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German Pages 270 [272] Year 2016
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Oldenbourg Grundriss der Geschichte
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Oldenbourg Grundriss der Geschichte Herausgegeben von Lothar Gall Karl-Joachim Hölkeskamp Steffen Patzold
Band 31
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Die Sowjetunion 1917–1991 Von Manfred Hildermeier
3., überarbeitete und erweiterte Auflage
De Gruyter Oldenbourg 2016
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ISBN 978-3-486-71848-5 e-ISBN (PDF) 978-3-486-85554-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039889-2 ISSN 2190-2976 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Vorwort der Herausgeber Die Reihe verfolgt mehrere Ziele, unter ihnen auch solche, die von vergleichbaren Unternehmungen in Deutschland bislang nicht angestrebt wurden. Einmal will sie – und dies teilt sie mit anderen Reihen – eine gut lesbare Darstellung des historischen Geschehens liefern, die, von qualifizierten Fachgelehrten geschrieben, gleichzeitig eine Summe des heutigen Forschungsstandes bietet. Die Reihe umfasst die alte, mittlere und neuere Geschichte und behandelt durchgängig nicht nur die deutsche Geschichte, obwohl sie sinngemäß in manchem Band im Vordergrund steht, schließt vielmehr den europäischen und, in den späteren Bänden, den weltpolitischen Vergleich immer ein. In einer Reihe von Zusatzbänden wird die Geschichte einiger außereuropäischer Länder behandelt. Weitere Zusatzbände erweitern die Geschichte Europas und des Nahen Ostens um Byzanz und die Islamische Welt und die ältere Geschichte, die in der Grundreihe nur die griechisch-römische Zeit umfasst, um den Alten Orient und die Europäische Bronzezeit. Unsere Reihe hebt sich von anderen jedoch vor allem dadurch ab, dass sie in gesonderten Abschnitten, die in der Regel ein Drittel des Gesamtumfangs ausmachen, den Forschungsstand ausführlich bespricht. Die Herausgeber gingen davon aus, dass dem nacharbeitenden Historiker, insbesondere dem Studenten und Lehrer, ein Hilfsmittel fehlt, das ihn unmittelbar an die Forschungsprobleme heranführt. Diesem Mangel kann in einem zusammenfassenden Werk, das sich an einen breiten Leserkreis wendet, weder durch erläuternde Anmerkungen noch durch eine kommentierende Bibliographie abgeholfen werden, sondern nur durch eine Darstellung und Erörterung der Forschungslage. Es versteht sich, dass dabei – schon um der wünschenswerten Vertiefung willen – jeweils nur die wichtigsten Probleme vorgestellt werden können, weniger bedeutsame Fragen hintangestellt werden müssen. Schließlich erschien es den Herausgebern sinnvoll und erforderlich, dem Leser ein nicht zu knapp bemessenes Literaturverzeichnis an die Hand zu geben, durch das er, von dem Forschungsteil geleitet, tiefer in die Materie eindringen kann. Mit ihrem Ziel, sowohl Wissen zu vermitteln als auch zu selbständigen Studien und zu eigenen Arbeiten anzuleiten, wendet sich die Reihe in erster Linie an Studenten und Lehrer der Geschichte. Die Autoren der Bände haben sich darüber hinaus bemüht, ihre Darstellung so zu gestalten, dass auch der Nichtfachmann, etwa der Germanist, Jurist oder Wirtschaftswissenschaftler, sie mit Gewinn benutzen kann. Die Herausgeber beabsichtigen, die Reihe stets auf dem laufenden Forschungsstand zu halten und so die Brauchbarkeit als Arbeitsinstrument über eine längere Zeit zu sichern. Deshalb sollen die einzelnen Bände von ihrem Autor oder einem anderen Fachgelehrten in gewissen Abständen überarbeitet werden. Der Zeitpunkt der Überarbeitung hängt davon ab, in welchem Ausmaß sich die allgemeine Situation der Forschung gewandelt hat. Lothar Gall
Karl-Joachim Hölkeskamp
Steffen Patzold
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Inhaltsverzeichnis Vorwort zur 3. Auflage I. Darstellung 1. Revolution und Bürgerkrieg (1917–1921) . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Das Februarregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Vom Oktoberumsturz zum Bürgerkrieg . . . . . . . . . . . 2. Konzessionen und Experimente:Die „Neue Ökonomische Politik“ (1921–1928) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Diadochenkämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Neue Ökonomische Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Revolution von oben und Vorkriegsstalinismus (1929–1941) . . 3.1 Planwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Zwangskollektivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Ausschaltung der „Rechten Opposition gegen die“ und das Ende aller Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Herrschaft, Terror und wirtschaftliche Entwicklung . . . . 3.5 Sozialistischer Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Das kollektivierte Dorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Gesellschaft und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.8 Von „kollektiver Sicherheit“ zum Hitler-Stalin-Pakt . . . . 4. Großer Vaterländischer Krieg und Spätstalinismus (1941–1953) 4.1 Extremer Zentralismus und patriotische Mobilisierung . . 4.2 Wiederaufbau nach altem Muster . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Kriegsallianz und Nachkriegskonfrontation . . . . . . . . 5. Reform und Stalinismuskritik unter Chruščev (1953–1964) . . . 5.1 Aufstieg und Fall des Ersten Sekretärs . . . . . . . . . . . . 5.2 Wirtschaftsreformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Wechselhaftes „Tauwetter“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zwischen Stabilisierung und Stagnation: die Ära Brežnevs (1964–1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die ,Herrschaft der Sekretäre‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Stillstand der Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Unzufriedene Gesellschaft, gespaltene Kultur . . . . . . . . 6.4 Außenpolitik zwischen „friedlicher Koexistenz“ und Intervention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zwischenspiel, Perestrojka und Untergang (1982–1991) . . . . . 8. Ein neues Russland? (seit 1991) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI 1 2 2 8 13 20 20 23 26 27 28 32 32 33 36 37 46 48 50 54 57 57 62 65 68 69 72 73 75 76 78 81 85 89 97
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Inhaltsverzeichnis
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
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1. Ursachen der Revolution: Strukturprobleme oder Kriegsfolgen?
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2. Das Schicksal des Februarregimes: Eigenes Verschulden oder bolschewistische Skrupellosigkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . .
106
3. Bürgerkrieg : Ursachen und Preis des Sieges . . . . . . . . . . . . ˙ und ihr Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Charakter der NEP
108 111
5. Vorkriegs-Stalinismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Interpretationen: Totalitarismus, Opportunismus, neue Subjektivität oder Schattenseite der Moderne? . . . . . . . 5.2 Terror zwischen zentraler Lenkung und lokaler Mitwirkung 5.3 Opfer des Terrors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Stalinistische Werte: alte Moral, Konsum und Nation . . . 5.5 Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Der Zweite Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Der Hitler-Stalin-Pakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Der deutsche Überfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Deportation nichtrussischer Völker . . . . . . . . . . 6.4 Katyn’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Stalinismus und Krieg in der Geschichte der Sowjetunion
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137 137 140 142 143 144
7. Der Aufstieg Chruščevs und die Partei . . . . . . . . . . . . . .
147
8. „Real existierender Sozialismus“ unter Brežnev: Konzepte zu seiner Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
150
9. Ursachen der Perestrojka und ihres Scheiterns . . . . . . . . . .
160
10. Das Ende der Sowjetunion – Versuche einer Bilanz . . . . . . .
163
III. Quellen und Literatur
117
169
1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Gesamt oder übergreifend . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Einzelne Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169 169 174
2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Einführungen, Bibliographien, Handbücher, Lexika . . . . 2.2 Epochenübergreifende Darstellungen und allgemeine Werke 2.3 Einzelne Epochen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
187 187 188 201
Anhang
241
Hinweise zur Datierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Hinweise zur Schreibweise und Aussprache: . . . . . . . . . . . . .
241
Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Register Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Orts- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort zur 3. Auflage Schon bei der Vorbereitung der zweiten Auflage von 2007 habe ich lange überlegt, ob es zu rechtfertigen sei, den im Jahre 2000 verfassten Text mehr oder weniger unverändert zu lassen. Ich habe mich damals dafür entschieden, weil in der Zwischenzeit nicht so viel Neues erschienen war, dass man es in eine relativ knappe Übersicht unbedingt hätte einfügen müssen. Diese Sachlage hat sich nun definitiv geändert. Nicht nur liegen die oft mehrbändigen, umfangreichen Dokumentationen, die nach der „Archivrevolution“ von 1991 auf den Weg gebracht wurden, in aller Regel abgeschlossen vor. Auch die Auswertung dieser und vieler anderer neu zugänglicher Quellen in ,sekundären‘ Darstellungen ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sich das Bild ganzer Zeitabschnitte oder bestimmter Sektoren der historischen Entwicklung geändert hat. Dies gilt natürlich in besonderem Maße für die Stalinsche Herrschaftsordnung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, aber etwa auch für den Bürgerkrieg oder das Verhältnis ˙ Bibliographische Recherchen hazwischen Staat und Bauernschaft in der NEP. ben über 1200 einschlägige, seit der Jahrtausendwende erschienene selbständige Publikationen erbracht, die ich fast vollständig durchgesehen und in der ein oder anderen Form zu berücksichtigen versucht habe. Auch in Teil II, der keine bloße Aufzählung sein soll, ist dies in thematisch-systematischer Form geschehen. Wichtige Einzeltitel, die sich einer solchen Zuordnung entzogen, werden wenigstens in der Bibliographie genannt. Da sich manche Archivbestände wieder schließen, drängt sich gegenwärtig der Eindruck auf, als sei die Aufarbeitung der Vergangenheit, die so lange hatte aufgeschoben werden müssen und so plötzlich möglich wurde – an erster Stelle natürlich, aber nicht nur der stalinistischen – , nun, ein Vierteljahrhundert nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, zu einem gewissen Abschluss gekommen. Auch dieser Umstand hat die vorliegende vollständige Überarbeitung und Ergänzung nötig gemacht; zugleich begründet er die Hoffnung, dass sie nicht schon in zwei, drei Jahren wieder überholt sein möge. Göttingen, im Dezember 2015
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I. Darstellung
Zur Überraschung aller (auch derjenigen, die es nachher besser wussten) hörte die Sowjetunion Ende 1991 auf zu bestehen. Ihr Niedergang war mit dem gescheiterten Putsch gegen die Reformen Gorbačevs vom 19.–21. August besiegelt. Dennoch kam ihr förmliches Ende nicht nur unerwartet, sondern auch unerwartet beiläufig. Ein Staat verschwand von der politischen Landkarte, der (einschließlich seines Vorläufers in Gestalt der RSFSR) knapp 74 Jahre überdauert hatte, als erste Verwirklichung der sozialistischen Alternative zum ,bürgerlichen‘ Kapitalismus galt, nach seinem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland zur zweiten Welt- und Atommacht neben den USA aufgestiegen war und in dieser Funktion – als Systemgegner und einzig ebenbürtiger militärischer Rivale – die Geschichte des ,kurzen 20. Jahrhunderts‘ (1914/18–1989/91) besonders in seiner zweiten Hälfte maßgeblich prägte. Dies geschah ohne äußeren und inneren Krieg und in krassem Gegensatz zu seiner gewaltsamen Geburt durch den Umsturz vom Oktober 1917 und dem anschließenden Bürgerkrieg von 1918–1921, beides Geschehnisse, die sich zu einer tiefgreifenden Revolution aller öffentlicher Strukturen und Lebensverhältnisse summierten. In der jüngeren europäisch-atlantischen Geschichte findet sich kein anderes Beispiel für einen derart geräuschlosen Untergang eines so bedeutenden und mächtigen Staates. Allerdings legen die Annexion der Krim im Frühjahr 2015 und der anschließende, von Russland angestiftete Krieg ostukrainischer Separatisten gegen die Kiewer Zentralregierung der postsowjetischen neuen Ukraine die Interpretation nahe, dass nun, ein Vierteljahrhundert später, doch noch ein gewaltsames Nachspiel folgt. Denn offensichtlich liegen der russischen Schützenhilfe nicht nur tradierte russische Ansprüche auf diese Territorien zugrunde, sondern auch das Kompensationsbedürfnis einer vermeintlich vom Westen gedemütigten sowjetischen Supermacht. Umso eher besteht Anlass, die so plötzlich abgeschlossene Geschichte des ersten sozialistischen Gemeinwesens der Welt in neuem Licht zu sehen. Die Sowjetunion ist nicht nur als eine der großen politisch-geistigen Kräfte des 20. Jahrhunderts von Interesse, sondern auch unter der Frage nach den Ursachen ihres Scheiterns. Dabei gilt allerdings, dass post hoc nicht propter hoc sein darf. Gerade in der Entwicklung des revolutionären Russland, das sich aufgrund seines ideologischen Anspruchs auch als Experiment verstand, gab es Weichenstellungen und Alternativen. Darüber hinaus ist schon früh die ,urhistorische‘ Frage aufgeworfen worden, ob nicht manche Merkmale seiner politischen Ordnung und sozialökonomischen Verfassung in der zarischen Vergangenheit wurzelten. Im Licht der Entwicklung Russlands nach der Wende zum dritten Jahrtausend, als Vladimir Putin das Präsidentenamt von Boris El’cin übernahm, hat dieser Aspekt einer erheblichen Kontinuität autoritärer Traditionen neue Aktualität gewonnen.
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I. Darstellung
1. Revolution und Bürgerkrieg (1917–1921) 1.1 Ursachen
Sozioökonomische Entwicklung
Wirtschaftsaufschwung
Mit guten Gründen beginnen die meisten Darstellungen der Vorgeschichte der Revolution immer noch mit der sozioökonomischen Entwicklung. Darin spiegelt sich die Priorität, die der zarische Staat selbst setzte. Als er nach der Niederlage im Krimkrieg (1854–56) die sog. Großen Reformen auf den Weg brachte, tat er das in erster Linie, um wirtschaftliche Stärke zu gewinnen, diese in Finanzkraft zu übersetzen und einer Wiederholung der Demütigung vorzubeugen. Am wichtigsten war dabei die Aufhebung der Leibeigenschaft im März 1861. Sie räumte nicht nur besitzrechtliche Barrieren und Freizügigkeitsbeschränkungen förmlich beiseite. Stärker noch wirkte sie psychologisch: als Signal für das Ende einer jahrhundertealten Wirtschafts- und Sozialordnung (aber nicht der Autokratie) und den Aufbruch in eine neue Zeit. Was damit als Fernziel am Horizont erschien, war nichts weniger als eine Industriegesellschaft, wie man sie im zeitgenössischen England oder Deutschland beobachtete. In jüngerer Zeit hat sich die Neigung verstärkt, die Entwicklung der russischen Wirtschaft in den letzten Jahrzehnten der Monarchie als Erfolg zu werten. Wer den Anfangszustand 1861 und den Endzustand 1913 im Kontext der anderen Nationalökonomien Europas und der atlantischen Welt miteinander vergleicht, wird in der Tat manches beobachten, was für diese Auffassung spricht. Zu Beginn der Reformen war Russland ein Agrarland mit einer vormodernen, auf bäuerliche Hörigkeit und adeligem Grundbesitzmonopol gegründeten Sozial- und Wirtschaftsverfassung, aus der die wenigen Städte – von den ganz großen Zentren wie Moskau, St. Petersburg und Kiew abgesehen – weder aufgrund eines besonderen Rechts- oder ihres politischen Verbandscharakters noch aufgrund auffälliger gewerblich-kommerzieller Tätigkeiten und kultureller Errungenschaften herausragten. Es besaß eine große Bevölkerung, aber geringe ökonomische (und militärische) Leistungskraft und war trotz seiner enormen Ausdehnung auf dem besten Weg, den von Peter dem Großen eroberten Platz im Kreis der fünf europäischen Führungsmächte (Pentarchie) zu verlieren. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs dagegen erwirtschaftete das Zarenreich nach den USA, Deutschland und Großbritannien das vierthöchste Nationaleinkommen der Welt. Es war der größte Produzent und Exporteur agrarischer Erzeugnisse in Europa, besaß aber auch eine bedeutende Schwer- und Maschinenbauindustrie. Unternehmen und Banken von gesamteuropäischem Gewicht wie Siemens & Halske, die AEG, der Crédit Lyonnais und andere mehr investierten erhebliche Summen, gründeten Filialen und transferierten ihre technologischen Kenntnisse. Das Reich verfügte über ein beachtliches Schienennetz (von 56 500 km im Jahr 1901), Metropolen, die sich hinsichtlich ihrer Größe, Wirtschaftskraft und kulturellen Ausstrahlung mit Berlin, Paris, London und Wien messen konnten, und war spätestens seit der Einführung des Goldstandards 1897 als Grundlage der vollen Konvertibilität seiner Währung Teil des Weltmarktes. Russland erreichte dieses Ergebnis in einer Phase stürmischer
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1. Revolution und Bürgerkrieg (1917–1921)
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Industrialisierung 1889–1904, deren durchschnittliche Wachstumsrate aller produzierten Güter mit 3,25 % pro Jahr die Vergleichsdaten für „Westeuropa“ (stets im russischen Sinn einschließlich Deutschlands und Polens gebraucht) und die USA übertraf (dort 2,7 %). Auch im gesamten Zeitraum zwischen 1861 und 1914 wuchs die Volkswirtschaft des Zarenreichs schneller als die britische, deutsche, norwegische und italienische, aber deutlich langsamer als die US-amerikanische, japanische oder dänische. Auf der anderen Seite lässt auch eine Neubewertung und -berechnung der traditionellen Maßzahlen keinen Zweifel daran, dass die russische Wirtschaft Mühe hatte, mit der Bevölkerungsentwicklung Schritt zu halten. Der auffälligste Unterschied zu Westeuropa und Nordamerika bestand in einer deutlichen Kluft zwischen ihrer absoluten Leistungsfähigkeit und dem Pro-Kopf-Ergebnis. Erstere war aufgrund der schieren Größe des Landes erheblich, Letzteres blieb niedrig. Bei allem industriellen Fortschritt hinkte das Zarenreich, an nicht-aggregierten ökonomischen und vor allem an sozialen Indikatoren (z. B. der Kindersterblichkeit) gemessen, seinen europäischen Konkurrenten mit einigem Abstand hinterher. In diesem Sinn blieb es rückständig. Eine der Hauptursachen für den Untergang der Monarchie ist von Anfang an in der Agrarkrise gesehen worden. Marxistische und liberale Deutungen fanden in der Auffassung zusammen, dass sich die russische Landwirtschaft in einem Teufelskreis von rapidem Bevölkerungswachstum, zunehmender Landknappheit, rückläufiger Produktivität, hoher Steuerlast und sinkendem Lebensstandard verfangen habe, dem sie trotz der Förderung eines marktorientierten Mittelbauerntums durch den Ministerpräsidenten Petr A. Stolypin seit 1906 vor dem Ersten Weltkrieg nicht zu entrinnen vermochte. Wesentliche Verantwortung für diesen Zirkel schrieb man dabei der Bestimmung des Befreiungsstatuts von 1861 zu, das bäuerliche Land nicht in Individualbesitz zu geben, sondern es der Landumverteilungsgemeinde (obščina) zu übereignen. Dies habe nicht nur die Abwanderung in die Städte behindert, sondern aufgrund der tradierten Neuvergabe des Bodens nach Familiengröße sowohl das demographische Wachstum beschleunigt als auch einer sorgsamen, an langfristigem Gewinn orientierten Nutzung im Wege gestanden. Neuere Forschungen weisen dagegen auf die Unstimmigkeit dieses Szenarios hin. Sie machen geltend, dass die Agrarproduktion nicht stagnierte, kein „Hungerexport“ erfolgte, sondern genug zusätzliches Getreide für die Ausfuhr vorhanden war, Bauern die entstehende Arbeiterschaft faktisch in Scharen vermehrten und der Lebensstandard auf dem Dorf nicht sank. Die Landwirtschaft geriet in keinen Strudel unaufhaltsamer Abwärtsdynamik, behinderte auch nicht die Industrialisierung durch Mobilitätsbarrieren und mangelnde Kaufkraft („Enge des Binnenmarktes“), sondern machte im Gegenteil Fortschritte, die den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchten. Da aber das Faktum massenhafter und gewaltsamer Bauernunruhen in den Revolutionen von 1905 und 1917 bestehen bleibt, bedürfen diese einer neuen Erklärung. Vieles spricht dafür, dass sie vor allem im Verfall der staatlichen Macht und gerade umgekehrt : nicht in der Verelendung der Bauern, sondern in der Besserung der Lebensverhältnisse vieler (bei großen regionalen Unterschieden) zu suchen war.
Agrarkrise
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Arbeiterschaft
Gebildete Schichten
I. Darstellung
Die industrielle Entwicklung brachte notwendigerweise Veränderungen der Sozialstruktur mit sich. Zum einen formierte sich eine Arbeiterschaft. Vor allem sowjetmarxistische Forscher haben viel Energie darauf verwandt, ihre quantitative Größe zu bestimmen. Bei erheblichen Schwankungen in Abhängigkeit nicht zuletzt von der Definition dürften die Angaben von 3,96 Mio. bzw. 4,02 Mio. für 1860 und 17,82 Mio. bzw. 17,48 Mio. für 1913 der Wahrheit am nächsten kommen. Dabei sind allerdings Landarbeiter, die das größte Kontingent bildeten, und Bau- und Transportarbeiter, von wandernden Handwerkern bis zu den Wolgatreidlern, eingeschlossen. An Industriearbeitern im engeren Sinne fand die maßgebliche statistische Studie nur 1,6 Mio. 1850 und 6,1 Mio. 1913. Gemeinsam ist allen Zählweisen das Hauptergebnis: Die Zahl der Lohnabhängigen inner- und außerhalb der Fabriken im engeren Sinne wuchs im halben Jahrhundert vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf etwa das Vierfache. Damit bildete sich eine neue Schicht, die es in der traditionalen Agrarordnung nicht gegeben hatte, die sich besonders in den großen Städten konzentrierte und sowohl eigene materielle als auch allgemeingesellschaftliche und politische Interessen geltend machte. Offen bleiben allerdings der Charakter dieser Arbeiterschaft und die Art ihrer Wünsche. Während sowjetmarxistische Historiker zumindest nach der sog. Ersten Revolution von 1905–06 immer mehr „erbliche Proletarier“ entdeckten, hielten westliche Beobachter ihre sozial-kulturelle Lokalisierung „zwischen Feld und Fabrik“ (Th. von Laue) weiterhin für angemessen. Genau besehen schließen beide Auffassungen einander nicht aus, weil auch die urbanisierten Arbeiter der zweiten und dritten Generation bis zum Sturz der Monarchie an der Zuteilung eines Landstücks in den Heimatdörfern ihrer Familien festhielten, nicht zuletzt um im Alter oder bei Invalidität darauf zurückgreifen zu können. Deshalb half die Zwitterhypothese auch in der entscheidenden Frage nach den lenkenden Faktoren ihrer politischen Orientierung nicht im erhofften Maße weiter. Denn inzwischen ist deutlich, dass die lange behauptete Korrelation zwischen Radikalismus und intensiver dörflicher Bindung auf der einen Seite und Mäßigung sowie ,Verstädterung‘ auf der anderen Seite so nicht zutrifft. Dieser Erklärungsversuch hat nicht nur den Befund gegen sich, dass die agrarisch orientierte Sozialrevolutionäre Partei in gleichem Maße Fabrikarbeiter an sich zog wie die Sozialdemokratie. Darüber hinaus widerspricht er der nunmehr unbestrittenen Beobachtung, dass es gerade die urbanisierten, am besten bezahlten und fachlich wie allgemein am höchsten qualifizierten Arbeiter waren, die mit besonderer Vehemenz politische Forderungen einschließlich des Sturzes der Monarchie erhoben. Zu einer weiteren sozialen Schicht hat man die Inhaber verschiedener Bildungsqualifikationen zusammengefasst, derer die post-traditionale Übergangsgesellschaft bedurfte. Für die zahlreichen neuen Schulen auf den Dörfern brauchte man Lehrer, für die Seuchenvorbeugung und sonstige medizinische Versorgung Ärzte, für die Herstellung technisch anspruchsvollerer Produkte der entstehenden Industrie Ingenieure, für die Universitäten und Fachhochschulen Professoren und Dozenten. Aus ihnen formte sich erstmals eine Intelligenz im Sinne einer Statusgruppe, die neben die intelligencija als Gesinnungs- und Ha-
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bitusgemeinschaft trat und diese gleichsam überwölbte. Als Verkörperung der Professionalisierung stand sie überwiegend in den Diensten der 1864 gegründeten Selbstverwaltungskörperschaften auf Gouvernementsebene, denen begrenzte administrative Aufgaben übertragen wurden. Als sog. „Drittes Element“ dieser zemstva (Singular: zemstvo) bildeten sie – neben dem reformorientierten Adel – die zweite Säule einer liberalen Bewegung, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts immer lauter artikulierte. Aber auch die radikale, revolutionäre Opposition gegen die Autokratie rekrutierte vor allem ihre Führer fast ausschließlich aus der neuen Intelligenz. Schließlich konnte in der marktwirtschaftlich-kapitalistischen Industrialisierung, die das Zarenreich im Zeichen der „Verwestlichung“ vorantrieb, auch ein Bürgertum nicht fehlen. Gegenwärtig mehren sich die Belege dafür, dass es quantitativ wie qualitativ bedeutender war als in den letzten Jahrzehnten angenommen. Erste Lokalstudien über die soziale und politische Elite größerer Städte zeigen, dass hier eine neue Form interständischer Vergesellschaftung im Umfeld der Ratsversammlungen (wie sie die neue Stadtordnung von 1870 vorsah) bereits erhebliche Fortschritte gemacht hatte. Die jeweilige Prägung hing naturgemäß vom Charakter der Stadt und der Region ab. In den Metropolen waren neben Unternehmern und Kaufleuten Beamte – die dem persönlichen oder erblichen Adel angehörten – stark vertreten, in Universitätsstädten ohne administrative Zentralfunktion oder bedeutende Industrien die aufstrebenden Akademiker. In jedem Falle zeichnet sich ab, dass eine neue Oberschicht entstand, die sich weitgehend aus den Bindungen der überkommenen Korporationen löste, durch Vereine, Klubs und nicht formalisierte Begegnungsstätten in sich ,vernetzt‘ war und oft auch mindestens eine protopolitische, zumeist lokal fundierte Identität entwickelte. Dass vor allem die hauptstädtische Bourgeoisie im engeren Sinne ein erhebliches Selbstbewusstsein entwickelte, lässt sich nicht zuletzt auch an ihren – bislang ebenfalls unterschätzten – mäzenatischen Aktivitäten ablesen. Dagegen blieb ihre politische Wirkungskraft in Verbänden und später auch Parteien sehr begrenzt. Erhebliche Veränderungen, ohne die der Umbruch des Jahres 1917 nicht denkbar ist, traten auch im politischen Leben des ausgehenden Zarenreichs ein. Sie lassen sich grob in Reformen der Staatsverwaltung und -verfassung auf der einen Seite und neue Wege und Organisationen gesellschaftlicher Eigeninitiative auf der anderen unterteilen. Die Autokratie gab Ersteren wichtige Impulse, als sie 1864 als Teil des großen Aufbruchs nach der Niederlage im Krimkrieg die zemstva ins Leben rief. Damit zog sie nicht nur, wie beabsichtigt, den Provinzadel zur Sanierung der chronisch ineffektiven Verwaltung heran, sondern schuf darüber hinaus trotz ihrer beharrlichen Weigerung, eine zentrale Versammlung von zemstvo-Vertretern zuzulassen, Kristallisationskerne und ,Trainingsstätten‘ für allgemeingesellschaftlich-politisches Engagement. Größere Wirksamkeit als zumeist angenommen entfaltete auch die Justizreform von 1864. Über einen neuen Instanzenzug der Rechtsprechung hinaus begründete sie – nach preußischem Vorbild – einen unabhängigen Richterstand und die freie Advokatur. Deshalb ist der Vorschlag durchaus erwägenswert, die unbeschränkte Selbstherrschaft in Russland bereits mit diesem Datum zu Ende gehen zu lassen.
Bürgertum
Politische Veränderungen
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Erste Russische Revolution 1905/06
I. Darstellung
Die gesellschaftliche Mobilisierung legte den Grundstein für die Herausbildung unterschiedlicher politischer Lager. Eine Wasserscheide markierte dabei der Hungerwinter von 1891/92. Er gab der Bereitschaft wacher Zeitgenossen zum öffentlichen Engagement einen enormen Schub, der nach der Jahrhundertwende in die förmliche Gründung von Parteien überging. Schon in den neunziger Jahren zeichnete sich dabei im Groben das Spektrum ab, das bis zum Oktoberumsturz Bestand hatte: eine liberale Strömung, die zunächst vom fortschrittlichen, zemstvo-erfahrenen Landadel, danach zunehmend auch von der Intelligenz getragen wurde; eine agrarsozialistische Strömung, die den Sturz der Monarchie mit Hilfe der Bauern als der großen Masse der Bevölkerung anstrebte, und eine marxistische Strömung, die auf das städtische Proletariat als Träger der Revolution und Wegbereiter einer sozialistischen Gesellschaft setzte. Zu den wichtigsten und bekanntesten Organisationen dieser Lager wurden die Partei der Konstitutionellen Demokraten (KD oder Kadetten), gegründet 1905, die Sozialrevolutionäre Partei Russlands (PSR), im Winter 1901/02 entstanden, und die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (RSDRP), die faktisch 1903 ins Leben trat und sich sogleich in zwei, bald weitgehend selbstständige Fraktionen spaltete: die Menschewiki („Minderheitler“), geführt von Julij O. Martov, und die Bolschewiki („Mehrheitler“) mit Vladimir I. Lenin an der Spitze. Gegenüber der mittel- und westeuropäischen Parteienlandschaft, wie sie sich seit der Französischen Revolution herausgebildet hatte, war die russische gleichsam nach links verschoben : Konservativ-monarchistische und rechte Gruppierungen fehlten zunächst ganz, Parteien standen grundsätzlich in der Opposition gegen die. Einen nachhaltigen Schub, der aber ohne vorausgehende längere Mobilisierung der Gesellschaft kaum denkbar ist, erhielt der politische Wandel durch die sog. erste Russische Revolution von 1905/06. Wie immer diese schwerste Krise der Autokratie vor dem Weltkrieg zu kennzeichnen sein mag, zumindest vier Ergebnisse prägten die verbleibenden Friedensjahre und gehören zu den notwendigen Voraussetzungen für die Umstürze des Jahres 1917. (1) Die „Selbstherrschaft“ musste zwar einer Konstitution zustimmen, die auch ihre Vollmachten begrenzte, behauptete sich aber. (2) Das ,Grundgesetz‘ vom 26. April 1906 erfüllte das Versprechen des Zaren vom 17. Oktober („Oktobermanifest“), eine Volksvertretung zuzulassen. Auch wenn es dem Monarchen großzügige Rechte einschließlich der souveränen Ernennung der Minister beließ, veränderte es die praktizierte politische Verfassung grundlegend. Fortan wurde das Parlament (Duma) zu einem zentralen Ort der politischen Diskussion und des politischen Prozesses insgesamt. Parteien – nun unter Einschluss monarchistisch-konservativer und rechtsradikaler im modernen Sinne eines extremen ,plebejischen‘ Nationalismus – organisierten sich, die auch nach der willkürlichen Änderung des Wahlgesetzes durch die Monarchie am 3. Juni 1907 und der erneuten Unterdrückung revolutionärer Gruppierungen überwiegend weiter bestanden. Zugleich entfaltete sich ein Pressewesen, das erstmals im Zarenreich eine publizistische Öffentlichkeit als Forum politischer Meinungsbildung und als Kontrollinstanz von Entscheidungen begründete. (3) Die Arbeiter trotzten der Autokratie durch den Generalstreik vom Oktober 1905 dank der Hilfe der liberalen Intelligenz die faktische Lizenz zur Gründung von Gewerkschaften ab,
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die ihre Aktivitäten seit 1907 zwar wieder in die Illegalität verlegen mussten, aber ebenfalls überlebten. (4) Die verheerenden Bauernunruhen vom Herbst 1905 veranlassten die Monarchie zu einschneidenden Agrarreformen. Die Maßnahmen Stolypins konnten jedoch keine tiefgreifende Wirkungen mehr entfalten. Ihr spürbarster unmittelbarer Effekt bestand darin, das Dorf zu beschäftigen und über den Krieg hinaus bis zum neuerlichen Zusammenbruch der staatlichen Autorität im Sommer 1917 ruhig zu stellen. Einen zentralen Platz in der Vorgeschichte der großen Umwälzung von 1917 (und der Debatte darüber) hat stets der Erste Weltkrieg eingenommen. Dass die zusätzliche Last dieses Konflikts vorhandene Defizite und Spannungen erheblich verschärfte, ist unbestritten. Die Lebensbedingungen vor allem der Mittel- und Unterschichten verschlechterten sich drastisch. Im dritten Kriegsjahr sank die Versorgung der Städte bis an die Hungergrenze. Arbeiter gingen zu Tausenden auf die Straße. Mit nur kurzer Unterbrechung nach dem August 1914, in der auch in Russland ein ,Burgfriede‘ zwischen allen ,Patrioten‘ herrschte, setzten sich die Massenstreiks fort, die im Frühjahr 1912 begonnen hatten. Unter erheblicher Ausweitung seit Herbst 1916 mündeten sie Ende Februar 1917 in jenen Aufruhr, der das alte Regime zur Abdankung zwang. Parallel dazu vollzog sich eine deutliche Machtverschiebung von der Monarchie und ihren Behörden zu den zemstva und Stadtverwaltungen einerseits und zur Duma andererseits. Das Ancien régime zeigte sich zunehmend weniger in der Lage, jene enorme Mobilisierung aller ökonomischen und personellen Ressourcen zu organisieren, die der Krieg erzwang. Faktisch dankte die alte Verwaltung ab und überließ die schwere Aufgabe den Organen der ,Gesellschaft‘. Davon profitierte auch die Duma, da die Liberalen hier wie dort den Ton angaben. Im Bewusstsein ihrer wachsenden Bedeutung erhob sie erneut die Forderung nach einer „Regierung des gesellschaftlichen Vertrauens“, beließ es aber bei verbalen Protesten, als der Zar sie wiederholt auflöste. Das Parlament selber rief nicht zur offenen Rebellion gegen die Monarchie auf, stand aber, wenn auch unwillig, als legitimiertes Repräsentativgremium der alten Ordnung für einen Transfer der höchsten Autorität im Staat bereit. Der Zar und seine Regierung blieben in diesen Jahren merkwürdig passiv. Sie hatten nach dem Krimkrieg die Initiative ergriffen und das Reich auf den Weg der Industrialisierung und Modernisierung nach westlichem Muster gebracht. Aber sie hatten dabei die Herrschaftsverfassung und Politik sorgsam ausgespart. Das Parlament, die Verfassung, die Zulassung von Parteien, Gewerkschaften und sonstigen beruflichen und sozialen Verbänden sowie eine politisch diskutierende Öffentlichkeit wurden von der revolutionären Bewegung des Jahres 1905 gegen ihren Willen erzwungen. Nach der Niederschlagung des Protests hätte Nikolaus II. die Zusagen des Oktobermanifests am liebsten wieder kassiert. So weit konnte er jedoch nicht gehen. Es blieb bei der Wahlrechtsänderung vom 3. Juni 1907 und bei Verboten der revolutionären Parteien sowie der Gewerkschaften. So entfaltete sich auf dem Fundament der Verfassung eine völlig neue politische Ordnung, in der die Monarchie – unterstützt vom umgestalteten Reichsrat – zwar die entscheidende Kraft bildete, die aber zweifellos den Keim eines tatsächlichen Parlamentarismus in sich trug. Dass eine solche
Erster Weltkrieg
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,Verwestlichung‘
I. Darstellung
Transformation auch unter dem Druck des Krieges ausblieb, war nicht zuletzt dem Starrsinn des letzten Zaren anzulasten. Seine autokratische Gesinnung und inflexible Prinzipientreue standen selbst in den letzten Stunden der Monarchie jeder pragmatischen Konzession im Weg. Keiner Erläuterung bedarf schließlich, was in der jüngeren Forschung fraglos unterbelichtet blieb : dass der gesamte fundamentale Wandel im russischen Reich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht minder tiefgreifende geistigkulturelle Veränderungen auslöste und dadurch selber zu einem erheblichen Teil vorangetrieben wurde. Diese mentale ,Verwestlichung‘ äußerte sich in verschiedensten Bereichen, von der Verbreitung universitärer Bildung über die Professionalisierung neuer, meist akademischer Qualifikationen, das Ethos wissenschaftlicher Redlichkeit und Unabhängigkeit, ein neues marktorientiertkapitalistisches Geschäftsgebaren in modernen, als Aktiengesellschaften geführten Industrieunternehmen und Banken, die Entstehung eines Pressewesens mit modernem Journalismus bis hin zu Formen der Literatur, Architektur und anderen Künsten, die in besonderem Maße verrieten, wie sehr Russland zum integralen Bestandteil Europas geworden war. In kulturell-geistiger Hinsicht hatten vor allem die Hauptstädte zweifellos das längste Stück auf dem Weg zu einer Zivilgesellschaft zurückgelegt. 1.2 Das Februarregime
„Februarrevolution“
Was in der Rückschau als Februarrevolution in die Geschichte einging, begann am 23. Februar 1917 (alten Stils, i.e. am 8. März neuen Stils) als eine weitere von zahlreichen Arbeiterdemonstrationen. Ihre Besonderheit bestand höchstens, dem Anlass des Internationalen Frauentags entsprechend, in einem ungewöhnlich hohen Anteil weiblicher Teilnehmer. Auch die Ausweitung zum Generalstreik in den nächsten beiden Tagen und das Vordringen bis zum noblen Zentrum von St. Petersburg verlieh der Hungerrevolte noch keine wirklich neue Qualität. Erst als am 27. Februar auch die Soldaten überliefen, schlug die letzte Stunde des alten Staates. Den Aufständischen kam überdies zustatten, dass sich der Zar im Hauptquartier der Armee an der Südwestfront aufhielt. Ohne Schutz und Stütze sahen die Minister keinen anderen Ausweg, als am Abend des 27. zu demissionieren. Dieser Schritt zwang die Duma zum Handeln. Bemerkenswert unwillig erklärte sich ein Teil ihrer Mitglieder zum „Provisorischen Komitee . . . zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. . . “. Wenn es eine Revolution im staatsrechtlichen Sinn gab, dann ist sie in diesem Akt der Neubegründung von Legitimität zu sehen. Dabei verstanden die Abgeordneten das neue Regime als demokratisch, weil es in ihrer Gestalt nicht nur aus Wahlen (wenn auch weder aus gleichen noch aus allgemeinen und direkten) hervorgegangen war, sondern darüber hinaus nur provisorisch bis zur Einberufung einer Konstituierenden Versammlung bestehen sollte. Die Zurückhaltung der Parlamentarier hatte ihren Grund. Zumindest seit dem Ende der ersten Revolution konnte die Duma nicht mehr für die gesamte Bevölkerung sprechen. Der Liberalismus, dem sie überwiegend zuneigte, deckte
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auch die politischen Vorstellungen der wichtigsten Parteien und Akteure nicht mehr annähernd ab, von den sozialen nicht zu reden. Die Polarisierung, die sich daraus ergab, kam noch am selben 27. Februar konkret und wirkungsvoll in der Entstehung eines konkurrierenden Organs zum Ausdruck: des Provisorischen Exekutivkomitees des Arbeiterdeputiertenrates, mit dem seine Gründer auf ein erstes Gremium dieser Art und Bezeichnung vom Herbst 1905 zurückgriffen. Um Vertreter der Garnisonen erweitert, wurde der dann so genannte Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat (Sowjet) zum zweiten Entscheidungszentrum der „Doppelherrschaft“ (P. N. Miljukov) zwischen Februar und Oktober 1917. Zunächst überließ der Sowjet die exekutive Macht der parlamentarischen Regierung allein. Gemäß der Auffassung seiner menschewistischen Mehrheit, dass es sich um eine ,bürgerliche‘ Revolution handle, wollte er sich an ihr nicht beteiligen, sondern behielt sich lediglich eine Art Vetorecht vor. So konnte der Führer der Kadetten Pavel N. Miljukov am 2. März ein Kabinett vorstellen, dem unter dem Ministerpräsidenten Fürst Georgij E. L’vov neben ihm selbst elf weitere Mitglieder seiner Partei und zwei Mitglieder der konservativ-liberalen Oktobristen angehörten. Allerdings war der Sturz der Monarchie damit noch nicht vollendet. Der Schlüssel zum endgültigen Sieg lag bei der Armee. Als auch der Generalstabschef Michail V. Alekseev und die Oberkommandierenden der Nord- und Südwestfront zu der Überzeugung kamen, dass Ruhe und Ordnung als Voraussetzung für die Fortsetzung des Krieges nur durch Anerkennung der neuen Regierung wiederherzustellen sei, blieb dem Zaren keine Wahl mehr. Am Morgen des 3. März verzichtete er für sich und seinen bluterkranken Sohn auf den Thron. Da sein Bruder die ihm angebotene Krone ebenfalls ablehnte, fand damit nicht nur die 300-jährige Herrschaft der Romanovs ihr Ende, sondern auch die Monarchie. Die drängendsten Aufgaben des neuen Regimes lagen auf der Hand. Es hatte die politische Freiheit zu verankern, für die es stand, den Krieg zu beenden, die Wirtschaft zu stabilisieren und eine Landreform durchzuführen. Dabei stellte sich schnell heraus, dass die Demokratisierung am leichtesten zu bewerkstelligen war, sich zugleich aber als höchst ambivalent erwies. Schon Ende März war die politisch-soziale Verfassung Russlands nicht mehr wiederzuerkennen. Ständische Privilegien waren abgeschafft, gleiche Rechte für alle Bürger einschließlich der Rede-, Versammlungs-, Koalitions- und anderer liberaler Freiheiten verankert. Die Administration des Riesenreiches wurde den Stadtdumen bzw. auf dem Lande den – im Mai auch auf die Bezirksebene (volost’) ausgedehnten – zemstva übertragen. Dabei zeichnete sich aber von Anfang an ab, dass es der Regierung nicht gelingen würde, ihre Autorität auch durchzusetzen. Nationale Sezessionsbestrebungen taten ein Übriges; das Reich zerfiel. Die Demokratie erwies sich mehr und mehr als Anarchie. Dies war umso eher der Fall, als die Provisorische Regierung auch die anderen Aufgaben nicht zu lösen vermochte. Wenn man ihr letztliches Scheitern nicht ausschließlich den Bolschewiki anlasten will – und das wäre einseitig –, dann wird man in diesem Versagen die entscheidende Ursache sehen müssen. In der Haltung zum Krieg prallten die Gegensätze zuerst aufeinander. Der Sowjet teilte – trotz einiger menschewistischer ,Vaterlandsverteidiger‘ – in seiner großen
Arbeiter- und Soldatenrat
Aufgaben des neuen Regimes
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Erste Koalitionsregierung
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Mehrheit die Friedenssehnsucht der Soldaten. Der Februarumsturz wirkte dabei als Katalysator : Nach dem Ende des alten Regimes war den Bauern in Uniform noch weniger zu vermitteln, wofür sie kämpfen sollten. Hinzu kamen die Folgen des berühmten „Befehls Nr. 1“, den Soldatendeputierte dem Sekretär des Exekutivkomitees noch in der Aufstandsnacht in die Feder diktiert haben sollen. Zwar korrigierte eine nachfolgende Order umgehend das Missverständnis, er habe die Wahl der Offiziere durch die Regimenter verfügt. Dennoch litt die Disziplin. Die Soldaten verstanden den Text so, wie sie es wünschten: als Ende der alten Armee mit ihrer scharfen, ständischen Trennung zwischen Gemeinen und Offizieren sowie als Anfang des Friedens. Seit dem Frühjahr wurde, wenn auch zunächst noch zögernd, die ,wilde‘ Demobilisierung zum Problem. Dagegen hielt die Regierung Zuverlässigkeit im Verhältnis zu den Alliierten für unerlässlich. Zum einen teilte sie die patriotisch-panslavistische Grundhaltung der Monarchie. So unterstützten die Oktobristen und manche Kadetten, darunter der Außenminister Miljukov, sogar die expansionistischen Kriegsziele, die bis zur Eroberung von Car’grad (Konstantinopel) als altem Sehnsuchtsort der Orthodoxie reichten. Zum anderen waren die aufrechten Liberalen unter ihnen der Meinung, dass die Verbindung zu Großbritannien und Frankreich helfen könne, das demokratische Experiment zu stützen. Sie wussten nur allzu gut, dass dem Februarregime die Bewährung noch bevorstand. In diesem Geist akzeptierte Miljukov zwar den Wunsch des Sowjets nach einer Friedenserklärung an die Verbündeten, fügte ihr aber eine Versicherung der russischen Bündnistreue an und erhob Forderungen für die Verhandlungen, die leicht als Torpedierung des vom Sowjet verkündeten Annexionsverzichts zu deuten waren. So enthielt die Note des Außenministers vom 18. April (i.e. 1. Mai n. St.) zweifellos einigen Sprengstoff. Dieser richtete umso größeren Schaden an, als er auf die aufgewühlte Stimmung dieser Tage traf. Nicht zu Unrecht hat man gesagt, dass der Sowjet und ,seine‘ Demonstranten zeigten, wer die tatsächliche Macht ausübte. Miljukov musste zurücktreten und der Ministerpräsident den beiden sozialistischen Parteien, die den Sowjet beherrschten – den Menschewiki und den Sozialrevolutionären – eine förmliche Koalition anbieten. Die Verhandlungen führten am 5. Mai (a. St.) zur Bildung der ersten Koalitionsregierung. Zwar blieben die Liberalen stärkste Kraft und stellten in der Person des hochangesehenen ehemaligen zemstvo-Vorsitzenden L’vov auch weiterhin den Ministerpräsidenten. Dennoch markierte der Eintritt der prominentesten Politiker aus dem gemäßigten sozialistischen Lager, vor allem von Michail I. Skobelev, Irakli G. Cereteli und Viktor M. Černov, eine tiefe Zäsur: Fortan waren die Menschewiki und Sozialrevolutionäre für die Ergebnisse der Regierungsmaßnahmen mitverantwortlich. Sollte sich die aktive Masse der städtischen Bevölkerung von ihnen abwenden, konnte davon (weil eine Wiederherstellung der Monarchie ausschied) nur die einzig verbliebene Opposition gegen die, die radikale Linke, profitieren. Schicksalsfrage auch der neuen Regierung blieb der Krieg. Die Koalition glaubte, sie durch eine Doppelstrategie lösen zu können: den Krieg fortzusetzen, dabei aber die Friedensbemühungen zu verstärken. Freilich zeigte sich sehr schnell, dass sie die Rechnung in zweifacher Hinsicht ohne den Wirt gemacht
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hatte. Zum einen drängte die Allianz, besonders Frankreich, zu einem neuen Angriff, der die Westfront entlasten und die Wende des gesamten Krieges einleiten sollte. Zum anderen zeigte sich, dass die eigene Armee nicht mehr zu motivieren war. Trotz aller Anstrengungen des neuen Kriegsministers Aleksandr F. Kerenskij und seines unleugbaren agitatorischen Talents scheiterte die nach ihm benannte Offensive vom 18. Juni (1. Juli n. St.) 1917 auf der ganzen Linie. Auch die fatale Wiedereinführung der Todesstrafe konnte das Blatt nicht wenden. Die Operation musste abgebrochen werden. Nicht genug damit, provozierte sie außerdem einen Gegenstoß der deutschen Armee, dem die russische Armee nicht gewachsen war. Fortan wurde Desertion zur Massenerscheinung. Dem militärischen Debakel folgte das politische. Auch in den anderen Kernfragen hatte die Regierung keine glücklichere Hand. Die Agrarreform kam über die Einrichtung von Landkomitees im April nicht hinaus. Wohl gab sich Černov alle Mühe, einen kompromissfähigen Gesetzentwurf vorzulegen. Die zunehmend konservativen Liberalen vermochten aber nicht, über ihren Schatten zu springen und der Enteignung von größerem Grundbesitz zuzustimmen. Als Černov Ende August aufgab, war an eine „Umverteilung“, die den Landhunger der Bauern auch nur im Entferntesten hätte stillen können, nicht mehr zu denken. Die Vertagung auf die Konstituierende Versammlung, der die Entscheidung über ein so zentrales Problem überlassen bleiben sollte, spendete den Betroffenen wenig Trost. Für sie war aufgeschoben gleich aufgehoben. So koppelte sich das Dorf weitestgehend von den Städten ab und führte, unautorisiert, seine eigene Revolution so durch, wie die Bauern sie verstanden: als Verjagung der Grundbesitzer und Regelung aller Belange durch die althergebrachte bäuerliche Selbstverwaltung in der obščina (s. u.). Anders als den Bauern brachte der Sturz der Monarchie den Arbeitern tatsächlich die Erfüllung dessen, was zumindest die Parteien, die sie zu repräsentieren beanspruchten, am nachdrücklichsten gefordert hatten : unbeschränkte Organisationsfreiheit, betriebliche Mitsprache und den Übergang zum Achtstundentag. Neben die Gewerkschaften traten nun, als Ausdruck direkter Demokratie und besondere Errungenschaft dieser Revolution, die Fabrikräte (oder -komitees). Gestützt auf den Petrograder Gesamt-Sowjet setzten sie in den ersten Monaten des neuen Regimes darüber hinaus gemeinsam erhebliche Lohnerhöhungen durch, die den gleichzeitigen Preisauftrieb im Durchschnitt übertrafen. Für die Arbeiter zahlte sich der Fall des alten Regimes, der vor allem ihr Werk war, zunächst aus. Ab etwa Juni änderte sich die Lage jedoch. Schon die Monarchie war nicht zuletzt an der Wirtschafts- und Versorgungskrise zerbrochen, die sich im dritten Kriegsjahr dramatisch zugespitzt hatte. Die Revolution besitigte sie nicht, sondern verdrängte sie höchstens für einige Monate aus dem Bewusstsein. Danach wurde die Krise zur Katastrophe. Immer mehr Betriebe mussten schließen, immer mehr Beschäftigte verloren Arbeit und Einkommen. Sie reagierten auf dreifache Weise. Zum einen gingen sie auf die Straße. Nach relativer Ruhe im März und April stieg die Zahl der Streikenden im Mai und Juni wieder an; zwischen Juli und August lag sie, mit einem Höhepunkt im September, bei über 400 000 pro Monat. Zum zweiten verstärkten die Fabrikkomitees ihren An-
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Radikalisierung der Arbeiterschaft
I. Darstellung
spruch auf Kontrolle. Diese Bewegung erreichte ebenfalls im Spätsommer ihren Höhepunkt, als eine nennenswerte Anzahl von Betrieben völlig in die Hände der Beschäftigten überging. Beides zeigt an, dass hier nicht nur „Klassenbewusstsein“ und Ideologie – im Übrigen oft eher eine syndikalistisch-anarchistische als eine marxistische – am Werk waren, sondern in gleichem Maße schiere Not und Ausweglosigkeit. Beide nährten auch die dritte Antwort auf die Krise. Immer deutlicher wurde, was schon seit dem Umsturz sichtbar war und in der – strukturell überflüssigen – Parallelität von Gewerkschaften und Gesamtsowjet auf der einen Seite sowie den Fabrikkomitees auf der anderen Seite zum Ausdruck kam: die Kluft zwischen Führung und Masse. Den moderaten ,Arbeiterführern‘, seit Mai zudem eingebunden in die Koalition, stand eine zunehmend radikale Basis gegenüber. Politisch bedeutete dies die Verlagerung ihrer Sympathien von den Menschewiki und Sozialrevolutionären auf die Bolschewiki. Dieser, wie sich zeigen sollte, historisch äußerst bedeutsame Vorgang begann Ende August. Noch Anfang Juli war der Versuch der Bolschewiki, eine Arbeiterdemonstration zu einem Umsturz zu nutzen, gescheitert. Die Regierung hatte bolschewistische Zeitungen verboten; Lenin musste nach Finnland fliehen. Die Lage änderte sich nach dem Marsch des Generals L. G. Kornilov auf Petrograd schlagartig. Was genau geschah, ist bis heute unklar. Sympathisierende Historiker suggerieren eine Kette verhängnisvoller Missverständnisse zwischen dem Ministerpräsidenten Kerenskij (seit dem 8. Juli) und dem von ihm selbst ernannten neuen Oberbefehlshaber, dessen Ansichten über die Lage im Land er zwar in vielem teilte, dessen offenkundige politische Ambitionen er aber ablehnte. Andere gehen von einem tatsächlichen Versuch Kornilovs aus, angespornt von Ovationen während der Moskauer Staatsberatung am 12.–15. August, eine Militärdiktatur zu errichten. Unumstritten sind dagegen die Folgen des Ereignisses : Die Provisorische Regierung musste die Hilfe der bolschewistischen Roten Garden in Anspruch nehmen, um die Hauptstadt zu verteidigen und Kornilov zurückzuschlagen. Lenins Partei wurde wieder zugelassen, einige ihrer Führer, darunter Lev D. Trotzki, auf freien Fuß gesetzt. Die „revolutionäre Demokratie“ erlitt einen Autoritätsverlust, von dem sie sich nicht mehr erholte. Allerdings kam damit nur zum Ausbruch, was seit dem Frühsommer immer deutlicher geworden war: dass das Land auf eine wirtschaftliche Katastrophe zusteuerte und sich in seine nationalen Bestandteile auflöste. Die liberal-sozialistische Koalitionsregierung, Mitte Juli und Ende September unter großen Mühen erneut gebildet, war am Ende. Wer an ihrer Stelle die Sympathien auf sich zog, machten die Wahlen zum Petrograder Stadtsowjet vom 20. August deutlich: Die Bolschewiki erhöhten ihren Stimmenanteil von 13 % auf 31,4 %. Einen noch größeren Erdrutsch brachte der Urnengang für die Moskauer Stadtbezirksräte am 24. September (von 11,5 % auf 50,9 %). Dem Sieg folgte die Krönung, als der Bolschewik Trotzki am 25. September den Menschewiken Čchejdze im Vorsitz des Petrograder Sowjets ablöste.
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1.3 Vom Oktoberumsturz zum Bürgerkrieg Über Lenins Denken und Handeln kann man streiten, über ihre Bedeutung nicht. Am 4. April, einen Tag nach seiner Rückkehr im plombierten Waggon durch Deutschland, hatte der Parteiführer seine abwartenden Genossen mit der Botschaft zutiefst verstört, dass man der „kapitalistischen“ Regierung nicht – wie es der Theorie von der „bürgerlichen Revolution“ entsprach – die Stange halten dürfe; vielmehr müsse man sie rücksichtslos bekämpfen und so bald wie möglich stürzen, um den Übergang zur „sozialistischen Revolution“ einzuleiten („Aprilthesen“). Fünf Monate später entschied Lenin erneut selbstherrlich, was die Stunde geschlagen hatte, und trieb seine Mitstreiter – erstmals in Briefen vom 15. September – mit allen ihm im Exil zu Gebote stehenden Mitteln an, den Aufstand auf die Tagesordnung zu setzen. Am 10. Oktober hatte er sein Ziel erreicht : In seiner Anwesenheit beschloss das oberste Parteigremium, das Februarregime zu stürzen. Als Tarnung nutzten die wichtigsten Strategen dieser Tage, allen voran Trotzki, das „Militärische Revolutionskomitee“ (VRK), das der Sowjet selber am Vortag ins Leben gerufen hatte, um Petrograd vor den bedrohlich naherückenden deutschen Truppen zu schützen. Dank seines Namens gelang es ihnen zwischen dem 21. und 23. Oktober, die städtischen Garnisonen auf sich zu verpflichten. Als die Regierung am 24. befahl, das VRK zu verhaften, war der Umsturz faktisch schon vollzogen. ,Sichtbar‘ fand dieser Putsch allerdings erst am 25. Oktober (7. November n. St.) statt, dem Tag, an dem der mehrfach verschobene Zweite Allrussische Kongress der Sowjetdeputierten endlich zusammentreten sollte. In den frühen Morgenstunden besetzten bolschewistische Garnisonsregimenter und Rote Garden unter Führung des VRK die strategisch wichtigen Einrichtungen und Plätze der Stadt. Danach begann die Belagerung des Winterpalasts, in dem sich die Provisorische Regierung versammelt hatte. Um deren Kapitulation abzuwarten und die Delegierten aus ganz Russland mit dem unschätzbaren Vorteil des fait accompli konfrontieren zu können, ließ Lenin die Eröffnung des Kongresses immer wieder hinausschieben. Als dies am frühen Nachmittag nicht mehr möglich schien, verkündete Trotzki als Vorsitzender abermals das Ende einer Ära der russischen Geschichte. „Alle Macht“, so die offizielle Sprachregelung, gehöre nun „dem Sowjet“. Lenin, der sich erstmals wieder in der Öffentlichkeit zeigte und stürmischen Applaus erhielt, wurde noch deutlicher: Im Namen des Sozialismus habe die ,dritte russische Revolution‘ stattgefunden. Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki sahen dies naturgemäß anders. Sie bezichtigten die Bolschewiki – zu Recht – des verräterischen Komplotts und forderten sie zur Wiedereinsetzung der alten Regierung auf. Allerdings taten sie ihnen, die mit ca. 300 von 670 Delegierten keine ausreichende Mehrheit im Sowjet hatten, zugleich den Gefallen, den Saal aus Protest zu verlassen. Mit Hilfe der Linken Sozialrevolutionäre bildeten die Bolschewiki nun ein neues Präsidium und eine neue, bolschewistische Regierung, die sich auch einen neuen, den beanspruchten Systemwechsel plakatierenden Namen gab. Die Welt sah den ersten „Rat der Volkskommissare“ (SNK). Bereits am Morgen des nächsten Tages (dem 26. Oktober) verabschiedeten die bolschewistischen Sowjetdelegierten und ihre
Bolschewistischer Umsturz
„Rat der Volkskommissare“
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Konstituierende Versammlung
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links-sozialrevolutionären Partner auch zwei Dekrete, die ihnen die Loyalität der Bevölkerungsmehrheit außerhalb der Städte sicherten : die Selbstverpflichtung zum sofortigen Kriegsende „ohne Annexionen und Kontributionen“ (Dekret über den Frieden) und die Anerkennung der bereits vollzogenen „Schwarzen Umteilung“ auf dem Dorf (Dekret über den Grund und Boden). Zusammen mit dem Versprechen, die „Arbeiterkontrolle“ in den Fabriken einzuführen (im Gründungsmanifest des neuen Regimes), symbolisierten diese Gesetze die Essenz des bolschewistischen Umsturzes. Zugleich markierten sie seinen Abschluss. Auch die neue Sowjetregierung amtierte, sogar in einem doppelten Sinne, nur provisorisch. Zum einen saß sie alles andere als fest im Sattel. Die Gegner hatten sich nur zurückgezogen, nicht aufgegeben. Bezeichnenderweise ging dabei von der abgesetzten Regierung am wenigsten Gefahr aus. Zwar kehrte Kerenskij nicht mit leeren Händen vom nahe gelegenen Oberkommando der Nordfront in Pskov zurück, wo er um Hilfe gebeten hatte. Aber die Verbände erwiesen sich als schwach und mussten am 30. Oktober vor Petrograd kapitulieren. Bedrohlicher war die Warnung vor einem Generalstreik durch den menschewistisch-sozialrevolutionär beherrschten Eisenbahnerbund. Auch hier fehlten indes Politiker, die aus der Not der Bolschewiki hätten Kapital schlagen können. Erst als die Linken Sozialrevolutionäre, ermuntert durch einen außerordentlichen allrussischen Kongress der Bauerndeputierten, Mitte November förmlich in die Regierung eintraten, war das Risiko, keine Mehrheit hinter sich zu haben, gebannt. Was blieb, war das Menetekel der Konstituierenden Versammlung. Auch die Bolschewiki mussten sie anerkennen und ihre Macht unter den Vorbehalt der Bestätigung stellen. Tatsächlich aber lag längst auf der Hand, dass über die Zukunft Russlands alternativ zu entscheiden war: entweder für eine Demokratie nach westlichem Muster mit der Wahrscheinlichkeit einer ihr entsprechenden Sozial- und Wirtschaftsstruktur oder für eine Räteverfassung und ein sozialistisches Experiment in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Mit dem Oktoberumsturz war der zweite Weg betreten worden. Insofern standen die Zeichen für den Gründungskongress der entgegengesetzten Option nicht günstig. Die Wahlen begannen am 12. November. Über das genaue Ergebnis herrscht im Detail immer noch keine Klarheit. Die wesentlichen Befunde sind aber unbestritten: Von 48,4 Mio. [730: P, Učreditel’noe sobranie, Anhang] insgesamt abgegebenen Stimmen vereinigten die Sozialrevolutionäre mit 19,1 Mio. knapp 40 % auf sich; zusätzlich dürfte ihnen noch ein (nicht näher bestimmbarer) Teil der 7 Mio. (14,5 %) Voten für unspezifische „Sozialisten“ zuzuschlagen sein. Die Bolschewiki erhielten weniger als 25 % (10,9 Mio.), die Kadetten keine 5 % (2,2 Mio.), die Menschewiki gut 3 % (1,5 Mio.) und die übrigen Parteien noch weniger. Allem Anschein nach gab dieses Resultat den Wählerwillen korrekt wieder. Dass der PSR viele Stimmen zugute kamen, die eigentlich nur ihrem linken Flügel galten, der sich nach der Wahl auch förmlich von ihr trennte und mit den Bolschewiki paktierte, lässt sich nicht plausibel belegen. Somit war das allzu lange aufgeschobene Plebiszit auf der einen Seite eindeutig: Die große Mehrheit der Bevölkerung unterstützte die alten Sowjetparteien. Auf der anderen Seite zeigt seine regionale und soziale Aufschlüsselung, dass sich die Städte
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– allen voran Moskau und Petrograd – sowie die Soldaten und Arbeiter klar zugunsten der Bolschewiki aussprachen. Keine Rolle dagegen spielten, auch in ihren Hochburgen, die Liberalen und die Menschewiki. So stand die Konstituierende Versammlung unter keinem guten Stern, als ihre 767 Delegierten (davon 347 Sozialrevolutionäre) am 5. Januar 1918 zusammentraten. Gleich zu Beginn machte ein Redner der Bolschewiki klar, dass die Räteverfassung nicht zur Disposition stehe. Seine Worte kamen inhaltlich schon der Auflösung gleich, die am Ende der ersten Sitzung im Morgengrauen des 6. Januar vollzogen wurde. Hinter den Abgeordneten verschlossen Rote Garden die Türen für immer. Nicht nur diese Entschlossenheit der Bolschewiki versetzte der Demokratie in Russland für gut siebzig Jahre den Todesstoß. Ausschlaggebend war, dass sich kein Proteststurm erhob. Zwar gingen einige Zehntausend, vielleicht sogar 50 000 trotz Demonstrationsverbots auf die Straße; zwar fielen Schüsse, die 21 Tote und Hunderte von Verletzten hinterließen; zwar geschah Ähnliches – mit weit mehr Opfern – in Moskau. Aber die Regimenter, auf die vor allem die Sozialrevolutionäre gehofft hatten, blieben in ihren Kasernen. Da sich auch das Dorf in seiner Winterruhe nicht stören ließ, konnte das Fazit enttäuschender nicht sein: Die große Mehrheit der Bevölkerung, die soeben noch zur Wahl gegangen war, nahm die Schließung der Konstituante widerstandslos hin. Umso leichter fiel es dem neuen Regime, seine Staatsform zu verankern. Wenige Tage nach dem Gründungsparlament trat der Dritte Allrussische Sowjetkongress der Arbeiter- und Soldatendeputierten zusammen, der Russland endgültig zur Sowjetrepublik erklärte und – unter Vorwegnahme der förmlichen Verfassung vom 10. Juni – die Grundstrukturen ihrer politischen Ordnung festlegte. Vor allem außerhalb der großen Städte blieb der Krieg die Schlüsselfrage des Alltags. Vom tosenden Beifall zum Friedensdekret nachdrücklich an deren Dringlichkeit gemahnt, begannen die Bolschewiki mit großer Eile, die Möglichkeit einer Verständigung mit den Kriegsgegnern zu sondieren. Der Weg zu offiziellen Verhandlungen in Brest-Litovsk wurde frei, als Aufständische auch das Hauptquartier der Armee an der Südwestfront eroberten. Zugleich wurde das Fundament für eigene Forderungen immer schwächer. Als die neue Regierung am 16. Dezember 1917 den alten syndikalistischen Wunsch nach Übergabe der Befehlsgewalt an die Soldatenräte und nach freier Kommandeurswahl erfüllte, brach die Kampffähigkeit der Truppen endgültig zusammen. Verteidigungskommissar Trotzki mochte die Gespräche abbrechen und den „deutsch-österreichischen Imperialismus“ Ende Januar 1918 in berühmt gewordenen Worten vor der Weltöffentlichkeit anprangern, die deutsche Generalität ließ sich davon nicht beeindrucken und marschierte weiter. So musste das Oktoberregime am 3. (18.) März 1918 im Vertrag von Brest-Litovsk einen ganz anderen Frieden als den gewünschten akzeptieren : die faktische Kapitulation unter Verzicht auf die lebenswichtige Ukraine. Ob Gewinn und Verlust dabei in angemessenem Verhältnis standen, muss offen bleiben. Lenin erhielt die äußere Ruhe, die ihm unerlässlich schien, um freie Hand im Innern zu haben. Aber er zahlte einen hohen Preis. Im eigenen ZK setzte er sich gegen vier Stimmen der „Linken Kommunisten“ – angeführt von Nikolaj I. Bucharin – nur durch, weil sich Trotzki und seine Anhänger
Friedensschluss
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Bürgerkrieg
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enthielten. Vor allem aber nahmen die Linken Sozialrevolutionäre den Separatfrieden zum Anlass, um aus der Koalition auszutreten. Mehr noch, im Namen sowohl der „Weltrevolution“, die am Ende des Krieges stehen sollte, als auch der Bauern, denen das knappe Getreide immer häufiger gewaltsam genommen wurde, begannen sie im Frühsommer – mit dem spektakulären ersten Höhepunkt des Attentats auf den deutschen Botschafter Graf Mirbach am 6. Juli – den bewaffneten Kampf gegen die Freunde von gestern. Was nun seinen Lauf nahm, gehörte zum Oktober wie der Fluch zur bösen Tat: Der Bürgerkrieg holte die Konfrontation nach, die unmittelbar nach dem Umsturz ausgeblieben war. In diesem unübersichtlichen Geschehen, das sich bis zum Frühjahr 1921 hinzog, lassen sich grob drei Phasen und zwei Hauptaspekte – das militärische Geschehen und die innere Entwicklung – unterscheiden. Die erste Phase dauerte ungefähr bis Ende 1918 und hatte ihr regionales Zentrum an der mittleren Wolga. In vieler Hinsicht war sie noch überwiegend politisch orientiert. Dies hatte vor allem damit zu tun, dass sich viele der ausgesperrten Delegierten der Konstituierenden Versammlung in Samara einfanden, um hier, im Herzen der russischen Provinz, ihre Bataillone zu ordnen und den Sturz der neuen Machthaber vorzubereiten. Den Ton gaben dabei die Sozialrevolutionäre an. Andere Parteien, vor allem die Liberalen, hielten sich fern. Es bedurfte erst der ,Nachhilfe‘ Englands und Frankreichs, die im August 1918 in den russischen Bürgerkrieg eingriffen, um die im Folgemonat in Ufa tagende Allrussische Staatskonferenz zur Bildung eines von allen wichtigen politischen und militärischen Kräften getragenen Direktoriums unter dem Vorsitz von Admiral Aleksandr V. Kolčak zu bewegen. Die Zusammenkunft feierte ihren Erfolg allerdings zu früh. Noch während sie tagte, befreite sich die Rote Armee unter der ebenso brutalen wie fähigen Führung Trotzkis aus der Defensive, in die sie geraten war, und eroberte die Mittelwolga zurück. Als Samara am 7. Oktober fiel, hatte sich das Kriegsglück – wie sich zeigen sollte, dauerhaft – gewendet. Die zweite Kriegsphase, das Jahr 1919, war entscheidend. An drei Fronten griffen die „weißen“ Truppen an. Von Osten rückte Kolčak wieder in das Wolgabecken ein. Allerdings konnte er einer Gegenoffensive der Roten Armee nicht standhalten, die seine Verbände an der Transsibirischen Eisenbahnlinie entlang bis Irkutsk verfolgte und aufrieb. Vom Gebiet der Donkosaken im Süden ging sicher die größte Gefahr für das bolschewistische Regime aus. Hierher waren schon die Kadettenführer unmittelbar nach dem Umsturz geflohen; hierhin zogen sich die Generäle nach dem Fall ihres Hauptquartiers zurück. Und hier entstand die größte antirevolutionäre Streitmacht aus Kosaken, den einstigen Elitesoldaten des Zaren, und Freiwilligen. Sie vermochte im Spätsommer auf direktem Wege durch die Ukraine auch am weitesten nach Zentralrussland vorzustoßen. Hinter Orel zeigte sich aber, dass ihr Oberbefehlshaber Denikin den Flankenschutz sträflich vernachlässigt hatte, so dass er überstürzt umkehren musste. Im Norden schließlich reichte die Truppenstärke nie aus, um einen ernsthaften Vorstoß auf die Hauptstadt zu wagen. Die dritte Kriegsphase des Jahres 1920 glich größtenteils einem Siegeszug der Bolschewiki. Die Rote Armee rückte bis ans Schwarze Meer vor, eroberte den Kaukasus und schickte sich an, Mittelasien zu überrollen. Im Westen musste sie
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im Grenzkonflikt mit Polen nach überraschenden Anfangserfolgen im August zwar eine schwere Niederlage hinnehmen („Wunder an der Weichsel“); aber der Verlust von Teilen Weißrusslands und der Ukraine an die ,wiedergeborene‘ polnische Republik wog weniger schwer als die Gewinne an der süd- und südöstlichen Peripherie. Hier zahlte sich auch die Nationalitätenpolitik Lenins aus, die den nichtrussischen Völkern des einstigen Imperiums temporär glaubhaft eine gleichberechtigte Kooperation anbot und zum Abschluss entsprechender Verträge führte. Wenngleich die Präsenz der Armee dem bolschewistischen Ansinnen Nachdruck verlieh, sorgte Lenin dafür, dass auch die Verfassung der offiziell 1924 neu begründeten UdSSR von diesem Grundgedanken ausging. Daher lief das territoriale Ergebnis des Bürgerkriegs im Wesentlichen auf eines hinaus: die Wiedereinsammlung der ,imperialen Erde‘ unter sowjetischer Flagge mit Ausnahme Polens, Finnlands, Bessarabiens und der seit 1920 selbstständigen baltischen Republiken. Die Frage, worauf der Erfolg der Bolschewiki zurückzuführen sei, ist in jüngster Zeit wieder in die Diskussion geraten. Mehrere Ursachen bieten sich an. Seine Grundlage bildete zweifellos der schnelle Aufbau der Roten Armee (offiziell am 15. Januar 1918 gegründet). Dabei spielte nicht nur deren zahlenmäßiges Wachstum eine Rolle (auf 1,5 Mio. Mann im Mai 1919 und 5 Mio. 1920), sondern auch die Anwerbung ehemaliger Offiziere der zarischen Armee; eben diese brachten – neben erstaunlich vielen eigenen Talenten wie Semen M. Budennyj, Michail N. Tuchačevskij oder Michail V. Frunze – das unentbehrliche militärstrategische Wissen mit. Auch die demographischen, geographisch-klimatischen und wirtschaftsstrukturellen Verhältnisse begünstigten die Bolschewiki: Der Umsturz fand im Zentrum des Riesenreiches statt. Die neuen Machthaber konnten so auf die Ressourcen der Hauptstädte und des Großraums um Moskau zurückgreifen, während sich ihre Gegner von der dünn besiedelten und wirtschaftlich unterentwickelten süd- und südwestlichen Peripherie her (unter weitgehender Ausklammerung der Ukraine) in den Kern des Reiches vorkämpfen mussten. Dem Sowjetregime halfen dabei die Fehler und die Uneinigkeit seiner Gegner. Zunächst war vor allem der Graben zwischen Sozialrevolutionären und Liberalen nicht zu überbrücken, danach die Kluft zwischen demokratischen Zivilisten (einschließlich linker Kadetten) und den Generälen. In dem Maße, wie sich die Auseinandersetzung auf das Militärische verengte, gerieten die Weißen in den Ruf, für die Restauration zu stehen. Ins zarische „Völkergefängnis“ unter die Herrschaft von Grundbesitzern und Beamten aber wollte kaum jemand zurück. Allerdings ist heute deutlicher zu erkennen als vor einigen Jahrzehnten, dass daneben ein weiterer, sicher wesentlicher – in welchem Maße, bleibt umstritten – Faktor wirksam war: die schiere Gewalt. Sie richtete sich über kurz oder lang mit kaum abgestufter Intensität gegen alle nichtbolschewistischen Akteure. Früh wurden die anderen politischen Kräfte ausgeschaltet, schon Ende November 1917 die Kadetten, seit Beginn des eigentlichen Bürgerkrieges im Frühsommer 1918 die Sozialrevolutionäre – spätestens seit dem Mirbach-Attentat unter Einschluss der Linken – und die Menschewiki. Konservativ-monarchistische Kräfte sammelten sich um die „weißen“ Generäle und gehörten zum innersten Kern der „Konterrevolution“. Dasselbe Schicksal ereilte unmittelbar oder in
Ursachen für den Sieg der Bolschewiki
Bolschewistische Gewaltherrschaft
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I. Darstellung
den ersten Monaten nach dem Oktoberumsturz ,kryptopolitische‘ oder politisierbare Organisationen wie Berufs- und Interessenverbände oder formelle Gewerkschaften. Darüber hinaus ging das neue Regime aber mit zunehmender Heftigkeit auch gegen soziale Gruppen vor, die eigentlich zu seinen Verbündeten zählten. Erstes Opfer wurden die Bauern. Da sich die Versorgungskrise weiter zuspitzte, erklärten die Bolschewiki im Mai 1918 alles Getreide zum Staatsmonopol. Zugleich ergriffen sie – anders als die Provisorische Regierung, die im Vorjahr ein ähnliches Dekret erlassen hatte – Maßnahmen, um es auch durchzusetzen. Dazu dienten zum einen sog. Komitees der Dorfarmut, die den Klassenkampf auch in die Provinz tragen und die (mit den städtischen „Proletariern“ gleichgesetzten) Tagelöhner und armen Bauern gegen die „Kulaken“ (wohlhabenden Bauern) aufhetzen sollten. Zum anderen setzte man, als dies nichts fruchtete, weil sich die Dorfgesellschaft unerwartet solidarisch verhielt, verstärkt bewaffnete Verbände ein, um Getreidebesitzern gleich welcher ,Klasse‘ das letzte Korn abzupressen. Im Januar 1919 folgte eine weitere Verschärfung, als auf der Grundlage ungefährer Schätzungen bestimmte Ablieferungsquoten festgesetzt wurden (prodrazverstka). Zwangsabgabe und -requisition wurden zu Synonymen bolschewistischer Agrarpolitik im Bürgerkrieg. Nicht grundsätzlich besser erging es den Arbeitern. Sie mussten die bittere Erfahrung machen, dass sich die Unterstützung der Bolschewiki während der Oktobertage nicht auszahlte. Anders als die demokratischen Politiker des Februar zeigten die neuen Regenten umgehend, dass sie keine konkurrierenden Machtzentren duldeten. Sie legten die Fabrikkomitees an die Kandare, schalteten die Gewerkschaften gleich und machten ihrer vorgeblichen Klientel unmissverständlich klar, wie sie die „Sowjetmacht“ verstanden : als ihre Entscheidung an Stelle der Arbeiter. Diese präsentierten ihnen die Quittung, als sie den Menschewiki und Sozialrevolutionären bei den Wahlen zu den Stadtsowjets im Frühjahr 1918 zu einer bemerkenswerten Renaissance verhalfen. Das Verbot der sozialistischen Rivalen sowie die Zerstreuung des ,Proletariats‘ über die Dörfer, wo es immer noch mehr zu essen gab als in den Städten, entzogen dieser Form der Unmutsbekundung den Boden. Aber der Protest schwelte weiter und machte sich vor allem im Frühjahr 1921 in einer Welle von Streiks Luft. Nicht zuletzt dieses nachdrückliche Misstrauensvotum von Seiten seiner vorgeblichen ,Titularklasse‘ brachte das Sowjetregime zu der Einsicht, dass eine Kehrtwende geboten war, wenn es überleben wollte. Schließlich hatte der Bürgerkrieg auch tiefgreifende Folgen für Struktur und Charakter des Regimes selbst. Ob der Zwang zur Mobilisierung aller Kräfte dabei nur Dispositionen zum Vorschein brachte, die ohnehin angelegt waren, oder die Entfaltung von Freiheitspotentialen, wie begrenzt sie immer sein mochten, im Keim erstickt hat, erscheint dabei als zweitrangige, wenn auch heftig umstrittene Frage. Entscheidend war das Ergebnis: die Herausbildung des Einparteienstaates ohne demokratische Partizipation der Bevölkerung und ohne unabhängige jurisdiktionelle Kontrolle. Vor allem drei Entwicklungen schufen das Gerüst einer politischen und sozioökonomischen Verfassung, die in vielen Elementen – tiefgreifend nur noch
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durch die Wende von 1929 verändert – bis zur Perestrojka Bestand hatte. Zum einen trieb das neue Regime gemäß seinem sozialistischen Programm frühzeitig und machtvoll die Nationalisierung der Industrie voran. Bereits im Dezember 1917 wurde als Leitungsgremium der Oberste Volkswirtschaftsrat (VSNCh) gegründet, der faktisch zum ausführenden Organ des entsprechenden Regierungsressorts wurde. Damit begann die Lenkung der Wirtschaft durch den Staat. Kennzeichen der Veränderung während des Bürgerkrieges war dabei vor allem die weitere Stärkung der Hierarchie. Zugleich fanden in wachsendem Maße „Spezialisten“ aus der Zarenzeit Verwendung. „Einmannleitung“ ersetzte die ursprüngliche Idee kollektiver Führung in Gestalt der Räte, und fachliche Qualifikation überstieg in ihrer Wertigkeit bloße ideologische Konformität. Zum anderen veränderte die Partei ihren Charakter grundlegend. Schon durch den Oktoberumsturz, erst recht nach dem endgültigen Verbot ihrer Konkurrenz mit Beginn des Bürgerkriegs, avancierte sie zum wichtigsten, überwiegend sogar exklusiven Reservoir für die Rekrutierung fast aller Führungskader. Deshalb schlug sich der Charakterwandel auch in einem starken quantitativen Wachstum – von ca. 200 000 Mitgliedern im August 1917 auf ca. 730 000 im März 1921 – nieder. Wer schnell aufsteigen wollte, musste fortan der Partei angehören. Bolschewiki besetzten die Regierungsämter und sonstigen ,strategischen‘ Positionen in Staat, Militär, Wirtschaft und Gesellschaft. Drittens schließlich wurde der Bürgerkrieg zur hohen Zeit der außerordentlichen Organe. Vor allem in der Wirtschaft und Staatsverwaltung zog der Zwang zur Mobilisierung auch der letzten Ressourcen die Konzentration der Befugnisse in einer Person oder in kleinen Gremien mit umfassenden, ressortübergreifenden Vollmachten nach sich. Zur typischen Erscheinung wurde der Kommissar für besondere Aufgaben. Da die regulären Organe, die er ersetzte, zumeist kollegiale waren, verschwanden auch die Formen – ihr Inhalt hatte sich ohnehin nie entfalten können – für Entscheidungsteilhabe ,von unten‘. Symptomatisch dafür war der Bedeutungsverlust des Allrussischen Sowjets, der zu einer ausschließlich bolschewistischen Veranstaltung wurde. Da Opposition gegen die in der Partei ebenfalls kaum mehr möglich war, wie (nach den Linken Kommunisten im Vorjahr) 1919 auch die „Demokratischen Zentralisten“ um N. Osinskij erfahren mussten, förderte der Bürgerkrieg eine Staatsorganisation, die auf eine kollektive Diktatur mit Lenin an der Spitze hinauslief. Hinzu kam die Existenz einer Organisation, die zum Inbegriff sowohl für die extralegalen Sondergewalten während des Bürgerkriegs als auch für den Unrechtscharakter des Regimes insgesamt wurde: die Geheimpolizei Tscheka (korrekt: VČK). Bereits Anfang Dezember 1917 gegründet, erhielt sie spätestens nach dem Attentat auf Lenin durch das Dekret über den „roten Terror“ vom 5. September 1918 freie Hand für unkontrollierte Verhaftungen und Erschießungen. Im Januar 1919 standen etwa 37 000, im Spätsommer 1921 gut 137 000 Mann in ihren Diensten. Die sachkundigste Schätzung hält für den gesamten Zeitraum ihrer Existenz bis zum Februar 1922 260 000 Opfer, sowohl durch Exekutionen Einzelner als auch durch kollektive Niederschlagung von Ungehorsam verursacht, für wahrscheinlich [790 : L, Cheka, 100, 233, 457].
Nationalisierung der Industrie
Partei
Außerordentliche Organe
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Auch angesichts dieser terroristischen Entartung wuchs der Widerstand. Die Bauern erhoben sich gegen den Getreideraub und unzählige Grausamkeiten. Neue Quellenpublikationen belegen, dass ihr Protest weit mehr Regionen erfasste als die üblicherweise genannten Schwarzerdgouvernements der Wolga- und Donregion (vor allem Voronež, Tambov und Penza) und weit nach Sibirien hineinreichte. Als sich im Februar 1921 auch noch die Matrosen von Kronstadt, 1917 besonders zuverlässige Vorkämpfer des bolschewistischen Umsturzes, erhoben und echte Rätedemokratie anstelle der Parteidiktatur forderten, ließ Lenin ihren Aufstand zwar gnadenlos und blutig niederschlagen. Zugleich erkannte er aber die symptomatische Bedeutung ihres Protests und die Gefährlichkeit der Lage. Auf seinen Vorschlag hin beschloss der 10. Parteitag der KPR (B) im März 1921 den Verzicht auf Zwangsrequisitionen und ihren Ersatz durch eine Naturalsteuer. Mit diesem Signal der Umkehr ging ein dreijähriger innerer Krieg zu Ende, der 9–10 Mio. Opfer forderte – davon nur 0,8 bis 1,2 Mio. Soldaten –, etwa 2 Mio. Einwohner in die Emigration trieb, das Land schlimmer verwüstete als Napoleons Feldzug 1812 und im Winter 1921/22 eine Hungersnot verursachte, die (zusätzlich) mindestens 5 Mio. Menschen das Leben kostete [497: D, H, W, Economic Transformation, 62 ff.]. So musste das Sowjetregime in einem – vor allem als Folge des Oktoberumsturzes – völlig zerrütteten Land seine neue Gesellschaft aufbauen.
2. Konzessionen und Experimente: Die „Neue Ökonomische Politik“ (1921–1928) Im Rückblick erscheinen die 1920er Jahre auch in der Sowjetunion als eine Art goldener Zeit. Vor allem in ihrem mittleren Drittel vereinigten sie drei Faktoren, die zu diesem Eindruck beitrugen: die Aufbruchsstimmung nach einer Phase beispiellosen Leids, relative wirtschaftliche und geistige Freiheit sowie eine überraschend schnelle Verbesserung der Versorgung als Folge der Erholung besonders von Landwirtschaft, Handel und Kleingewerbe. Natürlich ließen sich viele Kriegsschäden in so kurzer Zeit nicht beheben. Namentlich die demographischen und sozialen Verwerfungen (Invalidität, zerstörte Familien, Kinderverwahrlosung) dauerten an. Dennoch scheint die Grundstimmung, zu neuen Ufern aufgebrochen zu sein, weit über den Kreis gesinnungsfester Bolschewiki hinaus ausgestrahlt und sehr viel breitere Inhalte als nur einen sozialistischen angenommen zu haben. 2.1 Diadochenkämpfe Lenins Hinterlassenschaft
Wie immer man diesen Tatbestand werten mag: Lenin hatte nicht mehr viel Zeit, um dem Neuaufbau seinen Stempel aufzudrücken. Er setzte – gegen Trotzkis Konzept der ,Militarisierung der Arbeit‘ – jene begrenzte Zulassung des Marktes ˙ ausmachte. Und durch, die den Kern der Neuen Ökonomischen Politik (NEP)
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2. Konzessionen und Experimente:Die „Neue Ökonomische Politik“ (1921–1928)
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er raffte sich Ende 1922 noch zu einem „letzten Kampf “ (M. Lewin) gegen „großrussischen Chauvinismus“ und Funktionärsarroganz auf. Aber schon dies konnte er nach einem ersten Schlaganfall Ende Mai 1922 nur noch mit halber Kraft tun. Mitte Dezember traf ihn ein zweiter Schlaganfall, der seine Aktivitäten auf mühevolle, kleine Diktate beschränkte. Der dritte Schlaganfall Anfang März 1923 lähmte ihn halbseitig und raubte ihm die Sprache. Seitdem nahm der Staatsgründer auch hinter den Kulissen nicht mehr am politischen Geschehen teil. Als er am 21. Januar des nächsten Jahres starb, waren die Würfel im großen – und wie sich zeigen sollte: weltgeschichtlich bedeutsamen – Spiel um seine Nachfolge schon gefallen. Marxistische Kritiker des Stalinismus haben Lenin hoch angerechnet, dass er einen nüchternen Blick für die Realität bewahrte und buchstäblich mit letzter Kraft gegen zwei Hauptübel zu Felde zog, die in den wenigen Jahren der Sowjetherrschaft schon allzu sichtbar geworden waren. Zum einen beklagte er jene Mischung aus Leerlauf und Arroganz in der Verwaltung, die in der Diktion der Akteure „Bürokratismus“ hieß. Als Gegenmittel schlug er vor, die verklärten ,einfachen‘, noch nicht durch Macht und Politik korrumpierten Leute verstärkt zur Kontrolle heranzuziehen. In der Tat versah man die Arbeiter- und Bauerninspektion mit erweiterten Kompetenzen. Genutzt hat diese Empfehlung jedoch ebenso wenig wie der Vorschlag, das ZK personell deutlich aufzustocken. Schon mittelfristig erwiesen sich beide Rezepte vielmehr als kontraproduktiv. Auch im parallelen zweiten Streit siegte Lenin nur auf den ersten Blick. Dabei ging es um nichts weniger als die Stabilität und Lebensfähigkeit des Sowjetstaates. Nach dem Ende des Bürgerkriegs stellte sich die Aufgabe, die entlang der Grenzen des alten Imperiums zurückeroberten Regionen im Süden und Südosten an das russisch-sozialistische Kernland zu binden. Ein erster Verfassungsentwurf für einen neuen Gesamtstaat, die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), aus der Feder Josif V. Stalins – als Volkskommissar für Nationalitätenfragen ex officio zuständig – verriet nur allzu deutlich großrussische Hegemonialbestrebungen. Lenin beharrte dagegen auf tatsächlicher Gleichheit zumindest der verbrieften Rechte und einer realen Föderation. Formal setzte er sich durch. Die im Dezember 1922 gebilligte Verfassung gestand allen Mitgliedern – das waren neben der RSFSR zunächst nur die ukrainische, weißrussische und transkaukasische Sowjetrepublik; später folgten Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan sowie durch die Auflösung der Transkaukasischen Republik Armenien, Georgien und Azerbejdschan – grundsätzliche Ebenbürtigkeit zu. Ostentativ war dieses Prinzip im neu geschaffenen, von den Unionsrepubliken und den sog. Autonomen Republiken bzw. Autonomen Regionen als Selbstverwaltungsgebieten der nichtrussischen Ethnien beschickten „Nationalitätenrat“ verkörpert. Dieser bildete die zweite Kammer des Allunions-Exekutivkomitees – als ständigem Ausschuss des Allunionskongresses der Sowjetdeputierten – neben dem entsprechend der jeweiligen Bevölkerungsgröße gewählten „Unionsrat“. Dennoch zeigte sich von Anfang an, dass die Rechtsgleichheit nur auf dem Papier stand. De facto bestimmte die Moskauer Zentralregierung, was in der Union geschah.
UdSSR
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Trotzki und Stalin
Stalin : „Sozialismus in einem Land“
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Kurz vor seinem Ausscheiden aus der Politik bat Lenin seinen engsten Mitstreiter aus der Revolutionszeit, Leo Trotzki, seine Kritik auf dem nächsten (dem 12.) Parteitag im April 1923 vorzutragen. Lenin tat dies auch, weil er den anderen führenden Bolschewiki misstraute : Lev B. Kamenev und Grigorij A. Zinov’ev, weil sie in den Oktobertagen 1917 gegen den Aufstand votiert hatten; Bucharin (den er aber als Theoretiker hoch schätzte), weil er die Linken Kommunisten angeführt hatte; schließlich Stalin, dem er in einer nachmals viel zitierten Ergänzung zu seinem berühmten ,politischen Testament‘ vom Dezember 1923 die charakterliche Eignung absprach, behutsam mit der Machtfülle umzugehen, die ihm sein neues Amt als Generalsekretär der Partei (seit April 1922) eintrug. Aufgrund dieser Konstellation gewann die Kritik eine neue Dimension: Sie wurde Teil des Ringens um die Nachfolge Lenins. Zu Lebzeiten Lenins fand dieser Kampf seinen Fokus weiterhin in der Bürokratismusrüge. Dabei erhielt Trotzki im Oktober 1923 willkommene Unterstützung durch die „Erklärung der 46“. Alte Weggefährten, vor allem aber einstige „demokratische Zentralisten“, erweiterten seine Schelte zu einem Vorwurf, den Stalin, Zinov’ev und Kamenev, die sich gegen ihn verbündet hatten, nicht einfach ignorieren konnten. In der Tat kam das ,Triumvirat‘ der ,linken Opposition gegen die‘ in den ersten Dezembertagen weiter entgegen als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt. Die Frondeure konnten diese Chance aber nicht nutzen. Als ihre Kritik Anfang Januar 1924 vom Parteirat zurückgewiesen wurde, hatte Stalin die erste Runde der Auseinandersetzung bereits gewonnen. Dieser wichtigen Vorentscheidung entsprach seine herausgehobene Rolle in der Feierstunde vor der Beisetzung Lenins wenige Wochen später: Es war kein Zufall, dass Stalin jenen liturgieähnlichen Schwur leistete, mit dem er die Erben auf die Bewahrung der Hinterlassenschaft des Staatsgründers verpflichtete – und sich selbst zum ersten Sachwalter erhob. Weil sich die Kritik am herrschenden Kurs zum Streit über den rechten Weg (und die Macht, ihn zu bestimmen) zuspitzte, wechselten ihre Themen ebenso wie ihre Protagonisten. Nach Lenins Tod trat auf wirtschaftlichem Gebiet die Industrialisierungsdebatte (s. u. 2.2) in den Vordergrund, in der allgemeinen Politik die Frage, ob die Sowjetunion ihr weltgeschichtlich singuläres Experiment allein fortsetzen könne oder nicht. Trotzki griff die Fehler beim kläglich gescheiterten Aufstandsversuch der deutschen Kommunisten im Spätsommer 1923 (nicht ohne Seitenhieb auf Stalins Rolle 1917) scharf an (Die Lehren des Oktober) und erweiterte eine alte These aus der ersten Revolution von 1905/06 dahingehend, dass der Sozialismus auch in Russland nur im Gleichklang mit der internationalen Entwicklung errichtet werden könne. Dieser „Theorie der permanenten Revolution“ setzte Stalin die These vom Aufbau des „Sozialismus in einem Lande“ entgegen – und hatte damit nicht nur die Realität auf seiner Seite, sondern auch die Mehrheit der Parteifunktionäre. Denn die Forderung nach einer parallelen Weltrevolution war rein theoretisch, längst illusorisch geworden und den neuen, im Bürgerkrieg rekrutierten Bolschewiki fremd. So brauchte die Troika um Zustimmung nicht zu bangen, als sie im ZK mit Wirkung zum 26. Januar 1925 die Ablösung Trotzkis als Kriegskommissar – der er seit 1918 war – durchsetzte.
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2. Konzessionen und Experimente:Die „Neue Ökonomische Politik“ (1921–1928)
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Die Unterlegenen erhielten noch einmal Auftrieb, als der herrschende Dreibund im Herbst 1925 zerbrach. Auch wenn es lange dauerte, bis Zinov’ev, Kamenev und Trotzki sich zusammentaten, konnte die „Vereinigte Opposition gegen die“ seit dem Frühsommer 1926 hoffen, Stalin zumindest in die Schranken zu weisen. Allerdings zeigte sich im Laufe des folgenden Jahres, dass auch die Kooperation der prominentesten Mitstreiter Lenins wenig Anklang bei der umworbenen ,Basis‘ fand. Eine neue Plattform (Erklärung der 84 vom Mai 1927) blieb ohne Resonanz. Die letzte Nagelprobe bildete der Versuch, aus Anlass des zehnjährigen Revolutionsjubiläums Protestkundgebungen zu veranstalten. Stalin wusste dies im Verein mit der Geheimpolizei (OGPU) ebenso zu verhindern wie nennenswerte Sympathiebezeugungen in der Partei. Seitdem nahm endgültig seinen Lauf, was im Grunde schon seit 1923/24 entschieden war. Ein handverlesener Parteitag, der 15., schloss Trotzki und seine Anhänger aus der VKP (B) aus. Die reuigen Zinov’evisten durften bleiben, spielten aber fortan keine Rolle mehr. Stalin und sein neuer Bundesgenosse Bucharin (seit 1925) hatten gesiegt, die Linken aller Richtungen verloren. Die wahrscheinlichen Ursachen für Stalins ersten Triumph hängen naturgemäß mit Gründen für den Stalinismus allgemein zusammen und sind später zu skizzieren. Hier sei nur auf drei Faktoren verwiesen. Zum Ersten half ihm die Persönlichkeit Trotzkis. Lenins natürlicher Erbe verfügte über eine funkelnde Intelligenz und Rhetorik, aber seine Überheblichkeit stand dieser Brillanz kaum nach. Er verachtete die Routine des Alltagsgeschäfts und machte sich mehr Feinde als Freunde. Umgekehrt war Stalin nicht nur gescheiter als oft behauptet; vor allem beherrschte er die Kunst taktischer Schachzüge einschließlich der informellen Kommunikation bis hin zur Intrige wie kein anderer. Zum Zweiten konnte sich Stalin auf einen Generationswechsel im Parteiapparat stützen. Damit änderte sich der Typus des Bolschewiken : An die Stelle des auslandserfahrenen, aus Überzeugung handelnden Intellektuellen trat der pragmatische Funktionär, der sich im Untergrund oder im Bürgerkrieg seine ersten Sporen verdient hatte und in der Partei Karriere machte. Sicher nutzte Stalin als Generalsekretär die Möglichkeit, treue Gefolgsleute in wichtige Ämter zu bringen. Aber angesichts der ineffizienten Organisation auch der Partei dürfte dieser generelle Wandel der Mitgliedschaft wichtiger gewesen sein. Zum Dritten schließlich konnte Stalin die vielzitierte ,Macht des Faktischen‘ für sich in Anspruch nehmen. Trotzki stand für die Weltrevolution (und den Kampf gegen die Bauern), Stalin für einen ,russischen Weg‘ zum Sozialismus. Den neuen Parteifunktionären aber war das Machbare, das ihrem durchaus vorhandenen Engagement für eine bessere Zukunft ebenso entgegenkam wie ihrem Aufstiegswillen, allemal lieber als das Zuwarten im Dienst abstrakter Theorien.
Ursachen für Stalins Triumph
2.2 Neue Ökonomische Politik Nicht zufällig gab eine wirtschaftspolitische Weichenstellung der gesamten Epoche ihren Namen. Was der 10. Parteitag 1921 beschloss, war mehr als eine ökono-
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24 Mehr wirtschaftliche Freiheit
Festgelegte Naturalsteuer
Reprivatisierung im Kleingewerbe
I. Darstellung
mische Korrektur. Es war ein Signal an die Bevölkerung, dass die wirtschaftliche Freiheit der vorbolschewistischen Zeit wenigstens teilweise zurückkehren werde. Die Maßnahme zielte vor allem auf die Bauern, die nicht nur wachsenden Widerstand gegen den Raub ihrer Vorräte leisteten, sondern auch zur besseren Versorgung der Stadtbewohner unentbehrlich waren. Ebenso konnten andere Schichten und Wirtschaftszweige Hoffnung schöpfen. Wer den freien Verkauf von Agrarprodukten erlaubte, musste zumindest den kleinen Handel und das Kleingewerbe, die beide eng mit dem Dorf verbunden waren, einbeziehen. Umstritten bleibt dabei die Frage, für welchen Zeitraum diese partielle Zulassung des Marktes gelten sollte. Lenin legte sich nicht fest. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass sie auf Dauer gedacht war. Auch und gerade Lenin wird man nicht nachsagen können, über taktische Notwendigkeiten des Augenblicks das Ziel des ˙ war eine Erholungspause, Sozialismus aus dem Auge verloren zu haben. Die NEP keine Kehrtwende. Genau besehen machte bereits der Erfolg der ersten Maßnahme den Geburtsfehler der verstaatlichen Wirtschaft deutlich. Denn die am 21. März 1921 förmlich dekretierte Naturalsteuer verringerte die Abgaben nicht etwa, sondern erhöhte sie noch. Neu und durchschlagend war lediglich ihre Fixierung: Was die Bauern über die abzuliefernde Menge hinaus produzierten, durften sie behalten oder verkaufen. Schon im Sommer 1922, wenig mehr als ein Jahr nach der verheerenden Hungersnot, berichteten Reisende von einem reichhaltigen Angebot auf Moskaus Märkten. Die schnelle Blüte war überraschend, lässt sich aber erklären : Die Bauern bauten auf erweiterter Fläche wieder an, was sie kriegsbedingt hatten aufgeben müssen, und sie konnten für den Absatz im Kern dieselben Vertriebswege nutzen wie vorher. Ähnliches geschah im Kleinhandel und -gewerbe einschließlich der traditionsreichen Wanderarbeit (otchod) und bäuerlichen Heimindustrie (kustarni čestvo). Mitte Mai 1921 wurde die Verstaatlichung eingestellt; seit dem 7. Juli desselben Jahres durfte jeder erwachsene Sowjetbürger einen Laden oder einen Betrieb eröffnen, wenn er nicht mehr als zwanzig Lohnarbeiter beschäftigte. Anfang Dezember 1921 wurden alle bereits nationalisierten Unternehmen dieser Kategorie an ihre vormaligen Besitzer zurückgegeben. Neben der Landwirtschaft waren damit auch Kleinhandel und -gewerbe weitestgehend reprivatisiert. Anders verfuhr man mit der Großindustrie. Gerade weil man dem gefürchteten Markt auf der unteren Ebene des Wirtschaftslebens die Tore weit geöffnet hatte, sollten die „Kommandohöhen“ (Lenin) besetzt bleiben. Die Verstaatlichung der Großbetriebe wurde ausdrücklich bestätigt. Allerdings hielt man Anpassungen an das Konkurrenzprinzip für nötig. Dem diente zum einen die Zusammenfassung der Unternehmen einer Branche zu „Trusts“ und ihre Herauslösung aus der Anweisungskompetenz des VSNCh, zum anderen ihre Umstellung auf „wirtschaftliche Rechnungsführung“ (chozraščet). Die neu gebildeten Einheiten konnten Preise und Löhne selbst festlegen und hatten selbst für Rohstoffe und Absatz zu sorgen. Der Staat sollte lediglich die Oberaufsicht behalten. Freilich zeigte sich bald, dass regionale Interessen zu gesamtstaatlich wenig sinnvollen Entwicklungen führten. Schon im April 1923 verfügte man daher eine Rezentralisierung, die jenes Mischsystem verfestigte, das am ehesten als
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˙ gelten kann: eine Verbindung von freier Marktwirtschaft im Inbegriff der NEP Kleinen und staatlicher Kontrolle im Großen. Obwohl (oder weil?) Politiker und Ökonomen inner- und außerhalb der Partei auf diese Weise über wirksame Hebel zur Lenkung der Volkswirtschaft verfügten, löste in den folgenden Jahren eine Krise die andere ab. Die Serie begann 1923 mit der „Scherenkrise“, benannt nach der Form eines Diagramms, das Trotzki den Delegierten des 12. Parteitags im April zur Illustration der heraufziehenden Probleme vorlegte : einer wachsenden Kluft zwischen sinkenden Agrar- und steigenden Industriepreisen. Die Folgen zeigten sich im Spätsommer. Weil die Bauern keine Industriewaren mehr kaufen konnten, kam es zu Absatzeinbußen, Lohnrückständen und Entlassungen. Der Arbeiterstaat erlebte seine ersten Massenstreiks in Friedenszeiten. Es folgte eine Gegensteuerung, die seit dem Sommer 1924 die beste Zeit der ˙ einleitete: drei Jahre relativer Prosperität, an deren Ende die SowjetuniNEP on die gesamtwirtschaftliche Leistungskraft des Jahres 1914 wieder erreichte. Hauptgewinner dieses Aufschwungs waren die Bauern, denen die Politik nun besondere Förderung angedeihen ließ. Auch die ,rechten‘ Bolschewiki taten dies jedoch nicht, weil sie ihre proletarische Orientierung aufgegeben hätten. Vielmehr kam vor allem der einstige ,Linke‘ Bucharin zu der Einsicht, dass die vordringlichste Aufgabe der Sowjetmacht, die industrielle Entwicklung des Landes, nur mittels ausreichender Kaufkraft auf dem Dorf zu bewältigen sei. Sein aufsehenerregender Aufruf vom Juni 1925 „Bereichert Euch“ diente eben diesem Ziel: „auf dem Rücken der Bauern in den Sozialismus zu reiten“ (Bucharin). Diese Strategie setzte sich im selben Maße durch, wie die Linke Opposition gegen die unterlag. Fraktionsstreit und Industrialisierungsdebatte waren 1924/25 unauflöslich miteinander verbunden. Prominentester Sprecher der Linken war dabei der Ökonom Evgenij A. Preobraženskij. Auch seiner Meinung nach mussten die Bauern den industriellen Fortschritt bezahlen, aber nicht auf dem Umweg der Vergrößerung ihrer Kaufkraft, sondern umgekehrt durch staatliche Festsetzung ungleicher Tauschverhältnisse zugunsten der Industrie. Höhere Industriepreise und entsprechende Steuern sollten eine sozialistische Akkumulation – so das begriffliche Etikett für dieses Konzept – bewirken, die Einkommen aus dem Agrarsektor zwangsweise (aber ohne Gewalt) in den „sozialistischen“ Sektor umleiten würde. Es liegt auf der Hand, dass dieses Konzept klassischen marxistischen Positionen näher stand und deutlicher nach zentraler Planung verlangte als die Bucharin’sche Alternative. Zugleich blieb aber die Frage offen, ob es tatsächlich allein mit friedlichen Mitteln durchsetzbar gewesen wäre. Denn auch die konziliante Strategie rief bald bäuerliche Reaktionen hervor, die den Staat in Schwierigkeiten brachten und die dogmatischen Marxisten an seiner Spitze in ihrer Überzeugung bestärkten, dass der freie Markt unberechenbar und abzuschaffen sei. Die Korrektur der Preisschere erwies sich als Übersteuerung und führte zu einem ,Warenhunger‘ auf dem Dorf. Um diesen Kaufkraftüberhang abzubauen, senkte die Regierung 1926 die Ankaufspreise für Getreide (immer noch lagerte der Staat Vorräte für die Versorgung der Städte
Wirtschaftskrisen
Industrialisierungsdebatte
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Stalins Abkehr ˙ von der NEP
I. Darstellung
ein), mit der Folge, dass die Bauern auf andere Produkte auswichen und die öffentlichen Silos leer blieben. Am Ende drohte im Winter 1927/28 der Hunger („Getreidekrise“). Zur selben Zeit musste die Linke Opposition gegen die endgültig ihre Waffen strecken. Stalin hatte freie Hand – auch, um den Kurs zu wechseln. Was 1928 in mehreren Schritten begann, summierte sich zur Liquidierung des Marktes ˙ Stalins Schlüsselrolle sollte dabei nicht übersehen lassen, dass die und der NEP. Weichen für diese Abkehr längst gestellt waren. Schon der 14. Parteitag hatte im Dezember 1925 die Notwendigkeit zentraler Planung bestätigt und den (im Februar 1921 gegründeten) Gosplan (staatliches Wirtschaftsplanungskommitee) mit der Ausarbeitung eines entsprechenden Zahlenwerks beauftragt. Die Koinzidenz war paradox: Derselbe nächste Parteitag, der die Linken zwei Jahre später ausschloss, nahm auch den ersten Fünfjahresplan der Sowjetunion an. 2.3 Gesellschaft
Bauern
˙ waren die Bauern. Nach dem Einlenken der BolschewiKlare Gewinner der NEP ki hatten sie beinahe Grund, die Erfüllung jahrhundertealter Träume zu feiern: Adel und Grundbesitzer waren vertrieben, deren Ländereien übernommen und aufgeteilt, die Dorfgemeinden als faktische Besitzer anerkannt und jenseits einer fixierten Abgabemenge der freie Verkauf ihrer Erzeugnisse oder eine anderweitige Verfügung darüber (Verpfändung, Tausch) legalisiert worden. Zwischen Bürgerkrieg und Zwangskollektivierung besaßen die russischen Bauern in höherem Maße als je zuvor und danach, was sie in unzähligen Aufständen gefordert hatten : „Land und Freiheit“. Wichtigstes Vehikel für beide war dabei die obščina. Seit dem Oktoberumsturz von der Konkurrenz des Dorfsowjets bedroht, gewann sie seit dem Ende des Bürgerkriegs die Oberhand. Der Staat machte nicht nur seinen Frieden mit der ökonomischen Tradition der Bauern, sondern auch mit ihrer politisch-sozialen: Der Agrarkodex vom Dezember 1922 erkannte die obščina ausdrücklich an. Im Gegensatz zu seiner revolutionären Rhetorik und seinem Selbstverständnis akzeptierte er damit fürs erste eine Einrichtung, die von den (relativ) wohlhabenden Bauern (bol’šak, kulak) beherrscht wurde und die umworbenen landlosen Arbeiter (batrak) häufig ausschloss. Zentrales Organ der obščina war die Dorfversammlung, der alle (männlichen) Haushaltsvorstände angehörten. Damit tat ihre Bestätigung – über die Kapitalarmut und andere ökonomische Faktoren hinaus – ein Übriges, um die quantitative Dominanz derjenigen Bauern zu festigen, die mit Hilfe ihrer Familie, einfachsten Geräten, einem Ochsen oder Pferd ein kleines Stück Land bearbeiteten und gegebenenfalls geringe Überschüsse auf den Märkten der Umgebung verkauften. Die Kennzeichen des russischen Dorfes der zwanziger Jahre waren die alten: die Identität von Haushalt und Wirtschaft, die Selbstverwaltung im Rahmen der Dorfgemeinde, fließende Übergänge zwischen mittleren und ,reichen‘ Bauern sowie ein hohes Maß an Zusammenhalt. Marxistischen Puristen musste gerade diese Zählebigkeit der Tradition ein Dorn im Auge sein. Im Maße der politischen Wende wuchs auch der Druck auf
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die obščina. Im März 1927 wurde sie dem Dorfsowjet förmlich untergeordnet. Allerdings spricht manches dafür, dass die Wirklichkeit dem Gesetz zögerlich oder gar nicht folgte. Letztlich bedurfte es erst der gewaltsamen Unterwerfung des Dorfes, um seine jahrhundertealte soziale Organisationsform zu beseitigen. Die Arbeiter stiegen im neuen Staat nominell zum ,Hegemon‘ auf. Von ihrer politischen Einflusslosigkeit abgesehen, entsprach auch die gesellschaftliche Wirklichkeit dieser exponierten Rolle nur begrenzt. Den größten Erfolg konnten sie sicher in ihrer sozialrechtlichen Absicherung verbuchen. Die alten gewerkschaftlich-sozialdemokratischen Forderungen nach Achtstundentag, Arbeitslosen-, Invaliditäts- und Altersversicherung sowie nach verschiedenen Arbeitsschutzbestimmungen wurden erfüllt. Hinzu kam eine neuartige öffentliche Gesundheitsvorsorge, da sich der Arbeiterstaat für seine ureigene Klientel auch als Sozialstaat verstand. Nur bedingt konnte er dagegen das Versprechen materieller Besserstellung erfüllen. Zwar stiegen die Löhne nach der Währungsreform und dem Ende der Inflation 1924 zum Teil kräftig an. Aber der Reallohn erreichte erst 1927/28 wieder den Stand von 1913. Vor allem jedoch zogen Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot das Lebensniveau der Arbeiter erheblich in Mitleidenschaft. Erstere wuchs vor allem seit der Scherenkrise stark an, von 160 000 Anfang 1922 (= 100) auf 920 000 (= 575) im Oktober 1925 und 1,47 Mio. im April 1927 (= 918); Mitte 1927 betrug die Arbeitslosenrate in Moskau 20 %. Alle Arbeiter schließlich hatten unter der Wohnungsnot zu leiden. Nach dem Oktober 1917 waren die Adelspaläste und großbürgerlichen Beletagen beschlagnahmt und an die ehemaligen Kellermieter verteilt worden. Durch Kälte und Not im Bürgerkrieg hatten sie aber stark gelitten, so dass Wohnraum äußerst knapp wurde, als 1922 noch Millionen von Soldaten in die Städte zurückströmten. Um das schlimmste Elend abzuwehren, mussten sogar einige Schlafkasernen der Vorkriegszeit wieder geöffnet werden. Im Vergleich zu vielen anderen konnten sich allerdings selbst jene nicht beklagen, die wieder mit einem tuchverhangenen Teil eines Raumes vorliebnehmen mussten. Die frühsowjetische Gesellschaft hatte schwer an den Folgen von Krieg, Revolution und erneutem Krieg zu tragen. Familien waren zerrissen worden oder hatten ihren Ernährer verloren. Etwa eine Million eltern- und aufsichtsloser Kinder und Jugendlicher (1924) hausten auf den Straßen vor allem der Hauptstädte und lebten von Bettelei und Diebstahl. Aber auch wohlgemeinte Reformen riefen schwerwiegende soziale Verwerfungen hervor : Als Erfüllung einer Hauptforderung der weiblichen Emanzipationsbewegung hatte das neue Ehegesetz von 1918 die Scheidung ermöglicht und nur wenige Barrieren belassen. Das Familienstatut von 1925 brachte weitere Erleichterungen. Da die Kinderbetreuung aber weiter bei den Frauen lag und es an Hilfe fehlte, vermehrte dieser Aspekt der Trennung von Kirche und Staat die ohnehin große Zahl unvollständiger und meist mittelloser Familien.
Arbeiter
2.4 Kultur ˙ als liberale Ära. Mit Gerade im Bereich von Kultur und Kunst gilt die NEP
Relative Liberalität
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I. Darstellung
Einschränkungen und im Vergleich zum Kommenden war sie das auch. Im Bildungswesen wurde nicht nur der Analphabetismus weitgehend – zuletzt in Mittelasien – beseitigt und ein flächendeckendes, an verschiedenen pädagogischen Reformideen orientiertes Schulwesen („Arbeits-Einheitsschule“) eingeführt. Besonderes Merkmal des neuen, revolutionären Staates war die gezielte Öffnung gerade auch der Hochschulen für „Arbeiter und Bauern“, darunter erstmals auch Frauen. Ein Bergmannssohn und einstiger Ziegenhirte wie Nikita S. Chruščev konnte Ende der zwanziger Jahre ein Polytechnikum besuchen. Aus Absolventen wie ihm entstand eine neue Schicht meist technisch-naturwissenschaftlich qualifizierter Akademiker, die „Sowjetintelligenz“. In der Literatur, der bildenden Kunst und im Filmwesen dauerten die kreativen Experimente im Geiste der ,westeuropäischen‘ Moderne, denen der Oktoberaufstand endgültig freie Bahn geschaffen hatte, über die Dekadenmitte hinaus an. Dabei ermöglichte es die Zulassung privater Verlage auch einigen oppositionellen gegen die Künstlern, in Distanz zur offiziösen Ästhetik zu überleben. Allerdings wurde der Druck zur Befolgung der ,Klassenlinie‘ immer stärker. In gleichem Maße zeigte sich, dass vorgeschriebene Kunst ein Widerspruch in sich ist. Als die Partei auch das geistige Leben unterworfen hatte, ging – kaum ˙ – nicht nur der Rest zufällig ungefähr zeitgleich mit dem Widerruf der NEP an (öffentlicher) kultureller Freiheit verloren, sondern auch das künstlerische Niveau. 2.5 Außenpolitik
Arrangement mit Europa
Die auswärtigen Beziehungen des neuen Staates lassen sich für die Zeit nach dem Bürgerkrieg in einer paradoxen Formulierung zusammenfassen: Sie sollten ideologisch revolutionär sein, praktisch aber für einen modus vivendi mit den bedeutendsten Staaten der Welt sorgen. Trotz des wachsenden Gewichts der USA waren dies vor allem die alten europäischen Mächte, wenn auch in ihrer neuen, vom Ersten Weltkrieg fundamental veränderten Konstellation und Gestalt. Dabei gab Großbritannien, das als Schauplatz der Auseinandersetzungen verschont worden war, trotz beginnender Wirtschaftskrise und erster Unabhängigkeitskämpfe (in Indien) den Ton an. Da es darüber hinaus geneigt war, weiterhin die alte Maxime der balance of power zur Leitlinie seiner Politik zu machen, konnte auch das revolutionäre Russland bei aller ideologischen Feindschaft des kapitalistischen ,Urlandes‘ darauf hoffen, eine gewisse Rolle im britischen Machtkalkül zu spielen. Dagegen schied jede Erwartung an Frankreich aus. Zum einen war der einstige Alliierte vom Krieg schwer heimgesucht und wirtschaftlich stark geschwächt worden. Zum anderen schlug sich die alte Wahlverwandtschaft zwischen Frankreich und Polen, das im Gefolge der deutschen Niederlage seine staatliche Souveränität wiedererlangt hatte, in einer nahezu exklusiven und bald vertraglich untermauerten Form nieder. Damit blieb als vielversprechendster Adressat der Kriegsverlierer. Deutschland lag zwar nicht nur militärisch und ökonomisch am Boden, sondern war auch politisch zutiefst zerrissen. Aber es befand sich auf internationaler Bühne in einer ähnlichen Situation wie das neue
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Russland. Dabei sollte man die gemeinsame Erfahrung einer Revolution nicht überschätzen; sie war allzu unterschiedlich, um mehr als formale Analogien zu erlauben. Deutschland stand nicht aufgrund des Novemberumsturzes am Pranger, sondern als Hauptverursacher des Weltbrandes. Unbestritten aber bleibt die Gemeinsamkeit, dass Deutschland wie Russland einen Weg aus der Isolation suchten und dadurch – aber auch nur dadurch – zu Verbündeten wurden. Es verdient Beachtung, dass eine Verständigung dennoch zuerst mit dem ärgsten Feind von gestern, Großbritannien, erreicht wurde. Im Bürgerkrieg zutiefst verfeindet – die ausländische Intervention hatte im August 1918 mit der Landung britischer Truppen in Murmansk begonnen – kam es schon bald nach dem Ende der Kämpfe zu Gesprächen, weil die britische Regierung ein Interesse daran hatte, das revolutionäre Russland nicht völlig aus dem europäischen Kräftespiel auszugrenzen. Umgekehrt brauchten die Bolschewiki nichts dringender als materielle Wiederaufbauhilfe in Gestalt geregelter Handelsbeziehungen. Haupthindernis für die Einigung war dabei ein Problem, das auch mit allen anderen ,kapitalistischen‘ Staaten zu lösen war: die Frage der Entschädigung für enteigneten Besitz im ehemaligen Zarenreich. Es spricht für einen ausgeprägten Willen zur Einigung auf beiden Seiten, dass die Vereinbarung ohne Zugeständnisse in dieser Frage zustande kam. Man klammerte sie aus. Russland sagte lediglich zu, auf weitere Enteignungen zu verzichten. Darüber hinaus verpflichtete es sich vor allem mit Blick auf den mittleren Osten (Afghanistan, Persien), feindliche Manöver zu unterlassen. Der britischen Regierung genügte das, um am 16. März 1921 ein Handelsabkommen mit der RSFSR zu schließen. Auf das Minimum beschränkt, das annähernd normale Beziehungen verlangen, ging die Bedeutung dieses Vertrages weit über seinen praktischen Inhalt hinaus. Als Signal markierte er, etwa zeitgleich mit dem grausamen Schlussakt des Bürgerkriegs in Kronstadt, eben das, was der britische Premier David Lloyd George erreichen wollte: den ersten Schritt zur Rückkehr des revolutionären Russland auf die diplomatische Bühne Europas. Allerdings blieb eine andere erhoffte Wirkung aus. Der Herstellung wirtschaftlicher ,Arbeitsbeziehungen‘ folgte keine Verbesserung des politischen Klimas. Solange die konservative Partei stärkste Kraft in Großbritannien war, erwiesen sich die weltanschaulichen Gegensätze als unüberbrückbar. Dies änderte sich durch den Wahlsieg der Labourpartei im Dezember 1923. Auch wenn weiterhin Welten zwischen den politischen Systemen lagen – und der englische Sozialismus bekanntlich besonders weit vom Lenin’schen Kommunismus entfernt war –, eröffnete sich über Nacht die Möglichkeit einer förmlichen Verständigung. Einschlägige Gespräche führten am 8. August 1924 zur Sensation der ersten diplomatischen Anerkennung der Sowjetunion durch eine westliche Siegermacht. Indes zeigte sich umgehend, auf welch dünnem Boden diese Vereinbarung ruhte. Gerade weil die rapide Verschlechterung der beiderseitigen Beziehungen in den folgenden Jahren vor allem in der schweren inneren Krise Großbritanniens begründet war, rechtfertigt sie eine solche Interpretation. Dabei half die sowjetische Seite höchst unklug, aber in typischer Weise mit. Sie glaubte, das Geschenk förmlicher diplomatischer Kontakte für die zweite, die revolutionäre Seite ihrer Außenpolitik nutzen zu sollen und bot – als Aktivität der Komintern
Großbritannien : Anfangserfolge
Verschlechterung der Beziehungen
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Deutschland : Schnelle Annäherung
Vertrag von Rapallo
I. Darstellung
kaschiert – den englischen Gewerkschaften Hilfe an. Besonders eine Spendensammlung zugunsten der Bergleute, die am 1. Mai 1926 in einen denkwürdigen, langen Streik traten, schlug in der englischen Öffentlichkeit hohe Wellen. Sie trug maßgeblich dazu bei, dass sich in der – wieder konservativ geführten – Regierung die Neigung zu radikalen Schritten durchsetzte. Im Mai 1927 brach Großbritannien die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab. Damit lag auch das ohnehin bescheidene Resultat der von Außenkommissar Georgij V. Čičerin (1918–1930) betriebenen Rückkehr seines Landes in die europäische Politik in Trümmern. Da Frankreich (ebenso wie die Vereinigten Staaten) Distanz wahrte, blieb nur der Draht nach Berlin. Denn auch mit dem Wunschpartner Deutschland war sich das sowjetische Russland inzwischen einig geworden. Dabei spielte nicht nur die äußere Leidensgenossenschaft eine Rolle, sondern auch die schwere Krise, die das Deutsche Reich nach der Niederlage durchlebte. Lenin und die meisten seiner Genossen hofften noch lange nach dem Oktober auf Unterstützung durch die „Weltrevolution“. Der zündende Funke dafür sollte vom Zentrum des gesamten internationalen Sozialismus ausgehen: von Deutschland. Diese doppelte Erwartung gab schon während des russischen Bürgerkriegs – an dem die Weimarer Republik nicht teilnahm – Anlass zu besonderer Aufmerksamkeit für die Vorgänge in Berlin. Eine Schlüsselfigur war dabei der polnisch-jüdische Revolutionär Karl Radek, der in beiden Hinsichten sondierte. Auf offizieller Ebene gab sich die Sowjetunion zunächst bescheiden. Sie strebte lediglich ein Wirtschaftsabkommen nach dem Vorbild der Vereinbarung mit Großbritannien an. Ein solcher Handelsvertrag wurde denn auch am 6. Mai 1921, knapp drei Monate nach dem russisch-britischen, geschlossen. Doch anders als im englischen Fall eröffneten sich damit tatsächlich die erhofften weitergehenden Perspektiven. Förmlichen politischen Beziehungen stand im Wesentlichen dasselbe Problem entgegen, allerdings mit dem wichtigen Unterschied, dass auch die russische Seite einen Trumpf in der Hand hatte : den bekannten Art. 116 des Versailler Vertrages, der Russland Reparationsansprüche für den Fall der Anerkennung seiner Regierung durch die Siegermächte zusprach. Man löste den Knoten durch eine gegenseitige Verrechnung der Ansprüche: Die Noch-RSFSR verzichtete auf den Versuch, Art. 116 zu nutzen, Deutschland auf Entschädigung. In dieser Gewissheit einer grundsätzlichen Einigungsmöglichkeit nahmen Delegationen beider Staaten im April 1922 an der ersten großen internationalen Nachkriegskonferenz in Genua teil. Als deutlich wurde, dass die Westmächte nicht bereit waren, den Art. 116 zu streichen, entschloss sich der deutsche Außenminister Walther Rathenau, sein Anliegen wenigstens in kleinem Maßstab zu sichern : Am 16. April unterzeichnete er im nahegelegenen Örtchen Rapallo ein Abkommen mit Sowjetrussland, das den gegenseitigen Anspruchsverzicht, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Meistbegünstigung im Außenhandel festschrieb. Insgesamt wird man sagen können, dass die größeren Vorteile dieser aufsehenerregenden Liaison auf russischer Seite lagen. Čičerin erreichte sein Ziel, die internationale Ächtung des ersten sozialistischen Staates der Welt zu durchbrechen. Zwar hatte nur der Unterlegene seine Hand gereicht. Aber dies bedeutete nicht nur einen ersten,
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wichtigen Schritt. Darüber hinaus war der Verbündete nicht irgendwer, sondern bei aller wirtschaftlichen Misere ein technologisch hoch entwickeltes Land und trotz seiner Niederlage eine gewichtige europäische Macht in spe. Offen bleibt dabei der Ertrag der Geheimabsprache zwischen Reichswehr und Roter Armee, die im Gefolge des Abkommens getroffen wurde. Die deutschen Militärs konnten die Versailler Auflagen unterlaufen, neue Flugzeuge, verbesserte Panzer und kriegstaugliches Gas erproben. Sowjetische Offiziere hospitierten bei den deutschen Stäben, studierten die Organisation sowie Logistik und bemühten sich nicht zuletzt um einen Technologietransfer. Nach längerer Anlaufphase erreichte die Zusammenarbeit erst gegen Ende des Jahrzehnts ihren Höhepunkt. Obwohl keine direkten Lernprozesse nachweisbar sind, kann es als wahrscheinlich gelten, dass sie vor allem der sowjetischen Militärtechnik erheblichen Nutzen brachte (und der berühmte T 34-Panzer, der den deutschen Invasoren seit 1942 schwer zu schaffen machte, auch hier seine Wurzeln hatte). In jedem Fall ist die Kooperation, die die Nationalsozialisten 1933 definitiv aufkündigten, von beiden Seiten als Erfolg gewertet worden. Dem sowjetischen Interesse an Deutschland entsprach die Enttäuschung darüber, dass sich dieser Wunschpartner dennoch mehr und mehr nach Westen orientierte. Durchaus mit der Nebenabsicht, die Frage der Ostgrenze offen zu halten, brachte der neue Außenminister Gustav Stresemann (seit Herbst 1923) jene Aussöhnung mit dem ,Erbfeind‘ Frankreich auf den Weg, die im Herbst 1925 in Locarno besiegelt und in multilaterale Verträge eingebettet wurde. Čičerin versuchte, sie mit großem Einsatz – einschließlich einer Liebäugelei mit Polen – zu torpedieren. Er erreichte auch eine Bestätigung des Rapallo-Abkommens und dessen Erweiterung durch die ausdrückliche Verpflichtung zur Neutralität. Insofern konnte die Sowjetunion dem Buchstaben nach mit dem Berliner Vertrag vom 24. April 1926 zufrieden sein. Es blieb ihr aber nicht verborgen, dass der Erfolg oberflächlich war. Was die Vertragspartner von Rapallo verbunden hatte, der Ausschluss aus der Versailler Ordnung, war nicht wiederherstellbar. Deutschlands primäres Interesse galt immer deutlicher den Westmächten. Die Sowjetunion erhielt nur ein Trostpflaster, aber kein Angebot zu engagierter Kooperation. Wenn es einer Bestätigung dieses Charakters bedurfte, so brachten sie die folgenden Jahre. Trotz aller kulturellen und wissenschaftlichen Kontakte verödeten die Beziehungen mehr und mehr. Dazu trug der Tod des deutschen Botschafters in Moskau Graf Brockdorff-Rantzau (1928), mit dem sich der gebildete Aristokrat Čičerin bestens verstand, nicht wenig bei. Der Berliner Vertrag blieb zwar bis zum Ende der Weimarer Republik und darüber hinaus in Kraft; aber ihm fehlte der Geist. Bleibt anzumerken, dass die inoffizielle Außenpolitik der Sowjetunion über die – in Moskau beheimatete – Komintern in all diesen Jahren nicht erfolgreicher war. Die Agitation für die Weltrevolution, die von Deutschland ausgehen sollte, erlebte im Herbst 1923 ihr Fiasko, als ein kommunistischer Aufstandsversuch (der „deutsche Oktober“) binnen weniger Stunden zusammenbrach. Danach büßte die Komintern insofern an Wirkung ein, als ihre Führung von denselben Diadochenkämpfen zerrissen wurde wie die bolschewistische Partei. Als Stalin 1927 triumphierte, brachte er auch die Komintern auf seinen fatalen Kurs, der
Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee
Deutschlands Orientierung nach Westen
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(noch) in ,linkem‘ Geist vor allem gegen die Sozialdemokratie Front machte („Sozialfaschismus“). Erst nach der Machtergreifung Hitlers begriff die Moskauer Führung, welch schlimmen Irrtum man damit begangen hatte. Für den Kampf gegen den Nationalsozialismus kam die „Volksfront“-Linie von 1935 aber zu spät.
3. Revolution von oben und Vorkriegsstalinismus (1929–1941) Stalinismus
˙ begann das, was man mit einem späteren Fremdbegriff Mit dem Ende der NEP als Stalinismus bezeichnet. Dieser Anfang der Jahre 1929–1933 war gekennzeichnet durch einen gewaltsamen, maßgeblich von Stalin unter Ausschaltung aller Kritiker vorangetriebenen Kurswechsel der Parteiführung, den man wegen seiner umfassenden Auswirkungen gern als „Revolution von oben“ bezeichnet. Gemeint sind damit im Wesentlichen drei tiefgreifende Veränderungen: der Übergang zur zentralen Planung und Lenkung zunächst der Industrie, dann der gesamten Wirtschaft; die Zwangskollektivierung der bäuerlichen Betriebe sowie die Zuspitzung des oligarchischen Herrschaftssystem zur personalen Diktatur Stalins. Auf dem unveränderten Fundament der Einparteienherrschaft, des sozialen Organisationsmonopols und der exklusiven ideologischen Kontrolle leiteten diese Veränderungen die leninistische Ordnung der zwanziger Jahre über in die stalinistische der dreißiger. Dabei markierte der Dekadenbeginn auch nach gegenwärtiger Forschungsmeinung eine deutliche Zäsur. Zugleich ist die ältere These eines Gegensatzes zwischen den beiden Phasen zugunsten der Vorstellung der einseitigen Zuspitzung einer Entwicklungsmöglichkeit der vorangehenden Ordnung durch Stalin ganz überwiegend aufgegeben worden. 3.1 Planwirtschaft
Erster Fünfjahresplan
Die erste Neuerung wurde noch in der alten Ära auf den Weg gebracht. Allerdings darf die Kontinuität, die darin durchaus zum Ausdruck kommt, nicht überzeichnet werden. Der vom 15. Parteitag 1927 verabschiedete erste Fünfjahresplan für die Industrie hatte mit demjenigen, der im November 1929 vom ZK gebilligt wurde, nur noch das Prinzip gemein. Konsens bestand unter den führenden Bolschewiki in Partei, Regierung und Gosplan darüber, dass die ,Marktanarchie‘ endgültig beseitigt und der ,sozialistische Aufbau‘ planmäßig-rational durchgeführt werden müsse. Höchst unterschiedlich aber dachte man über das Problem, welches Tempo einzuschlagen und welche Sektoren der Volkswirtschaft einzubeziehen seien. In diesem entscheidenden Streit, der unzertrennlich mit der ,Agrarfrage‘ verbunden war, setzte sich Stalin durch. Indem er die Verfechter einer maßvollen Transformation als unmarxistische Saboteure des Fortschritts verunglimpfte, förderte er einen regelrechten Überbietungskampf um die höchsten Zuwachsraten und „Kontrollziffern“. „Den Fünfjahresplan in vier Jahren“
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3. Revolution von oben und Vorkriegsstalinismus (1929–1941)
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zu erfüllen wurde zum pflichtgemäßen Bekenntnis des linientreuen Kommunisten. Die Experten unterlagen den Ideologen, die Anhänger einer ,genetisch‘ am Ausgangsniveau orientierten Planung den ,Teleologen‘. Noch deutlicher als ohnehin schon rückten dabei Großprojekte zur Schaffung einer industriellen Infrastruktur in den Vordergrund. Der Dnepr-Staudamm (zur Elektrizitätsgewinnung), das neue Eisenhüttenzentrum Magnitogorsk im Südural, zugleich erste industrielle Retortenstadt der Sowjetunion und Demonstrationsobjekt für das ,neue Leben‘, das mit amerikanischem Know-how errichtete Traktorenwerk in Stalingrad, die Automobilfabrik in Gor’kij (bis 1932 Nižnij Novgorod) als Lizenzunternehmen der Fordwerke, die Turkmenisch-Sibirische Eisenbahnlinie – all diesen Unternehmungen kam ein hoher Prestigewert zu, der ihren realen ökonomischen Nutzen nicht selten übertraf. Der erste Fünfjahresplan wurde zum Symbol des Aufbruchs in eine nichtkapitalistische Moderne – zugleich aber auch der weitgehenden Gleichsetzung des Sozialismus mit der Entwicklung der Schwerindustrie. Die Sowjetunion sollte, wie Stalin 1931 verkündete, wirtschaftliche in zehn Jahren nachholen, wozu (West-)Europa fünfzig Jahre gebraucht habe. Allerdings erwies sich eine solche Anstrengung bald als Überanstrengung. Dysfunktionale Folgen stellten sich ein, die den Ertrag des ungeheuren Aufwandes erheblich minderten. Besonders deutlich traten sie in Gestalt einer unvorhergesehen starken Zunahme der Arbeiterschaft in Erscheinung. Das ganze Land verwandelte sich in eine Großbaustelle, die weit mehr Dorfbewohner anzog als geplant. Diese enorme Urbanisierung führte nicht nur zu Lohnkonkurrenz und -steigerungen, sondern brachte auch die Notwendigkeit mit sich, die Mittel für den Konsum zu Lasten der Investitionen in den Produktionsgüterbereich zu erhöhen. Vor allem aber drückte die Hektik des ,großen Sprungs‘ auf die Qualität der Arbeitsleistung. Zahlreiche Berichte von Ausländern – darunter Memoiren amerikanischer Ingenieure, die Aufbauhilfe leisteten – bestätigen, dass teure Importmaschinen verrosteten, Fabriken im Rohbau steckenblieben und viel Schrott produziert wurde. Zweifellos schuf Stalins neuer Kurs in kurzer Zeit wichtige Grundlagen für die Industrialisierung der Sowjetunion, aber der Preis von Hast und Zwang war hoch.
Probleme der Industrialisierung
3.2 Zwangskollektivierung Noch tiefer war der Einschnitt, den die gewaltsame Unterwerfung des Dorfes verursachte. Da die Bauern 1917 ihren jahrhunderte alten Traum von der „Schwarzen Umteilung“ auf eigene Faust verwirklicht hatten und die Bolschewiki deren Ergebnis – die Schaffung zahlloser neuer Kleinstwirtschaften – entgegen ihrem eigentlichen Programm hatten akzeptieren müssen (in Gestalt des Landdekrets der Umsturznacht und des Agrarkodex von 1922), ging die Zwangskollektivierung über die Rücknahme einer notgeborenen Konzession weit hinaus: Sie holte die ,sozialistische‘, gegen das Privateigentum gerichtete Umwälzung des Oktober gleichsam nach. Mit ihr verschwand nicht nur der bäuerliche Familienbetrieb mitsamt seinem Gehäuse, der obščina und der von ihr über Jahrhunderte er-
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„Getreidekrise“
Erste Kolchosen
I. Darstellung
zeugten Sozialorganisation und Mentalität, sondern ein ganzer „Kontinent“ (L. Kopelev), das alte Russland, überhaupt. Sicher ist es immer noch sinnvoll, die „Getreidekrise“ vom Winter 1927/28 als ˙ in der Landwirtschaft zu betrachten. Sie brachte erstAnfang vom Ende der NEP mals seit dem Bürgerkrieg deutlich zu Bewusstsein, dass die Versorgungsfrage nicht gelöst war. Man muss sich allerdings davor hüten, irgendeine Zwangsläufigkeit in die Abkehr zu legen. Die Krise zeigte nur, dass der Markt als solcher keine Garantie gegen Engpässe bot, mehr nicht. Wenn Stalin die lokalen Parteikomitees schon im Januar 1928 anwies, „außerordentliche Maßnahmen“ zu ergreifen, und man auf repressive Methoden des Bürgerkriegs rekurrierte, um den wieder angeschwärzten „Kulaken“ angeblich gehortetes Getreide zu entreißen, dann trat ˙ zu brechen. Dazu aber musste darin vor allem die Absicht zutage, mit der NEP erst der Widerstand der Verteidiger des alten Kurses gebrochen werden. Bis zum Winter 1928 scheint der Ausgang der neuerlichen Fraktionskämpfe, die über diese Frage ausbrachen, offen gewesen zu sein. Dann aber neigte sich die Waagschale, begünstigt durch die Wiederholung der Versorgungskrise vom Vorjahr, zugunsten Stalins und zu Lasten seines wichtigsten Gegenspielers Bucharin, der eben noch mit ihm verbündet war. In gleichem Maße nahm der Druck auf die „ Kulaken“ zu, denen man Sondersteuern auferlegte und hohe Strafen androhte. Zugleich wurde die „gemeinsame Wirtschaft“ (kollektivnoe chozjajstvo, Kolchoz) verstärkt als überlegene Betriebsform propagiert. War dies im Prinzip nicht neu, weil der Kollektivismus zur Substanz des marxistischen Credos gehörte, so nahm die Kampagne seit April 1929 (als die „rechte“ Opposition gegen die endgültig unterlag) eine neue Qualität an : Wachsender Druck untergrub den Rest an Freiwilligkeit des Beitritts. Parallel zur Jagd nach industriellen Wachstumsrekorden übertrumpften Institutionen und Parteipolitiker einander auch mit immer höheren Zielvorgaben für die Zahl agrarischer Gemeinwirtschaften. Die förmliche Entscheidung für eine – wie es nun hieß – „vollständige“ und damit zu erzwingende Kollektivierung, die das ZK auf einer berüchtigten Plenarsitzung im November 1929 traf, konnte nicht mehr überraschen. Um ein „wirklich rasantes“ Tempo zu erreichen, beschloss man außerdem, einen Stoßtrupp von 25 000 freiwilligen Helfern aus der Arbeiterschaft zusammenzustellen. Äußerlich ließen Erfolge dieses Sturmangriffs auch nicht auf sich warten. Am 1. März 1930 meldeten die Parteibüros eine Vollzugsquote von 57,2 % in der gesamten UdSSR sowie 60–70 %, teilweise noch mehr, in den landwirtschaftlichen Kerngebieten an der Wolga und in der Ukraine. Allerdings: Solche Resultate standen nur auf dem Papier. Angesichts der Wintersaison und der Kürze der Zeit konnten sie keine andere Grundlage haben als rein formale, von durchreisenden Agitatoren herbeigeführte Erklärungen von Haushaltsvorständen, künftig gemeinsam wirtschaften zu wollen. Auch diese Einsicht dürfte – neben der Sorge um die neue Aussaat und der Furcht vor einer Hungersnot – zu Stalins bekanntem Artikel in der Pravda vom 2. März 1930 Anlass gegeben haben, der einen Realitätsverlust („Schwindel“) „vor lauter Erfolgen“ diagnostizierte und zur Konsolidierung mahnte. Indes währte die Atempause nicht lang. Im August wurde die Kampagne wieder aufgenommen und erst im Herbst 1931 für beendet
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erklärt. Am 1. Juli 1932 hatte der Anteil kollektivierter Bauernhaushalte 61,5 % erreicht [1028 : M, Bauern, 215]. Begrifflich und theoretisch ist eine andere Kampagne von der Zwangskollektivierung zu trennen, die gleichwohl zeitlich und inhaltlich mit ihr verbunden war: die Kulakenverfolgung. Stalin gab vor, was eine vom Novemberplenum eingesetzte Kommission empfehlen sollte: die ,Dorfbourgeoisie‘ nicht, wie einige Mitglieder anregten, als Arbeitskräfte auf den neu zu bildenden Kolchosen einzusetzen, sondern sie „als Klasse“ zu ,liquidieren‘. Entsprechende Maßnahmen beschloss das Politbüro in einer geheimen Sitzung am 5. Januar 1930. Demzufolge waren drei Gruppen zu bilden: „Konterrevolutionäre Aktivisten“ sollten ohne jeden Besitz deportiert und bei Gegenwehr standrechtlich erschossen werden. Eine zweite Gruppe sollte in den hohen Norden verschleppt, der Rest im näheren Umkreis auf das schlechteste Land umgesiedelt werden. Diese Entscheidung wurde umgehend und mit äußerster Brutalität durchgeführt. Ohnehin schlimm genug, wirkte sie sich dadurch noch verheerender aus, dass die unterstellte Zahl ,kulakischer‘ Haushalte (ca. 974 000 mit 6,3 Mio. Personen entsprechend 3,9 % aller Haushalte, eventuell sogar 1,3 – 1,5 Mio. Haushalte) deutlich überhöht war und die Zentrale darüber hinaus freihändig Anweisung gab, wie viele Personen ,abzuliefern‘ waren. In Verbindung mit dem ökonomischen Kernübel, das man beseitigen wollte – der völligen Armut der bestehenden Kolchosen –, führte dies zu einer so weiten Ausdehnung des Kulakenbegriffs, dass auch die ,Mittelbauern‘ betroffen waren. „Halbkulak“ konnte jeder Missliebige sein und jeder, dessen Vieh und Geräte dem Kolchos nützlich erschienen. Wie viele Opfer die gesamte mörderische Unterwerfung des Dorfes kostete, lässt sich nur schätzen. Dabei sollte man zwischen Betroffenen, aber am Leben Gebliebenen und tatsächlich Gestorbenen unterscheiden (was nicht immer geschieht). Die Gesamtzahl der bis Ende 1931 von Haus und Hof vertriebenen Familien wird auf 600 000-800 000 (mit durchschnittlich 5–6 Personen) geschätzt, von denen mindestens 350 000 in die Eiswüste des Nordens deportiert und dort ohne Ausrüstung und Saatgut sich selbst überlassen wurden. Erste archivalische Quellen beziffern die Letztgenannten auf ca. 2,1 Mio. Menschen. Weitere 400 000-450 000 Familien wurden innerhalb ihrer Heimatregion umgesiedelt. Ca. 200 000-250 000 Familien gaben vorher auf und zogen in die Städte („Selbst-Dekulakisierung“). Alles in allem traf die Zwangskollektivierung mithin mindestens 1 Mio. von insgesamt 25 Mio. Haushalten oder 5-6 Mio. Menschen. Wie viele davon umkamen, lässt sich ebenfalls nur schwer ermitteln. Die etwa 100 000 Personen, die der ersten Kategorie zugerechnet wurden, hatten besonders geringe Chancen zu überleben. Von den 2,1 Mio. Deportierten dürften infolge einer erhöhten Mortalität von 15-20 % ca. 315 000-420 000 ,vorfristig‘ gestorben sein. Zusätzliche Todesfälle auch in den folgenden Jahren eingerechnet, hat man die Gesamtzahl der Opfer der Kulakenverfolgung in diesem Sinne auf ca. 530 000-600 000 Personen geschätzt [497: D, H, W, Economic Transformation, 68; 1030: M, System, 289]. Gute Gründe sprechen dafür, dieser traurigen Bilanz noch die Opfer der Hungersnot anzufügen, die vor allem, aber nicht nur die Ukraine in den Jahren 1932–34 heimsuchte. Denn zweifellos bildete die Zwangskollektivierung eine
Kulakenverfolgung
Opfer der Zwangskollektivierung
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I. Darstellung
ihrer Ursachen. Über die Zahl der Betroffenen wird ebenso heftig diskutiert wie über die genaue Absicht und Verantwortlichkeit Stalins [dazu u. II.5.2]. Seriöse Schätzungen (aufgrund komplizierter demographischer Berechnungen) schwanken zwischen 5,5 und 6,5 Mio. tatsächlich Verstorbener [917: D, Years of Hunger, 401]. Bei alledem ist längst unstrittig, dass die Zwangskollektivierung auch ihr ökonomisches Ziel verfehlte. Bekannt sind die Massenschlachtungen, mit denen die Bauern der Kollektivierung ihres Viehs zuvorkommen wollten. Aber auch sonst wurde so viel Produktivkapital (Arbeitsgeräte, Stallungen u. a.) vernichtet, dass die Fähigkeit der Landwirtschaft, die Bevölkerung halbwegs angemessen zu ernähren, noch weiter litt. Erst recht konnte von einem Werttransfer zugunsten der Industrialisierung keine Rede sein. Erfolg hatte Stalin nach seinen Maßstäben nur in einer Hinsicht, der aber als Motiv für den Frontalangriff gewiss großes Gewicht beizumessen ist: Die politische Widerstandskraft des Dorfes war – bei aller anhaltenden passiven Resistenz – ein für alle Mal gebrochen. 3.3 Die Ausschaltung der „Rechten Opposition gegen die“ und das Ende aller Kritik
Stalins Aufstieg zur Alleinherrschaft
Weil die planmäßige Industrialisierung und erst recht die Kollektivierung der ˙ bedeuteten, ging der Kurswechsel gesamten Landwirtschaft das Ende der NEP mit der endgültigen Niederlage ihrer Befürworter einher. Deshalb bedeutete ,Revolution von oben‘ auch mehr als ,nur‘ eine Kehrtwende der sozioökonomischen Strategie beim „Aufbau des Sozialismus“. Zugleich vollendete sie Stalins Aufstieg zur Alleinherrschaft und spitzte die oligarchische Parteiherrschaft zu einer personalen Diktatur zu, die keinerlei Kritik mehr zuließ. Anders als die ,linke‘ Opposition gegen die Mitte der zwanziger Jahre forderte die ,rechte‘ am Ende der Dekade keine Korrektur von Missständen. Vielmehr plädierte sie umgekehrt dafür, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Anders auch als ihre ,linken‘ Vorgänger konnte sie an keine parteiinterne Tradition ,reiner‘ Ideologie anknüpfen. Stattdessen verteidigte sie eine Politik, die in ihrer pragmatischen Offerte an die Bauern zweifellos von der orthodoxen marxistischen Lehre abwich. Dies könnte ein Grund für ihre Niederlage gewesen sein. Die wichtigere Ursache ist aber sicher in der Person Stalins und in jenen Veränderungen in der Partei und ihrer Führungsriege zu sehen, die seiner Strategie zum Sieg verhalfen. Denn nur so lässt sich Stalins Erfolg verstehen. Als er die Getreidekrise des Winters 1927/28 mit den Methoden des Bürgerkriegs zu bekämpfen empfahl, begann er ein gewagtes Spiel. Stalin – und niemand sonst – verließ den Boden der ,rechten‘ Politik, in deren Namen und zwecks deren Fortsetzung er noch wenige Monate zuvor die „Vereinigte Opposition“ unterworfen hatte. Das ZK war zunächst auch nicht bereit, ihm zu folgen. Vielmehr bestätigte es im April und Juli 1928 den alten Kurs. Bucharin hatte gute Gründe für die Annahme, seine berühmten Anmerkungen eines Ökonomen vom Herbst des Jahres nicht umsonst geschrieben zu haben. Doch Stalin mobilisierte seine Truppen mit
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großem Geschick. Dabei nutzte er zum einen die Verschärfung des Generationenkonflikts in der Partei. Er bediente sich der Ungeduld des Kommunistischen Jugendbundes, um die ,rechte‘ Gewerkschaftsspitze mit dem langjährigen Vorsitzenden und Mitstreiter Bucharins Michail P. Tomskij aus dem Amt zu drängen. Komsomol’cy – unter ihnen Lev Kopelev – gehörten zu den eifrigsten Aktivisten des ersten Fünfjahresplans und der Zwangskollektivierung. Zum anderen ließ sich Stalin Gerüchte über Gespräche zwischen Bucharin und Kamenev Anfang 1929 nicht entgehen, um seine schärfste Waffe in Anschlag zu bringen : Wie einst seine ,linken‘ Gegner bezeichnete er nun auch die ,rechten‘ als abweichlerische ,Fraktion‘ von der Art, die der zehnte Parteitag 1921 noch unter der Führung des unangreifbaren Lenin für alle Zeit verboten hatte. Dieser Anklage mussten sich die Wortführer der ,Rechten‘, neben den genannten auch Aleksej I. Rykov – immerhin Vorsitzender des SNK – im April 1929 beugen. Der Niederlage folgte der Ausschluss aus dem Politbüro, den dasselbe Novemberplenum ein halbes Jahr später verfügte, das die fatale Entscheidung zur Zwangskollektivierung traf. Im Unterschied zu den ,Trotzkisten‘ krochen die ,Bucharinisten‘ aber zu Kreuze und durften in weniger einflussreichen Ämtern in der Partei bleiben (bis der „große Terror“ sie verschlang). Andere erhielten weder Gelegenheit zur Reue, noch wollten sie Buße tun. Es war gewiss bezeichnend, dass parallel zur Kampagne gegen die ,rechte‘ Opposition gegen die erste Schauprozesse gegen Missliebige höchst verschiedener Profession und Stellung inszeniert wurden. Mit der Diktatur Stalins verschärfte sich die Disziplinierung der Gesellschaft bis hin zu Deportationen. Die Serie begann mit dem sog. Šachty-Prozess gegen ,bürgerliche Spezialisten‘ der Bergwerke im Donecbecken (Sommer 1928) und setzte sich in verschiedenen Verfahren gegen moderate Ökonomen aus dem Gosplan sowie gegen ukrainische Intellektuelle 1930–31 fort. Gemeinsam war den – durchweg konstruierten – Vorwürfen nur eines : die Absicht, über den Kampf auf höchster Ebene hinaus jede Kritik im Lande zu ersticken. Auch deshalb erscheinen sie im Rückblick als Vorspiel zu den ,großen‘ Schauprozessen fünf Jahre später.
Unterstützung durch die Jugend
Erste Schauprozesse
3.4 Herrschaft, Terror und wirtschaftliche Entwicklung Als die erste Planperiode (1929–32) zu Ende ging, das Dorf kollektiviert und der Hunger in den Getreideanbaugebieten politisch folgenlos geblieben war, konnte Stalin aufatmen. Er hatte die große Umwälzung nicht nur überstanden, sondern war durch sie gestärkt worden. Der Kurswechsel verband sich mit seinen Namen, ihm fielen die Früchte des (vorläufigen) Triumphes zu. Gelegenheit, sie zu ernten, bot Ende Januar 1934 der nächste (17.) Parteitag, der als „Parteitag der Sieger“ in die Annalen einging. Weil das Schlimmste überstanden schien, kam in Stalins Umgebung allem Anschein nach Versöhnungsstimmung auf. Die Risse, die Partei und Gesellschaft durchzogen, sollten gekittet werden. Abermals war eine Atempause angesagt, diesmal aber nicht als Kompromiss zur Herrschaftssicherung, sondern zur Konsolidierung der Resultate eines gewaltsamen Umbruchs.
1934 : „Parteitag der Sieger“
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Neue Verfassung 1936
Gleichschaltung der Partei
I. Darstellung
Stalin teilte diese Stimmung zumindest insofern, als auch er die Zeit für gekommen hielt, das Land auf veränderter Grundlage wieder zu ordnen. Sicher konnte ihm nicht daran gelegen sein, die Dynamik ganz und gar zu bremsen. Aber sie sollte kanalisiert und neu eingefasst werden. Nach außen hin dienten vor allem zwei Maßnahmen diesem Ziel. Zum einen trieb Stalin die Ausarbeitung einer neuen Verfassung voran. Laut offizieller Sprachregelung hatten Zwangskollektivierung und Planwirtschaft der ,Bourgeoisie‘ endgültig den Garaus gemacht. Wo es aber keine Ausbeuter mehr gab, brauchte man ihnen – wie in den Verfassungen von 1918 und 1924 – das Wahlrecht nicht zu entziehen oder auf andere Weise deutlich zu machen, dass sie nur noch als Residualkategorie geduldet wurden. Nach der totalen Sozialisierung aller Produktionsmittel kannte das vorgeblich sozialistische Regime nur noch gleichberechtigte Bürger. Die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Zugleich erklärte man die Notwendigkeit einer Diktatur des Proletariats für überflüssig. Stattdessen sollte uneingeschränkte Demokratie praktiziert und zugleich die föderale Struktur der Union in Gestalt einer nun eigenständigen Nationalitätenkammer im Obersten Sowjet (als Nachfolger des Allunions-Sowjets auf gesamtstaatlicher Ebene) gestärkt werden. Mit diesen Veränderungen wurde die neue, die Stalin’sche Verfassung Ende November 1936 verabschiedet. Den Buchstaben zufolge erfüllte sie in der Tat alle Wünsche nach Demokratie, Menschenrechten und sozialer Sicherheit. Sie hatte nur den einen Nachteil – nie auch nur ansatzweise Wirklichkeit geworden zu sein. Zum anderen hielt auch Stalin eine neue Geschlossenheit der Partei für nötig. Nur verstand er sie auf seine eigene Weise: als Sammlung Getreuer und Ausschluss derer, die ihm nicht so laut zujubelten. Dem diente zunächst eine „Säuberung“ im eigentlichen Sinne der Überprüfung der registrierten Kommunisten auf die Kriterien der Mitgliedschaft einschließlich der erwünschten sozialen Herkunft (1935/36). Freilich war der Übergang zwischen dieser ,friedlichen‘ Durchleuchtung und gewaltsamem Nachdruck von Anfang an fließend. Auch deshalb sank die Zahl der Bolschewiki deutlich. Doch nicht genug damit. Am 1. Dezember 1934 wurde der Leningrader Parteichef Sergej M. Kirov erschossen. Die Umstände sind bis heute ungeklärt. Chruščev behauptete in seiner berühmten Geheimrede von 1956, Stalin habe die Fäden gezogen. Es sei in seinem Interesse gewesen, jemanden ermorden zu lassen, dem der Parteitag zu Jahresbeginn Beifall gespendet und bei der Wahl mehr Stimmen gegeben habe als dem amtierenden Generalsekretär. In der Tat sprechen manche Indizien für diese Version. Aber nicht nur fehlt es nach wie vor an Beweisen. Darüber hinaus sind in jüngerer Zeit so viele Gegenargumente vorgebracht worden, dass Stalins Urheberschaft als widerlegt gelten darf. Nichts deutet auf einen Richtungsstreit hinter den Kulissen hin, in dem Kirov als moderater Gegenkandidat agiert hätte, und einige mysteriöse Zwischenfälle, die sich im Zuge der Untersuchung ereigneten, lassen sich auch ohne Rückgriff auf eine geplante Intrige plausibel erklären. Was bleibt und außer Zweifel steht, wiegt aber als Anklage gegen den Diktator schwer genug: dass er die Tat als Vorwand nutzte, um eine beispiellose Jagd auf alle zu eröffnen, die sich irgendwann gegen ihn gestellt hatten oder die er aus anderen Gründen für tatsächliche oder poten-
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tielle Gegner hielt. Bereits anderntags ließ Stalin – mithin längst vorbereitete – Notmaßnahmen verkünden, die den willkürlichen Zugriff auf sie und ihre unverzügliche Bestrafung einschließlich der Erschießung ermöglichten. Mit dem Mord an Kirov begann eine neue Terrorwelle – nicht mehr im Dienst einer Ideologie oder einer ihr entsprechenden sozioökonomischen Ordnung, sondern im Dienst seiner persönlichen Macht. Physische Gewalt und Gewaltandrohung als systematische Instrumente der Herrschaftssicherung nahmen in den folgenden Jahren vor allem zwei Formen an. Zum einen fanden weitere Schauprozesse gegen prominente Kritiker von einst statt. Was Stalin dazu bewog, kann man nur erahnen. Vermutlich wollte er – trotz seines Triumphes – jede Möglichkeit neuer ,Konkurrenz‘ beseitigen und dabei auch die gleichsam leibhaftige Erinnerung daran tilgen, dass er in der bolschewistischen ,Kampfzeit‘ keine herausragende Rolle gespielt hatte. Zugleich zeigte er mit diesen Inszenierungen, wie er mit denjenigen umzugehen gedachte, die ihm – ob beabsichtigt oder nicht – in die Quere kamen. Diese Demonstration richtete sich an die nationale und internationale Öffentlichkeit zugleich und vermag am ehesten zu erklären, warum man an der Fiktion der Rechtmäßigkeit in Gestalt von Geständnissen und eines förmlichen Verfahrens festhielt, obwohl jeder Klarsehende wusste, dass die Selbstbeschuldigungen erpresst, die Prozesse eine Farce waren und die Strafen – für die Hauptangeklagten der Tod – schon vorher feststanden. In dieser Form wurden im August 1936 als Erste Zinov’ev und Kamenev zusammen mit vierzehn weiteren bekannten Bolschewiki der Verschwörung bezichtigt und hingerichtet. Im Januar 1937 folgte der Prozess gegen Georgij L. Pjatakov, Karl Radek und andere, die ebenfalls überwiegend mit dem Tode bestraft oder deportiert wurden. Im März 1938 schließlich entledigte sich Stalin im größten Schauverfahren seines – von Trotzki abgesehen – wohl gefährlichsten Widersachers Bucharin und weiterer ehemals hochrangiger Parteigenossen (darunter Rykov). Parallel dazu ,verschwanden‘ in diesen Jahren viele Mitstreiter Stalins, die sich seiner gewalttätigen und intriganten Herrschaft nicht länger unterwerfen wollten oder ihm nicht willfährig genug erschienen. Zwei, darunter Stalins langjähriger Gefolgs- und Landmann Sergo Ordžonikidze, begingen Selbstmord; andere gerieten in den Reißwolf des Terrors, der in diesen Jahren besonders heftig wütete und auch – oder gerade – die Parteielite nicht verschonte. So standen auf dem 18. Parteitag im März 1939 gerade noch sieben von fünfzehn 1934 gewählten Mitgliedern des Politbüros zur Wiederwahl an. Im ganzen Land war kaum jemand übrig, der es gewagt hätte, Stalin nicht laut zu akklamieren. Daneben entfaltete sich eine zweite Form willkürlicher Gewalt, die dem Stalinismus in besonderem Maße das Verdikt eingetragen hat, neben dem Nationalsozialismus die andere moderne totalitäre Diktatur des 20. Jahrhunderts gewesen zu sein : der Massenterror. Er verband sich unauflöslich mit dem Wirken des Volkskommissariats des Innern (NKVD), das seit 1934 die Zuständigkeiten für die normale Polizei, Truppen der inneren Sicherheit und den Geheimdienst – aus dem Erbe der Tscheka/GPU/OGPU – in sich bündelte. Vor dem Hintergrund des Fehlens einer unabhängigen Justiz, des Herrschaftsmonopols der Partei auch im Staat und der Ausnahmegesetze vom Dezember 1934 wurde die-
Schauprozesse
Massenterror des NKVD
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Arbeitslager
GULag
Opferzahlen
I. Darstellung
ses ,Überministerium‘ zum Instrument und Exekutivorgan der Intrigen Stalins und seiner engsten Führungsclique. Freilich bedurfte es dazu auch (mindestens) noch willfähriger oberster Schreibtischmörder. Stalin fand sie in Genrich G. Jagoda sowie dessen Nachfolgern Nikolaj I. Ežov und Lavrentij P. Berija. Vor allem Ežov, der Zwerg mit den (auf einem bekannten Plakat abgebildeten) „eisernen Handschuhen“ und NKVD-Chef während des „Großen Terrors“ (962 : R. C) 1937/38, verkörperte jenen Handlanger, der die Schmutzarbeit ergeben verrichtete und ihr danach selbst zum Opfer fiel (1939 erschossen). Ein zentraler Ort dieses Massenterrors und eine seiner ersten Schöpfungen waren Arbeitslager, die früh entsprechende Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie machten die Gewalt, die zum Stalinismus gehörte wie das Feuer zur Hölle, nicht nur anschaulich und konkret. Darüber hinaus bot es sich nachgerade an, die Ungeheuerlichkeit ihrer festen Institutionalisierung in Analogie zu den nationalsozialistischen Konzentrationslagern als ein Merkmal für die totalitäre Qualität des Herrschaftssystemszu werten. Denn zweifellos war der Umstand, dass die Lager spätestens seit der Schaffung einer „Hauptverwaltung“ (GULag) innerhalb der OGPU 1930 gleichsam den Status einer regulären Behörde erhielten, bezeichnend – wurden sie damit doch zur selben Normalität erklärt wie Gefängnisse. Die zeitliche Koinzidenz mit der Zwangskollektivierung und dem Beginn der Brachialindustrialisierung folgte dabei einem inneren Zusammenhang. Angebliche Kulaken und „Halbkulaken“ bildeten die erste große Gruppe, die pauschal und massenhaft deportiert wurde. Was im Bürgerkrieg mit der Inhaftierung von Regimegegnern begonnen und die zwanziger Jahren weitgehend unverändert überdauert hatte, weitete sich nun zu jenem „Archipel“ aus, dessen „künstlerische Bewältigung“ Alexander Solschenizyn vierzig Jahre später die Zwangsemigration eintrug. Über die Frage, wie viele Menschen diese „Höllenmaschinerie“ (Bucharin) insgesamt verschlang, ist seit einem halben Jahrhundert heftig diskutiert worden. Die Schätzungen gingen in einem Maße auseinander, das dem Eingeständnis des Nichtwissens gleichkam. Zum Teil ergab sich diese enorme Spannweite aus einem unscharfen Opferbegriff, der bei den Einen jede Festnahme, bei den Anderen nur tatsächlich „vorzeitig Verstorbene“ meinte. Zum Teil kommt darin aber auch die Tatsache zum Ausdruck, dass alle Angaben bis zum Untergang der Sowjetunion auf Hochrechnungen beruhten. Erst seit 1990 wurden Daten aus den Archiven des NKVD und höchster Partei- und Staatsinstanzen zutage gefördert. Leider lassen auch diese Zahlen noch Interpretationsspielraum, da sie sich auf unterschiedliche Zeiträume beziehen, nicht immer klar ist, welche Strafkategorien und Personengruppen sie einschließen, und viele staatliche Repressalien wurden auch gar nicht erfasst. Dennoch scheinen die Größenordnungen inzwischen so weit außer Frage zu stehen, dass sich Vertreter sehr unterschiedlicher Gesamtdeutungen in ihrem Rahmen bewegen. Demnach lassen sich statt 7-8 Mio. Insassen aller Arbeitslager Ende 1938 ,nur‘ 1,3-1,9 Mio. nachweisen, die sich mit Gefängnisinsassen und den Verbannten des „Kulakenexils“ auf höchstens 4 Mio. vor dem Kriege addieren [178: G, Road, 589; 1016 : K, History, 307, 328]. Statt 7 Mio. Verhaftungen während des „großen Terrors“ der Jahre 1937/38 [962: C, Great Terror 1990, 486] nennt eine interne,
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1954 für Chruščev angefertigte Statistik des Innenressorts ,nur‘ 1,5 Mio., die nach Maßgabe vermutlich nicht erfasster anderweitiger „Neuzugänge“ in den GULag auf ca. 2,5 Mio. zu erhöhen ist [183: I S GUL I, 71; 178: G, Road, 590]. Statt einer oder mehrerer Millionen in dieser Zeit Hingerichteter sind ,nur‘ ca. 680 000 belegbar; zwar wird man gerade bei den Exekutionen noch viele unregistrierte Opfer hinzurechnen müssen, dennoch dürfte die wahre Zahl, sollte sie sich je ermitteln lassen, nicht sehr weit davon entfernt liegen. Dies ist umso eher der Fall, als der allergrößte Teil der Opfer auf den schlimmsten aller Befehle, die Order 00447 vom 30. Juli 1937, zurückging. Aufwendige Recherchen über seine Umsetzung in der Provinz haben ergeben, dass er bis zum November 1938 zu 356 105, nach anderen Angaben sogar zu 387 000 Todesurteilen führte [952: B, B, J, Massenmord, 662, 682; 1015 : K, Master, 184; 178: G, Road, 588]. Auch wenn solche neuen Zahlen deutlich unter früheren Schätzungen bleiben, ändern sie nichts an der Schrecklichkeit des Geschehens und der Gewaltsamkeit eines Regimes, das sie nicht nur ermöglichte, sondern ohne sie nicht auskam. Wenig illustriert den konstitutiven Charakter des Terrors für den Stalinismus so überzeugend wie die Relation zwischen der Zahl der Haftstrafen und der der Gesamtbevölkerung: Erstere belief sich zwischen 1930 und 1941 (wiederholte Verurteilungen eingeschlossen) auf etwa 20 Mio., die Gesamtzahl aller Familien in der Sowjetunion laut Zensus von 1939 auf 37,5 Mio. zuzüglich 4 Mio. allein lebender Erwachsener. Mithin war beinahe jede zweite Familie in der ein oder anderen Weise, wenn auch überwiegend ,nur‘ in Gestalt kurzzeitiger Inhaftierung, von staatlicher Repression betroffen. [1016: K, History, 328f.]. Diese Dimension wird ebenfalls sichtbar, wenn man die Zahlen für den Gesamtzeitraum der Stalin’schen Herrschaft addiert. Dann ergibt sich, dass 1930–1952 etwa 18-20 Mio. Menschen – bei einer Gesamtbevölkerung von 167 Mio. 1939 – zu kürzerer oder längerer Lagerhaft verurteilt wurden. Und auch der Hinweis darauf, dass die Übergänge zwischen Unfreiheit und Freiheit fließend waren, gehört zu den notwendigen Ergänzungen der genannten Zahlen. Nicht nur ,Halbfreie‘ wie die ca. 6 Mio.„Sondersiedler“ (meist Kulaken), auf Bewährung in die Umgebung der Lager entlassene Häftlinge, ehemalige Insassen und viele der 30 Mio. Personen, die im genannten Zeitraum zu Strafen unterhalb der Schwelle von Gefangenschaft verurteilt wurden, zählten zu den Opfern einer Diktatur, die auf Zwang und Unterwerfung gegründet war [Daten nach 1017: K, Gulag and Non-Gulag, 480, 482] Klareres Licht werfen die neu zugänglichen Quellen auch auf die Frage nach den primären Zielgruppen des Terrors. Der Befehl 00447 listet sie recht detailliert auf. An erster Stelle standen „ehemalige Kulaken“. In der Tat scheint die Befürchtung groß gewesen zu sein, dass die im Zuge der Kollektivierung Zwangsdeportierten nach Ablauf ihrer meist fünfjährigen Verbannung zurückkehren könnten. Weiter folgten „Mitglieder antisowjetischer Parteien“ wie ehemalige Sozialrevolutionäre, Weißgardisten, auch Angehörige nichtbolschewistischer nationaler Organisationen an der südlichen Peripherie des Reiches, „Anhänger von Sekten“, „Kirchenmitglieder“ sowie „Kriminelle (Banditen, Schmuggler)“. Natürlich konnten diese groben ideologischen Etiketten jedem aufgedrückt wer-
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Terror als social engineering
Terror gegen nichtrussische Nationalitäten
I. Darstellung
den, an dem ein Potentat des Regimes Anstoß nahm. Die Recherchen über die Umsetzung des Befehls vor Ort – die ersten ihrer Art – haben jedoch ergeben, dass die genannten Gruppen tatsächlich ein größeres Risiko trugen, erschossen oder (erneut) deportiert zu werden. Zugleich fördern sie aber auch Unterschiede im Grad der Betroffenheit zutage. Wie allein der Blick auf die quantitativen Proportionen nahelegt, rückte in der Praxis die Kategorie der „Kriminellen“, pauschal zu Randgruppen allgemein erweitert, in den Vordergrund. Es war die große Zahl von Bettlern, Obdach- und Beschäftigunglosen, Nichtsesshaften, Gelegenheitsdieben und Prostituierten, die zunehmend ins Visier der staatlichen Häscher gerieten. Regional machten solche Personen ein ganzes Drittel der Verhafteten aus. Dieser Befund verändert auch die Deutung und konzeptionelle Kennzeichnung des Geschehens. Die Neigung hat erkennbar zugenommen, solchen Terror nicht allein und eventuell auch nicht primär als Abrechnung mit ideologischen Feinden zu betrachten, sondern als gewalttätige Variante von Sozialpolitik. Ausgemerzt und aus dem Gesichtskreis verbannt wurde, was ganz und gar nicht zum Glanzbild einer sozialistischen Gesellschaft passte, zumal man ihr in der neuen Verfassung (von 1936) attestierte, der Vollendung eine Stufe näher gekommen zu sein. Terror löste sich vom förmlich beendeten „Klassenkampf “ und wurde zum Instrument der Herstellung von Ordnung und Anständigkeit nach Maßgabe eines diktatorischen Regimes, dem man schon früh eine Rückkehr zu konservativen Werten attestiert hat. So interpretiert, entfernt er sich in seinen kennzeichnenden Merkmalen auch weiter von den vorangehenden und parallelen Schauprozessen. Beide sind nicht nur mit Blick auf die Zielgruppen deutlicher voneinander zu trennen als oft gemeint. Schon deshalb erscheint es fraglich, ob es angemessen ist, sie als sukzessive Phasen der Umsetzung eines fertigen „Meisterplans“ zu betrachten. Parallel zum Terror gegen die genannten Gruppen wurden ähnliche Aktionen gegen nichtrussische Nationalitäten auf den Weg gebracht. Mehrere Geheimbefehle ordneten die Deportation von Deutschen, Polen, Rumänen, Letten, Finnen und anderen Minderheiten an. Mit besonderem Aufwand betrieb man die Verschleppung von Koreanern aus dem Fernen Osten, die in Kazachstan und Uzbekestan angesiedelt wurden. Auch diese Aktionen trafen eine große Zahl von Menschen – allein die der Polen hat man auf 656 000 (1937) geschätzt und die der Koreaner auf über 170 000[183: I S GUL I, 74]. Allem Anschein nach gingen sie aber nicht mit förmlichen Erschießungskontingenten einher. Dagegen mordete die Geheimpolizei in der Partei, vor allem den oberen Rängen, der nichtrussischen Republiken besonders hemmungslos. In der Ukraine summierten sich die Verhaftungen in der zweiten Jahreshälfte 1937 auf ca. 150 000; das gesamte Politbüro wurde liquidiert. In Weißrussland verschwanden nicht nur der Premierminister und Volkskommissare, sondern auch zentrale und lokale Parteisekretäre samt einem erheblichen Teil der Intelligenz. Noch schlimmer erging es offenbar den kaukasischen Republiken, allen voran Georgien. Berija selber, der seine Heimatorganisation gut kannte, räumte hier so gründlich auf, dass von 644 Delegierten, die im Mai 1937 zu einem regionalen Parteitag zusammengekommen waren, im Folgejahr 425 verschwanden. Gewiss
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gab es jeweils spezifische Gründe für Art und Ausmaß der Betroffenheit der einzelnen Regionen. Unabhängig davon liegt es aber nahe, einen Zusammenhang zwischen dem großrussischen Nationalismus, der seit Stalins endgültigem Sieg die erstarrenden Formeln der sozialistischen Ideologie zu stützen begann, und diesem besonderen Furor des ethnischen Terrors anzunehmen. Gesondert genannt sei schließlich die Vernichtung der Armeeführung. Zwar gehört sie in den Kontext der Säuberungen der Partei, der von ihr kontrollierten Wirtschaftselite und der höheren Nomenklatura generell. Zugleich spiegelt sie aber in gewisser Weise das Eigenleben, das die Armee bei aller ideologischen Konformität und Einbindung in die sozialistische Ordnung führte. Vermutlich wurde ihr eben dies zum Verhängnis. Die Führung keiner anderen größeren Institution ist so radikal dezimiert worden. So ,verschwanden‘ – vor allem im Frühjahr und Sommer 1937 – drei von fünf Marschällen, 13 von 15 Armeekommandeuren, 57 von 85 Korpskommandeuren, 110 von 195 Divisionskommandeuren, 220 von 406 Brigadekommandeuren, alle elf Stellvertreter des Verteidigungskommissars sowie bis auf eine Ausnahme alle Oberkommandierenden der Militärbezirke und die Kommandeure der Luftwaffe und Marine. Selbst wenn diese Angaben des japanischen Geheimdienstes übertreiben, steht außer Frage, dass der „Große Terror“ die eigene Armee in Gestalt ihrer fähigsten Strategen und des größten Teils ihrer Offiziere, mithin jener sowjetischen Militärfachleute, an denen es zwei Jahrzehnte zuvor so sehr gemangelt und die sie mühsam herangezogen hatte, förmlich enthauptete. Wie dies alles zu erklären sei, ist eine der Kernfragen, die seit den ersten Beschreibungen dieser Geschehnisse diskutiert worden sind. Sie verbindet sich unauflöslich mit dem Problem der Urheberschaft und Kontrolle, das seinerseits nicht ohne Bezug auf ihren Charakter zu beantworten ist. Nach langer Kontroverse [s. u. II.5.2] dürfte inzwischen endgültig außer Frage stehen, dass der Terror von Stalin und dem ihm ergebenen Politbüro gezielt geplant, durch Befehle ausgelöst und bis zu seinem Ende (als Massenterror) so weit kontrolliert wurde, dass die Oberaufsicht außer Frage stand und eine jederzeitige Intervention möglich blieb. Dies galt für die Verfolgung ehemaliger Rivalen und sonstiger Altbolschewiki ohnehin; die Schauprozesse waren, schon von ihrer Zweckbestimmung her, bis in letzte Einzelheiten inszeniert. Desgleichen sprach stets alles dafür, dass die Moskauer Führung die Liquidierung der Armeeführung und die Beseitigung sonstiger Eliten in der Staats- und Wirtschaftsbürokratie keinem Selbstlauf überließ. Nun haben vor allem die archivalischen Recherchen zum Befehl 00447 klar zutage gefördert, dass auch der Massenterror, der Hunderttausende einfacher Leute traf, stets der Absegnung durch höchste Parteigremien bedurfte. Um dies sicher zu stellen, wählte man ein ebenso einfaches wie ungeheuerliches Verfahren. Auf Anweisung Stalins persönlich stellte das NKVD (Anfang Juli 1937) Listen zusammen, die pro Republik und Region, in zwei Kategorien und nach groben Zielgruppen (ehemalige Kulaken, Kriminelle, andere „konterrevolutionäre“ Elemente) sortiert, vorgab, wieviele Personen jeweils zu erschießen oder zu deportieren war. Der Generalsekretär gab sie nicht nur in Auftrag, sondern nahm das Endprodukt auch entgegen und legte es dem Politbüro vor, das es ergeben verabschiedete. Ganz ähnlich fand der Massenterror
Vernichtung der Armeeführung
Stalin als Urheber des Terrors
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Lokale Beteiligung
Ursachen des Terrors
I. Darstellung
(nicht der Terror selber) auch sein Ende. Als Stalin zu der Einsicht kam, dass er dysfunkional wurde, weil er allzu viel Qualifikation zerstörte, Zuständigkeiten durcheinander brachte, Angst und Initiativlosigkeit erzeugte, weil er mithin die Funktionsfähigkeit des Staates und vor allem der Wirtschaft bedrohte – so die meistgenannten, letztlich aber nur zu vermutenden Motive –, begann er Fehler und Überspitzungen zu kritisieren. Diese Kehrtwende ging nicht zufällig mit Kritik an seinem obersten und wohl auch schlimmsten Henker Ežov einher. Möglicherweise schon seit Januar 1938 vorbereitet, vollzog Stalin sie im Herbst dieses Jahres. Ein ukaz vom 17. November verurteilte „schwerste Mängel“ in der Arbeit des NKVD, wenig später wurde Ežov entlassen (dann bald inhaftiert und 1940 hingerichtet). Stalins Rolle als Urheber und zu keiner Zeit in seiner unumschränkten Autorität geschmälerter Kontrolleur steht außer Frage. Gegenteilige Argumente vermögen angesichts der neuen dokumentarischen Evidenz nicht mehr zu überzeugen. Stalin war kein ,schwacher Diktator‘. Dennoch findet auch die These dezentraler Wurzeln des Terrors und einer erheblichen „Eigendynamik“ Unterstützung. Als Beleg dürfen sozusagen der zweite Teil der Genese und die Umsetzung des Befehls 00447 gelten. Denn schon an der Erstellung der ursprünglichen Liste waren die lokalen NKVD- und Parteiführer beteiligt. Das lag in der Natur der Sache, da die zentralen Instanzen gar nicht wussten, wieviele „ehemalige Kulaken“, um die es zunächst ,nur‘ ging, sich wo befanden. Die Rückmeldungen aus der Provinz bildeten nachgerade eine Voraussetzung für die Listen. Die lokalen Sekretäre waren es auch, die zur Erweiterung der Zielgruppe durch „konterrevolutionäre“ Elemente drängten. Solches Engagement hielt während der gesamten Dauer der Operation an. Es schlug sich im regen Gebrauch der Möglichkeit nieder, die Opferkontingente zu erhöhen. Wohlgemerkt : diese zusätzlichen Listen mussten von den Zentralgremien, dem Politibüro oder dem NKVD, bestätigt werden; aber die Initiative ging von den Regionen aus und sie war meist erfolgreich. In der Praxis kam es zu einem regelrechten „Wettbewerb“ um die Erhöhung der Kontingente – jeder sowjetische Provinzfürst und manch subalterner Intrigant konnte letztlich jeden ans Messer liefern, den er aus dem Weg schaffen wollte. Terror wurde zum tödlichen Instrument in lokalen Machtintrigen. Wer aber denunziert und aus heiterem Himmel verhaftet wurde – das entzog sich zentraler Nachprüfung. Insofern gewann der Terror zweifellos ein Eigenleben, das sich von der ursprünglichen Absicht löste und die Gefahr heraufbeschwor, die Parteiherrschaft und Stabilität des Staates selber zu unterminieren. Auch in der Frage möglicher Ursachen für die Gewaltexzesse vor allem der Jahre 1937–38 zeichnet sich ein weitgehender Konsens ab. Dabei liegt auf der Hand, dass mehrere Motive zusammenkamen. Ganz oben auf der Liste wahrscheinlicher Beweggründe stehen Angst und Verunsicherung. So erstaunlich das klingt, fürchteten Stalin und seine Clique offenbar vieles: die Rückkehr der Kulaken – weshalb die verbreitete Bezeichnung „Kulakenbefehl“ für die Order 00447 durchaus zutrifft –, aber auch die Rache ehemaliger Parteimitglieder, die in den Vorjahren ausgeschlossen worden waren. Berichte lokaler Parteiführer, die Stalin im Juli 1937 vorlagen, machten nicht nur auf das Kulakenproblem aufmerksam, sondern warnten auch vor vielen Tausend ,gesäuberter‘ Ex-Genossen. Auch dies
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mag ein Grund dafür gewesen sein, dass die Zielgruppe des schlimmsten aller Befehle schnell erweitert wurde – letztlich auf alle, vor denen man sich fürchtete. Jeder, der dazu Anlass gab, wurde zum „Konterrevolutionär“ und die Furcht allgegenwärtig. Vjačeslav M. Molotov, einer der engsten Weggefährten Stalins über Jahrzehnte, nannte das Dekaden später in einem rückblickenden Interview die „5. Kolonne“, die man rechtzeitig ausgemerzt habe. Den ,inneren Feind‘ sah man überall, unter den prominenten Alt-Bolschewiki, der Managerelite, den nichtrussischen Nationalitäten und nicht zuletzt: in den eigenen Reihen. 1937 bestand besonderer Grund zur Wachsamkeit, da sich die internationale Lage zuspitzte. Das nationalsozialistische Deutschland hatte gerade das Rheinland besetzt und rüstete weiter auf. In Spanien bekämpfte Franco mit offener Unterstützung durch Deutschland und Italien die Volksfrontregierung. Die ,kapitalistischen‘ Westmächte taten nichts – für Stalin, der großen Anteil an den spanischen Vorgängen nahm, ein klarer Beleg dafür, dass sie den Faschismus nicht im Zaume halten würden und der einzige sozialistische Staat der Erde, die Sowjetunion, auf der Hut sein müsse. Gegenüber dieser Terrordeutung haben andere Hypothesen deutlich an Überzeugungskraft verloren. Andererseits schließen sie einander nicht aus. So mag es durchaus sein, dass auch die Angst vor der versprochenen, im üblichen Kampagnenstil propagierten freien Abstimmung über die neue Verfassung (1936) im Spiel war. Denn in der Tat war es denkbar, dass sich hier der ansonsten ohnmächtige Protest vieler, vom Regime Gemaßregelter in der ein oder anderen Form geäußert hätte. Und auch biographische Erklärungen ergänzen die ,FurchtHypothese‘ eher, als dass sie ihr widersprächen – attestieren sie Stalin doch nicht nur einen ausgeprägten Hang zur Intrige (aber auch die Fähigkeit dazu), sondern eine gleich starke, von wachsendem Argwohn genährte Neigung zu Brutalität und geradezu sadistischer Grausamkeit [s. u. II.5.2]. Mit Bezug auf den GULag ist eine eigene Ursachendiskussion geführt worden. Sie kreiste um die Frage, ob er nicht an vorderer Stelle ökonomischen Zwecken diente und zu einem unverzichtbaren Bestandteil des sozialistischen Aufbauprogramms wurde. Entsprechende Thesen der Nachkriegszeit [963: D, N ; so aber auch noch die beste Studie über das Leben im GULag insgesamt von 170: A, Gulag, 153ff; s. ferner 1089: B, Gulag] sind inzwischen stark modifiziert, wenn auch nicht völlig zurückgewiesen worden. Die Nutzung von Zwangsarbeit bleibt „eines der wichtigsten Kenn˙ zeichen“ der Stalin’schen Industrialisierung [985: GULAG. Ekonomika, 88]. Entsprechend wurde sie dort eingesetzt, wo sie sich am ehesten lohnte. Dies war im wesentlichen in den Sektoren der Fall, wo Rohstoffe mit einfachsten technischen Mitteln durch physische Kraft erschlossen oder auf diese Weise beim Bahn- und Straßenbau Grundlagen der Infrastruktur geschaffen wurden sowie generell dort, wo ein extrem unwirtliches Klima die Anwerbung von Lohnarbeitern faktisch ausschloss. So waren die meisten Insassen der Lager und Kolonien gegen Ende der 1930er Jahre auf Baustellen beschäftigt (3,5 Mio.), ca. 1 Mio. arbeitete im Bergbau einschließlich der Goldgewinnung, 0,4 Mio. fällten und zersägten Bäume, weitere 0,2 Mio. wurden in der Landwirtschaft eingesetzt. Schon diese ungefähre Verteilung erzwungener Arbeit verweist auch auf die
GULag und Industrialisierung
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engen Grenzen ihres Nutzens. In fortgeschrittenen Industriebranchen fand sie kaum Verwendung. Teure Maschinen konnte man Deportierten nicht anvertrauen. Dem größten Teil der Häftlinge dürfte auch die nötige Qualifikation gefehlt haben. Allem Anschein nach war die Zwangsarbeit in der Gesamtbilanz von Anfang an wenig effektiv. Zudem sank ihr Ertrag in dem Maße, wie die Anforderungen an die Qualifikation im Zuge fortschreitender Technisierung und Komplexität der Produktionsprozesse stieg. Schon vor Stalins Tod war der GULag ökonomisch ein Zuschussbetrieb. Keiner wusste das besser als sein oberster Aufseher, Berija. Deshalb war es auch nur folgerichtig, dass ausgerechnet er, ein gefürchteter, liberaler Anschauungen wahrlich unverdächtiger Fürst der Finsternis, schon im ersten Monat der neuen Ära (Ende März 1953) eine (Teil-)Amnestie erließ, die den Anfang vom Ende des GULag markierte. 3.5 Sozialistischer Aufbau
Zweiter Fünfjahresplan
Dritter Fünfjahresplan
Nach dem gewaltsamen Aufbruch in ein neues ökonomisches Zeitalter ergab sich die Aufgabe der nächsten Jahre von selbst: das Erreichte zu sichern und fortzusetzen. Die sozialistische Industrialisierung sollte weitergehen, übermäßige Beanspruchung der materiellen und menschlichen Ressourcen aber vermieden werden. Dem lag die Einsicht zugrunde, dass das Land und seine Bevölkerung Zeit zum Luftholen brauchten. Der zweite Fünfjahresplan (1933–37) gewährte ihnen diese Pause. In seiner Mitte lag eine Periode, der auch prinzipielle Gegner des eingeschlagenen Weges „eindrucksvolle“ [1087: Z, Stalinist Planning, 142] Resultate attestierten. In diesen ,guten Jahren‘ wuchs die Industrie weiterhin schnell, aber nicht mehr um den Preis des Raubbaus. Die Investitionen blieben hoch, wurden aber weniger einseitig verteilt als vorher. Die Arbeitsproduktivität, ein entscheidender Indikator, stieg spürbar. Auch die materielle Lage der Stadtbewohner entspannte sich leicht. Als Signal dafür wurde insbesondere die Aufhebung der Rationierung von Lebensmitteln zum Jahresanfang 1935 empfunden. Das Argument vermag zu überzeugen, dass sich die ungeheuren Anstrengungen der vorangegangenen Jahre in diesen Erfolgen auszahlten. Die gleichsam ,vorfinanzierten‘ Großprojekte wurden fertiggestellt. Die Hochöfen von Magnitogorsk nahmen den Betrieb auf und in Stalingrad liefen funktionsfähige Traktoren in erheblicher Zahl vom Band. Allerdings kam die positive Entwicklung schon im letzten Jahr des Planungszeitraums zum Erliegen. Im berüchtigten Jahr 1937 brach auch die Wirtschaft ein. Der Terror wütete nicht zuletzt unter Fabrikmanagern, Ingenieuren und Planungsspezialisten bis hinauf in die höchsten Etagen. Wo so viele Lücken gerissen wurden, geriet gerade ein so hierarchisch gesteuerter Kreislauf durcheinander. In der metallurgischen Industrie, einem Schlüsselsektor des Stalin’schen Aufbauprogramms, kam das Wachstum fast vollständig zum Erliegen. Auch die Umsetzung des dritten Fünfjahresplans (1938–42) ließ in dem Zeitraum, der bis zum deutschen Überfall vom 22. Juni 1941 blieb, keine nennenswerte Besserung erkennen. Die Gesamtproduktion stieg zwar durchaus erheblich, aber die Zunahme verteilte sich sehr ungleich. Der Große Terror zeitigte Nachwirkungen;
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allenthalben – dies war ein Kernproblem der gesamten par-force-Industrialisierung – fehlte es an Arbeitskräften, und allzu viele Ressourcen flossen schon zu dieser Zeit angesichts der dramatisch steigenden Kriegsgefahr in die militärische Aufrüstung. In die zweite Planperiode fielen auch Beginn und Höhepunkt der StachanovKampagne (Stachanovščina). Was der namengebende Bergmann Ende August 1935 zuwege brachte, als er seine „Norm“ um 1457 % übererfüllte, erhielt auf einer Plenartagung des ZK im Dezember das offizielle Plazet. Ein neuer „sozialistischer Wettbewerb“ wurde ausgerufen, der die Arbeiter anspornen sollte, mehr zu leisten und das Letzte aus sich und den Maschinen herauszuholen. Der Bezug auf den neuen Helden wurde zum Markenzeichen und ubiquitär: Von Stachanov-Zügen und -Schulen bis zum -Hurra und -Dank kündeten alle nur denkbaren Wortverbindungen zumindest vom aufopfernden Einsatz der Propagandisten und von zentraler Unterstützung. Darin kam ein bezeichnendes Merkmal der Planwirtschaft und der sozialistischen Gesellschaft insgesamt zum Ausdruck : Eine Vielzahl von „Schlachten“ an allen möglichen „Fronten“ sollte jenes Engagement erzeugen, das in der Marktwirtschaft letztlich von der Aussicht auf (in der Regel) materielle Vorteile hervorgebracht wird. Wo kein Geld vorhanden war, um mit höheren Löhnen zu locken, und solche Anreize auch dem Altruismus- und Egalitätsideal widersprachen, griff man auf ideologische Kampagnen zurück. Im Fall der Stachanovščina deutet überdies viel darauf hin, dass Stalin sie auch innenpolitisch nutzte. In turbulenter Zeit versuchte er sich eine Gefolgschaft zu schaffen, die allein ihm ergeben war und sich gegen die ,Bürokratie‘ sowohl der Wirtschaft als auch der Partei richten ließ. Freilich blieb der ökonomische Erfolg aus. Allem Anschein nach verursachte die Kampagne mehr Schaden als Nutzen. Zum einen brachte sie sowohl die Manager und Ingenieure als auch nichtbeteiligte Arbeiter gegen sich auf. Erstere wurden zur Zielscheibe der antihierarchischen ,plebiszitären‘ Kritik, warf ihnen die Stachanovščina doch durch ihre bloße Existenz vor, versagt zu haben. Letztere fürchteten angesichts der Demonstration, dass ein Vielfaches erfüllbar war, eine Erhöhung der Normen. Nicht zuletzt waren die Maschinen und Geräte dem Übereifer der Stachanovcy nicht gewachsen. Ohnehin arg strapaziert und kaum gepflegt, verschlissen sie noch schneller. So brachte die Kampagne womöglich kurzfristigen Ertrag – schon auf mittlere Sicht erwies sie sich aber als Raubbau an den Menschen und ihren technischen Hilfen. Ähnlich muss auch die Antwort auf die Frage nach dem Erfolg des „sozialistischen Aufbaus“ gespalten bleiben. Wenn man den selbstgewählten Maßstab zugrunde legt, die russische Rückständigkeit hinter sich zu lassen, „westliche“ Wachstumsraten der industriellen Pro-Kopf-Produktion zu erreichen und den Grundstein für die Konkurrenzfähigkeit (einschließlich der militärischen) mit dem kapitalistischen Systemgegner zu legen – dann wurde dieses Ziel „zumindest teilweise“ verwirklicht [497: D, H, W, Economic Transformation, 151]. Die Sowjetunion setzte fort, was in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts mit dem symbolträchtigen Bau der Transsibirischen Eisenbahnlinie begonnen worden war. Der Eintritt in das industrielle Zeitalter gelang.
Stachanov-Kampagne
Oberflächlicher Erfolg
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I. Darstellung
Zugleich liegt auf der Hand, dass der Preis hoch war. Zu zahlen hatten ihn die einfachen Leute, neben den Bauern auch die Arbeiter. Ökonomisch trat das Missverhältnis zwischen Aufwand und materiell spürbarem Ertrag vor allem in der Vernachlässigung der Konsumgüterproduktion in Erscheinung. Der erste Fünfjahresplan hatte vor allem der Schwerindustrie und dem Aufbau einer Infrastruktur gegolten. Der zweite und in geringerem Maß auch der dritte sahen deshalb, sozusagen als Kompensation, ein gleichgewichtiges Wachstum der Herstellung von Verbrauchsgütern vor. Gerade in dieser wichtigen Hinsicht aber blieben die Pläne ein leeres Versprechen. 3.6 Das kollektivierte Dorf
Wirtschaftliche Ziele
Kompromisse in der Kollektivierung
Wenn der Krieg gegen das Dorf einen weiteren Sinn hatte als den der politischen Unterwerfung, dann lag er in der Hoffnung, auf diese Weise endlich das alte russische Problem einer allzu geringen Ertragskraft der Landwirtschaft lösen zu können. Das marxistische Rezept ,rationaler‘ Großproduktion sollte helfen, die Begrenztheit der Ressourcen ärmlicher Familienbetriebe zu überwinden, und eine flächendeckende Technisierung sollte jene Leistungsfähigkeit herbeiführen, die nötig schien, um einen weiteren Industrialisierungsschub des gesamten Landes zu tragen. Dieser Effekt konnte sich nicht von heute auf morgen einstellen. Aber er sollte wenigstens mittelfristig sichtbar werden. Die ökonomische Bilanz der Kollektivierung am Ende des Jahrzehnts musste daher vor allem auf diese Frage antworten, dabei aber auch die sozialen Schäden bedenken, die vom wirtschaftlichen Resultat kaum zu trennen waren. Längst steht außer Zweifel, dass der wirtschaftliche Zweck des neuerlichen Bauernkriegs auch mittelfristig nicht erreicht wurde. Im Gegenteil, um die Leistungsfähigkeit der Landwirtschaft stand es am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ˙ Mehrere Faktoren haben dazu – in ungleicher schlechter als gegen Ende der NEP. Weise und keiner für sich allein – beigetragen. Die wichtigsten seien genannt. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die „vollständige“ Kollektivierung entgegen ihrer Bezeichnung nicht durchgesetzt werden konnte. Als Stalin den ersten Ansturm mit seinem Pravda-Artikel vom 2. März 1930 abblies, wurde zugleich ein vorläufiges Musterstatut für landwirtschaftliche Kooperative veröffentlicht. Schon dieser Entwurf war ein Kompromiss. Er gestand den Bauern das zu, wofür sie mit größerem Widerstand als bislang bekannt kämpften: Haus und Hof sowie eine kleine Privatwirtschaft. Die endgültige Unterwerfung und Stalins Gesamtsieg haben daran nichts mehr geändert. Trotz ungefährdeter Macht wagte es der Diktator nicht, die Konzession zurückzunehmen. Auch das Statut vom 17. Februar 1935, das bis zum Krieg und im Kern noch Jahrzehnte darüber hinaus unverändert blieb, bestätigte den Bauern das Recht, ein Stückchen Land – nunmehr auf 0,25-0,5 ha. fixiert – zu bearbeiten, Kleinvieh (Hühner, Ziegen, Schafe etc.) sowie die bald berühmte Privatkuh zu halten und die Produkte von Acker und Stall auf den umliegenden Märkten frei zu verkaufen. Verboten wurde ihnen dagegen der Besitz eines Pferdes, das als Zugkraft gewertet wurde und mithin als Möglichkeit, Landwirtschaft und vor allem deren Inbegriff in
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staatlicher Deutung – Getreideanbau – in größerem Maßstab zu betreiben. Dies sollte dem Kollektiv vorbehalten bleiben. Freilich zeigte sich bald, dass dieser Kompromiss einerseits unerwünschte, anderererseits notwendige Folgen für die Bestandsfähigkeit der gesamten neuen Ordnung auf dem Dorf hatte. Beides führte die ökonomische Uridee der Kollektivierung, soweit es sie je gab, ad absurdum. Unerwünscht musste die Tatsache sein, dass die Zwangsmitglieder der neuen Gemeinwirtschaft ihren eigenen Gärten und Ställen deutlich mehr Aufmerksamkeit widmeten als dem ,gesellschaftlichen‘ Besitz. Arbeiten auf den zumeist großen Äckern des Kolchos wurden unwillig und nachlässig geleistet, die privaten Landstücke dagegen überaus intensiv bestellt. Fachleute haben diese Tätigkeit nachgerade als Musterbeispiel für außerordentliche Produktivität trotz Verwendung höchst einfacher Geräte und Materialien (ohne Maschinen, ohne Kunstdünger) bei niedrigen agrotechnischen Kenntnissen bezeichnet. Umgekehrt blieb der Ertrag der Gemeinwirtschaften – besonders, wenn man ihn an den eingesetzten Ressourcen misst – deutlich hinter den Erwartungen zurück. Auch deshalb musste sich der Staat mit dem Kompromiss abfinden. Die Gesamterzeugung reichte nicht aus, um sowohl seine Bedürfnisse zu befriedigen als auch das Überleben der Bauern zu sichern. So nahm er mit dem vorlieb, was er ökonomisch am ehesten brauchte (und dessen Sicherstellung ein Motiv für die brutale Unterwerfung des Dorfe gewesen war): Zwangslieferungen der Kolchosen an den Staat. Im Gegenzug überließ er es den Produzenten, woher sie die Abgaben nahmen. Faktisch beutete er damit auch die „Nebenerwerbswirtschaft“ nicht nur aus, sondern war auf sie angewiesen, weil er andernfalls zumindest teilweise auf die neue Naturalsteuer hätte verzichten müssen. Im Resultat ergab sich ein Paradox : Der Staat konnte die Abhängigkeit von marktkonformen Schwankungen des Getreideangebots nur dadurch beseitigen, dass er ,Kleinkapitalismus‘ auf dem Dorfe duldete und Teile von dessen Ertrag in Anspruch nahm. Der „Kolchosmarkt“ ernährte das Land. Zu diesem Resultat trug ein Entlohnungssystem maßgeblich bei, das Leistung nicht gerade anspornte. Zum Teil ergaben sich die Probleme aus dem Rhythmus landwirtschaftlicher Produktion, zum Teil aus der Geringfügigkeit des Ertrags. Weil das Einkommen eines Kolchos erst bestimmt werden konnte, wenn die Ablieferung (im besten Fall zu einem symbolischen Preis) an den Staat geleistet, der nötige Selbstbehalt für die nächste Aussaat abgezogen und der Rest der Erzeugnisse verkauft worden war, wurden Arbeitsleistungen in Form von „Tagewerken“ (trudoden’) bis zu diesem Zeitpunkt als Anwartschaften gutgeschrieben. Erst bei der Endbilanz erhielten die Recheneinheiten einen Wert. Wenn der Kolchos wenig erwirtschaftete, blieb dieser niedrig. Da auch Verwaltungstätigkeit und sonstige Dienstleistungen (Kindergärten, Post u. a.) letztlich aus dem Ertrag zu finanzieren waren, ergab sich häufig ein solches Resultat. Für bloße ,Striche‘ aber wollte kaum jemand arbeiten. Angesichts dessen war es nachgerade rational, wenn ein voll einsatzfähiger kolchoznik im Jahresdurchschnitt der Vorkriegsdekade kaum mehr als hundert trudodni leistete, ein Fünftel sogar weniger als fünfzig. Umso intensiver widmete er sich seinem eigenen Land und Vieh; hier wusste er, wofür er arbeitete.
Entlohnungssystem
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50 Gesamtbilanz der Zwangskollektivierung
I. Darstellung
So blieb die Gesamtbilanz der Zwangskollektivierung negativ. Wohl konnten die unmittelbaren materiellen Schäden allmählich wieder wettgemacht werden. Um 1940 wurde – unter Berücksichtigung von Traktoren – das vorherige Niveau an agrarwirtschaftlicher Zugkraft wieder erreicht. Die Fleisch- und sonstige Tierproduktion erholte sich. Die Erzeugung von Getreide und anderen Nahrungs- und Industriepflanzen stieg sogar. Aber die Rekonvaleszenz verlief langsam, und vor allem hielt sie nicht mit dem Urbanisierungstempo Schritt. Viele Bauern betrachteten das ,sozialistische‘ Dorf als Neuauflage der Leibeigenschaft und verhielten sich wie ihre Urgroßväter : Für den Herrn taten sie wenig, für sich alles. Von den Folgen solcher ,Schizophrenie‘ der Arbeitsmoral vermochte sich die kollektivierte Landwirtschaft nicht zu befreien. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs ermöglichte sie zwar eine Produktion am Rande der Stagnation, von einer durchgreifenden Besserung konnte jedoch nicht die Rede sein. 3.7 Gesellschaft und Kultur
Anwachsen der Arbeiterschaft
Es gehört zum Begriff des Stalinismus, dass die Gesellschaft in all ihren Äußerungen, kulturelle eingeschlossen, den politisch gesetzten Zielen und seinen staatlichen Agenturen unterworfen war. Dem widersprechen sowohl erfahrungs- als auch sozialgeschichtlich gestützte Hinweise auf freiwilliges Engagement für den ,sozialistischen Aufbau‘ keineswegs. Natürlich hatte der Diktator nicht nur während der großen Umwälzung zahlreiche Helfer und Bewunderer, sei es aus Berechnung oder Überzeugung. Nur war das Ergebnis dasselbe: Disziplinierung und Ausbeutung der allermeisten sozialen Gruppen und Schichten bei relativer Privilegierung weniger und öffentlicher Entmündigung aller. Neben den Bauern hatten vor allem die Arbeiter als Masse der städtischen Unterschicht die Last der gewaltsamen Industrialisierung zu tragen. Dies hing aufs engste mit der enormen Mobilität und Urbanisierung zusammen, die das rasante Entwicklungstempo mit sich brachte. Das Reservoir blieb dabei dasselbe wie im 19. Jahrhundert und (mit welcher Zeitverschiebung auch immer) im Kern überall: das Dorf. Es waren zumeist ,überflüssige Hände‘ vom Land, die auf die unzähligen neuen Baustellen strömten, gleich ob in Einöden (wie Magnitogorsk) oder schon bestehende Siedlungen. Offiziellen Angaben zufolge stieg die Zahl der Lohnabhängigen aller Branchen (bei sehr breiter Definition) von 8,7 Mio. 1928 auf 23,7 Mio. 1940 und die der Industriearbeiter im engeren Sinn von 3,12 Mio. 1928 auf 8,29 Mio. 1940. Nach anderen Daten kamen in der zweiten Planperiode 1,4 Mio. Neulinge aus Fabrikschulen, 1 Mio. aus den Städten und 2,5 Mio. vom Land. Da auch Erstere überwiegend bäuerlicher Herkunft waren, hatten ca. 60 % der frisch rekrutierten Proletarier – darunter auch für schwere körperliche Arbeit ungewöhnlich viele Frauen – den Pflug gegen den Hammer eingetauscht. Die Folgen dieser Dynamik für das materielle Lebensniveau in den Städten liegen auf der Hand. Zwar verlangsamte sich der rapide Verfall, der im ersten Planjahrfünft zu verzeichnen war, aber er hielt an. Der Reallohn, dessen Verminderung man für die Jahre 1928–1932 auf 48 % geschätzt hat, sank 1928–1937
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um 36,5 %. Zwar konnte man nach der Aufhebung der Rationierung Anfang 1935 Grundnahrungsmittel sogar wieder frei kaufen, aber die Preise lagen deutlich höher. Hinzu kam eine merkliche Verschlechterung der Wohnverhältnisse. Infolge des starken Zuzugs vom Lande wurde es in den Städten noch enger, als es ohnehin schon war. Erst recht konnte auf den Baustellen von menschenwürdigen Unterkünften selten die Rede sein. So spricht nichts dafür, dass man – mit den oft verspotteten Worten Stalins vom November 1935 gesagt – „besser“ und „fröhlicher“ lebte, sondern alles für das Gegenteil. Doch nicht Arbeiter und Bauern, mit deren Namen sich das Regime schmückte, gaben der stalinistischen Gesellschaft das charakteristische Gepräge, sondern eine neue Schicht: die Sowjetintelligenz. Stalin hatte schon in der Kampagne zur Durchsetzung des Fünfjahresplans und der Zwangskollektivierung auf die Jugend gesetzt. In der Tat enttäuschten ihn die Angehörigen dieser ersten im Sozialismus großgewordenen Generation nicht. Besonders gute Gründe dafür hatten die Qualifizierten unter ihnen. Der Gedanke vermag nach wie vor zu überzeugen, dass sie ihm durch Loyalität für die neuen, im Zarenreich undenkbaren Bildungs- und Aufstiegschancen dankten. Absolut stieg die Zahl der Schüler in den höheren Klassen der allgemeinbildenden Schulen, der Fabrik- und Werksschulen, an den sog. Arbeiter- und Bauernfakultäten sowie an den sonstigen technischen und anderen Hochschulen von ca. 775 200 (1926/27) auf ca. 3,3 Mio. (1938/39), darunter allein in den technischen Lehranstalten von 180 600 auf 951 900. Soziale Herkunftsanalysen zeigen, dass vor allem in den Umbruchsjahren ,Arbeiterkinder‘ (was immer genau darunter verstanden wurde) den größten Nutzen aus dieser starken Expansion zogen (1930 = 64,5 %). Mit dem Übergang zur neuen Ordnung seit 1934 ebbte diese ,Proletarisierung‘ zugunsten der Zunahme des Anteils von „Angestellten“ ab. Die Arbeiter blieben aber überrepräsentiert. Schon diese groben Daten geben die Essenz der Veränderungen in der sozialen Elite unter Stalin recht genau wieder. Der ,große Sprung‘ brachte die vydvižency (Aufsteiger), um die sich die Partei schon während des sog. „Leninaufgebots“ nach 1924 bemüht hatte, endgültig in zentrale Positionen. Danach schickten die neuen ,Bürokraten‘, die im Bürgerkrieg rekrutierten Machthaber der neuen Ordnung, erstmals ihre eigenen Kinder auf die Hochschulen. Beide bildeten unter dem Gesichtspunkt der politischen Sozialisierung ein- und dieselbe Generation: die stalinistische im engeren Sinn. Auf diese neue Elite wartete das Regime seit seiner Entstehung. Es formte sie nach seinen Wünschen: stark ingenieur- und naturwissenschaftlich orientiert, nicht ,intelligenzlerisch‘ fundamental, sondern anwendungsbezogen denkend, ideologisch sattelfest oder unpolitisch, in jedem Falle loyal nicht nur gegenüber dem „Sozialismus“, sondern auch gegenüber dem Diktator. Um diese Manager und Fachleute an sich zu binden, war Stalin auch zu materieller Gratifikation bereit. Entgegen aller Gleichheitsrhetorik nahm die Spannweite der Einkommensskala in den dreißiger Jahren erheblich zu. Dabei sind nichtmonetäre Privilegien (Wohnung, Versorgung) nicht einmal eingerechnet. Der „sozialistische Aufbau“ schuf eine höchst ungleiche Gesellschaft und prämierte die Elite in neuem Maße. Manches deutet sogar darauf hin, dass auch der „große Terror“ den Nebenzweck verfolgte,
Sowjetintelligenz
Stalinistische Elite
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Kultur
Schul- und Bildungspolitik
Familienpolitik
I. Darstellung
ihr die Bahn freizuschießen. Die class of ’38, darunter fast alle bedeutenden Politiker der Brežnev-Ära, erwies sich als dankbar: gegenüber dem Diktator und – ungeachtet aller Reformen – dem System. Ähnlich lässt sich für die Kultur der Stalin-Ära ein gemeinsamer Nenner angeben. Der totalitären Natur des Staates entsprechend hatte sie den Vorgaben des Regimes zu folgen. Sie durfte nicht pluralistisch, sondern musste uniform sein, nicht kritisch-experimentell, sondern gehorsam und dienstbar. Sie verlor ihren utopischen Charakter und wurde im besten Fall darauf verpflichtet, die gegebene Ordnung idealistisch überhöht nach Maßgabe der offiziellen Interpretation zu gestalten. Auch darin zeigte sich eine deutliche Zäsur vor allem zur ersten Hälfte der zwanziger Jahre, wobei schon deren zweite Hälfte und der ,große Sprung‘ von 1929–32 in der Rückschau als Übergang erscheinen. Ob im Bildungswesen, in der öffentlichen Moral, in wertgeleiteten Institutionen oder in Kunst und Wissenschaft – die zwanziger Jahren ließen noch deutlich erkennen, dass der bolschewistische Umsturz auch verschiedenen ,antibürgerlichen‘ soziokulturellen Erneuerungs- und Protestbewegungen zu relativer Artikulationsfreiheit verholfen hatte. Zwar ging ihre Hochzeit schon unter Lenin zu Ende. Aber die ˙ begründete einen Schwebezustand, der den Konformitätsdruck von Partei NEP und Staat minderte und seine Wirksamkeit verzögerte. Gerade kulturell leitete die stalinistische Diktatur eine neue Etappe der Sowjet-Ära ein. Die Wende war umso spürbarer, als sie – im Gegensatz zur parallelen Transformation der Herrschafts- und Wirtschaftsordnung – keine marxistischen Rezepte (in welch dogmatisierter Form auch immer) zu unverfälschter Geltung zu bringen suchte, sondern eher konservative Werte bis hin zum Rückgriff auf vorrevolutionäre Tugenden förderte. In der Schul- und Bildungspolitik hatte die revolutionäre Pädagogik eines Pavel P. Blonskij endgültig ausgedient. Zwar behielt man die polytechnische Schule als neuartige Einheitsschule bei; damit blieben sowohl die Integration der einst ständisch getrennten Schultypen (Elementarschule, Gymnasium) als auch die institutionelle Umsetzung der Verbindung von Kopf- und Handarbeit bestehen. Aber der Schwerpunkt der Ausbildung verschob sich merklich von der Arbeits- zu einer Buchschule, so wie kaum zufällig parallel die Verfügungsgewalt der jeweiligen obersten Instanzen zu Lasten der Mitbestimmung der Betroffenen gestärkt wurde. Kaum eine Maßnahme brachte den neuen, autoritär-hierarchischen Geist so sinnfällig zum Ausdruck wie die Wiedereinführung der Schuluniform 1936. Im Oktober 1940 wurde außerdem der Besuch der Oberklassen und der Universität wieder kostenpflichtig. Die neue Elite wollte unter sich sein. Vom gleichen Geist waren die Familienpolitik und die staatlich gelenkte öffentliche Moral geprägt. Der bolschewistische Umsturz hatte auch die Trennung von Staat und Kirche im Programm geführt, erstmals in Russland (damit westeuropäische liberale Errungenschaften des 19. Jahrhunderts nachholend) die Zivilehe erlaubt, Abtreibungen legalisiert und Scheidungen als Beitrag zur Emanzipation der Frau leicht gemacht. Trotz erheblicher sozialer Lasten (Kinder- und Mütterarmut) und heftiger Diskussionen war diese Regelung im Familienstatut von 1926 bestätigt worden. Die stalinistische Diktatur nahm weniger an der Not
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unvollständiger Familien Anstoß als am Prinzip. Individualismus und Selbstbestimmung, die das Gesetz zu verankern suchte, widersprachen grundsätzlich dem staatlichen Anspruch auf Kontrolle. Hinzu kam, verbunden mit einem erneuerten Patriotismus, die Überordnung allgemeiner Ziele, denen sich auch die Familie als Keimzelle der Gesellschaft zu fügen hatte. So hatte der Beschluss vom 27. Juni 1936, Abtreibungen wieder zu verbieten und die Ehe zu stärken, über seinen Inhalt hinaus große symbolische Bedeutung: Pars pro toto repräsentierte er die gesamte Abkehr des Stalinismus von den kulturrevolutionären Anfängen des Regimes. Auch die Kunst wurde in einem Maße einheitlichen Grundsätzen unterworfen, das trotz ihrer Vielgestaltigkeit – deren Darstellung nur separat zu leisten ist – eine zusammenfassende Kennzeichnung erlaubt. In allen Bereichen lassen sich (mindestens) zwei charakteristische Entwicklungen beobachten. Zum einen griffen Partei und Staat mit neuem Nachdruck in ihre Inhalte ein. Symptomatisch war die Verkündung des „sozialistischen Realismus“ als einzig verbindlicher Gestaltungsnorm (1932). Was bis dahin zwar vielfach propagiert worden war, aber noch Auswege offen gelassen hatte, wurde nun ,gebündelt‘ und zu einer ästhetischen Vorschrift von umfassendem Geltungsanspruch erhoben. Literatur – die nicht zufällig weitgehend auf Romane einschmolz – hatte sich fortan an den Leitideen von Volksnähe (narodnost’), Massenverbundenheit (massovost’) und Parteilichkeit für die ,Titularklassen‘ des Sowjetregimes (klassovost’) zu orientieren. Fern aller naturalistisch-direkten Mimesis sollte sie die typischen Merkmale von Situationen und Charakteren hervorheben und die Vorbildlichkeit der Helden und Geschehnisse zeigen. Ähnliche Vorgaben legten dem sowjetischen Film der zwanziger Jahre (Sergej Eisenstein, Dziga Vertov) enge Fesseln an. Vor allem deshalb büßten beide ihre internationale Reputation weitgehend ein. Parallel zur ästhetischen Gleichschaltung wurden alle Kunstschaffenden – beginnend mit den Schriftstellern 1934 – in staatlichen Zwangsverbänden zusammengeschlossen. Wer außerhalb blieb, konnte nicht mehr öffentlich in Erscheinung treten, wenn ihm nichts Schlimmeres geschah. In vieler Hinsicht wurde diese Knebelung des gesamten geistigen öffentlichen Lebens durch die Verherrlichung Stalins überwölbt. Was Chruščev in seiner Geheimrede vor dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 als „Persönlichkeitskult“ anprangerte, war nur die Zuspitzung des allgegenwärtigen Konformitätszwangs zur propagandagestützten Manipulation. Auch hier sprach die Synchronie Bände: Als alle Gegner besiegt waren und der Sturm auf das Dorf begonnen hatte, nahm mit der Feier von Stalins 50. Geburtstag im Dezember 1929 jene devote Herrscherpanegyrik ihren Anfang, die zum Inbegriff totalitärer Hirnwäsche wurde. Stalin avancierte mit diesem Ereignis offiziell zum „Führer“ (vožd) – neben Mussolini und Hitler dem dritten jener Tage. Erst recht kannten die Ovationen nach dem „Großen Terror“ keine Grenzen mehr. Ob aus Angst oder Verblendung, die Delegierten des 18. Parteitags 1939 überboten sich in (protokollierter) Ehrerbietung für einen Diktator, der in die Unfehlbarkeit entrückt wurde. In Schriften, Büsten, Denkmälern, Zeitungen oder Filmen war Stalin omnipräsent und über alle Kritik erhaben. Dabei nutzte auch das Sowjetregime die technischen Errungenschaften der Zeit. Sicher liegt in dieser zentral inszenierten, von Zwang und
Kunst
Personenkult um Stalin
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I. Darstellung
Gewalt begleiteten Kontrolle und Steuerung jeder Öffentlichkeit eine auffällige Gemeinsamkeit mit der nationalsozialistischen Diktatur. Zugleich wird man einer Gleichsetzung mit der Verherrlichung Lenins zu seinen Lebzeiten mit Skepsis begegnen müssen. Zwar genoss gerade der Staatsgründer unangefochtene Autorität; aber er wehrte sich gegen jede idolatrische Verehrung. Erst zum Stalinismus gehörte der Stalinkult wie die Haut zum Körper. 3.8 Von „kollektiver Sicherheit“ zum Hitler-Stalin-Pakt
Außenpolitik Litvinovs
Bilaterale Verträge
Es wird kein Zufall sein, dass der Abschied sowohl von weltrevolutionären Träumen als auch von der Fixierung auf die Partnerschaft von Rapallo mit zwei tiefgreifenden, äußeren wie inneren Veränderungen einherging: zum einen mit der fortschreitenden Westbindung Deutschlands, zum anderen mit dem Übergang zur Planwirtschaft, der spätestens 1927 feststand. Schon wenige Jahre nach Lenins Tod, noch unter der Ägide Čičerins, begann damit eine außenpolitische Wende, die sich mit dem Namen seines Stellvertreters Maksim M. Litvinov verband : die Politik der „kollektiven Sicherheit“. Da Litvinov seinem Vorgesetzten Anfang 1930, als Stalin schon zum unangefochtenen Diktator avanciert war, auch förmlich im Amt folgte, wird man von einer Übereinstimmung der Positionen ausgehen können. Wie lange sie anhielt, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Auch am Ende dieser außenpolitischen Ära standen aber markante Veränderungen, die als Ursachen in Betracht kommen: die Enttäuschung über den Ausschluss vom Münchner Abkommen im September 1938, die Probleme der Verhandlungen mit England und Frankreich und die Hinwendung zu Deutschland. Als Litvinov im Mai 1939 durch Molotov ersetzt wurde, hatte seine Politik – unabhängig von der Frage, ob er als Jude der Annäherung an Deutschland im Wege stand– ausgedient. In gewisser Weise lässt sich die Absicht der „kollektiven Sicherheit“ als Erweiterung der Verständigung mit Deutschland verstehen. Durch jeweils bilaterale Nichtangriffs- und Neutralitätspakte mit den unmittelbaren Nachbarn suchte die Sowjetunion ein Netz an Garantien zu knüpfen, das sie davor schützte, an ihren Grenzen in militärische Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden. Solche Vereinbarungen wurden schon 1925–1927 mit der Türkei, Afghanistan und Persien geschlossen. 1932 ließen sich auch die misstrauischeren nordwestlichen Nachbarn Finnland, Lettland und Estland darauf ein, die unter zarischem Zepter noch zum russischen Vielvölkerreich gehört hatten. Als es im selben Jahr noch gelang, solche Verträge mit Polen (am 25. Juli) und mit Frankreich (am 29. November) zu schließen, verzeichnete diese Strategie Erfolge, die noch wenige Jahre zuvor kaum denkbar schienen. Freilich war diese positive Resonanz nicht nur der vertrauensstiftenden Wirkung des sog. Litvinov-Protokolls zu verdanken, in dem sich die Sowjetunion und andere Unterzeichner darauf verständigten, einen internationalen, vom französischen Außenminister Aristide Briand und seinem amerikanischen Kollegen Frank B. Kellogg vorgeschlagenen Kriegsächtungspakt vorzeitig (im Februar 1929) zu ratifizieren. Hinzu kam eine veränderte Wahrnehmung der internatio-
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nalen Gesamtlage. Die meisten europäischen Mächte hatten verstanden, dass die Unterscheidung zwischen Siegern und Besiegten nicht mehr als Trennlinie auf dem diplomatischen Parkett taugte. In diesem Sinne ging die Nachkriegszeit ungefähr mit der Wende zu den dreißiger Jahren zu Ende. Vor allem die deutschfranzösische Aussöhnung schuf eine völlig neue Konstellation. In gewisser Hinsicht antwortete die nicht minder überraschende Annäherung zwischen den Erzfeinden Sowjetunion und Polen, gefolgt von der sowjetischen Allianz mit Polens treuestem Verbündeten Frankreich, auf die Entente zwischen Stresemann und Briand. Europa begann, sich multipolar zu ordnen – und wurde erst durch die Machtübernahme des Nationalsozialismus in Deutschland wieder mehr und mehr zu bipolarer Lagerbildung veranlasst. Bei alledem wollte die Sowjetunion Deutschland nicht verlieren. An den dokumentarisch fassbaren Aktivitäten gemessen, verfolgte sie einen ebenso offenen wie wechselhaften Kurs. Auf der einen Seite handelte sie mit der nationalsozialistischen Regierung ein Protokoll über die Verlängerung des Berliner Vertrages aus, das im Mai 1933 vom Reichstag gebilligt wurde. Auf der anderen Seite bekundete sie Wohlwollen gegenüber anderen Allianzen, deren – nie verwirklichte – Absicht in der Schaffung eines von Frankreich gestützten „Zwischeneuropa“ als Weiterentwicklung eines ,Ost-Locarno‘ bestand. Selbst wenn der sowjetischfranzösische Nichtangriffspakt vom Mai 1935 auch als demonstrative Reaktion auf die sensationelle deutsch-polnische Verständigung vom Januar 1934 verstanden werden muss, signalisierte die Aufmerksamkeit für den Außenminister Pierre Laval, der zur Unterzeichnung eigens nach Moskau kam, mehr : die Möglichkeit einer Wiederholung jenes schicksalhaften renversement des alliances von 1894, das die Grundlage für die Bündniskonstellationen im Ersten Weltkrieg geschaffen hatte. Zugleich spricht vieles dafür, dass diese Drohung nicht wirklich ernst gemeint war. Trotz aller Irritation und trotz verschärfter ideologischer Wortgefechte ließ Stalin „stets eine Tür“ für ein Arrangement mit Hitler „offen“ [1132: S, Stalin und Hitler, 88]. Deshalb dürfte der wahre Zweck von Gesprächen, die der Leiter der sowjetischen Handelsvertretung, Stalins georgischer Landsmann David V. Kandelaki, 1935–36 in Berlin führte, wohl doch über eine wirtschaftliche Vereinbarung, wie sie am 29. April 1936 geschlossen wurde, hinausgegangen sein [so 951: B, Stalin und Hitler, 62ff.]. Allerdings bleibt diese Interpretation umstritten. Zugleich steht außer Frage, dass die eventuelle Geheimmission ins Leere lief – das NS-Regime hatte kein Interesse. Dies änderte sich jedoch in den folgenden Jahren. Katalytische Wirkung kam dabei aller Wahrscheinlichkeit nach dem Münchener Abkommen vom 29. September 1938 zu, in dem England, Frankreich und Italien, um dem Frieden in Europa noch eine Chance zu geben, der Abtretung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich zustimmten. Obwohl die Sowjetunion eng mit der ČSR verbunden war (Hilfsabkommen vom 29. Mai 1935), wurde sie von den Westmächten weder beteiligt noch befragt. Mit guten Gründen sah sie sich ausgeschlossen und reagierte enttäuscht. Wann allerdings konkrete Vorentscheidungen zugunsten einer Option für Deutschland fielen, bleibt im Einzelnen trotz der Öffnung der Archive weiter im Dunkeln.
Beziehungen zu Deutschland
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56 Deutsch-sowjetisches Abkommen 1939
I. Darstellung
Verbürgt sind lediglich Ereignisse, die im Rückblick als wichtige Stationen auf dem Weg zur Verständigung gelten können. Im März 1939 nutzte Stalin die Tribüne des 18. Parteitages, um England und Frankreich unter anderem mit dem Vorwurf zu attackieren, sie wollten die Sowjetunion für ihre egoistischen Zwecke ausnutzen und sie die „Kastanien aus dem Feuer holen“ lassen. Im April kam es zu einer Begegnung zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Botschafter, die als Zeichen des sowjetischen Interesses gewertet wurde. Im Mai wurde Litvinov durch Molotov abgelöst. Allerdings darf nicht übersehen werden – und darauf verweist die alternative Deutung zu Recht –, dass Stalin den Westmächten zur gleichen Zeit einen Dreibund anbot und offizielle Verhandlungen darüber aufgenommen wurden. Immerhin konnte in diesem Rahmen am 24. Juli ein politisches Abkommen paraphiert werden. Das Kernstück, ein militärischer Beistandspakt, blieb aber ausgeklammert. Über diese besonders schwierige Frage, die nicht zuletzt Durchmarschrechte durch Polen involvierte, sollte separat in einer weiteren Runde vom 12. August an gesprochen werden. Erst dieser Stillstand, so die Gegner der ,Affinitäts‘-These, veranlasste Stalin umzuschwenken und das Angebot zu Gesprächen anzunehmen, das seit dem Frühjahr wiederholt von deutscher Seite unterbreitet worden war. Dem gegenwärtigen Kenntnisstand zufolge fiel die Entscheidung spätestens in einer Sitzung des Politbüros vom 11. August. Vier Tage später empfing Molotov den deutschen Botschafter F. W. von der Schulenburg, der ihm den Entwurf zu einem förmlichen Abkommen überreichte. Da Hitler es eilig hatte, schickte er am 23. August seinen Außenminister Joachim von Ribbentrop persönlich mit weitreichenden Vollmachten nach Moskau, um den Vertrag unter Dach und Fach zu bringen. Der Nichtangriffs- und Konsultationspakt, dessen Bekanntmachung am nächsten Tag um die Welt ging, schlug ein wie eine Bombe. Denn jedermann wusste, was die abrupte Metamorphose der Sowjetunion vom Erzfeind zum Partner bedeutete : den Überfall Deutschlands auf Polen. Erst nach dem schnellen Ende dieses Feldzugs, der am 1. September begann, wurde der eigentliche Inhalt des Vertrags offenbar. Als sowjetische Truppen am 17. September Ostpolen besetzten, trat zutage, dass über den veröffentlichten Text hinaus geheime Vereinbarungen getroffen worden waren. In der Tat beruhten die verheerenden Folgen dieses Dokuments und sein Ruf als Inbegriff verbrecherischer, völkerrechtswidriger Machtpolitik vor allem auf dem Zusatzprotokoll. Was hier verabredet und von Stalin mit einem berüchtigten roten Strich quer durch die beigefügte Landkarte versinnbildlicht wurde, war nichts weniger als die Aufteilung Osteuropas zwischen zwei diktatorischen Eroberern. Demnach sollten das Baltikum nördlich von Wilna und alle Gebiete östlich einer Linie entlang der Flüsse Narev, Weichsel und San an die Sowjetunion fallen, Litauen und alle Gebiete westlich davon an das Großdeutsche Reich. In ähnlichen Zusatzprotokollen zum Grenzvertrag vom 28. September wurde diese ,Demarkationslinie‘ mit Ausnahme eines Gebietstauschs, der auch Litauen und die Region um Białystok (bei Verzicht auf einen breiten Landstreifen östlich der mittleren Weichsel zwischen Białystok, Brest-Litovsk und Galizien) unter sowjetische Herrschaft brachte, bestätigt. Sie hatte bis zum deutschen Überfall vom 22. Juni 1941 Bestand.
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4. Großer Vaterländischer Krieg und Spätstalinismus (1941–1953)
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4. Großer Vaterländischer Krieg und Spätstalinismus (1941–1953) 4.1 Extremer Zentralismus und patriotische Mobilisierung Als deutsche Flugzeuge und Panzer im Morgengrauen des 22. Juni 1941 die Demarkationslinie zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Einflussbereich in Polen überquerten, begann der blutigste Feldzug des Zweiten Weltkriegs. Über die Motive des Überfalls ist viel diskutiert worden. Immer wieder tauchte die These auf, Hitler sei einem Angriff Stalins zuvorgekommen. Gegenüber dieser sog. Präventivkriegsthese hält die große Mehrheit der Sachkenner an der Auffassung fest, dass Hitler die zweite Front aus eigenem Entschluss eröffnete. Als Beleg dafür dient – abgesehen davon, dass Hitler den Befehl zur Vorbereitung des ,Unternehmens Barbarossa‘ schon ein knappes Jahr zuvor (im Juli 1940) gab – auf sowjetischer Seite unter anderem die völlige Überraschung der Führung. Als diese reagierte, waren schon viel Terrain und Chancen zur Gegenwehr verloren. Dennoch vermochte das sowjetische Riesenreich in den nächsten Jahren so große materielle und personelle Ressourcen zu mobilisieren, dass es den deutschen Vormarsch nicht nur aufhalten, sondern sogar zur Gegenoffensive übergehen konnte. Seitdem stellt sich die große Frage, wie diese Wende mit der säkularen Folge der Entstehung des ,Ostblocks‘ und des Kalten Krieges zu erklären sei. Dabei wird vorausgesetzt, dass Hitler und seine Feldherren zwar gewiss Fehler begingen, aber die entscheidenden Ursachen für Sieg und Niederlage außerhalb der Kriegführung lagen. Eine knappe Skizze der militärischen Geschehnisse ist zum Verständnis dennoch nötig, da diese naturgemäß mit den wesentlichen Etappen der innersowjetischen Entwicklung korrelieren. Die ersten fünf Monate nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ wurden vom überaus schnellen Vormarsch der Wehrmacht geprägt. Die deutschen Truppen stießen in drei Keilen vor: im Norden in Richtung Leningrad, in der Mitte in Richtung Moskau, im Süden in Richtung Kiev. Im Norden drangen sie bis an die Tore der alten Hauptstadt vor und begannen jene schreckliche 900-tägige Belagerung, die mindestens 630 000, wahrscheinlich 700 000-800 000 Opfer forderte und zum Symbol des ungeheuren Leids der sowjetischen Bevölkerung wurde. Im Süden nahmen sie Kiev und erreichten Rostov am Don. In der Mitte kamen sie über Minsk und Smolensk ebenfalls rasch voran, sahen sich in Reichweite Moskaus aber erstmals mit vehementer Gegenwehr konfrontiert, die sie angesichts eines früh einsetzenden Winters nicht zu überwinden vermochten. In November kam der deutsche ,Blitzkrieg‘ vor der Hauptstadt zum Stehen. Immer noch spricht viel für die These, dass bereits damit der Anfang vom Ende begann. Allerdings war dies noch längst nicht absehbar. Denn auch die zweite Phase des Ostkriegs, etwa vom Beginn des Winters 1941/42, i.e. dem Kampf um Moskau, bis zum Beginn des Winters 1942/43 und der Schlacht um Stalingrad reichend, stand im Zeichen deutscher Siege. Dabei verlagerte sich der hauptsächliche Schauplatz in den Süden, dessen weite Ebenen den Vormarsch erleichterten.
Deutscher Überfall auf die Sowjetunion
Kriegsverlauf
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Wende des Krieges
Opfer des Krieges
Folgen des Krieges
I. Darstellung
Über Rostov am Don hinaus besetzte die Wehrmacht die nordkaukasischen Ölfelder; andere Einheiten schoben die Frontlinie bis nach Stalingrad an der Wolga vor. Die Wende brachte der sowjetische Sieg in Stalingrad, mit dem eine dritte, etwa bis zur Befreiung Leningrads im Januar 1944 dauernde Kriegsphase begann. Als es der Roten Armee Ende November 1942 gelang, die 6. Armee vom Hinterland abzuschneiden und den „Kessel“ von Stalingrad zu bilden, musste allen Militärstrategen klar sein, was auf dem Spiel stand. Erst recht hatten Einwohner Moskaus gute Gründe, auf der Straße zu tanzen, als der letzte deutsche Versuch, das Heft des Handelns wiederzugewinnen, in der Panzerschlacht bei Kursk und Orel im Juli 1943 scheiterte. Danach begann, wenn auch bis zuletzt mit hohen Verlusten, der unaufhaltsame Vormarsch der sowjetischen Truppen nach Westen und der Rückzug der deutschen Angreifer. Anfang 1944 fiel die Dnepr-Front, im Sommer die weißrussische. Im August stand die Rote Armee vor Warschau, im Januar 1945 wurde die Weichsel überschritten, und im April begann die Schlacht um Berlin, die mit der Kapitulation des Deutschen Reichs am 8. Mai 1945 endete. Der Preis, den die Sowjetunion für den unprovozierten Angriff zu zahlen hatte, war enorm. Jüngsten Berechnungen zufolge kamen 9,17 Mio. Soldaten ums Leben, weitere 3,8 Mio. wurden „wegen Verwundung oder Krankheit“ aus der Armee entlassen. Besonders verheerend war in diesem ersten ideologischen Vernichtungskrieg der Weltgeschichte der Blutzoll der Zivilbevölkerung. Von 196,7 Mio. Einwohnern, die man für Mitte 1941 auf sowjetischem Territorium annehmen kann, blieben bis Anfang 1946 nur noch 170,5 Mio. übrig; unter Abzug der gefallenen ,regulären‘ Soldaten und unter Berücksichtigung der normalen Geburtenrate und Mortalität sowie einer erhöhten Kindersterblichkeit haben die Demographen daraus einen Gesamtverlust der Bevölkerung von 26,6 Mio. Menschen errechnet; eine Regierungskommission hat ihn 1989/90 auf ca. 27 Mio. aufgerundet. Wenn man bei der Zivilbevölkerung ein normales Geschlechterverhältnis (von 50:50) unterstellt, waren ca. zwei Drittel dieser 27 Mio. (in und außerhalb der Armee) ,zusätzlich Verstorbenen‘ Männer. Zu dieser demographischen Katastrophe – mit dauerhaften Folgen für mindestens zwei Jahrzehnte in Gestalt z. B. des Ausbleibens einer hohen Geburtenrate nach dem Krieg, wie sie in allen anderen beteiligten Ländern für eine Art Kompensation sorgten – addierten sich die Verwüstungen einer Politik der verbrannten Erde. Ganze Regionen in den besetzten Gebieten glichen Trümmerfeldern; ca. 1710 Städte und 70 000 Dörfer lagen in Schutt und Asche. Sowjetischen Angaben zufolge zerstörte der deutsche Angriff etwa 30 % des Werts aller Produktionsanlagen der Vorkriegsjahre (679 Mrd. Rubel). Die Verteidigungskosten (Armee, Rüstungsproduktion) eingerechnet, ergibt sich eine knapp dreimal höhere Summe, die ungefähr dem gesamten Einkommen der sowjetischen Vorkriegsbevölkerung in einem Zeitraum von sieben Jahren entsprach. Anschaulicher mag die andere Schätzung sein, dass die Sowjetunion durch den Krieg wirtschaftlich um etwa 8–10 Jahre zurückgeworfen wurde [14: Naselenie Rossii II, 26, 131f, 343; 349: HGR III, 911]. Wie in allen beteiligten Ländern hatte der Krieg auch in der Sowjetunion tiefgreifende innere Folgen. Die Herrschaftsordnung änderte sich dabei am we-
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4. Großer Vaterländischer Krieg und Spätstalinismus (1941–1953)
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nigsten: Die überall zu beobachtende Tendenz zur Stärkung der Exekutive hatte hier schon die Extremform der personalen Diktatur angenommen. Was dennoch zusätzlich geschah, diente eher der besseren Umsetzung von Entscheidungen als der weiteren Konzentration von Anordnungsbefugnissen. Schon am letzten Junitag 1941 wurde in Gestalt des Staatlichen Verteidigungskomitees (GKO) eine Art Kriegskabinett gebildet, in dem sich fortan alle Kompetenzen bündelten. Vermutlich darf man die wenigen Mitglieder auch als Sprecher bestimmter Großbereiche betrachten. So gesehen waren neben dem Generalsekretär als Repräsentanten des Ganzen durch Berija die Geheimpolizei, durch Molotov die Regierung, durch Georgij M. Malenkov (damals Leiter der Kaderabteilung) die Partei und durch den Verteidigungskommissar Kliment E. Vorošilov die Armee vertreten. Anfang 1942 kamen Anastas I. Mikojan, Lazar M. Kaganovič und der Wirtschaftsexperte Nikolaj A. Voznesenskij, Ende 1944 der Parteifunktionär Nikolaj A. Bulganin hinzu. Das GKO verkörperte damit eine neue kommissarovščina, so wie sie sich im Bürgerkrieg herausgebildet hatte. Abermals erwies sich der militärische Konflikt auf Leben und Tod als Katalysator zentralistischautoritärer Herrschaft – mit dem Unterschied freilich, dass sie ohnehin schon bestand und der Krieg ,nur‘ noch verschärfend wirken konnte. In jedem Falle half die Reorganisation, das schnell und wirksam zu tun, was neben der Mobilisierung von Rekruten vor allem zu leisten war : die Industrie auf militärische Bedürfnisse umzustellen und trotz enormer Gebiets- und Menschenverluste die Versorgung der Bevölkerung, auf welch niedrigem Niveau auch immer, zu sichern. Es ist unbestritten, dass beides gelang. Besonderes Lob hat dabei die Evakuierung der Industrie erhalten. Ein eigens dafür bereits am 24. Juni 1941 gebildeter – kurz darauf dem GKO unterstellter – „Evakuierungsrat“ leistete nicht nur ca. 16,5 Mio. Menschen Hilfe, die im Laufe des ersten Kriegsjahres vor den Deutschen nach Osten flohen. Darüber hinaus organisierte er, gestützt auf den Gosplan, den Behördenapparat der Regierung und eine Vielzahl regionaler Sonderbeauftragter, bis zum Jahresende 1941 trotz begrenzter Transportmöglichkeiten und des Verschleißes von Zügen und Schienen, die sich beide ohnehin in schlechtem Zustand befanden, die Demontage und Verfrachtung von 1523 Unternehmen. Deren Anteil an den 32 000 Produktionsstätten des Reiches war zwar gering, ihre Bedeutung aber erheblich. In ca. 1,5 Mio. Waggons wurde allein 1941 etwa der Wert der Investitionen der ersten drei Jahre des ersten Fünfjahresplans gerettet. Im folgenden Jahr kamen etwa 150 Betriebe, darunter 40 große, hinzu. Zielgebiet der Evakuierungen waren vor allem der Ural, Südsibirien und Kazachstan. Im Großen und Ganzen scheint auch der Wiederaufbau zügig vonstatten gegangen zu sein, so dass etwa 1200 Betriebe ihre Produktion bis Mitte 1942 wiederaufnehmen konnten. Im Endeffekt sorgte die Evakuierung damit für die Kontinuität einer Entwicklung, die schon in den dreißiger Jahren begonnen hatte (und nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Untergang des Staates anhielt) : der Verlagerung der sowjetischen Industrie nach Osten. An den neuen Standorten setzte man die ,zerlegten‘ Fabriken nicht zum alten Produktionszweck zusammen, sondern rüstete sie nach Möglichkeit für militärische Zwecke um. Nach der Evakuierung erfolgte die Konversion. Statt
Evakuierung der Industrie
Ausrichtung auf militärische Zwecke
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Kriegspropaganda
I. Darstellung
Kinderfahrrädern wurden Flammenwerfer hergestellt, statt Schreibmaschinen Gewehre. Zugleich konnte die Produktion beträchtlich erhöht werden. So stiegen die Kennziffern für die gesamte Industrie (1940 = 100) von 1942 = 77 auf 1943 = 90 und 1944 = 104, die der Rüstungsbranchen sogar von 1941 = 140, 1942 = 186, 1943 = 224 auf 1944 = 251 [1130: S, Sowjetunion, 274]. Die Daten erklären sich selbst: Nach einem Tiefpunkt 1942 erholte sich gewerbliche Wirtschaft, um 1944 das Niveau von 1940 zu übertreffen. Dabei konzentrierte man alle Kräfte auf die Rüstung, deren Ausstoß vor allem 1942 und 1943 deutlich stieg. Auch in dieser Hinsicht markierte das Jahr 1943 eine Wende. Sicher litt die Landwirtschaft noch stärker als die Industrie. Zwar versuchte man, auch von ihr durch Evakuierung zu retten, was zu retten war. Vor allem im zweiten Kriegsjahr scheint dies bei Kolchosvieh (mit gut 73 % bei Rindern und Schafen) in erheblichem Maße gelungen zu sein. Aber das hauptsächliche Produktionsmittel, der Boden, ließ sich nicht transportieren. Vor allem der Verlust der Ukraine, die schon zu zarischer Zeit als Kornkammer des Russischen Reiches galt, war kaum zu verkraften. Hier hatten 45 % der Gesamtbevölkerung gelebt, die 47 % der gesamtsowjetischen Saatfläche bestellt hatten. Hinzu kam der Abzug männlicher Arbeitskraft. Im Vergleich zum 1. Januar 1941 sank die Zahl der erwachsenen Männer auf dem Dorf 1944 auf 27 %. Frauen, Minderjährige und Alte konnten die fehlende Arbeitskraft umso weniger ausgleichen, als auch die nichtmenschliche Zugkraft für die Bestellung der Felder weitestgehend abhanden gekommen war. Traktoren und Pferde wurden für den Krieg gebraucht. Wo die großen Flächen der Kolchosen und Sowchosen (Staatsgüter) nur noch notdürftig bestellt werden konnten, handelte der Staat sogar gegen seine Ideologie und förderte die private Produktion. In den Städten wurden Gemüsegärten propagiert (November 1942), auf dem Lande die Ausdehnung der Privatparzellen geduldet. Zwar stammten zwei Drittel von den 2810 Kalorien, die ein städtischer Erwachsener 1944 täglich zu sich nahm, aus ,staatlichen‘ Lebensmitteln. Aber das dritte, das über Leben oder Tod entschied, wurde privat produziert. Vom Krieg nicht zu trennen waren veränderte Schwerpunkte der kulturellgeistigen Mobilisierung. Stalin brauchte zwar die rätselhaften anderthalb Wochen, um den Schock des Überfalls zu verarbeiten. Aber als er am 3. Juli 1941 mit einer Rundfunkansprache wieder an die Öffentlichkeit trat, mischten sich neue Töne unter die alten. Er wandte sich nicht nur an die „Genossen“, sondern auch an die „Brüder und Schwestern“, und rief nicht nur dazu auf, den Sozialismus zu verteidigen, sondern auch die „Heimat“. Und mit Bedacht erinnerte der Name, den die Propaganda dem Kampf gegen das „Dritte Reich“ unverzüglich gab, an den erfolgreichen Widerstand gegen Napoleon: Aus dem „Vaterländischen Krieg“ von 1812 wurde der „Große Vaterländische Krieg“ von 1941–1945. Noch deutlicher trat im Herbst, als die deutschen Panzer vor Moskau standen, zutage, mit welchen Parolen die Führung versuchte, die Bevölkerung hinter sich zu bringen. Bei Gelegenheit des 24. Revolutionsjubiläums nahm Stalin dazu die gesamte Geschichte und Kultur Russlands in Anspruch, nicht nur Lenin und den „Vater“ des russischen Marxismus Georgij V. Plechanov, sondern auch Puškin
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und Tolstoj sowie die militärischen Helden des ,alten Russland‘, von Alexander Nevskij (der das Moskauer Fürstentum 1242 auf dem Eis des Peipussees gegen die Deutschordensritter verteidigt hatte) bis zum Generalfeldmarschall Michail I. Kutuzov, der Napoleon ins Leere laufen ließ. Gleichzeitig wandelte sich Stalin vom „Vater, Lehrer und Führer“ zum siegreichen „Feldherrn“, den keine „Stürme“ schreckten. Am Ende stand die Vereinigung von pater patriae und Generalissimus (dem einzigen der Sowjetgeschichte) in einer, seiner Person. Ungeachtet der Akzentverschiebung war aber beides nicht neu. Der Personenkult war bereits 1929 begründet worden, und die Umwertung der Werte hatte ebenfalls schon einige Jahre vor Kriegsausbruch begonnen, als aus Stalins Feinden „Volksfeinde“ wurden. Schon dies verweist darauf, dass es eine solche Kontinuität in der Nationalitätenpolitik allgemein gab. Was einigen nichtrussischen Völkern während des Krieges widerfuhr, war zwar nicht von langer Hand geplant, harmonierte aber mit der Feindseligkeit der vorangegangenen Jahre. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht markierte der Aufstieg Stalins eine Wende. Offiziell ließ sich die Politik der zwanziger Jahre von der Absicht leiten, eine Art Indigenat zu beachten und die politische Führung der Sowjetrepubliken in die Hand der jeweiligen ,Titularnationen‘ zu legen (korenizacija). Selbst wenn fraglich geworden ist, ob die Praxis diesem Föderalismus tatsächlich entsprach, trat insofern eine Veränderung ein, als auch der programmatische Anspruch mehr und mehr aus der Propaganda verschwand. Stattdessen rückten das russische Volk und russische Geschichte samt ihrer Helden in den Vordergrund. Dem korrespondierte eine Politik, die durch zentrale Ernennung von Parteisekretären rigoros großrussische Interessen durchsetzte, den Terror gezielt gegen einheimische Eliten richtete und in den Grenzregionen bereits mit der Deportation nichtrussischer Bevölkerungsgruppen begann. Der Weltkrieg verlieh solchen Maßnahmen einen weiteren Schub und eine neue Qualität. Schon im Juli 1941, vor der förmlichen Beseitigung der Wolgadeutschen Republik, wurden die ersten Russlanddeutschen vertrieben. Bis zum Jahresende bestrafte man auf diese Weise etwa 895 000 Personen für einen Überfall, den sie nicht zu verantworten hatten. Mochte es dafür aus Stalins Sicht noch nachvollziehbare Gründe geben, so versagt eine solche Erklärung im Fall der Karačäer, der Kalmücken, der Čečenen und Ingušen, der Balkaren und der Krimtataren, die zwischen November 1943 und Mai 1944 von einem Tag auf den anderen in Viehwaggons verladen und in unwirtlichen Gegenden mittellos wieder ausgekippt wurden. Auch Furcht vor möglicher Kollaboration scheidet als Motiv überwiegend aus. Einzig plausibel bleibt die Vermutung, dass sich seine Alleinherrschaft und großrussischer Chauvinismus unter der zusätzlichen ,entgrenzenden‘ Wirkung des Krieges zum wahnhaften Versuch der Prävention möglicher Störungen radikalisierten. Auch dabei bleibt offen, warum solche Maßnahmen diese und nicht andere Völker trafen. ,Rational‘ war dagegen die weitere Exponierung Russlands. Konsequent gipfelte sie im berühmten Trinkspruch, den der Georgier Stalin bei der Siegesfeier Ende Mai 1945 „vor allem auf das Wohl des russischen Volkes“, die „führende Kraft der Sowjetunion“, ausbrachte.
Nationalitätenpolitik
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I. Darstellung
4.2 Wiederaufbau nach altem Muster Späte Stalinzeit
Herrschaftsordnung
Wachstum des GULag
Die späte Stalinzeit zwischen Kriegsende und Tod des Diktators Anfang März 1953 wird meist immer noch als Appendix behandelt, auch wenn inzwischen eine intensivere Erforschung begonnen hat. Sie erscheint als Endphase einer längeren Ära ohne markante eigene Signatur. Die Vorkriegsjahre gelten als ,eigentlicher‘ Stalinismus, denen die Nachkriegsjahre – obwohl kaum kürzer – nur noch eine überdehnte Coda anfügten. Dies muss man nicht so sehen. Der ,Spätstalinismus‘ könnte durchaus als ,Hochstalinismus‘ gewertet werden, da er manche Merkmale der Gesamtordnung in nuce zum Vorschein brachte. Nur eines fehlte ihm gewiss: die Dynamik des Auf- und Umbruchs. Das Beiwort „spät“ hat seine Berechtigung, da es auf die geringe Innovationskraft verweist. In der Herrschaftsordnung änderte sich strukturell wenig, atmosphärisch und in der Art ihrer Ausübung viel. Stalin behauptete seine unangefochtene Stellung nicht nur, sondern festigte sie noch. Zur Furcht, die er verbreitete, gesellte sich Respekt vor dem Bezwinger Hitlers, zur Macht Autorität. Zugleich entrückte der Diktator dem politischen Alltagsgeschäft weiter denn je. Mit zunehmendem Alter zog er sich immer häufiger in seine Datscha vor den Toren Moskaus zurück und traf hochwichtige Entscheidungen bei abendlichen Gelagen im Kreise der engsten Mitarbeiter. Faktisch bestand damit die Regierungsform der Kriegszeit fort: Eine Handvoll treuer und willfähriger Helfer bestimmte, was im Land geschah, und führte aus, was Stalin im Hintergrund befahl oder was sie als seine Wünsche interpretierten. Das ZK kam nur noch selten zusammen, der Parteitag nach 1939 lediglich ein einziges Mal (1952). Größere Gremien dieser Art wurden nicht einmal mehr zur Akklamation gebraucht. So gesehen trat die personale Diktatur noch unverhüllter zutage als vor dem Krieg. Zugleich legte sich eine lähmende Angst über das Land. Stalins Argwohn nahm endgültig paranoide Züge an. Auch die engsten Paladine mussten jederzeit mit bösen Überraschungen rechnen. Selbst Molotov fiel in Ungnade und wurde im März 1949 als Außenminister entlassen. Wenig später rollten in der sog. „Leningrader Affäre“ 1949/50 auch wieder Köpfe; mehr als zwei Dutzend lokaler Parteiführer, darunter der Vorsitzende des Gosplan, Nikolaj A. Voznesenskij, wurden hingerichtet. Während hier wohl die üblichen Rivalitäten im Spiel waren und sich Stalin der Ranküne Malenkovs bedienen konnte, gab es bei seiner letzten Intrige keinen solchen Hintergrund. Der „Ärzteverschwörung“ von 1952 fehlte auch der letzte Schein von Glaubwürdigkeit; sie diente offensichtlich nur der einen Absicht, durch die Erzeugung diffuser Angst die eigene Macht zu sichern. Alles spricht dafür, dass eine neue Terrorwelle bevorstand, als der Diktator starb. Deshalb gehörte es auch zu den Kennzeichen der spätstalinistischen Herrschaft, dass sich die sibirischen Arbeitslager und Verbanntensiedlungen nach dem Zweiten Weltkrieg mit mehr Menschen füllten als je zuvor. Es war eine der unbegreiflichsten Praktiken dieser Jahre, dass selbst Kriegsgefangene und heimkehrende Zwangsarbeiter unter pauschalen Kollaborationsverdacht gestellt und in den GULag geschickt wurden. Zugleich fand Stalin schon 1946 zu überaus ehrgeizigen Planzielen zurück, die ein Höchstmaß an Arbeitsdisziplin verlangten. Drakonische Strafen für Verstöße bis hin zu Lagerhaft sollten sie erzwingen. Und
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auch der Hungersnot von 1946/47, die ca. 1,5 Mio. Opfer forderte, wollte er, wie ähnlich 1932, durch strengste Ahndung von „Diebstahl“ (per Gesetz vom 4. Juni 1947) beikommen. Gemeinsam mit politisch motivierten Verhaftungen führten diese neuen Massenrepressionen in den wenigen Nachkriegsjahren 1946–1952 zu 7 Mio. Verurteilungen [420: C, Stalin, 423]. Im Vergleich zum „Großen Terror“ der Vorkriegszeit mochten Willkür und Blutigkeit abgenommen haben; das Ausmaß an Verhaftungen, gewaltsamer Disziplinierung und Zwangsarbeit aber nahm eher zu. Dazu passte die Aufwertung von Partei und Ideologie. Offensichtlich kamen Stalin und seine Umgebung zu der Überzeugung, dass die Zeit der Konzessionen vorbei sei. Zwar fanden patriotische Töne weiterhin offiziellen Segen, aber sozialistische sollten dadurch nicht länger aufgesogen werden. In allen Bereichen der Politik, von der Wirtschaft über die Gesellschaft bis zu Kultur und Wissenschaft, erhielten sowjetmarxistische Ziele und Werte wieder höchste Priorität. Dies verband sich bald mit dem Kalten Krieg, dessen inneres Pendant die Renaissance der Doktrin bildete. Die äußere Blockbildung (spätestens seit 1947) brachte eine neue Orthodoxie hervor, die unter verschiedenen Etiketten alles ablehnte, was ihr missfiel. Symbolfigur dieser neuen Knebelung wurde der Parteisekretär von Leningrad, zugleich ,Chefideologe‘ des Politbüro, Andrej A. Ždanov. Er gab vor, was Sowjetbürger öffentlich zu sagen und zu schreiben hatten. Den Anfang markierte dabei Ždanovs Rede vor Leningrader Schriftstellern am 14. August 1946, die unter anderem die berühmte Lyrikerin Anna Achmatova mit dem Bannfluch belegte. Im Jahr darauf folgte die Kampagne gegen den sog. „Kosmopolitismus“, die sich in erheblichem Maße als antisemitisch entpuppte. Aber auch nach Ždanovs Tod Ende August 1948 trat keine Änderung ein. Auch in der Wirtschaftspolitik kamen die Ziele der dreißiger Jahre wieder zum Vorschein, allerdings nicht sofort. Auf der Hand lag die nächste Aufgabe : die Schäden so schnell wie möglich zu beseitigen und das Niveau der Vorkriegsjahre wiederherzustellen. Dabei plädierten einflussreiche Funktionäre für eine Verschiebung der Akzente. Als Kompensation für die ungeheuren Leiden, aber auch als Dank für den Einsatz der Bevölkerung wollten sie den nächsten Fünfjahresplan vorrangig in den Dienst der Konsumgüterproduktion stellen. Den Menschen sollte es schnell und spürbar besser gehen. Doch traten solche Absichten schon 1947 in den Hintergrund. In welchem Maße die beginnende OstWest-Konfrontation dafür verantwortlich war und das überkommene einseitige Verständnis vom ,Aufbau des Sozialismus‘ verstärkte, muss offen bleiben. Unbestritten ist, dass die Investitionen und Ressourcen der kommenden Jahre wieder ganz überwiegend in die Schwerindustrie flossen. Die alten Ziele waren auch die neuen. Die Frage ist letztlich müßig, ob die Landwirtschaft noch mehr litt als die Industrie. In jedem Falle besaßen 40 % aller Kolchosbauern 1946 nicht einmal mehr eine Kuh. Pferde gab es kaum noch, erst recht keine Traktoren, und nach wie vor herrschte Mangel an männlicher Arbeitskraft, da die große Mehrheit der gefallenen Soldaten vom Dorf stammte. Hinzu kam im Frühsommer 1946 die verheerendste Dürre seit fünfzig Jahren mit der Folge einer schlimmen Hungersnot in weiten Teilen des Landes. Danach aber schritt der Wiederaufbau
Aufwertung von Partei und Ideologie
Wirtschaftspolitik
Landwirtschaft
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Nomenklatura
Armee
I. Darstellung
voran – und rief, wie in der Industrie, diejenigen erneut auf den Plan, die den sozialistischen Umbau der Vorkriegsjahre fortsetzen wollten. Denn nicht zuletzt der Krieg hatte deutlich zutage treten lassen, dass unter dem Mantel der Kolchosordnung noch traditionelle Organisationsformen des Dorfes überlebt hatten. Kleine Arbeitskollektive (zveno) waren unschwer als Familienverbände zu erkennen und manche Kolchosen als neue Kleider der alten obščina. Agrarpolitische Ideologen, darunter Chruščev, wollten diese Überreste alter Strukturen nun durch die Zusammenlegung von Kolchosen zu größeren Einheiten mit neuen urbanen Mittelpunkten endgültig beseitigen. Die Konzentration fand statt: Bis 1953 wurden aus 236 900 Kolchosen, die man 1940 in der UdSSR zählte, 93 300. Chruščevs Idee der Agrostädte verschwand aber ebenso schnell wieder aus der Presse, wie sie Eingang gefunden hatte. Dennoch waren bei all diesen Versuchen, die Nachkriegsordnung nach den Grundsätzen der Vorkriegsjahre wiederaufzubauen, auch Veränderungen zu verzeichnen. Sie wiesen gleichsam in die Zukunft und bildeten – über die fortdauernden Systemmerkmale hinaus – bemerkenswerte Brücken zur nachstalinistischen Ära. Zu nennen sind besonders der Aufstieg der Nomenklatura und das neue Gewicht der Armee. Natürlich gab es „Funktionäre“ und „Apparate“ – beides charakteristische Begriffe des Sowjetsystems – von Anfang an. Sie entstanden als notwendige Folge des Parteimonopols, der Übernahme des Staates durch die Partei und der Verstaatlichung der Wirtschaft sowie nach und nach aller gesellschaftlichen und kulturellen Organisationen. Dennoch nahm diese Entwicklung unter Stalin eine neue Qualität an. Vor allem der Übergang zur Planwirtschaft zog den Aufbau einer riesigen Bürokratie nach sich. Symptomatisch dafür wurden eigene Industrieministerien, zu denen 1947 die große Masse der Ressorts im aufgeblähten Ministerrat zu rechnen war. Die Besetzung der zentralen Funktionen in allen Bereichen stand dabei der Kaderabteilung der Partei zu. Auf diese Weise wurde nicht nur deren Klammerfunktion gestärkt, sondern auch eine neue, vergleichsweise homogene ,Klasse‘ geschaffen: ideologisch ergeben, fachlich zunehmend qualifiziert, in der Partei sozialisiert und verankert. Diese Nomenklatura übte durch tagtägliche praktische Entscheidungen nicht nur Herrschaft nach unten aus, sondern gewann auch wachsenden Einfluss auf die Zentralgewalt. Die Allmacht des greisen Diktators blieb davon noch völlig unberührt. Aber bei neuen Diadochenkämpfen stand zu erwarten, dass Apparate und Interessen eine größere Rolle spielen würden als zuvor. Zu den Organisationen, die in besonderem Maße an Gewicht gewannen, gehörte die Armee. Partei und Geheimpolizei hatten von Anfang an, wenn auch zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlichem Maße, erheblichen Anteil an der Herrschaft im Staat. Die Armee konnte sich demgegenüber erst allmählich als eigener Faktor etablieren. Ihr Aufstieg fiel in die dreißiger Jahre, wurde aber durch die Liquidierung beinahe der gesamten Führung im „Großen Terror“ wieder zunichte gemacht. Der Krieg änderte diesen Zustand von Grund auf. In klarer Erkenntnis der Gefahr demonstrierte Stalin nach Kriegsende durch die Degradierung des Siegers und Oberkommandierenden Marschall Georgij K. Žukov nachdrücklich, wer das Sagen hatte. Dennoch blieb die Armee eine Organisation von großer innenpolitischer Bedeutung, die weit in die Partei eindrang.
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Sie profitierte sowohl vom Kalten Krieg als auch vom neuen Weltmachtstatus der Sowjetunion. Nach Stalin konnte kein Staatschef mehr ohne ihre Unterstützung operieren. 4.3 Kriegsallianz und Nachkriegskonfrontation In gewisser Weise wirkte der Krieg nicht nur im Innern paradox auf den Stalinismus, sondern auch nach außen. Dem Ersatz des Klassenkampfes durch die Sammlung der Nation im Widerstand gegen den Aggressor entsprach die Allianz mit den Gegnern von gestern. Buchstäblich über Nacht verkehrten sich erneut die Fronten. Nicht nur im Rückblick erscheint das Bündnis derer, die von Hitler überfallen wurden oder sich seinem Weltmachtstreben entgegenstellten, zwangsläufig. So kann es nicht verwundern, dass ein britischer Emissär schon am 12. Juli 1941 in Moskau eintraf, um die Hilfe seines Landes persönlich zu bekunden. Und am 7. November beschlossen die Vereinigten Staaten – offiziell noch nicht im Krieg –, der Sowjetunion großzügige Hilfe nach dem lend-leaseGesetz vom März desselben Jahres zu gewähren. Dieses Tempo sollte aber nicht übersehen lassen, dass die Koalition eine äußere und eine der Not war. Sie berührte den Gegensatz der Systeme und ihrer geistig-ideologischen Grundlagen in keiner Weise. Dementsprechend hielt das Bündnis, solange gekämpft wurde. Allerdings war auch in dieser Zeit eine deutliche Verschiebung der Gewichte zu beobachten, die sich zwar nicht in Heller und Pfennig, aber in langfristig gleich wertvoller Münze auszahlte: in Einfluss und Macht. Die Stationen dieses Wandels lassen sich an den Vereinbarungen der ,Großen Drei‘ – in Frankreich herrschten noch die Nationalsozialisten und das Vichy-Regime – ablesen, die ihrerseits die Wendepunkte des militärischen Geschehens spiegelten. In den ersten beiden Kriegsjahren musste die Sowjetunion froh über jedes Flugzeug sein, das die Alliierten lieferten. Als Opfer eines Angriffs, der sie hart an den Rand des Untergangs brachte, konnte sie nur bitten. Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt überhörten aber selbst das einleuchtende Drängen auf Eröffnung einer ,zweiten Front‘ bemerkenswert lang. Der Ausgang der Schlachten von Stalingrad und Kursk verbesserte diese Lage entscheidend. Als die ,Großen Drei‘ Ende November 1943 zum ersten Mal in Teheran zusammentrafen, konnte Stalin schon auf diese Erfolge verweisen und konkreten Ertrag mit nach Hause nehmen: die feste Zusage, die Wehrmacht im Mai 1944 von Nordwesten her anzugreifen – in Italien waren amerikanische Soldaten um diese Zeit bereits gelandet –, und das grundsätzliche Einverständnis Churchills zur Westverschiebung Polens als Folge einer neuen Grenzziehung, die ungefähr der vom britischen Außenminister Lord Curzon 1919 vorgeschlagenen Linie folgen sollte. Knapp anderthalb Jahre später, im Februar 1945, hatten sich die kühnsten Hoffnungen der Beteiligten bewahrheitet. Man traf sich bereits auf sowjetischem Boden, in Jalta. Die deutschen Truppen waren zurückgeschlagen, die Rote Armee stand an der Oder – und Stalin, dessen Land zweifellos die Hauptlast des Krieges getragen hatte, vor dem größten Triumph seines Regimes. Dies dürfte, von der
Anti-Hitler-Koalition
Konferenz von Teheran
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Potsdamer Konferenz
Kalter Krieg
I. Darstellung
Unentschiedenheit des Krieges in Fernost abgesehen, erklären helfen, warum der Diktator mehr erreichte, als man ihm schon ein halbes Jahr später noch zugestanden hätte. Churchill und Roosevelt ließen sich nicht nur mit vagen Versprechungen in der Frage der polnischen Regierungsbildung abspeisen – der formalen Aufnahme von Nichtkommunisten –, sie stimmten faktisch auch der Oder-Neiße-Linie als neuer Westgrenze Polens zu. Doch damit war die Konzessionsbereitschaft der Westmächte im Wesentlichen auch erschöpft. Schon über der nächsten Konferenz, zu der sich die Repräsentanten der Siegermächte nach der Kapitulation des ,Tausendjährigen Reichs‘ in der zweiten Julihälfte 1945 (17. Juli – 2. August) in Potsdam versammelten, schwebte die Drohung der Entzweiung. Was eigentlich eine Demonstration des Triumphes und der Einheit hätte werden sollen, endete in Stillstand und Missstimmung. Dazu trug sicher der Umstand bei, dass mit Harry S. Truman ein neuer Präsident der Vereinigten Staaten am Verhandlungstisch saß, der nicht in die Fußstapfen seines (im April verstorbenen) Vorgängers treten wollte. Der Streit um die Regierungsbildung in Polen wirkte zumindest nach, wenn die Westmächte ihn denn überhaupt als beigelegt betrachteten. Und auch die Hoffnung auf die baldige Verfügbarkeit der Atombombe (die Nachricht vom erfolgreichen Test traf während der Gespräche ein) mag im Spiel gewesen sein; das bleibt weiterhin offen. Die eigentlichen Gründe für den heraufziehenden Dissens aber lagen tiefer – in eben den weltanschaulichen Gräben und Gegensätzen zwischen den politischsozioökonomischen Systemen samt der korrespondierenden kulturellen Wertordnungen, die der gemeinsame Krieg nur notdürftig zugeschüttet hatte. So kam man in Potsdam über eine Bestätigung der Absprachen von Jalta, hinter die niemand zurückgehen konnte (und wohl auch nicht wollte), kaum hinaus. Die ,Großen Drei‘ bekräftigten die Verschiebung der polnischen Westgrenze an die Oder und (Görlitzer) Neiße und gaben der administrativen Integration der östlich davon gelegenen Gebiete ihr Plazet. Demgegenüber fiel der Vorbehalt einer völkerrechtlich verbindlichen endgültigen Festschreibung in einem noch auszuhandelnden Friedensvertrag praktisch nicht ins Gewicht – bekanntlich wurde ein solcher Vertrag nicht mehr geschlossen. Stalin sicherte sich damit nicht nur einen erheblichen territorialen Gewinn, sondern erhielt auch jenen weit nach Mitteleuropa vorgeschobenen und von ihm kontrollierten Pufferstaat, den er als Schutz vor einer Wiederholung des deutschen Überfalls mehrfach gefordert hatte. Faktisch verlief die neue Westgrenze seines Reichs auf polnischem Gebiet nicht viel anders, als im Grenzvertrag mit Deutschland Ende September 1939 festgelegt. Allerdings blieb ihm schon der nächste Wunsch versagt: Die Verhandlungspartner setzten zwar auch die in Jalta getroffene Verabredung um, Deutschland trotz der Aufteilung in drei (später unter Einbeziehung Frankreichs vier) Besatzungszonen als Gesamtstaat zu erhalten. Aber sie vertagten die Entscheidung über den eigentlichen Wunsch der Sowjetunion, der sich hinter der Zustimmung zur Einheit verbarg: Entschädigung für die fraglos auch materiell ungeheuren Verluste aus dem gesamtdeutschen Wirtschaftsraum – einschließlich des Ruhrgebiets – und nicht nur aus der eigenen Zone zu erhalten. Was danach begann, war bald als „Kalter Krieg“ in aller Munde. Die Konfrontation, so meinte diese überaus erfolgreiche Begriffsprägung, war ähnlich
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unversöhnlich wie der offene militärische Kampf, wurde aber primär mit ideologisch-politischen Mitteln und nur an der Peripherie, in der bald so genannten ,Dritten Welt‘, mit realen Waffen ausgetragen. Auch hier ist die Frage nach den Motiven und treibenden Akteuren zwar gewiss nicht müßig. Aber abgesehen davon, dass sich die Diskussion auf eine mittlere Linie ohne Schuldzuweisung zubewegt, berührt sie die Darstellung des Hauptgeschehens nur am Rande. In Übereinstimmung mit dem gesamten Rückgriff auf ideologische Positionen – für die innenpolitisch paradigmatisch die Ždanovščina stand – belebte Stalin Anfang Februar 1946 die Klassenkampfrhetorik neu und betonte auch wieder den internationalen Gegensatz zwischen ,Sozialismus‘ und ,Kapitalismus‘. Bereit, die verschärfte Tonlage aufzugreifen, antwortete Churchill am 5. März im amerikanischen Fulton/Missouri mit der berühmten Formulierung, dass ein „eiserner Vorhang“ mitten durch Europa, von Stettin bis zur Adria, gefallen sei, hinter dem die Sowjetunion herrsche und keinerlei westlichen Einfluss zulasse. Ein halbes Jahr später hatte sich die Irritation zum Konflikt verschärft. Auf deutschem Boden wiederholte der amerikanische Außenminister James F. Byrnes den Vorwurf nicht nur; er wies in seiner Stuttgarter Rede vom 6. September 1946 auch den weiteren politischen Weg, der fortan konsequent beschritten wurde: die westlichen Zonen zusammenzuschließen und in einen eigenen, separaten Staat zu überführen. Bis heute sind die seinerzeitigen außenpolitischen Ziele der Sowjetunion im Einzelnen unklar. Man darf aber davon ausgehen, dass zwei im Vordergrund standen : in Deutschland Zugang zu Reparationen auch außerhalb der eigenen Zone zu erlangen und in Europa aus den militärisch kontrollierten Gebieten einen dauerhaften Cordon politisch gefügiger Staaten zu schaffen. Die erste Absicht scheiterte weitgehend, die zweite war überwiegend erfolgreich. Eine entscheidende Weichenstellung vollzog sich dabei im Zusammenhang mit dem europäischen Wiederaufbauprogramm, das der amerikanische Außenminister George C. Marshall am 5. Juni 1947 ankündigte. Sicher befürchtete die sowjetische Regierung zu Recht, dass die Annahme der Finanzhilfe nicht nur die Beibehaltung der Marktwirtschaft nach sich ziehen würde, sondern auch westlichen politischen Einfluss. Beides lag nicht in ihrem Interesse. Als Molotov für alle ,befreundeten‘ Staaten absagte und auch die Tschechoslowakei zwang, ihre Zusage zurückzunehmen, war die Teilung Europas – ungeachtet der kommenden Ereignisse in der ČSR, in Jugoslawien und der offenen Auseinandersetzungen in Griechenland – faktisch besiegelt. Damit hatten sich auch die berüchtigten Prozentformeln der Einflussnahme erübrigt, die Churchill im Oktober 1944 mit Stalin in Moskau vereinbart hatte. Zwar bestimmte die Sowjetunion tatsächlich dort, wo ihr – wie in Rumänien und Bulgarien – die klare Hegemonie überlassen worden war („90:10“ bzw. „80: 20“). Aber von einer Restpräsenz des Westens konnte hier ebenso wenig die Rede sein wie in den Staaten, wo man sich anders arrangieren wollte (z. B. in Ungarn). Stattdessen nahm ein „Ostblock“ Gestalt an, der eine bekannte Äußerung Stalins aus den letzten Kriegstagen bestätigte : dass die Armeen diesmal auch ihre politischen Systeme und Weltanschauungen im Gepäck führten. Spätestens nach dem kommunistischen Staatsstreich in der ČSR vom Februar 1948 lag zutage,
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Ostblock
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I. Darstellung
dass die Sowjetunion überall dort herrschte und ihre politische, wirtschaftliche und soziale (teilweise sogar ihre kulturelle) Ordnung implantieren konnte, wo ihre Truppen standen. So bestimmte die Rote Armee auch, was in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands geschah, und konnte für den Abtransport aller zerlegbarer Industrieanlagen aus dieser Region sorgen. Darüber hinaus aber hatte Stalin keinen Zugriff. Als der wirtschaftliche Zusammenschluss der Westzonen durch die Währungsreform vom April 1948 abgeschlossen und die separate Staatsgründung nur noch eine Frage der Zeit war, unternahm er mit der Blockade der Zufahrtswege nach Berlin am 24. Juni 1948 einen letzten Versuch, diese Entwicklung aufzuhalten. Die legendäre „Luftbrücke“, fraglos eine logistische Meisterleistung, zwang ihn indes ein knappes Jahr später, am 12. Mai 1949, zum Einlenken. Wenngleich die Sowjetunion am 7. Oktober 1949 als Reaktion auf die Gründung der Bundesrepublik (am 23. Mai) die DDR aus der Taufe heben konnte (oder musste), hatte sie ihr primäres Nachkriegsziel in Deutschland verfehlt. Auch die bekannte Stalin-Note vom 10. März 1952 vermochte dieses Ergebnis nicht mehr zu ändern. Gleichviel ob die darin angebotene Wiedervereinigung in Freiheit und Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Neutralisierung des Gesamtstaats aufrichtig gemeint war oder nicht – inzwischen spricht alles dagegen –, der Vorschlag wurde abgelehnt und brachte die Sowjetunion keinen Schritt vorwärts. Ganz ähnlich wurden die Fronten auf der anderen Seite ihres riesigen Territoriums, in Korea, eingefroren. Fast zwei Jahre nach Ende der Kampfhandlungen, schon nach Stalins Tod, legte man die Demarkationslinie zwischen Nord und Süd auf den 38. Breitengrad fest und stellte damit den status quo ante wieder her. Auch hier änderten sich die Einflusszonen nicht mehr. Die Sowjetunion hatte im Gefolge ihres säkularen und teuer erkauften Sieges über Hitler-Deutschland viel erreicht. Sie war, seit 1949 ebenfalls im Besitz der Atombombe, mächtiger als je ein anderer Staat auf ihrem Boden. Aber sie stieß mit Beginn des Kalten Krieges auch an ihre Grenzen, die im Wesentlichen diejenigen ihrer Waffen waren.
5. Reform und Stalinismuskritik unter Chrušcev ˇ (1953–1964) Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion liegt deutlicher denn je zutage, dass Chruščev zwar die personale Diktatur stalinistischer Prägung und den Massenterror als eines ihrer zentralen Instrumente beseitigen half, aber die Grundstrukturen der überkommenen Ordnung weder veränderte noch verändern wollte. Damit kehrte er nicht nur – seiner erklärten Absicht gemäß – zu Lenin zurück, sondern bewahrte auch viele Stalin’sche Erbschaften. Wie das (schon 1918 errichtete) Parteimonopol standen weder die zentrale Planwirtschaft noch die Kollektivierung des Dorfes oder die umfassende Kontrolle der sozialen und kulturellen Organisationen – sie alle Folgen der Umwälzung von 1929 – zur Disposition. Es war Chruščevs Anliegen, die bürokratische Erstar-
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rung eines terroristisch entarteten Kommandosozialismus zu überwinden und die kollektive Führung des Landes durch die Partei wiederzuherstellen. Zugleich nutzte er die verbreitete Aufbruchsstimmung, um neues Engagement für die sozialistische Sache in der Masse zu fördern. Aber er wollte weder zu den ,halbherzigen‘ Kompromissen der zwanziger Jahre zurück, noch gar eine andere Herrschafts-, Sozial- oder Wirtschaftsordnung errichten. Chruščev blieb, was er seiner politischen Sozialisation nach war : ein Kind des ersten Fünfjahresplans zwischen dem ,späten‘ Lenin und dem ,frühen‘ Stalin. 5.1 Aufstieg und Fall des Ersten Sekretärs Chruščev gehörte zwar zur Handvoll jener engsten Helfer Stalins, die das Land in dessen letzten Lebensjahren faktisch regierten, aber nicht zu den ersten Anwärtern auf die Nachfolge. Vom Diktator 1949 aus der Ukraine zurückgeholt (wohin er ihn 1938 als Nachfolger des ermordeten dortigen Parteichefs beordert hatte), war ihm sicher eine wichtige Rolle im Kräftemessen der obersten Führung zugedacht, aber keine herausragende. Als mächtigster Mann galt bei Stalins Tod der Geheimdienstchef Berija, gefolgt von Malenkov, dem nach wie vor die Personalabteilung der KPdSU unterstand. Doch beide wurden im Laufe des nächsten, entscheidenden halben Jahres ausmanövriert. Fast möchte man sagen, dass der erneute Diadochenkampf dem Muster des ersten folgte : Die Favoriten schieden aus, und ein Überraschungssieger setzte sich durch. Dabei ergriff Chruščev die Initiative. Er nutzte die große Angst aller Spitzengenossen vor Berija, um ein Komplott zu schmieden. Als auch Malenkov und hohe Generäle, darunter der Weltkriegsheld Žukov, gewonnen waren, hatte Stalins einstiger Henker keine Chance mehr: Am 26. Juni 1953 wurde er während einer Sitzung des Parteipräsidiums (das 1952–1966 an die Stelle des Politbüros trat) festgesetzt und nach einem Geheimprozess im Dezember desselben Jahres zusammen mit sechs seiner engsten Vertrauten hingerichtet. Malenkov stand bei dieser Aktion zwar auf der siegreichen Seite, beging aber einen anderen Fehler. Er optierte bei der Neuverteilung der Ämter noch im März 1953 für das Amt eines Ministerpräsidenten unter Verzicht auf einen Sitz im Sekretariat des ZK. Vermutlich gab es dafür um diese Zeit gute Gründe, da das Präsidum des Ministerrats, nicht das der Partei zur Schaltstelle der ,operativen‘ Führung des Landes geworden war. Allerdings zeigte sich recht schnell, dass dieser Zustand vielleicht der personellen, nicht aber der ,strukturellen‘ Machtverteilung entsprach. Wo es nur eine Partei gab, die alle Schlüsselstellungen besetzte, herrschte sie auch über den Staat. Malenkov wurde abgedrängt und musste im Februar 1955 auch den Ministerrat verlassen. Endgültig blieb der Mann übrig, der faktisch bereits seit seiner Wahl zum Ersten Sekretär der KPdSU am 13. September 1953 den Ton angab: Chruščev. Dieser Aufstieg verband sich aufs engste und zu allererst mit einem Wirtschaftsprogramm, das die entscheidenden Stimmen für sich zu gewinnen verstand. Stalins Tod hatte die lähmende Stille auch darin gelöst, dass erneut über ökonomische Prioritäten diskutiert werden konnte. Der Wunsch wurde wieder
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laut, die kaum verminderten Versorgungsmängel mit verstärkten Anstrengungen zu beheben. Zum Sprecher der dazu nötigen Verlagerung der Investitionen auf den Konsumgütersektor machte sich Malenkov. Auch Chruščev erkannte die Popularität einer solchen Politik. Aber er sah auch die Widerstände von Seiten der Armee und Gleichgesinnter, die der Schwerindustrie und Rüstung Priorität einräumten. Mit dem Neulandprogramm unterbreitete er einen Vorschlag, der beide Anliegen miteinander zu versöhnen schien. Aus dem Entweder-Oder wurde ein Sowohl-Als-Auch. Die ungenutzte Steppe jenseits der südlichen Wolga bis nach Kazachstan unter den Pflug zu nehmen, versprach viel Getreide bei wenig Investitionen an Maschinen und Dünger. Insofern konnte das ZK der Meinung sein, beinahe eine Quadratur des Kreises erreicht zu haben, als es am 2. März 1954 den entsprechenden Beschluss fasste. Dagegen brachte Chruščev den Prozess, mit dem sich sein Name in der historischen Erinnerung am ehesten verbindet – die erste Entstalinisierung – erst nach seiner Inthronisierung auf den Weg. Zwar hatte es schon unmittelbar nach dem Tod des Diktators eine Amnestie gegeben, der im nächsten Jahr eine weitere folgte. Parallel dazu lösten sich die Arbeitslager, zum Teil allerdings erst nach blutig niedergeschlagenen Aufständen, mehr und mehr auf. Gerade aus den Reihen der Partei wurden die Rufe nach Aufklärung des Schicksals prominenter Verschollener immer lauter. Chruščev konnte und wollte sich dem nicht entziehen. Die Lektüre von Dokumenten aus Berijas Panzerschrank scheint ihn in dieser Absicht entscheidend bestärkt zu haben. In jedem Fall richtete er danach eine Kommission ein, die einen entsprechenden Bericht vorbereitete. Heftig umstritten blieb allerdings, ob man ihn veröffentlichen sollte oder nicht. Gegen den Widerstand der ,alten Garde‘ stellte sich das Parteipräsidium wenige Tage vor dem Beginn des nächsten, 20. Parteitags (14.–25. Februar 1956) hinter den Ersten Sekretär. Damit war der Weg frei für jene ,Geheimrede‘ nach dem offiziellen Programm, die Stalin heftig anklagte, sofort in den Westen lanciert und im Übrigen auch an die Parteiorganisationen der Provinz versandt wurde und hier wie dort eine Sensation verursachte. Sie war ein Musterbeispiel für die ,Flucht nach vorn‘ in der Absicht, den Sowjetsozialismus von den Schandflecken der unmittelbaren Vergangenheit reinzuwaschen, um neue Begeisterung für seine ,wahren‘ Ziele zu wecken. Allerdings war der parteiinterne Konflikt damit noch nicht beendet. Als Chruščev im Dezember desselben Jahres auch die nächste, einschneidende und umstrittene Reform, die Dezentralisierung der Wirtschaftsplanung, auf den Weg brachte, schien die Zeit zum Handeln gekommen zu sein. Den Kern der Frondeure bildeten erneut alte Stalingefährten, angeführt von Molotov, Vorošilov und Kaganovič, die ihre Vergangenheit nicht verdammt sehen wollten. Als es ihnen gelungen war, auch den Ministerpräsidenten Bulganin auf ihre Seite zu ziehen, setzten sie am 18. Juni 1957 im Parteipräsidium den Beschluss durch, den Ersten Sekretär abzulösen und das Sekretariat zu erneuern. Chruščevs Anhänger gaben sich jedoch nicht geschlagen. Sie erreichten eine Vertagung der Sitzung, nutzten die gewonnene Zeit, um mit logistischer Hilfe des Verteidigungsministers Žukov loyale ZK-Mitglieder aus dem ganzen Land nach Moskau zu bringen, und erzwangen eine Plenarsitzung, die den Vorschlag des Präsidiums ablehnte. Es
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folgte, was angesichts fehlender Regularien für einen institutionalisierten Machttransfer folgen musste: der Ausschluss der nun so genannten „Antiparteilichen Gruppe“ aus dem Präsidium und dem ZK. Die nächsten Jahre bis zum 22. Parteitag der KPdSU im Herbst 1961 sahen Chruščev im Zenit seiner Macht. Dies kam auch äußerlich zum Ausdruck, als er nach der Ablösung Bulganins Ende März 1958 zusätzlich den Vorsitz im Ministerrat übernahm. Partei- und Staatsführung waren damit in Friedenszeiten zum ersten Mal seit Lenin (vom Mai-Juni 1941 abgesehen) wieder in einer Hand vereint. Dennoch muss offen bleiben, ob die Wirklichkeit einer solchen Kompetenzfülle entsprach. Im Rückblick spricht vieles für die Annahme, dass manche Skepsis und Opposition gegen die nur verdeckt wurden. Nach außen hin aber wurden keine Risse sichtbar. Vorerst unterstützte die Partei, die unter Chruščev zweifellos zu neuen Ehren kam, ihren Vormann. Das galt nicht zuletzt für die weitere ideologische ,Entstalinisierung‘, die auf dem 22. Parteitag Ende Oktober 1961 ihren Höhepunkt erreichte. Zum Symbol dafür avancierte der (sicher nicht) ,spontane‘ Beschluss, die Mumie Stalins von ihrem Ehrenplatz im Mausoleum neben Lenin zu entfernen und – an immer noch prominenter Stelle – unweit davon an der Kremlmauer ,gewöhnlich‘ zu beerdigen. Zugleich verabschiedete derselbe Parteitag ein neues Parteiprogramm, das (nach der ,richtigen‘ revolutionären Strategie als Kerninhalt des ersten Programms von 1903 und den Prinzipien des sozialistischen Aufbaus im zweiten von 1919) nun den Weg zu den Segnungen des Kommunismus weisen sollte. Wie bekannt, wurden die vollmundigen Ankündigungen, den Kapitalismus binnen einer Generation an Lebensqualität übertreffen zu wollen, auch in der Sowjetunion bald zum Gespött. Doch danach begann der Abstieg der ersten Mannes. Die Erträge des Neulands blieben hinter den Erwartungen zurück. 1963 zog eine Dürre weitere erhebliche Ernteeinbußen nach sich. Diese wurden aber erst dadurch zur Katastrophe, dass auch Chruščevs Lieblingspflanze, der Futtermais (den er 1959 beim Staatsbesuch in den Vereinigten Staaten kennengelernt hatte), ihren Dienst versagte. Im trockenen Klima Südrusslands reiften die Kolben nicht, denen unersetzbare Getreideflächen hatten weichen müssen. Erstmals in seiner Geschichte musste das Sowjetreich Getreide beim internationalen ,Hauptfeind‘ zukaufen. Außerdem hatte es sich im Oktober des Vorjahres in der gefährlichsten Konfrontation der Atommächte seit dem Koreakrieg auch außenpolitisch demütigen lassen müssen, als seine raketenbeladenen ,Frachtschiffe‘ an der Blockadekette amerikanischer Kriegsschiffe vor Kuba abdrehten. Im selben unglücklichen Jahr kam der Parteivorsitzende ferner auf die fatale Idee, die Partei in zwei separate Stränge von Industrie- und Agrarorganisationen aufzuspalten, mit der Folge heilloser Kompetenzverwirrung. Als Chruščev dann auch noch Anstalten machte, die Konsumgüter zu Lasten der Investitionsgüter zu fördern, hielt die Parteiführung die Grenze des Zumutbaren für überschritten. Deshalb konnten sich Leonid I. Brežnev und Nikolaj V. Podgornyj, die den Coup offenbar von langer Hand (etwa seit Mitte 1963) vorbereiteten [255: Nikita Chruščev 1964, S. 8], auf die große Mehrheit der Präsidiumsmitglieder stützen. Obwohl die meisten von ihnen dem Partei- und Staatschef verpflichtet waren,
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obwohl er sie – besonders Brežnev, den er zum Vorsitzenden des Obersten Sowjets gemacht hatte – gefördert und ihnen zu wichtigen Ämtern verholfen hatte, erhob sich keine Hand für ihn. So fiel es den Drahtziehern leicht zu verhindern, dass sich eine unerwartete Wende wie 1957 wiederholte. Am 13. Oktober 1964 wurde Chruščev aus seinem Urlaubsort auf der Krim nach Moskau beordert, wo ihm das Parteipräsidium den Absetzungsbeschluss eröffnete. Am folgenden Tag trat ein handverlesenes ZK-Plenum zusammen, um die Entscheidung zu bestätigen. Immer noch verbarg man die eigentlichen Vorgänge hinter fadenscheinigen Presseverlautbarungen über Gesundheitsprobleme des soeben noch überaus Fidelen. Dennoch verlief der Putsch anders als alle vergleichbaren Machtwechsel der Sowjetgeschichte bis zu diesem Zeitpunkt. Zum ersten (und letzten) Mal wurde ein Parteiführer zu seinen Lebzeiten aus dem Amt entfernt, erstmals fällte das satzungsgemäß zuständige Gremium diese Entscheidung, und vor allem rollten erstmals keine Köpfe. Wäre er nicht selbst betroffen gewesen, Chruščev hätte mit diesem Resultat seiner ,Zivilisierung‘ des Sowjetsystems zufrieden sein können. 5.2 Wirtschaftsreformen Landwirtschaft
Die Behauptung ist kaum übertrieben, dass die Landwirtschaft bis zum Ende das Menetekel der Sowjetunion blieb. In den zwanziger Jahren fand man letztlich kein Mittel, sie ohne Kollision mit den selbst gesetzten Klassengesichtspunkten zu steuern. Nach der Zwangskollektivierung reichten ihre Erträge nicht aus, um sowohl die Industrialisierung als auch ein angemessenes Lebensniveau zu garantieren. Nach dem Krieg kam sie nur schleppend in Gang, weil die Priorität unter dem zusätzlichen Druck der Konfrontation mit dem Westen erneut der Schwerindustrie galt. Chruščev erbte dieses (weit in die russische Geschichte zurückreichende) Urübel und setzte sich auch deshalb durch, weil er seit seinen ukrainischen Jahren als Landwirtschaftsspezialist galt und ein attraktives Programm vorlegte. An den Daten gemessen deutet alles darauf hin, dass die Neulandkampagne im Ganzen erfolgreich war. Von 1953 bis 1964 wuchs die gesamte Aussaatfläche in der Sowjetunion von 157,2 Mio. ha auf 212,8 Mio., überwiegend durch Erschließungen im westlichen Südsibirien und in Kazachstan. Auch wenn nicht alle Gebiete nutzbar waren, konnte der Staat mit den Ernten des ersten Jahrfünfts (1954–58) zufrieden sein. Dank der Gunst des Wetters fuhr man 1958 sogar einen Ertrag von 11,1 Zentner pro Hektar ein, ansonsten erfreuliche 9,1 Zentner. Auch danach wurden weiterhin gute Ergebnisse erzielt, im Durchschnitt des Jahrfünfts 1959–63 10,2 Z./ha. Zugleich stagnierte aber der Bruttoertrag aus den Neulandgebieten, der zunächst kräftig gestiegen war, und ihr Anteil an der Gesamtproduktion nahm deutlich ab. Darin trat zutage, was Sachkenner von Anfang an prophezeit hatten: dass man angesichts der klimatischen Bedingungen der Steppe ohne massive Investitionen nur eine kurze Zeit lang mit guten Ernten rechnen könne. Chruščev hatte das Pech, dass der Raubbau, den man faktisch trieb, nach der Dekadenwende immer deutlicher wurde, während die Anforde-
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rungen aufgrund der anhaltenden Industrialisierung und des Vergleichs mit der näherrückenden kapitalistischen Welt eher stiegen als sanken. Beides brachte ihn um die Früchte eines objektiven Erfolgs[1233: MC, Khrushchev, 87f]. Dagegen erwies sich die zweite programmatische Wirtschaftsreform Chruščevs in jeder Hinsicht als Fehlschlag. Zu den Lehren der Vergangenheit gehörte für den neuen Ersten Sekretär, dass allzu viel Zentralismus Eigeninitiative ersticke. Schon 1955 hatte er die Gosplan-Behörde daher aufgeteilt und einem Teil die langfristige („perspektivische“) Planung aufgetragen, dem anderen die Vorausberechnungen für die üblich gewordenen Fünfjahreszeiträume. Dem folgte im Februar 1957 die eigentliche Reform in Gestalt der Einrichtung regionaler Volkswirtschaftsräte mit der Aufgabe, die kurz- und mittelfristige Lenkung der Industrie zu übernehmen. Dezentralisierung sollte an die Stelle zentraler Kommandowirtschaft treten, örtliche Sachkenntnis die Gängelung ersetzen, zu der die Anweisungen aus Moskau oft genug entarteten. Allerdings brachte diese Kur keine Abhilfe. Was Skeptiker befürchtet hatten, trat ein : Die regionalen Wirtschaftspolitiker hatten im Wesentlichen das Wohl ihrer Regionen, nicht aber die Interessen des Gesamtstaates im Blick. Die Mängel der alten Ordnung kehrten sich gleichsam um: Wurde zuvor manche Fabrik gebaut, die auf die gesamten Bedürfnisse berechnet war und nur von ihnen getragen werden konnte, so dachten lokale Funktionäre in der Regel nicht über ihren Horizont hinaus. Schon im Sommer 1958 wurden Korrekturen nötig. Da auch die Kompetenzverteilung unklar blieb, hatte die Reform wenig Aussicht auf Erfolg. Dieser Wirrwarr verband sich – zum Teil durchaus ursächlich – mit dem ungewöhnlichen Scheitern des sechsten Fünfjahresplans (1956–60). Vom 20. Parteitag mit besonderen Vorschusslorbeeren als Signum der neuen Ära verabschiedet, musste sein völliger Misserfolg besonders schmerzen. Das Debakel war so offensichtlich, dass die Parteiführung das Zahlenwerk schon im September 1957 – ein beispielloser Vorgang – für Makulatur erklärte. An seine Stelle trat 1959, von einem Sonderparteitag verabschiedet, der erste und einzige sowjetische Siebenjahresplan (1959–1965), dessen Ende Chruščev aber nicht mehr im Amt erlebte. Sein größerer Erfolg hing auch mit der Rückkehr zur alten Entscheidungs- und Befehlshierarchie zusammen. Seit der Dekadenwende wurden die regionalen Volkswirtschaftsräte wieder abgeschafft und Staatskomitees eingerichtet. Die Dezentralisierung wich der Rezentralisierung, mit der auch die alten Probleme zurückkehrten.
Dezentralisierung
5.3 Wechselhaftes „Tauwetter“ Das Urteil ist einmütiger denn je, dass die Entstalinisierung ein Phänomen der Ideologie und Kultur blieb. Chruščev war Stalinist genug, um die alten Strukturen unverändert zu lassen. Was er für nötig hielt und wovon er sich Heilung vom Übel der Apathie versprach, war vor allem ein neuer Geist. Enthusiasmus und individuelles Engagement aber setzten eine gewisse Denkfreiheit voraus. Schablonen sollten weichen und Spielräume für eigene Gedanken geschaffen
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werden, allerdings auf dem festen Boden eines Sozialismus, dessen Verständnis die Partei nach wie vor verbindlich vorgab. In der Erkenntnis dieses Zusammenhangs zwischen geistiger Freiheit und Initiative nahm Chruščev Einsichten seines letzten Nachfolgers Gorbačev vorweg. Zugleich blieb er in deutlich größerer Furcht vor radikaler Innovation hinter ihm zurück: Allzu eng war er mit Stalin und seiner Ordnung verbunden gewesen, allzu gering auch war – jedenfalls im Vergleich – der Problemdruck, dem er sich gegenüber sah. So gab es zweifellos das „Tauwetter“, das den geistigen Aufbruch unter Chruščev (mit dem Titel einer Erzählung Ilja Ehrenburgs von 1954) auf eine einprägsame Formel brachte. Aber es war wechselhaft und führte – ganz und gar ,unorganisch‘ – zu keinem dauerhaften Frühling. Vielmehr hielten größere Toleranz und Gängelung einander zumindest die Waage, wenn Letztere nicht sogar überwog. Schon nach der ersten Freude über das Ende des langen Stalin’schen Winters trat eine gewisse Beruhigung ein. Zum zweiten sowjetischen Schriftstellerkongress versammelten sich 1954 viel zu viele Zöglinge der alten Ordnung, als dass er mehr hätte tun wollen, als einige Rehabilitierungen vorzunehmen und neue Zeitschriften zu gründen. Zu wirklicher Kritik wurde erstmals im Umkreis des 20. Parteitages eingeladen. Kein Geringerer als der Lehrmeister des ,sozialistischen Realismus‘ (nach Maxim Gorki), Michail A. Šolochov, beklagte auf dieser Veranstaltung die vielen ,toten Seelen‘ unter den knapp 3800 Verbandsmitgliedern und rief dazu auf, die „Wahrheit“ zu sagen, auch wenn sie „bitter“ schmecke. Dies taten Vladimir M. Dudincev in einem aufsehenerregenden Roman („Nicht nur von Brot allein“) oder Daniil A. Granin in einer ebenfalls viel gelesenen Erzählung („Die eigene Meinung“), die beide in jener Zeitschrift erschienen, die bis zur glasnost’ als das Sprachrohr der literarischen Opposition gegen die galt: im Novyj mir („Neue Welt“). Noch im Jahr des Parteitages, in das auch die Aufstände von Budapest und Warschau fielen, begann sich jedoch der Wind zu drehen. Eine Affäre kündigte sich an, die im In- und Ausland als Rückfall in stalinistische Maulkorbpolitik gewertet wurde, aber vielleicht nur hervorhob, wie eng die Grenzen der ,Gedankenfreiheit‘ weiterhin blieben. Im November 1957 erschien Boris Pasternaks Dr. Živago. Nicht nur der Inhalt dieses Jahrhundertwerks lief auf eine Fundamentalkritik am Sowjetsystem hinaus; auch die Drucklegung in einem Mailänder Verlag ließ sich nur als Protest gegen die einheimische Zensur verstehen. Als der Verfasser im folgenden Jahr auch noch den Nobelpreis für Literatur erhielt, begann in den öffiziösen Medien eine Schmutzkampagne, wie man sie nach dem 20. Parteitag nicht mehr für möglich hielt. Vom „räudigen Schaf “ bis zum „Schwein“ wurde kaum eine Beleidigung ausgelassen. Erst der Tod des betagten Verfassers und die Demonstration bei seinem Begräbnis am 2. Juni 1960, die zu einer Art von öffentlichem Gründungsakt des politischen Dissenses in der Sowjetunion wurde, setzten ihr ein Ende. Vor diesem Hintergrund sollte man auch die hohe Zeit der Veröffentlichungsfreiheit zwischen dem 22. Parteitag im Oktober 1961 und dem Frühjahr 1963 nicht überschätzen. Vieles spricht dafür, dass sie vor allem dem politischen Kalkül des Parteivorsitzenden zu verdanken war. Er wollte den Personenkult und den Terror gegen die eigene Partei erneut und verstärkt an den Pranger stellen.
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Stalin sollte auch symbolisch endgültig aus dem Mausoleum des Sozialismus verbannt werden. Dazu kam ihm die eindrucksvolle Schilderung des Alltagslebens im Zwangsarbeitslager, wie sie sich in Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch fand, gerade recht. Das schließt nicht aus, dass Chruščev von der Lektüre – er las die Erzählung selber – nicht aufrichtig betroffen gewesen wäre. Dennoch verdient der Umstand gleiche Beachtung, dass weitere Werke der ,Lagerprosa‘ wie die Kolyma-Erzählungen von Varlam T. Šalamov oder Solschenizyns nächster Roman Krebsstation nicht mehr erscheinen durften. Ebenso wie viele andere kritische Werke sprengten sie offenbar den Rahmen der systemzulässigen Enthüllungen. Für eine solche ,politisch-instrumentelle‘ Interpretation spricht auch der Umstand, dass Chruščev für ästhetische Experimente und formale Freiheit keinerlei Verständnis hatte. Bekannt sind seine drastischen Kommentare bei der Besichtigung von Bildern Moskauer Künstler Anfang Dezember 1963. Von „Gekleckse“ und „schiefsitzenden Gehirnkästen“ war da in einer Ausdrucksweise die Rede, die nur allzu deutlich den ,Kunstgeschmack‘ des sozialistischen Realismus stalinistischer Prägung verriet. So bleibt als Fazit, dass es unter Chruščev sicher ein höheres Maß an öffentlicher Meinungsfreiheit gab als zuvor und danach. Zugleich sollte der Kontrast aber nicht dazu verleiten, die Grenzen zu übersehen. Auch wenn diese erste Entstalinisierung im Rückblick als Vorschein auf die glasnost’ gelten kann – sie gehörte in höherem Maße zur alten Ordnung als Gorbačevs Perestrojka. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass sie zugleich zum Beginn einer Dissidentenbewegung wurde, die auch ohne die neue kulturelle Eiszeit unter Brežnev gute Chance gehabt hätte, mit Partei und Staat in Konflikt zu geraten.
Lagerprosa
6. Zwischen Stabilisierung und Stagnation: die Ära Brežnevs (1964–1982) Am Anfang der neuen Epoche stand ein Putsch, am Ende der Beginn einer Transformation, deren Notwendigkeit ebenso unumstritten wie ihr Ergebnis offen war. In der Ära Brežnevs hatte der Sowjetsozialismus seine eigentliche Probe im Systemvergleich mit dem ,kapitalistischen Westen‘ zu bestehen. Der Wiederaufbau war beendet, die harte Konfrontation der Blöcke am Rande des Krieges ebenfalls. Beide Lager traten in eine Phase relativ ungetrübter ökonomischer Entwicklungsmöglichkeiten bei zunehmender internationaler Verflechtung ein. Die Außenpolitik stand im Zeichen der Entspannung, die Innenpolitik in dem weitgehender Normalität. Die Sowjetordnung hatte sich gegen die existenzielle Bedrohung des Krieges behauptet. Mit welchen Konzessionen und um welchen Preis auch immer – sie hatte ihre Fähigkeit bewiesen, unter außerordentlichen Bedingungen ungewöhnliche Kräfte zu mobilisieren. Chruščevs historische Rolle hatte im Wesentlichen darin bestanden, den Stalinismus zu überwinden und nach neuen Wegen zu suchen. Nach seinem Scheitern sahen sich die Erben vor der Aufgabe, eben diese Suche in veränderter Form fortzusetzen. Dabei galt es im Kern, die Leistungsfähigkeit der Gesamtordnung – vor allem die ökonomische
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– so weit zu stärken, dass nicht nur die wachsenden Bedürfnisse einer neuen, zunehmend mit westlichen Verhältnissen vertrauten Generation, sondern auch jene Anforderungen befriedigt werden konnten, die sich aus der selbstgewählten Weltmacht- und Führungsrolle der Sowjetunion im ,Ostblock‘ ergaben. 6.1 Die ,Herrschaft der Sekretäre‘
Doppelspitze
Stärkung der Nomenklatura
Vom Sturz Chruščevs profitierten nach außen hin zunächst zwei jüngere Funktionäre : Leonid I. Brežnev als Erster (seit 1966 wieder General-) Sekretär und Aleksej N. Kosygin als Vorsitzender des Ministerrates (Ministerpräsident). Die Installierung einer Doppelspitze war Programm: Sie signalisierte die feste Absicht, dauerhaft mit jener Alleinherrschaft zu brechen, die Chruščev, wenn auch auf seine Weise, wiederhergestellt hatte. Allerdings sollte sie nicht als Gleichberechtigung von Partei und Staat gedeutet werden. Von Anfang an bestand kein Zweifel daran, dass der oberste Kommunist das Sagen hatte. Zugleich war sein Kompagnon nicht zufällig Repräsentant der Wirtschaftsbürokratie. Von Haus aus Textilingenieur, verkörperte er gleichsam die entscheidende Ressource der Staatsmacht einschließlich ihrer Umsetzung durch die Administration. Insofern brachte der Umsturz mindestens zwei Formveränderungen des Gesamtsystems zum Ausdruck : zum einen die Rückkehr zur ,Kollektivführung‘ der Partei (im oligarchischen Sinn), zum anderen das Gewicht der ökonomischen Apparate. Wie sich herausstellte, konvergierten diese beiden symptomatischen Aspekte des Putsches durchaus in einer Wirkung: Sie stärkten das Gewicht der Nomenklatura. In welchem Maße dies der Fall war, wird man allerdings offen formulieren müssen – hängt die Antwort doch von der vorgängigen Entscheidung über die Interpretation des ,real existierenden Sozialismus‘ ab (vgl. u. Teil II). Wer die Notwendigkeit des Ausgleichs zwischen den Interessen mächtiger Apparate und Akteure stärker betont – ohne zwangsläufig das Entscheidungsmonopol der Spitze in Frage zu stellen –, wird der administrativen Oberschicht einen Einfluss beimessen, der an Partizipation heranreicht. Wer die souveräne Entscheidungsgewalt, sei es des Generalsekretärs oder – zu Beginn der BrežnevÄra – eines sehr engen Führungszirkels, in den Vordergrund stellt, wird weniger von Mitwirkung als von Nutznießung sprechen. Wie auch immer, unbestreitbar ist, dass die Funktionärselite an Bedeutung gewann. Dabei kam der Partei zweifellos der Primat zu. Aber auch die anderen großen Organisationen, allen voran die Armee, die Rüstungs- und Schwerindustrie sowie der KGB, vermochten ihre Interessen wirksamer in die Waagschale zu werfen. Als Beleg für diese Umformung der Herrschaftsordnung gilt zumeist die Zuwahl des damaligen Verteidigungsministers, Marschall Andrej A. Grečko, und des Chefs des KGB Jurij V. Andropov ins Politbüro 1973. Wenn man Kosygin und andere Staatsvertreter als Sachwalter industrieller Belange betrachtet, waren damit in der Tat die bedeutendsten Organisationen und Gruppierungen des Gesamtstaates im höchsten Führungsgremium vertreten. Aber noch in anderer Hinsicht spricht vieles dafür, diese Kooptation als markantes Ereignis zu werten. Sie bietet sich als Auftakt der zweiten Hälfte der
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6. Zwischen Stabilisierung und Stagnation : die Ära Brežnevs (1964–1982)
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langen Regentschaft Brežnevs an und damit als Wendepunkt zwischen Reform und Erstarrung. Man sollte nicht vergessen, dass die Ära anders begann, als sie endete. Brežnev und Kosygin waren auch darin Zöglinge Chruščevs, dass sie seine Unzufriedenheit mit den ökonomischen Mängeln der überkommenen Ordnung teilten. Allerdings wollten sie diese sozusagen geräuschlos ohne Beteiligung der Gesellschaft als Korrektur von oben und, entschiedener als ihr Mentor, im Rahmen der gegebenen Grundstrukturen beheben. So waren die Kosygin’schen Vorschläge zur Vereinfachung der Produktionsvorgaben und zur Preisreform vom September 1965 zu verstehen, die eigentlich noch hätten weitergehen und materielle Belohnungen für gute Arbeit einschließen sollen. Und so waren verschiedene Sonderprogramme für die Landwirtschaft und ihre Zulieferindustrie zu deuten, die sich Brežnev auf dieFahne schrieb. Indes verloren solche Initiativen schnell an Elan. Das zentrale Planungssystem blieb im Wesentlichen unverändert; zumindest behoben die minimalen Korrekturen keine seiner evidenten Schwächen. Die Agrarinitiativen kamen ebenfalls nicht vom Fleck, weil sie von gegenläufigen Investitionsansprüchen konterkariert wurden. So summierten sich in der zweiten Hälfte der Brežnev-Ära mehrere Faktoren zu einem Ergebnis : einer wachsenden Unlust, den status quo zu verändern. Im Rückblick, aus der gewiss nicht unparteiischen Sicht der Perestrojka betrachtet, drückten sie ungerechterweise sogar der gesamten Periode den Stempel auf, eine „Zeit des Stillstands“ gewesen zu sein. Freilich gab es noch mindestens einen weiteren Grund für diese Kennzeichnung. Er kann zugleich beanspruchen, eine zentrale analytische Kategorie zur Erklärung nicht nur der Brežnev-Ära , sondern auch des nachfolgenden Umbruchs bis zum Kollaps der Sowjetunion bereitzustellen : das zunehmende Alter der Führungsriege und ihre generationsspezifische Sozialisation. In der Tat war die Vergreisung nicht nur tagtäglich sichtbar, sondern ließ sich auch empirisch belegen. So wie das Dreigestirn Brežnev, Kosygin und der ZK-Sekretär für Ideologiefragen Michajl A. Suslov vom Sturz Chruščevs an bis zu ihrem jeweiligen Tod (1980–82) Mitglieder des Politbüros blieben, so galt dies auch für fast alle anderen, weniger prominenten Funktionäre. Dementsprechend stieg das Durchschnittsalter der Politbüromitglieder zwischen 1965 und 1985 von 56 auf 67 Jahre. Dies war umso eher der Fall, als die Kooptation nicht nur faktisch auf Lebenszeit galt, sondern die Neuzugänge auch immer älter wurden. Der dienstälteste Außenminister vermutlich des ganzen Jahrhunderts, Andrej Gromyko, war 64 und ein weniger bekannter Parteiführer schon 76 Jahre alt, als sie in den Partei-Olymp aufgenommen wurden. Ein Vergleich mit früheren Zuständen macht das Ausmaß des Wandels deutlich, der damit eingetreten war: 1920 betrug das Durchschnittsalter des Politbüros 39, 1939 gut fünfzig Jahre. Diese Entwicklung erhielt dadurch weiteren Schub, dass die Wahlen großenteils zur Akklamation verblassten. Entsprechende Berechnungen zeigen, dass die ZK-Mitglieder – 1952 noch 125, 1981 schon 319 – in der Brežnev-Ära (seit dem 23. Parteitag 1966 im Fünfjahresrhythmus bis 1981) zu gut 70 % wiedergewählt wurden. Tiefere Einschnitte mit einem Neulingsanteil von über der Hälfte gab es nur 1939, 1952 und 1961. Mithin bewirkten nur der Stalin’sche Terror, die Dezimierung durch den Krieg samt der fortgesetzten Gewalt danach und die
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Veränderungen unterhalb der Führungsebene
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eigentliche, personelle Entstalinisierung auf dem 22. Parteitag einen signifikanten Wechsel in der Führung der KPdSU. Der Putsch von 1964 dagegen tangierte das ZK kaum: Die Nomenklatura konnte sich in Sicherheit wiegen, weil sie in den Personen von Brežnev und Kosygin selber an die Macht kam. Bis zum Ende der Brežnev-Ära bestimmte eine Generation die Geschicke der Sowjetunion, die vor dem Ersten Weltkrieg geboren und unter Stalin in den dreißiger Jahren politisch groß geworden war. Gerontokratie, Stagnation und Konservierung des ,Sozialismus‘ in der Gestalt, die ihm die Stalin’sche ,Revolution von oben‘ gegeben hatte, waren unauflösbar miteinander verbunden. Dem entsprach allerdings, als Kehrseite derselben Medaille, dass sich unterhalb der höchsten Führungsebene durchaus erhebliche Veränderungen vollzogen. Weniger deutlich, aber für aufmerksame Beobachter erkennbar, wuchs in den Regionen eine neue Generation von Parteisekretären heran, deren prägende Erfahrungen in die Nachkriegszeit fielen. Die sowjetischen ,Präfekten‘ (J. H) der siebziger Jahre waren zumindest in Gestalt einiger markanter Persönlichkeiten anders als die ,Patriarchen‘: pragmatisch und weniger ideologisch denkend, nicht in völliger Abschottung aufgewachsen und mit anderen Staaten (und sei es nur des Ostblocks) vertraut, effizienzorientiert und deshalb reformbereit, wenn auch nicht um jeden Preis. Je länger die ,alte Garde‘ herrschte, desto mehr Parteimitglieder, die in ihren frühen Erwachsenenjahren Chruščev zugejubelt hatten, brachten es in den Regionen zu Einfluss und Macht. Die Hierarchie in Partei und Staat war zugleich eine Alterspyramide, die Kluft zwischen der höchsten Etage und den nächstfolgenden auch eine der Generationen. Dies bedeutete angesichts der autoritären Strukturen und der faktischen Unmöglichkeit der Abwahl einerseits, dass die Sklerose des Systems vorprogrammiert war und man mit Veränderungen bis zum Tode seiner Führer abwarten musste. Andererseits ergab sich daraus aber auch, dass nach Brežnev mit erheblicher Wahrscheinlichkeit einer der ,Präfekten‘ ins mächtigste Amt aufrücken würde – eventuell sogar ein Gorbačev. 6.2 Stillstand der Wirtschaft Bei aller Skepsis gegen einseitige Erklärungsversuche vermag die These am ehesten zu überzeugen, dass die chronischen Defizite der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit maßgeblich zur negativen Gesamtbilanz der Brežnev-Ära beigetragen haben. Was ökonomisch durchaus hoffnungsvoll begann und Anfang der siebziger Jahre in Gestalt des wohl reichhaltigsten Konsumgüterangebots der Nachkriegszeit einen greifbaren, von der Bevölkerung dankbar registrierten Höhepunkt erreichte, mündete in einen Beinahe-Stillstand: Gegen Ende des 10. Fünfjahresplans (1976–1980) näherte sich das volkswirtschaftliche Gesamtwachstum – mit einem Wachstum des Nationaleinkommens von 1,0 % bzw. 1,9 % laut einer anderen Schätzung [vgl. H, in: 1265: B, S, Brezhnev reconsidered, 40] dem Nullpunkt. Auch Mitglieder des engsten Führungskreises mussten dies, wie Gorbačev sich erinnert, zur Kenntnis nehmen. Mehrere Erklärungen bieten sich an : Zum einen wirkte es sich nach-
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teilig aus, dass die Kosygin’schen Reformen verpufften; die wenigen wirklich durchgeführten Maßnahmen brachten nur temporäre Besserung. Zum anderen machten sich vor allem in den siebziger Jahren Entwicklungen bemerkbar, die den Lebensnerv der im Kern unveränderten zentralen Planwirtschaft trafen. Westliche Ökonomen, die das wirtschaftliche Geschehen in der Sowjetunion genau beobachteten, orteten das geringste Wachstum in der Beschäftigtenzahl (pro Jahr nur noch 1,4 % 1979–1982), der Arbeitsproduktivität (2,3 %) und der Höhe der Bruttoanlageinvestitionen (2,2 %). Darin trat deutlich zutage, wo die kardinalen Schwächen des Systems lagen: bei den entscheidenden Faktoren Kapital und Arbeit. Dass Geld knapp war, hatte in der Geschichte der russischen Wirtschaft und der Industrialisierung gewiss Tradition. Im Rückblick drängt sich die Vermutung auf, dass die frühe Sowjetunion dieses Problem nur deshalb vorübergehend in den Griff bekam, weil sie dank der zentralen Planwirtschaft Ressourcen bündeln und auf ganz bestimmte Ziele konzentrieren konnte. Deshalb gelang der Sprung ins Industriezeitalter sektoral, blieb aber auf die geförderten Bereiche beschränkt und entbehrte noch lange eines breiten Fundaments. Hinzu kam, dass man die Defizite beim Produktionsfaktor Kapital in all diesen Jahren durch einen Überfluss an Arbeitskräften ausgleichen konnte. Diese stammten, wie erwähnt, vor allem vom Dorf, wo es mehr Esser gab, als wirklich ,wertschöpfende‘ Beschäftigung vorhanden war. Ein weiteres Reservoir bildeten die Frauen, die seit den dreißiger Jahren in den Produktionsprozess einbezogen wurden. Beide Quellen trockneten in den Nachkriegsjahrzehnten allmählich aus. Spätestens als die Sowjetunion statistisch die Grenze zum Industrieland überschritt und mehr als die Hälfte der Einwohner in den Städten lebte (Anfang der 1960er Jahre), hatte das Dorf nichts mehr abzugeben. Zugleich war die Quote der erwerbstätigen Frauen, die Mitte der siebziger Jahre ca. 85 % betrug, kaum noch zu steigern. Zum Problem wurde beides aber erst dadurch, dass das Bevölkerungswachstum insgesamt nachließ. Denn damit versiegte auch der absolute Zuwachs von Arbeitskräften. Diese Verknappung eines zentralen Produktionsfaktors hätte durch seine intensivere Nutzung aufgefangen werden können. Dazu aber wären Kapital und technologische Innovation nötig gewesen. Über beides verfügte die Sowjetunion nicht. Ihre wirtschaftliche Leistungskraft hatte gerade ausgereicht, um die hauptsächlichen Erfordernisse zu erfüllen, die an sie gestellt wurden. Vorräte und Überschüsse aber gab es nicht. Bei rückläufigem Bevölkerungswachstum, Ausschöpfung aller Arbeitskraftreserven, notorischem Kapitalmangel und struktureller Unfähigkeit zur Innovation zeigten alle industriebezogenen volkswirtschaftlichen Indikatoren der ausgehenden siebziger Jahre eine alarmierende Lähmung an. Dazu trug allerdings der Umstand nicht wenig bei, dass auch die Ertragssteigerung der Landwirtschaft nicht im gewünschten Maße vorankam. Dabei hatte Brežnev die ,strategische‘ Bedeutung dieses Bereichs erkannt und seine ,Regierungsübernahme‘ mit dem Versprechen weiterer einschneidender Reformen begonnen. Was offenbar alle General- bzw. Erste Sekretäre seit Stalin zu leisten hatten: die Rückständigkeit der russischen Landwirtschaft zu überwinden, wollte er 1965 mit einem Programm umfangreicher Investitionen in
Kapitalknappheit
Arbeitskräftemangel
Defizitäre Landwirtschaft
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Wachsende Unzufriedenheit
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die Verbesserung des Bodens und die Agroindustrie sicherstellen. Allerdings musste er sich von Anfang an auf einen Kompromiss einlassen. Die mächtige Schwer- und Rüstungsindustrie wollte ebenfalls bedacht werden und erhielt ihren Anteil. Gegen sie konnte kein Generalsekretär (mehr?) regieren. Das aber zwang zu einer Zersplitterung der Ressourcen, die eine wirksame Sanierung der Landwirtschaft verhinderte. Es bedurfte daher kaum der Nachhilfe durch Versorgungsmängel im Winter 1969/70, um den 24. Parteitag 1971 zu bewegen, für den nächsten (den 9.) Fünfjahresplan 1971–1975 das höchste agrarische Investitionsvolumen der Sowjetgeschichte vorzusehen. Indes sorgten zwei verheerende Missernten von 1972 und 1975 dafür, dass auch diese Anstrengung das gewünschte Ergebnis verfehlte. So standen die Parteiführer und Ökonomen 1976 zu Beginn dessen, was sich als letzte vollständige Planperiode der Brežnev-Ära herausstellen sollte, immer noch vor demselben, alten Problem. Zwar trat anfangs im Vergleich zur schlimmen jüngsten Vergangenheit auch eine gewisse Regeneration ein; dann allerdings wurde der Mangel allgegenwärtig. In den Städten verschärften sich die Versorgungsengpässe so weit, dass Brežnev im Vorfeld des nächsten (26.) Parteitags Anlass sah, ein Sonderprogramm zur Lebensmittelbeschaffung vorzuschlagen. Dieser abermalige Fehlschlag, ein endemisches Unvermögen der sowjetischen (und schon der russischen) Wirtschaft zu beheben, hatte zu Beginn der achtziger Jahre andere Folgen als knapp zwei Jahrzehnte zuvor. Verschiedene Veränderungen waren eingetreten, die nicht ohne Wirkung blieben. Eine neue, die erste Nachkriegs-Generation war herangewachsen, die ihre Ansprüche nicht mehr – wie ihre Eltern und Großeltern gezwungenermaßen seit den dreißiger Jahren – am bloßen Überleben orientierte. Dazu trug bei, dass die von Stalin um das Land gezogene Mauer der Isolation im Gefolge der Entspannungspolitik und rasch zunehmender wirtschaftlich-kultureller Verflechtungen mit dem globalen Systemgegner abgetragen wurde. Die westlichen Staaten rückten näher und mit ihnen Vorstellungen von einem Lebensniveau, das die sozialistische Wirtschaft offensichtlich nicht zu sichern vermochte. Eine neue Generation drängte an die Schalthebel der politischen Macht. Selbst wenn sie sich vom wachsenden Widerspruch zwischen ,kommunistischen‘ Verheißungen und der Realität weniger irritieren ließ als der Durchschnittsbürger, nahm auch sie zur Kenntnis, dass Brežnevs Sonderprogramm faktisch das Eingeständnis eines abermaligen Scheiterns bedeutete. Ob ein Kollaps unmittelbar bevorstand, wie Gorbačev nicht ohne Selbstrechtfertigung suggerierte, oder ob man auf niedrigem Niveau hätte weitermachen können wie bisher [vgl. H, in 1265: B, S, Brezhnev reconsidered, 62f], ist letztlich eine müßige Frage. Offenbar gelangte selbst das Politbüro spätestens 1985 zu der Meinung, dass neue Reformen – wenn auch gewiss keine systemverändernden – und generell ein frischer Wind nötig seien.
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6.3 Unzufriedene Gesellschaft, gespaltene Kultur Trotz allem darf man davon ausgehen, dass es der Bevölkerung unter Brežnev besser ging als je zuvor. Diese Beobachtung steht nicht im Widerspruch zum Befund der Unzufriedenheit. Zum einen verbreitete sich der Unmut allem Anschein nach erst im Laufe der siebziger Jahre auf bedrohliche Weise. Zum anderen haben Revolutionstheorien seit Tocqueville erkannt, dass Protest selten durch ein absolut niedriges Lebensniveau erzeugt wurde. Wichtiger war zumeist der relative Niedergang nach einem Anstieg oder das Ausbleiben einer Verbesserung angesichts günstiger Rahmenbedingungen. Als Beleg für die Brisanz eben dieser Abfolge kann auch die sowjetische Erfahrung der Brežnev-Ära gelten. Denn alle Indizien, so angreifbar sie aufgrund der schwierigen Datenlage sein mögen, deuten darauf hin, dass auch die Realeinkommen der Industriearbeiter seit dem Ende des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg kontinuierlich stiegen. Absolut erhöhte sich ihr Monatslohn 1955–1975 von 76,2 Rubel auf 160,9, i.e. um 110,9 %. Preissteigerungen abgezogen, blieb ein Anstieg um 107,8 %, nach westlichen Berechnungen von 62,8 %. Selbst wenn man diese Zahlen für übertrieben hält, steht der Tatbestand außer Zweifel, dass sich der Lebensstandard eines erheblichen Teils der Stadtbewohner über zwei Jahrzehnte merklich verbesserte. Dabei gab es natürlich große Unterschiede zwischen den Branchen und Regionen. Gesuchte Facharbeiter verdienten signifikant mehr als angelernte Hilfskräfte, Bergleute ebenso deutlich mehr als vor allem Arbeiterinnen in der Textil- und Nahrungsmittelbranche. Auch die einfachen Angehörigen (Büroangestellte, kommunale Bedienstete etc.) des – wie in den westlichen Industrieländern wachsenden – tertiären Sektors rangierten am unteren Ende der Einkommenspyramide. Dennoch scheinen sie ebenfalls von der gesamten Aufwärtsentwicklung profitiert zu haben. Ähnliches galt für die Bauern, denen Stalinismus und Weltkrieg besonders übel mitgespielt hatten. Erst der einstige Hirtenjunge Chruščev ergriff nachhaltige Maßnahmen, um die schlimmsten materiellen Folgen beider zu lindern, indem er (im Verein mit Malenkov) die Agrarpreise erhöhte und der privaten Produktion wieder mehr Spielraum ließ (März 1953). Unter seiner Ägide begann auch die Angleichung der bäuerlichen Einkommen und sozialen Sicherung an die städtischen Entsprechungen. Einen Meilenstein markierte dabei die Einbeziehung der kolchozniki in die Sozial- und Rentenversicherung 1964. Damit übernahm der Staat die finanzielle Bürde krankheits- und altersbedingter Arbeitsunfähigkeit, die den ohnehin geringen Ertrag der allermeisten Kollektivwirtschaften noch weiter und erheblich gemindert hatte. Zwei Jahre später krönten Brežnev und Kosygin, die hier Kontinuität für geboten hielten, diese Entwicklung durch die Abschaffung der Bezahlung nach „Tagewerken“ und die Einführung eines Festlohns für Kolchosbauern. Zugleich stieg dieser Betrag nicht nur nominal, sondern auch real deutlich und kontinuierlich von 1950 = 100 auf 1976 = 329. Dadurch schrumpfte die Kluft zu den Industriearbeitern, gemessen am prozentualen Anteil der agrarischen Einkünfte an den industriellen, der – mit einer besonderen Beschleunigung in den sechziger Jahren – von 25 % im Jahre 1950 auf ca. 65 % 1980 stieg. Allerdings darf daraus nicht unbedingt
Einkommenswachstum
Bauern
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Aufschwung bringt politische Destabilisierung
Anwachsen der neuen Elite
I. Darstellung
auf Angleichung auch der Lebensverhältnisse geschlossen werden. Nicht nur verzichtete der Staat aus guten Gründen darauf, Arbeitszeit- und Urlaubsregelungen auf das Dorf zu übertragen. Darüber hinaus blieb der kulturelle Abstand zwischen Stadt und Land, durchaus im materiellen Sinn von Wohnungsqualität, Schulversorgung, Freizeitmöglichkeiten u. a., erheblich. Dennoch hat sich diese insgesamt durchaus positive Bilanz für das Regime nicht ausgezahlt. Im Gegenteil, gerade der Aufschwung scheint zur Destabilisierung beigetragen zu haben. Zum einen machte er die Köpfe – in Verbindung mit einer beispiellosen Steigerung des durchschnittlichen Bildungs- und Qualifikationsniveaus – für Gedanken und Wahrnehmungen frei, die über die Sorge um die Sicherung der Grundbedürfnisse hinausgingen. Zum anderen schärfte er die Aufmerksamkeit für die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit sowie zwischen Ost und West. Als es langsamer bergauf ging, klang die unverdrossene Versicherung der Überlegenheit des sozialistischen Systems in den Ohren einer neuen Generation immer schaler. Deshalb lag das Problem der letzten Brežnev-Jahre, das mittelfristig die Perestrojka hervorbrachte, nicht in sinkenden Einkommen, sondern systemkonform darin, dass es immer weniger zu kaufen gab. Davon war auch eine Schicht betroffen, auf die der ,entwickelte Sozialismus‘ mit besonderem Stolz blickte : die „ingenieur-technischen“ bzw. „wissenschaftlich-technischen Arbeiter“. Von Anfang an war dem „sozialistischen Aufbau“ und seinen Erfordernissen absolute Priorität eingeräumt worden. Dazu hatte an vorrangiger Stelle die Aufgabe gehört, die technische und allgemeine Qualifikation der Bevölkerung massiv zu steigern. Diese Entwicklung hielt im Kern an. Was in den dreißiger Jahren „ Sowjetintelligenz“ hieß und zur Säule der politischen Loyalität wurde, verwandelte sich in einen Teil der breiten technischwissenschaftlichen und administrativen Elite, über die jede Industriegesellschaft verfügen muss. Dem Eiltempo der sowjetischen Aufholjagd entsprechend wuchs auch diese Schicht außerordentlich schnell. Nach einer Verdreifachung ihrer Zahl noch in den fünfziger Jahren war in den sechziger und siebziger Jahren immer noch eine Verdopplung zu verzeichnen, die erst in den achtziger Jahren einer langsameren Zunahme wich. Sicher fand die sozialwissenschaftliche Konvergenztheorie der sechziger Jahre hierin eines ihrer stärksten Argumente: Ob ,sozialistisch‘ oder ,kapitalistisch‘, die Modernisierung letztlich aller gesellschaftlichen Funktionen, von der Wirtschaft über die Kultur bis zur Administration, verlangte mehr Lehrer, Wissenschaftler, Ärzte und Ingenieure, die den Löwenanteil der neuen Elite stellten. War diese Verschiebung der sozialen Pyramide selbst somit am ehesten systemneutral, so besaß sie in der Sowjetunion doch mindestens zwei charakteristische Merkmale. Zum einen zeigten sowohl der große Anteil von Ingenieuren als auch deren große Zahl unter den bedeutenden Parteipolitikern samt der propagandistischen Überhöhung dieser Berufsgruppe an, dass technisch-naturwissenschaftliche Qualifikation die Funktion der vielseitig verwendbaren Generalkompetenz übernahm, die in westlichen Gesellschaften der juristischen zukommt. Lenin und Stalin waren professionelle Revolutionäre, Chruščev, Kosygin und Brežnev Ingenieure. Zum anderen sonderte sich der parteipolitisch und
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allgemein administrativ aktive Teil dieser breiteren Schicht von Qualifizierten mehr und mehr zu einer eigenen, distinkten Gruppe ab. Zu ihr zählten die Inhaber aller strategisch bedeutenden Funktionen in Partei, Staat, Wirtschaft und Kultur, die zugleich die höchsten Gehälter bezogen. Diese Nomenklatura wurde zum Signum der Herrschaftsstruktur des ,real existierenden Sozialismus‘ generell und der Brežnev-Ära im besonderen. In einer Gesellschaft ohne Eigentum oder Standeszugehörigkeit bildete sie eine schmale Elite, die sich am ehesten dauerhafte und vererbbare Privilegien zu sichern wusste. Die Nomenklatura verfügte nicht nur über die politisch-administrative Macht und einen bevorzugten Zugriff auf alles, woran es in der Planwirtschaft fehlte (von Waren des höheren Konsums bis zu Wohnungen, Klubs und Ferienquartieren). Darüber hinaus gelang es ihr unter Brežnev mehr und mehr, auch ihren Söhnen und Töchtern über exklusive Bildungswege den Verbleib im eigenen Milieu zu ermöglichen. Es gehörte zu den zahlreichen Widersprüchen des Sowjetsozialismus (nicht nur) der Brežnev-Ära – und zu den bevorzugten Gegenständen der Kritik –, dass die Nomenklatura eine deutliche Tendenz zur Selbstrekrutierung erkennen ließ und eine Elite an provozierender Sichtbarkeit gewann, die offensichtlich gleicher war als die anderen Mitglieder der vorgeblich gleichen Gesellschaft. Im Rückblick verbindet sich die Brežnev-Ära nicht nur mit Stillstand und zunehmender Selbstabschottung der Funktionärsbürokratie. Im selben Maße gilt sie als Synonym für eine konservative Wende des öffentlichen geistig-kulturellen und politischen Lebens. Es wäre überzogen, von einer Re-Stalinisierung im engeren Wortsinn zu sprechen, da es keine Rückkehr zu einer vergleichbaren Disziplinierung und ähnlich rigorosen Dogmen gab. Aber die neuen Herren sandten in Wort und Tat das klare Signal aus, dass die Kritik an der Vergangenheit einschließlich der schlimmen dreißiger Jahre ein Ende haben sollte. Öffentliche Äußerungen hatten wieder ganz und gar der Parteilinie zu folgen, Publikationen den Auflagen der Zensur. Abweichende Meinungen wurden wieder konsequent unterdrückt. Die neue Führung machte auch bald klar, dass sie in diesem Punkt hart bleiben wollte. Sie ließ zwei besonders heftige Kritiker, Julij Dani˙el und Andrej Sinjavskij, die es gewagt hatten, ihre Satiren im Ausland zu veröffentlichen, verhaften und im Januar 1966 im ersten Schauprozess der nachstalinistischen Ära vor Gericht stellen. Damit wurde eine neue Front eröffnet, die erst Gorbačev wieder beseitigte : die Auseinandersetzung zwischen den „Dissidenten“ – ein neuer Begriff, der auf ihre prinzipielle Opposition gegen die im Gegensatz zu bloß systemimmanter verwies – und dem Regime. Die Opposition gegen die im Untergrund fand auch bald ihre Symbolfiguren und Programmschriften. Nicht ohne Anregung aus dem Umfeld des ,Prager Frühlings‘ und des westlichen Reformkommunismus („Eurokommunismus“) verfasste Andrej Sacharov 1968 seine Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit. Sie machten den Atomphysiker und ,Vater‘ der 1953 gezündeten sowjetischen Wasserstoffbombe im In- und Ausland zur führenden Persönlichkeit des moralischen Protests, dessen Autorität und Integrität auch von seinen Kritikern anerkannt wurde. Zu ihm gesellte sich spätestens 1973, als der KGB ein umfangreiches Manuskript über die stalinistischen Lager entdeckte – kurz darauf im Ausland als Gu-
Konservative Wende im öffentlichen Leben
Dissidenten
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KSZE-Schlussakte
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lag Archipelago veröffentlicht – und den Autor außer Landes bringen ließ, Alexander Solschenizyn. Der berühmte Schriftsteller und baldige Nobelpreisträger folgte zwangsweise vielen anderen, die vor ihm nicht freiwillig, aber ohne massive Gewaltanwendung in den Westen geflüchtet waren. Damit stellte sich eine Erscheinung wieder ein, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden war, in den zwanziger Jahren unter umgekehrten Vorzeichen eine neue Blüte erlebt, sich unter Chruščev aber wieder weitgehend aufgelöst hatte: die politische Emigration aus Russland. Obwohl andere Dissidenten wie der Historiker Roj Medvedev in der Sowjetunion blieben, gelang es dem Regime durch Verhaftungen und Ausweisungen zwar nicht, Ruhe herzustellen; aber es vermochte den Einfluss des Dissenses im Lande in Grenzen zu halten. Wenn es ein Ereignis gab, das der Bewegung zu neuer Kraft verhalf, dann war es die Zustimmung zum sog. ,Korb 3‘ der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die im Sommer 1975 nach zweijährigen Beratungen in Helsinki unterzeichnet wurde. Um die Anerkennung der Nachkriegsgrenzen zu erreichen, ließ sich Brežnev auf die Verpflichtung ein, die Menschenrechte zu achten und die kulturelle Zusammenarbeit mit den westlichen Staaten zu fördern. Dies war an sich nicht neu, da die Sowjetunion seit dem Zweiten Weltkrieg der UN angehörte, deren Menschenrechtserklärung von 1948 mitgetragen und 1973 auch die UN-Menschenrechtskonvention unterzeichnet hatte. Auch deshalb vermochte Gromyko das Politbüro davon zu überzeugen, dass die Vorteile des Abkommens die möglichen Gefahren bei weitem überwogen. Er sollte sich jedoch irren. Nicht zuletzt der Helsinki-Prozess selber hatte den politischen Kontext im In- und Ausland, vor allem in beinahe allen osteuropäischen Satellitenstaaten, verändert. So dauerte es kein Jahr, bis eine Gruppe zur Förderung der Durchführung der Abmachungen von Helsinki in der UdSSR an die Öffentlichkeit trat. In Anknüpfung an eine Vorläuferin von 1969, aber nunmehr durch die wiederholte Unterschrift der Sowjetregierung gestärkt und auf die Sympathie der gleichsfalls argwöhnischen westlichen Unterzeichnerstaaten gestützt, machte sie es sich zur besonderen Aufgabe, Verstöße gegen die Menschenrechte anzuprangern. Diese und andere Dissidentenzirkel, vor allem kirchliche, haben die Sowjetunion sicher nicht ernsthaft erschüttert. Anders als verwandte polnische Gruppen (wie die Solidarność) konnten sie keinen Massenanhang mobilisieren. Die sowjetische Dissidentenbewegung blieb auf die Intelligenz beschränkt und innenpolitisch ohne nennenswerte Durchschlagskraft. Dies zeigte sich unter anderem an ihrer Wehrlosigkeit, als Brežnev nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 beschloss, an der inneren Front härter durchzugreifen, und Sacharov nach Gor’kij (Nižnij Novgorod) verbannte. Umso größer waren ihre moralische Bedeutung und ihr internationales Echo. ,Selbstverlag‘ (Samizdat) und ,Dortverlag‘ (Tamizdat) sorgten dafür, dass ihre Stimme im Land als moralisch-politische Alternative präsent war, während die Öffentlichkeit außerhalb des ,Ostblocks‘ Einfluss auf die Politik der westlichen Staaten, vor allem der USA, gewann. Wenngleich auch diese Wirkungen des
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Dissenses die Krise der Sowjetunion gewiss nicht herbeigeführt haben, sind sie aus der Vielzahl der Ursachen nicht wegzudenken. Der Lebendigkeit der Kritik entsprach die neue Grabesstille des offiziösen Geisteslebens. Getreu der Maxime, über Reformen, wenn überhaupt, nur noch im engsten Kreis nachzudenken, demonstrierte das Regime in der Öffentlichkeit jene ,lackierte‘ Harmonie, die nicht nur unglaubwürdig war, sondern die Wirklichkeit auch nicht mehr erreichte. Was laut gesagt werden konnte, geriet pauschal in Verdacht, falsch und manipuliert zu sein. So wie die Staatslenker nicht bedachten, dass auch die gute Ordnung kontraproduktiv werden könnte, übersahen sie den Verlust der Bindekraft ihrer Propaganda. Dieser Effekt war letztlich verheerender als die ,aktive‘ Überzeugungsfähigkeit der ,Gegengesellschaft‘. Der Dissens erreichte nur eine Minderheit, die Abstumpfung gegenüber offiziellen Verlautbarungen war allgemein. Deshalb signalisierte der neue Personenkult, der in den letzten Jahren der Brežnev-Ära zu beobachten war, auch keine Stärkung des Regimes, sondern eher das Gegenteil. Als der Generalsekretär im Juni 1977 auch noch Vorsitzender des Obersten Sowjets (und damit ,Staatspräsident‘) wurde und man ihn mit Orden ebenso überschüttete wie mit Lobeshymnen auf Leistungen, die er nicht erbracht hatte (etwa als Schriftsteller) – da gewann kaum zufällig jene innere Auszehrung an Sichtbarkeit, die bei Brežnevs Tod am 10. November 1982 jedermann zu dem Gedanken veranlasste, dass nicht nur ein Parteiführer verstorben, sondern eine ganze Epoche untergegangen sei.
Wirkungsverlust der Propaganda
6.4 Außenpolitik zwischen „friedlicher Koexistenz“ und Intervention So wie die Sowjetunion der Nach- Stalin-Zeit in der Herrschaftsstruktur und inneren Politik eine eigene Signatur hatte, so galt dies auch für ihre äußere Politik. In beiden Bereichen bedeutete „nach- Stalin“ auch „nach-stalinistisch“. Offen bleibt aber, wie der veränderte Umgang mit anderen Staaten positiv zu charakterisieren ist. Eine durchgängige Linie ist nicht zu erkennen und war angesichts eines Zeitraums von drei Jahrzehnten auch nicht wahrscheinlich. Stattdessen wechselten Härte und Kompromissbereitschaft einander ab oder wurden je nach Gegenstand parallel verfolgt. Dennoch lassen sich zwei zunehmend beachtete Grundsätze ausmachen, die der sowjetischen Außenpolitik im Zeitalter sozusagen des ,Kalten Stellungskriegs‘ ein eigenes Gepräge gaben. Zum einen machte die neue Supermacht (die 1953 auch eine Wasserstoffbombe zündete) nicht nur 1956 in Polen und Ungarn deutlich, dass sie kein Aufbegehren duldete, sondern auch noch 1968 in der Tschechoslowakei und mit anderen Zielen 1979 in Afghanistan. Durchgehend verlieh sie dem mit militärischen Machtmitteln Nachdruck, was nach der Niederschlagung des ,Prager Frühlings‘ als „BrežnevDoktrin“ bezeichnet wurde: der Sicherung sowjetischer Hegemonie in dem Machtbereich, den sie in der Nachkriegszeit erworben hatte und den der Westen faktisch anerkannte. Zum anderen bemühte sich die Sowjetunion in wachsendem Maße um ein Arrangement mit der westlichen Welt. Diese Politik begann
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Aufstände in Polen und Ungarn
Demonstration von Großmachtstatus
I. Darstellung
unter Chruščev als „friedliche Koexistenz“ und ging in den siebziger Jahren in eine aktive Entspannungspolitik über, die zum außenpolitischen Signum der Brežnev-Ära wurde. In mancher Hinsicht kamen beide Triebkräfte in einem Schlüsselereignis der gesamten Brežnev-Ära zusammen: in der KSZE. Durch die Schlussakte von Helsinki glaubte die Sowjetunion, endlich die völkerrechtlich verbindliche Anerkennung ihres territorialen Kriegsgewinns erreicht zu haben. Jetzt erst war aus ihrer Sicht die Teilung Europas besiegelt und ihr Machtbereich konsolidiert. Es ist sicher angebracht, die Aufstände in Polen und Ungarn im Zusammenhang mit dem Anlauf zur Überwindung des stalinistischen Erbes zu sehen. Ende Mai 1955 war Chruščev nach Belgrad gereist, um den Bruch mit Josip Tito zu heilen. Im Februar 1956 hielt er seine berühmte Geheimrede. Solche Signale weckten auch außerhalb der Sowjetunion Erwartungen. Zwar wagten sich nirgendwo offene Gegner oder alte Feinde der regierenden Kommunisten aus der Deckung. Aber innerhalb des herrschenden Lagers fühlten sich diejenigen Kräfte ermuntert, die nationalen Belangen größeres Gewicht beimaßen oder Kritikern offener begegneten oder beides miteinander zu verbinden suchten. So war in Warschau nach dem unerwarteten Tod von Bolesław Bierut ein Nachfolger ernannt worden, dem es aber nicht trotz, sondern aufgrund der Unterstützung aus Moskau an Popularität mangelte. Unter der zusätzlichen Einwirkung einer Versorgungskrise kam es Ende Juni zu landesweiten Streiks und blutigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Erst als sich Chruščev eines Besseren besann und mit seiner Hilfe im Herbst 1956 der ,Nationalkommunist‘ Władysław Gomułka inthronisiert wurde, kehrte Ruhe ein. Der neue Mann achtete insoweit auf polnische Traditionen, als er das sowjetische Modell – anders als Walter Ulbricht in der DDR – nicht vollständig imitierte. Aber von einem eigenen Weg oder nennenswerter Selbstständigkeit konnte unter seiner Regentschaft ebensowenig die Rede sein. In Ungarn keimte unter dem Eindruck der Entstalinisierung auch unabhängig von einem natürlichen Wechsel an der Staatsspitze die Hoffnung auf Liberalisierung auf. Im Oktober führte die Beisetzung von Opfern stalinistischer Säuberungen zu einem Massenaufstand, den nur der Reformkommunist Imre Nagy beenden zu können schien. Als dieser aber, mit sowjetischer Billigung installiert, den Austritt seines Landes aus dem Warschauer Pakt ankündigte, entschloss sich Chruščev zur Intervention. Am 11. November eroberten sowjetische Panzer Budapest (wovon Warschau selbst 1981 verschont blieb, als das Regime dem Druck der Solidarność nicht mehr standhielt und den Ausnahmezustand verhängte) und walzten die Unbotmäßigkeit nieder. Mit Janosz Kádár wurde ebenfalls ein Mann eingesetzt, der das Plazet Moskaus besaß. In den Grenzen grundsätzlicher Bündnis- und Systemtreue führte er Ungarn allerdings auf einen Weg, der es zum Synonym für die größte Liberalität und Komsumorientierung im ,real existierenden Sozialismus‘ machte. Der erste unbemannte Raumflug Anfang Oktober 1957, das Berlin-Ultimatum vom Herbst 1958, der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 und die Kuba-Krise im Herbst des folgenden Jahres hängen nicht nur in der retrospektiven Suche nach zeitlichen Untergliederungen zusammen. Vielmehr darf
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6. Zwischen Stabilisierung und Stagnation : die Ära Brežnevs (1964–1982)
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man diese Ereignisse als Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins werten. Es passte zum hohen Lied auf die Überlegenheit des Sozialismus, dass Chruščev nach deren vermeintlicher Dokumentation durch den Griff nach dem Mond auch außenpolitische Stärke zu zeigen versuchte und an der schwächsten Stelle des Westens in die „Offensive“ (M. Görtemaker) ging. Seine Drohung vom 10. November 1958, die Kontrollrechte an die DDR zu übergeben, wenn keine Verhandlungen über eine Änderung des Viermächtestatus Berlins aufgenommen würden, verpuffte jedoch folgenlos. Die Westmächte spielten auf Zeit und ließen das Ultimatum letztlich ohne Antwort. Umso eher fühlte sich die DDR-Führung eingeladen, ihr eigenes Hauptanliegen vorzubringen – die Sperrung der Grenzen zur Bundesrepublik, um die weitere Abwanderung von Arbeitskräften zu unterbinden. Da sich in der Frage des Viermächtestatus’ nichts bewegte, die Haltung der Vereinigten Staaten sich im Gegenteil so verhärtete, dass der amerikanische Präsident John F. Kennedy die unmissverständliche Warnung überbringen ließ, man werde im Fall des Falles auch kriegsbereit sein – scheint Chruščev in der Billigung des DDR-Wunsches eine Chance zur Gesichtswahrung gesehen zu haben. Dabei konnte er offenbar davon ausgehen, dass Washington mit einer Abriegelung rechnete und nichts unternehmen würde, solange der Viermächtestatus nicht tangiert wurde. In jedem Falle fiel die definitive Entscheidung zum Mauerbau vom 13. August 1961 in Moskau. Genauso plausibel dürfte es sein, auch das größte Fiasko der sowjetischen Außenpolitik mit dem neuen Selbstvertrauen der Sowjetunion in Zusammenhang zu bringen. Offenbar bestärkten der tiefe Eindruck, den der Sputnik bei Freund und Feind hinterließ, und die Hinnahme des Mauerbaus durch die Westmächte Chruščev in dem Wagnis, mehr Muskeln zu zeigen, als er hatte. Jedenfalls hörte er auf jene schlechten Berater, die ihm in vollem Bewusstsein der militärischen Unterlegenheit zuredeten, auf Kuba Raketen aufzustellen und die Vereinigten Staaten vor ihrer Haustür zu bedrohen. Wie bekannt, entdeckten amerikanische Spähflugzeuge am 14. Oktober 1962, was die angeblichen Handelsschiffe tatsächlich nach Kuba brachten. Nach enger Abstimmung mit seinem Sicherheitsrat machte Kennedy die Bedrohung am 22. Oktober in einer Fernsehansprache öffentlich und forderte Chruščev auf, die Raketen abzuziehen. Als dieser sich weigerte, verhängte er zwei Tage später eine Seeblockade, der sich Chruščev nach intensiven Geheimverhandlungen am 28. Oktober beugte. Im Zenit ihres internationalen Prestiges wich die sozialistische Supermacht damit vor den Augen der Weltöffentlichkeit zurück (während die Konzession der Vereinigten Staaten, ihre Raketen von den Grenzen des NATO-Landes Türkei abzuziehen, kaum wahrgenommen wurde, weil vereinbart worden war, dies erst Monate später zu tun). Eine solche Blamage trug nicht nur zum Niedergang Chruščevs bei, sondern zwang auch zu neuem Nachdenken über die Außenpolitik. Dabei dürften vor allem zwei weitere Entwicklungen entscheidenden Einfluss sowohl auf die sowjetische als auch auf die amerikanische Haltung ausgeübt haben. Die Vereinigten Staaten verstrickten sich seit 1964 immer tiefer in den Vietnamkrieg, aus dem sie erst nach elf Jahren und einer faktischen Kapitulation herausfanden. Etwa zur selben Zeit sah sich die Sowjetunion in Gestalt der Volksrepublik China mit dem ersten großen Rivalen im eigenen Lager kon-
Niederlage in der Kuba-Krise
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Westdeutsche Entspannungspolitik
Abrüstungsverhandlungen
I. Darstellung
frontiert, der nicht nur ihren ideologischen Monopolanspruch bestritt, sondern auch Anspruch auf erhebliche Teile ihres Territoriums (in Sibirien) erhob und ihr in der ,Dritten Welt‘ militärisch Konkurrenz machte. Am Grenzfluss Ussuri spitzte sich der Konflikt im selben Jahr (1969) zu einer ,realen‘ bewaffneten Auseinandersetzung zu, als in den Vereinigten Staaten der Widerstand gegen den Vietnamkrieg einen ersten Höhepunkt erreichte. Man wird diese Parallelität nicht aus dem Auge verlieren dürfen, wenn man die Entspannungspolitik verstehen will, die im selben Jahr mit der neuen Ostpolitik des deutschen Kanzlers Willi Brandt und seines sozialliberalen Kabinetts begann. Dies war auch das Jahr, das der abermaligen militärischen Intervention der Sowjetunion in die innere Politik eines Satellitenstaates folgte. Nach der Beendigung des ,Prager Frühlings‘ und der Ersetzung von Alexander Dubček durch den moskautreuen Gustav Husák war einerseits das Prestige der Sowjetunion auf ein Mindestmaß gesunken; andererseits hatte sie die Hände frei, um die Reparatur des Schadens in Angriff nehmen zu können. Für die Sowjetunion lag es daher aus verschiedenen Gründen nahe, auf das deutsche Verhandlungsangebot einzugehen. Hauptsächlicher Streitpunkt der Vereinbarung waren erwartungsgemäß die Grenzfrage sowie der Status Berlins. Dank des guten Willens auf beiden Seiten wurde ein Kompromiss gefunden, der die Sowjetunion – vor Helsinki – so nahe wie nie zuvor an eine endgültige Fixierung der wichtigsten, der deutsch-deutschen Nachkriegsgrenze brachte, zugleich aber eine Veränderung im Zuge einer deutschen Wiedervereinigung juristisch nicht ausschloss. Mit diesem Kerninhalt wurde am 12. August 1970 der Moskauer Vertrag über die Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen geschlossen. Ihm folgten ähnliche Abkommen mit Polen (7. Dezember 1970), der DDR (21. Dezember 1972) und der ČSSR (11. Dezember 1973). Parallel handelten die Siegermächte eine Vereinbarung über den Status Berlins aus. Diese konnte – bei bleibenden Interpretationsdifferenzen über „Bindungen“ oder „Verbindungen“ (russ. svjazi) zwischen Berlin und der Bundesrepublik – gleichsam als Fundament der anderen Verträge am 3. September 1971 ebenfalls unterzeichnet werden. Der politischen Entspannung folgte die militärische. Knapp zehn Jahre nach der gefährlichsten Konfrontation des Kalten Krieges vor Kuba nahmen die Supermächte Gespräche über die Verringerung der Anzahl ihrer Interkontinentalraketen und der atomaren Sprengköpfe (SALT) sowie über eine analoge Reduktion der Zahl der Abwehrraketen (ABM) auf. Zur Unterzeichnung reiste der amerikanische Präsident Richard M. Nixon (seit 1969) Ende Mai 1972 höchstpersönlich nach Moskau. Auch wenn das verbleibende Nuklearpotenzial immer noch ausreichte, um die Welt mehrfach zu vernichten, markierte das Abkommen den Höhepunkt der gegenseitigen Verständigung. Im gleichen Geist verlief ein Jahr später der Gegenbesuch Brežnevs in Washington. Und auch die Helsinki-Konferenz, durch die deutsche Ostpolitik und die übrigen Verträge vorbereitet und ,unterfüttert‘, sollte man in diesem Zusammenhang sehen. Aus ihrer Sicht erhielt die Sowjetunion durch die Schlussakte vom 1. August 1975 ungefähr das, was sie sich von einer Friedenskonferenz für ganz Europa versprochen hatte.
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7. Zwischenspiel, Perestrojka und Untergang (1982–1991)
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Allerdings war der Vorrat an gemeinsamen Wünschen und umstandsloser Kompromissbereitschaft zumindest auf Seiten der Supermächte damit auch weitgehend erschöpft. Schon die Bedingung, die der amerikanische Kongress 1974 an die Zustimmung zur weiteren Meistbegünstigung für die Sowjetunion knüpfte (freie Ausreise für Juden), zeigte einen atmosphärischen Wandel an. Dieser beschleunigte sich, als der neue, seit 1977 amtierende amerikanische Präsident Jimmy Carter die Unteilbarkeit der Menschenrechte zu seinem außenpolitischen Hauptanliegen erhob. In diesem Klima hatte die Ende 1974 vereinbarte Fortsetzung der Abrüstungsgespräche wenig Chancen. Zwar wurde SALT II fünf Jahre später in Wien noch unterzeichnet. Nach dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan Ende Dezember 1979 verzichtete Carter aber darauf, den Kongress um Ratifizierung zu bitten. Faktisch war das Ende der Entspannung ohnehin längst eingetreten, so dass die sowjetische Intervention eher als Anlass denn als Ursache erscheint. Als Brežnev drei Jahre später starb, betrachtete die westliche Führungsmacht die Sowjetunion wieder – in den Worten ihres Präsidenten Ronald Reagan – als „Reich des Bösen“.
Grenzen der Verhandlungsbereitschaft
7. Zwischenspiel, Perestrojka und Untergang (1982–1991) In der Tat war der Einschnitt tief, aber das Neue zeigte sich nicht sofort. Vielmehr gab es eine Übergangszeit, die man im Rückblick auf die wenigen Jahre bis zur Wahl Gorbačevs im März 1985 datieren kann. Genau besehen, war sie gerade aufgrund des Charakters der Brežnev-Ära zu erwarten. Da an deren Ende zwar verhaltener Unmut herrschte, außerhalb der Dissidentenbewegung jedoch keine Opposition gegen die sichtbar wurde, lag die Entscheidung über den Nachfolger allein beim Politbüro. Dessen Mitglieder waren nicht nur betagt, sondern sämtlich auch Zöglinge Brežnevs. Sie taten, was unvermeidlich schien: jemanden zu bestellen, der offenkundige Missstände zu beseitigen versprach; zugleich achteten sie aber darauf, dass der neue Besen nicht allzu gründlich kehrte und der grundsätzliche Fortbestand der alten Ordnung nicht in Zweifel gezogen wurde. Ein solcher Mann war der Geheimdienstchef Jurij Andropov, der am 12. November 1982 – bereits zwei Tage nach Brežnevs Tod – gewählt wurde. Man darf vermuten, dass an erster Stelle seine Hausmacht für ihn sprach. Denn der KGB wurde aus einem doppelten Grunde gebraucht : zum einen, um die weithin berüchtigte Vetternwirtschaft zu beseitigen, die das ohnehin vorhandene Leistungsdefizit des Systems noch vergrößerte; zum anderen, um die gegebene Ordnung bei Reformen gegen jede Art von Destabilisierung abzusichern. Hinzu kam, dass Andropov dem Politbüro lang genug angehört hatte und als einer der wenigen, die dieses Erfordernis erfüllten, nicht vom Generalsekretär abhängig war. Ihm waren Reformen zuzutrauen, die auch vor einflussreichen ,Seilschaften‘ nicht haltmachten. Alles spricht dafür, dass Andropov diese Aufgabe sofort in Angriff nahm. Zum Teil wurden drakonische Strafen einschließlich
Nachfolge Brežnevs
Jurij Andropov
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ˇ Konstantin Cernenko
Michail Gorbacev ˇ
I. Darstellung
der Hinrichtung verhängt. Zugleich besann sich die Parteiführung darauf, ein Repräsentativgremium zu sein, und beschloss einen Hauch von Transparenz: Fortan wurde die Tagesordnung der Politbürositzungen veröffentlicht. Freilich, alle diese Maßnahmen hatten kaum Zeit zu wirken. Der alternde Sowjetsozialismus wurde zum Opfer seiner eigenen Struktur. Andropov war schon als kranker Mann und – mit 68 Jahren bei Amtsantritt – als bis dahin ältester Generalsekretär gewählt worden. Im November 1983 wurde er ins Krankenhaus eingeliefert; er starb am 9. Februar 1984, ohne es noch einmal verlassen zu haben. Weniger ist über seinen Nachfolger zu berichten. Dieser war in viel höherem Maße ein Kompromisskandidat im negativen Sinn. Womöglich hatte Andropovs Kampagne aber auch schon einige Parteioberen das Fürchten gelehrt. In jedem Fall erkoren sie mit Konstantin Černenko nicht nur einen (mit 72 Jahren) noch betagteren Generalsekretär, sondern auch den treuesten Paladin seines Vorvorgängers. Allerdings nutzte dieser Versuch, das Rad der Entwicklung zurückzudrehen, wenig. Zum einen war auch Černenko gesundheitlich so angegriffen, dass er schon am Ende seines ersten Amtsjahres, am 10. März 1985, starb. Zum anderen waren die Anhänger Andropovs stark genug gewesen, dem offensichtlichen Übergangskandidaten einen Stellvertreter aus ihren Reihen an die Seite zu stellen. Dank seiner überlegenen Intelligenz und seinem taktischen Geschick darf man davon ausgehen, dass dieser Mann faktisch bereits die Fäden zog : Michail Gorbačev. Im Nachhinein drängt sich die Frage nachgerade auf, wie ein Mann zum Generalsekretär der KPdSU und wohl mächtigsten – weil durch keine Instanz tatsächlich kontrollierten – Mann der Welt gewählt werden konnte, der dann zum Totengräber seines Staates wurde. Die Antwort, soweit sie denn überhaupt gegeben werden kann, ist sowohl in der Person als auch in den viel zitierten Umständen zu suchen. Für den Politiker Gorbačev sprachen seine Fähigkeiten und seine relative Jugend (geb. 1931). Der neue Generalsekretär hatte eine steile Karriere hinter sich, die ihn, den Bauernsohn aus der Region Stavropol’, über das Jura-Studium in Moskau, die Leitung des Komsomol in seiner Heimat, den Parteivorsitz ebenda 1979 zum ZK-Sekretär für Landwirtschaft und Kandidaten sowie 1980 zum Vollmitglied des Politbüro befördert hatte. An der Spitze der sowjetischen Machtpyramide angekommen, war Gorbačev noch keine fünfzig Jahre alt. Sicher wäre dieser rasante Aufstieg ohne Protektion kaum möglich gewesen. Aber das wichtigste Pfund, mit dem er wuchern konnte, war doch seine ungewöhnliche Begabung in Wort und Tat, die er mit Ausstrahlung und Überzeugungskraft zu verbinden wusste. Nach Andropovs Tod konnte die Mehrheit der alten Herren im Politbüro noch auf die mangelnde Erfahrung des zweifellos schon sichtbaren Aspiranten verweisen, um noch einmal in den Schutz des alten Schlendrian zurückzukehren; nach dem frühen Tod auch Černenkos nicht mehr. Denn diese Wiederholung einer allzu kurzen Amtszeit machte die Einsicht unabweisbar, dass sich die Ressourcen des alten Regimes erschöpft hatten. Weder ließ sich eine grundlegende Erneuerung des Staates länger aufschieben noch die Übergabe der Macht an die nächste Generation – die erste, die nach dem Krieg oder sogar nach Stalins Tod
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7. Zwischenspiel, Perestrojka und Untergang (1982–1991)
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politisch herangewachsen war. Die Wahl Gorbačevs am 11. März 1985 brachte daher zugleich zum Ausdruck, dass dieser Stafettenwechsel, der sich auf regionaler Ebene großenteils bereits vollzogen hatte, nun auch im Zentrum von Partei und Staat angekommen war. Allerdings rechnete keiner seiner Wähler mit der Radikalisierung der Reformen und den Turbulenzen, die sie nach und nach auslösten. Eventuell – das wird unterschiedlich gesehen – wusste auch der neue Generalsekretär noch nicht, wohin genau er wollte. Seine Maßnahmen reagierten auf die politische Gesamtlage und nahmen eine Wendung, die man retrospektiv als Demokratisierung kennzeichnen kann. Dabei ragen einige markante Ereignisse heraus, die das, was völlig unerwartet zur Agonie des sozialistischen Mutterlandes und seiner Satellitenstaaaten wurde, in vier Etappen gliedern: vom März 1985 bis Ende 1986, von Ende 1986 bis Mitte 1988, von Mitte 1988 bis Mitte 1990 und von dort bis zum faktischen Ende der Sowjetunion, dem Putsch vom August 1991. Gorbačev begann kaum anders als zwanzig Jahre zuvor Kosygin und Brežnev – mit einer ökonomischen Reform. Wie sein Ziehvater Andropov wollte er die marode Wirtschaft sanieren. Als Hebel diente ihm dabei zunächst die Arbeitsdisziplin. Mit guten Gründen ging Gorbačev davon aus, dass fehlender Einsatz maßgeblich zu jenem Produktivitätsmangel beitrug, der sich in Versorgungsengpässen und internationaler Leistungsschwäche niederschlug. Freilich blieb die erste einschlägige Kampagne, die sich gegen den Alkoholmissbrauch richtete, weitgehend wirkungslos; sie sorgte nur für leere Zuckerregale und trug ihm den Spott ein, kein General-, sondern ein ,Mineral[wasser]sekretär‘ zu sein. Auch die allgemeinere Forderung nach „Beschleunigung“ (uskorenie) der wirtschaftlichen Abläufe insgesamt blieb ohne nennenswerten Effekt. Wohl auch deshalb nutzte Gorbačev schon den nächsten, den 27. Parteitag der KPdSU, im Frühjahr 1986, um die Notwendigkeit weiterer, tiefgreifenderer Reformen zu betonen. Hier äußerte er Gedanken, die im Rückblick als Programm verstanden werden können: dass es darauf ankomme, die „Motivation“ der Menschen zu erhöhen und das „lebendige Schöpfertum“ des Volkes zu stimulieren. Um dies zu erreichen, sei mehr nötig als eine bloße Kurskorrektur – ein gründlicher „Umbau“ (Perestrojka) der Gesellschaft. Damit prägte Gorbačev nicht nur einen suggestiven Begriff, der dem gesamten Reformvorhaben einen Namen gab. Darüber hinaus kündigte er an, dass nun Maßnahmen auf den Weg gebracht werden würden, die an die Fundamente des Systems rührten: Wer die ,Produktivkraft Mensch‘ mobilisieren wollte, musste sein Engagement durch das Angebot einer Bewegungsfreiheit wecken, die nicht ohne politische Folgen bleiben konnte. Vor allem deshalb wohnte der Perestrojka, wie Gorbačev selber bald formulierte, in der Tat eine revolutionäre Qualität inne. Vermutlich wurde diese Dimension anfangs außerhalb der Sowjetunion deutlicher erkannt als im Innern. Schon bald nach Beginn seiner Amtszeit hatte Gorbačev die Notwendigkeit eines ,neuen Denkens‘ in der Außenpolitik verkündet. Er sprach vom ,gemeinsamen europäischen Haus‘ und signalisierte, unterstützt von seinem Außenminister Eduard Ševardnadze, die Bereitschaft zu einem Ausmaß an Entspannung, das die westliche Welt – und besonders die
Ökonomische Reform
Notwendigkeit qualitativer Reformen
Perestrojka
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92 Entspannungspolitik
glasnost’ – Transparenz
Vorsichtige wirtschaftliche Liberalisierung
I. Darstellung
amerikanische Regierung – in ungläubiges Staunen versetzte. Nach einem ersten Gipfeltreffen in Genf noch 1985 und einer schwierigen Begegnung in Reykjavik, die dennoch als Durchbruch gelten kann, schlossen beide Seiten im Dezember 1987 ein Abkommen, das erstmals eine gesamte Waffengattung beseitigte (die Mittelstreckenraketen, INF-Vertrag). Gorbačev folgte damit einem Imperativ der Haushaltsbilanz und der wirtschaftlichen Leistungsdefizite. Er nahm die Tatsache erstmals ernst, dass es sich die Sowjetunion nicht leisten konnte, 40 % der Staatsausgaben in die immer leeren Taschen des Militärs fließen zu lassen. Im Rückblick gesehen, markiert bereits diese Vereinbarung, der in den nächsten Jahren weitere folgten, das Ende der Konfrontation zwischen den Atommächten und damit des Kalten Krieges. Denn vor allem in ihrer zweiten Etappe entfaltete die Perestrojka jene Dynamik, die zu Recht als Sensation empfunden wurde und die politische Ordnung der Sowjetunion qualitativ veränderte. Es war abermals Gorbačev selber, der ihr ein griffiges Etikett gab – glasnost’. Zwar hatte er schon zuvor von der Notwendigkeit einer solchen neuen „Öffentlichkeit“ (eher im Sinne von ,Transparenz‘ als von ,Gesellschaftlichkeit‘) gesprochen, aber sie auf die Partei beschränkt und unter deren Aufsicht gestellt. Erst die spektakuläre Inszenierung vom Dezember 1986, Sacharov durch einen persönlichen Anruf aus Nižnij Novgorod nach Moskau zurückzuholen, verlieh ihr jene Dimension, die den Rahmen der alten Ordnung sprengte. Als der Generalsekretär den symbolischen Akt Anfang Februar 1987 gleichsam interpretierte, indem er dazu aufrief, die „weißen Flecken“ in der Sowjetgeschichte einzufärben, fassten die angesprochenen Journalisten und Wissenschaftler endgültig Vertrauen und ließen Taten folgen. Neue Zeitungen und Zeitschriften schossen wie Pilze aus dem Boden, bestehende vollzogen eine Kehrtwende, die Auflagen kletterten dank eines sprunghaft steigenden Leserinteresses in steile Höhen, kurz: in wenigen Monaten stellte sich her, was das alte Regime auf dem Wege der Zensur unterbunden hatte – eine diskutierende Öffentlichkeit des geschriebenen und gesprochenen Wortes, die sich von den Grundsätzen der Wahrheit und Meinungsfreiheit leiten ließ. Laut Gorbačev gehörte glasnost’ in diesem Sinne nicht nur untrennbar zum richtig verstandenen Sozialismus. Zugleich versicherte er, damit zu den leninistischen Anfängen der Sowjetunion zurückzukehren. Freilich gibt es gute Gründe, darin eine Selbsttäuschung zu sehen: Eine pluralistische Öffentlichkeit hatte es spätestens seit Beginn des Bürgerkrieges 1918 nicht mehr gegeben. So gesehen begann etwas völlig Neues, dessen Vereinbarkeit mit der Einparteienherrschaft als Quintessenz des Sowjetsozialismus sich erst noch erweisen musste. Wirtschaftlich verfuhr Gorbačev allerdings auch in dieser zweiten Etappe vorsichtiger. Seine Gründe bleiben im Einzelnen unklar. Womöglich war ihm sehr gut bewusst, dass Reformen in diesem Bereich auf engere Grenzen stoßen mussten, wenn sie systemimmanent bleiben sollten. So ging er nur ein kleines Stück auf dem vorgezeichneten Weg, das Engagement sowohl der Produzenten als auch der Manager zu fördern. Beides verlangte die Einführung von Elementen des Marktes und der Konkurrenz. In diesem Sinne belebte er die „wirtschaftliche ˙ neu und stellte Rechnungsführung“ (chozraščet), ein Hauptmerkmal der NEP,
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im Juni 1987 etwa 60 % der Staatsbetriebe auf diesen Grundsatz um. Zugleich ließ er in Gestalt von „Kooperativen“ wieder Privatunternehmen zu – auch dies ˙ auch dies aber auf den Dienstleistungssektor in Übereinstimmung mit der NEP, und das Kleingewerbe beschränkt. Beides tangierte die zentrale Planwirtschaft ebensowenig wie das staatliche Monopol auf Eigentum an Produktionsmitteln. Allerdings verfehlten beide Maßnahmen auch ihr Ziel, den ökonomischen Verfall aufzuhalten. Mitte 1988 begann abermals eine neue – und, wie sich zeigen sollte, letzte – Etappe der Perestrojka: die Demokratisierung. Denn was damit auf den Weg gebracht wurde, war mit dem Exklusivanspruch der KPdSU sowohl auf politische Repräsentation der Bevölkerung als auch auf Kontrolle über die Staatsmacht endgültig nicht mehr vereinbar. Die Zäsur markierte dabei die 19. Parteikonferenz im Juni. Von den Intellektuellen vorbereitet, die der neue Generalsekretär um sich geschart hatte – besonders Alexander Jakovlev, seit 1986 ZK-Sekretär und bald auch Mitglied des Politbüros, wurde zu einer Art Vordenker der Perestrojka –, sollte sie die Reform auf eine neue politische Grundlage stellen. Getreu dem Programm der Rückkehr zu den Anfängen beschloss das Gremium (eine Art kleiner Parteitag), die Idee der Räte durch die Einberufung eines sog. Volksdeputiertenkongresses als einer neuen obersten gesetzgebenden Versammlung wiederzubeleben. Noch weiter aber wagte sich Gorbačev mit dem Wahlmodus vor: Zwar sollte ein Drittel der 2250 Mitglieder von ,gesellschaftlichen Organisationen‘ nominiert, mithin faktisch unter starkem Einfluss der Partei delegiert werden, der Rest aber aus prinzipiell freien und alternativen Wahlen hervorgehen. So erlebte denn eine staunende Bevölkerung im April 1989 ein völlig neues Schauspiel : einen öffentlichen Wahlkampf mit zum Teil direkt übertragenen Fernsehdebatten. Konservative Kommunisten wie Egor K. Ligačev – ZK-Sekretär für Ideologie, der sich zunehmend, obwohl ebenfalls von Gorbačev berufen, als Sprecher der Kritiker profilierte –, die eine Reform, aber keine Systemveränderung wollten, erkannten, dass damit der Rubikon überschritten wurde, und protestierten heftig. Dabei mochten sie auch eine weitergehende Absicht Gorbačevs wittern: sich von einer Partei zu lösen, die sich zunehmend als reformunwillig erwies, und sich durch ein Staatsamt (als künftiger Präsident) eine neue Machtbasis zu verschaffen. Der neue Kongress trat am 25. Mai 1989 zu seiner ersten, zweiwöchigen Sitzungsperiode zusammen. Da er wie alle Räte nur temporär tagen sollte, wählte er als ständiges Exekutivgremium einen Obersten Sowjet aus 542 Deputierten, die zur Hälfte von den Sowjetrepubliken und Autonomen Regionen nominiert wurden. Dies entsprach dem Charakter des alten Obersten Sowjets, der sich ebenfalls aus einer Unions- und einer Nationalitätenkammer zusammensetzte, so wie der neue Oberste Sowjet strukturell auch in gewisser Weise dem Präsidium des alten glich. Allerdings machten der Volksdeputiertenkongress und der neue Oberste Sowjet als sein ständiges Organ unverzüglich klar, dass sie keine bloße Neuauflagen ihrer Vorgänger sein wollten. Der Kongress verlieh sich das Recht, nicht nur die Verfassung zu ändern, sondern darüber hinaus alle Gesetze des alten Obersten Sowjet zu überprüfen. Zugleich beschloss der neue Oberste Sowjet, dass seine Mitglieder ihren Beruf aufgeben und hauptamt-
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Entwicklung einer Parteienlandschaft
Schaffung eines Präsidentenamtes
Die letzten Monate der Sowjetunion
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liche Abgeordnete werden sollten. Damit verwandelte er sich in eben das, was die sozialistische Räteidee des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts prinzipiell abgelehnt hatte: in ein Parlament von Berufspolitikern. Solange der alte Staat bestand, fasste der Volksdeputiertenkongress wenig aufsehenerregende Beschlüsse. Dennoch veränderte er das politische Leben der Sowjetunion grundlegend. Er wurde zu einer landesweit beachteten Bühne, auf der erstmals frei diskutiert wurde, selbst ein Sacharov sprechen konnte und unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallten. Von Presse und Fernsehen bis in die letzten Winkel des Reiches vermittelt, avancierte er zum Forum und ,Schaukasten‘ des politischen Pluralismus. Noch unter dem Dach der Partei bildeten sich Fraktionen höchst unterschiedlicher Orientierung, die an die Seite der sich gleichfalls aufsplitternden Dissidentenbewegung traten. Damit entstand faktisch, wenn auch noch ohne eigene Institutionen, nichts Geringeres als eine Parteienlandschaft. Von hier war der Weg zur Aufhebung des Parteimonopols nachgerade vorgezeichnet. Dennoch wehrte sich Gorbačev gegen diesen letzten Schritt. Er scheint uneins mit sich selber gewesen zu sein: Auf der einen Seite zürnte er der Partei, weil sie ihm nicht folgte, und versetzte ihr mit (fast) freien Wahlen den Todesstoß; auf der anderen Seite wandte er sich öffentlich gegen die Abschaffung ihrer Vorrangstellung. Dennoch blieb ihm eine Entscheidung nicht erspart: Am 13. März 1990 – einem historischen Datum – tilgte der Volksdeputiertenkongress Artikel 6 der (unter Brežnev 1977 novellierten) Verfassung der UdSSR, der die KPdSU ausdrücklich zur einzigen Partei und führenden Kraft der Sowjetgesellschaft erklärte. Es entsprach einem inhärenten politischen Zusammenhang, dass dieselbe Versammlung der Schaffung eines neuen Präsidentenamtes zustimmte. Indem die Kommunistische Partei zu einer Partei unter mehreren wurde, konnte ihr Generalsekretär aus seinem Mandat keine besonderen Vollmachten mehr ableiten. Nur noch ein Staatsamt begründete staatliche Kompetenzen. Zugleich scheute Gorbačev zu einer Zeit, als seine Popularität im Inland schon dramatisch gesunken war, ein Plebiszit. So wurde der erste Präsident der Sowjetunion neuer Art, der im Gegensatz zum Vorsitzenden des Präsidiums des alten Obersten Sowjet als seinem ,strukturellen‘ Vorgänger tatsächliche Befugnisse besaß („exekutiver Präsident“), am 14. März 1990 indirekt vom Volksdeputiertenkongress gewählt. Einziger Kandidat war Gorbačev. Freilich half ihm das neue Amt nicht mehr. Auch abgesehen vom Drama des folgenden Jahres hingen düstere Wolken über der Perestrojka. Dafür gab es im Wesentlichen zwei Ursachen. Zum einen steuerte das Land wirtschaftlich auf den Abgrund zu. Die halbherzigen Maßnahmen, die das Kernproblem – eine Privatisierung auch des Bodenbesitzes und der Landwirtschaft – weiter bewusst aussparten, hatten keinerlei Wirkung gezeigt. Verschiedene Konzepte zu einer grundlegenden Reform einschließlich eines schnellen Übergangs zur Marktwirtschaft (im sog. „500-Tage“ oder Šatalin-Plan) wurden zwar überdacht, dann aber verworfen oder verwässert. Gorbačev, nicht nur ein großer Taktiker, sondern in entscheidenden Situationen auch ein Zauderer, wagte letztlich den systemüberschreitenden Sprung nicht. Weil zu wenig geschah, verlor das Land weiter an
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ökonomischer Leistungskraft. Löhne konnten nicht mehr ausgezahlt werden, in den Bergwerken des Ural und Südsibiriens kam es zu Massenstreiks. Im Winter 1990/91 musste die Sowjetunion zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder mit akuten Versorgungsnöten bis hin zum Hunger in der Provinz rechnen und ausländische Hilfe akzeptieren. Das böse Wort von der katastrojka machte die Runde. Zugleich drohte der Zerfall der Union. Im Rückblick wird noch klarer, dass es die glasnost’ und der Wahlkampf für den Urnengang zum Volksdeputiertenkongress waren, die eine neue politische Kraft ins Leben riefen: nationale Unabhängigkeitsbewegungen. Dabei gingen diejenigen Nationalitäten voran, die dem zarischen oder sowjetischen Imperium vergleichsweise spät einverleibt worden waren und der vorherrschenden großrussischen Kultur und Sprache am fernsten standen. Schon im Frühjahr und Sommer 1988 kam es in den kaukasischen und baltischen Republiken zu Protestkundgebungen. Danach entfalteten die Bewegungen – zumal konservative Kräfte die Chance zu gewalttätigen Gegenattacken nutzten – eine solche Sprengkraft, dass Gorbačev zu der Einsicht kam, nur ein neuer Unionsvertrag könne den Bestand des Gesamtstaates retten. Die Konfrontation spitzte sich weiter zu, als im Frühjahr 1990 auch in den Republiken eigene Volksdeputiertenkongresse gewählt wurden. Ganz überwiegend national gesinnt, strebten die laut Verfassung autonomen Glieder nun aus der Union heraus und verabschiedeten Unabhängigkeitserklärungen. Den Anfang machte am 11. März 1990 Litauen; ihm folgten bis zum Herbst Lettland, Armenien, Georgien sowie vor allem das Herz des Gesamtstaates: die „Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik“ (RSFSR). Gorbačev antwortete darauf im Herbst mit dem Entwurf eines neuen Unionsvertrages, der den Adressaten allerdings nicht weit genug ging. Auch wenn überhaupt nur noch neun Republiken ihr Interesse bekundeten, sich mit der Zentralmacht an einen Tisch zu setzen (namentlich fehlten die baltischen Republiken sowie Georgien und Armenien), war der – nach einer Volksbefragung am 17. März begonnene – zweite Versuch im Frühjahr 1991 („9+1“-Gespräche in der Regierungsresidenz Novo-Ogarevo) erfolgreicher. Man einigte sich auf einen Text, der am 20. August unterzeichnet werden sollte. Post festum liegt offen zutage, dass Gorbačev die Frondeure, die ihn am 19. August absetzten, selbst in ihre Ämter gebracht hatte. Offenbar gab es im Winter 1990/91 ein Arrangement mit führenden konservativen Kräften. Ein erklärter Reformgegner wurde Innenminister (B. K. Pugo), ein mittelmäßiger konservativer Funktionär Vizepräsident (G. I. Janaev) und ein ebenfalls kaum bekannter Fachmann gleicher Orientierung Ministerpräsident (V. S. Pavlov). Um dieselbe Zeit trat mit unheilvollen Andeutungen und großer internationaler Wirkung der hoch angesehene Reformbefürworter Ševardnadze als Außenminister zurück (20. Dezember). Was der georgische Mitstreiter Gorbačevs gemeint hatte, geriet in Vergessenheit – bis die sowjetische Bevölkerung in der Frühe des 19. August aus dem Radio erfuhr, dass ihr Präsident amtsunfähig sei und sein Stellvertreter, dem ein Notstandskomitee zur „Erneuerung“ des Vaterlandes zur Seite stehe, alle Vollmachten übernommen habe. Was auf der Krim, wo Gorbačev seinen letzten Urlaubstag verbrachte, im Einzelnen geschah, wird bis zur Öffnung der Archive unbekannt bleiben. Nach
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bisherigem Kenntnisstand erhielt er am 18. August ungebetenen Besuch, der ihn aufforderte, seine Befugnisse an den Vizepräsidenten zu übertragen. Gorbačev weigerte sich, so dass die Putschisten unverrichteter Dinge abziehen und die Macht durch einen offenen Staatsstreich übernehmen mussten. Dieser Coup war aber dilettantisch vorbereitet und geriet schnell ins Stocken. Zwar bezogen am Morgen des 19. August Panzer vor dem „Weißen Haus“ an der Moskva, dem Tagungsort des russischen Volksdeputiertenkongresses, Stellung, aber es waren nur wenige und die Loyalität ihrer Besatzung begrenzt. Vor allem aber hatten die Frondeure vergessen, den mutmaßlich wichtigsten Gegner festzusetzen: den russischen Präsidenten Boris N. El’cin, der nicht nur zur populärsten Persönlichkeit der Demokraten geworden, sondern am 12. Juni 1991 auch noch mit großer Mehrheit in direkter Wahl – die Gorbačev gescheut hatte – zum Präsidenten der RSFSR bestellt worden war und damit über eine einzigartige Legitimation verfügte. Dieser Mann konnte in der Frühe des Tages, als er von der Erklärung des Notstandskomitees erfuhr, nicht nur seine engsten Mitarbeiter zusammenrufen und unbehindert telephonieren (unter anderem mit dem ihm bekannten Kommandeur einer Spezialeinheit, dessen Loyalität gegenüber der Zentralgewalt er zu erschüttern vermochte). Allen zusammen gelang es auch noch, unbehelligt per Auto in das Weiße Haus zu fahren, um den Widerstand zu organisieren. Vom Dach eines ,übergelaufenen‘ Panzers aus – medienwirksame Bilder, die um die ganze Welt gingen – verurteilte er den Putsch und rief die Soldaten auf, keinen Verrat zu unterstützen. Als neue Panzereinheiten, die Verstärkung bringen sollten, am frühen Morgen des 21. August in einer Menschenmenge steckenblieben, hatten die Verteidiger gesiegt. Aber nicht nur die Konspirateure waren gescheitert. Auch Gorbačev kehrte gedemütigt zurück. Von seinem persönlichen Erzfeind El’cin – der ihm die Ablösung als Erster Sekretär des Moskauer Stadtkomitees Ende 1987 wegen allzu harscher Kritik an der Reformunwilligkeit des Partei-Establishments nicht verziehen hatte – gleichsam wiedereingesetzt, glich er einem Feldherrn ohne Truppen. Was folgte, war ein rasanter Zerfall der Union. Die Glaubwürdigkeit der Perestrojka war endgültig zerstört, das Vertrauen in die Erneuerbarkeit des Gesamtstaates weitgehend erloschen. Noch im August und September erklärten weitere elf Republiken ihre Unabhängigkeit. Als auch die Ukraine am 1. Dezember ihren Wunsch nach Eigenständigkeit bekräftigte und einen eigenen Präsidenten wählte, war das Ende der Sowjetunion nicht mehr aufzuhalten. Am 7. Dezember 1991 kamen die Präsidenten der drei slavischen Kernstaaten: Russlands, der Ukraine und Weißrusslands, bei Minsk zusammen, um eine neue Gesamtordnung als Ersatz für die alte zu vereinbaren. Sie hoben – unter bewusster Vermeidung des Begriffes „Bund“ (sojuz) – eine lose Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) aus der Taufe, der am 21. Dezember in der kazachischen Hauptstadt Alma Ata insgesamt elf ehemalige Sowjetrepubliken förmlich beitraten. Damit war die Sowjetunion überflüssig geworden. Nach dem Rücktritt Gorbačevs, der nun endgültig ein König ohne Reich war, löste sie sich zum 31. Dezember 1991, gut 74 Jahre nach dem Oktoberumsturz, auf.
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8. Ein neues Russland? (seit 1991) Der Untergang des alten Staates markierte eine Zäsur von historischem Ausmaß. Was als Alternative zur bürgerlich-kapitalistischen, liberaldemokratisch verfassten Gesellschaft begonnen hatte und den Anspruch erhob, Vollendung der sozialen Entwicklung der Menschheit zu sein, brach endgültig zusammen. Zugleich war Neues sichtbar geworden. Aber dessen Umsetzung in praktische Politik und seine rechtlich-institutionelle Verankerung standen noch bevor. Der Zerstörung musste der Aufbau folgen. Beides gehörte zusammen. Deshalb spricht alles dafür, die Übergangsphase, die unter den Nachfolgern Brežnevs begann, über das Ende der Sowjetunion hinaus zumindest bis zur annähernden Etablierung einer neuen politischen Struktur andauern zu lassen. Als Schlusspunkt in diesem Sinne bietet sich die Annahme einer neuen Verfassung am 12. Dezember 1993, verbunden mit der ersten Wahl zum darin neu begründeten Parlament (Duma), an. Um dieselbe Zeit hatte auch die Veränderung der Wirtschaftsordnung ein Stadium erreicht, das eine Rückkehr zum Alten mehr als unwahrscheinlich machte. Damit fand ein Systemwechsel seinen Abschluss, der in seiner Wirkung (durch den Zusammenbruch auch des ,Ostblocks‘ 1989 weit über die Grenzen der alten Sowjetunion hinaus) und Durchschlagskraft auf alle Bereiche von Staat und Gesellschaft dem revolutionären Beginn der Sowjetunion nicht nachstand – aber vergleichsweise unblutig verlief und im Wesentlichen ohne Massenbeteiligung ,von oben‘ erfolgte. Die Übergangszeit stand in der Russischen Föderation, der Haupterbin und Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion – die Verhältnisse in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion müssten gesondert beschrieben werden –, im Zeichen einer neuen „Doppelherrschaft“. Dabei bestand zwischen den beiden aus der Perestrojka überkommenen Machtzentren – dem Volksdeputiertenkongress und dem direkt gewählten Präsidenten – anfangs durchaus Übereinstimmung. Sie kam unter anderem darin zum Ausdruck, dass El’cin vom Kongress am 1. November 1991 Sondervollmachten erhielt. Schon bald aber brach ein erbitterter Streit aus, dessen Gegenstände und Motive nicht immer klar waren. Sicher war auf beiden Seiten eine erhebliche Portion Starrsinn im Spiel. Im Kern aber ging es um die politische Macht, der auch unterschiedliche Meinungen über den wirtschaftlichen Kurs nachgeordnet blieben. Noch im Rückblick fällt es schwer, einen praktikablen Kompromiss zu erkennen. Beide Institutionen beanspruchten die Souveränität, beide beriefen sich auf ihre Legitimation durch Wahlen. Der Streit ist müßig, weil er rechtlich nicht zu lösen war : Wo eine neue Verfassung entstand, konnte die alte – wie modifiziert auch immer – nicht als Maßstab dienen. Der einzige Ausweg hätte in der Wahl einer Konstituierenden Versammlung gelegen. Daran waren aber weder der Deputiertenkongress, der sich selber abgeschafft hätte, noch der Präsident interessiert, der um seinen Einfluss fürchten musste. So blieb die bewaffnete Konfrontation nicht aus. Nach der Auflösung des Volksdeputiertenkongresses durch El’cin am 21. September 1993 erhoben sich die konservativen Kräfte im Umkreis der Anführer des ,Weißen Hauses‘ am 3. und 4. Oktober in Gestalt
Übergangszeit bis 1993
Konflikt zwischen Volksdeputiertenkongress und Präsident
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Übergang zur Marktwirtschaft
I. Darstellung
eines regelrechten Sturms auf strategisch wichtige Einrichtungen der Hauptstadt. Erneut gab das Militär den Ausschlag. Loyale Panzerverbände, die der Präsident aus der Umgebung nach Moskau beorderte, schossen anderntags eben das ,Weiße Haus‘, das er zwei Jahre zuvor noch unter Einsatz seines Lebens verteidigt hatte, mit schweren Geschützen sturmreif. Damit war der Weg frei für das Referendum über eine neue Verfassung und Dumawahlen am 12. Dezember. Das Ergebnis hielt allerdings nicht, was sich El’cin erhoffte: Zwar wurde die stark präsidial orientierte Verfassung angenommen; aber nicht die Demokraten siegten, sondern Kommunisten und Rechtsextreme (mit zusammen 36,7 % der Stimmen). Schon dazu dürften auch die ökonomischen Turbulenzen beigetragen haben, die der beschleunigte Übergang zur Marktwirtschaft mit sich brachte. Gemäß seinem radikalreformerischen Programm gab El’cin nicht nur Grund und Boden für den privaten Erwerb frei. Auch und vor allem Staatsunternehmen sollten umgehend und vollständig privatisiert werden. Dazu ersann man – unter Beihilfe westlicher Berater – ein Verfahren, das bald als voučerizacija eher berüchtigt als bekannt war. Für jeden Betrieb wurden in Abhängigkeit vom jeweiligen Nominalwert Aktien ausgegeben. Ein bestimmter Anteil, mindestens jedoch ein knappes Drittel – die jeweils übrigen waren der Belegschaft vorbehalten – sollte auf öffentlichen Auktionen verkauft werden, für die jeder Bürger Berechtigungsscheine eines bestimmten Wertes erhielt. Viele erkannten den potentiellen Wert dieser „Voucher“ aber nicht und verkauften sie, oft durchaus mit Gewinn, an ,wissende‘ Interessenten weiter (zumal sie bei den Banken nicht eingelöst werden konnten). Im Ergebnis kamen viele „rote Direktoren“ (die Manager der alten Staatsbetriebe), aber auch Geschäftstüchtige aller Art, die die einmalige Gunst der Stunde erkannten und die Chancen der Unternehmen (z. B. in der Rohstoffgewinnung) auf dem nationalen und globalen Markt abzuschätzen wussten, mit minimalem Geldeinsatz, beinahe umsonst, in den Besitz großer, teils riesiger Vermögen. Parallel zu dieser vielleicht gut gemeinten, aber äußerst unglücklich durchgeführten Umkehrung der Nationalisierung von 1917/18 gab die neue Regierung alle Preise frei, strich Subventionen für marode Betriebe (die dann oft Konkurs anmelden mussten), war aber nicht in der Lage, die Renten und Pensionen samt Sozialleistungen aller Art auf ein halbwegs angemessenes Niveau anzuheben. Ergebnis dieser radikalen wirtschaftlichen Liberalisierung, die sich mit den Namen des Premierministers Egor Gajdar und des Beauftragten für das Staatsvermögen Anatolij Čubais verband, waren eine drastische Verarmung der Bevölkerung, ein weiterer starker Rückgang der Industrieproduktion und eine rasante Inflation. Gajdar musste gehen. Nachfolger wurde mit Viktor Černomyrdin ein ehemaliger ,roter Manager‘, Direktor des größten sowjetischen Unternehmens (Gazprom), der fast fünf Jahre amtierte. Wie kaum ein anderer repräsentierte der neue Mann den innen- und wirtschaftspolitischen Kurs dieser zweiten Phase der El’cin-Ära: den status quo zugunsten der neuen, schmalen Schicht von Profiteuren der Nomenklatura-Privatisierung und einflussreicher Bürokraten aus der Umgebung der übermächtigen präsidialen Exekutive. Dazu trug die zweite Dumawahl vom Dezember 1995 maßgeblich bei, da sie die Kommunisten zur größten Fraktion machte. Aus Furcht vor einem ähnli-
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chen Ausgang der anstehenden Neuwahl zum höchsten Staatsamt rückten El’cin und die „Oligarchen“ noch enger zusammen. Mit deren massiver Unterstützung sicherte sich der längst schwerkranke Präsident im Juni 1996 die Wiederwahl. Erst die dritte Dumawahl vom Dezember 1999 bannte die Gefahr der Rückkehr in sowjetische Zeiten, da die Kommunisten starke Einbußen erlitten (aber stärkste Partei blieben). Nur konnte El’cin die neue Lage nicht mehr nutzen. Schwerwiegende Korruptionsvorwürfe und ein Gesundheitszustand, der der Amtsunfähigkeit gleichkam, brachten ihn in zusätzliche Abhängigkeit vom Geheimdienst. Zum Ausklang des Jahrtausends, am 31. Dezember 1999, trat er von der aktiven Ausübung seines Amtes zurück und übergab es kommissarisch an einen Mann, der bis zu seiner Ernennung zum neuen Ministerpräsidenten (nach mehreren kurzzeitigen Amtsinhabern) öffentlich kaum in Erscheinung getreten war : den ehemaligen Chef des Geheimdienstes Vladimir V. Putin. Von der geballten Macht des Präsidenten und den Medien unterstützt, getragen von einer Woge nationaler, durch einen neuerlichen Krieg gegen das abtrünnige Tschetschenien geschürter Emotionen wurde dieser homo novus aus seiner verfassungsmäßig nicht vorgesehenen Funktion heraus am 26. März 2000 regulär zum zweiten Präsidenten der Russischen Föderation gewählt. So konnte man zu Beginn des neuen Jahrtausends davon ausgehen, dass die Sowjetunion endgültig der Vergangenheit angehörte. Die neue politische Ordnung war nicht nur durch die Verfassung rechtlich fest etabliert, sondern auch in der Praxis verankert. Eine Präsidentschaftswahl und drei Parlamentswahlen hatten Strukturen und Interessen geschaffen, die nicht ohne neue umstürzende Ereignisse beiseite geschoben werden konnten. Auch wenn Russland weiterhin – fast möchte man sagen: nach uraltem Muster – vor allem seine unerschöpflichen Rohstoffreserven für den Weltmarkt ausbeutete, wenig selber produzierte und ein nennenswerter, ökonomisch unabhängiger und tragender Mittelstand weiterhin fehlte, hatten sich Privateigentum und Marktwirtschaft durchgesetzt. Ungeachtet aller Unzufriedenheit unter den einfachen Leuten und einer erheblichen Nostalgie der älteren Generation sprach wenig für die Möglichkeit, das Rad der Geschichte tatsächlich nennenswert zurückzudrehen. Bei alledem bewahrte die neue Ordnung nach Meinung vieler westlicher und innerrussischer liberaler Beobachter manche Eigenarten, die Anlass zur Skepsis gaben; in jedem Fall waren sie dazu angetan, auf Fortsetzung der Reformen zu drängen. Dazu gehörte allem voran die dominante Stellung der Exekutive und des Staates generell. El’cin hatte eine Verfassung durchgesetzt, die ihm große Vollmachten einräumte und die Rechte des Parlaments entsprechend beschränkte. Die Regierung war faktisch ihm, nicht dem Parlament unterstellt und verantwortlich. Das hätte zu keiner Einseitigkeit führen müssen, wenn sich starke Parteien und eine aktive Zivilgesellschaft als ihr Fundament entwickelt hätten. Selbstorganisation, Eigeninitiative und Partizipation, Pluralismus und Regionalismus aber blieben auf die größeren Städte, besonders auf deren Bildungsschichten, begrenzt. Ansätze zu ihrer weiteren Ausbreitung, die es fraglos gab, gingen im zunehmenden Chaos der späten neunziger Jahre unter. Dies war umso eher der Fall, als El’cins Nachfolger sie, gestützt auf die ohnehin vorhandene Übermacht der Exekutive, gezielt austrat. Putin, der 2004 wiedergewählt
El’cin tritt zurück
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wurde, nutzte seine ersten Amtszeiten, um die Regionen mittels einer Bestätigungspflicht für Gouverneure durch den Präsidenten wieder an die Kandare zu legen, den kremlfreundlichen, faktisch von ihm abhängigen Parteien in der Duma eine klare Mehrheit zu verschaffen, die „Oligarchen“ aus den Medien und der Politik zu verdrängen, und ihren ökonomischen Einfluss stark zu beschneiden, um selber die Kontrolle über Fernsehen und Presse zu übernehmen und generell dem staatlichen Gewaltmonopol wieder Geltung zu verschaffen. Die Bevölkerung hat ihm Letzteres als Wiederherstellung von Ordnung und Sicherheit, um die es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zweifellos schlecht bestellt war, mit hohen Zustimmungsraten gedankt. Nur wird spätestens seit Putins zweiter Wiederwahl im Mai 2012 (2008–2012 hatte er sein Amt wegen des Verbots einer dritten konsekutiven Amtzeits mit dem Ministerpräsidenten Dmitrij A. Medvedev getauscht) zunehmend klar, welchen Preis das Land dafür zu zahlen hat. Die „koordinierte Demokratie“ entpuppt sich immer deutlicher als parlamentarisch kaschiertes autoritäres Regime, das die freie Meinungsäußerung und erst recht politisch organisierte Opposition gegen die rigoros unterdrückt und Presse und Medien an kurzer Leine führt. Der zentralistische starke Staat ist zurück, und mit ihm leben patriotisch-nationalistische Parolen als ideologisches Fundament und Bindemittel wieder auf. Beides hat in der russischen Geschichte eine lange Tradition und kann sich in vieler Hinsicht freier entfalten als in der alten Sowjetunion, die stets auf ihre ausgeprägte ethnisch-kulturelle Vielfalt und den „proletarischen Internationalismus“, den sie predigte, Rücksicht nehmen musste. Man kann nur hoffen, dass die zählebige Wiederkehr der Vergangenheit auch für deren zweiten Teil gilt : dass dem slavophilen Autoritarismus seit Jahrhunderten meist wieder jene Phase der liberalen Westorientierung folgte, die ihr auch schon vorausging.
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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung 1. Ursachen der Revolution: Strukturprobleme oder Kriegsfolgen? Die Kontroversen über die Ursprünge der Russischen Revolution haben nicht nur ihre eigene Geschichte; sie gehören sogar zum Kern des Geschehens selbst. Die Darstellung des Umsturzes war in besonderem Maße immer auch eine Darstellung der Theorien seines historischen Ortes, seiner Funktion und Wirkung in langfristiger Perspektive und seiner geistigen Vorbereitung durch politische Zeitanalysen und philosophisch-sozialökonomische Gedankengebäude. Die ältere, vorrevolutionäre inner- und außerrussische Forschung hat solche ideologischen Positionen teilweise übernommen und zu wissenschaftlichen Anschauungen umgeformt. Dabei dominierte eine Haltung, die Russlands Zukunft in der Gegenwart des Westens (i.e. in Europa jenseits von Polen) sah und sowohl dessen wirtschaftlicher, industriell-kapitalistischer als auch seiner politischen, konstitutionell-demokratischen Verfassung aufgeschlossen gegenüberstand. Die prominentesten dieser Autoren – wie P N. M, A A. K, J N. G’ oder B D. B (B) – waren den Konstitutionellen Demokraten eng verbunden. Nur wenige bezogen monarchistische, slavophile, populistische oder marxistische Positionen. Nach dem Oktoberumsturz und der Etablierung einer verbindlichen Staatsdoktrin wurde diese relative Meinungsvielfalt vom Gegensatz zwischen Befürwortern und Gegnern des leninistischen Marxismus aufgesogen. Die Konfrontation fiel weitestgehend mit dem Lebens- und ,Produktionsort‘ der Verfasser zusammen: Wie die politische Publizistik spaltete sich auch die Geschichtswissenschaft in eine „vaterländisch“-sowjetische und eine im Exil beheimatete. Bis 1991 war daher die Rede von einer stets konträr gedachten ,sowjetischen‘ und ,westlichen‘ Historiographie im Großen und Ganzen gerechtfertigt; seither haben sich die Auffassungen erfreulich differenziert. Daneben entstanden in beiden Lagern jeweils innere Unterschiede der Herangehensweise und Deutung, im westlichen auch klare Gegensätze im Sinne eines methodisch-theoretischen Pluralismus. Insgesamt stand vor allem die neue russische Forschung im Zeichen der Beseitigung der vielen ,weißen Flecken‘ in der sowjetischen Geschichte samt der Korrektur alter Deutungsvorgaben, die der plötzliche freie Zugang zu den Archiven ermöglichte. Aber auch die westliche Diskussion hat sich in erheblichem Maße auf die Erörterung der Befunde konzentriert, die sich aus der Durchforstung erstmals zugänglicher Dokumente ergaben. Beides rückte den Stalin’schen Terror und allgemein die Gewalttätigkeit des Sowjetregimes samt dem Widerstand vor allem der Bauern sowie generell die Vorkriegsjahrzehnte stark in den Vordergrund. Ganze Reihen umfangreicher Dokumentationsbände haben die Forschung hier auf eine völlig neue Grundlage gestellt. Dies gilt inzwi-
Russische Revolutionsforschung
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Kontroversen über die Revolutionsursachen
Wirtschaftsgeschichte
Alexander Gerschenkron
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
schen auch für einige Schlüsselereignisse der Chruščev-Zeit, die in den letzten Jahren zunehmend in den Blick geraten ist. Die bedeutendsten Debatten der gesamten älteren und neueren Forschung seien im Folgenden knapp skizziert; auf andere kann nur verwiesen werden. Dem Charakter der Revolution und der Radikalität des Umbruchs entsprach die Heftigkeit des Streits über ihre Ursachen. Die Diskussion hält an und scheint sich in einer Spirale, wenn nicht im Kreis zu bewegen. Jedenfalls sind die hauptsächlichen Positionen weitgehend unverändert geblieben. Im Kern war (und ist) kontrovers, ob sich das Zarenreich am Vorabend des Weltkrieges und seines Untergangs auf aussichtsreichem Weg zu einem tendenziell demokratischen Verfassungsstaat mit pluralistischem Parteiwesen befand oder ob es sich so tief in einer inneren Struktur- und Systemkrise verfangen hatte, dass die Wahrscheinlichkeit seines Zusammenbruchs unter der zusätzlichen Last des Krieges groß war. Umstritten sind daher nicht nur Zustand und Entwicklungschancen des Ancien Régime, sondern in gleichem Maße der Anteil des Krieges an seinem gewaltsamen Ende. Beides hängt miteinander zusammen. Wer den Zusammenbruch der Monarchie letztlich als Resultat eines langen Siechtums und struktureller Defizite deutete, konnte im Weltkrieg zwar eine wesentliche, aber keine exklusive Ursache erblicken. Wer das alte Reich im Prinzip für lebens- oder sogar zukunftsfähig, wenn auch nicht für stabil erklärte, musste dem äußeren Krieg die hauptsächliche Verantwortung für seinen rapiden Kollaps zuweisen. Der Neigung zur griffig-abkürzenden Redeweise folgend hat man diese beiden Auffassungen mit den Etiketten optimistisch und pessimistisch versehen. Advokaten bzw. Gegner der jeweiligen Deutung argumentierten auf den verschiedensten Gebieten der historischen Wirklichkeit und Wissenschaft. Dabei zeigt sich eine gewisse Affinität zwischen sozialhistorisch-struktureller Verfahrensweise und ,pessimistischer‘ Sicht auf der einen Seite und eher partei-, verfassungs- und ideengeschichtlicher Forschung und ,optimistischer‘ Sicht auf der anderen. Wesentliche Ausnahmen verbieten es aber, von mehr als einem losen, wenngleich kaum zufälligen Zusammenhang zu sprechen. In der Wirtschaftsgeschichte des ausgehenden Zarenreichs zwischen der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 nahm diese Kontroverse die Gestalt konträrer Meinungen über die Chancen eines dauerhaften, sich selbst tragenden industriellen Wachstums und der Rolle des Agrarsektors dabei an. Skeptiker argumentierten, dass sich die Landwirtschaft in einem ausweglosen Zirkel von rückständiger Anbautechnik, dörflicher Übervölkerung, Landknappheit und begrenztem Nachfragepotenzial für die Industrie verstrickte (zeitgenössisch vor allem B [z. B. 831 : Agrarentwicklung], aus größerem zeitlichem Abstand N [z. B. 724 : Wirtschaftspolitische Alternativen]). Ihnen sekundierten solche Forscher, die der russischen Wirtschaft um die Jahrhundertwende einen ausgeprägt dualistischen Charakter und eine klare Trennung zwischen Industrie und Landwirtschaft attestierten [z. B. frühe Arbeiten von G wie 683: Wirtschaftliches Wachstum]. Auch die ,klassische‘ Darstellung der zarischen Agrarpolitik nach 1861 von Alexander G mit der Behauptung, die beibehaltene Freizügigkeitsbeschränkung für überschüssige Arbeitskräfte auf dem Dorf habe in Verbindung mit
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1. Ursachen der Revolution : Strukturprobleme oder Kriegsfolgen?
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der geringen Produktivität und andauernden Kapitalarmut der Landwirtschaft zu schwerwiegenden Behinderungen der Industrialisierung geführt, gehört in diesen Zusammenhang [677: Agrarian Policies], desgleichen die zeitgenössische These von der unüberwindbaren ,Enge‘ des russischen Binnenmarktes [113: V, Sud’by kapitalizma; 127: N-O, Očerki]. Dagegen wiesen andere Experten auf Strukturveränderungen der Wirtschaft im Sinne eines Prozesses hin, der die Defizite der Industrie durch verschiedene „Substitute“ ausgeglichen und die Schranken zwischen Stadt und Land allmählich mit dem Ergebnis einer sich selbst tragenden Dynamik überwunden habe. Alle Überlegungen dieser Art nahmen in der ein oder anderen Form Bezug auf die sog. Theorie der relativen Rückständigkeit G, deren Ziel eben darin bestand, die ,Normalität‘ der russischen Wirtschaft seit der Erholung von der ,ersten‘ Revolution von 1905, mithin für die entscheidenden Vorkriegsjahre, nach Maßgabe der ,fortgeschrittenen‘ Staaten zu belegen [vgl. v. a. 678: G, Economic Backwardness; D. 679: Continuity; 680 : D., Problems]. Inzwischen ist von den vermeintlichen Besonderheiten der russischen Wirtschaft des ausgehenden Zarenreichs nicht mehr viel geblieben. So gut wie alle Strukturmerkmale der industriellen Rückständigkeit wurden widerlegt [684: G, National Income; 685: ., Before Command]. Der Landwirtschaft hat man ein deutlich günstigeres Zeugnis ausgestellt [712 : L, Lage der Bauern; 667 : E, Ways of Seeing; 673: G, Tsarist Economy] und ihr auch die Fähigkeit zugesprochen, die weitere Industrialisierung zu tragen. Da jedoch an dem Faktum zweier Revolutionen und der grundlegenden Rolle der Bauern dabei nicht zu zweifeln ist, muss die allzu direkte und ursächliche Verknüpfung von ökonomisch-materieller Krise und agrarischem Sozialprotest aufgegeben werden: Zwar erhoben sich die Bauern gegen die Autokratie, aber (primär) aus anderen Gründen. Sozialgeschichtlich gaben die ,Pessimisten‘ den Ton an. Sicher neigten Untersuchungen zur Arbeiterschaft in besonderem Maße zu einer ex- oder impliziten Deutung, die dem Zarenreich keine günstige Prognose stellte. Die Ursache dafür liegt auf der Hand: Gleichviel ob man die Gewerkschaften [wie 654: B, Roots of Rebellion] oder Streiks [wie 691: H, P, Two Strike Waves; 692 : H, Labor Unrest; 693 : ., Problem] untersuchte – ohne nennenswerte Ausnahme kamen die einschlägigen Darstellungen zu dem Ergebnis, dass gerade die Arbeiterschaft als neue Klasse der Industriegesellschaft in der alten Ordnung keinen angemessenen Platz fand. Dieses Argument bot sich auch zur ,Verlängerung‘ in die Kriegsjahre an [718: MK, St Petersburg; 747: S, Arbeiter]. Zweifellos nahmen Streiks und Unruhen vor allem seit 1916 so sprunghaft zu, dass sie maßgeblich zur letalen Krise des Ancien Régime beitrugen. Nicht ohne Grund begann die Februarrevolution als Protestdemonstration hungernder und frierender Arbeiterfrauen. In dieser Diagnose herrschte ungewöhnliche Einigkeit zwischen der westlichen und der sowjetischen Forschung, auch wenn Letztere die Rolle der Bolschewiki ebenso bis über die Grenze der Fälschung hinaus übertrieb [731 : Rabočij klass Rossii; 732 : Rabočij klass i rabočee dviženie; 708 : L, Na šturm u. a.; Literatur
Neue Erkenntnisse
Sozialgeschichte
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Politische Geschichte
Westliche Forschung
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
bei: 655: B, Russische Revolution, 54ff., 95ff.] wie die vermeintliche angeborene Revolutionsbereitschaft und „Hegemonie“ des Proletariats spätestens seit der Jahrhundertwende [z. B.732: Rabočij klass i rabočee dviženie; 741: Rossijskij proletariat: Oblik, weitere Literatur hier sowie bei: 699: H, Geschichte Russlands, 1183ff.]. In deutlich geringerem Maße waren Studien über die Bauernschaft für ein Untergangsszenario ins Feld zu führen. In den Dörfern blieb es vor und während des Krieges, anders als in den Städten, relativ ruhig. Andererseits trugen die Befunde über die Langsamkeit der Umsetzung der Stolypin’schen Reformen, über die Beharrungskraft der obščina und die harte Gangart einer neuen, marktwirtschaftlich denkenden Generation adeliger Großgrundbesitzer in ihren Konsequenzen für Veränderungen und eine friedliche Entwicklung auf dem Lande eher zu skeptischen Urteilen bei [724: N, Wirtschaftspolitische Alternativen; 649 : A, Land Commune; 714: M, Government and Peasant; 690: H, Politics; 717 : M, Crisis; 722: M, Landwirtschaft; anders 667: E, Ways of Seeing; Übersicht: 703: K-M, M, Peasant Economy; Gesamtbilanz jetzt bei 721: M, E, Social History]. Die zentrale Arena für den Disput zwischen Optimisten und Pessimisten war jedoch die politische Geschichte mit besonderem Akzent auf der Entfaltung eines Parteiwesens und einer politischen Öffentlichkeit. Im Kern stand dabei die Frage zur Debatte, ob die Revolution von 1905/06 und die erste Verfassungsurkunde der russischen Geschichte als ihr größter Triumph eine Teilhabe der ,Gesellschaft‘ an der Regierung des Landes verankerten und damit die Aussicht auf einen dauerhaften inneren Frieden und eine allmähliche Demokratisierung eröffneten oder nicht. Die westliche, stark von der liberalen Emigration geprägte Forschung hat bis in die frühen 1960er Jahre hinein überwiegend positiv geantwortet. Sie hielt die „Entstehung der Demokratie im vorrevolutionären Russland“ [756: W, Rise of Democracy; 709: L, Liberalismus] für solide und die „Chancen des liberalen Konstitutionalismus“ (T. L) für günstig. Ein Beitrag von L H. H [693 : Problem, samt der anschließenden Debatte], der fraglos eine ungewöhnliche Resonanz hervorrief, leitete in der Mitte dieses Jahrzehnts eine Wende ein, der die meisten Sachkenner bis in die späten 1980er Jahre folgten. Der Begriff des „Schein-Konstitutionalismus“, den einst Max W zur Kennzeichnung der „Grundgesetze“ vom April 1906 geprägt hatte [757: W, Russlands Übergang], wurde zum weithin akzeptierten Etikett einer Gesamtinterpretation, die das „konstitutionelle Experiment“ für gescheitert erklärte und darin eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Revolution erblickte [700 : H, Constitutional Experiment, 246]. Dabei bezog dieses Argument zusätzliche Überzeugungskraft aus dem Nachweis einer deutlichen Radikalisierung der Arbeiterschaft am Vorabend des Weltkrieges. Aus beiden Befunden entstand die wohl einflussreichste Gedankenfigur zur Erklärung sowohl des Zusammenbruchs der Monarchie als auch des Sturzes der Provisorischen Regierung im Oktober 1917: dass die russische Gesellschaft in diesen entscheidenden Jahren von einer doppelten Polarisierung zerrissen worden sei, die die liberale Oberschicht von der monarchischen Staatsspitze und
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von der Masse, vor allem in Gestalt der Arbeiterbewegung, zugleich getrennt habe [693 : H, Problem]. Allerdings hat es stets auch abweichende Meinungen gegeben, die auf die große Bedeutung gegenläufiger Entwicklungen hinwiesen. Die Entstehung einer publizistisch-politische Öffentlichkeit wurde beschrieben, die der Zar und seine Regierung nicht mehr ignorieren konnten [688: H, Entfaltung]. Ein Justizwesen entstand, das auch in Russland den Weg zum Rechtsstaat eröffnet habe, auch wenn manche Defizite blieben [650 : B, Autokratie und Justiz; 710: L, Verwaltungsgerichtsbarkeit]. In den zemstva und den Stadtverwaltungen sammelte sich, besonders evident während des Krieges, administrative Kompetenz und reformorientiertes politisches Engagement, die bereit und fähig waren, den alten Staat ,von innen her‘ zu übernehmen [668: E, V, Zemstvo; 686 : G, Selbstverwaltung; 725: P, Moderates; 762 : P, Société civile; 729 : P, Development; 663: C, Emerging Democracy; kritisch 672: G, Liberal’naja oppozicija]. Eben diese neuere Variante der ,optimistischen‘ Perspektive erhält in jüngster Zeit deutlichen Auftrieb. Dabei kommen zwei verschiedene Bewegungen zusammen: die Abkehr vom sozialgeschichtlichen Blick auf Klassen, Streiks und Protest sowie die kulturgeschichtliche Frage nach mentalen Gemeinschaften, Bindungen und Identitäten auf der einen Seite und die – politisch vom Zusammenbruch der Sowjetunion inspirierte – Suche nach einer anderen liberal-demokratisch-bürgerlichen, nicht von der alles beherrschenden Revolution prä-selektierten Geschichte. Es ist die Möglichkeit einer ,westlichen‘ Alternative zum Bolschewismus, die in postsowjetischer Sicht in den Vordergrund rückt – und damit abermals, zugleich in neuer Form, die Plausibilität einer ,optimistischen‘ Perspektive [744: Š, Liberal’naja model’; 719 : Mentalitet i kul’tura; 696 : H, Universität und städtische Gesellschaft; 687: H, Gesellschaft; 697: H, Gesellschaft; 653 : B, Jenseits; 699: H, Geschichte Russlands, 1207ff., 1218ff.; 666: D, Russia; 748 : S, Petersburg]. Wie zu erwarten, verlief die sowjetische Diskussion in anderen Bahnen. Unter Lenin und Stalin verpflichtete sie das marxistische Dogma darauf, nicht nur den grundsätzlichen, sondern auch den weitgehenden chronologischen Gleichlauf der ,westlichen‘ Geschichte mit der russischen zu belegen. Dies geschah unter Federführung der Wirtschaftsgeschichte, die zur historischen Leitdisziplin wurde: Aus der allgemeinen Verortung einer Epoche als „kapitalistisch“ oder „imperialistisch“ ergab sich in erheblichem Maße, welche politische Ordnung und Entwicklungsmöglichkeiten ,zugelassen‘ waren. Dementsprechend bemühten sich vor allem stalinistische Autoren darum, den prägenden Einfluss der ,monopolkapitalistischen‘ Industrie sowie insbesondere den ,imperialistischen‘ Charakter des ,Finanzkapitals‘ im ausgehenden Zarenreich aufzuzeigen. In Übereinstimmung mit Lenins einschlägigen Überlegungen meinte man damit die ,Reife‘ Russlands für die ,große sozialistische Oktoberrevolution‘ belegt zu haben [u. a.745: S, Finansovoe položenie; 657: B , Zaroždenie finansovogo; 707: L, Monopolističeskij kapital; 711: L,
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Wirtschaftsgeschichte als Leitdisziplin
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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Monopolii; 749: T, Formirovanie; 660: C, Očerki; 713: L, History]. Allerdings wuchs spätestens seit den letzten Jahren der Stalinära die Kritik an der dogmatischen Starrheit solcher Merkmalskataloge und Zuordnungen. Das kulturelle ,Tauwetter‘ unter Chruščev verschaffte auch ihr – trotz aller Grenzen – größere Resonanz. Auf landesweiten Konferenzen, aus denen Sammelbände hervorgingen, entstand das Konzept der „Mehrbasigkeit“ (mnogoukladnost’), das nun eine Gleichzeitigkeit verschiedener sozialökonomischer Formationen – darunter auch ,rückständiger‘ – noch am Vorabend der Revolution zu belegen suchte. Freilich mochte Brežnev schon wenige Jahre nach seiner Machtübernahme von solcher ,Freigeisterei‘, die letztlich die Legitimität des Gründungsaktes der Sowjetunion in Frage stellte, nichts mehr wissen. Sein Zensor untersagte jede weitere Diskussion und entließ die geistigen Väter des ketzerischen Konzepts (vor allem K. N. T und P. V. V) zu Beginn der 1970er Jahre aus ihren einflussreichen Stellungen am Historischen Institut der Akademie der Wissenschaft [vgl. 750 : Voprosy istorii kapitalizma; 276 : Aktual’nye problemy obščestvennych nauk; 656: B, Oktoberrevolution].
2. Das Schicksal des Februarregimes: Eigenes Verschulden oder bolschewistische Skrupellosigkeit?
Diskussion um die Rechtfertigung der Oktoberrevolution
Heftiger war innerhalb der westlichen Forschung die unmittelbare Vorgeschichte des „roten Oktober“ [773 : D, Red October] umstritten. Die Kernfrage lautete dabei, ob das Februarregime Opfer seines eigenen Versagens und der besonderen Lasten einer schwierigen inneren und äußeren Lage mit dem Ergebnis der Diskreditierung bei der Mehrheit der engagierten Stadtbevölkerung wurde oder ob es einer Handvoll fanatischer Revolutionäre unter der Führung Lenins gelang, die Unzufriedenheit vor allem der Arbeiter und der Garnisonssoldaten zum Zwecke der eigenen Machtergreifung bis zum Umsturz zu schüren. Es liegt auf der Hand, dass sich dieser Dissens unauflöslich mit dem Problem der begrifflichen Kennzeichnung des Geschehens am 25./26. Oktober verband : Ob von einem „Staatsstreich“ oder einem „revolutionären Aufstand“, ob von einem ganz und gar illegitimen Coup oder einer zumindest partiellen Rechtfertigung durch temporäre Zustimmung der Mehrheit der politisch aktiven Bevölkerung in den Hauptstädten die Rede sein sollte, lässt sich nur durch einen Blick auf das gesamte, so schicksalhafte Dreivierteljahr zwischen Ende Februar und Ende Oktober 1917 beantworten. Dabei war von Anfang an eine ausgeprägte Unversöhnlichkeit der wissenschaftlichen Kontrahenten zu beobachten. Allem Anschein nach lässt sie sich nicht nur für die ersten Jahrzehnte durch den Gegensatz der weltanschaulich-politischen Positionen erklären. Auch nach dem Tod der Zeitgenossen und in der Bindung an die Regeln des wissenschaftlichen Diskurses sind lebensweltliche Vorprägungen so wirksam geblieben, dass sich kein Konsens herstellen ließ.
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2. Das Schicksal des Februarregimes: Eigenes Verschulden oder bolschewistische Skrupellosigkeit?
Ungeachtet dessen ist der Weg dorthin doch so weit geebnet worden wie nie zuvor. Aus postsowjetischer und methodenkritischer Perspektive bietet es sich an, diesen Tatbestand auf eine erhebliche Homogenität und zugleich ungewöhnliche numerische Stärke einer Generation primär von angelsächsischen Russlandhistorikern zurückzuführen, die in den sechziger und siebziger Jahren wissenschaftlich ,sozialisiert‘ wurden oder schon so in den Beruf eintraten. Diese Generation räumte der Sozialgeschichte hohe Priorität ein und widmete sich Problemen, die zumindest verschüttet waren. Ins Zentrum rückten die wirtschaftliche und sonstige Politik der Regierung [u. a. 792: L, Anfänge; 800 : P, Revolution], die Lage der Arbeiterschaft und ihr – nicht zuletzt an der Streik- sowie der Rätebewegung gemessener – Stimmungswandel [705 : K, Moscow Workers; 715 : M, Petrograd Workers I u. II; 704: K, R, Strikes; 746: S, Red Petrograd], die Politik und Struktur der liberalen, menschewistischen und sozialrevolutionären Partei auf der einen Seite sowie der Bolschewiki auf der anderen Seite [740: R, Liberals; 689: H, Mencheviks; 733: R, Prelude; 780: G, Menshevik Leaders; 813 : S, Bolshevik Party; schon älter 735 : R, Agrarian Foes; 736:, Sickle], der Zerfall der Armee [758 : W, End I u. II] und der Niederschlag all dieser Entwicklungen auf die politischen Sympathien jener Teile der städtischen Bevölkerung, die ihre Wünsche und Abneigungen auf der ,Straße‘ zur Geltung bringen konnten [777: F, Bolshevik Revolution; 669: D., Revolution of February]. Bei Unterschieden im Einzelnen kamen alle diese Studien zu dem Ergebnis, dass sich die politische Stimmung der Arbeiter und Soldaten seit etwa Juni 1917 tiefgreifend zu Lasten der Regierung verschob. Darunter litten die ,rechten‘ Sozialrevolutionäre, die Menschewiki sowie die Liberalen, und davon profitierten die Gegner der Koalition und des Februarregimes insgesamt, allen voran die Bolschewiki und die von ihr dominierten Räte in den Fabriken und Regimentern. Bei den Arbeitern trugen der rapide wirtschaftliche Niedergang, Arbeitslosigkeit und wachsende materielle Not nachhaltig zur Enttäuschung über die Früchte ,ihrer‘ Revolution bei, unter den Soldaten an der Front und in den Garnisonen die fatale Juli-Offensive. Im Ergebnis liefen beide Gruppen den gemäßigten Kräften davon und verschafften den radikalen die Oberhand: Nur auf diese temporäre Popularität gestützt konnte Lenin die „Kunst des Aufstands“ erfolgreich demonstrieren. Zugleich war er klug genug – und darin bestand die zweite Voraussetzung des Handstreichs –, die ,schwarze Umteilung‘ auf dem Dorf umgehend zu billigen und den Bauern ihren ,Revolutionsgewinn‘ zu bestätigen. Als sich zu Beginn des nächsten Jahres die Gegner formierten und sich erster Widerstand bei den Arbeitern zeigte, hatten sich die neuen Herren schon an den Schalthebeln der Macht eingerichtet. Diesem Konsens der sozialhistorischen Forschung der letzten Jahrzehnte steht eine Auffassung gegenüber, die auch methodisch andere Weg geht und sich laut Ausweis der Fachrezensionen eher am Rand der Lehrmeinungen bewegt. Sie wurde aber nicht nur in der umfangreichsten Geschichte der Russischen Revolution mit großer öffentlicher Resonanz vertreten, sondern hat auch vom Zusammenbruch der Sowjetunion und des kommunistischen Systems in Europa
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Weitgehender Konsens in der Sozialgeschichte
Andere Interpretationen
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profitiert. Diese Deutung setzt im Kern die kadettisch-liberale Selbstexegese [vgl. 126: M, Russian Revolution I-III] fort, gibt ihr aber eine darüber hinausgehende Zuspitzung gegen ideologisch-totalitäres Denken allgemein. Die Bolschewiki mit Lenin und Trotzki an der Spitze erscheinen als typische Repräsentanten einer fanatischen intelligencija, der es gelang, den Unmut der hungernden Arbeiter und kriegsmüden Soldaten für die eigenen Ziele auszunutzen. Die zweifellos fragile „Notstandsdemokratie“ (D. G) des Februar fiel einer Machtbesessenheit zum Opfer, die über Leichen ging und ihre Skrupellosigkeit aus dem unerschüttlichen Glauben an die Richtigkeit der Sache gewann [vgl. 727: P, Russische Revolution, III, 793f., 797 u.ö.; 390: M, Vollstreckter Wahn]. So begründet die Kritik an der Selbstgerechtigkeit und terroristischen Disposition einer mit absolutem Geltungsanspruch ausgestatteten Utopie ist, so unbefriedigend bleibt die Antwort auf die Frage, warum sich die anfangs unbedeutende Minderheit radikaler Revolutionäre schließlich durchzusetzen vermochte. Der Hinweis auf die Überlegenheit bedenkenloser totalitärer Gesinnung reicht ebensowenig aus wie der Rekurs auf die unzweifelhaft herausragende Bedeutung der Autorität und der agitatorischen wie organisatorischen Fähigkeiten Lenins und Trotzkis. Beide Vorgehensweisen blenden die Voraussetzungen für den Erfolg radikaler Agitation weitgehend aus und schieben damit auch den Ertrag von drei Jahrzehnten intensiver sozialhistorischer Forschung beiseite. Sicher kam im Oktober „die Utopie an die Macht“ [so der Originaltitel von 376: H, N, Geschichte], aber es war auch niemand vorhanden, der sich ihr wirkungsvoll in den Weg gestellt hätte. Darin, aber auch nur darin liegt ein rechtfertigendes Moment für jene Siegergeschichte, die sowjetische Autoren in großer Zahl bei Unterschieden ,nur‘ im Material, nicht in der Deutung produziert haben [paradigmatisch 797: M, Istorija I-III]. Im übrigen hat sich der Pulverdampf auch dieser säkularen Debatte seit dem Untergang der Sowjetunion verzogen und die Sicht ist frei geworden für abwägende, ,neutrale‘ Gesamtdarstellungen und neue Zugänge [wie bes. 755 : W, Russian Revolution; als erzähltes Panorama auch: 670: F, Tragödie; 772: C, Telling October].
3. Bürgerkrieg: Ursachen und Preis des Sieges Eine ganz ähnliche Frage bestimmt den Meinungsstreit über die tieferen Ursachen des bolschewistischen Triumphs im Bürgerkrieg. Auch diese Diskussion ist so alt wie die Sache selbst: Seit ,Weiße‘ gegen ,Rote‘ kämpften, gab es Interpreten, die den Ausgang eher als Ergebnis rücksichtsloser und pauschaler Gewalt der Sieger denn als Folge einer prinzipiellen, stillschweigenden Zustimmung, wie reserviert sie auch immer sein mochte, deuteten. Im Zuge der ,Verwissenschaftlichung‘ der Debatte sind weitere Argumente hinzugekommen, ohne dass sich eine ,Brücke‘ zwischen diesen ebenfalls stark weltanschaulich geprägten Positionen gebildet hätte. Besonders zu nennen sind: die bolschewistische Verfügung über die Hauptstädte und das Zentrum des Reiches mit seinen überlegenen adminis-
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3. Bürgerkrieg : Ursachen und Preis des Sieges
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trativen, demographischen und ökonomischen Ressourcen; die ausgeprägte und in dieser Form nicht zu erwartende organisatorische und militärstrategische Kompetenz des Regimes und der Armeeführung mit Trotzki an der Spitze; die Zersplitterung der ,weißen‘ Gegenkräfte zwischen moderaten Sozialisten und reichspatriotischen Monarchisten; und die mangelnde Klugheit einer Politik, die sich weigerte, den ,Revolutionsgewinn‘ zweier essentieller Kräfte als Voraussetzung für ihre Unterstützung anzuerkennen: die Landnahme der Bauern und die Sezession nichtgroßrussischer, ,nationaler‘ Territorien [795 : M, Civil War, 272ff.; 785: K, Weiße Bewegung, 533ff.;786 : K, R, S, Party, State, and Society; 670: F, Tragödie, 718ff.]. Umstritten bleibt indes das entscheidende Problem, wie die einzelnen Faktoren zu gewichten sind. Bedeutung und Wirksamkeit des Terrors hängen dabei aufs engste mit der Einschätzung des bäuerlichen Widerstandes zusammen. Dass sich die Dorfbewohner spätestens 1919 gegen den zunehmenden Getreideraub („Requisitionen“) zur Wehr setzten, ist früh gesehen worden. Seit Rs Studie [803: Unknown Civil War] über die – nach ihrem Anführer so benannte – Antonovščina, die 1920–21 das Gouvernement Tambov in Atem hielt [Dokumente nun bei : 107 : D, Antonovščina; neue Studie : 789 : L, Bandits], wusste man im Westen auch, dass dieser Protest zu einer ernsten Bedrohung für die Staatsmacht anschwoll. Doch erst vor einigen Jahren ist die These aufgestellt worden, dass sich ganz Russland in den letzten beiden Bürgerkriegsjahren in eine einzige Vendée verwandelt habe. Dies zieht die doppelte Behauptung nach sich, dass die „Grünen“ zum einen nur durch drakonische Vergeltung niedergerungen werden konnten und sie zum anderen die eigentlichen Helden jener blutigen Tragödie gewesen seien, aus der die bolschewistische Diktatur hervorging [130: S ; 765: B, Behind the Front Lines; 767: D., Bolsheviks, 141ff.]. Demgegenüber hält eine (am Beispiel der Gouvernements Saratov und Vjatka) gleichfalls dicht belegte Deutung daran fest, dass die Bauern um ihrer ,Beute‘ willen, die ihnen die Weißen streitig machten, nolens volens „mit schleppenden Füßen“ die Sowjets und die Rote Armee unterstützten [778 : F, Peasant Russia, 354; bes. nachdrücklich 805 : R, Russia’s peasants, 163, 212]. Ähnlich steht außer Zweifel, dass sich auch immer mehr Arbeiter von ihren einstigen Hoffnungsträgern abwandten. Ihre Enttäuschung äußerte sich nicht nur in neuer Sympathie für die Menschewiki, sondern auch in Streiks und offenem Protest. Diese machten dem Regime seit dem Frühjahr 1918 zu schaffen, dauerten nach jüngsten Erkenntnissen auch im entscheidenden Wendejahr des Bürgerkriegs, 1919, an und erreichten im April 1921 ihren Höhepunkt [766: B, Mensheviks; 865: H, Working Class]. Widerstand in Stadt und ˙ Land gaben Lenin reichlich Anlass zur Kehrtwende in Gestalt der NEP. Bei alledem bleibt die skizzierte Kontroverse bestehen. Wohl hat die Öffnung der Archive nach 1991 mit Blick auf den bäuerlichen Widerstand die Waagschale erheblich zur Seite der Gewalt sinken lassen. Jüngste Aktenpublikationen belegen ein bislang unbekanntes Ausmaß an Unterdrückung und Terror. Offenbar schreckten die Bolschewiki vor keiner Brutalität zurück, um ihre Herrschaft auch auf den Dörfern aufrechtzuhalten [26: B, D, Sovets-
Einschätzung des bäuerlichen Widerstandes
Position der Arbeiter
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Nationalitätenfrage
Innerbolschewistische Opposition
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
kaja derevnja Bd. I]. Dennoch wird man zögern, die Frage nach den Stützen des Regimes anders zu beantworten. Ebenso viel spricht dafür, keinen Widerspruch zwischen Unterdrückung und grundsätzlicher Akzeptanz zu sehen: Den Bauern blieb gar nichts anderes übrig, als sich zu fügen, weil die Weißen keine Alternative boten und es keinen dritten Weg gab [vgl. 787: K, Krest’janstvo] Über die nationale Komponente von Revolution und Bürgerkrieg ist wenig gestritten worden – aber im Wesentlichen wohl nur, weil man sie die längste Zeit nahezu vergessen hat. Präsent blieb das Schicksal der baltischen Staaten, des Kaukasus und der Ukraine, weil sie vorübergehend selbstständig waren und nach ihrer Besetzung im Sommer 1940 ein Exil hervorbrachten, das sich auch des historischen Gedächtnisses annahm. In der übrigen Forschung aber galt überwiegend, dass die nationale Dimension des Geschehens unter die soziale subsumiert wurde. Es ist zweifellos ein großes Verdienst von R P [801 : Formation], diese Fehlsicht korrigiert und ein Standardwerk verfasst zu haben, das auch nach einem halben Jahrhundert seinen Wert nicht verloren hat. Andere Studien haben sich zumeist auf die Ukraine und Georgien beschränkt und hier die augenfällige Überlappung sozialer und nationaler Konflikte untersucht [818: S, Baku; 784: H, Ukraine;794: M, Symon Petljura; 880: M, Communism; breiter : 547: C ’E, Islam; 838: D., Great Challenge]. Erst im Zuge des Interesses am regionalen Geschehen der Umbruchszeit und im Gefolge der Renaissance nationalen Denkens während der Perestrojka keimte neue Aufmerksamkeit auf, die inzwischen manche Nationalgeschichten, aber auch problemorientierte Synthesen hervorgebracht hat [vgl. 647: A, Russland 1917, 399ff.; 815 : S, Bolsheviks; jüngste Übersicht 575: D., Red Nations, hier 17ff., 53ff.; 785: K, Weiße Bewegung, 403ff.; 899: S, USSR sowie einschlägige Beiträge in: 577 : S, M, State of Nations, und 578 : S, Revenge, sowie die Literatur zur nationalen Frage im Stalinismus u. S. 135f.]. Intensiv hat sich die Forschung umgekehrt mit der innerbolschewistischen Opposition gegen die und der Grundlegung jener monopolistischen Staats- und Herrschaftsstruktur befasst, die zum Kennzeichen des Sowjetsozialismus von Lenin bis Brežnev wurde. Dabei gab es in der westlichen Literatur kaum Dissens [Übersicht : 759 : A, Staat und Revolution]. Man war sich darüber einig, dass die verschiedenen innerparteilichen Frondeure gegen die jeweilige, von Lenin repräsentierte und entscheidend geprägte Mehrheitsmeinung gute Gründe für ihre Besorgnisse und Korrekturvorschläge hatten. Das galt noch am wenigsten für den Protest der „linken Kommunisten“ gegen den Friedensschluss von Brest-Litowsk, da die Fortsetzung des Krieges längst nicht mehr möglich war und das Überleben des revolutionären Regimes tatsächlich vom Ende des äußeren Konflikts abhing. Aber die Einwände der „Demokratischen Zentralisten“ (1919/20) und auch der „Arbeiteropposition“ gegen die (1920/21) stießen höchstens auf den Vorbehalt, Unrealistisches zu fordern und ihrerseits einer Utopie zu erliegen [811: S, Origin; 843: D, Gewissen]. Die hauptsächliche Stoßrichtung der Kritik dagegen fand nachdrückliche Zustimmung: dass nach dem Verbot der Menschewiki und Sozialrevolutionäre nicht nur der
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˙ und ihr Ende 4. Charakter der NEP
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innersozialistische Pluralismus, sondern auch jede abweichende Meinung in der eigenen Partei beseitigt worden sei. Das berüchtigte ,Fraktionsverbot‘ von 1921 galt laut vorherrschender westlicher Auffassung von Anfang an und die ,Einmannleitung‘ nicht nur in den Betrieben. Damit wurde auch ein innerer Konnex zur Herausbildung der kommissarovščina mit der Tscheka an der Spitze behauptet: Der autoritäre Zentralismus einschließlich des menschenverachtenden Umgangs mit seinen Gegnern erschien als systemkonform und nachgerade systemnotwendig. Durch die Ausschaltung schon der frühen Opposition gegen die pervertierte der erste ,sozialistische‘ Staat der Erde nicht nur in eine Einparteiendiktatur, sondern auch in eine Diktatur der Führungsspitze über die Masse der Mitglieder. Gestritten wurde – ungefähr entlang der beschriebenen Trennlinie zwischen ,Revisionisten‘ und ,Totalitaristen‘ – lediglich über die Art des Zusammenhangs mit dem Bürgerkrieg. Sehen die einen in der autoritären Zentralisierung eine Reaktion auf den militärischen Überlebenszwang, erkennen die anderen die Wurzel der Diktatur in der bolschewistischen Ideologie. Auch dieser Streit ist inzwischen weitgehend abgeklungen – und sei es nur, weil der Bürgerkrieg aus dem Blickfeld der Forschung gerückt ist.
˙ und ihr Ende 4. Charakter der NEP ˙ vor allem den Bauern entgegenkam, Dass der Staat durch die Ausrufung der NEP ist unbestritten. Wie er allerdings in den nächsten Jahren mit ihnen umging und wie die Adressaten reagierten, entzog sich genauer Kenntnis. Der Kernbefund, der sich aus den einzig verfügbaren, gedruckten Quellen ergab, schien aber außer Frage zu stehen : dass sich das Dorf weitgehend in das Gehäuse der tradierten Umteilungsgemeinde (obščina) zurückzog und dem Staat eine effektive Einflussnahme verwehrte [882: M, Peasant Organisation; 649: A, End; 822 : A, Bauern]. Zugleich verzichtete dieser darauf, sich mit Nachdruck Zutritt zu verschaffen. Stattdessen setzte er seine konziliante Politik fort, die unter unter der Parole, das ,Gesicht dem Dorf zuzuwenden‘, um die Mitte der zwanziger Jahre ihren Höhepunkt erreichte. Grundsätzlich kann es wohl bei dieser Beschreibung bleiben. Fraglos kam es vorübergehend zu einer Entspannung. Erste profunde Regionalstudien, die nach der Öffnung der lokalen Archive möglich geworden sind, zeigen sogar, dass dies auf beiden Seiten geschah. Zum einen nahmen die Bauern offenbar deutlich aktiver am Schicksal der Außenwelt teil und engagierten sich auch in den neuen, regimekonformen örtlichen Sowjets, die mit der althergebrachten Dorfversammlung (schod) konkurrierten. Zugleich zeigt dieselbe Untersuchung aber auch, dass die Fremdheit anhielt, Verhandlungen im Sinne eines Austarierens von Ansprüchen und Konzessionen schwierig waren und mehr Zeit brauchten, als das Regime letztlich zu gewähren bereit war [881: MD, Face to the Village, 299f., 301f.]. Zum anderen wird sogar die These vertreten, die politische Polizei – als Arm der Obrigkeit – habe bis zur Mitte des Jahrzehnts ernsthaft versucht, das Dorf mit dem Regime zu ,versöhnen‘ und ,aufrichtig‘ zwischen
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˙ und Die NEP die Getreidekrise
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
beiden zu vermitteln. Allerdings scheiterte dieses Unterfangen gründlich – mit verheerenden Folgen für die Bauern, die bald einen hohen Preis zahlen mussten [867 : H, Peasants, 3]. Damit bestätigen diese Fallstudien, was ebenfalls neu entdeckte Leserbriefe an die (legal erscheinende) „Bauernzeitung“ zeigen, dass die Kluft zwischen beiden Welten fortbestand – ein Problem, das weit in die russische Geschichte zurückreicht – und die Bauern dem Regime weiterhin zutiefst misstrauten [151: S, S, Voice of the People]. Die OGPU hatte daher gute Gründe, das Dorf genau zu beobachten. Auch für diese Jahre belegen nun Geheimdienstberichte – die wohl wichtigste neu erschlossene Quellengattung – ein Ausmaß an bäuerlichem Widerstand und staatlicher Repression, das der offiziellen Politik widersprach. Insofern muss die übliche ˙ doch ergänzt werden : Unter der Oberfläche und vor allem an Sicht auf die NEP der Peripherie dauerte der Konflikt an. Zu keinem Zeitpunkt ließ das Regime in seiner Wachsamkeit nach; wer sich auflehnte, musste mit drakonischer Strafe rechnen. Wieviel angesichts dieser Befunde von der unbestreitbaren, wenn auch temporären verbalen Konzilianz und Toleranz realiter übrig bleibt, wird regional unterschiedlich und erst auf der Grundlage weiterer Fallstudien zu beurteilen sein [vgl. 62 : Sovetskaja derevnja Bd. 2]. Schon lange und ungleich heftiger, vergleichbar nur mit der Kontroverse ˙ gestritten worden. über den „roten Oktober“ selber, ist über das Ende der NEP Dabei lassen sich zwei Arenen erkennen, die zwar miteinander verbunden waren, aber den Gegenstand des Disputs unterschiedlich fokussierten: zum einen die ökonomische Frage nach der Lebensfähigkeit des 1921 eingeführten staats- und marktwirtschaftlichen Mischsystems im engeren Sinn; zum anderen die eher ˙ politische Frage nach dem Stellenwert und der zeitlichen Perspektive der NEP auf dem Wege zum anvisierten ,Sozialismus‘. Vor allem dieser Diskussionsstrang war untrennbar mit der Erklärung dessen verbunden, was folgte: des endgültigen Aufstiegs Stalins und ,seines‘ Systems. Anders gewendet, lautete die Streitfrage ˙ eine schnelle Industrialisierung ermöglicht hätte, ökonomisch, ob auch die NEP und politisch, ob der Stalinismus einen willkürlichen Bruch mit dem ,Leninismus‘ bedeutete oder doch mehr Kontinuität enthielt, als die Gegenüberstellung der beiden Begriffe anzeigt. ˙ in der eigentlichen WortbedeuDas Problem der Lebensfähigkeit der NEP tung wurde vor allem unter zwei Aspekten diskutiert. Zum einen stand und steht zur Debatte, wie die wachsende Versorgungskrise seit 1926 mit dem Höhepunkt der Getreidenot im Winter 1927/28 zu erklären war und welche Therapie hätte Abhilfe schaffen können. In dieser Frage scheint sich freilich am ehesten ein Konsens abzuzeichnen. Während die sowjetische Forschung die Veränderung des Landbesitzes durch die Umwälzung seit dem Februar 1917 betonte und auf das sinkende Marktaufkommen von Getreide als Folge der Aufteilung der großen Güter hinwies, verständigte sich die westliche Forschung mehr und mehr darauf, eine Kette ,handwerklicher‘ Fehler der Wirtschaftspolitik verantwortlich zu machen. Selbsternannte marxistische ,Fachleute‘ in der Regierung, die in Wahrheit ökonomische Dilettanten waren, brachten es nicht fertig, die – größtenteils immer noch staatlich festgesetzten – Preise und die Steuern so in Einklang zu bringen, dass es sich für die Bauern lohnte, Getreide auf den Markt
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zu bringen. Stattdessen ergab sich eine Gesamtlage, in der es häufig lukrativer war, gewerbliche Pflanzen (wie Raps u. a.) anzubauen, oder in der wenig Getreide angeboten wurde, weil es zu wenig Industriewaren (z. B. landwirtschaftliche Geräte) gab, die man für den Erlös hätte kaufen können [vgl. v. a. 885: M, Agrarmarkt; Übersicht bei 497: D, H, W, Economic Transformation, 10ff.; Dokumente nun 158 : D, M, V, Tragedy I, 7–168]. Hinzu kam, wie ein einschlägiges Monumentalwerk belegt, eine zunehmende Umlenkung der Investitionen in Grundlagenindustrien, deren Produkte nicht unmittelbar als Komsumgüter ,zurückflossen‘ [837: C, D, Foundation]. Zum anderen hat das Schicksal und Entwicklungspotential der Industrie unter ˙ besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. D [in:497: D, der NEP H, W, Economic Transformation, 12f.] unterscheidet vier Positionen. Einige ältere Autoren [wie 678 : G, Backwardness, 144–160] gaben der neuen Politik von Anfang an keine Chance, weil sie zu wenig Markt erlaubt und zu viel staatliche Kontrolle belassen habe. Andere [vor allem: E. H. C, Some Random Reflections on Soviet Industrialization, in : C. H. F (Hg.), Socialism, Capitalism and Economic Growth. Essays Presented to Maurice Dobb, 1967, 271–284 ] hielten die Verbindung von Markt und Staat für inhärent labil, so dass über kurz oder lang das ein oder andere Prinzip ausscheiden musste. Eine dritte Auffassung teilte im Kern die Meinung, die Bucharin 1928/29 gegen Stalin vertreten hatte: dass der ,Aufbau des Sozialismus‘ nur auf dem Wege der allmählichen Stärkung der bäuerlich-landwirtschaftlichen ˙ mithin für Kaufkraft für industrielle Produkte erfolgen konnte. Sie hält die NEP eine vollgültige Alternative zum stalinistischen Kurs der terroristischen BrachialIndustrialisierung, der als ebenso überflüssig wie schädlich und ,un-leninistisch‘ betrachtet wird [421: C, Bukharin; 445: T, Stalin as Revolutionary; 1007 : H, S, Faulty Foundations; 386 : L, Making of Soviet System, bes. 114ff.]. Davon weichen D [498 : From Tsarism to NEP u. a.] und sein engster (ehemaliger) Mitarbeiter W [497 : D, H, W, Economic Transformation] insofern ab, als sie der ˙ die Möglichkeit absprechen, die teilweise außerordentlich hohen WachsNEP tumsraten der zentralen Planwirtschaft zu erzielen; zugleich betonen sie aber, dass ihr Potential zum Zeitpunkt ihrer Beendigung noch längst nicht erschöpft war. Unabhängig von solch unterschiedlichen Akzenten im Urteil über die Leis˙ hat sich inzwischen ein weitgehender Konsens hintungsfähigkeit der NEP sichtlich ihrer geplanten Dauerhaftigkeit hergestellt. Dabei ist die Bucharin’sche, unter Gorbačev wiederentdeckte Position, dass man ,auf dem Rücken der Bauern‘ in den Sozialismus ,reiten‘ könne, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erneut in Misskredit geraten. Postsozialistische Ökonomen stimmen in der Sa˙ von Anfang wenig che G und anderen zu, wenn sie der NEP Chancen einräumen. Der Fehler lag in der bolschewistischen Revolution und ˙ ihren Zielen selber, nicht im Abbruch der NEP.
˙ und Die NEP die Industrie
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Zwangskollektivierung
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˙ gehörte unablösbar die gewaltsame und vollständige Zum Ende der NEP ˙ als dauerhafte Strategie betrachtete und Zwangskollektivierung. Wer die NEP sie dazu für geeignet hielt, musste schon die Idee nichtphysischen Drucks zur Schaffung agrarischer Großwirtschaften zurückweisen, erst recht offene Gewaltanwendung. Diese Position teilten in der ein oder anderen Form alle Kritiker des eingeschlagenen Kurses, ob sie von einem marxistischen (z. B. trotzkistischen) oder einem nichtmarxistischen Standpunkt aus urteilten oder nicht. Unterschiedliche Auffassungen wurden in der westlichen, ganz überwiegend nichtmarxistischen Forschung jedoch zu der Frage vertreten, warum Stalin und seine Mitstreiter wieder jegliches privates Unternehmertum in Stadt und Land im Stil der Bürgerkriegspolitik liquidierten. Im Wesentlichen gab man zwei Antworten. Die einen meinten, eine Art von Flucht nach vorn erkennen zu können. Sie konstatierten eine schwere Wirtschafts- und Versorgungskrise, hervorgerufen vor allem durch den Getreidemangel, und erklärten den gewaltsamen Zusammenschluss privater bäuerlicher Kleinbetriebe zu faktisch staatlich gelenkten größeren Produktionseinheiten als notgeborenen Versuch, den gordischen Knoten mit Gewalt zu durchschlagen. Natürlich leugneten sie nicht, dass die Zielvorstellung einer Wirtschafts- und Sozialordnung, die das Land von der Erblast landwirtschaftlicher Armut befreien sollte, marxistischen Ursprungs war. Aber der Akzent dieser Deutung lag auf der Krise, nicht auf der Ideologie [bes. 933: L, Russian Peasants; 386: D., Making of Soviet System; 510: N, Economic History; 1037: D., Was Stalin Really Necessary]. Kaum überraschend kamen andere Sachkenner zu dem Ergebnis, dass von einer überstürzten und sozusagen ,blinden‘ Entscheidung nicht die Rede sein könne. Die Zwangskollektivierung stand am Ende eines zweijährigen innerparteilichen Kampfes, der mit der ,rechten‘ Opposition gegen die endgültig jeden Dissens beseitigte. Dabei siegte Stalin nicht nur dank der Loyalität der von ihm installierten Parteifunktionäre, sondern auch als Wortführer eines politisch-ökonomischen Kurses, der utopische Ziele über pragmatische Mäßigung stellte. Zwar kam das Ausmaß der Gewalt gegen die dörflichen ,Klassenfeinde‘ nach dem fatalen Beschluss des ZK-Plenums vom November (10.–17.) 1929 immer noch überraschend, der Beschluss selber aber nach der Unterwerfung der ,rechten Abweichler‘ und der fiskalisch-administrativen Diskriminierung der Kulaken (Sondersteuer, Wahlrechtsentzug) nicht mehr. So gesehen stand die Ideologie beim Krieg der Stadt gegen das flache Land Pate, nicht verwirrte Ratlosigkeit angesichts einer anders nicht behebbaren Krise [935: M, Anfänge; 917 : D, Industrialization II : Collective Farm; 925 : H, Stalinism; 928: I, Kollektivizacija; 156: D, I, Dokumenty, 19 ff.; ˙ grundlegende Dokumentation 143: Kak lomali NEP]. Vor allem die letztgenannte Meinung verbindet sich mit zwei weiteren Befunden. Zum einen darf als erwiesen gelten, dass die Hoffnung, die kollektivierte Landwirtschaft werde ertragreicher sein, bitter enttäuscht wurde. Nicht nur kurzfristig, auch mittelfristig auf den Rest der dreißiger Jahre gesehen, war das Gegenteil der Fall. Weil die Bauern ihr Vieh schlachteten, Geräte verschlissen, nachlässig oder gar nicht arbeiteten und auf mannigfache Weise stille Sabotage übten, sank die Produktion vielmehr. Der agrarische Sektor konnte weder,
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˙ und ihr Ende 4. Charakter der NEP
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wie beabsichtigt, zur Finanzierung der Industrialisierung herangezogen werden, noch vermochte er – laut Ausweis der miserablen Versorgungslage in den Städten – die wachsende Zahl nichtlandwirtschaftlich tätiger Esser zu ernähren [1028: M, Bauern; 928: I, Kollektivizacija; 982: G, Political Economy, 22ff.]. Umso größeres Gewicht kommt einem weiteren, nichtökonomischen Motiv zu, das stets als ,Nebenprodukt‘ gesehen worden ist, seit einiger Zeit aber mehr und mehr in den Vordergrund rückt: Die Liquidierung der Privatbetriebe raubte dem Dorf auch das Fundament jener relativen administrativen und kulturellen Eigenständigkeit, die es bis dahin faktisch genossen hatte. Als Kolchosmitglieder waren die Bauern dem Staat, der tributähnliche Abgaben verlangte, nicht nur ökonomisch ausgeliefert, sondern auch politisch. Partei und Staat nutzten die wirtschaftliche Unterwerfung, um das flache Land endlich auch politisch in den Griff zu bekommen. In dieser erweiterten Form, die den Feldzug des Regimes gegen die widerspenstigen Bauern als Akt der ökonomischen und politischen Kontrolle deutet, hat sich die These von der primären ideologischen Begründung der Zwangskollektivierung weitestgehend durchgesetzt. Zugleich ist seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Frage in den Vordergrund getreten, wie die Bauern auf diesen Frontalangriff reagiert haben. Bis dahin ging man überwiegend davon aus, dass sie sich zwar zur Wehr setzten, ihre Möglichkeiten aber begrenzt waren. Sie schlachteten ihr Vieh und zerstörten ihre Geräte, ihre Frauen wehrten sich gegen die Kollektivierung der einzigen Kuh [943 : V, Peasant Rebels, 181ff.]. Ein Aufstand blieb aber angesichts des vielfach überlegenen Gewaltpotentials des Staates aus. Nach der Öffnung der Archive ist dieses Bild in Bewegung geraten. Gegenwehr, so lassen die Berichte der OGPU erkennen, war häufiger als bislang bekannt. Engagierte Forscher sprechen ihr sogar die Dimension eines gleichsam in zahllose Einzelschauplätze zersplitterten „Bauernkrieges“ zu. Skeptiker können allerdings darauf verweisen, dass die Unruhen zu keiner massiven Erschütterung der staatlichen Autorität nach Art der Pugačevščina oder der Jahre 1905 und 1917 führten [943: V, Peasant Rebels; 783: G, Great Soviet Peasant War; grundlegende Dokumente der OGPU 62: S Bd. 3; 168: T , bes. Bd. 2 u. 3; 158: D, M, V, Tragedy I, 169ff.). Auch eine Katastrophe, die Mitte der 1980er Jahre wieder ins historische Bewusstsein gehoben worden ist [vgl. 915: C, Harvest] und seither immer wieder die Aufmerksamkeit auch einer breiteren Öffentlichkeit auf sich zieht, sollte in diesen Kontext gestellt werden. Die Hungersnot der Jahre 1932–33 (Holodomor, „Tötung durch Hunger“) war eine Folge der Zwangskollektivierung, nicht schon Teil des Stalin’schen Massenterrors. Allein die Chronologie verweist auf diesen Zusammenhang, der zu dem Wenigen gehört, was in der hitzigen, nun seit Jahrzehnten geführten Debatte unbestritten ist. Auch in der Frage der Opferzahlen gibt es eine gewisse Annäherung. Ansonsten bleiben vor allem die Verursachung und die Interpretation des Gesamtgeschehens kontrovers (zumal seine politische Aufladung im Zuge der Konfrontation zwischen der Ukraine
Zwangskollektivierung ideologisch begründet
Hungersnot (Holodomor)
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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
und Russland nicht eben zu unvoreingenommener Betrachtung beiträgt). Selbst die knappste Zusammenfassung enthält daher schon eine Deutung. Allem Anschein machten sich im Frühjahr 1932 „unmissverständliche Anzeichen“ von Hunger in vielen Dörfern der Ukraine bemerkbar. Seit September 1932 war das auch im Nordkaukasus sowie in den Schwarzerdgebieten an der mittleren und unteren Wolga der Fall. Vor allem im folgenden Jahr verwandelte sich die Not in ein schreckliches Massensterben, in dem Menschen auf den Straßen verendeten, ganze Landstriche verödeten und es sogar zu Fällen von Kannibalismus kam. Im Juli 1933 stieg die Mortalität auf das Vierfache der normalen Rate. Erst seit dem Herbst, als die politische Führung reagierte und verschiedene Hilfsmaßnahmen ergriff, entspannte sich die Lage. Wieviele Opfer insgesamt zu beklagen waren, ist besonders schwer zu ermitteln. Offiziell wurde die Katastrophe verschwiegen, schon deshalb unterblieb jede Registrierung. Schätzungen sind auf die Extrapolation aus anderen demographischen Daten (vor allem der normalen Geburten- und Sterberate) angewiesen, die Spielraum für verschiedene Annahmen lässt und kaum zufällig zu stark standpunktabhängigen Ergebnissen führt. Außerdem ist nicht immer klar, welche Regionen berücksichtigt werden, da der Hunger zwar hauptsächlich in der Ukraine wütete, aber nicht nur hier. Zwischen der niedrigen Schätzung von 2,15 Mio. und und der hohen von 5 Mio. „zusätzlichen Todesfällen“ allein in der Ukraine [915: C, Harvest, 306] kommt die kompetenteste auf ca. 3 Mio., die aber die genannten anderen Regionen der UdSSR mit Ausnahme von Kazachstan einschließen [917 : D, W, Years of Hunger, 412]. Andere um Objektivität bemühte Autoren gehen von 3,3 Mio. bzw. 3,0 – 3,5 Mio. Opfern nur in der Ukraine aus [404: S, Bloodlands, 73; 1025: M, S, Hungersnot, 9]. Den ukrainischen bzw. gesamtsowjetisch-nichtkazachischen excess deaths müssen aber diejenigen Kazachstans hinzugerechnet werden, da diese Republik die höchste zusätzliche Mortalität dieser Jahre überhaupt zu verzeichnen hatte. Diese 1,3 – 1,5 Mio. sowie ,falsch rubrizierte‘ Todesfälle im GULag-System hinzugerechnet, ergeben sich als plausibelste Gesamtbilanz des Holodomor ca. 4,6 Mio. ,anormale‘ Todesfälle [917: D, W, 412]. Hauptsächlich gestritten wird aber nicht primär über solche Berechnungen, sondern über die Ursachen der Katastrophe. Hier haben sich zwei Positionen herausgebildet, die sich recht klar trennen lassen. Die eine sieht nicht nur brutale Auspressung der Bauern durch weit überhöhte Abgabequoten am Werk, an denen die Zentralregierung auch noch festhielt, als der Massenhunger längst evident war. Vielmehr unterstellt sie Stalin und seinen Schergen die Absicht, die ukrainische Bevölkerung als Hauptbetroffene gezielt auszurotten. Der russische Diktator habe, so meint diese besonders von ukrainefreundlichen Autoren verfochtene These, die Gelegenheit genutzt, um die Krise zu einem Genozid zu verschärfen und das Ärgernis ukrainischer Aufsässigkeit mit der Wurzel auszurotten. Dagegen steht eine Deutung, die bei aller Anerkennung des besonderen Leidens der Ukraine nicht nur darauf verweist, dass die ukrainischen Städte verschont blieben, sondern auch einwendet, dass andere Regionen der Sowjetunion noch schlimmer – wie Kazachstan – oder kaum weniger schlimm
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– wie die Wolgaregion und der Nordkaukasus – heimgesucht wurden. Nicht genozidale Rache habe die politischen Entscheidungen in Moskau bestimmt, sondern eine Mixtur von klassenkämpferischer Brutalität (gegen die „Kulaken“), Industrialisierungswahn, ignoranter Fehleinschätzung und verspäteter Reaktion. Kaum zufällig findet diese Interpretation besonders bei russischen Historikern Anklang. Aber auch westliche Russlandexperten – vielleicht ebenfalls nicht zufällig weniger die Ukraineexperten – haben sich ihr angeschlossen. Die Debatte bleibt offen [vgl. neben den Genannten: 1031: N, Stalin; sowie die Sammel- bzw. Dokumentenbände: 923 : H, Hunger by Design, und 162 : Golod v SSSR; 165 : I, Golod 1932 – 1933]. Letztlich hängt das Für und Wider in erheblichem Maße vom Verständnis des Genozid-Begriffs ab.
5. Vorkriegs-Stalinismus 5.1 Interpretationen : Totalitarismus, Opportunismus, neue Subjektivität oder Schattenseite der Moderne? Fluchtpunkt und ,Subtext‘ schon dieser Diskussionen war die Frage nach den Eigenarten des Vorkriegsstalinismus selber. Dabei attestiert man den dreißiger Jahren – trotz einiger kritischer Einwände – nach wie vor eine so prägende Bedeutung, dass sie in aller Regel der inhaltlichen Charakterisierung und Definition des stalinistischen Herrschaftssystems allgemein gilt. Der Abbruch der ˙ und ihre Ersetzung durch die zentrale Kommandowirtschaft in Stadt und NEP Land, die Disziplinierung der Gesellschaft, die bald in offenen Terror umschlug, die Zuspitzung der Oligarchie in Partei und Staat zur Personaldiktatur, die Unterwerfung jeglicher Eigeninitiative auch im kulturellen Leben – Veränderungen verschiedener Art wurden mit guten Gründen zu Wesensmerkmalen einer Ordnung erklärt, die eine eigene Bezeichnung erhielt. Die relative Einmütigkeit erstreckt sich auch auf den Einschnitt, der die Etablierung dieses Systems (im Zuge des ersten Fünfjahresplans, der faktischen Verstaatlichung der Landwirtschaft und der begleitenden Auslöschung der letzten Reste von Dissens im sozialen, politischen und kulturellen Leben) von der nachfolgenden Phase seiner relativen Konsolidierung trennt. Als Abschluss dieser Wende gilt allgemein der 17. Parteitag („der Sieger“) vom Januar 1934. Jenseits dieser Eckdaten freilich beginnen die Meinungsverschiedenheiten, die von bloß anderen Akzenten bis zu weltanschaulich unterlegten Fehden reichen. Mit der unvermeidlichen Einseitigkeit von Zuordnungen (und ohne Anspruch auf Vollständigkeit) lassen sich folgende primäre Zugänge, Probleme und Kernthemen unterscheiden. (1) In den 1950er und 1960er Jahren wurde der Stalinismus als zweites Exempel des Totalitarismus beschrieben. Was man am Nationalsozialismus feststellte, schien mit einigen Veränderungen und Ergänzungen auf den Stalinismus übertragbar. Dies galt vor allem für jene Kontrolle und Steuerung des ,vermassten‘ Individuums, in der von Anfang an die charakteristische Eigenschaft des neuartigen Herrschaftssystems gesehen wurde. Als hervorstechende Ursachen der
Charakter des Vorkriegsstalinismus
Stalinismus als Beispiel für Totalitarismus
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Sozialgeschichte
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Manipulation wiederum erkannte man die monopolistische, mit dem Anspruch auf alleinige Wahrheit auftretende Ideologie und die Allgegenwart eines Terrors, der durch keinerlei rechtsstaatliche Verfahren begrenzt wurde, sondern im Gegenteil in Gestalt der ,Geheimpolizei‘ eine eigene, außerhalb der Legalität agierende Organisation erhielt. Mit diesen hauptsächlichen Merkmalen, die das evidente tertium comparationis der personalen Diktatur ergänzten, hat M F die stalinistische Sowjetunion in einem Standardwerk als totalitäres Herrschaftssystem beschrieben [458 : Wie Rußland]. Vor der politikwissenschaftlichen Systematisierung der Totalitarismustheorie legte er damit eine Art kommunistisches Pendant zur klassischen Analyse H A über den Nationalsozialismus (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft) vor. Zugleich war F weit ausholende Darstellung – wie die A – in ihrer Argumentation und ihrem Informationsgehalt zu differenziert, als dass sie nur im Sinne jenes globalen Systemgegensatzes hätte gelesen werden können, der den ,Zeitgeist‘ bei ihrer Entstehung bestimmte und vor allem in populären literarischen Werken [wie G. Os Animal Farm, 1945] zum Ausdruck kam [vgl. 1161 : G, Totalitarianism]. Eine solche Offenheit, in der nicht zuletzt die ,Vetomacht‘ (R. K) der Quellen ihren Ausdruck fand (etwa in der Frage der Zurechnung des Terrors), ließen die Versuche einer vergleichenden Systematisierung totalitärer Herrschaft weitgehend vermissen. Was C J. F und Z B 1956 erstmals vorlegten [1155: Totalitarian Dictatorship], ordnete den ,russischen Fall‘ nicht nur eindeutig zu, sondern beschrieb ihn auch mit einem Katalog definierender Merkmale. Positiv benennbare Eigenschaften sollten helfen, die „grundsätzliche“, wenn auch keineswegs vollständige „Gleichartigkeit“ der kommunistischen und faschistischen Diktaturen [1155: Totalitarian Dictatorship, 607] darzulegen. Eben in dieser komparativen Absicht lag eine Schwäche des Verfahrens, das in der Folgezeit zu wachsender Kritik führte. Denn sie zwang – oder enthielt zumindest eine Disposition – dazu, die Betrachtung auf eine vergleichsweise formale, synchrone Ebene zu konzentrieren. Dadurch ließen sich augenfällige Ähnlichkeiten – eine elaborierte Ideologie, eine Monopolpartei, personale Diktatur, eine „terroristische Polizei“, exklusive Verfügungsgewalt über Kommunikationsmittel, ein Waffenmonopol und eine zentral gelenkte Wirtschaft [1155 : S, J, Wege, 610] – zwar feststellen; aber der historisch-genetische Blick kam zu kurz. Der Einwand lag auf der Hand, dass sich vieles, was oberflächlich und temporär ähnlich schien, in der diachronen Perspektive als durchaus verschieden entpuppte. So mutet es in der Rückschau nachgerade befremdlich an, dass sich Vorbehalte dieser Art erst in den sechziger Jahren, durch einen Generationswechsel beschleunigt, durchsetzten. (2) Was sich nun auch in der historischen Sowjetunionforschung Bahn brach und bis zum Ende der 1980er Jahre (mit Ausnahme der Werke älterer Autoren) dominierte, war die Sozialgeschichte. Wie wohl in den meisten analogen Fällen, erwuchsen die neuen Einsichten dabei aus neuen Untersuchungsfeldern, deren Erschließung ihrerseits neue Methoden erforderten. Nachgerade zum Erkennungszeichen wurde dabei S F Konzept der cultural revolution. Es verband alle genannten Aspekte : einen bis dahin unbeacheteten
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Forschungsgegenstand – die Entstehung der ,Sowjetintelligenz‘ als Exempel sozialer Mobilität durch die gezielte, ideologisch begründete Eröffnung neuer Bildungs- und Aufstiegschancen; eine veränderte Herangehensweise in der Abkehr von der vorrangigen Beachtung der Herrschaftsverfassung, Ideologie und inneren Politik; und ein Angebot zum Verständnis sicher nicht des ,ganzen‘ Vorkriegsstalinismus, aber doch seines fundamentalen Charakters – die These vom stillschweigenden Arrangement zwischen staatlicher Diktatur und neuer sozialer Elite als Erklärung für die bemerkenswerte Stabilität des Systems. Mit „Kultur“ im engeren und im neuen Sinn der „Mentalität“ hatte die Interpretation, genau besehen, wenig zu tun – wie zu Recht eingewandt worden ist [916: DF, What is Cultural Revolution] –, aber viel mit stark erweiterten Bildungsmöglichkeiten für ergebene Parteigänger aus den Unterschichten in Stadt und Land, mit der schnellen Heranziehung ,eigener‘ akademisch qualifizierter Kader, Akademiker, die als Ingenieure die Industrialisierung oder als Lehrer und Ärzte die allgemeine Modernisierung tragen sollten, und schließlich sehr viel mit der sozialen Basis des Regimes, das aus der Unterdrückung allein keine hinreichende Festigkeit ziehen konnte [vgl. u. a. 919 : F, Cultural Revolution; 528: D., Cultural Front; 853 : D., Education and Social Mobility; 968 : D., New Perspectives; Rückblick : D., in : 1036 : N, Stalin Phenomenon, 75– 99]. In letzter Konsequenz ersetzte sie (in Analogie zur kulturwissenschaftlichen These von V D, 965 : In Stalin’s Time) Ideologie und Zwang durch ein Moment des ,freiwilligen‘ Vertrags nach dem Prinzip des do ut des: Bewusst oder unbewusst opportunistisch habe die neue Elite als Gegenleistung für ihre Privilegien, die sie dem Sowjetsystem in seiner stalinistischen Gestalt verdankte, auf politische Teilhabe verzichtet. Eben in dieser theoretischen Stoßrichtung lag auch die Provokation für die Anhänger der Totalitarismusthese. Von selbst versteht sich, dass sie in dem Maße wuchs, wie die politische Fundierung hervortrat, die in der Regel auch mit der sozialhistorischen Interpretation – und zwar konträr – einherging. Eben darin liegt wohl auch die tiefere Gemeinsamkeit vieler, wenn auch längst nicht aller, bedeutender einschlägiger Studien der letzten Jahrzehnte. Der sozialgeschichtliche Blick auf Arbeiter und Bauern, der im Vordergrund stand, vertrug sich schlecht mit den inhaltlichen und methodischen Prioritäten des Totalitarismus-Ansatzes [vgl. die entsprechenden Beiträge der Sammelbände von 1085: W, Stalinist Dictatorship; 534: R, Social and Cultural History; 386 : L, Making; 535 : R, S, Social Dimension und 537: S, S, Making Workers Soviet, sowie monographische Studien u. a. von 931 : K, Stalin’s Industrial Revolution; 1066: S, Stakhanovism; 1023: M, Stachanov; 942: V, Best Sons; 1153 : F, Soviet Workers; 1001 : H, Peasant Metropolis; 967: F, Stalin’s Peasants; 1028: M, Bauern; 563: K, Freedom and Terror, 151ff.; 940: S, Industry; 1062: R, Worker Resistance]. (3) Auf gleichsam ureigenem Terrain des Totalitarismuskonzepts haben erste Studien zur ,Wirklichkeit‘ des Herrschaftssystems den Staats- und Parteiapparat genauer zu untersuchen begonnen. Ihr Ergebnis ist zwiespältig. Auf der einen
Staats- und Parteiapparat
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Neue Qualität der Sowjetherrschaft unter Stalin
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Seite fanden sie heraus, dass es um dessen innere Funktions- und äußere Gestaltungsfähigkeit anders bestellt war, als die Idee einer omnipotenten Diktatur nahelegt. Anstelle von Effizienz und geordneten Entscheidungsabläufen fanden sie Wirrwarr und Improvisation, anstelle klarer Vorgaben der Zentrale oft erbitterte Rivalität weniger vor Ort als zwischen verschiedenen Kommissariaten, anstelle von wirksamer Kontrolle erhebliche institutionelle Eigenständigkeit und einen nicht unerheblichen Spielraum lokaler Akteure [z. B. 938, R, Stalinism and Rail Transport, 212]. Zugleich ist aber deutlich zutage getreten, dass ältere Thesen vom Chaos auch im sowjetischen Führerstaat – die Analogie mit der entsprechenden Diskussion über die Struktur des nationalsozialistischen Regimes ist häufiger hergestellt worden – weit überzogen sind. In jedem Fall sollten aus dem Befund administrativer Mängel, konkurrierender Kompetenzen und fehlender Umsetzung von Vorgaben (einschließlich der ubiquitären Nichterfüllung von Plänen) keine Rückschlüsse auf Stalins Macht und Rolle gezogen werden. Mangelnde ,bürokratische‘ Effizienz war nicht mit fehlender Durchsetzungsfähigkeit der Zentrale gleichzusetzen. Eher spricht vieles dafür, dass sich obrigkeitliche Kontrolle durchaus mit institutionellem Eigenleben vertrug, abhängig vom jeweiligen Sektor, Zeitpunkt und Ausmaß der Ansprüche. Insofern sollte man in der Tat den Rat beherzigen, ein „dynamisches Element“ in die Vorstellung vom Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie einzufügen [1054: R, Nature, 273]. Zugleich tut man gut daran, sie von der Frage nach der tatsächlichen Machtfülle des Diktators zu trennen. (4) Noch vor dem eigentlichen ,Paradigmenwechsel‘ wurden Einwände gegen die stillschweigende Gleichsetzung von Leninismus und Stalinismus laut, zu der das überkommene, unhistorische Konzept neigte. Gegen die Kontinuitätsannahme beharrte diese Position darauf, dass die Sowjetordnung mit dem Aufstieg Stalins zur alleinigen Herrschaft eine neue Qualität gewonnen habe. Nicht nur ˙ sei liquidiert worden, sondern mit ihr eine ganze Strömung, die auf dem die NEP Boden der Lenin’schen Politik eine realistische Alternative zum Stalin’schen Kurs angeboten habe. In seiner zugespitzten Formulierung behauptete das Argument, der Stalinismus habe eine „radikale Abkehr vom bolschewistischen programmatischen Denken [C, Bolshevism and Stalinism, in: 1077: T, Stalinism, 24] vollzogen. Aber auch ohne die bezweifelbare Lokalisierung der ,eigentlichen‘ frühsowjetischen Strategie im Umkreis von Bucharin blieben gute Gründe für die Behauptung einer Zäsur zu Beginn der dreißiger Jahre. R T [1078 : Stalin in Power, XIV] hat sie in dem Begriff der „Revolution von oben“ und dem Gedanken zusammengefasst, dass erst diese neuerliche Wende die wesentlichen Merkmale des stalinistischen Regimes hervorgebracht habe : die zentrale ökonomische Planung auf der Grundlage der Verstaatlichung sowohl der Industrie als auch der Landwirtschaft, die terroristische Disziplinierung der Gesellschaft, eine neue Elite als soziale Trägerschicht und einen formal omnipotenten Staatsapparat mit verschiedenen Affiliationen (von der Partei bis zu den Gewerkschaften) und diktatorischer Spitze. Unbestritten blieb dabei, dass trotz allem Wandel zugleich manche Kontinuitätslinien weiterliefen. Dies galt zum einen für die Folgen des Oktoberumsturzes allgemein und Lenins Grundentscheidungen über Art und Struktur der neuen
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Ordnung im Besonderen. Beide schufen wesentliche Voraussetzungen für die späteren Zustände, darunter auch – wie S P und besonders J B stark betonen [892: P, Revolutionskultur; 1046: D. : Stalinismus; 415; B, Rote Terror; 414: D., Verbrannte Erde ] – die Propagierung von Gewalt als legitimem Mittel der Auseinandersetzung mit Gegnern. Zum anderen haben viele Beobachter – beginnend spätestens bei den ,national-bolschewistischen‘ Beiträgern zum Sammelband Smena vech (Wechsel der Wegzeichen) von 1921 [dazu 738: R, Culture; 769: B, Intelligentsia] – auf die fortdauernde Wirkung der Dominanz eines starken Staates in der russischen politischen Kultur hingewiesen. Was die Rede vom ,roten Zaren‘ polemisch zu einem griffigen Etikett zusammenzog, hat auch die seriöse Forschung in der ein oder anderen Form immer wieder vorgebracht. Ob man von der Russifizierung des Bolschewismus sprach, einen Generationswechsel in der kommunistischen Partei (der die international geschulten ,Theoretiker‘ durch praxisorientierte Untergrund- und Bürgerkriegskämpfer ersetzte, vgl. 896: S, Arbeiterschaft) konstatierte oder Stalins Rolle eben darin erkannte, dass er im Stile Peters des Großen und anders als Lenin wieder auf das altrussische Verfahren der Modernisierung von oben zurückgriff [vgl. 1078: T, Stalin in Power, XIV; D., Stalinism and Stalin, in: 1000: H, Stalinismus, 1–16] – man meinte eben jenes Amalgam aus Tradition und Neuerung. Zugleich fügte diese Anerkennung des Lenin’schen und/ oder des russischen Erbes im Stalinismus aber hinzu, dass die zeitliche Folge nicht zur logischen verfälscht werden dürfe. Sie bezieht auch darin eine Mittelposition zwischen den Hypothesen der Kontinuität und der Diskontinuität, dass sie davor warnt, aus der Möglichkeit eine Notwendigkeit zu machen. In dieser Form hat sie sich als weithin unbezweifelte Erkenntnis etabliert [zusammenfassend: 1367 : D, End; anders 390 : M, Vollstreckter Wahn]. (5) Mit der beinahe üblichen Verspätung gegenüber der ,allgemeinen‘ Geschichte hat die Alltags- und Mentalitätsgeschichte zu Beginn der 1990er Jahre auch die historische Befassung mit der Sowjetunion erreicht. Überwiegend ergänzte sie die Sozialgeschichte, zumal sie von bekannten Sozialhistorikern zum Teil selber betrieben oder angeregt wurde. Das Interesse galt dabei weniger dem normalen Leben als dem im Ausnahmezustand der Stalin-Ära. Die Lage vor allem der Arbeiter und Bauern wurde mit besonderem Augenmerk darauf beschrieben, wie es möglich war, unter schwierigsten materiellen und politischen Bedingungen einschließlich der völligen Entrechtung zu überleben. Dabei zeigte sich deutlich, dass eine Herrschaftsordnung dieser Art – darin dem Nationalsozialismus nicht unähnlich – die typisch moderne Schichtung der Gesellschaft nach sozialen Kriterien (Vermögen, Arbeitsart und -bedingungen, Qualifikation auf dem Leistungsmarkt) in auffallendem Maße ,mediatisiert‘ und durch andere Merkmale, vorrangig solche des Zugangs zu administrativ-politischer Funktionärsmacht, ersetzt. In alltagsgeschichlicher Perspektive verlieren ,Klasse‘ und ,Klassenlage‘ so sehr an unterscheidender Bedeutung, dass sie nicht einmal mehr als Überschriften der Gliederung auftauchen. Dafür scheint zumindest die ,moderne Diktatur‘ sowjetischen Typs atavistische Patronagebeziehungen nicht nur reaktiviert, sondern zu einem charakteristischen Strukturkennzeichen
Alltagsgeschichte
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Bewusstseinsgeschichte
Stalin-Biographien
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
regularisiert zu haben [969: F, Everyday Stalinism, 12f., 109ff.; D., Intelligentsia and Power, in : 1000: H, Stalinismus, 35–54; F, Ascribing Class. . . in: 970: D., Stalinism, 20ff.]. Eine erfahrungs- und bewusstseinsgeschichtliche Spielart dieser Alltagsorientierung fragte eher nach Werten und Träumen sowohl der einfachen Leute als auch der Elite, um das zu vermeiden, was sie den bisherigen Studien zum Vorwurf machte: ,von außen‘ zu kommen und mit großen (und groben) Begriffen das Filigrangeflecht der ,kleinen Welten‘ zu zertrümmern, statt es zu entschlüsseln. ,Gelebter‘ Stalinismus stand im Mittelpunkt, nicht Stalinismus als System. Der Präferenz für die Wahrnehmung entsprechend, gewannen dabei Vorstellungen und Eindrücke neues Gewicht. Das Bewusstsein bestimmte wieder das Sein. Zugleich kehrte die Ideologie in den Kreis der bevorzugten Untersuchungsgegenstände zurück. Dabei erfuhr sie, im genauen Gegensatz zur totalitaristischen Sicht, eine positive Umwertung, die sicher zu den problematischen Aspekten dieser Version des Stalinismus als ,Erfahrungsgeschichte‘ zählt: Mit der Differenz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit schwindet auch die zwischen Ideologie und Wahrheit [1018: K, Magnetic Mountain; H, Revision der Revision, in: 1000: D, Stalinismus]. Einer weiteren Variante ging es noch entschiedener um eine bewusstseinsgeschichtliche Neudeutung. Sie setzte sich zum Ziel, Stalinismus von innen statt von unten und außen zu beschreiben. Auch dies ist dank einschlägiger Materialfunde erst in jüngerer Zeit möglich geworden. Wie sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion herausgestellt hat, haben mehrere Dutzend Tagebücher die Wirren eines halben Jahrhunderts überstanden. Erstmals lagen damit Quellen vor, die es erlaubten, die subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung der Wirklichkeit durch ganz ,normale‘, weder zu den Geistesgrößen noch zu den Dissidenten gehörenden stalinistischen Untertanen zu rekonstruieren. Besonderes Interesse haben dabei diejenigen gefunden, die sich nicht (nur) als Opfer fühlten, sondern sich um aktive Anpassung bemühten. Vor allem auf den Niederschlag solcher Bemühungen hat man weitreichende Thesen von einer eigenen ,stalinistischen Identität‘ gegründet, die in der einfachen Dichotomie von völliger Selbstaufgabe und ,heroischer‘ Opposition gegen die – wie still und innerlich sie immer sein mochte – nicht aufging. Keiner Erläuterung bedarf, dass diese Interpretation weder mit der ,totalitaristischen‘ Annahme, dass die Beherrschten ,dem Apparat‘ mehr oder weniger wehrlos ausgeliefert gewesen seien, noch mit dem Postulat ,zweckrationaler‘ Handlungsstrategien sozialhistorischer Art vereinbar war. Vielmehr erhebt sie nicht nur implizit den Anspruch, eine Alternative sowohl zum ,Vertragsmodell‘ als auch zu bloßen Gewalthypothesen als Erklärung für die unzweifelhafte Stabilität des Vorkriegsstalinismus zu präsentieren: Die zumindest passive Zustimmung der Bevölkerungsmehrheit wäre dann weder opportunistisch noch erzwungen gewesen, sondern Resultat aufrichtiger „Selbstformung“. Eine weitere Diskussion solcher Thesen steht noch aus [vgl. 182: H, Tagebuch, 9–70; 995: D., Revolution on my Mind; 988: H, Terror in my Soul;177 : G, K, L, Wahres Leben]. (6) Von selbst versteht sich, dass es keinen Stalinismus ohne Stalin gab. Bio-
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graphien gehörten daher von Anfang an zu den präferierten Zugängen zum Gesamtproblem. Insofern ist es kein Zufall, dass einige zu den bekanntesten Werken über die Geschichte der Sowjetunion insgesamt zählen [70: T, Stalin; 424 : D, Stalin; 446: T, Stalin in Power; stark faktenorientiert : 431 : MN, Stalin]. Zugleich verbirgt die Beschäftigung mit demselben Titelhelden höchst unterschiedliche Vorgehensweisen und Interpretationen. Gemeinsam ist ihnen eigentlich nur eines: Skepsis gegenüber den sozialhistorischen Prämissen und, bei allen Unterschieden in den Proportionen, größere Aufmerksamkeit für die Person. Dafür gibt es gute Gründe, denn natürlich besaß das Individuum Stalin eine Reihe von Eigenschaften, die ,sein‘ Herrschaftssystem zutiefst prägten. Der „Führer“ (vožd’), wie er sich seit den Jubelfeiern zu seinem 50. Geburtstag im Dezember 1929 bezeichnenderweise nennen ließ, war nicht nur taktisch geschickt, sondern verschlagen, und er sprang nicht nur hart mit seinen Gegnern um, sondern grausam und sadistisch. Er befahl die Jagd auf ,Klassenfeinde‘ in den Dörfern, er gab das Signal zum Massenterror gegen ,Volksfeinde‘ nach beliebiger Definition und inszenierte Schauprozesse mit Todesurteilen selbst gegen langjährige Kampfgefährten und Parteifreunde. Er genoss die alleinige Macht, rottete jedes Aufbegehren und jede nur denkbare ,Abweichung‘ mit allen Mitteln aus, von der Intrige bis zu Verhaftung und Mord, und ermunterte seine eigene Glorifizierung. Trotzdem hat es eines nicht gegeben : eine eigene Diskussion über die ,systematische‘ Bedeutung seiner Person nach Art der Debatte über die Rolle Hitlers im Nationalsozialismus. Lediglich in der Frage der Verursachung des Terrors (vgl. unten Kap. 5.2) haben sich vergleichbare unterschiedliche Standpunkte zwischen ,Intentionalisten‘ und ,Funktionalisten‘ angedeutet. Ansonsten dürfte schon der schlichte Umstand, dass über die innere Struktur und Funktion des stalinistischen Herrschaftssystems immer noch wenig bekannt ist, eine analoge Kontroverse unterbunden haben. Weil Person und Geschehen nicht getrennt gedacht wurden, sind fast alle bisherigen Stalinbiographien entweder keine Biographien im genaueren Sinne oder gehen deutlich darüber hinaus. Je weiter sie ausgreifen, desto eher streben sie vor allem eines an: die gesamte Entwicklung der Sowjetunion in der ersten Hälfte des Jahrhunderts im Brennspiegel ihres Protagonisten zu begreifen. Die Vor- und Nachteile eines solchen Vorgehens sind angesichts der Herausforderung durch eine strukturorientierte Sozialgeschichte ausgiebig diskutiert worden. Zweifellos enthält es eine Präferenz für Ereignisgeschichte und handlungsförmige Realität mit der positiven Wirkung einer besonderen Eignung für ein narratives und chronologisches Arrangement des Stoffs. Andererseits werden Strukturen und Tatbestände ,mittlerer‘ Dauer eher in den Hintergrund gerückt. Die – auch umfangsmäßig – großen Darstellungen ,lösen‘ dieses Problem durch Kapitel über den allgemeinen Kontext, in dem Stalin agierte; sie sind faktisch personenzentrierte Gesamtgeschichten der Sowjetunion dieser Jahre [bes. 446: T, Stalin in Power, und 441: S, Stalin; kursorischer 447 : U, Stalin]. Andere blenden ,widerständige‘ Bereiche der Wirklichkeit aus und gehen implizit oder explizit davon aus, dass sie zu vernachlässigen seien [bes. 422 : C, Stalin, 11 ff.]. Beide, vor allem aber die ,echten‘ Biographien, haben
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in besonderem Maße mit dem Problem zu kämpfen, die relative Stabilität des Stalinismus vor dem Weltkrieg und seine Langlebigkeit insgesamt zu erklären. Da sie die funktionale Deutungsfigur sozialhistorischer Provenienz ablehnen, bleiben im Wesentlichen zwei Möglichkeiten: entweder Gewalt und Terror oder die sozusagen passiv konsensbildende Faszination des Personenkults unter stärkerer Berücksichtigung der historischen Gesamtsituation zum entscheidenden Moment zu erklären – oder natürlich beides miteinander zu verbinden. Die erstgenannte Option geht in aller Regel mit totalitaristischen Prämissen einher und hat in R C ihren bekanntesten Vertreter gefunden [422: Stalin; 962 : Great Terror; auch 451: W, Stalin]. Aber auch die jüngsten Biographien zentrieren ihre Darstellung – was ihre Attraktivität für ein breiteres Publikum sicher fördert – ganz und gar um die Gewalttätigkeit des „roten Zaren“ und seiner gewissenlosen, servilen Clique, wobei sich durchaus erhebliche Unterschiede ergeben: das Bild eines zwar höchst intriganten und grausamen, aber auch bildungsbeflissenen und menschlichen Diktators im einen Fall [434: M, Stalin] sowie eines paranoiden Psychopathen, der allein in der Gewalt Befriedigung fand, im anderen Fall [414: B, Verbrannte Erde]. Der zweiten Option neigt T zu, ohne die Bedeutung und Wirkmächtigkeit der Person in Frage zu stellen. S möchte programmatisch Person und Geschehen, Individuum und Struktur, zusammenführen, um eine „künstliche Dichotomie“ zu überwinden [441: Stalin, X]. Und auch C bemüht sich auf neuartige und darstellerisch gelungene Weise, durch Szenenwechsel zwischen Stalins letzten Stunden und ,systematischen‘ Inhalten seiner Politik, beide Aspekte zusammenzubringen [420: Stalin]. Nur äußerst knappe Darstellungen [wie 428: K, Stalin], auf bestimmte Aspekte konzentrierte [wie 1047: P, Stalin Cult; auch 997: H, P, Personality Cults] oder Sammelbände [wie 964 : D, H, Stalin] unterlaufen sie in gewisser Weise aufgrund ihres Charakters. (7) In vieler Hinsicht erlebte die Totalitarismustheorie, auf ihr ideologisches Hauptargument reduziert und von oberflächlichen Merkmalskatalogen politikwissenschaftlicher Provenienz gereinigt, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Renaissance. Nicht nur in Russland, wo sie außerhalb der Dissidentenzirkel unbekannt war, schien sie vielen eine schlüssige Erklärung für das Versagen der alten Ordnung zu liefern. Auch manche westliche Historiker fanden unter dem Eindruck des Schicksals der Perestrojka zu ihr zurück. Sie hielten die Reformunfähigkeit des alten Systems für einen Geburtsfehler, der letztlich nur aus ihren weltanschaulichen Grundlagen zu erklären war. Die argumentativ konsequenteste, um nicht zu sagen radikalste Interpretation dieser Art hat wohl M M [390: Vollstreckter Wahn] vorgelegt. In seiner Sicht lag der Kern des Übels schon in der petitio principii des marxistischen Sozialismus begründet, eine Gesellschaft Gleicher schaffen zu wollen. Weil es viele Quellen der Ungleichheit wie z. B. den Markt gab, mussten sie verschlossen werden. Die Utopie wurde zum Maßstab der Realität und diese nach ihr geformt – auch mit Gewalt. Deren Anwendung war umso einfacher, als sich der Staat von Anfang an ein Machtmonopol schuf. Mit der geballten Kraft staatlicher Repression konnte er daran gehen, Konformität nach seiner Definition herzustellen.
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Für Andersdenkende war in einer solchen Gesellschaft kein Platz. Zugespitzt hat man der exklusiven sozialistischen Ideologie dieser Art sogar einen inhärenten eliminatorischen Grundzug attestiert. Sie wurde zur „Utopie der Säuberung“ [385: K], die auch massenhaften Terror als notwendiges Mittel zur Erreichung des übergeordneten Zwecks legitimierte und ihn dadurch nicht nur ermöglichte, sondern nachgerade nahelegte. (8) Ein solcher Zugang lässt sich leicht mit Überlegungen zum Zusammenhang zwischen Stalinismus und Moderne verbinden, die in jüngster Zeit vor allem die us-amerikanische Forschung bestimmt haben. Sie nehmen programmatisch Abschied vom Rückständigkeitskonzept und überführen die ältere Debatte über die Korrelation zwischen Stalinismus und Industrialisierung gleichsam in ihr Gegenteil. Die Hypothese, dass der subjektiv empfundene Zwang, in zehn Jahren nachholen zu müssen, wozu Europa 50-100 Jahre gebraucht habe (so Stalin in einer Rede vom März 1931), die zügellose Anwendung von Gewalt und Terror zumindest begünstigt, dass die Dynamik der Aufholjagd den Preis des Terrors erfordert habe [393 : M, Terror], ist der umgekehrten Annahme gewichen, Letzterer sei sinnvoller als durchaus folgerichtiges und nicht abartiges Produkt der Moderne zu begreifen. Diese habe eben nicht nur Freiheit, Demokratie und Menschenrechte hervorgebracht, sondern auch den totalen Staat, dem ein bis dahin unbekanntes Maß an organisatorischer und physischer Gewalt zur Verfügung stand. Der Staat nutzte die Schattenseite einer ,ambivalenten Moderne‘ [Z. B, Moderne und Ambivalenz. . . Hamburg 1992], um die Bevölkerung gefügig zu machen und seinen Zielen zu unterwerfen. Aber er tat noch mehr – er bediente sich der neuartigen Möglichkeiten, zu denen nicht zuletzt ein enorm gewachsenes statistisches und sonstiges Wissen über seine Untertanen gehörte, um diese nach seinen Bedürfnissen zu modellieren und maßzuschneidern. Der Staat wird zum Gärtner , der hegt, was wachsen soll, aber jätet, was er für Unkraut hält [410 : W, Landscaping]. Auch der Stalinismus schuf sich eine Gesellschaft nach seinem Bilde und war dabei nicht zimperlich. Was ihm missfiel, unterlag dem Verdikt des Unsozialistischen und wurde gnadenlos verfolgt. Was ihm zusagte, wurde zwar – von Funktionären, Ingenieuren und sonstigen Angehörigen der „sowjetischen Intelligenz“ am ehesten abgesehen – nicht gehätschelt, aber überwiegend am Leben gelassen. Diese Sichtweise hilft mehrere Tendenzen und Ergebnisse der jüngeren Forschung zu verstehen. Zum einen rücken Sozial- und Familienpolitik zusammen mit Propaganda, Überwachung und Terror zwischen zwei Buchdeckel [1004: H, Cultivating; schon 1003: ., Stalinist Values]: Unter dem Aspekt der obrigkeitlichen Formung der Gesellschaft durch den modernen ,Interventionsstaat‘ erscheinen sie als Emanationen ein und desselben Geistes. Normale, friedliche Gesetzgebung auf der einen Seite und extralegale Gewalt auf der anderen entpuppen sich als bloß äußerliche Unterschiede, die in Wahrheit nur zwei Seiten ein- und derselben Medaille waren. Beide entsprangen dem utopischen Glauben an die nahezu unbegrenzte Veränderbarkeit zumindest der sozialen Realität und der materiellen Welt darüber hinaus. Angelsächsische Autoren neigen dabei zu einem schnellen Rekurs auf die Aufklärung, die am Anfang dieser Entwicklung gesehen wird. Aus der Anmaßung der Vernunft sei
Stalinismus und Moderne
Der Staat als Gärtner
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ein ideologisches Denken hervorgegangen, das sich alles und jedes zu unterwerfen trachtete, eine förmliche Regulierungswut hervorbrachte und in Verbindung mit unkontrollierter politischer Gewalt – im Nationalsozialismus ebenso wie im Stalinismus – auch vor Massenterror nicht zurückschreckte, um seine Vision der künftigen Gestalt von Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur zu verwirklichen. Zum anderen rückt der Massenterror weiter weg von den Schauprozessen. Die Tendenz hat zugenommen, Stalins Abrechnung mit den „Old Bolsheviks“ [395: N, Power], den prominenten Rivalen (und Mitstreitern) von einst, andere Motive und einen anderen Charakter zuzuschreiben als der willkürlichen Gewalt im Gefolge des Befehls 00447. Die inszenierten Verfahren dienten einem vergleichsweise klar benennbaren Zweck; sie trafen bestimmte Personen und sollten diese quasi öffentlich (hin)richten. Dagegen ließen die Massenaktionen gegen „Kulaken“ und andere „Konterrevolutionäre“ schon aufgrund der schwammigen Definition der Zielgruppen von Anfang an viel Raum nicht nur für lokale Parteisatrapen, ihre eigenen Rechnungen zu begleichen, sondern ebenso für die Erweiterung der Kampagne. Das erwähnte Großprojekt über den „Stalinismus in der sowjetischen Provinz“ hat auch ergeben, dass soziale Randgruppen aller Art – Bettler, Obdachlose, Kleinkriminelle, Prostituierte, „Hooligans“ und andere „sozial feindliche Elemente“ – in auffallendem Maße von den Verhaftungen und Deportationen betroffen waren [953: B, B, J, Stalinismus, 161ff., s. o. I, S. 39ff.]. Offenbar nutzte das Regime die Gelegenheit, gleich mit unerwünschten Elementen aufzuräumen und dem Sozialismus ein sauberes Antlitz zu verleihen. Wer auf der Straße herumlungerte, störte dessen glänzende Oberfläche und hatte eine gute Chance, deportiert zu werden. Dazu passen Befunde grundlegender neuer Studien über die reguläre Polizei, die deren zunehmende Einbeziehung in den Massenterror belegen. Stalin habe nicht allein „politische Opposition gegen die“ gefürchtet, sondern in gleichem – und aus dieser Sicht sogar in höherem – Maße „social disorder“ [1065: S, Policing Stalin’s Socialism, 2; ähnlich 986: H, Stalin’s Police; grundlegende Quellen : 194 : S, K, Stalin and the Lubianka]. Willkürliche Verhaftungen ,auffälliger‘ Personen, so die These, wurden zum Alltagsgeschäft der normalen Polizei. Die Grenze zwischen politischer und normaler Polizei verschwamm; die Verschmelzung von OGPU und NKVD, von Geheimpolizei und Innenkommissariat im Juli 1934 wurde sozusagen auch in eine neue Praxis umgesetzt. Keiner Erläuterung bedarf, dass diese Sicht den Massenterror in besonders ausdrücklicher Weise zu einem Instrument des social engineering erklärt. Schließlich liegt auch die Nähe zu einer Interpretationsfigur aus der Gesamtgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf der Hand. Was J C. S [402: Seeing like a State] zu einem Grundelement des politischen Denkens dieser Jahrzehnte in und außerhalb Europas erklärt hat: die Überzeugung, der Staat könne die Gesellschaft ohne Rücksicht auf Traditionen nach seinen Vorstellungen formen, Menschen in großem Maßstab umpflanzen und sogar die Natur seiner Planung unterwerfen – diese Hybris der „Hochmoderne“ (high modernism) galt nicht zuletzt für den Sozialismus sowjetischer Prägung. Lenin
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und Stalin verschrieben ihrem Land eine neuartige Zukunft; ihre Revolution sollte eine radikale Umwälzung aller Bereiche von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sein, die einen „neuen Menschen“ hervorbringen sollte, um ihr Dauerhaftigkeit zu verleihen. Beinahe überall, wo diese Ideologie zum Tragen kam, verband sie sich mit einem autoritären oder diktatorischen Regime – mit der Folge, dass auch der Übergang von ,friedlicher‘ Planung zur gewaltsamen Umsetzung fließend wurde. Stalins Brachialindustrialisierung nutzte (z. B. beim Bau der Retortenstadt Magnitogorsk im Ural oder des Weißmeerkanals) in großem Umfang Zwangsarbeit. Der GULag diente auch ökonomischen Zwecken (während die lange akzeptierte These, er habe vorrangig wirtschaftliche Ziele verfolgt [963 : D, N,Arbeiter], als widerlegt gelten kann [s. o. Teil I, S. 45f. sowie K, Economy, in 983: G, L, Economics). Hitler plante mit Beginn des „Ostfeldzugs“ eine großräumige Zwangsumsiedlung von Millionen slavischer „Untermenschen“, um arische „Volksdeutsche“ in Großdeutschland zusammenzuführen („Generalplan Ost“) – das Denken, so suggeriert ein solcher Deutungsansatz, war über die Grenzen politischer Systeme hinweg im Kern verwandt, und auch Stalins gigantomanische Projekte zur Umgestaltung der Natur [1160 : G, Stalinsche Großbauten], u. a. der Bewässerung der turkmenischen Wüste, atmen diesen Geist. Fraglos eröffnet ein solcher Zugang die Chance, die ,braune‘ und die ,rote‘ Diktatur auf andere Weise als im Rahmen der Totalitarismustheorie kompatibel zu machen und sie darüber hinaus auch in einen politisch-sozialen Denk- und Handlungsmodus einzuordnen, der Anspruch darauf erheben kann, zu den kennzeichnenden Merkmalen der inzwischen oft so genannten „klassischen Moderne“ zu gehören. Umso eher sollte man sich hüten, deren Schattenseiten als völlige Neuentdeckung zu betrachten. Wer mit der deutschen Geistesgeschichte vor allem der 1920er Jahre vertraut ist, weiß, dass sich Denker wie Max Weber, Walter Benjamin oder Theodor W. Adorno der Dialektik der Moderne sehr bewusst waren. 5.2 Terror zwischen zentraler Lenkung und lokaler Mitwirkung Ähnlich leidenschaftlich und intensiv wie über den Charakter des Stalinismus wurde über den Terror debattiert. Beide gehörten zusammen wie siamesische Zwillinge. Diese Symbiose hat den Charakter der Auseinandersetzung stark geprägt. Willkürliche Gewalt zählte zu den essentiellen Definitionsmerkmalen des Totalitarismus; Kritik am Totalitarismuskonzept konnte ihren Status nicht aussparen. Die Standardversion wurde dabei vor allem von R C in einem Pionierwerk vertreten, das den Schauprozessen, Deportationen und Erschießungen der Jahre 1935–38 einen so suggestiven Namen gab, dass sie alle anderen Untaten Stalins verdrängten: the Great Terror [962: Great Terror]. Auch wenn man eine gewisse Pointierung in Rechnung stellt, trifft die zusammenfassende These zu, C habe sowohl die Verhaftung und Hinrichtung seiner vermeintlichen Gegner als auch die Massengewalt der folgenden Jahre allein Stalin zugeschrieben. Der Diktator wurde zum master mind, der hinter den Kulissen ebenso bösartig und skrupellos wie intrigenreich und geschickt
Stalin : mörderischer Meisterstratege?
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Terror : zentral gesteuert, lokal praktiziert
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Regie führte. Seine Motive lassen sich nur erschließen; aber es steht für die Anhänger dieser Auffassung fest, dass sie letztlich in Machtgier und Rachsucht, gepaart mit ausgeprägtem Sadismus und einer erheblichen Dosis krankhaften Misstrauens, zu suchen waren. ,Ihr‘ Stalin eignete sich als Verkörperung des Bösen in der Geschichte und das Verderben, das er über die Sowjetunion brachte, – neben Hitlers Judenwahn und Krieg – als Lehrstück für die Folgen totalitärer Diktaturen. Die erste entschiedene Gegenmeinung entstand daher kaum zufällig im Kontext der ,revisionistischen‘ Sozialgeschichte, und sie war nicht ohne Grund Nebenprodukt einer Untersuchung, die hauptsächlich der Partei galt. Was sich am Beispiel der ,Säuberungen‘ und des Apparates zeigte – die Bedeutung innerorganisatorischer Dauerkonflikte zwischen Zentrum und Peripherie – schien auch als Erklärung für den Terror zu taugen. Die Reibungen erzeugten eine Eigendynamik, die sich als Radikalisierung niederschlug und daher einen „erheblichen Teil“ auch der Vorgeschichte des Terrors bildete [972: G, Origins, 196]. Gewalt und Willkür lösten sich in dieser Sicht vom Diktator, erhielten gleichsam einen anonymen, strukturellen Ursprung. Sie erwuchsen, wie ein Mitstreiter ebenfalls im Rahmen einer Untersuchung der stalinistischen Gesellschaft formulierte, aus der psychotischen Unterstellung einer „allgegenwärtigen Verschwörung“ [R, Omnipresent Conspiracy, in: 1021: L, R, Stalinism]. Angst hatte auch hier große Augen; Stalin und seine Kumpanen fürchteten „ihre eigenen Schatten“ [G, Afraid of their Shadows, in: 1000: H, Stalinismus, 169–192, ähnlich in vielen folgenden Publikationen – vgl. bes. den Sammelband 973 : G, M, Stalinist Terror – bis hin zur jüngsten Monographie, die dabei teils überaus weit ausholt, variiert, vgl. 976: G, Practising Stalinism, bes. 206ff.]. Bei beiden (und anderen) Autoren verband sich diese ,a-personale‘ Deutung des Terrors mit der prononciert vorgetragenen These, dass Stalin nicht „alles auf den Weg brachte oder kontrollierte, was in der Partei und im Land geschah“ [972 : G, Origins, 203] und man von der Vorstellung eines allmächtigen Diktators Abschied nehmen müsse. Solche Befunde trafen das wenig differenzierte Totalitarismusmodell, das sich auch in der historischen Sowjetforschung festgesetzt hatte, ins Mark. Inzwischen hat der Streit – der in den Vereinigten Staaten zeitweise Züge eines politischen Glaubenskrieges annahm – nicht nur an Schärfe verloren; mehr noch, er darf als entschieden gelten. Von Seiten der ,Frondeure‘ sind Klarstellungen erfolgt, die auch als Rückzug verstanden werden können. Eine rein strukturellspontane Erklärung der Massengewalt wird explizit abgelehnt, Stalin nicht aus der Verantwortung entlassen. Übrig bleibt die Frage nach dem Ausmaß seiner Mitwirkung, nach anderen Akteuren und danach, ob der ,personale Faktor‘ zum Verständnis des Terrors ausreicht [973: G, M, Stalinist Terror, 15; 178: G, Road, XIII, 7f.; 976: D., Practicing Stalinism, 230ff.]. Auch darauf lässt sich nach gut zwei Jahrzehnten archivalischer Recherchen eine weitestgehend konsensfähige Antwort geben, die in mancher Hinsicht sogar einen Kompromiss darstellt. Völlig außer Frage steht dabei, dass Stalin den Terror nicht nur auslöste, sondern ihn in allen seinen Phasen und Formen, von den Schau-
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prozessen bis zu den Massenerschießungen, auch kontrollierte. Insofern hat O. V. C, der dies spätestens seit seiner Pionierstudie über das Politbüro der 1930er Jahre zu belegen suchte, Recht behalten [961: C, Politbüro, 246ff.; 1015 : K, Master, 166ff., 420: C, Stalin, 245ff, und viele weitere Beiträge dieses Autors]. Zugleich hat ein großes Forschungsprojekt über die Durchführung des schlimmsten aller Befehle, der Order 00447 vom 30. Juli 1937, ergeben, dass die lokalen Parteiführer schon bei der Planung in die Aktion einbezogen wurden und auch weiterhin aktiven Anteil an ihr nahmen. Ihrer Initiative war es anzulasten, dass die ursprünglich vom Politbüro vorgegebene Zahl der gleich zu erschießenden (Kategorie I) oder zu deportierenden (Kategorie II) Personen von knapp 268 950 auf letztlich 753 315 (sic!), mithin um mehr als 160 %, erhöht wurde. Eine solche Mitwirkung kann nicht mehr als marginal gelten. Vielmehr ließ die Zentrale dem Eifer oder auch der Rachsucht ihrer lokalen Satrapen weiten Raum – nicht in Gestalt der Lockerung ihrer Aufsicht und unbestrittenen Letztentscheidung, aber offenbar durch bereitwillige Übernahme der Wünsche. So gesehen, war der Massenterror ein Produkt von Zentrum und Peripherie (952: B, B, J, Massenmord, 25ff., 662; 954 : B, J, Wie der Terror; 955 : D., S e˙toj publikoj; ähnlich: 479 : W, Staat gegen sein Volk, 210; 961: C, Politbüro, 278; Übersicht über alle Positionen 964: D, H, Stalin). Im Zuge vertiefter Forschungen über das Stalin’sche Regime, wie erst das Jahre 1991 sie ermöglicht hat, sind inzwischen auch seine engsten Helfer genauer in den Blick genommen worden. Die meisten dieser Biographien gelten seinen obersten Henkern während des „Großen Terrors“, die selber in den Folterkammern zuschlugen, über Leben und Tod entschieden und zugleich bloße Knechte ihres Herrn waren. Zwei von ihnen, G. G. Jagoda und N. I. Ežov ließ er gnadenlos hinrichten, als er ihrer nicht mehr bedurfte; der dritte, L. P. Berija, starb in den Diadochenkämpfen nach Stalins Tod auf dieselbe Art, weil er schiere Angst verbreitete und wohl auch zu viel wusste. Trotz ihrer archivgestützten Gründlichkeit präsentieren diese Studien keine wesentlich neuen Einsichten über das Stalin’sche Regime und seine Untaten [1008 : J, P, S’ Loyal Executioner; 975: G, N, Yezhov; 426 : K, Beria]. Eher ergänzen sie die bisherige Kenntnis durch die neue Dimension biographischer Details, was etwa in der NS-Forschung von Anfang an selbstverständlich war. Gleiches gilt für Biographien anderer Helfer Stalins, die nicht primär mit Terror und dem GULag betraut waren, aber ebenfalls viel Blut an ihren Händen hatten und in ihrem jeweiligen Aufgabenbereich in gleicher Weise „loyale Exekutoren“ waren [450: W, Molotov; 1053 : R, Iron Lazar; 416: B, Life and Times; 435 : P, Anastas Mikojan].
Neue Biographien von Stalins Helfern
5.3 Opfer des Terrors Besonders verbissen hat man schließlich über eine Frage gestritten, die auch das breitere Publikum am stärksten interessierte : über die Zahl der Opfer des stalinistischen Terrors. Dazu trug der Umstand maßgeblich bei, dass Dokumente
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Demographische Methode
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zu ,Lebzeiten‘ der Sowjetunion weitgehend fehlten und sich ein breiter Raum für sehr unterschiedliche Argumentationen mit divergierenden Plausibilitätsannahmen öffnete. Hinzu kamen auch in diesem Fall weltanschaulich-politische Gegensätze. Sie verbanden sich nahtlos mit teilweise erheblich voneinander abweichenden Berechnungsarten und -ergebnissen. Jedenfalls wird man es nicht für Zufall halten, dass großzügige Schätzungen ohne nennenswerte Ausnahme mit klar konservativen Positionen einhergingen und zurückhaltende umgekehrt zumindest mit größerer Neutralität. An dieser Affinität hat sich auch nach Öffnung der Archive dort, wo keine eindeutigen Angaben vorliegen, grundsätzlich nichts geändert. Grob gesehen, lassen sich drei Zugänge und Quellenarten unterscheiden, die – oft miteinander kombiniert – zur Klärung der Frage genutzt wurden. Ein erster Weg führte über die beiden demographischen Eckdaten der Bevölkerungszählungen vor und nach den Stalin’schen Verbrechen zum Versuch, das Ausmaß der Lücke möglichst genau zu bestimmen und überzeugend zu erklären. Als weitgehend zuverlässig galten dabei die Ausgangsdaten der Bevölkerungszählung vom Dezember 1926, die F L im Auftrag des Völkerbundes in einer klassischen Studie 1946 [5 : Population] präsentiert hat. Als früheste Daten post quem lagen lange Zeit nur die offiziellen Resultate des Zensus vom Januar 1939 vor; erst die Perestrojka ermöglichte die Veröffentlichung der Ergebnisse der vorangegangenen Zählung vom Januar 1937, deren Organisatoren Stalin erschießen ließ, weil er höhere Schätzungen verkündet hatte [vgl. 200: Ž u. a., Polveka]. Man wusste aber, dass diese Zahlen geschönt waren und eine größere Bevölkerung vortäuschten, als tatsächlich vorhanden war. Erst in die jüngste Darstellung, die als Referenzwerk zur demographischen Entwicklung Russlands im gesamten 20. Jahrhundert gelten darf, konnten alle Daten der Bevölkerungszählungen der Vorkriegsjahre eingehen [14: N R I]. Dennoch sind gerade bei demographischen Berechnungen noch manche Unbekannte geblieben. Vor allem die Extrapolation der normalen Geburten- und Mortalitätsrate lässt in Krisenzeiten, in denen Registrationen unterblieben oder höchst lückenhaft waren, erheblichen Spielraum. So vermag das erwähnte demographische Referenzwerk für die Zahl der Hungeropfer von 1932–34 (einschließlich der Wolgaregion und Kazachstans) ,nur‘ einen ,Korridor‘ von 5,2–8,8 Mio. [14: Naselenie Rossi I, 275) zu nennen, der mithin eine maximale Differenz von 3,6 Mio., mehr als die Hälfte der Minimalschätzung, zulässt. Trotz solcher Ungenauigkeiten können folgende Eckdaten zum gegenwärtigen Zeitpunkt Plausibilität beanspruchen : Ende 1926 gab es ca. 145,5 bis 148,5 Mio. Menschen in der Sowjetunion, Anfang 1937 ca. 162 Mio. (max. 162,7 Mio.) und Anfang 1939 ca. 167,3 Mio. Abhängig von den Annahmen über Geburtenrate und Mortalität haben Demographen daraus ein Defizit von 5,5 Mio. bis 10–14 Mio. errechnet. Nach Korrekturen aufgrund von Geburten- und Sterberegistern für 1927–37, die seit der glasnost’ zugänglich wurden, kann eine Zahl an excess deaths in den Jahren 1927–1938 von etwa 10 Mio. Menschen als wahrscheinlich gelten, 8,5 Mio. davon 1927–36 – wovon die große Mehrheit wiederum auf die Hungersnot 1933/34 entfiel –, 1,5 Mio. 1937–38 [alle Daten nach der besten Übersicht bei 497 : D, H, W, Economic Transformation, 72–77;
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ähnliche Kerndaten 14: Naselenie Rossii I, 345ff.]. Auch diese Daten wurden noch nach der Öffnung der Archive vom Daueropponenten ihrer Autoren angezweifelt [Steven R, Stalinism, in : Europe-Asia Studies 48.6 (1996), 959–987; Literatur zur Kontroverse ebd. 982–986 sowie 497 : D, H, W, Economic Transformation, 64ff.]; seitdem ist die Debatte verebbt. Ein zweiter Weg zur Gewinnung konkreter Zahlen über Erschießungen, Verhaftungen und die Arbeitslager unter Stalin verdient inzwischen nur noch eine flüchtige Reminiszenz. Bis zur Öffnung der Archive standen der Forschung – neben den genannten demographischen und wenigen anderen ,harten‘ Daten – im Wesentlichen Autobiographien oder Berichte übergelaufener Mittäter und Betroffener zur Verfügung. Die professionellen Historiker haben davon sehr unterschiedlichen Gebrauch gemacht. Wer vorsichtig operierte, hat den subjektiven Charakter entsprechender Angaben (über den Prozentsatz wahrscheinlich im Lager Umgekommener, die Anzahl der jährlichen Zu- und Abgänge u. ä.) nicht aus dem Blick verloren. Andere gründeten darauf mehr oder weniger überzeugende Hochrechnungen. Besondere Verbreitung haben die einschlägigen Schätzungen von R C gefunden, die laut eigener Aussagen auf ca. „dreißig“, „zumeist inoffiziellen“ Quellen beruhten. C hat diese Angaben mit neu zugänglichen Daten aus den Jahren 1987–89 verglichen und im Großen und Ganzen an ihnen festgehalten. Ausdrücklich hat er auch seine Hochrechnung der Gesamtzahl an Opfern (im Sinne von „Toten“) von „nicht weniger als 20 Mio.“ sowie von 40 Mio. „Verhafteten“ (repressed), die sich etwa je zur Hälfte auf die Jahre 1929–33 und 1937–53 verteilten, erneuert [962 : C, Great Terror, 485f.]. In einem seinerzeit weit verbreiteten, besonders in der breiteren publizistischen – kaum dagegen in der wissenschaftlichen – Öffentlichkeit rezipierten Werk ist ihm mit solch großzügigen Hochrechnungen C [479 : Schwarzbuch, 21ff., in krassem Unterschied zum soliden Beitrag von W, Staat gegen sein Volk, ebd. 51–295] beigesprungen. Auch andere, zum Teil weit über den engen Kreis von Fachleuten hinaus bekannte Autoren wie die prominenten Dissidenten R A. M [1024 : Urteil] oder A S [1068: Archipel] haben sich – in diesem Fall faute de mieux – eines solchen Verfahrens bedient. Drittens stehen seit der Endphase der Perestrojka auch Archivquellen zur Verfügung, die inzwischen in zahlreichen, oft vielbändigen und umfangreichen Editionen publiziert und in einigen, allerdings deutlich selteneren substanziellen Monographien ausgewertet worden sind. Letztlich ist es erstaunlich, wie wenig sie am Gesamtbild des Terrors verändert haben. Neu sind eigentlich nur zwei Einsichten: dass der Widerstand der Bauern gegen die Kollektivierung und ihr Resultat erheblich stärker war als bis dahin bekannt; und – wie vor allem das Großprojekt über den regionalen Terror nahelegt –, dass die Verhaftungen und Erschießungen zumindest in dem Sinne weniger ziellos und willkürlich waren als angenommen, dass Angehörige bestimmter, für unsozialistisch gehaltener Schichten und Gruppen – wie ehemalige „Kulaken“ – eine größere ,Chance‘ hatten, betroffen zu sein, als andere. In diesem Sinne hatte der rassistische Terror des Nationalsozialismus im „Klassenterror“ des Stalinismus durchaus ein Pen-
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dant. Zugleich ist die Zahl der Opfer präzisiert worden. Dabei zeigen die neuen Daten, auch wenn manche Unklarheiten bleiben, eine deutliche Tendenz – sie haben die Schätzungen allesamt nach unten korrigiert. Insofern ist der erste archivgestützte einschlägige postsowjetische Beitrag weitgehend bestätigt worden. Es dürfte kein Zufall sein, dass auch jüngere Monographien auf sie zurückgreifen [z. B. 946: B, Death and Redemption, 10; 979: G, Inventing the Enemy, 12]. Die oben zusammengestellten, gegenwärtig plausibelsten Daten schließen daran an (s. Teil I, S. 40f.). 5.4 Stalinistische Werte: alte Moral, Konsum und Nation konservative Wende
Schon Zeitgenossen haben im Stalinismus eine konservative Wende gesehen. Bekannt ist Trotzkis Verdikt von der „bonapartistischen“ Gegenrevolution, die der Diktator vollzogen habe. Aber auch distanziertere Beobachter sprachen von einem „großen Rückzug“ im Sinne der Abkehr von den Idealen des Oktober und der Wiederentdeckung traditioneller Tugenden [70: T, Stalin; 1076: T, Great Retreat]. Während Trotzki vor allem die politische Ordnung und den Terror im Blick hatte, bezog sich die letztgenannte Wertung hauptsächlich auf die Moral der Gesellschaft und die ethischen Normen ihres Zusammenlebens. Im Zuge des gewachsenen Interesses an mentalen Orientierungen im Schnittpunkt von Kultur- und Sozialgeschichte haben neuere Studien solche Urteile zugleich bestätigt und modifiziert. Einerseits waren die Werte, die das Stalin-Regime propagierte, ganz überwiegend konservativ und restaurativ. Dies zeigte sich insbesondere in der Familienpolitik und den mit ihr eng verbundenen sozialmoralischen Vorstellungen. Es ist nachgerade üblich geworden, das neue Ehegesetz vom Juni 1936 als juristische Manifestation des End- und Fluchtpunktes der Wende zu betrachten. Die Scheidung „per Postkarte“, wie man die überaus liberalen Regelungen der frühen Sowjetjahre zugespitzt genannt hat [s. o. I, S. 52f.], gehörte fortan wieder der Vergangenheit an. Was als Befreiung des Individuums vom lebenslangen Joch des kirchlichen Sakraments (es gab im Zarenreich keine Zivilehe) gepriesen worden war, verfiel dem Verdikt, der sozialistischen Gesellschaft zu schaden. Nunmehr war Stabilität, gegründet nicht zuletzt auf einen festen Familienkern, nicht mehr der Aufbruch zu neuen Ufern, angesagt. Folgerichtig verbot dasselbe Gesetz auch die Abtreibung wieder, deren Legalisierung gut anderthalb Jahrzehnte zuvor überzeugte Anhänger des neuen Regimes als Symbol für die Befreiung der Frau und ersten Schritt zu einer neuen Sexualmoral gefeiert hatten. All diese radikalen, bilderstürmischen Ideen kulturrevolutionärer Prägung, die im Gefolge des Oktoberumsturzes ebenfalls an die Oberfläche getreten waren, hatten nun ausgedient [vgl. 858: G, Women, State and Revolution, 1ff., 296ff.; 1003: H, Stalinist Values, 88ff.; 604: S, Revolutionary Dreams]. Stattdessen warb der Staat, bildlich eingefangen in manchen Gemälden des „sozialistischen Realismus“, für Mutterschaft und das ,kleine Glück‘ in der neu erbauten Einfamilienwohnung, mit Blumenvase, offenem Fenster und lachenden Kindern [u. a. 169: Agitation zum Glück]. Solche stalinistische ,Bürgerlichkeit‘
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wurde durch einen Unterhaltungsbetrieb propagandistisch verstärkt, der ganz auf populären Geschmack, eingängige Melodien in Musikfilmen und tränenselige, aber züchtige Liebeswirren setzte und damit ein außerordentlich breites Publikum erreichte. Die Analogie zur nationalsozialistischen ,Kultur‘-Politik liegt nahe : Wie den Goebbels’schen Produktionen gelang es den stalinistischen, den Alltag zu entpolitisieren, die faktische Entmündigung der Bevölkerung durch gefällige Unterhaltung zu kompensieren und dabei noch die moralischen Werte des Regimes samt grundlegender ideologischer Dogmen zu propagieren [vgl. u. a. 1070: S, Dunaevskij; 1032: N, Stalins Filmpolitik; 895: Rote Traumfabrik; 605: S : Russian Popular Culture, 64ff.; 601: L, Kino, 277ff.]. Gleichsam komplementär passte zu alledem eine neue Förmlichkeit, Strenge und ausgeprägte Hierarchie in der quasistaatlichen Öffentlichkeit. Uniformen kehrten ins Erscheinungsbild des Alltags zurück. Die stalinistische Gesellschaft war in ähnlicher Weise militarisiert wie die nationalsozialistische – eine Kehrtwende zum genauen Gegenteil der sowjetischen Anfangsjahre, wie exemplarisch anhand der ,Perversion‘ volksfestartiger spontaner Demonstrationen in straff organisierte Paraden militärischer Verbände und paramilitärisch anmutender ziviler Organisationen, vom Komsomol bis zu Sportlern, die unter den Augen der Partei- und Staatselite über den Roten Platz marschierten, gezeigt worden ist [894: R, Massenfest]. Zugleich unterstreichen jüngere Untersuchungen, dass diese konservative Wende durch den Staat betrieben wurde. Das neue Familienideal einschließlich seiner (sexual)moralischen Grundannahmen, der gesamte Verhaltenskodex für den vorbildlichen Kommunisten und Sowjetbürger, die Kampagne für bessere Hygiene (vor allem an der Peripherie), Gesundheitsvorsorge und körperliche Ertüchtigung – all dies war Gegenstand der monopolistischen Propaganda und repressiven Politik einer totalitären Erziehungsdiktatur. Die veränderten Normen mochten inhaltlich konservativ sein; die Art und Weise ihrer (versuchten) Durchsetzung war in der Sicht dieser Studien entschieden modern, weil sie sich dem interventionistischen Selbstverständnis des modernen, im gegeben Fall terroristisch pervertierten Sozialstaats verdankten [so vor allem 1003 : H, Stalinist Values; 1004: D., Cultivating the Masses, sowie weitere, oben Teil I, S. 125ff. genannten Werke]. Die Nähe solcher Gedanken zur Debatte über die Sozialpolitik des Nationalsozialismus (mit ihrem altbackenem Frauenbild und dem Volksgemeinschaftspathos) liegt auf der Hand. Insofern wären sie ebenso im Kontext einer Totalitarismustheorie zu diskutieren wie im Kontext der Moderne [grundlegend zu diesem oft vorgenommen Vergleich 977: G, F, Beyond Totalitarianism, hier bes. H, T, S. 87ff.]. In jedem Fall bleibt kritisch zu fragen, ob die gepriesenen Werte, Tugenden und Verhaltensnormen ihren restaurativen Inhalt durch die Modernität der Mittel ihrer Durchsetzung veränderten. Die Antwort dürfte lauten – eher nicht. Zu den neuen Werten zählt meist auch eine neue Konsumorientierung . Der Stalin’sche Staat, der behauptete, die Entstehungsphase des Sozialismus abgeschlossen zu haben (und sich deshalb 1936 eine neue Verfassung gab), konnte es sich leisten, nun auch wieder das verpönte Streben nach materiellen Gütern zu rechtfertigen. ,Bürgerlicher‘ Konsum der alten Gesellschaft war ausbeuterisch
Konsum und Lebensniveau
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und verwerflich, ,sozialistischer‘ der neuen legitime Belohnung für geleistete Aufbauarbeit. Auch Studien zu diesem Problem sind erst in postsowjetischer Zeit möglich geworden, wobei sie sich mit dem wachsenden Interesse am Alltag verbanden. Wenngleich noch manche regionalen Untersuchungen folgen werden, lassen sie die Grundstruktur der neuen Güterverteilung bereits klar erkennen : In relativem Wohlstand lebte, wer zum Partei- und Staatsapparat gehörte. Besonders die Elite dieser Funktionärsschicht, die Inhaber solcher Positionen, die aufgrund ihrer Bedeutung zentral besetzt wurden, brauchte nicht auf den Rubel zu schauen. Überhaupt mussten ihre Mitglieder nicht von ihrem Gehalt leben, weil ihnen ein großer, wenn nicht der überwiegende Teil ihres materiellen Komforts auf nichtmonetäre Weise in Form ,naturaler‘ Vergünstigungen zufloss. Sie erhielten zu günstigen Konditionen große, oft in eigenen Gebäudekomplexen gelegene Wohnungen samt Personal. Sie hatten privilegierten Zugang zu besonderen Devisenläden, in denen es ausländische wie inländische Luxuswaren gab (Torgsin 1042: O, Zoloto; 984: G, Caviar). Sie erholten sich in eigenen „Datschen“ oder Sanatorien, die von verschiedenen staatlichen Organisationen und Unternehmen betrieben wurden. In ihren Kreisen wurde es wieder schick, mondäne Kleider (oder das, was man dafür hielt), Pelze und Schmuck zu tragen, sich auf Festlichkeiten zu präsentieren und erlesen zu tafeln. Symptomatisch war, dass der Delikatessentempel der Eliseev-Familie aus spätzarischer Zeit mit seinen Spiegeln, Kandelabern, Fresken und Palmen als „Gastronom Nr. 1“ wieder zu Ehren kam, um nun das zu repräsentieren, was man „kultivierten sozialistischen Handel“ nannte [998: H, Social History, 198ff.; 1049 : R, Soviet Dream World, 44ff., 134ff.]. Nur konnten die allermeisten der zahlreichen Besucher dieses Schau-Geschäfts die dort ausgestellte Opulenz nur im Vorbeigehen bewundern. Der Alltag der großen Masse der Bevölkerung war vom genauen Gegenteil geprägt [vgl. allgemein 969 : F, Everyday Stalinism]. Die Wohnungsnot war in den Städten von Beginn an groß gewesen. Der enorme Zustrom neuer dörflicher Arbeitskräfte im Zuge der forcierten Industrialisierung während der ersten Fünfjahrplanperiode verschärfte sie dramatisch. Ebenso schlecht stand es um die Versorgung. Schon nach der „Getreidekrise“ vom Winter 1927/28 sah sich der Staat genötigt, Brot zu rationieren (1928), weil sich die Läger trotz beginnender Zwangsmaßnahmen nicht wieder hinreichend füllten. Als er danach entschied, ˙ endgültig zu beenden, den privaten Handel zu liquidieren und die Landdie NEP wirtschaft zwangsweise zu kollektivieren, nahm er in Kauf, dass sich der Mangel zu tiefer und ubiquitärer Not zuspitzte. Im Januar 1931 musste ein „sowjetunionweites Rationierungssystem“, das alle wesentlichen Grundnahrungsmittel und alltäglichen Bedarfsgüter umfasste, eingeführt werden. Dabei verband der Staat die schiere Notwendigkeit mit Anreizen zu ,Tugenden‘ in seinem Sinne: Essen sollte nur, wer auch arbeitete. Die Rationen wurden nach Leistung für den sozialistischen Aufbau bemessen, einem Kriterium, dem auch der Zugang zu den Garküchen, Kantinen und Läden [grundlegend 1041: O, Our Daily Bread, hier 61ff.] sowie im Grundsatz das gesamte Entlohnungssystem im industriellen Sektor der Volkswirtschaft unterlagen. Im Resultat ergab sich unausweichlich : Nicht nur alte Werte kehrten in die ,revolutionäre‘ Gesellschaft
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zurück, sondern auch jene Privilegien und Benachteiligungen im Konsumniveau und der sonstigen materiellen Versorgung, denen man unter dem Etikett der „Klassengesellschaft“ den Kampf angesagt hatte. Alltag unter Stalin war ebenso ausgeprägt hierarchisch wie die soziale Ordnung insgesamt. Dies änderte sich auch nach der Aufhebung der Rationierung 1935 nicht. Zwar konnten die nächsten Jahre ökonomisch und materiell als die erfolgreichsten der Stalinära (zumindest der Vorkriegsperiode) gelten [917: D, Industrialization, Bd. 6]. Sie gingen aber nicht nur in bemerkenswert paradoxer Gleichzeitigkeit mit dem „Großen Terror“ einher [vgl. 1074: S, Terror und Traum; ähnlich schon : 1075: T, Life and Terror]. Darüber hinaus galt nach wie vor, dass vom nunmehr am ehesten möglichen, propagandistisch gepriesenen „kultivierten Handel“ nur eine kleine Schicht sozialistischer „Leistungsträger“, allen voran die Nomenklatura von Partei und Staat, profitierte. Und auch die Pointe verdient Beachtung, dass es großenteils immer noch der verpönte private Sektor der agrarischen Produktion war, der diesen Konsum ermöglichte – nur in seiner neuen Gestalt jenes Haus- und Hoflandes, das Kolchosbauern in Eigenwirtschaft seit 1935 legal bestellen durften [vgl. 998: H, Social History, 251ff.]. Nicht zuletzt gehört die massive Aufwertung der Nation zu jenen propagandistischen Neuerungen der Stalinära, in denen man eine Rückwendung zur Tradition erkannt hat; gerade ihr unterstellt man wohl zu Recht auch eine erhebliche Resonanz in der Bevölkerung. Um so eher muss man sich an die Ausgangslage erinnern. Die entschiedene Abkehr vom „großrussischen Chauvinismus“ hatte zum Kernprogramm des neuen, revolutionären Regimes gehört. „Indigenisierung“ (korenizacija) war zur laut verkündeten Strategie geworden, die es umsetzen sollte. In welchem Maße dies tatsächlich geschah, ist umstritten. Gewiss waren die Republiken, die sich ja formal freiwillig zu einer „Union“ zusammengeschlossen hatten, nach außen hin selbständig. Im Sinne dieser inneren Autonomie durften sie die jeweilige Landessprache zur zweiten Amtssprache erheben und Zeitungen sowie andere Publikation in dieser Sprache veröffentlichen. In vielen Regionen standen auch ,einheimische‘ Funktionäre an der Spitze der Partei- und Staatsgremien. Nur gehörten sie natürlich der KPdSU als landesweiter Monopolpartei an, die alle wichtigen Ämter zentral besetzte. Vor allem aber hat man mit guten Gründen argumentiert, dass eine entscheidende Organisation und Machtstütze, die OGPU, ihre regionalen Leitungspositionen nach eigenen Kriterien besetzte. Insofern war der tatsächliche Bewegungsspielraum der Republiken in den entscheidenden Fragen (nach der Definition der Zentrale) äußerst begrenzt; für die Ukraine hat man bestritten, dass es ihn überhaupt gab [Š, Russischer Nationalismus, in : 1000: H, Stalinismus, 291–306; 474: Š, P, Z’, ČK-GPU-NKVD]. Vor allem Stalin als Nationalitätenkommissar und Generalsekretär verstand es schon früh, tatsächliche Autonomiebestrebungen der Ukraine zu sabotieren. So gesehen flacht sich die Stalin’sche Wende in der Nationalitätenpolitik zu einer bloßen Wellenbewegung ab. Niemand stellt in Frage, dass sie stattgefunden hat. Zugleich kommt die neueste, bis auf Weiteres verbindliche Untersuchung zu dem Ergebnis, dass es nach 1933 ,keine Abkehr‘ von der korenizacija , sondern eher ein „Zurückfahren“ (scaling back) [1026: M, Affirmative Action
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Empire, 392] gegeben habe. Denn das Regime habe den „positiven“ Effekt dieser Politik, die Entstehung antirussischer Ressentiments an der nichtslavischen Peripherie zu verhindern, bewahren wollen. Schon früh sei aber deutlich geworden, dass sich nationale Emotionen nicht auf unpolitische Artikulation begrenzen ließen. Vor allem der Terror habe einen regelrechten Schub ausgelöst und eine ausgeprägt xenophobe Dynamik entfaltet. Dennoch habe sich auch die Stalin’sche Sowjetunion nicht als Nationalstaat verstanden, der nichtrussische Minderheiten mit Zwangsassimilation bedroht hätte. Zwar hätten alle russisch lernen müssen, davon abgesehen aber ihre jeweilige Identität weitgehend bewahren können. Nun liegt der Einwand nahe, dass sich ein solches Fazit schlecht mit der Wiederentdeckung russischer Helden und überhaupt der russischen Geschichte verträgt, die ein elementarer Bestandteil Stalin’scher Kulturpropaganda und Politik war. Zum Stalinismus gehörte in unauflösbarer Symbiose ein neuer Nationalismus, dem in aller Regel per se eine Ablehnung und Abwertung anderer Nationalitäten innewohnte. Das „Vokabular“ russozentrischer Namen, Bilder und Mythen ersetzte, wie man argumentiert hat, die nachlassende oder überhaupt fehlende Integrationskraft theoretischer Debatten und abstrakter Ideologie. Die nationale Sprache und Zeichenwelt waren griffiger. Sie erst verliehen der Ideologie Massenwirksamkeit, indem sie jene Propaganda ermöglichten, deren das Regime bedurfte [958: B, National Bolshevism, 4f., 240ff.; ältere Studie: 1038: O, Sowjetpatriotismus]. In welchem Maße sie auch die oben erwähnten [s. Teil I, S. 42f.] nationalen Terroraktionen inspiriert haben, mag offen bleiben. Sicher gab es noch andere, handfestere und im engeren Sinne politische Motive dafür. Aber eine katalytische Funktion wird man ihnen ebenso zuschreiben dürfen wie den Deportationen nichtslavischer Minderheiten in den Kriegsjahren. In jedem Fall stellt sich die Frage, ob der Rest an frühsowjetischer Nationalitätenpolitik und Internationalismus, an dem man formal festhielt, mehr war als ein institutioneller Überhang und bloße Rhetorik. 5.5 Glaube
Kirche und Glauben
Keiner Begründung bedarf, dass vor der glasnost’ ein Problem offiziell nicht erforscht und kaum diskutiert werden konnte, dessen Relevanz und Brisanz auf der Hand lag: die Frömmigkeit der Menschen und das Schicksal der Kirche. Dass die Orthodoxie als ,Anstalt‘ und Glaube vom revolutionären Regime unterdrückt wurde, war in zahlreichen Dekreten und Pamphleten nachzulesen. Die „Liga militanter Atheisten“ diente dabei als Stoßtrupp, bildete aber nur die Spitze des Eisbergs. Weitgehend unbekannt blieb dagegen nicht nur das Ausmaß der Verfolgungen, sondern auch der Verankerung von Frömmigkeit und Religionstreue in der Bevölkerung. Erst die Öffnung der Archive hat Dokumente freigegeben, die seit dem Untergang der Sowjetunion publiziert oder ausgewertet werden. Dabei hat sich ergeben, was angesichts des ungeheuer radikalen Bruchs zwischen dem ,heiligen Russland‘ mit seiner orthodoxen Staatskirche und der programmatisch „gottlosen“ bolschewistischen Sowjetunion zu erwarten war: dass der überwiegende Teil der Bevölkerung noch lange religiös blieb und nach
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religiös bestimmten Traditionen lebte. Wenn Kirche und Glauben völlig aus der Öffentlichkeit verschwanden, so war dies allein staatlicher Repression geschuldet [zusammenfasssend vom besten Kenner: 615: Š ,Russkaja Pravoslavnaja cerkov‘; 616: D., Peterburgskaja e˙parchija; D., Russische Kirche, in : 1000 : H, Stalinismus, 233–254; F, Stalinist Assault, ebd. 209–232; Sammelband : 609: G, T, Politik und Religion].
6. Der Zweite Weltkrieg 6.1 Der Hitler-Stalin-Pakt So ungeheuer das Aufsehen war, das der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 in der ganzen Welt auslöste, so groß ist das Interesse auch einer breiteren, politisch-publizistischen Öffentlichkeit an der Interpretation dieses Ereignisses geblieben. Dabei herrschte über die unmittelbare Folge und den Zweck des Abkommens für Hitler Einmütigkeit. Sie waren am Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September leicht ablesbar. Rätsel geben aber bis auf den heutigen Tag Stalins Motive auf. Sie verbinden sich mit der Frage nach der sowjetischen Außenpolitik in den vorangegangenen Jahren und der Datierung des Entschlusses zum sensationellen Arrangement mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Bis heute stehen einander dabei im Wesentlichen zwei bis in die fünfziger Jahre zurückreichende Meinungen gegenüber. Eine erste geht davon aus, dass der Vertrag nur den förmlichen Vollzug seit langem vorhandener unterschwelliger Wünsche markierte. Was 1939 publik wurde, war in ihrer Sicht schon länger angelegt. Die Suche nach einem Wendepunkt erübrigt sich aus dieser Perspektive: einen solchen gab es nicht. Auf der anderen Seite bleibt unklar, wann die ,subkutane‘ Verständigung begann. Implizit gibt es in dieser Hinsicht aber Unterschiede zwischen den beiden Hauptvarianten dieser Deutung. Wer totalitarismustheoretische Prämissen zugrundelegt und von einer ,Wahlverwandtschaft‘ der Diktaturen und Diktatoren ausgeht, muss in der Nähe des Jahres 1933 suchen. Der Keim des Pakts wurde gelegt, als beide Systeme entstanden – in der ,zweiten‘, der „Revolution von oben“ das eine und in der Agonie der Weimarer Republik das andere [z. B. 1035: N, Sowjetunion]. Wer die Kontinuität der Lehre von der Weltrevolution als Antrieb sowjetischer Außenpolitik betont, wird weiter zurückgehen, letztlich bis zum Oktober 1917. Die besondere Beziehung zum ,Dritten Reich‘ erscheint weniger als Folge der Affinität der Systeme denn als Erbe des internationalen Sozialismus, der in Deutschland geboren wurde, und als Vermächtnis Lenins, der sich von Deutschland Unterstützung für die isolierte Revolution in Russland erhoffte. In dieser Perspektive führte ein direkter Weg von Rapallo 1922 nach Moskau 1939. Die Kommunikationslosigkeit nach der nationalsozialistischen Machtergreifung erscheint als Pause, nicht als Bruch. Schon 1935 begannen Gespräche, die nach dieser Deutung weit über
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ihren äußeren Zweck der Vorbereitung eines Handelsabkommens hinausgingen und hauptsächlich der Wiederaufnahme der Kontakte dienten. Auch nach dem Abschluss eines entsprechenden Vertrages 1936 seien diese daher trotz der Konfrontation im Spanischen Bürgerkrieg nicht abgerissen, sondern hätten im Hitler-Stalin-Pakt ihre eigentliche Bestimmung erreicht [zusammenfassend: 1078 : T, Stalin in Power, 225ff.; 951 : B, Stalin und Hitler, 62ff.; auch 1132: S, Stalin und Hitler; für die späteren Jahre : 1129: R, Stalin’s Drive]. Die Anhänger der anderen Version leugnen die sowjetische Vorliebe für Deutschland nicht, gehen aber von der Überordnung anderer Ziele und von einem mehrfachen Kurswechsel als Folge des Bemühens aus, ihnen am besten zu dienen. Absoluter Vorrang sei stets der Sicherung des ,sozialistischen Aufbaus‘ und der eigenen Unversehrtheit eingeräumt worden. Stalins Außenpolitik setzte mithin zunächst weder die Tradition eines ideologisch begründeten Expansionismus fort, noch ließ sie sich bewusst oder unbewusst von einer Wesensähnlichkeit der Systeme leiten. Sie war vielmehr funktional im Sinne einer prinzipiellen Abhängigkeit von innenpolitischen Vorgaben (,Primat der Innenpolitik‘) und rational im Sinne eines zweckorientierten, im Kern pragmatischen Kalküls anstelle einer Dienstleistung gegenüber dogmatischen, an der Realität nicht überprüften Leitsätzen. In dieser Sicht zog die Sowjetunion ihr Angebot, die Kooperation im Geiste von Rapallo fortzusetzen, zurück, als ihr das ,Dritte Reich‘ die kalte Schulter zeigte und sie in Gestalt des Nichtangriffspakts mit Polen vom Januar 1934 offen brüskierte. Die schon vorher (spätestens seit 1926) verfolgte Politik der multilateralen Absicherung nach verschiedenen Seiten gewann eindeutige Priorität vor der bilateralen Verständigung mit Deutschland. Erst 1939 gab die UdSSR dieses Bemühen um Verständigung mit den Westmächten auf und kehrte zu einem Bündnis mit Deutschland zurück, das sich nun in einen Offensivpakt verwandelte. Schlüsseletappen auf diesem Wege waren – ohne dass Einigkeit über deren jeweiliges Gewicht bestünde – der Ausschluss vom Münchener Abkommen Ende September 1938, die ,Kastanienrede‘ auf dem 18. Parteitag vom März 1939 und die Ablösung des jüdischen Außenkommissars Litvinov durch Molotov im Mai 1939. Die Verhandlungen mit Großbritannien und Frankreich über eine Tripelallianz gegen Deutschland seit April 1939 erscheinen in dieser Sicht nicht als Ablenkungsmanöver, sondern als ernsthafte Sondierung, die aber ein Scheitern nicht ausschloss. Über die letztlich gewählte Option entschied allein das Interesse des eigenen Regimes, so wie Stalin und seine Umgebung es verstanden. Eine Koalition mit den Westmächten schon zu dieser Zeit hätte Krieg mit Deutschland bedeutet. Das Abkommen mit Hitler bot die Möglichkeit, sich aus dem Kampf zwischen den ,kapitalistischen Mächten‘ so lange herauszuhalten, wie man dies für richtig hielt. Alle Vorteile lagen bei Stalin, der Polen nicht ungern der deutschen Kriegsmaschinerie überließ und selbst freie Hand für die Unterwerfung der baltischen Staaten, Bessarabiens und einen – allerdings kläglich scheiternden – Angriff auf Finnland, mithin für die endgültige Wiederherstellung der Grenzen des zarischen Imperiums (im Falle der Nordbukowina auch darüber hinaus) erhielt. Dass er selbst in absehbarer Zeit Opfer der
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nationalsozialistischen Aggression werden und den Schutz starker Verbündeter brauchen könnte, auf den er mit dem Pakt verzichtete, hielt Stalin zu diesem Zeitpunkt für ausgeschlossen [vgl. 1059: R, Unholy Alliance; 438: D., Molotov, 21ff.; 1058: D., Soviet Union; 1045 : P, Stalinismus; 992 : H, Soviet Union; 1110: G, Große Täuschung, 26ff., 404; auch 951: B, Stalin und Hitler, 123ff., 213ff., Fazit 232f., der die Wende aus Eigeninteresse im Münchener Abkommen begründet sieht und sie daher deutlich früher datiert]. Freilich lässt diese ,Geschichte‘ Spielraum für viele Varianten, die jeweils nur begrenzten Zuspruch finden. Die offiziöse sowjetische Deutung hat die Stalin’sche Kehrtwende jahrzehntelang als unvermeidlich bezeichnet [V. F, Zweite Front. Die Interessenskonflikt der Anti-Hitler-Koalition, 1995, 118] und den Westmächten dabei unterstellt, Hitlers Aggression gezielt nach Osten gelenkt zu haben. Aber auch außerhalb solch durchsichtiger ,Assimilation‘ der Vergangenheit wird Stalin von einigen Autoren eine defensive Grundorientierung unterstellt, die sich schlecht mit dem Geheimen Zusatzprotokoll verträgt [971: F, Pakt, 418ff.; auch noch: 451: W, Stalin, 529]. Umgekehrt bleibt bei der weitestgehend geteilten Annahme ,autochthoner‘ expansiver Wünsche offen, ob diese eher als Rückwendung zur imperialen Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts zu verstehen waren oder als ungehemmter Ausfluss schon immer anvisierter ideologischer Ziele. Deshalb erscheint es sinnvoll, von einer unauflöslichen Mixtur beider auszugehen [1045: P, Stalinismus, 301ff.; H, in: 355: Osteuropa-Handbuch I, 270ff.; 1058: R, Soviet Union, 147ff.]. Dagegen wird die These einer ideologisch motivierten, gezielt verfolgten Absicht Stalins, Hitler durch den Pakt in einen Krieg mit den Westmächten zu treiben, um die ausgebluteten Staaten danach als lachender Dritter dem kommunistisch-,revolutionären‘ Machtbereich einzuverleiben [1133: S, Eisbrecher], von der Fachwissenschaft einhellig abgelehnt. Sie verfällt ebenso dem Verdikt, nicht belegbar und spekulativ zu sein, wie die damit eng verknüpfte Behauptung, der deutsche Überfall vom 22. Juni 1941 sei einem Angriff der Sowjetunion nur zuvorgekommen [s. unten Präventivkriegsthese]. Eine Verbindung beider Interpretationsstränge ist gegenwärtig nicht in Sicht. Auch der Ausschluss des ein oder anderen durch neue, nun prinzipiell zugängliche Quellen zeichnet sich nicht ab. Zwar taucht das berüchtigte – bis zum säkularen Beschluss des Volksdeputiertenkongresses vom 24. Dezember 1989 offiziell verleugnete – Zusatzprotokoll in den ,postsozialistischen‘ Aktenpublikationen [31: D XXII, 1, 2 (1939 g.); 181: G 1938/39] endlich auf, und das jahrzehntelang vermisste Original dieses eigentlichen Vertrags wurde 1992 gefunden [197: S, Sekretnye dokumenty; Faksimile-Dokumentation bei 185: K, Deutsch-sowjetisches Vertragswerk]. Aber kein Dokument gibt bislang Auskunft über den Kern des Problems: die Absichten Stalins und seine Motive für den Vertragsabschluss. Nicht auszuschließen ist, dass sich daran auch längerfristig nichts ändern wird.
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6.2 Der deutsche Überfall
Präventivkrieg?
Nicht weniger Aufmerksamkeit als der Hitler-Stalin-Pakt fand in der fachlichen wie in der breiteren politisch-historisch interessierten Öffentlichkeit der deutsche Angriff auf die Sowjetunion. Die Debatte konzentrierte sich dabei vor allem auf zwei Probleme: die sog. Präventivkriegsthese und die Reaktion Stalins unter der Leitfrage nach den Ursachen für die enormen sowjetischen Verluste in den ersten Kriegsmonaten. Der Hinweis auf sowjetische Angriffsvorbereitungen stammt ursprünglich aus dem Arsenal der nationalsozialistischen Propaganda. Molotov nannte ihn zu Recht eine „Standard“-Floskel, als der deutsche Botschafter in Moskau, Graf von der Schulenburg, am Morgen des 22. Juni 1941 den Überfall unter anderem damit begründete. Seither hat es allen Erkenntnissen über die grundlegende Aggressivität des nationalsozialistischen Regimes und seiner Ideologie zum Trotz immer wieder Versuche gegeben, ihn wissenschaftlich zu begründen. Der Erfolg blieb auch dann noch sehr bescheiden, als sich ein militärgeschichtlicher Sachkenner dieser These anschloss – u. a. in einer weit verbreiteten ,Kollektivmonographie‘ zum „Unternehmen Barbarossa“ [1106: F, Hitler-StalinPakt; H, in: 1094: B u. a., Angriff; Übersicht: B, Forschungskontroverse, in : 1126 : P-E, Präventivkrieg, 170–189; U, Hitlers Überfall, in 1136: D., B, Deutscher Angriff, 48ff.]. Dennoch gelang es einem Außenseiter (ehemals Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes), die Debatte Ende der achtziger Jahre durch ein aufsehenerregendes Buch wieder zu beleben [1133: S, Eisbrecher]. Dabei kam ihm nicht nur ein Teil der deutschen publizistischen Öffentlichkeit entgegen, der schnell bereit war, Entlastungsargumenten zu folgen. Vor allem sorgte die erstmalige Möglichkeit zu tatsächlicher Vergangenheitsbewältigung in der zusammenbrechenden Sowjetunion und den Nachfolgestaaten für eine ungewöhnliche Resonanz. Die Bereitschaft, Stalin alles zuzutrauen, auch ein va banque-Spiel mit dem eigenen Land, war groß. Trotz größerer professioneller Unterstützung [u. a. D und M’ in den Sammelbänden: 1111: Gotovil li Stalin, 82ff., 92ff. sowie in 1137: Vojna 1939–1945, 82ff., 98ff.] als hierzulande zeigt sich dabei auch in Russland eine deutliche Diskrepanz zwischen fast ausschließlich skeptischer Fachwissenschaft und in Teilen aufgeschlossener öffentlicher Meinung. Der Kern des Streits und die wesentlichen Belege sind schnell zusammengefasst. Die Anhänger der These, Hitler sei Stalin zuvorgekommen, berufen sich im Wesentlichen auf drei Quellen : eine sog. Grundsatzrede Stalins vom 19. August 1939 vor dem Politbüro und der Kominternführung, eine Ansprache Stalins an die Absolventen der Militärakademien vom 5. Mai 1941 und einen Strategieplan des Generalstabs der Roten Armee vom 15. Mai 1941. Die Echtheit der Grundsatzrede ist schon 1958 mit guten Gründen bestritten worden [Eberhard J in VfZ 4 (1958), 381–389]. Über die Ausführungen Stalins vor den Kadetten gibt es nach wie vor nur eine zusammenfassende Mitschrift, die als Beweis nicht taugt [Dokumentation: B, Rede Stalins, gekürzt in: 1136: U, B, Der deutsche Angriff, 132ff., 184f.; dazu 234: V, Nakanu-
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ne, 79ff.]. Umso größeres Gewicht wird gerade in der russischen Diskussion dem Aufmarschplan der Armeeführung [abgedruckt: ebenda, 186ff.] beigemessen, in dem manche eine Art Umsetzung der Stalin’schen Vorgaben erkennen. So wenig am offensiven Charakter dieser Überlegungen zu zweifeln ist, so sehr bleibt der nicht neue Einwand zu bedenken, dass es sich um Planungen handelt und es nachgerade die Aufgabe eines jeden Generalstabs ist, Kriegsszenarien zu ersinnen, die dem eigenen Land am wenigsten Schaden zufügen. Nach wie vor fehlt es daher an stichhaltigen Belegen sowohl für tatsächliche Angriffsvorbereitungen der Roten Armee als auch für die Behauptung, die Wehrmacht sei einer sowjetischen Attacke nur zuvorgekommen [jüngste Übersichten: 1126: P-E, Präventivkrieg?; 1138 : Vojna i politika; 1110: G, Große Täuschung; 234 : V, Nakanune, 54ff.; 951: B, Stalin und Hitler, 373ff.]. Erhärtet haben sich dagegen zwei andere Hypothesen, die mehrfach gegen eine ausschließlich passive Rolle der Sowjetunion angeführt worden sind. Zum einen steht die massive Aufrüstung der Roten Armee spätestens seit Beginn des zweiten Fünfjahresplans 1933 außer Frage [497 : D, H, W, Economic Transformation, 145ff.; 1090: B, H, Soviet Defence Industry, 70ff.; 987: H, Guns and Rubles, 78ff., 118ff.; 917: D, Industrialization, Bd. 6, 90ff.]. Zum anderen ist die propagandistische Vorbereitung auf einen Krieg mit dem ,Dritten Reich‘, den Stalin offenbar für unausweichlich hielt, zweifelsfrei belegt worden [1034: N, Sindrom]. Unbestreitbar bleiben darüber hinaus auf der einen Seite der oft notierte Befund einer regelrechten Enthauptung der Roten Armee im „Großen Terror“ und auf der anderen Seite der Tatbestand, dass Hitler den Angriff auf die Sowjetunion schon im Juli 1940 beschloss und Ende Dezember desselben Jahres den Befehl zur konkreten Vorbereitung gab. Von einem „Präventivkrieg“ im genaueren Sinn kann deshalb nach wie vor nicht die Rede sein. Die Vorstellung ist und bleibt unsinnig. Offener muss inzwischen die Antwort auf die Frage nach Stalins Lagebeurteilung und seinen Absichten ausfallen. Auch hier stochert die Forschung aber weiterhin im Nebel. Demgegenüber ist das zweite Rätsel dieser schicksalhaften Geschehnisse seit Jahren in den Hintergrund getreten. Genau besehen ist die Frage ohnehin nur in der Sowjetunion, nicht im Westen umstritten gewesen, ob Stalin Fehler beging und welchen Preis das Land dafür zu zahlen hatte. Die nicht-,vaterländische‘ Geschichtsschreibung hat die fast zweiwöchige Sprachlosigkeit des ,roten Führers‘ (bis zum 3. Juli) stets als Zeichen eines schweren Schocks gedeutet und darauf hingewiesen, dass er schon seit Dezember 1940, kurz nach Hitlers Weisung zur Vorbereitung des Unternehmens „Barbarossa“, eine Vielzahl von Warnungen sowohl aus den eigenen Reihen als auch von ausländischen Geheimdiensten erhalten hatte [laut B, Stalin und Hitler, 415f., über 200!]. Darüber hinaus sah sie in den hohen Verlusten der Roten Armee und dem enorm schnellen Vormarsch der Wehrmacht auch ein Indiz völlig fehlender Vorbereitungen auf sowjetischer Seite. Stalin glaubte nicht, was man ihm sagte, und das Land wurde überrollt, weil sein Wort Gesetz war. So ging die westliche Forschung auch stets von einem engen Zusammenhang zwischen diktatorischer Verfassung und
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militärischer Katastrophe zu Kriegsbeginn aus [mit Literatur: B, in: 349 : HGR III, 910ff.; 377: H, Sowjetunion, 601ff.]. In der Sowjetunion waren Zweifel an Stalins Verhalten angesichts des großen Sieges tabu. Erst Chruščevs Abrechnung öffnete das Tor für kritische Fragen. Als sie 1965 zu einer gründlichen Untersuchung angeschwollen waren, hatte sich aber nicht nur die politische Lage schon wieder geändert. Das Buch wurde eingezogen, seine Verfasser ins Exil getrieben [1125 : N, G, Genickschuß; informative Übersicht: B, Großer Vaterländischer Krieg, in : 1377 : G, Umwertung, 167–187]. Erst die neuerliche Wende im Zeichen der Perestrojka machte es wieder möglich, die Zweifel zu äußern und durch einen Katalog an Fehlern und Versäumnissen zu belegen [am wirksamsten von 451: W, Stalin, 555 ff.]. Inzwischen wird diese Sichtweise nicht mehr ernsthaft bestritten. Auch den Warnungen widmet die postsowjetische Forschung erhebliche Aufmerksamkeit [227: Sekrety Gitlera; 951 : B, Stalin und Hitler, 398ff.] – bleibt doch der Kern des Rätsels ungelöst: warum Stalin sie (zumal dann, wenn man ihm eigene aggressive Absichten unterstellt) in den Wind schlug. 6.3 Die Deportation nichtrussischer Völker
Gründe für die Deportationen
Licht ist seit der glasnost’ endlich auch ins Dunkel der Deportation nichtrussischer Völker im Zweiten Weltkrieg gefallen. Die Öffnung der Archive (und die Rührigkeit eines Abteilungsleiters des neu eingerichteten zuständigen Ministeriums der Russischen Föderation) hat erstmals genaue Zahlen und Einzelheiten auch dieser grausamen Geschehnisse zutage gefördert. Vor allem aber hat sie belegt, was im Westen nicht ernsthaft bezweifelt wurde, aber nie bewiesen werden konnte : dass Stalin selbst die Anweisungen gab und in Berija einen treuen Gehilfen fand. Dass der Geheimdienstchef dabei noch genug Spielraum hatte, seine eigene Neigung zu ausgesuchter Brutalität zu befriedigen, ändert an der Verantwortlichkeit des Führers nichts [Dokumentation : 205 : B, Berija – Stalinu]. Wie sich nun zeigt, berichtete ihm Berija haargenau, dass z. B. zum 29. Februar 1944 478 479 Ingušen und Čečenen deportiert worden seien [205: B, Berija – Stalinu, 106; grundlegende Monographie: 1098: B, G, Kavkaz]. Im übrigen liegt der Gewinn der neuen Erkenntnisse vor allem in den Details. Anordnungen und Berichte sind gefunden worden, die zu präzisieren erlauben, was bis dahin aus sekundären Quellen rekonstruiert werden musste und von Aufsehen heischender Spekulation nicht frei war [u. a. 1101: C, The Nation Killers]. Zugleich ist diese frühe westliche Darstellung im Kern ebenso bestätigt worden wie die erste, schon im Exil erschienene russische [1124: N, Punished People]. Indes bleibt bei allem Erkenntnisfortschritt eine wesentliche, für das Verständnis sogar die wesentliche Frage offen: Warum Stalin die Deportation gegen Ende des militärischen ,Wendejahres‘ (seit November 1943) befahl und warum er gerade diejenigen Nationalitäten auswählte, die das bittere Schicksal traf. Der Zeitpunkt ist dabei noch am ehesten erklärbar. Die Entscheidungsschlacht war
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spätestens seit dem Scheitern der deutschen Offensive bei Kursk (Juli 1943) geschlagen, die Wende tatsächlich eingetreten; nun erst gab es ,Luft‘ und technische Kapazitäten für derartige Operationen. Nachvollziehbar in der möglichen Begründung, wenngleich natürlich unter keinen Umständen zu billigen, ist auch die zuletzt getroffene Entscheidung (Mai 1944), die Krimtataren aus ihren jahrhundertealten Siedlungsräumen zu vertreiben [Dokumente bei 206: B, Deportacija narodov Kryma]. Die Krim hatte zur deutschen Besatzungszone gehört und war besonders lange gehalten worden; hier konnte es ,Kollaboration‘ geben. Aber warum die kaukasischen Völker an der ,kaspischen‘ Seite der Landbrücke zwischen den Binnenmeeren, die keine ,Feindberührung‘ hatten, vertrieben wurden, entzieht sich jeder kriegsbezogenen Ursachenforschung. Die Annahme ist wahrscheinlich, dass hier eine alte Rechnung beglichen und historischer ,Ungehorsam‘ bestraft wurde. Sicher spielte auch der großrussische Chauvinismus eine Rolle, der im Krieg ungehemmt zum Vorschein kam. Aber belegen lassen sich solche Vermutungen bislang nicht. Besonders eingehend hat sich die Forschung nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – getragen überwiegend von außeruniversitären Instituten und allgemeinpolitischer Förderung in der Bundesrepublik – mit der deutschstämmigen Bevölkerung in der Stalinzeit vor und während des Krieges befasst. Im Vordergrund stand dabei naturgemäß ihre Verfolgung und Deportation, die nicht nur zum schlimmsten Ereignis ihrer Geschichte wurde, sondern ihr weiteres Schicksal bis auf den heutigen Tag maßgeblich geprägt hat. Auch über die Rache an der vermeintlichen ,fünften Kolonne‘ im eigenen Land sind viele neue Details zutage gefördert und erstmals in umfassenden Dokumentationen zusammengestellt worden [E, H, Deportation; 204 B, Mobilizovat’]. Vor allem über die „Sondersiedler“ und „Arbeitsarmeen“, denen viele von ihnen zugewiesen wurden, war zuvor wenig bekannt. Über diese nun unwiderlegbaren Vorgänge hinaus ist auch helleres Licht auf die Vorgeschichte gefallen. Es verdient sicher größere Beachtung als bisher, dass das NKVD schon 1936 mit der Deportation der „Unzuverlässigen“ begann und dabei nicht zuletzt diejenigen bedachte, die sich als ,Kulaken‘ der Zwangskollektivierung widersetzt hatten. Man wird daher auch hier – über das konkrete und allgemein akzeptierte Motiv der ,Kollektivhaftung‘ nach Kriegsausbruch hinaus – Kontinuitäten zu prüfen haben, die bis in den Bürgerkrieg zurückreichen und in erheblichem Maße auf eine unheilvolle doppelte Stigmatisierung durch soziale und nationale Ausgrenzung zurückgingen [205: B, Berija-Stalinu, 9]
Deutschstämmige Bevölkerung
6.4 Katyn’ Erwähnt sei schließlich das Ende eines Streits, der kein wissenschaftlicher war, aber ein historischer von großem Allgemeininteresse: die bekannte sowjetische Weigerung, das Massaker von Katyn’ einzugestehen. Noch Gorbačev wich dem polnischen Drängen bekanntlich aus, setzte aber eine Kommission ein, die den Auftrag erhielt, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Was sie 1990 eher zufällig im geheimsten Winkel des Archivs des Politbüro fand, bestätigte die Version, die
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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
im Westen (und in Polen) seit Jahrzehnten als verbürgt galt: dass das NKVD die „über 20 000 Polen“, die bei der Besetzung Ostpolens Ende September 1939 im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes gefangen genommen worden waren, in drei ukrainischen und weißrussischen Lagern erschoss und die meisten von ihnen im Wald bei Katyn’ (Weißrussland), die übrigen in Massengräbern angrenzender Republiken verscharrte. Mehr noch, in den streng geheimen Dokumenten (die man auch beim Nürnberger Prozess unterschlagen hatte) fand sich sogar der Beleg dafür, dass Stalin selber die Anweisung gab und Vorošilov, Molotov sowie Mikojan sie ebenfalls unterzeichneten [215 : Katyn’ 1997, 36; weitere Dok. 216 : Katyn’ 2001; engl. 208 : C, L, Katyn 2007; 221 : M, Katyn’; neuere Sachbücher: 224: P, Katyn; 1137: U, Katyn]. Insofern stärken die Funde der letzten Jahre die Auffassung derer, die Stalin als Spinne im Netz sehen: Zwar hat das Netz seine eigene Struktur, und die Spinne braucht es, um sich fortzubewegen; aber sie gibt ihm auch seine Form und alles läuft auf sie, mitten im Zentrum, zu. 6.5 Stalinismus und Krieg in der Geschichte der Sowjetunion Nachkriegs-Stalinismus
Dass der späte Stalinismus spezifische Merkmale besaß, dürfte außer Frage stehen. Offen bleibt jedoch, ob sie es rechtfertigen, ihm einen eigenen Gesamtcharakter zu attestieren. Die Forschung hat die Nachkriegsjahre nun zwar in den Blick genommen, bislang aber meist nur Teilaspekte untersucht. Sie hat auf die enormen Lasten hingewiesen, die der Krieg nicht nur in materieller Hinsicht, sondern auch in Gestalt zahlloser Invaliden, Waisen und versehrter Familien hinterließ [Sammelband mit Schwerpunkt auf der Gesellschaft 1156: F, Late Stalinist Russia]. Sie hat die Träume und Hoffnungen aufgespürt, die das Ende des Kampfes ums nackte Überleben trotz größter Not weckte [1186: Z, Russia after the War, 31ff., 59ff.; auch 1157: F, Stalin’s Last Generation]. Vor allem aber hat sie die Enttäuschung beschrieben, die eintrat, als das Regime die Zügel wieder anzog, die ideologische Kontrolle (maßgeblich betrieben vom Parteisekretär A. A. Ždanov und als Ždanovščina bekannt) verschärfte [416: B, Life and Times, S. 267ff.], in der Wirtschaftsplanung den Konsum abermals zugunsten des industriellen Wiederaufbaus zurückstellte [510: N, Economic History 1992, 294ff., 298; 1087: Z, Stalinist Planning 1933–1952, 345ff.], die erbärmlichen Lebensumstände der städtischen Arbeiter bestehen ließ [1154: F, Hazards of Urban Life] und die Bauern durch Beschränkung ihrer Privatwirtschaft wieder fester an den Kolchos band [z. B. 1144: B, Life and Death, 206ff.]. Ernüchterung verbreitete sich umso eher, als mit der Herrschaft des Parteiapparats – nun endgültig nach Belieben von einem „Führer“ dirigiert, der nicht nur in die Unangreifbarkeit entrückt war, sondern dessen verderbenbringender Argwohn sich mit zunehmenden Altersgebrechen endgültig zur Paranoia steigerte – auch die Angst vor der Allgewalt des NKVD und die tatsächliche Bedrohung durch willkürliche Gewalt zurückkehrten. Zwar kam es zu keinem neuen Massenterror. Aber spätestens nach der „Säuberung“ der Leningrader Parteiführung 1949 konnten sich gerade
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die höheren Ränge der Nomenklatura nicht mehr sicher sein, ob sie nicht anderntags ebenfalls von einer schwarzen Limousine abgeholt werden würden. Der „Staatsausbau nach Stalin’scher Art“ mündete zu Beginn des neuen Jahrzehnts offenbar in die Vorbereitung neuer Schauprozesse und einer weiteren Welle der Gewalt, die nur Stalins Tod verhinderte [1162: G, K, Cold Peace, 45ff., 69ff.; erweitert russ.1146: D., Cholodnyj mir]. So spricht alles dafür, dass sich die Schrecken der Vergangenheit gegen Ende der Stalinära anschickten, die Gegenwart einzuholen. Und da sich das neue Regime in seinen prägenden Merkmalen kaum vom alten unterschied, hat sich die Sicht auf die späte Stalinära bislang noch nicht grundsätzlich verändert. Trotz einiger – vor allem im letztgenannten Werk zusammenfassend beschriebener – eigenständiger Konturen ist diese eine Art Coda des Vorkriegsjahrzehnts geblieben. Denn fraglos war die erste Hälfte so prägend, dass sie die zweite in den Schatten stellte. Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur war eine bestimmte Gestalt oktroyiert worden; dieser Rohbau wurde beim Wiederaufbau nach seiner weitgehenden Zerstörung zwar in vielen Einzelheiten verändert, aber nicht in seiner Struktur. So bezog sich auch die immer wieder gestellte, für das Selbstverständnis der Sowjetunion so eminent wichtige Gesamtfrage vor allem auf die Vorkriegsjahre: ob die Stalin’sche Mobilisierungsdiktatur mit all der Gewalt, die sie mit sich brachte, und den vielen Millionen Opfern durch den Sieg im blutigsten Überlebenskampf der Weltgeschichte nicht doch gerechtfertigt worden sei. Gorbačev bejahte diese Frage noch in seiner Rede zum 70-jährigen Jubiläum des Oktoberumsturzes im November 1987: ohne Stalins ,Revolution von oben‘ kein Triumph über Nazi-Deutschland, keine Sowjetflagge auf dem Reichstag und kein Aufstieg zur Weltmacht. Erwartungsgemäß fiel die ,westliche‘ Antwort in aller Regel konträr aus. Die Meinung überwog, dass der Preis des Sieges allzu hoch war. Der ,große Terror‘ und alles, was ihm vorausging und folgte, ließen sich ohnehin nicht rechtfertigen. Aber auch die Kollektivierung, jahrelang ein Bollwerk der sowjetischen Argumentation (der sich auch manche Dissidenten wie R. Medvedev anschlossen), taugt nicht mehr als positiver Beleg, nachdem erwiesen ist, dass sie ökonomisch mehr Schaden als Nutzen brachte und politisch ohnehin ein schwere Bürde war. Bleibt wirtschaftlich die Kernthese, dass die zentrale Planwirtschaft zumindest kurzfristig höhere Wachstumsraten erlaubte als die Marktwirtschaft und nur auf diese Weise jene Ostverlagerung der Industrie durchgeführt werden konnte, die maßgeblich zum Endsieg beitrug. Die Antwort hängt hier ganz von der Leistungskraft ab, die man der freien, wenn auch eventuell ,sanft‘ gelenkten Wirtschaft zutraut. Die kontrafaktische Computersimulation von H/ S [1007: Faulty Foundations] hat nicht jedermann überzeugt. Der beste Sachkenner, R. W. D [497 : D., H, W, Economic Transformation, 21ff.], äußert sich vorsichtiger. Aber selbst wenn man im Falle der Beibehaltung marktwirtschaftlicher Elemente ein langsameres Wachstum der Schwerindustrie und der ,Infrastruktur‘ (das dann womöglich bis 1941 nicht ausgereicht hätte) nicht ausschließt, vermag der Einwand zu überzeugen, dass nichtökonomische Faktoren in gleichem Maße zur letztlich erfolgreichen
Stalinismus : notwendig für den Sieg über Deutschland?
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Zusammenhang von Terror, Ideologie und Modernisierung
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Abwehr der Invasoren beitrugen – in erster Linie die überlegenen demographischen Ressourcen und die schlichte Größe des Territoriums (vom Klima und den Fehlern der deutschen Kriegsführung nicht zu reden). Diese Sichtweise würde betonen, dass umgekehrt gerade der Verzicht auf ,sozialistische‘ Werte zur Mobilisierung der Bevölkerung unabdingbar war : Nicht im Namen des Sozialismus leisteten die Menschen Widerstand, sondern im Namen der „Heimat“, und den Bauern musste man es nachsehen, wenn sie ihre privaten Äcker anstelle der Kolchosländereien bestellten. In der Summe sprechen die Argumente daher auch im Licht des Krieges gegen eine wie immer geartete ,Notwendigkeit‘ des Stalinismus als ,Entwicklungsstrategie‘, die man ohnehin nicht von der exzessiven Massengewalt trennen könnte. Davon unberührt bleibt der analytische Befund, dass Terror und sozioökonomische Modernisierung aufs engste zusammengehörten. Legitimationsgrund und Hauptziel des Regimes war der „Aufbau des Sozialismus“, die Disziplinierung der Gesellschaft grundsätzlich Mittel dazu [so zuerst 393: M, Terror and Progress]. Darin liegt ein fundamentaler Unterschied zum Nationalsozialismus, der bislang allen Versuchen, wesentliche vergleichbare Wesenszüge zu markieren, getrotzt hat [neuere Vergleiche lassen die ökonomische Dimension daher auch weitestgehend außen vor, vgl. 97: F, G, Beyond Totalitarianism; 1013: K, L, Stalinism and Nazism]. Stalinismus lässt sich am ehesten begreifen als ein gigantisches, ideologisch begründetes, die gesamte Gesellschaft umfassendes, in der Realisierung der Vorkriegsjahre primär sozioökonomisch orientiertes Modernisierungsexperiment auf russischem Boden. Er versuchte sein Ziel durch extreme Zentralisierung der Macht in der Person des Diktators und von ihm abhängigen Gruppen innerhalb der Monopolpartei sowie durch rücksichtslose Konditionierung der Bevölkerung für diesen von der Macht selber nicht mehr zu trennenden Zweck bis hin zum Massenterror zu erreichen. In diesem Kern war er von der russischen Tradition des starken Staates, gering ausgeprägter gesellschaftlicher Eigenorganisation und -initiative sowie als unzureichend empfundener wirtschaftlicher Leistungskraft ebensowenig zu lösen wie von der leninistisch-marxistischen Utopie eines nichtkapitalistischen Weges zu wirtschaftlichem Überfluss und einer nie genauer beschriebenen kommunistischen Gesellschaft. Angefügt sei, dass über die Kernelemente einer solchen knappen Charakterisierung vermutlich relativ leicht Konsens zu erzielen ist, über ihre Gewichtung aber nur schwer. Hier schlagen die methodischen Präferenzen zu Buche, die meist mit generationsspezifischen Prägungen verbunden sind. Was dem sozialgeschichtlichen Zugang bedeutsam war, hält ein ideologiezentrierter für nebensächlich oder gar irreführend. Abzuwarten bleibt, ob seine jüngste Variante, die in hypertrophen Utopien den Antrieb für Massengewalt ebenso wie für eine ,eliminatorische‘ Sozialpolitik und den brachialen Aufbruch in ein industrielles Zeitalter sieht, geeignet ist, die verschiedenen Akzente zu integrieren. In jedem Fall würde man sich wünschen, dass der wachsende zeitliche Abstand zum Ende der Sowjetunion auch die Möglichkeit stärkt, Probleme der Interpretation ihrer Geschichte von Wertungen zu trennen.
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7. Der Aufstieg Chruščevs und die Partei
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7. Der Aufstieg Chrušcevs ˇ und die Partei Als Stalin starb und die Favoriten seiner letzten Jahre in den Kampf um seine Nachfolge eintraten, hätte niemand auf Chruščev gewettet. Umso größer war das Rätselraten darüber, warum sich ausgerechnet der Prätendent mit den geringsten Chancen durchsetzte. Zwar sind nach der grundsätzlichen Öffnung der Archive auch neue Dokumente über dieses zweite ,Interregnum‘ seit Lenins Tod aufgetaucht. Aber sie konzentrieren sich im Wesentlichen auf das dramatische Ende der Auseinandersetzungen während des berühmten Juni-Plenums 1957 [vgl. 261: Molotov, Malenkov, Kaganovič]. Darüber hinaus sind sie spärlich geblieben und und haben laut Ausweis einer neuen, zu Recht preisgekrönten Biographie, die neben den unzensierten Memoiren ihres Protagonisten erstmals Archivmaterial auswerten konnte, auch keine Sensationen zutage gefördert [1244: T, Khrushchev; dadurch überholt 1246 : T, Khrushchev; instruktive Gesamtübersicht auch M, Entstalinisierung, in 349 : HGR V, 175318]. Mithin darf die bisherige Mehrheitsmeinung über die entscheidende Ursache, die Chruščevs Aufstieg trug, als bestätigt gelten : die Wiederbelebung der Partei. Gewiss war die Raffinesse seiner Winkelzüge, Intrigen und Koalitionen ebenfalls unentbehrlich. Auch wird niemand die Wirkung seiner Persönlichkeit, jener offenbar sehr durchsetzungsfähigen Verbindung von gewinnender, impulsiver Umgänglichkeit und berechnender Bauernschläue, in Abrede stellen. Aber sie konnte sich nur auf der Grundlage des wachsenden Selbstbewusstseins einer Organisation entfalten, die als konkurrenzlose Machtelite der Gesamtgesellschaft gegründet, aber von Stalin nicht nur unterworfen, sondern in Angst und Schrecken versetzt worden war, und die nun eine neue Chance witterte. Deshalb war es symptomatisch, dass Chruščev über die Partei und als deren Erster Sekretär an die Spitze des Staates aufstieg [1244: T, Khrushchev, 236ff.; G, Party Revivalism, in Slavic Review 54 (1995), 1-22; 1246: T, Khrushchev, 114ff.]. Aus diesem Blickwinkel fällt auch neues Licht auf weitere Schlüsselprobleme der Chruščev-Ära, die mehrfach beschrieben, aber selten in eine längerfristige Entwicklung eingeordnet worden sind. Erstens relativiert sich Stalins Tod als Zäsur. Bemühungen, die Partei zu reanimieren, machten sich schon auf dem 19. Parteitag bemerkbar; der offensichtliche Anfang vom Ende der Ära Stalins löste sie aus, nicht erst sein Tod. Zweitens werden Gründe und Grenzen der ,Entstalinisierung‘ verständlicher. Chruščev bewies Spürsinn darin, dass er Stalins Verbrechen als letzte Konsequenz des ,Personenkults‘ anprangerte – um die Partei dadurch zu rehabilitieren und ihr neues Selbstvertrauen einzuflößen. Zugleich tastete er keine einzige Strukturentscheidung Stalins an und ließ den Widerspruch ungelöst, der darin bestand, dass man eigentlich nicht – wie er propagierte – zu Lenin zurückkehren und gleichzeitig sowohl die Kolchosordnung als auch die zentrale Planwirtschaft unberührt lassen konnte. Eben die Interessenkongruenz mit der Partei, zu der sich als ,dritter Faktor‘ noch die ebenfalls von Stalin gebeutelte Armee in Gestalt des Kriegshelden Žukov gesellte, erklärt auch am schlüssigsten den letzten und größten Triumph Chruščevs
Partei als Machtmittel
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Außenpolitik Chrušcevs ˇ
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
im Juni 1957. Die neuen Dokumente erlauben es, die Vorgänge genauer zu rekonstruieren, die zu diesem seinem endgültigen Sieg über die Altstalinisten im Politbüro führten, geben aber keinen Anlass zu neuer Interpretation. Drittens schließlich wird auch Chruščevs Sturz auf der Grundlage dieser Hypothese am ehesten verständlich. Die Eintracht zeigte kaum zufällig von dem Zeitpunkt an Risse, als der neue Vormann auch das Amt des Premiers übernahm und einem Alleinherrscher immer ähnlicher wurde. Als er dann noch zahlreiche Funktionäre gegen sich aufbrachte – die höchsten durch die Einführung der Zwangsrotation im neuen Parteistatut von 1961, viele andere durch die Organisationsreform von 1962 –, war sein Schicksal besiegelt. Gerade die neuen Erkenntnisse über seinen Sturz bestätigen diese Interpretation – zeigen sie doch, dass der Coup nicht kurzfristig angezettelt, sondern von langer Hand unter führender Beteiligung seines besonderen Schützlings und Erben vorbereitet wurde [1244: T, Khrushchev, 578ff.; Kak snimali N. S. Chruščeva, Materialy plenuma CK KPSS. Oktjabr’ 1964 g, in: IA (1993) H. 1, 3–19]. Brežnev handelte dabei mit Unterstützung der Partei, deren ZK diesmal – anders als 1957 – auch keine Anstalten machte, Chruščev zu retten. Sicher lastete man ihm auch die wirtschaftlichen Misserfolge der vorangegangenen Jahre an, obwohl etwa die Bilanz des Neulandprogramms, auf das gesamte Dezennium seit seiner Einführung bezogen, durchaus vorzeigbar war. Desgleichen fügte die Blamage vor Kuba seiner Autorität großen Schaden zu. Aber die wichtigste Ursache für seinen Fall war doch das Ende der Harmonie mit der Partei : Diese hatte ihn auf den Schild gehoben – und sie stürzte ihn auch. Auch diese Diskussion über die Außenpolitik Chruščevs und ihren ,Standort‘ auf dem Weg vom Kalten Krieg zur Entspannung in der ersten Hälfte der Amtszeit Brežnevs hat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Ostblocks neuen Auftrieb erhalten. Gegenstand zahlreicher Studien waren zunächst die sowjetische Interventionen in Warschau und Budapest [1237 : O, H, Jahr 1956; 1228: L, B, Ungarische Revolution; sowie verschiedene Beiträge in: 1203: E, G, W, Kommunismus in der Krise]. Hier standen recht bald Quellen vergleichsweise reichlich zur Verfügung. Auch wenn sie ganz überwiegend die landesgeschichtlichen Bezüge wiedergaben oder auf Augenzeugenberichten beruhten und die Moskauer Entscheidungsprozesse weitestgehend ausklammerten, erfüllten sie wissenschaftliche Ansprüche. Dagegen hat es zwar nicht an Interesse für die drei anderen markanten außenpolitischen Aktionen der Chruščev-Ära – das BerlinUltimatum von 1958, den Mauerbau vom August 1961 und die Kuba-Krise im Herbst 1962 – gefehlt, aber an Quellen. Erst Untersuchungen, die von der gemeinsamen deutsch-russischen Historikerkommission angestoßen wurden, haben begonnen, Licht ins Dunkel zu bringen; der Zugang zu den zentralen Materialien bleibt aber schwierig. Klar scheint demnach zu sein, dass Chruščev die Entscheidung, eine endgültige Lösung des Berlinproblems im sowjetischen Sinne zu erzwingen und den Westmächten im November 1958 ein entsprechendes Ultimatum zu stellen, im Alleingang traf. Auch in den folgenden Jahren ließ er sich nicht hineinreden. Die häufig geäußerte These, die Führung der DDR, die schon länger auf wirksame Maßnahmen gegen die Massenflucht in die
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7. Der Aufstieg Chruščevs und die Partei
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Bundesrepublik gedrängt hatte, habe ihn gleichsam instrumentalisieren können, geht offenbar in die Irre. Erst Ende – bzw. einer anderen Untersuchung zufolge Anfang – Juli 1961, als beinahe drei Jahre vergangen waren, manche Gespräche mit den Westmächten stattgefunden hatten, aber eine Antwort immer noch ausstand und Chruščev nach einem Ausweg aus der Sackgasse suchte, in die er sich selber hineinmanövriert hatte, gab er diesem Wunsch nach. Der Mauerbau vom 13. August 1961 erlaubte es ihm, sein Gesicht zu wahren – und bedeutete zugleich doch „nur“ die Zementierung des status quo. Der Viermächtestatus der Stadt blieb ebenso erhalten wie die Präsenz der Westmächte. Offenbar nahmen die USA die Abriegelung eben deshalb hin (und hatten dies auch in Geheimgesprächen signalisiert). Genau besehen, trug Chruščev aber schon hier Blessuren davon, weil er die Interessen der Gegenseite samt der Entschlossenheit, sie zu verteidigen, unter- und vor allem: weil er die eigene militärische Stärke klar überschätzt hatte [1252: W, Chruschtschows Berlin-Krise, 286; 1211: H, Ulbrichts Mauer, 308; 1248: U, Krieg um Berlin, 233ff.; 1244 : T, Khrushchev, 500ff.; Vorgeschichte: 1251: W, Sowjetische Deutschlandpolitik; Dokumente : 1253 : W, Chruschtschows Westpolitik]. Während die Weltöffentlichkeit den Mauerbau noch als Demonstration der Stärke werten mochte, schien in der Kuba-Krise vom Oktober 1962 auf der Hand zu liegen, wer den Kürzeren zog. Nach mehreren westlichen Darstellungen sind die Ereignisse im neuen Russland erstmals auch unter Einbeziehung sowjetischer Quellen umfassend beschrieben worden [1208: F, N, Hell of a Gamble; russ. Neuausg. 2006]. Aber mit entscheidend neuen Erkenntnissen gegenüber den anderen jüngeren Monographien [1209: G, Reflections; 1255: W, Missiles in Cuba; 1241: S, Macmillan] vermögen die Verfasser nicht aufzuwarten. Vielmehr bestätigen sie den Befund, dass Chruščev mit hohem Einsatz und schwachen Kräften wissentlich einen überlegenen Gegner herausforderte – und verlor, auch wenn die Vereinigten Staaten ebenfalls (geheime) Zugeständnisse machten und nach einigen Monaten ihre Raketen aus der Türkei abzogen. Nach dieser Blamage begann nicht nur der Anfang seines Endes und eine neue Runde der sowjetischer Aufrüstung, um eine Wiederholung der Blamage auszuschließen. Offenbar setzte auch ein allmähliches Umdenken ein, das in Verbindung mit Veränderungen im ,sozialistischen Lager‘ in die Entspannungspolitik der ersten Hälfte der Amtszeit Brežnevs einmündete. Andere Bereiche der historischen Wirklichkeit haben im Gegensatz zur Außenpolitik und vor allem zu den innenpolitischen Machtkämpfen wenig neues Interesse auf sich gezogen. Zwar hat die zeitgeschichtliche Russlandforschung, angespornt von der allmählichen (wenn auch weiterhin langsamen und lückenhaften) Öffnung der einschlägigen Archive, seit einigen Jahren begonnen, sich intensiv mit der Chruščev-Ära zu befasssen. Dennoch steht sie hier noch am Anfang. Das gilt besonders für die Sozialgeschichte, obwohl die erste eingehende (westliche) Studie über den Wohnungsbau und Lebensalltag dieser Jahre zu Recht davon ausgeht, dass das vielzitierte „Tauwetter“ für die große Mehrheit der Bevölkerung schlicht in der Chance bestand, der Enge der kommunalka (Gemeinschaftswohnung) mit einem Bad und einer Küche für viele Personen
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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
zu entfliehen, und den Traum einer Einfamilienwohnung mit Privatheit statt Zwangsgemeinschaft zu verwirklichen [1210: H, Communism, 2]. Ansonsten wird die einschlägige ebenso wie die wirtschaftsgeschichtliche Neugier auf die ältere Literatur verwiesen; eine kenntnisreiche Übersicht findet sich im ,nachgelieferten‘, ursprünglich nicht geplanten Band des HGR [M, Entstalinisierung, in 349 : HGR V, bes. 204–308]. Eine Ausnahme bildet am ehesten die Ideologie- und Kulturgeschichte. Die Änderung der methodischen Perspektive seit Ende der 1980er Jahre hat hier zu einem neuen Interesse geführt, das die „Entstalinisierung“ als mentalitätsgeschichtliches Problem begreift und auf vielerlei ,Knoten‘ und ,Brüche‘ verweist [1217: J, Myth; auch viele Beiträge in 1216 : J, Dilemmas].
8. „Real existierender Sozialismus“ unter Brežnev: Konzepte zu seiner Deutung Brežnev war nicht nur Chruščevs Nachfolger. Im Rückblick wird darüber hinaus deutlicher als in zeitgenössischer Sicht, dass die Sowjetunion in seiner Ära eine Gestalt annahm, die am ehesten als Normalzustand – nach der Phase des industriellen Spurts und unter weitgehender Abwesenheit innerer und äußerer Gewalt – zu betrachten war. Chruščev verkörperte den Übergang von einer terroristischen Diktatur, zu deren Existenzbedingungen der Ausnahmezustand gehört hatte, in eine Ordnung, die dauerhafte Strukturen und Verfahrensweisen ausbilden musste. Brežnev repräsentierte diese Verfassung selbst. Seine Ära galt und gilt am ehesten als identisch mit dem, was sich selbst „entwickelter Sozialismus“ nannte und aus der Sicht der eigenen Kritiker als „real existierender Sozialismus“ (R. B) bezeichnet wurde – eine Perspektive, die durch erste neuere Studien zum materiellen Lebensniveau und Alltag dieser Jahre bestätigt wird [1273 : C, Soviet Consumer Culture; 1343 : Y, Everything Was Forever]. Im Übrigen hat die historische Forschung im engeren, disziplinären Sinn noch kaum begonnen, sich mit der Brežnev-Ära zu befassen. Die Hauptursache dafür dürfte in den starken Beschränkungen zu suchen sein, denen der Archivzugang für diese Zeit nach wie vor unterliegt. Nur unter El’cin ist es einem eng mit ihm verbundenen Historiker gelungen, dies zu ändern [vgl. 396: P, Sovetskij sojuz, 272–412; 397: D., Moskva, 483ff.]. Ansonsten stehen vor allem Interessenten der politischen Geschichte – und erst recht (wieder) ausländische – vor verschlossenen Türen. Was im Westen dennoch aus gedruckten Quellen, die in der Zeitgeschichte typischerweise reichlicher fließen als sonst, im Abstand von immerhin zwanzig Jahren zu ermitteln war, lässt sich in zwei Übersichtswerken nachlesen, die bislang die einzigen ihrer Art bleiben [1265 : B, S, Brezhnev; 1337: T, Soviet Union]. Allerdings kann die historische Forschung für viele Themen und Probleme auf hilfreichen „Ersatz“ zurückgreifen. Denn in die knapp zwei Jahrzehnte der Brežnev-Ära fiel – nach Anfängen in 1950er Jahren – im Westen der Aufstieg
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der Politikwissenschaft zu einer zentralen, fast an allen Hochschulen vertretenen Disziplin. Vor allem in ihren Instituten fand sich eine wachsende Zahl von Experten, die sich mit der Gegenwart der Sowjetunion (und anderer kommunistischer Regime des ,Ostblocks‘) befassten. Dabei standen, neben der bloßen Beobachtung der anderen Supermacht des Kalten Krieges, systematische Fragestellungen im Vordergrund. Sie galten, den seinerzeitigen Leitideen und Paradigmen entsprechend, vor allem dem Charakter und der Funktionsweise des Herrschaftssystems. Retrospektiv ist dabei offensichtlich, dass die meisten Antworten davon ausgingen, es mit einer auf absehbare Zeit stabilen Ordnung zu tun zu haben. Erst spät, als die Perestrojka sich anschickte, die Systemgrenze zu überwinden, und besonders nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, trat dieses Interesse hinter die alles beherrschende Frage nach den Vorzeichen und strukturellen Ursachen des Kollapses, verbunden mit der Möglichkeit zur Prognose, zurück. Zur Kennzeichnung der verschiedenen Modelle [Übersicht u. a. bei: 1280: F, H, Post-Communist Studies, darin bes.: A, R, Model Fitting, 27–74] haben sich begriffliche Etikette als hilfreich erwiesen. Als einer der Ersten hat A G. M bereits in den fünfziger Jahren versucht, dem vorherrschenden Totalitarismusmodell alternative Überlegungen entgegenzusetzen. Unzufrieden mit der Allgemeinheit der komparativen Systemmerkmale schlug er vor, die Sowjetunion seiner Zeit als „große, komplexe Bürokratie“ zu betrachten, die „mit den riesigen Korporationen, Armeen, Regierungsinstitutionen und anderen Einrichtungen . . . des Westens“ vergleichbar sei. Ähnlichkeiten sah er dabei in vielen Organisationsprinzipien und Formen des Managements, der tief eingewurzelten „autoritären politischen Struktur“, der unkontrollierten Herrschaft einer Machtelite und der Auslieferung des Einzelnen an grundsätzlich anonyme Abläufe und Verfahrensweisen. Der Titel eines Diskussionsbeitrages fasste die Kernidee pointiert und einprägsam zusammen : „USSR, incorporated“ [vgl. 1235 : M, Soviet Political System, 467 f.]. Bei näherem Hinsehen erwies sich dieser Vergleich allerdings als wesentlich schief. Nicht nur sind ,westliche‘ Bürokratien keine Monopolorganisationen mit Zwangsmitgliedschaft; bei allem Eigenleben unterliegen sie auch der Kontrolle durch die Öffentlichkeit oder den Markt. Hinzu kam der methodische Einwand, dass die neue Perspektive den Blick in ähnlicher, nur umgekehrter Weise einenge wie die alte. An die Stelle der ,Herrschaftslastigkeit‘, die man dem Totalitarismusmodell vorwarf, trat die Tendenz zur Ausblendung von Macht. Dennoch fiel Meyers Anregung auf fruchtbaren Boden. Sie traf nicht nur auf ein verbreitetes Unbehagen an der Einseitigkeit der alten Herangehensweise, sondern brachte auch eine charakteristische und dauerhafte Neuerung der Nachkriegszeit auf den Begriff: die zunehmende Bedeutung der Organisationen. Insofern begann die Theorie in Gestalt ,korporativistischer‘ und administrationstheoretischer Überlegungen offensichtliche und wesentliche Veränderungen der Realität aufzunehmen. Zumindest temporär trat die Herrschaft der ,Apparate‘ an die Stelle personaler Diktatur. In gewisser Hinsicht als Synthese beider konnte ein Konzept gelten, das den entscheidenden Wesenszug des Sowjetsystems im Organisationsmonopol der
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Partizipatorische Bürokratie
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
kommunistischen Partei und ihrer Elite sah. T H. R vermied durch den Begriff der „monoorganizational society“ schiefe Analogien [472: R, Changing System 82–112; 470: D., Political Elites; seinerzeitige Standortbestimmung: 1279: F, Communist Studies]. Zugleich hob er dasselbe Merkmal hervor, das auch der bürokratietheoretische Ansatz in erster Linie meinte : die Vereinnahmung nicht nur des Staates, sondern auch der (öffentlichen) Gesellschaft durch die Partei. Deren Führung verstand sich als Avantgarde und setzte diesen Anspruch auch in Machtexklusivität um. Parteikader, Angehörige der vielzitierten Nomenklatura, lenkten die Wirtschaft ebenso wie die sozialen und kulturellen Organisationen. Ohne das Eigengewicht der Apparate und deren Durchsetzungskraft zu leugnen, gingen R und andere davon aus, dass die letzte Entscheidungs- und Kontrollbefugnis bei den höheren Funktionären der Partei lag. Insofern bewahrte dieser Deutungsvorschlag auch eine Grundeinsicht des Totalitarismusmodells: die Machtkonzentration bei einer Organisation und deren nicht demokratisch legitimierter Führung. Dies begründete eine Kontinuität, die vermutlich dazu beitrug, dass das Konzept der monopolistisch organisierten Gesellschaft einen weithin akzeptierten Platz jenseits der Kontroversen fand und sich bis in die Gegenwart hinein behauptet hat [vgl. B, in : 1265: D., S, Brezhnev, 16]. Es war sowohl mit jenen Überlegungen vereinbar, die den Akzent auf die Entstehung mächtiger Institutionen und administrativer Hierarchien legten (von den Ministerien über das Militär bis zu industriellen Unternehmen und Branchenvereinigungen) als auch mit solchen, die das System von der zentralen Herrschaftsausübung und politischen Kontrolle her zu verstehen suchen. Auch eine andere Überlegung, die ihr Kennwort durch den Begriff der partizipatorischen Bürokratie erhielt, kann als Variante des institutionellen Ansatzes begriffen werden. Dabei setzt sie allerdings eigene Akzente. Diese ergeben sich vor allem aus zwei Merkmalen, die R V. D nach Maßgabe der sowjetischen Zustände der 1960er Jahre im vorherrschenden Totalitarismusmodell vermisste. Zum einen regte er an, der eigentümlichen Verbindung von äußerer Wahl und obrigkeitlicher Einsetzung Rechnung zu tragen. Beides versuchte er, in der Formel vom „zirkulären Fluss der Macht“ zusammenzubringen. Besonders für die wichtigen Ämter waren die Kandidaten handverlesen; zugleich meinte man aber, dem demokratischen und in der Verfassung verankerten Grundsatz der Wahl Genüge leisten zu müssen. Dabei schloss D’ Wendung, für die Wahrnehmung der 1960er Jahre nicht untypisch, die Möglichkeit einer gewissen Einflussnahme von Seiten der unteren Gremien ein : Andernfalls hätte die Macht nur von oben nach unten, nicht aber zurückfließen können. Damit schloss der Gedanke vom ,Kreislauf der Macht‘ die zweite Modifizierung schon ein. Mit vielen anderen Betrachtern wies D darauf hin, dass „komplexe, moderne bürokratische Organisationen“ nicht darauf verzichten könnten, ein Mindestmaß an Wünschen und Informationen von unten aufzunehmen. Wenn sie ihre Funktionsfähigkeit und Wirkung nicht aufs Spiel setzen wollten, seien sie gezwungen, Nöte und Interessen des Gesamtorganismus zu beachten. Große, differenzierte ,Bürokratien‘, so behauptete diese ,kybernetische‘ Ergänzung, könnten nicht von oben per Anweisung regiert werden, sondern nur durch
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Formen der Entscheidungsfindung, die verschiedenen Interessen gerecht würden und zumindest ein Moment der Partizipation enthielten [D, Soviet Politics, in : 1010 : S, Soviet Union, 16–25]. Ungeachtet der Evidenz dieser organisationssoziologischen Grundeinsicht warfen solche Überlegungen ebenfalls manche Probleme auf. Im Rückblick wird man dem Begriff der Teilhabe mit Skepsis begegnen. Auch wenn das Adjektiv partizipatorisch eher deskriptiv gemeint war, schließt der Gedanke des Machtkreislaufs eine solche Deutung ein. Sicher lag sie in der damaligen Situation nahe, als die personale Diktatur endgültig überwunden schien, die sowjetische Wirtschaft noch Wachstumsraten verzeichnete und der Gesamtstaat dank seiner schieren Größe und militärischen Macht die Rolle einer zweiten Weltmacht noch ausfüllen konnte. Dennoch gab es auch außerhalb des überkommenen Totalitarismuskonzepts Alternativen, die einerseits der charakteristischen bürokratischen Struktur der nachstalinistischen Sowjetunion Rechnung trugen, andererseits die Notwendigkeiten modernen Managements in geringem Maße erfüllt sahen und deutlich pessimistischer urteilten. So hat vor allem R L auf der Unvereinbarkeit beider Merkmale und Entwicklungen bestanden: Das Macht- und Gestaltungsmonopol einer einzigen Partei vertrage sich nicht mit der Notwendigkeit der Interessenartikulation einer zunehmend differenzierten Gesellschaft und Wirtschaft. Modernisierung und Industrialisierung schufen in dieser Sicht durch immer komplexere Verfahren und Strukturen sowie unentwegt wachsende Qualifikationsanforderungen Bedürfnisse und Zwänge, denen nur konsensuelle Steuerung und kompromissorientierte Entscheidungen Genüge tun können. Im innersten Kern liegt ihr die Annahme einer unauflöslichen Symbiose zwischen sozioökonomischer Differenzierung und demokratischer, auf Interessenausgleich gegründeter politischer Ordnung zugrunde. Auch wenn diese Hypothese manche Merkmale einer überaus optimistischen normativen Teleologie aufweist, darf sie eine erhebliche Erklärungskraft beanspruchen. Nicht zuletzt die Perestrojka lieferte einen überzeugenden Beleg: Sie sollte eben jene Unvereinbarkeit beheben – und scheiterte daran, weil diese systemimmanent nicht behebbar war [L, Kommunistische Einparteiherrschaft, in: 1313: M, B, L, Einparteiensystem, 9–64]. Spätestens diese Wendung organisations- und systemtheoretischer Deutungen des „entwickelten Sozialismus“ illustrierte die enge Verzahnung einschlägiger Hypothesen mit dem Gedanken der Konvergenz beider Systeme. In der Tat könnte dieser Begriff am ehesten eine Art Dach für verschiedene Überlegungen zur Aktualisierung der theoretischen Beschreibung der Sowjetunion unter Chruščev und Brežnev bilden. Fast alle Vorschläge zur Ergänzung und Revision totalitaristischer Hypothesen griffen Elemente gewisser Entwicklungsähnlichkeiten zwischen Ost und West auf. Überwiegend standen sie im Kontext von Annahmen über notwendige Begleiterscheinungen der Industrialisierung und Modernisierung, denen systemneutrale Effekte zugeschrieben wurden. Allerdings unterschieden sich die Überlegungen hinsichtlich des Ausmaßes solcher Analogien erheblich. Überwiegend wurden nur partielle entdeckt. Darüber hinausgehende Behauptungen und Vorhersagen haben auch auf dem Höhepunkt
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„Interessengruppen“ innerhalb der Machtelite
Bürokratischer Sozialismus
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solcher Szenarien keine breite Resonanz gefunden. Allzu groß und unüberwindbar schienen die Unterschiede. Weite Verbreitung fanden dagegen Vorschläge zu einer neuen Deutung des politischen Prozesses in der Sowjetunion. Sie entfernten sich fraglos am weitesten vom Totalitarismuskonzept. Was sie als charakteristisches Merkmal in den Vordergrund rückten, widersprach vor allem ihm diametral: die These, dass auch in der scheinbar monolithischen Herrschaftselite der Sowjetunion höchst unterschiedliche Nöte und Wünsche anzutreffen waren, ohne deren Berücksichtigung nicht effektiv regiert werden konnte. „Interessengruppen“ wurden entdeckt, deren Gegen- und Miteinander auch die Politik der Sowjetunion maßgeblich bestimmten. Generäle und Manager, KGB und regionale Parteikader wurden nun mit einer Bedeutung ausgestattet, die sie zu eigenständigen Akteuren im Kampf um die Ressourcenverteilung oder innen- und außenpolitische Grundentscheidungen machte. Sozialistisches Regierungshandeln schien einem ähnlichen „institutionellen Pluralismus“ zu entspringen, wie er in anderen Systemen anzutreffen war [repräsentativer Sammelband: 1329: S, G, Interest Groups]. Allerdings tut man gut daran, die Verfechter dieses Konzepts nicht über einen Kamm zu scheren. Mindestens zwei Orientierungen lassen sich klar unterscheiden. Die meisten Autoren begnügten sich mit der Beschreibung zahlreicher Gruppierungen und deren Anliegen. Dabei verstand es sich von selbst, dass zentrale Entscheidungen auch auf einen Ausgleich zwischen ihnen bedacht sein mussten, da sie wie überall auf Kompromissen beruhten. Diese Position ließ sich zumindest im Prinzip mit bürokratie- und organisationstheoretischen Ansätzen vereinbaren. Erst die Aufwertung divergierender Interessen zu einem institutionalisierten Pluralismus und die parallele Degradierung der politischen Entscheidung zur Vermittlung begründeten einen schwer zu überwindenden Gegensatz sowohl zu totalitaristischen als auch zu korporativistischen Modellen. Besonders engagiert hat J H für diese Auffassung und gegen die Verteidiger des überkommenen Modells gefochten. Dabei ging er so weit, personale Einzelherrschaft fast völlig zu leugnen. Der Parteiführer betätigte sich nach seiner Auffassung „im Wesentlichen . . . als Makler“, dessen Aufgabe darin bestand, „Leute . . . auf einem Mittelgrund zusammenzubringen“. Damit hatte sich sowjetische Politik gleichsam normalisiert und zivilisiert – sie war vom bargaining demokratischer Art zwar qualitativ, aber kaum noch prinzipiell unterschieden [1291 : H, Soviet Union, 19ff.]. Von korporativistischen Ansätzen amerikanischer Prägung sollte das Konzept des „bürokratischen Sozialismus“ in seiner Absicht und Genese trotz des gleichlautenden Adjektivs deutlich getrennt werden. Nicht die scheinbar verwandte Funktionsweise großer Verwaltungsapparate gab hier die Anregung, sondern die marxistische Kritik an der stalinistischen Pervertierung behaupteter ursprünglicher demokratischer Absichten der Revolution und ihrer Ideologie. Die Analyse argumentierte im Kern machttheoretisch und deutete das Gesamtsystem als Gebilde einer selbsternannten und nicht mehr kontrollierten Parteielite. Allerdings unterlag die Herrschaft der ,Kader‘ eigenen Regeln, die sich in dieser Sicht zusammen mit anderen Besonderheiten zu einem spezifischen Typus von Herr-
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schaft summierten. Den neuen Machthabern fehlte vor allem die langfristige Sicherheit ihrer hierarchischen Position und sozialen Lage, da sie die staatlichen Ressourcen zwar uneingeschränkt verwalten, nicht aber in Besitz nehmen und vererben konnten. Sie mussten sich in besonderer Weise legitimieren und dabei vor allem die sozioökonomische Modernisierung als raison d’être des Gesamtsystems beachten. In der Anerkennung der Prägekraft dieser Aufgabe lag – neben der Prämisse, dass den ,Apparaten‘ eine zentrale Bedeutung zukomme – eine weitere ,Schnittstelle‘ zu den übrigen Deutungsvorschlägen [Übersicht : 1236 : M, Sozialistische Systeme]. Im Rückblick darf die Frage nicht fehlen, welche der skizzierten Deutungen auch das Ende der Brežnev-Ära und der Sowjetunion insgesamt verständlich machen. Dabei gilt einerseits, dass die chronologische Abfolge nicht zur kausalen werden darf. Andererseits zwingt die Kenntnis der ,vergangenen Zukunft‘ zu neuem Nachdenken. Aus dieser Sicht wird man nicht umhin können, sowohl diejenigen Erklärungsangebote zu verwerfen, die den eigenständigen Anspruch des Sowjetsystems ernst genommen haben, als auch diejenigen, die von einer tendenziellen Konvergenz der Systeme ausgegangen sind. Die Akzeptierung der sowjetischen Selbstwahrnehmung als System eigener Art war dabei nicht mit Kritiklosigkeit gleichzusetzen. Den sozialistischen Anspruch hat kein Beobachter von Rang geteilt. Aber schon die Konstruktion eines separaten Typus muss im Rückblick darauf geprüft werden, ob sie die zunehmende Lähmung dieser Ordnung als Möglichkeit mitbedacht hat. Dabei zeigt sich, dass vor allem die Modelle aus den sechziger und frühen siebziger Jahren, die unter dem Eindruck strukturell ähnlicher Modernisierungsmerkmale in Ost und West standen, ihre Überzeugungskraft weitgehend eingebüßt haben. Eine Ausnahme bilden lediglich diejenigen, die dem aporetischen Charakter der Entwicklung nicht nur am Rande, sondern in ihrem Kern Rechnung trugen. Denn fraglos hat sich in der ein oder anderen Form der Grundgedanke bewahrheitet, dass die Erfordernisse funktionaler Effizienz zunehmend komplexer Organisationen und technisch anspruchsvollerer Produktion mit der Folge wachsender Breitenqualifikation der Bevölkerung auf Dauer nicht mit der monopolistischen Herrschaft einer Einheitspartei und noch weniger mit zentraler Anweisungs- und Planungskompetenz in ihrem Auftrag zu vereinbaren waren. In diesem Sinne gerieten die Begleiterscheinungen sozioökonomischer Modernisierung in wachsenden Widerspruch zur monistischen politischen Verfassung. Der Gedanke drängt sich geradezu auf, dass sich damit ein altes Problem in neuem Gewand wiederholte : Auch die revolutionäre Bewegung der ausgehenden Zarenzeit, der die Sowjetordnung ihre Entstehung verdankte, wurzelte nicht zuletzt in mangelnder oder verspäteter Kompatibilität zwischen sozioökonomischem Fortschritt und autokratischer Herrschaft [1280: F, H, Post-Communist Studies, 10, 223 ; 401: R, Red Sunset]. Allerdings sollte man nicht übersehen, dass diese Sicht auch die Anerkennung assimilatorischer Tendenzen einschließt. Wer die Hauptprobleme sozialistischer Systeme im genannten Dilemma sieht, setzt Entwicklungen voraus, die im Kern auch westliche Gesellschaften erfassten, hier aber andere Reaktionen hervorriefen. Insofern bewahren die meisten Befunde professioneller Beobachter für
Widerspruch zwischen wachsender Breitenqualifikation und monopolistischer Parteidiktatur
Theorie-Synthese
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die Chruščev- und Brežnev-Ära durchaus ihre Gültigkeit. Gewiss haben ,Korporativisten‘ zu Recht auf die wachsende Macht der ,Apparate‘ hingewiesen. Zweifellos bildeten sich in einer Gesamtordnung, deren Institutionen nach dem Tode Stalins weitgehend unbehelligt wachsen konnten, mächtige Interessengruppen, die Einfluss auf politische Weichenstellungen zu nehmen suchten. Und ebenso steht außer Frage, dass die Sowjetunion nach der Behebung der schlimmsten Kriegsschäden in eine neue Phase sozioökonomischer Modernisierung eintrat, die auch sie bei allen bleibenden regionalen und sektoralen Unterschieden zumindest mit drei langfristigen Veränderungen konfrontierte: mit der Urbanisierung, der Anhebung der Massenqualifikation und der Industrialisierung im einfachen Sinne rückläufiger landwirtschaftlicher Beschäftigung und Wertschöpfung. Davon blieben der politische Entscheidungsgang und die politisch-soziale Gesamtverfassung nicht unberührt. Schon deshalb sollte man sich vor der verbreiteten Täuschung hüten, der Zusammenbruch der Sowjetunion habe die Grundannahmen des Totalitarismusmodells bestätigt. Vielmehr waren seine Anhänger von einem solch schnellen Ende ebenso überrascht wie die anderen Beobachter. Denn alle genannten Veränderungen der sowjetischen Makrostruktur standen außerhalb der ursprünglichen Form der totalitaristischen Deutung und wurden von ihr ignoriert. Die vergleichende Kernabsicht zog eine statische Sicht nach sich, die auch eine destabilisierende Evolution bis hin zum Zerfall ausblendete. Wenn einige Anhänger dieses Ansatzes später Elemente industriegesellschaftlicher Konvergenzbefunde aufnahmen und einen wachsenden Gegensatz zwischen dem ideologisch begründeten Totalitätsanspruch und den Imperativen der ökonomischen Modernisierung feststellten, so verließen sie die ursprüngliche Deutung und betraten den Boden der ,Dilemma‘-Hypothese. Zur weiteren Stärkung ihrer Erklärungskraft sollte man noch einen Schritt weiter gehen und auch Aspekte des Interessengruppenansatzes einfügen. Bei aller Richtigkeit der Kritik an der Degradierung politischer Entscheidungen zur bloßen Vermittlung steht die wachsende Bedeutung großer Apparate in der nachstalinistischen Sowjetunion außer Frage. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass sich ihre Stabilität während der letzten Brežnev-Jahre, als Wirtschaftskrise, Aufrüstung, wachsende Legitimationsdefizite, abnehmende internationale Konkurrenzfähigkeit und innere Kritik längst begonnen hatten, ihr Fundament zu untergraben, vor allem dem Zusammenwirken besonders einflussreicher Interessen – von der Parteiführung über die Armee und den KGB bis zu den Managern der Schlüsselindustrien – verdankte. Damit käme auch das korporativistisch-bürokratische Denkmodell zum Tragen. Sicher markierte Chruščevs Sturz einen „Sieg der Sekretäre“ (Z. B). Aber zu seinen Voraussetzungen gehörte das Versprechen, nicht nur die alleinige Herrschaft des Attackierten wieder durch die oligarchische seiner frühen Regierungsjahre zu ersetzen, sondern auch die ,Interessen‘ der nomenklatura stärker zu berücksichtigen. Das hat Brežnev trotz der Heraushebung seiner Person seit der zusätzlichen Übernahme des Amtes eines Vorsitzenden des Obersten Sowjets (faktisch der Funktion des Staatsoberhauptes) 1977 und des gleichzeitig wachsenden Personenkults um ihn allem Anschein nach bis zuletzt in Gestalt der Politik der „Stabilität der Kader“ beherzigt [vgl. neben
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B auch T, in: 1265: B, S, Brezhnev, 22ff.]. Deshalb trifft die Bezeichnung des neuen Regimes als eines „konsultativen Autoritarismus“ (P. C. L), wenn das Adjektiv weit genug von der Konnotation einer Gleichrangigkeit der Beteiligten entfernt und das Substantiv nahe genug an eine oligarchische, nicht individuell ausgeübte Diktatur angenähert wird, ebenso zu wie die Formulierung von der bürokratischen Versteinerung. Im Ergebnis schälen sich vor allem folgende Kennzeichen der politischen und sozioökonomischen Verfassung des „entwickelten Sozialismus“ heraus, über die sich die verschiedenen Deutungsvorschläge weitgehend einig sind : die Hegemonie der Partei in allen wichtigen Bereichen von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur, insbesondere bei der ideologisch-theoretischen Formulierung und praktischen Umsetzung des jeweiligen ,Kurses‘; die Existenz verschiedener institutionalisierter Interessen ohne echten Pluralismus; der Verzicht auf Massenterror bei drakonischer Einzelbestrafung von Dissidenten; und die wachsende Sichtbarkeit eines sozioökonomischen Modernisierungsprozesses in Richtung auf eine industriegesellschaftliche Gesamtverfassung. Um die Entstehung dieser Merkmale, ihr Zusammenwirken und ihre Entwicklung verständlich zu machen, bietet sich als Schnittpunkt unterschiedlicher Vorschläge der letzten Jahrzehnte eine Verbindung im Wesentlichen zweier Überlegungen an : des Konzepts der ,monopolistisch organisierten Gesellschaft‘ und der Denkfigur eines wachsenden Widerspruchs zwischen einer solchen politisch-sozialen Struktur und den unausweichlichen Folgen eben jenes wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, der maßgeblich zur Entstehung der Sowjetordnung insgesamt beitrug und einer ihrer wesentlichen Antriebe und Zielvisionen blieb [ähnlich F, Toward a Reconceptualization, in : 1279 : D, Communist Studies, 222–243; L, Kommunistische Einparteiherrschaft, in: 1313: M, B, L, Einparteiensystem, 57ff.]. Noch ganz in den Anfängen steckt die postsowjetische, aus größerer zeitlicher Distanz urteilende sozialgeschichtliche Forschung zur Brežnev-Ära. Es ist zwar ganz und gar nicht wenig, was sich an empirischen Informationen und ersten Analysen aus der zeitgenössischen inländischen wie westlichen gedruckten Literatur herausziehen lässt [gründliche Auswertung bei P, in 349 : HGR V, 419ff., 787ff.]. Aber natürlich fehlen Fragestellungen, die sich erst im Rückblick ergeben und, jedenfalls im Augenblick, das dominante historische Interesse ausmachen: wie sich Gesellschaft und Alltag jener Jahre, die zur letzten Epoche des „real existierenden Sozialismus“ wurden, zur entgleisten Perestrojka verhalten – einschließlich der Frage, ob ein solcher Blickwinkel sinnvoll ist, wenn man ihn denn überhaupt vermeiden kann. Dabei zeichnet sich in jüngster Zeit eine gewisse Tendenz ab, die hohe Wertschätzung, die die Brežnev-Ära laut mehreren Meinungsumfragen in der Bevölkerung wieder genießt, gleichsam wissenschaftlich zu bestätigen. Vor allem die siebziger Jahre erscheinen als ,goldene Zeit‘, in der das materielle Lebensniveau am höchsten war, separate Familienwohnungen samt ordentlicher Ausstattung die Norm waren und man einen bescheidenen ,Wohlstand‘ genießen konnte. Zwar kam es immer wieder zu Versorgungsengpässen, so wie auch kommunalki fortbestanden, in denen sich Fremde Küche und Bad teilen mussten. Aber solche Zustände waren die
Kennzeichen des „entwickelten Sozialismus“
Goldenes Zeitalter des Konsums?
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Außenpolitik des frühen Brežnev
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
Ausnahme, nicht die Regel [vgl. 1273: C, Soviet Consumer Culture, 203; 1265 : B, S, Brezhnev, 4f.; implizit auch 1343: Y, Everything Was Forever]. Freilich liegen Gegenargumente auf der Hand. Zwar wird niemand das relativ hohe Konsum- und allgemeine Lebensniveau jenes Jahrzehnts in Frage stellen. Aber man sollte nicht nur bedenken, dass es sich zu einem erheblichen Teil der Gunst ungewöhnlich hoher Weltmarktpreise für die sowjetischen Rohöl- und Erdgasexporte verdankte. Generell können weder grundlegende ökonomische Indizes wie die Schrumpfung des Wachstums auf Beinahe-Null noch auch die Wahrnehmung der Erben an der Partei- und Staatsspitze, dass die Sowjetunion in eine schwere ökonomische Krise geraten sei, außer Acht gelassen werden. Gorbačev mag die Lage im egoistischen Interesse, seine eigenen Reformen zu rechtfertigen (und durchzusetzen), dramatisiert haben (wie z. B. H, in 1265: B, S, Brezhnev, 62f. behauptet). Daraus folgt aber noch lange nicht, dass die überkommene Planwirtschaft auf Dauer und ohne konjunkturelle Extraprofite hinreichend leistungsfähig gewesen wäre, um sowohl den steigenden Konsumanforderungen der Bevölkerung zu genügen als auch die hohen Militärausgaben zu finanzieren, die zum Erhalt des Status einer Supermacht nötig waren. Kurz, wer die (relativen) Segnungen der frühen und mittleren Brežnev-Jahre lobt, muss auch deren Hinterlassenschaft bedenken und dabei nicht nur auf ökonomische Parameter achten. Dass eine solche Bilanz zu dem Ergebnis führt, das Regime hätte so weitermachen können wie bis dahin – so dass nicht die Krise die nachfolgende Reform, sondern die Reform die Krise verursacht hätte [vgl. 1362 : B, Seven Years, 5] –, bleibt bislang eine These, die zwar Aufmerksamkeit auf sich zieht, weil sie die übliche Interpretation nachgerade auf den Kopf stellt, die aber noch mancher empirischer Belege und guter, über die bloße Ökonomie hinausgehender Argumente bedarf, um überzeugen zu können. Die neue Außenpolitik der frühen Brežnev-Ära ist in ihren äußeren Geschehnissen weitgehend bekannt. Was unter Chruščev begonnen hatte, die Abkehr vom ,Kalten Krieg‘, trieb sein Nachfolger zur ,Entspannung‘ voran. Im Einzelnen werden sich die Motive erst aus den Archiven rekonstruieren lassen. Bis dahin muss man sich mit allgemeineren Aussagen begnügen. Plausibel erscheint dabei eine Verbindung von außen- und innenpolitischen Faktoren [vgl. 1318 : N, Making, 119ff.; 621: A, Search, 105ff.; 634: H, Russia’s Cold War, 214ff.]. Grundlegende Bedeutung hat man der militärischen Parität zugeschrieben, die der Sowjetstaat als Lehre aus dem Debakel von 1962 inzwischen erreicht hatte. Endlich konnte er von gleich zu gleich verhandeln und trat in solche Gespräche auch ein, um diesen Anspruch weiter zu verdeutlichen. Hinzu kam der Konflikt mit China, der im Frühjahr 1969 in offenen Gefechte am Ussuri eskalierte. Da die Vereinigten Staaten mit Blick auf den Vietnamkrieg Anstalten machten, auf China zuzugehen, lag nichts näher, als einer solchen Allianz zuvorzukommen. Ein erheblicher Druck ging ferner allem Anschein nach schon damals von wachsenden wirtschaftlichen Problemen aus. Die hohen Wachstumsraten der Nachkriegsjahrzehnte waren rückläufig. Vor allem die Landwirtschaft erwies sich zunehmend als unfähig, die steigenden
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Konsumbedürfnissen der Bevölkerung zu befriedigen. Abhilfe sollte der Handel mit dem Westen bringen, dessen Ausweitung gutes Einvernehmen voraussetzte. Und schließlich musste der Sowjetunion – zumal nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ im August 1968 – daran gelegen sein, ihre Führungsrolle im Ostblock zu bekräftigen. Dazu schien ein außenpolitischer Erfolg vor allem in Europa geeignet zu sein, der auch den Mauerbau von 1961 noch einmal absichern und gleichsam verallgemeinern würde [vgl. B, in 1265 : B, S, Brezhnev, 91ff.]. Mithin sprach vieles dafür, auf die neue Ostpolitik der sozialliberalen Koalition in der Bundesrepublik einzugehen, zumal auch die neue amerikanische „Administration“, im gleichen Jahr 1969 installiert, eine Entspannung befürwortete. Damit war der Weg zur KSZE in Helsinki gebahnt, die aus Moskauer Sicht gleichsam noch in der Nachfolge von Potsdam stand. In der Tat erreichte die Sowjetunion hier ihr hauptsächliches Ziel seit Jahrzehnten: die Sicherung ihres „Kriegsgewinns“ in Gestalt der Festschreibung der Nachkriegsgrenzen einschließlich der Einflusssphären. Eben diese Krönung erscheint jedoch im Rückblick, wie erwähnt, in mehrerer Hinsicht als Peripetie. Dies galt zum einen für das amerikanisch-sowjetische Verhältnis. Schon das Jackson-Vanik-Amendment von 1974 [s. o. I, S. 88] gab bei Licht besehen Anlass, Hoffnungen auf eine ungetrübte Fortsetzung der Entspannung zu dämpfen. Ein Übriges bewirkten verschärfte Repressalien gegen den erstarkenden Dissens, die vor allem in der amerikanischen Öffentlichkeit Proteste mit erheblichem Nachhall in der Politik hervorriefen. Wie die sowjetische Diplomatie auf diese Abkühlung im Einzelnen reagierte, bleibt weiterhin unbekannt; neue Quellen liegen nicht vor. Offiziell hielt sie am Entspannungskurs fest. Das hinderte sie aber weder an einer offensiven Politik in der damaligen „Dritten Welt“ noch an der Aufstellung einer neuen Generation von Mittelstreckenraketen (SS 20), noch auch am fatalen Entschluss zur Intervention in Afghanistan. Man hat vermutet, dass Brežnev selbst diese Entscheidung nicht als Widerspruch zu einvernehmlichen Beziehungen mit den USA betrachtete [vgl. B, in 1265 : B, S, Brezhnev, 102]. Das sah deren Regierung anders. Die Empörung schlug umso höhere Wellen, als sich in der amerikanischen Öffentlichkeit besonders nach der islamischen ,Revolution‘ im Iran 1979 eine deutliche konservative Wende vollzog. Welchen genaueren Anteil beide Seiten am Ende einer Politik hatten, die immerhin ein ganzes Jahrzehnt prägte, wird sich aber (vielleicht) erst nach Öffnung der Archive – hüben wie drüben – ermitteln lassen. Zum anderen erscheint die KSZE mit Blick auf die innere Opposition gegen die in der Sowjetunion immer deutlicher als markanter Wendepunkt. Dass die Dissidenten nicht zögerten, die neuerliche Selbstverpflichtung ihres Staates auf die Wahrung der Menschenrechte zu nutzen, um ihre Organisation umgehend neu zu gründen, ist von Anfang gesehen worden. Meist ging man auch davon aus, dass sie sich mehr Gehör verschaffen konnten als zuvor – und sei es nur im Ausland, dessen Öffentlichkeit ihre Anliegen aufgriff und sich bemühte, sie auf die Agenda der eigenen politischen Führung zu setzen. Sicher verdient der Hinweis Beachtung, dass die Sowjetunion 1975 nichts eigentlich Neues unterschrieb und das intellektuelle Leben in der Brežnev-Ära deutlich vielgestaltiger
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II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
war als üblicherweise angenommen. Dennoch bleibt die Frage, ob der Dissens überschätzt worden sei [vgl. B und S, in 1265: B, S, Brezhnev, 97, 156f.], weitgehend rhetorisch. Eine unmittelbare politische Wirksamkeit (nach Art der polnischen Solidarność) hat ohnehin niemand behauptet. Die Ausstrahlung der Helsinki-Gruppe im Sinne einer Meinungsführerschaft aber lässt sich nahtlos mit der These vereinbaren, dass es in einer numerisch stark gewachsenen Intelligenzschicht (im Sinne einer akademischen Qualifikationselite) auch verbreitete Unzufriedenheit bis hin zur Opposition gegen die gab. Schon weil die Intervention in Afghanistan „nur“ einen Entfremdungsprozess zu Ende brachte, der längst eingesetzt hatte, spricht alles für Annahme, dass ihre eigentliche Bedeutung für die Sowjetunion innerer Natur war. Dieser Aspekt der beschleunigten Delegitimierung der politischen Ordnung steht auch im Mittelpunkt der meisten einschlägigen Studien, deren Zahl daher – trotz fehlendem Archivzugang und trotz geringer zeitlicher Distanz – bemerkenswert groß ist [vgl. u. a. 1415 : S, Auswirkungen; 1282 : G, Afghanistan; 1262 : A, Fateful Pebble; 1393: K, Long Goodbye; erste, bemerkenswerte Quellenpublikation: 277: A, Geheimdokumente; 290: Sekretnye dokumenty] Beinahe neu sind schließlich die Folgen der Schlussakte für die anderen Länder des Ostblocks ins Bewusstsein gehoben worden. Nicht nur entstanden fast überall analoge Menschenrechtsgruppen, die den Effekt der sowjetischen in der internationalen Öffentlichkeit unabhängig vom Ausmaß der (offenbar begrenzten) Kooperation in jedem Fall erheblich verstärkten. Wichtiger war, dass den jeweiligen Regierungen in der Auseinandersetzung mit ihren Dissidenten die Hände weitgehend gebunden waren und deren Einfluss auf die Bevölkerung wuchs. Es rächte sich, dass die Sowjetunion auch ihre Partner (z. B. die widerstrebende DDR), die faktisch Satelliten waren, zur Unterschrift gezwungen hatte. Insofern stellt sich nicht nur ein Zusammenhang zwischen der KSZE und der Perestrojka her. Auch für die Vorgeschichte des Zusammenbruchs des Ostblocks im mirakulösen Herbst 1989 gewinnt die Zusammenkunft von Helsinki neue Bedeutung [vgl. 1260: A, W, KSZE-Prozess; 1322 : P, KSZE im Ost-West-Konflikt; 1330: S, Human Rights; ältere Übersichten 1324 : S, KSZE; 1271: B, KSZE-Prozess u. a.].
9. Ursachen der Perestrojka und ihres Scheiterns Keine Phase der sowjetischen Geschichte hat so sehr im Rampenlicht gestanden wie die Perestrojka. Schon der Amtsantritt Gorbačevs wurde angesichts der Überfälligkeit von Reformen und des Schicksals seiner beiden Vorgänger genau beobachtet. Erst recht brachte die glasnost’ eine nie dagewesene Dichte der Dokumentation hervor. Freilich beschränkte sich die große Masse der Literatur auf bloße Beschreibung. Im Vordergrund zumindest des ausländischen Interesses stand die Berichterstattung über unerhörte Vorgänge, erstmals auch über interne
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Debatten in der Führung. Einordnende Überlegungen waren ohne Kenntnis des Endes der Entwicklung und ohne Abstand kaum möglich. Und auch ein Vierteljahrhundert später liegen nur wenige Studien vor, die über solide empirische Information hinaus zur Interpretation vordringen würden [grundlegende russ. Darstellung (mit El’cin-Sympathien) 398: P, S, Istorija sovremennoj Rossii, aufbauend auf 396: P, Sovetskij sojuz, 447ff.; das westliche Standardwerk bleibt: 1361: B, Gorbatschow-Faktor; wenig Neues: 1362 : B, Seven Years; dt. Übersicht, stärker international ausgerichtet 1352: A, Russland 1989; auch D., in 349: HGR V, 519–593; 1395 : K, Armageddon Averted; subjektive, aber interessante Übersichten geben die inzwischen zahlreichen Aufzeichnungen wichtiger Akteure, bes.: 324: J, Sumerki; 325: D., Perestrojka; 299: C, My Six Years; 300 : Č, M, V Politbjuro; 335 : Š, Cena sowie natürlich 312: G, Erinnerungen; wiederholt in 311 : G, Alles zu seiner Zeit]. Deshalb sind auch die Kernfragen bislang eher aufgeworfen als überzeugend beantwortet worden. So bleibt noch immer offen, ob Gorbačev anfangs mehr als nur ökonomische Reformen wollte. Der führende westliche Experte betont, dass dies der Fall gewesen sei und der neue Generalsekretär von Beginn an auch eine politische Umgestaltung anvisiert habe. El’cin-Anhänger dagegen neigen zu einer negativen Antwort (um den Neubeginn nach 1991 umso deutlicher hervortreten zu lassen) [1361: B, Gorbatschow-Faktor, 207ff., 259; implizit 396: P, Sovetskij sojuz, 585ff.; weitgehend identisch mit 398: D., S : Istorija sovremennoj Rossii, 128ff.]. Freilich lässt sich schwer feststellen, was genau Gorbačev Ende 1984 unter der „Demokratisierung“ verstand, die er dem „gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben“ seines Landes empfahl. Die bloße Chronologie mag den Dissens lösen helfen. Faktisch setzte er zunächst fort, was sein Ziehvater Andropov hatte abbrechen müssen, und versuchte knapp zwei Jahre lang, der Wirtschaft nahezu ausschließlich mit wirtschaftlichen Mitteln beizukommen. Erst als er nach dem Scheitern der „Beschleunigungs-“ und ,Nüchternheits‘-Kampagne zu der Überzeugung kam, wirtschaftliche Eigeninitiative sei ohne politische Freiheit nicht zu haben, verließ er faktisch den Boden einer systemimmanenten Reform und schlug den riskanten Weg des ,Umbaus‘ auch der Herrschaftsverfassung ein. An seinem Anfang stand logischer- und notwendigerweise die Freigabe der öffentlichen politischen Diskussion in Wort und Schrift. Ihr folgten – in der Rückschau nicht überraschend, aber in ihrem Ausmaß völlig unterschätzt – nationale Ansprüche auf Gleichberechtigung und Unabhängigkeit. Nach wie vor umstritten ist, welche ,Krise‘ nun hauptsächlich zum Scheitern sowohl der Perestrojka als auch zum Niedergang der Sowjetunion geführt hat. Als mögliche Ursachen kommen alle drei Faktoren in Betracht: der politische Pluralismus, der durch die glasnost’ begründet wurde; die nationalen Bewegungen, die kaum zufällig während des Wahlkampfes für die Wahlen zum Volksdeputiertenkongress im Frühjahr 1989 – der ersten freien Abstimmung seit siebzig Jahren – entstanden, sowie die wirtschaftliche Misere, die sich vor allem seit 1989 dramatisch zuspitzte. Wer auf die lange Geschichte der „nationalen
offene Kernfragen
Ursachen des Scheiterns
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Folgen des Putsches
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Frage“ in der Sowjetunion blickt, wird dazu neigen, die fraglos unterdrückten Emanzipationsforderungen der vielen ethnisch-kulturellen ,Minderheiten‘ für ausschlaggebend zu halten [jüngste Übersicht 575: S, Red Nations, bes. 256ff.; grundlegende Quellensammlung: 301: F, C, Perestrojka; Neudruck alter Aufsätze: 549: D, Soviet Nationality Reader; Übersicht und Dokumente 1420: S, S, Verfall]. Dagegen meinen Kenner der Sowjetwirtschaft, dass die Wurzel des Übels in der schweren und hartnäckigen ökonomischen Krise zu sehen sei, die das Land seit den ausgehenden siebziger Jahren heimsuchte. Beide Erklärungen können den faktischen Parteienpluralismus, der sich im Laufe des Sommers 1989 im Volksdeputiertenkongress herausbildete, nahtlos integrieren, da sie ihn entweder als Aspekt der nationalen Emanzipation oder als Folge der Einsicht begreifen, dass die Wirtschaftsmisere wirksam nur durch politische Freiheit zu beheben sei. In der Tat überschneiden sich diese beiden Kernprobleme in den ,Programmen‘ – soweit der Begriff angemessen ist – der verschiedenen Kongressfraktionen. Nun kann man der Meinung sein, dass die bloße Chronologie auch in diesem Fall ein interpretatorisches Moment enthält. Dann würde der ökonomischen Krise nicht nur die zeitliche, sondern auch die ursächliche Priorität zufallen. Die andauernde Stagnation sowie das chronische Leistungsdefizit im Angesicht steigender interner Ansprüche und militärisch-rüstungstechnischer Kosten generell würden dann zur hauptsächlichen Schwachstelle. Deren Beseitigung machte die glasnost’ erforderlich; diese zog ihrerseits jenen Verfall der alten zentralisierten Herrschaft nach sich, der den Nationalbewegungen Spielraum zur Entfaltung ihrer zentrifugalen Bestrebungen gab. Gerade aus einer solchen Sicht war es kein Zufall, dass die bevorstehende Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrages, mithin ein Versuch, die nationale Frage zu lösen, den Anstoß zum Putsch vom August 1991 gab [umfangreicher Aufsatzband: 1365: D, L, Soviet System; alle Faktoren finden sich auch in den wissenschaftlichen Biographien, wenngleich mit unterschiedlicher Gewichtung, behandelt: 1412: S, Gorbachev; 1361 : B, Gorbatschow-Faktor, sowie 1362 : D., Seven Years, 325ff., der insbesondere ökonomische und nationale Ursachen für das Scheitern verantwortlich macht; 1433: W, Gorbachev in Power; 1434: D., After Gorbachev; 1402 : MC, Gorbachev]. Offen bleibt ebenfalls, was genau die Niederschlagung dieser Verschwörung eigentlich bedeutete. Gewiss versetzte der Dilettantismus der Konspirateure der alten Sowjetunion ganz entgegen ihrer Absicht den letzten, tödlichen Schlag. Sicher hätte auch der Entwurf zu einem neuen Unionsvertrag noch einmal revidiert werden müssen. Desgleichen war die Transformation des Einparteienstaats in eine parlamentarisch-pluralistische Präsidialrepublik nicht mehr aufzuhalten. Aber das Schicksal der Sowjetunion als Föderation war Ende August 1991, wie Gorbačev immer wieder betont hat [z. B. 312: G, Erinnerungen, 1093ff.], noch ebensowenig entschieden wie die Art der Wirtschaftsordnung, die das kollabierte zentrale Plansystem ablösen sollte. In der Tat spricht vieles für die These, dass vor allem die glasnost’ und der Widerstand gegen den restaurativen Putschversuch auch das Volk veränderten und durch die Abwehr dieses Coups mit El’cin an der Spitze eine parallele ,demokratische Revolution‘ stattfand [1413:
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S, Cleansing Storm]. Erst beide Umsturzvorgänge zusammen erklären den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Begründung neuer parlamentarisch-konstitutioneller Staaten auf ihrem Territorium, wie demokratisch sie im Einzelnen auch immer sein mochten. Dagegen besteht über die Beweggründe des ,neuen Denkens‘ in der Außenpolitik und seine Folgen weitestgehend Konsens. Wichtigstes Motiv für die Entspannungsoffensive und die umfassendsten Abrüstungsangebote der Nachkriegszeit an die Vereinigten Staaten war zweifellos der finanzielle Druck. Gorbačev war auch in der Einsicht aufrichtiger als alle seine Vorgänger, dass der Unterhalt einer so großen Armee und deren angemessene technische Ausrüstung die Leistungsfähigkeit der ineffizienten sowjetischen Wirtschaft erheblich überstiegen. Insofern war es eine Notwendigkeit, sich auch mit einem so konservativ-antisowjetischen Präsidenten wie Ronald Reagan an den Verhandlungstisch zu setzen. Andererseits ist zu Recht betont worden, dass die Radikalität des Umdenkens von der Person Gorbačevs ebensowenig zu trennen ist wie umgekehrt der Stalinismus von Stalin [1361: B, Gorbatschow-Faktor, 514ff.]. Noch deutlicher trat dieses individuelle Moment im Herbst 1989 zutage. Der Verzicht auf den Einsatz von Gewalt, um den ,Ostblock‘ zusammenzuhalten, entsprang – zumal in einer innenpolitischen Situation, in der diese Haltung alles andere als populär war – vor allem Gorbačevs (und Ševardnadzes) Meinung, dass man ,der Geschichte‘ ihren Lauf lassen müsse und die deutsche Teilung auf Dauer ohnehin nicht aufrechtzuerhalten sei. Aus sowjetischer Sicht ergab sich das Ende des Kalten Krieges somit einerseits als Gebot einer wirklich durchgreifenden wirtschaftlichen, danach auch politischen Reform; andererseits war sie vom Denken der beiden Hauptakteure nicht zu trennen [620 : A, Imperial Overstretch, 463ff., 573 ; die Bedeutung der neuen Ideen und generell langfristiger intellektueller Wandlungsprozesse betont auch 1371: E, Russia, bes. 193ff., 229ff.; neue Übersichten: 1358 : B, End; 636 : L, W, Cambridge History of Cold War III; 1421: S, Turning Points; 1352: A, Russland 1989, 307ff.; grundlegender Quellenband zur „deutschen Frage“ 303: G, T, Michail Gorbatschow; auch 340 : T, Deutsches Tagebuch].
Neue Außenpolitik
10. Das Ende der Sowjetunion – Versuche einer Bilanz Im Rückblick nach bald einem Vierteljahrhundert lässt sich feststellen, dass der Untergang der Sowjetunion erwartungsgemäß zu einer Fülle neuer oder ergänzter Gesamtdarstellungen ihrer Geschichte geführt hat. Implizit sowie mehr und mehr auch explizit schließen sie die vorangehenden und nachfolgenden Jahrzehnte ein; in diesem Sinne kehrt die sowjetische Geschichte – zunehmend auch begrifflich – in die russische zurück [vgl. zuletzt 394: N, Träume; ferner u. a. 374 : G, Histoire; 403 : S, History; 384 : K, History; 412 : W, Histoire; 389 : MC, Rise and Fall; 377 : H,
Neue Gesamtdarstellungen
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“Utopie an der Macht“
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Geschichte; 406 : S, Normal Totalitarian Society; 380 : H, Rulers and Victims; 369 : D, Rise and Fall; für die Nachkriegszeit auch : 383: K, Last of Empires; Quellen: 16: A, S, Soviet Union; Reader und Dokumente: 407: S, Soviet Experiment]. Die meisten Autoren halten sich allerdings, oft schon aus Platzgründen, mit Deutungen zurück und konzentrieren sich auf die Schilderung der Geschehnisse und Strukturen. Erst recht sind wenig neue Interpretationen zu erkennen. Bei den früh, beinahe unmittelbar nach der Selbstauflösung am Jahresende 1991 erschienenen Werken kann dies nicht überraschen. Ihre Thesen waren immer wieder vorgetragen und, von den Ereignissen scheinbar (denn vorausgesagt hat den Zusammenbruch niemand) bestätigt, sozusagen aus der Schublade gezogen worden. Aber auch spätere Darstellungen, die schon erste Resultate freier Forschung in offenen Archiven nutzen konnten, hatten diesen, meist seit Beginn der Perestrojka angebotenen Erklärungen wenig hinzuzufügen. Dieser Befund erlaubt und erleichtert den Versuch einer kurzen Übersicht. Mit dem Originaltitel einer inzwischen älteren Gesamtdarstellung lässt sich eine Interpretationsfigur kennzeichnen, die den ersten ,sozialistischen‘ Staat der Weltgeschichte von Anfang an begleitet hat. Im Oktober 1917 kam dieser Sehweise zufolge die „Utopie an die Macht“ [376 : H, N, Geschichte]. Der Umsturz begründete eine Ideokratie, der ein unheilbarer Geburtsfehler eingepflanzt war: eine Gleichheit aller Gesellschaftsglieder zu postulieren, die nicht vorhanden war. Weil die meisten Strukturentscheidungen des neuen Regimes diesem Credo der marxistischen Ideologie folgten, zogen sie unausweichlich Zwang und Gewalt nach sich. Der Markt als Prinzip freier Konkurrenz und der Selektion durch Leistung wurde zum Inbegriff des Übels und in all seinen vielfältigen Erscheinungsformen, nicht nur in der Wirtschaft, abgeschafft. An seine Stelle trat aber keineswegs die verkündete Gleichheit, sondern eine neue Ungleichheit, die sich primär auf die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zur ideologisch privilegierten ,Klasse‘ und besonders zu deren selbst ernannter Avantgarde – der Partei – gründete. Herrschaft ,verdampfte‘ nicht in der freien Assoziation Gleicher, sondern konzentrierte sich ohne gesamtgesellschaftliche Legitimation bei der kleinen Minderheit derer, die sich im Besitz der einzig richtigen Weltanschauung glaubten und beanspruchten, über den Rest der Bevölkerung bestimmen zu können. Ideologie ersetzte Realismus, Oligarchie oder sogar die Diktatur eines Einzelnen freie Wahlen und demokratisch kontrollierte Delegation von Macht und Ämtern. Ein solches System konnte nicht stabil sein. Es beruhte, offen und massenhaft demonstriert wie unter Stalin oder verdeckt und punktuell wie danach, auf Gewalt und Unterdrückung. Folgerichtig brach es zusammen wie ein Kartenhaus, als seine physischen Zwangsmittel nicht mehr ausreichten, um die Herrschaft aufrechtzuerhalten [exemplarisch: 390 : M, Vollstreckter Wahn]. Nicht zufällig nimmt der Stalinismus in solchen ideologiezentrierten Darstellungen großen Raum ein. Sie neigen sehr dazu, die sowjetische Geschichte auf ihre erste Hälfte zu reduzieren und den Tod des Diktators nicht als tiefe Zäsur zu betrachten. Sie wollen auch eher den inhärenten Zusammenhang zwischen kommunistischer Ideologie und Massenterror aufzeigen und einen Beitrag zum
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Totalitarismusbegriff leisten [vgl. z. B. 385: K, Utopie, 271ff., sowie oben S. 124], nicht die gesamte Sowjetunion beschreiben. In ihrer Sicht dauerte das System in seinen Kernmerkmalen fort, weil es weiterhin in all seinen Aspekten dazu diente, die monopolistische Weltanschauung umzusetzen und nach Möglichkeit zu exportieren. Auch die späte Sowjetunion war ein kommunistischer Staat, der sich prinzipiell nicht von seinen frühen Jahren unterschied. Eine institutionell domestizierte Ideokratie ist in diesem Modell nicht vorgesehen. Soweit es sie gegeben hat, muss sie als temporär und moribund gelten. Demgegenüber nehmen die tatsächlichen Gesamtgeschichten der Sowjetunion ihren Anspruch ernst. Sie fahnden ebenfalls nach Zielen, Prozessen und strukturellen Tatbeständen, die ihre Existenz durchgehend geprägt haben. Dabei heben sie aber nicht in erster Linie auf die Staatsidee und den ideologischen Kern des sozialistischen ,Projekts‘ ab, sondern auf die Praxis. Sie sind weniger an ,essenzialistischen Argumenten‘ [1366: D, Causes, 279] interessiert als an der Umsetzung der hehren Ideen in die Wirklichkeit. In diesem Sinne beschreiben sie eher den „real existierenden Sozialismus“, auch sozusagen avant la lettre für die Stalinzeit und zunehmend jenseits der politischen Geschichte – die freilich nicht außen vor bleibt – unter Einbeziehung der Lebensverhältnisse und der ,materiellen Kultur‘ [so bes. 394: N, Träume]. Naturgemäß verfolgt jede Darstellung dabei ihre eigene Agenda mit entsprechenden Leitideen und thematischen Akzenten. Dennoch schälen sich einige Begriffe und die mit ihnen bezeichneten Sachverhalte heraus, die in den nicht ideologisch argumentierenden Übersichten gleichsam leitmotivisch wiederkehren und den Anspruch erheben können, zum Kern einer master narrative im Sinne einer überwiegend geteilten Gesamtdeutung zu gehören. An vorrangiger Stelle ist ein Schlüsselbegriff zu nennen, der wegen seiner normativen Implikationen seit Jahrzehnten attackiert wird, aber offenbar nicht ersetzbar ist. In der angelsächsischen Debatte hat er, wenn auch anders gewendet, sogar eine Renaissance erlebt. Gemeint ist der Begriff der Modernisierung zur Kennzeichnung analoger Wandlungsprozesse in verschiedenen Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Keine Darstellung kann darüber hinwegsehen, dass dies die ratio des Oktoberumsturzes und des gesamten bolschewistischen Projekts war: Russland in ein neues Zeitalter zu katapultieren – wirtschaftlich, sozial und kulturell. Das neue Regime setzte daher die Industrialisierung und die Öffnung der Bildungseinrichtungen als Tor zur Breitenqualifikation von Anfang an ganz oben auf seine Agenda. Stalin ergänzte sie durch die Kollektivierung des Agrarsektors und eine zentrale Kommandowirtschaft, begleitet nicht nur von Terror, sondern auch von fortgesetzter und noch beschleunigter sozialer Mobilisierung. Zugleich steht dabei längst außer Frage, dass dieses Programm ideologischen Prämissen entsprang. Industrialisierung und Modernisierung sollten auf neuem, nichtkapitalistischen Weg erfolgen, der Sprung in die moderne Welt zugleich „Aufbau des Sozialismus“ sein. Insofern lässt sich das Modernisierungskonzept sehr einfach mit dem Primat einer ideologischen Deutung verbinden. Der Marxismus in seiner leninistischen und stalinistischen Variante gab das – letztlich utopische – Ziel vor. Seine konkrete Realisierung aber lief vorerst auf einen tief in der russischen Geschichte verwurzelten Imperativ hinaus :
Modernisierungsexperiment
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Sperrige „Überreste“
Mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung
die relative Rückständigkeit im Vergleich zu den wirtschaftlich fortgeschrittenen Staaten Westeuropas (als selbstgewähltem Maßstab) abzubauen. Man mag auch diesen Begriff, der nur die Kehrseite der Modernisierung ist, scheuen, weil er dieselben Probleme mit sich bringt. Nur kommt man um ihn, wie die jüngste Darstellung gleichsam entschuldigend erläutert, nicht umhin, weil die Akteure ihr Projekt in eben derselben Weise verstanden [394: N, Träume, 24f.; Versuch einer differenzierenden Gesamtinterpretation unter diesem Leitkonzept 399 : P, Experiment Moderne]. Auch ein zweites Anliegen der Gesamtgeschichten lässt sich aus dieser Spannung zwischen Vision und Wirklichkeit begreifen. Bei allem politischen Nachdruck und trotz terroristischer Gewalt hinkte die Realität den Zielvorgaben hinterher. Überhänge russischer Vergangenheit, in welcher konkreten Gestalt auch immer, von schlechter Organisation, mangelnder Disziplin, fehlender Qualifikation bis zu neuen Formen von Vetternwirtschaft und Korruption, erwiesen sich als überaus zählebig. Die These liegt nahe, dass sie sich nicht mit Interpretationen vertragen, die von weitestgehender Kontrolle eines politischen Machtzentrums über das ganze Land ausgehen. Statt allgegenwärtiger Regulation sieht nicht nur S „Wirrwarr und große Unordnung“ [403 : History, XV] bis hin zur Mobilisierung der Macht des Faktischen und stiller Obstruktion. Was hier unter dem Eindruck einer Renaissance der Totalitarismustheorie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion formuliert wurde, gehört zu den längst akzeptierten Befunden und gilt gerade auch für die Nachkriegsjahrzehnte. Erst recht war die späte Sowjetunion war kein Staat, in dem umgesetzt wurde, was die Obrigkeit beschloss. Im Gegenteil, Probleme und Dysfunktionen gewannen Oberhand, deren die Partei am Ende nicht mehr Herr wurde. Eben sie markieren daher letztlich den Fluchtpunkt der meisten Darstellungen der Nachkriegszeit. Die Systemschwächen, die dabei besonders ins Visier geraten, sind unter den Ursachen für die Perestrojka und ihr Scheitern genannt worden. Die situationsbezogen-temporären müssen hier ohnehin nicht wiederholt werden. Es bietet sich aber an, die Kernfaktoren noch einmal hervorzuheben, die mit Blick auf die Gesamtgeschichte der Sowjetunion am ehesten als chronische und letztliche letale Defizite in Frage kommen. An erster Stelle ist sicher der Mangel an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit zu erwähnen. Trotz zahlreicher Reformen gelang es nicht, die Arbeitsproduktivität und den Wirkungsgrad der Rohstoffnutzung so zu erhöhen, dass die Verknappung der Arbeitskräftezufuhr und die chronische Kapitalknappheit bei gleichfalls anhaltend niedrigem technischen Niveau hätten kompensiert werden können. Die meisten Autoren betrachten diese Probleme als systemimmanent, nur die Wenigsten halten sie für vermeidbar. Diese elementare Schwäche unterhöhlte die innere Stabilität und äußere Machtstellung der Sowjetunion in dem Maße, wie ihr Anspruch auf eine globale Führungsrolle auch erhebliche materiell-finanzielle Lasten mit sich brachte. Der Sowjetstaat war immer weniger in der Lage, die Trophäen seines Sieges über Hitler – die Vormachtstellung in Osteuropa und die Rolle als hauptsächlicher Kontrahent der USA – zu behaupten. Angesichts dessen galt die Gefährdung durch eine „imperiale Überdehnung“ (P. R. K) gerade für ihn. Die Weltmachtrolle wurde zur „untragbaren Bürde“ (B. B). In
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diesem breiteren Sinn gilt, dass die „geringe Produktivität der Wirtschaft . . . der Hauptauslöser für Gorbačevs Reformpolitik“ war [394: N, Träume, 592] Freilich traten weitere Faktoren hinzu, ohne die ein so ungeheures Ereignis wie die Implosion einer Weltmacht nicht zu erklären ist. Fast alle Analysen vermerken, dass sich etwa parallel zum Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums der Glaubwürdigkeitsverlust des Regimes beschleunigte. Eine Delegitimierung setzte ein, die bei der Ideologie nicht Halt machte: So wie diese zum Gegenstand des Spotts wurde oder zur inhaltsleeren Schablone gerann, so avancierte der Staat zum bevorzugten Opfer allgegenwärtigen Betrugs und Entzugs. Dazu trug die zunehmende ökonomische und kommunikative Verflechtung mit der Außenwelt erheblich bei, widerlegte sie doch die Behauptungen der eigenen Obrigkeit tagtäglich. Tiefer schürfende Studien gehen noch einen Schritt weiter und schlagen vor, diese Veränderungen im Zusammenhang mit allgemeineren Prozessen zu sehen : vor allem dem Generationswechsel sowie der Erhöhung des Bildungsniveaus als Folge zunehmend komplexer Aufgaben und Verfahrensweisen in allen Bereichen von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Es war eine besser qualifizierte Generation, deren Horizont man nicht auf Fachwissen begrenzen konnte, und eine neue, nach dem Krieg sozialisierte, die dem Regime unter dem Einfluss der Kenntnis ,des Westens‘ die Loyalität aufkündigte. Die alte, stalinistische Generation dankte mit Brežnev ab [1270: B, Hohle Riese; 369: D Rise and Fall, 319ff.], die junge, nachstalinistische wollte sich weder mit dem kümmerlichen materiellen Niveau noch mit der geistigen Knebelung abfinden. Freilich brauchte sie einen Freiraum, um ihre Unzufriedenheit und alternative Optionen artikulieren zu können. Daher bedurfte es des Individuums Gorbačev, ihn zu schaffen [1366: D, Causes, 296; 1361: B, GorbatschowFaktor]. Und schließlich ist hier auch ein systemtheoretisch-funktionalistisches Argument noch einmal zu nennen, das in seiner jüngst vorgestellten „Zauberlehrlings-Variante“ das Grunddilemma – über die Argumentation von L [s. o. S. 153] hinausgehend – noch zuspitzt und auf die Perestrojka bezieht. Demnach schaufelte sich der Sowjetsozialismus durch seine Hauptleistung, das rückständige Russland bei aller Unebenheit der Entwicklung in einen modernen Industriestaat verwandelt zu haben, zugleich das eigene Grab. Er erzeugte „Notwendigkeiten und Erwartungen, materielle wie geistige, denen er nicht gerecht werden konnte, ohne seine eigenen Grundlagen zu untergraben“ [369: D, Rise and Fall, 13]. Es war dieses Dilemma, das Gorbačev erbte und nicht zu lösen vermochte, weil es systemimmanent nicht zu lösen war. Politisch brachte er weitgehende Reformen auf den Weg, ökonomisch schreckte er letztlich davor zurück. Deshalb vermochte er auch den Verfall der staatlichen Autorität nicht zu bremsen. Im Gegenteil, die Perestrojka erzeugte weitere Unsicherheit. Sie schuf dadurch – gemäß einem berühmten Gedanken von Tocqueville – jenen Zustand besonderer Verwundbarkeit im Übergang von der alten Ordnung, die nicht mehr, zu einer neuen, die noch nicht funktionierte, der schließlich zum Zusammenbruch nicht nur des Staates, sondern ebenso seiner Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung führte. Auch neutrale Beobachter konnten es nur als Ironie der Weltgeschichte empfinden, dass damit ein System unterging, das sich in seinem ideologischen Anspruch als Vollendung der Weltgeschichte verstand gegen die.
Glaubwürdigkeitsverlust des Regimes
neue Generation
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III. Quellen und Literatur 1. Quellen 1.1 Gesamt oder übergreifend 1.1.1 Statistische Werke
1: E. M. A, L. E. D, T. L. C’, Naselenie Sovetskogo Sojuza, 1921–1991, Moskva 1993. 2: R. A. C, Soviet Economic Facts, 1917–1970. London 1972. 3: R. A. L, R. H. R, The Population Redistribution in the USSR. Its Impact on Society, 1897–1977, New York 1979. 4: R. A. L, R. H. R, R. S. C, Nationality and Population Change in Russia and the USSR. An Evaluation of Census Data, 1897–1970, New York 1976. 5: F. L, The Population of the Soviet Union: History and Prospects, Genf 1946. 6: S. M, Poteri naselenija SSSR, New York 1989. 7: Narodnoe chozjajstvo SSSR za . . . god. Statističeskij ežegodnik, Moskva 1957– 1991 (jährlich). 8: Narodnoe chozjajstvo SSSR 1922–1972 gg. Jubilejnyj statističeskij ežegodnik, Moskva 1972. 9: Narodnoe chozjajstvo SSSR 1922–1982. Jubilejnyj statističeskij ežegodnik, Moskva 1982. 10: Narodnoe chozjajstvo SSSR v Velikoj Otečestvennoj Vojne 1941–1945 gg. Statističeskij sbornik, Moskva 1990. 11: Narodnoe chozjajstvo SSSR za 60 let. Jubilejnyj statističeskij ežegodnik, Moskva 1977. 12: Narodnoe chozjajstvo SSSR za 70 let. Jubilejnyj statističeskij ežegodnik, Moskva 1987. 13: Narodnoe obrazovanie v SSSR. Sbornik dokumentov 1917–1973 gg., Moskva 1974. 14 : Naselenie Rossii v XX veke. V 3-ch t. Istoričeskie očerki. Otv. red. Ju. A. Poljakov. T. 1:1900–1939. Otv. red. V. B. Žiromskaja;T. 2: 1940–1959. Otv. red. V. B. Žiromskaja; T. 3, kn. 1 : 1960–1979. Otv. red: V. B. Žiromskaja;V. A. Isupov; T. 3, kn. 2: 1980–1990 gg. Otv. red. V. B. Žiromskaja, N. A. Aralovec, Moskva 2000–2011. 15 : The Statistical Handbook of Social Indicators for the Former Soviet Union, New York 1994.
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III. Quellen und Literatur
1.1.2 Quellen allgemein
16: E. A, T. S (Hg.), The Soviet Union. A Documentary History. Vol. 1 : 1917–1940. Vol. 2: 1939–1991, Exeter 2005, 2007. 17: H. A, H. H (Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Bd. 1: Staat und Partei, Bd. 2: Wirtschaft und Gesellschaft, München 1986. 18: K. M. A (Hg.), Komintern i ideja mirovoj revoljucii. Dokumenty, Moskva 1998 19 : O. A, K. M (Hg.), Die sowjetische Bildungspolitik seit 1917. Dokumente und Texte, Heidelberg 1961. 20 : G. B (Hg.), Das Parteistatut der KPdSU 1903–1961, Köln 1965. 21: G. B, K. W, Die sowjetische Kolchosordnung (mit Dokumenten). Von den Anfängen zum 3. Musterstatut 1969, Stuttgart 1970. 22 : N. I. B, Revoljucija i kul’tura. Stat’i i vstuplenija 1923–1936 godov, Moskva 1993. 23 : N. I. B, Izbrannye proizvedenija, Moskva 1988. 24: N. I. B, Tjuremnye rukopisi v 2-ch knigach, Bd.1–2, Moskva 1996. 25: CK RKP(b) – VKP(b) i nacional’nyj vopros 1918–1945, Bd. 1–2, Moskva 2005, 2009. 26: V. D, A. B, Les documents des VČK-OGPU-NKVD sur la campagne soviétique, 1918–1937, in: CMR 35 (1994), 633–682. [erweitert s. 62 : Sovetskaja derevnja] 27: J. D (Hg.), Soviet Documents on Foreign Policy, Bd. 1–3, London u. a. 1951–1953. 28: J. D (Hg.), The Communist International 1919–1943. Documents, Bd. 1–3, London u. a. 1956–1965. 29 : Dekrety Sovetskoj vlasti, Bd. 1–14, Moskva 1957–1997. 30: Deportacii narodov SSSR, 1930-e–1950-e gody. Sost. M. N. G, A. K, Moskva 1992. 31 : Dokumenty vnešnej politiki SSSR. Bd. 1–23, Moskva 1959–98. 32: K. E (Hg.), Dokumente zur sowjetischen Literaturpolitik 1917–1932, Berlin 1972. 33: J. G, R. S (Hg.), Mass Culture in Soviet Russia. Tales, Poems, Songs, Movies, Plays, and Folklore, 1917–1953, Cambridge 1995. 34 : H. J. G (Hg.), Documents of Soviet-American Relations, Bd. 1–3, Gulf Breeze/Fl. 1998. 35: H. G, International Communism in the Era of Lenin. A Documentary History, New York 1967. 36: P. H, G. S, Die Orthodoxe Kirche in Russland. Dokumente ihrer Geschichte (860–1980), Göttingen 1988.
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1. Quellen
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37: Istorija kul’turnogo stroitel’stva v SSSR 1917–1927. Razrabotka edinoj gosudarstvennoj politiki v oblasti kul’tury. Dokumenty i materialy, sost. A. P. N, Moskva 1989. 38 : M. I (Hg.), Life Stories of Soviet Women. Hoboken 2013. 39: KPSS v rezoljucijach i rešenijach s-ezdov, konferencij i plenumov CK. Bd. 1–15, 9. Aufl. , Moskva 1983–89. 40: L. K, Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten, München 1981. 41 : L. K, Aufbewahren für alle Zeit, München 1979. 42 : L. K, Tröste meine Trauer. Autobiographie 1947–1954, München 1983. 43: V. L. K, Skauty Rossii 1909–2007. Istorija, dokumenty, svidetel’stva, vospominanija, Moskva 2008. 44: W. I. L, Werke; dt. nach der 4. russ. Ausgabe, Berlin 1955–1964 (Bde. 1–40, Reg. Bde. 1,2); Erg.bde. 1 u. 2, 1969, 1971. 45 : H.-J. L, K.-H. R (Hg.), Der Sowjetkommunismus. Dokumente. Bd. 1–2, Köln 1963–64. 46: L. T. L, O. V. N, O. V. K (Hg.), Stalin’s Letters to Molotov, 1925–1936, New Haven 1995; dt.: Stalin: Briefe an Molotow, 1925–1936. Berlin 1996 47 : H. G. L (Hg.), Quellen zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Bd. 1: 1917–1945, Darmstadt 1998; Bd. 2: 1945–1991, Darmstadt 1999. 48: Lubjanka. Organy. VČK – OGPU – NKVD – NKGB – MGB – MVD – KGB, 1917–1991. Spravočnik. Sost. A. I. Kokurin; N. V. Petrov, Moskva 2003. 49: R. H. MN (Hg.), Resolutions and Decisions of the Communist Party of the Soviet Union, Bd. 1–5, Toronto 1974–1982. 50 : B. M (Hg.), Das Parteiprogramm der KPdSU 1903–1961, 2. Aufl. , Köln 1965. 51: B. M (Hg.), Documents on Soviet Jewish Emigration. London [u. a.] 1999 52: E. M, H.-H. S (Hg.), Partei, Staat und Sovjetgesellschaft. Sozialgeschichtliche Aspekte politischer Macht. Dokumente 1917–1941, Tübingen 1993. 53: Neizvestnaja Rossija. XX vek. Archivy – Pis’ma – Memuary, Bd. 1–4, Moskva 1992–1993. 54 : A. N, Forsake Fear : Memoirs of an Historian, Boston 1991. 55: R. P (Hg.), The Unknown Lenin: From the Secret Archive, New Haven 1995. 56 : T. P (Hg.), Die Moskauer Schauprozesse 1936–1938, München 1963. 57: Politbjuro CK RKP(b) – VKP(b) povestki dlja zasedanij 1919–1952. Katalog v trech tomach. Red kol. : G. M. Adibekov; K. M. Anderson; L. A. Rogovaja T.1 : 1919–1929; T.2 : 1930–1939; T.3 : 1940–1952. Moskva 2000–2001.
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III. Quellen und Literatur
58: Političeskoe rukovodstvo Ukrainy 1938–1989. Sost. : V. Ju. Vasil’ev, Moskva 2006. 59: Russkaja pravoslavnaja cerkov’ i kommunističeskoe gosudarstvo 1917–1941. Dokumenty i fotomaterialy, Moskva 1996. 60 : R. S, The Rise and Fall of the Soviet Union, 1917–1991, London 1999. 61: Sistema ispravitel’no-trudovych lagerej v SSSR, 1923–1960: Spravočnik. Sost. M. B. S, Moskva 1998. 62: Sovetskaja derevnja glazami VČK – OGPU – NKVD. Dokumenty i materialy v 4 tomach T. 1: 1918–1922; T. 2: 1923–1929; T. 3: 1930–1934, kn. 1: 1930–1931; kn. 2: 1932–1934; T. 4: 1935–1939. Sost.: A. Berelovič, V. P. Danilov, Moskva 1998–2012. 63: J. W. S, Werke, Bd. 1–12, Berlin (Ost) 1950–54; Bd. 13 Frankfurt 1972; Bd. 14–15 Dortmund 1976–1979; Bd. 17 Hamburg 1973. 64: I. V. S, Istoričeskaja ideologija v SSSR v 1920–1950-e gody. Perepiska s istorikami, stat’i i zametki po istorii, stenogrammy vystuplenij. Sbornik dokumentov i materialov. Č. 1: 1920e–1930e gody, Sankt-Peterburg 2006. 65 : L. D. T, Schriften, Bd. 1–2, Hamburg 1988. 66 : L. T, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Berlin 1930. 67: L. T, Fragen des Alltagslebens. Die Epoche der Kulturarbeit und ihre Aufgaben, Hamburg 1923 68 : L. T, Die permanente Revolution, Frankfurt a. M. 1930 (Nd. 1969). 69 : L. D. T, Der neue Kurs, Berlin 1924 (Nd. 1972). 70 : L. T, Stalin. Eine Biographie, Bd. 1–2, Hamburg 1971. 71: L. T, Geschichte der russischen Revolution, Frankfurt 1967 (Nd. d. Ausg. Berlin 1931). 72 : L. T, Die Verratene Revolution, Zürich u. a. 1936. 73: L. T, The Trotzky Papers 1917–1922. Hg. v. J. M. Mejer, Bd. 1–2, Den Haag 1964–1974. 74 : VKP (b) Komintern i Koreja. Otv. red.: Charuki Vada, Moskva 2007. 75 : VKP (b), Komintern i Japonija. 1917–1941, Moskau 2001. 76 : R. A. W, A. G. Cummins (Hg.), Documents of Soviet History, Bd. 1–4, Gulf Breeze/Fl. 1991–1995. 1.1.3 Kongressberichte
77 : Šestoj s-ezd RSDRP (b). Avgust’ 1917 g. Protokoly, Moskva 1958. 78: Sed’moj e˙kstrennyj s-ezd RKP (b). Mart 1918 g. Stenografičeskij otčet, Moskva 1962. 79 : Vos’moj s-ezd RKb (b). Mart 1919 g. Protokoly, Moskva 1959. 80 : Devjatyj s-ezd RKP (b). Mart–Aprel’ 1920 g. Protokoly, Moskva 1959. 81 : Desjatyj s-ezd RKP (b). Mart 1921 g. Stenografičeskij otčet, Moskva 1953.
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1. Quellen
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82: Odinnadcatyj s-ezd RKP (b). Mart–Aprel’ 1922 g. Stenografičeskij otčet, Moskva 1961. 83: Dvenadcatyj s-ezd RKP (b) 17–25 aprelja 1923 g. Stenografičeskij otčet, Moskva 1968. 84: Trinadcatyj s-ezd RKP (b). Maj 1924 g. Stenografičeskij otčet, Moskva 1963. 85: XIV s-ezd vsesojuznoj Kommunističeskoj partii (b). 18–31 dekabrja 1925 g. Stenografičeskij otčet, Moskva 1926. 86: XV s-ezd VKP (b). Dekabr’ 1927 g. Stenografičeskij otčet, Moskva 1961/1962. 87 : XVI s-ezd VKP (b) [26. VI. – 13. VII. 1930]. Stenografičeskij otčet, Moskva 1930. 88 : XVII s-ezd VKP (b). 26 janvarja – 10 fevralja 1934g. Stenografičeskij otčet, Moskva 1934. 89: XVIII s-ezd VKP (b). 10–21 marta 1939 g. Stenografičeskij otčet, Moskva 1939. 90: XIX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki), in : Neue Welt 7 (1952) H. 22. 91: XX s-ezd KPSS. 14–25 fevralja 1956 g. Stenografičeskij otčet, Bd. 1–2, Moskva 1956. 92: Vneočeredenoj XXI s-ezd KPSS. 27 janv. – 3 fevr. 1959 g. Stenografičeskij otčet, Bd. 1–2, Moskva 1959. 93: XXII s-ezd KPSS. 17–31 oktjabrja 1961 g. Stenografičeskij otčet, Bd. 1–3, Moskva 1962. 94: XXIII s-ezd KPSS. 29 marta – 8 aprelja 1966 goda. Stenografičeskij otčet, Bd. 1–2, Moskva 1966. 95: XXIV s-ezd KPSS. 30 marta – 9 aprelja 1971 goda. Stenografičeskij otčet, Bd. 1–2, Moskva 1971. 96: XXV s-ezd KPSS. 24 fevralja – 5 marta 1976 goda. Stenografičeskij otčet, Bd. 1–3, Moskva 1976. 97: XXVI s-ezd KPSS. 23 fevralja – 3 marta 1981 goda. Stenografičeskij otčet, Bd. 1–3, Moskva 1981. 98: XXVII s-ezd KPSS. 25 fevralja – 6 marta 1986 goda. Stenografičeskij otčet, Bd. 1–3, Moskva 1986. 99: XXVIII s-ezd KPSS (2–13 ijulja 1990 goda). Stenografičeskij otčet, Bd. 1–2, Moskva 1991. 100: Robert H. MN (Hg.), Resolutions and Decisions of the Communist Party of the Soviet Union. Vol. 1–5, Toronto 1974–1982. 101: E. A. R (Hg.), The Soviet Communist Party in Disarray: The XXVIII Congress of the Communist Party of the Soviet Union, London 1992. 102: XIX. Unionskonferenz der KPdSU. Dokumente und Materialien. Bericht, Ansprache und Schlußwort des Generalsekretärs des ZK der KPdSU, Michail Gorbatschow. Entschließungen, Moskva 1988.
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III. Quellen und Literatur
103: P. J. R (Hg.), First Congress of People’s Deputies of the USSR, 25 May – 9 June 1989 : The Stenographic Record, Bd. 1–2, Gulf Breeze 1993. 104: Vtoroj s-ezd narodnych deputatov SSSR 12–24 dekabrja 1989 g. Stenografičeskij otčet. T. 1–6, Moskva 1990. 105: Vneočerednoj tretij s-ezd narodnych deputatov SSSR 12–15 marta 1990 g. Stenografičeskij otčet. T. 1–3, Moskva 1990. 106 : Četvertyj s-ezd narodnych deputatov SSSR. 17–27 dekabrja 1990 g. Stenografičeskij otčet. Bd. 1–4, Moskva 1991. 1.2 Einzelne Epochen 1.2.1 Revolution und Bürgerkrieg (1917–1921)
107. „Antonovščina“. Krest’janskoe vosstanie v Tambovskoj gubernii v 1920– 1921 gg. Dokumenty – materialy – vospominanija. Sost. V. P. Danilov u. a., Tambov 2007. 108: V. N. B (Hg.), Dear Comrades. Menshevik Reports on the Bolshevik Revolution and the Civil War, Stanford 1991. 109 : N. B, Ökonomik der Transformationsperiode, Reinbek 1970. 110: J. B (Hg.), Intervention, Civil War and Communism in Russia. April–December 1918. Documents and Materials, Baltimore 1936. 111: J. B, H. H. F (Hg.), The Bolshevik Revolution, 1917–1918: Documents and Materials, Stanford/Cal. 1965 (Repr. v. 1934). 112: V. P. B, A. B. M, N. A. M (Hg.), The Russian Civil War. Documents from the Soviet Archives, Basingstoke 1996. 113 : J. D, L. T (Hg.), Russia in war and revolution, 1914–1922. A Documentary History, Indianapolis 2009 ˙ 114 : Ekonomičeskie otnošenija sovetskoj Rossii s buduščimi sojuznymi respublikami. 1917–1922. Dokumenty i materialy, Moskva 1996. 115: V. P. D (Hg.), Nestor Machno. Krest’janskoe dviženie na Ukraine; 1918–1921 gg.; dokumenty i materialy, Moskva 2006. 116: Ju. G. F’ (Hg.), VČK – GPU. Dokumenty i materialy, Moskva 1995. 117: Ju. V. G’, Time of Troubles. The Diary of Jurii Vladimirovič Got’e. Moscow July 8, 1917 to July 23, 1922. Ed. and transl. by T. E, Princeton 1988. 118: M. H (Hg.), Die russische Revolution 1917. Von der Abdankung des Zaren bis zum Staatsstreich der Bolschewiki, München 1964. 119: M. J (Hg.), The Socialist-Revolutionary Party after October 1917. Documents from the P. S. R. Archives, Amsterdam 1989. 120: N. K, N. K, V. S, Voennaja istorija graždanskoj vojny v Rossii 1918–1920 godov, Moskva 2004.
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1. Quellen
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121 : Kooperativno-kolchoznoe stroitel’stvo v SSSR. 1917–1922. Dokumenty i materialy, Moskva 1991. 122: Kronštadt. Dokumenty o sobytijach v Kronštadte vesnoj 1921 g. Sost. V. P. N, A. A. K, Moskva 1997. 123: Kronštadtskaja tragedija 1921 goda. Dokumenty i materialy, Bd. 1–2, Moskva 1997. 124 : R. L (Hg.), Proletarische Kulturrevolution in Sowjetrußland (1917– 1921). Dokumente des „Proletkult“, München 1969. 125 : M. MC (Hg.), The Russian Revolution and the Soviet State, 1917– 1921. Documents, London 1975. 126: P. N. M [M], The Russian Revolution, Bd. 1–3, Gulf Breeze/Fl. 1978–1987. 127: N- [N. F. D’], Očerki našego poreformennogo obščestvennogo chozjajstva, St. Petersburg 1893. 128 : Pis’ma vo vlast’ 1917–1927. Zajavlenija, žaloby, donosy, pis’ma v gosudarstvennye struktury i bol’ševistskim voždjam. Sost. A. J. L, I. B. O, Moskva 1998. 129: W. G. R (Hg.), Bolshevik Visions. First Phase of the Cultural Revolution in Soviet Russia, 2. Aufl. , Bd. 1–2, Ann Arbor 1990. 130: Sibirskaja Vandeja. Sost V. I. Šiškin. T. I : 1919–1920; T. II : 1920–1921, Bd. 1–2, Moskva 2000. 131: N. N. S, 1917. Tagebuch der russischen Revolution. Hg. v. N. E, München 1967; russ. Original: Zapiski o revoljucii. Bd. 1–3 [in 7 Büchern], Moskva 1991–1992. 132 : Učreditel’noe sobranie. Rossija 1918 g. Stenogramma i drugie dokumenty, Moskva 1991. 133 : V. P. V, Sud’by kapitalizma v Rossii, St. Petersburg 1882. 1.2.2 Die „Neue Ökonomische Politik“ (1921–1928)
134 : Archivy Kremlja. Bd. 1 : Politbjuro i cerkov’, 1922–1925 gg., Bd. 2 : Dokumenty raznych del iz fondov APRF, GARF, RCCHIDNI, CA FSB 1922–1925. Sost. N. N. P, S. G. P, Moskva 1997–1998. 135: J. L. D’, T. S. B, Fašistskij meč kovalsja v SSSR. Krasnaja Armija i Rejchsver. Tajnoe sotrudničestvo. 1922–1933. Neizvestnye dokumenty, Moskva 1992. 136: Duch Rapallo. Sovetsko-germanskie otnošenija, 1925–1933. Sost. G. N. S’, Moskva 1997. 137 : X. J. E, R. C. N, Soviet Russia and the East 1920–1927. A Documentary Survey, Stanford 1957. 138 : Industrializacija Sovetskogo Sojuza. Novye dokumenty, novye fakty, novye podchody, Bd. 1–2, Moskva 1997.
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III. Quellen und Literatur
139: H. G, E. G, Zwischen Revolutionskunst und sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten in der Sowjetunion von 1917 bis 1934, Köln 1979. 140: Holod 1921–1923 rokiv v Ukraini. Zbornik dokumentiv i materialiv. Sost. O. M. M, Kiev 1993. 141: F. P. K, R. G. P, L. V. D (Hg.), Reichswehr und Rote Armee. Dokumente aus den Militärarchiven Deutschlands und Russlands 1925–1931, Koblenz 1995. 142: F. K, E. O (Hg.), Arbeiterdemokratie oder Parteidiktatur, Olten, Freiburg i.Br. 1967. ˙ Stenogrammy plenumov CK VKP(b) 1928–1929 gg. Red. 143: Kak lomali NEP. kol. V. P. Danilov, O. V. Chlevnjuk, A. Ju. Vatlin u. a., T. 1–5, Moskva 2000. 144: Menševistskij process, 1931 goda. Sbornik dokumentov v 2-ch knigach. Sost. A. L. Litvin, Moskva 1999. 145: S. M (Hg.), Sowjetmacht und Bauern. Dokumente zur Agrarpolitik und zur Entwicklung der Landwirtschaft während des „Kriegskommunismus“ und der Neuen Ökonomischen Politik, Berlin 1993. 146: Protokoly rukovodjaščich organov Narodnogo Komissariata po delam nacional’nostej RSFSR. 1918–1924 gg. Katalog dokumentov. Otv. sostavitel’ I. A. Zjuzina, Moskva 2001. 147: Russkie patriarchi XX veka. Sud’by otečestva i Cerkvi na stranach archivnych dokumentov. Sost. M. I. O, Bd. 1 : Delo patriarcha Tichona : krestnyj put’ patriarcha Sergija, Moskva 1999. 148 : Boris Savinkov na Lubjanke. Dokumenty. Naučn. red. A. L. Litvin, Moskva 2001 149: „Sčast’e literatury“. Gosudarstvo i pisateli 1925–1938. Dokumenty. Sost. D. L. B, Moskva 1997. 150: „Soveršenno sekretno“: Lubjanka – Stalinu o položenii v strane (1922–1934 gg.). Red. sovet G. N. Sevost’janov; Ja. F. Sacharov; Ja. F. Pogonij i.dr. T. 1 (č. 1 u. 2): 1922–1923 gg.; T. 2: 1924 g.; T. 3 (č. 1 u. 2): 1925 g.; T. 4 (č. 1 u. 2) : 1926 g.; T. 5 : 1927g.; T. 6 : 1928 g.; T. 7: 1929; T. 8 (č. 1 u. 2) : 1930; T. 9 : 1931, Moskva 2001–2013. 151: C. J. S, A. K. S, The voice of the people. Letters from the Soviet village, 1918–1932, New Haven 2012. 152: Tajny nacional’noj politiki CK RKP. Četvertoe soveščanie CK RKP s otvetstvennymi rabotnikami nacional’nych respublik i oblastej v g. Moskve 9–12 ijunja 1923 g. M. 1992. 153: U. W (Hg.), Die linke Opposition in der Sowjetunion 1923–1927, Bd. 1–4, Westberlin 1976. 1.2.3 „Revolution von oben“ (1929–1933)
154: Akademičeskoe delo 1929–1931, Bd. 1–2, St. Petersburg, Moskva 1993– 1996.
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III. Quellen und Literatur
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III. Quellen und Literatur
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III. Quellen und Literatur
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1. Quellen
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2. Literatur
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2. Literatur 2.1 Einführungen, Bibliographien, Handbücher, Lexika 345: The Blackwell Encyclopedia of the Russian Revolution, hg. v. H. S, Oxford 1988. 346 : A. B (Hg.), The Soviet Union : A Biographical Dictionary, London 1990. ˙ 347: Dejateli SSSR i revoljucionnogo dviženija Rossii. Enciklopedičeskij slovar’ Granat, Moskva 1989 [Nd. v. 1926]. 348 : M. F (Hg.), Handbuch der Sowjetverfassung, Bd. 1–2, Berlin 1983. 349: Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 3: 1856–1945, hg. v. G. S, Stuttgart 1983–1992; Bd. 5: 1945–1991: Vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Hrsg. v. Stefan P, Stuttgart 2002–2003. 350: E. H, H.-J. G, Daten der russischen Geschichte. Von den Anfängen bis 1917, München 1981 351: B. L , The Soviet Political Elite. Brief Biographies, Indices and Tables on 989 Members and Candidate Members of the CPSU Central Committee from 1912 to 1969. Together with an Overall Analysis, Bd. 1–2, München 1969. 352: M. MC, Who is who in Russia since 1900, London, New York 1997. 353: J. R. Millar (Hg.), Encyclopedia of Russian history, Bd. 1–4, New York 2004. 354: Osteuropa-Handbuch. Sowjetunion. Verträge und Abkommen, hg. v. W. M, D. G, Köln 1967. 355 : Osteuropa-Handbuch. Sowjetunion. Außenpolitik, hg. v. D. G, Bd. 1– 2 (1917–1973), Köln 1972–1973. 356: M. P, Soviet Security and Intelligence Organizations 1917–1990: A Biographical Dictionary and Review of Literature in English, New York 1992. 357: N. K. P, K. V. S (Hg.), Kto rukovodil NKVD 1934–1941. Spravočnik, Moskva 1999. 358 : Političeskie dejateli Rossii 1917. Biografičeskij slovar’, Moskva 1993. 359: Rukovoditeli Sovetskogo pravitel’stva (1923–1991). Istoriko-biografičeskaja spravka. In : Istočnik (1996), H. 4, S. 152–192. ˙ 360 : Sovetskaja Istoričeskaja Enciklopedija, Moskva 1961–1976. 361 : H.-J. T, Einführung in die Geschichte Russlands, München 1997.
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III. Quellen und Literatur
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2. Literatur
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III. Quellen und Literatur
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III. Quellen und Literatur
2.2.3 Herrschaft, Repression, Staat, Partei, Verbände, Recht
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2. Literatur
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III. Quellen und Literatur
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2. Literatur
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III. Quellen und Literatur
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Anhang Hinweise zur Datierung Die Daten werden bis zur Umstellung am 1./14. Februar 1918 nach dem bis dahin in Russland gültigen Julianischen Kalender (= alter Stil, a. St.) angegeben, der im 19. Jahrhundert zwölf, im 20. dreizehn Tage weniger als der Gregorianische (= neuer Stil, n. St.) anzeigte.
Hinweise zur Schreibweise und Aussprache: Im Deutschen bekannte Namen und Begriffe (wie z. B. Bolschewiki, Sowjet, Trotzki) werden in der assimilierten Form belassen. Im übrigen folgt die Umschrift des kyrillischen Alphabets den hierzulande üblichen, an die preußische Transskriptionsordnung angelehnten Regeln. Dabei gelten in etwa folgende lautliche Entsprechungen : š ž č šč s z c e˙ y ’ v
stimmloses sch (wie : Schaf) stimmhaftes sch (wie frz. Journal) tsch (wie : Matsch) schtsch stimmloses s (wie : naß) stimmhaftes s (wie : Käse) z (wie : Zahl) kurzes, offenes e (wie : Menge) dumpfes i Erweichung des vorangehenden Konsonanten w (wie : Waage)
Abkürzungen AHR ČK CMR (S) FzoG GG GKO Gosplan GULag
American Historical Review s. VČK Cahier du Monde Russe (et Soviétique) Forschungen zur osteuropäischen Geschichte Geschichte und Gesellschaft Staatliches Verteidigungskomitee (Gosudarstvennyj Komitet Oborony) Staatliche Planungsbehörde Haupt-Lagerverwaltung (Glavnoe upravlenie ispravnitel’nych-trudovych lagerej)
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Anhang
GUS GWU HGR IA ISSSR JGO KD KPR KPSS
Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Handbuch der Geschichte Russlands Historisches Archiv (Istoričeskij Archiv) Geschichte der UdSSR (Istorija SSSR) Jahrbücher für Geschichte Osteuropas Konstitutionelle Demokraten Kommunistische Partei Rußlands (Kommunističeskaja Partija Rossii) Kommunistische Partei der Sowjetunion (Kommunističeskaja Partija Sovetskogo Sojuza) ˙ ˙ NEP Neue Ökonomische Politik (Novaja Ekonomičeskaja politika) NNI Neue und Neueste Geschichte (Novaja i novejšaja istorija) OE Osteuropa OGPU Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung (Ob-edinennoe Gosudarstvennoe Političeskoe Upravlenie pri SNK SSSR) Ol Vaterländische Geschichte (Otečestvennaja istorija) PSR Sozialrevolutionäre Partei (Partija Socialistov-Revoljucionerov) RH Russian History RR Russian Review RSDRP Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Rossijskaja Social-Demokratičeskaja Rabočaja Partija) RSFSR Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik SNK Rat der Volkskommissare (Sovet narodnych kommissarov) SR Slavic Review SS Soviet Studies Tscheka s. VČK Allrussische Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen VČK Konterrevolution und Sabotage (Vserossijskaja črezvyčajnjaja komissija po bor’be s kontrrevoljuciej i sabotažem) VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte VI Fragen der Geschichte (Voprosy istorii) VKP (B) Allrussische Kommunistische Partei (Bolschewiki) (Vsesojuznaja Kommunističeskaja Partija (Bol’ševiki) VRK Militärisches Revolutionskomitee (Voenno-revoljucionnyj Komitet) VSWG Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
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Zeittafel
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Zeittafel
1917
1918
1919 1920 1921 1921–22 1922 1923/24 1924 1926/27 1927 1928 1929
1930 1932 1932–33 1934
2. März : Nikolaus II. dankt ab 25.–26. Oktober: Oktoberrevolution: Die Bolscheviki übernehmen die Macht Dezember: Schaffung der VČK (Außerordentliche Kommission für den Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage) 5. Januar: Die Bolschewiki lösen die Konstituierende Versammlung auf 1./14. Februar: Einführung des gregorianischen Kalenders (anstelle des julianischen) März : Beginn der alliierten Intervention Sommer : Beginn des „Kriegskommunismus“ 2.–4. März : Gründung der Kommunistischen Internationalen Winter : Sieg der Roten Armee an allen Fronten April–Oktober : Sowjetisch-Polnischer Krieg Winter : Die sowjetische Herrschaft in den drei Kaukasusrepubliken wird etabliert. Ende der alliierten Intervention März : Aufstand der Matrosen von Kronstadt Hungersnot Juni : Prozess gegen die Sozialrevolutionäre 30. Dezember: Gründung der UdSSR (Verfassung am 6.7.1923 verkündet, am 31.1.1924 ratifiziert) Trotzki und die „Linke Opposition“ unterliegen im innerparteilichen Kampf um die Nachfolge des gelähmten Lenin gegen Stalin und seine Anhänger 21. Januar : Tod Lenins auch die „Vereinigte Opposition“ Trotzkis, Zinov’evs und Kamenevs unterliegt Herbst : Beginn der „Getreidekrise“ Dezember: Der 15. Parteitag nimmt den ersten Fünfjahresplan an und schließt Trotzki und andere Führer der Opposition aus 16. Januar : Verbannung Trotzkis nach Alma Ata Mai–Juni: Erster Schauprozess gegen unschuldige Ingenieure („Šachty“-Affäre) Verurteilung Bucharins und seiner Anhänger wegen „Rechtsabweichung“ und endgültige Sicherung der alleinigen Macht für Stalin Herbst: Beginn der Zwangskollektivierung und der „Liquidierung der Kulaken als Klasse“ mehrere Schauprozesse gegen „bürgerliche Spezialisten“ Dezember : Wiedereinführung des Passzwangs im Innern und Aufhebung der Freizügigkeit Hungersnot in der Ukraine, im Nord-Kaukasus und Kazachstan Januar/Februar : 17. Parteitag („Parteitag der Sieger“)
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August : Der Schriftstellerkongress erklärt den „sozialistischen Realismus“ zur verbindlichen Norm 1. Dezember : Mord am Parteichef von Leningrad Sergej Kirov 1935 Herbst : Beginn der Stachanov-Bewegung August: Zinov’ev, Kamenev und 14 weitere prominente Parteimit1936 glieder werden in einem großen Schauprozess der „Verschwörung“ angeklagt und zum Tode verurteilt 5. Dezember : Verkündung der neuen „Stalin-Verfassung“ 1937 Januar : Zweiter großer Schauprozess: 19 Todesurteile Mai–Juni : „Säuberungen“ in der Roten Armee 1938 Dritter großer Schauprozess : 19 Todesurteile, unter anderem gegen Bucharin und Rykov 1939 März : 18. Parteitag, Stalins „Kastanien“-Rede 23. August : Hitler-Stalin-Pakt mit geheimem Zusatzabkommen 17. September: Sowjetischer Einmarsch in Ostpolen Dezember : Sowjetisch-finnischer „Winter“-Krieg (bis März 1940) 1940 April : Mord an polnischen Offizieren im Wald von Katyn’ 28. Juni: Annexion Bessarabiens und der Nordbukowina (von Rumänien) 3.–6. August : Annexion Estlands, Lettlands und Litauens 1941 22. Juni: Deutscher Überfall auf die Sowjetunion und Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges September : Beginn der Belagerung Leningrads und Fall Kievs 16. Oktober : Beginn der Evakuierung Moskaus 1943 2. Februar : Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad 28. November–1. Dezember: Zusammenkunft Roosevelts, Stalins und Churchills in Teheran 1943–44 Deportation nichtrussischer Völker (Čečenen, Ingušen, Krimtataren u. a.) nach Zentralasien 1944 27. Januar : Durchbrechung der Belagerung von Leningrad März/April u. Juni/Juli: Frühjahrs- und Sommeroffensive der Roten Armee, Rückeroberung der Ukraine und Weißrusslands 1945 4.–11. Februar: Konferenz von Jalta 8./9. Mai : Kriegsende in Europa 17. Juli–2. August: Konferenz von Potsdam 8. August : Die Sowjetunion erklärt Japan den Krieg 2. September : Kriegsende 1946 seit August: Erneute Verschärfung der ideologischen Maßregelung von Kunst und Literatur unter Ždanov 1947/48 ,Anti-Kosmopolitismus‘-Kampagne mit Verhaftungen und stark antisemitischer Stoßrichtung 24. Juni–12. Mai 1949: Blockade Berlins 1949 Spätsommer : „Leningrader Affäre“ : Verhaftung der Anhänger Ždanovs 1953 13. Januar: Verhaftung von Kreml’-Ärzten (sog. „Ärzte-Verschwörung“)
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Zeittafel
1955
1956 1957 1958 1959 1961 1962 1964 1966 1968 1972 1974 1975
1977 1979 1980 1981 1982 1984
245
5. März : Tod Stalins 26. Juni : Verhaftung Berijas, der nach einem Geheimprozess im Dezember hingerichtet wird 13. September : Wahl Chruščevs zum Ersten Sekretär der KPdSU 8. Februar: Malenkov tritt als Ministerpräsident zurück und überlässt damit Chruščev allein die Rolle des führenden Politikers; sein Nachfolger wird Bulganin 14. Mai : Gründung des Warschauer Paktes 14.–25. Februar : 20. Parteitag mit Chruščevs „Geheimrede“ November: Niederschlagung des Aufstandes in Budapest durch sowjetische Truppen Juni : Vergeblicher Versuch der Alt-Stalinisten um Molotov, Chruščev zu stürzen 4. Oktober : Erster unbemannter Weltraumflug des „Sputnik“ 27. März: Chruščev übernimmt nach dem Rücktritt Bulganins auch das Amt des Ministerpräsidenten; damit steht er im Zenit seiner Macht Januar/Februar: Verabschiedung des ersten und einzigen Siebenjahresplans der Sowjetunion auf dem 21. außerordentl. Parteitag; Ankündigung des Übergangs zum Kommunismus 17.–31. Oktober: 22. Parteitag der KPdSU; Höhepunkt der offiziellen „Entstalinisierung“ (Beschluss zur Entfernung der Mumie Stalins aus dem Mausoleum und Bestattung an der Kreml’-Mauer) 22. Oktober–2. November: Kubakrise 14.–15. Oktober: Chruščev wird gestürzt und durch Brežnev als Erster Sekretär und Kosygin als Ministerpräsident ersetzt 10.–14. Februar : Erster Dissidenten-Prozess gegen die Schriftsteller Sinjavskij und Daniel 21. August: Militärintervention in Prag und Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 3. Oktober: Besuch des Präsidenten der USA Nixon in Moskau, Abschluss des SALT I-Vertrags 13. Februar: Solschenizyn wird nach der Publikation des „Archipel Gulag“ aus der Sowjetunion ausgebürgert 1. August: Unterzeichnung der Schlussakte der KSZE durch Brežnev in Helsinki 9. Oktober: Der (neben Solschenizyn) bekannteste Regimekritiker Sacharov erhält den Friedens-Nobelpreis 7. Oktober : Inkraftsetzung einer neuen Verfassung der UdSSR 24.–27. Dezember: Einmarsch der sowjetischen Armee in Afghanistan 22. Januar : Verbannung Sacharovs nach Gor’kij (Nižnij-Novgorod) 13. Dezember : Einführung des Kriegsrechts in Polen 10.–12. November: Tod Brežnevs; Wahl des KGB-Chefs Andropov zum neuen Generalsekretär 9.–13. Februar: Tod Andropovs und Wahl Černenkos zu seinem Nachfolger
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246 1985
1986
1987 1988 1989
1990 1991
Anhang
10.–11. März : Tod Černenkos; Wahl Gorbačevs zum Generalsekretär der KPdSU 19.–21. November : Erstes Gipfeltreffen zwischen Gorbačev und dem Präsidenten der USA Reagan in Genf 25. Februar–6. März: 25. Parteitag : Kritik Gorbačevs an Brežnev und Aufruf zur Wirtschaftsreform („Beschleunigung“) 26. April : Reaktorunglück von Černobyl Oktober : Gipfeltreffen von Gorbačev und Reagan in Reykjavik Dezember : Rückkehr Sacharovs nach Moskau 11. Februar : „Weiße Flecken“-Rede Gorbačevs; Beginn der glasnost’ und faktische Aufhebung der Zensur 28. Juni–l. Juli : 19. Parteikonferenz der KPdSU; beschließt die Demokratisierung der Sowjetunion und die Einberufung eines neuartigen Volksdeputiertenkongresses März: Erste „alternative“ und freie Wahlen mit öffentlichem Wahlkampf für den Volksdeputiertenkongress 25. Mai : Der Volksdeputiertenkongress tritt zusammen 24. August: In Polen wird eine nichtkommunistische Regierung gebildet November: „Samtene“ Revolution und Ende der kommunistischen Herrschaft in der ČSSR 9. November : Fall der Berliner Mauer März–November : Unabhängigkeitserklärungen von Litauen, Estland, Lettland, der Ukraine, der RSFSR, Armeniens und Georgiens 20. Dezember: Ševardnadze tritt als Außenminister zurück Januar: Versuch der Unterdrückung der Unabhängigkeitsbewegung in Litauen. 17. März : Referendum über die nationale Einheit; anschließend Beginn der Verhandlungen über einen neuen Unionsvertrag in NovoOgarevo 12. Juni: Wahl El’cins zum ersten direkt gewählten Präsidenten der RSFSR 18.–21. August: Versuchter Staatsstreich gegen Gorbačev 7. Dezember : Beschluss über die Gründung der GUS durch die Präsidenten der RSFSR, Weißrusslands und der Ukraine 25./31. Dezember : Rücktritt Gorbačevs als Präsident und Auflösung der UdSSR
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Register Personenregister Achmatova, Anna 63 Alekseev, Michail V. 9 Andropov, Jurij V. 76, 89–91, 161 Berija, Lavrentij P. 129, 142 Bierut, Bolesław 86 Blonskij, Pavel P. 52 Brandt, Willi 88 Brežnev, Leonid 52, 71f., 75–86, 88f., 91, 106, 110, 148–150, 153, 155–159, 167 Briand, Aristide 54f. Brockdorff-Rantzau, Graf 31 Bucharin, Nikolaj 15, 22f., 25, 34, 36f., 39f., 113, 120 Budennyj, Semen M. 17 Bulganin, Nikolaj A. 59, 70f. Byrnes, James F. 67 Carter, Jimmy 89 Čchejdze, N. S. 12 Cereteli, I. G. 10 Černenko, Konstantin 90 Černov, V. M. 10f. Chruščev, Nikita S. 28, 38, 41, 53, 64, 68– 78, 81f., 84, 86f., 102, 106, 142, 147–150, 153, 156, 158 Churchill, Winston 65–67 Čičerin, Georgij V. 30f., 54 Curzon, George 65 Dani˙el, Julij 83 Denikin, Anton I. 16 Dubček, Alexander 88 Dudincev, Vladimir M. 74 Ehrenburg, Ilja 74 Eisenstein, Sergej 53 El’cin, Boris 1, 96–99, 150, 161 Ežov, Nikolaj I. 40, 44, 129 Frunze, Michail V.
17
Gomułka, Władysław 86 Gorbačev, Michajl S. 1, 74f., 78, 80, 83, 89–96, 113, 143, 145, 158, 160–163, 167 Gorki, Maxim 74 Granin, Daniil A. 74
Grečko, Andrej A. 76 Gromyko, Andrej 77, 84 Hitler, Adolf 53, 55–57, 65, 68, 127, 137– 142, 144, 166 Husák, Gustav 88 Jagoda, Genrich G. 40, 129 Jakovlev, Alexander 93 Kádár, Janosz 86 Kaganovič, Lazar M. 59, 70, 147 Kamenev, Lev B. 22f., 37, 39 Kellogg, Frank B. 54 Kerenskij, Aleksandr F. 11f., 14 Kirov, Sergej M. 38f. Kolčak, Aleksandr V. 16 Kornilov, Lavrentij G. 12 Kosygin, Aleksej N. 76–79, 81f., 91 Kutuzov, Michail I. 61 Laval, Pierre 55 Lenin, Vladimir I. 6, 12f., 15, 17, 19–24, 29f., 37, 52, 54, 60, 68f., 71, 82, 105–110, 120f., 126, 137, 147 Ligačev, Egor K. 93 Litvinov, Maksim M. 54, 56, 138 Lloyd George, David 29 L’vov, Georgij E. 9f. Malenkov, Georgij M. 59, 69f., 81, 147 Marshall, George C. 67 Martov, Ju. O. 6 Medvedev, Dmitrij A. 100 Medvedev, Roj A. 84, 145 Mikojan, Anastas I. 59, 129, 144 Miljukov, Pavel N. 9f. Mirbach, Graf 16f. Molotov, Vjačeslav M. 45, 54, 56, 59, 62, 67, 70, 129, 138–140, 144, 147 Mussolini, Benito 53 Nagy, Imre 86 Napoleon I., Kaiser von Frankreich 20, 60f. Nevskij, Alexander 61
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Register
Nikolaus II., Zar von Russland Nixon, Richard M. 88 Osinskij, N.
7
19
Peter I. (der Große), Zar von Russland 2, 121 Pjatakov, Georgij L. 39 Plechanov, Georgij V. 60 Podgornyj, Nikolaj V. 71 Preobraženskij, Evgenij A. 25 Puškin, Alexander S. 60 Putin, Vladimir V. 1, 99f. Radek, Karl 30, 39 Rathenau, Walther 30 Reagan, Ronald 89, 163 Ribbentrop, Joachim von 56 Roosevelt, Franklin D. 65f. Rykov, Aleksej I. 37, 39 Sacharov, Andrej 83f., 92 Šalamov, Varlam T. 75 Schulenburg, Graf v. d. 56, 140 Ševardnadze (Schewardnadse), Eduard A. 91, 163 Sinjavskij, Andrej 83
Skobelev, M. I. 10 Šolochov, Michail A. 74 Solschenizyn, Alexander 40, 75, 84, 131 Stachanov, A. G. 47, 119 Stalin, Josif V. 22f., 26, 31–40, 43–48, 51– 56, 60–70, 74f., 77–80, 82, 85, 101, 105, 113–117, 119–132, 135, 137–142, 144, 147, 163–165 Stolypin, Petr A. 3, 104 Stresemann, Gustav 31, 55 Suslov, Michajl A. 77 Tito, Josip 86 Tolstoj, Leo N. 61 Trotzki, Lev D. 12f., 15, 22f., 25, 39, 109, 123, 132 Truman, Harry S. 66 Tuchačevskij, Michail N. 17 Vertov, Dziga 53 Vorošilov, Kliment E. 59, 70, 144 Voznesenskij, Nikolaj A. 59, 62 Ždanov, Andrej 63, 144 Zinov’ev, Grigorij A. 22f., 39 Žukov, Georgij K. 64, 69f., 147
Autorenregister Acton, E. 164 Adomeit, H. 163 Allan, P. 160 Almond, G. A. 151 Altrichter, H. 110f., 160f., 163 Applebaum, A. 45 Arendt, H. 118 Arnold, A. 160 Ashton, S. R. 158 Atkinson, D. 104, 111 Baberowski, J. 105, 121, 124 Bacon, E. 45, 78, 80, 150, 152, 157f. Barber, J. 141 Barnes, S. A. 132 Bauman, Z. 125 Berelovič, A. 109 Bezymenskij, L. 55, 138–142 Bialer, S. 167 Binner, R. 41, 126, 129
Bisley, N. 163 Bönker, K. 105 Bonnell, V. E. 103 Bonwetsch, B. 104, 106, 126, 129, 140, 142, 166 Boterbloem, K. 129, 144 Bovykin, V. I. 105 Bowker, M. 159 Brandenberger, D. 136 Bredow, W. v. 160 Brovkin, V. 109 Brown, A. 158, 161–163, 167 Brutzkus (Bruckus), B. D. 101f. Brzezinski, Z. K. 118, 156 Bugaj, N. F. 142f. Burbank, J. 121 Carr, E. H. 113 Carrère d’Encausse, H. Černjaev, A. S. 161
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Autorenregister Chandler, A. 162 Chernyshova, N. 150, 158 Chlevnjuk, O. V. siehe Khlevniuk, O. V. Cienciala, A. M. 144 Cohen, S. F. 113, 120 Conquest, R. 40, 115f., 123f., 127, 131, 142 Conroy, M. S. 105 Corney, F. C. 108 Courtois, S. 131 Dallin, A. 162, 165, 167 Dallin, D. 45, 127 Daniels, R. V. 106, 110, 121, 152f., 164, 167 Danilov, V. P. 109, 113–115, 140 David-Fox, M. 119 Davies, R. W. 20, 35f., 47, 113f., 116, 130, 135, 141, 146 Davies, S. 124, 129 Denber, R. 162 Deutscher, I. 123 Dowler, W. 105 Dunham, V. 119 Eisfeld, A. 143 Eklof, B. 103f. Emmons, T. 105 Engelmann, R. 148 English, R. D. 163 Fabry, P. W. 140 Fainsod, M. 118 Falin, V. 139 Feinstein, C. H. 113 Ferro, M. 107 Figes, O. 108f. Filtzer, D. 119, 144 Fitzpatrick, S. 118f., 122, 133f., 146 Fleischhauer, I. 139 Fleron, F. J. 151f., 155, 157 Freeze, G. 137 Friedrich, C. J. 118 Fursenko, A. 149 Fürst, J. 144 Furtado, F. 162 Gajda, F. A. 105 Galeotti, M. 160 Galili, Z. 107 Galkin, A. 163 Garros, V. 122 Garthoff, R. L. 149 Gassenschmidt, C. 137 Gatrell, P. 103
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Gerschenkron, A. 102f., 113 Gestwa, K. 127 Getty, J. A. 40f., 128f. Geyer, D. 108 Geyer, M. 133, 146 Gleason, A. 118 Goldman, W. Z. 132 Gonov, A. M. 142 Gorlizki, Y. 145, 147 Gorodetsky, G. 139, 141 Görtemaker, M. 87 Got’e, Ju. N. 101 Graziosi, A. 115, 163 Gregory, P. R. 102f., 115, 127 Griffiths, F. 154 Grigorenko, P. 142 Gronow, J. 134 Gross, H. 105 Grossbölting, T. 148 Häfner, L. 105 Hagen, M. 105 Hagenloh, P. 126 Hahn, H. H. 148 Haimson, L. H. 103–105, 107 Halfin, I. 122 Harris, J. 124, 129 Harris, S. E. 150 Harrison, M. 20, 35, 47, 78, 80, 113, 130, 141, 149, 158 Haslam, J. 139, 158 Hatch, J. B. 109 Hausmann, G. 105 Hellbeck, J. 122 Heller, K. 124, 164 Heller, M. 108 Hessler, J. 134f. Hildermeier, M. 104f., 121f., 128, 135, 142, 163 Hoffmann, D. 119, 125, 132f., 140 Hoffmann, E. P. 151, 155 Hosking, G. 104 Hosking, G. A. 164 Hough, J. 78, 154 Hryn, H. 117 Hudson, H. D. 112 Hughes, J. 114 Hunczak, T. 110 Hunter, H. 113, 145 Ivnickij, N. A.
114f., 117
Jäckel, E. 140 Jakovlev, A. 161 Jansen, M. 129
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Register
Jones, P. 150 Junge, M. 126, 129 Kalinovsky, A. M. 160 Katzer, N. 109f. Keep, J. H. L. 164 Kenez, P. 163 Kershaw, I. 146 Khaustov, V. N. 126 Khlevniuk, O. V. 40f., 63, 124, 127, 129, 145 Kingston-Mann, E. 104 Kizevetter, A. A. 101 Knight, A. 129 Koenen, G. 125, 165 Koenker, D. 107, 109 Kondrašin, V. V. 110 König, H. 139 Korenewskaja, N. 122 Koselleck, R. 118 Kotkin, S. 122, 161 Kuromiya, H. 119, 124 Lahusen, T. 122 Lampert, N. 128 Landis, E. C. 109 Lapidus, G. W. 162 Laue, Th. v. 4, 104 Laveryčev, V. Ja. 105 Lazarev, V. 127 Lebedeva, N. 144 Leffler, M. P. 163 Leggett, G. 19 Leontowitch, V. 104 Lewin, M. 113f., 119, 146 Leyda, J. 133 Liessem, P. 105 Livšin, Ja. I. 105 Lorenz, R. 107 Lorimer, F. 130 Löwe, H.-D. 103 Löwenthal, R. 153, 157 Ludz, P. C. 157 Mace, D. E. 110 Macey, D. A. J. 104 Maier, R. 119 Male, D. J. 111 Malia, M. 108, 121, 124, 164 Mandel, D. 107 Manning, R. T. 104, 113, 115, 128 Mark, R. A. 110, 116 Martin, T. 110, 135 Materski, W. 144 Mawdsley, E. 109
McCauley, M. 162f. McDonald, T. 111 McKean, R. B. 103 McNeal, R. H. 123 Medvedev, V. A. 161 Merl, S. 35, 113–115, 119, 147, 150 Meyer, A. G. 151 Meyer, G. 155 Miljukov, P. N. 101, 108 Minc, I. I. 108 Mironov, B. N. 104 Mixter, T. 104 Montefiore, S. S. 124 Moore, B. 125 Moritsch, A. 104 Naftali, T. 149 Naimark, N. M. 117 Naumov, O. V. 129 Nekrich, A. 108, 142, 164 Nelson, K. L. 158 Nembach, E. 133 Neutatz, D. 163, 165–167 Nevežin, V. A. 141 Nicolaevsky, B. 45, 126f. Nikolaj-On (N. F. Daniel’son) Nötzold, J. 102, 104 Nove, A. 114, 144
103
Oberländer, E. 136 Olschowsky, H. 148 Orwell, G. 118 Osokina, E. A. 134 Paul, M. A. 144 Pavlov, M. Ju. 129 Pearson, R. 105 Peter, M. 160 Petrov, N. 129 Petrusha, R. 103 Philippot, R. 105 Pichoja, R. G. 150, 161 Pietrow(-Ennker), B. 139, 141 Pietsch, W. 107 Pipes, R. 108, 110 Plaggenborg, S. 121, 157, 166 Plamper, J. 124 Porter, T. E. 105 Pristajko, V. 135 Protasov, L. G. 14 Raack, R. C. 138 Rabinowitch, A. 107 Radkey, O. H. 107, 109
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Autorenregister Randall, A. E. 134 Read, C. 121 Rees, E. A. 120, 129 Retish, A. B. 109 Rigby, T. A. 152 Rittersporn, G. 128 Roberts, G. 139 Roeder, P. G. 155 Rolf, M. 133 Rosefielde, S. 131 Roselle, L. 151 Rosenberg, W. G. 107, 109, 119 Rossman, J. J. 119 Šachnazarov, G. Ch. 161 Sakwa, R. 162f. Sandle, M. 78, 80, 150, 158, 160 Šapoval, Ju. 135 Sapper, M. 160 Schapiro, L. 110 Schlögel, K. 135 Schlotter, P. 160 Schröder, H.-H. 121 Scott, J. C. 126 Scott, L. V. 149 Segbers, K. 60 Šelochaev, V. V. 105 Semirjaga, M. I. 139 Service, R. 107, 123f., 163, 166 Shearer, D. R. 119, 126 Shlapentokh, V. 164 Sidorov, A. L. 105 Siegelbaum, L. H. 119 Simon, G. 116, 162 Simon, N. 162 Škarovskij, M. V. 137 Skilling, G. 154 Skinner, K. K. 163 Slezkine, Y. 110 Slutsch, S. 55, 138 Smith, J. 110, 162 Smith, S. A. 107 Snyder, S. B. 160 Snyder, T. 116 Sokolov, A. K. 112, 161 Stableford, T. 164 Stadelmann, M. 133 Steffens, T. 103 Steinberg, M. D. 105 Stites, R. 132f. Storella, C. J. 112
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Strong, J. W. 153 Suny, R. G. 109f., 119, 164 Suworow, V. 139f. Szyrmer, J. M. 113, 145 Tarnovskij, K. N. 106 Taubman, W. 147–149 Thatcher, I. D. 157 Thurston, R. 135 Timashev, N. S. 132 Tompson, W. J. 147, 150 Tschernjaew, A. 163 Tuchtenhagen,R. 137 Tucker, R. C. 113, 120f., 123f., 138 Ueberschär, G. R. 140 Uhl, M. 149 Ulam, A. B. 123 Urban, T. 144 Viola, L. 113, 115, 119 Višlev, O. V. 140f. Volobuev, P. V. 106 Voroncov, V. P. 103 Vucinich, W. S. 105 Wade, R. A. 108 Walkin, J. 104 Ward, C. 119 Watson, D. 129 Weber, M. 104 Weiner, A. 125 Wentker, H. 148, 160 Werth, N. 131, 163 Westad, O. A. 163 Wettig, G. 149 Wheatcroft, S. G. 20, 35, 47, 113, 116, 130, 141 White, M. J. 149 White, S. 162 Wildman, A. K. 107 Wolkogonow, D. 124, 139, 142 Yurchak, A.
150, 158
Zaleski, E. 46, 144 Žiromskaja, V. B. 130 Zolotar’ov, V. 135 Zubkova, E. 144
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Register
Orts- und Sachregister 9+1-Gespräche 95 500-Tage-Plan 94 ABM-Vertrag siehe Abrüstung Abrüstung 88f., 163 Afghanistan 29, 54, 84f., 89, 159f. Afghanistankrieg 84f., 159 Agrarreform 7 Allunions-Exekutivkomitee 21 Anti-Hitler-Koalition 65 Aprilthesen (Lenin) 13 Arbeiteropposition siehe Opposition Arbeiterschaft 3f., 6–9, 11f., 18, 27, 33, 50, 103f., 107, 109, 119, 121, 144 Arbeiter- und Soldatenrat 9 Arbeitslager 40, 62, 75 Armee – alte 8–11, 15 – Rote 16f., 31, 43, 58f., 64, 68, 70, 76, 107, 109, 140f., 147, 156, 163 Armenien 21, 95 Ärzteverschwörung (1952) 62 Atombombe 66, 68 Aufrüstung 47, 141 Augustputsch (1991) siehe Putsch/gegen Gorbačev (1991) Autokratie 5f. Azerbejdschan 21 Bauern 3, 11, 18, 24–26, 33, 48, 50, 81, 111, 114, 131 Belgrad 86 Berlin 2, 30, 55, 58, 68, 86–88, 148f. Berliner Mauer 86f., 149 Bessarabien 17, 138 Bildungswesen 28 Bolschewiki (Mehrheitler) 6, 9, 12–19, 25, 29, 33, 38, 103, 108 Brest-Litovsk 15 Brest-Litovsk, Frieden von 15, 110 Brežnev-Doktrin 85 Budapest 74, 86, 148 Bulgarien 67 Bundesrepublik Deutschland 68, 87f., 143, 149, 159 Bürgerkrieg 1, 16–19, 108–110 China
87, 158
Demographie 3, 20, 58, 116, 130 Demokratie/Demokratisierung 9, 11f., 14f., 19, 38, 91, 93, 100, 104, 110, 125, 161
Demokratische Zentralisten siehe Opposition Deportationen 37, 40, 42, 61, 126, 142f. Deutsche Demokratische Republik 68, 86–88, 138, 148, 160 Deutschland 1–3, 13, 28, 30f., 45, 54– 56, 66–68, 137f., 145, siehe auch Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik Dezentralisierung (unter Chruščev) 73 Dissidenten 75, 83f. Doppelherrschaft 9, 97 Doppelspitze 76 Dritte Welt 67 Einmannleitung 19, 111 Einparteienherrschaft 18, 32, 153, 162 Emigration 20, 84 England siehe Großbritannien Entspannungspolitik 75, 80, 86, 88f., 92, 149, 159, 163 Entstalinisierung 70f., 73, 75, 78, 86, 147, 150 Erklärung der 46 22 Erklärung der 84 23 Estland 54 Eurokommunismus siehe Reformkommunismus („Eurokommunismus“) Familienpolitik 52 Februarregime 8, 10 Finnland 12, 17, 54, 138 Fraktionsverbot 111 Frankreich 10f., 16, 28, 30f., 54–56, 65, 138 Frauen 8, 27f., 79 Friedliche Koexistenz 83, 86 Fünfjahrespläne – dritter Fünfjahresplan 46, 48 – erster Fünfjahresplan 26, 32f., 48 – neunter Fünfjahresplan (1971-1975) 80 – sechster Fünfjahresplan (1956-1960) 73 – siebter Fünfjahresplan (1961-1965) (Siebenjahresplan 1959-1965) 73 – zehnter Fünfjahresplan (1976-1980) 78 – zweiter Fünfjahresplan 46, 48 Funktionäre 64, 73, 76, 83, 134, 167, siehe auch Nomenklatura, vydvižency (Aufsteiger) Geheimpolizei (ČK, OGPU, NKVD, KGB, MGB) 19, 23, 39, 42, 89, 118, 126
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Orts- und Sachregister Geheimrede Chruščevs 38, 53, 70 Generalsekretär 43, 76, 80 Genf 92 Genua 30 Georgien 21, 42, 95, 110 Getreidekrise (1927/28) 26, 34, 112 Gewerkschaften 6 Gipfeltreffen – von Genf (1985) 92 – von Reykjavik (1986) 92 glasnost’ 92, 160–162, 167, siehe auch Perestrojka Gor’kij siehe Nižnij Novgorod Gosplan 26, 73 Griechenland 67 Großbritannien 2, 10, 16, 28–30, 54–56, 138 Großer Vaterländischer Krieg siehe Weltkrieg/Zweiter Weltkrieg GULag siehe Arbeitslager GUS (Gemeinschaft unabhäniger Staaten) 96 Helsinki 84, 86, 88, 159f. Helsinki, Konferenz von (1975) Herrschaft der Sekretäre 76 Hitler-Stalin-Pakt 56, 137 Hochschulen 28, 51 Hungersnot – von 1891/92 6 – von 1921/22 20 – von 1932-1934 35
84, 88
Ideologie 1, 28, 32, 63f., 67, 73, 101, 111, 115, 122 Industrie/Industrialisierung 2–5, 7f., 19, 22, 25, 32f., 36, 45–48, 50, 59f., 63f., 68, 71–73, 79, 81f., 98, 102f., 105, 112–115, 117, 119f., 125, 134f., 141, 145, 153, 156, 165, 167 Intelligenz 4, 6, 28, 51, 82, 160 Iran 29, 54, 159 Irkutsk 16 Italien 45, 55, 65 Jalta 66 Jalta, Konferenz von (Februar 1945) Jugoslawien 67 Juli-Offensive 1917 11, 107
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Katyn’ 143f. Kazachstan 42, 59, 70, 72, 116, 130 KGB siehe Geheimpolizei Kiew 2, 57 Kirche 27, 52, 136 Kirgistan 21 Kirov-Affäre 38 Koalitionsregierung, erste 10 Kolchosen 34f., 49, 60, 63f. Kollektivierung 33–38, 41, 48–50, 68, 72, 114f., 131, 145 Komintern 30f. Komsomol 37 Konstantinopel 10 Konstituierende Versammlung 11, 14f., 97, 135 Korea 68, 71 korenizacija 61 Kornilov-Putsch 12 KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) 53, 69, 71, 78, 90f., 135 Kriegspropaganda 60 Kriegswirtschaft 46 Kronstadt 20, 29 Kronstadt, Aufstand von 20 KSZE-Schlussakte (1975 in Helsinki) 84, 86, 160 Kuba 71, 86–88, 148f. Kuba-Krise 71, 86f., 148f. Kulaken 18, 34f., 40, 114, 126, siehe auch Kollektivierung Kultur 14, 27, 50, 52, 60f., 73, 81–83, 95, 119, 121, 126, 132f., 145, 157, 165 Kunst 27f., 52f. Kursk 58, 65, 143 Landwirtschaft 60, 63, 72, 79 lend-lease-Abkommen 65 Leningrad (St. Petersburg, Petrograd) 8f., 12–14, 38, 57f., 63, 107, 144 Leningrad, Blockade von 57 Leningrader Affäre 62 Lettland 54, 95 Liberalisierung (wirtschaftliche) 92, 98 Litauen 56, 95 Literaturpolitik 53 Locarno, Verträge von (1925) 31
65
Kadetten (Konstitutionelle Demokraten) 6, 14 Kalter Krieg 57, 63, 66, 85, 88, 92, 158, 163
Magnitogorsk 33, 46, 50, 127 Marxismus-Leninismus siehe Ideologie Medien 74 Meinungsfreiheit/Pressefreiheit siehe Demokratie/Demokratisierung Menschenrechte 84, 89, 159, siehe auch Helsinki, Konferenz von (1975)
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Register
Menschewiki 6, 10, 13f., 17, 107, 109 Militärisches Revolutionskomitee (VRK) 13 Minderheitenpolitik siehe Nationalitäten Minsk 57, 67, 96 Moskau 2, 15, 17, 27, 31, 55–57, 60, 65, 70, 72, 87f., 90, 92, 98, 137, 140 Moskauer Vertrag (1970) 88 Münchner Abkommen (1938) 54 Murmansk 29 Nationalitätenpolitik 17, 21, 38, 42, 45, 61, 93, 95, 110, 135f., 142 Nationalitätenrat 21 Nationalsozialismus 1, 39, 45, 54f., 117, 120, siehe auch Zweiter Weltkrieg ˙ Neue Ökonomische Politik (NEP) 20, 23–27, 52, 92, 111–114, 117 Neulandprogramm 70 Nižnij Novgorod 33, 84, 92 NKVD siehe Geheimpolizei (ČK, OGPU, NKVD, KGB, MGB) Nomenklatura 64, 76, 78, 83, 145 Oberster Volkswirtschaftsrat (VSNCh) 19 Oder-Neiße-Linie 66 OGPU siehe Geheimpolizei (ČK, OGPU, NKVD, KGB, MGB) Oktoberrevolution siehe Revolution/Oktoberrevolution Opferzahlen siehe Terror/Opferzahlen Opposition 5f., 10, 19, 22f., 25f., 30, 36f., 71, 74, 83, 89, 110f., 114, 122, 126, 160 Orel 16, 58 Ostblock 57, 67, 97, 160 Ostpolitik 88, 159 Parteiapparate 64, 119, 134, 144, 151, 156 Parteitage – 10. Parteitag (1921) 20, 23 – 12. Parteitag (1923) 22 – 14. Parteitag (1925) 26 – 15. Parteitag (1927) 23, 26 – 17. Parteitag („Parteitag der Sieger“, 1934) 37, 117 – 18. Parteitag (1939) 39 – 19. Parteitag (1952) 147 – 20. Parteitag (1956) 53 – 22. Parteitag (1961) 71 – 24. Parteitag (1971) 80 – 27. Parteitag (1986) 91 Perestrojka 82, 91, 93f., 96, 110, 130, 142, 151, 160f., 166 Permanente Revolution 22 Persien siehe Iran
Personenkult 53, 61, 74, 85, 147 Petrograd siehe Leningrad (St. Petersburg, Petrograd) Planwirtschaft 32, 47, 54, 64, 79, 83, 93, 145, 158, siehe auch Fünfjahrespläne Polen 17, 28, 31, 42, 54–57, 65f., 86, 88, 101, 137f., 144 Politbüro 37, 39, 42, 69, 77, 89, 129 Potsdam 66, 159 Potsdamer Konferenz (Juli 1945) 66 Prager Frühling 88 Präsidentenamt 1, 94 Privatisierung 94, 98, siehe auch Liberalisierung (wirtschaftliche) Propaganda 53, 60f., 85, 136 Provisorische Regierung 8f. Provisorisches Exekutivkomitee des Arbeiterdeputiertenrates 9 Pskov 14 Putsch – gegen Chruščev (1964) 72, 75f. – gegen Gorbačev (1991) 91, 96, 162 Rapallo 30f., 54, 137f. Rat der Volkskommissare 13 Real existierender Sozialismus (entwickelter Sozialismus) 76, 83, 86, 150, 157, 165 Reformen – 1953-1964 68–75 – Große Reformen 2 – unter Gorbačev siehe Perestrojka Reformkommunismus („Eurokommunismus“) 83 Religion siehe Kirche Revolution 101 – Februarrevolution 8f., 11, 106 – Oktoberrevolution 13, 106 – Stalin’sche „Revolution von oben“ 32, 36, 78 – von 1905/06 4, 6 Reykjavik 92 Rostov am Don 57f. RSFSR (Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik) 1, 21, 30, 95 Rumänien 67 SALT-Vertrag siehe Abrüstung Samara 16 Samizdat (Selbstverlag) 84 Satellitenstaaten 84, 88, 160 Säuberungen 38, 43, 125, 128, 144, siehe auch Terror Schauprozesse 37, 39, 42f., 83, 123, 145 Scherenkrise 25, 27
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Orts- und Sachregister Schul- und Bildungswesen siehe Bildungswesen Seeblockade 87, siehe auch Kuba-Krise Sibirien 20, 59, 72, 88, 95 Siebenjahresplan siehe Fünfjahrespläne/siebter Fünfjahresplan (1961-1965) (Siebenjahresplan 1959-1965) Siegermächte 66, 88 Smolensk 57 SNK siehe Rat der Volkskommissare Solidarność 84, 86 Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 68 Sowjets (Räte) 9f., 38, 93 Sozialdemokratie 4, 6 Sozialismus in einem Land 22 Sozialistischer Realismus 53 Sozialrevolutionäre Partei Russlands (PSR) 4, 6, 14 Sputnik 87 St. Petersburg 2, 8, siehe auch Leningrad (St. Petersburg, Petrograd) Staatliches Verteidigungskomitee (GKO) 59 Stachanov-Kampagne 47 Stalingrad 33, 46, 57f., 65 Stalinismus 21, 23, 32, 39–41, 50, 53f., 62, 65, 68f., 71, 73, 75, 81, 110, 112, 117, 119–139, 142, 144–146, 163f. Stalinistische Elite siehe vydvižency Stalinkult siehe Personenkult Stolypin’sche Refomen 3, 7 Stoßarbeit siehe Stachanov-Kampagne Tadschikistan 21 Tauwetter 73–75, 106 Teheran 65 Terror 19, 37, 40, 42–44, 46, 51, 53, 61, 63f., 74, 77, 101, 109, 117, 119f., 122, 124f., 127–129, 131f., 135f., 141, 145f., 165 Troika 22 Tschechoslowakei (ČSR, ČSSR) 67, 85 Tscheka (korrekt: VČK) 39, 111 Tscheka (korrekt: VČK) 19 Tschetschenien 99 Türkei 54, 87, 149 Turkmenistan 21
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Ufa 16 Ukraine 1, 15–17, 34f., 42, 60, 69, 96, 110, 115f., 135 Ungarn 67, 85f. Union der sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) 17, 21 Unionsrat 21 Ural 59, 95, 127 USA 1–3, 28, 84, 149, 159, 166 Usbekistan 21 Verbannungen siehe Deportationen Vereinigte Staaten von Amerika siehe Außenpolitik, Kalter Krieg Verfassung von 1906 6 Verfassungen der UdSSR – Verfassung von 1922 21 – Verfassung von 1936 38 – Verfassung von 1993 97 Versailles, Vertrag von 30f. Volksdeputiertenkongress 93–95, 97, 161f. Volkskommissariat des Innern (NKVD) 39, 43f., siehe auch Geheimpolizei (ČK, OGPU, NKVD, KGB, MGB) Vorkriegsstalinismus 32–56 VRK siehe Militärisches Revolutionskomitee (VRK) VSNCh siehe Oberster Volkswirtschaftsrat (VSNCh) vydvižency (Aufsteiger) 51 Wahlen 14, 77, 93f., 97–99 Warschau 58, 74, 86, 148 Warschauer Pakt 86 Washington 88 Wasserstoffbombe 83 Weißrussland 42 Weltkrieg – Erster Weltkrieg 7 – Zweiter Weltkrieg 57–61, 140–146 Wiederaufbau 62–65 Wiedervereinigung, deutsche 88 Wirtschaftskrisen 1923 25 Wunder an der Weichsel 17 Ždanovscina
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OLDENBOURG GRUNDRISS DER GESCHICHTE Herausgegeben von Lothar Gall, Karl-Joachim Hölkeskamp und Steffen Patzold
Band 1a: Wolfgang Schuller Griechische Geschichte 6., akt. Aufl. 2008. 275 S., 4 Karten ISBN 978-3-486-58715-9 Band 1b: Hans-Joachim Gehrke Geschichte des Hellenismus 4. durchges. Aufl. 2008. 328 S. ISBN 978-3-486-58785-2 Band 2: Jochen Bleicken Geschichte der Römischen Republik 6. Aufl. 2004. 342 S. ISBN 978-3-486-49666-6 Band 3: Werner Dahlheim Geschichte der Römischen Kaiserzeit 3., überarb. und erw. Aufl. 2003. 452 S., 3 Karten ISBN 978-3-486-49673-4 Band 4: Jochen Martin Spätantike und Völkerwanderung 4. Aufl. 2001. 336 S. ISBN 978-3-486-49684-0 Band 5: Reinhard Schneider Das Frankenreich 4., überarb. und erw. Aufl. 2001. 224 S., 2 Karten ISBN 978-3-486-49694-9
Band 8: Ulf Dirlmeier/Gerhard Fouquet/ Bernd Fuhrmann Europa im Spätmittelalter 1215–1378 2. Aufl. 2009. 390 S. ISBN 978-3-486-58796-8 Band 9: Erich Meuthen Das 15. Jahrhundert 4. Aufl., überarb. v. Claudia Märtl 2006. 343 S. ISBN 978-3-486-49734-2 Band 10: Heinrich Lutz Reformation und Gegenreformation 5. Aufl., durchges. und erg. v. Alfred Kohler 2002. 283 S. ISBN 978-3-486-48585-2 Band 11: Heinz Duchhardt / Matthias Schnettger Barock und Aufklärung 5., überarb. u. akt.. Aufl. des Bandes „Das Zeitalter des Absolutismus“ 2015. 302 S. ISBN 978-3-486-76730-8 Band 12: Elisabeth Fehrenbach Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß 5. Aufl. 2008. 323 S., 1 Karte ISBN 978-3-486-58587-2
Band 6: Johannes Fried Die Formierung Europas 840–1046 3., überarb. Aufl. 2008. 359 S. ISBN 978-3-486-49703-8
Band 13: Dieter Langewiesche Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849 5. Aufl. 2007. 261 S., 4 Karten. ISBN 978-3-486-49734-2
Band 7: Hermann Jakobs Kirchenreform und Hochmittelalter 1046–1215 4. Aufl. 1999. 380 S. ISBN 978-3-486-49714-4
Band 14: Lothar Gall Europa auf dem Weg in die Moderne 1850–1890 5. Aufl. 2009. 332 S., 4 Karten ISBN 978-3-486-58718-0
Band 15: Gregor Schöllgen/Friedrich Kießling Das Zeitalter des Imperialismus 5., überarb. u. erw. Aufl. 2009. 326 S. ISBN 978-3-486-58868-2
Band 23: Hanns J. Prem Geschichte Altamerikas 2., völlig überarb. Aufl. 2008. 386 S., 5 Karten ISBN 978-3-486-53032-2
Band 16: Eberhard Kolb/Dirk Schumann Die Weimarer Republik 8., aktualis. u. erw. Aufl. 2012. 349 S., 1 Karte ISBN 978-3-486-71267-4
Band 24: Tilman Nagel Die islamische Welt bis 1500 1998. 312 S. ISBN 978-3-486-53011-7
Band 17: Klaus Hildebrand Das Dritte Reich 7., durchges. Aufl. 2009. 474 S., 1 Karte ISBN 978-3-486-59200-9
Band 25: Hans J. Nissen Geschichte Alt-Vorderasiens 2., überarb. u. erw. Aufl. 2012. 309 S., 4 Karten ISBN 978-3-486-59223-8
Band 18: Jost Dülffer Europa im Ost-West-Konflikt 1945–1991 2004. 304 S., 2 Karten ISBN 978-3-486-49105-0
Band 26: Helwig Schmidt-Glintzer Geschichte Chinas bis zur mongolischen Eroberung 250 v. Chr.–1279 n. Chr. 1999. 235 S., 7 Karten ISBN 978-3-486-56402-0
Band 19: Rudolf Morsey Die Bundesrepublik Deutschland Entstehung und Entwicklung bis 1969 5., durchges. Aufl. 2007. 343 S. ISBN 978-3-486-58319-9
Band 27: Leonhard Harding Geschichte Afrikas im 19. und 20. Jahrhundert 2., durchges. Aufl. 2006. 272 S., 4 Karten ISBN 978-3-486-57746-4
Band 19a: Andreas Rödder Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990 2003. 330 S., 2 Karten ISBN 978-3-486-56697-0
Band 28: Willi Paul Adams Die USA vor 1900 2. Aufl. 2009. 294 S. ISBN 978-3-486-58940-5
Band 20: Hermann Weber Die DDR 1945–1990 5., aktual. Aufl. 2011. 384 S. ISBN 978-3-486-70440-2
Band 29: Willi Paul Adams Die USA im 20. Jahrhundert 2. Aufl., aktual. u. erg. v. Manfred Berg 2008. 302 S. ISBN 978-3-486-56466-0
Band 21: Horst Möller Europa zwischen den Weltkriegen 1998. 278 S. ISBN 978-3-486-52321-8
Band 30: Klaus Kreiser Der Osmanische Staat 1300–1922 2., aktual. Aufl. 2008. 262 S., 4 Karten ISBN 978-3-486-58588-9
Band 22: Peter Schreiner Byzanz 4., aktual. Aufl. 2011. 340 S., 2 Karten ISBN 978-3-486-70271-2
Band 31: Manfred Hildermeier Die Sowjetunion 1917–1991 3. überarb. und akt. Aufl. 2016. 255 S. ISBN 978-3-486-71848-5
Band 32: Peter Wende Großbritannien 1500–2000 2001. 234 S., 1 Karte ISBN 978-3-486-56180-7 Band 33: Christoph Schmidt Russische Geschichte 1547–1917 2. Aufl. 2009. 261 S., 1 Karte ISBN 978-3-486-58721-0 Band 34: Hermann Kulke Indische Geschichte bis 1750 2005. 275 S., 12 Karten ISBN 978-3-486-55741-1 Band 35: Sabine Dabringhaus Geschichte Chinas 1279–1949 3. akt. und überarb. Aufl. 2015. 323 S. ISBN 978-3-486-78112-0 Band 36: Gerhard Krebs Das moderne Japan 1868–1952 2009. 249 S. ISBN 978-3-486-55894-4 Band 37: Manfred Clauss Geschichte des alten Israel 2009. 259 S., 6 Karten ISBN 978-3-486-55927-9
Band 38: Joachim von Puttkamer Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert 2010. 353 S., 4 Karten ISBN 978-3-486-58169-0 Band 39: Alfred Kohler Von der Reformation zum Westfälischen Frieden 2011. 253 S. ISBN 978-3-486-59803-2 Band 40: Jürgen Lütt Das moderne Indien 1498 bis 2004 2012. 272 S., 3 Karten ISBN 978-3-486-58161-4 Band 41: Andreas Fahrmeir Europa zwischen Restauration, Reform und Revolution 1815–1850 2012. 228 S. ISBN 978-3-486-70939-1 Band 42: Manfred Berg Geschichte der USA 2013. 233 S. ISBN 978-3-486-70482-2