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German Pages 262 Year 2011
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1182
Die Schuldenbremse im Grundgesetz Untersuchung zur nachhaltigen Begrenzung der Staatsverschuldung unter polit-ökonomischen und bundesstaatlichen Gesichtspunkten
Von Christoph Ryczewski
Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTOPH RYCZEWSKI
Die Schuldenbremse im Grundgesetz
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1182
Die Schuldenbremse im Grundgesetz Untersuchung zur nachhaltigen Begrenzung der Staatsverschuldung unter polit-ökonomischen und bundesstaatlichen Gesichtspunkten
Von Christoph Ryczewski
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2010 als Dissertation angenommen.
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2010 von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Schrifttum konnten noch bis Dezember 2010 berücksichtigt werden. Ganz besonders herzlich danke ich meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. Ulrich Battis, für die hervorragende Betreuung der Arbeit. Von Beginn an hatte er immer ein offenes Ohr für Fragen, unterstützte mich mit konstruktiven Anregungen und ließ mir den notwendigen akademischen Freiraum. Schon viel früher begeisterte er mich in seinen Vorlesungen durch seine wissenschaftlichen Darbietungen mit einzigartiger Lebendigkeit für das Öffentliche Recht. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl spürte ich das in mich gesetzte Vertrauen und ließ mich gerne von seinem Erfahrungsschatz ebenso wie von seiner Methodik inspirieren. Herrn Prof. Dr. Gunnar Folke Schuppert danke ich für die freundliche Bereitschaft zur Übernahme des Zweitgutachtens, dabei insbesondere für seine Zügigkeit. Dies war mir besonders wichtig, weil die Arbeit als Beitrag zur aktuellen juristischen wie politischen Diskussion zeitnah veröffentlicht werden sollte. Herrn Prof. Dr. Hans Meyer, meinen Freunden Carsten Philipp König und Christoph Otto sowie meinen Kollegen vom Lehrstuhl danke ich für anregende Diskussionen und kritische Nachfragen. Indem Herr SenD Dr. Joachim Vetter die „Schuldenbremse“ zum Prüfungsgegenstand des Ersten Staatsexamens machte, förderte er mein Interesse an einer juristischen Betrachtung der Staatsverschuldung und trug so unbeabsichtigt zur Themenfindung bei – auch ihm sei hierfür herzlich gedankt. Der Konrad-Redeker-Stiftung, insbesondere Herrn Prof. Dr. Konrad Redeker sowie Herrn Dr. Peter-Andreas Brand, danke ich für das entgegengebrachte Interesse an meiner Arbeit sowie für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Schließlich danke ich meiner Familie für die fortwährende Unterstützung in den Jahren meines schulischen und universitären Werdegangs. Meine Eltern haben mich in Gesprächen zum Denken angeregt und meine Streitkul-
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Vorwort
tur geprägt. Stets haben sie an mich geglaubt und mich mit großzügigem Erfahrungsspielraum eigene Wege finden lassen. Konkret danke ich meiner Mutter auch für das Korrekturlesen der vorliegenden Arbeit. Berlin, im Dezember 2010
Christoph Ryczewski
Inhaltsübersicht A. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Gang und Eingrenzung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Ursachen für Staatsverschuldung: Analyse anhand der bisherigen Schuldenregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bisherige Verschuldungsregeln auf Bundesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verschuldung auf Landesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Verschuldungsgrenzen aus dem Demokratieprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Europarechtliche Verschuldungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Polit-ökonomische und sonstige Ursachen für hohe Verschuldungsneigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse in Thesen . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Ausgestaltung der „Schuldenbremse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Rechtmäßigkeit der Umsetzung im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zweckmäßigkeit der getroffenen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139 139 143 168
26 26 75 80 83
E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 II. Verbesserung der Justiziabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 F. Regelungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Artikel 109 des Grundgesetzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Artikel 115 des Grundgesetzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Artikel 93 des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Notwendige Folgeänderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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G. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Inhaltsverzeichnis A. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17
B. Gang und Eingrenzung der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Ursachen für Staatsverschuldung: Analyse anhand der bisherigen Schuldenregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Bisherige Verschuldungsregeln auf Bundesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Regelungskonzept der Art. 109, 115 GG a. F. . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das dreistufige System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konjunkturelle und strukturelle Verschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Investitionsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das weite Verständnis des Investitionsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Staatspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zur Kritik durch die Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Brutto-Berechnung der Investitionen . . . . . . . . . . . . . (2) Darlehen und Gewährleistungen als Investitionen. . . . . . cc) Verfassungswidrigkeit der Staatspraxis?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kritik am Investitionsbegriff als Regelungskonzept . . . . . . . . . . . . aa) „Pay as you use“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kreditaufnahme für Konsumzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mangelnde Operationalität bei geringer Kontrolldichte . . . . . . . . . aa) Der unbestimmte Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Unbestimmtheit der Teilziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Verhältnis der Teilziele zueinander. . . . . . . . . . . . . . . (3) Keine Obergrenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis: Keine klare Handlungsanweisung an Normadressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Justiziabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ansatz Birks: Finanzwirtschaftliches Übermaßverbot . . (2) BVerfG: Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum. . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nichteinhaltung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ökonomisches Konzept veraltet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26 26 27 27 28 30 30 30 31 31 33 34 38 38 40 40 41 41 44 44 45 48 48 49 49 50 50 52 53 59 59
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Inhaltsverzeichnis
II.
III. IV.
V.
4. Sondervermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 a) Entstehung der Sondervermögen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 b) Vom Sondervermögen zum „Sonderschuldenstand“. . . . . . . . . . . . . 62 c) Folgen und wirtschaftliche Bedeutung der Sondervermögen . . . . . 64 d) Die Eingliederung der Sondervermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 5. Der asymmetrische Haushaltsvollzug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 6. Keine Rückführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 7. Mängel im Sanktionssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 a) Mangelnde „Wiedergutmachung“ durch Sanktionen . . . . . . . . . . . . 70 b) Die „Individualrechtsblindheit“ des Art. 115 GG a. F. . . . . . . . . . . 71 aa) Die Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 bb) Die abstrakte Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 cc) Der Organstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 8. Ergebnis: Steuerungsschwäche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Verschuldung auf Landesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Die Verschuldungsgrenzen auf Landesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 2. Die unterschiedliche Verschuldungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Verschuldungsgrenzen aus dem Demokratieprinzip? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Europarechtliche Verschuldungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Verhältnis zwischen Europarecht und grundgesetzlicher Schuldenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Die Haushaltskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3. Ausnahmen von den Haushaltskriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) Erheblicher und laufender Rückgang des Defizits . . . . . . . . . . . . . . 88 b) Ausnahmsweise und vorübergehende Überschreitung des Defizits . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 c) Ausnahme vom Schuldenstandskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4. Das Defizitverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 5. Die Sanktionsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 a) Die Empfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 b) Die Veröffentlichung der Empfehlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 c) Die Abmahnung des Mitgliedsstaats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 d) Sanktionsmaßnahmen im engeren Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 e) Die Wirkung der Sanktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 f) Ausblick: Durchsetzungskraft erfordert Glaubwürdigkeit . . . . . . . . 100 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Polit-ökonomische und sonstige Ursachen für hohe Verschuldungsneigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Inhaltsverzeichnis
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1. Die Ausgabenfixierung der Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Interessen der politischen Entscheidungsträger. . . . . . . . . . . . . . . . a) Wichtigstes Interesse: Wiederwahl sichern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Lockerung der Budgetrestriktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Unmerklichkeit der Kreditaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Konfliktverlagerung in die Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der „Stellungskrieg“ um die Fachinteressen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Budgetdefizit als Folge des Koalitionsdilemmas. . . . . . . bb) Die politische Bindung der Regierungsnachfolger . . . . . . . . . c) Kritik am Modell der Stimmenmaximierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung und Schlussfolgerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Interessen der Wähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anspruchsdenken seitens der Wähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entkopplung von Zahlern und Nutzern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zeithorizont. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Ungleicher Steuerbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Fiskalillusion/niedriges Informationsniveau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Wähler als Profiteure von Staatsanleihen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Prinzipal-Agent-Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Fehlanreize durch bündische Einstandspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Fehlende Steuerautonomie der Bundesländer oder mangelnde Systemkonformität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse in Thesen . . . . . . . . . . . . . . .
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Ausgestaltung der „Schuldenbremse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Regelung für den Bund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konjunkturelle Verschuldungskomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Strukturelle Verschuldungskomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahmeregelung für außergewöhnliche Notsituationen . . . . . . . 2. Regelung für die Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Konjunkturelle Verschuldungskomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Strukturelle Verschuldungskomponente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ausnahmeregelung für außergewöhnliche Notsituationen . . . . . . . II. Rechtmäßigkeit der Umsetzung im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verstoß gegen das Bundesstaatsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anforderungen des Bundesstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Behaupteter Verstoß gegen das Bundesstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungshistorisches Argument. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Starke Bindung in Einnahmen und Ausgaben . . . . . . . . . . . . . cc) Weite Auslegung des „Grundsatzes“ Bundesstaatsprinzip . . . c) Kritik und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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133 137
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Inhaltsverzeichnis aa) Kein vollständiges Verschuldungsverbot. . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Aber: keine Rechtfertigung über die Beteiligung der Länder cc) Vergleich: Verschuldungsgrenzen und Staatlichkeit des Bundes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Verschuldungsrecht als Essential der Staatlichkeit? . . . . . . . . . (1) Vorliegen eines sachlichen Grundes für Einschränkung . (2) Länder noch „politisches Gegengewicht“ zum Bund?. . . (3) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Aspekt der hinreichenden Finanzausstattung . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Verstoß gegen das Demokratieprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zweckmäßigkeit der getroffenen Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassungsästhetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsfunktion(en) – Ist die Schuldenbremse ein Systembruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einzelne Kritikpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zunächst: Eingrenzung auf Art. 109/115 GG . . . . . . . . . . . . . . bb) Beschränkung auf Grundsätze ausreichend? . . . . . . . . . . . . . . . cc) Normwiederholung in Art. 109/115 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Statische Verweisung auf das Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bewertung der inhaltlichen Ausgestaltung für den Bund . . . . . . . . . . . a) Bestimmtheit von Kreditgrenze und Rückzahlungspflicht . . . . . . . aa) Konjunkturelle Verschuldungskomponente. . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Strukturelle Verschuldungskomponente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ausnahmeregelung für Notsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vermeidung prozyklischen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sondervermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Mangel an Initiatoren eines Kontrollverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . e) Mangel an Wiedergutmachung bei Verletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kontrollkonto. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Stabilitätsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Antizipation polit-ökonomischer Fehlanreize. . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Konjunkturelle Verschuldungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verschuldungsmöglichkeit in Notsituationen . . . . . . . . . . . . . . . cc) Strukturelle Verschuldungsmöglichkeit und Kontrollkonto . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Systemkonformität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Vereinbarkeit mit europarechtlichen Anforderungen . . . . . . . . . . . . i) Zusammenfassung der Ergebnisse für den Bund . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung der inhaltlichen Ausgestaltung für die Länder . . . . . . . . . .
150 151 152 153 158 159 162 162 166 166 168 168 169 169 175 175 175 177 178 178 179 179 179 182 182 184 185 186 186 186 188 189 190 190 190 190 192 192 193 194 195
Inhaltsverzeichnis
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E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wegfall struktureller Verschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konkretisierung der Tilgungsregelung für Notkredite. . . . . . . . . . . . . . 3. Klare Rechtsfolge bei Verstoß: Steuerzuschlag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lasten werden spürbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ziel: Haushaltsdisziplin, nicht höhere Abgabenlast. . . . . . . . . . . . . c) Notwendigkeit einer Regelung im GG: Druck „von oben“. . . . . . aa) „Zwangssparen“ unter Kommunalaufsicht. . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Zwangssparen“ unter Aufsicht des Internationalen Währungsfonds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Systemkonforme Ausgestaltung für Bund und Länder. . . . . . bb) Vermeidung eines „Dauerzuschlags“ über Kontrollkonto . . . cc) Stichtagsregelung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Implementierung in Finanzausgleichssystem und Steuerrecht e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verbesserung der Justiziabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Antragsrecht für den Bundesrechnungshof? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Antragsrecht für Fraktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
196 196 196 198 198 199 201 203 203
F. Regelungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Artikel 109 des Grundgesetzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Artikel 115 des Grundgesetzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Artikel 93 des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Notwendige Folgeänderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224 225 227 229 230
206 210 211 211 213 214 215 217 217 217 218 221
G. Zusammenfassung in Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Abkürzungsverzeichnis a. A. a. D. a. F. ABlEG Abs. Abschn. AEUV Amtsbl. AöR Art. Aufl. Az. BB BerlVerfGH Beschl. betr. BGBl. BHO BIP BK BMF BRH BT-Drs. BVerfG BVerfGE BVerfGG bzw. CHF DDR d.h. d. Verf. dies. DÖV DVBl EGV einschl. EL
anderer Ansicht außer Dienst alte Fassung Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Absatz Abschnitt Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Amtsblatt Archiv des öffentlichen Rechts Artikel [auch im Plural] Auflage Aktenzeichen Betriebsberater Berliner Verfassungsgerichtshof Beschluss betrifft Bundesgesetzblatt Bundeshaushaltsordnung Bruttoinlandsprodukt Bonner Kommentar Bundesministerium der Finanzen Bundesrechnungshof Drucksache des Deutschen Bundestages Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz beziehungsweise Schweizer Franken Deutsche Demokratische Republik das heißt der Verfasser dieselbe/dieselben Die öffentliche Verwaltung Deutsches Verwaltungsblatt Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften einschließlich Ergänzungslieferung
Abkürzungsverzeichnis ELF Erl. ERP EuGH EuR EUR EuZW EVV f. ff. FinArch Fiwi Fn. FöKo II FS FUND GBl. GG GMBl. GO GOBT GVBl. GV NRW G 115 HdStR Hrsg. HS IFSt i.V. m. IWF JA JuS KJ KritV KV Lfg. lit. LV m. w. N. Mrd. n. F.
Erblastentilgungsfonds Erläuterung European Recovery Program (Bezeichnung eines Sondervermögens) Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Europarecht (Zeitschrift) Euro Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäischer Verfassungsvertrag folgende [Seite] folgende [Seiten] Finanzarchiv Finanzwirtschaft Fußnote Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen Festschrift Übereinkommen über den Internationalen Währungsfonds Gesetzblatt Grundgesetz Gemeinsames Ministerialblatt Gemeindeordnung Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Gesetz- und Verordnungsblatt Gesetz- und Verordnungsblatt des Landes Nordrhein-Westfalen Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 des Grundgesetzes Handbuch des Staatsrechts Herausgeber Halbsatz Institut „Finanzen und Steuern“ e. V. in Verbindung mit Internationaler Währungsfonds Juristische Arbeitsblätter Juristische Schulung Kritische Justiz Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft Kommunalverfassung Lieferung Buchstabe Landesverfassung (verschiedene Länder) mit weiteren Nachweisen Milliarden neue Fassung
15
16 n. F. Nds. StGH NdsVBl. NGO NJW Nr. NVwZ NVwZ-RR NWVBl RIW Rs. Rsp. S. S. Slg. sog. st. StabiRatG StWG Tz. u. a. UAbs. Urt. v. v. VBlBW VerfGH Bln. Verh. d. BT VerwArch vgl. VR VV-BHO VvB VVDStRL Wahlp. WD WRV WWU ZG ZInsO ZKredW ZParl ZSE
Abkürzungsverzeichnis neue Folge Niedersächsischer Staatsgerichtshof Niedersächsische Verwaltungsblätter Niedersächsische Gemeindeordnung Neue Juristische Wochenschrift Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ-Rechtsprechungs-Report Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Recht der Internationalen Wirtschaft Rechtssache Rechtsprechung Seite Satz Sammlung so genannt[e/en] ständige [Rechtsprechung] Stabilitätsratsgesetz Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft Textzahl unter anderem/und andere Unterabsatz Urteil vom von Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin Verhandlungen des Deutschen Bundestags Verwaltungsarchiv vergleiche Verwaltungsrundschau Allgemeine Verwaltungsvorschriften zur Bundeshaushaltsordnung Verfassung von Berlin Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wahlperiode Wirtschaftsdienst Weimarer Reichsverfassung Wirtschafts- und Währungsunion Zeitschrift für Gesetzgebung Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften
A. Problemaufriss Die Verschuldung von Bund und Ländern hat ein besorgniserregendes Ausmaß erreicht: Ende 2009 betrugen die Schulden von Bund, Ländern und Gemeinden insgesamt über 1,6 Billionen Euro1. Zu beobachten ist ein stetiges Ansteigen des Schuldensockels insbesondere seit den 1970er Jahren: 1800 Gemeinden
Länder
Bund
1600
1400
Verschuldung in Mrd. EUR
1200
1000
800
600
400
200
0 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 00 02 04 06 08 Jahr 1970 bis 2009 Quelle: Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch (verschiedene Jahrgänge), Werte für 2009 auf Anfrage mitgeteilt.
Abbildung 1: Kreditmarktschulden nach Finanzstatistik in Mrd. EUR von 1970 bis 2009, jeweils zum Jahresende (Bund einschließlich Sondervermögen); ab 1991 gesamtdeutsche Ergebnisse; für 2009 vorläufiges Ergebnis. 1
Statistisches Bundesamt, vorläufige Werte.
18
A. Problemaufriss
Das Ausmaß lässt sich noch besser mit Hilfe der Schuldenstandsquote erfassen, welche die Verschuldung in Relation zur Leistungsfähigkeit des Staates setzt2. Auch hier zeigt sich eine drastische Zunahme der Verschuldung seit den 1970er Jahren: 80
Schuldenstandsquote in % des BIP
70 60
Maastricht-Grenze 50 40 30
Gesamtstaat (Bund, Länder, Gemeinden)
20 10
19 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 20 00 02 04 06 0 20 8 09
0
Quelle: Dornbusch, Deutscher Fiskus in der „Schuldenfalle“, S. 73; Deutsche Bundesbank, Monatsbericht 62. Jahrgang Nr. 3 (März 2010), statistischer Teil S. 54.
Abbildung 2: Verschuldung der öffentlichen Haushalte (Bund einschl. Sondervermögen, Länder, Gemeinden) in% des nominalen BIP, ab 1990 in der für das WWU-Konvergenzkriterium maßgeblichen Abgrenzung, 2009 vorläufiger Wert.
Zu betrachten ist weiterhin, wie die kreditär beschafften Finanzmittel verwendet werden: Zunächst war es möglich, durch Staatsverschuldung etwa eine Ausweitung der Investitionstätigkeit sowie Maßnahmen zum sozialen Ausgleich zu finanzieren. Längst muss der Staat jedoch immer mehr neue Kredite3 nur deshalb aufnehmen, um die Zinsen für die bisherigen Schulden zu bedienen4. Eine wichtige Kennziffer stellt in diesem Zusammenhang der 2
Dabei soll nicht übersehen werden, dass sich der der Staat keineswegs des gesamten Bruttoinlandsprodukts bedienen kann, dazu Meyer, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 14 der FöKo II. 3 Neuverschuldung meint die Kreditaufnahme, die zu einer Erhöhung des Schuldenstandes führt, also nicht die regelmäßig erforderliche Umschuldung des bisherigen Schuldensockels.
A. Problemaufriss
19
Primärsaldo dar. Dieser gibt an, inwieweit die Einnahmen aus Krediten zur Finanzierung anderer Staatsausgaben als der bloßen Tilgung von Kreditzinsen verwendet werden (Primärsaldo = Staatseinnahmen minus Staatsausgaben minus Zinsausgaben5). Bei einer näheren Betrachtung eines längeren Zeitraums vor Beginn der Wirtschafts- und Finanzkrise im Jahr 2008 wird deutlich, dass der Bund zwar in den Jahren von 1993 bis 2005 durchschnittlich 23,5 Mrd. Euro neue Schulden aufgenommen hat6, hiervon jedoch letztmalig im Jahr 1993 lediglich 10 Mrd. Euro zur Finanzierung von anderen Aufgaben als der Zinszahlung für laufende Kredite zur Verfügung hatte7. Der Staat nimmt also schon längst Kredite nicht mehr zur Finanzierung von Aufgaben, sondern zur Bedienung des Schuldendienstes auf8. Noch eine weitere Überlegung lässt sich daraus ableiten: Setzt der Staat die derzeitige Kreditaufnahme vorwiegend zur Bedienung der Zinsen ein, so bedürfte es momentan gar keiner Kreditaufnahme, wenn keine Staatsverschuldung bestünde und daher keine Zinszahlungen anfielen. Die Betrachtung macht deutlich, dass der Bund längst den Bereich erreicht hat, in welchem die Staatsverschuldung die politische Handlungsfreiheit nicht mehr erweitert, sondern durch den Entzug von Finanzmitteln verringert – die Verschuldung wird zur Last. Bereits im Jahr 2009 musste der Bund über 42 Mrd. Euro für Zinszahlungen aufwenden, ohne dass damit die Schulden getilgt würden9. Die Aufwendungen für den Schuldendienst binden schon jetzt etwa 20% der nicht kreditären Einnahmen und stellen damit den zweitgrößten Einzelposten im Bundeshaushalt dar. Doch in der Folge wird nicht nur der Handlungsspielraum, auch der folgenden Generationen, immens eingeschränkt. Schlimmstenfalls kann es zu einer Haushaltsnotlage kommen, d.h. eine Gebietskörperschaft muss immer weitere Kredite nur zu dem Zweck aufnehmen, die Zinszahlungen für die bisherigen Kredite aufzubringen, sodass eine „Schuldenfalle“ 4 So schon Franz, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), 478 (479). 5 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 174. 6 Eigene Berechnung anhand der Finanzierungssalden nach der tabellarischen Auflistung in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 174. 7 Tabellarische Auflistung in: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 174. 8 P. Kirchhof, Die Staatsverschuldung als Ausnahmeinstrument, in: FS Mußgnug, S. 131 (141); diese Gefahr hatte Birk schon im Jahr 1984 prognostiziert, in: DVBl 1984, 745 (746). 9 Gesamtplan des Bundeshaushalts 2009, http://www.bundesfinanzministerium. de/bundeshaushalt2009/pdf/vsp_2.pdf [Stand: 06.04.2009].
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A. Problemaufriss
droht, aus der sich die Körperschaft nicht mehr aus eigener Kraft befreien kann10. Eine solche Haushaltsnotlage hat das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1992 bereits für die Länder Bremen und Saarland angenommen, weil sie etwa ein Viertel ihrer steuerlichen Einnahmen allein für Zinszahlungen aufwendeten, „ohne damit eine Mark ihrer Schulden getilgt und eine ihrer ihnen verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgaben erfüllt zu haben“11. Ohne externe Hilfe zieht eine extreme Haushaltsnotlage früher oder später den „Staatsbankrott“ und damit die Gefahr eines Zusammenbruchs des staatlichen Finanzsystems nach sich12. Doch auch wenn Rettungsmaßnahmen unternommen werden, bringen diese harte Einschnitte mit sich, wie die aktuelle Debatte über die Sanierung der griechischen Staatsfinanzen erkennen lässt. Mit oder ohne äußere Intervention kann die staatliche Zahlungsunfähigkeit einen immensen Vertrauensverlust der internationalen Gemeinschaft, eine beachtliche Schädigung der heimischen Wirtschaft (Depression) sowie schlimmstenfalls wegen der damit verbundenen Leistungskürzungen Unruhen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen nach sich ziehen. Die Staatsverschuldung avanciert so zu einer „Elementarbedrohung des Verfassungsstaates“, die bei ungebremster Fortentwicklung das Parlament entmachten und den demokratischen Rechtsstaat zum Einsturz bringen kann13. Um den Gefahren der Staatsverschuldung zu begegnen, wurde im Rahmen der Föderalismusreform II eine gemeinsame Schuldenbremse für Bund und Länder in das Grundgesetz aufgenommen14. Doch blieb dieses Vorhaben nicht ohne Widerspruch: Neben wohl überwiegendem Zuspruch15 wird von Kritikern die politische Wirksamkeit der Neuregelung in Frage gestellt16, aus ästhetischer Sicht eine „Verunstaltung“ der Verfassung ge10 Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, S. 662; Kathstede, VR 2006, 50 (50). 11 BVerfG, Urt. v. 27.05.1992 – 2 BvF 1, 2/88, 1/89 und 1/90, BVerfGE 86, 148 (260). 12 Zahlreiche historische Beispiele für Schuldenkrisen und Aufarbeitung der Hintergründe bei Reinhart/Rogoff, Dieses Mal ist alles anders, acht Jahrhunderte Finanzkrisen, S. 103 ff. sowie in den Beiträgen bei Lingelbach (Hrsg.), Staatsfinanzen – Staatsverschuldung – Staatsbankrotte in der europäischen Staaten- und Rechtsgeschichte. 13 P. Kirchhof, Die Staatsverschuldung als Ausnahmeinstrument, in: FS Mußgnug, S. 131 (147). 14 Gesetz v. 29.07.2009, BGBl. I, 2248. 15 Immerhin wurde die Reform mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat umgesetzt; weitere Nachweise unter D. III. 2. i). 16 Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1261); Korioth, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band III, § 44, Rn. 50a, S. 122: „keine Besserung“.
A. Problemaufriss
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rügt17 und weitergehend sogar die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelung bezweifelt18. Diesen Diskussionsstand greift die vorliegende Arbeit auf; dabei wird untersucht: 1. wie eine „Schuldenbremse“ ausgestaltet sein muss, die sich im politischen Alltag effektiv durchzusetzen vermag, 2. ob eine „Schuldenbremse“ gerade im Grundgesetz normiert werden sollte; wenn ja – warum?, 3. wie zu gewährleisten ist, dass die Schuldenbegrenzungsregeln den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen.
17
Nachweise unter D. III. 1. Nachweise unter D. II., insbesondere ist eine Klage des Landtags SchleswigHolstein vor dem BVerfG anhängig, dazu Beschlussprotokoll des 16. SchleswigHolsteinischen Landtags, 46. Tagung, 122. Sitzung am 16.09.2009, S. 2 zur Drucksache 16/2747 in der Fassung der Drucksache 16/2844; Pressenotiz im Tagesspiegel v. 05.02.2010, S. 4. 18
B. Gang und Eingrenzung der Untersuchung Betrachtet man die soeben skizzierte Verschuldungssituation von Bund und Ländern, so mutet es seltsam an, dass während der gesamten Dauer des dargestellten Zeitraums im Grundgesetz bereits eine Regelung zur Begrenzung der Neuverschuldung vorhanden war1. Ausweislich des Gesetzentwurfs hatte diese bei ihrer Reformierung im Jahre 1969 den Zweck, durch eine „moderne situationsbezogene Betrachtungsweise“ eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft zu ermöglichen2. Die eingangs dargestellten Zahlen belegen jedoch, dass unter den bisherigen Vorschriften nur einseitig eine Vermehrung des Schuldenstands erfolgte. Nach Ansicht des BVerfG sei daher an der Revisionsbedürftigkeit der Regelungen „kaum noch zu zweifeln“3; Kritiker behaupten, die bisherige Schuldengrenze habe ihr Regelungsziel schlechthin verfehlt4. Der erste Teil der Untersuchung widmet sich zunächst der naheliegenden Frage, warum die bisherige Schuldengrenze nicht wirksam wurde. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse über Defizite der bisherigen Normen sollen dann für die Ausgestaltung einer Neuregelung nutzbar gemacht werden. Hierbei griffe eine rein juristische Betrachtung indes zu kurz. Es geht auch um die Frage, wie es zu erklären ist, dass die Verschuldung einerseits zwar häufig beklagt wird und deren negative Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit des Staates auch bekannt sind, anderseits aber bislang unzureichend die notwendigen Konsequenzen im Sinne eines Schuldenabbaus (oder wenigstens einer signifikanten Verringerung der Neuverschuldung!) daraus 1
Art. 115 Abs. 1 S. 2 GG a. F.: „Die Einnahmen aus Krediten dürfen die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Ausgaben für Investitionen nicht überschreiten; Ausnahmen sind nur zulässig zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“, BGBl. 1969 I, 357, Art. I Nr. 6. 2 So ausdrücklich die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 5/3040, Tz. 59, 61. 3 BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (141); schon 1989 hielt das BVerfG die Konzeption ohne zusätzliche ausfüllende Gesetzgebung für „unvollständig und teilweise wirkungslos“, BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (352). 4 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 179; Schemmel, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, S. 4 ff.; Wendt in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 115, Rn. 10; Härtel, JZ 2008, 437 (440 f.); Buscher, Der Bundesstaat in Zeiten der Finanzkrise, S. 330 ff.
B. Gang und Eingrenzung der Untersuchung
23
gezogen wurden. Hierbei sind die Interessen der Normadressaten ebenso auszuleuchten wie weitere Anreize, die sich außerhalb der bisherigen Verschuldungsregelung befinden (sog. polit-ökonomische Faktoren). In einem zweiten Schritt ist die mit der Föderalismusreform II eingeführte Neuregelung an den im ersten Teil der Arbeit gewonnenen Erkenntnissen zu messen. Weiterhin ist an dieser Stelle einem wichtigen verfassungsrechtlichen Problem Aufmerksamkeit zu widmen, nämlich der unter Bezugnahme auf die Eigenstaatlichkeit der Länder behaupteten Verfassungswidrigkeit der „Schuldenbremse“. Auch der Frage, inwieweit die Einbindung eines detaillierten Schuldenbegrenzungskonzepts in das Grundgesetz einen Systembruch darstellen könnte, ist nachzugehen. Im letzten Teil wird ein effektives Schuldenbegrenzungssystem als Fortentwicklung der Schuldenbremse erarbeitet. Dabei erfolgt eine Analyse jenes Klimas, in welchem gesunde öffentliche Finanzen erreichbar zu sein scheinen – nämlich unter Bestehen eines „äußeren“ Zwangs. Insoweit wird vorgeschlagen, einen strengen Rahmen nicht erst im schmerzlichen Sanierungsfall bereitzustellen, sondern in verfassungsrechtlicher Ausgestaltung bereits im Vorfeld – als „Argumentationshilfe“ für die Politik. Die Arbeit schließt mit einem eigenen Formulierungsvorschlag. Unterbleiben kann im Rahmen dieser Arbeit eine wirtschaftswissenschaftliche bzw. volkswirtschaftliche Untersuchung der Frage, inwieweit die Staatsverschuldung ein „sinnvolles“ Instrument staatlicher Finanzierung darstellt: Es besteht heute weitgehend Konsens darüber, dass die Auswirkungen langfristig negativ sind5. Zu denken ist dabei nicht nur an die eingangs dargestellten unmittelbaren Probleme des Staates durch nicht mehr finanzierbare Zinslasten. Schon im Vorfeld verursacht ein hoher Schuldenstand wirtschaftliche Probleme, denn das vom Staat geliehene Geld wird dem Kapitalmarkt entzogen und steht daher nicht direkt für Investitionen seitens der Wirtschaftssubjekte zur Verfügung, sog. „Crowding out“6. 5 Neck/Holzmann/Schneider, Ursachen, Wirkungen und Zukunftsperspektiven der Staatsverschuldung: Einleitung und Übersicht, in: dies., Staatsschulden am Ende?, S. 11 (18); Josten, Staatsverschuldung, S. 356 f.; Rodi, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. November 2004, Art. 109, Rn. 163; aus dem Blickwinkel der intergenerativen Umverteilung: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 55; Rechenbeispiele bei Halstenberg, DVBl 2001, 1405 (1406); D. Meyer, Die Schuldenfalle, S. 57. 6 Hierbei hat der Staat gegenüber der Wirtschaft die zweifelhaften Vorteile, der solventere Schuldner zu sein und zudem Rentabilitätserwägungen außer Acht lassen zu können. Zur crowding-out-Debatte ausführlich Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 279 ff., der den Verdrängungseffekt zumindest in der Normallage und erst recht bei Hochkunjunktur für gegeben erachtet. Crowding-out auch in der Rezession nicht
24
B. Gang und Eingrenzung der Untersuchung
Es soll selbstverständlich nicht bestritten werden, dass in Ausnahmesituationen die Schuldenaufnahme hilfreich oder sogar geboten sein kann. Auch lässt sich der bisherigen Debatte die maßgebliche Erkenntnis entnehmen, dass eine antizyklische Konjunkturpolitik am ehesten zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung geeignet ist7. An der – lediglich vereinzelt vertretenen8 – Rechtfertigung einer ausufernden Verschuldung bestehen demgegenüber starke wissenschaftliche Zweifel; sie „erweist sich möglicherweise als nicht gänzlich frei von politischen Erwägungen“9. Die keynesianische Sichtweise im Sinne einer passiven konjunkturellen Schuldenpolitik10 soll daher als Ausgangspunkt der Betrachtung vorausgesetzt werden. Damit ist natürlich keineswegs gesagt, dass auch die bisherige Staatspraxis, welche nur die eine Seite der keynesianischen Politik befolgt hat, nämlich in konjunkturell schlechten Zeiten Kredite aufzunehmen, ohne diese jedoch in konjunkturell guten Zeiten auch wieder abzutragen11, als legitim erachtet wird. Der Befund, dass eine Verschuldung in dieser Größenordnung erdrosselnd wirkt und die Handlungsspielräume des Staates schon jetzt und erst recht in Zukunft immens einschränkt, ist offensichtlich12. Gerade diese Abweichung der Realität von dem, was offenbar wirtschaftlich vernünftig wäre, bildet den Untersuchungsgegenstand. gänzlich ausschließend Duwendag, Staatsverschuldung – Notwendigkeit und Gefahren, S. 72; zu den wirtschaftswissenschaftlichen Grundlagen Kurz/Rall, Interpersonelle und intertemporale Verteilungswirkungen der öffentlichen Verschuldung, S. 158 ff.; zweifelnd Sarrazin, FA n. F. 41 (1983), 373 (382 ff.); offen lassend Pünder, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR V, § 123, Rn. 9 m. w. N. 7 Für passive konjunkturelle Verschuldung Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 7. Auflage, S. 339; Fuest/Thöne, Reform des Finanzföderalismus in Deutschland, S. 81. 8 Horn, Die deutsche Krankheit: Sparwut und Sozialabbau, S. 158. Der Autor meint, Schulden müssten nie vollständig zurückgezahlt werden, sondern könnten auf Grund der „unendlichen Lebenserwartung von Staaten [. . .] auch immer weitergewälzt werden“. Es müsse nur stetig Wachstum erzeugt werden, damit die Schuldenstandsquote konstant bleibe. Gerade dies gelingt aber in der Praxis offenbar nicht. 9 So Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 44 zum früheren Konzept des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, wonach sich die Wirtschaft an ein bestimmtes Maß an Staatsverschuldung „gewöhnt“ habe. 10 Hierunter sind die durch den Konjunktureinbruch automatisch anfallenden Mindereinnahmen und Mehrausgaben für soziale Sicherung ohne zusätzliche Ausgaben zur Krisenbekämpfung (aktive Schuldenpolitik) zu verstehen. Dazu Ehrlicher, Der Staat 24 (1985), 31 (41). 11 Stattdessen wurden sogar in guten Zeiten noch weitere Kredite aufgenommen. Dazu Göke, ZG 2006, 1 (15); Steinbrück, Verh. d. BT 16/215, S. 23375. 12 Meyer spricht von einem „weit fortgeschrittenen Grad der Selbststrangulierung“, Kommissionsdrucksache 14 der FöKo II.
B. Gang und Eingrenzung der Untersuchung
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Lediglich mittelbare Berücksichtigung wird in der vorliegenden Untersuchung die Frage nach dem Abbau des eingangs skizzierten Schuldensockels erfahren. Auf den ersten Blick scheint bisweilen der alten wie der neuen Schuldenbegrenzungsregelung zu Recht vorgeworfen zu werden, sich nur auf die „Neuverschuldung“ zu konzentrieren und dabei außer Acht zu lassen, dass all jene Schulden, die Jahr für Jahr als negativer Finanzierungssaldo entstehen, durch ihre Kumulation über einen langen Zeitraum die Zinslast erhöhen13. Schon ein zweiter Blick zeigt jedoch, dass die Neuverschuldung auch den „Schlüssel“ zur Bekämpfung des Schuldensockels beinhaltet. Tendiert nämlich die Neuverschuldung, langfristig betrachtet, gegen Null, kann es zum Aufbau eines hohen Schuldenstandes erst gar nicht kommen. Gelingt es, zunächst die Neuverschuldung in den Griff zu bekommen, so wird der noch bestehende Schuldensockel allein durch dessen inflationäre Entwertung langfristig in seinen negativen Auswirkungen durch Zinskosten eingeschränkt und dadurch unbedeutsam werden. Das Problem des Schuldensockels ist also lediglich insoweit zu berücksichtigen, als eine Neuregelung Vorkehrungen gegen dessen weiteres Anwachsen treffen muss.
13
Göke, ZG 2006, 1 (6).
C. Ursachen für Staatsverschuldung: Analyse anhand der bisherigen Schuldenregelung Um eine neues, funktionsfähiges Schuldenbegrenzungskonzept zu entwerfen, muss zunächst ein Blick zurück auf die Ursachen geworfen werden, die zum Scheitern der bisherigen Regelungen beigetragen haben. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass nicht eine einzelne Ursache für sich allein, sondern eine Vielzahl von Faktoren in ihrem Zusammenwirken den Weg in die Schuldenfalle geebnet hat. Deshalb sind die bisherige (Verfassungs-)Rechtslage ebenso wie Einflüsse des Europarechts, polit-ökonomische und sonstige Ursachen jeweils auf ihren Verursachungsbeitrag hin zu untersuchen. Die Teilergebnisse sollen später als „Stellschräubchen“ betrachtet und für eine neue Konzeption nutzbar gemacht werden.
I. Bisherige Verschuldungsregeln auf Bundesebene Zunächst erfolgt eine Betrachtung der bisherigen Verschuldungsregelungen des Grundgesetzes. Dabei soll es mit einer kurzen Darstellung der Art. 109 und 115 GG a. F. sein Bewenden haben; die alten Verschuldungsgrenzen haben mit der Neuregelung im Grundgesetz nur noch vorübergehende Bedeutung und der interessierte Leser wird insoweit an anderer Stelle fündig1. Der „Blick zurück“ ist aber deshalb interessant und lohnenswert, weil unter der bisherigen Verschuldungsregelung das eingangs skizzierte Verschuldungsproblem entstanden ist. Die Regelung ist also praktisch erprobt und es lassen sich daraus Erfahrungen gewinnen, wie die Umsetzung des normativen Gehalts in die Haushaltspraxis erfolgte. Dazu will die Betrachtung sogleich die „Schwachstellen“ der Regelung fokussieren. 1 Exemplarisch seien die umfangreichen Monografien von Höfling, Staatsschuldenrecht, und Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, genannt. Zuvor beispielsweise schon Fricke, DVBl 1977, S. 26 ff.; Karehnke, DÖV 1973, S. 393 ff.; Scheuner, Die Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, in: Schiffer/Karehnke (Hrsg.), FS Hans Schäfer, S. 109 ff.; Schuppert, VVDStRL 42 (1984), S. 216 ff.; Stern, Staatsrecht II, § 51, S. 1254 ff.
I. Bisherige Verschuldungsregeln auf Bundesebene
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Die erste These lautet daher: Die alte Regelung hat einerseits schon durch ihr Regelungskonzept an sich zu einer ausufernden Verschuldung geführt. Darüber hinaus ist sie jedoch, völlig unabhängig von den konzeptionellen Schwächen, auch falsch angewendet bzw. missachtet worden. Hieraus sind bei einer im späteren Verlauf der Untersuchung geplanten Entwicklung jeweils unterschiedliche Schlüsse zu ziehen. Enthält die Norm an sich fehlerhafte Direktiven, ist die Norm zu überarbeiten. Bezweckt die Norm aber das richtige Ziel und wird sie nur falsch angewendet, so ist auch dies letztlich – nur unter einem anderen Aspekt – auf das Normgefüge zurückzuführen: Es fehlt dann ein wirksames Anreiz- und Sanktionskonzept, welches zur Einhaltung der Norm bewegt. Dies wird nach einer Betrachtung der einschlägigen Normen näher zu beleuchten sein. 1. Das Regelungskonzept der Art. 109, 115 GG a. F. Die Grenzen der Verschuldung auf Bundesebene bestimmten sich bislang nach Art. 109 Abs. 2, 115 Abs. 1 S. 2 GG a. F2. Zwischen beiden Normen besteht ein derartig enger Regelungszusammenhang, dass sie als einheitliche Regelung angesehen werden müssen3. a) Das dreistufige System Das bisherige Konzept lässt sich als ein dreistufiges System der Verschuldung beschreiben, dessen Orientierungsrahmen das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht bildet:4 Stufe 1: Nach der Grundregel des Art. 109 Abs. 2 GG a. F. ist eine Kreditaufnahme in der wirtschaftlichen Normallage grundsätzlich zulässig, so2 BGBl. 1969 I, S. 357 (357 f.), vor den Änderungen im Zuge der Föderalismusreform II durch Gesetz vom 10.08.2009, BGBl. I S. 2702 (2704). 3 Siekmann in: Sachs, GG Kommentar, Art. 115, Rn. 26; Wendt in: v. Mangoldt/ Klein/Starck, Art. 115, Rn. 28; Höfing/Rixen in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, 106. Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 261 ff.; Rodi in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. November 2004, Art. 109, Rn. 164; Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 153 ff.; („normatives Ergänzungsverhältnis“); Heun, Die Verwaltung 18 (1985), 1 (23 f.); BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (328 ff.): „enger Sachzusammenhang“; wiederholend BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (137). 4 Schuppert, in: Umbach/Clemens, Art. 115, Rn. 15 ff.; Rodi, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. November 2004, Art. 109, Rn. 165; Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 22 ff.; Donner, ZParl 18 (1987), 436 (440 f.); Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 156 f., der eine etwas andere Gewichtung vornimmt; BVerfG Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (334).
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
lange den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung getragen ist. Stufe 2: In diesem Bereich setzt Art. 115 Abs. 1 S. 2 HS 1 GG a. F. eine zusätzliche Grenze: Auch wenn die gesamtwirtschaftliche Lage es zulassen würde, darf in einem Haushaltsjahr die Kreditaufnahme nicht die Summe der im Haushaltsplan veranschlagten Investitionen überschreiten (sog. Investitionsklausel). Zu betonen ist, dass es hier im Zusammenspiel mit Art. 109 Abs. 2 GG zu einer doppelten Einschränkung kommt. Die Kreditaufnahme wird zwar durch die Investitionen als Obergrenze beschränkt, sie ist jedoch zusätzlich begrenzt auf das Maß dessen, was in Wahrung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts geboten erscheint. Stufe 3: Art. 115 Abs. 1 S. 2 HS 2 GG enthält eine Ausnahme von der Bindung an die Investitionsgrenze. Der Umfang der Kreditaufnahme richtet sich im Fall einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts allein nach dessen Erfordernissen. b) Konjunkturelle und strukturelle Verschuldung Es bedarf an dieser Stelle der Arbeit – losgelöst von der konkreten Normierung eines Verschuldungskonzepts – einiger begrifflicher Vorklärungen; diese werden später von Nutzen sein, wenn es darum geht, verschiedene Regelungsansätze vergleichbar zu machen. Die einzelnen Verschuldungstatbestände sowohl der bisherigen als auch der neuen Schuldenbegrenzungsregeln lassen sich systematisch unterscheiden in zwei Typen, die konjunkturelle und die strukturelle Verschuldung. Durch konjunkturelle Verschuldung gleicht der Staat Mindereinnahmen und Mehrausgaben aus, die in Folge von Schwankungen der Konjunkturlage entstehen5. Unterschieden wird die aktive und passive konjunkturelle Verschuldung. Die passive konjunkturelle Verschuldung entsteht gleichsam automatisch dadurch, dass der Staat auch in konjunkturell schlechten Zeiten bei geringeren Einnahmen sein Leistungsspektrum aufrecht erhält und zudem erhöhten Aufwand für die soziale Sicherung betreiben muss6: Durch die progressive Besteuerung der Einkommen ergeben sich in der Rezession hohe Steuerausfälle bei ansteigenden Zahlungen für Transfereinkommen. Dieser Teil des Defizits müsste sich später, wenn die Unterauslastung der 5 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 31 f.; Wolf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 123; Wucherpfennig, Staatsverschuldung in Deutschland, S. 33. 6 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 251 f.; Ehrlicher, Der Staat 24 (1985), 31 (41).
I. Bisherige Verschuldungsregeln auf Bundesebene
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Produktionskapazitäten wieder in eine Voll- oder Überauslastung umschlägt, automatisch abbauen7. Unter aktiver konjunktureller Verschuldung ist demgegenüber das Tätigen zusätzlicher Ausgaben zur Stimulierung der Wirtschaft zu verstehen, etwa durch den Ausgleich des privaten Nachfrageausfalls8, Anregen der Nachfrage sowie Maßnahmen der Beschäftigungsförderung, jüngst erfolgt durch sog. „Konjunkturpakete“9. Strukturelle Verschuldung besteht dann, wenn die Kreditaufnahme zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben erfolgt, denen selbst bei gedachter konjunktureller Normallage keine regulären Einnahmen – Steuern, Abgaben, eigene Vermögenserträge – gegenüber stehen10. Hier kommt es also nicht notwendig zu einer vorübergehenden Zwischenfinanzierung, sondern zu einem dauerhaften Auseinanderfallen von Einnahmen und Ausgaben. Überträgt man diesen Systematisierungsansatz auf das Regelungskonzept der Art. 109, 115 GG a. F., so ergibt sich eine konjunkturelle Verschuldungskomponente (Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts) und eine strukturelle Verschuldungskomponente (Investitionsklausel). Es besteht Einigkeit darüber, dass zumindest die konjunkturelle Verschuldung ausschließlich antizyklisch eingesetzt werden soll (und im Lichte der Art. 109 und 115 GG sogar muss!11) also entgegen dem Trend der konjunkturellen Entwicklung, um deren Folgen abzumildern. Zu beachten ist, dass jedoch auch die strukturelle Verschuldung in Boom-Phasen prozyklisch wirken kann12 und damit kein gänzlich konjunkturneutrales Element darstellt. Nach dieser kurzen Einführung in das System und die Begrifflichkeiten der bisherigen Verschuldungsgrenzen wendet sich die Untersuchung nun der Frage zu, welche Probleme sich bei deren Anwendung ergeben haben. 7 Franz, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), 478 (480). 8 Ehrlicher, Der Staat 24 (1985), 31 (41 f.). 9 Die Konjunkturpakete zur Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise beinhalteten Maßnahmen wie zahlreiche Förderprogramme, Erhöhung der Investitionen zum Beispiel in Infrastruktur, Kredit- und Bürgschaftsprogramme zur Wirtschaftsförderung, Verlängerung der Bezugsdauer von Kurzarbeitergeld sowie steuerliche Entlastungen zur Stärkung der privaten Nachfrage; vgl. dazu ausführlich den Internetauftritt der Bundesregierung unter www.konjunkturpaket.de [Stand: 31.05.2010]. 10 Schuppert, in: Umbach/Clemens, Art. 115, Rn. 20, v. Arnim/Weinberg, Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 25; Wolf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 124. 11 Brenner/Haury/Lipp, FinArch n. F. 38 (1980), 236 (238); Schuppert, in: Umbach/Clemens, Art. 115 Rn. 21. 12 Kritisch zum strukturellen Defizit Wucherpfennig, Staatsverschuldung in Deutschland, S. 33, der die strukturelle Verschuldungskomponente als eine „künstliche“, letztlich nicht zuverlässig berechenbare Größe erachtet.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
2. Investitionsklausel Die Begrenzung der Neuverschuldung auf das Maß der investiven Ausgaben (sog. Junktimklausel13) scheint auf den ersten Blick eine durchaus nachprüfbare und klar umrissene Rechengröße zu bieten. Schon ein zweiter Blick zeigt jedoch, dass es sich auch bei dem Begriff der Investition um einen auslegungsbedürftigen14, im Einzelnen umstrittenen Rechtsbegriff handelt. Selbst bei dessen Klärung erscheint seine Eignung zur Begrenzung der Verschuldung fraglich. a) Das weite Verständnis des Investitionsbegriffs Das erste Problem stellt das weite Verständnis des Investitionsbegriffs dar. aa) Die Staatspraxis Nach dem Regierungsentwurf zur bisherigen15 Fassung des Art. 115 GG umfasst der Investitionsbegriff die „öffentliche[n] Ausgaben für Maßnahmen [. . .], die bei makro-ökonomischer Betrachtung die Produktionsmittel der Volkswirtschaft erhalten, vermehren oder verbessern. Hierzu zählen beispielsweise Baumaßnahmen, Erwerb von unbeweglichen und wertmäßig erheblichen beweglichen Sachen, Erwerb von Beteiligungen, Darlehen und Investitionshilfen“.16 Dies spricht für eine weite Auslegung des Investitionsbegriffs17. Dem hat sich die Staatspraxis angeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht lässt in seiner Entscheidung zum Haushaltsgesetz 1981 die Weite des Investitionsbegriffs dahinstehen, indem es feststellt, der Investitionsbegriff könne jedenfalls nicht weiter verstanden werden, als in der bisherigen Staatspraxis18. Es weist die Konkretisierung des Begriffs in erster Linie dem Gesetzgeber zu19. Lediglich eine Ausweitung auf Ausgaben für Bil13
Statt aller Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 158. Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 115, Rn. 42. 15 BGBl. 1969 I, S. 357 (357 f.), vor den Änderungen im Zuge der Föderalismusreform II durch Gesetz vom 10.08.2009, BGBl. I S. 2702 (2704). 16 BT-Drs. 5/3040, S. 47, Tz. 134. 17 Heuer, in: Heuer/Engels/Eibelshäuser (Hrsg.), Kommentar zum Haushaltsrecht, Loseblatt, 21. Lfg. März 1996, Art. 115 GG Tz. 11. 18 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (337 f.); wiederholend BVerfG mit Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (137). 19 BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (141). 14
I. Bisherige Verschuldungsregeln auf Bundesebene
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dung oder investive Verteidigungsausgaben schließt es aus20. Zwar mahnte das BVerfG auch eine gesetzliche Regelung des Investitionsbegriffs an21; dieser Pflicht kam der Gesetzgeber aber eher formal nach, indem er die bisherige weite Staatspraxis in der BHO festschrieb22. In seiner späteren Entscheidung teilt das BVerfG zwar Bedenken an der Praxis, lässt aber wiederum ausdrücklich offen, ob hierin ein Verfassungsverstoß zu sehen ist23. bb) Zur Kritik durch die Rechtswissenschaft Maßgebliche Kritik an der weiten Auslegung des Investitionsbegriffs lässt sich der jüngeren rechtswissenschaftlichen Literatur entnehmen. Diese gelangt teilweise sogar zum Verdikt einer „verfassungswidrigen Staatspraxis“24. Die Betrachtung wendet sich nun zunächst den inhaltlichen Aspekten zu, die zur Kritik an der bisherigen Auslegung geführt haben; lassen sich doch hieraus Erkenntnisse für die spätere Gestaltung eines neuen Regelungskonzeptes gewinnen. Ob die bisherige Staatspraxis als verfassungswidrig zu qualifizieren ist, spielt dagegen hier nur am Rande eine Rolle: Es lässt darauf schließen, wie konsequent der (einfache) Gesetzgeber in der Befolgung der Verfassungsnomen gewesen ist und inwiefern also eine Erzwingbarkeit der Normbefolgung vonnöten ist. (1) Die Brutto-Berechnung der Investitionen Wohl der wichtigste Kritikpunkt besteht darin, dass sich die Staatspraxis am sog. „Bruttoinvestitionsbegriff“ orientiert25. Ein weit geringerer Ver20
Ebenda. BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (352 ff.). 22 Dazu Schuppert, in: Umbach/Clemens, Art. 115, Rn. 31. Auch § 13 Abs. 3 Nr. 2 S. 2 BHO stellt ab auf Baumaßnahmen, den Erwerb von unbeweglichen Sachen, Beteiligungen, Darlehen usw. Auch das BVerfG bewertet dies als „nur formelle Erfüllung des verfassungsrechtlichen Regelungsauftrags“, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (143). 23 BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (141 und 145). 24 Höfling/Rixen in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 280. 25 Diesen unterstützt auch Tepperwien, Nachweltschutz im Grundgesetz, S. 162 ff., räumt aber später ein, dass der Nutzen des Art. 115 GG für den Erhalt staatlicher Handlungsspielräume dann entwertet wird (ebenda S. 171); ebenso Heun, in: Dreier, GG, Art. 115, Rn. 22 sowie Heuer, in: Heuer/Engels/Eibelshäuser, Kommentar zum Haushaltsrecht, Loseblatt, 21. Lfg. März 1996, Art. 115 GG Tz. 12. Jahndorf gibt bezüglich des Substanzverzehrs zu bedenken, dass ein Wertverfall des vorhanden Kapitalstocks bei ausgeglichenem Haushalt nicht verfassungswidrig sei und die Bruttoveranschlagung es daher auch nicht sein könne, in: Grundlagen der 21
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
schuldungsspielraum ergibt sich demgegenüber bei einer „Nettoberechnung“ der Investitionen, also beschränkt auf Neuinvestitionen26 unter Abzug der Abschreibungen. Letzterem Konzept liegt der Gedanke zu Grunde, dass eine Belastung der zukünftigen Generationen mit Staatsschulden in Höhe der Investitionen letztlich ihre Rechtfertigung darin findet, dass diese Investitionen auch zukünftigen Generationen zu Gute kommen27. Diese Rechtfertigung der strukturellen Verschuldung greift aber nur dann, wenn hierdurch tatsächlich die wirtschaftliche Substanz vergrößert wird, sodass eine Übertragung auf zukünftige Haushaltsjahre erfolgt und diese dann von eigenen Aufwendungen entlastet werden28. Daran fehlt es jedoch29, wenn entsprechend dem Bruttoinvestitionsbegriff gegenläufige Effekte, wie Abschreibungen, nicht berücksichtigt werden. Die hierfür vorgenommenen Ersatzinvestitionen stellen gerade keine Güter für zukünftige Perioden bereit, sondern ersetzen lediglich den Werteverzehr in der Vergangenheit30. Berücksichtigt man aber mit der bisherigen Praxis Ersatzinvestitionen für längst verschlissene Güter jeweils wieder und wieder als Investitionen, so führt dies zum Auftürmen eines potentiell unendlich großen Schuldenbergs, dem wertmäßig kein begünstigendes Äquivalent mehr gegenüber steht.31 Geradezu als Musterbeispiel hierfür gilt die kreditfinanzierte Anschaffung eines Dienstwagens32: Man wird ihn als Investition betrachten müssen, da das Fahrzeug auch in der Zukunft genutzt werden soll. Schon nach wenigen Jahren wird er ausgesondert und die beiden Nachfolgemodelle ebenso kreditfinanziert. Nach mehreren Jahren müssen die Steuerpflichtigen für die Zinsen dreier Kredite aufkommen, obwohl nur ein Fahrzeug genutzt werden kann. Damit funktioniert die Grundidee des „pay as you use“33 nicht mehr, Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, S. 169 ff. 26 Pünder, in: Isensse/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 36; Henneke, Öffentliches Finanzwesen, Finanzverfassung, § 11, Rn. 581; Schenke, in: Sodan, GG, Art. 115, Rn. 5; Seeler, Recht und Politik 1995, 195 (197); Lappin, Kreditäre Finanzierung des Staates unter dem Grundgesetz, S. 152 ff. 27 Dazu auch der Bundesrechnungshof, BT-Drs. 14/1667, S. 58. 28 Friauf, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band IV, § 91, Rn. 49; Hebeler, Nachhaltigkeit im Haushaltsrecht, in: Lange (Hrsg.), Nachhaltigkeit im Recht, S. 274. 29 Schlesiner/Weber/Ziebarth, Staatsverschuldung – ohne Ende?, S. 212. 30 v. Arnim/Weinberg, Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 113. 31 Pünder, in: Isensse/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 36; Friauf, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band IV, § 91, Rn. 51. 32 Bajohr, KJ 1998, 433 (440). 33 Musgrave, in: Gerloff/Neumark (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, S. 72 ff.; in diesem Sinne auch Mußgnug, Staatsverschuldung und Verfassungsrecht, in: Kantzenbach (Hrsg.), Staatsüberschuldung und Verfassungsrecht, S. 64 f.: Staatsverschuldung schaffe intertemporale Gerechtigkeit.
I. Bisherige Verschuldungsregeln auf Bundesebene
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wonach zukünftige Generationen über Kredite an den Investitionen beteiligt werden sollen, da sie gerade ihnen zu Gute kämen34. Ein ganz ähnliches Problem stellt sich, wenn Investitionsgüter wieder veräußert werden. Auch diese sog. Desinvestitionen35, kritisch als „Verschleudern von Tafelsilber“ bezeichnet36, wären im Sinne einer Nettostellung vom verschuldungsrelevanten Investitionsvolumen abzuziehen37. In der Haushaltspraxis mindern Desinvestitionen jedoch nicht den Kreditrahmen, sondern die Einnahmen hieraus dürfen konsumtiv verwendet werden38. Hier sind als Beispiele vor allem die Veräußerung von Beteiligungsvermögen sowie die Privatisierung von ehemals bundeseigenen Unternehmen, Immobilien u. ä. ins Feld zu führen. Dies ist nicht einsichtig, da die Anschaffung der Güter den Kreditrahmen erhöht, ihr Verkauf aber unberücksichtigt bleibt39. Der Kredit steht anschließend ohne Gegenwert zu Buche. F. Kirchhof rechnet insoweit vor, dass sich durch bewusste, aufeinander folgende Anschaffungs- und Veräußerungstransaktionen ein zusätzlicher Kreditrahmen erzeugen lässt40. (2) Darlehen und Gewährleistungen als Investitionen Ein weiterer Kritikpunkt ist das Verbuchen von Darlehen und Gewährleistungen als Investitionen. Hier wird zunächst die Praxis kritisiert, Darlehen „ohne Rücksicht auf ihren Verwendungszweck“41 als Investitionen zu betrachten, also auch solche, die beim Empfänger für konsumtive Zwecke eingesetzt werden. Diese fördern keinen zukünftigen positiven Wachstumseffekt42. Im Falle von Darlehen ist dies zwar noch ansatzweise einsichtig, da ja das Darlehen an sich zurückfließen soll und damit zumindest der Kapitalstock erhalten bleibt. Problematisch wird dies aber dann, wenn die Rückzahlung etwa wegen Insolvenz des Schuldners ausbleibt43. Anders ist dies von vornherein bei Gewährleistungen, denn hier muss die öffentliche 34
Dazu noch ausführlicher unten unter C. I. 2. b). F. Kirchhof, Wege aus der Staatsverschuldung, in: P. Kirchhof/Lehner/Raupach/Rodi (Hrsg.), Staaten und Steuern, FS Vogel, S. 241 (245 ff.). 36 Stüber, JA 2004, 932 (935). 37 Aprill/Hugo, Fiwi 2000, 115 (117); Andel, Wirtschaftsdienst 78 (1998), 457 (459). 38 Gröpl, Die Verwaltung 39 (2006), 215 (223). 39 F. Kirchhof, DVBl 2002, 1569 (1577). 40 F. Kirchhof, DVBl 2002, 1569 (1577). 41 BT-Drs. 11/6939, S. 6. 42 Sondervotum Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (178); Pünder, in: Isensse/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 39. 43 Dazu und zum Folgenden F. Kirchhof, DVBl 2002, 1569 (1577). 35
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
Hand gerade für den Fall einspringen, dass der Hauptschuldner nicht zahlen kann. Die Ausgaben hierfür wären also abzuschreiben44. Darüber hinaus stellt sich auch bei Darlehen das Problem, dass Darlehensvergaben zwar investitionserhöhend berücksichtigt werden, Darlehensrückzahlungen aber nicht investitionsmindernd45. Wenn man Darlehen jedoch entgegen der oben geschilderten Bedenken als Investition behandelt, dann wären auch hier, wirtschaftlich betrachtet, die Rückzahlungen als Desinvestition zu behandeln und somit vom Kreditrahmen abzuziehen. cc) Verfassungswidrigkeit der Staatspraxis? Fraglich ist schließlich, wie es um die Verfassungswidrigkeit46 der bisherigen Haushaltspraxis, insbesondere der Bruttoveranschlagung der Investitionen, steht. Dieses Argument wird von jenen Autoren ins Feld geführt, die ihre Kritik nicht nur als rechtspolitischen Vorschlag verstanden wissen wollen. Für die vorliegende Untersuchung ist die Frage der Verfassungswidrigkeit insofern relevant, als eine bewusste Missachtung der Regelungen bei einem neuen Regelungskonzept ein Schwergewicht nicht nur auf Seiten der tatbestandlichen Präzision, sondern auch auf Seiten der Sanktionsbewehrung erfordert. Die Frage der verfassungswidrigen Auslegung stellte sich natürlich schon nicht, wenn der Investitionsbegriff einem sehr weiten Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers unterläge47. Ein solcher ist jedoch abzulehnen: Der Begriff „Investition“ ist ökonomischer Natur, daher bedarf es keines besonderen Schutzes des parlamentarischen Entscheidungs- und Gestaltungsspielraumes durch die Beschränkung auf das Niveau einer Evidenzkontrolle, wie er bei politisch-wertenden Entscheidungen gewollt ist48. Überließe man die Konkretisierung des Investitionsbegriffs dem Haushalts44 Sondervotum Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (178). 45 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 62. 46 Dafür Höfling/Rixen in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 280 und 285 („verfassungswidrige Staatspraxis“); Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 206; Sondervoten von Di Fabio/Mellinghoff und Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96, 155 ff.; andeutend Schuppert, in: Umbach/Clemens, Art. 115, Rn. 28; a. A. Droege, VerwArch 98 (2007), 101 (109 f.). 47 Dafür Stern, Staatsrecht II, § 51 III. 4. c) S. 1279; Birk, DVBl 1984, 745 (747 f.); Osterloh, NJW 1990, 145 (151). 48 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 68.
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gesetzgeber, würde man dessen Normativität ad absurdum führen49. Es besteht somit ein Konkretisierungs- aber kein Beurteilungsspielraum50. Gegen eine Verfassungswidrigkeit scheint in erster Linie das historische Argument zu sprechen. In der Gesetzesbegründung wurde ausdrücklich auch auf solche Investitionen Bezug genommen, die das Produktionspotential „erhalten“51. Das deutet stark in die Richtung von Ersatzinvestitionen. Dieses Argument verliert indes an Bedeutung, wenn man betrachtet, dass auch in den Diskussionen der damaligen Zeit schon vereinzelt von einem engen Investitionsbegriff ausgegangen wurde52. Hinzu kommt, dass die historische Auslegung lediglich ergänzenden Charakter hat: Für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt53. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung Bedeutung nur insofern zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden könnten54. Die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Organe sind hingegen nicht mit dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen55. Dies rechtfertigt sich auch im konkreten Fall daraus, dass in der damaligen Zeit die Ersatzinvestitionen im Vergleich zu den Neuinvestitionen eine weniger bedeutsame Rolle spielten, was sich jetzt ins Gegenteil verkehrt hat56. Auch die Vermögensveräußerungen waren bis in die 49 Höfling/Rixen in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 285. 50 Höfling/Rixen in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 286. 51 BT-Drs. 5/3040, S. 47, Tz. 134. 52 Schriftlicher Bericht des Haushaltsausschusses zu BT-Drs. V/4378, 4379 S. 11 zu § 18 BHO: „Von einer Legaldefinition des Begriffes Investitionen hat der Ausschuss abgesehen. Er war sich aber darüber einig, dass der Begriff eng zu fassen ist.“ Mit Stern ist jedoch einzuräumen, dass das Zitat aus einer Beratung zur BHO stammt und daher nicht unmittelbar zur Konkretisierung von Art. 115 GG herangezogen werden kann, Staatsrecht II, § 51 III 4c, S. 1279, in Fn. 139. 53 BVerfG, Beschl v. 17.05.1960 – 2 BvL 11/59, 11/60, BVerfGE 11, 126 (130 f.); BVerfG, Beschl. v. 09.05.1978 – 2 BvR 952/75, BVerfGE 48, 246 (256); Sondervotum Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (179). 54 BVerfG, Urt. v. 21.05.1952 – 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299 (312); VerfG, Beschl v. 17.05.1960 – 2 BvL 11/59, 11/60, BVerfGE 11, 126 (131). 55 BVerfG, Beschl. v. 17.05.1960 – 2 BvL 11/59, 11/60, BVerfGE 11, 126 (130 f.); BVerfG, Urt. v. 16.02.1983 – 2 BvE 1, 2, 3, 4/83, BVerfGE 62, 1 (45). 56 Schlesinger, Möglichkeiten und Grenzen der Finanzierung des Staatshaushalts, in: Zavelberg (Hrsg.), Die Kontrolle der Staatsfinanzen, S. 241 (251); Höfling, Der Staat 29 (1990), 255 (261); Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 192.
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1980er Jahre nahezu bedeutungslos57. Die Problematik der ausufernden Verschuldung stellte sich damals nicht und wurde daher nicht gesehen58 – hieraus lässt sich nicht schlussfolgern, dass der Gesetzgeber eine äußerst extensive Auslegung befürworten wollte. Die zutreffende Auslegung des Investitionsbegriffs muss daher nach dessen Sinn und Zweck59 erfolgen. Die Vorschrift erfüllt im Hinblick auf die Staatsverschuldung eine Begrenzungs- und Warnfunktion60. Der Zugriff auf künftige Einnahmen soll dadurch beschränkt werden, dass der Kredit nur im Umfang von „Ausgaben mit zukunftsbegünstigendem Charakter“61 in Anspruch genommen werden darf. Damit dieses Lastenausgleichsprinzip funktioniert, muss also ein Entsprechungsverhältnis zwischen „Last“ und „Nutzen“ bestehen62. Das ist aber, wie oben ausführlich gezeigt, nur bei einer Begrenzung auf Nettoinvestitionen gegeben. Auch die systematische Betrachtungsweise streitet für eine Begrenzung auf Nettoinvestitionen. Es ist nämlich einhellige Ansicht, dass als Kreditaufnahme lediglich die Netto-Neuverschuldung zu Grunde gelegt wird, während die bloße Umschuldung außer Betracht bleibt, da hierdurch die Gesamtverschuldung des Staates nicht ansteigt63. Eine andere Betrachtung wäre auch offensichtlich verfehlt, weil dann die Kreditgrenze eines Haushaltsjahres davon abhängen würde, ob und in welcher Höhe Kredite zur Rückzahlung bzw. Umschuldung fällig würden. Dass dies nicht gemeint sein kann, zeigt sich an einem Gedankenexperiment: Die Kreditaufnahme ließe sich bei einer Brutto-Betrachtungsweise dann dadurch manipulieren, dass Kredite mit möglichst langer Laufzeit gewählt werden könnten, die entsprechend selten umgeschuldet werden müssten. Der Kreditrahmen hinge somit vom Zufall ab, was nicht gewollt sein kann. Das „Gebot materieller Symmetrie zwischen Kredit- und Investitionsbegriff“64 verpflichtet dann aber dazu, neben 57
Andel, Wirtschaftsdienst 78 (1998), 457 (459). Pünder, in: Isensse/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 37. 59 In diesem Sinne Schuppert, in: Umbach/Clemens, Art. 115, Rn. 27 („Normzweck“); Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 188; Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 73; Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, S. 489 f. 60 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (337); Sondervotum Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (176). 61 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (334); BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (138); schon zuvor Henseler, AöR 108 (1983), 489 (516). 62 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 189. 63 Einhellige Ansicht, statt aller Heintzen, in: v. Münch/Kunig, Art. 115, Rn. 12 m. w. N.; Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 115, Rn. 35. 64 Sondervotum Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (178). 58
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den Einnahmen durch Kredit auch die Ausgaben für Investitionen netto zu berechnen65. Darüber hinaus ergibt sich aus dem oben gezeigten dreistufigen System der Verschuldung aus Art. 109 und Art. 115 GG, dass ein weiter Investitionsbegriff die Investitionsklausel neben der Berücksichtigung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nahezu überflüssig machen würde66. Die besseren Gründe sprechen damit für die Verfassungswidrigkeit der bisherigen Haushaltspraxis. An dieser Stelle muss jedoch ein Blick zurück auf den Grund für die Frage nach der Verfassungswidrigkeit im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geworfen werden: Der Haushaltsgesetzgeber sollte auf seine Folgsamkeit gegenüber einem vorgegebenen Regelungskonzept getestet werden67. Gerade weil das BVerfG sich im Jahre 1989 nicht zum Investitionsbegriff geäußert hat68, konnte der Gesetzgeber bisher davon ausgehen, dass er seine Vorstellung vom Investitionsbegriff als Kreditgrenze zu Grunde legen durfte69. In dieser Situation wäre im Jahre 2007 mit Landau, hätte sich die Richtermehrheit ihm angeschlossen, durch das BVerfG auch lediglich ein Regelungsauftrag an den Gesetzgeber für die Zukunft formuliert worden; ihm wäre außerdem eine Übergangsfrist unter Fortgeltung der bisherigen Berechnung der Regelkreditgrenze zugestanden worden70. An dieser Stelle kann daher festgehalten werden, dass der Haushaltsgesetzgeber zu einer weiten Auslegung der Kreditbegrenzungsnormen neigt71 und um die daraus resultierenden Probleme weiß, ihm aber nicht unterstellt werden kann, dass er bewusst die verfassungsrechtlich verankerten Grenzen überschreiten wollte. Als „Schwachstelle“ der Investitionsklausel kann zugleich festgehalten werden, dass es sich nicht um eine schon aus dem Wortlaut heraus eindeutige, also klar in Zahlen fassbare72, transparente 65 Sondervotum Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (178); systematisches Problem benennend, aber Folgerung offen lassend Höfling, Der Staat 1990, 255 (260). 66 Sondervotum Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (178 f.). 67 Vgl. oben unter C. I. 2. a) cc). 68 Es hat ihn mangels Entscheidungserheblichkeit dahinstehen lassen, BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (337 f.). Im Ergebnis zwar ebenso aber schon wesentlich kritscher BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (143 ff.). 69 Sondervotum Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (180). 70 Sondervotum Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (175). 71 Zu den Gründen später unten. 72 Stern, Staatsrecht, Band II, § 51 III 4 c. Das BVerfG bemerkt zutreffend, dass die Regelung keine „handhabbare Orientierung“ für die Höhe der Kreditaufnahme bietet, Urt. v. 18.04.1989 –2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (356).
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Regelung handelt. Auch wenn man keinen Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers annimmt, bedarf die Norm der Auslegung73; dies stellt stets ein Einfallstor für unterschiedliche Ansichten dar. Daraus lässt sich zunächst schlussfolgern, dass eine Neuregelung eine gewollte Begrenzung mit aller Deutlichkeit zum Ausdruck bringen muss. b) Kritik am Investitionsbegriff als Regelungskonzept Unabhängig von den soeben erörterten Auslegungsproblemen sieht sich schon das Regelungskonzept der Kreditbegrenzung durch die Investitionssumme an sich zahlreicher Kritik ausgesetzt. aa) „Pay as you use“? Wie bereits gezeigt, wird die Rechtfertigung für die Kreditaufnahme auch vom BVerfG im zukunftsbegünstigenden Charakter der Investitionen gesehen. Dies basiert auf Musgraves Idee des „pay as you use“; es sollen also die Generationen, die die Investitionsgüter nutzen, auch dafür bezahlen74. Die Theorie geht davon aus, dass in der Gegenwart anfänglich Kapitalausgaben getätigt werden müssen, um in der Zukunft einen Nutzen zu gewährleisten. Bei einer reinen Steuerfinanzierung hätten die gegenwärtigen Steuerzahler hohe Lasten zu tragen, dies halte sie von Investitionen ab. Es entspräche nun einer gerechten Verteilung der Lasten auf mehrere Generationen, wenn die zukünftigen Nutzer der Einrichtungen über Kredite auch für die Kosten von deren Errichtung aufkämen. Dies würde aber voraussetzen, dass Lastenbeteiligung und investiver Nutzen aufeinander abgestimmt sind. Die Kreditfinanzierung wirkt zunächst lediglich insofern lastenverteilend, als die Generation entlastet wird, welche die Verschuldung auslöst. Damit ist jedoch noch nicht entschieden, durch wen und in welcher Art und Weise die Tilgung zu erfolgen hat. Jahndorf weist auf diesen Aspekt der „finanzpolitischen Willkür“75 hin: Es ist ungewiss, wann die Belastung eintritt, denn sie kann weiter hinausgeschoben werden. Sie kann sich inhaltlich in Gestalt von Steuererhöhungen oder Ausgabenkürzungen in verschiedensten Bereichen realisieren, sodass unklar ist, welche Interessengruppe sie trifft und welche Altersstruktur die Betroffenen 73
Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 115, Rn. 42. Musgrave, in: Gerloff/Neumark, Handbuch der Finanzwissenschaft, S. 72 ff. 75 Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, S. 160. 74
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aufweisen. Würde man etwa zur Konsolidierung des Staatshaushaltes eine Besteuerung der Renten beschließen (müssen), so träfe die Last paradoxerweise sogar wieder die Generation der Verursacher der Schulden. Püttner macht deutlich, dass durch die Staatsverschuldung der Handlungsspielraum der zukünftigen Regierungen eingeschränkt wird. Daran ändere selbst die Schaffung „bleibender Werte“ nichts, da in den meisten Fällen keine veräußerlichen Werte geschaffen würden, sondern Anlagen, die öffentlichen Zwecken dienen. Diese seien zumeist kaum verkäuflich. Er sieht eine Legitimation der Verschuldung daher nur in zwei Fällen als gegeben an: Zum einen zur Schaffung rentierlicher Werte, die also durch zusätzliche Einnahmen oder Vermeidung von Ausgaben Zins und Tilgung „erwirtschaften“, und sich damit im Haushalt neutral verhalten. Zu denken wäre in neuerer Zeit etwa an die Sanierung von Gebäuden zur Steigerung der Energieeffizienz, welche sich durch Einsparungen auf der Ausgabenseite refinanziert. Weiterhin meint Püttner die Schaffung veräußerlicher Werte, die jedoch zugleich meist auch rentable Investitionen darstellten (beispielsweise Unternehmensbeteiligungen).76 Darüber hinaus ist keineswegs gesichert, dass die Folgegeneration das investive Projekt noch für so wertvoll hält, dass sie es gerne abzahlt; ihr werden fremde Präferenzen oktroyiert77. Vielmehr entwickelt jede Generation laufend neue – ihre eigenen – Investitionswünsche. Auch die Erhaltungslasten sind, zusätzlich zu Zins und Tilgung, von der nachfolgenden Generation zu tragen78. Blankart illustriert dies anschaulich: „Wenn beispielsweise ein öffentliches Denkmal gebaut wird, so lässt sich die Meinung vertreten, dieses erfreue auch zukünftige Generationen. [. . .] Doch damit ist über die Legitimität der Verschuldung noch nichts ausgesagt. Denn die zukünftigen Generationen sind gar nicht gefragt worden, ob sie dieses Denkmal wollen. Denkmäler, welche die erstellende Generation einmal als schön empfunden hat, mögen von ihren Nachfahren als grundhässlich betrachtet werden.“79 Ein weiteres Beispiel aus der aktuellen Diskussion liefert Göke: Die eine Generation investiert mittels Kredit in Atomkraftwerke; die nächste, um jene wieder zu entfernen80. „Pay as you use“ entspricht also in diesen Fällen nicht dem Grundsatz der Generationengerechtigkeit. Richtiger erscheint dagegen ein Leitbild, 76 Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, S. 16 f.; Pünder, DVBl 2008, 946 (947). 77 Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, S. 14. 78 Duwendag, Staatsverschuldung – Notwendigkeit und Gefahren, S. 39; Pünder, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 37. 79 Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 2. Auflage, S. 334. 80 Göke, ZG 2006, 1 (20).
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wonach jede Generation die laufenden Ausgaben für Investitionen selbst zu tragen hat, da sie ihrerseits ebenso den Kapitalstock früherer Generationen übernimmt, ohne dafür zu bezahlen81. bb) Kreditaufnahme für Konsumzwecke Auf einen weiteren Aspekt weist Göke hin82: Die Investitionsklausel stellt lediglich eine Rechengröße dar; es ist hingegen keineswegs so, dass der Staat Kredite aufnimmt, um zu investieren. Zwar soll die Regelung auch sicherstellen, dass der Staat in schlechten Zeiten nicht völlig auf Investitionen verzichtet. Die Einnahmen aus der Neuverschuldung dienen jedoch als Deckungsmittel für alle Ausgaben, nicht nur für Investitionen (Grundsatz der Gesamtdeckung). In der Praxis wird daher zunächst ein Plan der politisch gewünschten Gesamtausgaben aufgestellt werden und sodann daraufhin überprüft werden, ob die Kreditaufnahme immer noch unterhalb der Investitionsgrenze liegt. Sehr anschaulich lässt sich dies an einem Gedankenexperiment verdeutlichen: Angenommen, es läge ein materiell ausgeglichener Haushalt vor, der sowohl Konsumausgaben als auch Investitionen beinhaltet. Nun kommt der Wunsch nach einer weiteren Konsumausgabe auf. Es ist möglich, diese in den Haushalt einzustellen und einen Kredit aufzunehmen, solange nur insgesamt die Kreditaufnahme nicht größer ist, als die auch veranschlagten Investitionen. Da nicht anzunehmen ist, dass selbst beim Gebot eines ausgeglichenen Haushalts völlig auf Investitionen verzichtet würde, ist es letztlich eine Frage des Blickwinkels, welchem Zweck die Kreditaufnahme dient. In der Praxis dient sie der Finanzierung jener Ausgabe, auf die man am ehesten verzichten würde (müsste), wenn das Gebot eines materiell ausgeglichenen Haushaltes bestünde. Auch daran zeigt sich die Fragwürdigkeit der Investitionsklausel. c) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass die Begrenzung der Kreditaufnahme auf das Maß der Investitionen an sich schon keinen tauglichen Begrenzungsmaßstab darstellte. Darüber hinaus fehlte der Norm das nötige Maß Präzision, ja, Bezifferbarkeit, um in der Praxis effektive Wirkung entfalten zu können. Hinzu kommt eine zwar ausufernde Anwendung der Norm, wobei aber an dieser Stelle kein bewusst gewollter Verfassungsbruch zu attestieren ist. 81 82
Vgl. dazu BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (354). Für die vergleichbare niedersächsische Regelung Göke, NdsVBl. 1996, 1 (3).
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In der Praxis zeigt sich die negative Bedeutung der Investitionsklausel daran, dass der größte Teil der Verschuldung durch die hiernach mögliche „normale“ Verschuldung und nicht durch den Ausnahmetatbestand des Art. 115 Abs. 2 HS 2 GG a. F. verursacht wurde.83 Sinnvoll erscheint eine Verschuldung im Bereich der Investitionen lediglich dann, wenn rentierliche Investitionen geschaffen werden, die also im Idealfall Zins und Tilgung aus sich selbst heraus erwirtschaften, mindestens aber den Zins für das eingesetzte Kapital. Solche Ausgaben machen indes nur einen so geringen Bruchteil staatlicher Investitionstätigkeit aus, dass sie kaum eine gesonderte Regelung erfordern. 3. Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht Auch die Begrenzung der Verschuldung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht wirft Probleme auf. Es soll zunächst kurz der Regelungsinhalt dargestellt werden, bevor auf die damit verbundenen Probleme, wie etwa die schwer handhabbare Weite des Begriffs, einzugehen sein wird. Auch an dieser Stelle soll überprüft werden, ob der Haushaltsgesetzgeber die Norm eingehalten hat. a) Begriffsklärung Die Formulierung „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“ stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum dar, denn angesichts der Vielzahl denkbarer Maßnahmen zu dessen Förderung wird dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zugesprochen, der durch eine erhöhte Darlegungslast ausgeglichen wird84. Hintergrund der Einführung dieses Verfassungsbegriffs war eine grundlegend neue Betrachtung der Haushaltspolitik, nämlich der Übergang „von der Finanzpolitik der reinen Bedarfsdeckung zur Ordnungsfinanzpolitik“85. Gemeint ist die sog. „Globalsteuerung“, welche aktive staatliche Lenkungsmaßnahmen zur Konjunktursteuerung umfasst. Zur inhaltlichen Annäherung an den Begriff des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts wird überwiegend auf das „magische Viereck“, die Umschreibung der wirtschaftlichen Teilziele im damals gleichzeitig entstandenen Gesetz zur Förderung der Stabilität und des 83 Meyer, Solidarität und Verantwortung, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Föderalismusreform II: Neuordnung von Autonomie und Verantwortung, S. 91 (103). 84 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (338); Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art. 115, Rn. 8 a. 85 BT-Drs. 5/3040, Tz. 3.
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Wachstums der Wirtschaft (StWG), rekurriert86. Diese sind: Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie ein stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. Die Teilziele sollten jedoch nicht im Grundgesetz festgeschrieben werden, um die Offenheit für neue wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse zu wahren. Dem StWG kommt damit nicht die Funktion einer letztverbindlichen Verfassungsinterpretation zu87. Da die Teilziele für sich betrachtet labil sind, genügt es für die Annahme einer Störung nicht schon, dass nicht alle Teilziele voll und nachhaltig erreicht sind, sondern es geht um „eine relativ-optimale Gleichgewichtslage in der Realisierung der Teilziele, die untereinander in einem Spannungsverhältnis stehen können und oftmals nicht ohne wechselseitige Abstriche realisierbar sind“88. In concreto folgt aus der Rechtspflicht89 zur Rücksichtnahme auf konjunkturelle Erfordernisse das Verbot einer prozyklischen Finanzpolitik90 (auch als sog. Parallelpolitik91 bezeichnet). Dies gilt in doppelter Hinsicht: Weder darf die hohe Nachfrage in der Boom-Phase durch weitere Kreditaufnahme angeheizt werden, noch darf eine rezessive Konjunkturtendenz durch den völligen Verzicht auf Krediteinnahmen verstärkt werden92 („der Krise hinterhersparen“93). Unzutreffend ist insoweit der Einwand, wonach Art. 115 GG – asymmetrisch – keine Rückführung der Kredite vorschreibe94. Die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts können zunächst je nach Konjunkturlage eine starke oder zurückhaltende 86
BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (338). Scheuner, Die Erhaltung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, in: Schiffer/Karehnke (Hrsg.), FS Hans Schäfer, S. 109 (114); Heintzen, in: v. Münch/ Kunig, Art. 109, Rn. 12. 88 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (339). 89 Im Gegensatz zum bloßen Programmsatz; Prokisch, Die Justiziabilität der Finanzverfassung, S. 142 m. w. N.; Fahr-Becker, Zur Frage der Justitiabilität des Artikels 109 Absatz II Grundgesetz, S. 20; Papier, AÖR 98 (1973), 528 (549). 90 Brenner/Haury/Lipp, FinArch n. F. 38 (1980), 236 (240); Friauf, in: HdStR IV, § 91, Rn. 34 und 52; Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 344; Schuppert, in: Umbach/Clemens, Art. 115, Rn. 21; Höfling, Verfassungsfragen einer kreditfinanzierten Konjunkturpolitik, in: Peter/ Rhein, Wirtschaft und Recht, S. 9 (25); Lappin, Kreditäre Finanzierung des Staates unter dem Grundgesetz, S. 76. 91 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 246. 92 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 344. 93 Wucherpfennig, Staatsverschuldung in Deutschland, S. 217. 94 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 63 f. 87
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Kreditaufnahme, einen Verzicht auf weitere Neuverschuldung oder sogar eine Nettotilgung95 verlangen96. Es ergibt sich daraus auch die Verpflichtung, einmal entstandene Defizite während Boomphasen zurückzuführen: Die Regelung soll verhindern, dass sich „ein stetig wachsender Schuldensockel bildet, der schließlich die Fähigkeit des Staatshaushaltes, auf die Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu reagieren, in Frage stellt“97. Erst durch die Tilgung wird der erforderliche Handlungsspielraum gewonnen, um in Rezessionsphasen wieder Kredite aufnehmen zu können. Zu differenzieren ist weiterhin danach, ob eine „Störung“ des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts bereits eingetreten ist. Nur wenn das Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört ist98, oder eine solche Störung unmittelbar droht99, darf die Investitionsgrenze überschritten werden100. Die erhöhte Kreditaufnahme muss dann nach Umfang und Verwendung geeignet sein, die Störungslage zu beseitigen, und sie muss final auf die Abwehr bezogen sein101. In Bezug auf diese unauflösbare Verknüpfung zwischen Ausgabenzweck und Kreditaufnahme spricht P. Kirchhof auch an dieser Stelle von einer „Junktimklausel“102. Aus dem Postulat der Gleichgewichtslage ergibt sich folglich, dass kreditfinanzierte Konjunkturprogramme reversibel sein müssen103. Sie dürfen nicht zu finanziellen Dauerbelastungen des Staatshaushalts führen, die nicht mehr abbaubare strukturelle Defizite mit sich bringen und auch nach Überwindung der Rezessionslage nicht mehr abgebaut werden können104. Daher ist insbesondere die kreditfinanzierte Einführung von neuen Leistungstat95 Siekmann, in: Sachs, Art. 115, Rn. 50 (für mittelfristigen Ausgleich der konjunkturellen Verschuldung auf „Null“); Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 115, Rn. 31; Wendt/Elickner, DVBl 2001, 497 (500); BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (334): „kann [. . ..] Verschuldung zurückzuführen sein“; Friauf, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band IV, § 91, Rn. 34 und 54; Höfling, Ökonomische Theorie der Staatsverschuldung in rechtswissenschaftlicher Perspektive, in: Engel/Morlok, Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, S. 85 (93): „Gebot einer Nettoschuldentilgung“. 96 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 344. 97 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (355 f.). 98 Siekmann, in: Sachs, Art. 115, Rn. 44. 99 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (339). 100 Vgl. dazu oben C. I. 1. 101 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (339). 102 Kirchhof, Grenzen der Staatsverschuldung, in: v. Arnim/Littmann, Finanzpolitik im Umbruch, S. 271 (279). 103 Friauf, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band IV, § 91, Rn. 37; Ehrlicher, Der Staat 24 (1985), 31 (48 f.). 104 Friauf, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band IV, § 91, Rn. 37.
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beständen, die sich zu kaum wieder abbaubaren sozialen Besitzständen verdichten können, im Lichte des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts unzulässig105. b) Mangelnde Operationalität bei geringer Kontrolldichte Das erste große Problem für die Haushaltspraxis ergibt sich daraus, dass der Topos des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ keine aus sich selbst heraus vollziehbare Direktive enthält. Zu konstatieren ist ein Mangel an Operationalität, aus der sich eine entsprechend geringe Justiziabilität der Vorschriften ergibt. aa) Der unbestimmte Rechtsbegriff Hintergrund für die Verwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“ war, wie gezeigt, die Komplexität der in Bezug genommenen wirtschaftlichen Vorgänge, zumal die Regelungen für neue Erkenntnisse offen gehalten werden sollten106. Diese Vorgehensweise bewirkt eine Delegation der Letztentscheidung an das dafür als kompetent erachtete Staatsorgan107. Sie birgt die Gefahr, dass „Leerformeln“ in der Verfassung Platz greifen, „denen selbst ein Minimum an konkretisierbarem Rechtsgehalt fehlt“108. So hat denn auch das BVerfG festgestellt, dass sich die normative Vorgabe des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts [. . .] in der Praxis als zu unbestimmt erwiesen [hat], um aus sich heraus vollziehbar zu sein“109. Es hat dem Gesetzgeber daher aufgetragen, zu prüfen, inwieweit eine nähere gesetzliche Konkretisierung der doppelten Vorgaben zum gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht geboten ist, nämlich einerseits ihnen Rechnung zu tragen und andererseits eine Störung zu verhindern. Das Normkonzept könne sich „praktisch nicht entfalten, so105
Schaal, BB 1981, 1 (6). BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (140); Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 185; FischerMenshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in: Dreißig, Probleme des Finanzausgleichs I, S. 154; Patzig, DÖV 1989, 1022 (1023). 107 Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in: Dreißig, Probleme des Finanzausgleichs I, S. 136; Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 185. 108 Fischer-Menshausen, Unbestimmte Rechtsbegriffe in der bundesstaatlichen Finanzverfassung, in: Dreißig, Probleme des Finanzausgleichs I, S. 137; Friauf, VVDStRL 27 (1969), 1 (37). 109 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (354). 106
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lange eine Regelung fehlt, die handhabbare Orientierungen dafür festlegt, ob und in welchem Umfang in einer gesamtwirtschaftlichen Normallage unter den Gesichtspunkten des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts eine staatliche Kreditaufnahme als unbedenklich angesehen werden kann, einer besonderen Rechtfertigung bedarf oder ausgeschlossen sein muss“110. Fehlt eine präzisierende Regelung, ist der Haushaltsgesetzgeber nicht zur Rechenschaft vor sich selbst angehalten; auch in der öffentlichen Meinungsbildung kann kaum eine Bewertung erfolgen. Doch an welcher Stelle ist der Rechtsbegriff „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“ zu unbestimmt? Das Problem ist ein mehrfaches: Auch wenn man anerkennt, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Anlehnung an das einfache Haushaltsrecht aus den eingangs geschilderten Teilzielen besteht, so stellen diese Teilziele wiederum ebenfalls unbestimmte Rechtsbegriffe dar. Hinzu kommt ein Zielkonflikt zwischen den einzelnen Teilzielen. In der rechtswissenschaftlichen Diskussion wird sogar die Aufnahme weiterer Teilziele wie Umweltschutz111 und gerechte Verteilung des Nationaleinkommens112 angeregt, wodurch das „magische Viereck“ zum „magischen Vieleck“ würde. Auch bei der Frage, was im Einzelfall unter „Erfordernissen“ oder einer „Störung“ zu verstehen ist, kann man zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen113. Die Unbestimmtheit soll im Folgenden exemplarisch anhand der einzelnen Teilziele gezeigt werden. Wie ihre Auslegung im Einzelnen zu erfolgen hat, ist dabei für die vorliegende Untersuchung unerheblich; es geht darum, festzuhalten, in welch weitem Korridor von vertretenen Meinungen sich der Haushaltsgesetzgeber bewegen kann. (1) Die Unbestimmtheit der Teilziele Relativ einhellige Meinung ist, dass das Teilziel der Preiswertstabilität die Konstanz nicht einzelner Preise, sondern des Preisdurchschnitts erfordert, welche durch einen statistischen Index (sog. „Warenkorb“) zu bemessen ist114. Schon umstritten ist jedoch der erforderliche Grad der Zielerreichung: Während nach einer Ansicht die Preiswertstabilität absolut im Sinne 110 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (356) (Hervorhebung hinzugefügt). 111 Dazu Stober, Handbuch des Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrechts, S. 262 f.; Bleckmann, JuS 1991, 536 (540). 112 Maunz, in: Maunz/Dürig, Lfg. 17, Art. 109, Rn. 28. Schachtschabel, Allgemeine Wirtschaftspolitik, S. 90 ff.; abwägend Smekal, FA n. F. 45 (1987), 143 (145). 113 Rodi, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, Lfg. Dezember 2004, Art. 109, Rn. 173. 114 Lachmann, Volkswirtschaftslehre, S. 226; Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, Art. 109, Rn. 50.
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einer Inflationsrate von Null zu verstehen ist115, erachten Bundesbank und jetzt die Europäische Zentralbank sie bereits bei einer Preisniveauveränderung von 2% als stabil116. Wieder andere Autoren legen sich weniger fest und verwenden ihrerseits unbestimmte Rechtsbegriffe, wonach die Preisniveaustabilität bei „annähernd gleich bleibenden Lebenshaltungskosten erreicht“117 bzw. die Inflationsrate „möglichst gering“118 zu halten sei. Ähnlich vage verhält es sich mit dem Teilziel des hohen Beschäftigungsstandes. Wohl überwiegende Ansicht ist, dass sich dieses Kriterium nach der Arbeitslosenquote bemisst, welche sowohl die strukturelle als auch die konjunkturelle Arbeitslosigkeit umfasst119. Teilweise wird jedoch vertreten, das Teilziel umfasse die Auslastung aller Produktionsfaktoren, also neben Arbeit auch Kapital und Boden120. Auch wenn man sich auf den Beschäftigungsstand konzentriert, scheint dies geradezu paradigmatisch für die Konturenlosigkeit des Konzepts im Wandel der Zeiten und Umstände zu sein: So ging man Ende der 1960er Jahre schon bei einer Erwerbslosenquote von 0,8% von einer Verfehlung des Teilziels121 aus, was aus heutiger Sicht geradezu unvorstellbar erscheint. Aus diesem Grunde wird derzeit bei Arbeitslosenquoten von teilweise über 10% auf eine präzisere Quantifizierung verzichtet122. Das Teilziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts beruht darauf, dass außenwirtschaftliche Beziehungen mit anderen Staaten nur dann erfolgreich sein können, wenn sie annähernd ausgeglichen sind und somit keine spürbaren Abhängigkeitsverhältnisse entstehen123. Dies kommt zum 115 Herdegen, in: Maunz/Dürig, 34. Lfg. Juni 1998, Art. 88, Rn. 67 („absoluter Stabilitätsbegriff“). 116 Dazu Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip, S. 174 f. m. w. N.; jedoch nicht ohne den Hinweis, dass sich der korrekte Wert aus der politischen Meinungsbildung ergebe und es daher „keine verbindliche Qualifizierung“ geben könne. 117 Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 109, Rn. 50. 118 Maunz, in: Maunz/Dürig, Lfg. 17, Art. 109, Rn. 29. 119 Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 109, Rn. 50; BVerfG, Beschl. v. 02.03.1999 – 2 BvF 1/94, BVerfGE 100, 249 (285); Rodi, in: Dolzer/Waldhoff/ Graßhof, BK, Lfg. Dezember 2004, Art. 109, Rn. 221. 120 Hansmeyer, in: Stern/Münch/Hansmeyer, § 1 StabG Anm. III. 2. (S. 126) weist aber darauf hin, dass die Ermittlung bei den Produktionsfaktoren Boden und Kapital auf „unüberwindbare Schwierigkeiten“ stößt. Die Arbeitslosenquote stehe daher stellvertretend für die anderen Faktoren; ebenso Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip, S. 176. 121 Vgl. BT-Drs. 5/2511, Anlage 1, S. 23. 122 Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip, S. 177. 123 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Dezember 2004, Art. 109, Rn. 223.
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Ausdruck in einer ausgeglichenen Zahlungsbilanz, wenn sich der gesamte Export und Import an Waren, Dienstleistungen und Kapital die Waage halten124. Und wie steht es nun um die Operationalität dieses unbestimmten Rechtsbegriffs? Hier ist der Einschätzung Hänschs nichts hinzuzufügen: „Auf [G]rund der Diffizilität der Zahlungsbilanztheorie und ihrer praktischen Ausfüllung besteht keine einhellige Meinung über den richtigen Maßstab für die Beurteilung des Teilziels, zumindest wird eine solche kaum dezidiert vertreten“125. In der Praxis hilft man sich mit der Zielprojektion, dass der Außenbeitrag als Saldo aus Handels- und Dienstleistungsbilanz im Verhältnis zum Bruttosozialprodukt 1% nicht überschreiten soll126, teilweise werden Werte von über 2% für unbedenklich gehalten127. Nicht anders verhält es sich bei dem Teilziel des angemessenen Wirtschaftswachstums. Hier stellt sich einerseits die Frage nach der Bemessungsgrundlage, andererseits die Frage nach dem Maß der „Angemessenheit“. Als erstere wird nach allgemeiner Auffassung das reale Bruttosozialprodukt des Inlands genutzt128, welches in Relation zur Bevölkerungszahl umzurechnen ist („pro Kopf“), um eine tatsächliche Steigerung des Wohlfahrtsniveaus von einem bloß absoluten Zuwachs, etwa über das Ansteigen der Bevölkerungszahl, abzugrenzen129. Dennoch stellt sich das Problem, dass in eine derartige quantitative Berechnung die Qualität der angebotenen Leistungen ebenso wenig einfließt wie Sozialindikatoren, exemplarisch etwa Freizeit und Alphabetisierungsrate130. Auch kann sog. „Scheinwertschöpfung“ erhöhend wirken, dies sei an einem Beispiel erläutert: Werden auf öffentlichen Straßen Parkgebühren eingeführt, so erhöht dies paradoxerweise das Bruttosozialprodukt, obwohl hierdurch der Wohlstand der Bevölkerung unzweifelhaft nicht zunimmt131. Auch die Beseitigung von Unwetterschäden wirkt sich in gleicher Weise erhöhend auf das BSP aus. Der Begriff der „Angemessenheit“ des Wachstums schließlich wird von Hansmeyer als „Leerformel“ eingeschätzt, „die keinerlei Aussagekraft besitzt, bis auf die, dass stets ein positives Wachstum anzustreben ist“132. 124
Lachmann, Volkswirtschaftslehre, S. 227. Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip, S. 179; zum Streitstand Neubäumer/Hewel, Konjunktur und Wachstum, in: Neubäumer/Hewel, Volkswirtschaftslehre, S. 367 (420). 126 BT-Drs. V/2511, Anlage 1, S. 23. 127 Cezanne, Volkswirtschaftslehre, S. 282 f. 128 Friedrich, Grundkonzeptionen der Stabiliserungspolitik, S. 28 ff. 129 Hansmeyer, in: Stern/Münch/Hansmeyer, § 1 StabG Anm. III. 3. (S. 131). 130 Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip, S. 180; Friedrich, Grundkonzeptionen der Stabilisierungspolitik, S. 31. 131 Weitere Beispiele bei Arndt, JuS 1990, 343 (344). 132 Hansmeyer, in: Stern/Münch/Hansmeyer, § 1 StabG Anm. III. 3. (S. 133). 125
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Schon dieser Gang durch die vier Teilziele des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ hat gezeigt, dass diese selbst viele Fragen offen lassen und damit wenig zur Konkretisierung bzw. Operationalität beizutragen haben. (2) Das Verhältnis der Teilziele zueinander Hinzu kommt nun noch der Zielkonflikt zwischen den einzelnen Teilzielen. Einigkeit besteht darin, dass es sich insoweit um ein „Spannungsverhältnis“ handelt, also die (bessere) Verwirklichung des einen Ziels zu Lasten eines anderen gehen kann. Kontrovers diskutiert wird hingegen das Verhältnis der Teilziele zueinander. Von der wohl herrschenden Meinung wurde und wird die These von der Gleichrangigkeit aller vier Teilzeile vertreten133. Von anderen Autoren werden einzelne Teilziele für besonders wichtig erachtet, beispielsweise das Wachstumsziel, was durch die Formulierung „bei stetigem Wachstum“ zum Ausdruck käme134; wieder andere relativieren gerade dieses Ziel in seiner Bedeutung, weil das Attribut „angemessen“ es von der Erreichung der anderen Ziele abhängig mache135. Die Diversifizierung der Zielvorgaben lässt hier ein breites Spektrum an Maßnahmen seitens des Haushaltsgesetzgebers als vertretbar erscheinen, zumal jede nur denkbare wirtschaftspolitische Maßnahme zumindest einem der Ziele dienen wird136. (3) Keine Obergrenze Weiterhin wird bemängelt, dass sich im Grundgesetz keine rechtliche Obergrenze für die Neuverschuldung befinde. Sei die Störung des Gleichgewichts erst einmal festgestellt, so spiele es in der Haushaltspraxis keine Rolle, in welcher Höhe die „Regelgrenze“ der Investitionsklausel überschritten wird137. Zur Höhe des Überschreitungsbetrages fänden sich in den Begründungen der Haushaltsgesetze regelmäßig keine hinreichenden Ausführungen. 133 So noch Vogel/Wiebel (Zweitbearbeitung), in: BK, 28. Lfg. 1971, Art. 109, Rn. 113; Regierungsentwurf BT-Drs. 5/890, S. 12; Fahr-Becker, Zur Frage der Justitiabilität des Artikels 109 Absatz II Grundgesetz, S. 83; Hänsch, Gesamtwirtschaftliche Stabilität als Verfassungsprinzip, S. 181 ff. m. w. N. 134 Möller, Gesetz zur Förderung des Wachstums der Wirtschaft und Art. 109 GG, § 1, Rn. 8, der zwar auf die Gleichrangigkeit aller Teilziele hinweist, aber ein Aufgeben des Wachstums keinesfalls für zulässig hält. 135 Hansmeyer, in: Stern/Münch/Hansmeyer, § 1 StabG Anm. IV. 1. (S. 134); ähnlich Maunz, in: Maunz/Dürig, Lfg. 17, Art. 109, Rn. 27. 136 Friauf, VVDStRL 27 (1969), 1 (33), Hervorhebung im Original. 137 Engels/Hugo, DÖV 2007, 445 (449).
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Auch dies ist aber letztlich auf das Problem der „Bezifferbarkeit“ zurückzuführen: Die Obergrenze ergibt sich bei verständiger Auslegung durchaus aus dem, was zur Beseitigung der Störung erforderlich ist. Nur lässt sich nicht auf den ersten Blick ein Abgleich vornehmen, wie dies bei einer konkreten Begrenzung der Verschuldung der Höhe nach oder einer im Gesetz verankerten Rechenformel der Fall wäre. (4) Zwischenergebnis: Keine klare Handlungsanweisung an Normadressaten Der unbestimmte Rechtsbegriff des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ besteht also aus weiteren unbestimmten Rechtsbegriffen, die vielerlei Fragen aufwerfen. Daraus eine konkrete Handlungsanweisung zu entwickeln, fällt schwer. Vom Gesetzgeber kann daher kaum erwartet werden, gerade eine bestimmte Auslegung des Rechtsbegriffs als bindend zu betrachten. Biedenkopf hat dies schon 1969 ebenso kurz wie zutreffend geschildert: „Ein solcher Rechtsbegriff lässt sich zwar formal noch als unbestimmter Rechtsbegriff einordnen. Die Integration [in die Verfassung, d. Verf.] bleibt jedoch formal. Materiell müssen Rechtswissenschaft und Praxis vor solchen Begriffen kapitulieren“138. Es nimmt daher nicht Wunder, wenn der Haushaltsgesetzgeber sich für diejenige Interpretation entscheidet, die ihm politisch in der jeweiligen Situation am gelegensten erscheint. Damit verfehlt aber die Regelung ihren Normzweck: Es handelt sich bei den Art. 109, 115 GG der Sache nach um Schuldenbegrenzungsrecht139, denn ein Postulat der Kreditaufnahme enthalten sie – von dem Verbot prozyklischen Verhaltens in der Rezession einmal abgesehen – gerade nicht. Diese Begrenzungsfunktion läuft indes leer, wenn die Begrenzung in letzter Konsequenz ihrem Adressaten anvertraut wird. bb) Justiziabilität Was bedeutet diese tatbestandliche Weite nun für die Justiziabilität der Normen? Das Bundesverfassungsgericht räumt dem Gesetzgeber einen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage ein, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gegeben ist. Die Intensität der verfassungsgerichtlichen Kontrolldichte fällt entsprechend gering aus. 138
Biedenkopf, BB 1968, 1005 (1006). Sondervotum Di Fabio/Mellinghof zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (159); Westerhoff, ZRP 2010, 73 (76). 139
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(1) Ansatz Birks: Finanzwirtschaftliches Übermaßverbot Zuvor hatte Birk den Ansatz entwickelt, ein finanzwirtschaftliches Übermaßverbot zu etablieren. Dem Lag der Gedanke zu Grunde, Art. 115 GG sei die Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Bereich der Finanzverfassung140. Das Mittel der Kreditaufnahme müsse geeignet und erforderlich sein, das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht zu fördern. Dabei müssten mildere Mittel wie Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen in Betracht gezogen werden. Die negativen Folgen der Kreditaufnahme dürften zu den positiven Folgen im Hinblick auf die Erreichung der Zielgröße „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“ nicht außer Verhältnis stehen, müssten also abgewogen werden. Das finanzverfassungsrechtliche Übermaßverbot verbiete daher die Last (Verschuldung), wenn gewichtigere öffentliche Interessen verletzt als verwirklicht würden141. Die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, der verfassungsgerichtlich nachprüfbar sei. Dabei gelte eine Vermutung für die Wahrung des Übermaßverbots, solange die als „Regelgrenze“ bezeichnete Investitionsgrenze eingehalten sei142. (2) BVerfG: Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum Das BVerfG ist dem entgegen getreten. Nach seinen Vorgaben muss die Kreditaufnahme zwar nach Umfang und Verwendung geeignet sowie final darauf gerichtet sein, die Störung abzuwehren143. Es betont jedoch den politischen Charakter des Haushaltsplans als „ausgabenbezogenes Regierungsprogramm“, das Prioritätssetzungen und Abwägungsentscheidungen enthalte144. Diese Abwägung vorzunehmen, sei politische Aufgabe des Haushaltsgesetzgebers, die er auch politisch zu verantworten habe145. Es könne nicht Sinn einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle sein, einzelne Ausgabensätze aus diesem Gefüge herauszubrechen und isoliert auf ihre Eignung zu prüfen.146 Auch bei einer Kreditfinanzierung konsumtiver Ausgaben bestehe keine Bindung an das Verhältnismäßigkeitsprinzip, denn es fehle an einer entsprechenden Konstellation: Die Störung einer Abwehr des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und die Begrenzung der Kreditaufnahme stünden sich nicht wie eine eingreifende Maßnahme und der davon 140 141 142 143 144 145 146
Birk, DVBl 1984, 745 (746). Birk, DVBl 1984, 745 (748 f.). Birk, DVBl 1984, 745 (748). BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2
BvF BvF BvF BvF
1/82 1/82 1/82 1/82
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
79, 79, 79, 79,
311 311 311 311
(339). (340). (342). (340).
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betroffene Rechts- und Freiheitskreis des Einzelnen gegenüber; die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes würde die Befugnis des Haushaltsgesetzgebers auf die Ermessensausübung einer Verwaltungsbehörde reduzieren147. Nach Ansicht des BVerfG steht dem Gesetzgeber daher ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage zu, ob eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts vorliegt oder unmittelbar droht und ob eine erhöhte Kreditaufnahme zu ihrer Abwehr geeignet ist148. Nähme der Gesetzgeber das Recht zur Kreditaufnahme in Anspruch, so träfe ihn allerdings eine Darlegungslast für die Erfüllung der Voraussetzungen des Art. 115 GG. Im Gesetzgebungsverfahren darzulegen seien die Diagnose, dass das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht ernsthaft und nachhaltig gestört sei, die Absicht, diese Störung abzuwehren, sowie die begründete Prognose, dass und wie die erhöhte Kreditaufnahme zur Erreichung dieses Ziels geeignet sei. Diese Obliegenheit habe ihre Grundlage in der Publizitätspflicht für den Haushalt, die verfassungsrechtlich gewährleistet sei und die Kontroll- und Legitimationsfunktion von Haushaltsberatung und -verabschiedung erst erfüllbar mache. Sie trage dazu bei, die Kreditaufnahme „auf Ausnahmefälle zu beschränken und so ihren Ausnahmecharakter zu sichern; die Unbestimmtheit des materiellen Maßstabs findet damit ein Stück weit ihren Ausgleich in formell-verfahrensmäßigen Anforderungen“149. Dem BVerfG obliege dann im Streitfall die Prüfung, ob die Einschätzung des Gesetzgebers nachvollziehbar und vertretbar sei150. Indes hat sich die Begründungspflicht in der Praxis nicht als wirkungsvoll erwiesen151. Zu Recht wird bemängelt, dass sich die Gerichtsbarkeit wie mit „Scheuklappen“ auf die Begründung fixiert und dabei übersieht, dass diese – weil von den Verfassungsgerichten verlangt – zum Teil nur vorgeschoben wird, um einen aus ganz anderen Gründen gegebenen Kreditbedarf, welcher nach politischen Kriterien unabweisbar scheint, zu 147
BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (341 f.). BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (343); ebenso BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (140). 149 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (344 f.). 150 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (343); wiederholend BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (140 f.). 151 Kritisch Patzig, DÖV 1989, 1022 (1026 f.) mit dem Hinweis, dass Prognosen ohnehin schon ein „schwieriges Geschäft“ seien. Zudem habe es beispielsweise bei der Prognose des Wirtschaftswachstums im Jahr 1987 eine Bandbreite zwischen 1,5 und 3% gegeben, sodass der Gesetzgeber die Möglichkeit habe, sich verschiedenen Prognosen anzuschließen, ohne dass man ihm vorwerfen könne, die Beurteilung sei nicht „nachvollziehbar und vertretbar“. 148
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
decken152. Als einzig positiven Aspekt der Begründungspflicht wird man wohl annehmen müssen, dass der Haushaltsgesetzgeber zumindest verpflichtet ist, die Kreditfinanzierung wenigstens zur Kenntnis zu nehmen153. Nach Höfling „scheinen die entsprechenden haushaltsgesetzgeberischen Erläuterungen und Rechtfertigungen in der Zwischenzeit schon zu einem deklamatorischen Ritual denaturiert zu sein“154. Daraus wird ersichtlich, dass die Darlegungspflicht eine inhaltliche Kontrolle nicht zu ersetzen vermag; letzterer hat sich das BVerfG jedoch nach Göke „weitgehend entledigt“155. Es verbleibt damit bei einer Evidenzkontrolle, ob eine offensichtliche Missachtung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts durch eine schuldenpolitische Entscheidung vorliegt156. Prokisch beschreibt dies als Kontrolle des Verfahrens, der sachgerechten Einstellung und Bewertung aller Ziele in den Abwägungsvorgang, nicht aber als Ergebniskontrolle157. Über die Willkürkontrolle als äußerstes Minimum hinaus erweist sich die Regelung als nicht justiziabel158. cc) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis kann an dieser Stelle festgestellt werden, dass die tatbestandliche Weite des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ kaum handhabbar ist. Durch die Annahme eines Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums sind die Normen zudem kaum justiziabel; es ergibt sich ein breiter Korridor von Handlungsmöglichkeiten, die sich vertretbar begründen lassen. Außerdem kann für den weiteren Gang der Untersuchung festgehalten werden, dass bloße Begründungspflichten sich in der Praxis nicht als wirksames Mittel zur Kreditbegrenzung erwiesen haben. Es müssen vielmehr klare, eindeutige Regelungen getroffen werden159. 152 Göke, ZG 2006, 1 (8); Heun kritisiert, dass sich die Begründung stets mit einer Rechtfertigung der Ausgaben befasst, obwohl eigentlich gerade das Mittel, die Kreditaufnahme, im Mittelpunkt stehen müsste (in: Dreier, Art. 115, Rn. 28). 153 Vorher wurde das Thema zumeist stillschweigend übergangen, dazu Gandenberger, FinArch n. F. 48 (1990), 28 (44). 154 Höfling, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1995, 421 (433); ähnlich Wieland, JZ 2006, 751 (753): Die Begründungslast fördere eher die kreative Phantasie der Ministerialbeamten, als dass sie zu einer geringeren Schuldenaufnahme zwänge. 155 Göke, ZG 2006, 1 (8); darüber hinaus kritisch zu den Begründungspflichten, die lediglich die Exekutive schulde, Janssen, DVBl 1989, 618 (618). 156 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 245. 157 Prokisch, Die Justiziabilität der Finanzverfassung, S. 170. 158 Heun, Staatshaushalt und Staatsleitung, S. 145; Höfling, Der Staat 29 (1990), 255 (268). 159 G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, S. 578.
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c) Nichteinhaltung der Norm Zu untersuchen ist nun, inwieweit der Gesetzgeber das gegebene Normkonzept eingehalten hat. Zu messen ist dies in Anbetracht der tatbestandlichen Weite, wie oben dargestellt, lediglich am Verbot prozyklischen Verhaltens. Im Ergebnis scheint zwar bei einer Betrachtung des hohen Schuldenstandes schon auf den ersten Blick offensichtlich zu sein, dass die Kreditbegrenzungsregel überschritten wurde. Schon ein zweiter Blick zeigt jedoch, dass ein zunächst prozyklisches Verhalten in guten Zeiten (im Sinne von zu hohen Ausgaben) den Gesetzgeber darüber hinaus veranlassen kann, sich in schlechten Zeiten ein weiteres Mal prozyklisch (im Sinne von zu hohen Einsparungen) zu verhalten. Eine Chronologie der Schuldenpolitik des Bundes unter dem Grundgesetz liefert Bröcker, der die kreditpolitischen Realitäten an den Begrenzungsmaximen der Art. 109, 115 GG a. F. misst160. Da die hier untersuchten Verschuldungsregeln in den Jahren 1967 (Art. 109 GG161) bzw. 1969 (Art. 115 GG162) eingeführt wurden, soll an dieser Stelle der darauf folgende Zeitraum interessieren. Eine lückenlose Darstellung163 jedes einzelnen Jahres kann in der vorliegenden Untersuchung unterbleiben; es geht vielmehr darum, die sich wiederholenden Muster der Verschuldungspolitik auszumachen. In den Jahren 1966 bis 1968 befand sich die Bundesrepublik in der ersten Rezessionsphase nach dem zweiten Weltkrieg. Durch die Verwirklichung antizyklischer Schuldenpolitik („deficit spending“) konnte rasch eine Stabilisierung erreicht werden. Unmittelbar auf die Überwindung der Rezession folgte 1969 eine Phase der Hochkonjunktur, in welcher ein Teil der Schulden getilgt wurde164. Rückblickend wird diese Zeitspanne als die vielleicht einzige Phase gelungener antizyklischer Konjunkturpolitik165 bezeichnet. Hier ist also ein erfolgreicher Einsatz des Verschuldungsinstrumentariums festzustellen. Anfang der 1970er Jahre war dann zunächst eine gute konjunkturelle Entwicklung gegeben, die sogar zu starken Überhitzungserscheinungen führte. Zwar wurden Konjunkturzuschläge zur Einkommenssteuer erhoben; die 160 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 97 ff. Hier findet sich eine ausführliche Darstellung für die Zeit bis 1993. 161 BGBl I 1967, S. 581. 162 BGBl I 1969, S. 357. 163 Wie etwa bei Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 97 ff. 164 Höfling, Der Staat 29 (1990), 255 (256). 165 Hansmeyer, Ursachen des Wandels der Budgetpolitik, in: Häuser (Hrsg.), Budgetpolitik im Wandel, S. 11 (21); Höfling, Der Staat 29 (1990), 255 (268).
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
gesamtstaatliche Ausgabenexpansion blieb jedoch ungebrochen – 1970: 12,5%, 1971: 15,4%, 1972: 11,3% und 1973: 11,2% Steigerung166. So stieg auch die Nettoneuverschuldung trotz der konjunkturell guten Lage immer stärker an167 und die Kreditfinanzierungsquote lag beim Bund 1974 mit 7,1% nicht wesentlich unter dem Stand des Rezessionsjahres 1967 (8,8%)168. Für diese Epoche bleibt festzuhalten, dass die Finanzpolitik ihr antizyklisches Muster verlor169 und daher zum Geist des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ im Widerspruch stand170. Es wurden in wirtschaftlich günstigen Zeiten Kredite aufgenommen, anstatt Rücklagen zur Abwehr künftiger Rezessionen zu bilden. Der damalige Wirtschafts- und Finanzminister Schiller bezeichnete denn auch in einer Kabinettsvorlage den Haushalt 1972 als „stabilitätspolitisch nicht vertretbar“171. Dieser Phase der ohnehin hohen Verschuldung folgte der konjunkturelle Einbruch 1974/75. Auf dem hohen Niveau der bisherigen Schuldenaufnahme kam es zu Mindereinnahmen durch unerwartete Steuerausfälle, zudem wurden zusätzliche wirtschaftsbelebende Maßnahmen172 finanziert. Die Nettokreditaufnahme von Bund und Ländern stieg rasant an173. Diese Politik entsprach zwar im Wesentlichen dem antizyklischen Konzept, enthielt aber auch einige Maßnahmen wie die Reformen der Einkommenssteuer, des Familienlastenausgleichs und der Sparförderung, die, weil dauerhaft angelegt, das strukturelle Defizit in den folgenden Haushaltsperioden vergrößerten174. In den Jahren 1976/77 kam es zu einer Konsolidierung, die jedoch lediglich zu einer Verringerung der Nettokreditaufnahme führte und sich trotzdem teilweise dem Vorwurf der Überkonsolidierung ausgesetzt sah175. 166 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 114 ff. 167 Höfling, Der Staat 29 (1990), 255 (256). 168 Höfling, Der Staat 29 (1990), 255 (256); Hansmeyer, Der öffentliche Kredit I, S. 57. 169 Höfling, Der Staat 29 (1990), 255 (256). 170 Obwohl die Kreditaufnahme unterhalb der Investitionsausgaben blieb und sich damit verfassungsrechtlich problemlos rechtfertigen ließ; darauf weist Bröcker hin (Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 121). 171 Zitiert nach Baring/Görtemaker, Machtwechsel, S. 668. Schiller trat daher am 7. Juli 1972 zurück; vgl. den Rücktrittsbrief Schillers an den damaligen Bundeskanzler, ebenda S. 673 ff. 172 Hansmeyer, Der öffentliche Kredit I, S. 57; ausführlich dazu Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 124. 173 Höfling, Verfassungsfragen einer kreditfinanzierten Konjunkturpolitik, in: Peter/Rhein (Hrsg.), Wirtschaft und Recht, S. 9 (15 f.). 174 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 126 f.
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Zu einem vernichtenden Urteil kommt Bröcker für das Jahr 1981: Hier sei im zweiten Halbjahr zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt die Rückkehr zum Konsolidierungskurs erfolgt176. Die Finanzpolitik habe sich tendenziell prozyklisch verhalten. Ausgabenkürzungen und Steueranhebungen hätten die Abschwungtendenzen noch verstärkt. Dazu hätten sich die politisch Verantwortlichen unter dem Druck der öffentlichen Meinung und der Opposition offenbar gezwungen gesehen. Eine Ursache für die geringe Reaktionsfähigkeit während der Krise habe darin bestanden, dass in konjunkturell günstigen Jahren hohe strukturelle Defizite aufgebaut worden seien177. Interessant für den späteren Verlauf der vorliegenden Untersuchung ist, dass auch das damals angestrengte Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG gegen den Haushalt 1982 offenbar disziplinierend auf die politischen Akteure wirkte178. In den 80er Jahren verlangsamte sich der Verschuldungsprozess; Schuldenstand und Schuldenquote und Zinsausgaben stiegen „nur“ mäßig an179. Als Erfolg war dies dennoch nur bedingt zu verbuchen, da es sich dabei um Auswirkungen des auf Grund der besseren Konjunkturlage geringeren Verschuldungszwangs und des gesunkenen Zinsniveaus handelte180. Verknappt lässt sich sagen, dass wiederum in konjunkturell besseren Zeiten eine – wenn auch verminderte – Kreditaufnahme beibehalten wurde, aber keine Tilgung erfolgte. Anfang der 1990er Jahre stieg die Verschuldung, u. a. bedingt durch die Lasten der Wiedervereinigung, stark an. Dass es sich insoweit um eine Sondersituation handelte, die eine höhere Schuldenfinanzierung rechtfertigen kann, dürfte kaum zu bezweifeln sein181. Bedenklicher und für die vorlie175 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 131 ff. 176 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 144 ff., wobei dies bei einer Nettoneuverschuldung von 75 Mrd. DM im Jahr 1981 eine „Konsolidierungstendenz“ auf hohem Verschuldungsniveau war. 177 Mit Hinweis auf Sarrazin, FA n. F. 41 (1983), 373 (374 ff.). 178 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 147. Das Verfahren wurde sieben Jahre später entschieden, BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 ff. 179 Vgl. die Abbildungen 1 und 2 in der Einleitung sowie die Darstellung bei Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 148 ff. 180 Hansmeyer/Bretschneider, FA n. F. 46 (1988), 465 (481). 181 Wobei natürlich nicht übersehen werden darf, dass Steuererhöhungen bzw. anderweitige Ausgabenkürzungen mindestens teilweise eine Alternative dargestellt hätten, vgl. Kitterer, Rechtfertigung und Risiken der Finanzierung der deutschen Einheit durch Staatsverschuldung, in: Hansmeyer (Hrsg.), Finanzierungsprobleme der deutschen Einheit I, S. 39 (40); ebenso Meyer, Solidarität und Verantwortung, in:
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
gende Untersuchung interessanter ist jedoch eine andere Problematik, die durch die Finanzierung der Einheit gleichsam „überdeckt“ wurde: 1990 und 1991 befand sich die deutsche Wirtschaft in einer absoluten Boomsituation mit hohen Wachstumsraten von 4,9% bzw. 3,6%182. Obwohl ein annähernd ausgelastetes Produktionspotenzial vorlag, und damit die Situation, in der nach dem antizyklischen Konzept eine Schuldentilgung erfolgen müsste, hätte die Steigerungsrate der Ausgaben der Gebietskörperschaften auch ohne die vereinigungsbedingten Mehrausgaben (!) reichlich über 4% gelegen183. Der Sachverständigenrat resümierte: „Aus konjunkturpolitischer Sicht war das hohe Staatsdefizit des Jahres 1990 gerade das Gegenteil dessen, was notwendig und erwünscht gewesen wäre. Aus stabilitätspolitischen Gründen wäre [. . .] ein kräftigeres Gegensteuern etwa durch größere Ausgabeneinsparungen angemessen gewesen“184. Auch für diese Zeit bleibt also – isoliert betrachtet – eine zu hohe Kreditaufnahme in „guten Zeiten“ zu verzeichnen. Es folgte 1993 ein Konjunkturabschwung, mit welchem sich die Finanzierungsprobleme wiederum verschärften. Bröcker sieht hier Parallelen zur Sparpolitik des Jahres 1981/82: Wieder sei zur Unzeit ein Konsolidierungskurs erforderlich gewesen185. In den späten 1990er Jahren und nach der Jahrtausendwende gelang u. a. auf Grund der ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung die Konsolidierung der Staatshaushalte nicht186. Das jüngste Beispiel einer verfehlten Ausgaben- und Konsolidierungspolitik bilden nun die Jahre des Aufschwungs von 2005 bis 2008187. Trotz eines vergleichsweise hohen Wirtschaftswachstums, welches zu hohen konjunkturbedingten Mehreinnahmen Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Föderalismusreform II: Neuordnung von Autonomie und Verantwortung, S. 91 (101). 182 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 176. 183 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Jahresgutachten 1990/91 Tz. 225. 184 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Jahresgutachten 1990/91 Tz. 220. 185 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 177. 186 Es folgte ein nur geringes Wachstum, 2001 kam es zu Abstürzen an den Börsen; 2003 dann zu einer erneuten Rezession (FAZ, 27.11.2008, S. 15). 187 Vgl. die Darstellung zum realen Wachstum des BIP im Monatsbericht des BMF Januar 2009, S. 24. Danach ergab sich insbesondere in den Jahren 2006 und 2007 ein starkes Wirtschaftswachstum von 3,0% bzw. 2,5%. Auch im Jahresdurchschnitt 2008 ergibt sich noch ein Wachstum von 1,3%, wobei dies auf ein starkes Wachstum bis ins 2. Quartal (über 3%) zurückzuführen ist, welches sich im 3. Quartal abschwächte und im 4. Quartal in ein Negativwachstum verwandelte.
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führte188, und insgesamt 20 Steuer- und Abgabenerhöhungen189, welche zu Mehreinnahmen von 49 Mrd. EUR führten190, wurden die Mehrerlöse nicht in die Schuldentilgung investiert191. Im Jahre 2008 wäre es – ohne das Einsetzen der Rezession in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise – zwar erstmals seit vier Jahrzehnten gelungen, einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen192. Nach dem Maßstab der antizyklischen Haushaltspolitik hätte hier jedoch eine Rückführung der Schulden angestrebt werden müssen, um den notwendigen Handlungsspielraum für nachfolgende Rezessionen zu gewährleisten. Wie schmerzlich dieses Versäumnis ist, zeigt sich nun in der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09: Es handelt sich um die wohl schwerste Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Die Verminderung des Einkommens als Steuerbemessungsgrundlage bei den Steuerpflichtigen führt angesichts der progressiven Besteuerung zu hohen Einnahmeausfällen auf Seiten des Staates; hinzu kommen höhere Ausgaben für die soziale Sicherung in Folge erhöhter Arbeitslosigkeit. Die Bundesregierung ist der Krise zudem mit aktiven Maßnahmen der Wirtschaftslenkung, sog. „Konjunkturpaketen“, entgegen getreten, die etwa Investitionen in die Infrastruktur, Steuersenkungen und die Sicherung der Kreditversorgung von Unternehmen beinhalten193. Insgesamt wird die Bewältigung der Krise in Deutschland in den Jahren 2009 bis 2013 voraussichtlich 510 Mrd. EUR neue Schulden zur Folge haben194. Der Schuldenstand beläuft sich dann auf über zwei Billionen EUR. Allein im Jahr 2009 ist ein „Rekorddefizit“ von ca. 90 Mrd. EUR entstanden195; da die Investitionsgrenze nicht eingehalten werden konnte, wurde die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausgerufen196. Der Gang durch die Finanz- und Schuldenpolitik der Bundesrepublik Deutschland bestätigt also, dass die im Rahmen des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ gebotene antizyklische Haushaltspolitik nicht umgesetzt 188
Fuest/Thöne, Tragfähige Finanzpolitik, S. 13. Darunter die deutliche Anhebung der Mehrwertsteuer von 16% auf 19%. 190 Eigene Berechnung anhand der Daten aus Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2009 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 579. 191 Burgbacher, Stenogr. Verh. d. BT 16/215, S. 23366; vgl. dazu noch unten unter C. V. 4. 192 Steinbrück, Verh. d. BT 16/215, S. 23375. Der Rückgang der Bundesschulden in den Jahren 2000/2001 ist auf die Erlöse aus der Versteigerung der Mobilfunklizenzen zurückzuführen und soll hier als einmalige Einnahme außer Betracht bleiben. 193 Vgl. Monatsbericht des BMF Januar 2009, S. 5. 194 Tagesspiegel vom 09.07.2009, S. 1. 195 Vgl. Abb. 1, S. 1. 196 Nachtragshaushalt verdoppelt Neuverschuldung, FAZ v. 24.01.2009, S. 11. 189
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
wurde197. Dabei wird das Verbot der prozyklischen Politik in der Abschwungphase zunächst überwiegend befolgt, allerdings kommt es nicht zu einer Konsolidierung im Wirtschaftsaufschwung. Die an sich notwendige Bildung von Rücklagen bleibt aus, es kommt zu prozyklisch wirkender, weiterer Verschuldung198. In den Beratungen zur „Schuldenbremse“ hat der zum Zeitpunkt des Gesetzgebungsverfahrens amtierende Bundesfinanzminister Steinbrück dies zusammenfassend so wiedergegeben: „Wir sind Keynes immer nur zur Hälfte gefolgt. Wir haben zwar in konjunkturell schlechten Zeiten Schulden aufgenommen, aber in guten Zeiten nicht [. . .] die Schulden wieder getilgt“199. Auch das ist indes erst die halbe Wahrheit. Auf lange Sicht fehlen bei Nichteinhaltung der Tilgungspflicht in guten Jahren dann später auch in schlechten Jahren die Mittel zur antizyklischen Politik, was sich – wie gezeigt – in einer Konsolidierung „zur Unzeit“ äußern kann. Ein weiterer Fehler besteht darin, dass auch in Krisensituationen häufig Ausgabenzuwächse geplant werden, die nicht reversibel sind und den Staatshaushalt auch in guten Zeiten belasten. Bröcker weist auf den für die weitere Untersuchung interessanten Aspekt hin, dass sich dieses Problem parteiübergreifend stellt: Sowohl die keynesianisch orientierten Sozialdemokraten als auch die von monetaristischem Gedankengut inspirierten Christdemokraten betrieben im Boom eine prozyklisch wirkende Politik der Nettoneuverschuldung200. Er zieht daraus den Schluss, dass die Grenze des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gar nicht richtig realisiert werde201. Zwei Richter des BVerfG konstatieren in ihrem Sondervotum, der Bundesgesetzgeber missachte „in einer Art wiederkehrender Dauerrechtsverletzung das Verfassungsgebot, bei günstiger konjunktureller Lage die unter Berufung auf Art. 115 GG aufgenommenen Kredite [. . .] in der Phase des Aufschwungs auch wieder zu tilgen“202. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Gesetzgeber das aus der Bindung an das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht folgende Verbot prozyklischen Verhaltens nicht eingehalten hat: In guten Zeiten wurden 197 So schon Bröcker für die Zeit bis 1993, in: Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 179. 198 Das BVerfG resümierte im Jahr 2007, dass die Politik in den den „vergangenen nahezu vier Jahrzehnten nicht antizyklisch agiert, sondern praktisch durchgehend einseitig zur Vermehrung der Schulden beigetragen hat“, BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (142). 199 Steinbrück, Verh. d. BT 16/215, S. 23375. 200 In: Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 180. 201 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 180. 202 Sondervotum Di Fabio/Mellinghof zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (172).
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die Schulden nicht abgetragen, in schlechten Zeiten sah er sich teilweise zu einer Konsolidierung zur „Unzeit“ gezwungen. Dies stützt die These, dass es eines neuen Normkonzepts bedarf. Bei dessen Ausgestaltung ist darauf zu achten, dass es sich nicht nur um „Schuldenbegrenzungsrecht“ im Sinne einer Verhinderung (zu hoher) Neuverschuldung handelt, sondern dass auch die Rückführung in konjunkturell besseren Lagen gewährleistet wird. d) Ökonomisches Konzept veraltet Weiterhin ist das dem Normkonzept zu Grunde liegende Verständnis vom „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht“ teilweise überholt203. Zwar bildete es früher den Stand der damals aktuellen wissenschaftlichen Diskussion ab, jedoch wurde die Verfassung nicht an neue Erkenntnisse angepasst, welche aus sich verändernden Rahmenbedingungen resultieren204. Dies betrifft vor allem die Idee der aktiven Konjunkturpolitik: Durch die Erhöhung der staatlichen Nachfrage sollten Nachfrageausfälle seitens der privaten Akteure in Rezessionsjahren ausgeglichen werden (sog. Globalsteuerung)205. Eine Globalsteuerung der deutschen Wirtschaft mittels Fiskalpolitik ist aber nunmehr durch die exportorientierte Verflechtung Deutschlands mit der Weltwirtschaft kaum noch realisierbar. Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, wie etwa hohe Arbeitslosigkeit, sind auf strukturelle Ursachen zurückzuführen und nicht durch eine erhöhte Nachfrage auszugleichen. Hohe Schulden vermindern zudem nach heutigen Erkenntnissen langfristig die Wettbewerbsfähigkeit und verstärken damit sogar Wachstumsund Beschäftigungsverluste206. e) Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass das Normkonzept des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ mangels Handhabbarkeit eine zu geringe Steuerungskraft aufweist, in der Praxis nicht befolgt wurde207 und zudem teilweise als überholt anzusehen ist. Die fortwährende Ignoranz ge203 Heintzen, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band V, § 120, Rn. 21; Heintzen in: v. Münch/Kunig, Art. 109, Rn. 2 GG. 204 Heintzen in: v. Münch/Kunig, Art. 109, Rn. 2 GG. 205 Brockmeyer, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art. 109, Rn. 9 a. 206 BMF (Hrsg.), Notwendigkeit und Inhalt einer neuen Schuldenregelung im Grundgesetz, 23.01.2008, S. 2; Pünder, DVBl 2008, 946 (948); Heun, in: Dreier, Art. 115, Rn. 25. 207 Höfling bezeichnet dies als „hartnäckig verfolgte verfassungswidrige Finanzpolitik [. . .] in den letzten 30 Jahren“, DVBl 2006, 934 (935).
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
genüber dem Erfordernis der Schuldentilgung im Konjunkturaufschwung legt es nahe, auch eine wirksame gerichtliche Kontrollmöglichkeit vorzusehen. 4. Sondervermögen Einen weiteren Beitrag zur hohen Verschuldungsmöglichkeit nach der bisherigen Schuldenbegrenzungsregelung leistet die „Befreiungsklausel“208 des Art. 115 Abs. 2 GG a. F. Diese gestattet es, für Sondervermögen des Bundes Ausnahmen von der Investitionssummengrenze des Art. 115 Abs. 1 GG a. F. zuzulassen. Voraussetzung hierfür ist lediglich ein einfaches Bundesgesetz. Als Sondervermögen werden rechtlich unselbstständige abgesonderte Teile des Bundesvermögens bezeichnet, die zur Erfüllung einzelner Aufgaben des Bundes bestimmt sind und unmittelbar durch den Bund oder durch vom Bund beauftragte Dritte verwaltet werden209. Sie verfügen über eine eigene Wirtschafts- und Rechnungslegung, führen also ein „Eigenleben“ außerhalb des Bundeshaushalts und sind mit diesem nur durch Zuführungen und Ablieferungen verbunden210. Sondervermögen sind nicht per se, sondern nur dann zur Kreditaufnahme ermächtigt, wenn dies im Errichtungsakt oder sonst gesetzlich vorgesehen ist; dies ist jedoch bei den bedeutendsten Sondervermögen der Fall211. Fehlt es an einer gesetzlichen Ausnahmeregelung, galten auch für die Sondervermögen die Schranken des Art. 115 Abs. 1 GG a. F212. Bei der Entscheidung über die Errichtung eines Sondervermögens steht dem Gesetzgeber ein weiter Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, der seine äußerste Grenze in einem Missbrauchsverbot findet213. 208 Selmer, Art. 115 II GG – eine offene Flanke der Staatsverschuldung?, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, FS Klaus Stern, S. 567 (568). 209 VV-BHO Nr. 2.1 zu § 26 BHO, GMBl. 2001, 307 (319); Kilian, Nebenhaushalte des Bundes, S. 170; Loeser, Die Bundesverwaltung in der Bundesrepublik Deutschland, Band 1, S. 78; Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 64; Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, S. 126–137; Staender, Lexikon der öffentlichen Finanzwirtschaft, S. 366. 210 Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, S. 69; Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 91; weiter differenzierend in integrierte und ausgegliederte Sondervermögen Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, S. 137. 211 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 91. 212 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 326; Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 94 m. w. N. auch zur vereinzelt vertretenen Gegenposition; Selmer, in: Burmeister (Hrsg.), Verfassungsstaatlichkeit, FS Klaus Stern, S. 567 (574).
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a) Entstehung der Sondervermögen Ursprünglich handelte es sich bei den Sondervermögen tatsächlich um Vermögensbestandteile im positiven Sinne, die speziellen Zwecken dienten. Als Beispiel kann hier auf das ERP-Sondervermögen214 rekurriert werden. Dieses entstand im Zuge des Abkommens über die Wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland215. Hierdurch wurde das auf den sog. Marshall-Plan zurückgehende Wiederaufbau-Programm für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt. In Art. III des Gesetzes bestimmte der Gesetzgeber, dass alle im Zusammenhang mit dem Abkommen der Bundesrepublik Deutschland entstandenen und noch entstehenden Vermögenswerte ein Sondervermögen des Bundes bilden, auf das die Vorschriften der Reichshaushaltsordnung Anwendung finden216. Der Zweck des Sondervermögens bestand nun darin, die vom Geberland überlassenen Mittel als Investitionshilfen zur Förderung der deutschen Wirtschaft zu verteilen, insbesondere, um die Produktionstätigkeit und den internationalen Handel zu beleben und neue Wohlstandsquellen zu erschließen217. Charakteristisch für das ERP-Sondervermögen ist also – im Gegensatz zu seinen Nachfolgern – noch das Vorhandensein eines erheblichen Kapitalstocks zur Wahrnehmung seiner Aufgaben. Als eines der „klassischen“ Sondervermögen galt bis zu ihrer Privatisierung auch die Deutsche Bundespost218. Es bestand aus drei Teilsondervermögen, die als öffentliche Unternehmen mit den Bezeichnungen Deutsche Bundespost Postdienst, Deutsche Bundespost Postbank sowie Deutsche Bundespost Telekom geführt wurden219. Es kam hier zwar zu einer regelmäßigen Schuldenaufnahme; die Nettokreditaufnahme sollte jedoch die Ver213 Puhl, Budgetflucht und Haushaltsverfassung, S. 173 f.; dem schließen sich Höfling/Rixen an, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 388; eine sachliche Rechtfertigung fordern demgegenüber Kilian, Nebenhaushalte des Bundes, S. 556 sowie F. Kirchhof, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 52 (1993), 156 (159). 214 ERP = European Recovery Program. 215 Das Abkommen trat am 1. Februar 1950 in Kraft, BGBl. 1950 S. 9; das ERPSondervermögen entstand durch das Gesetz über die Verwaltung des ERP-Sondervermögens, BGBl. 1953, S. 1312. 216 BGBl. 1950 S. 9. 217 Ausführlich zum ERP-Sondervermögen Pauker, Das ERP-Sondervermögen, S. 1 ff. 218 Hering, die Kreditfinanzierung des Bundes über Nebenhaushalte, S. 229. Zudem war die Post Auslöser der Schaffung der Ausnahmeregelung zur Befreiung von Sondervermögen, Weinzen, DÖV 2007, 509 (509 ff.). 219 Hering, die Kreditfinanzierung des Bundes über Nebenhaushalte, S. 229.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
mögensmehrung in aller Regel nicht überschreiten220. Jedenfalls aber – und das ist entscheidend – standen den Schulden reale Werte in Form des Verwaltungsvermögens gegenüber. b) Vom Sondervermögen zum „Sonderschuldenstand“221 Eine gänzlich andere Herangehensweise zeigt sich im Zuge der Finanzierung der Wiedervereinigung. Es kam zur Neugründung zusätzlicher Sondervermögen wie des Fonds „Deutsche Einheit“ und des Kreditabwicklungsfonds. Diese hatten nun jedoch nicht mehr in erster Linie das Ziel, vorhandene Vermögensmassen zu verwalten; sie sollten vielmehr die Möglichkeit einer zusätzlichen Kreditaufnahme eröffnen. Dies zeigt sich deutlich am Fonds „Deutsche Einheit“. Gegründet wurde er nach der Wiedervereinigung zur Finanzierung der Angleichung der Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern an die der alten Bundesländer. Die Kreditaufnahme für diesen Fonds unterliegt gemäß dem Errichtungsgesetz „nicht der Beschränkung nach Artikel 115 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes“222. Sein ursprünglich geplanter Leistungsumfang betrug 57,5 Mrd. EUR, wovon 47,5 Mrd. EUR durch Kredit finanziert werden sollten.223 Auch stand von vornherein fest, dass der Fonds keine eigenen Einnahmen haben würde: Die Finanzierung der übrigen 10 Mrd. EUR sollte durch Zuweisungen aus dem Bundeshaushalt erfolgen und im jeweiligen Jahr unverbrauchte Kreditermächtigungen sollten bis 1994 fortgelten224. Dies offenbart deutlich die hinter der Einrichtung des Fonds stehende Absicht, hierdurch vor allem den Kreditrahmen zu erweitern: „Das Sondervermögen Fonds Deutsche Einheit verwaltet [. . .] kein Vermögen, sondern nur Schulden“225. Ähnlich verhielt es sich mit dem Erblastentilgungsfonds (ELF). Dieser wurde mit Wirkung ab 1995 errichtet und hatte zum Zweck, die mit der Wiedervereinigung Deutschlands von der ehemaligen DDR übernommenen 220
Hering, die Kreditfinanzierung des Bundes über Nebenhaushalte, S. 231. Meyer spricht insoweit von „Sonderschuldenfonds“, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 52 (1993), S. 159 (161). 222 BGBl. 1990 II, S. 885 (966). 223 BGBl. 1990 II, S. 518 (533). Der Fonds durfte damit im Jahr 1990 außerhalb des Haushalts zusätzlich dreieinhalbmal so viel Schulden machen, wie das Haushaltsgesetz (zunächst) erlaubte, dazu Weinzen, DÖV 2007, 509 (512). 224 BGBl. ebenda. An der Absicht der weit überwiegenden Kreditfinanzierung ändert sich nichts dadurch, dass es später mehrfach zu einer Erhöhung des Fondsvolumens ohne Veränderung des kreditfinanzierten Anteils kam, dazu ausführlich Hering, die Kreditfinanzierung des Bundes über Nebenhaushalte, S. 234. 225 Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, S. 301. 221
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Schulden sowie die aus der Währungsumstellung und der Privatisierung ehemals volkseigener Betreibe resultierenden Lasten zusammenzufassen, zu verzinsen und zu tilgen226. Hierzu gingen 1995 reichlich 50 Mrd. EUR Schulden vom Kreditabwicklungsfonds und über 100 Mrd. EUR von der Treuhandanstalt auf den ELF über227. Finanziert wurde der Fonds durch einen Teil des Bundesbankgewinns sowie jährliche Bundeszuführungen in Höhe von 7,5% des Schuldenhöchststandes, d.h. der Summe aller übernommenen Verbindlichkeiten im ELF am Ende des Vorjahres. Die Bundeszuführungen wurden zuerst zur Deckung der Zinsausgaben verwendet; der verbleibende Teil diente der Schuldentilgung. Eigene Einnahmen, z. B. aus Privatisierungen, spielten demgegenüber lediglich eine untergeordnete Rolle228. Auch für den ELF und dessen Vorgänger, den Kreditabwicklungsfonds, kann somit festgehalten werden, dass sie fast ausschließlich über Schulden, nicht aber über Kapital verfügten229. Nach zunächst nur mäßiger Kreditaufnahme kam es im Zuge der Wiedervereinigung auch bei den ursprünglich durch positives Vermögen geprägten Sondervermögen zu einer massiven Ausweitung der Kreditaufnahme. Dies betraf sowohl die ehemaligen Staatsunternehmen Bundespost und Bundesbahn als auch das Sondervermögen des European Recovery Program (ERP)230. Gerade beim ERP-Sondervermögen war dieses Vorgehen vor allem deshalb fragwürdig, weil dessen ursprünglicher Zweck, die deutsche Wirtschaft in der Nachkriegszeit mit Sondermitteln zu fördern, längst erreicht war231. Die hier veranschlagten schuldenpolitischen Maßnahmen hätten daher ebenso in den allgemeinen Bundeshaushalt eingegliedert werden können232. Das ERP-Sondervermögen wandelte sich erst in dieser Zeit zu einem „Schuldenhaushalt“233.
226 BGBl. 1993 I, 944 (984); ausführlich Esser, Zur Einbeziehung einiger Sondervermögen in den Bundeshaushalt, S. 17 ff. 227 Dornbusch, Deutscher Fiskus in der „Schuldenfalle“, S. 70 f.; Esser, Zur Einbeziehung einiger Sondervermögen in den Bundeshaushalt, S. 17. 228 Tabellarischer Nachweis bei Esser, Zur Einbeziehung einiger Sondervermögen in den Bundeshaushalt, S. 19. 229 Ebenso Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, S. 70. 230 Tabellarische Nachweise bei Hering, die Kreditfinanzierung des Bundes über Nebenhaushalte, S. 210 f.; Dornbusch, Deutscher Fiskus in der „Schuldenfalle“, S. 70 f. 231 Hering, die Kreditfinanzierung des Bundes über Nebenhaushalte, S. 223; Pauker, Das ERP-Sondervermögen, S. 9. 232 Hering, die Kreditfinanzierung des Bundes über Nebenhaushalte, S. 223. 233 Hering, Die Kreditfinanzierung des Bundes über Nebenhaushalte, S. 221 mit tabellarischer Auflistung auf S. 208.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
c) Folgen und wirtschaftliche Bedeutung der Sondervermögen Zur Beurteilung der wirtschaftlichen Bedeutung von Sondervermögen für die Staatsverschuldung soll nun zunächst ein Blick auf deren Ausmaß geworfen werden. Ein interessanter Zeitpunkt ist hier das Ende des Jahres 1998, als die Eingliederung234 wesentlicher Sondervermögen in den Bundeshaushalt noch nicht erfolgt war. Die Bundesschulden, einschließlich der Sondervermögen, betrugen damals knapp 750 Mrd. EUR235; hiervon entfielen über 250 Mrd. EUR auf Sondervermögen236. Damit befand sich ein Drittel237(!) der Schulden des Bundes in Sondervermögen und resultierte folglich aus Entstehungstatbeständen, welche die Investitionssummengrenze unberücksichtigt lassen konnten. In Anbetracht dieses Ausmaßes erscheint es nicht abwegig, die Sondervermögen als die „offene Flanke des Staatsschuldenverfassungsrechts“238 zu bezeichnen. Bröcker weist auf die Risiken hin, die sich aus einer Verlagerung der Verschuldung in die Sondervermögen ergeben: Es kommt, gesamtstaatlich betrachtet, zu einer Überschreitung der Investitionssummengrenze des Art. 115 Abs. 1 Satz 2 HS 1 GG a. F. Damit wird dessen Regelungskraft immer schwächer, je höher der Anteil der nicht mehr unter die Norm fallenden Nettoneuverschuldung an der hypothetischen Gesamtverschuldung ist. Die Lastenverteilungskonzeption wird konterkariert und faktisch umgangen, da von den Fonds in weiten Teilen nicht zukunftsbegünstigende Maßnahmen finanziert werden239. Darüber hinaus ergibt sich eine Verschleierungswirkung240: Nicht nur werden die Nebenhaushalte weitgehend der Kontrolle des Parlaments entzogen; auch die Öffentlichkeit ist nicht mehr ohne weiteres in der Lage, sich ein umfassendes Bild über die finanzpolitischen Aktivitäten und deren finanzielle Deckungserfordernisse zu machen. Diese Intransparenz wird begünstigt durch finanzielle Transaktionen zwischen den jeweiligen Sondervermögen und den beteiligten Haushalten. Häufig werden die finanziellen Mittel für ein Sondervermögen von verschiedenen Haushalten aufgebracht, die 234
Dazu siehe unten unter C. I. 4. d). Vgl. die Grafik auf S. 1. 236 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2009, S. 593. 237 Ebenso Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, S. 71. 238 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 484; Höfling, Ökonomische Theorie der Staatsverschuldung in rechtswissenschaftlicher Perspektive, in: Engel/Morlok, Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, S. 85 (101). 239 Schlesinger/Weber/Ziebarth, Staatsverschuldung – ohne Ende?, S. 271. 240 Smekal, Die Flucht aus dem Budget, S. 66. 235
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dann lediglich die Zuweisungen ausweisen241. Der interessierte Staatsbürger muss diese „finanziellen Mosaiksteinchen zu einem Ganzen zusammenfügen“242. Dies ist oft kaum möglich, zumal in den Sondervermögen in vollkommen unterschiedlichem Maße Einnahmen und Ausgaben saldiert werden243. Unter der „Rückkehr zur Fondswirtschaft“244 leidet daher die demokratische Kontrolle. Dies begünstigt wiederum die Tendenz zur Ausweitung der Verschuldung in den Sondervermögen, da sich gerade der öffentliche Druck in der Vergangenheit als Verschuldungshemmnis erwiesen hat245. Die Wirtschaft mit Sondervermögen führt letztlich auch zu einer Verfälschung der Statistiken zur Staatsverschuldung, die Gegenstand der öffentlichen Wahrnehmung sind. Interessante Indikatoren sind beispielsweise die Zins-Ausgaben-Quote, die angibt, wie hoch der Anteil der Zinsausgaben an den Gesamtausgaben des Staates ist, sowie die Zins-Steuer-Quote, welche angibt, wie hoch der Anteil an Steuereinnahmen ist, der für Zinszahlungen verwendet werden muss246. Ein illustratives Beispiel für die Beeinträchtigung der Aussagekraft dieser Werte durch Verschleierung im Rahmen der Fondswirtschaft stellt die Finanzierung des Kreditabwicklungsfonds dar: Jenem hatte der Bund nach § 6 des Errichtungsgesetzes247 zur Hälfte die erbrachten Zinsleistungen zu erstatten. Diese Erstattungen wurden sodann im Haushaltsplan auch als „Erstattungen“ ausgewiesen, obwohl sie faktisch zu den Zinsausgaben zu zählen sind248. Eine vergleichbare Situation stellte 241
Vgl. für den Fonds „Deutsche Einheit“, der von Bund und Ländern getragen wird, Staender, Lexikon der öffentlichen Finanzwirtschaft, Stichwort „Sondervermögen“, S. 370. Diese gemeinsame Verantwortlichkeit stand auch der Eingliederung des Fonds in das Bundesvermögen entgegen (Staender ebenda). 242 Smekal, Die Flucht aus dem Budget, S. 67. 243 Esser, Zur Einbeziehung einiger Sondervermögen in den Bundeshaushalt, S. 14. Beispielsweise kritisierte der Bundesrechnungshof für das Jahr 2000, dass für den Fonds „Deutsche Einheit“ noch immer keine einheitlichen Vermögensbestände ausgewiesen wurden, BRH, Bemerkungen 2001 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes, S. 55. Da eine umfassende Auflistung aller Sondervermögen fehlt, bereitet es selbst Fachleuten Schwierigkeiten, alle Sondervermögen aus mehreren tausend Seiten des Bundeshaushalts „herauszufiltern“, dazu ausführlich und zur Verschleierungswirkung Schemmel/Borell, Verfassungsgrenzen für Steuerstaat und Staatshaushalt, S. 181 ff. 244 Esser, Zur Einbeziehung einiger Sondervermögen in den Bundeshaushalt, S. 14; auch Höfling/Rixen beschreiben eine „Renaissance der Fondswirtschaft“, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115 Rn. 380. 245 Esser, Zur Einbeziehung einiger Sondervermögen in den Bundeshaushalt, S. 30. 246 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 22 f. 247 BGBl. 1990 II, 885 (993). 248 Hüther, Ist die Finanzpolitik noch zu retten?, S. 14.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
sich beim Fonds „Deutsche Einheit“249. So kommt es zu einer Verschleierung der tatsächlichen Belastungen durch Kreditaufnahme250. Das wirkliche Ausmaß der Verschuldung erschließt sich der Öffentlichkeit dann oft erst wesentlich später – allerdings als vollendete Tatsache. d) Die Eingliederung der Sondervermögen Im Jahre 1999 kam es dann zu einer Wende im Umgang mit den Sondervermögen. Auf Grund des Gesetzes zur Eingliederung der Schulden von Sondervermögen in die Bundesschuld251 gingen die Verbindlichkeiten der Sondervermögen Erblastentilgungsfonds, Ausgleichsfonds zur Sicherung des Steinkohleneinsatzes und Bundeseisenbahnfonds (Verstromungsfonds) auf den Bund über. Erklärtes Ziel der Bundesregierung war es, „mehr Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit“ zu schaffen252. Durch die Eingliederung der bei den Sondervermögen des Bundes ausgewiesenen Schulden in die Bundesschuld werde die bereits faktisch und rechtlich bestehende Verantwortung des Bundes für die Abdeckung des Schuldendienstes offengelegt253. Tatsächlich dürfte die Eingliederung der Schulden aber noch einen anderen Hintergrund gehabt haben: Hierdurch konnte der kreditpolitische Handlungsspielraum nochmals erweitert werden. Gemessen an der Investitionsklausel ergaben sich durch die Eingliederung Haushaltsspielräume in Milliardenhöhe254, denn zuvor belastete der Bund – durch die Deklarierung der Bundeszuweisungen für Tilgungszahlungen als „Erstattungen“ im Falle der Nettotilgung – seinen allgemeinen Kreditrahmen. Nach der Einbeziehung der Sondervermögen hingegen konnte der Bund die daraus resultierenden Kredite beliebig umschulden und somit die Nettotilgung praktisch nach Belieben aussetzen255. 249 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 171 m. w. N. 250 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 171 m. w. N. 251 BGBl. 1990 I, S. 1384. 252 Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 14/513, S. 1. 253 Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, BT-Drs. 14/513, S. 1. 254 BRH, Bemerkungen zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes 2000, S. 12, Tz. 1.6. 255 Jahndorf, Grundlagen der Staatsfinanzierung durch Kredite und alternative Finanzierungsformen im Finanzverfassungs- und Europarecht, S. 71; Esser berechnete einen zusätzlichen Kreditrahmen von ca. 5 Mrd. EUR, in: Zur Einbeziehung einiger Sondervermögen in den Bundeshaushalt, S. 36 ff. Das selbe Ziel hätte natürlich auch durch eine Aussetzung bzw. Reduzierung der Zuweisungen an die Sondervermögen erreicht werden können, womit der Bund bereits begonnen hatte und weitere Kürzungen plante, vgl. BT-Drs. 14/513, S. 1. So entfiel jedoch der Rechtfertigungs-
I. Bisherige Verschuldungsregeln auf Bundesebene
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Die meisten Sondervermögen blieben jedoch erhalten. Die Jahresrechnung für 2008 weist immer noch 15 Sondervermögen aus, die in unmittelbarer Bundesverwaltung stehen oder von Stellen außerhalb der Bundesverwaltung verwaltet werden und deren Vermögen bzw. Schulden dem Bund rechtlich und wirtschaftlich zuzuordnen sind256. Ihre jüngste Renaissance erlebten die Sondervermögen durch die Errichtung weiterer Schattenhaushalte zur Bekämpfung der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise. Allein der Finanzmarktstabilisierungsfonds (FMS) ist mit einer Kreditermächtigung bis 70 Mrd. EUR, einer Garantieermächtigung bis 400 Mrd. EUR und einer weiteren Kreditermächtigung in Höhe von 20 Mrd. EUR für den Fall der Inanspruchnahme aus einer Garantie ausgestattet257. Mit der Grundgesetzänderung im Zuge der Föderalismusreform II im Jahre 2009 wurde die Befreiungsmöglichkeit für Sondervermögen gestrichen258. Am 31. Dezember 2010 bestehende Kreditermächtigungen für bereits eingerichtete Sondervermögen bleiben davon jedoch unberührt259. e) Zwischenergebnis Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Sondervermögen sowohl durch ihren Umfang – zeitweise bis zu ein Drittel der gesamten Bundesverschuldung – als auch durch ihre verschleiernde Wirkung einen erheblichen Beitrag zum Aufbau des gegenwärtigen Schuldenstandes geleistet haben. Mit der Eingliederung einiger Sondervermögen in den Bundeshaushalt wurde anschließend ermöglicht, dass deren Lasten dauerhaft die Bundesschuld erhöhen können. 5. Der asymmetrische Haushaltsvollzug Als eine weitere „offene Flanke der Finanzverfassung“260 galt das Problem des asymmetrischen Haushaltsvollzugs, wenngleich es in seiner Bedeutung hinter der soeben angesprochenen Negativwirkung der Sonderverzwang und die Ausweitung des Haushaltsspielraums konnte quasi „geräuschlos“ geschehen (Esser S. 39). 256 BRH, Bemerkungen zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes 2009, S. 15 und 70 ff., jeweils Bemerkung 1.11. Im Jahre 2008 neu errichtet wurde das Sondervermögen zur Finanzmarktstabilisierung. 257 §§ 6 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 5 Finanzmarktstabilisierungsgesetz vom 17. Oktober 2008, BGBl. I, 1982. 258 BGBl. 2009 I, S. 2248. 259 BGBl. 2009 I, S. 2248 (2249). 260 Isensee, DVBl 1996, 173 (174).
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
mögen zurückbleiben dürfte261. Die Problematik steht in Verbindung mit der oben bereits dargestellten Investitionsklausel262: Insoweit war umstritten, ob die Investitionsgrenze nur für die Haushaltsplanung oder auch für den Haushaltsvollzug galt. Zu einem asymmetrischen Haushaltsvollzug konnte es dadurch kommen, dass Haushaltsgesetz und Haushaltsplan nur Veranschlagungen enthalten, also Prognosen für notwendige Investitionsausgaben263. Bei der Ausführung des Haushaltes binden diese Planzahlen die Verwaltung jedoch nur „nach oben“, d.h. Ausgaben dürfen von ihr nur bis zur Höhe der ausgewiesenen Ansätze geleistet werden. Eine Pflicht zur Verausgabung der eingestellten Mittel besteht indes nicht. Schöpft nun die Exekutive im Haushaltsvollzug zwar das Volumen der ihr zugestandenen Finanzierungskredite voll aus und bleibt sie gleichzeitig hinter der Summe der eingeräumten Ausgabenermächtigungen für Investitionen zurück, tritt der Fall des asymmetrischen Haushaltsvollzugs ein. Hierfür sind vielfältige Gründe denkbar: Sei es, dass die Investitionsmittel nicht bis zum Jahresende „abfließen“, weil sich die Abnahme- und Zahlungsfälligkeitszeitpunkte durch Unwägbarkeiten verschieben; sei es, dass die Verwaltung gewisse Investitionsmaßnahmen nicht mehr für notwendig oder wirtschaftlich hält; oder sei es weiterhin, dass die mittelbewirtschaftenden Stellen durch eine Haushaltssperre oder globale Minderausgaben264 in Höhe eines gewissen Prozentsatzes an den Investitionsausgaben gehindert werden. Eine weitere Ursache kann darin liegen, dass Einnahmen in der Tendenz zu hoch und Ausgaben in der Tendenz zu niedrig veranschlagt werden, damit das bei der Haushaltsaufstellung ausgewiesene Defizit geringer ausfällt265. Diesbezüglich wird vereinzelt sogar der Vorwurf der „Täuschung“ durch bewusst „wirklichkeitsfremde“ Veranschlagungen erhoben266. Fälle des asymmetrischen Haushaltsvollzugs sind in der Praxis durchaus aufgetreten267. Ob dies verfassungswidrig war268 oder nicht269, wurde umfas261
Kriszelit/Meuthen, DÖV 1995, 461 (462): „marginale Auswirkungen“. Siehe oben unter C. I. 2. 263 Dazu und zum Folgenden Gröpl, Haushaltsrecht und Reform, S. 449 ff., sowie Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 306. 264 Dazu Marcus, DÖV 2000, 675 (677). 265 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 63 Tz. 95; zu unvorsichtigen Schätzungen und bei der Haushaltsaufstellung bereits absehbaren Fehlprognosen Sondervotum Di Fabio/Mellinghoff zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (169). 266 Gröpl, AöR 2008, 1 (34); ähnlich F. Kirchhof, Wege aus der Staatsverschuldung, in: Kirchhof/Lehner/Raupach/Rodi (Hrsg.), FS Klaus Vogel, S. 241 (244): „Luftschlösser für Investitionen“. 262
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send und kontrovers diskutiert270; es kann für die vorliegende Untersuchung jedoch dahingestellt bleiben. Denn jedenfalls für die Zukunft erledigt sich das Problem dadurch, dass nach der Änderung des Grundgesetzes im Rahmen der Föderalismusreform II Abweichungen im Haushaltsvollzug zwar möglich sind, aber zur Disziplinierung auf einem Kontrollkonto erfasst werden271. Es ist somit davon auszugehen, dass das Grundgesetz gewisse Abweichungen zwar vorübergehend toleriert, dafür aber den zukünftigen Ausgleich verlangt. Für die vorliegende Untersuchung ist jedenfalls festzuhalten, dass beim Entwurf eines Reformkonzepts der Haushaltsvollzug nicht aus dem Blick geraten darf. 6. Keine Rückführung Problematisch ist weiterhin, dass das Schuldenbegrenzungskonzept der Art. 109 und 115 GG a. F. nur die jährliche Nettoneuverschuldung in den Blick nimmt. Sie erfasst und begrenzt jedoch nicht ausdrücklich die Gesamtverschuldung, die sich aus deren jährlicher Kumulierung ergibt272. Dieser Mangel beruht darauf, dass es zu einer ständig steigenden Gesamtverschuldung nach dem antizyklischen Verschuldungskonzept eigentlich gar nicht kommen dürfte273. Die Umsetzung dieses Konzepts nach Art. 109, 115 GG a. F. ist aber, wie bereits oben gezeigt, gescheitert. So konstatiert auch das BVerfG, die Regelung solle verhindern, dass sich „ein stetig wachsender Schuldensockel bildet, der schließlich die Fähigkeit des Staatshaushaltes, auf die Probleme der Gegenwart und der Zukunft zu reagieren, 267 Dies kritisiert der Bundesrechnungshof, vgl. BT-Drs. 12/8490, Tz. 3.1.2, wonach im Haushaltsvollzug 1993 zusätzlich zu den Investitionen 1,1 Mrd. DM (rund 0,55 Mrd. EUR) kreditfinanziert wurden; Kriszelit/Meuthen, DÖV 1995, 461 (462); für die Haushalte 1999 und 2005 Engels/Hugo, DÖV 2007, 441 (449); Sondervotum Di Fabio/Mellinghoff zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (169 f.). 268 So in neuerer Zeit ausdrücklich Pünder, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 42; Verfassungswidrigkeit zumindest für bewusste Täuschung annehmend Gröpl, AöR 2008, 1 (34); Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 306. 269 So Heun, in: Dreier, GG, Art. 115, Rn. 23; Kriszelit/Meuthen, DÖV 1995, 461 (466); für die gleich lautende niedersächsische Regelung NdsStGH, Urt. v. 04.03.1997 – StGH 11/95, DÖV 1997, 549 (549 f.). 270 Umfassende Darstellung bei Isensee, DVBl 1996, 173 (175) in Fn. 20. 271 Art. 115 Abs. 2 S. 4 n. F., BGBl. 2009 I, S. 2248 (2249). 272 Göke, ZG 2006, 1 (6); als „Scheuklappen“ der Neuverschuldung bezeichnet von Tappe, DÖV 2009, 881 (883). 273 Göke, ZG 2006, 1 (6). Wie bereits oben unter C. I. 3. a) dargelegt, ergab sich bei Hochkonjunktur eine echte Tilgungspflicht.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
in Frage stellt“274. Es habe jedoch an einer handhabbaren Orientierung zur Erfüllung der Tilgungspflicht gefehlt. Gerade aus der „sich seit Jahrzehnten auftürmenden Gesamtverschuldung“275 ergibt sich jedoch die hohe Zinsbelastung, die die Handlungsfähigkeit der zukünftigen Haushaltsgesetzgeber immens einschränkt. Ein wirksames Begrenzungskonzept muss daher zumindest auf lange Sicht auch Vorkehrungen gegen das unbegrenzte Anwachsen des „Schuldensockels“ beinhalten, d.h. ein Instrumentarium bereitstellen, welches zur Tilgung der aufgenommenen Kredite anhält. 7. Mängel im Sanktionssystem Weitere Probleme der bisherigen Schuldengrenzen ergaben sich aus der geringen Sanktionswirkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle sowie aus dem Mangel an potentiellen Initiatoren eines Kontrollverfahrens: a) Mangelnde „Wiedergutmachung“ durch Sanktionen Das praktisch einzige Instrumentarium aus juristischer Sicht stellte die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Haushaltsgesetzes durch das BVerfG dar. Diesem Verfahren haftet jedoch zum einen schon das Problem an, dass die Feststellung häufig erst mit großer zeitlicher Verzögerung erfolgen wird276, ggf. sind dann die verantwortlichen Amtswalter schon nicht mehr im Amt277. Darüber hinaus kann eine verfassungsgerichtliche Entscheidung den Rechtsverstoß nicht kompensieren, mit anderen Worten: Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit beseitigt nicht die unrechtmäßig aufgenommenen Staatsanleihen278. Eine verfassungsgerichtliche Entscheidung muss vor diesem Hintergrund als nur begrenzt taugliches Mittel bezeichnet werden. Ein wichtiger Aspekt ist jedoch, dass ein solches Verfahren immerhin das Interesse der Öffentlichkeit anzusprechen vermag, was disziplinierend wirken kann279. 274
BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (355 f.). Göke, ZG 2006, 1 (6). 276 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 64. Außerjuristisch könnte auch das Wählervotum Bedeutung erlangen, wobei dies praktisch selten der Fall ist, dazu später unten. 277 Beispielsweise wurde im Verfahren BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 über den Haushalt von 1981 erst 1989 entschieden; im Verfahren BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 wurde über den Haushalt 2004 im Jahr 2007 entschieden. Die für den Haushalt politisch verantwortliche Regierung amtierte zum Zeitpunkt der Entscheidung jeweils nicht mehr, dazu Lenz/ Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2567). 278 Tappe, DÖV 2009, 881 (890). 275
I. Bisherige Verschuldungsregeln auf Bundesebene
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b) Die „Individualrechtsblindheit“280 des Art. 115 GG a. F. Vor allem aber stand das einzige Mittel, die verfassungsgerichtliche Kontrolle, nur sehr wenigen Antragsberechtigten zur Verfügung. Hieraus ergibt sich die sog. „Individualrechtsblindheit“ des Art. 115 GG a. F.281 Dies soll im Folgenden anhand der denkbaren Verfahrensarten, Verfassungsbeschwerde, abstrakte Normenkontrolle282 und Organstreit, untersucht werden. aa) Die Verfassungsbeschwerde Die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff. BVerfGG) kann sich gegen jede Maßnahme der öffentlichen Gewalt richten, also theoretisch auch gegen das Haushaltsgesetz, soweit es Außenwirkung entfaltet283. Antragsberechtigt ist jedermann, also jeder Grundrechtsträger284. Indes wird es regelmäßig an der Beschwerdebefugnis fehlen. Diese setzt voraus, dass der Beschwerdeführer durch die angegriffene Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist285; dies muss zumindest als möglich erscheinen286. In Betracht kommen insoweit die Grundrechte aus Art. 14 Abs. 1 (Eigentumsfreiheit), Art. 3 Abs. 1 (Gleichheitssatz) sowie Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit)287. Diesbezüglich müsste ein Eingriff nicht offensichtlich ausgeschlossen sein. Solange es sich bei der 279 Vgl. oben unter C. I. 3. c): In den 1980er Jahren wirkte das anhängige Normenkontrollverfahren vor dem BVerfG auf die politischen Akteure offenbar derart disziplinierend, dass sie sich zu einer Konsolidierung zur Unzeit gezwungen sahen. 280 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 466 in der Überschrift. 281 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 466 in der Überschrift. 282 In Betracht kommt neben der abstrakten Normenkontrolle auch ein Bund-Länder-Streit, dazu Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 109, Rn. 74. Eine zusätzliche Behandlung dieser Antragsart ist jedoch für die vorliegende Untersuchung nicht relevant, da der Kreis möglicher Antragsteller nicht erweitert, sondern sogar eingeschränkt wird (Bundesregierung/Landesregierung). 283 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 475 f.; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90, Rn. 125 ff. 284 Lechner/Zuck, § 90, Rn. 32. 285 Lechner/Zuck, § 90, Rn. 128; st. Rsp. seit BVerfG, Beschl. v. 19.12.1951 – 1 BvR 220/51 BVerfGE 1, 97 (101); BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 BVerfGE 89, 157 (171); BVerfG, Beschl. v. 19.07.2000 – 1 BvR 539/96 BVerfGE 102, 197 (206). 286 BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134, 2159/92 BVerfGE 89, 157 (171). 287 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 321.
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Kreditaufnahme jedoch um „Staatsinterna ohne grundrechtsrelevante Eingriffsqualität“288 handelt, ist der Bürger nicht „selbst“ betroffen. Gerade an der Außenwirkung fehlt es also regelmäßig289. Etwas anderes gilt erst, wenn gezielt in die Grundrechtspositionen Privater eingegriffen wird, etwa durch Zwangsanleihen (hoheitlich auferlegte Pflichten zur Leistung später rückzahlbarer Geldsummen) oder Konversionen (nachträgliche Verbesserungen der Kreditkonditionen zu Gunsten des Schuldners und damit zu Lasten des Gläubigers) oder in extremen Ausnahmekonstellationen wie einer eindeutig durch Staatsverschuldung ausgelösten Hyperinflation290. Der „empirische Normalfall“ der staatlichen Kapitalmarktverschuldung ist hiervon jedoch nicht umfasst291. Der immerhin denkbare Weg einer Verfassungsbeschwerde wird damit, wenn nicht eine wesentliche Verschlimmerung hin zu den geschilderten Extremfällen eintritt, kaum je praktische Bedeutung erlangen. bb) Die abstrakte Normenkontrolle Es verbleibt damit das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG), mit welchem Haushaltsgesetze aber auch gesetzliche Dispensermächtigungen nach Art. 115 Abs. 2 GG a. F. auf ihre Vereinbarkeit mit dem GG überprüft werden können292. Auch wenn das Haushaltsrecht seiner Natur nach nur vorübergehende Geltung besitzt, so schränkt dies die Kontrollierbarkeit nicht ein. Der Antrag kann jedenfalls solange zulässig sein, wie von der angegriffenen Bestimmung noch Rechtswirkungen ausgehen, und er wird auch nicht dadurch unzulässig, dass – nach zulässig gestelltem Antrag – das angegriffene Gesetz seine Rechtswirkung eingebüßt hat293. Das BVerfG leitet aus dem objektiven Charakter des Normenkontrollverfahrens ein Entscheidungsinteresse über den Gültigkeitszeitraum hinaus ab294: Der begrenzten zeitlichen Geltung des Haushaltsgesetzes entspreche die Wiederkehr eines Gesetzes gleicher 288 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 476. 289 Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 110, Rn. 76. 290 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 476; Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 321 f. 291 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 477. 292 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 467. 293 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (327 f.); Höfling/ Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 4769. 294 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (327 f.).
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Art. Damit bestehe die Möglichkeit, dass eine verfassungsrechtlich zweifelhafte Normsetzung von Jahr zu Jahr wiederholt werde. Würde nun mit der rechtlichen Geltung des Haushaltsgesetzes auch die Entscheidungsmöglichkeit des BVerfG entfallen, wäre eine Überprüfbarkeit kaum je gegeben; dies widerspräche der normativen Intention des Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG. Für dieses Verfahren besteht jedoch nur ein sehr eingeschränkter Kreis von Antragsberechtigten: Lediglich die Bundesregierung, eine Landesregierung oder ein Viertel (bis vor kurzem noch: ein Drittel295) der Mitglieder des Bundestags können das einfache Haushaltsrecht auf die förmliche und sachliche Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüfen lassen (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Hier liegt das eigentliche Problem der „Individualrechtsblindheit“ des Art. 115 GG, denn die genannten Antragsberechtigten haben kaum ein Interesse, gegen das Haushaltsgesetz vorzugehen. Von ihnen scheidet die Bundesregierung faktisch als Antragstellerin aus, da das Haushaltsgesetz auf ihrem politischen Willen beruht. Die Fälle, in denen ein Haushaltsgesetz verfassungsgerichtlich überprüft wurde, sind selten; tatsächlich waren es eine Landesregierung296 bzw. Oppositionsfraktionen297, die einen entsprechenden Antrag gestellt haben. Waren bisher mehr als zwei Drittel der Mitglieder des Bundestages Parteien zugehörig, die die Regierung stellten (z. B. im Rahmen einer sog. „großen Koalition“), so schied auch die Möglichkeit der Antragstellung durch ein Drittel der Mitglieder des Bundestages, faktisch-politisch gesehen, aus. Auch die Möglichkeit der Antragstellung durch eine Landesregierung dürfte in dieser Konstellation als gering anzusehen sein, da es zumindest in der Vergangenheit keine „oppositionellen Landesregierungen“ gab298. Auch wenn eine hinreichend große Opposition besteht, wird diese selten ein Interesse daran haben, etwas an der Haushaltspraxis zu ändern. Zwar kann es politisch opportun sein, kurzfristig das Ausgabengebaren der Regierung anzuprangern; inopportun wäre es hingegen, diese Kritik allzu häufig rechtsförmig werden zu lassen299. Die Opposition von heute weiß, 295 Änderung mit Wirkung vom 01.12.2009 durch Gesetz vom 08.10.2008, BGBl. I, S. 1926. 296 BVerfG, Urt. v. 19.07.1966 – 2 BvF 1/65 BVerfGE 20, 56 (Landesregierung Hessen). 297 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82 BVerfGE 79, 311 (Dr. Helmut Kohl, Dr. Friedrich Zimmermann und 230 weitere Mitglieder des Deutschen Bundestages); BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (Dr. Angela Merkel, Michael Glos, Dr. Wolfgang Gerhard und 290 weitere Mitglieder des Deutschen Bundestages). 298 Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2566). Mittlerweile sind indes solche Konstellationen denkbar, vgl. den Berliner „rot-roten“ Senat gegenüber der „schwarz-gelben“ Bundesregierung.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
dass sie die Regierung von morgen sein könnte; in diesem Falle könnte ein Sieg vor dem BVerfG von einst ihrer eigenen Ausgabenpolitik im Wege stehen300. Darüber hinaus strebt auch die Opposition nach der Gunst der Wähler, verspricht ihrer Klientel Ausgabensteigerungen und wirkt damit expansiv auf die Verschuldung301. Problematisch ist weiterhin, dass die abstrakte Normenkontrolle sich lediglich auf die Überprüfung von Gesetzen und damit auf das Haushaltsgesetz beschränkt, den unter Umständen asymmetrischen Haushaltsvollzug aber gar nicht erfasst302. cc) Der Organstreit Geringe Bedeutung kommt im Haushaltsrecht auch dem Organstreit zu (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG). Hiernach antragsberechtigt ist der Bundestag bzw. dessen mit eigenen Rechten ausgestatteten Teile, also die Fraktionen. Sie können den Haushaltsvollzug der Bundesregierung überprüfen lassen, also insbesondere auf Überschreitung der dem Gesetzesvorbehalt unterliegenden Kreditaufnahme303. Das Antragsrecht der Fraktionen wird auch nicht dadurch eingeschränkt, dass der Bundestag selbst die Maßnahme nachträglich gebilligt hat304. Insoweit erfährt das Normenkontrollverfahren eine Ergänzung durch den Organstreit. Diese ist jedoch in ihrer Wirkung stark eingeschränkt, da lediglich ein Abweichen von der gesetzlichen Grundlage, nicht aber der empirisch wahrscheinlichere Fall eines schon verfassungswidrigen Haushaltsgesetzes gerügt werden kann. c) Zwischenergebnis Die alte Fassung des Schuldenbegrenzungskonzepts war mit einem mangelhaften Sanktionssystem ausgestattet: Die Nichtigerklärung des Haushalts299 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 99. 300 Hebeler, Nachhaltigkeit im Haushaltsrecht, in: Lange (Hrsg.), Nachhaltigkeit im Recht, S. 274; Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, Lfg. Juli 2003, Art. 115, Rn. 99. 301 Rossi, DVBl 2005, 269 (275); Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 216. 302 Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2566). 303 BVerfG, Urt. v. 25.05.1977 – 2 BvE 1/74, BVerfGE 45, 1 (29); auf Landesebene BerlVerfGH, Beschl. v. 08.04.1997 – VerfGH 78/96, NVwZ-RR 1997, 506 (Kreditaufnahme ohne gesetzliche Grundlage). 304 BVerfG, Urt. v. 25.05.1977 – 2 BvE 1/74, BVerfGE 45, 1 (29).
II. Verschuldung auf Landesebene
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gesetzes vermochte einen etwa verfassungswidrigen Schuldenstand nicht zu beseitigen. Weiterhin müssen die Begrenzungsregeln als „individualrechtsblind“ bezeichnet werden, weil nur wenige Antragsberechtigte – denen zudem häufig selbst ein Anreiz zur Klage fehlt – eine Kontrolle des Haushaltsgesetzes veranlassen konnten. 8. Ergebnis: Steuerungsschwäche Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die alte Schuldenbegrenzungsregel auf Bundesebene unter anderem wegen der Fragwürdigkeit ihrer Ratio, ferner wegen ihrer tatbestandlichen Unbestimmtheit ebenso wie der mangelnden Kontrolldichte sowie einiger Umgehungsmöglichkeiten (z. B. Ausgliederung der Schulden in „Sondervermögen“) versagt hat. Schuppert sprach schon 1984 von einer Steuerungsschwäche: „Wenn also eine Steuerungsleistung des Haushaltsrechts darin besteht, Dämme zu errichten, so wird man wohl im Falle der Staatsverschuldung ‚Land unter‘ vermelden müssen“305. An der Revisionsbedürftigkeit der Art. 109, 115 GG vor der Föderalismusreform II bestehen demnach keine Zweifel.
II. Verschuldung auf Landesebene Im vorigen Kapitel ausführlich dargestellt wurden die Konzepte zur Verschuldungsbegrenzung auf Bundesebene sowie die sich daraus ergebenden Probleme. Unter ganz ähnlichen Mängeln litten auch die Verschuldungskonzepte in den Länderverfassungen in ihrer bis 2009306 gültigen Fassung. Im Wesentlichen lässt sich hier sogar ein Gleichklang im Wortlaut feststellen. Diese Vereinheitlichung ergibt sich zwingend aus der gemeinsamen Verpflichtung von Bund und Ländern auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Art. 109 GG a. F.307 Selbstverständlich lassen sich die für die Bundesebene getroffenen Feststellungen auf die Regelungskonzepte in den Landesverfassungen übertragen. Dieses Kapitel versteht sich daher als Ergänzung zu den bereits getätigten Ausführungen; in den Blick zu nehmen sind insbesondere landesrechtliche Besonderheiten in den Regelungskonzepten bzw. der Verschuldungspraxis.
305
Schuppert, VVDStRL 42 (1984), 216 (247). Also vor Änderungen im Zuge der Föderalismusreform II. Die jeweiligen Regelungen sind übergangsweise noch gültig, werden jedoch nach und nach an den neuen bundesrechtlichen Rahmen angepasst. 307 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 405. 306
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
1. Die Verschuldungsgrenzen auf Landesebene Gleich oder ähnlich lautende Schuldenbegrenzungskonzepte wie auf Bundesebene finden sich in den 11 Ländern Baden-Württemberg308, Berlin309, Brandenburg310, Bremen311, Nordrhein-Westfalen312, Rheinland-Pfalz313, Saarland314, Sachsen315, Sachsen-Anhalt316, Schleswig-Holstein317 und Thüringen318. Diese regeln, ebenso wie Art. 115 GG a. F., dass die Kreditaufnahme dem Gesetzesvorbehalt unterliegt und die Investitionsgrenze nur zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts überschritten werden darf. Nur gering ist die Abweichung in den Verfassungen der Länder Mecklenburg-Vorpommern319 und Niedersachsen320, welche als Verschuldungsvoraussetzungen „eigenfinanzierte Investitionen“321 sowie eine „ernsthafte und nachhaltige“ bzw. „nachhaltige“ Störung des Gleichgewichts benennen. Noch umstrittener als auf Bundesebene ist auf Landesebene der Begriff des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“. Zusätzlich zur Problematik der inhaltlichen Auslegung322 stellt sich hier die Frage, ob die Regelung in 308 Investitionsklausel und Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, Art. 84 LV, GBl. 1971 S. 425. 309 Art. 87 VvB, GVBl. 1995, S. 779: Investitionsklausel und Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, zwar kombiniert mit dem Begriff „Anleihe“, der aber wie „Kredit“ ausgelegt wird; dazu Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/ Graßhof, BK, 107. Lfg. September 2003, Art. 115, Rn. 499 ff. 310 Investitionsklausel und Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts, Art. 103 LV, GVBl. 1992 I S. 298. 311 Ebenso, Art. 131a LV, GBl. 1998, S. 83. 312 Art. 83 LV, GVBl. 1971, S. 393. 313 Art. 117 LV, GVBl. 1972, S. 1. 314 Art. 108 LV, Amtsbl. 1979 S. 650. 315 Art. 95 LV, GVBl. 1992, S. 243. 316 Art. 99 LV, GVBl. 1992, S. 600. 317 Art. 53, GVBl. 1990, S. 391; hier ist die Kreditaufnahme außerdem zulässig zur Überwindung einer schwerwiegenden Wirtschafts- und Beschäftigungsentwicklung des Landes. 318 Ähnlich wie Schleswig-Holstein auch Thüringen, Art. 98 Abs. 2 LV, GVBl. 1993 S. 625. 319 Art. 65 LV, GVBl. 1993, S. 372. 320 Art. 71 LV, GVBl. 1993 S. 107. 321 Eigenfinanziert sind Investitionen, die aus dem Landesetat und nicht aus anderen Fördermitteln, insbesondere Investitionshilfen, in den Haushaltsplan eingestellt worden sind. Dies ist auf Landesebene bedeutsam, um Doppelzählungen zu vermeiden, dazu Medinger, in: Litten/Wallerath, Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Art. 65, Rn. 8; Thiele, in: Thiele/Pirsch/Wedemeyer, Die Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Art. 65, Rn. 3.
II. Verschuldung auf Landesebene
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den Landesverfassungen das Gleichgewicht auf gesamtstaatlicher Ebene in Bezug nimmt323 oder das des jeweiligen Landes324. Teilweise wird bezweifelt, dass es ein Gleichgewicht bei isolierter Betrachtung eines Bundeslandes überhaupt geben kann: Der Bund habe insoweit das Interpretationsmonopol325. Auch hier erschwert ein weites Feld denkbarer Auslegungsvarianten die Operationalität der Norm. In den Ländern Hamburg326 und Hessen327 dürfen „nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur zu werbenden Zwecken“ Geldmittel im Wege des Kredits beschafft werden. Eine ähnliche Regelung findet sich in Bayern: Auch hier wird auf den „außerordentlichen Bedarf“ abgestellt, es fehlt jedoch ein Verweis auf die „werbenden Zwecke“328. Diese Normen stehen in der Tradition des Art. 87 WRV sowie des Art. 115 GG329 in seiner bis 1969 geltenden Fassung330. Der Begriff der „werbenden Ausgaben“ kann mit Investitionsausgaben gleichgesetzt werden331, folglich stellen sich bei seiner Auslegung und Anwendung dieselben Probleme, wie sie für den Investitionsbegriff des Grundgesetzes erörtert wurden332. Der Begriff des „außerordentlichen Bedarfs“ leidet, ebenso wie der Begriff des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ auf Bundesebene, an großer begrifflicher Unbestimmtheit und in Folge dessen an geringer rechtlicher Steuerungskraft333. 322
Dazu oben unter C. I. 3. Dafür Jochimsen, DÖV 2004, 511 (513); Rodi, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, 115. Lfg. Dezember 2004, Art. 109, Rn. 1617; Kloepfer/Rossi, VerwArch 94 (2003), 319 (329 f.); Differenzierend Rossi, DVBl 2005, 260 (271 f.). 324 Ausdrücklich VerfGH Bln., Urt. v. 31.10.2003 – VerfGH 125/02, DVBl 2004, 308 (308 – Leitsatz 3); Nds. StGH, Urt. v. 10.07.1997 – StGH 10/1995, NdsVBl. 1997, 227 (229); Bajohr, DÖV 1999, 397 (399). 325 Kloepfer/Rossi, VerwArch 94 (2003), 319 (330 ff.). 326 Art. 72 Abs. 1 LV, GVBl. 1952 S. 117. 327 Art. 141 LV, GVBl. 1946 I, S. 229. 328 Art. 82 LV, GVBl. 1946 S. 333; Neubekanntmachung GVBl. 1998 S. 991. 329 Art. 115 S. 1 GG in seiner bis 1969 geltenden Fassung lautete: „Im Wege des Kredites dürfen Geldmittel nur bei außerordentlichem Bedarf und in der Regel nur für Ausgaben zu werbenden Zwecken und nur auf Grund eines Bundesgesetzes beschafft werden.“ Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, BGBl. I, S. 1 (15). 330 Höfling, Die Verschuldungsgrenze nach der Hessischen Verfassung – Zum Geltungsanspruch des Art. 141 HV, in: Eichel/Möller, 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, S. 326 (328). 331 Hecker, Staats- und Verfassungsrecht, S. 371, Rn. 514; Höfling, Die Verschuldungsgrenze nach der Hessischen Verfassung – Zum Geltungsanspruch des Art. 141 HV, in: Eichel/Möller, 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, S. 326 (335); v. Zezschwitz, in: Zinn/Stein, Verfassung des Landes Hessen, Art. 141, Erl. IV. 3. 332 Oben C. I. 2. 323
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
Bemerkenswert ist lediglich ein Unterschied zur Bundesregelung im GG: Bis auf Hessen und Nordrhein-Westfalen sieht keines der Bundesländer in seiner Verfassung eine Verschuldungsmöglichkeit für Sondervermögen vor334. Auch in den beiden genannten Ländern handelt es sich nicht um ein direktes Pendant zu Art. 115 Abs. 2 GG, jedoch sind Ausnahmen für ertragswirtschaftliche Unternehmungen der Länder gestattet335. Im Übrigen handelt es sich um einen bewussten Regelungsverzicht, der nach einhelliger Meinung dahingehend auszulegen ist, dass die Kreditbeschränkungen auch für Sondervermögen gelten336. Relativiert wird dies allerdings teilweise dadurch, dass der mittelbaren Staatsverwaltung nach überwiegender Auffassung das Recht zur Kreditaufnahme zusteht337. Das Problem der „Individualrechtsblindheit“ der Finanzverfassung stellt sich auch auf Landesebene und sogar in verschärftem Maße: Hier gibt es lediglich zwei Antragsberechtigte für ein Normenkontrollverfahren, nämlich die Landesregierung und die oppositionellen Parlamentsfraktionen. Ein Verfahren ist daher praktisch vollkommen unmöglich, wenn etwa im Rahmen einer großen Koalition sowohl die Landesregierung als auch die weit überwiegende Mehrheit der Abgeordneten das Haushaltsgesetz tragen. Auch wenn die Landesverfassungen teilweise bereits ein Viertel der Abgeordneten als Antragsteller genügen lassen, würde dies eine Verständigung zwischen mehreren Oppositionsfraktionen voraussetzen; dies stößt auf praktische Probleme338. Der Bund kann gegen die Länder nur aus dem Grundsatz der Bundestreue vorgehen, wenn ein Land durch übermäßige Verschuldung Belange des Bundes gefährdet, etwa die von Bund und Ländern gemeinsam zu wahrende Haushaltsdisziplin nach europäischem Maßstab339. Die Möglichkeit des Erstreitens eines Feststellungsurteils im Wege des Bund-Län333 Hecker, Staats- und Verfassungsrecht, S. 371, Rn. 514.; ähnlich Höfling, Die Verschuldungsgrenze nach der Hessischen Verfassung – Zum Geltungsanspruch des Art. 141 HV, in: Eichel/Möller, 50 Jahre Verfassung des Landes Hessen, S. 326 (334): „mangelnde Direktionskraft“. 334 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, 107. Lfg. September 2003, Art. 115, Rn. 482; Schmid, Staatliches Liegenschaftsmanagement, Staatsverschuldung und Staatsvermögen, S. 119. 335 Näher Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, 107. Lfg. September 2003, Art. 115, Rn. 530 und 557. 336 Höfling/Rixen, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, 107. Lfg. September 2003, Art. 115, Rn. 482; Schmid, Staatliches Liegenschaftsmanagement, Staatsverschuldung und Staatsvermögen, S. 119. 337 Zum Fall der Berliner BSR Korbmacher, Berliner Haushaltsnot und der Verfassungsgerichtshof, in: Birk/Kunig/Sailer, Zwischen Abgabenrecht und Verfassungsrecht, S. 501 (508 ff.). 338 Zu dieser Konstellation in Berlin Rossi, DVBl 2005, 269 (275). 339 Häde, die innerstaatliche Verteilung gemeinschaftsrechtlicher Zahlungspflichten, S. 76.
II. Verschuldung auf Landesebene
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der-Streits wird jedoch, ebenso wie für das Normenkontrollverfahren auf Bundesebene festgestellt, kaum präventive Wirkung im Hinblick auf das Verschuldungsverhalten entfalten340. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Unterschiede zwischen den Verschuldungsregeln der Landsverfassungen überwiegend nur sprachlicher Natur sind, inhaltlich aber einen ähnlich weiten Verschuldungsrahmen abstecken. 2. Die unterschiedliche Verschuldungspraxis Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass die unterschiedlichen landesverfassungsrechtlichen Verschuldungskonzepte offenbar keinen bestimmenden Einfluss auf Unterschiede in der Haushaltspraxis haben. Obwohl die Regelung Bayerns durch einen Verzicht auf die Einschränkung der Kreditaufnahme auf „werbende Zwecke“ deutlich weiter gefasst ist als die Hamburgs und Hessens, wies Bayern im Jahr 2006 mit 5,7%341 die geringste Schuldenstandsquote aller Bundesländer auf (vgl. Hamburg: 25,1%, Hessen 14,4%). Dass auch die Verwendung des Begriffs „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“ gegenüber dem „angemessenen Bedarf“ (so Hamburg und Hessen) weder Vor- noch Nachteile zu verheißen scheint, zeigt die Spannbreite, welche sich aus den Beispielen Baden-Württembergs (12,2%) und Sachsens (13,1%) einerseits sowie Nordrhein-Westfalens (22,5%) und Berlins (73,5%) andererseits (jeweils: „gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“) gegenüber den vorgenannten Ländern ergibt. Eine niedrige Schuldenstandsquote ist demnach offenbar eher das Ergebnis politischer Haushaltsdisziplin als das der einen oder anderen Schuldenbegrenzungsregel. So wurden beispielsweise in Bayern die Konsolidierungsbemühungen fortgesetzt, indem einfachgesetzlich für den Regelfall das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts verabschiedet wurde342. Seit 2006 gelang denn auch erstmals seit der Finanzreform 1969 ein ausgeglichener Haushalt in Bayern343. Auch der Schuldenstand Sachsens, welcher im Vergleich zu allen anderen neuen Bundesländern äußerst gering ausfällt344, 340 Häde, die innerstaatliche Verteilung gemeinschaftsrechtlicher Zahlungspflichten, S. 76. 341 Daten entnommen aus Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 14 f. 342 Art. 18 Abs. 1 der Bayerischen Landeshaushaltsordnung, dazu Engels/Hugo, DÖV 2007, 445 (454 f.). 343 Engels/Hugo, DÖV 2007, 445 (455). 344 Sachsen: 13,1%, Brandenburg: 34,8%, Mecklenburg-Vorpommern: 33,2%, Sachsen-Anhalt: 38,6%, Thüringen 34,5%.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
lässt den großen Einfluss politischer Entschlossenheit, trotz schwieriger Bedingungen, deutlich werden. 3. Zwischenergebnis Die Verschuldungsbegrenzungskonzepte in den Landesverfassungen (a. F.) unterscheiden sich kaum von denen auf Bundesebene. Deutliche Unterschiede bestehen demgegenüber beim Grad der Verschuldung; diese beruhen auf einer unterschiedlichen Haushaltspraxis.
III. Verschuldungsgrenzen aus dem Demokratieprinzip? Fraglich ist, ob sich über die Regelungen zur Staatsverschuldung im Grundgesetz und in den Verfassungen der Länder hinaus auch Grenzen der zulässigen Verschuldung unmittelbar aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) ableiten lassen. Angestoßen wurde diese Diskussion von Püttner345. Demokratie bedeute Macht auf Zeit346, denn Parlament und Regierung würden nur für eine bestimmte Amtsperiode gewählt. Daraus ergebe sich, dass der Gesetzgeber in Einnahmen und Ausgaben auf seine Amtsperiode beschränkt sei und nicht über die Einnahmen künftiger Gesetzgeber vorweg disponieren und ihnen dadurch den Handlungsspielraum entziehen dürfe. Die öffentliche Finanzwirtschaft sei vielmehr periodenbezogen auszugestalten. Sollten sich aus dem Demokratieprinzip unmittelbar Verschuldungsgrenzen ergeben, so wäre ein Verstoß hiergegen als verfassungswidrig einzustufen. Einer solchen These ist allerdings entgegenzuhalten, dass das Grundgesetz selbst in Art. 109, 115 GG die Möglichkeit der Staatsverschuldung sowohl für den Bund als auch für die Länder voraussetzt347. Die Normen 345 Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, S. 10 ff. Die Kreditaufnahme habe bereits zum Zeitpunkt des Vortrags, 1980, ein Ausmaß erreicht, dass „unserem demokratischen Verfassungssystem nicht entspricht“ (S. 11). Er schränkt dies allerdings insoweit ein, als es sich dabei zwar um einen Systembruch handele, der aber nicht „explizit verfassungswidrig“ sei. 346 So auch das BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (343). Ähnlich Mußgnug, Die Staatsverschuldung und das demokratische Prinzip der Herrschaft auf Zeit, in: Lingelbach (Hrsg.), Staatsfinanzen – Staatsverschuldung – Staatsbankrotte in der europäischen Staaten- und Rechtsgeschichte, S. 251 f. 347 Friauf, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band IV, § 91, Rn. 59; Tepperwien, Nachweltschutz im Grundgesetz, S. 134; Wolf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 43; Siekmann, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 115, Rn. 11.
III. Verschuldungsgrenzen aus dem Demokratieprinzip?
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hätten lediglich dann außer Betracht zu bleiben, wenn es sich dabei um verfassungswidriges Verfassungsrecht handeln würde, also die Regelung selbst über die Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG gegen das Demokratieprinzip verstoßen würde348. Das wäre lediglich dann der Fall, wenn die Normen eine Staatsverschuldung in einem solchen Ausmaß fördern würden, dass der Handlungs- und Gestaltungsspielraum des künftigen Gesetzgebers gänzlich ausgehöhlt würde. Sowohl die Verpflichtung auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht in Art. 109, 115 GG a. F. als auch Art. 109, 115 n. F., die einen konjunkturell ausgeglichenen Haushalt und für den Bund eine strukturelle Verschuldung von 0,35% des BIP vorsehen, gewährleisten jedoch ein deutlich über diesem Maßstab liegendes Schutzniveau. Hinzu kommt, dass der zukünftige Gesetzgeber im Notfall seinen Handlungsspielraum etwa durch das Verfahren einer Sanierungsinsolvenz oder andere geeignete Maßnahmen zurückerlangen könnte349. Darüber hinaus wäre für den Fall, dass die Normen eine verfassungswidrige Handhabung lediglich nach einer denkbaren Auslegung ermöglichen, aber nicht gebieten, zunächst die Normanwendung und nicht die Norm selbst verfassungswidrig350. Art. 109, 115 GG verstoßen daher weder in der alten noch in der neuen Fassung gegen das Demokratieprinzip351. Weiterhin gehört es zu den Aufgaben des demokratischen Gesetzgebers, über die jeweilige Amtsperiode hinauszusehen, Vorsorge für die Zukunft zu treffen und damit auch die Entscheidungsgrundlage nachfolgender Amtsträger vorzubestimmen352. Demokratie erfordert nicht das „Offenhalten von Alternativen um jeden Preis“353, sondern auch das Treffen richtungsweisen348
Wolf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 44. 349 Noch mit dem Beispiel der Währungsreform arbeitet Hering, Die Kreditfinanzierung des Bundes über Nebenhaushalte, S. 35. Jedoch ist dieser Weg durch die Übertragung der Kompetenzen an die EZB, deren vorrangiges Ziel die Preisstabilität darstellt, nicht mehr ohne Weiteres gangbar. Zur Sanierungsinsolvenz Paulus, ZInsO 2003, 869 ff. 350 Nach Puhl steht das Demokratieprinzip einer Handhabung von Art. 115 Abs. 2 a. F. entgegen, die das demokratiesichernde Grundanliegen der Norm gänzlich preisgäbe (Budgetflucht und Haushaltsverfassung, S. 524). Auch in diesem Fall ist allerdings zu bedenken, dass der zukünftige Gesetzgeber seine Handlungsfähigkeit wiederherstellen kann. 351 Vgl. zu Art. 115 GG a. F. Siekmann, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 115, Rn. 11; Wolf, Verfassungsrechtliche Grenzen der Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 44. 352 BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (343); Hebeler, Nachhaltigkeit im Haushaltsrecht, in: Lange (Hrsg.), Nachhaltigkeit im Recht, S. 275. 353 Friauf, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band IV, § 91, Rn. 59 nach Häberle, AöR 102 (1977), S. 27 ff.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
der Entscheidungen354. Andernfalls wäre etwa der Abschluss langfristig bindender völkerrechtlicher Verträge nicht möglich355. Die Ausübung von Herrschaft bedeutet damit „stets die Festlegung auf bestimmte Ergebnisse und damit den Ausschluss von Alternativen“, sie ist zwangsläufig mit „Vorgriffen auf Kompetenzen und Chancen der Nachfolger verbunden“356. Schließlich lassen sich aus dem Demokratieprinzip als „Grundprinzip“ keine exakten Vorgaben oder normativen Direktiven für die Staatsverschuldung ableiten357. Vielmehr stellen die Verschuldungsgrenzen der Art. 109, 115 GG die spezielleren Regelungen dar, welche das Demokratieprinzip für den Bereich der Staatsverschuldung konkretisieren358. Dabei handelt es sich um abschließende Regelungen, die für einen Rückgriff auf das Demokratieprinzip keinen Raum lassen359. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Spezialvorschriften, Art. 109 und Art. 115 GG, das Demokratieprinzip für den Bereich der Staatsverschuldung konkretisieren360. Bei der Gestaltung einer zweckmäßigen Neuregelung wird darauf zu achten sein, dass die Entscheidungsfreiheit künftiger Generationen möglichst weit gewährleistet bleibt, damit diese nicht Opfer einer „Demokratie zu Lasten Dritter“ werden361. Auch wenn das Demokratieprinzip de lege lata keinen unmittelbaren Begrenzungsmaßstab für die Staatsverschuldung bereitstellt, so widerspricht doch eine weitgehende Einengung des politischen Gestaltungsspielraums zukünftiger Generationen dem Grundgedanken der auf Zeit gewährten Herrschaft362. 354
Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 95; Hoff, Staatsverschuldung, S. 44. Vergleich bei Henseler, AöR 108 (1983), S. 489 (503). 356 Kratzmann, Verschuldungsverbot und Grundrechtsinterpretation, S. 119. 357 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 96. 358 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 96; BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (343); Hebeler, Nachhaltigkeit im Haushaltsrecht, in: Lange (Hrsg.), Nachhaltigkeit im Recht, S. 275. 359 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 96; BVerfG, Urt. v. 18.04.1989 – 2 BvF 1/82, BVerfGE 79, 311 (343); Höfling, Ökonomische Theorie der Staatsverschuldung in rechtswissenschaftlicher Perspektive, in: Engel/Morlok, Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, S. 85 (89); Siekmann, in: Sachs, GG Kommentar, Art. 115, Rn. 12. 360 Glaser, DÖV 2007, 98 (104). 361 Vgl. BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (141), wonach vieles dafür spreche, „die gegenwärtige Fassung des Art. 115 GG [a. F., d. Verf.] in ihrer Funktion als Konkretisierung der allgemeinen Verfassungsprinzipien des demokratischen Rechtsstaats für den speziellen Bereich der Kreditfinanzierung staatlicher Ausgaben [. . .] nicht mehr als angemessen zu werten“. 362 So Göke, NdsVBl 1996, 1 (1). Eine weitgehende Bindung zukünftiger Amtsträger könne der Gesetzgebung zwar verfassungsrechtlich nicht entgegengehalten werden, sie sei aber systemwidrig. Ähnlich Wolf, Verfassungsrechtliche Grenzen der 355
IV. Europarechtliche Verschuldungsregeln
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IV. Europarechtliche Verschuldungsregeln Für die Bundesrepublik Deutschland maßgebliche Schuldenbegrenzungsregeln ergeben sich über das nationale Recht hinaus auch aus dem Europarecht. Dabei handelt es sich seit dem Beginn der dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion zum Jahresbeginn 1999 um eine verbindliche Rechtspflicht363 zur Vermeidung öffentlicher Defizite, die grundsätzlich allen Mitgliedstaaten obliegt364. Die gemeinschaftliche Regelung zu analysieren, ist für die vorliegende Untersuchung von zweifacher Bedeutung: Erstens ist das Verhältnis zwischen Europarecht und nationalem Recht zu klären, um die Einhaltung der europäischen Vorgaben zu gewährleisten; zweitens kann auch in Bezug auf das Europarecht ein Blick auf Vor- und Nachteile des Normkonzepts sowie dessen Wirksamkeit brauchbare Anhaltspunkte für eine sinnvolle nationale Regelung bieten. 1. Verhältnis zwischen Europarecht und grundgesetzlicher Schuldenregel Zunächst ist das Verhältnis zwischen Europarecht und grundgesetzlicher Schuldenregel zu untersuchen. Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland, S. 46. P. Kirchhof sieht die Chance zur kontinuierlichen Erneuerung und damit die Demokratie durch hohe Kredite gefährdet, zitiert aus: Grenzen der Staatsverschuldung in einem demokratischen Rechtsstaat, in: v. Arnim/Littmann, Finanzpolitik im Umbruch: Zur Konsolidierung öffentlicher Haushalte, S. 271 (277). Mußgnug sieht die Staatsverschuldung in einem „Spannungsverhältnis zur Demokratie“, Die Staatsverschuldung und das demokratische Prinzip der Herrschaft auf Zeit, in: Lingelbach (Hrsg.), Staatsfinanzen – Staatsverschuldung – Staatsbankrotte in der europäischen Staaten- und Rechtsgeschichte, S. 251 f.; Wolff, in: Brink/Wolff (Hrsg.), FS v. Arnim, S. 313 (322 f.): „materielle Komponente des Demokratieprinzips“. 363 Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Lfg. 33 (Oktober 2007), Art. 104 EGV, Rn. 10; Häde, in: Calliess/Ruffert, Art. 104 EGV Rn. 11; Bandilla, Ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt rechtlich durchsetzbar?, in: Gaitanides/Kadelbach/Iglesias, Europa und seine Verfassung, FS Zuleeg, S. 538 (539); Hillgruber, JZ 2004, 166 (166); Streinz/Ohler/Herrmann, NJW 2004, 1553 (1154); mit Hinweis auf andere Sprachfassungen und Gesetzgebungsmaterialien Selmayr, Das Recht der Wirtschafts- und Währungsunion, Erster Band: Die Vergemeinschaftung der Währung, S. 253. Die Rechtspflicht lässt sich insbesondere schlussfolgern aus einer Zusammenschau mit Art. 116 Abs. 4 EGV in der zweiten Stufe der WWU, wonach die Mitgliedstaaten lediglich bemüht waren, öffentliche Defizite zu vermeiden. 364 Ausnahmen gelten für Großbritannien und Dänemark, solange diese Staaten von ihrem Sonderrecht Gebrauch machen, nicht an der WWU teilzunehmen, dazu Häde, in: Calliess/Ruffert, Art. 104 EGV Rn. 13 f. m. w. N.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
Es ist allgemein anerkannt, dass dem Europarecht grundsätzlich der Vorrang vor den nationalen Normen zukommt, auch vor denen der nationalen Verfassung365. Dieser Vorrang wird über zweierlei Mechanismen umgesetzt: Lässt das nationale Recht eine Auslegung zu, die den europäischen Normen gerecht wird, so ist diese zu wählen (sog. „europarechtskonforme Auslegung“)366. Nur wenn der Widerspruch zwischen beiden Rechtsnormen derart groß ist, dass er sich auf diesem Wege nicht heilen lässt, so sind die europäischen Normen an Stelle der nationalen Normen anzuwenden (sog. „Anwendungsvorrang“)367. Allerdings besteht in Bezug auf das Staatsschuldenrecht der Sonderfall, dass der Stabilitäts- und Wachstumspakt Bund, Länder, Gemeinden und die Träger der Sozialversicherung gemeinsam in Bezug nimmt368, wohingegen die nationalen Regelungen immer nur einen Teilbereich hiervon erfassen. Das Gemeinschaftsrecht regelt gerade nicht im Detail, welche Körperschaft ihre Kreditaufnahme in welchem Umfang einschränken muss. Es muss daher nach nationalem Recht eine Verteilung der europarechtlich zulässigen Defizite zwischen den nationalen Akteuren erfolgen, sodass unter Umständen nicht das gesamte zulässige Defizit für die nach der neuen Schuldenbremse zu behandelnden Haushalte von Bund und Ländern „zur Verfügung steht“. Andererseits können Überschüsse in der Sozialversicherung eine erhöhte Kreditaufnahme der Gebietskörperschaften „kompensieren“. Eine wesentliche Herausforderung für das nationale Recht besteht deshalb darin, die verschiedenen Verschuldungsquellen zu koordinieren. Es fehlt daher an einer konkreten Kollisionslage zwischen Europarecht und Grundgesetz bzw. an einer Kongruenz des Regelungsgegenstandes, sodass die europäischen Vorgaben und das nationale Schuldenbegrenzungsrecht nebeneinander – kumulativ – zu beachten sind369. Das Europarecht kann somit nicht im Sinne eines Anwendungsvorrangs unmittelbar an die Stelle des nationalen Rechts 365 Statt aller Geiger, Art. 10 EGV Rn. 27 ff.; speziell für die Finanzverfassung Häde, Europarechtliche Einwirkungen auf die nationale Finanzverfassung, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.): Finanzkrise im Bundesstaat, S. 197 (201 f.). 366 Grundlegend EuGH, verbundene Rs. 205 bis 215/82 (Deutsche Milchkontor u. a. ./. Bundesrepublik Deutschland), Slg. 1983, 2633, Rn. 22; Häde, Europarechtliche Einwirkungen auf die nationale Finanzverfassung, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.): Finanzkrise im Bundesstaat, S. 197 (202). 367 Statt aller Geiger, Art. 10 EGV Rn. 27 ff.; ausführlich zum Vorrang Ehlers, Verwaltung und Verwaltungsrecht im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 2, Rn. 95 ff.; speziell für die Finanzverfassung Häde, Europarechtliche Einwirkungen auf die nationale Finanzverfassung, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.): Finanzkrise im Bundesstaat, S. 197 (201 f.); zum Verhältnis zwischen europarechtskonformer Auslegung und Anwendungsvorrang Seitz, Die Vergemeinschaftung von Staatszielbestimmungen, in: Dörr u. a. (Hrsg.), FS Schiedermair, S. 265 (278). 368 Vgl. unten unter C. IV. 2.; Christ, NVwZ 2009, 1333 (1337).
IV. Europarechtliche Verschuldungsregeln
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treten; seine Durchsetzung ist dem noch zu untersuchenden „Defizitverfahren“ durch die Europäische Kommission vorbehalten. Eine europarechtskonforme Auslegung kommt ebenso nur für den Teil der grundgesetzlichen Regelung in Betracht, welche den Gesamtstaat einschließlich der Sozialversicherungsträger betrifft. Dies wird durch Art. 109 Abs. 2 GG angedeutet, der den Stabilitäts- und Wachstumspakt in Bezug nimmt.370 Als Aufgabe des nationalen Rechts kann festgehalten werden, dass dieses durch die Koordination der staatlichen Ebenen mindestens die Einhaltung der europarechtlichen Regeln gewährleisten muss. 2. Die Haushaltskriterien Ausgangspunkt der europäischen Regelung ist nunmehr nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon371 Art. 126 Abs. 1 AEUV372. Dieser besagt: „Die Mitgliedstaaten vermeiden übermäßige öffentliche Defizite“. Art. 126 Abs. 2 AEUV373 benennt zwei Kriterien für die Einhaltung der Haushaltsdisziplin, nämlich das Verhältnis des geplanten oder tatsächlichen (jährlichen) öffentlichen Defizits zum Bruttoinlandsprodukt einerseits sowie das Verhältnis des öffentlichen Schuldenstands zum Bruttoinlandsprodukt andererseits. In Art. 1 des Protokolls über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (Protokoll Nr. 20 zum EGV) werden die Referenzwerte festgelegt auf 3% für das Verhältnis zwischen dem geplanten oder tatsächlichen öffentlichen Defizit zum BIP zu Marktpreisen sowie 60% für das Verhältnis zwischen dem öffentlichen Schuldenstand und dem BIP zu Marktpreisen. Wird einer der Grenzwerte nicht eingehalten, so handelt es sich i. S. d. Art. 126 Abs. 2 AEUV374 um einen „schwerwiegenden Fehler“. 369
Zu Art. 115 GG a. F. BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (145 f.): „eigenständige und andersartige Maßstäbe des Art. 115 GG“; Höfling/Rixen in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof, BK, 107. Lfg. September 2003, Art. 115, Rn. 454 ff.; Siekmann, in: Sachs, Art. 115, Rn. 16 ff; Knop, Verschuldung im Mehrebenensystem, S. 360 f. und 365; Ohler, DVBl 2009, 1265 (1269); Korioth, KritV 2008, 187 (193). 370 So Christ, NVwZ 2009, 1333 (1337). 371 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13.12.2007, ABl. 2007/C 306/01 vom 17.12.2007. 372 Ehemals Art. 104 Abs. 1 EGV, Synopse bei Hellmann, der Vertrag von Lissabon, S. 101 ff. 373 Ehemals Art. 104 Abs. 2 EGV. 374 Ehemals Art. 104 Abs. 2 EGV.
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„Öffentliche“ Schulden sind dabei all jene, die zum Staat, d.h. zum Zentralstaat, zu regionalen oder lokalen Gebietskörperschaften oder Sozialversicherungseinrichtungen gehören (Art. 2 Protokoll Nr. 20, Spiegelstrich 1). Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, durch innerstaatliche Verfahren die Umsetzung der Verpflichtungen zu gewährleisten (Art. 3 des Protokolls Nr. 20). In Deutschland ist die Umsetzung in Art. 109 Abs. 5 GG sowie dem Sanktionszahlungs-Aufteilungsgesetz375 geregelt. An dieser Stelle kann bereits ein erheblicher Vorteil des europarechtlichen Schuldenbegrenzungskonzepts gegenüber Art. 109, 115 GG a. F. festgehalten werden: Während oben festzustellen war, dass es dem nationalen Schuldenbegrenzungskonzept an einer klaren Handlungsanweisung und damit an Operationalität mangelte376, handelt es sich bei diesem System mit festen Referenzwerten um eine klare, eindeutige und pragmatische Regelung, die einfach zu handhaben ist und dadurch sowohl die Anwendung als auch die Überwachung erleichtert377. Ein Verstoß wird sich daher nahezu „auf den ersten Blick“ feststellen, jedenfalls aber rechnerisch eindeutig nachweisen lassen. Zwar sehen sich die Begrenzungskriterien von 3% und 60% gelegentlich der Kritik ausgesetzt, sie seien willkürlich gewählt378. Es kommt allerdings für die Handhabbarkeit überhaupt nicht darauf an, ob der Referenzwert 2%, 3% oder 4% beträgt. Wichtiger ist, dass eine Verständi375
BGBl. 2006 I, 2097 (2104). Siehe oben unter C. I. 3. b). 377 Issing, ZKredW 56 (2003), 13 (14); Ohr/Schmidt, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt: Eine Analyse unter Berücksichtigung konstitutionen- und institutionenökonomischer Aspekte, in: Schäfer, Zukunftsprobleme der europäischen Wirtschaftsverfassung, S. 199 ff.; Bark, Das gemeinschaftsrechtliche Defizitverfahren, S. 80 f. und 226 f.; Pünder, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 115; Hebeler, Nachhaltigkeit im Haushaltsrecht, in: Lange (Hrsg.), Nachhaltigkeit im Recht, S. 282; Gorn, Alternative Finanzierungen für die öffentliche Hand und das Defizitverfahren nach Art. 104 EGV, S. 22. 378 So Ohr/Schmidt, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt: Eine Analyse unter Berücksichtigung konstitutionen- und institutionenökonomischer Aspekte, in: Schäfer, Zukunftsprobleme der europäischen Wirtschaftsverfassung, S. 199; Gumboldt, DÖV 2005, 499 (499); Feld/Kirchgässner, On the Effectiveness of Debt Brakes: The Swiss Experience, in: Neck/Sturm (Hrsg.), Sustainability of Public Debt, S. 223 (223). Der Referenzwert von 60% für die Schuldenstandsquote entsprach annähernd dem EG-Durchschnittswert des Jahres 1991 von 61,7%. Daraus abgeleitet ist der Wert für die Defizitquote von 3%, der langfristig bei einem Wirtschaftswachstum von 5% zu der Schuldenstandsquote von 60% führt. Dazu Ohr/Schmidt ebenda in Fn. 9; Sturm, Budgetdisziplin in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 179 f. sowie Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 33. Die Defizitquote von 3% erweist sich freilich beim heutigen Wirtschaftswachstum um ca. 1% nicht mehr als realistisch; sie darf durchschnittlich nur bei 0,6% liegen. Die Begrenzung findet daher momentan faktisch über die 60%-Grenze statt, vgl. Bark, Das gemeinschaftsrechtliche Defizitverfahren, S. 80. 376
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gung auf einen bestimmten Wert erfolgt (welcher natürlich nicht im Widerspruch zu ökonomischem Sachverstand stehen darf), der dann auch eingehalten wird379. Der Öffentlichkeit wird auf diese Weise ein bedenklicher budgetpolitischer Kurs eher vor Augen geführt380, damit steigen die „politischen Kosten“ der Staatsverschuldung381. Auch die Regierung selbst hat es leichter, defiziterhöhenden Forderungen entgegen zu treten, wenn sie auf eine klare Regelung verweisen kann, die der Erfüllung weiterer Ausgabenwünsche entgegensteht382. Aus polit-ökonomischer Sicht erweisen sich die gemeinschaftsrechtlichen Verschuldungsgrenzen daher als vorteilhaft. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass mit den Referenzwerten nach oben hin – anders als in der bisherigen nationalen Schuldenregel – eine absolute Höchstgrenze der Verschuldung markiert wird (3% des BIP als Neuverschuldung jährlich bzw. 60% des BIP als maximaler Schuldenstand)383. Demgegenüber war das deutsche Konzept „beweglich“ an die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts gebunden384, ohne ein Anwachsen der Gesamtverschuldung ausdrücklich zu verhindern. Daher dürfte die größere disziplinierende Wirkung für Deutschland in den letzten Jahren vom Europarecht ausgegangen sein385 – es ist sicher kein Zufall, dass der Schuldenstand einiger Länder der EU – darunter Deutschland und Frankreich – sich über einen längeren Zeitraum um die 60%-Grenze herum bewegte386.
379
Bark, Das gemeinschaftsrechtliche Defizitverfahren, S. 80 f. und 226 f. Diesen Vorteil sieht Gumboldt, DÖV 2005, 499 (503). Zudem zieht ein Defizitverfahren durch die Medien das Interesse der Öffentlichkeit auf sich, Nicolaysen, DVBl 2004, 1321 (1323); Fuest/Thöne, Tragfähige Finanzpolitik, S. 20. 381 Sturm, Budgetdisziplin in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 181. 382 Sturm, Budgetdisziplin in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 181. 383 Droege, VerwArch 98 (2007), 101 (112); Gumboldt, DÖV 2005, 499 (505 f.). 384 Droege, VerwArch 98 (2007), 101 (112). 385 Hebeler, Nachhaltigkeit im Haushaltsrecht, in: Lange (Hrsg.), Nachhaltigkeit im Recht, S. 283; vgl. Gumboldt, DÖV 2005, 499 (499), wonach „das primärgemeinschaftsrechtliche Regelwerk – anders als das Grundgesetz – zu einer nachhaltigen Finanzpolitik verpflichtet“; Fuest/Thöne, Tragfähige Finanzpolitik, S. 20. 386 Für die Jahre 1998 bis 2002 siehe D. Meyer, Die Schuldenfalle, S. 68; vgl. oben Abb 2. 380
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3. Ausnahmen von den Haushaltskriterien Relativiert wird die Klarheit der Referenzwerte durch einige Ausnahmen. Deren Rahmen ergibt sich bereits unmittelbar aus Art. 126 Abs. 2 AEUV387. Zu unterscheiden ist dabei sprachlich zwischen den Referenzwerten, die eindeutig festgelegt sind (3% bzw. 60%), und den Defizitkriterien, deren Verletzung bei Überschreiten eines Referenzwertes indiziert388, jedoch noch im Sinne einer Regel-Ausnahme-Prüfung389 zu untersuchen ist. a) Erheblicher und laufender Rückgang des Defizits Nach Art. 126 Abs. 2 lit. a) Spiegelstrich 1 AEUV390 liegt ein Verstoß gegen das Defizitkriterium nicht vor, wenn das Defizit „erheblich und laufend zurückgegangen ist“ und einen Wert in der Nähe des Referenzwerts (3%) erreicht hat. Beide Voraussetzungen müssen also kumulativ vorliegen. Die Ausnahme soll der Tatsache Rechnung tragen, dass sich ein bisher hohes Finanzierungsdefizit auch bei einem Übergang zu disziplinierter Haushaltspolitik nicht sofort beseitigen lässt.391 Hier zeigt sich bereits eine deutliche Relativierung der sprachlichen Präzision: Die Begriffe „in der Nähe“ sowie „erheblich und laufend“ sind offen und daher auslegungsbedürftig, teilweise wird auf einen Beurteilungsspielraum von Kommission und Rat verwiesen, wonach auf Grund „der fehlenden Orientierungshilfen jede beliebige Entscheidung zu begründen wäre“392. b) Ausnahmsweise und vorübergehende Überschreitung des Defizits Weiterhin liegt nach lit. a) Spiegelstrich 2 der Vorschrift kein Verstoß gegen das Defizitkriterium vor, wenn ein Mitgliedsstaat den Referenzwert „nur ausnahmsweise und vorübergehend“ überschreitet und das Verhältnis in der Nähe des Referenzwertes bleibt. Das Merkmal „ausnahmsweise“ erfordert hiernach, dass das Defizit auf ein Ereignis zurückzuführen ist, „das 387
Ehemals Art. 104 Abs. 2 EGV. Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, S. 215. 389 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 35, hier a. A. Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, S. 215 f., der „Referenzwert“ und „Referenzbereich“ unterscheidet. 390 Ehemals Art. 104 Abs. 2 lit. a) Spiegelstrich 1 EGV. 391 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 36. 392 Kortz, Die Entscheidung über den Übergang in die Endstufe der Wirtschaftsund Währungsunion, S. 102 f. 388
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sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedsstaats entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt, oder auf einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung zurückzuführen ist“. Das Merkmal „vorübergehend“ ist nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 erfüllt, wenn „die Haushaltsschätzungen der Kommission darauf hindeuten, da[ss] das Defizit unter den Referenzwert sinken wird, wenn das außergewöhnliche Ereignis nicht mehr vorliegt oder der schwerwiegende Wirtschaftsabschwung beendet ist“. Besonders auslegungsbedürftig ist die Frage, wann das Defizit „in der Nähe“ des Referenzwertes bleibt. Über die Frage, ob nun 3,5%, 4% oder sogar noch 5% als in der Nähe von 3% anzusehen sind, könnte erst die Rechtsprechung des EuGH über die Herausbildung von Präzedenzfällen Rechtsklarheit bringen393. Zu konstatieren ist also auch an dieser Stelle, dass die an sich äußerst scharf umrissene Grenze – das Defizitkriterium von 3% – der Gefahr der Aufweichung394 ausgesetzt ist. Doch warum sieht der AEUV neben transparenten Grenzen auch gleich Ausnahmen vor? Resultieren dürfte dies aus der Einsicht, dass sich „starre“ Obergrenzen schwerlich mit der konjunkturellen Entwicklung in Einklang bringen lassen, welche zyklenartig verläuft395. Tritt eine Rezessionsphase unerwartet ein, so fehlt es den Mitgliedstaaten an Reaktionsmöglichkeiten, um die Referenzwerte einzuhalten. Ein striktes Festhalten an den Grenzen wäre in dieser Situation nicht nur ohne Effekt, sondern würde auch die Glaubwürdigkeit der Defizitgrenzen gefährden396. Die Einhaltung der Referenzwerte könnten die Mitgliedstaaten eben nur dadurch erreichen, dass sie in konjunkturell guten Zeiten den Referenzwert deutlich unterschreiten. Dieser Gedanke lag dem Verschuldungskonzept zwar ursprünglich zu Grunde, ergibt sich aus der Umsetzung in Art. 126 Abs. 2 AEUV397 jedoch nicht zwingend398. So kommt es dazu, dass die Mitgliedsstaaten schon im Aufschwung die Defizitgrenze „auslasten“ und in der Rezession nur der Ausweg bleibt, diese noch zu überschreiten. Bezeichnenderweise kommt eine Untersuchung in 12 Mitgliedsstaaten zu dem Ergebnis, dass durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt zwar die antizyklische Fiskalpolitik gefördert wird, insbesondere in Portugal, 393
Bark, Das gemeinschaftsrechtliche Defizitverfahren, S. 85. Hattenberger, in: Schwarze, Art. 104 EGV, Rn. 20; vgl. Höfling, in: Dolzer/ Waldhoff/Graßhof, BK, 107. Lfg. September 2003, Art. 115, Rn. 453: „Normprogramm von geringer Operationalität [. . .], das offen ist für eine permanente, politisch motivierte Flexibilisierung“. 395 Vgl. Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Art. 105 EGV, Rn. 6, Lfg. Oktober 2007; Scherf, Staatswissenschaften und Staatspraxis 7 (1996), 365 (378). 396 Vgl. Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Art. 105 EGV, Rn. 8, Lfg. Oktober 2007. 397 Ehemals Art. 104 Abs. 2 EGV. 398 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 47. 394
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Deutschland und Frankreich aber keine hinreichende Konsolidierung in „guten Zeiten“ erfolgt399. Aus dem Vorgenannten kann abgeleitet werden, dass sich Verschuldungsgrenzen in einem Zielkonflikt zwischen möglichst hoher Verbindlichkeit, Eindeutigkeit und Klarheit einerseits und der Berücksichtigung aktueller Entwicklungen andererseits befinden. Ein Konflikt erwächst hieraus vor allem deshalb, weil Ausnahmebestimmungen stets die Gefahr des Missbrauchs und der Verringerung der Effektivität in sich bergen400. c) Ausnahme vom Schuldenstandskriterium Die dritte primärrechtliche Ausnahme schließlich ergibt sich aus Art. 126 Abs. 2 lit. b) AEUV401, wonach die Überschreitung des Schuldenstands über 60% des BIP hinaus das Defizitkriterium nicht verletzt, wenn das Verhältnis „hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert“. Auch diese Vorschrift trägt der Tatsache Rechnung, dass Mitgliedstaaten mit hohem Schuldenstand auch bei solider Haushaltspolitik nicht „von heute auf morgen“ die Schwelle von 60% unterschreiten können402. Auch hier eröffnen unbestimmte Rechtsbegriffe wie „hinreichend“ und „rasch genug“ einigen Spielraum, um die Situation des jeweiligen Mitgliedsstaats berücksichtigen zu können403. Da der betreffende Staat jedoch auf einen deutlichen und anhaltenden Rückgang verweisen können muss und die Vorschrift keine Ausnahme mehr erlaubt, wenn der Referenzwert erst einmal unterschritten wurde404, ergibt sich hier nur ein geringes Potential für eine Verwässerung der Schuldenbegrenzung in der Gemeinschaft als Ganzes. d) Zwischenergebnis Die transparente und einfach handhabbare Schuldenbegrenzungsregelung, bestehend aus einem Defizitkriterium (3%) und einem Schuldenstandskriterium (60%), wird durch drei schon primärrechtlich angelegte Ausnahmen relativiert. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass eine starre Schulden399
Marinheiro, Has the Stability and Growth Pact Stabilised?, S. 15 f. Ohr/Schmidt, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt: Eine Analyse unter Berücksichtigung konstitutionen- und institutionenökonomischer Aspekte, in: Schäfer (Hrsg.), Zukunftsprobleme der europäischen Wirtschaftsverfassung, S. 200. 401 Ehemals Art. 104 Abs. 2 lit. b) EGV. 402 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 42. 403 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 43. 404 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 43 f. 400
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begrenzungsregelung zwar einfach zu handhaben ist, jedoch die sich zyklisch verändernde konjunkturelle Situation der Mitgliedsstaaten außer Acht lässt. Insoweit besteht ein Zielkonflikt zwischen Transparenz und Flexibilität. 4. Das Defizitverfahren Das Verfahren zur Überwachung der Haushaltsdisziplin lässt sich grob in drei Stufen unterteilen405, nämlich die Überwachung der mitgliedsstaatlichen Haushaltspolitik durch die Kommission (Art. 126 Abs. 2 AEUV406), den Kommissionsbericht an den Rat (Art. 126 Abs. 3 bis 5 AEUV407) sowie die Entscheidung durch den Rat (Art. 126 Abs. 6 AEUV408). Die erste Stufe gemäß Art. 126 Abs. 2 AEUV409 betrifft die Überwachung der Haushaltslage in allen Mitgliedstaaten durch die Kommission im Hinblick auf die oben erläuterten Kriterien des öffentlichen Defizits sowie des öffentlichen Schuldenstands. Dadurch soll gegen das Entstehen übermäßiger Defizite in den Mitgliedstaaten zunächst Vorsorge getroffen werden, damit es nicht zu einer auf Dauer untragbaren Finanzlage kommt, die die Stabilität der WWU gefährdet410. Es handelt sich also bei der Kontrolle an dieser Stelle – noch – um ein präventives Vorgehen411 unabhängig vom Bestehen einer Abweichung von den Schuldenstandskriterien des AEUV, sie stellt aber gleichzeitig eine erste Vorprüfung im Hinblick auf deren Verletzung dar412. Für diejenigen Mitgliedstaaten, welche dauerhaft die Haushaltsdisziplin wahren, gelangt das Verfahren nicht über die erste Stufe hinaus413. Erfüllt ein Mitgliedsstaat hingegen keines oder nur eines dieser Kriterien, so erstellt die Kommission einen Bericht (Art. 126 Abs. 3 AEUV414). Damit wird die zweite Stufe des Verfahrens eingeleitet. Bei 405
Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 19 ff; ähnlich Gumboldt, DÖV 2005, 499 (503) sowie EuGH, Urt. v. 13.07.2004, Rs. C-27/04, EuR 39 (2004), 738 Rn. 77 (Kommission/Rat): „mehrstufiges Verfahren“. 406 Ehemals Art. 104 Abs. 2 EGV. 407 Ehemals Art. 104 Abs. 3 bis 5 EGV. 408 Ehemals Art. 104 Abs. 6 EGV. 409 Ehemals Art. 104 Abs. 2 EGV. 410 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 31. 411 Cabral, Main Aspects of the Working of the SGP, in: Brunila/Buti/Franco (Hrsg.), The Stability and Growth Pact, S. 139 (140 f.). 412 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 46. 413 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 19; Gorn, Alternative Finanzierungen für die öffentliche Hand und das Defizitverfahren nach Artikel 104 EGV, S. 15.
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Erstellung des Berichts hat die Kommission alle Faktoren, einschließlich der mittelfristigen Wirtschafts- und Haushaltslage des Mitgliedsstaats, zu berücksichtigen (Art. 126 Abs. 3 S. 2 AEUV415). An dieser Stelle sind auch haushaltspolitische Anstrengungen des Mitgliedsstaats zur Verwirklichung von Zielen der europäischen Gemeinschaften416 sowie die Wechselwirkungen zwischen Schuldenstand, Finanzierungsdefizit und Wirtschaftswachstum relevant417. Da der Schuldenstand langfristig 60% des BIP nicht überschreiten darf, dieser Zustand bei einem Haushaltsdefizit von 3% des BIP aber nur bei einem Wirtschaftswachstum von 5% erhalten werden kann418, ist ein Defizit von über 3% bei einem Mitgliedsstaat mit hohem Wachstum anders zu beurteilen als bei einem Mitgliedsstaat mit geringem Wachstum419. Angezeigt ist also eine jeweils einzelfallbezogene Prüfung420. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob das öffentliche Defizit die Ausgaben für Investitionen übertrifft (Art. 126 Abs. 2 S. 2 AEUV421). Daraus kann nur geschlussfolgert werden, dass ein Defizit eher tolerabel ist, wenn es die Summe der Investitionsausgaben nicht überschreitet422. Damit erfährt die Investitionssummengrenze des Art. 115 GG a. F. (sog. „goldene Regel“)423 mittelbar auch im Europarecht Berücksichtigung, wobei es sich hier nur um einen Faktor unter vielen handelt424. Vor der weitergehenden Einführung einer „goldenen Regel“ wird indes ausdrücklich gewarnt425. Die Kommission kann den Bericht ungeachtet der Erfüllung der Haushaltskriterien auch dann erstellen, wenn sie der Auffassung ist, dass in einem Mitgliedsstaat die Gefahr eines übermäßigen Defizits besteht (Art. 126 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV426). 414
Ehemals Art. 104 Abs. 3 EGV. Ehemals Art. 104 Abs. 3 S. 2 EGV. 416 Hattenberger, in: Schwarze, Art. 104 EGV Rn. 25. 417 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 50. 418 Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, S. 214. 419 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 50. 420 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 50. 421 Ehemals Art. 104 Abs. 2 S. 2 EGV. 422 Hattenberger, in: Schwarze, Art. 104 EGV Rn. 25; Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 53. 423 Kortz, RIW 43 (1997), 357 (362); Hattenberger, in: Schwarze, Art. 104 EGV Rn. 25. 424 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 53; Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, S. 225 („Hilfskriterium“). 425 Balassone/Franco, The SGP and the „Golden Rule“, in: Brunila/Buti/Franco, The Stability and Growth Pact, S. 371 (389). 426 Ehemals Art. 104 Abs. 3 UAbs. 2 EGV. 415
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Zur Einleitung des Verfahrens hat die Kommission ein echtes Initiativmonopol427. Insbesondere ist nach Art. 126 Abs. 10 AEUV428 explizit die Möglichkeit ausgeschlossen, wegen eines übermäßigen Defizits ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, wozu nach Art. 259 AEUV auch die Mitgliedsstaaten berechtigt sind. Möglich wäre jedoch eine Untätigkeitsklage nach Art. 265 Abs. 1 AEUV429 gegen die Kommission oder den Rat, wenn sie sich weigern, in Art. 126 AEUV430 vorgesehene Maßnahmen gegen einen Mitgliedsstaat zu ergreifen431. Nach Erstellung des Berichts holt die Kommission die vom Wirtschaftsund Finanzausschuss abzugebende Stellungnahme ein (Art. 104 Abs. 4 AEUV432). Danach entscheidet sie gemäß Art. 126 Abs. 5 AEUV433, ob aus ihrer Sicht in dem Mitgliedsstaat ein übermäßiges Defizit besteht oder nicht434. Bejaht sie dies, so legt sie dem betreffenden Mitgliedsstaat eine Stellungnahme vor und unterrichtet den Rat. Erst darin liegt die förmlichpolitische Entscheidung, ein Defizitverfahren gegen den Mitgliedsstaat einzuleiten435. Mit dem Reformvertrag von Lissabon wurde insoweit das außenwirksame Auftreten der Kommission gestärkt436: Während die Kommission ihre Stellungnahme nunmehr direkt dem Mitgliedsstaat vorlegt und der Rat lediglich unterrichtet wird, war zuvor dem Rat die Stellungnahme vorzulegen437. Neu ist auch die Möglichkeit der Kommission, eine Verwarnung an den betreffenden Mitgliedsstaat zu richten (Art. 121 Abs. 4 AEUV). Dadurch hat sich jedoch an der unverbindlichen Struktur des Kommissionsverfahrens nichts geändert438.
427
Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EL 33 Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 21. Ehemals Art. 104 Abs. 10 EGV. 429 Ehemals Art. 232 Abs. 1 EGV. 430 Ehemals Art. 104 EGV. 431 Vgl. EuGH, Urt. v. 13.07.2004, Rs. C-27/04, EuR 39 (2004), 738 (Kommission/Rat); Pipkorn, EuR, Beiheft 1/1994, S. 85 (92); Roth, EuR, Beiheft 1/1994, S. 45 (77) in Fn. 99; Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 80; Nicolaysen, DVBl 2004, 1321 (1322). 432 Ehemals Art. 104 Abs. 4, 114 Abs. 2 EGV. 433 Ehemals Art. 104 Abs. 5 EGV. 434 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 55. 435 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 55; Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EL 33, Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 25. 436 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 56 sowie Art. 99 EGV Rn. 22. Die Befugnis, den „blauen Brief“ zu schreiben, sei auf die Kommission übergangen, dies stärke die Stellung der Kommission deutlich. 437 Vgl. Hattenberger, in: Schwarze, Art. 104 EGV Rn. 29. 428
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Die letzte Stufe des Verfahrens bildet die Entscheidung des Rates. Der Rat entscheidet auf Vorschlag der Kommission und unter Berücksichtigung der Bemerkungen des betreffenden Mitgliedsstaats, ob ein übermäßiges Defizit besteht (Art. 126 Abs. 6 AEUV439). Auch er hat insoweit die wirtschaftliche Gesamtlage des Mitgliedsstaats zu berücksichtigen440. Die Entscheidung wirkt konstitutiv441: Sie ist Voraussetzung für weitere Sanktionsmaßnahmen nach Art. 126 Abs. 7 bis 11 AEUV442. 5. Die Sanktionsmaßnahmen Die Konsequenzen eines mitgliedsstaatlichen Fehlverhaltens sind in Art. 126 Abs. 7 bis 11 AEUV443 geregelt. Sie werden vom Rat verhängt, der während des gesamten Verfahrens über einen breiten Ermessensspielraum verfügt (Abs. 6: „Prüfung der Gesamtlage“), Abs. 8, 9 und 11: „kann“); es handelt sich nicht um einen Automatismus444. a) Die Empfehlungen Zunächst richtet der Rat auf Vorschlag der Kommission unverzüglich Empfehlungen an den Mitgliedsstaat mit dem Ziel, der Lage innerhalb einer gesetzten Frist abzuhelfen (Art. 126 Abs. 7 AEUV445). Die Empfehlung darf zunächst nicht veröffentlicht werden. Inhalt der Empfehlungen können wirtschafts- oder haushaltspolitische Maßnahmen sein446. Um allzu konkrete Detailregelungen darf es sich dabei jedoch nicht handeln, denn die Mitgliedstaaten müssen nach dem Prinzip der Subsidiarität selbst entscheiden dürfen, welche Regelungen sie treffen wollen447. Auch die Empfehlung 438
So zum gleich lautenden EVV Rodi, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Art. III-179 EVV, Rn. 11. Die Unverbindlichkeit des Rechtsakts bestreitet auch Häde nicht, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 56. 439 Ehemals Art. 104 Abs. 6 EGV). 440 Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, S. 262 ff.; Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, S. 67 – „wirtschaftliche Gesamtschau“; Hattenberger, in: Schwarze, Art. 104 EGV Rn. 31. 441 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 62; Bark, Das gemeinschaftsrechtliche Defizitverfahren, S. 96; Hartmann, Europäische Union und die Budgetautonomie der deutschen Länder, S. 62; Hattenberger, in: Schwarze, Art. 104 EGV Rn. 33. 442 Ehemals Art. 104 Abs. 7 bis 11 EGV. 443 Ehemals Art. 104 Abs. 7 bis 11 EGV. 444 Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EL 33 Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 26. 445 Ehemals Art. 104 Abs. 7 EGV. 446 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 64.
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hat, wie das Verfahren der Kommission, unverbindlichen Charakter (Art. 288 Abs. 5 AEUV448). b) Die Veröffentlichung der Empfehlungen Stellt der Rat fest, dass seine Empfehlungen innerhalb der gesetzten Frist keine wirksamen Maßnahmen ausgelöst haben, so kann er im nächsten Schritt seine Empfehlungen veröffentlichen (Art. 126 Abs. 8 AEUV449). Dabei handelt es sich noch nicht um eine „echte“ Sanktion450 im Sinne einer Zwangsmaßnahme, sondern um ein politisches Druckmittel451. Die Veröffentlichung zielt darauf ab, „Gruppendruck“ (sog. „peer pressure“) der anderen Mitgliedsstaaten sowie Druck der Öffentlichkeit auf den betreffenden Mitgliedsstaat zu erzeugen („Prangerwirkung“)452. c) Die Abmahnung des Mitgliedsstaats Leistet der betreffende Mitgliedsstaat den Empfehlungen des Rates weiterhin nicht Folge, so kann der Rat beschließen, den Mitgliedsstaat mit der Maßgabe in Verzug zu setzen, innerhalb einer bestimmten Frist Maßnahmen für den Defizitabbau zu treffen (Art. 126 Abs. 9 AEUV453). Er kann sich außerdem vom Mitgliedsstaat Berichte vorlegen lassen, um dessen Anpassungsbemühungen zu überprüfen. Die Frist für den Defizitabbau muss eindeutig bestimmt sein, damit der betreffende Staat die Möglichkeit hat, weitere Sanktionen abzuwenden454. Auch in dieser Situation kann der Mitgliedsstaat die für den Defizitabbau notwendigen finanzpolitischen Entscheidungen nur selbst treffen455.
447 Kempen, in: Streinz, Art. 104 Rn. 31 EGV; Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EL 33 Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 33. 448 Ehemals Art. 249 EGV. 449 Ehemals Art. 104 Abs. 8 EGV. 450 So zum gleich lautenden EVV Rodi, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Art. III-179 EVV, Rn. 11. 451 Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EL 33 Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 35. 452 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 68.; zum gleich lautenden EVV Rodi, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Art. III-179 EVV, Rn. 11; Artis/Winkler, The Stability Pact: Safeguarding the Credibility of the European Central Bank, S. 28. 453 Ehemals Art. 104 Abs. 9 EGV. 454 Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EL 33 Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 40. 455 Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EL 33 Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 40; vgl. oben unter C. IV. 5. a).
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d) Sanktionsmaßnahmen im engeren Sinne Erst wenn ein Mitgliedsstaat auch innerhalb der Abmahnungsfrist dem Defizitabbau nicht Folge leistet, kann der Rat gegen ihn Sanktionsmaßnahmen im engeren Sinne, d.h. mit strafähnlichem Charakter456, gemäß Art. 126 Abs. 11 AEUV457 beschließen. Der Rat kann von dem betreffenden Mitgliedsstaat verlangen, vor der Emission von Schuldverschreibungen vom Rat näher zu bezeichnende Angaben zu veröffentlichen (Spiegelstrich 1), die Europäische Investitionsbank ersuchen, ihre Darlehenspolitik gegenüber dem Mitgliedsstaat zu überprüfen (Spiegelstrich 2), von dem Mitgliedsstaat verlangen, eine unverzinsliche Einlage in angemessener Höhe bei der Union zu hinterlegen, bis das übermäßige Defizit nach Ansicht des Rates korrigiert worden ist (Spiegelstrich 3) sowie Geldbußen in angemessener Höhe verhängen (Spiegelstrich 4). Die Pflicht zur Veröffentlichung weiterer Angaben dürfte sich vor allem auf die Haushaltslage des Mitgliedsstaats beziehen. Sie soll den Kapitalmarkt warnen, kann dort zu Reaktionen wie z. B. Risikoaufschlägen führen und verstärkt wiederum die öffentliche Kontrolle und Kritik458, während sich die Kreditwürdigkeit des betreffenden Mitgliedsstaats vermindert459. Das Ersuchen an die Europäische Investitionsbank dient dazu, die Finanzierungsmöglichkeiten des betreffenden Mitgliedsstaats zu verschlechtern460 und damit die Kreditaufnahme zu verringern. Zwar hat der Rat gegenüber der in ihren Entscheidungen autonomen Investitionsbank keine Weisungsbefugnis461, sie dürfte einem Ersuchen aber in der Praxis Folge leisten462. Die Hinterlegung einer unverzinslichen Einlage bei der Union sowie die Verhängung einer Geldbuße dürften vorwiegend die Funktion haben, durch ihre Abschreckungswirkung vorzubeugen463. Ein unmittelbarer, vom politischen Druck unabhängiger Rückgang der Verschuldung ist dadurch jedoch nicht zu erwarten, im Gegenteil: Der Mitgliedsstaat könnte sich gezwungen sehen, auch die für die Finanzierung der Sanktionsmaßnahme erfor456
Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, S. 278. Ehemals Art. 104 Abs. 11 EGV. 458 Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, S. 278. 459 Hattenberger, in: Schwarze, Art. 104 EGV, Rn. 50. 460 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 71. 461 Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EL 33 Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 43. 462 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 71. 463 Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank, S. 14, die zudem den Zweck der Vergeltung benennt; Faltlhauser, Finanzpolitik der Zukunft, S. 76 in Bezug auf das gesamte Sanktionierungsverfahren. 457
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derlichen Mittel auf dem Kreditwege zu beschaffen464. Die Hinterlegung kann zudem den Zweck eines Sicherungsmittels haben, da die Verhängung einer Geldbuße technisch am einfachsten durch die Aufhebung der Rückzahlbarkeit der zunächst geleisteten Einlage zu erreichen ist465. Die VO (EG) Nr. 1467/97466 sieht insoweit vor, dass der Rat „in der Regel“ zunächst eine unverzinsliche Einlage verlangen soll (Art. 11), deren Berechnung der Höhe nach in der VO bestimmt ist (Art. 12). Wird das Defizit nicht innerhalb von zwei Jahren korrigiert, ist die Einlage „in der Regel“ in eine Geldbuße umzuwandeln (Art. 13 der VO). Aus der Formulierung „in der Regel“ ergibt sich, dass der Rat im Falle eines übermäßigen Defizits weder zwangsläufig eine unverzinsliche Einlage beschließen noch diese in eine Sanktion umwandeln muss. Es bestehen vielmehr auf jeder Stufe Ermessensspielräume, die eine wirkungsvolle Sanktionierung verhindern können467. Für problematisch wird teilweise auch die Durchsetzung der Sanktionen erachtet468, weil eine Zwangsvollstreckung gegen Mitgliedstaaten sowohl gemäß Art. 299 Abs. 1 AEUV469 als auch auf Grund der mitgliedsstaatlichen Souveränität ausscheidet470. Eine solche Vollstreckung ist auch schwer vorstellbar, weil sie nach Art. 299 Abs. 2 AEUV471 nach den Vorschriften und durch die Behörden des Mitgliedsstaats zu erfolgen hätte, der Staat also gegen sich selbst vollstrecken müsste472. Hat der Mitgliedsstaat jedoch eine Einlage geleistet, so ist deren Umwandlung in eine Geldbuße zulässig. Eine Zwangsvollstreckung erübrigt sich dann473. Weigert sich ein Mitgliedsstaat, den Sanktionsbeschlüssen nachzukommen, so ist nunmehr ein Vertragsverletzungsverfahren zulässig474. Auch dieses führt jedoch mangels 464
Gumboldt, DÖV 2005, 499 (505). Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 72. 466 ABl. 1997 Nr. L 209/6, geändert durch Verordnung (EG) Nr. 1055/2005, Abl. 2005 Nr. L 174/1. 467 Ohr/Schmidt, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt: Eine Analyse unter Berücksichtigung konstitutionen- und institutionenökonomischer Aspekte, in: Schäfer (Hrsg.), Zukunftsprobleme der europäischen Wirtschaftsverfassung, S. 204. 468 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 74. 469 Ehemals Art. 256 Abs. 1 EGV. 470 Heidig, EuR 2000, 882 (889 ff.); Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 74; Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EL 33 Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 43; Schoo, in: Schwarze, Art. 256 Abs. 2 EGV, Rn. 6 f., der sich aber zugleich für eine Ausnahme in Bezug auf vom EuGH verhängte Zwangsgelder ausspricht. 471 Ehemals Art. 256 Abs. 2 EGV. 472 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 74. 473 Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 75. 474 Bandilla, in: Grabitz/Hilf, EL 33 Oktober 2007, Art. 104 EGV Rn. 54; Häde, in: Callies/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 75 und 79. 465
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Vollstreckbarkeit lediglich zu einem Feststellungsurteil475. Gleichwohl würde sich ein Staat, der selbst nach Verhängung von Sanktionen auf seiner Rechtsverletzung beharrt, „im Kreise seiner Partner isolieren“476, sodass eine gedeihliche Zusammenarbeit unmöglich würde. Es dürfte sich insoweit eher um den Fall einer „Lehrbuchhypothese“477 handeln. e) Die Wirkung der Sanktionen Die Auswirkung der Sanktionsmaßnahmen auf die Mitgliedsstaaten lässt sich in zwei Kategorien unterteilen: Die eine Möglichkeit besteht darin, dass der Mitgliedsstaat seinen Haushalt so rechtzeitig konsolidiert, dass es nicht zu schärferen Sanktionen als der Empfehlung, Abmahnung, Veröffentlichung der Empfehlung oder des Ersuchens an die Zentralbank zur Überprüfung ihrer Darlehenspolitik kommt. In diesem Falle ist der finanzielle Schaden für den Defizitsünder gleich Null oder zumindest sehr gering. Die andere Möglichkeit besteht darin, dass es tatsächlich zu finanziell spürbaren Belastungen, der Hinterlegung einer unverzinslichen Einlage oder einer Strafzahlung, kommt. In diesem Falle entsteht dem Mitgliedsstaat ein finanzieller Schaden, welcher in Höhe der entgangenen Zinsen für die Einlage bzw. der Strafzahlung besteht. In beiden Fällen sind die Sanktionen nur begrenzt tauglich, ein Defizit langfristig zu vermeiden: Im ersten Falle ist der Schaden gering, weil es zur Verhängung einer finanziell spürbaren Sanktion nicht kommt. Das ist einerseits vorteilhaft, weil ja gerade das mit der Sanktion zu erzwingende Ziel, die Konsolidierung des mitgliedsstaatlichen Haushalts, zumindest kurzfristig erreicht wurde, sodass sich die Verhängung einer Sanktion erübrigt hat. Nicht verhindert wird dadurch jedoch, dass Defizite von den Mitgliedsstaaten periodisch „vorübergehend“ in Kauf genommen werden, weil sie damit rechnen können, dass die Konsolidierung ihnen jeweils noch vor der Verhängung „harter“ Sanktionen gelingen wird. Die Abschreckungswirkung dürfte daher in diesem Bereich gering sein478. 475
Schoo, in: Schwarze, Art. 256 Abs. 2 EGV, Rn. 6 f., der sich aber zugleich für eine Ausnahme in Bezug auf vom EuGH verhängte Zwangsgelder ausspricht. 476 Teske, EuR 1992, 265 (269). 477 Vgl. Heidig, EuR 2000, 882 (890). 478 Vgl. Artis/Winkler, The Stability Pact: Safeguarding the Credibility of the European Central Bank, S. 28: „[. . .] the degree of flexibility [. . .] make[s] it quite possible that countries can get by with repeated violations of the numerical target without incurring any sanctions. This [. . .] undermines the ex ante deterrence of the Stability Pact“.
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Im zweiten Falle, der Hinterlegung unverzinslicher Einlagen sowie der Verhängung von Strafzahlungen, ist zu differenzieren. Wird das Defizit nach Zahlung der Zwangseinlage konsolidiert, so wird die Einlage wieder zurückgezahlt. Die Einbuße des Mitgliedsstaats besteht dann lediglich im Zinsverlust479, der wiederum keine allzu veritable Bedeutung erlangen dürfte. Die Abschreckungswirkung ist daher auch in dieser Konstellation noch relativ gering. Wird dagegen die Einlage in eine Geldbuße umgewandelt, so ist die Sanktion für den Mitgliedsstaat deutlich spürbar. Es stellt sich dann jedoch ein anderes Problem, nämlich wird durch eine hohe Geldbuße die finanzielle Situation des Mitgliedsstaats, der sich zur Kreditaufnahme gezwungen sah, noch weiter verschlechtert480. Die Geldbuße erhöht kurzfristig die Ausgabenlast des Mitgliedsstaats481. Es besteht nur die Möglichkeit, die Geldbuße durch Steuererhöhungen, Kürzung von Ausgaben anderer Art oder weitere Kreditaufnahme aufzubringen. Sie kann daher im schlimmsten Fall Anlass sein, noch weitere Kredite aufzunehmen482. Gerade das Verhalten, welches sanktioniert werden soll, wird also durch die Verhängung der Sanktion zumindest kurzfristig verstärkt483. Die finanzielle Situation ist folglich ein wenig zweckmäßiges Mittel, um einen hoch verschuldeten Staat zur Rückführung seines Schuldenstandes zu bewegen484. Es erscheint daher politisch kaum vorstellbar, ein hoch verschuldetes Land durch Geldbußen weiter zu schwächen und womöglich „in die Nähe der Zahlungsunfähigkeit“ zu drängen485. Ist die Zahlungsunfähigkeit eines Mitgliedsstaats sogar schon eingetreten, wie jüngst im Falle Griechenlands, 479 Ohr/Schmidt, Der Stabilitäts- und Wachstumspakt: Eine Analyse unter Berücksichtigung konstitutionen- und institutionenökonomischer Aspekte, in: Schäfer (Hrsg.), Zukunftsprobleme der europäischen Wirtschaftsverfassung, S. 204. 480 Sturm, Budgetdisziplin in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 216; Gaitanides, Das Recht der Europäischen Zentralbank, S. 14; Schulze-Steinen, Rechtsfragen zur Wirtschaftsunion, S. 278; Gäckle, WD 72 (1992), 264 (270); Gumboldt, ZRP 2006, S. 3 (6). 481 Koenig/Pechstein, Die Europäische Union, 1. Auflage, Kap. 7, Rn. 16, S. 142. 482 Vgl. Gumboldt, DÖV 2005, 499 (505); nach Ansicht von Sturm, Budgetdisziplin in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 216 resultiert aus der Strafe dann eine „Mitverantwortung der Union für die finanzielle Situation des betroffenen Landes“. 483 Sturm, Budgetdisziplin in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 216. 484 Häde, Finanzausgleich, S. 545; Waldhoff/Dieterich, ZG 2009, 97 (118); Wieland, KritV 2008, 117 (129). 485 Sturm, Budgetdisziplin in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 216.
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welches durch Kredite in dreistelliger Milliardenhöhe durch andere Mitgliedsstaaten sowie den IFW aus dieser Situation befreit werden soll486, so wird die Forderung nach gleichzeitigen Sanktionszahlungen erst recht obsolet. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Sanktionsmaßnahmen nur als begrenzt tauglich erweisen. f) Ausblick: Durchsetzungskraft erfordert Glaubwürdigkeit Ein Blick in die Statistik offenbart, dass die Durchsetzungskraft der europarechtlichen Schuldenbegrenzungsregeln momentan gering ausfällt: Ende 2009 waren Defizitverfahren gegen 20 EU-Staaten anhängig487. Ein Grund hierfür besteht in einem Glaubwürdigkeitsverlust, der seit Bestehen des Stabilitäts- und Wachstumspakts stetig zunimmt. Die erste Ursache des Glaubwürdigkeitsverlusts besteht in der soeben analysierten Untauglichkeit der Sanktionsmaßnahmen, die deren Verhängung schlimmstenfalls unmöglich macht. Verzichtet man aber auf eine konsequente Anwendung der Sanktionsmaßnahmen, so wird ihre Abschreckungswirkung noch weiter geschwächt488. Ein zweiter Grund besteht darin, dass die Regelungen von den politischen Akteuren nicht konsequent vollzogen werden: Noch Mitte der 1990er Jahre ergriff Deutschland die Initiative zur Einführung des Stabilitäts- und Wachstumspakts489. Hierdurch sollte eine auf Dauer tragbare Finanzlage der europäischen Staaten erreicht werden. Zur Umsetzung dessen wurde u. a. die Verordnung 1467/97 erlassen, welche den Ablauf des Defizitverfahrens beschleunigen und klären sollte. Dann aber beschädigte Deutschland selbst den Stabilitäts- und Wachstumspakt, indem es zunächst im Jahr 2002 eine eigentlich fällige frühzeitige 486
Vgl. FAZ v. 03.05.2010, S. 1. „Defizitverfahren gegen 20 Staaten“, FAZ v. 12.11.2009, S. 12. 488 Sturm, Budgetdisziplin in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, S. 216. 489 Bundesministerium der Finanzen, Stabilitätspakt für Europa, vorgelegt vom Bundesminister der Finanzen, Theo Waigel, am 10. November 1995 in Bonn, Internationale Politik 6/1996, S. 64 ff.; Hasse, WD 2002, 133 (135); Cabral, Main Aspects of the Working of the SGP, in: Brunila/Buti/Franco (Hrsg.), The Stability and Growth Pact, S. 39; Marzinotto, Bringing domestic pressures back into the budget: Germany’s Stability Pact and the new incentive structure in EMU, in: Talany/ Casey (Hrsg.), Between Growth and Stability, S. 109 (109). 487
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Warnung durch politischen Druck abwenden konnte490. Später folgte die Entscheidung des Rates, verfahrensverschärfende Maßnahmen gegen Deutschland und Frankreich nicht anzuwenden, sondern – ohne rechtliche Grundlage hierfür491 – die Verfahren auszusetzen492. Kritiker stellen fest, die Kommission allein habe den Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht gegen die gemeinsamen Interessen der „großen“ Mitgliedsstaaten Frankreich und Deutschland verteidigen können493. Um die nach dieser Erfahrung geschwächte Glaubwürdigkeit des Pakts wieder zu erhöhen, erfolgte 2005 eine Reform desselben494. Die Änderungen beinhalteten Fristverlängerungen, erweiterten die berücksichtigungsfähigen Umstände und ermöglichten eine flexiblere Anwendung der Defizitkriterien durch die Erweiterung des Ermessens- und Einschätzungsspielraums der Kommission und des Rates495. Die neuen Regelungen fallen dadurch weniger streng und weniger genau aus; sie werden daher als ein „Aufweichen“ des Stabilitätspakts verstanden496. Glaubwürdiger geworden ist demnach zwar die Einhaltung der einschlägigen Vorschriften, nicht aber das konsequente Verfolgen der Defizitbekämpfung. Einen neuen Höhepunkt des Glaubwürdigkeitsverlusts stellen die finanziellen Hilfen für das überschuldete Griechenland sowie die Gründung eines Euro-Rettungsschirms497 dar, der Notmaßnahmen zum Erhalt der Zahlungsunfähigkeit betroffener Mitgliedsstaaten ermöglicht. Damit wurde die NoBail-out-Klausel des Art. 125 AEUV498 außer Kraft gesetzt499, welche 490
Bandilla, Ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt rechtlich durchsetzbar?, in: FS Zuleeg, S. 538 (541); Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Art. 104 EGV, Rn. 6 f., Lfg. Oktober 2007; Nicolaysen, Rechtliche Bindungen einer Stabilitätspolitik, in: FS Selmer, S. 833 (845); de Haan/Berger/Jansen, The End of Stability and Growth Pact?, S. 6; Hasse, WD 2002, 133 (134 f.); Hefeker, WD 2002, 137 (140); Peffekoven, WD 2002, 127 (129). 491 Palm, EuZW 2004, 71 (73). 492 Zum Ganzen Häde, in: Calliess/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 118 ff.; Hattenberger, in: Schwarze, Art. 104 EGV, Rn. 8. 493 Heipertz/Verdun, Ruling Europe, S. 204. 494 Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Art. 104 EGV, Rn. 8. 495 Hattenberger, in: Schwarze, Art. 104 EGV, Rn. 9; Häde, in: Calliess/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 120 ff. 496 Häde, in: Calliess/Ruffert, Art. 104 EGV, Rn. 120; kritisch Buti, Will the New Stability and Growth Pact Succeed?, in: Breuss (Hrsg.), The Stability and Growth Pact, S. 155 (176 f.). 497 Umsetzung für Deutschland durch Gesetz zur Übernahme von Gewährleistungen im Rahmen eines europäischen Stabilisierungsmechnismus vom 22.05.2010, BGBl. 2010 I, S. 627. 498 Ehemals Art. 103 EGV. 499 Fuest/Franz/Hellwig/Sinn, Zehn Regeln zur Rettung des Euro, FAZ v. 18.06.2010, S. 10.
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schon in der ursprünglichen Fassung des Maastricht-Vertrages enthalten war und ausdrücklich als institutionelle Absicherung der Haushaltsdisziplin in der Wirtschafts- und Währungsunion verstanden wurde500. Sie besagt, dass für die Schulden der Mitgliedsstaaten weder die Europäische Gemeinschaft noch die anderen Mitgliedsstaaten haften. Auch die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, die nach Art. 127 Abs. 1 AEUV501 vorrangig der Preisstabilität verpflichtet ist, gerät unter Druck: So fordert Frankreich den Aufkauf von Staatsanleihen südeuropäischer Staaten durch die EZB sowie die Einrichtung einer Wirtschaftsregierung mit politischem Einfluss auf die EZB502. Beide Entwicklungen lassen die Tendenz einer Transformation der EU von der Wirtschafts- zur Transferunion erkennen. Dieser Entwicklung wird zu Recht entgegen gehalten, dass eine Subventionierung des Kapitalflusses in hoch verschuldete Länder die Europäische Währungsunion destabilisiert: Die Schaffung eines einheitlichen Zinssatzes über Rettungszusagen führt dazu, dass bedrohlich hoch verschuldete Staaten nicht über Risikoaufschläge auf den Zinssatz in ihrer Kreditaufnahme eingeschränkt werden503. Dies fördert die Sorglosigkeit bei der Kreditvergabe und -aufnahme und damit Verschuldungsexzesse. Um die Glaubwürdigkeit der europäischen Schuldenbegrenzungsregeln wiederherzustellen, fordern Finanzwissenschaftler Folgendes: Hilfsleistungen an Staaten dürfen nur unter engen Voraussetzungen erfolgen, dabei müssen Altgläubiger durch Abschläge auf einen Teil ihrer Ansprüche verzichten (geregeltes Insolvenzverfahren). Weiterhin sollten Strafen für die Überschreitung der Defizitgrenzen definiert werden, die automatisch, also ohne vorherige politische Entscheidung, fällig werden504. 6. Zwischenergebnis Nach der auf dem AEUV basierenden europarechtlichen Schuldenbegrenzungsregel darf die jährliche Nettoneuverschuldung 3% des BIP und der Schuldenstand 60% des BIP eines Mitgliedsstaats nicht überschreiten. Diese starren Grenzen ermöglichen zwar eine hervorragende Operationalität der 500 Bundesministerium der Finanzen, Stabilitätspakt für Europa, vorgelegt vom Bundesminister der Finanzen, Theo Waigel, am 10. November 1995 in Bonn, Internationale Politik 6/1996, S. 64 (67 ff.). 501 Ehemals Art. 105 EGV. 502 „Dauerbrenner Wirtschaftsregierung“, FAZ v. 16.06.2010, S. 10. 503 Fuest/Franz/Hellwig/Sinn, Zehn Regeln zur Rettung des Euro, FAZ v. 18.06.2010, S. 10. 504 Fuest/Franz/Hellwig/Sinn, Zehn Regeln zur Rettung des Euro, FAZ v. 18.06.2010, S. 10.
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Regeln, stehen jedoch in einem Spannungsverhältnis zum zyklenartigen Konjunkturverlauf. Deshalb erfolgt eine Relativierung der Referenzwerte durch Ausnahmen und Ermessensspielräume im Defizitverfahren, wodurch ihre Durchsetzungskraft geschwächt wird. Auch die Sanktionsmaßnahmen sind nur eingeschränkt tauglich, die Einhaltung der Defizitgrenzen durchzusetzen. Sie werden ergänzt durch den Gruppendruck unter den Mitgliedsstaaten. Dennoch basiert auch auf europäischer Ebene die Einhaltung der Defizitgrenzen maßgeblich auf dem politischen Willen des jeweiligen Mitgliedsstaats. Die geringe Bereitschaft zum konsequenten Durchsetzung der Maastricht-Kriterien hat die Glaubwürdigkeit des Verfahrens maßgeblich geschwächt. Das Europarecht leistet keine Aufteilung der Defizitgrenzen auf die verschiedenen Ebenen der Mitgliedsstaaten; diese ist durch eine nationale Schuldenbegrenzungsregel sicherzustellen.
V. Polit-ökonomische und sonstige Ursachen für hohe Verschuldungsneigung Wie die Beispiele Bayerns und Sachsens zeigen505, war eine restriktive Handhabung der Staatsverschuldung auch nach den bisherigen Schuldenbegrenzungsregelungen möglich. Doch warum haben die politischen Akteure mehrheitlich immer wieder einen anderen Weg eingeschlagen? Hierfür bestehen politisch-ökonomische Ursachen außerhalb der Finanzverfassung. Diese sollen nun näher herausgearbeitet werden und in eine Neuregelung Eingang finden; denn Rechtsnomen, die die Interessen der Regelungsadressaten ignorieren, werden früher oder später das selbe Schicksal erleiden wie Art. 109, 115 GG a. F.: langsam aber sicher werden „Schleichpfade“ zu ihrer Umgehung gefunden, die sich im Verlauf der Zeit zu einem gewohnheitsmäßig begangenen „Trampelpfad“ verdichten können. 1. Die Ausgabenfixierung der Politik Zurückzuführen ist die heutige Staatsverschuldung keineswegs in erster Linie auf geringe Einnahmen bzw. Einnahmemöglichkeiten des Staates506, sondern auf hohe Ausgaben. Während die privaten Wirtschaftssubjekte in 505
Vgl. oben unter C. II. 2. Ganz deutlich wird dies am Beispiel von Rheinland-Pfalz: Das Land verbucht 2009 trotz Finanzkrise die dritthöchsten Steuereinnahmen seit Bestehen des Landes bei gleichzeitiger Rekordverschuldung, dazu Pressemitteilung vom Bund der Steuerzahler, http://steuerzahler-rheinland-pfalz.de/webcom/show_article.php?wc_c=200& wc_cat=&wc_id=79&wc_p=1, abgerufen am 25.09.2009; vgl. zur äußerst positiven 506
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
der Regel ihre Ausgaben nach der Höhe der zur Verfügung stehenden Einnahmen bemessen, also zumindest auf lange Sicht nicht mehr Geld ausgeben, als sie „haben“, werden staatlicherseits häufig zuerst die gewünschten Ausgaben festgelegt, um dann erst im zweiten Schritt ihre Finanzierung zu klären507. Dies gilt sowohl rechnerisch als auch inhaltlich. Technisch funktioniert die Ausgabenplanung wie folgt: Angaben über die zu erwartenden Einnahmen liegen zum Zeitpunkt der Ausgabenplanung noch gar nicht vor508. Die Diskrepanz zwischen Einnahmen und Ausgaben wächst dadurch, dass die Einnahmeentwicklung häufig überschätzt wird509. Erst mit Eintreffen der sog. Novemberschätzung wird dann regelmäßig festgestellt, dass die Einnahmen hinter den Ausgaben zurückbleiben510. In inhaltlicher Hinsicht wird über die Höhe des Bedarfs „politisch“ entschieden. Dabei wird versucht, mögliche Budgetkürzungen durch taktische Zuschläge zu antizipieren bzw. überhöhte Voranschläge aufzustellen, um Mittelkürzungen in den Folgejahren zu kompensieren511. Das, was die Regierung für relevant hält, ist im Ergebnis zu finanzieren; der formale Ausgleich zwischen Einnahmen und Ausgaben wird durch Neuverschuldung hergestellt512. So wird über die staatlichen Leistungsgesetze ein Teil des privaten Konsums gespeist, wobei die gesetzlichen Verpflichtungen teilweise so angelegt sind, dass die Leistungsansprüche ohne Rücksicht auf die gesamtwirtschaftlichen Erfordernisse – und damit auf die staatlichen Einnahmen – steigen513. Dies kommt einer „Verteilung von Leistungen gleich, bevor sie tatsächlich erwirtschaftet werden“514. Teilweise sind sie auch für die Zukunft aus Gründen des Vertrauensschutzes nicht ohne weiteres rücknehmbar: So unterliegen beispielsweise Anwartschaften in der Rentenversicherung dem Eigentumsschutz des Art. 14 GG515. Der Einzelne verlässt sich auf die Entwicklung der staatlichen Einnahmen seit 2005 bei gleichzeitig steigendem Schuldenstand auch Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2009, S. 567. 507 Engels/Hugo, DÖV 2007, 445 (451). 508 Engels/Hugo, DÖV 2007, 445 (451). 509 Pünder, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 86. 510 Engels/Hugo, DÖV 2007, 445 (451). 511 Pünder, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 85; zu diesen Strategien am Beispiel der Kommunalhaushalte Pünder, Haushaltsrecht im Umbruch, S. 186. 512 Göke, ZG 2006, 1 (17). 513 Duwendag, Staatsverschuldung – Notwendigkeit und Gefahren, S. 123. 514 Duwendag, Staatsverschuldung – Notwendigkeit und Gefahren, S. 123. 515 Badura, Die Talfahrt der öffentlichen Finanzen und die verfassungsrechtlichen Grenzen von Staatsausgaben und Sanierungsmaßnahmen, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mußgnug, S. 149 (160 f.).
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staatliche, solidarisch getragene Altersvorsorge516; sie ist längst an die Stelle privater Vorsorge und Sicherung getreten. Derartige Rechtspositionen darf der Gesetzgeber nicht einmal im Interesse einer zweckmäßigen Finanzlage der öffentlichen Hand beliebig umgestalten oder beschneiden517. Hier entstehen erhebliche implizite Staatsschulden, die in ihrer Bedeutung ein Mehrfaches der Kreditmarktschulden ausmachen518 und deren Bewältigung in Anbetracht der demografischen Entwicklung der Gesellschaft zu einer großen Herausforderung wird. So wenig man den Nutzen oder die Erforderlichkeit bestimmter Ausgaben bezweifeln kann, sosehr muss man sich doch fragen: Müsste nicht am Anfang einer jeden Ausgabenplanung ein „Kassensturz“ stehen, sodass die Obergrenze der Ausgaben durch die Einnahmeentwicklung bestimmt würde?519 Durchaus wird gefordert, der Staat dürfe nur leisten, was ihm an Steuereinnahmen zur Verfügung steht520; teilweise wird sogar versucht, ein verfassungsrechtliches Gebot zu begründen, das Haushaltsverfahren einnahmeorientiert zu gestalten521. Doch die politische Realität sieht anders aus. Deshalb lohnt sich an dieser Stelle der Untersuchung eine Auseinandersetzung mit den Interessen der beteiligten Akteure – Wähler und Gewählte – sowie eine Beleuchtung des Rahmens ihrer Handlungsmöglichkeiten. 2. Die Interessen der politischen Entscheidungsträger Der folgende Abschnitt soll dabei die Interessen der gewählten Politiker betrachten; erst in einem späteren Abschnitt bilden die Interessen der Wähler den Schwerpunkt der Betrachtung. Gleichwohl ist eine solche Trennung nicht immer durchzuhalten, da Wähler und Gewählte in ständiger Interaktion stehen und sich durch die Rückkopplung wechselseitig beeinflussen522. 516 Das Beispiel ist wegen seiner finanziellen Tragweite der Renten und Pensionsverpflichtungen willkürlich gewählt; es geht hier nicht darum, einer Kürzung bestimmter Ausgaben das Wort zu reden, sondern um die Frage, wie sich die Gesamtausgaben langfristig finanzieren und damit überhaupt in ihrem Bestand erhalten lassen. 517 Badura, Die Talfahrt der öffentlichen Finanzen und die verfassungsrechtlichen Grenzen von Staatsausgaben und Sanierungsmaßnahmen, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mußgnug, S. 149 (160 f.). 518 Engels/Hugo, DÖV 2007, 445 (446). 519 Gefordert von Pünder, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 87 f.; Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, S. 412. 520 P. Kirchhof, Die Staatsverschuldung als Ausnahmeinstrument, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mußgnug, S. 131 (142). 521 Engels/Hugo, DÖV 2007, 445 (446). 522 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 195.
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Die Anreizstrukturen in der Demokratie führen dazu, dass das Verschuldungsverhalten des einzelnen Entscheidungsträgers sich für ihn persönlich als rational, gesamtwirtschaftlich betrachtet dagegen als irrational erweist. a) Wichtigstes Interesse: Wiederwahl sichern Wichtigstes Interesse der politischen Parteien und damit auch der politischen Entscheidungsträger ist es, den Machterhalt zu gewährleisten523. Erst dieser ermöglicht es den Parteien, die von ihnen für richtig erachtete Politik umzusetzen524. Zu diesem Zweck agieren die politischen Akteure ähnlich den privaten Wirtschaftssubjekten auf eine isoliert betrachtet rationale, für sie nutzenmaximierende, vorhersagbare Weise525. Sie treffen Entscheidungen nicht lediglich danach, ob sie für die Gesamtheit der Bevölkerung Wohlfahrtsgewinne versprechen, sondern vorrangig danach, ob sie sich für die Regierungspartei in Form von Wählerstimmen lohnen526 (sog. Eigennutz-Axiom527). Dazu instrumentalisieren sie auch die Staatsverschuldung. Diesen Zusammenhang untersucht die Neue Politische Ökonomie, welche zur Erklärung des Verhaltens wirtschaftliche Theorien auf die Politik zu übertragen versucht528. Als „Klassiker“ gilt insoweit mittlerweile das Werk „Democracy in Deficit“ von Buchanan/Wagner529, in welchem die Autoren das Verschuldungsverhalten der auf Machterhalt bedachten Politiker analysiert haben. Ähnlich 523 Diese These bildet den Ausgangspunkt der Diskussion und geht zurück auf Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, S. 443: „[D]as erste und höchste Ziel jeder politischen Partei [ist es], über die andern den Sieg davonzutragen, um zur Macht zu gelangen oder an der Macht zu bleiben. [D]ie Entscheidung über die politischen Streitpunkte [ist] vom Standpunkt des Politikers aus nicht das Ziel, sondern nur das Material der parlamentarischen Tätigkeit.“ 524 Weizsäcker, Kyklos 45 (1992), 51 (57). 525 Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 6; Wieland, JZ 2006, 751 (752); Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 108. 526 Dies erläutert Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 6, am Beispiel des Strukturwandels, der zwar nach einiger Zeit hohe Produktionsfortschritte erzeugen kann, kurzfristig aber dem Einzelnen Kosten verursacht und damit die Betroffenen zu Ungunsten der Regierung reagieren lässt. 527 Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, S. 26 f. Hierbei handelt es sich natürlich um ein Modell, welches in der Praxis nicht ausnahmslos gilt, aber doch zur Erklärung der Verhaltensweisen taugt. 528 Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 7; Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, S. 37 ff.; weiterführende Nachweise zu den Grundlagen der Theorie bei Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 97 f. 529 Buchanan/Wagner, Democracy in Deficit.
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wie die privaten Wirtschaftssubjekte dem Wettbewerbsdruck ausgeliefert seien, das beste Produkt anzubieten, laste auf Politikern in der demokratischen Gesellschaft der Druck, um Stimmen zur Bestätigung im Amt gegeneinander anzutreten530. Die politischen Programme und Versprechungen orientierten sich daher vornehmlich daran, die Chancen einer Wahl bzw. Wiederwahl zu steigern. Der verschärfende Unterschied zu anderen Marktprozessen bestehe nun aber darin, dass nur eine Partei (oder Koalition) regieren könne („Alles-oder-nichts-Prinzip“), während in der Wirtschaft durchaus mehrere Wettbewerber gleichzeitig am Markt überleben und ihre Produkte parallel anbieten könnten. Darüber hinaus könne der für einen bestimmten Zeitraum gewählte Politiker kaum für seine Aussagen haftbar gemacht werden. Er stehe nun vor der Wahl, versprochene Ausgaben durch Besteuerung oder Staatsdefizite zu finanzieren. Während die Ausweitung öffentlicher Leistungen sich positiv auf den Zuspruch der Wähler auswirke, werde dieser Effekt durch die Finanzierung mittels Steuern wieder konterkariert. Die Wähler bekämen dann die Kosten der Leistungen durch die Reduzierung ihrer verfügbaren Einkommen zu spüren, was sich wiederum negativ auf deren Zuspruch auswirke. Nach dieser Theorie werden die öffentlichen Ausgaben so lange ausgeweitet, wie die Mehrheit der Wähler einen größeren Nutzen in den öffentlichen Leistungen sieht, als in den privaten Mitteln, die sie dafür „opfern“ muss. Dieser Wendepunkt wird naturgemäß bei Kreditfinanzierung später erreicht. Damit „lohnt“ sich die Staatsverschuldung für den einzelnen Politiker, da in seiner Legislaturperiode mehr öffentliche Güter ausgegeben werden als ihnen Kosten gegenüber stehen. Die Verwendung der öffentlichen Kreditaufnahme zu Zwecken des politischen Machterhalts stellt sich als ein Missbrauch des Instrumentariums dar531. Das für den einzelnen Politiker rationale Verhalten erweist sich gesamtgesellschaftlich als irrational, ja schädlich. Doch warum ist dieser „Missbrauch“ überhaupt möglich? Es kollidieren hier Verhaltenserwartungen, welche den Akteuren unterstellt werden, mit den Rahmenbedingungen der parlamentarisch-pluralistischen Demokratie532. Letztere basieren aber auf der Annahme, dass die Entscheidungsträger sich ausschließlich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen und ihr Handeln nicht 530
Buchanan/Wagner, Democracy in Deficit, S. 96 ff. Weizsäcker, Kyklos 45 (1992), 51 (58); Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 191 mit Hinweis auf eine schon in den 1950er Jahren getroffene Aussage Musgraves, in: Gerloff/Neumark (Hrsg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, S. 68: „Wenn dieses Werkzeug leider häufiger mißbraucht als in richtiger Weise verwendet worden ist, so trifft die Schuld daran [. . .] nicht das Instrument, sondern die menschlichen Schwächen seiner Benutzer“. 532 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 193. 531
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am Eigeninteresse ausrichten533. Tatsächlich aber versagt der politische Wettbewerb bei der Wahl der richtigen Finanzierungsart für die Ausgaben; die Akteure steigern den eigenen Nutzen und nicht den Nutzen der Allgemeinheit. Es kommt zu einem gesamtwirtschaftlichen Fehlverhalten534. Funke differenziert drei Gruppen von Vorteilen, die sich aus einer Ausweitung der Kreditaufnahme für die politischen Entscheidungsträger ergeben535: Die Lockerung der Budgetrestriktion, die Unmerklichkeit der Kreditaufnahme für den Wähler sowie die Konfliktverschiebung hinsichtlich der Verteilung von Gütern in die Zukunft. aa) Die Lockerung der Budgetrestriktion Den Ausgangspunkt der politischen Entscheidungen bilden die Wünsche der Wähler. Die Politiker der Regierungspartei sind nun im Wettbewerb um Wählerstimmen daran interessiert, den Ausgabenwünschen nachzukommen, die von den Wählern und ihren einflussreichen Interessenvertretern an sie herangetragen werden536. Die Wahlentscheidung machen die Individuen u. a. von den versprochenen Leistungen abhängig. Dabei werden vor allem zusätzliche Leistungen als positiv wahrgenommen; die bloße Aufrechterhaltung des erreichten Niveaus kann schon als Rückschritt empfunden werden537. Durch Interessengruppen sowie Medien werden diese Forderungen gebündelt und noch verstärkt538. Eine Ausweitung der Ausgaben verspricht daher ein größeres Maß der Wunscherfüllung und damit eine Erhöhung der Chance zur Wiederwahl. Gerade durch die Kürze der Wahlperioden stehen die Handlungsträger unter dem Druck, ihre „Nützlichkeit“ zügig unter Beweis zu stellen539. Dies können sie nur durch schnell sichtbare Erfolge erreichen, etwa der Finanzierung kurzfristiger Leistungen, weniger aber durch Investitionen in die Zukunft, deren Nutzen sich nicht innerhalb ihrer Legislaturperiode zeigt. Hier bietet die Kreditaufnahme eine flexible Möglichkeit540. Die Beurteilung der 533 Heinemann, Staatsverschuldung, Ursachen und Begrenzung, S. 20; Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 193; Scherf, Staatswissenschaften und Staatspraxis 7 (1996), 365 (371). 534 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 194. 535 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 197 ff. 536 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 197; Ottnad, Wohlstand auf Pump, S. 110 ff. 537 Ottnad, Wohlstand auf Pump, S. 112. 538 Ottnad, Wohlstand auf Pump, S. 113. 539 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 198. Darum ist die Verschuldungsneigung in den Ländern umso höher, je häufiger gewählt wird, Wagschal, Staatsverschuldung, S. 201.
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Nachhaltigkeit einer politischen Entscheidung würde indes eine langfristige Betrachtung erfordern, die an der Kürze der Wahlperiode scheitert.541 Daraus erklärt sich gleichzeitig, dass es in darauf folgenden Wahlperioden niemals zur Tilgung der Schulden durch Budgetüberschüsse kommt542: Diese bringen dem Wähler keinen sichtbaren Nutzen und werden daher nicht an der Wahlurne honoriert543. Es träte genau der gegenteilige Effekt ein: Die Individuen bekämen sinkende Einkommen zu spüren, sie müssten ihren Gegenwartskonsum reduzieren und brächten dies mit der amtierenden Regierung in Verbindung544. Eine besondere Dynamik erreicht der Konkurrenzkampf um die Gunst der Wähler in Wahlkampfzeiten545. Zum einen werden erhebliche Vorteile für den Zeitraum nach der Wahl versprochen, gleichzeitig aber auch von der amtierenden Regierung Wahlgeschenke verteilt. Letztere sind auch nach der Wahl schwer rückholbar. Im Extremfall kann dieses Verhalten sogar „politische Konjunkturzyklen“ verursachen, die den Vorstellungen einer antizyklischen Finanzpolitik in Bezug auf die Wirtschaftsentwicklung diametral entgegen stehen546. Die Alternative bestünde nun darin, die öffentlichen Güter statt durch Kredite durch Steuern, Gebühren oder Beiträge oder sogar Entgelte zu finanzieren547. Auch das Mittel einer Ausgabenkürzung an anderer Stelle wäre denkbar. All dies würde aber dazu führen, dass den Wählern die Kosten der öffentlichen Leistungen bewusst würden; sie könnten auf die Leistung verzichten und gleichzeitig aber der Regierungspartei ihre Stimme verweigern. So wie auf der einen Seite Stimmen mit der Ausweitung der Ausgaben zu gewinnen wären, würden diese bei denjenigen verlustig gehen, die dies durch ihre Abgaben zu finanzieren hätten548. Das Regierungsverhalten würde insofern durch die Budgetrestriktion beschränkt. Die Regie540
Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 198. Hohler, Kompetition statt Kooperation – Ein Modell zur Erneuerung des deutschen Bundesstaates?, S. 212 f. 542 Der Schuldenstand steigt stattdessen beständig, siehe dazu die Abb. 1. 543 Buchanan/Wagner, Democracy in Deficit, S. 99 f.; Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 199. 544 Buchanan/Wagner, Democracy in Deficit, S. 99 f. 545 Ottnad, Wohlstand auf Pump, S. 116. 546 Frey, Theorie demokratischer Wirtschaftspolitik, S. 6 f.; Ottnad, Wohlstand auf Pump, S. 117 m. w. N. 547 Dazu und zum Folgenden Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 198. 548 Zu den nachteiligen Folgen der „ehrlichen Ankündigung“ einer Mehrwertsteuererhöhung von 16 auf damals geplante 18% vor der Bundestagswahl 2005 Hohler, Kompetition statt Kooperation – Ein Modell zur Erneuerung des deutschen Bundesstaates?, S. 213. 541
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rungspolitiker werden daher Vorteile und Nachteile der Finanzierungsarten abwägen. Zumindest kurzfristig ergibt sich die Möglichkeit der Ausweitung des Budgets ohne „politische Kosten“549 nur durch das Mittel der Kreditaufnahme. bb) Die Unmerklichkeit der Kreditaufnahme Ermöglicht wird die Budgetausweitung nur durch die Unmerklichkeit der Kreditaufnahme, denn selbstverständlich sind die Schulden von heute die Steuern von morgen. Demokratisch gewählte Regierungen bevorzugen daher Kosten, die für den Wähler möglichst unsichtbar bleiben550. Der Vorteil der Unmerklichkeit auf der Einnahmenseite geht einher mit dem Vorteil der Merklichkeit auf der Ausgabenseite. Deshalb sind in fast allen westlichen Industrienationen in den letzten Jahrzehnten sowohl die merklichen Ausgaben als auch die unmerklichen Einnahmen spürbar gestiegen551. Merklich sind auf der Ausgabenseite vor allem öffentliche Dienstleistungen, die der individuellen Wohlfahrt dienen, beispielsweise Gesundheit und Transfereinkommen552. Andere volkswirtschaftlich wichtige Aufgaben etwa im Bildungs- und Investitionsbereich, die erst langfristig wirksam werden, sind demgegenüber der Gefahr der Vernachlässigung ausgesetzt, da hier die geringsten Widerstände Betroffener zu erwarten sind553. Auf der Einnahmenseite werden vor allem direkte Steuern von den Individuen wahrgenommen, weniger indirekte Steuern, weil letztere in anderen Ausgaben bereits enthalten sind. Nahezu unmerkliches Mittel zur Staatsfinanzierung ist die Kreditaufnahme, wenn die heutigen Steuerzahler nicht vermuten, dass später als Folge des Schuldendienstes eine Steuererhöhung droht554. Konkret für die deutsche Politik heißt das: Es werden in der Tendenz „immer deutlicher neue Sozialleistungen über eine stärkere Staatsverschuldung finanziert“555. 549 Nowotny, Zur politischen Ökonomie der öffentlichen Verschuldung, in: Simmert/Wagner (Hrsg.), Staatsverschuldung kontrovers, S. 27 (35). 550 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 200. 551 Hirai, Finanzpolitische Aspekte der Staatsfinanzen, in: Zimmermann (Hrsg.), Die Zukunft der Staatsfinanzierung, S. 111 (114); Weizsäcker, Kyklos 45 (1992), 51 (58). 552 Hirai, Finanzpolitische Aspekte der Staatsfinanzen, in: Zimmermann (Hrsg.), Die Zukunft der Staatsfinanzierung, S. 111 (112) mit empirischen Nachweisen. 553 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 205; Kitterer, Über die Tragbarkeit und die Grenzen der Staatsverschuldung, in: Kantzenbach, Staatsüberschuldung, S. 79 (87). 554 Hirai, Finanzpolitische Aspekte der Staatsfinanzen, in: Zimmermann (Hrsg.), Die Zukunft der Staatsfinanzierung, S. 111 (113) mit empirischen Nachweisen.
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Das funktioniert natürlich nur dann, wenn die Wähler der Illusion unterliegen, die zusätzlich zur Verfügung gestellten Güter hätten den Charakter eines Geschenks556. Um diese „unmerkliche“ Finanzierung der Ausgaben557 zu gewährleisten, sind die Entscheidungsträger bemüht, die wahren Kosten der Ausgaben zu verschleiern. Dies geschieht einerseits schon durch die – unbemerkt von statten gehende – Verschuldung an sich; weiterhin wird aber auch die Verschuldung häufig intransparent ausgestaltet: Ein Beispiel sind die bereits erwähnten Sondervermögen ebenso wie die private Vorfinanzierung von Infrastrukturprojekten558. Ein solches Konstrukt ist oftmals nicht einmal für Experten ohne weiteres zu durchschauen559. cc) Die Konfliktverlagerung in die Zukunft Die Finanzierung von Ausgaben über Staatsverschuldung ermöglicht den Politikern schließlich eine Lastenverschiebung: Mit Hilfe der öffentlichen Kreditaufnahme können heute die Staatsausgaben gesteigert werden, während die Konsequenzen erst in der Zukunft spürbar werden560. Die heutige Wahl zwischen einer Steuer- oder einer Kreditfinanzierung ist in Wahrheit nur eine Wahl des Timings der Besteuerung561. Dies ist wahltaktisch insofern günstig, als die Kosten der zusätzlichen Wohltaten den zukünftigen Generationen zugeschoben werden, die für die heutige Regierung als Wähler keine Rolle spielen und sich auch nicht dagegen wehren können562. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der Manipulation, denn diejenigen, die die Zins- und Tilgungslasten der gegenwärtigen Schuldenpolitik zu tragen haben, sind heute z. T. noch gar nicht geboren; wenn es dann später zur Entscheidung kommt, sind die heutigen Entscheidungsträger längst nicht mehr im Amt.563 555 Sondervoten von Di Fabio/Mellinghoff zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (163); Hansmeyer, Ursachen des Wandels der Budgetpolitik, in: Häuser (Hrsg.), Budgetpolitik im Wandel, S. 11 (28 f.). 556 Franz, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), 478 (483). 557 Franz, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), 478 (481). 558 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 201. 559 Vgl. dazu Schemmel/Borell, Verfassungsgrenzen für Steuerstaat und Staatshaushalt, S. 181 ff. sowie die Diskussion oben unter C. I. 4. c). 560 Gandenberger, Was kann die Staatsverschuldung in der Zukunft leisten?, in: Zimmermann (Hrsg.), Die Zukunft der Staatsfinanzierung, S. 173 (181). 561 Weizsäcker, Kyklos 45 (1992), 51 (62), Hervorhebung im Original. 562 Weizsäcker, Kyklos 45 (1992), 51 (58); F. Kirchhof, Wege aus der Staatsverschuldung, in: P. Kirchhof/Lehner/Raupach/Rodi (Hrsg.), FS Vogel, S. 241 (249).
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Auf lange Sicht betrachtet wirkt sich diese Herangehensweise zwar problemverschärfend aus, denn die Pflicht zur Problemlösung holt die Volkswirtschaft dann in einer Situation ein, in der die Handlungsmöglichkeiten durch erhebliche Zinslasten bereits immens eingeschränkt sein können564, ja eventuell schon eine Krise eingetreten ist565. In Folge relativ kurzer Wahlzyklen in Demokratien leben die Politiker jedoch mit einer ständigen Wahrscheinlichkeit der Abwahl. Dies lässt sie darauf hoffen, dass die negativen Folgen gerade dann eintreten, wenn nicht sie an der Macht sind. Sie haben eine „hohe Gegenwartspräferenz [und] planen mit einem kurzen Zeithorizont“566. Die langfristigen Nachteile der Staatsverschuldung fließen zwar in die Überlegungen mit ein, werden jedoch nach der Wahrscheinlichkeit des Machtverlusts „abdiskontiert“567. An dieser Stelle ist auch auf die „Wahlgeschenke“ hinzuweisen, durch die sofort politische Nutzeffekte erzielt werden, deren Kosten aber erst in der nächsten Legislaturperiode fühlbar werden568. Im Allgemeinen bemisst sich der wahltaktisch determinierte Zeithorizont wohl nach zwei bis drei Legislaturperioden569. Der politische Zeithorizont weicht also vom ökonomischen ab570; das Haftungs- und das Kongruenzprinzip beanspruchen im Rahmen politischer Entscheidungen keine Geltung: Weder unterliegt der Politiker einer persönlichen vermögensrechtlichen Haftung, noch fallen die „politischen Kosten“ der Verschuldung zwingend dann an, wenn er an der Macht ist571. Mit an563 Weizsäcker, Kyklos 45 (1992), 51 (58); Gandenberger, Was kann die Staatsverschuldung in der Zukunft leisten?, in: Zimmermann (Hrsg.), Die Zukunft der Staatsfinanzierung, S. 173 (181). 564 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 206. 565 Funke ebenda. 566 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 209. 567 Heinemann, Staatsverschuldung, S. 37 f. 568 Nowotny, Zur politischen Ökonomie der öffentlichen Verschuldung, in: Simmert/Wagner (Hrsg.), Staatsverschuldung kontrovers, S. 27 (35); Grüske, Staatsverschuldung im Spannungsfeld zwischen politischen Forderungen und ökonomischer Realität, in: Schachtschneider (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch, S. 276 (288 f.), beobachtet für den Bund einen Schuldenzyklus, „der jeweils ein Jahr vor der Bundestagswahl seinen Höhepunkt erreicht, während Steuererhöhungen in Zeiten nach Wahlen verlegt werden“. 569 Weizsäcker, Kyklos 45 (1992), 51 (62). 570 Hickel, Zum Ideologiegehalt der Staatsverschuldungsdebatte, in: Simmert/ Wagner (Hrsg.), Staatsverschuldung kontrovers, S. 137 (168), wonach die politisch akzeptierten Grenzen der Statsverschuldung hinter den ökonomische-funktional gebotenen zurückbleiben. 571 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 208. Buchanan arbeitet genau dies als Unterschied zur privaten Verschuldung heraus: „An important difference lies in the
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deren Worten: Ökonomisch vernünftige Entscheidungen sind vor allem dann zu erwarten, wenn derjenige, der sie trifft, auch erwarten muss, für ihre Konsequenzen verantwortlich gemacht zu werden572. Übertragen auf die Wiederwahl heißt das unter den bisherigen Bedingungen: Die Parteien werden die Kosten der Verschuldung umso mehr in ihre Überlegungen einbeziehen („internalisieren“), desto größer sie die Chance einer Wiederwahl einschätzen573. An dieser Stelle lohnt es sich, noch einmal auf das Beispiel Bayerns zurückzukommen: Im Verlauf der Untersuchung konnte festgestellt werden, dass hier die Schuldenstandsquote im Vergleich mit allen Bundesländern am niedrigsten ist574. Dieses Ergebnis lässt sich nicht einfach, wie auf den ersten Blick naheliegend, mit der höheren Wirtschaftskraft Bayerns erklären: Schließlich zählte auch Bayern von 1959 bis 1986 zu den „Nehmerländern“ im Bundesfinanzausgleich575. Betrachtet man die politische Landschaft Bayerns, so lässt sich feststellen, dass die CSU bis zum Jahr 2008 nahezu 50 Jahre lang über die absolute Mehrheit verfügte und nach wie vor an der Regierung beteiligt ist. In dieser Konstellation zahlt es sich aus, Entscheidungen zu treffen, die langfristig eine positive Wirkung zeitigen – es ergibt sich ein längerfristiger politischer Zeithorizont. b) Der „Stellungskrieg“ um die Fachinteressen Ein weiterer Verschuldungsanreiz für die Politik lässt sich als „Stellungskrieg“576 um die Fachinteressen nach den Wahlen beschreiben. Dabei möchte einerseits innerhalb einer Koalitionsregierung keine Partei zu Gunsten der anderen auf ihre spezifischen Wählerinteressen verzichten; in der Folge wird häufig eine Ausweitung der Verschuldung gegenüber einer Einigung auf Einsparungen präferiert. Darüber hinaus kann die Regierungspartei bzw. -koalition das Instrument der Verschuldung nutzen, um ihre Nachfolger an die eigenen politischen Vorstellungen zu binden.
absence of any assigned liability for future payment for servicing and amorizing public debt“, in: Public Choice 90 (1997), 117 (121). 572 Weizsäcker, Kyklos 45 (1992), 51 (63). 573 Alesina/Tabellini, Review of Economic Studies 57 (1990), 403 (409). 574 Siehe oben unter C. II. 2. 575 Mit kurzen Unterbrechungen, Aufstellung unter http://www.tagesschau.de/in land/laenderfinanzausgleich102.html [Stand: 31.05.2010]. 576 Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 7. Aufl., S. 342.
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aa) Das Budgetdefizit als Folge des Koalitionsdilemmas Demokratische Staaten, in denen sich mehr als zwei Parteien zur Wahl stellen, werden häufig von Koalitionen zweier oder mehrerer Parteien regiert. Dies bleibt für die Staatsverschuldung nicht ohne Folgen: Roubini/Sachs haben empirisch nachgewiesen, dass die Verschuldungsneigung eines Landes sowohl von der Zusammensetzung der Regierung (Koalitionen oder alleinregierende Parteien) als auch von deren Amtszeit abhängt577. Sie haben dazu die Verschuldungsentwicklung in den OECDMitgliedsländern Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden und USA im Zeitraum von 1960 bis 1985 untersucht. Im Ergebnis konnte festgestellt werden, dass es in „schwächeren“ Regierungen tendenziell zu höheren Defiziten kommt, wobei die „Schwäche“ einerseits durch die Präsenz mehrerer politischer Parteien als auch durch eine kürzere Amtszeit zum Ausdruck kommt578. Die empirische Evidenz dieser Tatsachen ist auch in jüngster Zeit teilweise bestätigt579, teilweise dahingehend modifiziert worden, dass eher die Zahl der ausgabenbefugten Minister bedeutsam sei580. Nach wieder anderen Ergebnissen sollen Länder mit Verhältniswahlsystem, welches in der Regel eine größere Diversifizierung von Parteien beinhaltet, ausgabenfreudiger sein, als solche mit Mehrheitswahlrecht581. Jedenfalls aber wird man aus den Untersuchungen den Schluss ziehen können, dass eine Vielzahl von Entscheidungsträgern erhöhend auf die Verschuldung wirken kann. Die Ursache dafür, dass Koalitionsregierungen eher als Einparteien- oder Präsidialregierungen zur Verschuldung geneigt sind, liegt darin, dass die verschiedenen Koalitionspartner eigene Interessen verfolgen und zum Teil eine spezifische Wählerklientel vertreten582. Selbst bei einem generellen Willen zu einem ausgeglichenen Budget gestaltet sich die Einigung auf den 577
Roubini/Sachs, European Economic Review 33 (1989), 903 (903 ff.). Roubini/Sachs, European Economic Review 33 (1989), 903 (909 und 931). 579 Neck, Staatsverschuldung aus polit-ökonomischer Sicht: Theorie und österreichische Evidenz, in: Genser (Hrsg.), Haushaltspolitik und öffentliche Verschuldung, S. 95 (128): „empirische Evidenz für die meisten europäischen Länder“. 580 Volkerink/de Haan, Auswirkungen fragmentierter Regierungen auf die Fiskalpolitik: Neue empirische Ergebnisse, in: Neck/Holzmann/Schneider (Hrsg.), Staatsschulden am Ende?, S. 25 (39 f.). 581 Wagschal, Staatsverschuldung, S. 201 und 247, jedoch mit dem Hinweis, dass deswegen nicht vom „akademischen Elfenbeinturm“ die Einführung eines Mehrheitswahlsystems empfohlen werden sollte, da Verhältniswahlsysteme positive Effekte auf die Kultur eines Landes hätten, ebenda S. 199. 582 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 204. 578
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Weg dorthin äußerst schwierig. Jede Partei wird zwar Kürzungen an den Interessen der anderen Parteien befürworten, aber ihren Budgetanteil verteidigen und Steuererhöhungen für spezifische Wählerklientel zu verhindern suchen583. Für jeden Verzicht auf eigene Interessen werden die Parteien eine Gegenleistung verlangen. „Pakete“ müssen geschnürt werden; je größer die Anzahl der Parteien ist, umso komplexer gestalten sich die Verhandlungen584. Besteht kein starker Wille zur kooperativen Vermeidung eines Defizits585, besteht die unkooperative Lösung schnell in dessen Ausweitung586. Das Budgetdefizit stellt dann den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ dar, in dem die regierungsinterne Koalitionsschwäche Ausdruck findet587. Dies wird möglich, da jede Partei ein faktisches Vetorecht hat, denn sie kann – und sei ihr Stimmenanteil auch noch so gering – damit drohen, die Koalition zu verlassen588. So kann sich jede Partei gegen Ausgabenkürzungen sperren. Auf der Ausgabenseite werden nicht selten die Wünsche aller Koalitionspartner berücksichtigt; auf der Einnahmenseite möchte häufig mindestens eine Partei Steuererhöhungen vermeiden, sodass der Weg der Verschuldung gewählt wird. Das Dilemma der Verschuldung als scheinbar einzigem Ausweg aus der „Koalitionsfalle“ ergibt sich aus der Eigenschaft des Defizitabbaus als „Zwangskollektivgut“589: Während alle Parteien von den neuen Handlungsspielräumen durch Rückführung der Verschuldung profitieren, gehen die 583 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 204; Roubini/Sachs, European Economic Review 33 (1989), 903 (924 f.); Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 215; Grüske, Staatsverschuldung im Spannungsfeld zwischen politischen Forderungen und ökonomischer Realität, in: Schachtschneider (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch, S. 276 (292). 584 Heinemann, Staatsverschuldung, S. 41. 585 So offenbar zeitweise in Österreich, dazu Neck, Staatsverschuldung aus politökonomischer Sicht: Theorie und österreichische Evidenz, in: Genser (Hrsg.), Haushaltspolitik und öffentliche Verschuldung, S. 95 (128). 586 Roubini/Sachs, European Economic Review 33 (1989), 903 (924); Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 212. 587 Richter/Wiegard, Zwanzig Jahre „Neue Finanzwissenschaft“, S. 86. 588 Roubini/Sachs, European Economic Review 33 (1989), 903 (924). 589 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 213. Bei Kollektivgütern stellt sich allgemein das Problem, dass niemand von ihrer Nutzung ausgeschlossen werden kann. Gerade deshalb besteht kein Anreiz zu ihrer Produktion, denn für den Einzelnen erweist es sich als nutzenmaximierend, sich nicht an der Bereitstellung zu beteiligen, sondern nur zu partizipieren und darauf zu warten, dass andere diese Aufgabe übernehmen (sog. Trittbrettfahrer-Effekt). Dazu Hasenöhrl, Zivilgesellschaft, Gemeinwohl und Kollektivgüter, S. 12 f. Zum Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen aus demselben Grund Becker, Eine Klimadebatte ohne Illusionen, in: FAZ v. 01.02.2010, S. 10.
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Kosten in Form von Stimmverlusten allein zu Lasten derjenigen, die sich zu Einsparungen an den Ausgabenwünschen ihrer Wähler bereit erklären. bb) Die politische Bindung der Regierungsnachfolger Ein weiteres Kalkül der Parteien kann darin bestehen, durch die strategische Nutzung der Staatsverschuldung gleichsam „Fakten zu schaffen“ für die Nachfolgeregierung590, schlimmstenfalls um diese sogar zu behindern591. Die Regierungszeit der Parteien wird durch die Wahltermine bestimmt, und damit grundsätzlich auch deren Möglichkeit, die Budgetpolitik in die gewünschte Richtung zu lenken592. Durch die Kreditfinanzierung staatlicher Leistungen lassen sich die Interessen der eigenen Wählerklientel jedoch über die Legislaturperiode hinaus durchsetzen, da der Schuldenstand auf die Nachfolgeregierung übergeht und eine von ihr zu beachtende Restriktion darstellt. So wird der Handlungsspielraum des Nachfolgers über Zins- und Tilgungslasten eingeschränkt, während der eigene Handlungsspielraum erweitert wird593. Die Folgeregierung kann dann möglicherweise das von ihren Wählern präferierte Gut gar nicht mehr bereitstellen, die amtierende Regierung kann dafür die Verwirklichung ihrer Interessen nicht nur für die laufende, sondern auch für die folgende Wahlperiode fördern594. Dies gelingt etwa, indem sie den Nachfolgern ein hohes Ausgabenniveau vorgibt, welches diese nur schwer wieder reduzieren können595. c) Kritik am Modell der Stimmenmaximierung Dem Modell der Stimmenmaximierung ist in den 1990er Jahren entgegen gehalten worden, dass ein Wandel des öffentlichen Bewusstseins eingesetzt habe, sodass die Staatsverschuldungspolitik eine stärkere Rolle in der öffentlichen Auseinandersetzung spiele596. Der Erfolg der Stimmenmaximierungstaktik wird damit angezweifelt597 oder sogar als „allgemeine Pole590
Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 214. Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, S. 343 unter Hinweis auf Alesina/Tabellini. 592 Heinemann, Staatsverschuldung, S. 37. 593 Heinemann, Staatsverschuldung, S. 37. 594 Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, S. 343. 595 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 214. 596 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 101 f.; Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 102: Die Gefahren der Schuldenpolitik sei in den 1980er Jahren in einer solchen Intensität propagiert worden, dass eine Unterstützung durch die Wähler nicht mehr unterstellt werden könne. 591
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mik“598 abgetan. Tatsächlich wurde vor der Bundestagswahl 1983 der Abbau der Staatsverschuldung thematisiert und von der Wählerschaft als wichtiges politisches Ziel betrachtet599. Doch würde eine völlige Abkehr von der Stimmenmaximierungstheorie voraussetzen, dass der überwiegende Anteil der Wähler sich mit entsprechenden Informationen versorgt und diese zudem dazu einsetzt, gegen eine Ausweitung der Staatsverschuldung zu votieren. Wie Höfling einräumt, werden die Informationen jedoch notwendigerweise unvollständig ausfallen, sodass sich die Höhe der späteren Belastung nicht so genau bestimmen lässt, wie dies bei der unmittelbar spürbaren Besteuerungsalternative der Fall ist600. Darüber hinaus sind die Anreize für die Wähler gering, sich mit entsprechenden Informationen zu versorgen. Dies verursacht einerseits Transaktionskosten, denen kein direkter Nutzen gegenübersteht; zudem wird die Staatsverschuldung, wie gezeigt, von einer derartigen Intransparenz begleitet, dass der einzelne Wähler „weder physisch noch intellektuell in der Lage ist [. . .], das Handeln der Regierungspolitiker wirksam zu kontrollieren.“601 Weiterhin spricht auch der – nach Äußerung dieser Kritik – weiter deutlich angestiegene Schuldensockel von Bund und Ländern jedenfalls dagegen, dass ein etwaiger Mentalitätswandel in der Bevölkerung Auswirkungen auf die Finanzpolitik gehabt hätte. Ferner haben die Wähler teilweise selbst ein Interesse an der Verschuldung, wie im weiten Verlauf der Untersuchung noch zu zeigen sein wird602. So zielte Höflings entscheidender Einwand603 auch in erster Linie gegen die „Transformation der demokratietheoretischen Kritik in staatsschuldenrechtliche Direktiven“ de lege lata, d.h. wenn der Demokratie ein systematischer Hang zur Verschuldung innewohne, liefere dies keine neben oder gegen das geltende Verfassungsrecht einsetzbaren Argumentationstopoi. Man könne das Defizit nicht verfassungstheoretisch kompensieren, sondern sei darauf verwiesen, die rechtspolitische Argumentation zu eröffnen. Hier verdient Höfling ausdrücklich Zustimmung: Nichts anderes ist das Anliegen der vorliegenden Untersuchung. 597
Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 101 f.; Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 102. 598 Gandenberger, Was kann die Staatsverschuldung in der Zukunft leisten? – Pessimistische Neubewertung eines wirtschaftspolitischen Instruments, in: Zimmermann (Hrsg.), Die Zukunft der Staatsverschuldung, S. 173 (182). 599 Dazu ausführlich Franz, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37 (1985), 478 (494). 600 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 102. 601 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 235. 602 Siehe unten unter C. V. 3. 603 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 103.
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d) Zusammenfassung und Schlussfolgerung Für den rational handelnden, auf Wiederwahl bedachten Politiker stellt die kurzfristorientierte Kreditfinanzierung ein beliebtes Mittel dar, um Verteilungskonflikte in die Zukunft zu verlagern. Die Neigung dazu ist umso größer, je geringer die Wahrscheinlichkeit der Beteiligung an den „politischen Kosten“ in der Zukunft ist. Darüber hinaus lassen sich durch Staatsverschuldung die Interessen der eigenen Wählerklientel für die Zukunft auf Kosten anderer Interessen sichern. Funke weist insoweit auf den ebenso bedauerlichen wie zutreffenden Aspekt hin, dass dem einzelnen Politiker kaum eine andere Wahl bleibt: Er sei „Gefangener des politischen Prozesses“ in der Demokratie604. Würde er sich dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen und aus diesem System ausbrechen, so bedeute das für ihn den Verlust von Wählerstimmen, was wiederum dafür sorge, dass er gar nicht erst die politische Macht und damit die Entscheidungskompetenz erlange605. Unter den gegebenen Bedingungen kann festgehalten werden, dass der einzelne Politiker sich im Hinblick auf die Wiederwahl rational verhält, wenn er neue Leistungen verspricht und durch Staatsverschuldung finanziert. Diese Praxis ist jedoch, gesamtwirtschaftlich betrachtet, irrational, weil sie nicht nachhaltig ist. Selbstverständlich ist das Anreizproblem, welches aus der Kurzfristorientierung der Politik resultiert, nicht durch die Abschaffung der Demokratie zu lösen. Es bedarf also eines Regelungskonzepts, welches die Verhaltensanreize der Akteure korrekt antizipiert, in die Schranken weist606 und so den für alle sonstigen Marktprozesse stets geforderten „fairen Wettbewerb“ auch für das Werben um Wählerstimmen verwirklicht. 3. Interessen der Wähler Wurden soeben die Interessen der Politiker betrachtet, wendet sich die Untersuchung nun den Wählern zu. Gemäß dem Demokratieprinzip muss auf sie alle staatliche Gewalt zurückführbar sein, und tatsächlich gibt es auch auf ihrer Seite Faktoren, die sich auf die Staatsverschuldung auswirken. Diese zu untersuchen ist Gegenstand des nächsten Abschnitts, wobei 604
Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 217. Es sei denn, die Lasten aus der Verschuldung haben schon ein solches Ausmaß erreicht, dass hierdurch die Interessen der Wählerschaft spürbar beeinträchtigt werden. Dann dürfte aber bereits eine Krise eingetreten sein, die sich dann mit dem geringen verbliebenen Problemlösungspotential schwerlich beheben lässt. Dazu Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 206. 606 Vgl. Härtel, JZ 2008, 437 (440). 605
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auch an dieser Stelle an die wechselseitige Beeinflussung von Wählern und Gewählten zu erinnern ist607. a) Anspruchsdenken seitens der Wähler Die Ausgabenfreude der Politiker ist auch auf die Wünsche der Wähler zurückzuführen, die durch ihre Leistungsansprüche an den Staat zu dessen Überforderung beitragen. Signifikant dafür ist, dass während der Phase der stark steigenden Verschuldung seit den 1970er Jahren der Anteil der Sachinvestitionen im Bundeshaushalt gesunken ist, die Verschuldung diente also vorrangig der Finanzierung von Sozial- und Subventionsprogrammen608. Hier besteht ein Wechselwirkungsverhältnis zwischen der keynesianischem Gedankengut geschuldeten Enttabuisierung der Staatsverschuldung auf der einen Seite und dem Verhalten der Bürger gegenüber dem Staat auf der anderen Seite609. Dabei ist es kein Zufall, dass gerade Ende der 1960er Jahre – wohingegen der Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg noch nahezu ohne Schulden finanziert worden war – der Ruf nach mehr Verteilungsgerechtigkeit die Staatsverschuldung steigen ließ: Einer entsprechenden Untersuchung zufolge nimmt die Präferenz des gegenwärtigen gegenüber dem späteren Konsum mit zunehmendem Wohlstand zu, es ist also sprichwörtlich „leichter reich zu werden, als reich zu bleiben“610. Aktuell beziehen 42,4 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung zumindest ergänzend Sozialleistungen, umfasst hiervon sind Renten, Kurzarbeiterund Arbeitslosengeld, Grundsicherung und andere staatliche Unterstützung611. Der Kreis der Anspruchsberechtigten wird sich in Kürze auf 50 Prozent der Wahlberechtigten ausweiten612. Die Zahlen verdeutlichen, welch großen politischen Einfluss diese Wählergruppe auf die Staatsfinanzen hat. Zusätzlich spielt auch die Gewöhnung an die öffentlichen Leistungen eine Rolle. So wird das ausgeweitete Leistungsangebot nach einiger Zeit vom Wähler als selbstverständlich bzw. als ihm zustehendes Recht angesehen, auf das er keinesfalls zu verzichten bereit ist613. Im schlimmsten Fall 607
Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 195. Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 259. 609 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 260. 610 Neumann, Zukunftsperspektiven im Wandel, S. 50 f. 611 Bericht nach Daten aus dem Jahr 2007, FAZ v. 28.01.2010, S. 12, unter Bezugnahme auf eine Untersuchung des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). 612 FAZ ebenda. 613 P. Kirchhof, Die Staatsverschuldung als Ausnahmeinstrument, in: Grupp/ Hufeld (Hrsg.), FS Mußgnug, S. 131 (141); Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 263. 608
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kommt es zu einer Abhängigkeit von den staatlicherseits gewährten Leistungen, die private Initiative verdrängt614. Damit korrespondiert die hohe Hemmschwelle des Gesetzgebers, Leistungstatbestände wieder abzubauen615. Der Nutzen ist dem Wähler nur dann recht bewusst, wenn eine Leistung neu eingeführt wird oder zur Disposition steht616. So treten immer neue Leistungs- oder Entlastungswünsche auf. Diese werden nicht vom einzelnen Wähler, sondern mit Nachdruck von Interessenvertretungen an die Politik herangetragen617. Dabei gehen sie äußerst geschickt vor: Argumentiert wird nicht vom Nutzen für den Leistungsempfänger her, sondern vom öffentlichen Nutzen einer Ausgabensteigerung618. Stalder illustriert dies an einigen Beispielen: Die Forderung einer Lehrerlobby nach öffentlichen Ausgaben für mehr Lehrerstellen wird eher Unterstützung finden, als ihr Begehren nach höheren Gehältern; eine Subventionierung der Werftindustrie wird weniger Zustimmung erhalten als die Forderung nach neuen Schiffen für die Küstenwache619. Auch der Unternehmer versucht auf diese Weise, seinen Gewinn nicht durch Leistung am Markt, sondern durch staatliche Mittel zu erzielen620. Die Interessengruppen haben bedeutenden Einfluss, denn sie verfügen über breite Informationen hinsichtlich der betreffenden Belange, eine arbeitsteilige Organisation und ein hinreichend großes Potential an Mitgliedern, um dem Anliegen der Gruppe öffentlich Gehör zu verschaffen621. Sie verfügen weiterhin über finanzielle wie publizistische Unterstützung und können unter anderem über Demonstrationen und Streiks auf sich aufmerksam machen622. Die Medien wirken insoweit als Verstärker. Vor allem aber können die Interessengruppen auf ein gebündeltes Maß an Wählerstimmen zurückgreifen, sodass die Parteien es sich kaum leisten können, auf organisierte Interessen keine Rücksicht zu nehmen. Die Wahrnehmung der Gruppeninteressen durch Interessengruppen fördert so die Ausweitung des Ver614 Prosi, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 56 (2/1993), 15 (20). 615 P. Kirchhof, Die Staatsverschuldung als Ausnahmeinstrument, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mußgnug, S. 131 (141). 616 Ottnad, Wohlstand auf Pump, S. 112; Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 262. 617 Ottnad, Wohlstand auf Pump, S. 113. 618 Mueller/Murrell, Interest Groups and the Size of Government, S. 16. 619 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 267. 620 P. Kirchhof, Die Staatsverschuldung als Ausnahmeinstrument, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mugnug, S. 131 (146). 621 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 265. 622 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 265; vgl. auch jüngst die Streiks gegen Sparmaßnahmen der griechischen Regierung, obwohl der griechische Staat seine Solvenz nur noch mit äußerer Unterstützung aufrecht erhalten kann.
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günstigungsstaats623 in Form von Subventionen, Steuerprivilegien und Transferzahlungen624, was – mangels anderweitiger Finanzierung – mit steigender Verschuldung einhergeht. Ebenso wie bereits im Zusammenhang mit den Anreizen der politischen Entscheidungsträger erörtert, spielt auch hier wieder der Aspekt der Staatsverschuldung als Kollektivlast eine Rolle. Verzichtet nämlich eine Gruppe auf die von ihr gewünschten Vorteile, so trägt sie die Lasten allein; von den niedrigeren Finanzierungslasten in Form von heutigen oder zukünftigen Steuern profitieren alle625. Wählt sie hingegen eine expansive Strategie, nutzt dies vor allem ihr selbst; die Kosten hat die Allgemeinheit zu tragen626. Auch hier stellen sich diejenigen schlechter, die eine restriktive Strategie wählen, während die anderen sich für Ausgabenexpansion entscheiden627. Dabei spielt es für den Einzelnen nicht einmal eine Rolle, welche Strategie die anderen wählen: Das weitere Schuldenwachstum könnte nur vermieden werden, wenn zumindest die überwiegende Mehrheit ihre Ansprüche einschränkt. Selbst wenn die Mehrheit dies tut, kann sich der einzelne Bürger dennoch auf Kosten der Allgemeinheit besser stellen, indem er nichts zur Konsolidierung beiträgt, sondern seine Ansprüche weiter durchsetzt (sog. „Trittbrettfahrer“).628 Dies verstärkt sich noch durch das Phänomen des Stimmentauschs: Darunter versteht man die Möglichkeit verschiedener Interessengruppen, einander gegenseitig bei der Durchsetzung der Ziele zu unterstützen und dadurch letztlich für beide (oder mehrere) Vorhaben eine Mehrheit zu bekommen, die ohne wechselseitige Unterstützung der Minderheiten mangels Mehrheit gescheitert wäre. So kommt es zu einer „Vielzahl von oftmals widersprüchlichen Maßnahmen zu Gunsten partikularer Interessen“629. 623 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 266. Dieses Ergebnis ist für die OECD-Staaten empirisch belegt: Mueller/Murell sehen einem Zusammenhang, wonach mit der Anzahl der Interessengruppen auch das Ausmaß der Staatstätigkeit steigt, in: Interest Groups and the Size of Government, S. 22 ff. 624 P. Kirchhof, Die Staatsverschuldung als Ausnahmeinstrument, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mugnug, S. 131 (146); zu Koriositäten des Verbandseinflusses auf die Steuergesetzgebung, etwa die Begünstigung bei der Umsatzsteuer hinsichtlich des Verkaufs von Pferden und Mauleseln, Franke, Steuerpolitik in der Demokratie, S. 285. 625 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 270; vgl. schon Olson, Aufstieg und Niedergang von Nationen, S. 20 f. 626 Prosi, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 56 (2/1993), 15 (17). 627 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 270. 628 Nachweis bei Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 271; vgl. schon Olson, Aufstieg und Niedergang von Nationen, S. 21. 629 Ottnad, Wohlstand auf Pump, S. 133 f.
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Olson stellt daher die These auf, dass die verbandliche Organisation von Gruppeninteressen umso schwieriger wird, je mehr Menschen das Interesse teilen: Je größer eine Gruppe wird, desto geringer fällt die „Belohnung“ des Einzelnen für gruppenorientiertes Handeln aus.630 So könnte beispielsweise die Abschaffung vieler verschiedener Steuerprivilegien dazu führen, dass die Steuern für alle gesenkt würden631. Durch mehr Einfachheit, Gerechtigkeit und die Vermeidung von Fehlallokationen könne dies zu mehr Wohlstand für nahezu alle Steuerzahler führen. Da aber jede Interessengruppe ihr Partikularinteresse bedroht sähe, hätte man mit einer solchen Reform nahezu alle Vertreter gegen sich; eine solche Reform gelte unter Eingeweihten politisch als „Selbstmord“.632 Übertragen auf die Verschuldung heißt das: Der Abbau der Staatsverschuldung hat derzeit kaum eine Lobby. Auch bei Betrachtung der Wählerinteressen führt also das für den Einzelnen rationale Verhalten der Leistungsforderung zu – gesamtwirtschaftlich gesehen – unvernünftigen Folgen, ja einer Kostenexplosion633. Dies betrifft vor allem Aufwendungen des Staates an Stellen, wo sie unwirtschaftlich sind, beispielsweise Erhaltungssubventionen. Hier ist der Sozialabbau gefürchtet, oft aber die Verschwendung öffentlicher Mittel weit unsozialer634. Die Folge ist eine ausufernde Staatsverschuldung, die bis zur Staatsinsolvenz führen kann oder die Individuen über Steuererhöhungen bzw. Inflationsverluste einholen wird. P. Kirchhof spricht sich daher für eine Korrektur der Erwartungen an den Staat aus: Der Bürger dürfe im Normalfall vom Staat gute Gesetzgebung, aber nicht gutes Geld fordern635.
630 Olson, Die Logik, des kollektiven Handelns, S. 46 f.; ders., Aufstieg und Niedergang von Nationen, S. 20 ff.; Gedanken aufgreifend v. Arnim, Herrschaft der Lobby? – Zur Notwendigkeit und zum Missbrauch des Einflusses der Wirtschaft auf die Politik, in: Ritter/Feldmann (Hrsg.), Lobbying zwischen Eigeninteresse und Verantwortung, S. 17 (23). 631 v. Arnim, Herrschaft der Lobby? – Zur Notwendigkeit und zum Missbrauch des Einflusses der Wirtschaft auf die Politik, in: Ritter/Feldmann (Hrsg.), Lobbying zwischen Eigeninteresse und Verantwortung, S. 17 (25 ff.). 632 v. Arnim, Herrschaft der Lobby? – Zur Notwendigkeit und zum Missbrauch des Einflusses der Wirtschaft auf die Politik, in: Ritter/Feldmann (Hrsg.), Lobbying zwischen Eigeninteresse und Verantwortung, S. 17 (26). 633 Seeler, Recht und Politik 1995, 195 (198); Prosi, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 56 (2/1993), 15 (17). 634 Prosi, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 56 (2/1993), 15 (17). 635 P. Kirchhof, Die Staatsverschuldung als Ausnahmeinstrument, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mußgnug, S. 131 (145).
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b) Entkopplung von Zahlern und Nutzern Ein weiterer Grund zur Unterstützung der Staatsverschuldung durch die Wähler liegt darin, dass auch sie – ähnlich den gewählten Politikern – teilweise darauf hoffen dürfen, zu den Nutznießern der Staatsverschuldung zu zählen, ohne überhaupt (oder im Maße ihres Nutzens) an den späteren Kosten beteiligt zu werden636. aa) Zeithorizont Auch der menschliche Zeithorizont beeinflusst ökonomische Entscheidungen: „In the long run, we are all dead“637. Die Generation, die einen Kredit aufnimmt, ist daher nicht zwingend identisch mit der, die ihn zurückzahlt638. Die Staatsverschuldung bietet die ansonsten rechtlich nicht vorgesehene Möglichkeit, zukünftigen Generationen eine „negative Erbschaft“ zu hinterlassen639. Mit zunehmendem Alter dürfte daher eine Präferenz zur Lastenverschiebung in die Zukunft bestehen. Die noch Ungeborenen oder noch nicht Wahlberechtigten sind am heutigen politischen Prozess nicht beteiligt und können daher nicht protestierend eingreifen. Sie sind darauf angewiesen, dass ihr Interesse am möglichst geringen „negativen Erbe“ einer Schuldenlast von der heute wahlberechtigten Generation in altruistischer Weise wahrgenommen wird. Die heutige Generation wird dies auch berücksichtigen, soweit sie individuelle Bindungen an die Zukunft hat. Je größer der Bevölkerungsanteil kinderloser Personen ist, desto gefährdeter wird die Wahrnehmung der Zukunftsvorsorge per se.640 Aber auch die abnehmende Bindung zwischen den Generationen, etwa durch den Zerfall der Mehrgenerationenfamilie, spielt eine Rolle641. Es besteht die Gefahr, dass „Demokratie zu Lasten Dritter“ praktiziert wird. Dass es sich hierbei keineswegs um rein theoretische Modellannahmen handelt, zeigt folgendes Beispiel: Als in den vereinigten Staaten von Amerika die Einführung einer Schuldenbegrenzungsregelung in die Verfassung zur Debatte stand („Balanced Budget Amendmend“), bewirkten letztlich die Interventionen von Verbänden, Lobbyisten, Sozialverbänden und Vereinigungen von älteren Menschen (!) im unmittelbaren Vorfeld der Abstimmung einen Stimmungsumschwung, der 636
Vgl. Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 261. Keynes, A Tract on Monetary Reform, S. 80. 638 Boss/Lorz, Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften 46 (1995), 152 (164); Wieland, JZ 2006, 751 (752). 639 Boss/Lorz, Jahrbuch für Wirtschaftswissenschaften 46 (1995), 152 (164 f.). 640 Kratzmann, Verschuldungsverbot und Grundrechtsinterpretation, S. 154; Weizsäcker, Kyklos 45 (1992), 51 (63). 641 Heinemann, Staatsverschuldung, S. 26 f. 637
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zum Scheitern der beabsichtigten Verfassungsänderung führte642. Die Zweidrittelmehrheit wurde knapp verfehlt. Für den Zeithorizont kommt es nicht einmal nur auf die biologische Lebensdauer, sondern auf die Länge des „Steuerzahlerlebens“ an, d.h. wie lange ein Individuum damit rechnet, noch Steuern zahlen zu müssen643. Natürlich werden alle lebenden Menschen mehr oder weniger an der Finanzierung des Staates beteiligt (z. B. schon über die Mehrwertsteuer auch auf Nahrungsmittel), aber zumindest bislang war das deutsche Steuersystem darauf ausgelegt, vor allem Erwerbseinkommen, Renten hingegen nur sehr eingeschränkt zu besteuern644. Einer Kreditaufnahme von einer gewissen Summe wird daher vom Steuerzahler nur in der Höhe als schädlich realisiert, wie er damit rechnet, sie noch zurückzahlen zu müssen. Je kürzer die Dauer des bevorstehenden „Steuerzahlerlebens“ ist, desto geringer wird der Gegenwartswert einer Staatsanleihe wahrgenommen. Blankart rechnet vor, dass einer Staatsschuld von 1.000 EUR bei 10 Jahren Lebenserwartung eine Last von nur 614 EUR gegenübersteht645. bb) Ungleicher Steuerbeitrag Hinzu kommt ein Weiteres: In Folge unterschiedlicher Einkommen und unterschiedlicher Vermögensverteilung sind, entsprechend der Struktur des Steuersystems, nicht alle Individuen an der zukünftigen Steuerlast gleichermaßen beteiligt646. Auch wenn es in Folge der öffentlichen Verschuldung zu späteren Steuererhöhungen kommen muss, ist für den einzelnen Wähler schon nicht sicher, ob sie ihn treffen werden oder ob er sich ihnen entziehen kann. Er wird daher die zukünftigen Lasten als Eventualverbindlichkeiten betrachten, wohingegen eine jetzige, ihn definitiv belastende Steuererhöhung nachteiliger wäre647. Generell müssen niedrige Einkommensschichten648 weniger bzw. in geringerem Maße damit rechnen, für künftige Steuerzahlungen herangezogen 642
Dazu Bach, Konjunkturpolitik 39 (1993), 1 (4 f.). Heinemann, Staatsverschuldung, Ursachen und Begrenzung, S. 26. 644 Heinemann, Staatsverschuldung, Ursachen und Begrenzung, S. 26. Erkennbar ist allerdings mit zunehmendem Durchschnittsalter der Bevölkerung auch ein Trend zur stärkeren Besteuerung der Renten. 645 Blankart, Öffentliche Finanzen in der Demokratie, 7. Aufl., S. 341. 646 Nowotny, Zur politischen Ökonomie der öffentlichen Verschuldung, in: Simmert/Wagner (Hrsg.), Staatsverschuldung kontrovers, S. 27 (37). 647 Scherf, Staatswissenschaften und Staatspraxis 7 (1996), 365 (373). 648 Vor allem unter den Gegebenheiten der progressiven Einkommenssteuer mit anfänglichem Freibetrag. 643
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zu werden649. Für sie kann sich daher die Finanzierung einer Ausgabenexpansion zu ihren Gunsten über Staatsverschuldung sogar generell als rational erweisen650. Der Kreis der Befürworter kann dabei über den Kreis der potentiell Begünstigten deutlich hinausgehen, wenn sie der Meinung sind, jedenfalls keinen Schaden durch Beteiligung an den Kosten erleiden zu müssen651. cc) Zwischenergebnis Im Ergebnis lässt sich eine „Entkoppelung von Nutzern und Zahlern“652 staatlicher Leistungen und damit staatlicher Verschuldung sowohl in personaler als auch in zeitlicher Hinsicht festhalten, was Anreize zu deren Erhöhung bietet. c) Fiskalillusion/niedriges Informationsniveau Ein weiterer Aspekt ist die geringe Informiertheit der Wähler über das Problem der Staatsverschuldung und die damit verbundenen zukünftigen Kosten. Schon Buchanan/Wagner prägten diesbezüglich den Begriff der Fiskalillusion653: Hiernach besäßen die Bürger kein umfassendes Wissen, inwieweit fiskalpolitische Maßnahmen sie persönlich betreffen, und unterlägen daher der Fehlwahrnehmung einer geringen Belastung. Dies führe erst zur Ausweitung der Nachfrage nach öffentlichen Leistungen, die die Bürger im vollen Bewusstsein der Kosten nicht zu zahlen bereit wären, und damit zur Verzerrung des Haushalts654. Der erste Grund für die Schuldillusion besteht darin, dass für die Wähler kaum ein Anreiz zur Informationsbeschaffung besteht. Sie müssten nämlich hohe Transaktionskosten655 aufwenden, um sich mit der Finanzierung der 649
Gandenberger, FinArch n. F. 30 (1971), 369 (387). Nowotny, Zur politischen Ökonomie der öffentlichen Verschuldung, in: Simmert/Wagner (Hrsg.), Staatsverschuldung kontrovers, S. 27 (37); Buchanan, Public Choice 90 (1997), 117 (124). 651 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 268. 652 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 261. 653 Buchanan/Wagner, Democracy in Deficit, S. 128 ff. 654 Klages, Staat auf Sparkurs, S. 45 ff. entkräftet mit empirischem Nachweis auch den Einwand Barros, The Journal of Political Economy 82 (1974), 1095 (1095 ff.), wonach die Privathaushalte zusätzliches Einkommen durch Staatsverschuldung wiederum kompensieren würden, indem sie in Anbetracht der zukünftigen höheren Steuerlasten durch entsprechend erhöhte Ersparnisbildung vorzusorgen versuchten. 655 Kosten vor allem verursacht durch die erforderliche Zeit zur Aufnahme aller Daten. 650
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von der Politik versprochenen Leistungen sowie den Folgen der verschiedenen Finanzierungsarten vertraut zu machen656. Diesen hohen Kosten steht jedoch ein lediglich geringer individueller Nutzen gegenüber, denn gerade in repräsentativen Demokratien kann der Wähler, der nur im Abstand einiger Jahre seine Stimme abgibt, selbst bei gutem Informationsniveau wenig an der Schuldenpolitik beeinflussen657. Selbst wenn die einzelne Stimme aber wahlentscheidend sein sollte, fallen die Kosten der „schlechten“ Entscheidung weitgehend bei der Allgemeinheit an, die Kosten für die Informationsbeschaffung jedoch beim Wähler658. Auch besteht das „Trittbrettfahrerproblem“, da das Wahlergebnis den Charakter eines Kollektivguts hat659. Das führt dazu, dass sich die Informationsbeschaffung für den rational kalkulierenden Wähler nicht lohnt; er tut besser daran, seine Kraft zu investieren, um anderweitig private Vorteile zu erlangen660. Weiterhin hat der einzelne Wähler häufig weder die physische Möglichkeit noch die intellektuellen Voraussetzungen, um die Verschuldungspolitik der Regierung wirksam zu kontrollieren661. Dies wird dadurch noch verstärkt, dass die Politik darum bemüht ist, die Staatsverschuldung so auszugestalten, dass ihr wahres Ausmaß verschleiert wird662. Zutreffende Informationen sind daher schwer zu erlangen663. d) Wähler als Profiteure von Staatsanleihen Ein weiterer Grund zur Unterstützung der Staatsverschuldung durch zumindest einen Teil der Wähler besteht darin, dass sie als Gläubiger des Staates von der Anlagemöglichkeit profitieren. Während Steuern zwangsweise erhoben und außerdem für den Bürger „verloren“ sind, werden Kredite nicht hoheitlich auferlegt, sondern beruhen 656 Grüske, Staatsverschuldung im Spannungsfeld zwischen politischen Forderungen und ökonomischer Realität, in: Schachtschneider (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch, S. 276 (290); grundlegend dazu Downs, Ökonomische Theorie der Demokratie, S. 233 ff. 657 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 235. 658 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 142. 659 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 142. 660 Grüske, Staatsverschuldung im Spannungsfeld zwischen politischen Forderungen und ökonomischer Realität, in: Schachtschneider (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch, S. 276 (290); Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 235 f. 661 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 235. 662 Vgl. dazu die schon mehrfach angesprochenen Nebenhaushalte, oben unter C. I. 4. 663 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 144.
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auf freiwilligen Vereinbarungen664. Der Bürger erhält sein Geld – Solvenz des Staates vorausgesetzt – zurück und profitiert von den Zinsen. Sie werden daher, im Gegensatz zum „Opfer“ der Steuer, als eine Gunst des Staates empfunden. Schon dies schwächt die Bereitschaft des Staatsvolkes, begrenzend auf die Staatsverschuldung einzuwirken665. Vor allem aber profitieren einzelne Wähler als Kapitalanleger davon, dass sie Einkünfte aus der Verzinsung ihres Kapitals erzielen, wobei der Staat im Vergleich zu anderen Anlagen ein solventer Schuldner ist. Die vergleichsweise hervorragende Bonität des Staates666 lässt sie nur ein geringes Risiko tragen667. Zudem sind auch die Verwaltungskosten einer Staatsanleihe für die Gläubiger denkbar gering668. Dieses Phänomen bezieht sich keineswegs nur auf einzelne, große Kapitalgeber. Auch Kleinanleger können direkt – beispielsweise über Bundesschatzbriefe – oder vor allem indirekt, durch Lebens- oder Rentenversicherungen, zum Gläubiger des Staates werden. Dies gipfelt darin, dass sogar schon explizit ein Festhalten an der Staatsverschuldung zu dem Zwecke gefordert wird, Kapitalanlegern eine sichere Anlagemöglichkeit zu bieten: „Ein weiteres Kapitalmarktproblem wird ebenfalls gerne übersehen. Würde die Schuldenbremse in der gegenwärtigen Form langfristig erfolgreich angewendet, sänke die Staatsverschuldung [. . .] auf gerade einmal 11,7% [des BIP]. Damit fiele der Staat als sog. [b]ester Schuldner weitgehend aus. Dies hätte weit reichende Konsequenzen für Kapitalanleger, die[,] wie z. B. Lebens[versicherungen] oder Kapital gedeckte Rentenversicherungen[,] einen hohen Anteil sicherer Anlagen in ihrem Portefeuille benötigen. Ihre Nachfrage könnte auf dem nationalen Markt nicht mehr befriedigt werden, sie wären gezwungen entweder in Anleihen anderer Staaten zu investieren oder, wenn diese die gleiche Strategie wie die Bun664
Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 239. P. Kirchhof, Die verfassungsrechtlichen Grenzen der Staatsverschuldung, in: Leben (Hrsg.), Wachsende Staatsverschuldung – Gefahren für Politik und Wirtschaft?, S. 55 (60). 666 Franz, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 37, 478 (492). 667 Wobei selbstverständlich mit abnehmender Solidität der Staatsfinanzen das Risiko einer Insolvenz des Staates und damit eines Forderungsausfalls zunehmen dürfte. Diese Risiken wurden und werden aber von den Anlegen systematisch unterschätzt (vgl. Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 239). Zu bedenken ist insoweit aber, dass in der Vergangenheit eine Überschuldung des Staates selten dadurch behoben wurde, dass der Staat all seine Schulden zurückgezahlt hätte. Vielmehr wurde entweder offen ein „Bankrott“ des Staates erklärt, welcher einen völligen oder teilweisen Verzicht der Gläubiger auf die Anleiheforderungen zur Folge hatte, oder es wurde der Weg eines „verdeckten Staatsbankrotts“ über eine Hyperinflation gewählt. Vgl. dazu Becker, Staatsverschuldung oder Der Fluch der späten Geburt, in: Gesellschaft für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.): Ihr habt dieses Land nur von uns geborgt, S. 115 (143 f.). 668 Meyer, Kommissionsdrucksache 14 der FöKo II, S. 8. 665
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
desrepublik verfolgten, in riskantere Anlagen. Damit würde aber das Renditerisiko von Lebens- und Kapital gedeckten Rentenversicherungen merklich steigen.“669
Die Maxime aus Sicht der Kapitalanleger lautet also: Der Staat verschulde sich, damit es den Gläubigern gut geht. Aus der Perspektive des Gemeinwohls gesehen dürfte jedoch auch diese Forderung als irrational zu bewerten sein, denn der Staat könnte in der Zukunft – statt mit Steuermitteln den Schuldendienst zu bedienen – seinen Bürgern auch gleich Renten und Pensionen durch Umlage auf das zu versteuernde Einkommen der jeweils Steuerpflichtigen finanzieren: Daran, dass die Versorgung der Rentner immer aus der Rendite der jeweiligen Periode geleistet werden muss, führt auch nach Ansicht der Verfasser der zitierten Stellungnahme kein Weg vorbei670. Die Stellungnahme stellt daher zugleich ein weiteres Beispiel für eine geschickte Argumentation „vom öffentlichen Nutzen her“671 dar, welche zur Erhaltung politisch gewünschter Ausgabenspielräume „vorgeschoben“ wird672. 4. Das Prinzipal-Agent-Problem Schließlich besteht zwischen Wählern und Gewählten ein PrinzipalAgent-Problem, d.h. ein Spannungsverhältnis, welches sich aus den divergierenden Interessen von Vertretenen und Vertretern ergibt673. Der Wähler kann das Verhalten des Gewählten nur bedingt kontrollieren und dessen wahre Absichten kaum erkennen. Dieses Problem verschärft sich dadurch, dass der Wähler während der laufenden Wahlperiode mangels vorzeitiger Abwahlmöglichkeit kein Sanktionspotential zur Verfügung hat. Dass nach der Wahl Beschlüsse entgegen den Versprechen im Wahlkampf gefasst werden, ist schon fast „gang und gäbe“674. So kann es vorkommen, dass selbst der informierte und Staatsverschuldung ablehnende Wähler einen Politiker675 wählt, welcher sich kritisch zur Staatsverschuldung äußert, sich dann aber später entgegengesetzt verhält. 669 Horn/Truger/Proano, Stellungnahme zum Entwurf eines Begleitgesetzes zur zweiten Föderalismusreform BT Drucksache 16/12400, veröffentlicht als Stellungnahme zur Sachverständigenanhörung am 05.04.2009 (Hervorhebung hinzugefügt). 670 Ebenda Tz. 7; dazu auch D. Meyer, Die Schuldenfalle, S. 47 ff. 671 Vgl. dazu oben unter C. V. 3. a). 672 Vgl. schon oben unter B. 673 Stalder, Staatsverschuldung in der Demokratie, S. 86 ff. 674 Steingart, Die Machtfrage, S. 164 mit dem Hinweis auf das – wenngleich der Konsolidierung eher zuträgliche – Verhalten der SPD, die im Wahlkampf eine Mehrwertsteuererhöhung kategorisch ausgeschlossen hatte, um sie dann wenig später in Höhe von sogar 3% mitzutragen. 675 Bzw. eine Partei.
V. Ursachen für hohe Verschuldungsneigung
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Auch dies lässt sich mit Beispielen aus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland belegen. So äußerte beispielsweise der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 in einem Zeitungsartikel noch deutliche Kritik an der Verschuldungspolitik der amtierenden Regierung: „[E]ine solche rapide Verschuldung, wie sie die Regierung Schmidt zu verantworten hat, [ist] Raubbau an der Zukunft unserer Kinder [. . .], um sich die Gegenwart zu vergolden“676. Er kündigte an: „Wir werden dafür sorgen, dass der Staat wieder sparsam und haushälterisch mit dem Geld seiner Bürger umgeht.“677 Während seiner Kanzlerschaft ab 1982 kam Kohl mit seinen Konsolidierungsbemühungen jedoch auch im Zeitraum vor der kostenintensiven Wiedervereinigung 1990 nicht über eine Reduzierung der Nettokreditaufnahme und damit eine Verlangsamung der Neuverschuldung hinaus678. Dies hatte seine Ursache unter anderem in Steuersenkungen und wieder großzügigerem Ausgabengebaren in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre679. Diesen Befund bestätigt auch die Finanzpolitik in jüngster Zeit, noch bevor sich fiskalische Auswirkungen der Finanzkrise zeigten (2005 bis 2008), während der großen Koalition aus CDU und SPD unter der Kanzlerschaft Angela Merkels. Letztere kündigte vor der Wahl 2005 eine Mehrwertsteuererhöhung um 2% an, worauf tatsächlich eine 3%ige Erhöhung folgte. Dies wurde zur Überzeugung des Wählers mit der Zielsetzung verbunden, die Neuverschuldung abzubauen, was an sich wünschenswert gewesen wäre. So hieß es noch in der Gesetzesbegründung: „Die Anhebung des allgemeinen Umsatzsteuersatzes von 16% auf 19% dient der Erzielung von Einnahmen zu Zwecken der Haushaltskonsolidierung sowie der Reduzierung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung“680, wobei für letzteren Zweck lediglich die Einnahmen aus einem Mehrwertsteuerpunkt vorgesehen waren. Tatsächlich wurde dann aber die Neuverschuldung längst nicht in dem Maße abgebaut, wie das Steueraufkommen in Folge von Mehrwertsteuererhöhung und guter Konjunktur stieg: Der Bund erzielte 2008 gegenüber 2005 Steuer-Mehreinnahmen von 49 Mrd. EUR681, reduzierte aber die jährliche Neuverschuldung im gleichen Zeitraum lediglich um 8,6 Mrd. 676 Kohl, Die Finanzpolitik der Regierung führte in eine Sackgasse, Handelsblatt Nr. 176 vom 12./13.09.1980, S. 7. 677 Kohl ebenda. 678 Henneke, Öffentliches Finanzwesen, Finanzverfassung Rn. 537 mit tabellarischen Nachweis Rn. 183; Wendt, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 115, Rn. 9. 679 Analyse der Verschuldungspolitik in diesem Zeitraum bei Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 148 ff. 680 Begründung zu Art. 3 Nr. 1 des Haushaltsbegleitgesetzes 2006, BT-Drs. 16/752, S. 24 (Hervorhebung hinzugefügt). 681 Eigene Berechnung anhand der Daten aus Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2009 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 579.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
EUR, nämlich von 27,8 Mrd. EUR (2005) auf 19,2 Mrd. EUR (2008)682. Obwohl die Einnahmesteigerungen also mehr als ausgereicht hätten, um auf neue Schulden gänzlich zu verzichten, wurde der weitaus größere Teil für neue Ausgabenwünsche verwendet, die nicht über weitere zusätzliche Steuern finanziert werden sollten. Beispiele sind die Anhebung mehrerer Sozialleistungen sowie die Neuordnung der Krankenversicherung683. Steingart684 beschreibt hier plastisch einen Wandel von „Merkel I.“, als sie noch Oppositionspolitikerin war, hin zu „Merkel II.“, der Kanzlerin. „Merkel I.“ habe Wahrheiten ausgesprochen wie „Der Staat hat sich übernommen. Wir leben seit Langem vor allem von der Substanz. Ein Kurs des Streichens, Kürzens, Sparens ist unverzichtbar“ und dabei ausdrücklich die Rentner einbezogen. „Merkel II.“ habe dann Renten, Wohngeld, Kindergeld und Hartz-IV-Bezüge erhöht und ein schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm in Kraft gesetzt. Dabei ist an dieser Stelle unerheblich, ob und inwieweit einzelne dieser Maßnahmen erforderlich waren oder nicht. Als Zwischenergebnis soll nur festgehalten werden, dass die Verschuldungspolitik offenbar eine Eigendynamik unabhängig vom Willen des Wählers entfalten kann. 5. Fehlanreize durch bündische Einstandspflicht Weitere politische Fehlanreize ergeben sich aus der – grundsätzlich sinnvollen und wegen Art. 79 Abs. 3 auch unabänderlichen685 – bündischen Einstandspflicht zwischen Bund und Ländern bzw. den Ländern untereinander. Diese Einstandspflicht ergibt sich aus dem Bundesstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG); es verpflichtet sowohl Bund als auch Länder, in der Wahrnehmung ihrer Interessen aufeinander Rücksicht zu nehmen, sich gegenseitig zu unterstützen und in Notlagen beizustehen686. Daraus ergibt sich für den Bereich der Finanzverfassung die Pflicht, einer Gebietskörperschaft Hilfe zu gewähren, die sich in einer extremen Haushaltsnotlage befindet, aus der sie sich nicht aus eigener Kraft befreien kann687. In der Praxis er682 Eigene Berechnung anhand der Daten aus Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2009 für die Bundesrepublik Deutschland, S. 593. 683 Wartenberg, Konsolidierungskurs beibehalten – „Übertreibungen“ bei der Unternehmenssteuerreform zurücknehmen!, S. 7 f. 684 Steingart, Die Machtfrage, S. 21 ff. 685 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 248. 686 Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 20, Rn. 37 und 41. 687 BVerfG, Urt. v. 27.05.1992 – 2 BvF 1, 2/88, 1/89 und 1/90, BVerfGE 86, 148 (263 ff.).
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folgt die Unterstützung in erster Linie über Sonder-Ergänzungszuweisungen des Bundes mit zweckgebundenen Mitteln zur Schuldentilgung an die betroffenen Länder, da der Bund über die einschlägigen Handlungsinstrumente verfügt688. Wann eine solche extreme Haushaltsnotlage im Einzelnen vorliegt, hat das BVerfG im Jahr 1992 offen gelassen; gleichzeitig hat es eine extreme Haushaltsnotlage der Länder Saarland und Bremen aber jedenfalls bejaht, weil die Kreditfinanzierungsquoten689 und die Zins-Steuer-Quoten690 der Länder jeweils erheblich über dem Bundesdurchschnitt lagen.691 Damit dürfte zunächst im Ergebnis der Anreiz gestärkt worden sein, sich auf die bündische Einstandspflicht „zu verlassen“692. Eine Trendwende markiert dagegen das Urteil des BVerfG zur Haushaltsnotlage Berlins im Jahr 2006: Hier betont das Gericht, dass solche Hilfen dem Ultima-Ratio-Prinzip unterlägen693. Eine Haushaltsnotlage müsse daher nicht nur relativ zu den übrigen Ländern bestehen, sondern absolut ein solch extremes Ausmaß erreicht haben, dass eine Existenzbedrohung des Landes vorliege, die nicht durch andere Maßnahmen als bündische Hilfe abzuwehren ist694. Die bundesstaatliche Einstandspflicht kann zu den beiden folgenden Fehlanreizen führen: Erstens kann ein Fehlanreiz für die Gebietskörperschaften zu einer übermäßigen Verschuldung bestehen, wenn sie damit rechnen, im Notfall nicht vollständig selbst für die Belastungen aufkommen zu müssen. Dies verleitet beispielsweise dazu, u. a. durch die Unterstützung privater Investoren Investitionsprojekte von größerem Risiko zu verwirklichen, als ein Land sie eigenverantwortlich übernehmen würde: Führt das Wagnis zum Erfolg, so gewinnt die jeweilige Gebietskörperschaft; gelingt es nicht, so trägt einen Teil der Last die bundesstaatliche Gemeinschaft695. Weiterhin kann insoweit ein 688 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 250; Vgl. BVerfG, Urt. v. 27.05.1992 – 2 BvF 1, 2/88, 1/89 und 1/90, BVerfGE 86, 148 (260 ff.). 689 Der Anteil der Nettokreditaufnahme an den Ausgaben. 690 Das Verhältnis der Zinsausgaben zu den steuerlichen Einnahmen. 691 BVerfG, Urt. v. 27.05.1992 – 2 BvF 1, 2/88, 1/89 und 1/90, BVerfGE 86, 148 (258 f.). 692 Schuppert/Rossi, Auf alten Pfaden und neuen Wegen zu Haushaltsnotlagenverfahren, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Der Föderalstaat nach dem Berlin-Urteil, S. 171 (175): „[. . .] als erfolgversprechende Vorgehensweise verstanden wurde“. 693 BVerfG, Urt. v. 19.10.2006 – 2 BvF 3/03, BVerfGE 116, 327 (377). 694 BVerfG, Urt. v. 19.10.2006 – 2 BvF 3/03, BVerfGE 116, 327 (377); Konrad, Ein Ausweg aus der bundesstaatlichen Haftungsverpflechtung, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Der Föderalstaat nach dem Berlin-Urteil, S. 155 (156). 695 Dazu mit Beispielen aus den Ländern Bremen (Space Center), Berlin (Tempodrom) und Brandenburg (Cargolifter, Chipfabrik und Lausitzring) sowie allgemein
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
Anreiz bestehen, auch konsumtive Ausgaben zunächst durch Staatsverschuldung zu finanzieren, in der Hoffnung, an der Tilgung der Schulden die bundesstaatliche Gemeinschaft beteiligen zu können und die eigenen Bürger zu schonen696. Zumindest diese Fehlanreize für einen solchen „Missbrauch der Bund-Länder-Solidarität“697 für die jeweiligen Gebietskörperschaften dürften durch die jüngste restriktive Rechtsprechung des BVerfG im Berlin-Urteil minimiert worden sein698. Dies schließt es allerdings nicht aus, Finanzierungsdefizite aus dem strategischen Grund beizubehalten, die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten zumindest auf politischem Wege in den auszuhandelnden Finanzausgleich einzubringen699. Ein zweiter Fehlanreiz für Gebietskörperschaften und Gläubiger gleichermaßen ergibt sich aus den Auswirkungen der Solidarpflicht auf die Bonität der Gebietskörperschaften. Wenngleich die Einstandspflicht nur als „letztes Mittel“ zur Verfügung steht, so ist gerade dies für die Gläubiger von Bund und Ländern das Entscheidende: Im Ernstfall besteht eine gegenseitige Pflicht zur Hilfeleistung, sodass die Bonität aller Gebietskörperschaften als Haftungsgemeinschaft eingeschätzt wird, also auf der Zahlungsfähigkeit des Gesamtverbundes beruht, und daher von den Kreditrating-Agenturen regelmäßig als gleich hoch eingestuft wird700. Die Gläubiger haben daher keinen Marktanreiz, bereits hoch verschuldeten Ländern keine weiteren Kredite zu gewähren: Sie tragen nur ein ebenso geringes Risiko, als würden sie einer gering verschuldeten Körperschaft Kredit gewähren. Die Gebietskörperschaften selbst erhalten dadurch wiederum die Möglichkeit, sich „auf Kosten der Bonität“ der Haftungsgemeinschaft zu verschulden und nicht selbst die Zahlungsfähigkeit gewährleisten zu müssen. Es stellt sich wieder – wie bereits oben für die Staatsverschuldung insgesamt dargestellt – das Problem der Bonität als Kollektivgut, welches von allen auf Kosten der Gemeinschaft als Trittbrettfahrer genutzt werden kann701. Insofern ermöglicht es den Landesbanken der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (Hrsg.), Zur finanziellen Stabilität des deutschen Föderalstaates, S. 14 f., Tz. 34 ff. 696 Funke, Die Verschuldungsordnung, S. 249; Häde, Europarechtliche Einwirkungen auf die Finanzverfassung, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.): Finanzkrise im Bundesstaat, S. 197 (199 f.). 697 Wissenschaftlicher Beirat beim BMF (Hrsg.), Gesamtwirtschaftliche Orientierung bei drohender finanzieller Überforderung, S. 128. 698 Schuppert/Rossi, Auf alten Pfaden und neuen Wegen zu Haushaltsnotlagenverfahren, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Der Föderalstaat nach dem Berlin-Urteil, S. 171 (175). 699 Korioth sieht sogar die Gefahr, dass Bundesländer im Hinblick darauf Konsolidierungshilfen ausschlagen, JZ 2009, 729 (734). 700 Konrad, KritV 2008, 157 (160 ff.); Konrad, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 20 der FöKo II, S. 6.
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das Prinzip der Bundestreue den einzelnen Gebietskörperschaften überhaupt erst, als – isoliert betrachtet – Schuldner mit schlechter Zahlungsprognose noch weitere Kredite zu erhalten. Ursache für den Fehlanreiz ist also letztlich das Zusammenwirken von autonomer Haushaltspolitik und gemeinsamer Schuldenverantwortung702. Schlussfolgern lässt sich daraus, dass ein folgerichtiger Zusammenhang zwischen dem Recht zur Verschuldung und der Pflicht zum Einstand dafür hergestellt werden muss: Soll also die bündische Einstandspflicht nach bisherigem Vorbild gewahrt werden, so müssen die einzelnen Gebietskörperschaften Einschränkungen bei der Verschuldungskompetenz im Interesse des Bundesstaats hinnehmen703. 6. Fehlende Steuerautonomie der Bundesländer oder mangelnde Systemkonformität? Als eine weitere Ursache der ausufernden Staatsverschuldung wird häufig die mangelnde Steuerautonomie der Bundesländer ins Feld geführt704. Die These lautet: Während die Ausgaben und Einnahmen weitgehend durch Bundesgesetze vorbestimmt seien705, verbleibe den Ländern als ein701
Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (Hrsg.), Zur finanziellen Stabilität des deutschen Föderalstaates, S. 22, Tz. 56; Vgl. oben unter C. V. 2. b) aa). 702 Konrad, KritV 2008, 157 (160). 703 Ein anderer rechtspolitischer Vorschlag zur Vermeidung des Fehlanreizes besteht genau im Gegenteil, nämlich der vollen Selbstverantwortung der Gebietskörperschaften mit einer Sanierungsinsolvenz als letzter Konsequenz im Falle der Zahlungsunfähigkeit, dazu Konrad, KritV 2008, 157 (163 ff.) m. w. N.; Selmer, KritV 2008, 171 (182 ff.); für Gemeinden Paulus, ZInsO 2003, 869 (869 ff.). Die Gläubiger wären dann gezwungen, das Risiko der Insolvenz in Form von höheren Zinsen an die ohnehin hoch verschuldeten Gebietskörperschaften weiterzureichen, was ab einer gewissen Verschuldungshöhe erdrosselnd wirken könnte. Dazu auch Meyer, Solidarität und Verantwortung, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Föderalismusreform II: Neuordnung von Autonomie und Verantwortung, S. 91 (111). Meyer empfiehlt, diese Alternative vorsichtshalber allenfalls im Kommunalbereich zu erproben. Allerdings beschränkt sich diese Lösung im Wesentlichen auf die Beseitigung der Fehlanreize im Verhältnis zwischen den Gebietskörperschaften, beseitigt jedoch nicht die übrigen polit-ökonomischen Fehlanreize, die dazu führen können, dass sich jede einzelne Gebietskörperschaft zunächst bis zur Kreditverweigerung durch die Gläubiger verschuldet. 704 Blankart, Wer soll für die Schulden von Bund und Ländern verantwortlich sein?, Kommissionsdrucksache 22 der FöKo II, S. 25; Feld, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 24 der FöKo II, S. 11; Faltlhauser, Finanzpolitik der Zukunft, S. 83. 705 Deubel, ZSE V (2007), 218 (227).
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
zige nennenswerte706 originäre Einnahmequelle die Staatsverschuldung. Die Steuerautonomie der Länder sei stark eingeschränkt; auch der Bund könne die Steuern kaum kurzfristig anpassen, da hierüber im Einvernehmen mit den Ländern zu entscheiden sei707. Dies könne bis zu einer „Handlungsunfähigkeit in der Steuerpolitik“ führen708. Die Ursache wird in der mangelnden Steuerautonomie gesehen; die Lösung bestehe umgekehrt gerade in ihrer Stärkung709. Dem ist zweierlei entgegen zu halten: Zum Ersten ist aus der Identifizierung mangelnder Steuerautonomie als beitragende Ursache zur Staatsverschuldung nicht der Schluss zu ziehen, das Problem könne durch die Übertragung der Kompetenz auf die Länder gelöst werden, denn die Unterschiede in der Finanzkraft der Länder beruhen ganz überwiegend auf Unterschieden in der Wirtschaftskraft710. Hierauf haben die Länder jedoch kurzfristig wenig Einfluss. Das Problem der unterschiedlichen Finanzkraft würde also durch die Einräumung einer allzu weitgehenden Steuerautonomie eher noch verschärft, da durch stark spürbare Unterschiede Abwanderungsbewegungen (z. B. Standortverlagerungen) ausgelöst werden können711. Vor allem aber haben gerade die Länder mit geringem Steueraufkommen kaum die Möglichkeit, durch eine bloße Erhöhung des Steuersatzes beträchtliche Mehreinnahmen zu erzielen: So müssten etwa Länder, deren Finanzschwäche auf der ungleichen Verteilung der Bemessungsgrundlagen beruht (= Wirtschaftskraft), bei nur 50% der durchschnittlichen Wirtschaftskraft die Steuern doppelt so stark anheben, um auf das gleiche Steueraufkommen wie ein durchschnittlich (!) finanzstarkes Land zu kommen712. Überdurchschnittlich starke Länder könnten den Steuersatz dagegen reduzieren. In dieser Modellrechnung sind die Abwan706 Ansonsten bestünden nur marginale Einnahmemöglichkeiten, die die Länder selbst beeinflussen können, wie „die Erhöhung der Eintrittsgelder für Museen“, Burgbacher, Verh. des BT, 16/215, S. 23366, Tz. D. 707 Konrad, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 20 der FöKo II, S. 5. 708 Konrad, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 20 der FöKo II, S. 5. 709 Seitz, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 23 der FöKo II, S. 16, Fn. 12, stellt fest, dass es den Verfechtern dieses Arguments im politischen Raum weniger um die Steuerautonomie gehe, als um die Absenkung der Ausgleichsintensität des Finanzausgleichs und damit der Einsparung von Geberleistungen. 710 Wieland, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 30 der FöKo II, S. 12. 711 Deubel, ZSE V (2007), 218 (222). Von der sog. „Mobilität der Bemessungsgrundlage“ dürften vor allem Stadtstaaten betroffen sein, Büttner/Schwager, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 233 (2003), S. 532 (544 ff.); Härtel, JZ 2008, 437 (445). 712 Zu diesen Berechnungen Deubel, ZSE V (2007), 218 (222); ähnlich Büttner/ Schwager, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 233 (2003), S. 532 (536 ff.).
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derungsbewegungen noch nicht einmal berücksichtigt, die bei Steuerunterschieden in dieser Höhe sicherlich entstehen dürften. Zum Zweiten spricht gegen eine allzu große Bedeutung der mangelnden Steuerautonomie der Befund, dass die überhöhte Staatsverschuldung ein Problem nahezu aller westlichen repräsentativ-demokratischen Länder darstellt, worunter sich allerdings auch Zentralstaaten befinden. Ein signifikanter Unterschied in den Schuldenstandsquoten zwischen Föderalstaaten und Zentralstaaten ist indes nicht zu erkennen713. Zentralstaaten sind aber per se als „steuerautonom“ anzusehen. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die soeben herausgearbeiteten polit-ökonomischen Ursachen auch unter den Bedingungen weitgehender Steuerautonomie in den einzelnen Bundesländern jeweils zu einer hohen Staatsverschuldung beitragen würden. Dennoch ist das Argument der mangelnden Steuerautonomie für die vorliegende Untersuchung in sofern von Bedeutung, als ein Schuldenbegrenzungskonzept nicht an den Gegebenheiten der weitgehenden Einnahmenund Ausgabenbindung der Länder vorbei entwickelt werden darf. Zu beachten ist insoweit, dass ein niedriger Autonomiegrad bei Einnahmen und Ausgaben, gekoppelt mit einem hohen Autonomiegrad bei der Verschuldung wie derzeit in Deutschland, stark fördernd auf die Verschuldung wirkt und zu Haushaltsnotlagen führen kann714. Es geht hier also um die Folgerichtigkeit im System der Finanzverfassung: Einem hohen Autonomiegrad in der Festlegung von Einnahmen und Ausgaben entspricht ein hoher Autonomiegrad in der Verschuldung, denn die jeweilige Landesregierung hat dann auch das Handlungsinstrumentarium, die Verschuldung durch Steuererhöhungen oder Ausgabensenkungen zu bewältigen; ist eine Gebietskörperschaft jedoch weniger autonom in der Einnahmen-Ausgaben-Politik, so bedarf es „harter“ Verschuldungsgrenzen715. Je höher der Autonomiegrad ist, desto geringer müssen also die Verschuldungsrestriktionen ausfallen:
713 Vgl. tabellarische Darstellung bei D. Meyer, Die Schuldenfalle, S. 68, wonach der Zentralstaat Frankreich ebenso wie der Föderalstaat Deutschland über die Jahre 1998 bis 2002 nahezu identische Schuldenstandsquoten von etwa 60% des nationalen BIP aufweisen. 714 Seitz, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 23 der FöKo II, S. 5 ff.; Seitz, Konzeption eines Haushaltsnotlagenpräventionssystems, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Der Föderalstaat nach dem Berlin-Urteil, S. 71 (73 f.). 715 Seitz, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 23 der FöKo II, S. 5 ff.; Seitz, Konzeption eines Haushaltsnotlagenpräventionssystems, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Der Föderalstaat nach dem Berlin-Urteil, S. 71 (73 f.).
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
Verschuldungsrestriktionen für subnationale Gebietskörperschaften hart föderale Überregulierung
Mangel an Schuldenrestriktionen weich/ keine sehr gering
sehr groß
Autonomiegrad der subnationalen Gebietskörperschaften
Quelle: Seitz, Konzeption eines Haushaltsnotlagenpräventionssystems, in: Konrad/Jochimsen, Der Föderalstaat nach dem Berlin-Urteil, S. 74.
Abbildung 3: Verschuldungsrestriktionen und Autonomiegrad im föderalen System.
In Abweichung davon waren bisher die bundesdeutschen Länder in den Ausgaben und Einnahmen erheblich festgelegt, wohingegen bei der Verschuldung weitgehende Länderautonomie existierte716. Tatsächlich besteht das Problem nach dem bisherigen Zusammenspiel aus Verschuldungsgrenze und Steuerautonomie in der Finanzverfassung also nicht etwa isoliert betrachtet darin, dass die Länder zu wenig Steuerautonomie gehabt hätten, sondern in der mangelnden Systemkonformität. Da jedoch – wie gezeigt – eine vollständige Steuerautonomie zum gegenwärtigen Zeitpunkt in Anbetracht der allzu unterschiedlichen Startbedingungen realistischerweise nicht in Betracht kommen dürfte, wird das Problem systemkonform in Richtung einer „härteren“ Verschuldungsgrenze auch für die Länder zu lösen sein. Dies schließt jedoch nicht aus, dass Länder Aboder Zuschlagsrechte zu einzelnen Steuern erhalten, die so eingegrenzt sind, dass weder ein Unterbietungswettlauf nach unten noch starke Abwanderungsbewegungen eintreten717. 716
Seitz, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 23 der FöKo II, S. 7.
VI. Zusammenfassung in Thesen
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VI. Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse in Thesen 1. Die stetig wachsende Staatsverschuldung stellt eine elementare Bedrohung des modernen Verfassungsstaates dar. Es sind Maßnahmen zu ihrer Beschränkung zu treffen. 2. Die bisherigen Verschuldungsgrenzen auf Bundesebene konnten dieser Aufgabe nicht gerecht werden. Sie haben der Staatsverschuldung konzeptionell keine engen Grenzen gesetzt und wurden zudem extensiv ausgelegt. 3. Hauptsächlicher Mangel sowohl der Investitionsklausel als auch der Begrenzung der Staatsverschuldung nach dem Konzept des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ ist die mangelnde Bezifferbarkeit beider Klauseln. Dies erschwert die Handhabbarkeit der Regelung und macht eine gerichtliche Kontrolle nahezu unmöglich. Zudem hat das Fehlen einer konkret bezifferbaren Regelung in Bezug auf die Rückzahlungspflicht von Krediten zum ständigen Anwachsen des Gesamtschuldenstandes geführt. 4. Im Hinblick auf die Investitionsklausel ist dem Haushaltsgesetzgeber mangels eindeutiger Konkretisierung des Begriffs Investition, auch durch das BVerfG, ein bewusst verfassungswidriges Verhalten nicht zu unterstellen. In Bezug auf die Pflicht zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist festzustellen, dass das daraus folgende Verbot eines prozyklischen Verhaltens nicht eingehalten wurde. 5. Nicht erfasst wurde von den bisherigen Schuldenbegrenzungsregeln ein von der Haushaltsplanung abweichender Haushaltsvollzug. 6. Die von den Schuldengrenzen befreiten Sondervermögen haben einen erheblichen Beitrag zur Verschuldung geleistet. Sie wurden eingesetzt, um die Verschuldungsgrenzen zu umgehen und das tatsächliche Ausmaß der Verschuldung zu verschleiern. 7. Begünstigt wurde die Missachtung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (These 4) durch den Mangel möglicher Initiatoren eines gerichtlichen Kontrollverfahrens. 8. Ein Mangel des Rechtsschutzes besteht darin, dass die nachträgliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Haushaltsgesetzes dessen Folgen für die Staatsfinanzen – nämlich die Erhöhung des Schuldenstandes – nicht zu beseitigen vermag (fehlende Wiedergutmachung bzw. „konstruktive Sanktion“). 717 Deubel, ZSE V (2007), 218 (222), hält ein solches „race to the bottom“ schon durch Mindeststeuersätze für wirksam bekämpft.
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C. Ursachen für Staatsverschuldung
9. Die Verschuldungsgrenzen in den Landesverfassungen (a. F.) gleichen im Wesentlichen denen des Bundes. Gleichwohl sind die Länder deutlich unterschiedlich stark verschuldet. Dies lässt auf eine unterschiedliche Anwendung der Regeln schließen. 10. Aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) lässt sich nicht unmittelbar eine bestimmte Grenze der Staatsverschuldung ableiten. Schuldengrenzen konkretisieren vielmehr das Demokratieprinzip für den Bereich der Staatsverschuldung; das im Rahmen dieser Untersuchung zu entwerfende Regelungskonzept hat sich daher an dem Grundgedanken zu orientieren, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit des zukünftigen Gesetzgebers möglichst weitgehend zu wahren. 11. Die starren europarechtlichen Referenzwerte zur Schuldenbegrenzung (maximal 3% des BIP Neuverschuldung jährlich und maximaler Schuldenstand von 60% des BIP) sind hervorragend operabel und ermöglichen eine eindeutige Kontrolle. Anders als die deutsche Regelung erfasst der zweite Referenzwert auch den Gesamtschuldenstand. Das Regelungskonzept berücksichtigt jedoch nicht den zyklischen Konjunkturverlauf und wird daher durch Ausnahmen und Ermessensspielräume im Defizitverfahren zunehmend relativiert. Die Einhaltung der Defizitgrenzen kann durch die vorgesehenen Sanktionen nur begrenzt erzwungen werden. Die stärkste Wirkung ist dem Gruppendruck der Mitgliedsstaaten beizumessen; dennoch hängt die Einhaltung der Referenzwerte signifikant vom politischen Willen des jeweiligen Mitgliedsstaats ab. 12. Verursacht wird ein irrational hohes Maß an Staatsverschuldung durch polit-ökonomische Fehlanreize. Da Politiker auf Wiederwahl und damit auf Stimmenmaximierung bedacht sind, wird der Bedienung kostenintensiver Partikularinteressen gegenüber der nachhaltigen Solidität öffentlicher Finanzen als Kollektivgut der Vorrang eingeräumt. Aus diesem Dilemma kann der einzelne, isoliert betrachtet rational handelnde Entscheidungsträger unter den bisherigen (!) Bedingungen nicht ausbrechen. 13. Es ist auf eine systemkonforme Ausgestaltung von Verschuldungsgrenzen zu achten. Einer niedrigen Autonomie der Gebietskörperschaften in der Festlegung von Einnahmen und Ausgaben entspricht eine niedrige Autonomie in der Verschuldung und umgekehrt. Wird eine nicht systemkonforme Ausgestaltung gewählt, stellt dies einen Fehlanreiz zu überhöhter Verschuldung auf Kosten der bundesstaatlichen Gemeinschaft dar.
D. Das Konzept der Föderalismusreform II Im Rahmen der Föderalismusreform II wurden die Finanzbeziehungen von Bund und Ländern neu geregelt. Dabei haben auch die grundgesetzlichen Regelungen über die Staatsverschuldung in Art. 109, 115 GG eine Neuordnung erfahren1. Bevor nun in der vorliegenden Arbeit eine weitere Änderung vorgeschlagen wird, sind auch die Ergebnisse der Föderalismusreform daraufhin zu untersuchen, inwieweit durch sie die oben beschriebenen Defizite des bisherigen Schuldenbegrenzungskonzepts behoben wurden. Weiterhin gilt es, geäußerte Bedenken zu prüfen, wonach die Schuldenbremse verfassungsrechtlich unzulässig bzw. aus verfassungsästhetischer Sicht verfehlt sei.
I. Die Ausgestaltung der „Schuldenbremse“ Die neue Schuldenbremse ist als ein Regel-Ausnahme-System ausgestaltet: 1. Regelung für den Bund Gemäß Art. 109 Abs. 3 S. 1, Art. 115 Abs. 2 S. 1 GG sind die Einnahmen und Ausgaben des Bundes grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Dies bedeutet im Grundsatz die Festlegung auf einen vollständigen materiellen Haushaltsausgleich, eine „Nullverschuldung“, welche es so vor der Föderalismusreform II sprachlich im Grundgesetz nicht gab2. Allerdings bildet der Grundsatz der Nullverschuldung, als „Herzstück“3 des neuen Konzepts, den Ausgangspunkt für zahlreiche Ausnahmen hiervon, die zumindest für die Praxis die tatsächlichen Rechtsgrenzen der Verschuldung markieren dürften.
1
Gesetz v. 29.07.2009, BGBl. I, 2248. Seiler, JZ 2009, 721 (723): „Selbstverpflichtung auf künftig (annähernd) ausgeglichene Haushalte“. 3 Reimer, in: Epping/Hillgruber, Art. 109, Rn. 54. 2
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a) Konjunkturelle Verschuldungskomponente Gemäß Art. 109 Abs. 3 S. 2 kann und gemäß Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG muss der Bund bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch berücksichtigen. Den Rahmen dieses Verfahrens bildet nach gegenwärtigem Stand das Gesetz zur Ausführung von Artikel 115 des Grundgesetzes (G 115)4. Nach dessen § 5 Abs. 2 liegt eine Abweichung der wirtschaftlichen Entwicklung von der Normallage vor, wenn eine Unter- oder Überauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten erwartet wird (sog. Produktionslücke). Aus der Produktionslücke ist die Konjunkturkomponente zu berechnen, welche angibt, wie sich Einnahmen und Ausgaben des Bundes einer Veränderung der gesamtwirtschaftlichen Aktivität anzupassen haben (§ 5 Abs. 3 G 115). Die Festlegung der Einzelheiten des Verfahrens wird qua Verordnungsermächtigung an das Bundesministerium der Finanzen sowie das Bundesministerium für Wirtschaft delegiert (§ 5 Abs. 4 G 115). Das Verfahren ist hiernach unter der Berücksichtigung des Standes der Wissenschaft zu überprüfen und fortzuentwickeln (§ 5 Abs. 4 G 115). Es handelt sich also um eine dynamische Verweisung auf den aktuellen Stand der volks- und wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion. Durch die konjunkturelle Verschuldungskomponente wird eine antizyklische Haushaltspolitik ermöglicht. In Krisenzeiten kann sich der Bund verschulden, muss aber die Schulden in Phasen der Hochkonjunktur vollständig wieder tilgen5. Dadurch soll die konjunkturelle Verschuldungskomponente isoliert betrachtet auf lange Sicht einen ausgeglichenen Haushalt gewährleisten. b) Strukturelle Verschuldungskomponente Nach Art. 109 Abs. 3 S. 4, 115 Abs. 2 S. 2 GG gilt der Grundsatz der Nullverschuldung bei einer Verschuldung von maximal 0,35% des nominalen BIP als erfüllt. Dem Bund wird hiermit die Möglichkeit einer sog. strukturellen, d.h. von der konjunkturellen Entwicklung unabhängigen Verschuldung eingeräumt. Einige Autoren sehen darin durch den verfassungsändernden Gesetzgeber ein vermutetes Mindestniveau beständig getätigter Zukunftsinvestitionen typisiert6. In den Reformdiskussionen ging es jedoch auch darum, die Kredit4
Gesetz vom 10.08.2009, BGBl. I S. 2702 (2704). Reimer, in: Epping/Hillgruber, Art. 109, Rn. 59, 72 und 73; für einen zumindest „annähernden“ Ausgleich Christ, NVwZ 2009, 1334 (1334). 5
I. Die Ausgestaltung der „Schuldenbremse“
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aufnahme von der Festlegung auf den überkommenen Investitionsbegriff zu entkoppeln, um dem Bund „mehr inhaltliche Flexibilität“7 zur „dauerhaften Stärkung von Wachstum und nachhaltiger Entwicklung“8 zu geben. Der Bund kann die Kredite also „nach freiem Ermessen“9 aufnehmen. Gleichwohl unterschreitet der mit der Strukturkomponente abgesteckte Rahmen das bisherige Investitionsniveau sowohl nach dem Brutto-, als auch dem Nettoinvestitionsbegriff deutlich, d.h. der Bund müsste bei Fortführung der bisherigen Ausgabenstruktur einen Teil der Investitionen nicht kreditär finanzieren10. Eine Tilgungspflicht ist für die aus dem strukturellen Defizit resultierenden Schulden nicht vorgesehen; hier kann es also weiterhin zu einer „Stapelung“ kommen. c) Ausnahmeregelung für außergewöhnliche Notsituationen Weiterhin kann der Bund nach Art. 109 Abs. 3 S. 2, 115 Abs. 2 S. 6 GG die Kreditgrenzen überschreiten, wenn sich eine Naturkatastrophe ereignet oder eine außergewöhnliche Notsituation gegeben ist. Erforderlich ist für einen solchen Beschluss die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. Der Beschluss ist mit einem Tilgungsplan zu versehen (Art. 115 Abs. 2 S. 7 GG) und die Kredite sind binnen eines „angemessenen Zeitraumes“ zurückzuführen (Art. 115 Abs. 2 S. 8 GG). Durch die Regelung soll die Handlungsfähigkeit des Staates in Krisensituationen gewährleistet bleiben11. Die Notsituation muss außergewöhnlich sein, sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen. Diese Umschreibung wird gewählt, weil unterschiedlichste Anwendungsfälle denkbar sind, die sich nicht enumerativ festlegen lassen. Als Beispiele werden in den Gesetzgebungsmaterialien genannt: Besonders schwere Unglücksfälle, eine Beeinträchtigung der Wirtschaftsabläufe durch exogene Schocks, wie beispielsweise in der aktuellen Finanzkrise, sowie auch (ent6 So unter Hinweis auf BR-Drs. 262/09, 9: Seiler, JZ 2009, 721 (723); Reimer, in: Epping/Hillgruber, Art. 109, Rn. 69. 7 Beschlüsse der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, Kommissionsdrucksache 174 der FöKo II, S. 10 (Hervorhebung hinzugefügt). 8 Ebenda. 9 Christ, NVwZ 2009, 1333 (1333). 10 Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 179 f.; Christ, NVwZ 2009, 1333 (1333). 11 BR-Drs. 262/09, S. 23; Christ, NVwZ 2009, 1333 (1335).
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
gegen dem Wortlaut „Notsituation“) Ereignisse von positiver historischer Tragweite, wie die Deutsche Wiedervereinigung, die einen erheblichen Finanzbedarf auslösen12. Zyklische Konjunkturverläufe sind demgegenüber keine außergewöhnlichen Ereignisse, denn ihnen wird durch die konjunkturelle Verschuldungsmöglichkeit Rechnung getragen13. 2. Regelung für die Länder Auch die Haushalte der Länder sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen, Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG. Die Regelungen der Ausnahmen vom Konzept der Nullverschuldung unterscheiden sich partiell von denen des Bundes: a) Konjunkturelle Verschuldungskomponente Auch die Länder können gemäß Art. 109 Abs. 3 S. 2 HS 1, S. 5 GG Regelungen zur Berücksichtigung des Konjunkturverlaufs im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Kompetenzen treffen. Denkbar ist, entsprechende Regelungen in den Landesverfassungen oder im einfachen Haushaltsrecht zu verankern14. In Betracht kommt beispielsweise eine – ggf. modifizierte – Übernahme der Regelung des Bundes durch die Länder. Inwieweit solche Regelungen durch die Länder getroffen werden, bleibt abzuwarten. Hierzu verbleibt den Ländern nach der Übergangsvorschrift des Art. 143 d Abs. 1 S. 3 GG jedenfalls Zeit bis 31. Dezember 2019, da in dieser Zeit die Verschuldungsgrenzen des Art. 109 Abs. 3 GG noch nicht verbindlich sind15. b) Strukturelle Verschuldungskomponente Ein struktureller Neuverschuldungsspielraum wird für die Länder durch Art. 109 Abs. 3 S. 5 GG – anders als für den Bund – ausdrücklich ausgeschlossen. 12 Beschlüsse der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen, Kommissionsdrucksache 174 der FöKo II, S. 9. 13 Ebenda. 14 Christ, NVwZ 2009, 1333 (1335). 15 Ausnahmen können sich für jene Bundesländer ergeben, die nach Art. 143 d Abs. 2 GG Konsolidierungshilfen des Bundes erhalten wollen und dazu Konsolidierungsschritte zum Abbau des Defizits einhalten müssen.
II. Rechtmäßigkeit der Umsetzung im GG
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Die Länder können daher neue Kredite nur nach Maßgabe der Konjunktur- und Ausnahmekomponente aufnehmen. c) Ausnahmeregelung für außergewöhnliche Notsituationen Weiterhin können auch die Länder gemäß Art. 109 Abs. 3 S. 2 GG für Naturkatastrophen und außergewöhnliche Notsituationen Ausnahmeregelungen vorsehen. Auch in diesem Fall ist mit der Ausnahmeregelung eine entsprechende Tilgungsregelung vorzusehen (Art. 109 Abs. 3 S. 3 GG). Die nähere Ausgestaltung des Verfahrens obliegt den Ländern.
II. Rechtmäßigkeit der Umsetzung im GG Zunächst ist zu untersuchen, ob die soeben skizzierte Umsetzung der Schuldenbremse im Grundgesetz zulässig ist. Maßstab für die materielle Rechtmäßigkeit einer Grundgesetzänderung ist ausschließlich Art. 79 Abs. 3 GG16. Hinsichtlich einer Schuldenbremse für den Bund bestehen diesbezüglich keine Bedenken. Fraglich ist indes, ob die Beschränkung der Kreditaufnahmemöglichkeit auch der Länder im GG zulässig ist. Sie schränkt die Haushaltsautonomie der Länder ein und könnte daher gegen das Bundesstaats- und/oder Demokratieprinzip verstoßen. 1. Verstoß gegen das Bundesstaatsprinzip Fraglich ist zunächst, ob ein Verstoß gegen das Bundesstaatsprinzip vorliegt. a) Anforderungen des Bundesstaatsprinzips Das Bundesstaatsprinzip wird zweifach geschützt17, nämlich erstens über Art. 79 Abs. 3 Alt. 1 GG („Gliederung des Bundes in Länder“) sowie zweitens über Art. 79 Abs. 3 Alt. 3 i. V. m. dem in Art. 20 Abs. 1 GG niedergelegten Grundsatz des „Bundesstaats“. Nach dem Wortlaut des Art. 79 16 Seiler, JZ 2009, 721 (727) tritt namentlich dem Versuch entgegen, Art. 109 a. F. über den Umweg des Art. 79 Abs. 3 zu „erhöhen“; ebenso Häde, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 4; Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, S. 384. 17 Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbdStR VI, 3. Auflage, § 126, Rn. 287; Rubel, in: Umbach/Clemens, Art. 79, Rn. 32.
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
Abs. 3 GG darf der Grundsatz des Bundesstaatsprinzips nicht „berührt“ werden, d.h. Eingriffe sind von vornherein unzulässig; eine Rechtfertigung scheidet insoweit aus18. Verhindert werden soll durch die Garantie des Bundesstaatsprinzips eine Umwandlung des Föderalstaates in einen zentralistischen Staat, in welchem die Länder zu bloßen Verwaltungsbezirken herabgestuft werden19. Die Länder müssen als Gliedstaaten mit eigener Staatsgewalt erhalten bleiben, also über eine eigene demokratisch legitimierte Gesetzgebung sowie über Verwaltungs- und Rechtsprechungskompetenzen verfügen20. Der Schutzumfang beschränkt sich hierbei auf das „Grundsätzliche“, verbietet also eine „prinzipielle Preisgabe“ des Bundesstaatsprinzips21. Der Grundsatz ist demgegenüber nicht berührt, wenn ihm im Allgemeinen Rechnung getragen wird und er nur für eine Sonderlage aus evident sachgerechten Gründen modifiziert wird22. Um die Möglichkeit zu wahren, zukünftigen Entwicklungen Rechnung zu tragen, kann der Begriff „Grundsatz“ realistischerweise nur restriktiv ausgelegt werden23. Was genau nun zu den Grundsätzen des Bundesstaates gehört, bedarf also der Interpretation24. Gemeint sein kann in einem Bundesstaat als Gesamtgefüge, in welchem notwendig Kompetenzen zwischen Bund und Ländern verteilt werden müssen, jedenfalls keine einschränkungslos gewährleistete Souveränität25. Auf der anderen Seite ist der Grundsatz jedenfalls dann verletzt, wenn „die Länder in ihrer Qualität als Staaten durch Grundgesetzänderungen nach und nach ausgehöhlt werden, so dass am Ende nur noch eine leere Hülse von Eigenstaatlichkeit übrig bliebe“26. Die Länder dürften daher nach Ansicht des BVerfG kein Essential der Staatlichkeit einbüßen, 18
Dietlein, in: Epping/Hillgruber, Art. 79, Rn. 21. Dietlein, in: Epping/Hillgruber, Art. 79, Rn. 23. 20 Dietlein, in: Epping/Hillgruber, Art. 79, Rn. 23 und 50. 21 Vgl. BVerfG, Urt. v. 15.12.1070 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69, BVerfGE 30, 1 (24). 22 BVerfG, Urt. v. 15.12.1070 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69, BVerfGE 30, 1 (24); zur Kritik an dieser Rechtsprechung später unten. 23 Sachs, in: Sachs, Art. 79, Rn. 26; BVerfG, Urt. v. 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279 (310): „eng auszulegende Ausnahmevorschrift“. 24 Dietlein, in: Epping/Hillgruber, Art. 79, Rn. 22. 25 Siekmann, in: Sachs, Art. 109, Rn. 8; BVerfG, Urt. v. 01.12.1954 – 2 BvG 1/54, BVerfGE 4, 115 (140): „Gesamtgefüge“; BVerfG, Urt. v. 24.06.1986 – 2 BvF 1, 5, 6/83, 1/84 und 1, 2/85, BVerfGE 72, 330 (385 f.) zum Finanzausgleich; Stern, in: Stern/Münch/Hansmeyer, Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, S. 102. 26 BVerfG, Urt. v. 26.07.1972 – 2 BvF 1/71, BVerfGE 34, 9 (19 f.). 19
II. Rechtmäßigkeit der Umsetzung im GG
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ihnen müsse „ein Kern eigener Aufgaben als Hausgut unentziehbar“ verbleiben, wozu die Garantie der verfassungskräftigen Zuweisung eines angemessenen Anteils am Gesamtsteueraufkommen gehöre27. Angesprochen ist damit ein gewisses Maß an finanzieller Eigenständigkeit, welches den Ländern die Wahrnehmung der eigenen Kompetenzen überhaupt erst ermöglicht28. Die Länder müssen also jedenfalls einen eigenen, vom Bund unabhängigen Haushalt haben (sog. formelle Haushaltsautonomie). Als Kernelement materieller Haushaltsautonomie muss der Haushalt zudem noch Raum für die Entfaltung eigener politischer Initiative bieten29; die Länder dürfen nicht darauf beschränkt sein, mit bundesstaatlich zugeteilten Mitteln bundesstaatlich determinierte Aufgaben zu erfüllen. Spitzt man die Frage der Verletzung des Bundesstaatsprinzips auf den hier allein interessierenden Bereich der Kreditaufnahme zu, so lautet sie vereinfacht wie folgt: Ist das Recht zur (strukturellen) Verschuldung unabdingbare Voraussetzung dafür, dass die Länder ihre Aufgaben erfüllen können, mithin als Staaten anzusehen sind? Bei der Beantwortung der Frage sind indes die Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, denn inwieweit die Kreditaufnahme für die Verwirklichung der Aufgaben essentiell ist, hängt auch davon ab, ob den Ländern anderweitige Gestaltungsspielräume bei Einnahmen und Ausgaben zustehen30. b) Behaupteter Verstoß gegen das Bundesstaatsprinzip Schon während des Gesetzgebungsprozesses wurde die Position vertreten, die neue Schuldenbremse greife unzulässig stark in die Haushaltsautonomie der Länder ein, verletze dadurch das Bundesstaatsprinzip und sei daher verfassungswidrig31. Derzeit ist eine entsprechende Klage des Landtages Schleswig-Holstein vor dem BVerfG anhängig32. 27
BVerfG, Urt. v. 26.07.1972 – 2 BvF 1/71, BVerfGE 34, 9 (19 f.). BVerfG, Urt. v. 24.06.1986 – 2 BvF 1, 5, 6/83, 1/84 und 1, 2/85, BVerfGE 72, 330 (383); Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 79, Rn. 127; Kramer, Grenzen der Verfassungsänderung im Bereich der bundesstaatlichen Finanzverfassung, S. 35. 29 Harbich, Der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, S. 130; Sommermann, in: v. Mangold/Klein/Starck, Art. 20, Rn. 34. 30 Vgl. Fassbender, NVwZ 2009, 737 (738): „Gesamtbestand ihrer Kompetenzen in quantitativer und qualitativer Hinsicht“. 31 Schneider, Schuldenregeln des Bundes für die Haushaltswirtschaft der Länder, Kommissionsdrucksache 134 der FöKo II; Fassbender, NVwZ 2009, 737 (740); Jentsch, „Der Bund hat keine Befugnis“, FAZ v. 09.02.2009, Wieland, Tagesspiegel v. 05.05.2009, S. 4; Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, S. 147 ff.; Hancke, 28
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Die vorgebrachten Argumente sind im Folgenden einer näheren Betrachtung zu unterziehen. aa) Verfassungshistorisches Argument Als zentrales Argument wird von Kritikern die Verfassungstradition angeführt. Ob ein Verstoß gegen das Bundesstaatsprinzip vorliege, lasse sich nur anhand der ursprünglichen Regelungen des Grundgesetzes feststellen33. Art. 79 Abs. 3 GG schütze das Bundesstaatsprinzip nicht abstrakt, sondern in der konkreten Ausformung, die durch die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes konstituiert werde34. Bestimmende Vergleichsgröße sei daher das Grundgesetz in seiner ersten Fassung, in welcher das Bundesstaatsprinzip aufgerichtet worden sei. Auf dieser Grundlage ließen sich Rückschlüsse auf den unberührbaren Kernbereich ziehen, also das Maß an Kompetenzen, welches der Parlamentarische Rat als charakteristisch für die Staatlichkeit der Länder angesehen habe35. Bereits die damalige Fassung des Grundgesetzes sei zwar geprägt gewesen von einem Spannungsverhältnis zwischen dem Leitgedanken der Eigenständigkeit von Bund und Ländern auf der einen Seite sowie deren Einschränkungen und Bindungen auf der anderen Seite36. Die Regeln der Art. 106, 107 hätten aber schon damals eine DVBl 2009, 621 ff.; Kayenburg u. a., Offener Brief der Vertreter der Landtage und der unterzeichnenden Stellvertreter in der Föderalismuskommission II, Kommissionsdrucksache 100 der FöKo II; Ramelow, Schwere verfassungsrechtliche Bedenken zur geplanten Schuldenregel für die Länder, Kommissionsdrucksache 167 der FöKo II; Bedenken äußert Häde, Kommissionsdrucksache 21 der FöKo II, S. 3 und 8; die Frage offen lassend Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1261); zweifelnd auch Wieland, Protokoll der gemeinsamen Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (138. Sitzung) und des Finanzausschusses des Bundesrates, S. 15 (der wesentliche Gehalt der Staatlichkeit werde zumindest gefährdet); Bedenken äußernd schon im Hinblick auf die Einführung der europäischen Defizitobergrenzen Glauben, ZG 1997, 233 (241). 32 Beschlussprotokoll des 16. Schleswig-Holsteinischen Landtags, 46. Tagung, 122. Sitzung am 16.09.2009, S. 2 zur Drucksache 16/2747 in der Fassung der Drucksache 16/2844; Pressenotiz im Tagesspiegel v. 05.02.2010, S. 4. Leider war die Klageschrift auch auf Nachfrage beim Kläger nicht zugänglich. 33 Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, S. 156 ff.; Hancke, DVBl 2009, 621 (624 f.); Fassbender, NVwZ 2009, 737 (739 f.). 34 Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, S. 156 f.; Hancke, DVBl 2009, 621 (624) jeweils unter Hinweis auf Hesse, AöR 98 (1973), 1 (7). 35 Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, S. 158; Hancke, DVBl 2009, 621 (624) mit Hinweis auf Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 79 Abs. 3, Rn. 226. 36 Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, S. 158; Hancke, DVBl 2009, 621 (624 f.) mit Hinweis auf Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 79 Abs. 3, Rn. 223 ff. sowie 227.
II. Rechtmäßigkeit der Umsetzung im GG
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ausreichende Finanzausstattung der Länder sicherstellen wollen. Ferner habe bereits in der ursprünglichen Fassung des Art. 109 GG der Grundsatz der Haushaltsautonomie bestanden, wonach Bund und Länder in ihrer Haushaltswirtschaft selbstständig und voneinander unabhängig sind37. Es wird hervorgehoben, dass die ursprüngliche Fassung des Grundgesetzes keinerlei Vorgaben oder Einschränkungen im Hinblick auf eine Verschuldungsmöglichkeit der Länder enthalten habe. Es habe im Parlamentarischen Rat Einvernehmen darüber geherrscht, dass die Finanzhoheit der Länder das Recht zur Schuldenaufnahme einschließe38. Ferner sei aus den in den Jahren 1967 und 1969 eingefügten Beschränkungen der Haushaltsautonomie zu schließen, dass zunächst ein uneingeschränktes Recht zur Verschuldung bestanden habe39. Schließlich komme der Verfassungsgeschichte seit der Begründung des deutschen Bundesstaates in den Jahren 1866 bis 1871 eine besondere Bedeutung zu, denn das Grundgesetz knüpfe in der Ausgestaltung der bundesstaatlichen Form in hohem Maße an die Verfassungstradition an40. Die deutschen Territorien, Einzelstaaten und Länder seien stets berechtigt gewesen, sich durch Aufnahme von Schulden außerordentliche Einnahmen zu verschaffen. Auch die Reichsverfassungen von 1871 und 1919, welche Vorbildwirkung für die grundgesetzliche Regelung gewesen seien, hätten die Länder nicht in ihrem Recht zur Schuldenaufnahme beschränkt41. Aus alledem wird der Schluss gezogen, die Verschuldungsmöglichkeit der Länder sei prägend für das ursprüngliche Staatsverständnis des Grundgesetzes und damit für die Konkretisierung des Bundesstaatsprinzips. bb) Starke Bindung in Einnahmen und Ausgaben Weiterhin dürfe nicht außer Betracht bleiben, dass die Länder in Einnahmen und Ausgaben bereits durch bundesrechtliche Standards determiniert seien42. 37 Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, S. 158 f.; Hancke, DVBl 2009, 621 (625). 38 Fassbender, NVwZ 2009, 737 (739). 39 Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, S. 159.; Hancke, DVBl 2009, 621 (625); so auch Fassbender, NVwZ 2009, 737 (739). 40 Fassbender, NVwZ 2009, 737 (738). 41 Fassbender, NVwZ 2009, 737 (740) m. w. N. zu den historischen Begebenheiten. 42 Schneider, Schuldenregeln des Bundes für die Haushaltswirtschaft der Länder, Kommissionsdrucksache 134 der FöKo II, S. 28; Häde, Stellungnahme, Kommissionsdrucksache 21 der FöKo II, S. 3.
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Tatsächlich verfügt der Bund über die Gesetzgebungskompetenz der wesentlichen Einnahmen43, insbesondere der (quantitativ) bedeutsamsten Steuern, darunter Einkommenssteuer und Mehrwertsteuer, vgl. Art. 105 Abs. 2 GG. Auch die Ausgaben sind in weiten Teilen durch Bundesgesetze festgeschrieben44. Daraus ziehen die Vertreter der Verfassungswidrigkeitsthese den Schluss, den Ländern bliebe als einziges Mittel zum Haushaltsausgleich die Kreditpolitik übrig45. Würde nun auch dieser einzige Ausweg versperrt oder verengt, so bestünde für die Länder keine hinreichend große Haushaltsautonomie mehr46. cc) Weite Auslegung des „Grundsatzes“ Bundesstaatsprinzip Insgesamt wird von Vertretern der Verfassungswidrigkeitsthese ein sehr weitgehendes Verständnis der Formulierung „Grundsätze“ in Art. 79 Abs. 3 GG zu Grunde gelegt. Dieses scheint den Schluss zu beinhalten, dass die Bestandteile der Haushaltsautonomie zugleich auch sehr weitgehend vom Schutz der Ewigkeitsklausel umfasst seien. So findet sich bei Hancke der Ansatz, die eigenständige Verschuldungspolitik der Länder dürfe nur insoweit begrenzt werden, wie es zur Einhaltung ihrer Verpflichtungen unbedingt notwendig sei47. Zwischen der Haushaltsautonomie der Länder und deren Verpflichtungen müsse ein schonender Ausgleich gefunden werden, der beiden Positionen soweit wie möglich gerecht werde. Dazu seien nicht zwingend die wirksamsten Mittel und Wege zur Verschuldungsbegrenzung zu wählen. Die Festlegung von verbindlichen und dauerhaften Verschuldungsgrenzen sei nicht notwendig, da punktuelle Eingriffsermächtigungen, ähnlich Art. 109 Abs. 4 Nr. 1 GG a. F.48, genügten. Auf diese Weise können das als zulässig erachtete Defizit zwischen Bund 43 Korioth, KritV 2008, 187 (193); Korioth, Länderautonomie in der Verschuldungspolitik, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.): Föderalismuskommission II: Neuordnung von Autonomie und Verantwortung, S. 31 (36); Mehde, DÖV 1997, 616 (624). 44 Schneider, Kommissionsprotokoll 4 der FöKo II, S. 66; Mehde, DÖV 1997, 616 (624). 45 Schneider, Schuldenregeln des Bundes für die Haushaltswirtschaft der Länder, Kommissionsdrucksache 134 der FöKo II, S. 28; Schneider, Kommissionsprotokoll 4 der FöKo II, S. 66. 46 Schneider ebenda. 47 Hancke, DVBl 2009, 621 (626), Hervorhebung hinzugefügt. 48 Dieser lautete: „Zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts können durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, Vorschriften über [. . .] Höchstbeträge, Bedingungen und Zeitfolge der Aufnahme
II. Rechtmäßigkeit der Umsetzung im GG
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und Ländern aufgeteilt werden und die Einhaltung der europarechtlichen Stabilitätskriterien sichergestellt werden. Da starre Verschuldungsgrenzen nicht unbedingt notwendig seien, verstieße deren Einführung gegen den Kernbereich der Haushaltsautonomie und damit gegen Art. 79 Abs. 3 GG. Fassbender argumentiert, die Kreditaufnahme gehöre zu den klassischen eigenen Handlungsmöglichkeiten eines Landes, deren Ausschöpfung das BVerfG zur Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Bundeshilfen erklärt habe49. Aus dem Grundsatz, dass die Länder die Folgen autonomer Landespolitik eigenverantwortlich zu tragen hätten, folge zwingend, dass den Ländern auch das Recht zur Aufnahme von Krediten zustehen müsse50. Der Kredit sei „ein reguläres Instrument staatlicher Finanzierung“51. Nach Schneider sei die Freiheit der Haushalts- und Kreditpolitik zu den landesverfassungsrechtlich unentziehbar verbürgten Grundentscheidungen zu rechnen. Sie seien „conditio sine qua non“ der Staatlichkeit52. Den Ländern müsse eine substantielle Einschätzungsprärogative in Bezug auf die Höchstbeträge, Bedingungen und Zeitfolge der Kreditaufnahme erhalten bleiben53. Zusammenfassend setzt nach dieser Auffassung die Staatsqualität der Länder nahezu vollständige Haushaltsautonomie und damit das Recht zur weitgehend eigenständigen Verschuldung voraus. c) Kritik und Stellungnahme Die geschilderte Verfassungswidrigkeitsthese begegnet zahlreicher Kritik, welche näherer Betrachtung bedarf. von Krediten durch Gebietskörperschaften und Zweckverbände [. . .] erlassen werden. 49 So Fassbender, NVwZ 2009, 737 (740) mit Verweis auf BVerfG, Urt. v. 19.10.2006 – 2 BvF 3/03, BVerfGE 116, 327 (390). Eine Aussage über die Möglichkeit der Verschuldung trifft das BVerfG in der zitierten Passage indes gerade nicht. Im Gegenteil: Als Handlungsmöglichkeiten seien insbesondere Veräußerungsund Sparmöglichkeiten zu mobilisieren. Es ist auch nicht ersichtlich, inwieweit in der (behaupteten) Situation einer Haushaltsnotlage, also einer „Schuldenfalle“, aus der sich ein Land nicht mehr aus eigener Kraft befreien kann (!), weitere Verschuldung ein sinnvolles Handlungsinstrumentarium darstellen soll. Der Verweis auf das BVerfG dürfte vor diesem Hintergrund ins Leere gehen. 50 Fassbender, NVwZ 2009, 737 (739 f.). 51 Fassbender, NVwZ 2009, 737 (739). 52 Schneider, Schuldenregeln des Bundes für die Haushaltswirtschaft der Länder, Kommissionsdrucksache 134 der FöKo II, S. 29. 53 Schneider, Schuldenregeln des Bundes für die Haushaltswirtschaft der Länder, Kommissionsdrucksache 134 der FöKo II, S. 31.
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aa) Kein vollständiges Verschuldungsverbot Zunächst ist festzustellen, welchen Umfang die Beschränkung der Haushaltsautonomie der Bundesländer de lege lata tatsächlich hat. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass den Ländern das Recht zur Kreditaufnahme durch Art. 109 Abs. 3 GG keineswegs vollständig verwehrt wird54. Nach Vorstellung des Gesetzgebers gibt das GG den Ländern „lediglich einen Rahmen vor, innerhalb dessen sie ihre Haushalte selbständig und unabhängig gestalten können“55. Sie werden zwar auf einen langfristig strukturell ausgeglichenen Haushalt verpflichtet; es verbleibt jedoch nach wie vor ein beachtlicher finanzpolitischer Gestaltungsspielraum56: Erstens besteht auch für die Länder die Möglichkeit, sich in konjunkturell schlechten Zeiten zu verschulden. Gerade dann, wenn die finanziellen Zwänge zum Haushaltsausgleich durch Schuldenfinanzierung am größten sein dürften, steht das Instrumentarium der Verschuldung nach wie vor zur Verfügung. Dabei obliegt die Ausgestaltung der Regelungen den Ländern selbst, sie können also eigene Konjunkturkomponenten installieren. Vorgegeben ist insoweit lediglich das Erfordernis des symmetrischen Ausgleichs im Auf- und Abschwung, es besteht also kein Recht zur „Stapelung“ der Schulden mehr. Damit steht nicht nur die Entscheidung über das „Ob“ der Einführung einer dynamischen Schuldenbegrenzungsregelung zur Disposition der Länder, sondern auch deren autonome Ausgestaltung57. Beispielsweise können die Länder entscheiden, ob und wie sie Einnahmen und Ausgaben um finanzielle Transaktionen bereinigen wollen58. Sie können weiterhin die Kontrolle und den Ausgleich von Abweichungen der zulässigen Kreditaufnahme im Haushaltsvollzug regeln59. Der Bund hat die entsprechenden Entscheidungen der Länder weitgehend zu akzeptieren60. Zweitens haben die Länder die Möglichkeit, Ausnahmeregelungen zu schaffen, mit denen sie auf Naturkatastrophen und Notsituationen reagieren können. Hierdurch bleibt die Handlungsfähigkeit der Länder zur Krisenbewältigung gewährleistet61. 54 BT-Drs. 16/12410, S. 6; Stellungnahme des BMF, Kommissionsdrucksache 96 der FöKo II, S. 8; Ohler, DVBl 2009, 1265 (1273). 55 BT-Drs. 16/12410, S. 6; Stellungnahme des BMF, Kommissionsdrucksache 96 der FöKo II, S. 8. 56 Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327); Waldhoff/Dieterich, ZG 2009, 97 (115). 57 Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327); Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2564 ff.). 58 Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2564). 59 Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2564). 60 Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327).
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Insgesamt wird ersichtlich, dass der „dynamische Charakter“62 der Schuldenregel weitgehende Handlungs- und Gestaltungsspielräume für die Bewältigung sowohl von konjunkturellen Einbrüchen als auch von Notsituationen gewährleistet. Schon allein deswegen wird teilweise ein „Eingriff in den Schutzbereich der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG“ verneint63. bb) Aber: keine Rechtfertigung über die Beteiligung der Länder Ein weiteres, häufig bemühtes Argument lautet, eine Verletzung des Bundesstaatsprinzips könne deshalb nicht vorliegen, weil die Länder an der Gesetzgebung beteiligt gewesen seien64. Die Neufassung des Art. 109 GG sei ihnen nicht „übergestülpt“ worden. Ohne die erforderliche Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen im Bundesrat komme die erforderliche Mehrheit gar nicht zu Stande65. Dabei dürfte es sich um eine Replik auf die Position der Landtage handeln, wonach Schuldenregeln den Ländern nicht „durch eine Änderung des Grundgesetzes übergestülpt werden“ dürften. Der Weg einer „einseitigen Grundgesetzänderung“ zu Lasten der Landtage sei nicht hinnehmbar66. So zutreffend es ist, dass die Länder über die Föderalismuskommission und der ohnehin obligatorischen Beteiligung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln des Bundesrates nicht nur an der Gesetzgebung beteiligt waren, sondern die Regelung mehrheitlich auch befürwortet haben, so lässt doch die Argumentation über die Beteiligung der Länder zweierlei außer Acht: Schon rein faktisch muss keine Identität zwischen den Ländern bestehen, die der Grundgesetzänderung zugestimmt haben, und denen, die von den Änderungen betroffen sind (obwohl sie nicht zugestimmt haben). Vor allem aber verlässt die Diskussion um eine Zustimmung der Länder die materiell-rechtliche Dimension der Argumentation. Art. 79 Abs. 3 bestimmt über das hiervon umfasste Bundesstaatsprinzip jedoch allein, welche 61
Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327). Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327). 63 Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327); a. A. Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1261). 64 Schmidt, DVBl 2009, 1274 (1277) diskutiert das Problem jedenfalls nach den einleitenden Worten „der neue Art. 109 GG verstößt nicht gegen Art. 79 Abs. 3“; ähnlich Meyer, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 5. 65 Schmidt, DVBl 2009, 1274 (1277). 66 Kayenburg u. a., Offener Brief der Vertreter der Landtage und der unterzeichnenden Stellvertreter in der Föderalismuskommission II, Kommissionsdrucksache 100 der FöKo II, S. 2. 62
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
Regelungen inhaltlicher Art zulässig sind. Wer diese Regelungen zu treffen befugt ist, ist hingegen Gegenstand des Art. 79 Abs. 2 GG. Ohnehin stehen verfassungsrechtliche Kompetenzen nicht zur Disposition der Beteiligten67; insbesondere kann ein Verstoß gegen materiell-rechtliche Vorgaben nicht durch Zustimmung der Länder „geheilt“ werden68. Für die materielle Verfassungswidrigkeit einer Regelung kommt es daher nicht darauf an, ob sie von den Ländern, dem Bund oder von beiden gemeinsam getroffen wurde. Die Beteiligung der Länder vermag daher die Schuldenbremse nicht zu legalisieren. cc) Vergleich: Verschuldungsgrenzen und Staatlichkeit des Bundes? Weiterhin wurde gegen eine Berührung der Länderstaatlichkeit vorgebracht, dass der Bund durch die neue Schuldenregel ebenfalls in seiner Haushaltsautonomie beschränkt werde, ohne dass deswegen die Staatsqualität des Bundes in Frage gestellt würde69. Zutreffend lässt sich dieser Argumentation entnehmen, dass der Verzicht auf Neuverschuldung offenbar die Ausübung von Hoheitsgewalt insgesamt nicht praktisch unmöglich macht. Doch leistet das Argument für die vorliegende Fragestellung der verfassungsrechtlichen Abgrenzung zwischen Eigenstaatlichkeit der Länder und ihrem Herabsinken zu Verwaltungsbezirken aus folgendem Grund keinen Beitrag: Der Bund verfügt, anders als die Länder, nach wie vor über die Kompetenz, die Schuldenbremse aus eigenem Entschluss wieder abzuschaffen70. Zwar erweckt die Regelung durch ihre sprachliche Gestaltung den Eindruck, als verpflichte sich auch der Bund nach dem Vorbild eines „dreigliedrigen Bundesstaats“, in dem der Gesamtstaat neben Bund und Länder 67
Glauben, ZG 1997, 233 (239). BVerfG, Urt. v. 01.12.1954 – 2 BvG 1/54, BVerfGE 4, 115 (139): „[. . .] auch dann, wenn ein Bundesgesetz gegen Vorschriften des Grundgesetzes verstößt, die der Sicherung des eigenstaatlichen Bereichs der Länder dienen, kann ein solches Gesetz nicht durch die Zustimmung der Länder gültig werden“; BVerfG, Beschl. v. 12.01.1983 – 2 BvL 23/81, BVerfGE 63, 1 (39): „Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern sind auch mit Zustimmung der Beteiligten nicht zulässig“. 69 Meyer, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 5; sich anschließend Wilczek, VBlBW 2009, 325 (328). 70 Zwar bedarf auch der Bund zur Verfassungsänderung einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen im Bundesrat, Art. 79 Abs. 2 GG. Das einzelne Land ist dem gegenüber nicht einmal initiativberechtigt, sondern bedarf schon zur Einbringung einer Gesetzesvorlage der Mehrheit im Bundesrat, Art. 51 Abs. 2 GG, dazu Mann, in: Sachs, Art. 76, Rn. 11. 68
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tritt, unwiderruflich zur Umsetzung der Schuldenbremse71. Art. 109 Abs. 3 sieht insoweit namentlich vor, dass Bund und Länder „die nähere Ausgestaltung“ regeln, und zwar die Länder in den Landesverfassungen und der Bund in Art. 115 GG. Auf den ersten Blick scheint es, als werde der Bund verpflichtet, an anderer Stelle im Grundgesetz entsprechende Regelungen zu treffen72. Art. 109 GG erzeugt jedoch kein Verfassungsrecht höherer Bindungskraft, denn solches ist, außerhalb von Art. 79 GG, nicht vorgesehen. Der Bund ist folglich in der Lage, anders als ein Land isoliert betrachtet, das Grundgesetz wieder zu ändern73. Die Frage nach der Wahrung der „Eigenständigkeit“, bzw. einer „Aushöhlung“ der eigenen, autonomen Politikgestaltung stellt sich daher auf Bundesebene nicht. Die Schuldenbremse erzeugt also für Bund und Länder zwar faktisch weitgehend ähnliche Wirkungen, jedoch unter unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen. Von der (unterstellten) Rechtmäßigkeit einer den Bund betreffenden Schuldenregelung kann daher nicht ohne Weiteres auf die Rechtmäßigkeit einer entsprechenden Regelung für die Länder geschlossen werden. dd) Verschuldungsrecht als Essential der Staatlichkeit? Es ist vielmehr zu hinterfragen, ob aus dogmatischer Sicht das Recht zur Verschuldung tatsächlich als „conditio sine qua non“ der Staatlichkeit bezeichnet werden muss. Dies wurde von der Gegenauffassung unter anderem mit dem Argument begründet, dass die Länder in ihrer Haushaltsautonomie nur insoweit beschränkt werden dürften, wie es unbedingt notwendig sei74. Zu konstatieren ist insoweit zunächst, dass es sich bei den deutschen Ländern zwar um Staaten handelt, ihnen aber keine vollständige Souveränität zukommt. Länder und Bund existieren nicht „nebeneinander“, sondern „ineinander“75. Daraus ergeben sich weitergehende Rechte, aber auch Pflichten, als dies im Völkerrecht der Fall ist76. Nach der klassischen Definition von Anschütz ist der Bundesstaat „ein Gesamtstaat, körperschaftlich zusammengefügt aus einfachen Staaten, die einerseits ihm unterworfen, anderseits beteiligt sind bei der Bildung seines Willens“77. Damit ist zweierlei ausgesagt: Erstens muss den Ländern, wie schon oben festgestellt wurde, 71 72 73 74 75 76
Vgl. Häde, Stellungnahme 04.05.2009, S. 3. Häde, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 3. Häde, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 3 f. Vgl. oben unter D. II. 1. b) cc). Schöbener, Allgemeine Staatslehre, § 6, Rn. 5, S. 242. Zu diesem Vergleich auch Thiele, NdsVbl 2010, 89 (92).
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
Staatsqualität zukommen. Zweitens aber, wie deutlich formuliert ist, sind die Länder dem Bundesstaat auch „unterworfen“, ihre Rechte sind mithin beschränkbar. Interessant ist für die Diskussion um das Bundesstaatsprinzip, welches nach Auffassung Hanckes nach den „ursprünglichen Regelungen des Grundgesetzes“78 zu bestimmen sei, dass das Zitat von Anschütz bereits auf das Jahr 1930 datiert. Es liegt mithin nahe, dass es seinem Grundgedanken nach auch dem Bundesstaatsverständnis bei der Verfassungsgebung zu Grunde lag. Die konkrete Ausgestaltung der bundesstaatlichen Ordnung kann erheblich variieren. Schöbener führt dazu aus: „Sie kann einerseits durch eine starke Dezentralisierung und geringe Kompetenzen des Gesamtstaats gekennzeichnet sein. Ein solcher konföderaler, zugleich häufig durch einen Wettbewerb der Gliedstaaten untereinander gekennzeichneter Bundesstaat kann einem Staatenbund auf völkerrechtlicher Grundlage stark angenähert sein, unterscheidet sich von diesem aber durch die staatsrechtliche Grundlage des Zusammenwirkens der beteiligten Gliedstaaten und die dadurch bedingte Qualifizierung des Zusammenschlusses als Gesamtstaat. Andererseits kann ein Bundesstaat auch unitarisch mit einer starken Tendenz zur Zentralisierung und einer weitgehenden Uniformität der Gliedstaaten organisiert werden [. . .]. In derartigen Fällen besteht trotz der Staatsqualität der Gliedstaaten eine Ähnlichkeit zum (dezentralisierten) Einheitsstaat.“79
Es seien zwischen dem konföderalen und dem unitarischen Idealtyp des Bundesstaats zahlreiche Erscheinungsformen möglich, jeder Bundesstaat weise eine individuelle Prägung auf. Die Tradition der Bundesrepublik Deutschland, welche beginne mit dem Norddeutschen Bund seit 1867 und nur während des Dritten Reichs unterbrochen gewesen sei, weise starke unitarische Elemente auf80. Übertragen auf die Finanzverfassung bedeutet die Eingliederung der Länder in das Gesamtgefüge des Bundesstaats Folgendes: Den Rechten, die sich aus dem bündischen Füreinander-Einstehen ergeben (vgl. Unterstützung in Haushaltsnotlagen), entspricht als folgerichtige Kehrseite die „Last“ eines Mindestmaßes an Kooperation81. Dies beinhaltet die Flankierung der prinzipiellen Haushaltsautonomie durch ebenenübergreifende Koordination 77 Anschütz, Das System der rechtlichen Beziehungen zwischen Reich und Ländern, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.): HdStR, S. 295. 78 Hancke, DVBl 2009, 621 (624). 79 Schöbener, Allgemeine Staatslehre, § 6, Rn. 9, S. 243 f. (Hervorhebung im Original). 80 Schöbener, Allgemeine Staatslehre, § 6, Rn. 9 f., S. 244; so auch Scheuner, DÖV 1962, 641 (645) sowie Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 14. 81 Möstl, Nachhaltigkeit im Haushaltsrecht, in: Kahl (Hrsg.): Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, S. 569 (591); ebenso Arndt, JuS 1990, 343 (343), mit dem Hinweis, kein (souveräner) Staat könne sich auf fremde Haushaltsmittel verlassen.
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und Überwachung der Haushaltsdisziplin82, denn die Länder gefährden durch übermäßige Verschuldung nicht nur sich selbst, sondern auch den Bund83. Damit ist natürlich noch nichts über die genaue Grenze gesagt, an welcher die Staatsqualität der Länder endet. Hervorzuheben ist jedoch, dass eine unitarische Tendenz durchaus der Tradition des deutschen Föderalismus entspricht und die Bundesstaatlichkeit keineswegs notwendig in Frage stellt84. Einschränkungen der Bundesstaatlichkeit sind demnach nicht zwingend, wie von Hancke behauptet, auf das „unbedingt notwendig[e]“85 Maß zu beschränken. Der Ewigkeitsschutz der Gliederung des Bundes in Länder nach Art. 79 Abs. 3 GG lässt sich nur begreifen als Antwort auf die historischen Ereignisse der Weimarer Zeit86. Damals gewährleistete die Weimarer Reichsverfassung „den Ländern nicht einmal ihr Daseinsrecht – ihre Eigenschaft als selbständige Gemeinwesen mit Eigenstaatlichkeit“87. Zudem stand die gesamte Verfassung zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers88. Die Folgen sind bekannt: Nach der Machtergreifung Hitlers im Jahre 1933 wurden durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reichs“ vom 30. Januar 1934 die Länder vollständig beseitigt89. Nach Art. 2 des Gesetzes gingen alle Hoheitsrechte der Länder auf das Reich über. Bereits zuvor hatte das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ (sog. „Ermächtigungsgesetz“) vom 24. März 1933 der Reichsregierung die gesetzgebende Gewalt übertragen90. Die Übertragung der Gesetzgebungskompetenz auf die Regierung ermöglichte erst zusammen mit der Aufhebung der Länder eine vollständige Machtkonzentration beim Reichskanzler Hitler91. 82 Möstl, Nachhaltigkeit im Haushaltsrecht, in: Kahl (Hrsg.): Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, S. 569 (591). 83 Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (Hrsg.), Zur finanziellen Stabilität des deutschen Föderalstaates, S. 15, Tz. 39. 84 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 21 sah in der Unitarisierung schon in den 1960er Jahren „eine Erscheinung, die aus den Notwendigkeiten der Zeit resultiert“, jedoch nicht zugleich eine Zentralisierung bedeutet habe. Insbesondere verminderten sich die Aufgaben, welche regional bewältigt werden könnten, Hesse ebenda S. 13. 85 Hancke, DVBl 2009, 621 (626). 86 Sachs, in: Sachs, Art. 79, Rn. 35; Herdegen, in: Maunz/Dürig, Lfg. 52, Mai 2008, Art. 79, Rn. 63; Harbich, Der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, S. 119. 87 Anschütz, Das System der rechtlichen Beziehungen zwischen Reich und Ländern, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.): HdStR, S. 295. 88 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Lfg. 52, Mai 2008, Art. 79, Rn. 63. 89 RGBl. 1934 I, S. 75. 90 RGBl. 1933 I S. 141. 91 Vgl. Harbich, Der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, S. 119.
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Zwar darf der historische Kontext keinesfalls als einzige Konkretisierung des Bundesstaatsprinzips interpretiert werden. Ausdrücklich untersagt ist vielmehr die Etablierung eines Zentralstaates, unabhängig von dessen mehr oder minder demokratischer Ausgestaltung. Dennoch lässt sich aus dem allgemeinen Sinn des Art. 79 Abs. 3 GG, nämlich „zu verhindern, dass die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz, in ihren Grundlagen auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes missbraucht werden kann“92, eine Erkenntnis ableiten: Es geht im Kern darum, die Länder in ihrer Staatlichkeit auch als echtes „politisches Gegengewicht“ zum Bund zu erhalten93. Verboten ist damit selbstverständlich die vollständige Abschaffung der Existenz der Länder. Aus dem Sinn der Ewigkeitsgarantie ergibt sich darüber hinaus aber auch, dass ein „Leerlaufen“ der Länderstaatlichkeit durch immer weitere Aushöhlung der Länderkompetenzen ausgeschlossen ist; es darf nicht bloß eine „leere Hülse“ von Eigenstaatlichkeit verbleiben94. Der Grundsatz des Bundesstaatsprinzips muss mithin vor einem „allmählichen Zerfallsprozess geschützt werden“95. In der Literatur wird betont, dass die stabilisierende Funktion der Ewigkeitsgarantie über die Verhinderung der Legalisierung einer Revolution hinausgeht96. Insoweit wird die Rechtsprechung des BVerfG als missverständlich empfunden, wonach nur „eine prinzipielle Preisgabe der [. . .] genannten Grundsätze“ verboten sei97. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass Art. 79 Abs. 3 GG auch eine Bestandsgewähr für Bereiche bietet, die einem Umsturz weit vorgelagert sind, etwa für das Sozialstaatsprinzip98. Es gehe darum, „schon den Anfängen zu wehren“99. 92 BVerfG, Urt. v. 15.12.1070 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69, BVerfGE 30, 1 (24). 93 Harbich, Der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, S. 122 und 126; Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, S. 47. 94 BVerfG, Urt. v. 26.07.1972 – 2 BvF 1/71, BVerfGE 34, 9 (19 f.). 95 Sondervotum Geller/Schlabrendorff/Rupp zu BVerfG, Urt. v. 15.12.1070 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69, BVerfGE 30, 1 (42). 96 Sachs, in: Sachs, Art. 79, Rn. 35; Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz, S. 36; Evers, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof (Hrsg.), BK, 45. Lfg., Oktober 1982, Art. 79, Rn. 150; Dreier, in: Dreier, Art. 79 III, Rn. 16. 97 Vgl. BVerfG, Urt. v. 15.12.1070 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69, BVerfGE 30, 1 (24); darauf Bezug nehmend Sachs, in: Sachs, Art. 79, Rn. 36. 98 Dreier, in: Dreier, Art. 79 III, Rn. 16, 18. 99 Sondervotum Geller/Schlabrendorff/Rupp zu BVerfG, Urt. v. 15.12.1070 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69, BVerfGE 30, 1 (47).
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Gleichwohl darf die historische Erfahrung als Hintergrund der in ihrer Weite international einmaligen Regelung des Art. 79 Abs. 3 nicht aus dem Blick geraten100: Die Regelung des Art. 79 Abs. 3 GG verfolgt nämlich nicht den Zweck, die notwendige Anpassungsfähigkeit des Grundgesetzes an sich verändernde Umstände zu blockieren, es zu „versteinern“101. Vielmehr soll die Möglichkeit gewahrt werden, zukünftigen Entwicklungen Rechnung zu tragen102. Das Bundesstaatsprinzip ist von einem entwicklungsoffenen Charakter geprägt103. Vor diesem Hintergrund ist die Beschränkung der Unabänderlichkeitssperre auf die „Grundsätze“, das „Wesentliche“, den „Kernbereich“ der geschützten Prinzipien zu verstehen; geschützt sind nicht die positiven Ausprägungen der Grundsätze in jeder einzelnen Verfassungsnorm104. Schließlich werden die einmal als verbindliche Konkretisierung des Bundesstaatsprinzips verstandenen Inhalte dem demokratischen Diskurs ein für alle Mal entzogen, d.h. zukünftige Generationen werden hierdurch gezwungen, „in einer Verfassungsordnung zu leben, über deren Inhalt sie nur begrenzt verfügen können“105. So erklärt sich auch die Forderung nach einer restriktiven Auslegung106: Das BVerfG betrachtet Art. 79 Abs. 3 GG, da er die Volkssouveränität einschränkt107, als „eng auszulegende Ausnahmevorschrift, die den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht hindert, die positivrechtlichen Ausprägungen dieser Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren“108. Die Vorschrift ist zwar mehr als eine Vorkehrung gegen ein weiteres „Ermächtigungsgesetz“, sie schützt vielmehr die „materiellen Eckpfeiler“ der grundgesetzlichen Ordnung, schließt aber gleichzeitig eine „systemimmanente Modifikation“ der unter Schutz gestellten Grundsätze aus sachgerechten Gründen nicht aus109. 100 Zu Regelungen in anderen Staaten vgl. Evers, in: Dolzer/Waldhoff/Graßhof (Hrsg.), BK, 45. Lfg., Oktober 1982, Art. 79, Rn. 23–25. 101 Seiler, JZ 2009, 721 (727); Ohler, DVBl 2009, 1265 (1273). 102 Sachs, in: Sachs, Art. 79, Rn. 26. 103 Seiler, JZ 2009, 721 (727). Prinzipien gewährleisten, anders als starre Rechtsregeln, gerade die Anpassungsfähigkeit im Sinne einer „zukunftsbewussten Verfassung“. Sie sind also einerseits auf Optimierung angelegt, erlauben aber andererseits ein gewisses Maß an Mindererfüllung. Betreffend das Demokratieprinzip dazu ausführlich Unger, Das Verfassungsprinzip der Demokratie, S. 302 f. 104 BVerfG, Urt. v. 23.04.1991 – 1 BvR 1170, 1174, 1175/90, BVerfGE 84, 90 (121); Degenhart, Staatsrecht I, Rn. 222. 105 Thiele, NdsVBl 2010, 89 (91). 106 Sachs, in: Sachs, Art. 79, Rn. 26. 107 Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art. 79, Rn. 37 mit Hinweis auf BVerfG, Urt. v. 15.12.1070 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69, BVerfGE 30, 1 (25). 108 BVerfG, Urt. v. 03.03.2004 – 1 BvR 2378/98, 1084/99, BVerfGE 109, 279 (310); so auch Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art. 79, Rn. 37; Hervorhebung hinzugefügt.
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Es kommt mithin darauf an, ob sachgerechte Gründe für die Änderung des GG vorliegen, und, ob die Länder nach dem herausgearbeiteten Sinn und Zweck des Art. 79 Abs. 3 GG gleichwohl in der Lage sind, ein „politisches Gegengewicht“ zum Bund zu bilden. (1) Vorliegen eines sachlichen Grundes für Einschränkung Über das Vorliegen eines sachgerechten Grundes kann nach den Ausführungen im ersten Teil der Arbeit kein Zweifel mehr bestehen: Der Gesetzgeber beabsichtigt, die Länder einerseits davor zu bewahren, in eine Haushaltsnotlage zu geraten, aus der sie sich nicht mehr aus eigener Kraft befreien können, also die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen sicherzustellen. Dies soll die Handlungsfähigkeit des Staates erhalten und zur Generationengerechtigkeit beitragen. Dazu sollen Fehlanreize zur Verschuldung beseitigt sowie die Einhaltung des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts gewährleistet werden110. Zu Letzterem hat sich die Bundesrepublik Deutschland im Außenverhältnis verpflichtet111. Der Gesetzgeber hat auch Gründe dargetan, die eine Änderung der Verfassung vor dem Hintergrund sich wandelnder Umstände rechtfertigen: Zunächst ist die demografische Entwicklung zu nennen, welche dazu führt, dass immer weniger Steuerzahlern immer mehr Versorgungsbedürftige (Rentner, Pensionäre) gegenüberstehen. Damit erhöhen sich die Aufwendungen für die soziale Sicherung, die impliziten Staatsschulden steigen und verlangen eine Neujustierung der intergenerativen Lastenverteilung112. Eine Finanzierung der Staatsausgaben durch Verschuldung ist in dieser Situation nicht möglich, denn sie würde voraussetzen, dass sich die Umstände ständig verbessern (etwa durch Wirtschaftswachstum oder sinkende Staatsausgaben), sodass der Staat in der Lage wäre, später die Schulden abzutragen oder zumindest die Schuldenstandsquote konstant zu halten. Das Gegenteil ist aber der Fall, die prekäre Situation der öffentlichen Haushalte verengt sich zunehmend. Der Staat muss also „zukunftsfest“ gemacht werden. 109 Huber, Volksgesetzgebung und Ewigkeitsgarantie, S. 50; v. Arnim, DVBl 1985, 1286 (1291); vgl. BVerfG, Urt. v. 15.12.1970 – 2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69, BVerfGE 30, 1 (29). 110 BT-Drs. 16/12410, S. 1, 5. 111 Nach Art. 3 Protokoll (Nr. 20) über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit müssen die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass „die innerstaatlichen Verfahren im Haushaltsbereich sie in die Lage versetzen“, die sich aus dem AEUV ergebenden Verpflichtungen zu erfüllen. Ebenso Pünder, Staatsverschuldung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR, Band V, 3. Aufl., § 123, Rn. 119. 112 BT-Drs. 1612410, S. 5.
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Zudem ist zu berücksichtigen, dass Bund und Länder bereits hohe Schulden angehäuft haben. Die Folgen hoher Schulden schlagen sich über einen erhöhten Besteuerungsdruck und im Verhältnis zu Arbeitseinkommen erhöhten Renditen aus Kapitalanlagen in Wachstums- und Beschäftigungsverlusten nieder113. Auch aus diesem Grunde besteht jetzt ein größerer Zwang, das Instrument der Staatsverschuldung deutlich sparsamer einzusetzen, als bei der Schaffung des Grundgesetzes im Jahr 1949, als die Bundesrepublik Deutschland in Folge der Währungsreform nahezu schuldenfrei war. Weiterhin hat die intensivere Verflechtung Deutschlands mit der Weltwirtschaft im Zuge der Globalisierung das bisherige Verschuldungskonzept der „Globalsteuerung“114 hinfällig gemacht115, denn in Folge der Exportabhängigkeit der Wirtschaft lassen sich durch nationale Konjunkturprogramme nur bedingt Wachstumseffekte erzielen. Zusätzlich sind die Regelungen des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu beachten, welche zum Zeitpunkt der Schaffung des Grundgesetzes noch gar nicht bestanden116. Der Gesetzgeber hat mithin (zutreffend) sachgerechte Gründe dargetan, die eine Anpassung des Grundgesetzes an veränderte Umstände verlangen. (2) Länder noch „politisches Gegengewicht“ zum Bund? Es kommt weiterhin darauf an, ob die Länder trotz des Verschuldungsverbots noch in der Lage sind, durch autonome Politikgestaltung ein „politisches Gegengewicht“ zum Bund darzustellen117. Sie müssen dem Bund als „gewichtige Gegenpole und Garanten politischer Diversität“ gegenübertreten können, damit die Gewaltbalance gewährleistet bleibt118. Gemeint ist nach dem Verbot der „Aushöhlung“ der Länderstaatlichkeit mehr als das formale Bestehen der Länder, also auch die „materielle Eigenstaatlichkeit“119. Fraglich ist mithin, was genau den „Kern eigener Aufgaben“ ausmacht, der den Ländern „als Hausgut unentziehbar“ verbleiben muss120. 113 114
Vgl. BT-Drs. 1612410, S. 5. „Global“ meint in diesem Zusammenhang „gesamtwirtschaftlich“, nicht „welt-
weit“. 115
BT-Drs. 1612410, S. 5. BT-Drs. 1612410, S. 5. 117 Wilczek, VBlBW2009, 325 (327); Bullinger, DÖV 1970, 761 (763); Aydin, KritV 2010, 29 (36 ff.). 118 Herdegen, in: Maunz/Dürig, Lfg. 52, Mai 2008, Art. 79, Rn. 92. 119 S ˇ arcˇevic´, Das Bundesstaatsprinzip, S. 257; vgl. BVerfG, Urt. v. 26.07.1972 – 2 BvF 1/71, BVerfGE 34, 9 (19). 116
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Es gehört dazu eigene Leitungsgewalt; die Länder sind als selbstständige politische Entscheidungszentren anzuerkennen121. Sie müssen in der Lage sein, Entscheidungen zu treffen, die als richtungsweisend für das Zusammenleben empfunden werden122. Dazu müssen die Länder einen eigenen, nicht vom Bund abgeleiteten Wirkbereich haben123. Dazu gehört insbesondere, dass die Länder alle drei Funktionen von Herrschaftsgewalt ausüben können, nämlich Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung124. Dabei darf es sich nicht um bloßen Vollzug handeln, sondern die Länder müssen Gesetze erlassen können, die die eigene Willensbildung widerspiegeln125. Gerade in der eigenen Gesetzgebung werden, anders als in Verwaltung und Rechtsprechung, die richtungsweisenden inhaltlichen Entscheidungen getroffen126. Die Ausführungen Hesses aus dem Jahr 1962 können insoweit auch heute noch unangefochten Geltung beanspruchen: „Für eine wirklich eigenständige Regelung bleiben nur die bekannten Reservate der Länder, namentlich der Kulturbereich, das Polizei- und Kommunalrecht und, vorbehaltlich bundesgesetzlicher Regelungen, die freilich immer größeren Umfang annehmen, das Recht der inneren Verwaltung“127. Die Gewährleistung dieser eigenen Regelungsbereiche gehört zum Kern der Länderstaatlichkeit. Das Finanzrecht erfährt demgegenüber nur mittelbare Berücksichtigung, es hat „dienende Funktion“: Die Finanzhoheit ist den Ländern nicht zum Selbstzweck zu ermöglichen, sondern sie ist Voraussetzung dafür, dass die Länder ihre Aufgaben überhaupt eigenständig wahrnehmen können, insbesondere eigenständig getroffene Entscheidungen auch in die Praxis umsetzen können, denn der Vollzug kostet Geld. Aus eben diesem Grunde fordert das BVerfG als Ausfluss des Bundesstaatsprinzips nicht nur einen „Kern eigener Aufgaben“ der Länder, sondern will über „die Garantie der 120
BVerfG, Urt. v. 26.07.1972 – 2 BvF 1/71, BVerfGE 34, 9 (20). Scheuner, DÖV 1962, 641 (646 und 648); Bullinger, DÖV 1970, 761 (761); S. 47; Hesse, AöR 98 (1973), 1 (14 f.); Herdegen, in: Maunz/Dürig, Lfg. 52, Mai 2008, Art. 79, Rn. 92; Estel, Bundesstaatsprinzip und direkte Demokratie im Grundgesetz. 122 Bullinger, DÖV 1970, 761 (761 f.); Harbich, Der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, S. 128. 123 Harbich, der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, S. 126. 124 Harbich, der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, S. 126; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art. 79, Rn. 42. 125 Harbich, der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, S. 126. 126 Harbich, der Bundesstaat und seine Unantastbarkeit, S. 127. 127 Hesse, Der unitarische Bundesstaat, S. 15; ähnlich Bullinger, DÖV 1970, 761 (763). 121
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verfassungskräftigen Zuweisung eines angemessenen Anteils am Gesamtsteueraufkommen“128 auch die Finanzierung sichergestellt wissen. Das Bundesstaatsprinzip legt insoweit keine Details fest129. Dem historischen Argument ist zudem entgegenzuhalten, dass das Grundgesetz von Anfang an die Haushaltsautonomie nicht uneingeschränkt gewährleistete, sondern insbesondere Vorgaben hinsichtlich des Steuerverteilungssystems und des Finanzausgleichssystems traf130. Dies wurde insbesondere für den Bereich der Steuerverteilung nie in Frage gestellt131. Die Haushaltsautonomie der Länder stellte sich schon damals vor allem als eine Ausgabenautonomie und nur sehr eingeschränkt als Einnahmenautonomie dar132. Besondere Regelungen zur Staatsverschuldung wurden zunächst nicht getroffen, schließlich spielte sie in der Anfangszeit der Bundesrepublik nur eine sehr untergeordnete Rolle133. Vor dem Hintergrund der inzwischen eingetretenen europarechtlichen Überlagerung des Staatsschuldenrechts ist es nur folgerichtig, nunmehr auch verbindliche Schuldenregeln einzuführen, um eine Überschreitung der Referenzwerte durch den Gesamtstaat verlässlich zu verhindern134. Aus alledem lässt sich schlussfolgern: Das Bundesstaatsprinzip erfordert für die Länder ein solches Maß an Finanzautonomie, dass die Wahrnehmung ihrer eigenen Kompetenzen nicht in Gefahr gerät. Auf welchem Wege die notwendige finanzielle Ausstattung der Länder sichergestellt wird, lässt sich daraus indes nicht ableiten. Es besteht daher auch und gerade die Möglichkeit, eine hinreichende Finanzausstattung der Länder über Steuern bzw. Zuweisungen aus dem Bundeshaushalt sicherzustellen; gerade ein Recht zur Verschuldung ist hierzu nicht notwendig. Die Länder können auch ohne Verschuldung ihre Haushalte selbstständig gestalten und politische Entscheidungen treffen135: Die Schuldenbremse gibt einen Rahmen vor, innerhalb dessen die Länder nach wie vor ihre Haushaltsaufstellung verantworten, die Ausführung des Haushalts regeln sowie die Kontrolle und Prüfung des Vollzugs136. Die Schuldenbremse erreicht damit nicht die Schwelle einer geziel128
BVerfG, Urt. v. 26.07.1972 – 2 BvF 1/71, BVerfGE 34, 9 (20). Meyer, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 5. 130 Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 79, Rn. 127. 131 Schmidt, DVBl 2009, 1274 (1277). 132 Ohler, DVBl 2009, 1265 (1273); Kemmler, DÖV 2009, 549 (555). 133 Thiele, NdsVBl 2010, 89 (93). 134 Christ, NVwZ 2009, 1333 (1338). 135 Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2566). 136 BMF (Hrsg.), Notwendigkeit und Inhalt einer neuen Schuldenregelung im Grundgesetz, Anlage 2: Verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer für Bund und Länder einheitlich geltenden Schuldenbegrenzungsregelung im Grundgesetz, Kommissionsdrucksache 96 der FöKo II, S. 7; Schmidt, DVBl 2009, 1272 (1277). 129
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
ten Einflussnahme auf die Haushaltspolitik in dem Sinne, dass eine inhaltliche Steuerung ermöglicht würde137. Das muss umso mehr gelten, als die Verschuldung langfristig gesehen nichts zur Staatsfinanzierung beiträgt: Was der Haushaltsgesetzgeber im einen Haushaltsjahr an Handlungsspielraum gewinnt, wird ihm in den folgenden Haushaltsjahren über Tilgungsleistungen und/oder Zinszahlungen auf die Kredite wieder genommen138. Ein hinreichendes Maß an Haushaltsautonomie und damit die Wahrung der Staatsqualität der Länder setzt also nicht notwendig die Möglichkeit zur Verschuldung voraus139, solange anderweitig für eine aufgabenadäquate Finanzausstattung gesorgt ist140. Es gibt kein Prinzip des „Verschuldungsstaats“141. Durch die „Schuldenbremse“ geraten die Essentialien der Länderstaatlichkeit also nicht in Gefahr; die Länder stellen ein hinreichendes politisches „Gegengewicht“ zum Bund dar. (3) Zwischenergebnis Das Recht zur Verschuldung ist nicht als conditio sine qua non der Staatlichkeit anzusehen. Eine Klage der Länder kann sich daher mit Aussicht auf Erfolg nicht isoliert betrachtet gegen „die Schuldenbremse“ in ihrer derzeitigen Ausgestaltung richten, sondern immer nur auf eine insgesamt ausreichende Finanzausstattung. ee) Aspekt der hinreichenden Finanzausstattung Entscheidend ist mithin, ob die Länder insgesamt über eine Finanzausstattung verfügen, die ihnen die Ausübung ihrer Kompetenzen ermöglicht und nicht „erdrosselnd“ wirkt. Es ist Aufgabe der Finanzverfassung als Ganzes, eine Finanzordnung sicherzustellen, die Bund und Ländern unter Berücksichtigung ihrer Aufgaben staatliche Selbstständigkeit und politische Autonomie ermöglicht142, 137
Kemmler, DÖV 2009, 549 (555); BMF ebenda. Aydin, KritV 2010, 29 (34). 139 Das erkennt auch Hancke, Defizitbegrenzung im Bundesstaat, S. 153, sowie ders., DVBl 2009, 621 (623), gelangt dann aber, wie gezeigt, aus anderen Gründen zum Erfordernis einer möglichst weitgehenden Verschuldungsmöglichkeit. 140 Kemmler, DÖV 2009, 549 (556); Korioth, KritV 2008, 187 (198). 141 Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2566). 142 BVerfG, Urt. v. 27.05.1992 – 2 BvF 1, 2/88, 1/89 und 1/90, BVerfGE 86, 149 (264); BVerfG, Urt. v. 24.06.1986 – 2 BvF 1, 5, 6/83, 1/84 und 1, 2/85, 138
II. Rechtmäßigkeit der Umsetzung im GG
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nicht Aufgabe des Schuldenbegrenzungskonzepts allein. Im Rahmen dieser Finanzordnung entfaltet sich erst die Haushaltsautonomie der Länder143. Die derzeit umstrittene Frage, ob die Finanzausstattung der Bundesländer in ihrer konkreten Ausgestaltung ausreichend144 ist, lässt sich immer nur situativ im Sinne einer Momentaufnahme beurteilen. Es handelt sich insofern um einen laufenden Prozess, eine Frage, die sich zum jeweiligen Betrachtungszeitpunkt stets aufs Neue stellt145, da die Finanzierung der Länder an jede Änderung der Aufgaben, und damit unter Umständen auch an Änderungen der faktischen Gegebenheiten, entsprechend anzupassen ist. Eine abschließende und doch nicht dauerhaft gültige Aussage zu treffen, würde daher den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen. Gleichwohl spricht eine Gesamtbetrachtung der Finanzverfassung, insbesondere unter Berücksichtigung der Handlungsspielräume, welche die Länder in den letzten Jahren zurück erhalten haben, in der Tendenz für eine noch ausreichende Finanzautonomie: Das Ertragsverteilungs- und Finanzausgleichssystem ist in der Finanzverfassung geregelt, vgl. Art. 104a – 108 GG. Den Ländern steht das Aufkommen zahlreicher Steuerarten ganz bzw. teilweise zu, vgl. Art. 106 Abs. 2, 3 GG, zusätzlich können sie über Gebühren und Beiträge Einnahmen generieren146. Durch die Verteilung der gemeinsamen Steuern wird sichergestellt, dass Bund und Länder über genügend Finanzmittel verfügen, um die ihnen obliegenden Aufgaben wahrnehmen zu können: Bund und Länder haben Anspruch auf die Deckung ihrer notwendigen Ausgaben (Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 1 GG), die Deckungsbedürfnisse sind so aufeinander abzustimmen, dass „ein billiger Ausgleich erzielt“ und „die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird“ (Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 GG). Hierzu sind die Anteile von Bund und Ländern an der Umsatzsteuer neu festzusetzen, wenn sich das Verhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben des Bundes und der Länder wesentlich anders entwickelt (Art. 106 Abs. 4 S. 1 GG). Weiterhin stellt der Finanzausgleich über Ausgleichsansprüche und Ergänzungszuweisungen des Bundes sicher, dass die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessenen ausgeglichen wird; dabei sind sowohl die „Finanzkraft“ als auch der „Finanzbedarf“ der Gemeinden zu berücksichtigen BVerfGE 72, 330 (383); Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 109, Rn. 33; Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1261). 143 Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327). 144 Ausreichende Haushaltsautonomie befürwortend Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327); Kemmler, DÖV 2009, 549 (556); zweifelnd Korioth, KritV 2008, 187 (193 f.). 145 Aydin, KritV 2010, 29 (40 f.). 146 Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327).
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
(Art. 107 Abs. 2 GG). Durch das Zusammenspiel dieser Regelungen wird grundsätzlich eine angemessene Finanzausstattung sichergestellt147. Verkannt werden darf auch nicht, dass die Länder auch auf der Ausgabenseite über einen erheblichen Gestaltungsspielraum verfügen148. Die Haushaltsträger haben daher die Möglichkeit, durch Sparen nach Maßgabe einer Erforderlichkeits- und Dringlichkeitsbewertung der Ausgabenstrukturen finanziellen Handlungsspielraum zurückzugewinnen149. Es liegt in der Natur der Sache, dass die finanziellen Mittel der Höhe nach begrenzt sind – in der Entscheidung für eine Ausgabe liegt eben notwendig auch die Entscheidung, die finanziellen Mittel nicht an anderer Stelle einzusetzen. Auch dieses Grundprinzip wurde durch die Verschuldung nicht aufgehoben, denn in der Entscheidung, sofort erhöhte Ausgaben zu tätigen, lag zugleich die Entscheidung, in der Zukunft nur ein um Zinszahlungen und ggf. Tilgungsleistungen verringertes Budget zur Verfügung zu haben. Beispielsweise bestehen zwischen den Bundesländern signifikante Unterschiede in der Höhe der Personalausgaben je Einwohner; dies deutet auf erhebliches Konsolidierungspotential hin150. Als ein weiteres Beispiel mit Spielraum wird die Wirtschaftsförderung benannt151. Für eine gegenüber der jahrzehntelang bestehenden Situation eingetretenen Verbesserung der Haushaltsautonomie streitet zudem, dass die Länder im Zuge der Föderalismusreform I die Gesetzgebungskompetenz für die Besoldung der Landesbeamten erhalten haben152. Dies stellt eine Ausweitung der Finanzautonomie auf der Ausgabenseite dar, zumal die Personalausgaben einen erheblichen Bestandteil – ca. 40 bis 50% – der Länderausgaben bilden153. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, dass der Personaletat nicht in 147 Christ, NVwZ 2009, 1333 (1338), speziell in Bezug auf die Veränderung der Deckungsquote zwischen Bund und Ländern. 148 Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 109, Rn. 30; Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327); Feld, Protokoll der gemeinsamen Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (138. Sitzung) und des Finanzausschusses des Bundesrates, S. 49. 149 Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 109, Rn. 30. 150 Bericht der AG Haushaltsanalyse Bremen, Saarland, Schleswig-Holstein, veröffentlicht als Kommissionsdrucksache 102 der FöKo II, S. 170 ff. Es darf freilich nicht verkannt werden, dass eine Konsolidierung hier eher langfristig wirksam wird, da ein beträchtlicher Teil der Personalkosten auf Ruhestandsbeamte entfällt und die Konsolidierung über eine Reduzierung des Personalbestands zeitverzögert einsetzt. 151 Feld, Protokoll der gemeinsamen Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (138. Sitzung) und des Finanzausschusses des Bundesrates, S. 49. 152 Vgl. allerdings trotzdem an einer hinreichenden Finanzausstattung zweifelnd Korioth, KritV 2008, 187 (193 f.). 153 Huber, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 5.
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Gänze zur Disposition der Länder steht – schon das Erfordernis einer amtsangemessenen Besoldung, welche aus dem verfassungsrechtlich verankerten (Art. 33 Abs. 5 GG) Alimentationsprinzip folgt154, dürfte gewährleisten, dass zwischen den Ländern zwar erkennbare, aber nicht unangemessen gravierende Unterschiede in der Besoldung bestehen können. Zusätzlicher Gestaltungsspielraum ergibt sich im Bereich der Besoldung/Versorgung jedenfalls dennoch155. Weiterhin haben die Länder die Befugnis erhalten, den Steuersatz der Grunderwerbssteuer autonom zu bestimmen, Art. 105 Abs. 2a GG. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Möglichkeit zur Verschuldung nur ein Parameter unter vielen war (und in Form der fortbestehenden Verschuldungsmöglichkeiten nach wie vor ist), die die Finanzautonomie der Länder gewährleisten156. Die Haushaltsautonomie wird also nur inhaltlich anders ausgestaltet; der Verlust der strukturellen Kreditaufnahmemöglichkeit darf nicht mit der Haushaltsautonomie „gleichgesetzt“ werden157. Auch ohne die Möglichkeit einer strukturellen Verschuldung hält die Verfassung grundsätzlich ein angemessenes Instrumentarium bereit, um eine hinreichende Finanzausstattung zu gewährleisten, welche eine autonome Finanzgestaltung ermöglicht. Insofern ist festzuhalten: Die neue Schuldenbremse beseitigt die angemessene Finanzausstattung der Länder nicht, sondern sie wird bei der zukünftigen Ausgestaltung der Kompetenzen über Einnahmen und Ausgaben sowie dem Finanzausgleich als Prämisse zu berücksichtigen sein. Die Länder müssen mithin, unter den Rahmenbedingungen der neuen Schuldenbremse, über eine Finanzausstattung verfügen, die ihnen eine autonome Politikgestaltung ermöglicht. Insofern kann sich die Schuldenbremse für die Bundesländer geradezu als Vorteil erweisen: Auf die Möglichkeit, sich zu Lasten der Zukunft zu verschulden, braucht sich jedenfalls kein Land verweisen zu lassen158.
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Battis, Bundesbeamtengesetz, § 4, Rn. 16. Vgl. zur kritischen Diskussion zu jenem Zeitpunkt, als die Kompetenz hierfür beim Bund zentralisiert wurde, BVerfG, Urt. v. 26.07.1972 – 2 BvF 1/71, BVerfGE 34, 9 (20 f.). 156 Wilczek, VBlBW 2009, 325 (327). 157 Diese der gegenteiligen Argumentation unausgesprochen zu Grunde liegende Prämisse entlarvend Seiler, JZ 2009, 721 (728). 158 Andeutend Wieland, Protokoll der gemeinsamen Sitzung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages (138. Sitzung) und des Finanzausschusses des Bundesrates, S. 15: Der Bund übernehme durch die Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten Verantwortung. 155
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
d) Zwischenergebnis Die neuen Regelungen zur Schuldenbegrenzung verstoßen nicht gegen das Bundesstaatsprinzip. 2. Verstoß gegen das Demokratieprinzip Weiterhin könnte die Einführung der Schuldenbegrenzungsregeln gegen das Demokratieprinzip verstoßen, Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG. Nach dem Demokratieprinzip muss alle Machtausübung auf das Volk zurückführbar sein (sog. Volkssouveränität), wobei das Volk seinen Willen in Wahlen und Abstimmung kundtun kann159. Gesetzgebungsbefugt sind grundsätzlich die in die Parlamente gewählten Volksvertreter; insbesondere wird der Haushaltsplan durch Gesetz festgestellt. Kritiker argumentieren insoweit, die Schuldenbremse schränke die Budgetautonomie der Landesparlamente als deren „Königsrecht“ ein160. Damit werde ein Wesensmerkmal der Demokratie auf Landesebene beseitigt. Fraglich ist, ob die „Schuldenbremse“ eine „Entmachtung“ der Landesparlamente durch den Bundesgesetzgeber darstellt. Die Kritik kann sich insoweit insbesondere daran entzünden, dass über den Bundesrat zwar die Landesregierungen, nicht jedoch die Länderparlamente an der Verfassungsänderung beteiligt sind, zumal die Länderparlamente die Entscheidung der Landesregierungen im Bundesrat im Einzelfall nicht beeinflussen können161. Diese Einwände können indes nicht überzeugen. Wie bereits im Rahmen des Bundesstaatsprinzips erörtert, bildet die Schuldenbremse auch unter dem Blickwinkel des Demokratieprinzips lediglich einen verfassungsrechtlichen „Rahmen“, innerhalb dessen die Länderparlamente nach wie vor eigenständig den Haushalt aufstellen können. Auch insoweit ist auf die anderweitigen Einnahmen- und Ausgabenspielräume ebenso hinzuweisen wie auf die Möglichkeit der konjunkturellen Verschuldung und der Verschuldung in Notsituationen. Es handelt sich also nicht um eine „budgetrechtliche Entmachtung“162 der Landesparlamente, sondern deren Handlungsspielraum 159
Herdegen, in: Maunz/Dürig, Lfg. 52, Mai 2008, Art. 79, Rn. 125. Schneider, Schuldenregeln des Bundes für die Haushaltswirtschaft der Länder, Kommissionsdrucksache 134 der FöKo II, S. 27; ebenso laut Pressebericht die Begründung der Klage des Landes Schleswig-Holstein: Kieler Landtag klagt gegen Schuldenbremse im Grundgesetz, Tagesspiegel v. 05.02.2010, S. 4; zu einfachgesetzlichen Einschränkungen Glauben, ZG 1997, 233 (235 ff.); Offener Brief der Vertreter der Landtage, Kommissionsdrucksache 100 der FöKo II, S. 2. 161 Vgl. Glauben, ZG 1997, 233 (239). 162 So aber Offener Brief der Vertreter der Landtage, Kommissionsdrucksache 100 der FöKo II, S. 2. 160
II. Rechtmäßigkeit der Umsetzung im GG
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wird lediglich partiell beschnitten. Dass dies nicht prinzipiell verfassungswidrig sein kann, liegt im Wesen des Bundesstaats. Auch der denkbare Einwand, die Landesregierungen entmachteten über den Bundesrat zusammen mit dem Bundestag die Länderparlamente163, kann nicht überzeugen. Zwar muss jede staatliche Entscheidung letztlich auf einer Willensbekundung des Volkes beruhen; eine parlamentarische Entscheidung vermittelt insoweit ein Höchstmaß an Legitimation164. Jedoch kann nicht jede Entscheidung vom Parlament selbst getroffen werden; entscheidend ist insoweit, dass ein hinreichend großes Legitimationsniveau erreicht wird. Die Entscheidung muss also über eine ununterbrochene Legitimationskette letztlich auf einen Wahlakt zurückzuführen sein165. So verfügt auch der Bundesrat über ein ausreichendes Legitimationsniveau166: Das Grundgesetz bestimmte bereits in seiner ursprünglichen Fassung167, dass die Länder über den Bundesrat an der Gesetzgebung des Bundes mitwirken (Art. 50 GG), und, dass der Bundesrat aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht (Art. 51 S. 1 GG). Dieses Verfahren ist also für die Vorstellung des Demokratieprinzips nach dem Grundgesetz prägend und kann daher nicht zur Konstruktion eines Demokratiedefizits i. S. d. Art. 79 Abs. 3 herangezogen werden. Hinzu kommt, dass gerade im Bereich der Staatsverschuldung das Demokratieprinzip durch die Schuldengrenzen konkretisiert wird168. Insofern konnte oben festgestellt werden, dass das Demokratieprinzip keinen unmittelbaren Begrenzungsmaßstab für die Staatsverschuldung bereitstellt. Es widerspricht damit nicht dem Demokratieprinzip, wenn der Haushaltsgesetzgeber richtungsweisende Entscheidungen unter Zuhilfenahme von Staatsverschuldung trifft, sei es auch unter Vorgriff auf zukünftige Haushaltsjahre. Wenn sich dem Demokratieprinzip ein bestimmter Verschuldungsmaßstab nicht entnehmen lässt, so entspricht dem aber umgekehrt der Gedanke, dass auch eine ebenso richtungsweisende Konkretisierung des Demokratieprinzips dahingehend zulässig sein muss, eine Verschuldung in zukünftigen Rechnungsjahren auszuschließen. Jede Ausgabe, die der Haushaltsgesetzgeber kreditfinanziert plant – sei die Entscheidung autonom getroffen oder durch Bundesgesetz „oktroyiert“ – schränkt notwendig seinen Handlungsspielraum in zukünftigen Jahren ein. Es ist nicht ersichtlich, 163
Andeutend. Glauben, ZG 1997, 233 (239). Herdegen, in: Maunz/Dürig, Lfg. 52, Mai 2008, Art. 79, Rn. 127. 165 BVerfG, Urt. v. 31.10.1990 – 2 BvF 3/89, BVerfGE 83, 60 (72 f.); Rubel, in: Umbach/Clemens, Art. 79, Rn. 37. 166 Ausführlich zur demokratischen Legitimation des Bundesrates Maurer, Staatsrecht I, § 16, Rn. 47. 167 BGBl. 1949 I, S. 1. 168 Oben unter C. III. 164
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
warum nun gerade eine Reduzierung des Handlungsspielraums durch die Einschränkung der Verschuldungsmöglichkeit gegen das Demokratieprinzip verstoßen soll. Schließlich ist insofern die Entscheidungsfähigkeit zukünftiger Generationen zu berücksichtigen: Werden heute Ausgaben durch Verschuldung finanziert, so engt dies ihren Handlungsspielraum unwiderruflich ein. Wird dagegen dem Haushaltsgesetzgeber das Recht zur strukturellen Verschuldung untersagt, so verfügt er zwar in diesem Moment nicht über eine uneingeschränkte Haushaltsautonomie; der entsprechende Handlungsspielraum geht aber nicht verloren, sondern wird gerade für zukünftige Haushaltsjahre gewahrt bzw. erhöht169. Es werden also jetzige fiskalische Handlungsoptionen gegen zukünftige Gestaltungsoptionen eingetauscht, wobei der Gewinn angesichts vermiedener Zinslasten sogar deutlich überwiegt170. Mit dem aus dem Demokratieprinzip folgenden Gedanken der auf Zeit gewährten Herrschaft ist es daher gut vereinbar, die Ausgabenautonomie grundsätzlich auf die laufenden Einnahmen (plus/minus Konjunkturkomponente) zu beschränken, anstatt durch unbegrenzte Haushaltsautonomie „Demokratie zu Lasten Dritter“, nämlich der ungeborenen Generationen, zu ermöglichen171. Das Demokratieprinzip wird daher nur mittelbar, keinesfalls aber im Kern berührt172. Ein Verstoß liegt nicht vor. 3. Zwischenergebnis Die Schuldenbremse verstößt nicht gegen Art. 79 Abs. 3 GG und entspricht damit den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
III. Zweckmäßigkeit der getroffenen Regelungen Weiterhin ist die Zweckmäßigkeit der getroffenen Regelungen zu untersuchen. Dies betrifft erstens die Frage, ob eine Normierung sinnvollerweise im Grundgesetz erfolgen sollte sowie zweitens die inhaltliche Ausgestaltung der Schuldenbremse.
169 Glaser, DÖV 2007, 98 (101); Buscher, Der Bundesstaat in Zeiten der Finanzkrise, S. 330 ff. 170 So ausdrücklich Seiler, JZ 2009, 721 (727). 171 Vgl. zum Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Staatsverschuldung die Nachweise oben unter C. III. 172 Seiler, JZ 2009, 721 (727).
III. Zweckmäßigkeit der getroffenen Regelungen
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1. Verfassungsästhetik Fraglich ist zunächst, ob es zweckmäßig ist, die Schuldenbremse gerade auf Verfassungsebene zu verankern. Angesprochen ist mit der Frage nach der „Verfassungsästhetik“173 ein verfassungstheoretisches Problem, denn außerhalb der Grenzen des Art. 79 GG ist der verfassungsändernde Gesetzgeber aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht in seiner Gestaltungsfreiheit eingeschränkt174. Vielfach wird insoweit behauptet, bei der neuen „Schuldenbremse“ handele es sich um Detailregelungen, die nicht in die Verfassung gehörten. Der Umfang der aus mehreren Artikeln bestehenden Änderung sei einer Verfassung nicht angemessen, ginge über die Funktion des Grundgesetzes hinaus und sei daher für selbiges „unmaßstäblich“175. Die Funktion einer Verfassung sei es, Grundsätze der staatlichen Ordnung zur regeln, aber nicht jede „tagespolitische“ Gestaltungsabsicht176; Details gehörten allenfalls in einfache Gesetze177. Um die Frage nach der Systemkonformität zu beantworten, muss zunächst beleuchtet werden, welche Funktionen einer Verfassung zukommen. Sodann ist zu überlegen, inwieweit die Schuldenbremse diesen Funktionen gerecht wird, wobei die Frage zu stellen ist, welche Auswirkung die Alternative einer auf das Grundsätzliche beschränkten Verfassungsregelung mit stattdessen detaillierter einfachgesetzlicher Regelung hätte. Schließlich ist zu untersuchen, ob die getroffenen Regelungen im Einzelnen zweckmäßig sind. a) Verfassungsfunktion(en) – Ist die Schuldenbremse ein Systembruch? Zu untersuchen ist zunächst, welche Funktion(en) einer Verfassung zukommen. Die von Lammert angesprochene Aufgabe, das Grundsätzliche zu regeln178, stellt nicht die einzige Verfassungsfunktion dar. Sie ist vielmehr 173 Die Kritik einerseits teilend, andererseits aber mit der Komplexität der Regelungsmaterie rechtfertigend Struck, Verh. d. BT 16/215, 23363 (23364). 174 So Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 222 f., bereits 1997 vorausahnend, dass diese Kritik „auch im gegebenen Zusammenhang [der Staatsschuldenbegrenzung] wirksam werden könnte“. 175 Lammert, FAZ v. 23.04.2009, S. 1: Lammert: Schuldenbremse verunstaltet Grundgesetz; Lammert, „Viel zu umfangreich“, in: der Spiegel 18/2009, S. 21. 176 Korioth, JZ 2009, 729 (737). 177 Lammert, „Viel zu umfangreich“, in: der Spiegel 18/2009, S. 21; Huber, Stellungnahme zum 04.05.2009, S. 2, Tz. 3.
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
ein Aspekt unter vielen; Stern beispielsweise unterscheidet acht Funktionen der Verfassung: Die Verfassung solle 1. 2. 3. 4. 5. 6.
„eine Ordnungsfunktion erfüllen“, „eine Stabilisierungsfunktion wahrnehmen“, „auf das Grundsätzliche gerichtet sein“, „einheitsstiftend (integrierend) wirken“, „Macht begrenzen und kontrollieren“, „Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsschutz des Individuums gewährleisten“, 7. „die grundlegende Organisationsstruktur des Staates festlegen“ 8. sowie „Leitgrundsätze über die materialen Staatsziele und die Rechtsstellung des Bürgers im und zum Staate enthalten“179. Für den hier relevanten Bereich der Staatsverschuldung dürfte neben die Grundsatzfunktion vor allem die Funktion der Machtbegrenzung und Kontrolle treten. Zwischen beiden Funktionen besteht ein Spannungsverhältnis, welches im Lichte des jeweiligen Regelungsbereichs der Verfassung gesehen werden muss. So kann der verfassungsändernde Gesetzgeber entweder einen „offenen“ oder einen „dichten“, ins Detail gehenden Normierungsstil wählen180. Die Verfassung bildet insoweit eine Rahmenordnung, die auch im Falle der offen Normierung immer eine doppelte Aussage treffen muss, nämlich über das Festgelegte und über das Offene181. Gestaltungsspielräume sind bewusst als solche zu formulieren und erkennbar zu machen182. Vor allem aber darf und muss das dezidiert geregelt werden, „was nicht offen bleiben soll“183. Offenheit ist in den Bereichen vonnöten, in welchen wesentliche Entscheidungen der Politik überantwortet werden können und sogar müssen. Dies betrifft beispielsweise den Bereich der Wertordnung184, die Innen-185 und Außenpolitik186 sowie den der Freiheitssicherung dienenden Grund178 179 180 181 182
Lammert, „Viel zu umfangreich“, in: der Spiegel 18/2009, S. 21. Stern, Staatsrecht, Band I, S. 82. Stern, Staatsrecht, Band I, S. 83 f. Wahl, Der Staat 20 (1980), 485 (507). Wahl, Der Staat 20 (1980), 485 (507); vgl. Glaeser, AÖR 107 (1982), 337
(341). 183 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 24; wiederholend Stern, Staatsrecht, Band I, S. 84. 184 Isensee, NJW 1977, 545 (550). 185 Steinberg, JZ 1980, 385 (387) mit Beispielen zur Innenpolitik. 186 Stern, Staatsrecht, Band I, S. 84.
III. Zweckmäßigkeit der getroffenen Regelungen
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rechtsschutz. Die Verfassung kann in diesen Bereichen nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit determinieren, denn die einfache Gesetzgebung ist nicht bloßer „Verfassungsvollzug“, sondern der Gesetzgeber hat einen politischen Gestaltungsspielraum187. Er hat sich dabei im verfassungsmäßigen Rahmen zu halten, insbesondere die Grundrechte zu wahren. Als ein Beispiel wenig geglückter, allzu detaillierter Regelung gilt insoweit die Neufassung das Asylrechts in Art. 16a GG im Jahre 1993188. Die Norm nimmt mit fünf umfangreichen Absätzen eine für ein einziges Grundrecht beispiellose Länge ein und liest sich abschnittsweise wie eine Ausführungsvorschrift des einfachen Rechts189. Die Vorschrift hat sich daher zu Recht dem Vorwurf einer „neuartige[n] Technizität“190 ausgesetzt gesehen, welche aus verfassungstheoretischer Sicht „nicht systemgerecht“191 ist. Durch die hohe Normdichte, mit welcher der Gesetzgeber die Beschränkung der Reichweite einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung bezwecken dürfte, verliert die Verfassung das Maß an Offenheit, welches sie für die Anpassungsfähigkeit an die sich verändernde Wirklichkeit benötigt192. Nicht nur überflüssig, sondern gar schädlich ist ein zu großes Maß an Offenheit dagegen im Bereich des Staatsorganisationsrechts193, der Festlegung der Staatsform, der grundlegenden Strukturprinzipien und der Verteilung von Kompetenzen194. Diese organisationsrechtlichen Verfassungsbestimmungen treten neben die vorgenannten freiheitssichernden Bestimmun187
Stern, Staatsrecht, Band I, S. 83 ff. m. w. N.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 20. 188 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 16 und 18) vom 28. Juni 1993, BGBl. I, S. 1002. 189 Brenner, AÖR 120 (1995), 248 (250): „verwaltungsgerichtlicher Prüfungsumfang“. Als Beispiel sei Art. 116 Abs. 4 GG zitiert: „Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in den Fällen des Absatzes 3 und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. [. . .]“. 190 Brenner, AÖR 120 (1995), 248 (248 ff.). 191 Henkel, NJW 1993, 2705 (2710) mit dem Alternativvorschlag, „das bisherige Grundrecht mit einem allgemeinen Gesetzesvorbehalt zu versehen“; Voßkuhle, AöR 119 (1994), 35 (36): „Bruch mit dem ursprünglichen Normierungsstil“. 192 Brenner, AÖR 120 (1995), 248 (253–256). Gleichwohl bezweifelt Brenner, dass durch die hohe Technizität der Norm eine Zurückdrängung der verfassungsgerichtlichen Überprüfungsbefugnis und Kontrolldichte zu erreichen ist, ebenda S. 263. 193 Steinberg, JZ 1980, 385 (387); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 26 ff.; Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 226. 194 Stern, Staatsrecht, Band I, S. 84.
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gen195. Ihnen kommt die Funktion zu, Stetigkeit und Verbindlichkeit zu erzeugen196. Hier muss sich die Verfassung eindeutig festlegen: Stehen ständig die Formalien in Streit, beispielsweise schon der Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens an sich, ist eine an sachlich-inhaltlichen Gesichtspunkten orientierte Auseinandersetzung kaum möglich. Erst dadurch, dass die Verfassung der Organisation rechtliche Form und Verbindlichkeit gibt, Kompetenzen und Verfahren bereitstellt, wird der Staat als Entscheidungs- und Handlungseinheit konstituiert197. Im Bereich des Staatsorganisationsrechts besitzen einige Verfassungsnormen einen solchen Grad an Eindeutigkeit, „dass sie der Auslegung weder zugänglich noch bedürftig sind und keinerlei faktische Handlungsspielräume eröffnen“198. Hier erweist sich die Verwirklichung der Verfassung, anders als in den Bereichen, welche durch permanente Berücksichtigung von Wertentscheidungen geprägt sind, tatsächlich als „reiner Verfassungsvollzug“: Wurde beispielsweise ein Bundeskanzler mit der erforderlichen Mehrheit des Bundestages wirksam gewählt, so muss ihn der Bundespräsident ernennen (Art. 63 Abs. 2 und 4 GG)199. Nun gilt es, das Recht der Staatsverschuldung einzuordnen, zwischen den Freiheitsrechten, welche Wertentscheidungen und damit die Offenheit der Verfassung erfordern, und dem Recht der Staatsorganisation, dessen Funktion es ist, eindeutige Handlungsanweisungen zu liefern. Als „eine Art Entscheidungsregel“, welche Vorschriften besonders rigide im Sinne von nicht dispositiv sein sollen, schlägt Schuppert vor: „Es sind alle die, die Bausteine des Grundkonsenses sind und die notwendig der politischen Debatte entzogen sein müssen“200. Tatsächlich ist das Recht der Staatsschuldenbegrenzung im Grenzbereich zwischen Staatsorganisation und konkretisierungsbedürftigem Rechtsprinzip zu verorten. Stern zählte beispielsweise Art. 109 Abs. 2 GG in seiner alten Fassung, der Verpflichtung von Bund und Ländern auf das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht, zu den Strukturprinzipien des Staates, mithin zu 195 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 224. 196 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 224. 197 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR, Band I, 2. Aufl., § 13, Rn. 137. 198 Schneider, Direkte Anwendung und indirekte Wirkung von Verfassungsnormen, in: Bernhardt/Beyerlin (Hrsg.), Deutsche Landesreferate zum Öffentlichen Recht und Völkerrecht, S. 23 (44). 199 Schneider, Direkte Anwendung und indirekte Wirkung von Verfassungsnormen, in: Bernhardt/Beyerlin (Hrsg.), Deutsche Landesreferate zum Öffentlichen Recht und Völkerrecht, S. 23 (44), Hervorhebung hinzugefügt. 200 Schuppert, AöR 120 (1995), 32 (58).
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den konkretisierungsbedürftigen Grundsätzen und Prinzipien des Staates201. Dies habe sich insbesondere daraus erklärt, dass die Norm nicht lediglich als Kreditbegrenzungsregel, sondern auch als Lenkungsmittel zur Steuerung der Konjunktur anzusehen war, dessen Werkzeug die Verschuldung bildete202. Mit der Neuregelung der „Schuldenbremse“ vollzog der verfassungsändernde Gesetzgeber einen Paradigmenwechsel, indem er nunmehr die Schuldenbegrenzungsfunktion der Art. 109, 115 GG mit detaillierten Regelungen in den Vordergrund rückte. Dies ist in Anbetracht der Erfahrungen mit der alten Schuldenregel auch folgerichtig: Staatsschuldenrecht muss in erster Linie Schuldenbegrenzungsrecht sein. Es erfüllt damit überwiegend die Funktion der Machtbegrenzung und Kontrolle203, welche detaillierte Regelungen erfordert und auch erfordern darf. In diesem Bereich ist daher auch eine regelungsdichte204 Vorschrift „als verfassungsrechtlich systemkonform zu bezeichnen“205. Diesbezüglich ist anzuknüpfen an den ersten Teil der Arbeit, in welchem aus polit-ökonomischer Sicht herausgearbeitet wurde, dass die Akteure stets ein hohes Maß an Staatsverschuldung favorisieren, ja sogar favorisieren müssen, wenn sie im kurzfristigen Wettbewerb um die Wählergunst nicht verlieren wollen206. Ermöglicht wurde dieses Verhalten bislang durch die Offenheit der alten Schuldenregel, die keine präzise Grenze zog207. Gerade hier erweist es sich als nützlich, ein bestimmtes Maß an Verschuldung als „Grundkonsens“ in der Verfassung festzuschreiben208. Dieser Grundkonsens ist sodann von allen Akteuren zu beachten: Die Verschuldung kann nicht mehr als „Puffer“ zur Erfüllung politischer Wünsche missbraucht werden. Die Haushaltsdebatte wird insoweit 201
Stern, Staatsrecht, Band I, S. 121 f. Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 229. 203 Vgl. BVerfG, Urt. v. 06.11.1984 – 2 BvL 19,20/83, 2 BvR 363, 491/83, BVerfGE 67, 256 (289); BVerfG, Urt. v. 28.03.2002 – 2 BvG 1, 201, BVerfGE 105, 185 (194); sich anschließend Höfling, DVBl 2006, 934 (937): „Grenze [. . .], die der einfache Gesetzgeber nicht überschreiten darf“; Sondervotum Landau zu BVerfG, Urt. v. 09.07.2007 – 2 BvF 1/04, BVerfGE 119, 96 (176): „Begrenzungs- und Bremsfunktion“. 204 Bloße Zielbestimmungen genügen nicht für eine effektive Begrenzung; Scholl, DÖV 2010, 160 (169). 205 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 229 f. 206 Vgl. oben unter C. VI., These 12. 207 Vgl. oben unter C. VI., These 3. 208 Vgl. Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HdStR, Band I, 2. Aufl., § 13, Rn. 138, wonach eine weitere Aufgabe der Verfassung darin bestehe, „die Inhalte festzuhalten, in denen die Nation einig sein will“. 202
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um den Aspekt der Verschuldung „entlastet“209; sie hat sich darauf zu beschränken, welche Einnahmen und Ausgaben politisch sinnvoll und erwünscht sind. Die Regel ermöglicht und konstituiert damit, ganz im staatsorganisationsrechtlichen Sinne, erst den fairen Wettbewerb zwischen verschiedenen politischen Konzepten zur Einnahmen- und Ausgabengestaltung. Die Diskussion um die verfassungsrechtliche Systemkonformität einer strikten Schuldenbremse vorausahnend, gelangte Bröcker in seiner bereits 1997 erschienenen Dissertation zu dem Ergebnis, dass das Offenhalten der Schuldenpolitik „aus verfassungstheoretischer Perspektive nicht erfordert und nicht einmal erwünscht wird. Herrscht nämlich politischer Konsens darüber, dass die Belastungswirkungen der überbordenden Staatsverschuldung die Handlungsspielräume bereits der jetzigen, aber insbesondere der künftigen Staatsleitung erheblich einengt und gegeben[en]falls gewichtige volkswirtschaftliche Wachstumseinbußen nach sich zieht, muss sich die Verfassung nicht in Zurückhaltung üben. Auf eine weitgehende Ausgestaltung durch den Regelungsadressaten darf daher verzichtet werden.“210
Für eine hohe Regelungsdichte streitet auch das systematische Argument; sie ist und war der Finanzverfassung, anders als den Grundrechten, auch ansonsten und bisher nicht fremd211. Zwar muss im Hinblick auf die Ausgabenverteilung weitgehende Autonomie bestehen, denn erst über das Tätigen von Ausgaben wird Politikgestaltung überhaupt möglich212. Dieser Bereich muss also der politischen Auseinandersetzung vorbehalten bleiben. Betrachtet man jedoch die Art. 104a bis 107 GG, in welchen die Einnahmen- und Ausgabenverteilung zwischen Bund und Ländern sowie der Finanzausgleich geregelt sind, so lassen diese Normen durchweg eine hohe Regelungsdichte erkennen. Insbesondere die Verteilung der Steuereinnahmen lässt eine hohe Technizität erkennen, vgl. Art. 106 GG. Schließlich ist die Ausgestaltung der Details im Wege einfachgesetzlicher Konkretisierung213, anders als bei der Ausgestaltung von Grundrechten, nicht möglich. Während der Zweck der Grundrechtskonkretisierung häufig darin besteht, Exekutive und Verwaltungsgerichte zu binden, ist es hier der Gesetzgeber selbst, dessen Spielraum zu beschneiden ist. Prüfungsmaßstab ist insoweit jedoch allein Verfassungsrecht; als Kontrollinstanz fungiert allein das Bundesverfassungsgericht. Eine einfachgesetzliche Regelung, etwa 209
Vgl. BVerfG, Urt. v. 28.03.2002 – 2 BvG 1, 201, BVerfGE 105, 185 (193). Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 230 (Hervorhebung hinzugefügt). 211 Dies räumt auch Brenner, Kritiker der neuartigen Technizität des Verfassungsrechts, ein; in: AöR 120 (1995), 248 (250). 212 Bröcker, Grenzen staatlicher Verschuldung im System des Verfassungsstaats, S. 230. 213 Dafür und für einen Staatsvertrag Klein, FAZ v. 07.05.2009, S. 8. 210
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im Sinne eines „Schuldenbegrenzungsgesetzes“, bliebe hier ohne Wirkung, da das Haushaltsgesetz – welches ebenfalls den Rang eines einfachen Gesetzes teilt – stets als „lex posterior“ das „Schuldenbegrenzungsgesetz“ wieder verdrängen würde. Hier gelangt der Charakter der Verfassung als formell höchstrangige normative Grundordnung des Staates, in welche politisch existenzielle Bestandteile aufgenommen werden (sog. „Verankerungsnormen“), zum Tragen214. Im Bereich der Staatsschuldenbegrenzung sind nach alledem aus verfassungstheoretischer Sicht grundsätzlich regelungsdichte Normen als systemkonform anzusehen. b) Einzelne Kritikpunkte Mit der grundsätzlichen Rechtfertigung einer regelungsdichten Vorschrift ist indes noch nichts über die Neuregelungen im Einzelnen ausgesagt. Sie sind, jede für sich, daraufhin zu überprüfen, inwieweit die Kritik an der Regelungsdichte berechtigt ist. aa) Zunächst: Eingrenzung auf Art. 109/115 GG Zuvor ist der Teil der Kritik auszuscheiden, welcher sich zwar auf die Neuregelung der Staatsverschuldung im weiteren Sinne bezieht, nicht jedoch auf die „Schuldenbremse“ im engeren Sinne, welche in Art. 109 und 115 GG verankert ist. Dies betrifft insbesondere die Kritik an der Übergangsregelung in Art. 143d GG, welche sich namentlich auf die Festschreibung von „EuroBeträgen“ zur Konsolidierungshilfe in Abs. 2 der Vorschrift bezieht215. Ob diese Kritik berechtigt ist oder nicht, mag hier unentschieden bleiben: Sie betrifft nicht den hiesigen Untersuchungsgegenstand. bb) Beschränkung auf Grundsätze ausreichend? Besonders harsche Kritik an der Neuregelung in Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 GG übt Selmer. Es handele sich um in der Föderalismuskommission ausgehandelte Kompromisse, welche mit all ihren Aufweichun214
Vgl. Stern, Staatsrecht, Band I, S. 76 ff. und 89 f. Korioth, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 11; verfassungsästhetische Kritik teilend, aber auf Grund der Notwendigkeit verteidigend Struck, Verh. d. BT 16/215, 23363 (23364); Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1259); zu den Ursachen Henneke, ZG 2010, 52 (63). 215
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gen, Vertiefungen und Erläuterungen in der Verfassung fehl am Platz seien216. Eine verfassungswürdige Neuregelung befinde sich allein in Art. 109 Abs. 2 S. 1 bzw. Art. 115 Abs. 2 S. 1 GG, wonach die Haushalte von Bund und Ländern „grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten“ auszugleichen sind217. Bereits festgestellt wurde, dass regelungsdichte Normen im Bereich des Staatsschuldenrechts prinzipiell als systemkonform anzusehen sind218. Zu untersuchen ist jedoch darüber hinaus, ob das Regelungsziel auch mit der von Selmer vorgeschlagenen Beschränkung zu erreichen wäre. Eine Beschränkung der Normierung auf den „Grundsatz“ des ausgeglichenen Haushalts würde ihr Regelungsziel nur dann erreichen, wenn der Begriff „grundsätzlich“ restriktiv auszulegen wäre, etwa wie im allgemeinen Sprachgebrauch, nämlich im Sinne von „ohne Ausnahme“, „nie“. Eigenart der juristischen Fachsprache ist es aber auch und gerade im Bereich der Gesetzgebung, dass Ausdrücke in einer von der Gemeinsprache abweichenden Bedeutung verwendet werden219. Insofern ist jedem Juristen bekannt, dass durch die Formulierung „grundsätzlich“ ein Prinzip ausgedrückt wird, von welchem anschließend aus guten Gründen verschiedenste Ausnahmen zulässig sein können; häufig folgen diese schon als Aufzählung im Gesetzestext selbst220 oder sind der Auslegung überlassen. Demnach bedeutet „grundsätzlich“ im juristischen Sprachgebrauch so viel wie „eigentlich, [. . .] mit dem Vorbehalt bestimmter Ausnahmen, im allgemeinen, in der Regel“221. Die bloße Normierung eines ausgeglichenen Haushalts als „Grundsatz“ drohte demnach zum Einfallstor einer Flut von Ausnahmen zu werden, mithin zum sprichwörtlichen „Fass ohne Boden“. Schlimmstenfalls könnte in Verbindung mit dem nach wie vor in Art. 109 Abs. 2 GG erwähnten „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht“ eine erste, äußerst unpräzise Aufweichung des Grundsatzes des ausgeglichenen Haushalts gesehen werden. Es besteht hier also ein Spannungsverhältnis zwischen einer notwendigen Beschränkung der Verfassung auf das Wesentliche einerseits und der notwendigen Präzision andererseits. Will man die Wirksamkeit der Norm nicht ge216
Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1259). Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1259); Hervorhebung hinzugefügt. 218 Ergebnis oben unter D. III. 1. a). 219 So ausdrücklich die „Allgemeine[n] Empfehlungen für das Formulieren von Rechtsvorschriften“ vom Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Handbuch der Rechtsförmlichkeit, S. 33 f. Demnach ist ein Abweichen vom allgemeinen Sprachgebrauch umso tolerabler, je mehr sich eine Vorschrift unmittelbar an einen eingeschränkten Adressatenkreis richtet, der über entsprechendes Fachwissen verfügt. 220 Vgl. Bundesministerium der Justiz (Hrsg.): Handbuch der Rechtsförmlichkeit, S. 49: „vom Grundsätzlichen zum Besonderen fortschreiten“. 221 Drosdowski, Günther u. a. (Hrsg.): Duden, das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden, Band 3, S. 1097, Stichwort „grundsätzlich“ 2. b). 217
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fährden, so müssen Ausnahmen zwar sprachlich knapp und prägnant, vor allem aber explizit und abschließend in der Verfassung selbst benannt werden. Bei einer Verlagerung der Detailregelung in einfache Gesetze bestünde hingegen wiederum das bereits erörterte Problem, dass diese stets vom Haushaltsgesetz als „lex posterior“ verdrängt würden und insoweit keinen Kontrollmaßstab darstellten222. Eine Beschränkung der Formulierung auf einen „grundsätzlich“ ausgeglichenen Haushalt ist mithin nicht möglich, ohne das Regelungsziel aufzugeben, eine präzise und auch justiziable Vorschrift zu schaffen. cc) Normwiederholung in Art. 109/115 GG Berechtigt ist hingegen die Kritik daran, dass in Art. 109 und 115 GG einige Voraussetzungen nicht nur doppelt normiert werden223, sondern durch die sprachliche Gestaltung gar der Eindruck entsteht, als gingen die Normen von einem „dreigliedrigen Bundesstaat“ aus, in welchem der Gesamtstaat neben Bund und Länder tritt224. Bereits Art. 109 Abs. 3 S. 1 GG bestimmt: „Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“. Damit ist es überflüssig, in Bezug auf den Bund nochmals in Art. 115 Abs. 2 S. 1 GG zu erwähnen: „Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen“. Auch die Regelung, dass dieser Grundsatz als gewahrt gilt, „wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoninlandsprodukt nicht überschreiten“, wird sogar wörtlich doppelt getroffen (Art. 109 Abs. 3 S. 4 GG bzw. Art. 115 Abs. 2 S. 2 GG). Weiterhin erweckt die Regelung durch die sprachliche Gestaltung des Art. 109 GG den Eindruck, als verpflichte sich der Bund nach dem Vorbild eines „dreigliedrigen Bundesstaats“ unwiderruflich zur Umsetzung der Schuldenbremse an anderer Stelle225. Art. 109 Abs. 3 sieht insoweit namentlich vor, dass Bund und Länder „die nähere Ausgestaltung“ regeln, und zwar die Länder in den Landesverfassungen und der Bund in Art. 115 GG. Auf den ersten Blick scheint es also, als werde der Bund verpflichtet, an anderer Stelle im Grundgesetz entsprechende Regelungen zu treffen226. 222
Vgl. oben unter D. III. 1. a). Korioth, JZ 2009, 729 (737); Tappe, DÖV 2009, 881 (889). 224 Vgl. Häde, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 3; von folgerichtigem „Umsetzen“ der Vorgaben des Art. 109 durch Art. 115 GG spricht bereits Tappe, DÖV 2009, 881 (889). 225 Vgl. Häde, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 3. 226 Vgl. Häde, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 3. 223
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Art. 109 GG erzeugt jedoch kein Verfassungsrecht höherer Bindungskraft227, denn solches ist, außerhalb von Art. 79 GG, nicht vorgesehen. Es kann sich daher bei der Formulierung nur um einen deklaratorischen Verweis auf Art. 115 GG handeln; dieser ist jedoch überflüssig: Dass die Voraussetzungen der Kreditbeschaffung des Bundes in Art. 115 GG präzisiert werden, ergibt sich bereits aus der Systematik der Verfassung228. Zwecklose Doppelungen und Verweise sind schlicht zu streichen; es genügt, wenn Art. 115 die schon in Art. 109 GG getroffenen Regelungen in Bezug nimmt229. dd) Statische Verweisung auf das Europarecht Ungünstig ist schließlich der Verweis des Art. 109 Abs. 2 GG auf Rechtsakte der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin „auf Grund des Artikels 104“ EGV. Schon jetzt geht dieser Verweis ins Leere, denn Art. 104 EGV wurde mit Ratifikation des LissabonVertrags durch Art. 126 AEUV ersetzt. Hier ist zweckmäßigerweise eine dynamische Verweisung zu wählen, etwa „Bund und Länder haben [. . .] de[n] Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union Rechnung zu tragen“230. c) Zusammenfassung Es bedarf zwar regelungsdichter Vorschriften, um einen geeigneten Prüfungsmaßstab für das Haushaltsgesetz zur Verfügung zu stellen. Dem wird die neue „Schuldenbremse“ im Wesentlichen gerecht; einige Dopplungen, missglückte Formulierungen sowie der Verweis auf Art. 104 EGV sollten jedoch beseitigt werden. Die vorliegende Arbeit berücksichtigt dies im unterbreiteten Regelungsvorschlag231.
227 Wieland, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 3; vgl. Häde, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 3. 228 Wieland, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 3. 229 Vgl. insoweit den Regelungsvorschlag unter F. 230 So bereits 1994 der Wissenschaftliche Beirat beim BMF (Hrsg.), Zur Bedeutung der Maastricht-Kriterien für die Verschuldungsgrenzen von Bund und Ländern, S. 48; darauf in Bezug auf die aktuelle Schuldenbremse verweisend Korioth, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 4. 231 Siehe unten unter F.
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2. Bewertung der inhaltlichen Ausgestaltung für den Bund Im Folgenden sind die unter D. I. skizzierten, mit der Föderalismusreform II getroffenen Regelungen einer kritischen Kontrolle daraufhin zu unterziehen, inwieweit die oben232 thesenförmig festgehaltenen Mängel der alten Schuldengrenze behoben und die sonstigen Anforderungen an ein wirksames Schuldenbegrenzungskonzept beachtet worden sind. Bei der Ausgestaltung einer Neuregelung im letzten Teil der Arbeit wird darauf zurückzugreifen sein: Der Entwurf einer Neuregelung hat sich in erster Linie mit jenen Problemen zu befassen, die nicht schon durch die Föderalismusreform II zufriedenstellend gelöst wurden. Die Betrachtung bezieht sich zunächst auf die Regelung für den Bund und, soweit eine Aufspaltung der Darstellung hinderlich wäre, auch auf Bund und Länder gemeinsam betreffende Aspekte. Abweichungen, die ausschließlich die Länder berühren, werden sodann gesondert dargestellt. a) Bestimmtheit von Kreditgrenze und Rückzahlungspflicht Ein wesentlicher Mangel der Formulierung „Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ war die mangelnde Bezifferbarkeit der Verschuldungsgrenze sowie die nicht expressis verbis festgehaltene Rückzahlungspflicht (oben These 3)233. Die verschiedenen Komponenten der neuen „Schuldenbremse“ sind getrennt daraufhin zu betrachten, inwieweit diese Probleme gelöst werden konnten. aa) Konjunkturelle Verschuldungskomponente Die konjunkturelle Verschuldungskomponente erfährt durch die Anknüpfung an eine Über- oder Unterauslastung des Produktionspotentials zwar keine unmittelbar aus der Verfassung ablesbare zahlenmäßige Begrenzung (wie sie etwa durch die Referenzwerte des Europarechts erfolgt). Es handelt sich dabei jedoch um den Verweis auf eine Formel, die die für ein Haushaltsjahr zulässige Gesamtverschuldung berechenbar und damit eindeutig bestimmbar macht. Ergebnis dieser Berechnung wird ein Zahlenwert sein, der nicht zu überschreiten und als solcher auch justitiabel ist. Dies ist ein großer Fortschritt gegenüber dem Begriff des „gesamtwirtschaftlichen 232 233
Unter C. VI. Oben unter C. VI. 3.
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Gleichgewichts“, hinsichtlich dessen sogar umstritten war, wann dessen Merkmale im Einzelnen erfüllt sind234. Eine Rückführungspflicht ist für die konjunkturelle Verschuldung insofern gegeben, als sich aus dem antizyklischen Wirken über mehrere Haushaltsjahre hinweg eine vollständige Tilgung zu ergeben hat235. Viel abhängen wird hier jedoch davon, welche konjunkturelle Situation als den unbestimmten Begriff236 der „Normallage“ ausfüllend angesehen wird. Betrachtet man eine unrealistisch hohe durchschnittliche Wachstumserwartung über einen gewissen Zeitraum als „Normallage“, so kann das Konzept des im Mittel über die Jahre ausgeglichenen Haushalts nicht funktionieren. Hier besteht das Risiko von Fehlprognosen die zu „verschuldungsfreundlich“ ausfallen, oder, schlimmstenfalls, einer bewusst weiten Auslegung des Begriffs237. Lenz/Burgbacher wollen beispielsweise einen gewissen „Korridor“ als Normallage annehmen, sodass mindestens die Hälfte aller in einen Referenzzeitraum fallenden Jahre als „normal“ anzusehen sein soll. Sie begründen dies damit, dass eine Betrachtung der Normallage als Durchschnittswert der letzten Jahre dazu führen würde, dass die Normallage zu einer Ideallage würde und „praktisch in jedem Jahr entweder eine konjunkturbegründete Verschuldung möglich wäre oder Haushaltsüberschüsse erzielt werden müssten“238. Doch muss die praktische Konsequenz dieser Theorie bedacht werden: Gemäß Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG sind nur die von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklungen bei der Haushaltsaufstellung zu berücksichtigen. Man stelle sich nun den Fall vor, dass in neun von zehn Jahren eine Normallage nach Ansicht von Lenz/Burgbacher mit einem Wirtschaftswachstum von etwa ein bis zwei Prozent gegeben ist, während in einem Jahr ein Negativwachstum von vier Prozent zu verzeichnen ist. Unzweifelhaft wird der Konjunktureinbruch zu berücksichtigen sein, sodass in dem einen Jahr die Möglichkeit der Verschuldung besteht. Doch wann soll diese Verschuldung abgetragen werden, wenn nicht in den anderen neun Jahren der „Normallage“? Fazit: Meint man es ernst mit der antizyklischen Haushaltspolitik, die der klare Wortlaut des Art. 109 Abs. 3 S. 3, Art. 115 Abs. 2 S. 3 GG fordert („symmetrisch“), kann es sich nur um eine gedachte „Normallage“ handeln. Zur Bestimmung der „Normallage“ muss, 234 Vgl. oben unter C. I. 3. b) aa); a. A. Korioth, JZ 2009, 729 (732), der keine Überlegenheit gegenüber der Formel des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ annimmt. 235 Reimer, in: Epping/Hillgruber, Art. 109, Rn. 59, 72 und 73; für einen zumindest „annähernden“ Ausgleich Christ, NVwZ 2009, 1334 (1334). 236 Korioth, JZ 2009, 729 (732). 237 Korioth, JZ 2009, 729 (732). 238 Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2563).
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trotz der Ungewissheit zukünftiger Konjunkturverläufe, ein „realitätsgerechter Medianwert“239 ermittelt werden. Das ist entgegen dem geschilderten Einwand auch nicht unpraktikabel, da Abweichungen auf einem Kontrollkonto240 zu erfassen sind. Ohnehin geht der Gesetzgeber bei der Haushaltsaufstellung zunächst von einer Konjunkturprognose aus, da die tatsächliche Entwicklung zu diesem Zeitpunkt noch unbekannt ist. Eine Überschreitung der Soll-Kreditaufnahme im Haushalsvollzug macht diese also nicht per se unzulässig oder verfassungswidrig, sondern die Verfassung setzt ein solches, wenngleich nicht absichtlich herbeizuführendes, Vorgehen gerade voraus241. Es ergibt sich also aus der hier vertretenen Interpretation der „Normallage“ keineswegs das Erfordernis, den Haushalt eines Jahres „auf den Cent genau“ der konjunkturellen Entwicklung anzupassen. Nur ein Verständnis der „Normallage“ als Mittelwert über einen Referenzzeitraum entspricht letztlich der gesetzgeberischen Intention, dass sich konjunkturelle Überschüsse und Defizite ausgleichen sollen242. Realistischerweise wird mittlerweile nur noch ein sehr geringes Wachstum (< 1%) oder sogar ein Nullwachstum als der Normallage entsprechend zu Grunde zu legen sein. Die bisherige Finanzplanung ging hingegen unzutreffenderweise von einem nicht zu erzielenden „Endloswachstum“ aus. Auf dieser Basis wurden neue Ansprüche an den Sozialstaat geschaffen und die steigende Staatsverschuldung beschlossen. Beispielsweise beruht der europarechtliche Referenzwert von 3% jährlicher Neuverschuldung auf der Annahme, dass bei 5% (!) Wirtschaftswachstum jährlich der Schuldenstand konstant bei 60% des BIP bliebe. Eine solch hohe Wachstumserwartung ist indes für Deutschland derzeit unrealistisch. Rechnet man die stets steigenden Staatsausgaben aus dem BIP heraus, so ergibt sich spätestens seit den 1980er Jahren kaum noch ein reales Wirtschaftswachstum.243 Wie gezeigt, kann der Begriff der „Normallage“ durch das Erfordernis der „symmetrischen Berücksichtigung“ von konjunkturellen Entwicklungen zutreffend nur als „rechnerische Normallage“ verstanden werden. Um extensiven Auslegungsversuchen, wie dem vorliegend geschilderten, vorzubeugen, empfiehlt sich hier jedoch eine Klarstellung. 239
Seiler, JZ 2009, 721 (724). Vgl. für den Bund Art. 115 Abs. 2 S. 4 GG, sowie die einfachgesetzliche Regelung in § 7 G 115. 241 Schmidt, DVBl 2009, 1274 (1280). 242 BT-Drs. 16/12410, S. 7 und 11; Seiler, JZ 2009, 721 (724): „teleologischer Leitgedanke“; Schmidt, DVBl 2009, 1274 (1279) in Fn. 25. 243 Zum Ganzen Steingart, Deutschland, Der Abstieg eines Superstars, S. 119 bis 134 sowie 210 f.; äußerst kritisch zur Wachstumsorientierung Miegel, Exit, Wohlstand ohne Wachstum, insbesondere S. 11 ff., S. 38 ff. und S. 159 ff. 240
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bb) Strukturelle Verschuldungskomponente Der Umfang der strukturellen Verschuldungsmöglichkeit könnte präziser kaum formuliert sein244: 0,35% des BIP lautet die Grenze für den Bund. Maßgeblich ist nach einfachgesetzlicher Festlegung das nominale BIP des der Aufstellung des Haushalts vorangegangenen Jahres, ermittelt durch das Statistische Bundesamt245. Als äußerst nachteilig ist es jedoch anzusehen, dass für den strukturellen Teil der Verschuldung eine Tilgungsregelung nicht vorgesehen ist. Damit ist es weiterhin möglich, den Schuldensockel jährlich um ca. 8,75 Mrd. EUR zu erhöhen246. Die äußerste Grenze der Gesamtverschuldung bildet damit nach wie vor die europarechtliche Beschränkung auf 60% des BIP. Somit ist auf lange Sicht das Problem der sich akkumulierenden Gesamtverschuldung und der damit ständig steigenden Zinsverpflichtungen zwar erheblich verringert, aber nicht gelöst worden. Wie stark der hierdurch zu erwartende Anstieg des Schuldenstands in Relation zum BIP sein wird, hängt maßgeblich von der wirtschaftlichen Entwicklung ab. Ergibt sich im Mittel eine Wachstumsrate oberhalb von 0,35%, so verbessert sich die Relation sogar: Dann – aber auch nur dann! – kann trotz jährlicher Ausschöpfung der Strukturkomponente der Schuldenstand sinken247. Ist das Wachstum jedoch geringer, so ermöglicht die strukturelle Verschuldungskomponente isoliert betrachtet einen weiteren Anstieg der Schuldenstandsquote. cc) Ausnahmeregelung für Notsituationen Die tatbestandliche Bestimmtheit der Klausel für Notsituationen fällt, schon naturgemäß, gering aus248. Es gibt eben keine andere Möglichkeit zur Gewährleistung der Reaktionsfähigkeit des Staates in Notsituationen, als die Verfassung insoweit offen zu halten249. Die Begriffe „Not“ bzw. 244 Vgl. Reimer, in: Epping/Hillgruber, Art. 109, Rn. 8: „Auslegungsgenauigkeit auf die zweite Nachkommastelle“. 245 § 2 G 115 v. 10.08.2009, BGBl. I, S. 2702 (2704). 246 Eigene Berechnung anhand des BIP in Höhe von 2.492 Mrd. EUR im Jahr 2008, vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch 2009, S. 643. Ähnliche Berechnung bei Meyer, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009 (knapp 10 Mrd. EUR); Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1260): 8,7 Mrd. EUR; Christ, NVwZ 2009, 1333 (1339): 8,5 Mrd. EUR. 247 Christ, NVwZ 2009, 1333 (1333). 248 Seiler, JZ 2009, 721 (726). 249 Seiler, JZ 2009, 721 (726); BT-Drs. 16/12410, S. 11; im Ergebnis unter strengen Voraussetzungen befürwortend F. Kirchhof, Wege aus der Staatsverschuldung, in: P. Kirchhof/Lehner/Raupach/Rodi (Hrsg.), FS Klaus Vogel, S. 241 (251).
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„Katastrophe“ machen hinreichend deutlich, dass diese Verfassungsvorschrift eine äußerst einschränkende Auslegung gebietet250. Gewisse Unglücksfälle mögen zwar je für sich plötzlich und unerwartet auftreten, sind aber in regelmäßigen Abständen zu erwarten und daher als normales Haushaltsrisiko einzuschätzen. Demnach sind Krisen und Unglücksfälle, insbesondere Naturkatastrophen wie Sturmfluten und Windschäden, soweit sie nicht ein extremes Ausmaß erreichen, ohne Inanspruchnahme der Notsituationsklausel nach Assekuranzgrundsätzen in die Haushaltsplanung einzubeziehen251. Eine gelegentlich angesprochene Überschneidung zwischen der konjunkturellen Verschuldung und der Ausnahmeregelung für Notsituation stellt die gegenwärtige252 Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise dar. Es handele sich nicht um eine übliche Konjunkturschwankung, sondern um die unmittelbare Folge eines massiven Vertrauensverlustes auf den Kreditmärkten; angesichts der globalen Vernetzung der Bankensysteme habe die Krise auch nicht allein durch Bemühungen des Bundes verhindert werden können253. Andererseits hat die Finanzkrise auch zu einem Konjunktureinbruch geführt, sodass Mindereinnahmen und einige Mehrausgaben, beispielsweise verursacht durch höhere Arbeitslosigkeit, ohnehin durch die Konjunkturklausel abgedeckt sind (nicht hingegen aktive Maßnahmen zur Konjunkturförderung). Einige Autoren wollen deshalb bei der Anwendung der Ausnahmeklausel einen politischen Ermessensspielraum zugestehen254. Für das hiesige Erkenntnisziel kann festgehalten werden, dass sich im Ergebnis kein Unterschied daraus ergibt, ob der Gesetzgeber sich zur Bekämpfung einer Krise auf die Konjunkturklausel oder die Ausnahmeregelung für Notsituationen stützt: Im einen Fall fließen die Ausgaben mit in die Berechnung der Konjunkturkomponente ein und werden also langfristig ausgeglichen; im anderen Fall besteht eine Tilgungspflicht. Hinsichtlich zusätzlicher Maßnahmen verbleibt es jedenfalls bei der Pflicht zur restriktiven Handhabung255. Positiv im Hinblick auf die Vermeidung eines weiter anwachsenden Gesamtschuldenstandes fällt die vorgesehene Tilgungspflicht für Kreditaufnahmen nach der Notsituationsklausel ins Gewicht. Nachteilig ist hingegen, dass die Tilgungspflicht zeitlich äußerst unbestimmt ausfällt („binnen eines 250
Für enge Auslegung Thiele, NdsVBl 2010, 89 (90). Beispielsweise durch die Bildung von Entschädigungsfonds, zu alledem F. Kirchhof, Wege aus der Staatsverschuldung, in: P. Kirchhof/Lehner/Raupach/ Rodi (Hrsg.), FS Klaus Vogel, S. 241 (251). 252 Seit Mitte 2008. 253 Christ, NVwZ 2009, 1333 (1336); Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2564); BT-Drs. 16/12410, S. 11. 254 Christ, NVwZ 2009, 1333 (1336); Ohler, DVBl 2009, 1265 (1272). 255 Vgl. Seiler, JZ 2009, 721 (726). 251
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
angemessenen Zeitraumes“, Art. 115 Abs. 2 S. 8 GG). Um hier einer Lastenverlagerung in die ferne Zukunft entgegen zu wirken, ist eine präzisere Formulierung zu wählen256. b) Vermeidung prozyklischen Verhaltens Wie oben festgestellt, darf die Anwendung eines Schuldenbegrenzungskonzepts nicht im Widerspruch zur konjunkturellen Entwicklung stehen. Dabei muss, anders als durch die Maastricht-Kriterien, die konjunkturelle Entwicklung zunächst überhaupt berücksichtigt werden (oben These 11)257. Weiterhin muss sichergestellt werden, dass bei der Anwendung, anders als bei der Regel des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“, das Verbot prozyklischen Verhaltens eingehalten wird (oben These 4)258. Hinsichtlich der strukturellen Verschuldungskomponente in Höhe von 0,35% des BIP wird das Problem nicht gelöst. Die Kreditaufnahme kann völlig unabhängig vom Konjunkturverlauf, also azyklisch259, erfolgen. Selbst in konjunkturell guten Zeiten kann eine Verrechnung von Konjunkturkomponente und struktureller Komponente per Saldo noch zu einer Nettokreditaufnahme führen. Tappe bemerkt zutreffend, dass durch die Koppelung der Verschuldungsmöglichkeit an das BIP des Vorjahres ausgerechnet in konjunkturell guten Zeiten (steigendes BIP) der Spielraum für die Verschuldung sogar wächst260, mithin ein prozyklisches Verhalten ermöglicht wird. Zwar fällt die prozyklische Erhöhung der Verschuldungsmöglichkeit bei Raten des Wirtschaftswachstums, die kaum mehr über 2% steigen, relativ gering aus. Schon das Bestehen der azyklischen Verschuldungsmöglichkeit wird jedoch dem Konjunkturverlauf nicht gerecht. Positiv zu vermerken ist insoweit lediglich, dass durch die Trennung in eine konjunkturelle und eine strukturelle Verschuldungskomponente das Ausmaß der strukturellen Verschuldung in wirtschaftlich guten Jahren im Vergleich zur bisherigen Rechtslage stark eingeschränkt wurde. Hinsichtlich der konjunkturellen Verschuldungskomponente wird das Problem durch die im Auf- und Abschwung symmetrische Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung behoben. Im Idealfall stellt der Haushaltsüberschuss im Aufschwung das Spiegelbild des Haushaltsdefizits in der Rezession dar. Zwar gleichen die Konjunkturverläufe nicht dem Idealbild ei256 257 258 259 260
Kritik bei Seiler, JZ 2009, 721 (726); Korioth, JZ 2009, 709 (733). Oben unter C. VI. Vgl. oben unter C. VI. Begriff bei Meyer, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 2. Tappe, DÖV 2009, 881 (890).
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ner Sinuskurve, jedoch wird sich mittel- und langfristig in etwa ein Ausgleich erzielen lassen. Ein prozyklisches Verhalten ergibt sich nicht, soweit dieser Konzeption gefolgt wird. Durch die präzise Bestimmbarkeit der Konjunkturkomponente mittels Berechnung der Produktionslücke ist eine Umgehung durch floskelartige Begründungen, wie sie das vage Konzept vom „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht“ ermöglicht hat, unwahrscheinlich. Die Kreditaufnahme in Notsituationen und Naturkatastrophen tritt, vom Ausnahmefall der schweren Wirtschaftskrise einmal abgesehen, definitionsgemäß unabhängig von der konjunkturellen Entwicklung ein und kann daher nicht berücksichtigt werden. Im Ergebnis trifft die konjunkturelle Komponente der neuen Schuldenbremse angemessene Regelungen zur Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung, die strukturelle Komponente dagegen nicht. c) Sondervermögen Die Möglichkeit der Einrichtung von Sondervermögen unter Befreiung von den Verschuldungsgrenzen der Art. 109, 115 GG wurde für die Zukunft ersatzlos abgeschafft. Damit wurde eine höchst problematische Möglichkeit, die Schuldenschranken zu umgehen und das Ausmaß der Verschuldung zu verschleiern (oben These 6), beseitigt261. Eine Einschränkung besteht allerdings darin, dass gemäß der Übergangsregelung in Art. 143 d Abs. 1 S. 1 GG die Kreditermächtigungen für am 31. Dezember 2010 bereits eingerichtete Sondervermögen unberührt bleiben. Kritiker fordern daher eine Ausweitung auf bisherige Sondervermögen oder zumindest eine zeitliche Begrenzung ihrer Kreditaufnahmemöglichkeit262. Da jedoch ab 2011 eine Erweiterung der Verschuldung über die bereits beschlossenen Kreditermächtigungen hinaus nicht mehr stattfinden kann, wird wahrscheinlich früher oder später eine Eingliederung der Sondervermögen in den Bundeshaushalt erfolgen, wie dies in der Vergangenheit auch praktiziert wurde263. Das Problem ist daher mit der Abschaffung der Verschuldungsmöglichkeit für Sondervermögen für die hiesige Fragestellung nach einer effektiven Schuldenbremse als gelöst anzusehen.
261 Vgl. oben unter C. VI.; positive Bewertung auch bei Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1260 f.); Waldhoff/Dieterich, ZG 2009, 97 (112). 262 Korioth, JZ 2009, 729 (733). 263 Vgl. unter C. I. 4. d).
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d) Mangel an Initiatoren eines Kontrollverfahrens Nicht gelöst wurde mit der Neuregelung das Problem, dass es nur wenige Antragsberechtigte eines Normenkontrollverfahrens (Bundesregierung, nunmehr ein Viertel der Mitglieder des Bundestags, Landesregierung) gegen das Haushaltsgesetz gibt, die zudem häufig geringes Interesse an dessen gerichtlicher Überprüfung haben (oben These 7)264. Möglichkeiten zur Effektivierung des Rechtsschutzes sind daher im nächsten Kapitel zu diskutieren. e) Mangel an Wiedergutmachung bei Verletzung Festgestellt wurde, dass die einzige Sanktionswirkung nach alter Rechtslage in der Feststellung der Rechtswidrigkeit des Haushaltsgesetzes durch das BVerfG besteht. Hierdurch wird jedoch der verfassungswidrig entstandene Schuldenstand nicht beseitigt, es fehlt also eine „konstruktive Sanktion“ (oben These 8)265. Zudem wurden Abweichungen im Haushaltsvollzug nicht erfasst (oben These 5)266. Die neue Schuldenbremse enthält zwei Instrumente, die zur Vermeidung bzw. Verringerung verfassungswidriger Schuldenstände beitragen können, nämlich das Kontrollkonto und die Einrichtung eines Stabilitätsrates. Sie sind auf ihre Effektivität hin zu untersuchen. aa) Kontrollkonto Gemäß Art. 115 Abs. 2 S. 4 GG werden Abweichungen der tatsächlichen Kreditaufnahme von der nach der strukturellen und konjunkturellen Verschuldungskomponente zulässigen Kreditobergrenze auf einem Kontrollkonto erfasst; Belastungen, die den Schwellenwert von 1,5 Prozent vom nominalen BIP überschreiten, sind konjunkturgerecht zurückzuführen. Hierdurch soll sichergestellt werden, „dass die neue Schuldenregel nicht nur die Aufstellung des Bundeshaushalts erfasst, sondern darüber hinaus auch dessen Vollzug“267. Als Grund für eine mögliche Über- oder Unterschreitung wird in den Gesetzgebungsmaterialien explizit der Fall benannt, dass die 264 C. VI. 7; auf die Ausführungen unter C. I. 7. b) („Individualrechtsblindheit“) wird verwiesen. So auch Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2566); Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, S. 395. 265 Unter C. VI. 266 Unter C. VI. 267 BT-Drs. 16/12410, S. 12.
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konjunkturelle Entwicklung anders verläuft als bei der Haushaltsplanung angenommen268. Dieser Fall ist nicht ungewöhnlich, denn die Schätzung der konjunkturellen Entwicklung kann deren durch unwägbare Faktoren beeinflusste tatsächliche Entwicklung naturgemäß nur unvollständig vorhersagen269. Unter „konjunkturgerechter“ Rückführung dürfte zu verstehen sein, dass diese nur in Jahren mit positiver Produktionslücke zu erfolgen hat. Erreicht der Stand des Kontrollkontos 1% des BIP, so ist zudem einfachgesetzlich270 vorgesehen, dass sich die Kreditaufnahmemöglichkeit in Höhe von 0,35% des BIP um den überschießenden Betrag auf dem Kontrollkonto verringert. Auch diese Einschränkung wird nur in Jahren mit positiver Veränderung der Produktionslücke wirksam. Die Einführung des Kontrollkontos stellt im Hinblick auf die Erfassung des Haushaltsvollzugs einen Schritt in die richtige Richtung dar. Es bietet einen Anreiz, auch im Haushaltsvollzug die Verschuldungsgrenzen einzuhalten und von unrealistischen Annahmen bei der Haushaltsaufstellung abzusehen271. Allerdings fällt die Tilgungsregelung für Belastungen des Kontrollkontos zu unbestimmt und daher nur begrenzt effektiv aus: Erstens setzt eine Tilgungspflicht überhaupt erst ein, wenn der Wert von 1,5 Prozent des BIP überschritten ist. Theoretisch wäre es also für die Akteure möglich, zunächst diesen Spielraum auszuschöpfen, ohne sich um eine Tilgung bemühen zu müssen272. Im Hinblick auf die herausgearbeiteten polit-ökonomischen Anreizstrukturen stellt sich dieser Spielraum ohne Handlungsverpflichtung als ungünstig dar. Es erweist sich aus dieser Sicht nämlich als rational, das Kontrollkonto stets soweit als möglich belastet an die Nachfolgeregierung zu übergeben. Zweitens fällt die Tilgungsregel in zeitlicher Hinsicht zu unbestimmt aus273. Die Formulierung „sind konjunkturgerecht zurückzuführen“ grenzt lediglich negativ aus, dass in Zeiten der Rezession jedenfalls keine Tilgung zu erfolgen hat. In welchem Maße in konjunkturell günstigen Zeiten getilgt werden muss, regelt nicht einmal das Ausführungsgesetz274. 268
BT-Drs. 16/12410, S. 12 f. Schmidt, DVBl 2009, 1274 (1280). 270 § 7 Abs. 2 G 115; BGBl 2009 I, S. 2702 (2705). 271 Korioth, JZ 2009, 729 (733). 272 Ähnlich G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, S. 593. 273 Korioth, JZ 2009, 729 (732); G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, S. 593. 274 § 7 Abs. 2 G 115; BGBl 2009 I, S. 2702 (2705). 269
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Drittens besteht ein Widerspruch zwischen Belastung und Ausgleich des Kontrollkontos. Bei den Belastungen des Kontrollkontos handelt es sich immer um Verschuldung struktureller Natur, da es eine Überschreitung als „konjunkturbegründete Verschuldung“ definitionsgemäß nicht geben kann. Der maßgebliche Konjunkturwert wird vielmehr ex post verbindlich berechnet; dessen Überschreitung auf der Basis einer Schätzung bei Aufstellung des Haushalts stellt sich damit als nicht erforderlich zum Wirkenlassen der automatischen Stabilisatoren und damit als strukturell dar275. Die Tilgung dieser nicht konjunkturell bedingt erhöhten Verschuldung soll nun aber lediglich in konjunkturell guten Zeiten erfolgen dürfen. Es fehlt also hier an einem logischen Zusammenhang; zudem führt die Regelung zu überproportionalen Belastungen bei guter konjunktureller Situation, da in dieser Lage bereits die konjunkturellen Defizite auszugleichen sind. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass die Einrichtung eines Kontrollkontos den durchaus positiven Ansatz enthält, dass erstmals Abweichungen von der zulässigen Kreditaufnahme auch zurückgeführt werden müssen. Die getroffenen Regeln erreichen jedoch nicht das wünschenswerte Maß an Effektivität und sind daher zu verbessern. bb) Stabilitätsrat Ein weiteres Instrument zur Einwirkung auf den Gesamtschuldenstand stellt der Stabilitätsrat dar. Dieser überwacht gemäß Art. 109 a GG, § 2 StabiRatG276 fortlaufend die Haushaltswirtschaft von Bund und Ländern und führt Sanierungsverfahren durch. Das Gremium besteht aus Vertretern von Bund und Ländern, nämlich dem Bundesminister der Finanzen, den Finanzministern der Länder sowie dem Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, § 1 StabiRatG. Zur Haushaltsüberwachung legt der Stabilitätsrat allgemein geltende Kennziffern und Schwellenwerte fest, deren Überschreitung auf eine drohende Haushaltsnotlage hinweisen kann, § 3 Abs. 2, § 4 StabiRatG. Erst wenn der Bund oder ein Land darauf hinweist, dass für den zu verantwortenden Haushalt eine Notlage droht, oder die Mehrzahl der Kennziffern oder Schwellenwerte überschritten wird, leitet der Stabilitätsrat die Prüfung ein, ob bei der jeweiligen Gebietskörperschaft eine Haushaltsnotlage droht (§ 4 Abs. 2 StabiRatG). Nur für den Fall, dass der Stabilitätsrat eine drohende Haushaltsnotlage feststellt, vereinbart er mit dem Bund oder dem betroffenen Land ein Sanierungsprogramm (§ 5 Abs. 1 StabiRatG). Kritisch 275 276
Schmidt, DVBl 2009, 1274 (1281). BGBl. 2009 I, 2702.
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ist anzumerken, dass der Stabilitätsrat lediglich Sanierungsvereinbarungen treffen kann, aber über keinerlei Mittel zu deren Durchsetzung verfügt277. Das Ziel des Stabilitätsrates besteht also in erster Linie darin, eine drohende Haushaltsnotlage abzuwenden, also eine Finanzlage, in der sich die betroffene Gebietskörperschaft nicht mehr aus eigener Kraft aus der Verschuldung zu befreien vermag. Dahinter steht die Absicht, eine sonst eventuell notwendig werdende Haftung der bundesstaatlichen Gemeinschaft zu vermeiden278. Der Stabilitätsrat wird also erst dann „schadensbegrenzend“ tätig, wenn die Verschuldung der betreffenden Gebietskörperschaft schon ein bedrohliches Ausmaß erreicht hat. Es handelt sich zwar um ein „Frühwarnsystem“ vor Haushaltsnotlagen279, um den Zusammenbruch des Staates zu vermeiden, nicht aber um ein „Frühwarnsystem“ vor deutlich erhöhten Schuldenständen. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es jedoch, eine „schadensvorbeugende“ Schuldenbremse zu entwickeln, die den Eintritt schon dieser bedrohlichen Stufe der Verschuldung vermeidet. Der Stabilitätsrat hat insoweit einen nachgelagerten Wirkbereich und kann daher für die weitere Untersuchung außer Betracht bleiben. cc) Zwischenergebnis Das Konzept des Kontrollkontos verfolgt den begrüßenswerten Ansatz, Abweichungen der Ist-Verschuldung von der (maximalen) Soll-Verschuldung auch im Haushaltsvollzug zu erfassen und dafür eine Rückzahlungspflicht zu begründen. Die Ausgestaltung der Rückzahlungspflicht ist indes zu optimieren. Der Aufgabenbereich des Stabilitätsrates hingegen beschränkt sich auf den Spezialfall einer drohenden Haushaltsnotlage einer Gebietskörperschaft und trägt daher bei nicht existenzbedrohlichen Schuldenständen nicht zu deren Verringerung bei.
277 Korioth, JZ 2009, 729 (735): Das Konzept werde „leerlaufen“; Kemmler, DÖV 2009, 549 (552): „bloße Warnung ohne finanzwirksame Konsequenzen“; a. A. Schmidt, DVBl 2009, 1274 (1284 f.): Zwar „keine echten Sanktionsmöglichkeiten“, aber öffentlicher Druck durch Transparenz in Folge der Veröffentlichung von Beschlüssen und Beratungsunterlagen des Stabilitätsrats. 278 Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1258). Wenngleich nach dem Berlin-Urteil des BVerfG jede Gebietskörperschaft grundsätzlich selbst für die Folgen einer verfehlten Finanzpolitik einzustehen hat, so sind Hilfen der bundesstaatlichen Gemeinschaft im Falle der Existenzbedrohung nach wie vor als ultima ratio zulässig. BVerfG, Urt. v. 19.10.2006 – 2 BvF 3/03, BVerfGE 116 (327). 279 Kemmler, DÖV 2009, 549 (552).
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f) Antizipation polit-ökonomischer Fehlanreize Fraglich ist, inwieweit die neue Schuldenbremse in der Lage ist, den polit-ökonomischen Fehlanreize zur Lastenverschiebung auf zukünftige Regierungen und Generationen (oben These 12)280 entgegen zu wirken. aa) Konjunkturelle Verschuldungsmöglichkeit Hinsichtlich der konjunkturellen Verschuldungsmöglichkeit setzt die Verfassung durch die Anknüpfung an eine Unter- oder Überauslastung des Produktionspotentials enge Grenzen. Die zulässige Gesamtverschuldung lässt sich anhand einer Formel berechnen. Hierdurch wird einer extensiven Auslegung der Boden entzogen. Da es nach der hier vertretenen Ansicht schlicht an einem Interpretationsspielraum fehlt, können sich in diesem Bereich polit-ökonomische Fehlanreize nicht auswirken. bb) Verschuldungsmöglichkeit in Notsituationen Schwieriger gestaltet sich die Eindämmung von Fehlanreizen im Hinblick auf die Zulässigkeit der Kreditaufnahme in Notsituationen. Hier besteht ein Spannungsverhältnis zwischen der notwendigen Offenheit der Verfassung einerseits und der Notwendigkeit zu deren Begrenzung zwecks Verhinderung von Missbrauch andererseits. Die Lösung des Problems kann nur darin bestehen, Formulierungen zu wählen, die die Absicht einer äußerst restriktiven Auslegung erkennen lassen. Die Wortwahl „Katastrophe“ und „Notsituation“ macht dies hinreichend deutlich. Allein die weiche Tilgungsregelung („angemessener Zeitraum“) erweist sich hier als ungünstig, da sie dazu verleitet, die Tilgung möglichst weit in die Zukunft zu verlagern. cc) Strukturelle Verschuldungsmöglichkeit und Kontrollkonto Besonders ungünstig im Hinblick auf polit-ökonomische Fehlanreize zur Verschuldung ist die strukturelle Verschuldungskomponente zu bewerten. Zwar ist in quantitativer Hinsicht eine Eingrenzung dieser Verschuldungsmöglichkeit auf 0,35% des BIP erfolgt, was eine Verbesserung gegenüber der bisherigen Rechtslage darstellt. In qualitativer Hinsicht stellt sich die Einführung dieser Regelung jedoch aus polit-ökonomischer Sicht als Verschlechterung dar: War der Haushaltsgesetzgeber vorher inhaltlich 280
Unter C. VI.
III. Zweckmäßigkeit der getroffenen Regelungen
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darauf beschränkt, die Kreditaufnahme für Investitionen zu verwenden, so unterliegt er jetzt insoweit keinerlei Einschränkung mehr. Die Kreditaufnahme kann also theoretisch sogar vollständig für konsumtive Zwecke verwendet werden281. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass in der Summe nicht zumindest die der bisherigen Staatspraxis zu Grunde liegenden Bruttoinvestitionen erreicht werden, da der Staat hierzu praktisch selbst Erhaltungsinvestitionen unterlassen müsste. Wenn auch eine Verschlechterung gegenüber der bisherigen Haushaltspraxis nicht zu erwarten ist, so sind damit eine wünschenswerte Verbesserungen noch nicht erreicht282, nämlich eine Beschränkung der Kreditaufnahme auf die wirklich zukunftsbegünstigenden Nettoinvestitionen283, oder, besser, der Verzicht auf ein strukturelles Defizit. Die Erfahrungen mit der alten Schuldenregel lassen keine andere Prognose zu, als dass es über einen längeren Zeitraum hinweg zu einer völligen Auslastung der Strukturkomponente kommen wird284. Zwar wird in den Gesetzgebungsmaterialien versichert, mit der Einräumung eines strukturellen Verschuldungsspielraums sei „keineswegs ein Automatismus beabsichtigt, diesen stets in der laufenden Haushaltsplanung auszunutzen“285. Jedoch enthält die Norm kein Instrumentarium, um genau das zu verhindern286. Hier drängt sich ein Vergleich mit der alten Schuldenregel auf: Auch nach der bisherigen Investitionssummengrenze war eine Verschuldung bis zu dieser Höhe zwar zulässig, aber keineswegs zwingend zu veranlassen. Trotzdem wurden regelmäßig Kredite aufgenommen, die in ihrer Höhe die jetzige Strukturkomponente bei weitem übersteigen. Zusätzlich ergibt sich ein „Automatismus“ zur Ausnutzung des Verschuldungsspielraumes durchaus von selbst durch das Zusammenwirken von Strukturkomponente und Kontrollkonto: Angenommen, das Kontrollkonto weist im Haushaltsjahr X eine Belastung von 10 Mrd. EUR auf. Unterschreitet nun der Gesetzgeber im Haushaltsjahr X+1 die zulässige strukturelle Verschuldung um 2,5 Mrd. EUR, so werden diese dem Kontrollkonto „gutgeschrieben“. Es weist dann nur noch eine Belastung von 7,5 Mrd. EUR auf. Faktisch sorgt das Kontrollkonto damit sogar für eine gleich281 Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1260); Korioth, JZ 2009, 729 (731); Häde, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 8. 282 Mit der begrüßenswerten Ausnahme, dass Privatisierungserlöse nunmehr wie Einnahmen aus Krediten zu werten sind, § 3 G 115, BGBl. 2009 I, 2702 (2704). Dazu Schmidt, DVBl 2009, 1274, 1279. 283 Ähnlich Korioth, JZ 2009, 729 (736). 284 So auch G. Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, S. 590; Waldhoff/Dieterich, ZG 2009, 97 (113). 285 BT-Drs. 16/12410, S. 6. 286 Meyer, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 8.
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
mäßige Verteilung der zulässigen strukturellen Verschuldung über die Haushaltsjahre. Darüber hinaus bietet die Erfassung der über dem zulässigen Maß liegenden Verschuldung auf dem Kontrollkonto ohne Tilgungsregelung bis zu 1,5% des BIP ohnehin einen Anreiz, das Konto eher belastet als entlastet an die nachfolgende Regierung zu übergeben287. dd) Zwischenergebnis Die konjunkturelle Verschuldungskomponente bietet keine polit-ökonomischen Fehlanreize. Nachteilig ist unter diesem Blickwinkel jedoch das Fehlen einer zeitlichen Bestimmung zur Tilgung von Krediten nach der Ausnahmeklausel, die Existenz einer voraussetzungslosen strukturellen Verschuldungsmöglichkeit an sich sowie die Möglichkeit, das Kontrollkonto bis 1,5% des BIP belastet an die Nachfolgeregierung zu übergeben. g) Systemkonformität Dem oben aufgestellten Erfordernis der Systemkonformität288, wonach mit einer niedrigen Autonomie in der Festlegung von Einnahmen und Ausgaben auch eine niedrige Autonomie in der Verschuldung einhergehen muss und umgekehrt, wird die neue Schuldenbremse gerecht. Während dem Bund die Gesetzgebungskompetenz über die Steuern zukommt, verfügt ausschließlich er auch über die Möglichkeit einer strukturellen Verschuldung mit dem Recht zur Stapelung. Die Länder sind entsprechend ihrer geringen Autonomie in der Festlegung von Einnahmen und Ausgaben mit keinem Recht zur strukturellen Verschuldung ausgestattet. Das Recht zur konjunkturellen Verschuldung passt sich in das System ein, da die Länder ihre Einnahmen zu großen Teilen aus denselben Steuerquellen beziehen wie der Bund und daher im Wesentlichen denselben konjunkturellen Schwankungen unterworfen sind. Selbstverständlich kann die Versagung der strukturellen Verschuldung nur Erfolg haben, wenn den Ländern anderweitig eine angemessene Finanzausstattung zur Verfügung steht289. Doch lässt sich daraus kein Argument ge287
Vgl. dazu die Darstellung oben unter D. III. 2. e) aa). Unter C. VI. 13. 289 Dies verneint Korioth, JZ 2009, 729 (732), mangels Einnahmenautonomie der Länder und hält daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Verbot der strukturellen Verschuldung für falsch. 288
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gen ein Verschuldungsverbot herleiten: Weichen die Länder mangels anderweitiger Einnahmen in die Verschuldung aus, so wird das Finanzierungsproblem dadurch keineswegs gelöst, sondern nur verschoben. In welchem Ausmaß dies in der Vergangenheit stattgefunden hat, lässt sich an den signifikant hohen Schuldenständen einzelner Bundesländer ablesen. Die Schuldenbremse ist insofern gerade vorteilhaft: Sie wird dazu beitragen, dass Finanzierungslücken (oder das notwendige Maß übersteigende Ausgaben) offenbar werden und in die politische Diskussion eingebracht anstatt durch steigende Staatsverschuldung „versteckt“ werden. Die Schuldenbremse wird möglicherweise den Druck erhöhen, die föderale Aufgaben- und Ausgabenverteilung zu überarbeiten. Aus dem Blickwinkel der Systemkonformität ist dies eine geradezu wünschenswerte Folge. h) Vereinbarkeit mit europarechtlichen Anforderungen Weiterhin ist die Vereinbarkeit der neuen Schuldenregel mit den oben herausgearbeiteten290 Anforderungen des Europarechts zu untersuchen. Betrachtet man die Verschuldungsgrenze des Bundes isoliert – also vorbehaltlich der Koordination mit den Ländern und den Sozialversicherungsträgern – so ergeben sich folgende Anhaltspunkte: Die Strukturkomponente des Bundes in Höhe von 0,35% des BIP kann nicht zu einer Überschreitung der europäischen 3%-Grenze führen. Denkbar wäre indes ein Überschreiten des zulässigen Schuldenstands in Höhe von 60% des BIP, wenn kein nominales Wirtschaftswachstum gegeben ist und die Kreditaufnahme in Höhe von 0,35% somit zu einem Anwachsen des Gesamtschuldenstands führt. Eine noch weitaus größere Verschuldung kann sich in Abschwungphasen ergeben. Hier können strukturelle und konjunkturelle Verschuldung kumulativ leicht die Grenzen von 3% des BIP (jährlich) bzw. 60% des BIP (Gesamtschuldenstand) überschreiten. Fällt der Abschwung gravierend aus, so dürfte jedoch auch aus europarechtlicher Perspektive das Merkmal des „schwerwiegenden Wirtschaftsabschwungs“ erfüllt sein, sodass insoweit auch eine „ausnahmsweise und vorübergehende“ Überschreitung der Defizitkriterien zulässig wäre291. Die Klausel für Notsituationen setzt voraus, dass sich ein Ereignis der Kontrolle des Staates entzieht und stellt daher eine Anpassung an Art. 2 290 291
Vgl. oben unter C. IV. Vgl. oben unter C. IV. 3. b).
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D. Das Konzept der Föderalismusreform II
Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates vom 07.07.1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit292 her, die ebenfalls voraussetzt, dass das Defizit auf ein Ereignis zurückzuführen ist, „das sich der Kontrolle des betreffenden Mitgliedsstaats entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt“. Insoweit ist ein Konflikt wegen des Gleichklangs der Konzepte nicht zu erwarten. Im Wesentlichen dürften also bei Einhaltung der nationalen Schuldenbremse zugleich auch die Voraussetzungen der europäischen Defizitkriterien erfüllt sein. Als problematisch kann sich die Strukturkomponente erweisen, die bei anhaltend schlechter Konjunktur zu einem Anwachsen des Schuldenstands über die 60%-Hürde führen kann. Der Bundesgesetzgeber muss nach derzeitiger Rechtslage die europarechtlichen Vorgaben kumulativ beachten, um sich nicht dem Risiko eines Vertragsverletzungsverfahrens auszusetzen. i) Zusammenfassung der Ergebnisse für den Bund Die neue Schuldenbremse stellt gegenüber der bisherigen Rechtslage eine Verbesserung dar293: Die konjunkturelle Entwicklung wird in Anbetracht der konjunkturellen Verschuldungskomponente stärker als bisher berücksichtigt. Zu begrüßen ist die Kontrolle des Haushaltsvollzugs mithilfe eines Kontrollkontos, welches die Rückführung einer das zulässige Maß überschreitenden Ist-Kreditaufnahme vorsieht. Folgende Probleme wurden durch die Föderalismusreform II jedoch nicht oder nur teilweise gelöst: 1. Durch die strukturelle Verschuldungskomponente wird nach wie vor eine azyklische Verschuldung mit dem Recht zur „Stapelung“ ermöglicht. Damit ist je nach konjunktureller Entwicklung die Gefahr einer Ausweitung des Schuldenstands verbunden; zudem ergeben sich polit-ökonomische Fehlanreize. 2. Der Begriff der „Normallage“ sollte zur Vermeidung einer extensiven Auslegung hinweggelassen werden, denn die Formulierung „symmetrisch“ unterstreicht bereits, dass der Haushalt langfristig ausgeglichen werden muss. Alternativ wäre eine präzisere Formulierung zu wählen, beispielsweise „rechnerische Normallage“. 292
ABl. 1997 Nr. L 209/6. So auch Christ, NVwZ 2009, 1333 (1339); Ohler, DVBl 2009, 1265 (1274); Seiler, JZ 2009, 721 (728); Schmidt, DVBl 2009, 1274 (1288); Buscher, Der Bundesstaat in Zeiten der Finanzkrise, S. 369; a. A. Selmer, NVwZ 2009, 1255 (1261); Korioth, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band III, § 44, Rn. 50a, S. 122: „keine Besserung“; ambivalent Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, S. 355 ff.; S. 411. 293
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3. Die Sanktionswirkung des Kontrollkontos ist zu optimieren. Es bietet den Fehlanreiz, „belastet“ an die nachfolgende Regierung übergeben zu werden. 4. Nach wie vor mangelt es an potentiellen Initiatoren eines verfassungsgerichtlichen Kontrollverfahrens. 5. Die Tilgungsregelung hinsichtlich der Verschuldungsmöglichkeit in Ausnahmesituationen fällt zu unbestimmt aus. 3. Bewertung der inhaltlichen Ausgestaltung für die Länder Die Auswirkungen der Föderalismusreform II auf die Verschuldung der Länder können zunächst nur anhand der Rahmenregelung in Art. 109 GG erfolgen. Welche Regelungen die Länder in den Landesverfassungen treffen werden, bleibt abzuwarten. Der wesentliche Unterschied zur Bundesregelung besteht darin, dass den Ländern eine strukturelle Verschuldungsmöglichkeit nicht zusteht. Dadurch ist es den Ländern nicht möglich, azyklisch zu agieren sowie auf lange Sicht den Schuldenstand auszuweiten. Insoweit entfallen dann auch politökonomische Fehlanreize. Zugleich wurden Fehlanreize zur Verschuldung auf Kosten der bundesstaatlichen Gemeinschaft minimiert: Angesichts des Fehlens einer strukturellen Verschuldungsmöglichkeit besteht schon keine Rechtsgrundlage hierfür. Zudem müssen betroffene Länder angesichts der Einrichtung des Stabilitätsrates damit rechnen, durch die Vereinbarung eines Sanierungsprogramms für die Folgen einer verfehlten Finanzpolitik selbst in Anspruch genommen zu werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich das Konzept der strukturellen Nullverschuldung aus polit-ökonomischer Sicht als bedeutend besser erweist. Im Übrigen bestehen – vorbehaltlich anderweitiger Regelungen in den Landesverfassungen – dieselben hier vorgeschlagenen Möglichkeiten zur Optimierung der Schuldenbremse wie auf Bundesebene.
E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung Die festgestellten Defizite der untersuchten Schuldenbegrenzungsregeln vor und nach der Föderalismusreform II gilt es nun ins Positive zu wenden, mithin die gewonnenen Erfahrungen für einen neuen Regelungsvorschlag nutzbar zu machen. Bevor Korrekturen sprachlicher Natur bei der Formulierung eines Regelungsvorschlags berücksichtigt werden1, gilt das Augenmerk zunächst jenen Problemen inhaltlicher Art, die auch durch die Föderalismusreform II nicht beseitigt wurden: Wie oben gezeigt werden konnte, bietet gerade die strukturelle Verschuldungskomponente nach wie vor den polit-ökonomischen Fehlanreiz zu ihrer „Auslastung“, die Sanktionswirkung des Kontrollkontos fällt sehr begrenzt aus und die Tilgungsregelung für die Kreditaufnahme in Notsituationen ist zu unbestimmt. Schließlich mangelt es nach wie vor an potentiellen Initiatoren eines gerichtlichen Kontrollverfahrens2.
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize Zunächst ist die Schuldenbremse so auszugestalten, dass polit-ökonomische Fehlanreize zu überhöhter Staatsverschuldung beseitigt werden. 1. Wegfall struktureller Verschuldung Hierbei ist zunächst die strukturelle Verschuldungskomponente in Höhe von 0,35% des BIP in den Blick zu nehmen. Wie bereits oben ausführlich dargelegt wurde3, lassen die Erfahrungen mit den alten Schuldenbegrenzungsregeln sowie das Zusammenwirken von struktureller Verschuldungskomponente und Kontrollkonto keinen anderen Schluss zu, als dass der strukturelle Verschuldungsspielraum stets ausgereizt werden wird und der Schuldenstand des Staates sich dadurch weiter erhöht. Die Strukturkomponente setzt geradezu einen Anreiz, den eröffneten Verschuldungsrahmen 1 2 3
Siehe unten unter F. Vgl. oben unter D. III. 2. d). Vgl. oben unter D. III. 2. f) cc).
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize
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auszuschöpfen4, wie es in der Bezeichnung als „Regelgrenze“ (Art. 115 Abs. 2 S. 5 GG) bereits anklingt. Betrachtet man das Ausmaß der Staatsverschuldung, welche seit nunmehr 40 Jahren ausschließlich eine Tendenz erkennen lässt – nämlich die zum Anstieg – so lässt sich vor dem Hintergrund steigender Belastung des Staatshaushalts durch Zinsen weitere strukturelle Verschuldung nicht mehr rechtfertigen. Bereits jetzt wendet der Bund 20% seiner Ausgaben für Zinsen auf – und damit inzwischen mehr als für Investitionen. Wenn schon oben im Hinblick auf den Investitionsbegriff festgestellt wurde, dass richtigerweise jede Generation die Ausgaben ihrer Zeit selbst tragen sollte, so muss die erst recht für nicht gebundene und daher potenziell konsumtive Ausgaben gelten. Es sind kaum Gründe vorstellbar, warum Ausgaben so einmalig und bedeutsam sein sollen, dass sie ausgerechnet über Kredit finanziert und damit die Lasten in zukünftige Haushaltsjahre verschoben werden müssten. All jene Dinge, die zur Rechtfertigung gern herausgestrichen werden – darauf hat Püttner bereits 1980 hingewiesen – treten regelmäßig erneut auf: Sei es der Ausbau des Bildungswesens oder die Bewältigung einer Energiekrise5. Gerade diese Beispiele könnten aktueller kaum sein; sie lesen sich, als seien sie der Tageszeitung entnommen und nicht einem vor 30 Jahren gehaltenen Vortrag. Jedem Ausgabenwunsch folgt stets ein weiter. Richtigerweise muss daher eine weitere Lastenverschiebung auf zukünftige Generationen unterbunden werden. Wird jedoch das Instrument der strukturellen Verschuldung nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte unkontrollierbar ausgenutzt, so lässt sich die Vermeidung der Lastenverschiebung letztlich nur auf einem einzigen Wege erreichen: Dem Verzicht auf jegliche strukturelle Verschuldung6. Eine neues Regelungskonzept muss mithin einen strukturell ausgeglichenen Haushalt vorsehen.
4
Kube, in: Maunz/Dürig, Lfg. 56, Oktober 2009, Art. 115, Rn. 144. Püttner, Staatsverschuldung als Rechtsproblem, S. 14. 6 Kube, in: Maunz/Dürig, Lfg. 56, Oktober 2009, Art. 115, Rn. 144 m. w. N.; Verzicht befürwortend in neuerer Zeit Pünder, DVBl 2008, 946 (949); F. Kirchhof, DVBl 2002, 1569 (1577); P. Kirchhof, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mußgnug, S. 131 (144 f.); Wolff, in: Brink/Wolff (Hrsg.), FS v. Arnim, S. 313 (322 f.); Fromme, ZRP 2007, 263 (263 ff.); Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler e. V. (Hrsg.), Schuldenverbot für Bund und Länder, S. 26; ganz dezidiert dasselbe, Staatsverschuldung und öffentliche Investitionen, S. 214 ff. (grundsätzliches Verbot der Kreditaufnahme). 5
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E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
2. Konkretisierung der Tilgungsregelung für Notkredite Weiterhin ist die Tilgungsregelung für die restriktiv zu interpretierende Kreditaufnahme in Notsituationen zu verbessern7. Die unkonkrete Formulierung „binnen eines angemessenen Zeitraums“ bietet andernfalls den Anreiz, unnötig lang gestreckte, weit in die Zukunft reichende Tilgungsphasen vorzusehen. Wie ebenfalls gezeigt wurde, lässt es die hier notwendige Offenheit der Verfassung nicht zu, starre Regelungen über die Tilgung zu treffen, da gerade auch in unvorhersehbaren Situationen die Handlungsfähigkeit des Staates gewahrt werden soll. Es besteht indes die Möglichkeit, zumindest zu normieren, dass die Tilgung „in der Regel binnen 5 Jahren“ zu erfolgen hat8. Damit ist es nicht ausgeschlossen, erforderlichenfalls auch eine längerfristige Tilgungsregelung vorzusehen. Eine solche Entscheidung würde jedoch immerhin begründungsbedürftig. Dies könnte dazu beitragen, die „Regelfrist“ nur in äußerst begründeten Fällen zu überschreiten; zusätzlich kann eine solche Klausel disziplinierend dahingehend wirken, die Notsituationsklausel wegen der zügigen Tilgungspflicht insgesamt nur restriktiv anzuwenden9. 3. Klare Rechtsfolge bei Verstoß: Steuerzuschlag Wie im Verlauf der Untersuchung gezeigt werden konnte, stellte sich nach dem Schuldenbegrenzungskonzept in seiner alten Fassung das Problem, dass eine „konstruktive Sanktion“ im Falle eines verfassungswidrigen Haushaltsgesetzes fehlte: Durch die Feststellung der Nichtigkeit durch das Bundesverfassungsgericht konnte ein etwa verfassungswidrig verursachter Schuldenstand nicht beseitigt werden; ebenso wenig wurde ein von der Haushaltsplanung abweichender Haushaltsvollzug erfasst. Dem ist die Föderalismusreform II mit dem (bereits deutlich effektiveren) Konzept eines Kontrollkontos entgegen getreten. Wie jedoch ebenfalls gezeigt werden konnte, besteht auch hier Optimierungsbedarf: Zunächst kann ein polit-ökonomischer Fehlanreiz bestehen, das Kontrollkonto mit der maximalen Belastung von 1,5% des BIP an die Nachfolgeregierung zu überge7
Vgl. oben unter D. III. 2. a) cc). Seiler, JZ 2009, 721 (726) in Fn. 39 erwägt eine solche Regelung einfachgesetzlich. 9 Erwägungen jeweils für die einfachgesetzliche Regelung bei Seiler, JZ 2009, 721 (726) in Fn. 39. 8
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize
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ben; zudem fällt die Tilgungsregelung, wonach Belastungen „konjunkturgerecht zurückzuführen“ sind, denkbar unbestimmt aus10. Die Untersuchung wendet sich daher einem Lösungsvorschlag zu, der beide Probleme gleichermaßen löst, nämlich der Einführung eines variablen Zuschlags zur Einkommenssteuer11 auf Verfassungsebene, welcher das überhöhte Defizit des Vorjahres ausgleicht. Hierdurch werden zunächst die Lasten der jeweiligen Haushaltsperiode den Wählern unmittelbar vor Augen geführt, sodass die Regierungspartei(en) unmittelbar die politischen Kosten ihrer Ausgabenentscheidungen zu tragen haben. Zusätzlich wird hierdurch ein etwaiges Defizit nicht lediglich als verfassungswidrig „erkannt“, sondern auch beseitigt. a) Lasten werden spürbar Die Einführung eines Steuerzuschlags sorgt konsequent dafür, dass eine echte strukturelle „Nullverschuldung“ kompromisslos in die Praxis umgesetzt wird. Sie verhindert damit, dass zwar strukturelle Nullverschuldung verfassungsrechtlich vorgesehen ist, aber durch Umgehungsmöglichkeiten und Ausgleichskonten doch nicht unmittelbar eingehalten wird. Der Haushaltsgesetzgeber ist damit wieder „periodengerecht“ verantwortlich, denn er muss auf jeden Fall mit den laufenden Einnahmen auskommen12: Sei es, dass er von vornherein den „ehrlichen“ Weg der Finanzierung sämtlicher Ausgaben durch Steuern und Abgaben wählt, oder sei es, dass der Steuerzuschlag letztlich die Steuerfinanzierung erzwingt. Der Staat leistet dann nur, was ihm aus Steuereinnahmen zur Verfügung steht. Dadurch wird der polit-ökonomische Fehlanreiz für politische Entscheidungsträger beseitigt, einerseits die Wiederwahl durch staatsfinanzierte Ausgabenprogramme zu sichern, andererseits aber die Kosten hierfür durch Kredite in die Zukunft zu verlagern. Wer ein Ausgabenprogramm oder eine Steuerentlastung beschließt, muss zugleich erklären, welche „Gegenfinanzierung“ hierfür vorgesehen ist. Dabei muss es sich keineswegs um weiter steigende Steuern und Abgaben handeln; auch die Verminderung von Sub10
Vgl. oben unter D. III. 2. e) aa). Für diese „automatische Sanktion“ Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 8 und 115 ff.; Feld, FAZ v. 05.01.2008, S. 13; Korioth, Wirtschaftsdienst 2008, 559 (561); Korioth, JZ 2009, 729 (735); für effektiveres Sanktionsregime Waldhoff/ Dieterich, ZG 2009, 97 (116). 12 Mit diesem Argument Verzicht auf Kreditaufnahme gefordert von F. Kirchhof, Wege aus der Staatsverschuldung, in: P. Kirchhof/Lehner/Raupach/Rodi (Hrsg.), FS Vogel, 241 (249). 11
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E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
ventionen und Transferzahlungen zu Gunsten anderer Ausgaben oder Entlastungen kommt in Betracht. Der gleiche Wirkmechanismus liegt dem Vorschlag von P. Kirchhof13 zu Grunde, Staatsverschuldung zwar zuzulassen, aber bei steigender Verschuldung sowohl sämtliche Gehälter bzw. Besoldung des öffentliches Dienstes ebenso wie Subventionen und Transferzahlungen an die Bürger zu kürzen, damit beide Gruppen zu „Sparkommissaren“ gegen steigende Staatsverschuldung würden. Allerdings kann diesem Vorschlag so nicht gefolgt werden, da hier Leistungen des Staates „global“ und damit im Einzelfall sachfremd gekürzt werden müssten. Dies wirft unübersehbare Folgeprobleme auf, etwa um das zu gewährleistende Existenzminimum im Sozialrecht ebenso wie um die Einschränkung der Leistungsverpflichtung im Rahmen von privatrechtlich geschlossenen Arbeitsverträgen mit Tarifbeschäftigten (Prinzip „Arbeit gegen vereinbarten Lohn“, nicht „Fürsorge gegen Treue“). Entscheidend ist jedoch der Grundgedanke, dass die Gegenfinanzierung als „persönlich spürbare Last“ in Erscheinung tritt. Mit dem politischen Nutzen von Staatsausgaben gehen nach dem hier favorisierten Modell entsprechende politische Kosten einher. Das Wählerinteresse ist dadurch nicht mehr einseitig auf eine Ausgabenexpansion des Staates gerichtet. Vielmehr wird der Wähler, ähnlich wie bei den Kaufentscheidungen des täglichen Lebens, sich überlegen müssen, ob eine staatliche Leistung ihm die entsprechenden Mehrausgaben (oder Einsparungen an anderer Stelle) wert ist. Die entsprechende Entscheidung wird dann an der Wahlurne getroffen. Ermöglicht wird dies insbesondere durch ein erhöhtes Maß an Transparenz, welches mit der „periodengerechten“ Abrechnung verbunden ist: Der Bürger erhält durch die Versorgung mit den benötigten Informationen über die Kosten einer Leistung überhaupt erst die Möglichkeit, auf die Wirtschaftlichkeit der Staatstätigkeit zu drängen14. So lässt sich das Maß an „persönlicher Betroffenheit“ abschätzen; auch die Hoffnung des Wählers, Lasten auf andere Steuerzahler verlagern zu können, wird durch hinreichende Informationen minimiert15. Zugleich wird der Mechanismus des Steuerzuschlags über kurz oder lang den dringend benötigten Mentalitätswechsel der politischen Entscheidungsträger herbeiführen. Gemeint ist damit das Bewusstsein der Politik, das mehr als zuvor individualisierte „Geld des Volkes bzw. Wählers“ auszuge13
P. Kirchhof, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mußgnug, S. 131 (142). Prosi, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 56 (2/1993), 15 (17 f.). Die Information ist umso größer, je direkter und damit persönlicher die Steuer gezahlt werden muss (Idealfall: persönliche Überweisung). 15 Prosi, Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 56 (2/1993), 15 (18). 14
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize
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ben, nicht abstrakt „staatliche Ausgaben“ zu tätigen. Denn: Ausgaben tätigen bedeutet dann, wenn sie für den Wähler mit unmittelbaren Einschnitten verbunden sind, auch Ausgaben rechtfertigen zu müssen. Wie sehr ein solches Verständnis zum sparsamen Umgang mit Haushaltsmitteln anregt, lehrt ein Blick in die Schweiz. Dort herrscht, unter anderem weil direktdemokratische Elemente deutlich stärker etabliert sind als in Deutschland, ein anderes Verständnis im Umgang mit staatlichen Geldern. Dies wird beispielsweise im Kanton St. Gallen erreicht über die Kombination einer Steuersenkungsbremse bei nicht ausgeglichenem Haushalt in Verbindung mit Referenden, die vor der Tätigung größerer Ausgaben abzuhalten sind16. b) Ziel: Haushaltsdisziplin, nicht höhere Abgabenlast Vereinzelt wird dem Konzept eines Steuerzuschlags in der Literatur mit Skepsis begegnet17. Dies beruht auf der Befürchtung, ein Steuerzuschlag könnte zum Normalfall werden und dadurch zu einer ständig steigenden Steuer- und Abgabenlast beitragen18. Die Bedenken dieser Auffassung wären jedoch lediglich dann begründet, wenn man die Prämisse zu Grunde legt, dass „der Aufgabenkatalog des Staates nicht reduziert, sondern ständig erweitert wird“19. Folgerichtig ergäben sich dann mit weiter wachsenden Aufgaben weiter steigende Ausgaben20. Unter Berücksichtigung der polit-ökonomischen Anreize zur Sicherung der Wiederwahl dürfte jedoch in der Praxis der gegenteilige Effekt eintreten21. Wird eine Schuldenbremse, welche einen strukturell ausgeglichenen Haushalt gewährleistet, mit dem „Damoklesschwert“ eines Steuerzuschlags verbunden, so werden die in der laufenden Wahlperiode angefallenen staatlichen Ausgaben für die Wähler unmittelbar spürbar. Steigende Steuern werden jedoch die sie verursachenden Parteien in der Wählergunst sinken 16 Feld/Kirchgässner, On the Effectiveness of Debt Brakes: The Swiss Experience, in: Neck/Sturm (Hrsg.), Sustainability of Public Debt, S. 223 (228 f.). Referenden sind optional für wiederkehrende Ausgaben über 300.00 CHF und einmalige Ausgaben über 3 Mio CHF; sie sind obligatorisch für wiederkehrende Ausgaben über 1,5 Mio CHF und einmalige Ausgaben über 15 Mio CHF. 17 Weinzen, DÖV 2009, 454 (459). 18 Weinzen, DÖV 2009, 454 (459); andeutend Blankart, Kommissionsdrucksache 22 der FöKo II, S. 52. 19 Schliemann, ZRP 2009, 193 (193) mit dem Gegenmodell einer „Normenbremse“. 20 Schliemann, ZRP 2009, 193 (193). 21 Glaser, DÖV 2007, 98 (102) zu einer vergleichbaren Regelung im Schweizer Kanton Freiburg.
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E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
lassen, sofern mit den Ausgaben nicht ein gut vermittelbarer Gegenwert erkauft wird. Daher werden die politischen Entscheidungsträger bemüht sein, ein Anwachsen der Steuerlast und damit auch ein Anwachsen der Staatsausgaben nach Möglichkeit zu vermeiden22. Aus den häufig abgegebenen Steuersenkungsversprechen in Wahlkampfzeiten lässt sich deutlich ersehen, dass das Wählerinteresse einer niedrigen Abgabenlast durchaus starken Eingang in den politischen Entscheidungsprozess findet. Dafür liefert die Gegenauffassung letztlich selbst einen Beleg, indem sie auf das Notopfer während der Berlin-Blockade rekurriert, welches jedermann Berlin als „ärgerliche Last ins Bewusstsein“ gebracht habe und deshalb anschließend wieder abgeschafft wurde23. Ebenso werden es die Regierungsparteien zu vermeiden wissen, im Einzelfall über das Erheben des direkten Zuschlags auf ihre wenig erfolgreiche Finanzpolitik aufmerksam machen zu müssen. Es gilt nach dem Modell des Steuerzuschlags lediglich, die genannten Steuersenkungen durch einen Diskurs über die Notwendigkeit staatlicher Ausgaben zu erreichen, anstatt durch Verschiebung der Finanzierungslasten im Wege des Kredits auf zukünftige Generationen. Weiterhin ist in Rechnung zu stellen, dass es zu einem „Ausnutzen“ des Steuerzuschlags als zusätzliche Finanzierungsquelle nach dem hier vorgeschlagenen Modell zunächst erforderlich wäre, ein verfassungswidriges Haushaltsgesetz bzw. einen verfassungswidrigen Haushaltsvollzug anzustreben, um sodann den Überschussbetrag im nächsten Jahr unter größter Aufmerksamkeit der Wahlbevölkerung zurückführen zu müssen. Dieses Szenario erscheint schon unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als wenig wahrscheinlich. Wie gut die Entschuldung des Staates auf diesem Wege auch in der Praxis funktionieren kann, zeigt wiederum ein Blick in die Schweiz. Hier konnten zahlreiche Kantone innerhalb weniger Jahre ohne Steuererhöhungen große Fortschritte erzielen24. Der Kanton Graubünden beispielsweise ist nach einem rigiden Sparprogramm schuldenfrei und kann in Folge des Wegfalls von Zinslasten in den nächsten Jahren sogar die Steuern senken25. Das Ziel eines Steuerzuschlags ist mithin nicht die Erhöhung der Einnahmen, sondern gerade ein kontrollierter Umgang mit sämtlichen Einnahmen und Ausgaben, der über dessen Abschreckungswirkung erreicht wird. Die 22
Glaser, DÖV 2007, 98 (102); Gumboldt, ZRP 2006, 3 (6). Weinzen, DÖV 2009, 454 (457 f.); wörtliche Zitate von Bender, Wenn es WestBerlin nicht gäbe, S. 58. Es handelte sich bei dem Notopfer um eine „schmale blaue Zwei-Pfennig-Briefmarke mit der Aufschrift ‚Notopfer Berlin‘ [. . .] ohne die kein Brief befördert wurde“. 24 Glaser, DÖV 2007, 98 (106). 25 Glaser, DÖV 2007, 98 (106). 23
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize
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Berücksichtigung polit-ökonomischer Anreize lässt die Verwirklichung dieser Zielrichtung in der Praxis als realistisch erscheinen. c) Notwendigkeit einer Regelung im GG: Druck „von oben“ Das Erfolgsrezept einer Schuldenbremse mit Steuerzuschlag besteht darin, dass durch die Verankerung beider Komponenten auf Verfassungsebene künstlich ein Druck „von oben“ zum Sparen erzeugt wird. Dieser ermöglicht es den Akteuren, auch notwendige Sparmaßnahmen gegenüber dem Wähler zu „rechtfertigen“. Gibt es eben keine andere Möglichkeit, als Steuern zu erhöhen oder Ausgaben zu senken, so kann dies dem einzelnen Politiker vom Wähler auch nicht angelastet werden. Wie erfolgreich ein solches „Zwangssparen“ sein kann, lässt sich anhand von zwei Beispielen aus der Praxis verdeutlichen: Zu nennen ist einerseits die Kommunalaufsicht mit weitgehenden Eingriffsbefugnissen; andererseits der IWF, welcher mit strengen Sanierungsauflagen als letzter „Rettungsanker“ vor einer Staatsinsolvenz fungiert. aa) „Zwangssparen“ unter Kommunalaufsicht Wertet man die einleitend abgedruckte Grafik26 aus, so kommt man in Bezug auf die Verteilung der Verschuldung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden nicht umhin festzustellen, dass die Schuldenlast auf kommunaler Ebene mit Abstand am geringsten ausfällt. Dabei wird in Anbetracht des beachtlichen Aufgabenspektrums27 bei geringer Finanzautonomie auch auf kommunaler Ebene längst von einer kommunalen Finanzkrise gesprochen28, welche nach den erörterten polit-ökonomischen Anreizen zu einer „Flucht in die Verschuldung“ führen müsste. Eine solche Tendenz zur Verschuldung ist tatsächlich zu erkennen. Allerdings sind ihr trotz der Finanzautonomie29 der Gemeinden – und Folgendes ist der entscheidende Ansatz – enge Grenzen gesetzt. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Verpflichtung zum formellen Haushaltsausgleich, welche 26
Abb. 1. Bedeutsam ist schon der kommunale Anteil an den Aufwendungen zur sozialen Sicherung; vgl. zur erheblichen Unterdeckung der Gemeinden in Folge dieser und anderer Ausgaben Schink, NwVBl 2005, 85 (85). 28 Schoch, Verfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Finanzautonomie, S. 14 f. 29 Diese folgt aus der kommunalen Selbstverwaltungsgarantie, Art. 28 Abs. 2 GG, BVerfG, Beschl. v. 24.06.1969 – 2 BvR 446/64, BVerfGE 26, 228 (244); Schoch, Verfassungsrechtlicher Schutz der kommunalen Finanzautonomie, S. 137 f. m. w. N. 27
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E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
sich aus allen Gemeindeordnungen bzw. Kommunalverfassungen ergibt30. Kredite sind, anders als bei Bund und Ländern, nur unter sehr restriktiven Voraussetzungen zugelassen. In Brandenburg heißt es etwa: „Die Gemeinde darf Kredite nur aufnehmen, wenn eine andere Finanzierung nicht möglich ist oder wirtschaftlich unzweckmäßig wäre“31; weiterhin dürfen diese Kredite „nur im Vermögenshaushalt und nur für Investitionen, Investitionsförderungsmaßnahmen und zur Umschuldung aufgenommen werden“32. Der Gesamtbetrag der vorgesehenen Kreditaufnahme bedarf zudem der Genehmigung der Kommunalaufsichtsbehörde; „die Genehmigung soll unter dem Gesichtspunkt einer geordneten Haushaltswirtschaft erteilt oder versagt werden; [. . .] sie ist in der Regel zu versagen, wenn die Kreditverpflichtungen mit der dauernden Leistungsfähigkeit der Gemeinde nicht in Einklang stehen“33. Es ergibt sich also schon eine präventive Kontrolle daraus, dass die Kommunalaufsichtsbehörden prüfen werden, ob die Gemeinden zumindest mittelfristig in der Lage sind, ihren Zins- und Tilgungsverpflichtungen nachzukommen und dabei gleichzeitig noch die wichtigsten Aufgabenbereiche abzudecken34. Die Durchsetzung der Kreditbeschränkungen erfolgt durch die Kommunalaufsicht. Kahl unterscheidet insoweit drei Phasen der Aufsicht, nämlich die „Vorklärungsphase“ zur Beobachtung, die „Korrekturphase“ mit Empfehlungen, Warnungen und Beanstandungen sowie – schlimmstenfalls – die „Zwangsphase“ mit der Verhängung von Sanktionen, der Ersatzvornahme, der Bestellung eines Beauftragten35. Die „Vorklärungsphase“ besteht, wie gezeigt, in der ständigen Kontrolle der Kreditaufnahme. Kann gleichwohl ein Haushaltsausgleich nicht erreicht werden, so greift die „Korrekturphase“. Hierzu ist in vielen Bundesländern die Aufstellung eines Haushaltssicherungskonzepts vorgesehen, welches dem Ziel dient, die künftige und dauernde Leistungsfähigkeit der Gemeinde zu erreichen36. Im Konzept sind Maßnahmen zum Abbau des Fehlbedarfs 30 Vgl. exemplarisch § 74 Abs. 3 GO Brandenburg: „Der Haushalt muss in jedem Haushaltsjahr unter Berücksichtigung von Fehlbeträgen aus Vorjahren ausgeglichen sein“; abschließender Überblick für alle Bundesländer bei Frielinghaus, Die kommunale Insolvenz als Sanierungsansatz für die öffentlichen Finanzen, S. 85. 31 § 75 Abs. 3 GO Brandenburg. 32 § 85 Abs. 1 S. 1 GO Brandenburg. 33 § 85 Abs. 2 S. 2 GO Brandenburg, Hervorhebung hinzugefügt; Nachweise für übrige Bundesländer bei Frielinghaus, Die kommunale Insolvenz als Sanierungsansatz für die öffentlichen Finanzen, S. 89. 34 Frielinghaus, Die kommunale Insolvenz als Sanierungsansatz für die öffentlichen Finanzen, S. 89 f. 35 Kahl, Die Staatsaufsicht, S. 565 ff. 36 Vgl. exemplarisch § 74 Abs. 4 GO Brandenburg.
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize
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darzustellen und der Zeitraum zu beschreiben, innerhalb dessen der Haushaltsausgleich wieder erreicht wird. Die Mitwirkung der Kommunalaufsichtsbehörde ist je nach Bundesland unterschiedlich geregelt – sie reicht von einer bloßen Vorlagepflicht des Konzepts bei der Aufsichtsbehörde37 über eine Beratungspflicht38 bis hin zur Erforderlichkeit der aufsichtsbehördlichen Genehmigung39. Ist auch die Aufstellung des Haushaltssicherungskonzepts, soweit es im jeweiligen Bundesland verlangt werden kann, nicht erfolgreich, so greift die „Zwangsphase“. Die Kommunalaufsichtsbehörde kann hierzu als letztes Mittel einen Beauftragten bestellen40, sog. „Staatskommissar“41, welcher alle oder einzelne Aufgaben der Gemeindeorgane auf Kosten der Gemeinde wahrnehmen kann42. Der Beauftragte ist allein der Aufsichtsbehörde verpflichtet43. Nach einer bundesweiten statistischen Erhebung handelt es sich dabei zumeist um Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde, seltener um Mitarbeiter eines Gemeindeverbands oder einer Gemeinde, Mitarbeiter eines Ministeriums oder auch Bürgermeister a. D.44 Aufgabe des Beauftragten ist es, jene Maßnahmen zu treffen, die im Einzelfall erforderlich (und damit verhältnismäßig) sind, um die geordnete Haushaltswirtschaft der Gemeinde und ggf. deren Zahlungsfähigkeit wiederherzustellen45. Die Kombination aus präventiver Kontrolle und erforderlichenfalls repressivem Vorgehen, welches einige Abschreckungswirkung entfalten dürfte, gewährleistet im Ergebnis eine effektive Bekämpfung hoher Schuldenstände auf kommunaler Ebene. Der Erfolg beruht hier maßgeblich auf dem Umstand, dass eine übergeordnete Ebene vorhanden ist, welche die Einhaltung der Verschuldungsregeln überwachen und zwangsweise durchsetzen kann. 37
Beispielsweise § 82 Abs. 6 S. 3 NGO Niedersachsen. Beispielsweise § 43 Abs. 3 S. 4 KV Mecklenburg-Vorpommern. 39 Beispielsweise § 74 Abs. 4 S. 4 GO Brandenburg; Weitere Nachweise bei Frielinghaus, Die kommunale Insolvenz als Sanierungsansatz für die öffentlichen Finanzen, S. 91. 40 Beispielsweise § 128 Abs. 1 GO Brandenburg; Nachweise für übrige Bundesländer bei Frielinghaus, Die kommunale Insolvenz als Sanierungsansatz für die öffentlichen Finanzen, S. 93. 41 Frielinghaus, Die kommunale Insolvenz als Sanierungsansatz für die öffentlichen Finanzen, S. 94. 42 So § 128 Abs. 2 GO Brandenburg. 43 Vgl. Pappermann, DVBl 1972, 753 (754 und 756). 44 Frielinghaus, Die kommunale Insolvenz als Sanierungsansatz für die öffentlichen Finanzen, S. 99 f. mit Beispielen von weiteren, zahlenmäßig weniger bedeutsamen sonstigen Personen. 45 Frielinghaus, Die kommunale Insolvenz als Sanierungsansatz für die öffentlichen Finanzen, S. 94. 38
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E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
bb) „Zwangssparen“ unter Aufsicht des Internationalen Währungsfonds Ein weiteres, in der Praxis häufig angewandtes Modell von „Zwangssparen“ wird in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds praktiziert. Es handelt sich beim IWF um eine auf Zusammenarbeit ausgerichtete Institution, welcher derzeit 186 Staaten46 freiwillig beigetreten sind47. Der Fonds ist weder „Weltzentralbank“ noch beeinflusst er im Normalfall die Wirtschaftspolitik seiner Mitgliedsstaaten; sein Ziel ist in erster Linie die Aufrechterhaltung eines stabilen Währungssystems48. Dies geschieht regelmäßig durch Überwachung, insbesondere Informationsaustausch und Koordination der Wechselkurspolitik, sowie Präventionsmaßnahmen49. Erst im Notfall vergibt der IWF auch Kredite50. Die wirtschaftliche Basis hierzu bilden die Einzahlungen der Mitgliedsstaaten, welche sie überwiegend in eigener Währung, zu geringerem Teil aber auch in Gold oder Fremdwährung leisten51. Gerät ein Mitgliedsstaat in Zahlungsbilanzschwierigkeiten, d.h. erlöst er nicht genügend Devisen, um seinen finanziellen Verpflichtungen gegenüber anderen Staaten nachzukommen, so gewährt ihm der IWF Kredit52. Rechtstechnisch handelt es sich bei der Darlehensgewährung um einen Kauf von Fremdwährung gegen Zahlung von Eigenwährung bei gleichzeitiger Übernahme der Verpflichtung zum späteren Rückkauf der Eigenwährung durch Zahlungen in einer vom Fonds bestimmten Fremdwährung53. In seiner wirtschaftlichen Wirkung kommt das Geschäft jedoch einem Darlehen sehr nahe, denn der Fonds nutzt die Eigenwährungsbeträge nicht für eigene Zwecke und berechnet für die Bereitstellung Gebühren, welche zwar leicht unter dem marktüblichen Niveau für hoch verschuldete Staaten liegen, jedoch einer Zinserhebung nahe kommen54. Auch der Fonds bezeichnet die gewährten Hilfen in der Außendarstellung als Darlehen55. 46
Http://www.imf.org/external/np/exr/facts/glance.htm [Stand: 15.04.2010]. Driscoll, Der Internationale Währungsfonds, S. 1. 48 Driscoll, Der Internationale Währungsfonds, S. 1; vgl. Art. I, Art. IV Abschn. 1–3 FUND. 49 Zum Letzten Ghosh u. a., IMF Support and Crisis Prevention, S. 1 ff. 50 Driscoll, Der Internationale Währungsfonds, S. 1; 14 f. 51 Art. III FUND. 52 Driscoll, Der Internationale Währungsfonds, S. 15. 53 Art. V Abschn. 2 FUND; Leyendecker, Auslandsverschuldung und Völkerrecht, S. 39; O’Cleireacain, Third World Debt and International Public Policy, S. 137; Vreeland, The International Monetary Fund, S. 21. 54 Brau/McDonald, Success of the International Monetary Fund, S. 230; Leyendecker, Auslandsverschuldung und Völkerrecht, S. 39. 47
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize
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Diese Kreditgewährung erfolgt indes keineswegs voraussetzungslos. Nach Art. V Abschn. 3 a) FUND beschließt der IWF Geschäftsgrundsätze für die Inanspruchnahme seiner Mittel. Diese „sind darauf auszurichten, dass sie den Mitgliedern bei der [. . .] Lösung ihrer Zahlungsbilanzprobleme helfen und ausreichende Sicherungen dafür schaffen, dass die allgemeinen Fondsmittel nur zeitweise in Anspruch genommen werden“56. Die Mitgliedsstaaten sollen den Kredit nicht zur Finanzierung ihres Defizits nutzen, sondern eine Chance zur Beseitigung der Ursachen hierfür erhalten57. Die Darlehen werden daher nur unter gewissen Bedingungen gewährt, sog. Konzept der „conditionality“58. Dazu gehört häufig die Verpflichtung zu harten Sparmaßnahmen zwecks Verringerung des Haushaltsdefizits, welche zumeist mit spürbaren Leistungskürzungen für die Staatsbürger verbunden sind. Während diese Sicherungen häufig als „Auflagen“ des IWF beschrieben werden59, wird aus Sichtweise des Fonds großer Wert darauf gelegt, dass es sich um ein Programm des jeweiligen Mitglieds handele, nicht des Fonds60. Der Fonds achte lediglich darauf, dass die Maßnahmen ausreichten, um die Zahlungsschwierigkeiten zu beseitigen61. Letztere Sichtweise ist aus juristischer Sicht vollkommen zutreffend; schließlich handelt es sich bei den Mitgliedern um souveräne Staaten62, welchen gegenüber der IWF über kein weiteres Sanktionspotential verfügt, als das Vorenthalten seiner Leistungen und – schlimmstenfalls – den Ausschluss aus der Gemeinschaft63. Die Situation stellt sich insoweit anders dar, als es bei der im vorigen Kapitel behandelten Kommunalaufsicht der Fall ist. Gleichwohl wird ein Mitglieds55 „Lending“: http://www.imf.org/external/about/ourwork.htm [Stand: 15.04. 2010]; „leihen“/„Darlehen“: Driscoll (Redakteur in der Abteilung Außenbeziehungen des IWF), Der Internationale Währungsfonds, S. 17 ff.; zum Begriff („loans or purchases“) Vreeland, The International Monetary Fund, S. 21. 56 Art. V Abschn. 3 a) FUND; Hervorhebung hinzugefügt. 57 Hübener, Die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) gegenüber zahlungsunfähigen Staaten und die Auslandsverschuldung von Entwicklungsländern seit 1973, S. 104; O’Cleireacain, Third World Debt and International Public Policy, S. 137. 58 Vreeland, The International Monetary Fund, S. 20. 59 Paradigmatisch Hübener, Die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) gegenüber zahlungsunfähigen Staaten und die Auslandsverschuldung von Entwicklungsländern seit 1973, S. 104; so auch die FAZ, Wenn der Internationale Währungsfonds nicht wäre, Ausgabe v. 31.03.2010, S. 10. 60 Driscoll, Der Internationale Währungsfonds, S. 18. 61 Driscoll ebenda. 62 Dazu Vreeland, The International Monetary Fund, S. 2. 63 Zu beidem Art. XXVI Abschn. 2 FUND. Vom Recht, Mitglieder vom Zugang zu seinen Ressourcen auszuschließen, hat der IWF bereits gegenüber einigen Staaten Gebrauch gemacht, jedoch nicht gegenüber allen säumigen Schuldnerstaaten. Dazu Leyendecker, Auslandsverschuldung und Völkerrecht, S. 87.
208
E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
staat aus wirtschaftlicher Sicht gut daran tun, die Auflagen zu befolgen, wenn er auf die Kredite des IWF zur Vermeidung größeren Schadens, etwa eines Staatsbankrotts, angewiesen ist. Das Land unterwirft sich mithin „unfreiwillig-freiwillig“ dem (notwendigerweise) rigiden Regime des IWF. Die Umsetzung gestaltet sich wie folgt: 25 Prozent seines Beitrags in konvertibler Währung kann ein Mitglied unverzüglich vom Fonds aufnehmen; dies kann im Verlauf mehrerer Jahre auf das Vierfache gesteigert werden. Möchte das Mitglied über seine Reservetranche hinaus Kredit erhalten, so muss es dem Fonds eine schriftliche Absichtserklärung („letter of intent“) unterbreiten, in welchem es darlegt, wie es die Zahlungsprobleme zu lösen gedenkt. Dabei ist auch die Rückzahlung des Kredits innerhalb von drei bis fünf Jahren einzubeziehen, welche auf bis zu zehn Jahre verlängert werden kann. Das Land verpflichtet sich insoweit, je nach seinen spezifischen Problemen, notwendige Reformen durchzuführen, um das Leistungsbilanzdefizit zu beseitigen. Dazu gehört etwa, die eigene Währung abzuwerten, die Ausfuhren anzukurbeln sowie insbesondere sein Haushaltsdefizit durch Senkung der Ausgaben zu verringern, also „Zwangssparen“. Die Exekutivdirektoren als Vertreter aller Mitglieder beurteilen das Programm im Hinblick darauf, ob die Reformmaßnahmen ausreichen und ob der Fonds mit der Rückzahlung rechnen kann. Nur bei positiver Prognose erfolgt die Kreditvergabe, andernfalls muss das Programm nachgebessert werden.64 Um sicherzustellen, dass die „Auflagen“ auch befolgt werden, wird der Stützungskredit in Raten ausgezahlt. Die Erreichung der Zielvorgaben wird quartalsweise kontrolliert. Ab der zweiten Rate ist die Auszahlung der Tranchen an die Zielerreichung gebunden; werden die Zielvorgaben verfehlt, so kann die Auszahlung unterbrochen werden, bis die Zielvorgaben erreicht werden65. An dieser Stelle offenbart sich das enorme Sanktionspotential, über welches der IWF im Rahmen der Vergabe milliardenschwerer Kredite verfügt. In der Praxis werden zwischen IWF und den betroffenen Staaten strenge Auflagen vereinbart. Jüngste Beispiele betreffen die EU-Mitglieder Ungarn (2008), Lettland (2008) und Rumänien (2009): So wurde für Ungarn die Ver64 Zum Verfahren Hübener, Die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) gegenüber zahlungsunfähigen Staaten und die Auslandsverschuldung von Entwicklungsländern seit 1973, S. 103 ff.; Leyendecker, Auslandsverschuldung und Völkerrecht, S. 41 ff.; Driscoll, Der Internationale Währungsfonds, S. 15 ff. 65 Hübener, Die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) gegenüber zahlungsunfähigen Staaten und die Auslandsverschuldung von Entwicklungsländern seit 1973, S. 109 f. Alternativ kann auch von der Befolgung der Auflagen abgesehen oder eine Neuverhandlung erfolgen. Hierdurch würde sich der IWF aber auf Dauer unglaubwürdig machen und sein Sanktionspotential schwächen.
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize
209
ringerung des strukturellen Defizits um 2,5%, ein Lohnstopp im öffentlichen Dienst sowie die Kapitalisierung von Banken vereinbart66. Innerstaatlich realisiert wurde die Defizitbekämpfung über harte Sparmaßnahmen wie starke Rentenkürzungen, Schaffung von Arbeitsanreizen sowie dem Einfrieren der Ausgaben im Gesundheitswesen67. Mit Rumänien wurde eine Defizitreduzierung um 1,1% des BIP, ebenfalls ein Lohnstopp im öffentlichen Dienst sowie eine stärkere Finanzaufsicht vereinbart. Die strengsten Kriterien hat Lettland zu erfüllen: Hier ist eine Verringerung des Defizits um 7% des BIP angestrebt und im öffentlichen Dienst sind sogar scharfe Lohnsenkungen vorzusehen68. Dabei handelt es sich um durchaus unpopuläre Maßnahmen. Der interessante Aspekt für die hiesige Untersuchung besteht nun darin, dass all diese Maßnahmen offenbar praktisch möglich sind (und schon vorher waren), von den Regierungen aber erst in Angriff genommen wurden, als sich die Krise so weit verschärft hatte, dass nach Inanspruchnahme des IWF Konsolidierungsdruck „von außen“ erzeugt wurde69. Innenpolitisch wird dann die Verantwortung für die scharfen Einschnitte gerne ein Stück weit auf den IWF verlagert, schließlich sei von diesem die Notwendigkeit hierzu ausgegangen70. Auf diesem Wege gelingt es, die eigene Bevölkerung mehr oder minder von der Notwendigkeit der Sparmaßnahmen zu überzeugen, ohne selbst politischen Schaden zu nehmen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der IWF seine Mitglieder bei der Sanierung unterstützen kann71 und ihnen – wenngleich äußerlich freiwillig – zugleich durch wirtschaftlichen Druck erhebliche Konsolidierungsmaßnahmen abverlangen kann. Hierdurch werden Maßnahmen möglich, zu welchen sich die Mitgliedsstaaten allein offenbar nicht in der Lage sahen („Zwangssparen“). 66
Wenn der Internationale Währungsfonds kommt, FAZ v. 31.03.2010, S. 10. „Ein so großes Sparpaket hat es in Ungarn noch nicht gegeben“, FAZ v. 10.10.2009, S. 16 (Interview mit dem ungarischen Premierminister Gordon Bajnai). 68 Wenn der Internationale Währungsfonds kommt, FAZ v. 31.03.2010, S. 10. 69 Kritiker bemängeln zwar insoweit, nach einer Evaluierung würden in 60% der Programme die fiskalischen Ziele verfehlt. Andererseits verbirgt sich in der „Verfehlung“ zumeist mindestens eine Teilerreichung; weiterhin wurden in weiteren 40% der Fälle die Ziele sogar übererfüllt. Dazu Welter, Die gar nicht so harte Hand des IWF, FAZ v. 31.03.2010, S. 10. M. E. zu Recht wird die Kritik daher nicht zum Anlass genommen, die Tätigkeit des IWF prinzipiell in Frage zu stellen, sondern sie leistet einen Beitrag zur anhaltenden Reformdiskussion. Dazu Vreeland, The International Monetary Fund, S. 112 ff. und 132 ff. 70 „The fund made us do it“/IFW als „whipping boy“, dazu Parkinson/McKissack, The IMF and the challenge of relevance in the international financial architecture, in: Uzan (Hrsg.), The Future of the International Monetary System, S. 7 (17). 71 Zahlreiche Beispiele nachhaltig erfolgreicher Krisenbewältigung bei Brau/ McDonald (Hrsg.), Success of the International Monetary Fund. 67
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E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
cc) Schlussfolgerung Aus der Betrachtung von Kommunalaufsicht und IWF lässt sich ableiten, dass das Konzept des „Zwangssparens“ in der Praxis durchaus gute Erfolge zeitigt. Erfolgsvoraussetzung ist das Bestehen einer übergeordneten (Kommunalaufsicht) bzw. vermeintlich übergeordneten Institution (IWF). Der Erfolg beruht dabei nicht nur auf dem tatsächlichen Zwang, sondern auch darauf, dass die Haushaltsverantwortlichen eine Argumentationshilfe erhalten, d.h. eine „von oben“ vorgegebene Notwendigkeit, auf die sie verweisen können. Auf Bundesebene ist der einzige Anker, welcher die tagespolitischen Entscheidungen rechtlich zu binden vermag, das Grundgesetz. Ihm kommt daher die Funktion zu, jenen äußeren Rahmen zu stecken, innerhalb dessen sich der Haushaltsgesetzgeber bewegen darf und der ihm – erforderlichenfalls – auch eine Argumentationshilfe zum Sparen bieten kann. Setzt das Grundgesetz enge, zwingende Grenzen, so muss niemand Nachteile dadurch befürchten, dass er nicht noch weitere staatliche Leistungen auf Kredit gewährt. Wohl aber kann, sollte das Erheben eines Steuerzuschlags notwendig werden, die Verantwortung dafür, das benötigte Geld nicht beizeiten an anderer Stelle eingenommen oder eingespart zu haben, durchaus und mit Recht der amtierenden Regierung angelastet werden. Auf Bundesebene kann daher das Grundgesetz durch die Schuldenbremse mit dem Damoklesschwert eines Steuerzuschlags jenen äußeren Sparanreiz erzeugen, welchen die politischen Akteure zu verantwortungsvoller Haushaltsführung benötigen. Wie im Verlauf der Betrachtung des IWF immer klarer wurde, steht spätestens am Ende unseriöser Haushaltsführung ohnehin die erzwungene Sparsamkeit, soll nicht der für Wirtschaft und Privatvermögen noch deutlich gefährlichere Weg der Staatsinsolvenz gewählt werden. Dabei werden die notwendigen haushaltspolitischen Einschnitte umso schmerzlicher sein, je später die Konsolidierung einsetzt und je stärker die dadurch verursachte finanzielle Schieflage ausfällt. Es spricht daher viel dafür, den vergleichsweise verträglichen Weg zu gehen und den Haushaltsdefiziten zu dem Zeitpunkt zu begegnen, in welchem sie in ihrer Negativwirkung noch am schwächsten ausfallen: In ihrem Entstehen. Diese Vorgehensweise trägt zugleich zur Generationengerechtigkeit bei. Eine Schuldenbremse mit Steuerzuschlag vermag also zweierlei zu leisten: Sie bietet der Politik den parteiübergreifenden Konsens über den Ausgleich von Einnahmen und Ausgaben. Gleichzeitig sorgt sie über die Zwangskomponente auch dafür, dass der Haushaltsausgleich eingehalten und eine Haushaltsnotlage vermieden wird.
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize
211
d) Ausgestaltung Wurde soeben die Notwendigkeit eines Zuschlagsrechts zur Einkommenssteuer auf Verfassungsebene bejaht, so gilt es nun, dessen inhaltliche Ausgestaltung zu präzisieren. Dabei bildet das Grundgesetz – wie auch bei der derzeitigen Schuldenbremse – lediglich den Rahmen für die nähere einfachgesetzliche Ausgestaltung. Für diesen Rahmen werden zunächst die Grundlagen dargestellt, um sodann im nächsten Kapitel einen konkreten Regelungsvorschlag zu unterbreiten. Das einfache Steuerrecht hingegen unterliegt, insbesondere über die Anpassung der Steuersätze, einem kontinuierlichen Wandel72. Die Arbeit beschränkt sich daher an dieser Stelle darauf, jene Eckpunkte aufzuzeigen, welche für die Umsetzung des vorgeschlagenen verfassungsrechtlichen Rahmens von Bedeutung sind. Die Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Vorgaben ist sodann mit der Fortentwicklung des einfachen Rechts in Einklang zu bringen73. Hierzu ist die Einkommenssteuer aufzuspalten in einen festen und einen variablen Bestandteil. Bei dem variablen Bestandteil handelt es sich um einen Zuschlag ähnlich dem derzeitigen Solidaritätszuschlag. Er wäre aber, anders als der Solidaritätszuschlag, nicht über einen bestimmten Zeitraum „dauerhaft“ zu erheben, sondern nur für den Fall, dass die aus sonstigen Steuermitteln erzielten Einnahmen nicht ausreichten, um einen ohne strukturelle Neuverschuldung ausgeglichenen Haushalt zu erzielen. aa) Systemkonforme Ausgestaltung für Bund und Länder Art. 109 und 115 GG n. F. liegt eine Systematik zu Grunde, wonach Art. 109 GG für Bund und Länder gemeinsame Grundsätze regelt, während die nähere Ausgestaltung für den Bund in Art. 115 GG und für die Länder in der jeweiligen Landesverfassung erfolgt. So bildet auf Bundesebene Art. 115 GG den Rahmen für die Ausgestaltung einer Konjunkturkomponente mit Kontrollmechanismen zu ihrer Durchsetzung (z. B. Kontrollkonto, Rückführung von Überschreitungen), während es den Ländern nach Art. 109 GG freigestellt ist, eine Konjunkturkomponente überhaupt einzuführen. Da es sich bei dem hier zu entwickelnden Steuerzuschlag letztlich um ein Sanktionsmittel zur Durchsetzung der jeweils zulässigen Höchst72
Vgl. jüngst die Pläne zur Steuersenkung sowie den beabsichtigten Umbau in einen „Stufentarif“. 73 Beispiel für die Änderungen des Einkommenssteuer- und Zerlegungsgesetzes in Kommissionsdrucksache 133 der FöKo II, S. 33 ff. bzw. 38 ff.
212
E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
grenze verfassungsgemäßer Staatsverschuldung handelt, bietet sich ein paralleles Vorgehen an: In Art. 115 GG soll hier exemplarisch eine Zuschlagsmöglichkeit für den Bund entwickelt werden. Den Ländern ist hingegen die Möglichkeit einzuräumen, einen solchen Zuschlag auf Landesebene freiwillig einzuführen. Dabei entscheiden sie nicht nur über das „Ob“, sondern auch über die nähere Ausgestaltung, das „Wie“. Insoweit kann sich eine Übernahme der Bundesregelung zwar anbieten, es besteht aber auch die Möglichkeit zu landesspezifischen Modifikationen. Gerade im Hinblick auf die Länder ist jedoch streng zwischen verschiedenen Gestaltungsmöglichkeiten zu unterscheiden, nämlich einerseits einem von vornherein höheren Maß an Steuerautonomie74, welches ein Festlegen des landesspezifischen Einkommenssteuersatzes beinhaltet, und andererseits einem bloßen Zuschlagsrecht mit Schuldentilgungsfunktion. Während für die Länder nach einem Zuschlagsmodell grundsätzlich eine auskömmliche Finanzierung nach dem bundeseinheitlich festgelegten Tarif und entsprechendem Finanzausgleich sichergestellt wird, legten die Länder nach dem Steuerautonomiekonzept den landesspezifischen Einkommenssteuersatz selbst fest und müssten hierdurch ihre Finanzierung eigenverantwortlich sicherstellen. Letzteres könnte etwa dadurch umgesetzt werden, dass der Steuertarif auf 90% des jetzigen Niveaus abgesenkt würde. Es würden dann aus dem bisherigen Länderanteil an der Einkommenssteuer 10% in die Steuerautonomie überführt. Wollten die Länder Einnahmen in der Höhe des bisherigen Niveaus erhalten, müssten sie einen durchschnittlichen Zuschlagssatz von 11,11% verlangen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass der Zuschlagssatz je nach der Steuerkraft des Bundeslandes sehr unterschiedlich ausfallen würde: Während der Zuschlagssatz der westdeutschen Länder mit Ausnahme Hamburgs zwischen 2% (Hessen) und 21% (Saarland) variierte, müssten alle ostdeutschen Länder Zuschläge von mehr als 50% erheben75. Dabei handelt es sich wohlgemerkt nur um die bisherigen Einnahmen; es ist noch kein „Mehrbetrag“ zur Deckung überplanmäßiger Ausgaben oder etwa der Schuldentilgung enthalten. Es liegt auf der Hand, dass derart große Besteuerungsunterschiede nicht nur die politische Akzeptanz sprengen, sondern auch zu Abwanderungsbewegungen und Rückgang der Wirtschaftstätigkeit führen würden. Eine Untersuchung kommt denn auch zu dem Ergebnis, dass „der so erzeugte Verlust an Steuerkraft durch keine Satzerhöhung, sei sie auch noch so groß, wieder wettgemacht werden kann“76. 74
Ablehnend F. Kirchhof, ZG 2004, 209 (224) mit dem Hinweis auf die Gefahr eines „regionalen Flickenteppich[s]“. Zu praktischen Problemen dürfte jedoch eher ein hier nicht befürworteter Zuschlag auf die Körperschaftsteuer führen, wohingegen ein Zuschlag auf die Einkommenssteuer nach dem Wohnortprinzip umsetzbar ist. 75 Untersuchung von Büttner/Schwager, Jahrbücher für Statistik und Nationalökonomie 223 (2003), 532 (540); ähnlich Gumboldt, ZRP 2006, 3 (6).
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize
213
Zu favorisieren ist damit das Zuschlagsmodell. Ein Steuerzuschlag muss so bemessen sein, dass von ihm zwar die gewünschten politischen Steuerungsanreize zur Vermeidung neuer Verschuldung ausgehen, andererseits aber schädigende Wirkungen auf die Wirtschaft eines Landes vermieden werden. Der Bund hätte hiernach weiterhin die Steuerbemessungsgrundlagen und die Steuersätze bundeseinheitlich zu regeln; die Länder hätten sodann die Möglichkeit, innerhalb eines Korridors von etwa 5% des Steuersatzes Zuschläge zu erheben77. Auch hier sollte das Ziel darin bestehen, diesen Zuschlag nach Möglichkeit nicht erheben zu müssen; den Ländern stünde aber im Notfall ein Instrument bereit, um zusätzliche Einnahmen zur Schuldentilgung zu generieren, wobei für den Wähler zugleich der Verantwortungszusammenhang zwischen politischen Ausgabenentscheidungen und den finanzwirtschaftlichen Folgen deutlich würde78. Vorzusehen wäre demnach ein Zuschlagsrecht für den Bund in Höhe von ca. 5%, welches in Art. 115 GG (Regelungsvorschlag) seinen Rahmen findet und einfachgesetzlich auf die genannte Höhe zu präzisieren ist. Für die Länder ist hingegen im Bereich der Steuergesetzgebungskompetenzen (Art. 105, 106 GG) die Möglichkeit eines begrenzten Zuschlags zu regeln, welchen die Länder nach eigenen Vorstellungen ausgestalten können. bb) Vermeidung eines „Dauerzuschlags“ über Kontrollkonto Den gewünschten politischen Abschreckungseffekt des Zuschlagsrechts zu erhalten, gelingt nur, wenn dieser nicht zum „Dauerzuschlag“ wird. Die Gefahr hierzu wäre groß, wenn dem Haushaltsgesetzgeber gar kein Spielraum eingeräumt würde: Müsste jede noch so kleine Überschreitung der Verschuldungsgrenze im nächsten Jahr über einen Zuschlag ausgeglichen werden, so führten schon kleinste Ungenauigkeiten, etwa in der Konjunk76 Büttner/Schwager, Jahrbücher für Statistik und Nationalökonomie 223 (2003), 532 (546). 77 Korioth, Nach der Föderalismusreform – Perspektiven einer Neuordnung der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Der Föderalstaat nach dem Berlin-Urteil, S. 49 (59 f.); Härtel, JZ 2008, 437 (445 f.); die 5%-Grenze in Bezug auf Steuerautonomie befürwortend Schneider, Kommissionsdrucksache 31 der FöKo II, S. 24; Franke, VerwArch 82 (1991), 526 (541); 5%-Grenze für Bund und Länder gemeinsam mit Steuersenkung im Gegenzug als Modell zur Reform des Finanzausgleichs schon beim Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Auf dem Wege zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, Jahresgutachten 1990/91, S. 215, Tz. 454. 78 Korioth, Nach der Föderalismusreform – Perspektiven einer Neuordnung der bundesstaatlichen Finanzbeziehungen, in: Konrad/Jochimsen (Hrsg.), Der Föderalstaat nach dem Berlin Urteil, S. 49 (60).
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E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
turprognose, dazu, dass ein Zuschlag zu erfolgen hätte. Dies hätte zweierlei negative Folgen: Zum einen setzte ein Gewöhnungseffekt ein, da nahezu in jedem Jahr Zuschläge zu erheben wären; die Frage wäre dann nicht, ob ein Zuschlag zu erheben ist, sondern lediglich, in welcher Höhe. Dies läuft dem Ziel zuwider, einen Zuschlag im Einzelfall nach Möglichkeit, auch durch Ausgabendisziplin, zu vermeiden. Zum zweiten aber würde der Gesetzgeber hierdurch in ungewollter Weise in seinem Gestaltungsspielraum beraubt: Durch eine solche Konstruktion wäre vorhergeplant, dass für ein Haushaltsdefizit immer und ausschließlich die Zahler der Einkommenssteuer herangezogen würden. Es soll aber die politische Handlungsmöglichkeit gewahrt werden, das Defizit auch auf anderem Wege zu beseitigen, etwa durch Ausgabendisziplin im nächsten Haushaltsjahr oder aber durch Einnahmeerhöhungen an anderer Stelle: Es ist eine politische Entscheidung, ob bei erhöhtem Finanzbedarf gerade die Einkommenssteuer, oder, um nur ein Beispiel zu nennen, die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge oder sonstige Steuern anzupassen wären. Vor diesem Hintergrund ist es unerlässlich, einen Schwellenwert für das Kontrollkonto festzulegen, dessen Überschreiten erst die Pflicht zur Erhebung des Steuerzuschlags auslöst. Dieser darf nicht so hoch ausfallen, dass wiederum der polit-ökonomische Fehlanreiz entsteht, das Kontrollkonto „belastet“ an die Nachfolgeregierung zu übergeben; andererseits muss der politische Entscheidungsspielraum angemessen gewahrt werden. Hierzu empfiehlt sich ein Schwellenwert von 0,5%, welcher dem Regelungsvorschlag zu Grunde gelegt wurde79. cc) Stichtagsregelung Damit der Verantwortungszusammenhang zwischen Finanzpolitik und Einkommenssteuerzuschlag erkennbar bleibt, ist auf einen zügigen Ausgleich des Kontrollkontos hinzuwirken. Es empfiehlt sich insoweit, die Belastung des Kontrollkontos innerhalb der ersten Jahreshälfte des dem Haushaltsjahr folgenden Jahres festzustellen, sodass ein Zuschlag spätestens zur Jahresmitte umgesetzt werden kann. Einen Anhaltspunkt bietet insoweit die derzeitige einfachgesetzliche Regelung, wonach die Abweichung der IstKreditaufnahme „jährlich zum 1. März des dem Haushaltsjahr folgenden Jahres festgestellt und im weiteren Jahresverlauf aktualisiert“80 wird.
79 80
Siehe unten unter F. II. § 7 Abs. 1 G 115; BGBl 2009 I, S. 2702 (2705).
I. Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize
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dd) Implementierung in Finanzausgleichssystem und Steuerrecht Schließlich ist das Konzept eines Steuerzuschlags in das bisherige Finanzausgleichssystem sowie in das Steuerrecht zu integrieren. Dies in allen Einzelheiten zu leisten, würde den Rahmen der vorliegenden Untersuchung sprengen und erscheint angesichts beabsichtigter Reformen im Steuerrecht81 als wenig sinnvoll. Gleichwohl sollen in der gebotenen Kürze einige tragende Gesichtspunkte dargestellt werden. Zunächst ist im Hinblick auf den Länderfinanzausgleich darauf zu achten, dass die Einnahmen aus den Zuschlägen „ausgleichsneutral“ gestaltet werden. Die Einnahmen der Länder aus dem Finanzausgleich dürfen also durch die Ergänzungsabgabe nicht verringert werden und der Ertrag hieraus muss den Ländern zur eigenen Verfügung bleiben82. Nur so kann die Abgabe tatsächlich ihre Funktion erfüllen, eine überschießende Verschuldung vollständig zu beseitigen. Weiterhin müssen die Zuschläge von Bund und Ländern so bemessen und koordiniert werden, dass eine übermäßige Besteuerung vermieden wird. Die Gesamtbelastung des Steuerpflichtigen muss sich dabei an den Grundrechten messen lassen83. Diesbezüglich hat das BVerfG in einer älteren Entscheidung zu den Schranken der Vermögenssteuer als „Soll-Ertragssteuer“ ausgeführt, dass die steuerliche Gesamtbelastung nach Abzug von Aufwendungen maximal „in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand“84 verbleiben darf. Dem lag die Idee zu Grunde, dass hier vermögenswerte Rechtspositionen jährlich wiederholend besteuert wurden; wurde kein Ertrag erzielt, so musste die Steuer „aus der Substanz“ aufgebracht werden85. Nach einer neueren Entscheidung ist dieser „Halbteilungsgrundsatz“ daher nicht ohne weiteres auf andere Steuerarten übertrag81 Vgl. nur die Diskussionen um die Einführung eines Stufentarifs in der Einkommenssteuer oder einer „negativen Einkommenssteuer“ als Ersatz für Transferleistungen. 82 Schneider, Kommissionsdrucksache 31 der FöKo II, S. 24; Härtel, JZ 2008, 437 (445); vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 120. 83 Nach BVerfG, Urt. v. 08.04.1997 – 1 BvR 48/94, BVerfGE 95, 267 (300) soll Art. 14 GG erst bei erdrosselnder Wirkung der Steuern einschlägig sein. Andererseits wird vom BVerfG, Beschl. v. 18.01.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (110 ff.), das Auferlegen der Einkommens- und Gewerbesteuer als Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 GG qualifiziert, die genaue Abgrenzung zu Art. 2 Abs. 1 GG im Hinblick auf die vorgenannte Entscheidung hingegen offen gelassen. 84 BVerfG, Beschl. v. 22.06.1995 – 2 BvL 37/91, BVerfGE 93, 121 (138). 85 BVerfG, Beschl. v. 18.01.2006 – 2 BvR 2194/99, BVerfGE 115, 97 (109).
216
E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
bar, etwa auf eine Kombination aus Gewerbe- und Einkommenssteuer oder allein die Einkommenssteuer, da hier nur der tatsächliche Hinzuerwerb erfasst wird86. Es lasse sich daher keine allgemein verbindliche, zahlenmäßig fassbare, absolute Belastungsobergrenze ableiten87. Vielmehr sei im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung das Spannungsverhältnis zwischen Eigentumsschutz und einer sozial gerechten Eigentumsordnung zum Ausgleich zu bringen, auch unter Berücksichtigung bereits gewährter Freibeträge, welche die Bemessungsgrundlage vermindern88. Hohe Einkommen dürften auch stark belastet werden, wobei auch ein hohes frei verfügbares Einkommen verbleiben müsse, welches den wirtschaftlichen Erfolg und die Privatnützigkeit des Eigentums angemessen zum Ausdruck bringe. Je höher eine Besteuerung – auch im internationalen Vergleich – ausfalle, umso mehr seien hierfür rechtfertigende Gründe zu fordern89. Überträgt man diese Überlegungen auf das Konzept eines Einkommenssteuerzuschlags, so ergibt sich Folgendes: Zunächst dürfte sich ein Zuschlag, der nur im Ausnahmefall erhoben wird und den Zweck verfolgt, einen in die staatliche Handlungsunfähigkeit führenden Aufwuchs von Kreditzinszahlungen zu vermeiden, eher rechtfertigen lassen, als eine allgemein hoch ausfallende Steuer. Gleichwohl muss die Gesamtsteuerbelastung, im Einzelfall auch unter Ausschöpfung aller Zuschlagskomponenten, dem Einzelnen einen angemessen hohen Anteil am wirtschaftlichen Erfolg belassen. Dem entspricht die hier vorgeschlagene Lösung von Zuschlägen, die der Höhe nach auf 5% der Einkommenssteuer (nicht der Bemessungsgrundlage) beschränkt sind. Sie erlauben eine Vorhersehbarkeit der maximalen Gesamtbelastung. Würden etwa im Extremfall auf den derzeit geltenden Spitzensteuersatz von 45%90 Zuschläge durch Bund und Länder von jeweils 5% (= zusammen 10%) erhoben, so ergäbe sich ein Spitzensteuersatz von 49,5%. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch nach dem Höchstsatz Besteuerte durch den progressiven Steuertarif sowie die Berücksichtigung des steuerfreien Existenzminimums in den Genuss eines darunter liegenden Durchschnittssteuersatzes gelangen. Es zeigt sich also, dass der Höhe nach begrenzte Zuschläge zur Einkommenssteuer durchaus im Bereich des Möglichen liegen. In Konflikt geraten könnte ein Steuerzuschlag indes mit dem Solidaritätszuschlag, da ein aus mehreren Zuschlägen bestehendes Steuersystem unübersichtlich zu werden droht. Angesichts der durch das „Abschmelzen“ der Solidarpaktmittel bis 2019 immer geringer werdenden Förderung der 86 87 88 89 90
BVerfG, Beschl. v. BVerfG, Beschl. v. BVerfG, Beschl. v. BVerfG, Beschl. v. Nach § 32a Abs. 1
18.01.2006 – 18.01.2006 – 18.01.2006 – 18.01.2006 – EStG, BGBl.
2 BvR 2194/99, BVerfGE 2 BvR 2194/99, BVerfGE 2 BvR 2194/99, BVerfGE 2 BvR 2194/99, BVerfGE 2009 I, 3366 (3440 f.).
115, 115, 115, 115,
97 97 97 97
(109). (114). (114 ff.). (116).
II. Verbesserung der Justiziabilität
217
ostdeutschen Länder ist daher eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags als Zusatzbeitrag (ggf. bei vorübergehender anderweitiger Finanzierung notwendiger Ausgaben) zu empfehlen91. e) Zusammenfassung Im Grundgesetz sollte für den Bund die Verpflichtung vorgesehen werden, Abweichungen von der zulässigen Kreditaufnahme ab einem bestimmten Schwellenwert (Kontrollkonto) durch einen Zuschlag zur Einkommenssteuer auszugleichen; für die Länder ist dies systemkonform als Option auszugestalten. Anders als ein hohes Maß an Steuerautonomie erweist sich ein Zuschlagsrecht in Höhe von 5% zur Einkommenssteuer, jeweils für Bund und Länder, als umsetzbar. 4. Ergebnis Zur Beseitigung polit-ökonomischer Fehlanreize ist die strukturelle Verschuldungskomponente zu streichen. Für die Kreditaufnahme in Notsituationen ist eine präzise Tilgungsregelung vorzusehen, etwa eine Regelfrist von 5 Jahren. Schließlich bedarf es einer harten Sanktion für Abweichungen von der zulässigen Kreditaufnahme. Insoweit erweist sich ein Zuschlag zur Einkommenssteuer als wirksames Mittel.
II. Verbesserung der Justiziabilität Wie im Verlauf der Untersuchung mehrfach hervorgehoben wurde, mangelte und mangelt es sowohl vor92 als auch nach93 der Föderalismusreform II an potentiellen Initiatoren eines gerichtlichen Kontrollverfahrens. Hierdurch wird die praktische Durchsetzbarkeit eines jeden Schuldenbegrenzungskonzepts geschwächt. Im Folgenden sollen einige Vorschläge zur Lösung des Problems untersucht werden, namentlich ein Antragsrecht für den Bundesrechnungshof sowie für Fraktionen. Zu fragen ist weiterhin, wie ein solches Antragsrecht in die Verfassung implementiert werden könnte.
91 92 93
Vgl. Deubel, Kommissionsdrucksache 56 FöKo II, S. 12. Vgl. oben unter C. I. 7. b). Vgl. oben unter D. III. 2. d).
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E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
1. Antragsrecht für den Bundesrechnungshof? Ein erster Vorschlag geht dahin, dem Bundesrechnungshof die Initiierung eines Kontrollverfahrens zu ermöglichen94. Dabei könnte es sich entweder um ein spezielles Kontrollverfahren für das Haushaltsgesetz handeln oder um ein Antragsrecht für das abstrakte Normenkontrollverfahren, soweit ein Prüfungsgegenstand des Rechnungshofs betroffen ist. Dafür spricht, dass der Bundesrechnungshof über hohe Sachkunde verfügt95, in Anbetracht der von ihm durchgeführten Wirtschaftlichkeitsprüfung eine besondere Nähe zur Staatsverschuldung aufweist und sich der Unwirtschaftlichkeit der Kreditaufnahme als Finanzierungsinstrument also in besonderem Maße bewusst ist96. Weiterhin kann der Rechnungshof schon jetzt im Rahmen der Ordnungsmäßigkeitsprüfung „Haushaltsansätze und ihre Verwendung als verfassungswidrig beanstanden“97, wobei auch Art. 109, 115 GG als Maßstabsnormen in Betracht kommen98. Außerdem verfügt der Bundesrechnungshof über die notwendige Distanz zu politischen Interessen99, denn er ist – anders als die Regierungsparteien – nicht an einer Ausweitung der Staatsausgaben zur Sicherung der Wiederwahl interessiert100. Die Mitglieder des Bundesrechnungshofs besitzen zudem die richterliche Unabhängigkeit, Art. 114 Abs. 2 S. 1 GG. Zu Recht wird letztlich der Umstand kritisiert, dass der Bundesrechnungshof als „Ritter ohne Schwert“101 94
v. Arnim, DVBl 1983, 664 (668); Korthals, DÖV 2002, 600 (607); KarlBräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler e. V. (Hrsg.), Staatsverschuldung und öffentliche Investitionen, S. 263 ff.; wiederholend dasselbe, Schuldenverbot für Bund und Länder, S. 23; Pünder, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 84; für die Landesebene Rossi, DVBl 2005, 269 (275 f.); ablehnend Böning, Finanzkontrolle im repräsentativ-demokratischen System, in: Böning/Mutius (Hrsg.), Finanzkontrolle im repräsentativ-demokratischen System, S. 39 (53); Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 113, Tz. 181. 95 Rossi, DVBl 2005, 269 (276); Pünder, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 84. 96 Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler e. V. (Hrsg.), Staatsverschuldung und öffentliche Investitionen, S. 265 f. 97 BVerfG, Urt. v. 19.07.1966 – 2 BvF 1/65, BVerfGE 20, 56 (96). Eine solche Beanstandung ist indes „ohne Einfluss auf die Gültigkeit der Bestimmungen des Haushaltsgesetzes“. 98 Höfling, Staatsschuldenrecht, S. 401. 99 Rossi, DVBl 2005, 269 (276); Pünder, in: Isensee/Kirchhof, HdStR, Band V, § 123, Rn. 84. 100 Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler e. V. (Hrsg.), Staatsverschuldung und öffentliche Investitionen, S. 265. 101 Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler e. V. (Hrsg.), Staatsverschuldung und öffentliche Investitionen, S. 264.
II. Verbesserung der Justiziabilität
219
zwar über Jahre hinweg einen Haushalt als verfassungswidrig beanstanden kann, gleichwohl aber Regierung und Parlament tatenlos darüber hinwegsehen könnten und so trotz hoher Gefährdung des Landes kein Verfahren vor dem Verfassungsgericht in Gang gesetzt wird102. Gleichwohl würde die Ausstattung des Bundesrechnungshofs mit einem Antragsrecht etwa im Normenkontrollverfahren eine Verschiebung innerhalb des Gefüges der Gewaltenteilung bedeuten, deren Konsequenzen bedacht sein wollen. Es wurden verschiedenste Auffassungen darüber vertreten, welcher der drei Staatsgewalten der BRH zuzuordnen sei103. Nach Stern weise der BRH Merkmale aller drei Staatsgewalten auf, nämlich Behördenform und Bezeichnung als solche, gerichtsähnliche Kontrollverfahren und Gliederung in Senate sowie Dienstleistungsfunktion für die Regierung sowie die Parlamente, welche unter Zuhilfenahme des Rechnungshofberichts die Entlastung vorzunehmen haben104. Zutreffend wird der BRH daher als besonderes oberes Staatsorgan mit eigenen Aufgaben bezeichnet105. Dem BRH kommt dabei neben der Kontroll- auch eine Beratungsfunktion106 zu. Beispielsweise kann er in den „Bemerkungen“ über die Haushaltsführung Maßnahmen für die Zukunft empfehlen107 und dabei auch auf frühere oder spätere Haushaltsjahre eingehen108. Schon vor Aufstellung des Haushaltsplans kann der BRH zu den Voranschlägen Stellung nehmen (§ 27 Abs. 2 BHO). In seiner Beratungsfunktion ist der BRH zwar nicht im technischen Sinne „Hilfsorgan“ von Parlament und Regierung, wird aber doch unterstützend tätig („Helfer der Parlamente“109). Hinsichtlich der Kontrollfunktion des Bundesrechnungshofs ist darauf hinzuweisen, dass diese deutlich weiter geht als die der ebenfalls unabhängigen Gerichte: Sie umfasst mit den Erwägungen zur Wirtschaftlichkeit ausdrücklich und insbesondere auch die 102
Korthals, DÖV 2002, 600 (607). Ausführliche Darstellung des Streitstands bei Stern, Staatsrecht II, § 34, S. 443 ff. 104 Stern, Staatsrecht II, § 34, S. 447. 105 Stern, Staatsrecht II, § 34, S. 451. 106 Ausführlich zur stetigen Intensivierung der Beratung von Legislative und Exekutive Diederich/Cadel/Dettmar/Haag, Die diskreten Kontrolleure, S. 70 bis 75. 107 § 97 Abs. 2 Nr. 4 BHO. 108 § 97 Abs. 3 BHO. 109 Grupp, Parlamentarische Informationsverlangen über Prüfungen der Rechnungshöfe, in: Grupp/Hufeld (Hrsg.), FS Mußgnug, S. 163 (180). Durch die Unterstützung der Rechnungshöfe werden die Parlamente erst in die Lage versetzt, das Finanzgebaren der Regierungen „mehr als nur oberflächlich zu prüfen“ (Grupp). Der Begriff „Hilfsorgan“ legte indes ein Unterordnungsverhältnis nahe, welches in Anbetracht der richterlichen Unabhängigkeit der Mitglieder des BRH gerade nicht gegeben ist. Zum Ganzen Grupp, ebenda; Stern, Staatsrecht II, § 34, S. 447; ähnlich Arndt, JuS 1990, 343 (345): „dient [. . .] bei der Ausübung der Überwachung“. 103
220
E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
Zweckmäßigkeit des Verwaltungshandelns110. Diese enge Verknüpfung von Zweckmäßigkeitskontrolle und Beratung – schon im Vorfeld des Haushaltsgesetzes – rechtfertigt sich aber gerade daraus, dass der BRH, anders als die Gerichte, über keine Sanktionsmöglichkeiten verfügt111. Erhielte der BRH nun die Antragsberechtigung im Normenkontrollverfahren, so müsste er für den Inhalt seines Petitums politische Verantwortung übernehmen112. Hierdurch wäre jedoch die Kernaufgabe des BRH, nämlich die unabhängige Finanzkontrolle gegenüber Parlament und Regierung, zumindest partiell nicht mehr gewährleistet113. Hinzu kommt, dass eine Klage des BRH politischen Druck erzeugen könnte, der die Akzeptanz der Rechnungsprüfung schwächt und die reguläre Arbeit des BRH, auch dessen Beratung, beeinträchtigen könnte114. Es spricht daher einiges dafür, in Bezug auf den Bundesrechnungshof nichts an der geltenden Rechtslage zu ändern. Der Bundesrechnungshof erreicht über die Bemerkungen zur Haushaltsführung das Parlament, welches seine Argumente zumindest im Entlastungsverfahren debattieren wird und zu entscheiden hat, inwieweit seinen Vorschlägen zu folgen ist115. Wird nur auf anderem Wege dafür Sorge getragen, dass die Vorschläge des BRH auf hinreichend fruchtbaren Boden fallen, so bedarf es keines eigenen Antragsrechts des BRH. Kernaufgabe der Opposition nämlich ist es, das Handeln der die Regierung tragenden Parlamentsmehrheit zu überprüfen und zu hinterfragen116. Würde hier das hinderliche Quorum von „ein Viertel“ der Mitglieder des Bundestages beseitigt, welches bislang de facto nur den großen Volksparteien ein Antragsrecht ermöglicht, könnte die Kontrollfunktion wirksamer ausgeübt werden. Entscheidet das Parlament indes nach dem hier zu unterbreitenden Reformvorschlag nahezu geschlossen, das Haus110 Battis, DÖV 1976, 721 (726); Mutius/Nawrath, in: Heuer/Engels/Eibelshäuser, 28. Lfg. 1999, Art. 114, Rn. 27. 111 In Bezug auf die Zweckmäßigkeitskontrolle Battis, DÖV 1976, 721 (726). 112 Böning, Finanzkontrolle im repräsentativ-demokratischen System, in: Böning/ Mutius (Hrsg.), Finanzkontrolle im repräsentativ-demokratischen System, S. 39 (53). 113 Böning, Finanzkontrolle im repräsentativ-demokratischen System, in: Böning/ Mutius (Hrsg.), Finanzkontrolle im repräsentativ-demokratischen System, S. 39 (53). 114 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 113, Tz. 181; so auch Neidhardt, Staatsverschuldung und Verfassung, S. 234. 115 Böning, Finanzkontrolle im repräsentativ-demokratischen System, in: Böning/ Mutius (Hrsg.), Finanzkontrolle im repräsentativ-demokratischen System, S. 39 (53). 116 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 113, Tz. 181.
II. Verbesserung der Justiziabilität
221
haltsgesetz nicht anzugreifen, so erscheint insoweit ein Eintreten des demokratisch schwächer legitimierten BRH schwer vermittelbar. Ohne ein Klagerecht des BRH de lege ferenda grundsätzlich auszuschließen, soll hier aus den genannten Gründen der Ansatz eines Antragsrechts für die Parlamentsfraktionen präferiert und weiter verfolgt werden. 2. Antragsrecht für Fraktionen Schon jetzt kann das Haushaltsgesetz auf Antrag eines Viertels (25%) der Mitglieder des Bundestages zum Gegenstand eines Normenkontrollverfahrens vor dem BVerfG werden (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG). Wie bereits gezeigt wurde, resultierte aus dem Erfordernis diese Quorums ein erhebliches Kontrolldefizit. Es wurde daher von verschiedenen Autoren eine Absenkung der Klageschwelle auf 20% der Mitglieder des Bundestages117 bzw. ein Antragsrecht für alle Parlamentsfraktionen gefordert118. Letzteres entspräche nach derzeitiger Rechtslage 5% der Mitglieder des Bundestages (§ 10 Abs. 1 GOBT119). Hierdurch würde eine erhebliche Ausweitung des Kreises der potentiellen Antragsteller bewirkt, deren ureigenstes Interesse es ist, das Finanzgebaren der Regierung zu überwachen. Eine solche Klagemöglichkeit ist in einem gesonderten Verfahren auszugestalten, denn aus zweierlei Gründen kann es nicht mit einer bloßen Absenkung der Klageschwelle des Normenkontrollverfahrens auf 5% der Mitglieder des Bundestages sein Bewenden haben: Die „Hürde“ von 25% der Mitglieder des Bundestages dient der Eingrenzung verfassungsrichterlicher Machtfülle, denn gerade die Entscheidungsinitiative und der Entscheidungsgegenstand sollen der Einflusssphäre des Gerichts entzogen sein120. Es soll gerade nicht jeder Gegenstand der politischen Diskussion auch zum Gegenstand verfassungsrichterlicher Kontrolle werden. Andernfalls würde das BVerfG nicht nur überlastet, sondern ob der Alltäglichkeit seiner Entscheidungen in seiner Autorität geschwächt. Senkte man die Antragsschwelle für das Normenkontrollverfahren, zu dessen „Anstoß“ der Kläger nicht in eige117
Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 113, Tz. 181 mit dem weiteren Vorschlag eines beschleunigten Verfahrens. Der Vorschlag einer Absenkung auf 20% ging noch von der damals geltenden Rechtslage aus, wonach das erforderliche Quorum ein Drittel betrug. Mit der gegenwärtigen Rechtslage (ein Viertel) dürfte sich der Vorschlag überholt haben. 118 Vorschlag bei Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2566); Meyer, Kommissionsdrucksache 14 der FöKo II, S. 17. 119 Fassung der Bekanntmachung vom 02.07.1980, BGBl. I, 1237, zuletzt geädert am 06.07.2009, BGBl I, 2128. 120 Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 93, Rn. 119.
222
E. Inhaltliche Ausgestaltung einer Neuregelung
nen Rechten verletzt zu sein braucht121, auf 5% ab, so wäre aus eben diesem Grunde mit einem inflationären Gebrauch der Klagemöglichkeit zu rechnen. Weiterhin eignet sich das Normenkontrollverfahren nur bedingt für eine Überprüfung der Einhaltung der hier vorgeschlagenen Schuldenbegrenzungsregeln: Es ließe nur eine Kontrolle des Haushaltsgesetzes zu – mit der Folge der Nichtigerklärung desselben, § 78 BVerfGG. Möglich sein sollte nach der hier vorgeschlagenen Schuldenbegrenzungsregel jedoch auch, den Gesetzgeber zu verpflichten, den nach Art. 115 Abs. 2 S. 2 Regelungsvorschlag122 obligatorischen Einkommenssteuerzuschlag zu erheben123. Zu untersuchen ist daher, wie sich ein spezielles Kontrollverfahren in die Systematik des Grundgesetzes einfügen würde. Zunächst ist festzustellen, dass das Grundgesetz an verschiedenen Stellen verschiedene Mehrheitserfordernisse zur Stellung von Anträgen kannte und kennt, beispielsweise ein Drittel der Bundestagsmitglieder (Art. 39 Abs. 3 S. 3, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 a. F.), ein Viertel (Art. 44 Abs. 1 S. 1, Art. 61 Abs. 1 S. 2, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 n. F.) und sogar ein Zehntel (Art. 42 Abs. 1 S. 2). Im Ergebnis toleriert das Grundgesetz schon jetzt auch die 5%-Hürde, denn im Organstreitverfahren sind auch mit eigenen Rechten ausgestattete „andere Beteiligte“ (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) parteifähig, wozu gemäß § 10 GOBT die Fraktionen124 als Zusammenschluss von mindestens 5% der Mitglieder des Bundestages gehören. Folgt man dem Vorschlag, den Fraktionen ein Klagerecht in Bezug auf „die Nichteinhaltung der Schuldenbremse (Art. 109, 115 GG) durch das Haushaltsgesetz und durch den Haushaltsvollzug“125 einzuräumen, so handelte es sich um ein Minderheitenrecht, ansatzweise vergleichbar mit dem zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, Art. 44 Abs. 1 S. 1. GG. Im Unterschied zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses nach Art. 44 GG würde hier jedoch kein parlamentsinternes126, sondern ein gerichtliches Verfahren in Gang gesetzt. Weiterhin würde statt des Quorums von einem Viertel der Mitglieder lediglich ein Quorum von 5% bestehen. 121 Vgl. §§ 76 ff. BVerfGG; BVerfG, Urt. v. 05.04.1952 – 2 BvH 1/52, BVerfGE 1, 208 (219 f.). 122 Siehe unten unter, F. II. 123 Vgl. Meyer, Kommissionsdrucksache 14 der FöKo II, S. 18. 124 Zu den Fraktionen BVerfG, Urt. v. 17.07.1984 – 2 BvE 11, 15/83, BVerfGE 67, 100 (126); BVerfG, Urt. v. 08.04.2002 – 2 BvE 2/01, BVerfGE 105, 197 (220). 125 Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2566). 126 Untersuchungsausschüsse unterstützen das Parlament bei seiner Arbeit, werden insoweit als „Hilfsorgan“ tätig, dazu BVerfG, Beschl. v. 02.08.1978 – 2 BvK 1/77, BVerfGE 49, 70 (85); BVerfG, Beschl. v. 15.06.2005 – 2 BvQ 18/05, BVerfGE 113, 113 (120). Der Bundestag bleibt daher „Herr des Untersuchungsverfahrens“, Magiera, in: Sachs, Art. 44, Rn. 11.
II. Verbesserung der Justiziabilität
223
Bei näherer Beleuchtung wird erkennbar, dass ein solches Antragsrecht sowohl gegenüber dem Organstreitverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) als auch gegenüber dem abstrakten Normenkontrollverfahren (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) seine Eigenheiten aufweist: Zwar entspräche das Quorum von 5% dem des Organstreitverfahrens, jedoch würde, anders als in Letzterem, nicht eine Antragsbefugnis im Sinne der Verletzung eigener Rechte Prozessvoraussetzung sein. Vergleichbar dem Normenkontrollverfahren würde der Antragsteller nur den „Anstoß zu der Kontrolle im objektiven Verfahren durch das Gericht“127 geben, wobei jedoch das Normenkontrollverfahren ein Quorum von 25% der Mitglieder des Bundestags voraussetzt. Anders als der Regelgegenstand des Normenkontrollverfahrens zeitigt das kontrollierte Haushaltsgesetz zudem keine Auswirkung gegenüber Dritten128, sondern ist beschränkt auf den organschaftlichen Innenbereich des Staates, auf das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament129. Es wird deshalb auch als „Organgesetz“130 oder „Gesetz im nur formellen Sinn“131 bezeichnet. Die Beschränkung des Kontrollgegenstands auf das Haushaltsgesetz und die zur Einhaltung der Art. 109, 115 GG erforderlichen Maßnahmen132, schlimmstenfalls im Falle des Überschreitens des Kontrollkontos auch das Erheben eines Steuerzuschlags, rückt ein entsprechendes Kontrollverfahren daher in die Nähe des Organstreits und lässt auch das für das erstere vorgesehene Quorum von nur 5% der Mitglieder des Bundestages als geeignet erscheinen. Das Verfahren zur Einhaltung der Schuldenbremse würde somit seinem Inhalt nach eine Zwischenstellung zwischen Organstreit und Normenkontrollverfahren einnehmen, die auch formell die Einrichtung einer eigenen Verfahrensart rechtfertigt. Zusammenfassend kann die Einrichtung eines speziellen Verfahrens empfohlen werden, mit welchem der Antragsteller „die Nichteinhaltung der Schuldenbremse“133 rügen kann. Auch in Bezug auf dieses Verfahren ist davon auszugehen, dass es Vorwirkungen entfaltet, mithin schon in Folge seiner Existenz die Verabschiedung eines verfassungswidrigen Haushalts unterbleiben dürfte134.
127
BVerfG, Urt. v. 05.04.1952 – 2 BvH 1/52, BVerfGE 1, 208 (219). Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 110, Rn. 64 und 68. 129 BVerfG, Urt. v. 19.07.1966 – 2 BvF 1/65, BVerfGE 20, 56 (91 f.); Hillgruber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 110, Rn. 63 f. 130 Stern, Staatsrecht II, § 49 III 4 b), S. 1203. 131 Mit dieser Formulierung damals noch offen lassend BVerfG, Urt. v. 19.07.1966 – 2 BvF 1/65, BVerfGE 20, 56 (92); später entschieden BVerfG, Urt. v. 25.05.1977 – 2 BvE 1/74, BVerfGE 45, 1 (32): „Hoheitsakt in Gesetzesform“. 132 Vgl. Meyer, Kommissionsdrucksache 14 der FöKo II, S. 18. 133 Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2566). 128
F. Regelungsvorschlag Aus den vorgenannten Erwägungen ergibt sich, der Systematik der Art. 109 und 115 GG folgend, exemplarisch für den Bund der folgende Regelungsvorschlag. Dieser berücksichtigt die angestellten Überlegungen und folgt regelungstechnisch auszugsweise den im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Formulierungsvorschlägen von Lange1, Meyer2, Lenz/Burgbacher3, dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung4 sowie dem Vorschlag des Wissenschaftlichen Beirats beim BMF5. Die Länder haben die Möglichkeit, auf Landesebene eine Art. 115 GG vergleichbare oder – innerhalb ihrer Kompetenzen – abweichende Regelung vorzusehen. Auslassungen gegenüber der jetzigen Rechtslage sind in der Grundgesetzregelung und Änderungen bzw. Ergänzungen sind im Regelungsvorschlag kursiv gesetzt. Insgesamt ergeben sich neben inhaltlichen Modifizierungen auch deutliche – aus verfassungsästhetischer Sicht äußerst wünschenswerte – Kürzungen.
134 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 113, Tz. 181. 1 Lange, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 18 f.; betr. Art. 109 Abs. 3 und Art. 115 Abs. 2 des Regelungsvorschlags. 2 Meyer, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 4 f.; betr. Art. 109 Abs. 3 des Regelungsvorschlags. 3 Lenz/Burgbacher, NJW 2009, 2561 (2566); betr. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 a des Regelungsvorschlags. 4 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Hrsg.), Staatsverschuldung wirksam begrenzen, S. 117; betr. Art. 115 Abs. 2 des Regelungsvorschlags. 5 BMF (Hrsg.), Zur Bedeutung der Maastricht-Kriterien für die Verschuldungsgrenzen von Bund und Ländern, S. 48; darauf in Bezug auf die aktuelle Schuldenbremse verweisend Korioth, Stellungnahme zur Anhörung am 04.05.2009, S. 4; betr. Art. 109 Abs. 2 des Regelungsvorschlags.
I. Artikel 109 des Grundgesetzes
225
I. Artikel 109 des Grundgesetzes Artikel 109 Grundgesetz (n. F.) „Haushaltswirtschaft in Bund und Ländern“6
Regelungsvorschlag: Artikel 109 GG
(1) Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirtschaft selbstständig und voneinander unabhängig.
(1) Bund und Länder sind in ihrer Haushaltswirtschaft selbstständig und voneinander unabhängig.
(2) Bund und Länder erfüllen gemeinsam die Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland aus Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaft auf Grund des Artikels 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin und tragen in diesem Rahmen den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung.
(2) Bund und Länder haben bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und den Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Europäischen Union Rechnung zu tragen.
(3) 1 Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. 2 Bund und Länder können Regelungen zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung sowie eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, vorsehen. 3 Für die Ausnahmeregelung ist eine entsprechende Tilgungsregelung vorzusehen. 4 Die nähere Ausgestaltung regelt für den Haushalt des Bundes Artikel 115 mit der Maßgabe, dass Satz 1 entsprochen ist, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten. 5 Die nähere Ausgestaltung für die Haushalte der Länder regeln diese im Rahmen ihrer verfassungs-
(3) 1 Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. 2 Abweichend können Bund und Länder ausschließlich Regelungen zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung sowie eine Ausnahmeregelung für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, deren Eintritt sich der Kontrolle des Staates entzieht und die die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, vorsehen. 3 Für die Ausnahmeregelung ist ein Tilgungsplan vorzusehen.
6 Überschriften nicht amtlich, hier zitiert Sartorius (Begr.): Verfassungs- und Verwaltungsgesetze (Textausgabe), 93. Ergänzungslieferung, München 2010.
226
F. Regelungsvorschlag
Artikel 109 Grundgesetz (n. F.) „Haushaltswirtschaft in Bund und Ländern“6
Regelungsvorschlag: Artikel 109 GG
rechtlichen Kompetenzen mit der Maßgabe, dass Satz 1 nur entsprochen ist, wenn keine Einnahmen aus Krediten zugelassen werden. (4) Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht, für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und für eine mehrjährige Finanzplanung aufgestellt werden.
(4) Durch Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können für Bund und Länder gemeinsam geltende Grundsätze für das Haushaltsrecht, für eine konjunkturgerechte Haushaltswirtschaft und für eine mehrjährige Finanzplanung aufgestellt werden.
(5) 1 Sanktionsmaßnahmen der Europäischen Gemeinschaft im Zusammenhang mit den Bestimmungen in Artikel 104 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin tragen Bund und Länder im Verhältnis 65 zu 35. 2 Die Ländergesamtheit trägt solidarisch 35 vom Hundert der auf die Länder entfallenden Lasten entsprechend ihrer Einwohnerzahl; 65 vom Hundert der auf die Länder entfallenden Lasten tragen die Länder entsprechend ihrem Verursachungsbeitrag. 3 Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
(5) 1 Sanktionsmaßnahmen der Europäischen Union zur Einhaltung der Haushaltsdisziplin tragen Bund und Länder im Verhältnis 65 zu 35. 2 Die Ländergesamtheit trägt solidarisch 35 vom Hundert der auf die Länder entfallenden Lasten entsprechend ihrer Einwohnerzahl; 65 vom Hundert der auf die Länder entfallenden Lasten tragen die Länder entsprechend ihrem Verursachungsbeitrag. 3 Das Nähere regelt ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
Die Änderungen ergeben sich aus folgenden Überlegungen: In Abs. 2 und 5 des Regelungsvorschlags wird, dem Vorschlag des Sachverständigenrats folgend, eine dynamische Verweisung auf das europäische Schuldenbegrenzungskonzept umgesetzt. Die bereits jetzt überholte Konkretisierung auf Art. 104 EGV wurde gestrichen. Die Kürzung gewährleistet zugleich eine bessere sprachliche Verständlichkeit. Abs. 3 S. 2 des Regelungsvorschlags stellt durch die Formulierung „abweichend“ und „ausschließlich“ klar, dass die anschließend folgende Aufzählung von Verschuldungsmöglichkeiten (Konjunkturklausel und Ausnahmeregelung für Notsituationen) abschließend zu verstehen ist. So wird einem Fehlverständnis vorgebeugt, wonach die Formulierung „grundsätzlich“
II. Artikel 115 des Grundgesetzes
227
in Abs. 3 S. 1 des Regelungsvorschlags zum Einfallstor für weitere Ausnahmen werden könnte. Gleichzeitig wird expressis verbis klargestellt, dass weder für den Bund noch für die Länder die Möglichkeit einer strukturellen Verschuldung besteht. Der ungenaue Begriff der „Normallage“ wird vermieden; das Attribut „symmetrisch“ stellt insoweit ausreichend klar, dass die konjunkturelle Entwicklung nicht nur im Abschwung, sondern auch im Aufschwung zu berücksichtigen ist. Die Streichung der Sätze 4 und 5 in Abs. 3 setzt zweierlei um: Inhaltlich dient auch dies der Beseitigung einer strukturellen Verschuldungsmöglichkeit, die, wie gezeigt, aus polit-ökonomischer Sicht zum Missbrauch verleitet. Regelungstechnisch werden zugleich wenig geglückte Verweise beseitigt: Einerseits der den Eindruck eines „dreigliedrigen Bundesstaats“ erweckende Verweis auf Art. 115 GG, andererseits der nach S. 2 bereits selbstverständliche Verweis auf die Kompetenzen der Länder.
II. Artikel 115 des Grundgesetzes Artikel 115 Grundgesetz (n. F.) „Kreditbeschaffung“7
Regelungsvorschlag: Artikel 115 GG
(1) Die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, bedürfen einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Bundesgesetz.
(1) Die Aufnahme von Krediten sowie die Übernahme von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen, die zu Ausgaben in künftigen Rechnungsjahren führen können, bedürfen einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren Ermächtigung durch Bundesgesetz.
(2) 1 Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. 2 Diesem Grundsatz ist entsprochen, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten. 3 Zusätzlich sind bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung die Auswirkungen auf den Haushalt im Aufund Abschwung symmetrisch zu berücksichtigen. 4 Abweichungen der tatsächlichen Kreditaufnahme von der nach den Sätzen 1 bis 3 zulässigen
(2) 1 Zur Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung nach den Vorgaben des Art. 109 Abs. 3 GG wird für den Bund die nähere Ausgestaltung durch Bundesgesetz geregelt, insbesondere die Bereinigung der Einnahmen und Ausgaben um finanzielle Transaktionen, das Verfahren zur Berechnung der Obergrenze der jährlichen Nettokreditaufnahme auf der Grundlage eines Konjunkturbereinigungsverfahrens sowie die Kontrolle und der Ausgleich von Abweichungen der tatsächlichen Kreditaufnahme von der zulässigen Kreditobergrenze. 2 Solche Abweichungen werden
7 Überschriften nicht amtlich, hier zitiert Sartorius (Begr.): Verfassungs- und Verwaltungsgesetze (Textausgabe), 93. Ergänzungslieferung, München 2010.
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F. Regelungsvorschlag
Artikel 115 Grundgesetz (n. F.) „Kreditbeschaffung“7
Regelungsvorschlag: Artikel 115 GG
Kreditobergrenze werden auf einem Kontrollkonto erfasst; Belastungen, die den Schwellenwert von 1,5 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt überschreiten, sind konjunkturgerecht zurückzuführen. 5 Näheres, insbesondere die Bereinigung der Einnahmen und Ausgaben um finanzielle Transaktionen und das Verfahren zur Berechnung der Obergrenze der jährlichen Nettokreditaufnahme unter Berücksichtigung der konjunkturellen Entwicklung auf der Grundlage eines Konjunkturbereinigungsverfahrens sowie die Kontrolle und den Ausgleich von Abweichungen der tatsächlichen Kreditaufnahme von der Regelgrenze, regelt ein Bundesgesetz. 6 Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden. 7 Der Beschluss ist mit einem Tilgungsplan zu verbinden. 8 Die Rückführung der nach Satz 6 aufgenommenen Kredite hat binnen eines angemessenen Zeitraums zu erfolgen.
auf einem Kontrollkonto erfasst; Belastungen, die den Schwellenwert von 0,5 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt überschreiten, sind zur Mitte des nächsten Haushaltsjahres festzustellen und durch eine Ergänzungsabgabe auszugleichen. 3 Für die Überschreitung der Kreditobergrenzen im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, deren Eintritt sich der Kontrolle des Staates entzieht und die die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, bedarf es eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages. 4 Der Beschluss ist mit einem Tilgungsplan zu verbinden. 5 Die Rückführung der nach Satz 3 aufgenommenen Kredite hat in der Regel binnen 5 Jahren zu erfolgen.
Die Änderungen ergeben sich aus folgenden Überlegungen: Die Streichung von Abs. 2 S. 1 sowie die Modifikation von Abs. 2 S. 3 vermeidet Dopplungen mit Art. 109 Abs. 3 GG. Durch die Streichung von Abs. 2 S. 2 erfolgt die Beseitigung der strukturellen Verschuldungskomponente mit dem Ziel, polit-ökonomische Fehlanreize zu vermeiden. Abs. 2 S. 2 des Regelungsvorschlags setzt den oben vorgeschlagenen Ausgleich von Überschreitungen der zulässigen Kreditobergrenze im Wege des Einkommenssteuerzuschlags um. Dabei wird der relativ geringe Wert von 0,5 v. H. des BIP als Toleranzgrenze für das Kontrollkonto gewählt, um wiederum polit-ökonomische Fehlanreize zur Verschuldung zu minimieren.
III. Artikel 93 des Grundgesetzes
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Aus dem genannten Grund wurde in Abs. 2 S. 5 zudem die Regeltilgungsfrist von 5 Jahren für Kreditaufnahmen nach S. 2 (Notsituationen) umgesetzt.
III. Artikel 93 des Grundgesetzes Artikel 93 Grundgesetz (n. F.) „Bundesverfassungsgericht, Zuständigkeit“8
Regelungsvorschlag: Artikel 93 GG
(1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: 1. über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind; 2. bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetz [. . .]
(1) Das Bundesverfassungsgericht entscheidet: 1. über die Auslegung dieses Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch dieses Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind; 1 a. bei Meinungsverschiedenheiten, in denen der Antragsteller die Nichteinhaltung der Schuldengrenzen (Art. 109, 115) rügt, auf Antrag eines Zwanzigstels der Mitglieder des Bundestages; 2. bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetz [. . .]
Durch die neue Klagemöglichkeit in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 a. wird das Kontrolldefizit im Hinblick auf die Nichteinhaltung der Schuldenbegrenzungsregeln beseitigt. Wurde oben herausgearbeitet, dass diese Klagemöglichkeit ihren Voraussetzungen und Wirkungen nach zwischen Organstreit und abstrakter Normenkontrolle anzusiedeln ist, so wird dies systematisch im Regelungsvorschlag durch die Ergänzung eines Abs. „1 a.“ zwischen den genannten Klagearten berücksichtigt. Da das Grundgesetz den Begriff der „Parlamentsfraktion“ bislang nicht verwendet, wurde durch die Umschreibung „ein Zwanzigstel der Mitglieder des Bundestages“ eine behutsame Anpassung an den Sprachstil des Grundgesetzes gewählt (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2: „ein Viertel der Mitglieder des Bundestages“). 8 Überschriften nicht amtlich, hier zitiert Sartorius (Begr.): Verfassungs- und Verwaltungsgesetze (Textausgabe), 93. Ergänzungslieferung, München 2010.
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F. Regelungsvorschlag
IV. Notwendige Folgeänderungen Die Einführung einer Schuldenbremse mit Steuerzuschlag zieht notwendige Folgeänderungen in der Finanzverfassung, insbesondere hinsichtlich der Verteilung des Steueraufkommens (Art. 106 GG) und des Finanzausgleichsystems (Art. 107 GG) nach sich. Weiterhin bedürfen die vorgeschlagenen Regelungen der einfachgesetzlichen Konkretisierung, welche mit der geltenden Rechtslage sowie weiteren, hier nicht im Einzelnen darstellbaren Reformvorschlägen, insbesondere des Steuerrechts, in Einklang zu bringen sind.
G. Zusammenfassung in Thesen 1. Die stetig wachsende Staatsverschuldung stellt eine elementare Bedrohung des modernen Verfassungsstaates dar. Es sind Maßnahmen zu ihrer Beschränkung zu treffen. 2. Begrifflich zu unterscheiden sind konjunkturelle und strukturelle Verschuldung. Durch konjunkturelle Verschuldung gleicht der Staat Mindereinnahmen und Mehrausgaben aus, die in Folge von Schwankungen der Konjunkturlage entstehen. Strukturelle Verschuldung besteht dann, wenn die Kreditaufnahme zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben erfolgt, denen selbst bei gedachter konjunktureller Normallage keine regulären Einnahmen gegenüberstehen. 3. Überträgt man diesen Systematisierungsansatz auf das Regelungskonzept der bisherigen Verschuldungsgrenzen des Grundgesetzes, Art. 109 und 115 a. F., so ergibt sich eine konjunkturelle Verschuldungskomponente (Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts) und eine strukturelle Verschuldungskomponente (Investitionssummengrenze). 4. Diese Verschuldungsgrenzen konnten die Staatsverschuldung nicht hinreichend wirksam beschränken. Sie haben der Staatsverschuldung konzeptionell keine engen Grenzen gesetzt und wurden zudem extensiv ausgelegt. 5. Hauptsächlicher Mangel sowohl der Investitionsklausel als auch der Begrenzung der Staatsverschuldung nach dem Konzept des „gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ ist die mangelnde Bezifferbarkeit beider Klauseln. Dies erschwert die Handhabbarkeit der Regelungen und macht eine gerichtliche Kontrolle nahezu unmöglich. Zudem hat das Fehlen einer konkret bezifferbaren Regelung in Bezug auf die Rückzahlungspflicht von Krediten zum ständigen Anwachsen des Gesamtschuldenstandes geführt. 6. Im Hinblick auf die Investitionsklausel ist dem Haushaltsgesetzgeber mangels eindeutiger Konkretisierung des Begriffs Investition, auch durch das BVerfG, ein bewusst verfassungswidriges Verhalten nicht zu unterstellen. In Bezug auf die Pflicht zur Wahrung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ist festzustellen, dass das daraus folgende Verbot eines prozyklischen Verhaltens nicht eingehalten wurde. 7. Nicht erfasst wurde von den bisherigen Schuldenbegrenzungsregeln ein von der Haushaltsplanung abweichender Haushaltsvollzug.
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G. Zusammenfassung in Thesen
8. Die von den Schuldengrenzen befreiten Sondervermögen haben einen erheblichen Beitrag zur Verschuldung geleistet. Sie wurden eingesetzt, um die Verschuldungsgrenzen zu umgehen und das tatsächliche Ausmaß der Verschuldung zu verschleiern. 9. Begünstigt wurde die Missachtung der Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (These 6) durch den Mangel an möglichen Initiatoren eines gerichtlichen Kontrollverfahrens. 10. Ein weiterer Mangel des Rechtsschutzes besteht darin, dass die nachträgliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Haushaltsgesetzes dessen Folgen für die Staatsfinanzen – nämlich die Erhöhung des Schuldenstandes – nicht zu beseitigen vermag. Es fehlt an einer „konstruktiven Sanktion“ zur Wiedergutmachung. 11. Die Verschuldungsgrenzen in den Landesverfassungen (a. F.) gleichen im Wesentlichen denen des Bundes. Gleichwohl sind die Länder deutlich unterschiedlich stark verschuldet. Dies lässt auf eine unterschiedliche Anwendung der Regeln schließen. 12. Aus dem Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) lässt sich nicht unmittelbar eine bestimmte Grenze der Staatsverschuldung ableiten. Schuldengrenzen konkretisieren vielmehr das Demokratieprinzip für den Bereich der Staatsverschuldung; das im Rahmen dieser Untersuchung entworfene Regelungskonzept orientiert sich daher an dem Grundgedanken, die Handlungsund Entscheidungsfähigkeit des zukünftigen Gesetzgebers möglichst weitgehend zu wahren. 13. Die starren europarechtlichen Referenzwerte zur Schuldenbegrenzung (maximal 3% des BIP Neuverschuldung jährlich und maximaler Schuldenstand von 60% des BIP) sind hervorragend operabel und ermöglichen eine eindeutige Kontrolle. Anders als die deutsche Regelung erfasst der zweite Referenzwert auch den Gesamtschuldenstand. 14. Das europäische Regelungskonzept berücksichtigt jedoch nicht den zyklischen Konjunkturverlauf und wird daher durch Ausnahmen und Ermessensspielräume im Defizitverfahren zunehmend relativiert. Die Einhaltung der Defizitgrenzen kann durch die vorgesehenen Sanktionen nur begrenzt erzwungen werden. Die stärkste Wirkung ist insoweit dem Gruppendruck der Mitgliedsstaaten beizumessen; dennoch hängt die Einhaltung der Referenzwerte signifikant vom politischen Willen des jeweiligen Mitgliedsstaats ab. 15. Durch inkonsequente Anwendung wurde das Defizitverfahren in seiner Glaubwürdigkeit und damit auch in seiner Durchsetzungskraft geschwächt.
G. Zusammenfassung in Thesen
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16. Das Europarecht leistet keine Aufteilung der Defizitgrenzen auf die verschiedenen Ebenen der Mitgliedsstaaten; diese ist durch nationale Schuldenbegrenzungsregeln sicherzustellen. 17. Verursacht wird ein irrational hohes Maß an Staatsverschuldung durch polit-ökonomische Fehlanreize. Da Politiker auf Wiederwahl und damit auf Stimmenmaximierung bedacht sind, wird der Bedienung kostenintensiver Partikularinteressen gegenüber der nachhaltigen Solidität öffentlicher Finanzen als Kollektivgut der Vorrang eingeräumt. Aus diesem Dilemma kann der einzelne, isoliert betrachtet rational handelnde Entscheidungsträger unter den bisherigen (!) Bedingungen nicht ausbrechen. 18. Die Ausgestaltung von Verschuldungsgrenzen muss systemkonform erfolgen. Einer niedrigen Autonomie der Gebietskörperschaften in der Festlegung von Einnahmen und Ausgaben entspricht eine niedrige Autonomie in der Verschuldung und umgekehrt. Wird eine nicht systemkonforme Ausgestaltung gewählt, stellt dies einen Fehlanreiz zu überhöhter Verschuldung auf Kosten der bundesstaatlichen Gemeinschaft dar. 19. Mit der Föderalismusreform II wurde das grundgesetzliche Schuldenbegrenzungskonzept reformiert, indem die sog. „Schuldenbremse“ eingeführt wurde. Das „Herzstück“ der Neuregelung stellt der Grundsatz der Nullverschuldung dar. Davon abweichend sind Ausnahmen normiert. 20. Für den Bund sieht die Regelung in Art. 109, 115 GG eine konjunkturelle Verschuldungskomponente, eine strukturelle Verschuldungskomponente und eine Ausnahmeregelung für Notsituationen vor. Die konjunkturelle Verschuldungskomponente berücksichtigt die finanziellen Auswirkungen des Auf- und Abschwungs und ermöglicht dadurch eine antizyklische Haushaltspolitik, welche den Schuldenstand auf lange Sicht nicht erhöht. Die strukturelle Verschuldungskomponente beträgt 0,35% des BIP jährlich und führt mangels Tilgungspflicht nach wie vor zur Erhöhung des Gesamtschuldenstands. Die Ausnahmeregelung für außergewöhnliche Notsituationen ist eng auszulegen; die Kredite sind zu tilgen. 21. Für die Länder sieht Art. 109 GG die Möglichkeit vor, eine konjunkturelle Verschuldungskomponente sowie eine Ausnahmeregelung für Notsituationen vorzusehen, nicht aber eine strukturelle Verschuldungskomponente. 22. Die Auffassung, wonach die „Schuldenbremse“ für die Länder gegen das Bundesstaats- und Demokratieprinzip und damit gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoße, trifft nicht zu. Die Regelung lässt sich zwar nicht über die Beteiligung der Länder am Gesetzgebungsverfahren rechtfertigen, weil die grundgesetzlichen Kompetenznormen kein dispositives Recht darstellen. Zu berücksichtigen ist hingegen, dass den Ländern das Recht zur Verschuldung
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G. Zusammenfassung in Thesen
in konjunkturell schlechten Zeiten sowie das Recht zur Verschuldung in Notsituationen verbleibt. Das Recht zur strukturellen Verschuldung stellt keine conditio sine qua non für die Eigenstaatlichkeit der Länder dar. Zu gewährleisten ist indes eine insgesamt hinreichende Finanzausstattung, die den Ländern eine autonome Politikgestaltung ermöglicht. 23. Die Schuldenbremse stellt aus verfassungsästhetischer Sicht keinen Systembruch wegen ihrer Regelungsdichte dar, denn, so wie das Staatsorganisationsrecht, erfordert auch das Staatsschuldenrecht wegen seiner Begrenzungsfunktion möglichst eindeutige Regelungen unmittelbar im Grundgesetz. Dennoch enthält die Schuldenbremse in ihrer konkreten Ausgestaltung einige zu streichende Doppelungen sowie misslungene Formulierungen. 24. Die Bestimmbarkeit der Kreditobergrenze wurde durch die Schuldenbremse verbessert; sie lässt sich für die einzelnen Verschuldungskomponenten berechnen. 25. Die Schuldenbremse stellt im Hinblick auf die polit-ökonomischen Fehlanreize zu überhöhter Verschuldung eine Verbesserung gegenüber der bisherigen Rechtslage dar. Sie enthält eine angemessene Regelung zur Berücksichtigung der Konjunktur, welche prozyklisches Verhalten ausschließt. Dennoch wurde das Problem der sich ständig akkumulierenden Gesamtverschuldung durch strukturelle Neuverschuldung lediglich verringert, aber nicht in Gänze gelöst. Zu empfehlen ist der zukünftige Verzicht auf jegliche strukturelle Neuverschuldung. Weiterhin fällt die Tilgungspflicht für die Kreditaufnahme in Notsituationen in zeitlicher Hinsicht zu unbestimmt aus; sie ist zu präzisieren. Zu empfehlen ist eine Regeltilgungsfrist von 5 Jahren. 26. Die Sanktionsmechanismen wurden verbessert. Positiv hervorzuheben ist der Ansatz, Abweichungen der tatsächlichen Kreditaufnahme von der nach Art. 109, 115 GG zulässigen Kreditaufnahme, etwa durch den Haushalsvollzug, auf einem Kontrollkonto mit Rückführungspflicht zu erfassen. Die Tilgungsregelung fällt indes zu großzügig aus; es ergibt sich daher aus polit-ökonomischer Sicht der Fehlanreiz, das Kontrollkonto „belastet“ an eine Nachfolgeregierung zu übergeben. 27. Als konstruktive Sanktion zur Beseitigung eines etwaigen verfassungswidrigen Haushaltsgesetzes sollte ein automatischer Zuschlag zur Einkommensteuer erhoben werden. Hierdurch wird sichergestellt, dass jene Regierung, welche Ausgaben tätigt, auch die politische Verantwortung für die Generierung der notwendigen Einnahmen übernehmen muss. Da für die Regierung ein polit-ökonomischer Anreiz besteht, das Erheben des Zuschlags zu vermeiden, wird dieser nicht zu einer ständigen Erhöhung der Steuerlast führen. Vielmehr wird für jede staatliche Leistung deutlicher hinterfragt werden, ob sie zusätzliche Belastungen der Steuerzahler rechtfertigt.
G. Zusammenfassung in Thesen
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28. Für den Erfolg, welcher sich aus einer zwangsweise durchsetzbaren Schuldenbegrenzungsregel ergibt, sprechen die Beispiele der Kommunalaufsicht (Druck „von oben“) und des IWF (Druck „von außen“). 29. Um zu vermeiden, dass ein Steuerzuschlagsrecht in Folge der Mobilität der Bemessungsgrundlage konterkariert wird, darf nur ein begrenzter Zuschlag erhoben werden, etwa innerhalb eines Korridors von 5%. 30. Geringe Abweichungen sind auf einem Kontrollkonto zu erfassen und auszugleichen. So werden Fehlentwicklungen vermieden, nämlich einerseits ein Gewöhnungseffekt an einen allzu häufig zu erhebenden Zuschlag, andererseits eine einseitige und damit ungleiche Belastung der Einkommenssteuerzahler gegenüber anderen Steuerzahlergruppen. 31. Der Steuerzuschlag ist so in das Steuersystem zu integrieren, dass eine übermäßige Belastung der Steuerzahler vermieden wird. Zur Förderung der Transparenz ist die Abschaffung der gesonderten Erhebung des Solidaritätszuschlages zu empfehlen. 32. Im Grundgesetz sollte ein Einkommenssteuerzuschlag für den Bund festgeschrieben werden; für die Länder ist er systemkonform als Option auszugestalten. 33. Zur Verbesserung der Justiziabilität ist die Einrichtung eines speziellen Kontrollverfahrens zu empfehlen, mit welchem jede Parlamentsfraktion die Nichteinhaltung der Schuldenbremse rügen kann.
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Sachwortverzeichnis abstrakte Normenkontrolle 72 aktive konjunkturelle Verschuldung 29, 41 Anspruchsdenken der Wähler 119 antizyklische Fiskalpolitik 24, 29, 53, 57, 69, 180 Aufweichung der Defizitkriterien 89, 101 Außenwirtschaftliches Gleichgewicht 46 Begründungspflicht 52 Beschäftigungsstand, hoher 46 Beurteilungsspielraum 34, 41, 50, 60, 88 Bezifferbarkeit von Schuldenbegrenzungsregeln 40 Bruttoinvestitionsbegriff 31 Budgetrestriktion, Lockerung der 108 Bundestreue 130 Crowding out 23 Darlegungslast 51 Darlehen 33 Defizitkriterien 88 Defizitverfahren 85, 91 Demokratieprinzip, Verschuldungsgrenzen 80 Desinvestitionen 33 Eigennutz-Axiom 106 Ersatzinvestitionen 32, 35 Euro-Rettungsschirm 101 europarechtliche Verschuldungsgrenzen 83 Evidenzkontrolle 34, 52 extreme Haushaltsnotlage 130
Fiskalillusion 125 Föderalismusreform 67, 139 Generationengerechtigkeit 39, 210 Gesamtdeckung, Grundsatz der 40 Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht 27, 41 Gewährleistungen 33 Glaubwürdigkeitsverlust 100 Globalsteuerung 41, 59 Handlungsspielraum, Einschränkung 39, 43, 83, 112, 116 Haushaltsautonomie 145, 147 Haushaltsdisziplin 79 Haushaltsnotlage 19, 189 Haushaltsvollzug, asymmetrischer 67, 74, 186 Hyperinflation 72 Individualrechtsblindheit 71, 186 – Antragsrecht Bundesrechnungshof 218 – Antragsrecht Fraktionen 221 – spezielles Kontrollverfahren 222 Internationaler Währungsfonds (IWF) 206 Investitionsklausel 28, 30–31, 38, 64, 68, 92 Justiziabilität 44, 49, 179, 217 Koalitionsdilemma 114 Kollektivgüterproblem 115, 121 Kommunalaufsicht 203–204 Konfliktverlagerung in die Zukunft 111
260
Sachwortverzeichnis
konjunkturelle Verschuldung 28, 140, 142, 179 Konjunkturkomponente 140 Konjunkturpaket 29, 57 Konjunkturpolitik, aktive 59 Konkretisierungsspielraum 35 Konsumausgaben 40 Kontrollkonto 213 Konversionen 72 Lastenverschiebung in die Zukunft 123 Maastricht-Kriterien 85 Nettoinvestitionsbegriff 32, 36 No-Bail-out-Klausel 101 Normallage 180 Nullverschuldung, Grundsatz der 139, 199 Operationalität 44, 47–48, 86 Organstreit 74 Passive konjunkturelle Verschuldung 28 Pay as you use 32, 38 polit-ökonomische Ursachen für Staatsverschuldung 103, 190, 196 Preiswertstabilität 45, 102 Primärsaldo 18 Prinzipal-Agent-Problem 128 prozyklische Finanzpolitik 42, 53, 55, 184 Referenzwerte 86, 88 Regelungsvorschlag 224 Sanktionen 70, 75, 94, 186, 204, 211 Schuldenbremse 20, 127, 139, 143 – Ausgestaltung 139 – Beteiligung der Länder 151 – Bewertung 179
– Bundesstaatsprinzip 143, 145 – Demokratieprinzip 166 – europarechtliche Anforderungen 193 – Handlungsspielraum 162, 168 – konjunkturelle Verschuldungskomponente 140, 142, 179, 190 – Kontrollkonto 186 – Normallage 180 – Notsituationen 141, 143, 182, 190 – Nullverschuldung, Grundsatz der 139 – Rechtmäßigkeit 143 – Stabilitätsrat 188 – strukturelle Verschuldungskomponente 140, 142, 182, 190 – Systemkonformität 192 – Verfassungsästhetik 169 – Zweckmäßigkeit 168 Schuldenfalle 19 Schuldenstand 17, 92 Schuldenstandsquote 18 Sondervermögen 60–64, 66, 111, 185 Sozialversicherung 84 Spannungsverhältnis von Teilzielen 48 Stabilitäts- und Wachstumspakt 84, 100 Stabilitätsrat 188 Steuerautonomie 133–135 Steuerungsschwäche 75 Steuerzuschlag 198–202, 210–211, 213 strukturelle Verschuldung 28–29, 140, 142, 182, 196 Systemkonformität 133, 192 Unmerklichkeit der Kreditaufnahme 110 Ursachen für Staatsverschuldung 26 Verfassungsbeschwerde 71 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 50
Sachwortverzeichnis Verschleierung 64, 66, 126 Vertragsverletzungsverfahren 93 Wiedervereinigung 55, 62–63, 129 Wiederwahlinteresse 106 Wirtschaftswachstum 47, 92 Zahlungsunfähigkeit 99
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Zeithorizont 123 Zins-Ausgaben-Quote 65 Zins-Steuer-Quote 65, 131 Zinslast 19 Zuschlag zur Einkommenssteuer 199, 211 Zwangsanleihen 72 Zwangssparen 203, 206, 208, 210