aktives Zentrum auf Einladung von Architekten lokale Unterorganisationen gründete, kam der hallesche Wirtschaftsverband auf Initiative von Akteuren vor Ort zustande. Dass der Blick der Gründer dennoch auf ähnliche Initiativen andernorts fiel, zeigt die Einladung eines Magdeburger Künstlers zur ersten Sitzung, der über den dort begründeten Künstlerwirtschaftsverband berichtete.479 Auch in anderen mitteldeutschen Städten wie Leipzig, Dresden, Weimar und Gera bestanden bereits solche Vereinigungen. Auf einem gemeinsamen Treffen Ende 1920 beschlossen sie bereits die Gründung eines Dachverbandes.480 Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich lokale Wirtschaftsverbände bildender Künstler in Berlin, München und Dresden gebildet und 1913 im »Kartell der Wirtschaftsverbände bildender Künstler« vereinigt. Mit dem im Januar 1921 gegründeten »Reichswirtschaftsverband bildender Künstler« wurden die Integrationsbestrebungen der Vorkriegszeit fortgeführt. Unter der Leitung von Otto Marcus (1921–1931) wurde in Berlin eine Geschäftsstelle eingerichtet. Die verbandseigene Zeitschrift »Kunst und Wirtschaft« informierte alle Mitglieder über rechtliche Fragen, Wettbewerbe, Mitteilungen aus den Ortsverbänden sowie über die Arbeitsfortschritte des Verbandskopfes, der gegenüber der Regierung die Künstlerinteressen vertrat.481 Otto Marcus formu-
478 Nur an einer Stelle ist überliefert, dass sich die Mitglieder zum Vergnügen zusammenfanden. Im März 1925 wurde ein geselliger Abend im halleschen Zoo veranstaltet, zu dem auch Frauen und außerordentliche Mitglieder eingeladen waren. Vgl. Fischer-Lamberg, Halle a. S. Wirtschaftsverband bildender Künstler, in: KuW, 4. Jg. (1923), Heft 10, S. 3. 479 Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband, Bl. 2. 480 Vgl. Marcus, Reichswirtschaftsverband 1920, S. 1. 481 Vgl. Nungesser, I. Der Reichs(wirtschafts)verband bildender Künstler, S. 9–11.
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lierte 1920 die Ziele des Verbandes und legte das Hauptaugenmerk der Berliner Geschäftsstelle auf die Zusammenarbeit mit der Regierung: »Der Verband bezweckt die einheitliche Förderung der wirtschaftlichen und so zialen Lage der bildenden Künstler, insbesondere durch den Zusammenschluß der in den einzelnen Teilen des Deutschen Reichs bestehenden Wirtschaftlichen Verbände bildender Künstler und verwandter Organisationen. Er beabsichtigt, den Ausbau bestehender und die Schaffung neuer sozialer und wirtschaftlicher Gesetze für die bildenden Künstler, Einflußnahme auf die gesetzliche oder private Regelung der Hinterbliebenenfürsorge, Unfall-, Alters-, Invaliden- und Arbeitslosen-Versorgung, sowie auf das Krankenkassenwesen, Materialversorgung; auch die Empfehlung und Unterstützung aller wirtschaftlichen Selbsthilfe-Einrichtungen der Künstlerschaft gehört zu seinen Aufgaben.«482
Das genaue Datum des Beitritts des halleschen Wirtschaftsverbandes zum Dachverband »Reichswirtschaftsverband bildender Künstler Deutschlands« ist aus den vorliegenden Quellen nicht zu erschließen.483 Im 1924 erschienenen Merkheft des Reichsverbandes, das neben Informationen über den Wirtschaftsverband auch Hinweise zur Preisbildung für Kunstwerke gab, wurden in Magdeburg, Halle und Erfurt Wirtschaftsverbände des Gaus Magdeburg (Provinz Sachsen) aufgezählt.484 Die lokalen Künstlerverbände waren sowohl in ihrer Tätigkeit vor Ort als auch als Ortsgruppen einer reichsweit operierenden Dach 482 Marcus, Reichswirtschaftsverband 1920, S. 2. 483 Das Statut oder andere Gründungsdokumente, die beim Amtsgericht des Regierungsbezirkes Merseburg eingereicht wurden, geben keine Hinweise darauf, dass der hallesche Wirtschaftsverband schon von Beginn an mit dem Reichsverband kooperierte. Die Vereinsakte weist erstmals 1928 mit der Umbenennung in »Reichsverband bildender Künstler Deutschlands, Bezirksgruppe Halle E. V.« auf ihre Verbindung hin. Aus dem Verbandsblatt Kunst und Wirtschaft ist jedoch zu entnehmen, dass der hallesche Wirtschaftsverband als Bezirksgruppe dem Reichswirtschaftsverband schon kurz nach seiner Gründung angeschlossen war. In der Ausgabe vom 16.04.1923 erscheint zuerst eine Bekanntmachung des halleschen Wirtschaftsverbandes, der zur Mitgliederversammlung einlud. Die Zusammenkunft sollte am 24.04.1923 im Melanchthonianum stattfinden. Es ist anzunehmen, dass die universitären Räumlichkeiten auf Initiative Fischer-Lambergs genutzt wurden, der als Zeichenlehrer und Lektor Angehöriger der Universität war. Sporadisch und in größeren Abständen veröffentlichte der hallesche Verband in Kunst und Wirtschaft Notizen organisatorischer Natur. Vgl. Fischer-Lamberg, Halle a. S. Wirtschaftlicher Verband bildender Künstler, in: KuW, 4. Jg. (1923), Heft 8, S. 1. 484 Ähnlich der Organisationsstruktur des BDA war das Reichsgebiet in 14 Gauverbände unterteilt, denen insgesamt 8.176 Mitglieder angehörten (Stand vom November 1924, weitere Gauverbände wurden später gegründet). Zur Bildung eines Gauverbandes mussten mindestens 150 Mitglieder zusammenkommen. Zudem bestand die Möglichkeit, dass Lokalverbände gegründet wurden, die wiederum als Ortsgruppen dem Gau zugehörten. Im Gau Magdeburg waren die Ortsgruppen Magdeburg, Halle und Erfurt zusammengeschlossen. Vgl. Merkheft des Reichswirtschaftsverbandes bildender Künstler 1924; N. N., Bericht des Reichswirtschaftsverbandes 1924.
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organisation gleichermaßen bedeutsam. Ihre Wirksamkeit muss aus beiden Perspektiven beschrieben werden. Einerseits bedurfte es der Mitgliedschaft der einzelnen Künstler in einer gemeinsamen Organisation, um gegenüber der Reichsregierung als relevante Berufsvertretung agieren zu können. Deshalb legte Marcus mantraartig in seinen Beiträgen im Verbandsblatt dar, dass es die Pflicht jedes Künstlers sei, einem mit dem Reichsverband assoziierten lokalen Wirtschaftsverband beizutreten. Er bedauerte sezessionistische Bewegungen und einzelgängerisches Verhalten innerhalb der Künstlerschaft zutiefst. Auch die mangelnde Bereitschaft der Künstler, die Berliner Geschäftsstelle mit ausreichenden Mitteln auszustatten, prangerte er wiederholt an: »Seine [des Reichswirtschaftsverbandes bildender Künstler Deutschlands, I. S.-W.] Aufgaben können nicht von den an die Spitze gestellten Personen allein gelöst werden. Sie sind auf die stete, rührige und gewissenhafte Mitarbeit jedes einzelnen Künstlers angewiesen. Nichts schadet der Sache des Künstlerstandes mehr als die Gleichgültigkeit und die Lauheit, mit der viele Künstler den allgemeinen Angelegenheiten gegenüber stehen. Meinungsverschiedenheiten lassen sich ausgleichen, auch wenn sie noch so heftig auftreten. Das erste Erfordernis für den Erfolg des Reichwirtschaftsverbandes ist, daß jeder Deutsche Künstler einem Wirtschaftlichen Verbande bildender Künstler beitritt und die gleichen Opfer bringt, wie alle Kollegen. Wo besondere Notlage vorliegt, kann der Beitrag durch schon vorhandene Stiftungen ersetzt werden. Für das Fernbleiben von der allgemeinen Berufsorganisation gibt es keine Entschuldigung.«.485
Der Reichswirtschaftsverband bildender Künstler traf sich einmal jährlich zur Mitgliederversammlung, während der der fünfköpfige Verbandsvorstand gewählt und organisatorische wie inhaltliche Verhandlungen geführt wurden. Zu den Versammlungen, die in wechselnden deutschen Städten stattfanden, konnten die Mitglieder der Gauverbände Anträge einbringen.486 Finanziert wurden die Zentrale und das Verbandsblatt des Reichswirtschaftsverbandes über Mitgliederbeiträge, die von den Ortsgruppen abzuführen waren und die sie zusätzlich zum eigenen Bedarf einzogen.487 485 Marcus, Reichswirtschaftsverband 1920, S. 2. Auch vgl. Marcus, Vom Reichswirtschaftsverband 1921, S. 2. 486 Nachweislich nahmen Vertreter aus Halle an den Tagungen 1924 in Karlsruhe und 1926 in Düsseldorf (Otto Fischer-Lamberg und Johannes Hage) und 1927 in München (FischerLamberg vertritt den 150 Mitglieder umfassenden Gau Magdeburg) teil. Vgl. Marcus, Die Mitgliederversammlung des Reichswirtschaftsverbandes 1926; N. N., Mitgliederversammlung in München 1927; N. N., Bericht des Reichswirtschaftsverbandes 1924. 487 1924 wurde der Beitrag, der je Mitglied von den Gauverbänden an die Geschäftsstelle pro Jahr abzuführen war, auf 3,50 Mark festgesetzt. Ebenso verfuhren die Ortsgruppen mit der Bestimmung des Mitgliedsbeitrages und legten diesen jährlich fest. Im Gründungsjahr 1922 betrug der Beitrag inflationsbedingt 200 Mark; 1925 waren es 10 Mark. Vgl. N. N., Be-
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Für die Künstleridentität bedeutete die Gründung des halleschen Wirtschafts verbandes und seiner Zugehörigkeit zu einer deutschlandweit operierenden Organisation zweierlei. Zum einen stärkte die Zugehörigkeit zum lokal agierenden Wirtschaftsverband bildender Künstler die berufliche Identität der Künstler, umso mehr als das berufliche Spektrum auf die bildkünstlerisch tätigen Künstler verengt wurde. Das über stilistische und weltanschauliche Grenzen innerhalb der Künstlerschaft hinaus zielende Vergemeinschaftungsangebot, das sich schon seinem Titel nach auf die wirtschaftlichen Herausforderungen des Künstlerseins konzentrierte, festigte das Bewusstsein für eine beruflich bedingte gleiche Interessenlage und beseitigte das Gefühl der wirtschaftlichen Isolation. Statt der trennenden Elemente wurden diesmal flächendeckend die integrierenden Aspekte des Künstlerseins betont. Durch die Zugehörigkeit zum Dachverband erfolgte die Vernetzung auch überregional, was zusätzlich positiv auf die Eigenwahrnehmung als Angehöriger einer Berufsgruppe bzw. wirtschaftlich definierten Gemeinschaft wirkte. Dass die Künstlerschaft mit dem in der Republikhauptstadt Berlin stationierten Dachverband eine zentral agierende Interessenvertretung besaß, die gegenüber der Zentralregierung als Akteur der Berufsgemeinschaft der bildenden Künstler auftrat, gab dem Selbstbewusstsein der Berufsgruppe zusätzlich Auftrieb. Zum wichtigen Anliegen und Instrument der Selbsthilfe der Künstler unter einander und Bestätigung für die Anstrengungen der gemeinschaftlichen Organisation wurde die Frage nach der Materialbesorgung. Der von der Geschäftsführung ersonnene Gedanke, die Künstler durch die Bereitstellung vergünstigten Materials zu unterstützen, wurde von den Ortsverbänden umgesetzt. Auch in Halle wurde eine solche Verkaufsstelle eingerichtet.488 Fischer-Lamberg warb in einem längeren Beitrag in der Verbandszeitung um die Unterstützung der Reinkauf – Reichsgenossenschaft der deutschen Künstler. Bisher sei der Umsatz der insgesamt 21489 Verkaufsstellen nicht ausreichend, um mit traditionellen Künstlerbedarfsunternehmen zu konkurrieren. In seiner Aufforderung an die Künstler, ihren gesamten Bedarf über die Reinkauf zu decken, betonte er einerseits, dass die Solidarität der Künstler untereinander unerlässlich für ihr machtvolles Auftreten gegenüber anderen Interessenverbänden, und andererricht des Reichswirtschaftsverbandes 1924; Fischer-Lamberg, Halle a. d. S. WV 1927, S. 1; LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband, Bl. 2; N. N., Wirtschaftsverband bildender Künstler Halles, in: Die Baulaterne, 1. Jg. (1925), Heft 2, S. 7. 488 Die Künstler wurden dabei zuerst von Max Stein (Weinhandlung, Alte Promenade 8) und ab 1927 von H. Graichen (Rahmenhandlung, Ulrichstraße 36) unterstützt, indem diese ihre Räume als Verkaufsstelle zur Verfügung stellten. Vgl. Fischer-Lamberg, Halle (Saale), WV, in: KuW, 8. Jg. (1927), S. 33. 489 Nur zum Teil waren die Verkaufsstellen an die örtlichen Wirtschaftsverbände angeschlossen. Die Angabe zur Anzahl der reichsweiten Verkaufsstellen bezieht sich auf 1924. Vgl. Merkheft des Reichswirtschaftsverbandes 1924.
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seits, dass die genossenschaftliche Materialversorgung ein zentraler Aspekt der künstlerischen Vergemeinschaftung und für die Verbandsarbeit von größter Bedeutung sei: »Die Versorgung der Künstler mit Künstlerbedarf ist mit eine wesentliche Aufgabe der wirtschaftlichen Verbände. Und diese Versorgung geschlossen in unsere Hand zu bekommen, ist unser Ziel, nicht nur, weil wir den Künstler billig und preiswert beliefern wollen, sondern auch ganz besonders, weil nur die Künstlerschaft, wenn sie ein maßgebender Faktor auf dem Kunstmaterialienmarkt geworden ist, einen Einfluß auf die Qualität des Materials ausüben kann. Die Händler haben kein Interesse an der Qualität – und wir müssen den nötigen Einfluß erst erarbeiten. Dazu kann jeder helfen.«490
Als weiteren Schwerpunkt konzentrierte sich die Hauptverwaltung unter Otto Marcus auf die Vertretung der Künstlerinteressen gegenüber der Regierung. Vor allem die Steuergesetzgebung491 und die Kulturpolitik492 wurden mehrfach Ziel seiner Kritik. Die Arbeit der Zentralstelle wirkte sich dabei nur selten unmittelbar und direkt auf die Künstler in der Peripherie aus: Gemeinsam mit anderen Interessenvertretern gelang es dem Reichswirtschaftsverband 1923 und 1926, direkte finanzielle Unterstützung durch den Staat zu erwirken. Während im Rahmen der »Notgemeinschaft der deutschen Kunst«493 die Gelder genutzt wurden, um Künstlermaterialien günstig an bedürftige Künstler zu verkaufen, wurden 1926 Mittel für private Darlehen zur Verfügung gestellt. Dafür wurden die Zinsen der von der Regierung gewährten 500.000 Mark je nach Mitgliederzahl an die Gauverbände überwiesen, die dann zur »Aufrechterhaltung der beruflichen Tätigkeit« an notleidende Künstler vergeben werden konnten. An 490 Fischer-Lamberg, »Reinkauf«. 491 Auch in der Verbandszeitung war die Steuergesetzgebung ein prominentes Thema. Der Rechtsanwalt Hans Kodlin berichtete als Sachverständiger und Syndikus des RWVbK in regelmäßigen Abständen über steuerliche Neuregelungen mit besonderem Augenmerk auf die die bildenden Künstler betreffenden Gesetze. Zwar seien die Interessen der Künstler auf die Intervention des Reichsverbands hin teilweise berücksichtigt worden, für weitere Abänderungen bedürfe es jedoch eines Zusammenschlusses der Berufsverbände aller freien Berufe. Vgl. Kodlin, Steuergesetze. – Die Einrichtung einer »Schutzstelle für Urheber-, Verlags-, Steuer,- und Sozialrecht« weist darauf hin, welche Bedeutung das Verbandszentrum dem Staat als ordnende Instanz und Schutzmacht einräumte. Vgl. Marcus, Reichswirtschaftsverband 1920, S. 2. 492 Auf der Mitgliederversammlung 1924 wurden als Ziele, die sich als Forderungen an die Regierung richteten, formuliert: Hinzuziehung der ausübenden Künstler zu die Kunst betreffenden Regierungsentscheidungen, Anhörung künstlerisch besetzter Ausschüsse; Ablehnung der Besetzung von Kunstschuldirektorenposten durch Nichtkünstler. Vgl. N. N., Bericht des Reichswirtschaftsverbandes, in: KuW, 5. Jg. (1924), S. 1–3, S. 3. 493 Die Notgemeinschaft der Deutschen Kunst wurde im November 1922 infolge der Verhandlungen von Vertretern der preußischen und der Reichsregierung mit Interessenvertretern deutscher Künstler gegründet. Vgl. Kraatz-Kessemeier, Kunst für die Republik, S. 471.
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gesichts der weitverbreiteten Künstlerarmut waren die dem Gau Magdeburg zur Verfügung gestellten 1.875 Mark (1926) jedoch kaum von Belang.494 Längerfristig zeigte sich Marcus jedoch zunehmend enttäuscht von der Regierung, die Vertreter der Künstlerschaft (Reichskünstlerrat) kaum als Berater in kulturpolitischen Belangen beachtete.495 Alfred Gellhorn, der am Aufbau des halleschen Wirtschaftsverbandes maßgeblich beteiligt war, ging sogar auf Distanz zum Reichswirtschaftsverband und beurteilte Marcus’ Fokus auf die Zusammenarbeit mit Regierungsstellen als engstirnig. Dass sich der Vorstand mit dem demokratischen Regierungssystem identifizierte und »für sie [sämtliche Mitglieder des RWVbK, I. S.-W.] ein Bekenntnis zur ›Demokratie‹ ablegt«496, fand er unerträglich. Trotzdem hielt er andererseits die mit einem gesamtdeutschen Künstlerverband vollzogene Interessenbündelung im Rahmen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung für unabdingbar. Besonders lobte er die vom Reichsverband herausgegeben Merkhefte, die Informationen zu Preisbildung, Urheberrecht, Wettbewerbsordnung sowie Vertragsformulare vorhielten und wichtige Anhaltspunkte »für den bei Künstlern sehr vernachlässigten geschäftlichen Verkehr«497 böten. Die von Marcus gefürchteten desintegrativen Tendenzen innerhalb der Künstlerschaft beobachtete Gellhorn zwischen einer älteren und einer jüngeren Künstlergeneration, die den Reichswirtschaftsverband seiner Ansicht nach zu spalten drohte. Problematisch sei vor allem das kulturpolitische Engagement des Verbandsvorstandes, mit dem sich viele jüngere Künstler nicht identifizieren könnten. Gellhorn erkannte die Notwendigkeit einer Interessenvertretung der Künstler an, wollte diese jedoch auf den Bereich der Wirtschaft beschränkt sehen. Er forderte die Mitglieder auf, sich kritisch zur politischen Ausrichtung des Verbandes zu verhalten und sich außerhalb politisch zu engagieren.498 Auf der Ebene des Ortsverbandes tauchen ästhetische oder politische Meinungsverschiedenheiten, die die Arbeit des halleschen Wirtschaftsverbandes erschwert hätten, in den Quellen nicht auf. Vielmehr scheint der Konsens in wirtschaftlichen Angelegenheiten vorherrschend. Auch die Konstanz bei der Wahl des Vorsitzenden, der bis 1933 nur einmal 1928 von Otto Fischer-Lamberg auf Richard Horn wechselte, zeugt vom Einvernehmen der Mitglieder untereinander. Geschlossenes Auftreten zeigte der Wirtschaftsverband im öffentlich ausgetragenen Streit um die Ausschreibung zum Bau einer Stadthalle, in der Ober 494 Vgl. N. N., Notgemeinschaft; Marcus, Bericht des Reichswirtschaftsverbandes, in: KuW, 4. Jg. (1923), Heft1, S. 1–2. 495 Vgl. Marcus, Bericht des Reichswirtschaftsverbandes, in: KuW, 5. Jg. (1924), Heft 8, S. 1–2. 496 DW vom 15.12.1924, Nr. 144, S. 4. Alfred Gellhorn veröffentlichte unter den Pseudonymen Dr. Grell und Dr. Bell im Wort und anderen Zeitungen. Vgl. Meinel, Karl Völker, S, 39. 497 Ebd. 498 Den Künstlern rät er deshalb: »… hinein in die Gewerkschaften!«. Vgl. ebd.
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bürgermeister Rive und der Magistrat nicht nur der halleschen Künstlerschaft gegenüberstanden. Gemeinsam mit dem Bund Deutscher Architekten trat er an erster Stelle für die Beteiligung der freien Künstlerschaft im Rahmen eines öffentlich ausgeschriebenen Wettbewerbs ein.499 Erneut wandte sich der Wirtschaftsverband 1928 in ähnlicher Angelegenheit mit einer Eingabe an die Stadtverordnetenversammlung und ersuchte darum, dass die freie Künstlerschaft bei der Vergabe öffentlicher Aufträge berücksichtigt werden sollte.500 Über dieses punktuelle Engagement hinausgehend unterhielt der Wirtschafts verband dauerhaft eine dem »Reinkauf« angeschlossene Verkaufsstelle501, in der die Mitglieder Arbeitsmaterialien erwerben konnten. Über die Verkaufsstelle wurden auch Sammelbestellungen für Dinge des allgemeinen Bedarfs (Kohlen, Kartoffeln, Hülsenfrüchte) organisiert, die die Künstler zusätzlich finanziell entlasten sollten.502 Die erst in einer Weinhandlung und später in einem Geschäft für Bilderrahmen eingerichtete Verkaufsstelle diente auch als Büro des Wirtschaftsverbandes, in dem die Vereinsangehörigen ihre Beiträge entrichten und ihre Mitgliedsausweise abholen konnten.503 Die Geschäftsführung der Verkaufsstelle geht im Januar 1925 an Johannes Hage über. Der promovierte Rechtsanwalt übernahm in der Mitte der zwanziger Jahre eine verantwortungsvolle Position innerhalb des Wirtschaftsverbandes. Obwohl er selbst nicht als Künstler arbeitete, rückte er im halleschen Kunstsystem kurzzeitig in eine zentrale Stellung. Seine rege publizistische Tätigkeit über die Jahre 1925 und 1926 weist ihn als Kenner des zeitgenössischen Kunstsystems aus.504 Seine Beobachtungen 499 Vgl. Knauthe, Formen oder umformen?, S. 20. 500 Die Stadtverordnetenversammlung überwies die Angelegenheit an den Magistrat, der für die Vergabe von Aufträgen zuständig gewesen wäre. Dass die Transparenz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge weiterhin mangelhaft blieb, zeigt eine Beschwerde der SPD-Fraktion. Obwohl zuvor durch die Stadtverordnetenversammlung festgelegt wurde, dass für künstlerische Arbeiten an der Kröllwitzer Brücke auch hallesche Künstler herangezogen werden sollten, wurden die Aufträge ausschließlich an Angehörigen der Kunstgewerbeschule vergeben. Vgl. StH, A 2.44 Nr. 3 Bd. 11, Bl. 10. 501 Die Geschäftsführung der Verkaufsstelle ging im Januar 1925 von Otto Glaw an Johannes Hage über. Der Architekt Glaw verstarb plötzlich am 27. März 1925, er war aktiv im Vorstand des Wirtschaftsverbandes und Mitglied der Hallischen Künstlergruppe sowie des BDA gewesen. Vgl. Fischer-Lamberg, Halle (Saale) WV, in: KuW, 6. Jg. (1925), S. 77; N. N., Wirtschaftsverband bildender Künstler Halle a. S., in: DB, 1. Jg. (1925), Heft 1, S. 8. 502 Fischer-Lamberg, Halle a. S. Wirtschaftsverband bildender Künstler, in: KuW, 4. Jg. (1923), Heft 10, S. 3. 503 Vgl. Fischer-Lamberg, Halle (Saale) WVbK, in: KuW, 5. Jg. (1924), S. 5. – 1924 rief der Vorsitzende Fischer-Lamberg dazu auf, zusätzlich zum Jahresbeitrag 3 Mark einzuzahlen, um die laufenden Kosten der Geschäftsstelle zu decken. Nicht klar wird, ob das Geld für Material- oder Personalkosten benötigt wurde. Vgl. Fischer-Lamberg, Halle (Saale) WV, in: KuW, 5. Jg. (1924), Heft 11, S. 6. 504 Von ihm verfasste Artikel und sein im Rahmen der halleschen Volkshochschule angebotener Vortrag »Häuser, Räume, Möbel und Menschen« lassen vermuten, dass er sich besonders für Architektur interessierte. Vgl. Verzeichnis der Dozenten und Themen, S. 41.
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und Schlussfolgerungen bezogen sich dabei weniger auf das Gebiet des Ästhetischen, sondern betrafen vor allem institutionelle und soziale Entwicklungen. Als Herausgeber der Zeitschrift »Baulaterne«, die 1925 bis Anfang 1926 in Halle erschien, wollte er zwischen Künstler, Publikum und Kunstwissenschaft vermitteln. Das »Mitteilungsblatt für den Wirtschaftsverband bildender Künstler, E. V., Halle, den Landesverband Sachsen-Anhalt des B. D. A., für den Kunstgewerbeverein und den Kunstverein zu Halle« führte nicht nur Kunstinteressierte, -vermittler und -ausübende zusammen, sondern band verschiedene Institutionen des städtischen Kunstsystems in die Redaktionsarbeit ein und informierte sie gegenseitig über die jeweiligen Vorgänge.505 Regelmäßig erschienen hier kurze Mitteilungen des Wirtschaftsverbandes, die über organisatorische Neuigkeiten informierten und die Inhalte der Mitgliederversammlungen zusammenfassten. Als Syndikus, der dem Wirtschaftsverband sein juristisches Wissen zur Verfügung stellte, engagierte sich Hage in direkter Zusammenarbeit mit den Künstlern für ihre Belange. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden Fischer-Lamberg nahm er im September 1926 an der jährlichen Mitgliederversammlung des Dachverbandes teil.506 Seine zentrale Stellung im Verein – als Nichtkünstler und Syndikus hatte er neben dem Vorstand den einzigen Funktionsposten inne – unterstreicht dessen Fokus auf wirtschaftliche Fragen. In einer Stellungnahme des Ortsverbandes zur Idee des Kunstverleihs stellte er nochmals den wirtschaftlichen Schwerpunkt der Verbandsarbeit heraus: Auf den Vorschlag des Reichswirtschaftsverbandes, ein Kunstverleihinstitut zu gründen, um einerseits weniger Wohlhabenden Kunstwerke zugänglich zu machen und andererseits den Künstlern über die Leihgebühren eine neue Einnahmequelle zu erschließen, erklärt er in der Baulaterne: »Der Wirtschaftsverband bildender Künstler sieht sich nicht in der Lage, Ausstellungen zu veranstalten, da sein Aufgabengebiet im Wesentlichen ein rein wirtschaftliches ist.«507 505 Im Entrée der Zeitschrift informierte er die Leser über deren »Ziele und Wege«. Hage selbst war auch Mitglied im Kunstverein (Mitgliedschaft für 1925 nachweisbar). Eine von ihm geleitete Führung durch die Kunstgewerbeschule und seine Beschäftigung mit dem Thema der Künstlerausbildung legt nahe, dass er auch Verbindungen zur Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein unterhielt. Vgl. Hage, Ziele und Wege; LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband, Bl. 66; Verzeichnis der Dozenten und Themen, S. 41. 506 Vgl. Marcus, Mitgliederversammlung Düsseldorf. – Hage, der 1925 und 1926 in Halle als wichtiger Akteur im Kunstsystem auftrat, ist in den Folgejahren in Quellen kaum mehr greifbar. Im Adressbuch der Stadt ist er auch danach noch mit wechselnden Anschriften verzeichnet. 1928 und 1929 war er im Rahmen der Volkshochschule für zwei Kurse als Dozent tätig. Vgl. Adressbuch Halle 1926, Teil I, S. 98; Adressbuch Halle 1927, Teil I, S. 99; Adressbuch Halle 1932, Teil I, S. 101; Verzeichnis der Dozenten und Themen, S. 41. 507 N. N., Wirtschaftsverband bildender Künstler, in: DB, 1. Jg. (1925), Heft 9–10, S. 68. Die Ablehnung des Kunstverleihs als Bestandteil der Verbandsarbeit folgte einer ausführlichen Diskussion und anfänglichen Bejahung. Vgl. N. N., Sollen und können Kunstwerke.
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Der hallesche Wirtschaftsverband bildender Künstler sowie der Reichswirtschaftsverband wurden auf der Grundlage strikter Trennung wirtschaftlicher Interessen der Künstler und ästhetischer Anliegen gegründet. Stilistische oder ästhetische Unterschiede, die sich vielfach aus sich überlagernden Kunstströmungen ergaben, sollten der berufsbezogenen Interessenbündelung nicht im Weg stehen, war doch gerade die Epoche der Klassischen Moderne geprägt durch sezessionistische Bewegungen und rivalisierende Künstlergruppen und -strömungen. Der Erste Weltkrieg und der politische Systemwechsel verschärften die Gegensätze auch unter den Künstlern, machten aber zugleich ihr gemeinsames Handeln auf wirtschaftlicher Ebene umso dringender. Der Reichswirtschaftsverband und auf regionaler Ebene der Hallische Künstlerrat und der hallesche Wirtschaftsverband versuchten, die künstlerischen und politischen Diskrepanzen zugunsten einer einheitlichen Interessenvertretung zu überwinden, indem potentiell strittige Themen ausgeklammert wurden. 1927 kommt es jedoch zu einem Paradigmenwechsel. Er mündete 1928 in die Umbenennung des Reichswirtschaftsverbandes bildender Künstler in den Reichsverband bildender Künstler. Der Verband erweiterte damit nominell seinen Zuständigkeitsbereich und reagierte damit einerseits auf die realiter undurchführbare Trennung wirtschaftlicher und kultureller Interessen sowie andererseits auf den Druck aus der Künstlerschaft, die sich zunehmend jenseits des Reichswirtschaftsverbandes organisierten: »Die neue Bezeichnung und veränderte Satzung sollen der irrigen Auffassung begegnen, als ob es allgemeine Standes- und Berufsfragen der bildende Künstler gäbe, für die unser Verband nicht zuständig sei. Die frühere Bezeichnung war durch die Beobachtung veranlaßt, daß innerhalb der Künstlerschaft eine einheitliche, allgemein anerkannte und durch einen umfassenden Verband vertretbare Auffassung in ästhetischen Fragen und in Fragen der künstlerischen Bewertung schwer zu erzielen ist und daß eine einheitliche Meinung vorwiegend auf wirtschaftlichem Gebiet besteht.«508
Die Umbenennung wurde auch auf regionaler Ebene umgesetzt und im November 1928 beschlossen die versammelten 27 Mitglieder die Namensänderung in »Reichsverband bildender Künstler Deutschlands, Bezirksgruppe Halle E. V.« einstimmig.509 Im gleichen Monat erschien ein Beitrag des Vorsitzenden Richard Horn in den Hallischen Nachrichten, in dem er für die Einigung der bildenden Künstler im Reichsverband warb. Ob auch die inhaltliche Umorientierung des Dachverbandes Auswirkungen auf die lokale Verbandsarbeit zeitigte, lässt sich 508 N. N., Bericht des Reichswirtschaftsverbandes, in: KuW, 9. Jg. (1928), Heft 3, S. 33/34. Die Verbandssitzungen hätten sich seit Ende der zwanziger Jahre zunehmend in der Gegenüberstellung rechter und linker politischer Positionen erschöpft, bis der Verband 1933 von der NSDAP gleichgeschaltet wurde. Vgl. Schwenger, Nach fünfzig Jahren, S. 5/6. 509 Vgl. LHA Sachsen-Anhalt, Rep. C 129 AG Halle, Wirtschaftsverband, Bl. 26.
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aus den vorliegenden Quellen nicht erschließen. Die Liste der Mitglieder, die im April 1933 zur außerordentlichen Sitzung erschienen und dem Rücktritt des bisherigen Vorstandes beiwohnten,510 offenbart, dass auch zu diesem Zeitpunkt Vertreter verschiedener Künstlergenerationen im Verein zusammenfanden. Zuletzt trat der Ortsverband als teilnehmende Institution im Rahmen der Hallischen Kunstschau 1933 auf, an der auch der Künstlerverein auf dem Pflug sowie nicht organisierte Künstler teilnahmen.
Fazit Die in Halle im Untersuchungszeitraum aktiven Künstlergruppen waren für die Formierung künstlerischer Identität von herausragender Bedeutung. Das traf umso mehr zu, als die tägliche Erwerbsarbeit mitunter kaum Möglichkeiten bot, sich als Künstler zu profilieren. Die unterschiedlich orientierten Gemeinschaften zielten einerseits auf konkrete politische, ökonomische und / oder technische Anliegen. Andererseits boten sie als Treffpunkte und Kommunikationsräume den Künstlern Gelegenheit, sich ihrer spezifischen beruflichen und sozialen Identität zu vergewissern. Während die Skizzenklause als erste hallesche Künstlerformation mit dem Ziel gegründet wurde, die technischen Fähigkeiten ihrer Mitglieder zu fördern, trat der Künstlerverein auf dem Pflug in der Vereinsform wesentlich professionalisierter und mit einem weiter gefassten Katalog, wie die wirtschaftlichen Interessen einerseits und die Gemeinschaft der städtischen Künstlerschaft andererseits zu fördern seien, in Erscheinung. Die Hallische Künstlergruppe wiederum steckte mit ihrem Entwurf des Künstlerseins in einer neuartig zu gestaltenden Gesellschaftsordnung denkbare Modelle künstlerischer Tätigkeit und Verantwortung ab. Jenseits ihrer utopischen Ideen sorgte sie aber auch dafür, dass sich die Künstler vor Ort erstmals als beruflich determinierte Gemeinschaft mit bestimmten wirtschaftlichen Interessen definierte. Ihre Protagonisten verstanden es, über weltanschauliche Gräben und stilistische Gegensätze hinweg, die Einheit der halleschen Künstler durch die Gründung des Künstlerrates und des Wirtschaftsverbandes zu fördern und über viele Jahre zu institutionalisieren. Während sich die Hallische Künstlergruppe in der Mitte der 1920er Jahre auflöste und ihre Kerngruppe im Wirtschaftsverband aufging, bestand der Künstlerverein auf dem Pflug weiterhin parallel. Im Rückblick erscheint er als Konstante im halleschen Kunstsystem, der die Künstler auch über Phasen des 510 Richard Horn erinnerte, dass Anhänger des nationalsozialistischen Regimes den Verband übernahmen. In der Vereinsakte ist verzeichnet, dass zum Zeitpunkt der Übernahme noch 35 Mitglieder dem Verein angehörten. Sigmund Strudel, der ab 1933 den Vorsitz führte, löste den Verein mit Verzögerungen im Juni 1935 auf. Vgl. ebd., Bl. 41–56.
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gesellschaftlichen und politischen Umbruchs zu binden verstand. Mit seiner kontinuierlich gepflegten Ausstellungstätigkeit erfüllte der Pflug ein wesentliches Bedürfnis der Künstler.511 Das Bestehen und Vergehen der unterschiedlich orientierten Zusammenschlüsse erscheint als Suchbewegung, inwiefern künstlerische Identität jenseits individueller Selbstkonstruktion kollektiv zu bestimmen sei. Während die technischen Fähigkeiten der gemeinsame Nenner der Skizzenklause war, erweiterte sich der Anspruch des Pfluges auf berufliche Aspekte und eine gemeinsame Interessenvertretung gegenüber anderen Akteuren, die im Kunstsystem eine Rolle spielten. Zu weit über die hohe Bedeutung künstlerischer Individualität und Eigenverantwortung ging der kollektive Identitätsentwurf der Künstlergruppe hinaus, der schließlich im ernüchterten, wirtschaftlich orientierten Forderungskatalog des Wirtschaftsverbandes korrigiert wurde. Innerhalb des städtischen Kunstsystems, dessen begriffliche Inhalte und Machtverhältnisse bis ins 20. Jahrhundert maßgeblich von außerkünstlerischen Akteuren geprägt wurde, war der Zusammenschluss der Künstler von herausragender Bedeutung. In Allianzen vermochten die Künstler wirksam vor allem ihre wirtschaftlichen Interessen zu vertreten und die Dominanz städtischer Verwaltungseliten infrage zu stellen. Im Bereich des Kunstverständnisses waren sie vor allem Empfänger der überregional geprägten und verhandelten Kunstbegriffe, die sie jedoch entsprechend der lokalen Besonderheiten zuzuspitzen vermochten.
511 Vgl. VB vom 18.11.1930, Nr. 270.
V. Vom Vehikel des Bürgertums zur selbstbestimmten Berufsgruppe – Schlussbetrachtung
Die Forschungsfrage, wie sich Künstlersein in Halle an der Saale während der Jahrzehnte um 1900 veränderte, ist ohne den Bezug auf den gesellschaftlichen Wandel in der Moderne nicht zu beantworten. Die mit dem 1834 gegründeten Halleschen Kunstverein begonnene empirische Untersuchung zeigte den Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts, bezogen auf den Gegenstandsbereich der Kunst und die Figur des Künstlers. Das extreme wirtschaftlich-industrielle und bevölkerungsmäßige Wachstum in der zweiten Jahrhunderthälfte ist der Hintergrund dafür, dass sich die hallesche Stadtgesellschaft als dynamisch bewegter (Mikro-)Kosmos beobachten lässt, in dem Prozesse der Differenzierung, Absonderung und Gruppenformation stattfanden und um politische und ökonomische Macht sowie über Deutungshoheiten gestritten wurde. Der Hallesche Kunstverein zur Mitte des 19. Jahrhunderts als Plattform des kunstinteressierten städtischen Bürgertums bildete den institutionellen Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung eines weit verzweigten städtischen Kunstsystems. Analog zur gesamtgesellschaftlich stattfindenden Ausdifferenzierung in verschiedene gesellschaftliche Funktionsbereiche lässt sich in diesem lokalen Rahmen anhand des Sozialsystems Kunst zeigen, dass sich über den Verlauf der Jahrzehnte bis ins 20. Jahrhundert unterschiedliche Akteursgruppen formierten, die mit ihren jeweiligen Interessen auf verstetigten Kommunikationswegen und in verschiedenen Allianzen und Gegnerschaften das Kunstsystem modellierten. Waren im frühen Kunstverein die kommunalpolitische Elite, Sachkenner, das kunstinteressierte Publikum und ganz vereinzelt Künstler unter einem institutionellen Dach vereint, wo sie auf kleinstem Raum agierten, expandierte das Kunstsystem der Jahrhundertwende, dem städtischen Wachstum entsprechend, weit über die Vereinsgrenzen hinaus. In ihren Grundzügen erhalten blieben die ihren Interessen nach unterscheidbaren Akteursgruppen, die sich wiederum in diversen institutionellen Zusammenhängen verbanden, sich mit anderen Interessengruppen zu verbünden oder sich von ihnen abzugrenzen suchten. Einen Teil des Kunstsystems stellte die Gruppe des kunstinteressierten Bürgertums, das als Rezipient und Konsument von Kunst adressiert wurde und Einfluss auf die Kunstproduktion, ihre Darstellung sowie Vermittlung nahm. Als Künstler unter dem Vorzeichen der ästhetischen Moderne neue gestalterische
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Mittel erprobten und andere Themen bearbeiteten, musste das Verhältnis von Künstler und bürgerlichem Publikum neu bestimmt werden. Pflegte ein größerer Teil des Bürgertums über die Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein statisches Bild vom Künstler und dessen Schöpfungen, das vor allem seinen eigenen ästhetischen und inhaltlichen Vorstellungen entsprach, waren ihm in der Mehrheit davon abweichende künstlerische Äußerungen suspekt. Entgegen dem biedermeierlichen und historistischen Kunstverständnis, das Kunst vor allem als Bestätigung der eigenen Lebensführung und bestehender gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse betrachtete, wichen Künstler zunehmend vermehrt als Romantiker, Naturalisten, Impressionisten und Expressionisten von diesem Kanon ab. Jene, die bisher Kunst als ein Vehikel ihrer bürgerlichen Identität gebraucht hatten, sahen sich nun einer Bildsprache ausgesetzt, die sie nicht verstanden und deren Deutungshoheit sie infrage stellten. Der persönliche Blick des Künstlers, der sich von den Erwartungen seines Publikums distanzierte, wurde von diesem oft genug als Bedrohung empfunden. Die Sehgewohnheiten des halleschen Publikums (und mancher städtischen Künstler) wurden erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Kontakt mit den Werken der nationalen und internationalen Avantgarde und deren vereinzelte Rezeption durch einheimische Künstler irritiert. Das Bürgertum als finanziell potente Gesellschaftsschicht war den wirtschaftlich frei arbeitenden Künstlern als Konsumentengruppe ein wichtiger Adressat. Der Künstler als Gewerbetreibender musste diese Gruppe als Käufer gewinnen – die Macht des Marktes war daher im Schaffensprozess stets präsent. Nicht zuletzt spricht die mäzenatische Tätigkeit einzelner Bürger für deren machtvolle Position im Kunstsystem, das sie mit der Art und Weise ihrer Zuwendungen auch semantisch beeinflussten. An der Schnittstelle von Publikum und Kunst etablierte sich eine Personengruppe, die mit ihrer kunstbezogenen Expertise als Vermittler zwischen Produzenten und Rezipienten auftrat. Bereits im Kunstverein der früheren Jahrzehnte formte sich mit den im Vorstand vertretenen Kunstsachverständigen ein Gremium, das als Auswahlkommission und Organisationskomitee zwischen Künstler und Vereinsmitglieder trat. Anhand des Kunstvereins und des städtischen Museums lässt sich die Professionalisierung der Kunstvermittlung verfolgen, die mit der aufklaffenden Kommunikationsbarriere seit der ästhetischen Moderne weiter vorangetrieben wurde. Mit Adolph Goldschmidt und Max Sauerlandt traten nach der Jahrhundertwende zwei Akteure an die Spitzen hallescher Kulturinstitutionen, die als Kunstwissenschaftler das Verstehen und Vermitteln von Kunst als Beruf ausübten. Die professionellen Kunstvermittler machten sich als Übersetzer künstlerischer Formensprache und als Kontaktpersonen in die kulturelle Avantgarde unentbehrlich. Als zwischen Publikum und Künstlern stehende Akteure spielten die Vermittler durchaus ein ambivalente Rolle. Gelang es ihnen einerseits, einen Teil des halleschen Bürgertums vom Wert moderner ästhetischer Künstlerpositionen zu überzeugen und Kunst als
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Möglichkeit zu begreifen, die eigene Identität und Existenz zu hinterfragen, galten sie anderen im Gegenteil als weiterer Beweis der Abgehobenheit moderner Kunst und schmerzlicher Beleg verlorener bürgerlicher Interpretationshoheit. Gegenüber den Künstlern besetzten sie eine ebenso zwiespältige Position: Während die progressiv gesinnten Vermittler die Künstlerfigur im abstrakten Sinn als Propheten und Sinnsucher stärkten und nach 1900 damit vor allem auf die überregionale Avantgarde zielten, ging deren Vermittlungstätigkeit häufig an den Anliegen der halleschen Künstlerschaft vorbei. Die Künstler der Stadt waren darauf angewiesen, sich als Interessengruppe zu formieren und sich in der Auseinandersetzung mit weiteren innerstädtischen Akteuren zu behaupten. Dem ging voraus, dass sich Künstler ihrer spezifischen Identität als solcher bewusst wurden: Sowohl auf der Ebene der beruflichen als auch der sozialen Identität wurde die Eigenart künstlerischer Existenz betont und von Standards gelöst, die von außen an das Künstlersein herangetragen wurden. Innerhalb des wirtschaftlichen Rahmensystems, das wenigstens für einen Teil künstlerischer Arbeit bestimmend blieb, schufen sich Künstler aktiv Freiräume. Das Bewusstsein, als Künstler eine spezifische Rolle im gesellschaftlichen Spektrum der Berufe bzw. Professionen zu besetzen, bildete die Grundlage für ein sicheres Auftreten gegenüber anderen Akteuren.1 Gestärkt wurde das künstlerische Fremd- und Selbstbild durch die längerfristige Abgrenzung von anderen Berufsgruppen (kunsttypische Berufsbezeichnungen und nominelle Abgrenzung von rein handwerklichen Tätigkeiten) und durch Integration der künstlerischen Berufe untereinander. Als zentrales Instrument erwies sich dabei die Vergemeinschaftung der Künstler in berufsrelevanten Gruppen. Sowohl für das Selbstbild als Künstler als auch für seine gesellschaftliche Wahrnehmung war die Zugehörigkeit zu einer Künstlergruppe von wesentlicher Bedeutung. Gerade unter den Umständen eines nicht eindeutig formal definierbaren Berufsbildes entfalteten tätigkeitsbezogene Gemeinschaften hohe Inklusionskraft. Das künstlerische Selbstbewusstsein konstituierte sich im Untersuchungszeitraum neu und war wesentlich das Ergebnis einer emanzipatorischen Entwicklung, in deren Verlauf der Deutungsrahmen der bürgerlichen Gesellschaft durch ein berufsspezifisches Identifikationsmodell ersetzt wurde. Der zuvor angesprochenen Entfremdung von Künstlern und bürgerlichem Publikum stand eine gegenläufige Entwicklung zur Seite, die insbesondere in Halle stark ausgeprägt war und auf die spezifische städtische Sozialstruktur und die enge Verbindung von Künstlersein und Handwerk zurückzuführen ist. Seit der ersten Generation der in Halle als Berufskünstler Niedergelassenen bestand zwischen Künstlern und städtischen Bürgern über die (kunst-)gewerbliche Tä 1 Insbesondere im Verlauf des 19. Jahrhunderts, das durch einen hohen Grad an Professionalisierung gekennzeichnet war, lud sich der individuell ausgeübte Beruf mit Bedeutung auf. Vgl. Kurtz, Berufssoziologie, S. 47/48.
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tigkeit eine enge Verbindung. Mit der Kunstgewerbebewegung wurde diese Nähe aktiv befördert. Jenseits zweckfrei konzipierter Kunstwerke standen Bürgertum und Künstlerschaft im Kunstgewerbeverein im Austausch. Nicht zuletzt erwies sich vor dem Hintergrund des erodierenden Modells der bürgerlichen Gesellschaft und der schon frühzeitig spürbaren prekären Position im kapitalistischen Wirtschaftssystem das Kunstgewerbe als brauchbares Konzept, um dem ökonomischen Risiko einerseits und der gesellschaftlichen Isolation des Künstlerseins andererseits selbstbewusst zu begegnen. Schließlich wirkte die Interessensphäre der Politik als maßgeblicher Faktor im städtischen Kräftefeld. Im Untersuchungszeitraum entwickelten die bürgerlichen Akteure aus dem Vereinswesen heraus einen kommunalpolitisch geschützten Raum für Kunst und andere Formen der Hochkultur und definierten sie damit als Bereich öffentlicher Pflege und Verantwortung. Unter dem Oberbürgermeister Rive trat die Kommunalpolitik als klar umrissener Akteur auf, der insbesondere zu den vermittelnden Institutionen eine enge Verbindung unterhielt und die bildende Kunst als Standortfaktor in der Städtekonkurrenz begriff. Im Rahmen der funktionalen Ausdifferenzierung übertrug Rive Kompetenz auf die von ihm eingesetzten Leitungsfiguren. Über sie konnte er weiter Kontrolle auf die Entwicklung der Kunstinstitutionen ausüben und profitierte von deren Expertenwissen. Insofern war die künstlerische Entwicklung dann von Belang, wenn sie in der überregionalen Außenwirkung eine positive Ausstrahlung entfalten konnte. Das Verhältnis zur städtischen Künstlerschaft war getrübt, da das lokale Kunstschaffen und die Bedürfnisse der ortsansässigen Künstler meistens nicht im Fokus der Kunstpolitik lagen. Mit der vorliegenden Untersuchung des Künstlerseins innerhalb eines städtischen Kosmos in Jahrzehnten intensiven Wandels wurden verschiedene Formen der Künstlerexistenz und ihre diskursiven und sozialhistorischen Bedingungen jenseits einseitig avantgardistisch interessierter Geschichtsschreibung betrachtet. Abseits der Spitzen eines kunsthistorischen Kanons wurden am Beispiel der Stadt Halle a. d. S. die Lebens- und Schaffensbedingungen einer in sich heterogenen Berufsgruppe in den Blick genommen. Damit erfolgt eine Annäherung an verschiedene künstlerische Existenzformen, die die meisten Künstler lebten, und an die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert waren. Dabei geht es nicht um die Konstruktion eines typischen Berufs- und Lebensmodells. Stattdessen werden die Brüche, die Unterschiede und das Prozesshafte im künstlerischen Selbstbild (und Fremdbild) betont und betrachtet, wie die Künstler durch Vergemeinschaftung, das Entwickeln beruflicher Standards und das Verhandeln mit anderen Interessengruppen die Bedingungen ihrer Existenz selbst gestalteten. Die Perspektive auf künstlerische Regionalität2 macht die inhaltliche Vielschichtigkeit der historischen Begriffsbildung von Kunst sichtbar.
2 Vgl. Simons, Kunst, Region und Regionalität.
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Der Widerstreit zwischen Abstraktion und Naturalismus überdeckt, dass der zeitgenössische Kunstdiskurs, der in Debatten um die Künstlerausbildung, beim Kuratieren von Ausstellungen oder mäzenatischer Tätigkeit vielfarbig schillerte, wesentlich auch von der Frage nach der Funktion von Kunst überhaupt bestimmt war. Am Ende der historiografischen Spurensuche steht damit weder ein konformes Verständnis von Kunst, das die Zeitgenossen geteilt hätten, noch lässt sich ein homogenes Bild der Künstlerschaft in der Klassischen Moderne zeichnen. Vielmehr liegt die besondere Qualität des historischen Kunstbegriffs und Künstlerseins in den Jahrzehnten um 1900 in ihrer Entwicklungsdynamik, Vielgestaltigkeit und Experimentierfreudigkeit. Gerade in der Nachkriegsgesellschaft (1918–1933) bestanden diverse Kunststile, künstlerische Gewerbe- und Existenzformen nebeneinander. Dennoch vermochten es die Künstler, über ästhetische und weltanschauliche Differenzen hinweg eine Gemeinschaft zur Vertretung ihrer Interessen gegenüber kunstpolitischen Entscheidungsträgern und als Allianz gegenüber den Zumutungen des Kapitalismus zu bilden. Für unseren Umgang mit Kunst in Gegenwart und Zukunft sind m. E. zwei Aspekte der historischen Entfaltung des Kunstdiskurses unbedingt wertvoll: Das Nebeneinander unterschiedlicher Kunstpraxen, ihrer Wahrnehmung, Deutung und Wertung stellt kein Defizit oder gar eine Bedrohung dar, sondern ist Möglichkeit und Ausdruck der Lebendigkeit eines Kunstdiskurses in einem demokratischen Umfeld. Andererseits wird ein kritischer Blick auf Kunstwerke, ihre Auswahl und Präsentation, auf Förder- und andere sozialpolitische Strukturen möglich, wird man sich der den Diskurs formierenden Akteure und ihrer jeweiligen Interessen bewusst. Die strukturell prekäre Lage von Malern und Bildhauern im Untersuchungszeitraum setzt sich ungebrochen bis in die Gegenwart fort und macht augenfällig, dass schöpferische Tätigkeit unter marktkapitalistischen Bedingungen für die meisten Berufskünstler ökonomisch belastend ist. Umso wichtiger erscheint mir, dass der Sozialstaat der Gegenwart die in der bürgerlichen Gesellschaft gründende Tradition öffentlicher Kunstpflege fortsetzt und auch jenseits der klassischen Institutionen ausbaut. Innerhalb der historischen Wissenschaften versteht sich die Untersuchung als Beitrag zum Forschungsfeld der Künstlersozialgeschichte. Im institutionellen Kontext wurde dieser Begriff zuerst von der »Trierer Arbeitsstelle für Künstlersozialgeschichte«3 verwendet, um ein thematisches Desiderat zu bezeichnen, 3 Die Arbeitsstelle vereint verschiedene Projekte, die sich jeweils der »Sozialgeschichte der Künstler im Sinne einer Handwerksgeschichte« widmen. Die sich auf das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen beziehenden Forschungsprojekte untersuchen die Sozialgeschichte des Künstlers vor allem in Mittelalter und Früher Neuzeit. Vgl. Brenner, Trierer Arbeitsstelle für Künstlersozialgeschichte. Die Arbeitsstelle hat auf arthistoricum.net ein Themenportal »Künstlersozialgeschichte« angelegt, auf dem über Inhalte, Publikationen und Vernetzungsmöglichkeiten informiert wird: https://www.arthistoricum.net/themen/ portale/kuenstlersozialgeschichte/ [zuletzt besucht am 04.03.2020].
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das bisher sowohl außerhalb kunsthistorischer wie kunstsoziologischer Forschung lag. Das unter diesem Begriff gebündelte Forschungsinteresse richtet sich auf die Lebens- und Schaffensbedingungen der Künstler und fragt nach den sozialen Bedingungen, aus denen heraus Kunstwerke geschaffen wurden. Kunstgeschichtliche wie -soziologische4 Analysen nahmen im Gegensatz dazu zumeist das Kunstwerk als Ausgangspunkt ihrer Analyse. Neuere kunstsoziologische Studien, die vor allem im Umfeld des Arbeitskreises Soziologie der Künste entstanden und in der Schriftenreihe »Kunst und Gesellschaft« publiziert werden, richten ihr Interesse nur punktuell auch in die Vergangenheit und widmen sich ansonsten gegenwärtigen oder zeithistorischen Fragen gesellschaftlichen Kunstumgangs.5 Als weiterer Impulsgeber erscheint »Forum Kunst und Markt«, das vom Bereich Kunstgeschichte der TU Berlin initiiert wurde und Beiträge zur systematischen Erforschung des Kunstmarktes bündelt. Die vorliegende Untersuchung lässt sich zudem als Beitrag zum Feld der Professionenforschung einordnen. Der Künstlerberuf wiederum besetzt innerhalb dessen eine Sonderstellung, erscheint er doch »als Fremdkörper im System der bürgerlich-rationalen Berufskonzeption.«6 Nicht zuletzt sind seine oftmals prekären Arbeitsbedingungen und der finanziell notwendige Nebenerwerb (trotz des relativ hohen Bildungsgrades) ursächlich für seine berufssoziologischen Besonderheiten.7 Dennoch finden sich zahlreiche Elemente in der Entwicklung künstlerischer Berufe, die deren Professionalisierung kennzeichnen. Vor allem die in den Jahrzehnten um 1900 gegründeten lokalen und überregionalen Berufsverbände bildender Künstler, die einen Schwerpunkt im zweiten Teil dieser Forschungsarbeit bilden, sind ein wesentliches Merkmal der Professionalisierung.8 4 Niklas Luhmann, oftmals als Klassiker der Kunstsoziologie bezeichnet, konzentrierte seine Sicht auf Kunst als Medium der Kommunikation und negiert die Unterscheidung zwischen Produzent und Konsument / Beobachter von Kunst. Im Kommunikationssystem Kunst sind – deutlich im Gegensatz zum hier verfolgten Ansatz – Akteure nicht sichtbar. Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft; Ders., Wahrnehmung und Kommunikation. 5 Dagmar Danko, eine der frühen Organisatorinnen des Arbeitskreises, umriss in ihrer 2012 publizierten Disziplinbeschreibung den Bereich der Kunstsoziologie als Wissenschaft, die sich »mit dem sozialen Kontext von Kunstwerken« auseinandersetzt. Explizit sei damit auch die »Analyse der gesellschaftlichen Grundlagen und Bedingungen für künstlerische Produktion« gemeint. In der Forschungspraxis entstanden insbesondere auf den oder die Künstler konzentrierten Sozialgeschichten jedoch eher aus dem Bereich der historischen Wissenschaften, die auch mit Methoden der empirischen Sozialforschung arbeiten. Vgl. Danko, Kunstsoziologie, S. 14, 16–17. 6 Schütte, Beruf des bildenden Künstlers, S. 3. 7 Walther Müller-Jentsch nennt des Weiteren das Fehlen standardisierter Ausbildungswege und Zugangsbeschränkungen zum Beruf sowie antibürgerliche Tendenzen als Ursachen. Vgl. Müller-Jentsch, Kunst in der Gesellschaft, S. 85–87. 8 Kurtz misst in seiner Berufssoziologie den Berufsverbänden für die Professionalisierung von (Wissens-)Berufen eine große Bedeutung bei. So sind die Berufsverbände bei ihm
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Hinsichtlich der regionalgeschichtlichen Perspektiven der Untersuchung ergeben sich für die Forschung potentielle Anknüpfungspunkte. Inwiefern das hallesche Beispiel aufgrund seiner wirtschaftlichen und kulturellen Struktur von besonderer Eigenart ist und sich für Städte anderen Typs abweichende Bedingungen und Gestaltungsspielräume künstlerischer Existenz ergeben, müssen andere Untersuchungen zeigen.
wichtig als Begründer einer spezifischen Berufsethik und Wächter einer standardisierten Berufsausbildung. Vgl. Kurtz, Berufssoziologie, S. 48. – Die 2019 publizierte Habilitationsschrift Martin Rempes, in der er »Musikerleben in Deutschland 1850 bis 1960« im semantischen Spannungsfeld von »Kunst, Spiel, Arbeit« untersucht, versteht sich explizit als Beitrag zur Geschichte der (kreativen) Arbeit und betrachtet Professionalisierungstendenzen für die Gruppe der Instrumentalmusiker. Vgl. Rempe, Kunst, Spiel, Arbeit, S. 11, 20–23.
Verzeichnis der Abkürzungen
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Register
Sachregister Akademie 16, 172, 221, 223, 225 f., 244, 254, 274, 276, 279, 285, 293, 295–297, 302, 311 Arbeiter 140, 177, 180, 192, 206, 218 f., 220–222, 227, 250, 261, 264, 346 Markt (Kunst-) 116, 126, 137, 142, 153–155, 162, 266–268, 273, 319, 330, 344, 368, 372 Moderne – Klassische Moderne 29, 57, 67, 87 f., 90, 92, 102, 106, 156 f. – Ästhetische Moderne 29 f., 42 f., 104, 267, 368 – Künstlerische Moderne / Kunst der Moderne 38, 77, 96, 99, 128, 130, 188, 246 Autonomie 49–52, 113, 189, 336 Avantgarde 22–25, 30, 42, 74, 86, 102 f., 107, 122, 128, 130, 153, 160 f., 165, 343, 368 f. Berufsgruppe (Künstler) 37, 43, 58, 136, 140, 199, 214, 217, 239, 242, 309, 332 f., 344, 355, 359, 368, 370 Bund Deutscher Architekten (BDA) 118–120, 123, 210, 235, 257 f., 264, 310, 317, 332–339, 349, 354, 356, 362 Bürgerliche Gesellschaft 31, 35, 47–57, 130, 154, 172 f., 268, 320, 344, 369–371 Bürgerlichkeit 47 f., 54 Bürgertum 18, 27, 35, 39, 44, 47–53, 64, 91, 108, 125, 129 f., 139, 170, 174, 206, 267, 273, 292, 367 f. Dekoration, dekorativ(e Kunst) 50, 64, 71, 85, 142, 145, 152, 201, 287, 289, 291 Deutscher Werkbund 174, 200, 207, 237, 313 Differenzierung 17, 25, 28 f., 32–34, 41, 47 f., 73, 82, 85, 125, 162, 173–175, 187, 209, 231–240, 243, 274, 324, 327, 369 f.
Erster Weltkrieg 18, 20 f., 25, 42, 44 f., 75 f., 80, 82, 116, 118, 121, 127, 132, 135, 139, 153, 160, 174, 184, 196, 209, 240, 246, 257, 276, 286 f., 312, 320, 328, 334, 337, 341, 354, 356, 364 Expressionismus 76, 80, 82, 96–100, 121, 153, 161, 169, 184–187, 272, 287, 289, 308 f., 341 f., 347 Franckesche Stiftungen 56 f., 304–306 Freie Künstlervereinigung 82, 286, 327 f., 330 f., 341 Fremdbild 310, 320, 370 Großstadt / Großstadtwerdung 16 f., 19, 25, 29, 43, 66, 113, 209, 240, Haaßengier-Stiftung 41, 46, 110, 116, 132 f., 136, 196, 211, 216, 222, 286, 304 Hallescher Künstlerrat 122 f., 347–356, 364 Hallesche Künstlergruppe 24, 153, 331, 338–342, 346, 348 f., 354 f., 365 Hallscher Ausstellerbund 210, 328–330 Handwerk 39, 41, 172–174, 177, 179 f., 184, 186, 191, 193, 199–201, 213, 216, 218, 225–229, 231–233, 237, 239 f., 242 f., 245, 250, 256, 279, 283, 285,301, 314 f., 317, 344, 346, 369 Handwerkerschule 112–114, 132, 175, 180–184, 187, 189, 194–196, 202, 217, 220, 222, 224–226, 277, 279, 282–286, 294, 316 Historismus / historistisch 25, 27, 32, 41, 147, 149, 173, 176, 177 f., 180, 316, 368 Identität (künstlerisch, des Künstlers) 31, 36 f., 42, 45, 47 f., 51, 53, 161, 265, 306, 319–322, 338 f., 348, 359, 365–369 Individualität/ (künstlerisch) individuell 34, 76, 100, 129, 142, 174, 232, 270, 327, 341, 366, 171 f., 207, 305, 308
396
Register
Industrialisierung 16–18, 30 f., 38, 67, 108, 172–174, 240, 282 Institutionalisierung 17, 69, 74, 124, 242, 320 f., 328, 330, 335, 352, 365
Öffentlichkeit 16, 24, 69 f., 72, 74 f., 80–84, 88, 90 f., 101, 106, 116–119, 121, 123–125, 129, 133, 136 f., 144, 157 f., 162, 170, 205, 276, 280, 314, 330 f., 337, 341, 343, 346
Kaiserreich 44, 62, 118, 121, 160, 262, 291, 343 Krise 27, 32, 69. f., 120, 127, 133, 167, 172 f., 217, 320, 339 Kunstbegriff(e) 31, 33 f., 41, 85, 91, 101, 103–106, 129, 134, 136, 172, 182, 187, 194, 196, 213, 231, 277, 287, 301, 313, 316, 319, 327, 339, 366 Kunstgewerbeschule 43, 73, 83, 103, 109 f., 112–115, 123, 132–136, 174–176, 179, 181–195, 207, 210, 214, 217, 221–229, 232, 236, 244, 265, 273 f., 283, 286, 296 f., 300–302, 304 f., 312, 316 f., 345 Kunstgewerblerin(nen) 211, 217, 296 f. Kunstindustrie 30, 39, 174 f., 244 Künstlerarmut 243–245, 361 Künstlerberuf/ Beruf des Künstlers 131, 133, 135 f., 188, 195, 201, 208, 211–321, 324 f., 328, 332–335, 339, 344 f., 348–372 Künstlerin(nen) 131 f., 229, 247, 293, 295–297, 299, 301 f., 332 Künstlernotstandshilfen / Künstlernotstandsarbeiten 114, 116, 122, 287, 331, 349 f. Künstlerverein auf dem Pflug 73, 82, 123, 150, 153, 203, 210, 273, 282, 287, 294 f., 321–332, 335, 337–345, 348 f., 354, 365 f. Kunstpolitik 26, 34, 44, 107, 109, 111, 113, 116, 121, 124, 291, 370 Kunstproduktion 23, 40, 61, 86, 102, 106, 122, 131, 160, 162, 266, 347, 368 Kunstsystem 162, 164, 169 f., 175, 188, 194, 196, 210, 229, 242, 273, 286, 294, 301, 313, 327, 331, 337 f. 354, 362, 365 f.
Porträtmaler(in) 65, 138, 150, 166, 214, 234, 236, 238, 256, 260, 265, 168–271, 304, 329 Privatbesitz 57, 68–72, 79, 84, 137–143 Professionalisierung 30, 33, 37, 40, 47, 73, 85, 93 f., 114, 170, 175, 296, 302 f., 324, 332, 335, 365, 368, 372 Publikum 17, 24, 36, 39, 43, 60, 65 f., 74, 75, 77, 80, 84, 86, 89–91, 95 f., 102, 131, 139, 152 f., 155, 157–162, 166 f., 170 f., 198, 203, 245, 272 f., 314, 319, 327 f., 330, 347, 363, 367–369
Magistrat 22, 92, 102, 108, 110 f., 113, 115, 177 f., 119–123, 163, 179, 182, 189, 191, 193, 198, 285, 330, 362 Mäzen / Mäzenatentum 26, 40, 47, 61, 88, 103, 125, 129 f., 133, 134, 136, 150, 211, 225, 324, 268, 371 Naturalismus / naturalistisch 25, 75, 78, 271, 273, 287, 308, 368, 371 Novembergruppe 185
Regional / Regionalität 23–25, 40 Revolution (politisch) 50, 121, 272, 287, 339, 342, 346, 353, 355 Rezeption 23, 43, 61,79, 82, 104, 139, 368 Sammlung – Privatsammlung 57, 70, 72, 90, 137–139, 142 f., 150, 156, 168, 283 – Sammlung (öffentlich) 19, 22, 40, 54, 59 f., 86–102, 104, 109, 114, 125–129, 274, 283, 343 – Sammlungspolitik 102, 107, 126 – Vorlagensammlung 89, 204 f., 209, 283 Sehgewohnheit 38, 76, 79, 85 f., 99, 368 Selbstbild/ Selbstverständnis (des Künstlers) 30, 45, 90, 194, 202, 230, 310, 319, 322, 369 f. Skizzenklause Jugend 166, 203, 281, 315, 321 f., 326, 365 f. Städtisches Museum für Kunst und Kunstgewerbe 22, 59, 80, 86, 90 f., 95, 97, 112, 125 f., 131, 276, 297 Stadtverordnetenversammlung 91, 108, 110 f. 115–117, 119, 121–123, 168, 183, 189, 198, 362 Urbanisierung / Urbanität 29 f., 40, 67, 198 Vergemeinschaftung 320, 360, 369 f., 37, 42, 45 Vermittlung / Verkauf (von Kunst) 59, 61, 67, 74 f., 126, 153–159, 166, 189, 190, 278, 288, 328, 350 f., 359
Personenregister Vermittlung / Vermittler (von Kunst, inhaltlich) 26, 43, 59 f., 74, 84, 96, 98 f., 104, 153, 155–157, 161, 363, 367–369 Volkshochschule 105, 309, 318, 347 Weimarer Republik 18, 42, 121, 302
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Wirtschaftsverband bildender Künstler, Ortsgruppe Halle 36, 43, 73, 115, 118 f., 210, 309, 337, 348, 352–366 Zeichenlehrer 56, 66, 160, 177, 228, 233, 256, 302, 304–307, 309, 354
Personenregister Altmann, Friedrich 285 Bernstein, Martha 315 Brauchitsch, Margarethe von 90, 208, 297–300 Breiting, Wilhelm 183 f., 186 Brumme, Gustav 177, 180–182, 188, 277 Budde, Grete 271, 294 Busse-Dölu, Wilhelm 169, 305 f., 326, 349 Fischer-Lamberg, Otto 73, 160 f., 169, 306–309, 354–356, 359, 361, 363 Franck, Philip 90, 304 Frankl, Paul 23, 25, 28 f., 113, 153 Gehrts, Franz 208, 257, 299 Gehrts-Wildenhagen, Elise 90, 299 f. Gellhorn, Alfred 334, 339 f., 354, 361 Gerstenberg, Kurt 22, 72, 83 Glaw, Otto 339 f. Glück, Gustav 254, 269, 274, 277, 319 Gogh, Vincent van 76, 78 f. Goldschmidt, Adolph 58, 69, 72, 76 f., 80–83, 95, 99, 111, 116, 126, 153, 172, 203, 308, 330, 333, 368 Grössler, Margarethe 228 Gurlitt, Cornelius 118–120, 338 Haaßengier, Ernst 131, 133, 135, 189, 215 Hahs, Erwin 185 Horn, Paul 259 f., 317 f., 339, 354 Horn, Richard 81, 232, 277, 339 f., 342, 346, 348, 353, 355, 361, 364 Jolas, Karl 182, 184, 186, 194, 285 f. Jost, Wilhelm 112, 117–119, 123, 183, 331 f. Juckoff-Skopau, Paul 223, 329 Kallmeyer, Friedrich 116, 147, 251 Keiling, Heinrich 182, 254 f., 274, 276 f., 279, 319
Kopp, Heinrich 90, 150, 182, 184, 186, 194, 202, 209, 278–282, 286, 321, 330 Kuhnt, Friedrich 127, 251 Likarz, Maria 183, 300 Lude, Werner 285 f., 161, 288 Maennchen, Adolf 142, 179, 195, 202, 283, 285, 294, 298 Manz, Ewald 213, 327 Marcks, Gerhard 191 Moritz, Robert 281, 322 f. Muthesius, Hermann 174, 191, 207, 313 Nathusius, Susanne von 271, 293 f. Neubert, Albert 157, 166–170 Neuß, Erich 20, 110 Österling, Karl 339 Pabst, Adolf Friedrich 216, 227 f. Pabst, Paul 285 f., 288 Peppmüller, Elise 294–296 Peppmüller, Marie 294–296 Prange, Christian Friedrich 16, 54, 172 Radojewski, Paul 161, 328 Reiling, Paul 92 f., 254 f., 259 f., 274–276, 319 Rive, Richard Robert 18, 22 f., 93–95, 97, 101–103, 107–124, 132, 175, 182 f., 191, 193 f., 267, 336, 362, 370 Sallwürk, Sigismund von 72 f., 99, 166, 319, 329, 271–273 Sauerlandt, Max 23, 25, 28 f., 73, 80–83, 90, 92–107,112 f., 115, 126–130, 136, 143,153, 155 f., 183, 246, 267, 270, 327, 330, 333, 368 Schardt, Alois 97, 103–105, 107, 113 Staudte, Otto 255
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Register
Steckner, Reinhold 127–134
Völker, Kurt 216, 285
Thiersch, Paul 73, 83, 103, 112–114, 132 f., 136, 175, 182–195, 214, 222, 224 f., 227, 279, 300 f., 312, 317
Waetzoldt, Wilhelm 72, 83, 153, 172, 191, 217 Weßner-Collenbey, Alfred 73, 278–282 Wolff, Gustav 68, 116, 203, 254, 301, 313, 315 f. Wolff, Hellmuth 200, 207 Wolff, Johanna 301
Utitz, Emil 72, 83, 113, 115 Vaccano, Clemens 354 Velde, Henry van de 165, 174, 183, 207, 313 Voigt, Moritz 56 f., 65, 305 Völker, Karl 73, 285 f., 288–291, 317 f., 339–341
Zander, Wilhelm 90, 279, 284 f., 298 Zeschmar, Moritz 285