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German Pages 296 [297] Year 2017
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament · 2. Reihe Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)
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Christiane Böhm
Die Rezeption der Psalmen in den Qumranschriften, bei Philo von Alexandrien und im Corpus Paulinum
Mohr Siebeck
Christiane Böhm, geboren 1983; Studium der Ev. Theologie in Kiel, Uppsala und Heidelberg; 2010–11 Wissenschaftliche Angestellte am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Sozialethik an der CAU Kiel; 2016 Promotion; seit 2017 Pastorin in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland.
e-ISBN PDF 978-3-16-155209-0 ISBN 978-3-16-154664-8 ISSN 0340-9570 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2017 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden.
Für Alexander
Vorwort Die vorliegende Studie ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die unter dem Titel „Die Rezeption der Psalmen in den Qumranschriften, bei Philo von Alexandrien und im Corpus Paulinum“ an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel am 26.01.2015 eingereicht und im Wintersemester 2015/16 angenommen wurde. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Dieter Sänger, der es verstanden hat, mich immer wieder zu motivieren und mir neue Wege im Denken und Arbeiten zu eröffnen. Ich danke Prof. Dr. Enno Edzard Popkes für die Übernahme des Zweitgutachtens sowie Prof. Dr. Jörg Frey für die Aufnahme der Arbeit in die 2. Reihe der „Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament“. Herzlich danken möchte ich Prof. (em.) Dr. Rüdiger Bartelmus für hilfreiche Hinweise während der Entstehung der Dissertation sowie Dr. Felix John, der mir mit Tipps und immer einem guten Wort zur Seite stand. Dank gebührt auch Dipl.-Bibliothekar Rolf Langfeldt, der mich bei der Literatursuche unterstützt hat und Stefanie Christine Hertel-Holst für ihre Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage. Sodann danke ich der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, die es mir durch Stipendien ermöglicht haben, eine Doktorarbeit in Angriff zu nehmen. Mein großer Dank gilt auch meinen Eltern Christa und Hans-Viktor Krolovitsch, die mich während des Studiums immer unterstützt und bestärkt haben. Sie ermöglichten mir die Teilnahme an mehreren Exkursionen in den Nahen und Mittleren Osten, wodurch ich die Welt und Umwelt der biblischen Texte hautnah erleben konnte. Meiner Schwiegermutter Gerburg Böhm danke ich für ihre Hilfe bei Korrekturarbeiten. Mein Mann Alexander hat meine Entscheidung zu diesem Werk von Anfang an mit getragen. Er hat mich in den Phasen der Begeisterung begleitet, aber auch auf den Durststrecken der Forschung. Der Austausch mit ihm eröffnete mir oftmals neue Perspektiven und brachte manchen Knoten zum Platzen. Als Ausdruck meiner tiefen Dankbarkeit für das Verständnis und für die vielen Entbehrungen während der Zeit der Promotion widme ich dieses Buch meinem Mann Alexander. Bordesholm, im Frühjahr 2017
Christiane Böhm
Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................... VII
Einleitung................................................................................................... 1 1. Das Thema ................................................................................................ 1 2. Stand der Forschung .................................................................................. 1 3. Methodisches Vorgehen ............................................................................ 3 4. Abkürzungen ............................................................................................. 4
Kapitel 1: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran ............................ 5 Einleitung ...................................................................................................... 5 1. Hinführung zum Thema ....................................................................... 5 2. Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran: Befund und Präzisierung der Fragestellung .................................................................................. 6 I. Die Rolle 11QPsa und ihr Inhalt ................................................................. 8 1. Beschaffenheit der Rolle ...................................................................... 8 2. Der Text der Rolle................................................................................ 9 3. Tabelle: Der Inhalt der Rolle 11QPsa (= 11Q05) .................................11 II. Struktur- und Inhaltsanalyse ....................................................................12 1. Die Rahmung der Psalmensammlung durch Ps 101 und 2. Sam 23,7 + David’ s Compositions ..................................................13 1.1. Ps 101 und 2. Sam 23,7 ...............................................................14 1.2. Die Komposition „David’ s Compositions“ und ihre Einbettung in den Kontext ....................................................16 Exkurs I: Die Davidisierung der Psalmen ..........................................21 2. Eröffnung durch die Davidsammlung Ps 101–103.109 ........................24 3. Ps 118 und die Halleluja-Sammlung Ps 104–147–105–146–148 .........26 3.1. Ps 118 .........................................................................................27 3.2. Ps 104 .........................................................................................29 3.3. Ps 147 .........................................................................................30 Exkurs II: Die Armenfrömmigkeit in Qumran und im Psalter ............31
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Inhaltsverzeichnis
3.4. Ps 105 .........................................................................................35 3.5. Ps 146 .........................................................................................37 3.6. Ps 148 .........................................................................................38 3.7. Zusammenfassung ......................................................................41 4. Ps 121–132.119 in Kol III-XIV ...........................................................42 4.1. Charakteristika und Inhalt des Wallfahrtspsalters Ps 120–134PMT............................................................................43 4.2. Theologie der Ps 120–134 ...........................................................49 4.3. Einbettung der Ps [120]–132 in 11QPsa ......................................50 Exkurs III: Die Gemeinschaft der Qumranfrommen und der Jerusalemer Tempel ........................................................51 5. Ps 135f. + Katene + Ps 145 (Kol XIV–XVII) ......................................57 6. syr Ps II – Plea for Deliverance – Ps 139 – 137 – 138 .........................63 7. Sir 51 – Apostrophe to Zion – Ps 93 ....................................................67 8. Ps 141 – 133 – 144 – syr Ps III – Ps 142 – 143 ....................................70 9. Ps 149 – 150 – Hymn to the Creator ....................................................74 10. Ps 140 – 134 – 151 A und B ..............................................................78 III. Zusammenfassung der Ergebnisse ..........................................................82
Kapitel 2: Die Verwendung der Psalmen im Allegorischen Kommentar des Philo von Alexandrien .................85 Einleitung .....................................................................................................85 1. Vorgehen und Leitfragen .....................................................................85 2. Liste der Psalmzitate im Allegorischen Kommentar Philos .................86 I. Analyse der Psalmzitate ............................................................................92 1. Die Psalmzitate im Kontext von De gigantibus und Quod deus sit immutabilis ...................................................................92 2. Die Psalmzitate im Kontext von De agricultura ..................................97 3. Die Psalmzitate im Kontext von De plantatione ................................ 100 4. Die Psalmzitate im Kontext von De confusione linguarum ................ 103 5. Die Psalmzitate im Kontext von De migratione Abrahami ................ 106 6. Das Psalmzitat im Kontext von De fuga et inventione ....................... 109 7. Das Psalmzitat im Kontext von De mutatione nominum .................... 110 8. Die Psalmzitate im Kontext von De somniis ...................................... 111 9. Die Psalmzitate im Kontext von Quaestiones in Genesim et Exodum ........................................................................... 115 Exkurs: Philos Schriftverständnis .......................................................... 117 II. Zusammenfassung ................................................................................. 121
Inhaltsverzeichnis
XI
Kapitel 3. Die Psalmen im Corpus Paulinum................................. 127 Einleitung ................................................................................................... 127 1. Hinführung zum Thema .................................................................... 127 2. Methodische Vorgehensweise ........................................................... 128 3. Die paulinische Textvorlage .............................................................. 130 3.1. Übereinstimmung mit dem vermutlich ältesten Vorlagentext .... 131 3.2. Einschub einer Partikel ............................................................. 131 3.3. Inhaltliche Änderungen des Vorlagentextes .............................. 131 3.4. Stilistische bzw. grammatische Änderungen des Vorlagentextes .................................................................... 132 Analyse der Psalmzitate in den paulinischen Schriften ............................... 133 1. Der 1. Korintherbrief......................................................................... 133 1.1. Das Zitat von Ψ 93,11 im Kontext von 1. Kor 3,20 ................... 134 1.2. Das Zitat von Ψ 23,1 im Kontext von 1. Kor 10,26 ................... 138 1.3. Die Zitate von Ψ 109,1 und Ψ 8,7 im Kontext von 1. Kor 15,25–27 ....................................................................... 143 2. Der 2. Korintherbrief......................................................................... 153 2.1. Das Zitat von Ψ 115,1 im Kontext von 2. Kor 4,13 ................... 154 2.2. Das Zitat von Ψ 111,9 im Kontext von 2. Kor 9,9 ..................... 156 3. Der Römerbrief ................................................................................. 160 3.1. Das Zitat von Ψ 61,13 im Kontext von Röm 2,6 ....................... 161 3.2. Die Psalmzitate im Kontext von Röm 3,1–20............................ 165 3.2.1. Ψ 115,2 und Ψ 50,6 in V. 4............................................... 165 3.2.2. Die Katene in V. 10–18 und V. 20 .................................... 168 3.3. Das Zitat von Ψ 31,1.2 im Kontext von Röm 4,7.8 ................... 174 3.4. Das Zitat von Ψ 43,23 im Kontext von Röm 8,36 ..................... 176 3.5. Die Zitate von Ψ 18,5 und Ψ 68,23f. im Kontext der Israelkapitel Röm 9–11 ............................................................. 180 3.6. Die Psalmzitate im Kontext von Röm 15. ................................. 188
Kapitel 4. Auswertung ............................................................. 201 1. Leitfragen der Auswertung ................................................................ 201 2. Auswertung der Psalmenrezeption bei Paulus ................................... 201 2.1. Die Funktion der Zitate in ihrem neuen Kontext ....................... 201 2.2. Themenbereiche, in denen Psalmzitate verwendet werden ........ 205 Exkurs: „Die Schrift“ bei Paulus – Ihre Bedeutung und Autorität .... 207 2.3. Gesamtverständnis der Psalmen bei Paulus ............................... 208 2.3.1. Die Psalmzitate im Blick auf die Anthropologie der Psalmen ..................................................................... 208
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Inhaltsverzeichnis
2.3.2. Die Psalmzitate im Blick auf die Israelfrage ..................... 209 2.3.3. Die Psalmzitate im Blick auf das göttliche Handeln in Schöpfung und Geschichte ........................................... 209 3. Auswertung der Psalmenrezeption bei Philo von Alexandrien........... 210 3.1. Die Funktion der Zitate in ihrem neuen Kontext ....................... 210 3.2. Themenbereiche, in denen Psalmzitate verwendet werden ........ 211 3.3. Gesamtverständnis der Psalmen bei Philo ................................. 212 4. Auswertung der Psalmenrezeption in Qumran ................................... 213 5. Abschließende Auswertung ............................................................... 215
Anhang: Liste der paulinischen Differenzen ............................................... 219 Literaturverzeichnis .................................................................................... 223 Stellenregister............................................................................................. 251 Autorenregister ........................................................................................... 277 Sachregister ................................................................................................ 282
Einleitung 1. Das Thema Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Rezeption der Psalmen in der Komposition 11QPsa aus Qumran, im Allegorischen Kommentar des Philo von Alexandrien sowie im Corpus Paulinum. Die Psalmen gehören neben dem Pentateuch und den großen Schriftpropheten zu den bedeutendsten Texten des Alten Testaments. Ihr wirkungsgeschichtlicher Einfluss nahm zu, als sie in der ersten Hälfte des 2. Jh. v.Chr. im Rahmen der Septuaginta-Fassung ins Griechische übersetzt und dadurch auch der hellenistisch-jüdischen Welt zugänglich wurden. Auch im frühen Christentum sind die Psalmen von herausragender Bedeutung. Für die neutestamentlichen Autoren gehören sie zu denjenigen alttestamentlichen Texten, aus denen am häufigsten wörtliche Zitate angeführt werden. Im Folgenden wird der Umgang der Gemeinschaft von Qumran, Philos und des Apostel Paulus mit den Psalmen analysiert und unter der Fragestellung ausgewertet, ob und inwieweit sie einen frühjüdischen Diskurs über den Psalter reflektieren. 11QPsa, der Allegorische Kommentar und die paulinischen Briefe bilden paradigmatische Textkorpora, die unterschiedliche Strömungen im antiken Judentum repräsentieren. Durch die Untersuchung dieser Textkorpora sollen Erkenntnisse über die Entwicklung der Rezeption und Interpretation der Psalmen gewonnen werden. Von leitender Relevanz sind dabei die Fragen, wie im jeweiligen Korpus die Psalmzitate verwendet werden, welche Funktion ihnen zukommt und wie sie für die Argumentation fruchtbar gemacht werden. Zudem wird die Bedeutung eruiert, welche die Zitate durch ihre Re-Kontextualisierung erhalten.
2. Stand der Forschung Die Paulusforschung der letzten Jahrzehnte befasste sich u.a. mit der Frage nach der Schrifthermeneutik des Apostels. So entstand eine Reihe von Arbeiten, die sich mit der paulinischen Rezeption alttestamentlicher Texte aus-
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Einleitung
einandersetzen.1 Hinzu kommen mehrere Studien, die im Besonderen die Rezeption des Psalters in frühjüdischer Literatur betrachten.2 Die paulinische Psalmenrezeption wurde bisher erst in einigen wenigen Arbeiten mit unterschiedlichen Schwerpunkten untersucht. Neben Beiträgen, die der Frage nach der jeweiligen Textvorlage des Paulus nachgingen3, erforschten andere Studien die Einbindung der Zitate in die Argumentationsstruktur der Paulinen4. Überdies wurde der Einfluss der Psalmen auf die sprachliche Gestaltung der Briefe analysiert.5 Die jüngst entstandenen Arbeiten zur Psalmenrolle 11QPsa setzten besonders zwei Schwerpunkte. Zum einen betrachtete man die Rolle unter kanontheologischen Gesichtspunkten. Dabei wurden die Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen 11QPsa und dem protomasoretischen Psalter analysiert, um anschließend den Versuch einer Relationsbestimmung vorzunehmen.6 Zum anderen richtete sich der Fokus auf den inneren Aufbau der Psalmenrolle und auf die Frage nach ihrer Pragmatik.7 Hatte die Forschung bis dahin vornehmlich über den Text der Psalmenrolle diskutiert, so machte U. Dahmen den Text selbst zum Gegenstand seiner Untersuchung.8 Er rekonstruierte den Textbestand, führte inhaltliche Analysen durch und versuchte, Aussagen zu Struktur und Pragmatik der Handschrift zu treffen. Als ein Alternativ-Modell dazu versteht M. Leuenberger seine 2005 erschienene Arbeit zu Aufbau und Pragmatik von 11QPsa.9 Die neueste zu den Psalmen in Qumran erschienene Studie von E. Jain will die bisher noch bestehenden Lücken in der materiellen Rekonstruktion aller Psalmenhandschriften aus der judäischen Wüste schließen und bietet eine Befunderhebung des gesamten Fragmentenmaterials sowie deren inhaltliche 1
Vgl. z.B. ULONSKA, Funktion; HAYS, Echoes; KOCH, Schrift; STANLEY, Paul. Zur Erforschung der Jesajazitate in den paulinischen Briefen vgl. u.a. WILK, Bedeutung; WAGNER, Heralds. 2 Vgl. z.B. BROOKE, Psalms; RUNIA, Philo’s reading. 3 Vgl. u.a. SILVA, The Greek Psalter; RÜSEN-WEINHOLD, Septuagintapsalter. 4 Vgl. u.a. HOFIUS, Psalter als Zeuge; KEESMAAT, Psalms in Romans and Galatians; WILLIAMS, Psalms in 1 and 2 Corinthians. 5 Vgl. v.a. HAYS, Echoes. 6 Dies versuchten u.a. SANDERS, DJD 4; SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll; WILSON, Editing; VAN DER WOUDE, Fünfzehn Jahre Qumranforschung (1974–1988) ThR 55, bes. 296–299; VAN DER WOUDE, Fünfzehn Jahre Qumranforschung (1974–1988) ThR 57, bes. 45ff.; ULRICH, Multiple literary editions; FLINT, Dead Sea Psalms Scrolls; FLINT, The Book of Psalms; FABRY, Psalter in Qumran; LANGE, Handbuch der Textfunde. Jüngst erschienen BRÜTSCH, Israels Psalmen, und GASSER, Apokryphe Psalmen. 7 So etwa GOSHEN-GOTTSTEIN, The Psalms Scroll; TALMON, Pisqah Be’emṣa‘ Pasuq; SKEHAN, Liturgical Complex; SKEHAN, Qumran; WACHOLDER, David’s Eschatological Psalter; SCHIFFMAN, Reclaiming the Dead Sea Scrolls, 165–180; KLEER, Sänger, 1996. 8 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption. 9 Vgl. LEUENBERGER, Pragmatik, 204.
3. Methodisches Vorgehen
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Analyse.10 M. Pajunen befasst sich hingegen insbesondere mit dem Manuskript 4Q381.11 Die bisherige Philoforschung untersuchte verstärkt die Arbeit Philos als Exeget. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf seine Interpretation des Pentateuchs sowie auf die allegorische Auslegung desselben gelegt.12 Daneben setzte man sich ebenfalls mit der Frage nach Philos Schriftgrundlage und seiner Schrifthermeneutik auseinander.13 Einige wenige Analysen befassten sich zudem mit dem philonischen Umgang mit den außer-pentateuchischen Schriften.14
3. Methodisches Vorgehen Das Zitieren von Psalmversen führt zu ihrer „Re-Kontextualisierung“15, mit der eine Bedeutungsverschiebung einhergehen kann. Durch das Einflechten einzelner Verse in neue Kontexte erhalten die Psalmen in den Texten von Qumran, des Philo von Alexandrien und in den Schriften des Paulus jeweils einen neuen Sinnzusammenhang. Das Ergebnis dieser Re-Kontextualisierung der Psalmen differiert jeweils in den ausgewählten Textbeispielen. Die vorliegende Arbeit besteht aus vier Teilen. Gegenstand der Analyse in Kapitel 1 ist die Psalmenrolle 11QPsa. In der Struktur- und Inhaltsanalyse werden ihr Aufbau, bestehende Abweichungen zum protomasoretischen Psalter und ihre Charakteristika analysiert. Anschließend wird nach der Pragmatik der Komposition gefragt. Kapitel 2 befasst sich mit den Psalmzitaten im Allegorischen Kommentar Philos, während Kapitel 3 die Zitate bei Paulus zum Inhalt hat. In den zu untersuchenden Texten gibt es nicht nur Zitate mit eindeutigen Zitateinleitungen (z.B. Röm 3,4: kaqw.j ge,graptai; oder in Philos Schrift „De plantatione“ 29: marturei/ de, mou tw/| lo,gw| o` qespe,sioj avnh.r evn u[mnoij le,gwn w-de), sondern auch Anspielungen auf, Paraphrasen von oder Reminiszenzen an Psalmen. Eine Unterscheidung ist notwendig, da sie die Auswahl der zu behandelnden Texte eingrenzt. Zudem soll dadurch geklärt werden, ob Texte, 10
Vgl. JAIN, Psalmen oder Psalter. Vgl. PAJUNEN, Land to the Elect. 12 Vgl. etwa CHRISTIANSEN, Technik; NIKIPROWETZKY, Le commentaire de l’écriture; Cazeaux, Philon d’Alexandrie; MACK, Philo Judaeus; RUNIA, Exegesis and Philosophy; BREWER, Techniques; BORGEN, An exegete for his time; BÖHM, Vätererzählungen. 13 BECKWITH, Old Testament canon; AMIR, Authority; BURKHARDT, Inspiration; LEONHARDT-BALZER, Philo und die Septuaginta; vgl. ferner die Aufsätze zur hellenistisch-jüdischen Wirklichkeit der Zeit Philos in AMIR, Die hellenistische Gestalt des Judentums. 14 Vgl. RUNIA, Secondary Texts; RUNIA, Philo’s reading; COHEN, Philo’s scriptures. 15 KAHL, Psalm 2, 238. 11
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Einleitung
die nicht durch eine explizite Einleitung (z.B. durch eine formula quotationis) als Zitate erkennbar sind, sondern lediglich durch Textvergleiche als solche identifiziert werden, ebenfalls als Psalmzitate charakterisiert werden können.16 Diese Differenzierung wird jeweils zu Beginn der beiden Kapitel vorgenommen. Im Rahmen der Zitatanalyse bei Philo und Paulus wird zunächst der ursprüngliche Kontext der Psalmzitate betrachtet, um sodann zu fragen, ob und wenn ja, welche Bedeutungsverschiebungen durch die Re-Kontextualisierung der Psalmverse stattgefunden haben. In Kapitel 4 erfolgt eine Auswertung der erzielten Ergebnisse unter folgenden Gesichtspunkten: 1. Funktion der Zitate in ihrem neuen Kontext; 2. Themenbereiche, in denen Psalmzitate verwendet werden; 3. Gesamtverständnis der Psalmen bei Philo/Paulus. Die Arbeit schließt mit Überlegungen zur Frage, ob es einen innerjüdischen Diskurs über die Psalmen gibt und welchen Beitrag die jeweils untersuchten Texte dazu leisten.
4. Abkürzungen Die Abkürzungen der antiken Schriften sind entnommen aus: CANCIK, H./SCHNEIDER, H. (Hg.), Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. 1, Stuttgart 1996, XXXIX–XLVII. Soweit möglich, richten sich die verwendeten Abkürzungen nach dem von S. SCHWERTNER zusammengestellten Abkürzungsverzeichnis des IATG3, Berlin u.a. 2014. Weitere verwendete Abkürzungen: LXX* = die vermutlich älteste Textfassung der LXX17 PMT = protomasoretischer Text pmt = protomasoretisch Pls = paulinischer Wortlaut f.q. = formula quotationis, Zitateinleitung
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So z.B. KOCH, Schrift, 11ff. Maßgeblich für die vermutlich älteste Textfassung der LXX ist der Text der Göttinger Septuaginta-Ausgabe, die im Folgenden mit Rahlfs, Gö-Ps abgekürzt wird. 17
Kapitel 1
Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran Einleitung 1. Hinführung zum Thema Als Teil des biblischen Kanons ist der Psalter das Ergebnis eines langen Entstehungsprozesses, in dessen Verlauf einzelne Psalmen und Teilsammlungen zu einem Ganzen zusammengefügt wurden. In der neueren Forschung wird v.a. die Frage kontrovers diskutiert, ob das Psalmenbuch aus ungeordnet aneinandergereihten Einzeltexten besteht oder ob es eine kunstvoll gestaltete Komposition ist.1 Für letzteres spreche, so E. Zenger, dass aufeinanderfolgende Psalmen thematisch oder semantisch miteinander verbunden sind und einen planvollen Textzusammenhang bilden. Dies sei nicht zu übersehen, wie z.B. Ps 50 und 51 oder die Einbettung von Ps 79 in die Nachbarpsalmen zeigten.2 In der sukzessiven Entstehungsgeschichte des Psalters wurden die Einzeltexte durch systematische Anordnung (iuxtapositio) oder redaktionelle Verkettung (concatenatio) aufeinander bezogen.3 In den beiden Kleinkompositionen Ps 1–2 und 146–150, die motivlich einander zugeordnet sind, hat die Endkomposition schließlich eine Rahmung erhalten.4 Dadurch haben die Psalmen eine zweifache Bedeutungsebene: Einerseits sind sie einzelne abgeschlossene Texte, andererseits bilden sie gemeinsam eine bewusst geordnete Textfolge.5 Die neuere Forschung datiert die Endgestalt des protomasoretischen6 Psalters Ps 1–150 in den Zeitraum zwischen 200 und 150 v.Chr.7 1 Zur Diskussion vgl. z.B. JANOWSKI, Freude an der Tora; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150; LOHFINK, Psalmen im Neuen Testament; GERSTENBERGER, Psalter als Buch. 2 Vgl. ZENGER, Psalter als Buch, 12ff. 3 Vgl. ZENGER, Psalter als Buch, 12. 4 Vgl. ZENGER, Psalter als Buch, 31f. Zur Entstehungsgeschichte des Psalters vgl. auch MILLARD, Komposition des Psalters, 169–239. 5 Vgl. ZENGER, Psalter als Buch, 26. 6 Der Terminus „protomasoretischer Psalter“ bezeichnet den in der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) überlieferten Konsonantentext der Psalmen, der im 7./8. Jh. n.Chr. von der Masoreten-Schule des Ben Ascher durch Einfügung von Vokal- und Akzentzeichen, paratextlichen Elementen (wie z.B. Texteinteilungen) etc. interpretiert wurde. Diese Inter-
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
2. Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran: Befund und Präzisierung der Fragestellung Mit 36 in den Höhlen nahe Chirbet Qumran gefundenen Kopien ist der Psalter das am häufigsten kopierte und rezipierte biblische Buch in Qumran, gefolgt von Deuteronomium (29 Kopien) und Jesaja (21 Kopien).8 Vielfach wird angenommen, dass die erhaltenen Psalterkopien auf zwei verschiedene Psalterversionen verweisen. Die meisten Kopien bezeugen eine protomasoretische Version,9 eine in Höhle 11 gefundene längere Psalmenrolle (11QPsa = 11Q05) hingegen enthält eine davon abweichende Fassung des Psalters. Diese Rolle stammt aus der Zeit zwischen 30 und 50 n.Chr., ist aber eine Abschrift einer Komposition, die vermutlich in der zweiten Hälfte des 2. Jh. v.Chr. entstand.10 Sie bietet nicht nur einen zusätzlichen 151. Psalm, der sich auch in der LXX findet, sondern Inhalt und Reihenfolge der Psalmen differieren ebenfalls von den bekannten Versionen. Neben Psalmen, die aus dem protomasoretischen Psalter bekannt sind, enthält sie den Text 2. Sam 23,[1– ]7, später nicht kanonisch gewordene Texte sowie bis zum Fund der Rolle noch nicht bezeugte Kompositionen. Zudem weist sie eine „emphatische Davidisierung“11 auf. Im folgenden Kapitel geht es weniger um kanontheologische Fragen als vielmehr um die Interpretation dieser Psalmensammlung 11QPsa in Qumran. Der Textfund aus den Höhlen bei Chirbet Qumran hat gezeigt, dass in der dort lebenden Gemeinschaft Psalmen überliefert wurden, die in Inhalt und/oder Reihenfolge vom protomasoretischen Psalter abweichen: Eine divergente Psalmenanordnung bieten 4QPsa, 4QPsb, 4QPsd, 4QPsk, 4QPsn und 4QPsq, zusätzliche nicht kanonische Texte fügen 4QPsf, 4Q522 und 11QPsApa ein. Die Handschriften 4QPse, 11QPsa und 11QPsb differieren sowohl in der Psalmenanordnung als auch im Inhalt vom protomasoretischen Text.12 Da die Mehrheit der gefundenen Psalmenhandschriften zu fragmentarisch ist, um sichere Schlussfolgerungen ziehen zu können, beschränkt sich die pretation der Masoreten wird als „Masoretischer Text“ bezeichnet. Vgl. dazu z.B. die Arbeiten von PAUL KAHLE, wie etwa: Aussprache des Hebräischen; Punktation der Masoreten. Ferner BARTELMUS, Einführung, 32ff.; GERTZ, Grundinformation, 27ff. Als Vergleichstext für die Untersuchung der Psalmenrolle 11QPsa dient im Folgenden der in der BHS wiedergegebene Konsonantentext, der protomasoretische Text. Um sprachliche Ungenauigkeit zu vermeiden, wird in der nachfolgenden Untersuchung dieser Bezugstext mit dem Kürzel PMT (protomasoretischer Text)/pmt (protomasoretisch)versehen. 7 Vgl. ZENGER, Einleitung, 366. 8 Vgl. VANDERKAM, Qumranforschung, 51. 9 Vgl. VANDERKAM, Qumranforschung, 157. 10 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 314. 11 DAHMEN, Psalterrezeption, 22. 12 Vgl. FABRY, Psalter in Qumran, 147.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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nachfolgende Untersuchung auf die Psalmenrolle 11QPsa, die den umfangreichsten erhaltenen Text bietet. Wo es nötig erscheint, werden jedoch auch die anderen Fragmente berücksichtigt. Die gegenwärtige kompositions- und redaktionsgeschichtliche Psalmenexegese geht davon aus, dass der pmt Psalter eine zusammenhängende Komposition darstellt, in der jeder Psalm seinen Platz erhielt. Durch redaktionelle und theologisch motivierte Bearbeitung wurden die Psalmen miteinander vernetzt und aufeinander bezogen.13 Dank des Fundes der gut erhaltenen Rolle 11QPsa ist der Forschung nun eine Psalmenkomposition zugänglich, die diese aus dem PMT bekannte Gliederung in fünf Psalmenbücher nicht aufweist. Aus diesem Grund befasst sich die nachfolgende Analyse mit der divergierenden Psalmenanordnung und untersucht mögliche neue übergreifende Psalmenzusammenhänge und Kompositionsbögen. Des Weiteren werden die inhaltlich relevanten Textvarianten analysiert und die entstandenen Uminterpretationen der Psalmen herausgearbeitet.14 Als Vergleich hierfür gilt es, den Text der pmt Psalmen heranzuziehen. Ebenso ist es erforderlich, an den Stellen, wo der Rollentext unwiederbringlich zerstört ist, zur Rekonstruktion auf den PMT zurückzugreifen. Die endgültigen Absichten, die hinter Anordnung und Textvarianten der Psalmenkomposition 11QPsa stehen, bleiben hypothetisch. Jedoch wird die anschließende Analyse zeigen, dass sich durch den Vergleich mit dem PMT Anzeichen finden, die auf eine bewusste und planvolle Konzeption durch die Gemeinde der Qumranfrommen schließen lassen.
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Repräsentativ für diese Psalmeninterpretation sind ERICH ZENGER und FRANK-LOTHAR HOSSFELD. Vgl. HOSSFELD / ZENGER, Psalm 1–50; NEB.AT 40; Psalmen 51–100; Psalmen 101–150; ZENGER, Psalter als Buch, 12ff. 14 An dieser Stelle sei auf DAHMEN, Psalterrezeption verwiesen, der im dritten Kapitel in ausführlichen Textanalysen alle Varianten von 11QPsa untersucht. Ebenso bietet auch FLINT, Dead Sea Psalms Scrolls, 50–134 eine Auflistung der Textvarianten.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
I. Die Rolle 11QPsa und ihr Inhalt Der Anschaulichkeit halber werden im folgenden Abschnitt Beschaffenheit und Text der Rolle kurz dargestellt. 1. Beschaffenheit der Rolle Im Jahr 1965 veröffentlichte James A. Sanders die erste kritische Ausgabe der in Höhle 11 gefundenen Psalmenrolle mit dem Siglum 11QPsa.15 Zwei Jahre später erschien eine für eine breitere Leserschaft bestimmte Publikation mit englischer Übersetzung der Psalmen.16 Unter den 36 in Qumran gefundenen Psalmenhandschriften ist 11QPsa die Rolle mit dem umfangreichsten erhaltenen Textbestand.17 Sie besteht aus sieben zusammengenähten Lederbögen (leather-sheets).18 Die Rolle ist im oberen Teil, wo sie einen 1,8–2,1 cm breiten unbeschriebenen Rand enthält, in gutem Zustand.19 Vermutlich hatte sie auch einen ähnlich breiten unbeschriebenen Rand im unteren Teil. Dieser befand sich jedoch bei ihrem Auffinden schon in fortgeschrittenem Zerfall und ist zu einem Drittel zerstört.20 Die Rolle war ursprünglich zwischen 5,30 m und 5,60 m lang 21, wovon noch ca. 5 m Text rekonstruiert werden können. Sie war 25–26 cm hoch und enthielt in jeder Kolumne 25 Textzeilen. Erhalten geblieben sind 15–18 cm mit 15–18 Zeilen Text bzw. Textresten.22 Die Angaben über die Stärke des verwendeten Leders schwanken. Nach J.A. Sanders ist die Rolle knapp 1 mm dick.23 Mathematische Berechnungen unterstützen jedoch die Angabe von H. Stegemann, der zufolge die Dicke des Leders 0,56 mm beträgt.24 Im Vergleich mit anderen Textfunden (z.B. 0,16 mm Materialstärke der Tempelrolle; 0,3 mm bei 1QH) fällt auf, dass für die Psalmenrolle ein besonders kräftiges Beschreibmaterial gewählt wurde.25 Aus 15
Vgl. SANDERS, DJD 4. Vgl. SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll. Als Sanders seine editio princeps 1965 veröffentlichte, waren ihm nicht alle Fragmente zugänglich. YIGAEL YADIN erwarb 1960 das Fragment E aus Privatbesitz und veröffentlichte es 1966: Another Fragment. In seiner Ausgabe von 1967 veröffentlichte J.A. Sanders Fragment E als Anhang, vgl. 155–165. 17 Vgl. LANGE, Handbuch der Textfunde, 395. 18 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 25.34ff. 19 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 26. 20 Vgl. SANDERS, DJD 4, 3. 21 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 25.30ff. Nach SANDERS, DJD 4, 4f., kann die ursprüngliche Rollenlänge nicht mehr rekonstruiert werden. 22 Zu den Angaben der Maße vgl. SANDERS, DJD 4, 4f.; DAHMEN, Psalterrezeption, 25f. 23 Vgl. SANDERS, DJD 4, 3. 24 Vgl. STEGEMANN, Methods for the Reconstruction, 202 Anm. 46. Zur mathematischen Rollenrekonstruktion vgl. auch STOLL, Schriftrollen. 25 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 26. 16
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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diesen Angaben zur Beschaffenheit der Rolle lässt sich schlussfolgern, dass dem Text von 11QPsa innerhalb der Gemeinschaft von Qumran eine hohe Bedeutung zukam. Es ist möglich, dass durch die Lederstärke eine lange Haltbarkeit der Rolle sichergestellt werden sollte. Die Rolle 11QPsa ist in der Qumran-Orthographie geschrieben, welche die in Qumran verfassten Texte auszeichnet. Merkmale dieser Orthographie sind u.a. häufige Plene-Schreibung, Darstellung der Vokale o und u durch ein Waw oder die Kennzeichnung des i in Endposition durch יא-.26 In 11QPsa wird zudem das Tetragramm durchgehend in paläohebräischer Schrift geschrieben, ein weiteres Kennzeichen der Qumran-Orthographie. Die ersten Schreiber der Rolle haben das Tetragramm jedoch nicht ausgeschrieben, sondern stattdessen eine Lücke im Text gelassen. Erst ein zweiter Schreiber hat es später in diese Leerräume eingetragen.27 Diese Qumran-Orthographie wurde allerdings nicht immer konsequent beibehalten, sodass sich auch in der Psalmenrolle 11QPsa Abweichungen finden.28 2. Der Text der Rolle Nicht nur das untere Drittel der Psalmenrolle ist zerstört und der Text verloren, sondern auch ihr Anfang. Erhalten geblieben sind am Anfang lediglich die Fragmente A–E. Allerdings ist nicht sicher, ob diese Fragmente tatsächlich den Beginn der Rolle bezeichneten oder ob nicht doch mehr Textbestand verloren ist, als bisher gedacht.29 Bei der Rekonstruktion des materialen Rollenbestandes stellt sich daher auch die Frage, mit welchem Psalm 11QPsa ursprünglich begonnen hat. Zur Diskussion stehen Ps 9030, Ps 10031 und Ps 10132. Im Rahmen der materialen Rekonstruktion wurde besonders ein Argument für den Textbeginn mit Ps 101 starkgemacht: Die Fragmente A, B, C I33 enthalten einen oberen Seitenrand (top margin), an dem auch der Text von Ps 101 beginnt. Kein weiterer Psalm der Rolle beginne an exakt der gleichen Position, was für den Rollenanfang an dieser Stelle spreche.34 U. Dahmen hält es für unwahrscheinlich, dass aufgrund der so gut erhaltenen inneren Wicklungen der Rolle größere Teile der äußeren Wicklungen vor Ps 101 verloren 26
Vgl. TOV, Text der Hebräischen Bibel, 89f. Vgl. WOLTERS, Tetragrammaton. 28 Zu den Abweichungen vgl. SANDERS, DJD 4, 9–13. 29 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 32ff. 30 Vgl. STEGEMANN, Methods for the Reconstruction, 212f. Anm. 55. 31 Vgl. WACHOLDER, David’s Eschatological Psalter, 42f. 32 Vgl. v.a. SKEHAN, Qumran, 169f.; DAHMEN, Psalterrezeption, 37f.; FLINT, Dead Sea Psalms Scrolls, 41.189; KLEER, Sänger, 284f.308. 33 S.u. „Tabelle: Der Inhalt der Rolle 11QPsa (= 11Q05)“. 34 Vgl. SKEHAN, Qumran, 169f. 27
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
gegangen seien.35 Des Weiteren komme der wichtige inhaltliche Grund hinzu, dass die Rolle mit vier David-Psalmen (Ps 101–103.109) beginne und dadurch den Charakter der Psalmensammlung kenntlich mache.36 Zudem gibt A. Lange zu bedenken, dass umfangreiche Psalmensammlungen auf mehrere Rollen verteilt kopiert worden sein könnten, wie das z.B. beim Pentateuch der Fall sei.37 Letztlich gibt es jedoch keine endgültige Sicherheit über den Anfang der Rolle. Aus diesem Grunde geht die vorliegende Analyse davon aus, dass Ps 101 den Beginn der eigenständigen Psalmenkomposition 11QPsa darstellt.38 Die letzte beschriebene Kolumne enthält neben Ps 134,1–3 (Kol XXVIII,1–2) auch die Ps 151 A (Kol XXVIII,3–12) und 151 B (Kol XXXVIII,13–14). Die anschließende Kol XXIX ist unbeschriftet und markiert den Schluss der Psalmenrolle. Zur Orientierung folgt eine tabellarische Auflistung des Inhalts der Psalmenrolle 11QPsa. Die Tabelle ist in zwei Spalten gegliedert, von denen zuerst die linke und dann die rechte gelesen wird. Somit beginnt die Aufstellung in der linken Spalte mit Frag. ABC I, welches die Ps 101,1–8 und 102,1–2 enthält, es folgt Frag. C II mit Ps 102,18–29 und 103,1. Die Abkürzung Frag. steht für Fragment und zeigt den fragmentarischen Beginn der Psalmenrolle an. Der erhaltene Rollentext ist in 28 Satzspalten, sog. Kolumnen, gegliedert, die mit Kol abgekürzt werden. Die erste Kolumne (Kol I) enthält Ps 105,25– 45, die letzte (Kol XXVIII) bietet den Text von Ps 134,1–3 sowie Ps 151 A und B. Auf diese Tabelle wird in der nachfolgenden Struktur- und Inhaltsanalyse durchgehend Bezug genommen.
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Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 37f. Vgl. SKEHAN, Qumran, 169f. 37 Vgl. LANGE, Handbuch der Textfunde, 397f. 38 Nach E. JAIN ist die Rekonstruktion des Rollenbeginns von 11QPsa nicht mehr möglich. Sie gibt zu bedenken, dass eventuelle Lesehinweise am Anfang und Ende eines Textes durch den fragmentarischen Rollenanfang möglicherweise nicht mehr vorhanden sind. Daher spricht sie sich dafür aus, in 11QPsa eine Komposition mit offenem Anfang zu sehen. Dementsprechend analysiert sie auch die Psalmenrolle; vgl. Psalmen oder Psalter, 174–177.251ff. 36
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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3. Tabelle: Der Inhalt der Rolle 11QPsa (= 11Q05)39 Frag. ABC I Frag. C II Frag. D Frag. E I Frag. E II Frag. E III Kol I Kol II Kol III
Kol IV
Kol V
Kol VI Kol VII Kol VIII Kol IX Kol X Kol XI Kol XII Kol XIII
Ps 101,1–8 Ps 102,1–2 Ps 102,18–29 Ps 103,1 Ps 109,21–31 Ps 118,25–29 Ps 104,1–6 Ps 104,21–35 Ps 147,1–2 Ps 147,18–20 Ps 105,X–11 Ps 105,25–45 Ps 146,9–X–10 Ps 148,1–12 Ps 121,1–8 Ps 122,1–9 Ps 123,1–2 Ps 124,7–8 Ps 125,1–5 Ps 126,1–6 Ps 127,1 Ps 128,3–6 Ps 129,1–8 Ps 130,1–8 Ps 131,1 Ps 132,8–18 Ps 119,1–6 Ps 119,15–28 Ps 119,37–49 Ps 119,59–73 Ps 119,82–96 Ps 119,105–120 Ps 119,128–142 Ps 119,150–164
Kol XIV
Ps 119,171–176 Ps 135,1–9 Kol XV Ps 135,17–21 Ps 136,1–16 Kol XVI Ps 136,26b Ps 118,1.15.16.8.9.X.29 Ps 145,1–7 Kol XVII Ps 145,12?–21+? Kol XVIII syr Ps II Kol XIX Plea for Deliverance Kol XX Ps 139,8–24 Ps 137,1 Kol XXI Ps 137,9 Ps 138,1–8 Sir 51,13ff. Kol XXII Sir 51,30 Apostrophe to Zion Ps 93,1–3 Kol XXIII Ps 141,5–10 Ps 133,1–3 Ps 144,1–7 Kol XXIV Ps 144,15 syr Ps III Kol XXV Ps 142,4–8 Ps 143,1–8 Kol XXVI Ps 149,7–9 Ps 150,1–6 Hymn to the Creator Kol XXVII 2. Sam 23,7 David’s Compositions Ps 140,1–5 Kol XXVIII Ps 134,1–3 Ps 151 A und B
Die Auflistung macht die von PMT und LXX deutlich divergierende Reihenfolge der Psalmen in 11QPsa sichtbar. Weitere Merkmale der Psalmenrolle sind die bis dahin unbekannten zusätzlichen Kompositionen Plea for Deliverance (Kol XIX), Apostrophe to Zion (Kol XXII,1–15), Hymn to the Creator (Kol XXVI,9–15) und David’s Compositions (Kol XXVII,2–11). Zudem enthält die Rolle Sir 51,13ff. (Kol XXI,11–17), Sir 51,30 (Kol XXII,1) und 2. Sam 23,7 (Kol XXVII,1). Aus LXX und Syr waren vorher schon Ps 151 A und B bekannt (Kol XXVIII,3–14) und aus Syr stammen syr Ps II (Kol XVIII) und syr Ps III (Kol XXIV,3–17). 39
Angaben nach ULRICH, Biblical Qumran Scrolls, 694–726.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Die Reihenfolge der Psalmen ist teilweise auch in weiteren in Qumran gefundenen Handschriften bezeugt. 11QPsb enthält in Frag. 7a–e die Reihung Ps 141,10; 133,1–3; 144,1–240. In 11QPsb Frag. 6 findet sich Apostrophe to Zion, 4–5 und in Frag. 4–5 Plea for Deliverance41. Ebenso stimmt die Abfolge von Ps 118,1.15f. in 11QPsb 3 und 11QPsa XVI,1–2 überein.42 Da beide Manuskripte sowohl in Komposition als auch in der Textform übereinstimmen, liegt in 11QPsb eine Kopie von 11QPsa vor.43 Die Handschriften 1QPsb und 4QPsn könnten Teile von Psalmenkompositionen sein, die mit 11QPsa identisch waren. Zuverlässige Aussagen können allerdings aufgrund ihres fragmentarischen Textbestandes nicht gemacht werden.44 Folglich lässt sich als erstes Ergebnis festhalten: Die vom PMT abweichende Psalmenreihenfolge in 11QPsa, ihre zusätzlichen Kompositionen und die weiteren Textzeugen machen deutlich, dass es sich bei dieser Psalmenrolle um eine eigenständige Psalmensammlung handelt, die von PMT, LXX und Syr unterschieden werden muss.45
II. Struktur- und Inhaltsanalyse Setzt man voraus, dass Ps 101 den Beginn der Rolle 11QPsa darstellt, so fällt zunächst Folgendes auf: 1.) Außer dem Jahwe-König-Psalm 93 enthält die Rolle nur Psalmen aus dem Bereich Ps 101–150 PMT. Psalmen also, die aus dem 4. (= Ps 90–106), überwiegend aber aus dem 5. Psalmenbuch (= Ps 107–150) stammen.46 Das Auffällige dieser beiden letzten Teile des Psalters ist die im Vergleich zu Ps 2–89 geringe Anzahl an Klage- und Bittpsalmen, demgegenüber aber eine Mehrheit an hymnischen Psalmen und Lobpreis.47 2.) Der akrostichisch gestaltete Ps 119 nimmt im Aufbau von 11QPsa einen zentralen Platz ein. Die stichometrischen Strophen sind jeweils durch eine
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Vgl. ULRICH, Biblical Qumran Scrolls, 689. Vgl. ULRICH, Biblical Qumran Scrolls, 691.693. 42 Vgl. GARCÍA MARTÍNEZ, DJD 23, 38. 43 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 51. 44 Vgl. die Analyse in DAHMEN, Psalterrezeption, 59ff. 45 Vgl. LANGE, Handbuch der Textfunde, 399. 46 Zur Fünfteilung des Psalmenbuchs vgl. ZENGER, Einleitung, 354ff.; vgl. auch ZENGER, Komposition. Dabei ist zu beachten, dass diese Gliederung des Psalters in fünf Teile durch eine späte Redaktion vorgenommen worden ist, vgl. GERTZ, Grundinformation, 415. 47 Vgl. ZENGER, Einleitung, 364. 41
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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Leerzeile voneinander abgehoben, was die Auffälligkeit dieses Psalms im Aufbau der Rolle zusätzlich unterstreicht. 3.) Vor Ps 119 stehen ausschließlich Psalmen aus dem Bereich Ps 101– 132, einzige Ausnahme bilden hier Ps 146–148.48 Dabei stehen die Wallfahrtspsalmen 121–132 (Kol III–VI) in der Abfolge, wie sie auch der PMT bietet. Nach Ps 119 stammen außer Ps 93 und den zusätzlich in 11QPsa eingefügten Psalmen und Texten alle Psalmen aus dem Bereich Ps 133–150. U. Dahmen schließt daraus, dass sich die Psalmensammlung 11QPsa in ihrem Aufbau ganz grob an der Reihenfolge der Psalmen im PMT orientiert.49 Zugleich verlässt sie aber auch die im PMT vorgegebene Psalmenfolge und sprengt damit die Kompositionsbögen des protomasoretischen Textes auf. Vor allem im letzten Teil der Psalmenrolle nimmt die Zahl der Abweichungen zu. Es entfallen kleine Teilsammlungen des PMT, wie z.B. die JahweKönig-Psalmen Ps 93–100 und das Pesach-Hallel Ps 113–11850, oder Zusammenhänge werden aufgelöst. So geschehen im Davidpsalter Ps 138–145. Stattdessen werden im letzten Drittel der Psalmensammlung – beginnend mit Kol XVIII – die später nicht kanonisch gewordenen Texte51, bisher noch unbekannte Kompositionen52 und „Davids letzte Worte“ (= 2. Sam 23,[1–]7; Kol XXVII) eingefügt. Ebenso wird die Rahmung des Psalters durch die Ps 1–2 und 146–150 aufgegeben. Überdies entfällt die Buchgrenze zwischen 4. und 5. Psalmenbuch, da die sie markierenden Psalmen 106 und 107 fehlen. Die durch die abweichende Psalmenanordnung entstandenen neuen Kompositionsbögen und –zusammenhänge sind Gegenstand der folgenden Analyse. 1. Die Rahmung der Psalmensammlung durch Ps 101 und 2. Sam 23,7 + David’s Compositions Die vorliegende Analyse geht davon aus, dass eine Rahmung von 11QPsa durch Ps 101 und 2. Sam 23,7 + David’s Compositions besteht. Diese Rahmung der Psalmenrolle umfasst somit nicht die letzten vier Psalmen der Rolle: Ps 140,1–5 (Kol XXVII,12–15), Ps 134,1–3 (Kol XXVIII,1–3) und Ps 151 A und B (Kol XXVIII,3–14).53 48
Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 268; im Anschluss daran auch LEUENBERGER, Pragmatik, 172f. 49 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 268. 50 Das Pesach-Hallel wird von einigen Forschern rekonstruiert, vgl. dazu die Analyse von Ps 118 auf S. 27f. 51 Ps 154 (syr Ps II; Kol XVIII), Ps 155 (syr Ps III; Kol XXIV), Ps 151 A und B (Kol XXVIII) und Sir 51, 13–20b.30b (Kol XXI/XXII). 52 „Plea for Deliverance“ (Kol XIX), „Apostrophe to Zion“ (Kol XXII), „Hymn to the Creator“ (Kol XXVI) und „David’s Compositions“ (Kol XXVII). 53 Zur Funktion, welche diese Texte innerhalb von 11QPsa übernehmen, vgl. die Analyse u. S. 77ff.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Zunächst werden Ps 101 und 2. Sam 23,7 untersucht, bevor eine gesonderte Betrachtung von David’s Compositions folgt. 1.1 Ps 101 und 2. Sam 23,7 M. Kleer zeigt in seiner Untersuchung einen Kompositionsbogen zwischen Ps 101 (Frag. ABC I) als programmatischer Eröffnung der Psalmenrolle und den „letzten Worten Davids“ in 2. Sam 23,[1–]7 (Kol XXVII) gegen Ende der Rolle auf.54 Zahlreiche Motiv- und Stichwortverbindungen stellen einen Zusammenhang zwischen Ps 101 und dem Text aus 2. Sam 23 her (s.u.). Daher ist davon auszugehen, dass diese Texte bewusst am Anfang und gegen Ende der Psalmenrolle positioniert wurden.55 Ps 101 wird im PMT David zugeschrieben. Obwohl in 11QPsa der Text von Ps 101 nur noch sehr bruchstückhaft erhalten ist und die ersten Worte ( )לדוד מזמורfehlen, blieb diese Zuschreibung vermutlich auch in der Psalmenrolle erhalten.56 David spricht in seinem Amt als König und erklärt seine Vorsätze für seine Königsherrschaft, sodass der Psalm „eine Art ‚Fürstenspiegel‘“57 darstellt. Dadurch wird der Psalm zugleich zum „davidischsten aller Davidpsalmen“58. Als Eröffnungspsalm spielt dieser, unter den Davidpsalmen hervorstechende Psalm, damit eine herausragende Rolle, da er der Sammlung 11QPsa ihre Legitimität und Autorität verleiht. Die Botschaft, die der Psalm an dieser Position vermittelt, ist eindeutig: Alle folgenden Psalmenkompositionen sind von König David selbst legitimiert und dienen einem einzigen Zweck, dem Lob Jahwes. Daher beginnt Ps 101 in V. 1 (Frag. ABC I,1) mit einem „doxologische[n] Introitus“59. Durch Gesang und Spiel will David Jahwe verherrlichen ()זמר, Jahwes Gnade und Recht besingen. Die Psalmenrolle wird mit dem Lob Gottes eröffnet und alle folgenden Texte sind unter dieses Lob gestellt. Ps 101 ist geprägt vom Gedanken der Gerechtigkeit und des rechten Wandels. In V. 2–4 (Frag. ABC I,2–5) stellt der Psalmbeter David zunächst Regeln für sein eigenes Handeln auf. Er will das Böse meiden und mit lauterem Herzen wandeln. V. 5–8 (Frag. ABC I,5–9) beschreiben, welche Vergehen er nicht dulden, sondern bestrafen wird. Dadurch erweist er sich als Richter über alle Lügner und Gottlosen im Land und in der Stadt Jahwes.
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Vgl. KLEER, Sänger, 308ff. Vgl. neben KLEER auch DAHMEN, Psalterrezeption, 278ff.; LEUENBERGER, Pragmatik, 176ff. 56 Vgl. SANDERS, DJD 4, 92; vgl. auch die Textrekonstruktion in DAHMEN, Psalterrezeption, 96f.228. In der folgenden Argumentation wird daher für den fehlenden Text von Ps 101 sowie von 2. Sam 23,1–7 auf den PMT zurückgegriffen. 57 SEYBOLD, Psalmen, 393. 58 BALLHORN, Telos, 112. 59 KRAUS, Psalmen 60–150, 860. 55
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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Die Psalmensammlung 11QPsa setzt demnach mit einem Text ein, in welchem die Herrschergestalt David, sein gerechtes Handeln, das Richten der Frevler und das Gotteslob eine herausragende Rolle spielen. Diese Eröffnung von 11QPsa mit Ps 101 hat ihre Entsprechung in den „letzten Worten Davids“, von denen noch 2. Sam 23,7 in Kol XXVII,1 erhalten ist. Zwischen Ps 101PMT und 2. Sam 23,1–7, die beide David in den Mund gelegt werden, gibt es zahlreiche Berührungspunkte und auffällig viele Stichwortverbindungen.60 Die augenscheinlichsten sind zunächst „ ביתיmein Haus“ (Ps 101,2.7 und 2. Sam 23,5) und „ בקרMorgen“ (Ps 101,8 und 2. Sam 23,4). Des Weiteren kehrt auch das Motiv des Singens in 2. Sam 23,1 wieder: Während David in Ps 101,1 sich selbst auffordert, Gott zu singen und zu spielen, wird er in 2. Sam 23,1 als „Liebling in den Gesängen Israels“ bezeichnet. Mit dem Stichwort זמר, durch das beide Texte aufeinander verweisen, wird in 11QPsa eine Verbindung zwischen Beginn und Ende der Rolle hergestellt. Zugleich unterstreicht dieser Bogen den Charakter der Psalmenrolle als Sammlung von Liedern und Gebeten zum Lob Gottes. Eine wichtige inhaltliche Gemeinsamkeit der beiden Texte besteht zudem im Motiv des Richtens. In Ps 101 macht David es sich zur Aufgabe, die Verleumder, Stolzen, Hochmütigen (V. 5) und die Lügner, Gottlosen und Frevler (V. 7f.) zu richten. Nur wer treu und aufrichtig ist, soll sich um David scharen und ihm dienen dürfen (V. 6). Eine Entsprechung zum gerechten Gericht der Übeltäter findet sich in 2. Sam 23,6f. Hier sind es die בליעל, die „schlechten Menschen“, die wie Dornen im Feuer verbrannt werden. Das Stichwort בליעל kommt außerdem in Ps 101,3 vor, wo David es hasst, דבר־בליעלzu begehen. M. Kleer streicht heraus, dass beide Texte durch die angewandte Gerichtsmetaphorik auf die Endzeit hinweisen.61 Die Endgültigkeit des Endgerichtes werde durch die Betonung hervorgehoben, dass alle Frevler und Sünder aus dem ganzen Land vernichtet würden (Ps 101,8: כל־רשׁעי־ארץund כל־ )פעלי אוןund alle בליעלwie Dornen seien (2. Sam 23,6: )כלהם, die verbrannt werden. Die Gründlichkeit dieser Vernichtung wird in 2. Sam 23,7 durch eine figura etymologica mit Nachdruck betont (Infinitivus absolutus )שׂרוף ישׂרפו. In dieser endgültigen und umfassenden Vernichtung aller Sünder und Frevler kann zugleich ein Hinweis auf die qumranische Vorstellung des endzeitlichen Kampfes der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis gesehen werden.62 Bedeutsam ist auch die markante Positionierung dieser Anspielungen innerhalb der Psalmensammlung 11QPsa: Am Anfang und gegen Ende der Sammlung wird ausdrücklich erwähnt, dass die Frevler nicht siegen werden.
60
Vgl. zum Folgenden auch KLEER, Sänger, 309f. Vgl. KLEER, Sänger, 310. 62 Vgl. die Schilderungen dieses Kampfes in der Kriegsrolle 1QM. 61
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Zusammenfassung: Die aufgezeigten intertextuellen Beziehungen zwischen Ps 101 und 2. Sam 23,1–7 sind so auffällig, dass die Positionierung der beiden Texte in 11QPsa die bewusste Komposition der Rolle deutlich macht.63 Bereits Ps 101,1 (Frag. ABC I,1) kennzeichnet alle folgenden Psalmen der Rolle als Sammlung von Liedern und Gebeten zum Lob Gottes. Die Selbstaufforderung Davids, Gott mit Gesang und Spiel zu loben und seine Ankündigung, gerecht zu herrschen, sind als Auftakt der Sammlung richtungsweisend für alle nachfolgenden Kompositionen. Die direkte Gottesrede in 2. Sam 23,3f.*64 kann als Antwort Gottes auf diese Ankündigung Davids gelesen werden. Gott antwortet dem gerecht Herrschenden, indem er mit David einen ewigen Bund schließt (V. 5*). Nach U. Dahmen zeichnen diese Verse die Rolle 11QPsa als „persönliches Eigentum Davids“ aus, als sein „Erbe an die Nachwelt“65. 1.2 Die Komposition „David’s Compositions“ und ihre Einbettung in den Kontext Zu dieser Rahmung gehört, wie im Folgenden gezeigt wird, auch die Komposition „David’s Compositions“ (DavComp). Sie schließt sich in Kol XXVII,2–11 an 2. Sam 23,7 an und ist der einzige Prosa-Text in 11QPsa.66 Dieser narrative Text bietet eine Liste der davidischen Dichtungen und ist kein Gebetstext, was ihn unter den Psalmen der Rolle einzigartig macht. Seine Besonderheit besteht daneben auch darin, dass er eine starke Davidisierung aufweist, die die gesamte Rolle prägt (s.u.).67 Bei der Betrachtung des Textbildes fällt zunächst auf, dass die ersten drei Textzeilen 3 cm eingerückt sind. J.A. Sanders68 und M. Kleer69 führen diese Lücke auf die Beschaffenheit des Leders zurück, das an dieser Stelle unbeschreibbar war. U. Dahmen hingegen geht von der absichtlichen Einrückung der ersten Textzeilen aus, die aus inhaltlichen Gründen geschehen sei.70 Dadurch werde die Besonderheit des Prosa-Textes graphisch unterstrichen. Denn gerade die Zeilen seien eingerückt, die David als einen weisen Mann
63 So auch das Ergebnis von KLEER, Sänger, 310 und im Anschluss daran auch von DAHMEN, Psalterrezeption, 278ff. 64 Im folgenden Verlauf dieser Untersuchung werden Verse, die auf dem erhaltenen Bestand der Psalmenrolle nicht mehr vorhanden sind, die jedoch aufgrund des paläographischen Befunds einmal dagestanden haben, durch * kenntlich gemacht. Es wird zur Rekonstruktion auf den PMT zurückgegriffen. 65 DAHMEN, Psalterrezeption, 279. 66 Vgl. SANDERS, DJD 4, 48.91ff. 67 Vgl. Zum Folgenden auch die ausführliche Analyse von KLEER, Sänger, 290ff. 68 Vgl. SANDERS, DJD 4, 14.93. 69 Vgl. KLEER, Sänger, 290. 70 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 252.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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mit einem von Gott erleuchteten Geist beschreiben. Mit Beginn der Aufzählung seines dichterischen Schaffens ende die Hervorhebung. Die Genealogisierung Davids als ( בן ישׁיKol XXVII,2) bettet die Komposition in ihren unmittelbaren Kontext ein. Sowohl in den vorhergehenden „letzten Worten Davids“ (2. Sam 23,1*) als auch in Ps 151 A (Kol XXVIII,3) wird David als der Sohn Isais bezeichnet. Da diese Formel fast ausschließlich in rein historischen Zusammenhängen steht und sie weder in Ps 151LXX noch in Syr belegt ist, liegt die Vermutung nahe, dass sie eigens für die Komposition von 11QPsa eingefügt wurde.71 Durch die Verwendung der Bezeichnung בן ישׁיin den drei Texten (2. Sam 23,1; DavComp; Ps 151 A) wird ein Zusammenhang zwischen allen Bereichen des davidischen Wirkens hergestellt. Die Formulierung נאום דוידin 2. Sam 23,1* spielt auf das prophetische Wirken Davids an.72 Dagegen erwähnt DavComp das weisheitlich-liturgische Schaffen und Ps 151 A die Herrschaft Davids als der Gesalbte Gottes.73 Dass in DavComp ein Text speziell für die Psalmenrolle geschrieben wurde74, ist zudem daran erkennbar, dass sich diese Bereiche des Wirkens Davids in den drei Texten – 2. Sam 23,1*, DavComp und Ps 151 A – nicht strikt voneinander trennen lassen, sondern vielmehr ineinander übergehen. 2. Sam 23,1* benennt nicht nur das prophetische Wirken Davids. Er spricht auch von dem Gesalbten Jakobs ( )משׁיח אלהי יעקבund dem Liebling in den Gesängen Israels ( )נעים זמרות ישׂראלund schlägt damit eine Brücke zu Ps 151 A und zu DavComp. DavComp wiederum enthält nicht nur Angaben zum dichterischen Schaffen Davids, sondern charakterisiert ihn auch als weisen Mann (חכם, Z. 2) mit einem einsichtigen und erleuchteten Geist (רוח נבונה ואורה, Z. 4). Seine Dichtungen hat er in der Prophetie ( )בנבואהgesprochen, die Gott ihm gab (Z. 11). Ebenso beschränkt sich Ps 151 A nicht auf die Beschreibung der Salbung Davids zum Herrscher über das Volk Gottes. Das הללויהin Kol XXVIII,3, das Ps 151LXX nicht enthält und das im Zuge der Einfügung des Psalms in die Rolle hinzugefügt wurde75, zeichnet diesen Psalm als „liturgische[s] Gotteslob“76 aus. Des Weiteren sind die Prädikate, die David in der Komposition DavComp zugesprochen werden, sehr aufschlussreich. Er ist weise (חכם, Z. 2), ein Licht, 71
Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 253 mit Anm. 678 und 679; vgl. auch KLEER, Sänger,
290. 72 Die Seherspruchformel/Jahwespruchformel נאוםdürfte in 2. Sam 23,1 ein später Nachtrag sein; vgl. EISING, נְ אֻם, 120. Dennoch erinnert sie hier an die v.a. von Propheten verwendete Formel zur Bekräftigung und Autorisierung des vorgetragenen Prophetenwortes, vgl. z.B. Am 2,16; 3,15; 4,3.5; Jes 1,24; 30,1 u.ö. 73 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 253; KLEER, Sänger, 290.302. 74 Zu der Frage, ob in DavComp ein eigens für 11QPsa geschriebener Text vorliegt oder die Bearbeitung einer älteren Komposition s.u. S. 21. 75 Vgl. KLEER, Sänger, 302. 76 KLEER, Sänger, 302.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
wie das Licht der Sonne (אור כאור השׁמשׁ, Z. 2), ein Schriftgelehrter (סופר, Z. 3), einsichtig (נבון, Z. 3) und fehlerfrei (תמים, Z. 3). Gott gab ihm einen einsichtigen und erleuchteten Geist (רוח נבונה ואורה, Z. 4) und in Prophetie sprach er seine Dichtungen (דבר בנבואה, Z. 11). Die Beschreibung Davids mit חכםund נבון, zwei typischen Weisheitsworten, die oft in Verbindung miteinander gebraucht werden77, weist zunächst auf die Charakterisierung Davids durch die Frau aus Tekoa in 2. Sam 14,20. Sie bezeichnete ihn als „weise, gleich der Weisheit des Engels Gottes“.78 Zugleich erhält David dadurch Anteil an den entscheidenden Eigenschaften der weisheitlichen Prototypen Salomo, Joseph und Daniel79, alle drei besondere Persönlichkeiten in der Geschichte Israels. Schließlich stellen diese Charaktereigenschaften Davids eine Verbindung zu den weisheitlichen Kompositionen von 11QPsa syr Ps II, Sir 51,13ff. und Hymn to the Creator her.80 Das Adjektiv ( תמיםKol XXVII,3) beschreibt den fehlerfreien Wandel Davids. In der Opfersprache dient es seit der Exilszeit zur Näherbestimmung des kultischen Opfers.81 Mit תמיםwird ein kultisch einwandfreies, vollkommenes Tier beschrieben. Im Bezug auf die Beschreibung von Menschen ist תמיםein Relationsbegriff. Er charakterisiert zum einen die „ungetrübte menschliche Gottesbeziehung“82 (z.B. Dtn 18,13) und zum anderen den aufrichtigen zwischenmenschlichen Umgang (z.B. Ri 9,16). In dieser Doppelfunktion verwendet auch DavComp das Adjektiv. Vor Gott und den Menschen wandelt David vollkommen. In Ps 101,2, am Anfang der Psalmenrolle, war es ein Desiderat Davids, auf den vollkommenen Weg zu achten. Nun, gegen Ende der Sammlung, wird betont, dass er nicht nur תמיםwar, sondern auch נבון, vollkommen und einsichtig. In zahlreichen Qumrantexten bezeichnet תמים בדרךein erstrebenswertes Ideal83, das David in der Komposition DavComp in vollkommenster Weise schon erreicht hat und damit der Gemeinde als Vorbild dient. Meines Erachtens ist damit der Höhepunkt in der Charakterisierung Davids erreicht. Dieser als weise und fehlerfrei beschriebene Mann hat Psalmen und Lieder zum Lob Jahwes geschrieben und Gott durch seinen einsichtigen und vollkommenen Lebenswandel geehrt.
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So z.B. in Gen 41,33.39; Dtn 1,13; 1. Kön 3,12; Jes 5,21. Vgl. SANDERS, DJD 4, 92f. 79 Vgl. z.B. die Weisheit des Königs Salomo in 1. Kön 5,9–14; der weise Höfling Joseph in Gen 39ff.; der mantisch weise Daniel in Dan 4f.; vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 253f. 80 Vgl. SANDERS, DJD 4, 92. Zur Charakterisierung Davids vgl. auch KLEER, Sänger, 290ff. 81 Vgl. KOCH, תמם, 1048f. 82 KOCH, תמם, 1048. 83 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 254. Zu den Stellen vgl. z.B. 1QS II,2; III,9f.; IV,22; VIII,10.18.21; IX,2.5.9; 1QSa I,28; CD II,15f. u.a. Die Qumrantexte werden zitiert nach LOHSE, Texte aus Qumran; STEUDEL, Texte aus Qumran 2. 78
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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Hinzu kommt die Aussage über den erleuchteten Geist Davids, der ihm von Jahwe gegeben wurde (Kol XXVII,3f.). Der Geist ist eine besondere Gabe Jahwes an seinen Gesalbten, der ihn mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausstattet und eine besondere Form der Begleitung ausdrückt.84 David steht unter dem reichen Segen Gottes, was in den 4.050 Psalmen und Liedern sichtbar wird, die er geschrieben hat und die im Anschluss an die Beschreibung des Dichters aufgelistet sind. Auffällig bei der Auflistung ist die Einteilung der Dichtungen Davids in Psalmen (תהלים, Z. 4) und Lieder (שׁיר, Z. 5). Auf die 3.600 Psalmen wird nicht näher eingegangen, die 450 Lieder dagegen werden genauer unterteilt in 364 Lieder für das tägliche Brandopfer, 52 für das Sabbatopfer, 30 Lieder für die Opfer der Neumonde, für verschiedene Festtage und für den Versöhnungstag und vier Lieder für die „Geschlagenen“ ()הפגועים. Die von David verfassten Lieder ( )שׁירstehen in Verbindung mit Singen (Z. 5) und Instrumentenspiel (נגן, Z. 10) und sind – in Abgrenzung zu – תהליםals Opferlieder dem Tempelkult zugeordnet.85 Allerdings hatte sich die Gemeinschaft der Qumranfrommen aufgrund von Differenzen bezüglich der Gesetzesauslegung und der Beachtung der Kultzeiten vom Jerusalemer Tempelkult und der dortigen Priesterschaft getrennt (s.u. Exkurs III). Aus diesem Grund kann sich die Liste der Opferlieder in DavComp nicht auf den derzeit ausgeübten Tempelkult beziehen. In der Forschung ist umstritten, ob in Qumran Brand- und Tieropfer dargebracht wurden. Die Mehrheit der Forscher, der ich mich anschließe, hält es für ausgeschlossen, dass die Qumrangemeinschaft einen eigenen Opferkult jenseits des Tempels praktizierte. Dagegen spricht etwa die Kultzentralisation am Jerusalemer Tempel, die für das orthodoxe Judentum bindendes Gesetz war.86 In ihrem neuesten Aufsatz deutet J. Magness hingegen die Tierknochen-Depots in Qumran als Ablageplätze für Brandopferreste. Sie seien eindeutige Anzeichen dafür, dass hier Tiere geopfert wurden.87 Die künftige Forschung wird zeigen, ob diese These von J. Magness aufrecht erhalten werden kann. Die Gemeinschaft der Qumranfrommen bezeichnete sich selbst als „Tempel von Menschen“ (z.B. 4QFlor III,6) und das Opfer, das sie darbringen konnte, war das „Hebopfer der Lippen“ (1QS IX,4f.), das Gebet, welches als vollgültiger Ersatz für ein Brandopfer im Jerusalemer Tempel galt (vgl. CD XI,17ff.). „Lobopfer und rechter Wandel treten als gleichwertige Ersetzung 84
Vgl. ALBERTZ, ַרוּח, 749. Vgl. DAHMEN, שׁיר, 1294; vgl. auch KLEER, Sänger, 298f. 86 Vgl. z.B. GINZBERG, Eine unbekannte jüdische Sekte, 165f.; KLINZING, Umdeutung, 20ff.; SCHIFFMAN, Community without Tempel, 272. Gegenteiliger Meinungen ist z.B. SCHECHTER, Documents, XV. 87 Vgl. MAGNESS, Sacrifices. 85
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
für das Opfer ein.“88 Jedoch gab es zugleich in der Gemeinde die Vorstellung von einem zukünftigen eschatologischen Heiligtum (vgl. 11QT XXIX,3–10), sodass die Opferlieder für den Kult in diesem Heiligtum gedacht sein könnten.89 Dadurch wird in DavComp auch Davids Bedeutung für die musikalische Gestaltung des zukünftigen Tempelkultes betont. Er ist für die Gemeinschaft nicht nur ein Vorbild hinsichtlich seines fehlerfreien Wandels vor Gott und den Menschen, sondern auch in der Kultausübung relevant. Weitere in Qumran gefundene Kompositionen bestätigen die Existenz liturgischer Sammlungen in der Qumrangemeinschaft, wie sie in DavComp angegeben sind. So enthalten z.B. 4Q400–407, 11QShirShab und MasShirShab Sabbatopferlieder wie sie in Z. 7 genannt werden.90 Zudem werden nach allgemeinem Forschungskonsens die vier Lieder für die הפגועיםmit den vier Liedern in 11QPsApa identifiziert.91 In einem weiteren Punkt ist die Liste in DavComp von Bedeutung. In der Anzahl der Lieder lässt sich die Orientierung der Qumrangemeinschaft am Sonnenkalender mit 364 Tagen und 52 Wochen erkennen.92 Dieser Kalender liegt auch dem Astronomischen Buch des Äthiopischen Henoch (1.Hen 72– 82), dem Jubiläenbuch, der Tempelrolle (11QT) und den Mishmarot (4Q320– 337) zugrunde und wurde somit schon in vorqumranischer Zeit in verschiedenen jüdischen Gruppierungen verwendet. Durch die Aufnahme des Sonnenkalenders in die Komposition 11QPsa separiert sich die Gemeinschaft der Qumranfrommen von den Teilen des Judentums, die nach dem Mondkalender mit 354 Tagen leben. Die Orientierung am Sonnenkalender in DavComp unterstreicht ein weiteres Mal die große Relevanz Davids für die Qumrangemeinschaft. Die Sonne ist das von Gott gesetzte Licht, nach dem sich die Jahres- und Festzeiten richten, das Licht, das den Menschen Orientierung und Sicherheit bietet. Im ersten Satz der DavComp wird David als Licht wie das Licht der Sonne beschrieben (אור כאור השׁמשׁ, Z. 2), und alle nachfolgenden Sätze haben nur die Funktion darzustellen, warum er dieses Licht ist. Durch seinen vollkommenen, fehlerfreien Wandel vor Gott und den Menschen hat er ethische Vorbild-
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KLINZING, Umdeutung, 41. Vgl. auch WACHOLDER, David’s Eschatological Psalter, 37. 90 Vgl. NEWSOM, Songs of the Sabbath; ESHEL, DJD 11; GARCÍA MARTÍNEZ, DJD 23, 259–304; vgl. auch die Auflistung der Kompositionen bei DAHMEN, Psalterrezeption, 255ff.; DAHMEN, שׁיר, 1294f. 91 Vgl. VAN DER PLOEG, Un petit rouleau, 128f.; PUECH, 11QPsApa, 399; KLEER, Sänger, 297f.; DAHMEN, Psalterrezeption, 256. 92 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 256f.; FLINT, Dead Sea Psalms Scrolls, 198–6200; KLEER, Sänger, 296f.; vgl. auch Exkurs III. 89
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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und Leitfunktion für die Gemeinschaft. Und mit seinen Liedschöpfungen ist er im Bereich des eschatologischen Kultus das wegweisende Licht.93 Zusammenfassung: DavComp erweist sich als ein Text, der sich nahtlos in den Kontext einfügt und vielfache Bezüge zu seinen unmittelbaren Nachbarpsalmen herstellt. Für M. Kleer ist dies ein Beweis dafür, dass der Prosatext gezielt für diesen Zusammenhang verfasst wurde. Besonders das zugrunde gelegte Kalendersystem spräche für seine Abfassung in Qumran.94 Dagegen geht U. Dahmen davon aus, dass in DavComp ein älterer Text vorliegt, der in Qumran für seine Einfügung in 11QPsa stark überarbeitet worden ist.95 Wie diese Frage auch zu entscheiden ist, so ist in der vorliegenden Fassung der Komposition die immense Bedeutung der Gestalt Davids für die Gemeinschaft unübersehbar. Durch inhaltliche Gestaltung und äußerlichen Aufbau wird in diesem Prosatext ein Idealbild kreiert, das vom Schluss der Komposition 11QPsa aus die gesamte Psalmensammlung prägt.96 DavComp lässt die gesamte Psalmenrolle im Licht Davids erscheinen. Zugleich bietet dieser Text Orientierung und weist den Weg zu einem vollkommenen ()תמים Leben, sowohl im ethischen als auch im kultischen Bereich. Mit Hilfe der intertextuellen Bezüge zwischen Ps 101 und 2. Sam 23,7 + DavComp wird ein Bogen gespannt, der die Psalmen von Frag. ABC I – Kol XXVII,11 umschließt und ihnen eine Rahmung verleiht. Die folgende Untersuchung analysiert die Zusammenstellung der übrigen Psalmtexte von 11QPsa unter der Fragestellung, ob sie die Perspektive der Rahmung beibehält und stützt. Zunächst soll jedoch ein Exkurs zur Davidisierung der Psalmen einen Einblick in den Prozess der Zuschreibung der Psalmen an David geben. Exkurs I: Die Davidisierung der Psalmen Die Vorstellung von David als Psalmendichter und Psalmensänger ist sowohl im protomasoretischen Psalter als auch im Septuaginta-Psalter und in der Psalmenrolle 11QPsa zu finden. Sie ist Ausdruck eines rezeptionsgeschichtlichen Prozesses, in dessen Verlauf die Texte der biblischen Psalmen auf den
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Vgl. KLEER, Sänger, 296. Vgl. KLEER, Sänger, 302; so auch LEUENBERGER, Pragmatik, 179f. 95 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 257. Von vorqumranischer Herkunft gehen z.B. auch FÜGLISTER, Verständnis der Psalmen, 321; MILLARD, Komposition des Psalters, 224; FLINT, Dead Sea Psalms Scrolls, 198ff. aus. 96 Hier wird ein Idealbild von David kreiert, sodass es nicht verwundert, dass die Darstellung eines ganz und gar unvollkommenen Davids von 1. Sam 16 – 1. Kön 2 bei dieser Charakterisierung gänzlich ausgeblendet wird. 94
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
historischen David als ihren Schöpfer zurückgeführt wurden. Am Ende dieses Davidisierungsprozesses stand die Rede vom Psalter Davids.97 Ausgangspunkt dafür war die Vorstellung des musizierenden Davids, die Teil des ältesten Bestands der Davidüberlieferung ist und sich in den Samuelbüchern niedergeschlagen hat. Zu diesem historischen Grundstock könnte die Beschreibung Davids in 1. Sam 16,18 gehören, die ihn als kundig im Saitenspiel darstellt. Zudem spielt das Motiv des musizierenden Davids in der Erzählung vom Beginn des Konflikts zwischen Saul und David eine große Rolle. Aufgrund seiner Fertigkeit des Zither (rwONKi) spielens war er von Saul an dessen Hof geholt worden, um dem betrübten König Erleichterung durch das Instrumentenspiel zu verschaffen (1. Sam 16,22f.). Zu diesem Bild des Zither spielenden Davids kam die Überlieferung des singenden Königs hinzu. In 2. Sam 1,17 beklagt König David den Tod Sauls und Jonathans, indem er ein Klagelied singt. Auf gleiche Weise reagiert er in 2. Sam 3,33f. auf den Tod Abners. Diese Kernstücke der Davidüberlieferung dürften der Grundstock gewesen sein, der im Laufe der weiteren Überlieferung ergänzt und ausgeschmückt wurde. Die unterschiedlichen Davidbilder in den Samuelbüchern, den Chronikbüchern und den Psalmen gehen auf verschiedene Redaktionen zurück, die sich in der Bearbeitung der Davidüberlieferung von ihren jeweiligen Intentionen leiten ließen. In Sam wurden David z.B. die Texte 2. Sam 22 (= Ps 18) und 2. Sam 23 (= Davids letzte Worte) in den Mund gelegt, um zum einen das Ansehen des nicht immer fehlerfreien Davids zu verbessern und zum anderen um den Texten Autorität zu verschaffen.98 Im Vergleich zu den Samuelbüchern setzen die Bücher der Chronik bei der Ausarbeitung des Davidbildes eigene Akzente. Zu ihrer Idealisierung der Davidgestalt gehört das Auslassen der Hofgeschichten sowie der Darstellung des musizierenden Davids. Stattdessen wird er als Planer des Tempelbaus und als Begründer des Tempelkults geschildert (1. Chr 22–29). Dadurch entsteht das Bild einer idealen Königsgestalt ohne Fehler.99 Die Psalmen wiederum enthalten eine zweifache Vorstellung von David.100 Neben Psalmen, die vor allem an David als dem König interessiert sind und ihn als Dichter und Sänger nicht thematisieren101, stehen solche, die ihn als Psalmensänger darstellen. Diese Zuordnung geschieht zum größten Teil in den sekundären Psalmüberschriften, etwa durch die Formel „ledāwid“. 97
Vgl. zum Folgenden SEYBOLD, David als Psalmsänger; SEYBOLD, Davidisierung; vgl. fernerhin MILLARD, Komposition des Psalters, 230ff.; HOSSFELD, Davidisierung. 98 Vgl. SEYBOLD, David als Psalmsänger, 63f. 99 Vgl. BALLHORN, Gestalt Davids, 19f. 100 Vgl. SEYBOLD, David als Psalmsänger, 66ff.; SEYBOLD, Einführung. 101 Zu den größtenteils vorexilischen Königspsalmen zählen Ps 2; 18; 20; 21; 45; 72; 89; 101; 110; 132; 144. Darin wird der regierende König am Dynastiegründer gemessen. David selbst wird namentlich selten genannt.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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Dadurch ergaben sich Gruppen von David zugewiesenen Psalmen – Davidpsalter I: Ps 3–41; Davidpsalter II: Ps 51–72; Davidpsalter III: Ps 101–103; Davidpsalter IV: Ps 108–110; Davidpsalter V: Ps 138–145102 –, die im Verlauf des weiteren Sammlungsgeschehens in den Psalter eingefügt wurden.103 Während dieses stufenweisen Prozesses, der zwischen der Nachexilszeit und dem 2. Jh. v.Chr. stattfand, wurden sukzessive und vermutlich von vorne nach hinten die einzelnen Teilkompositionen (z.B. Davidsammlungen, Asafpsalmen, Korachpsalmen) zum Psalter zusammengefügt und schließlich durch Ps 1 und 2 sowie 146–150 mit einer Rahmung versehen.104 Neben den Königspsalmen und den Überschriften spielt David als Dichter und Sänger auch in drei Texten eine Rolle, die nicht im PMT zu finden sind: Ps 151, der in zwei unterschiedlichen Fassungen überliefert ist – in der LXX und in 11QPsa (Kol XXVIII,3–14) –, sowie DavComp, ebenfalls in 11QPsa (Kol XXVII,2–11) enthalten. Während Ps 151 in der LXX den Schwerpunkt auf Davids Kampf gegen Goliath legt, wird im hebräischen Text (Ps 151 A und B) der David betont, der vom einfachen Hirten und Sänger zum König über das Volk Israel aufsteigt. Auch das Prosastück DavComp konzentriert sich auf den Psalmen- und Lieddichter David, der vom Geist Jahwes inspiriert seine Dichtungen schreibt. Damit wird die Entwicklung und Veränderung des Davidbildes im Verlauf der Redaktions- und Überlieferungsgeschichte deutlich. Ausgehend von einigen wenigen Notizen in den Samuelbüchern über den singenden und Zither spielenden Sohn Isais, der an den Hof Sauls gelangt, über das Bild vom vollkommenen König in den Königspsalmen hin zum idealen Dichter und Sänger von Psalmen, der in 11QPsa sogar prophetische Ausstrahlungskraft erhält (DavComp Kol XXVII,11). So steht am Ende eines Prozesses, in dessen Verlauf einzelne, in bestimmten Kontexten entstandene Glaubenstexte einer Vorstellung von David zugeordnet wurden, die Rede vom Psalter Davids. Für eine solche Entwicklung gibt es zahlreiche Motive105: Zunächst unterstrich die Zuordnung zu David die Bedeutung dieser Texte und ihre Verankerung in seiner Biographie sicherte ihre weitere Überlieferung. Davids Person und Biographie dienten als einende Elemente bei der Sammlung der vielfältigen Psalmen. Sodann bekamen sie durch die Anbindung an David, den Dichter und Sänger von Psalmen, eine Autorität, die für ihre Kanonisierung ausschlaggebend war. Auch wenn durch die Betonung der Autorschaft Davids der je eigene Charakter der einzelnen Psalmen von seiner Gestalt überdeckt wurde, trug dieses Vorgehen zum Erhalt der Gebete für die nachfolgenden 102 103
Vgl. ZENGER, Einleitung, 353. Diesen Vorgang bestätigt u.a. Ps 72,20: „Zu Ende sind die Gebete Davids, des Sohnes
Isais“. 104 105
Vgl. GERTZ, Grundinformation, 427; sowie ZENGER, Einleitung, 351ff. Vgl. SEYBOLD, David als Psalmsänger, passim; SEYBOLD, Davidisierung, 323ff.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Generationen bei, die damit an Bedeutung für die eigene Frömmigkeit gewinnen konnten. 2. Eröffnung durch die Davidsammlung Ps 101–103.109 Die erste Teilkomposition der Psalmenrolle ist die Sammlung der Davidpsalmen 101–103.109 in Fragment A–D: Frag. ABC I = Ps 101,1–8; 102,1–2; Frag. C II = Ps 102,18–29; 103,1; Frag. D = Ps 109,21–31. Da der Anfang der Rolle nur noch fragmentarisch erhalten ist, gilt es nicht als ausgeschlossen, dass zwischen Ps 103 auf Frag. C II und Ps 109 auf Frag. D weitere Psalmen vorhanden waren, die uns nicht mehr vorliegen. Wie allerdings P.W. Flint und im Anschluss an ihn U. Dahmen überzeugend gezeigt haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass im ursprünglichen Zustand der Rolle Ps 109 direkt auf Ps 103 folgte. Dazwischen sei nur eine einzige Kolumne verloren gegangen, welche Ps 103,16b–22 und Ps 109,1–20 enthalten habe.106 Die Ps 101, 103 und 109 sind durch die Überschrift לדוידeindeutig als Davidpsalmen gekennzeichnet. Ps 102 trägt keine solche Überschrift, gehört jedoch auch in diese Sammlung, da er inhaltlich eng mit dem Davidpsalm 142 verbunden ist (vgl. Ps 142,1.3).107 Nach dem Königspsalm 101, der die Durchsetzung des Rechts durch den König thematisiert (s.o.), folgt mit Ps 102 ein Bitt- und Klagepsalm. Dieser Psalm beinhaltet die Klage über die eigene Vergänglichkeit und den körperlichen Zerfall (V. 4–6*.12*.24f. = Frag. C II,6f.), über Einsamkeit und Angriffe durch Feinde (V. 7–9*) und über die Verwerfung durch Gott (V. 10f.*).108 In den V. 4–6* schildert der Klagende seinen körperlichen Zustand und bedient sich dabei verschiedener Bilder für die Vergänglichkeit: Seine Tage vergehen wie Rauch (Ps 37,20; 68,3; Hos 13,3; Jes 51,6), seine Glieder sind wie vom Feuer verbrannt und sein Inneres ist verdorrt wie das von der Sonne versengte Gras (Ps 121,6; Jes 49,10; Hos 9,16; Jon 4,8). Er ist appetitlos, magert ab und ist hilflos gegenüber seinem zunehmenden körperlichen und seelischen Verfall. Hinzu kommt die Vereinsamung des Klagenden, denn er muss Schmähungen, Hohn und Flüche seiner Feinde über sich ergehen lassen (V. 7–9*). In V. 11* benennt der Klagende den eigentlichen Grund seines Zustandes. Gott hat ihn erhoben und ihn dann in seinem Zorn hart zu Boden geworfen. Der Auslöser für Gottes Zorn wird nicht genannt. Doch der Leidende weiß, dass sein Tod nahe ist, denn die Schatten werden länger (V. 12*; vgl. Ps 109,23; 144,4; Hiob 8,9; Koh 8,13). In V. 13–17*.18–23 (= Frag. C II,1–6) hingegen ist ein eigenständiger Abschnitt über Zion eingefügt, der die künftigen Taten Jahwes preist. Gott wird sich erheben und über Zion erbarmen (V. 14*). Das Ziel, auf das alles zuläuft, sind der Wiederaufbau Zions (V. 17*) und die universale Verehrung Jahwes durch alle Völker und Könige der Erde (V. 16*). Anschließend kehrt der Beter in V. 24f. (Frag. C II,6f.) zur Klage zurück, bevor er in 106
Vgl. FLINT, Dead Sea Psalms Scrolls, 189; DAHMEN, Psalterrezeption, 38; vgl. auch GARCÍA MARTÍNEZ, DJD 23, 30. 107 Vgl. BALLHORN, Telos, 118. 108 Vgl. die Einteilung in Ich-Klage, Feind-Klage und Gott-Klage in HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 42f.
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den letzten Versen der Vergänglichkeit der Schöpfung die Ewigkeit ihres Schöpfers gegenüberstellt und ihn preist.
Die Verbindung zum vorhergehenden Ps 101 besteht im Wesentlichen in der Zionstradition (vgl. Ps 101,8 – Frag. ABC I,9f.). Hingegen sind die Gemeinsamkeiten des Klagepsalms 102 und des nachfolgenden Psalms (Frag. C II,12) stärker ausgeprägt, da die Vergänglichkeitsthematik in Ps 103 aufgenommen und weiter ausgeführt wird. Als verbindende Elemente fungieren dabei besonders der Vergleich des menschlichen Lebens mit verdorrendem Gras (Ps 102,5.12*; 103,15*) und das Motiv des Staubes (Ps 102,10*; 103,14*). Während der Beter von Ps 102 über die eigene Endlichkeit klagt, konzentriert sich der Hymnus Ps 103 auf das Gotteslob.109 Der Beter preist Jahwe, der Gerechtigkeit übt (V. 6*), Gnade walten lässt (V. 4.11*) und Sünden nicht vergilt (V. 3.10*). Anders als in Ps 102,25–28 (Frag. C II,6ff.) steht in Ps 103 der nichtigen menschlichen Existenz nicht die Ewigkeit Jahwes gegenüber, sondern seine ewige Güte (V. 17ff.*).110 Denen, die ihn fürchten, erweist Gott grenzenlose Liebe und Gnade (V. 11ff.*). Darum ist der Beter voll des Lobes und ruft zum Lobpreis Jahwes auf (V. 20ff.*).
Anschließend an Ps 103 folgt mit Ps 109 (Frag. D) ein weiteres Bittgebet, das die Not des Betenden schildert. Zunächst stellt der Beter in V. 1–5* seine Notsituation dar: Er wird von seinen Feinden angeklagt und ohne Grund bekämpft, sie verbreiten Lügen und Verleumdungen über ihn. Das Bild vom geöffneten Mund der Feinde erinnert an die Gefährlichkeit von jagenden Raubtieren (vgl. Ps 22,14) und unterstreicht die Bedrohlichkeit der Situation für den Beter.111 Das „Feindzitat“112 in V. 6–19* präzisiert das Vorhaben seiner Widersacher, den Psalmisten vollständig vernichten zu wollen. Aus dem gegen ihn eingeleiteten Gerichtsverfahren soll der Beter als Frevler ( )רשׁעhervorgehen und zum Tode verurteilt werden (V. 7f.*). Doch die Gegner trachten nicht nur nach seinem Leben, sondern intendieren die Ausrottung seiner gesamten Familie und Nachkommenschaft. Auch Jahwe soll ihm gegenüber keine Gnade walten lassen, so die Forderung der Ankläger (V. 14f.*). Denn – und nun erst wird der Grund für die geforderte Vernichtung genannt (V. 16ff.*) – der Angeklagte selbst habe einem armen Mann gegenüber keine Gnade erwiesen. Vielmehr habe er ihn verfolgt, um ihn zu töten. Damit hat er seine Pflicht der Armenfürsorge verletzt und dabei sogar Freude empfunden (V. 17*: „Er liebte den Fluch.“). Darum fordern die Gegner seine Bestrafung. Ab V. 20 (V. 21–31 = Frag. D) kommt wieder der Beter zu Wort, der sich voller Verzweiflung an Jahwe wendet (V. 21 – Z. 1f.: „ הצילניErrette mich/reiß mich heraus!“). Mit der Anrede „mein Herr“ appelliert er an Jahwes Schutzpflicht seinem Knecht (vgl. V. 28 – 109
Von Ps 103 ist aufgrund der Zerstörung der Rolle nur noch „[ ] “] [רכי נפשי את יaus V. 1 erhalten. Um dennoch die thematische Einbindung des Psalms in die Davidsammlung aufzeigen zu können, wird zur Textrekonstruktion auf den PMT zurückgegriffen (vgl. Anm. 64). 110 Vgl. BALLHORN, Telos, 123. 111 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 186. 112 SEYBOLD, Psalmen, 434.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Z. 7) gegenüber, da dieser keine Kraft mehr hat, sich selbst zu retten (V. 24 – Z. 3f.). Er spürt die Nähe des Todes, denn er vergeht wie ein Schatten, der lang wird (V. 23*; vgl. die Verwendung desselben Motivs in Ps 102,12*). Der Beter ist sich jedoch der Errettung durch seinen Herrn gewiss, daher endet der Psalm in V. 30f. (Z. 8f.) mit der Ankündigung des Lobpreises Jahwes.
Mit dem vorhergehenden Ps 103 ist dieser letzte Psalm der Davidsammlung durch die Motive der Sünde ( עון- Ps 103,3.10*; 109,14*), der Gnade ( חסדPs 103,4.8.11.17*; 109,12.16*.21.26 = Z. 2.6), des Rechtsbeistands durch Jahwe (Ps 103,6*; 109,31 – Z. 9) und das Motiv des Ergehens der Kinder (Ps 103,13*; 109,9–13*) verbunden.113 Zusammenfassung: Insgesamt zeigt sich, dass die vier Davidpsalmen (Ps 101; 102; 103; 109), welche die erste Sammlung der Rolle 11QPsa bilden, die Gerechtigkeit als ihr gemeinsames Thema herausstellen. Mit Ps 101 erhält sowohl die Sammlung als auch die gesamte Rolle eine programmatische Eröffnung. David, der das Unrecht hasst und gerecht handeln will, wird jeden Frevler und Übeltäter strafen. In seinem Haus und in der Stadt Jahwes soll kein Unrecht herrschen (s.o. Analyse). Im Anschluss an diesen Psalm folgt der Klagepsalm 102, der zusammen mit dem Bittpsalm 109 eine Ringkomposition um den Hymnus Ps 103 bildet.114 Die Eröffnung der Psalmenrolle durch eine Komposition, welche die Gerechtigkeit (Gottes) als zentralen Inhalt hat, ist bezeichnend für die Gemeinschaft der Qumranfrommen. Diese Gemeinschaft, die in Abgrenzung zum restlichen Israel lebte (s.u. Exkurs III), brachte mit Hilfe solcher Kompositionen in der Psalmenrolle ihre eigene Theologie und Sichtweise zum Ausdruck. Wie sich im weiteren Verlauf der Analyse von 11QPsa zeigen wird, lassen sich immer wieder markante Änderungen im Vergleich zum PMT-Psalter auf die Situation der Gemeinde hin deuten. So ist auch die Davidkomposition Ps 101–103.109 und im Besonderen der Eröffnungspsalm 101 auf dem Hintergrund der Abgrenzung der Qumranfrommen zu verstehen, die sich an der Davidfigur als Vorbild orientierten. Die Gemeinde als heilige Gemeinschaft übte Recht und Gerechtigkeit, während der Rest Israels ihrer Ansicht nach in die Irre ging. Dabei war sie sich der Begleitung Jahwes sicher. 3. Ps 118 und die Halleluja-Sammlung Ps 104 – 147 – 105 – 146 – 148 Anschließend an die Davidsammlung Ps 101–103.109 folgen in 11QPsa die Ps 118–104–147–105–146–148 in Frag. E I – Kol II. Besonderes Kennzei-
113
Vgl. dazu auch DAHMEN, Psalterrezeption, 281 Anm. 71. Vgl. dazu auch LEUENBERGER, Pragmatik, 181, der allerdings die Rekonstruktion von Ps 110 voraussetzt. So auch FLINT, Dead Sea Psalms Scrolls, 191f.197. 114
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chen der Ps 104–148 ist das הללויהam Ende jedes Psalms im PMT115, das zugleich diese Gruppe von Ps 118, der kein Schluss- הללויהenthält, trennt. Vor der Analyse der Halleluja-Gruppe soll kurz auf ein Problem hingewiesen werden, das aufgrund des fragmentarischen Erhalts der ersten Psalmen von 11QPsa besteht. In Frag. E I sind Ps 118,25–29 und Ps 104,1–6 erhalten. Dass der verlorene Teil Ps 118,1–24 direkt auf Ps 109 auf Frag. D gefolgt sein könnte, ist auszuschließen, da der Text bei 25 Zeilen pro Kolumne zu lang wäre. Daher war der Psalm entweder kürzer als Ps 118PMT oder eine oder mehrere Kolumnen zwischen Frag. D und E sind verloren gegangen, die diese Verse und eventuell weitere Psalmen enthalten haben könnten.116 Hinzu kommt, dass Ps 118,1.15.16.8.9.29 in Kol XVI,1–6 als Katene anschließend an Ps 136 eingefügt ist (s.u. S 57ff.). In der Forschung sind aus diesem Grund verschiedene Möglichkeiten der Textrekonstruktion diskutiert worden, auf die hier lediglich verwiesen werden soll.117 Aufgrund der Unkenntnis des ursprünglichen Textbestands von Ps 118 beschränkt sich die anschließende Untersuchung dieses Psalms auf den tatsächlich vorhandenen Text und basiert nicht auf einer mit Unsicherheit behafteten Rekonstruktion des Textes. 3.1 Ps 118 Ps 118, der im PMT den Abschluss des sog. Pesach-Hallels/Ägyptischen Hallels Ps 113–118 bildet118, ist durch die Aufnahme kultischer Elemente als eine poetisch kunstvolle, imaginative Liturgie gestaltet.119 Die in 11QPsa erhaltenen Verse 25–29 (Frag. E I,1–5) gehören zum zweiten Hauptteil von Ps 118 (PMT = V. 19–29). Darin wird die Rettung des Ich-Beters durch Jahwe zusammen mit einer Festgemeinde im Haus Jahwes gefeiert. Mit Hilfe von Elementen aus Tempel und Tempelliturgie beschreiben diese Verse den Einzug des Geretteten in das Gotteshaus (z.B. V. 19*: eingehen durch die Tore der Gerechtigkeit - ;שׁערי־צדקV. 20*: das Tor Jahwes - ;השׁער ליהוהV. 25 115
Da die Rolle 11QPsa an ihrem unteren Teil stark beschädigt und der Text somit nur bruchstückhaft vorhanden ist, ist das Halleluja textlich nur noch am Ende von Ps 104 (Frag. E II,14) und Ps 146 (Kol II,5) erhalten. 116 Vgl. dazu GARCÍA MARTÍNEZ, DJD 23, 30. 117 Im Anschluss an SKEHAN, Liturgical complex, 196 rekonstruiert FLINT, Dead Sea Psalms Scrolls, 175f.189–192, das Pesach-Hallel Ps 113–117 und Ps 110. Nach Abwägung verschiedener Optionen setzt DAHMEN in seiner Untersuchung die Textrekonstruktion von Ps 113–117 ohne Ps 110 voraus, vgl. Psalterrezeption, 38–48.284f. Vgl. auch LEUENBERGER, Pragmatik, 168f. und Anm. 13, der für die Reihenfolge Ps 109 → 110 → 111f. → 113–118 argumentiert. 118 Vgl. MILLARD, Komposition des Psalters, 30ff.; SCHRÖTEN, Entstehung, 91–138; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 245ff.; ferner BALLHORN, Telos, 204–211; LEUENBERGER, Konzeptionen, 279ff. 119 Vgl. MARK, Meine Stärke, 500f.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
– Z. 1: Kultruf „Hosianna“; Segen in V. 26 – Z. 2f.). Der Psalm endet im PMT wie auch in 11QPsa in V. 29 – Z. 5 mit dem Aufruf des Beters, Jahwe zu loben ()]הודו[ ליהוה כי טוב כי לעולם חסדו. Dieser Vers ist die wörtliche Wiederholung von V. 1 und wird in 11QPsa Ps 105 als zusätzlicher Vers eingeschoben (Frag. E III,8; s.u.). Es handelt sich bei dieser Formel um einen „eschatologische[n] Bekenntnisruf“120, der sowohl im Psalter (Ps 106,1; 107,1; 118,1.29; 136,1) als auch – in veränderter Form – außerhalb des Psalters vorkommt (z.B. 1. Chr 16,34; Jer 33,11; Esra 3,11). Die Formel wird vorzugsweise in jenen Kontexten verwendet, welche die für Israel bedeutsamen Ereignisse schildern. Durch die Aufnahme mehrerer Motive der Davidsgeschichte wird Ps 118 zugleich davidisiert.121 Auf diese Weise gibt sich die Inklusion des Psalms (V. 1.29) als „davidisierte eschatologische Bekenntnisformel zu erkennen, welche JHWH in seiner Schöpfermacht und seinem exklusiven Rettungshandeln herausstellt“122. Damit verweist Ps 118 in 11QPsa bereits auf Ps 105 in Frag. E III. Darüber hinaus fungiert dieses Bekenntnis als Überleitung zur folgenden Halleluja-Gruppe, die sowohl Schöpferhandeln als auch Heilswirken Jahwes thematisiert und als Anlass zum Loben nimmt. Aufgrund dessen wiegt es nicht schwer, dass Ps 118 in 11QPsa keine direkte Verbindung zum nachfolgenden Ps 104 (Frag. E I,6–11 und Frag. E II,1–14) aufweist.123 Ohne Berücksichtigung und Rekonstruktion des Prä-Kontextes deuten die vorhandenen V. 25–29 auf die folgende Halleluja-Sammlung insgesamt hin. Hinzu kommt eine weitere Verbindung, die durch die –הודוWendung (Frag. E I,5) hergestellt wird: Mit dieser „davidisierten Bekenntnisformel“ wird die Davidisierung, die in der Psalmengruppe 101–103.109 von Anfang an erkennbar ist, in Ps 118 weitergeführt. Diese Zuschreibung der Psalmen an David behält auch die an Ps 118 anschließende Sammlung bei, die in Ps 104 (Frag. E I,6) לדוידhinzufügt. Darüber hinaus führt der Hilferuf des Beters an Jahwe in V. 25 – Z. 1, der durch die Interjektion אנאund die Partikel נאverstärkt wird124, die Thematik der vorangehenden Psalmengruppe 102–103.109 weiter. Zudem bestehen zu Ps 109 weitere Stichwort- und Motivverbindungen.125 Es kann somit festgehalten werden, dass die erhaltenen Verse von Ps 118 in ihrem neuen Kontext von 11QPsa nicht isoliert stehen, sondern durch mehrfache Bezüge integriert sind. 120
MARK, Meine Stärke, 150. Zum Folgenden vgl. ebd., 150–163. Vgl. die Anspielung auf den Kampf Davids gegen Goliath in V. 26 (unter Rückgriff auf 1. Sam 17,45); vgl. dazu die Analyse in MARK, Meine Stärke, 161.268.357ff. 122 MARK, Meine Stärke, 493. 123 So DAHMEN, Psalterrezeption, 284. 124 Vgl. dazu MARK, Meine Stärke, 260–264. 125 So z.B. die liturgische Formel, dass Jahwe gut ist und seine Gnade ewig währt in Ps 109,21 und 118,29, oder zwischen אודה יהוהin Ps 109,30 und Ps 118,29; vgl. auch MARK, Meine Stärke, 428. 121
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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3.2 Ps 104 Der erste Psalm der Halleluja-Gruppe ist Ps 104 (Frag. E I,6–11 und Frag. E II,1–14), der – wie auch in der LXX, aber anders als im PMT – mit לדוידbeginnt (Frag. E I,6) und der gesamten Gruppe dadurch eine davidische Ausrichtung verleiht.126 Damit wird die explizite Zuschreibung der Psalmen von 11QPsa an David, mit der die Rolle begonnen hat, fortgeführt. Durch die Wendung ברכי נפשׁי את יהוהjeweils am Anfang und am Ende des Psalms (Frag. E I,6f. und Frag. E II,14) ist Ps 104 mit Ps 103 aus der ersten Davidsammlung verbunden (vgl. Ps 103,1 – Frag. C II,12). Auch das Thema, mit dem Ps 103 im PMT endet, nämlich Jahwe als Himmelskönig und seine universale Herrschaft, wird zu Beginn von Ps 104 aufgenommen und ausgestaltet. In V. 1–4 (Frag. E I,6–10) rühmt der Beter die Größe Jahwes „in ihrem herrlichen und herrscherlichen Erscheinen“127. Gott ist in Hoheit und Pracht gekleidet und von Licht umhüllt wie von einem Mantel. Der Königstitel wird hier nicht explizit genannt, doch ist das Großsein Jahwes eines der Königsprädikate der Zionstheologie (vgl. z.B. Ps 47,3; 95,3; 96,4; 99,2f.; Jer 10,6f.).128 V. 5f. (Frag. E I,11) und 7–9* schildern die Schöpfung der Erde durch die Bändigung der Chaoswasser, die Grund dafür ist, dass die Erde für immer in ihren Fundamenten feststeht. Das Wissen über diese von Jahwe gegebene Stabilität der Welt veranlasst den Beter in den nachfolgenden Versen, Jahwes Erhalt der vielfältigen Schöpfung in optimistischer Heiterkeit zu preisen.129 Er lobt Gott, der Pflanzen, Tiere und Menschen auf wunderbare Weise mit dem Lebensnotwendigen versorgt und der Welt durch die Gestirne ihre Ordnung verleiht. Ein Hymnus, der die Weisheit Jahwes besingt, mit der er diese wunderbaren Werke gemacht hat, schließt die Schilderung ab (V. 24 – Frag. E II,3f.). V. 25f. (Frag. E II,4–7) beschreiben das Meer als Lebensraum, bevor in V. 27–30 (Frag. E II,7–10) die Darstellung der Schöpfung ihren Höhepunkt erreicht. Die völlige Abhängigkeit alles Lebendigen wird in diesen Versen thematisiert. Die Schöpfung kann in der beschriebenen Art und Weise nur existieren, solange Jahwe ihr zugewandt ist und sie zur rechten Zeit mit dem versorgt, was sie zum Leben braucht. Sobald er sich von den Geschöpfen abwendet und ihnen ihren Lebensatem nimmt, sterben sie. Hierin besteht auch eine Verbindung zum Vergänglichkeitsmotiv der vorangehenden Ps 102, 103 und 109. Obgleich V. 32 (Frag. E II,11) die Gefährdung der zuvor gelobten stabilen Weltordnung durch Jahwes Zorn andeutet 130, gilt allein Gott das lebenslängliche Lob des Psalmisten (V. 33f. – Z. 11–13). Der Psalm endet mit erneuter Selbstaufforderung zum Lob und dem Halleluja-Ruf, der in den folgenden Psalmen wiederkehrt.
Ps 104 ist das Lob auf Jahwes Herrschaft über seine Schöpfung. Dabei beschreibt der Psalm diese Herrschaft und die Macht Jahwes, ohne auf den 126
Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 285. SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 29. 128 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 76. 129 Vgl. JEREMIAS, Königtum Gottes, 46. 130 Beben und Zittern sind die üblichen Reaktionen auf Gottes Zorn. Vgl. KÖCKERT, Theophanie, 216. 127
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Tempel zu rekurrieren, obwohl auffällig viele Motive aus Tempel und Tempelkult im Psalmcorpus eingestreut sind.131 Dadurch erfährt das traditionelle Konzept des Tempels als Ort der Gottesbegegnung eine Veränderung und Entwertung dahingehend, dass nun die Präsenz Jahwes nicht einzig an diesem Ort, sondern in der gesamten Schöpfung erfahrbar ist. Das Tempelgebäude wird für die Begegnung zwischen Jahwe und den Menschen überflüssig, denn die ganze Schöpfung zeugt von Gottes Herrlichkeit. Diese Minderung von Bedeutung und Ansehen des Tempels in Ps 104 entspricht der Haltung der Qumranfrommen gegenüber dem Jerusalemer Tempelkult, da sich diese ganz bewusst scharf vom derzeit im Tempel ausgeübten Kult und der dortigen Priesterschaft abgrenzte (s.u. Exkurs III).132 Eine Textvariante in Ps 104 ist besonders auffällig. In V. 1 (Frag. E I,7) steht das Suffix der 1. Pers. nicht im Singular wie im PMT ()אלהי, sondern im Plural ()אלוהינו. Damit wird in das Loblied eines Einzelnen zugleich die Perspektive der gesamten Gemeinschaft eingefügt.133 3.3 Ps 147 Das schöpfungstheologische Thema von Ps 104 setzt sich im folgenden Ps 147 (Frag. E II,16 und E III,5–7) fort. Darüber hinaus bestehen mehrere Verknüpfungen zwischen beiden Psalmen, welche die thematische Zusammengehörigkeit dieser Texte unterstreichen. Zunächst fällt die Verbindung durch das Stichwort – זמרspielen, musizieren – auf (Ps 104,33 – Frag. E II,12; 147,1 – Frag. E II,16). Jahwe durch Spiel zu verherrlichen, wie es das lebenslängliche Vorhaben des Psalmisten in Ps 104,33 ist, wird in Ps 147,1 als gut gewürdigt (vgl. V. 7*). Das Motiv der Speisung der Tiere durch Jahwe verbindet Ps 147,9* mit Ps 104,21.27f. (Frag. E II,1.7f.). Die Wolken, die Regen spenden, und das Gras, das als Nahrung dient (Ps 104,13f.*), kehren in Ps 147,8* wieder. Erwähnt sei auch das Motiv der Vielfalt und des Reichtums, das in den Worten מספר, כולםund רבAusdruck findet (vgl. Ps 104,24.25.27 – Frag. E II,3f–6.7; Ps 147,4f.*). Gleichermaßen ist der Gedanke der Sättigung שׂבעin Ps 104,13*.16*.28 (Frag. E II,7f.) und Ps 147,14* ein verbindendes Element.134 Der Hymnuspsalm 147 ist dreigeteilt (V. 1–6.7–11.12–20)135 und beginnt in V. 1 (Frag. E II,16) mit einer lobenden Eröffnung. V. 2–6* stellen Jahwes Handeln dar, das sich über zwei Bereiche erstreckt: Zum einen wird das Heilswirken Jahwes gepriesen, der das ver-
131
Vgl. KRÜGER, Kosmotheologie, 68ff. Vgl. auch JEREMIAS, Königtum Gottes, 45.152. Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 287. 133 Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 112. 134 Zu den Stichwort- und Motivverbindungen zwischen Ps 104 und Ps 147 vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 286 Anm. 95. 135 Vgl. SEYBOLD, Psalmen, 536. 132
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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sprengte Israel sammelt und heilt, den Armen hilft und die Gottlosen straft. Zum anderen verkünden die V. 4f.* die Größe und Macht des Schöpfergottes. In V. 7* gibt es einen Neueinsatz mit der zweifachen Aufforderung, Jahwe ein Danklied ( )תודהmit Zitherbegleitung ( )כנורzu singen. Die anschließenden V. 8f.* beschreiben Jahwes schöpferisches Handeln und seine gütige Erhaltung der Schöpfung, die sich vom Lenken der Wolken bis hin zur Fürsorge für die besonders hilflosen und hilfsbedürftigen Rabenjungen erstreckt. Dabei spielen diese Verse sehr stark auf Ps 104,3.21 (Frag. E I,9f.; Frag. E II,1) und Ps 146 (s.u.) an.136 Gegenüber dieser bewahrenden Macht Gottes ist die Stärke der Rosse und Männer, die in V. 10f.* als Sinnbild für die Kräfte verwendet wird, auf die der Mensch sich verlässt, völlig bedeutungslos. Denn Jahwe hat lediglich an den Menschen Gefallen, die ihn fürchten und allein auf seine Gnade vertrauen. Mit V. 12* beginnt – wiederum mit einer zweifachen Aufforderung Jahwe zu loben (שׁבח, – )הללder dritte Abschnitt des Psalms. Dieser Teil ist jerusalembezogen, denn schon die Lobaufforderung richtet sich direkt an Jerusalem bzw. Zion. Die Stadt soll Jahwe rühmen, da sie durch ihn wieder befestigt wurde und ihre Bewohner in Frieden und unter Gottes Segen leben können.137 Das Bild Jerusalems im PMT-Wallfahrtspsalter (Ps 120– 134), der in 11QPsa hinter der Halleluja-Gruppe eingeordnet ist (Kol III–VI), vorwegnehmend, wird die Stadt hier als Ort des Friedens und des Wohlstandes beschrieben.138 Thema der folgenden V. 15–17* und V. 18 (Frag. E III,5) ist das Wirken des Gotteswortes, das an den Naturphänomenen Eis, Schnee, Frost und Wind veranschaulicht wird (vgl. Jes 55,10f.). Dieses Wort erging auch an Jakob/Israel, denn Jahwe hat diesem Volk, als einzigem unter allen Völkern, seine Gesetze ( )חוקיוund Rechtsordnungen ( )משׁפטיוvermittelt (V. 19f. – Frag. E III,5–7).139 Der Psalmist kann nur mit einem Lobpreis, einem Halleluja, schließen.140
Einige Psalmen enthalten eine besondere Perspektive auf die Armen. So kann sich etwa der Beter selbst als „Armer“ vor Gott verstehen. Ebenso gibt es in Qumran eine ausgeprägte Armenfrömmigkeit, die sich auch in 11QPsa widerspiegelt. Im folgenden Exkurs werden die verschiedenen Facetten dieser Frömmigkeit kurz dargestellt. Exkurs II: Die Armenfrömmigkeit in Qumran und im Psalter Die Gemeinschaft der Qumranfrommen bezeichnet sich selbst als „Gemeinde der Armen“ ( – עדת האביונים4Q171 II,9; III,10; vgl. auch 1QpHab XII,3.6.10) und spricht in ihren Texten immer wieder von den „Armen“. Besonders in der Gemeinderegel, den Hodajot, der Kriegsrolle und einigen Kommentaren zu biblischen Schriften lassen sich Ähnlichkeiten zu Armenaussagen des Psalters erkennen.141 Zunächst fällt die unterschiedliche Armuts-
136
Vgl. KRAUS, Psalmen 60–150, 1137. Vgl. SEYBOLD, Psalmen, 540. 138 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 835. 139 Vgl. SEYBOLD, Psalmen, 540f. 140 Vgl. Anm. 115. 141 Vgl. LOHFINK, Lobgesänge, 26. 137
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Terminologie in den Qumrantexten auf.142 Neben ( אביוןz.B. 1QH II,32; III,25; V,16.18.22; 1QpHab XII,3.6.10) begegnen beispielsweise auch ענו/עני, das die „Demütigen“ bezeichnet (z.B. 1QH I,36; II,34; V,13.14.21; vgl. 1QS II,24), und רשׁals Ausdruck für den „Geringen“ (z.B. 1QH II,34; V,14.20). Es stellt sich daher die Frage, in welcher Hinsicht diese Terminologie von den Qumranfrommen gebraucht wurde. Sprachen sie von materieller Armut und hatten sie dabei ausschließlich die Mitglieder der Gemeinschaft im Blick? Bei näherer Untersuchung des Gebrauchs der verschiedenen Armen-Bezeichnungen in den Texten zeigt sich, dass ihre Verwendung sehr vielschichtig ist. Zunächst gibt der Kommentar zu Ps 37, 4Q171 (= 4QpPs 37), Aufschluss darüber, wer mit der Bezeichnung „Arme“ gemeint ist. Diesen Ps 37PMT, der von den Gerechten und den Gottlosen handelt, deutet die Gemeinschaft auf ihre eigene Situation der Bedrängnis und Verfolgung durch den gottlosen Priester.143 Zwei Mal wird die Bezeichnung „Gemeinde der Armen“ verwendet und auf die Qumranfrommen bezogen. 4Q171 II,9–11 und III,9– 11 enthalten die Zusage an die Gemeinde, aus den Fallen Belials gerettet und zu Erben der ganzen Welt gemacht zu werden. Es ist also anzunehmen, dass der Terminus „Arme“ zunächst als Selbstbezeichnung verwendet wurde. Es gibt allerdings auch Textstellen, die anzeigen, dass der Kreis der mit „Arme“ Bezeichneten nicht nur die Gemeinschaft umschloss. 1QpHab XII,3–6 zählt zu den אביוניםauch die „Einfältigen Judas, die Täter des Gesetzes“, was deutlich macht, dass dieser Begriff auch weiter gefasst werden konnte. An dieser Stelle bezieht er das „wahre Israel“, d.h. alle Torafrommen, die aufgrund ihrer Gottestreue Verfolgung und Demütigung erleiden, mit ein.144 Ein weiteres Kennzeichen der Armenfrömmigkeit in Qumran ist die Erwartung der eschatologischen Rettung aus der Armut. Die Kriegsrolle berichtet davon, dass in den „Zeiten der Kriege“ Jahwes (1QM XI,8) dieser die Feinde „in die Hand der Armen“ ausliefern (1QM XI,13; vgl. auch XI,8ff.; XIII,14) wird. Es besteht somit auch die Vorstellung der aktiven Beteiligung der „Armen“ am endzeitlichen Kriegs- und Erlösungsgeschehen. Demnach drückte die Qumrangemeinschaft mit der Bezeichnung „arm“ zunächst nicht den eigenen materiellen Notstand aus. Den Qumran-Handschriften, hauptsächlich der Gemeinderegel, lässt sich entnehmen, wie mit dem Vermögen derjenigen umgegangen wurde, die der Gemeinschaft beitreten wollten. So ging nach bestandener Probe- und Vorbereitungszeit das gesamte Eigentum des Neulings in den Besitz der Gemeinschaft über, sodass 142
Vgl. dazu LOHFINK, Lobgesänge, 42; FABRY, Armenfrömmigkeit, 148ff. Vgl. z.B. 4Q171 I,18; II,17f.; IV,14.21. Zur Person des Lehrers der Gerechtigkeit und des gottlosen Priesters vgl. besonders JEREMIAS, Lehrer der Gerechtigkeit, 10ff. 144 Vgl. LOHFINK, Lobgesänge, 32f.; daneben auch FABRY, Armenfrömmigkeit, 150f.; vgl. HARVEY, The true Israel, 189ff. 143
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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eine Gütergemeinschaft entstand (vgl. 1QS I,11f.; VI,13–23). Die Forderung nach kultischer Reinheit, die vorwiegend in der Tora-Beobachtung lag und durch die sich die Qumranfrommen als das „wahre Israel“ abgrenzten, führte dazu, dass die Gemeinde in einer Binnenwirtschaft arbeitete. Die Vermischung mit Besitz von Gemeinschaftsfremden hätte zu Unreinheit geführt, was bedeutete, dass Import auswärtiger Güter möglichst zu vermeiden war. Zudem entrichtete sie keine Zehntabgaben, sodass die Gemeinschaft mit dem dadurch Ersparten das eigene Sozialwesen finanzieren konnte. Dies alles führte dazu, dass sie eine relativ reiche und unabhängige Gruppe war145 und die Bezeichnung „Arme“ folglich eine andere Bedeutung gehabt haben muss. Insbesondere in den Hodajot wird „arm“ als „Niedrigkeitsprädikat“146 verwendet und verleiht der Armuts-Terminologie damit eine Demutsperspektive. Durch die Selbstbezeichnung „Gebilde von Lehm“ ( – יצר החמרvgl. z.B. 1QH I,21; III,23f.; IV,29 u.ö.) wird ein pessimistisches Menschenbild gezeichnet. Der Mensch sieht sich selbst als „ein Gebilde von Lehm und mit Wasser Geknetetes, ein Ausbund von Schande und Quelle der Unreinheit“ (1QH I,21ff.)147. Daraus erwächst eine Demutshaltung des Menschen, der sich der eigenen Niedrigkeit gegenüber der Souveränität Gottes bewusst ist.148 Das Nebeneinander der Ausdrücke „Gebilde von Lehm“ ( )יצר החמרund „Seele des Armen“ ( )נפשׁ אביוןin 1QH III,23–25 macht deutlich, dass die Bezeichnung „arm“ ( )אביוןauch im Bekenntnis der eigenen Sündhaftigkeit vor Gott verwendet wird. Neben dem Bewusstsein, vor Gott eine durch und durch sündige Kreatur zu sein, besteht in der Qumrangemeinschaft ein ausgeprägtes Erwählungsbewusstsein (vgl. z.B. 1QH IX,29–31; XVII,21f.), wodurch sie sich zugleich scharf von ihren Gegnern abgrenzt.149 Die Armen-Terminologie beschränkt sich allerdings nicht auf die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott. Auch bei der Schilderung von Not und Bedrängnis der Gemeinschaft durch Gegner findet sie Verwendung. Bedrohung und Unterdrückung gehen von den „Gewalttätigen“ ( – עריצים1QH II,21) und den „Mächtigen“ ( – אדירים1QH II,35) aus. Gott jedoch erlöst die „Seele des Armen“ ( – נפשׁ אביון1QH II,32) und die „Seele des Elenden und Geringen“ ( – נפשׁ עני ורשׁ1QH II,34).150 Die eigene ökonomische Disposition oder die der Gegner spielt bei der Erläuterung dieser Armuts-Situation keine Rolle. Denn die „Frontstellung ist [...] religiös motiviert; 145 Vgl. STEGEMANN, Essener, 257f.; vgl. dazu auch LOHFINK, Lobgesänge, 28ff. Dieser kommt jedoch zu einem anderen Ergebnis: Seiner Ansicht nach war die Qumrangemeinschaft arm, was besonders durch die baulichen Anlagen und den ärmlichen Friedhof deutlich werde. 146 Vgl. MAIER, Texte II, 86f. 147 Vgl. hierzu auch LICHTENBERGER, Menschenbild, 75ff.; KUHN, Enderwartung, 27; BECKER, Heil Gottes, 137ff. 148 Vgl. LOHFINK, Lobgesänge, 34; RO, Armenfrömmigkeit, 17ff. 149 Vgl. RO, Armenfrömmigkeit, 19f. 150 Vgl. auch 1QH V,5–19.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
sie resultiert aus gegensätzlichen, einander die Rechtgläubigkeit bestreitenden Positionen“151. Armut ist folglich eine „Glaubenshaltung“152 der Gemeinschaft, die dazu dient, sich von den anderen Teilen des Judentums als die wirklich Frommen abzugrenzen.153 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die qumranische Armenfrömmigkeit, die v.a. in den Hodajot ihren Ausdruck findet, durch verschiedene Armen-Termini eine Demutshaltung des seiner Sündhaftigkeit bewussten Menschen gegenüber Gott formuliert und nicht die wirtschaftliche Situation der Gemeinschaft. Zugleich wird diese Terminologie verwendet, um die Bedrohung durch einen mächtigen Gegner bei gleichzeitiger Gewissheit der eigenen Erwählung durch Gott sowie die eschatologische Erwartung auszudrücken. Ebenso wie in den Texten aus Qumran werden im PMT-Psalter die Armuts-Aussagen in unterschiedlichen Kontexten verwendet. Die folgende Darstellung der Armenfrömmigkeit im Psalter beschränkt sich auf Hervorhebung zweier Aspekte der Bezeichnung „arm“. Einige Psalmen thematisieren die materielle Notlage und Schutzbedürftigkeit der Armen. In allen Kulturen des Alten Orients standen Arme unter dem besonderen Schutz der Gottheit respektive des Königs als deren irdischem Vertreter, woraus sich ein intensives Verhältnis zwischen den Mittellosen der Gesellschaft und der Gottheit ergab.154 Daraus entstand für die Armen im Volk Israel die Gewissheit, zu Jahwe selbst zu gehören (vgl. Jes 49,13; 63,8.16; Ps 68,6; 72,2 u.ö.). Dieses Bewusstsein kommt auch in den Psalmtexten vielfach zum Ausdruck: Neben Psalmen, in denen sich der arme und verzagte Beter hilferufend und schreiend an Jahwe wendet (z.B. Ps 34,7; 102,1) und seine jeweilige Not (z.B. Ps 10,2.9; 35,19; 37,14) schildert, stehen Dank- und Lobgebete angesichts erfahrener Rettung (z.B. Ps 22,25; 25,8f.; 34,7.19; 35,10; 41,2; 72,2.4; 74,19; 112,9). Einen weiteren Aspekt der Armenfrömmigkeit akzentuieren Psalmen, die von der Erfahrung des Exils geprägt sind und in denen sich das Volk Israel in seiner Ganzheit als „Arme Jahwes“ versteht (Ps 18,28; 74,18–23; 149,4). Die Völker haben Israel unterdrückt, aber Jahwe hat es gerettet (vgl. auch Jes 14,32; 26,1–6 u.ö.).155 Durch diese Erfahrung von existentieller Bedrohung und göttlicher Hilfe im Exil erhält die Bezeichnung „arm“ eine eschatologische Ausrichtung. Aufgrund der Macht und Gerechtigkeit Jahwes erfährt das geschlagene Israel Heil und erhält dadurch die Möglichkeit zu neuem Leben. 151
RO, Armenfrömmigkeit, 23. Vgl. MAIER, Texte II, 87. 153 Vgl. RO, Armenfrömmigkeit, 201. 154 Vgl. z.B. SCHOTTROFF, Armut, 172; GERSTENBERGER, אבה, 24; MARTIN-ACHARD, ענה, 345. 155 Vgl. auch LOHFINK, Lobgesänge, 101. 152
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„Von hier aus erscheint die Bedrängnis wie eine Vorbereitung […] für das Reich der Gerechtigkeit.“156 So klingen Klage und Bitte um Erlösung und das Lob des Retters Jahwe immer zusammen. Diese kurze Darstellung verdeutlicht, dass Armen-Terminologie weder in den Texten aus Qumran noch im Psalter per se materielle Armut bezeichnet. Die wirtschaftliche Situation kann in den Psalmen sehr wohl damit beschrieben werden. Hinter den verschiedenen Armuts-Bezeichnungen stehen jedoch oft bestimmte religiöse Haltungen und theologische Konzepte, wie z.B. eine demütige Glaubenshaltung des Beters gegenüber Gott oder der Wille zur Abgrenzung gegenüber anderen. Daher muss von Fall zu Fall entschieden werden, in welchem Sinn Armuts-Terminologie verwendet wird. 3.4 Ps 105 Der auf Ps 147 folgende Ps 105 (Frag. E III,8–17 und Kol I) weist in 11QPsa ein besonderes Merkmal auf. Dem aus dem PMT bekannten Text von V. 1 vorausgehend ist in Frag. E III,8 die Formel [הודו ליהוה כי טוב כי ]לעולם חסדו erhalten. Dieser Einschub verbindet den Psalm mit Ps 118,29 (Frag. E I,5); 136,1 (Kol XV,6) und der Katene in Kol XVI,1.5f.157 In seinem pmt Kontext ist Ps 105 über eine verkürzte Version dieser Formel mit seinen Nachbarpsalmen Ps 106 und 107 verbunden.158 Es scheint, als sei der Zusammenhang dieser drei Geschichtspsalmen so stark gewesen, dass man die vollständige הודו-Formel der beiden Ps 106159 und 107160 in 11QPsa vor Ps 105 gestellt hat und damit eine regelmäßige Struktur von הודוund הללויה erzielte.161 Im Anschluss an diese Formel setzt der ursprüngliche Psalm in V. 1 (Z. 8) mit einem erneuten Lobaufruf [ ]הודו ליהוהein. Anders als in Ps 104 (s.o.) ist es in Ps 105 nicht ein Selbstaufruf des Psalmisten, sondern ein Aufruf an eine Gruppe, die in V. 6 (Z. 12f.) als die Nachkommen Abrahams, die Söhne Jakobs, Jahwes Auserwählte identifiziert wird (s.u.). Auf diese Weise führt der Vers die Perspektive des Kollektivs aus Ps 147,1 ( – אלהינוFrag. E II,16), der in 11QPsa direkt vor Ps 105 steht, weiter. Mehrere Imperative fordern in Ps 105,1–5 (Frag. E III,8–12) zum Lob Gottes auf, sodass der Halleluja-Ruf, mit 156
GERSTENBERGER, ׇﬠנׇה, 269. Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 121. 158 Vgl. die jeweiligen Überschriften: הודו ליהוה Ps 105,1 הללויה הודו ליהוה כי טוב כי לעולם חסדוPs 106,1 הודו ליהוה כי טוב כי לעולם חסדו Ps 107,1. Vgl. auch WILSON, Editing, 195. 159 Ps 106 ist in Qumran nicht sicher nachweisbar; vgl. ULRICH, DJD 16, 63ff.; FLINT, Preliminary Edition. 160 Text aus Ps 107 ist nur in 4QPsf erhalten; vgl. ULRICH, DJD 16, 85ff. 161 Vgl. WILSON, Editing, 126. 157
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
dem die in 11QPsa vorhergehenden Ps 104 und 147162 enden, hierin Aufnahme und Fortsetzung findet.163 Auffällig ist zudem die Verbindung durch das Motiv der Völker (גוי, )עםin Ps 147,20 (Frag. E III,6f.) und Ps 105,1 (Frag. E III,9). In Ps 147,19f. (Frag. E III,5–7) ist Israel als einzigartig unter allen Nationen herausgestellt worden. Ausschließlich diesem Volk hat Jahwe seine Gesetze und Rechtsordnungen kundgetan. In Ps 105,1 (Z. 8f.) erwächst für Israel aus dieser Einzigartigkeit die Aufgabe, die Taten des Gottes zu verkündigen, der sich allein ihm offenbart hat. Wie in den beiden vorausgehenden Psalmen liegt auch in 11QPsa Ps 105 der Schwerpunkt auf dem Handeln Gottes. Ging es in Ps 104 und 147 vorwiegend um Jahwes Wirken als Schöpfer, Erhalter und Wohltäter, steht nun sein Geschichtswirken im Mittelpunkt. Nach der Aufforderung, Jahwe für seine Wundertaten (Part. Niph. )פלאund Zeichen (;מופת V. 5 – Frag. E III,11f.) zu loben, wird in V. 7 (Z. 13f.) zur Darstellung der (Heils-)Geschichte übergeleitet. Diese beginnt mit dem Bund Gottes mit Abraham (V. 8f. – Z. 14f.) und endet mit der Landgabe an Israel, dem Zielpunkt des Psalms.164 Jahwe schenkte seinem Volk Israel fremde Länder, damit es dort die Möglichkeit hatte, Gottes Bund und Gesetze einzuhalten (V. 44f. – Kol I,15f.). Die Pflichten, die Israel daher aus Jahwes Handeln erwachsen, sind das Lob Gottes und die Einhaltung seiner Gesetze.165
Frag. E III,12f. bietet im Vergleich zu V. 6PMT folgende Textvariante: זרע אברהם עבדו בני יעקב בחיריוPMT ]זרע אברהם[ עבדיו בני יעקוב בחירו11QPsa PMT: Ihr Nachkommen Abrahams, seines Knechtes, ihr Söhne Jakobs, seine Auserwählten. 11QPsa: Ihr Nachkommen Abrahams, seine Knechte, ihr Söhne Jakobs, seines Auserwählten. Diese Variante bezeichnet die Nachkommenschaft Abrahams, das ist Israel in seiner Ganzheit, als Jahwes Knechte (vgl. z.B. Ps 102,15.29; 135,14; Jes 66,14). Dadurch bringt sie einerseits den Aspekt der Gemeinschaft in den Psalm mit ein und eröffnet andererseits zugleich die armentheologische Perspektive.166 Durch die Stichworte עבדיוund בחירו, die sich beide auf das Kollektiv Israel beziehen, kommen sowohl eine Demutshaltung zum Ausdruck, da sich der Beter der Niedrigkeit Israels gegenüber Jahwe bewusst ist, als auch das Wissen um die eigene Erwählung. Beides sind Aspekte, die in der Armenfrömmigkeit der Qumrangemeinschaft eine wichtige Rolle spielen (s.o. Exkurs II). Die Perspektive der Armen wird an dieser Stelle durch die 162
S.o. Anm. 115. Vgl. BALLHORN, Telos, 127. 164 Vgl. SEYBOLD, Psalmen, 414; GERSTENBERGER, Psalms 2, 230f. 165 Vgl. BALLHORN, Telos, 129.207. 166 Darauf weist DAHMEN, Psalterrezeption, 123.288 hin. 163
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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folgenden Ausführungen zum Jahwe-Bund (V. 8ff. – Frag. E III,14ff.) verstärkt. Sie erscheinen nun wie eine Zusage an die Gemeinschaft, die sich im Verhältnis zu Gott und zu den Gegnern als arm, schwach und unterlegen betrachtet, sich aber ihrer eschatologischen Erlösung gewiss ist. Somit liegt hier eine Textstelle vor, die qumranspezifische Veränderungen aufweist.167 3.5 Ps 146 Der nächste Psalm dieser Gruppe ist Ps 146,9–X–10 (Kol II,1–5), „ein Hymnus auf die universale Königsherrschaft JHWHs“168. Im PMT steht nach der Einleitung durch den Halleluja-Ruf, der am Ende des Psalms wiederholt wird, die Selbstaufforderung des Psalmisten, Jahwe zu loben. Dieser Vers ist in 11QPsa nicht mehr erhalten, würde aber auf die gleiche Formulierung in 104,1.35 (Frag. E I,6f. u. Frag. E II,14) verweisen. Mit Ps 146 wird im PMT das sog. Schluss-Hallel/Kleine Hallel (Ps 146–150) eröffnet.169 Der ihm dort vorausgehende Ps 145 endet in V. 21 mit einer Aufforderung Davids an sich selbst und an „alles Fleisch“, Jahwes Lob zu verkünden. Daher kann Ps 146 sowie das gesamte Schluss-Hallel als Antwort Davids (vgl. Ps 146,2) und der Schöpfung auf diese Ermahnung gelesen werden.170 Während das SchlussHallel im PMT den Abschluss des Psalters bildet, werden in 11QPsa Ps 146 und 148 (beide in Kol II) verwendet, um die Halleluja-Gruppe abzurunden. Ps 146PMT lobt die gerechte Herrschaft Jahwes und warnt in V. 3f. davor, sich auf weltliche Fürsten ( )נדיביםzu verlassen. Von ihnen kann keine Hilfe erwartet werden, da sie selber vergänglich sind. Im Kontrast zur Machtlosigkeit weltlicher Herrscher steht die Macht Jahwes. Seiner Führung unterstehen Himmel und Erde (V. 5f.), und seine Herrschaft äußert sich darin, dass er sich der Armen, Unterdrückten und Rechtlosen annimmt, während er die Frevler in die Irre führt. Darum soll alle Hoffnung allein auf Gott gesetzt werden (V. 7– 9).171 Zunächst wird in Ps 146 eine Aussage über Jahwes Schöpferhandeln gemacht (V. 6), um anschließend zu erläutern, worin sich sein Handeln und Erhalten der Schöpfung erweist. Dies geschieht mit Hilfe verschiedener partizipialer Gottesprädikationen (V. 7–9), die Jahwe als Helfer der Armen und Unterdrückten kennzeichnen und dadurch auf die Königsaussage in V. 10 hindeuten. Den König als Helfer der Armen darzustellen ist eine altorientalische Königscharakterisierung, die insbesondere auch auf Gottheiten angewendet wird (vgl. Dtn 10,17f.).172 Ebenso dient sie in diesem Psalm, die gerechte Königsherrschaft Jahwes herauszustreichen.
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Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 123. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 812. 169 Vgl. z.B. MILLARD, Komposition des Psalters, 34f.; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101– 150, 807–810. 170 Vgl. WILSON, Editing, 194.226f. 171 Vgl. SEYBOLD, Psalmen, 536f. 172 Vgl. LOHFINK, Lobgesänge, 110; BALLHORN, Telos, 306f. 168
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Der von Ps 146 in 11QPsa erhaltene Textbestand (V. 9f.) weist zwischen den V. 9 und 10 (Kol II,2–4) folgende umfangreiche Textergänzung auf: /[ ] – מיהוה כול הארץ ממנZ. 2 /[ ] – בהודעו לכול מעשיו בראZ. 3 – גבורותיוZ. 4 Der vollständige Wortbestand der Texteinfügung kann aufgrund der Beschädigung nicht mehr mit Sicherheit rekonstruiert werden. Wahrscheinlich hat der Zusatz schon in Z. 1 begonnen, denn der Rest von Ps 146,9 ist zu kurz, um die erste Textzeile von Kol II zu füllen. J.A. Sanders vermutet für die Z. 1–2 die Einfügung von Ps 33,8 und für die Z. 3–4 eventuell eine Anspielung auf Ps 145,10–12 (vgl. כול מעשיו, )גבורותיו.173 Ps 33,8, dessen Rekonstruktion an dieser Stelle als gesichert gilt174, ruft die ganze Erde zur Gottesfurcht auf. Die Rekonstruktion der Z. 3–4 ist nicht eindeutig. Das Verb בראdeutet allerdings darauf hin, dass es sich um eine Schöpfungsaussage handelt.175 Folglich führen die eingeschobenen Textzeilen den für Ps 146 typischen Stil, mit auffällig vielen Anspielungen auf andere Bibelstellen zu verweisen, fort.176 Die in 11QPsa noch vorhandenen letzten Verse von Ps 146 enthalten eine Ermahnung zur Furcht (Z. 2) vor Jahwe, der gerecht handelt, indem er die Hilflosen schützt und die Frevler straft (Z. 1). Zugleich drückt V. 10 (Z. 4f.) die Gewissheit aus, dass Jahwe, der Gott, der sich an Israel/Zion gebunden hat, nicht nur die Macht hat, sondern seine Herrschaft, wie in V. 6–9PMT beschrieben, auch in Ewigkeit durchsetzen wird. Hierdurch erhält der Psalm eine eschatologische Ausrichtung.177 3.6 Ps 148 Die Halleluja-Gruppe in 11QPsa wird von Ps 148 (Kol II,6–17) abgerundet.178 Der Fokus dieses imperativischen Hymnus’179 liegt ganz auf dem Aufruf an die gesamte Schöpfung zum Gotteslob. Die Begründung für das Lob, nämlich Jahwes Handeln und Erhabenheit, wird lediglich angedeutet (V. 5b–6 – Z. 10f.).180 Die Imperative gliedern den Psalm in die beiden Hauptteile V. 1–6 (Z. 6–11) und V. 7–13 (Z. 11–17), die in V. 1a (Z. 6) und V. 7a (Z. 11) 173 Vgl. SANDERS, DJD 4, 23; vgl. auch SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 19; DAHMEN, Psalterrezeption, 127f.; LANGE, Endgestalt, 110. 174 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 127. 175 Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 127f. 176 Eine besonders starke Verbindung besteht zu den Ps 103–104 und zu Jesaja. Auch auf Ps 118 wird Bezug genommen (vgl. die Verbindungen zwischen Ps 146,3 und Ps 118,9.21). Für eine ausführliche Darstellung aller Textbezüge vgl. die Liste in HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 814f. 177 Vgl. dazu BALLHORN, Telos, 308. 178 Vgl. WILSON, Comparison, 458f.; LEUENBERGER, Pragmatik, 184. 179 Vgl. CRÜSEMANN, Formgeschichte, 31f. 180 Vgl. BALLHORN, Telos, 314.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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jeweils eine Einleitung erhalten181. Der erste Hauptteil fordert zum Gotteslob „vom Himmel her“ auf, der zweite ist ein Aufruf, ihn „von der Erde her“ zu loben. Diese beiden Bereiche, Himmel und Erde, umschließen die Gesamtheit alles Geschaffenen (vgl. Gen 1,1; Ps 146,6). Ebenso ergänzen sich beide Psalmteile und bilden eine Einheit, welche die gesamte Schöpfung umschließt. Himmel und Erde und alle ihnen zugeordneten Elemente und Geschöpfe sollen ausnahmslos in das Lob Gottes einstimmen.182 Die Lobaufforderung im ersten Teil ergeht zunächst an die Engel und Heerscharen in den Höhen. Dann werden die Gestirne (V. 3 – Z. 7f.), die Himmel der Himmel (V. 4a) und die Wasser über dem Himmel (V. 4b – Z. 8f.) aufgerufen. Sie alle sollen den Namen Jahwes loben, denn durch sein Wort ( – צוהanordnen, befehlen – Z. 10) sind sie erschaffen worden und nur durch ihn haben sie in ihrer Ordnung auf ewig Bestand (V. 5f. – Z. 9–11). Die Vorstellung von der ewigen Festigkeit und Beständigkeit stellt an dieser Stelle eine Verbindung zu Ps 104,5 (Frag. E I,11) her.
Auffällig ist, dass der Himmel untergliedert und wohl geordnet vorgestellt wird und dadurch eine Entsprechung zur Erde darstellt. Denn auch ihr liegt eine Ordnung zugrunde.183 Analog werden im zweiten Teil des Psalms (V. 7– 13 – Z. 11–17) die Erde und das auf ihr Geschaffene zum Gotteslob „von der Erde her“ aufgefordert. Zunächst sind die großen Fische ( )תניןund die Tiefen des Meeres ( )תהוםin Z. 11f., die eine Entsprechung zu den Wassern über dem Himmel in V. 4 – Z. 8f. bilden, angesprochen. Nachdem die Ermahnung zum Lob an die meteorologischen Phänomene (Feuer = Blitze, Hagel, Schnee, Nebel, Wind; vgl. die Verwendung von Wetterphänomenen in Ps 147,16f.*+18 = Frag. E III,5) ergangen ist, richtet sie sich an die Lebewesen der Erde. Dabei drücken Wortpaare die Gesamtheit der Angesprochenen aus.184 Berge und Hügel symbolisieren eine vielfältige Landschaft, Fruchtbäume und Zedern stehen für die kultivierte und die wilde Pflanzenwelt (V. 9 – Z. 13f.). Ebenso bilden sowohl Wild und Vieh als auch Kriechtiere und Vögel (V. 10 – Z. 14) komplementäre Gegensätze, die die gesamte Tierwelt umschließen. Dann wendet sich der Psalmist an die menschliche Welt und verwendet auch in diesem Abschnitt Wortpaare. Genannt werden Könige und Völker, Oberste und Richter (V. 11 – Z. 14f.), junge Männer und junge Frauen sowie Alte und Junge (V. 12 – Z. 15f.). Die ganze Erde soll den Namen Jahwes loben (V. 13 – Z. 16f., vgl. V. 5 – Z. 9), denn er herrscht in seiner Hoheit über Himmel und Erde. Mit seiner allumfassenden Perspektive ruft der Beter den gesamten Kosmos zum Lob Jahwes auf. 181 Im PMT sind diese beiden Versteile parallel gestaltet: הללו את־יהוה מן־. In 11QPsa fehlt dieser parallele Aufbau, da in Kol II,6 zum einen der Akk.-Part. אתfehlt und zum anderen eine Kontraktion des מןmit dem folgenden Substantiv השמיםerfolgt. Dies sind jedoch lediglich stilistische Varianten, die auf den Inhalt keinen Einfluss nehmen. Die Parallelität der beiden Versteile bleibt weiterhin erkennbar. Vgl. dazu auch DAHMEN, Psalterrezeption, 129f. 182 Vgl. WESTERMANN, Ausgewählte Psalmen, 181f. 183 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 848. 184 Vgl. dazu WESTERMANN, Ausgewählte Psalmen, 181ff.; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 849f.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
In V. 14* wird die Perspektive auf das Volk Israel, dem Jahwe ein Horn ()קרן erhöht hat, konzentriert. Das Horn ist ein Symbol sowohl für Kraft (vgl. z.B. 1. Kön 22,11; Micha 4,13) als auch für Schönheit (vgl. Dtn 33,17; Ps 92,11). Das AT drückt mit diesem Bild die Würde und Macht von Herrschern, Völkern oder Einzelnen aus. Zugleich steht ein abgeschlagenes Horn für Entmachtung (vgl. 1. Sam 2,1.10; Ps 75,5f.11; Ps 89,18; Ps 92,11; Ps 112,9; 2. Sam 22,3 = Ps 18,3; Ps 132,17; Thr 2,3.17).185 Daraus lässt sich für V. 14 ableiten, dass Jahwe seinem Volk Macht und Stärke erwiesen hat. Für „das Volk, das ihm nahe ist“, ist sein Schöpfungswirken und sein Heilshandeln der Anlass, Jahwe zu loben. Wie bereits in den vorhergehenden Psalmen (v.a. Ps 147,19f. – Frag. E III,5–7) ist die besondere Stellung des Volkes Israel zu Jahwe der Beweggrund für das Gotteslob, in das die gesamte Schöpfung einstimmen soll.186 Durch ein weiteres wichtiges Motiv ist Ps 148 in seinen neuen Kontext eingebunden. Der Aufruf an die Diener und Heerscharen Jahwes, ihn in der Höhe zu preisen, verbindet Ps 148,1f. (Z. 6f.) nicht nur mit Ps 103,19–21*, sondern auch mit Ps 104,1–4 (Frag. E I,6–10). Eine durchgestaltete Zahlensymbolik unterstreicht die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung in Ps 148.187 So wird etwa die Zahl 10, die als Symbol für Ganzheit und Vollkommenheit steht, mehrmals im Psalm kunstvoll eingesetzt. Lässt man die beiden rahmenden Halleluja-Rufe außer Acht, werden 10 Mal Formen des Verbes הללverwendet. Der 10-malige Einsatz der Angabe כל verstärkt die Aussage von der Ganzheitlichkeit der geschaffenen Welt. Und auch die Anzahl der zum Lob aufgeforderten Adressaten, nämlich insgesamt 30, lässt sich in 3 und 10 zerlegen, beides Zahlen, die Vollkommenheit ausdrücken. Dieser kunstvolle Aufbau ist keineswegs zufällig, sondern mit Bedacht gestaltet worden. Er unterstützt die Aussage des Psalms, dem Schöpfer dieser Ordnung durch die Gesamtheit des Kosmos Lob darzubringen.188 Dies dürfte ein Grund dafür gewesen sein, dass Ps 148 in der Rolle 11QPsa die Gruppe der Lobpreispsalmen abschließt. Der Psalm könnte als „thematische Fokussierung des Abschnitts sowie als sein doxologischer Abschluss interpretiert werden“189. Die Lobpreispsalmen haben den Lobaufruf auf vielfältige Art und Weise gestaltet und finden in Ps 148 ein wohldurchdachtes Finale, bevor sich mit der folgenden Komposition Ps 121–132.119 (Kol III–XIV) ein neuer Themenkreis auftut. 185
Vgl. KEDAR-KOPFSTEIN, !r,q,, bes. 186ff. BALLHORN interpretiert den Psalm eschatologisch, sodass die Erhöhung des Horns mit der endgültigen Konstitution Israels als Gottesgemeinschaft zusammenhängt, vgl. Telos, 320f. 187 Vgl. auch zum Folgenden RUPPERT, Aufforderung an die Schöpfung; dazu auch HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 841f. 188 Vgl. RUPPERT, Aufforderung an die Schöpfung, 280f. 189 JAIN, Psalmen oder Psalter, 268. 186
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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Zudem entspricht Ps 148 dem Schöpfungsglauben der Qumrangemeinschaft. Demzufolge hat der allmächtige Gott das Universum und die gesamte Schöpfung nach seinem Plan geschaffen, sodass ein geordneter Kosmos entstanden ist (vgl. v.a. 1QH I,7ff. u.ö.). Hierbei wird besonders die allem Geschaffenen zugrundeliegende Ordnung betont.190 Gerade diese Schöpfungsordnung wird auch in Ps 148 ausgedrückt, nicht zuletzt mittels der Zahlensymbolik. Zur spirituellen Frömmigkeit der Gemeinschaft gehörte in erster Linie das Lob Gottes als des weisen Schöpfers, der alles Geschaffene gnädig erhält. Ihren Ausdruck findet sie hauptsächlich in den Hodajot, dem Hauptzeugnis dieser Spiritualität191 (vgl. z.B. 1QH I,9f.; VI,10; X,9–12; XVI,8–10; XVIII,21). Dieser Frömmigkeit entsprechend ist auch die Psalmenrolle 11QPsa von Beginn an vom Lob Gottes bestimmt. Die Aufgabe von Ps 148, der eine einzige, nicht mehr zu steigernde Lobaufforderung darstellt, besteht darin, die neue Zusammenstellung ausgewählter Lobpsalmen formvollendet abzurunden. 3.7 Zusammenfassung Die Analyse der in der Psalmenrolle noch vorhandenen Verse von Ps 118, unter Absehung jeglicher diskutierter Rekonstruktionen seines Prä-Kontextes, ergab, dass dieser Psalm keineswegs isoliert in seinem neuen Kontext steht. Indem er die vorgegebene Davidisierung aus den Ps 101–103.109 durch die „davidisierte Bekenntnisformel“ ( )הודו ליהוה כי טוב כי לעולם חסדוaufnimmt,192 schlägt er vielmehr eine Brücke zur nachfolgenden Halleluja-Sammlung (vgl. לדוידin Ps 104; Ps 105). Diese setzt sich zusammen aus den beiden aus der PMT-Trias Ps 104–106193 entnommenen Psalmen 104 und 105 und aus Psalmen, die im PMT zum Schluss-Hallel gehören (Ps 146; 147; 148). Durch das Schluss-Hallel und weitere Halleluja-Rufe im 4. und 5. Psalmenbuch wurde der PMT-Psalter von dessen Schlussredaktion zum Lobpreispsalter gestaltet.194 Diese Psalmen sind in ihren ursprünglichen PMT-Zusammenhang stark eingebunden und erfüllen bestimmte Funktionen. Die Untersuchung ihres neuen Kontextes in 11QPsa hat gezeigt, dass sie durch verschiedene Stichworte und Motive auf vielfache Weise miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind. Trotz der neuen Zusammenstellung bilden sie eine Einheit und weisen eine inhaltliche Entwicklung auf. Die Halleluja-Gruppe, die durch לדוידin Ps 104,1 (Frag. E I,6) eine davidische Ausrichtung erhält, ist insbesondere schöpfungstheologisch bestimmt (Ps 104; 147; 146; 148). Daneben lassen sich auch heils- (Ps 147; 105) und 190
Vgl. MAIER, Lebensbild der Gemeinde, 55ff.; VANDERKAM, Qumranforschung, 132. Vgl. STEGEMANN, Essener, 152. 192 Vgl. dazu o. S. 27f. 193 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 65. 194 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 809. 191
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
armentheologische (Ps 147; 105; 146) Aspekte finden. Den Auftakt dieser Teilkomposition bildet Ps 104, der zum Gotteslob auf Jahwe, den Schöpfer und Erhalter der Welt, anhebt. Zugleich ist in diesem Psalm eine Loslösung vom Tempel als Ort der Gottespräsenz sichtbar. In Ps 147 wird die Schöpfungsthematik fortgesetzt, zudem kommt der armentheologische Aspekt hinzu. Des Weiteren weist die Jerusalemperspektive an dieser Stelle schon auf die in 11QPsa folgende Komposition Ps 121–132.119 (Kol III–XIV) voraus. Mit Ps 105, dem einzigen Geschichtspsalm der Gruppe, kommt zum Lob des Schöpfergottes die Beschreibung seines Wirkens in der Geschichte Israels hinzu. Zugleich wird in Ps 105,6 (Frag. E III,12f.) die armentheologische Perspektive, die bereits in Ps 147 eingeflossen ist, subtil mit hineingenommen (s.o. S. 36f.). Ziel des Psalms ist die Einhaltung des Gesetzes, die nach der Landgabe durch Jahwe möglich ist. Der anschließende Ps 146 stimmt erneut das Gotteslob an, das sich nun in erster Linie auf Jahwes Handeln an den Armen bezieht. Mit der in Ps 146,10 (Kol II,4f.) eingeführten Zionsthematik klingt auch an dieser Stelle die in Kol III–XIV folgende Komposition bereits an. Ps 148 und das Lob des ganzen Kosmos führen die Komposition der Halleluja-Gruppe zu Ende. Der nachfolgende Ps 121 bezeichnet einen thematischen Neueinsatz. Die bisher untersuchten Psalmen der Rolle 11QPsa erweisen sich als eine durch ein vielschichtiges Beziehungsgeflecht bewusst gestaltete Einheit, die zudem an einigen Stellen schon auf die anschließende Komposition hindeutet. 4. Ps 121–132.119 in Kol III–XIV Die auf die Halleluja-Gruppe folgende Teilkomposition besteht aus Ps 121– 132 (Kol III–VI). Im PMT erstreckt sich diese Abfolge über die Ps 120–134 und wird als sogenannter Wallfahrtspsalter195 bezeichnet. Durch eine andere Einordnung der Ps 133f. in 11QPsa (Ps 133 steht in Kol XXIII, Ps 134 in Kol XXVIII) ändert sich die inhaltliche Aussage dieser Komposition in der Psalmenrolle beträchtlich (s.u.). Unterstützt wird diese Änderung durch die vom PMT abweichende Psalmenreihenfolge Ps [120]–132.119. Der Eröffnungspsalm 120 ist in 11QPsa aufgrund der Zerstörung des unteren Rollenteils in
195 Unterschiedliche Interpretationen der Ps 120–134 führten zu divergierenden Bezeichnungen dieser Komposition, vgl. Anm. 198. Ich schließe mich der Deutung E. ZENGERS an, dass die Psalmen als Einzellieder über den Zion entstanden sein könnten und aufgrund ihrer Kürze von Pilgern während Jerusalemwallfahrten verwendet wurden. Schließlich wurden einige dieser Psalmen von einer Redaktion zum sog. Wallfahrtspsalter zusammengestellt; vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 400f. In der folgenden Analyse der Komposition wird daher die Bezeichnung „Wallfahrtspsalter“ beibehalten.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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Kol II nicht mehr erhalten, seine Rekonstruktion an dieser Stelle gilt allerdings als gesichert.196 4.1 Charakteristika und Inhalt des Wallfahrtspsalters Ps 120–134PMT Das verbindende Element der Ps 120–134 ist ihre gemeinsame Überschrift שׁיר המעלות, welche die 15 Gebete als zu derselben Gruppe zugehörig kennzeichnet.197 Diese Überschrift hat in der Forschung zu divergierenden Übersetzungen und damit einhergehend jeweils zu unterschiedlichen Interpretationen der Psalmengruppe geführt.198 Neben der Überschrift finden sich weitere sprachliche Gemeinsamkeiten, die einen inneren Zusammenhang dieser Psalmen markieren. An dieser Stelle sollen die wichtigsten erwähnt werden:199 a) Die Psalmen der Komposition sind verglichen mit den übrigen Texten des Psalters sehr kurz, einzige Ausnahme bildet Ps 132. b) Der sonst übliche Parallelismus membrorum wird überwiegend durch eine kunstvolle Wiederholungstechnik ersetzt, wodurch die Psalmen untereinander vielfältig verbunden sind. c) Hinzu kommt die Verwendung mehrerer formelhafter Formulierungen wie Segenssprüche, Bekenntnisse oder hymnische Sätze (z.B. „ עשׂה שׁמים וארץder Himmel und Erde gemacht hat“ in Ps 121,2; 124,8; 134,3; „ מעתה ועד עולםvon nun an bis in Ewigkeit“ in Ps 121,8; 125,2; 131,3; „ שׂלום על־ישׂראלFriede über Israel“ in Ps 125,5; 128,6). d) Schließlich steht neben der individuellen/familiären Perspektive ein starker Israel- und Zionbezug.200 196
Vgl. SANDERS, DJD 4, 23; FLINT, Dead Sea Psalms Scrolls, 40f.190f.; SKEHAN, Qumran, 169f.; DAHMEN, Psalterrezeption, 72.131. 197 Einige der Psalmen haben als Erweiterung dieser Überschrift das Element ( לדוידPs 122,1; 124,1; 131,1; 133,1) oder ( לשׁלמהPs 127,1). 198 Das Substantiv שׁירbedeutet „Lied, Gesang“, מעלה/ מעלותbedeutet „Stufe“ (die zur Davidstadt führenden Stufen: Neh 3,15; 12,37; Stufen eines Thrones: 1. Kön 10,19f.; eines Tores: Ez 40,6.22; der Vorhalle: Ez 40,49; eines Altars: Ex 20,26). Daher kann die Psalmenkomposition als „Stufenlied/Stufengesang“ gedeutet werden, das entweder auf den Stufen zum Tempelgebäude, zum Tempelareal oder auf den Stufen zwischen dem Hof der Frauen und dem Hof der Männer gesungen werden konnte (so z.B. HIRSCH, Psalmen, 654f.; LIEBREICH, Songs of ascents). Des Weiteren konnte die Überschrift auch als „Hinaufzug“ übersetzt und damit entweder auf die Rückkehr aus dem Exil (so z.B. PREß, Der zeitgeschichtliche Hintergrund; GOULDER, Songs of ascents) oder auf die Wallfahrt zum Zion (so z.B. SEYBOLD, Wallfahrtspsalmen; CROW, Songs of ascents) bezogen werden. Wieder andere Interpretationen deuten die Überschrift aufgrund der poetischen Technik der Stufenform metaphorisch als „Stufenlied“ (so z.B. DELITZSCH, Psalmen). Für weitere Literatur vgl. ZENGER, Wallfahrtspsalmen, 174 Anm. 3; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 391f.; oder auch den Forschungsüberblick bei SEYBOLD, Wallfahrtspsalmen, 13ff. 199 Für eine ausführliche Beschreibung der Besonderheiten vgl. BEAUCAMP, L’unité; CROW, Songs of ascents, 129ff.; SATTERTHWAITE, Zion, 105ff. 200 Vgl. SEYBOLD, Wallfahrtspsalmen, 20–22; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 401ff.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Die Besonderheiten der Ps 120–134 lassen darauf schließen, dass ihre Komposition auf denselben Verfasserkreis bzw. dieselbe Redaktion zurückgeht.201 Inhaltlich thematisieren diese primär israelzentrierten Psalmen die von Jahwe gewährte Rettung und Bewahrung vor unterschiedlichen Bedrohungen (vgl. Ps 120f.; 123–126; 129f.). Die göttliche Hilfe wird als Segen Jahwes erlebt, und zwar sehr konkret im Alltag Israels, so etwa in den einzelnen Familien (z.B. Ps 127,3ff.; 128), im brüderlichen Zusammensein (Ps 133) oder in der Sündenerlösung (Ps 130,4.7f.).202 Die Erfahrung des schutzgewährenden Schöpfergottes (Ps 121,2; 124,8; 134,3), der sich Zion als Wohnsitz erwählt hat (Ps 132,13ff.), ist der Hintergrund für die Zion-Segen-Theologie dieser Komposition. Hinzukommt ein großer Einfluss der Theologie des aaronitischen Segens.203 Bezüglich des kompositionellen Aufbaus der Psalmengruppe Ps 120–134 gibt es in der Forschung ebenfalls sehr unterschiedliche Gliederungsmodelle. Wer von einem Wallfahrtspsalter ausgeht, gliedert etwa in Ps 120–122.123– 132.133f.204, in Ps 120–122.123–128.129–134205 oder in Ps 120–124.125– 129.130–134206. Eine triadische Aufteilung in Ps 120–122.123–125.126– 128.129–131.132–134 ist dagegen thematisch an den einzelnen Psalmen orientiert207. Der erste Psalm des Wallfahrtspsalters ist Ps 120, „das persönliche Zeugnis einer Gebetserhörung“208. Der Beter, der in der Fremde wohnt (V. 5f.), klagt Jahwe seine Not in der Gewissheit, erhört zu werden (V. 1).
Auch in Ps 121,1 erbittet der Beter in seiner Bedrängnis die Hilfe des Schöpfers. Worin die Rettung besteht, wird durch die sechsmalige Verwendung der Wurzel „ שׁמרhüten, bewahren“ in V. 3–8 ausgedrückt. Mit der Bezeichnung „ שׁומר ישׂראלHüter Israels“ (V. 4) wird zugleich eine geschichtliche Dimension in den Psalm eingetragen, da die Überlieferungen von der Bewahrung Israels durch Jahwe im Verb שׁמרunweigerlich mitschwingen
201
Vgl. SEYBOLD, Wallfahrtspsalmen, 67; ZENGER, Wallfahrtspsalmen, 179. Vgl. BALLHORN, Telos, 229. 203 Vgl. SEYBOLD, Wallfahrtspsalmen, 67; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 401.404ff.; LEUENBERGER, Konzeptionen, 306f. 204 Vgl. SEYBOLD, Redaktion der Wallfahrtspsalmen, 266f.; SEYBOLD, Wallfahrtspsalmen, 69ff. Die Gliederung ist dabei an der „Großperspektive der Heimkehr Israels aus dem Exil“ orientiert (S. 72). 205 Vgl. BEAUCAMP, Ps 73–150, 252ff. 206 Vgl. ZENGER, Wallfahrtspsalmen, 179ff. 207 Vgl. SATTERTHWAITE, Zion, 117ff. Für weitere Gliederungsmöglichkeiten vgl. die Zusammenfassung in LEUENBERGER, Konzeptionen, 307f. 208 SEYBOLD, Psalmen, 476. 202
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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(etwa die Bewahrung während des Exodus, z.B. Jos 24,17). Des Weiteren erhält der Psalm durch שׁמרdie Segensperspektive des aaronitischen Segens (vgl. Num 6,24).209
Ps 122 beginnt ebenfalls als Gebet eines Einzelnen, jedoch steht hinter dem Individuum eine Gruppe, in die es eingebunden ist (vgl. V. 2 )רגלינו. Diese doppelte Perspektivität ist charakteristisch für den Wallfahrtspsalter. Der Einzelne ist integriert in ein soziales Netzwerk und zugleich in das Volk Israel als Gesamtheit, das in diesem Psalm als „ שׁבטי־יהdie Stämme Jahs“ bezeichnet wird.210 In diesen Zusammenhängen ist Jahwes Segen erfahrbar und mit Bildern der alltäglichen und häuslichen Lebenswelt versucht der Beter das zu beschreiben. Thematisch kreist Ps 122, der einzige Psalm dieser Sammlung, der inhaltlich auf eine Wallfahrt eingeht, um die Stadt Jerusalem, die in V. 2f. (vgl. auch V. 6–9) direkt angesprochen wird.211 Durch ihre feste und stabile Bauweise ist sie ein Ort, der Schutz und Frieden und die Möglichkeit zur Zusammenkunft bietet (V. 3f.). Der Psalm schließt mit Wünschen für die Stadt und der Aufforderung, für Jerusalem zu bitten.
Ps 123 beinhaltet sowohl individuelle als auch kollektive Klage. Die Beter heben ihre Augen auf zu dem im Himmel thronenden Gott. In V. 2 wird das Augenmotiv weitergeführt und in einen Vergleich eingebunden. Wie die Augen der Knechte und der Magd zu ihrem Herrn und zu ihrer Herrin aufschauen, im Vertrauen darauf, dass sie von ihnen das Notwendige erhalten, so suchen die Beter Gott. Da die Bittenden nur Verachtung und Spott durch die Hochmütigen erfahren, rufen sie Jahwe um seine Gnade an (V. 3f.).212
Ps 124 ist ein als Rückblick gestaltetes Danklied. Es schildert die Not und das hilflose Ausgeliefertsein der Beter und preist Jahwe für die gewährte Rettung. Die erfahrene Bedrängnis und Errettung werden mit Hilfe von Bilder aus der alltäglichen Erfahrungswelt der Beter beschrieben (V. 4f.6f.). Diese Vorgehensweise prägt viele der Wallfahrtspsalmen und gehört zu den Charakteristika der Komposition.
Im folgenden Ps 125, einem Vertrauenspsalm, ist wieder von Zion bzw. Jerusalem die Rede. Die auf Jahwe Vertrauenden werden mit dem Berg Zion verglichen, mit seiner Standhaftigkeit und Beständigkeit (V. 1). Ebenso ergeht an das Volk Israel die Zusage, dass Jahwe es umgeben wird, so wie Jerusalem umgeben ist von Bergen (V. 2). Die Zusicherung dieses göttlichen Schutzes erscheint insofern von Bedeutung, als V. 3 eine Unrechtssituation ausdrückt, unter der das Volk leidet.213 Am Ende des Psalms wird die weisheitliche 209
Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 438; ferner KRAUS, Psalmen 60–150,
1015. 210 211 212 213
Vgl. auch BALLHORN, Telos, 227. Vgl. SEYBOLD, Wallfahrtspsalmen, 23. Vgl. BALLHORN, Telos, 229. Vgl. BALLHORN, Telos, 231.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Perspektive des Tun-Ergehens-Zusammenhangs eingetragen. Die Beter appellieren an Jahwes Gerechtigkeit, dass er den Guten Gutes tue (V. 4) und die Bösen auf ihren krummen Wegen ins Verderben gehen lasse (V. 5).
Ps 126 ist in seinem Aufbau zweigeteilt214: Der erste Teil (V. 1–3) enthält eine Erinnerung des Sprecherkollektivs („wir“) an Jahwes Machterweis in der Restitution Zions. Die Rückführung der Gefangenen zum Zion und die damit verbundene erneute Zuwendung Jahwes zu seinem Volk führten zugleich zu der Erkenntnis Jahwes durch die Völker. Diese drückt V. 2 im Ausruf der Völker – „Jahwe hat Großes an ihnen getan“ – aus.215 Der zweite Psalmteil (V. 4–6) greift in V. 4 zunächst V. 1 auf, macht daraus nun aber die Bitte, Gott möge die Gefangenen wieder zurückbringen. In V. 5f. wird durch das Bild von Aussaat und Ernte die Spannung zwischen Unsicherheit und Entbehrung einerseits und Sicherheit und reicher Ernte andererseits ausgedrückt.216
Während die vorhergehenden Ps 125–126 einen expliziten Zionsbezug aufweisen, fehlt dieser im anschließenden Ps 127. Das Thema dieses Psalms ist das gelingende und erfüllte Leben als eine Gabe Gottes.217 Zur Veranschaulichung werden hier ebenfalls Beispiele aus dem Alltag gewählt: Ein Haus bauen und eine Stadt bewachen (V. 1), aufstehen, schlafen und das tägliche Brot essen (V. 2). Diese Dinge sind vergebens, wenn sie nicht in Gottes Begleitung geschehen. Gesegnetes Leben zeigt sich nach V. 3ff. in Kinderreichtum.
Das Thema eines glücklichen, gesegneten Lebens findet gleichermaßen Aufnahme in Ps 128. Anders als in Ps 127, der solch ein Leben als Gabe Gottes darstellt, ist es hier das Ergebnis eines gottesfürchtigen Wandels (V. 1.4). In V. 2–4 wird anhand der Präsentation einer kleinbäuerlichen Familie aufgezeigt, worin sich der Segen Gottes bei gottesfürchtigem Lebenswandel äußert. Glück besteht demnach darin, vom eigenen Arbeitsertrag leben zu können (V. 2) und viele Nachkommen zu haben (V. 3). Dadurch, dass hier nicht eine königliche Familie als Beispiel angeführt wird, sondern eine „Durchschnittsfamilie“, erhält die „Alltagsrealität der kleinen Leute […] eine hohe Würde“218. Dies ist ebenfalls ein Merkmal des Wallfahrtspsalters: Es sind nicht herausragende Menschen, sondern die „kleinen Leute“, die im Fokus dieser Psalmen stehen. Ps 128 endet in den V. 5f. mit einem Segenswunsch, der in diesen Psalm die Zionsperspektive einträgt.
Die Erzählperspektive des anschließenden Ps 129 ist die eines Individuums.
214
Neben der Zweiteilung des Psalms in V. 1–3.4–6 (vgl. z.B. GERSTENBERGER, Psalms 2, 339f.; PRINSLOO, Analysing, 235f.; SEYBOLD, Psalmen, 486) wird in der Forschung auch eine Dreiteilung in V. 1–3.4.5–6 durchgeführt (vgl. z.B. KRAUS, Psalmen 60–150, 1031– 1035; WESTERMANN, Ausgewählte Psalmen, 41–43). 215 Vgl. auch HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 508. 216 Vgl. dazu SEYBOLD, Psalmen, 486f. 217 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 515. 218 HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 540.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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Die Formulierung „ – יאמר־נא ישׂראלso soll Israel sagen“ – in V. 1 wandelt jedoch die Aussagen des Psalms in Aussagen Israels. Unter Verwendung von vertrauten Vorgängen aus der landwirtschaftlichen Arbeit (pflügen, Furchen ziehen) wird von jahrelanger Unterdrückung berichtet, aus der Jahwe das Volk Israel schließlich rettete (V. 1–4). Im zweiten Teil des Psalms geht es nicht mehr um Israels Bedrängnis, sondern um dessen Wünsche gegen die Feinde Zions. Diese werden verglichen mit dem Gras auf den flachen Dächern, das sofort vertrocknet, da es keine tiefen Wurzeln entwickeln kann (V. 7). Ihnen soll der Segen Jahwes versagt bleiben (V. 8).219
Ps 130 ist das Gebet eines Einzelnen, der um Vergebung bittet (V. 1–4) und auf ihre Gewährung hofft (V. 5–7f.).220 Der Beter schreit und fleht aus den Tiefen zu Jahwe und bittet um Gehör. Diese Tiefen, in denen sich der Psalmist befindet, können sowohl Todesangst als auch eine große räumliche Distanz zwischen ihm und dem im Himmel thronenden Gott bezeichnen.221 Auf diese Bitte folgt in V. 3 ein Sündenbekenntnis, mit dem der Beter zugleich feststellt, dass jeder Mensch vor Jahwe schuldbeladen ist und niemand vor ihm bestehen kann. Der Beter weiß, dass solche Sündhaftigkeit von Jahwe als dem gerechten Richter mit dem Tod bestraft werden müsste. Daher richtet er eine Gnadenbitte in Form eines Bekenntnisses an Gott (V. 4). Die V. 5f. drücken die hoffnungsvolle Erwartung des Psalmisten aus, die in V. 7f. auf ganz Israel ausgeweitet wird.
Der folgende Ps 131 weist eine inhaltliche Nähe zu seinem Vorgängerpsalm 130 auf. Beide beginnen mit der Erfahrung eines Individuums und enden mit einer Aufforderung an Gesamtisrael. Dabei verwenden sie die identische Formel „ יחל ישׂראל אל־יהוהHarre Israel auf Jahwe“.222 V. 1–2 enthalten die weisheitliche Anschauung, dass Hochmut und Stolz nicht einem gottgefälligen Wandel entsprechen und eine solche Lebensweise letztlich als verwirktes Leben anzusehen ist (vgl. v.a. Prov 6,16ff.; 16,18; 18,12; 21,4). Die Begriffe Herz, Augen und Seele bezeichnen dabei die Ganzheit des Menschen.223 Das in V. 2 verwendete Bild der Mutter-Kind-Beziehung symbolisiert die Ruhe und Geborgenheit, die das betende Ich in Jahwe gefunden hat. Diese Erfahrung veranlasst zur Aufforderung an Israel, auf Jahwe zu vertrauen (V. 3).
Ps 132, der in 11QPsa der letzte Psalm des Wallfahrtspsalters ist, handelt von der Erwählung Davids und des Zions durch Jahwe. Der längste Psalm dieser Komposition entwirft eine Zionstheologie, bei deren Entfaltung er auf mehrere Lade- und Tempelbauerzählungen (z.B. 2. Sam 6,1–19; 1. Chr 22,1–19; 2. Chr 6,41f.) sowie auf die Nathan-Verheißung (2. Sam 7,1–17) rekurriert.224
219
Vgl. dazu auch BALLHORN, Telos, 235ff. Vgl. WESTERMANN, Ausgewählte Psalmen, 89. Für weitere Gliederungsmöglichkeiten vgl. den kurzen Überblick bei HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 573. 221 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 575. 222 Vgl. BALLHORN, Telos, 238. 223 Vgl. BALLHORN, Telos, 238. 224 Vgl. BALLHORN, Telos, 239–243. 220
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Eingeleitet wird der erste Teil des Psalms (V. 1–10) durch eine Rede über David (V. 1f.), die zugleich den Davidschwur bzw. das Gelübde in V. 3–5 einführt. In diesem Schwur gelobt David auf jede Art von Prunk oder Annehmlichkeiten zu verzichten, bis er eine Wohnstätte für Jahwe gefunden hat. Daran anschließend gibt es einen Sprecherwechsel zu einem pluralischen „Wir“ (V. 6–10). Eine Gruppe äußert ihren Entschluss, hinaufzuziehen zur Wohnstätte Jahwes und sich huldigend vor ihm niederzuwerfen. Die V. 8–10 enthalten eine dreifache Bitte: Zunächst ergeht an Gott die Aufforderung, zusammen mit seiner Lade auf dem Zion als dem Ort der Ruhe (vgl. Ps 95,11) einzukehren (V. 8). Die zweite Bitte bezieht sich auf Jahwes Priester und Fromme, deren Dienst sich in Gerechtigkeit und Lobpreis äußert (V. 9). Das letzte Anliegen in V. 10 wird in eine Formulierung gekleidet, die der königlichen Hofzeremonie entstammt (vgl. 1. Kön 2,16f.). Vor Jahwe gebracht, kann sie als Bitte verstanden werden, er möge das – im Rahmen einer bereits gewährten Audienz – vorgebrachte Anliegen nicht abweisen.225 V. 11 leitet die direkte Gottesrede ein (V. 11–18). Diese Rede, die sich als Antwort auf die in V. 8–10 vorgetragenen Bitten darstellt, enthält zunächst die Dynastieverheißung an David. Diese allerdings ist gebunden an das Halten von Jahwes Bund und Geboten. Sodann wird die Erwählung Zions durch Jahwe thematisiert, die aus Liebe geschehen ist (vgl. die Femininsuffixe in V. 13–16; „ אוהbegehren“).226 Die Zionsverheißung in V. 14–18 ist, anders als die Dynastieverheißung an David, nicht an eine Bedingung geknüpft. Für immer wird Zion Ort der Gottespräsenz und des Segens sein. Von hier aus wird Jahwe Segen und Nahrung für die Armen spenden, Zions Priester mit Heil bekleiden, den Frommen Anlass zum Jubeln geben und die Verheißung gegenüber David verwirklichen. Aufgrund dieser Erwählung durch Jahwe wird Zion zum Ausgangspunkt von Heil und Segen für Israel. Zion ist in Ps 132 „nicht primär als Ort des Tempels bestimmt, sondern als Ruhestätte JHWHs“227. Nicht der Kult spielt in diesem Psalm die hervorragende Rolle, sondern die Präsenz Jahwes auf dem Zion und das von dort ausgehende Heil für das Gottesvolk.
Mit den Ps 133f., die in 11QPsa in Kol XXIII bzw. XXVIII stehen, wird der PMT-Wallfahrtspsalter abgeschlossen. Ps 133 thematisiert das einträchtige Zusammenleben in der Gemeinschaft, das nur durch Jahwes Segen, den er von Zion aus spendet, stattfinden kann (V. 1.3b). Zwei Vergleiche sollen diese Eintracht veranschaulichen (V. 2.3a): Das Salböl, das von Aarons Haupt herabfließt auf seinen Bart und seine Gewänder, und der Tau des Hermon, der auf die Berge des Zion strömt. Aufgrund der vielschichtigen Bildwelt von Ps 133 bestehen in der Forschung Kontroversen bezüglich seiner Interpretation. Insbesondere das Bild vom „Bart Aarons“ (V. 2)228 und die Bedeutung des Eröffnungssatzes V. 1b haben zu divergierenden Auslegungen geführt.229
225
Vgl. HARTENSTEIN, Angesicht JHWHs, 78. Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 626. 227 BALLHORN, Telos, 243. 228 So beurteilen z.B. DUHM, Psalmen erklärt, 448, und SCHMIDT, Psalmen, 236, dieses Bild als Glosse, da es dem ansonsten profanen Psalm eine klerikale Note verleiht. O. KEEL hingegen interpretiert den Psalm nicht profan, sondern geistlich und empfindet daher auch das Bild nicht als störend, vgl. KEEL, Kultische Brüderlichkeit, 68–80. H.-J. KRAUS bewertet das Bild von Aarons Bart als Glosse, da es den parallelen Aufbau der beiden bildlichen Vergleiche in V. 2f. durch eine zusätzliche Erklärung unterbricht, vgl. KRAUS, Psalmen 60–150, 226
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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Der Interpretation E. Zengers zufolge230, der ich mich anschließe, ist Ps 133 als Zionslied gestaltet und thematisiert die auf dem Zion und besonders in der Zionsliturgie erlebbare brüderliche Gemeinschaft. Durch die beiden Bilder „Öl“ und „Tau“ soll der Segen, der aus solcher Gemeinschaft für Israel erwächst, verdeutlicht werden. Zugleich erhält der Psalm durch das Motiv vom „Bart Aarons“ und der dadurch erzielten Anspielung auf die Salbung Aarons bzw. des Hohepriesters (vgl. z.B. Ex 29,7; 30,30–32) seinen kultischen Akzent. V. 3cd enthält schließlich die Erklärung für diese segensreiche Gemeinschaft auf dem Zion: Dorthin hat Jahwe den Segen befohlen, sodass Leben bis in Ewigkeit ermöglicht wird.231 Die kulttheologische Ausrichtung von Ps 133 ergibt sich demnach aus der mit der Nennung Aarons verbundenen Salbung des Hohepriesters sowie aus dem Zionsegen (V. 3) als dem „kultisch institutionellen Hintergrund“ des Psalms.232 Ps 134 stellt die Szene der „liturgischen Verabschiedung durch die segnenden Priester“233 dar. In V. 1f. werden „die Knechte“ Jahwes aufgefordert, den auf dem Zion gegenwärtigen Gott im Tempel zu preisen, bevor der Psalm und damit der gesamte Wallfahrtspsalter in V. 3 mit einem Segenswunsch enden.
4.2 Theologie der Ps 120–134 Der sog. Wallfahrtspsalter weist eine spezifische Theologie auf. Es zeigt sich, dass die einzelnen Psalmen immer wieder thematisch um den Zion und den von dort her erfahrenen Segen kreisen. Dabei kann der Begriff Zion einerseits die von Jahwe erwählte Wohnstätte und andererseits das Volk Israel selbst als Zionsgemeinschaft bezeichnen (vgl. z.B. Ps 126,1). Diese Fokussierung auf den Zion nehmen einige Forscher zum Anlass, nicht mehr vom Wallfahrtspsalter zu sprechen, denn – so das Argument – die Psalmen bezeichneten keine Wallfahrt. Sie bevorzugen die Bezeichnung Zion-Psalter.234 Die Zionstheologie, die in diesen Psalmen entfaltet wird, hat zahlreiche Gemeinsamkeiten mit der Theologie der klassischen Zionspsalmen wie z.B. Ps 46–48.235 Als eine Gemeinsamkeit wäre etwa der Gedanke der Gottespräsenz an diesem Ort zu nennen. Von hier aus ergeht Schutz vor den zahlreichen Bedrohungen, von denen Israel betroffen ist. Allerdings bestehen zwischen den beiden Konzeptionen auch große Differenzen, die das Konzept der 1067. Anders argumentiert H. GUNKEL, da er von ursprünglich drei Bildvergleichen ausgeht, die durch einen Fehler zu zwei Bildern verschmolzen seien, vgl. GUNKEL, Psalmen, 569–572. 229 An das Zusammenwohnen leiblicher Brüder denken z.B. GUNKEL, Psalmen, 570, und SEYBOLD, Psalmen, 500. Als gesellige Gemeinschaft bei Familien- oder Wallfahrtsfesten interpretieren DUHM, Psalmen erklärt, 447f., und KEEL, Kultische Brüderlichkeit, 77f., den ersten Vers. Eine weitere Auslegungsvariante findet man bei BERLIN, Ps 133, 141–148, die die Formulierung in V. 1 als Metapher für die politische bzw. nationale Einheit interpretiert. 230 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 640ff. 231 Zu den Varianten der Textform von Ps 133,3 s.u. S. 70f. 232 Vgl. SEYBOLD, Wallfahrtspsalmen, 25–27; Zitat auf S. 27. 233 HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 652. 234 So z.B. BALLHORN, Telos, 246–252; VIVIERS, Coherence. 235 Vgl. zum Folgenden HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 403–405.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Ps 120–134 als „eine Neuinterpretation der vorexilischen Zionstheologie“236 erweisen. Der bedeutendste Unterschied liegt in der Gottesvorstellung der jeweiligen Sammlung. Die Beter in Ps 46–48 beten zu Jahwe als dem Gottkönig, der auf dem Götterberg thront und durch kriegerisches Eingreifen die Feinde Israels niederwirft (z.B. Ps 46,7–12; 47,3f.8–10; 48,2f.). Hingegen wird Jahwe in Ps 120–134 als Schöpfergott angerufen, der im Himmel thront und sich den Zion als Wohnstätte erwählt hat. Von hier aus segnet er sein Volk. Seine Zuwendung und damit seine Gegenwart sind vor allem im Alltag und in den Familien erfahrbar.237 In Ps 132–134 wird schließlich auch der Tempel als Ort der Präsenz und Erfahrbarkeit des segnenden Schöpfergottes thematisiert. Sie sind Abschluss und Verstärkung der vorangegangenen Psalmen und der darin entfalteten „Zion-Segen-Theologie“238. 4.3 Einbettung der Ps [120]–132 in 11QPsa Vergleicht man die Psalmenfolge in Kol III–XIV (Ps 121–132.119) mit dem PMT fallen einige Unterschiede auf. So endet der Wallfahrtspsalter in 11QPsa nicht mit den Ps 133f., sondern mit Ps 132, der den Höhepunkt der Komposition bildet. Daran schließt der in der Psalmenrolle knapp acht Kolumnen füllende Ps 119 an. Das Entfallen von Ps 133f. an dieser Stelle in 11QPsa ist ein Charakteristikum für die Psalmenrolle. Denn dadurch fehlen gerade die beiden Wallfahrtspsalmen, die kulttheologisch ausgerichtet sind.239 Das Ziel der in Ps 122,1 angekündigten Wallfahrt, nämlich die Kultgemeinschaft auf dem Zion, wird damit nicht erreicht.240 Vielmehr endet die Komposition vorerst mit Ps 132, der die Erwählung Zions durch Jahwe als dessen Wohnstätte feiert. In diesem Psalm macht Gott David eine Verheißung und weitet sie schließlich auf das ganze Volk Israel aus. Für das Gottesvolk soll der Zion zum Ort des Heils und der Fürsorge werden, zum Ort, an dem die Präsenz Jahwes inmitten seiner Erwählten spürbar ist. Auf Ps 132 folgt in 11QPsa der Torapsalm 119, wodurch „der Wallfahrtspsalter als Dokument der ,neuenʻ Identität der Qumrangemeinde gegenüber MT pointiert umstrukturiert“241 wird. Statt des Tempels ist nun in Ps 119 die Tora der Zielpunkt des Wallfahrtspsalters.242 In 22 Strophen von je acht Parallelismen reflektiert der akrostichische Ps 119 entlang des hebräischen 236
HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 403. Für weitere Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 403ff. 238 SEYBOLD, Wallfahrtspsalmen, 67. 239 Vgl. dazu o. S. 48f. 240 Vgl. auch MILLARD, Komposition des Psalters, 220. 241 ZENGER, Wallfahrtspsalmen, 189. 242 Vgl. auch WILSON, Comparison, 460. 237
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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Alphabets über die von Jahwe geoffenbarte Tora. Es ist nicht Anliegen des Psalms, die einzelnen Gebote der Tora auszulegen. Vielmehr ist er als Gebet gestaltet, in dem ein Individuum in Anrede an Jahwe über seine Beziehung zur Tora nachdenkt.243 Der in einer durch vielfache Bedrohungen gefährdeten Welt lebende Beter sucht Rettung und Halt in Jahwes Gesetzen. Dabei wird der Psalmist von der Vorstellung gelingenden Lebens geleitet. Bereits in den ersten Versen des Psalms kommt er zu der Erkenntnis, dass Leben einzig durch untadeligen Wandel und Ausrichtung an den Gesetzen Jahwes gelingen kann (V. 1ff.).244 Es ist anzunehmen, dass die neue Positionierung von Ps 119 von der Qumrangemeinschaft bewusst intendiert worden ist, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen besteht durch „ עדתZeugnisse“ eine bedeutungsvolle Stichwortverbindung zwischen Ps 132,12 (Kol VI,4) und Ps 119,22 (Kol VII,8). Die Dynastieverheißung an David wird in Ps 132 an das Halten des Jahwebundes und der Gebote gebunden. Der daran anschließende Ps 119 klingt daraufhin wie ein Hymnus auf Jahwes Tora, wobei das betende Ich als David interpretiert werden kann.245 Zum anderen richtet man sich „nach Jerusalem, zum Zion, zum Tempel aus, nicht um kultischer Aktivität willen, sondern um dort die Tora in Empfang zu nehmen.“246 Hierdurch spiegelt diese Komposition auf bezeichnende Art und Weise das Selbstverständnis der Gemeinschaft der Qumranfrommen wider. Dieses Selbstverständnis der Qumrangemeinschaft sowie ihr daraus resultierendes Verhältnis zum Jerusalemer Tempel wird im folgenden Exkurs dargestellt. Exkurs III: Die Gemeinschaft der Qumranfrommen und der Jerusalemer Tempel Der Hohepriester war Vorsteher und Oberhaupt der Jerusalemer Priesterschaft und des Tempelbetriebs. Das Geschlecht der Zaddokiden stellte, seitdem König David nach der Eroberung Jerusalems Zaddok mit den priesterlichen Aufgaben betraut hatte (vgl. 2. Sam 8,17; 20,25 u.ö.), den obersten Priester in Jerusalem. Diese zaddokidische Erbfolge brach jedoch in seleukidischer Zeit ab, als die Seleukidenkönige, vermutlich aus politischen Grün243
Vgl. SEYBOLD, Psalmen, 471f. Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 349. 245 So z.B. KLEER, Sänger, 312; ähnlich auch LEUENBERGER, Pragmatik, 185 Anm. 91. WACHOLDER, David’s Eschatological Psalter, 47 bringt noch einen weiteren Gesichtspunkt in die Diskussion. Er interpretiert den Wallfahrtspsalter als Lied des stufenweisen Aufstiegs zum Zion, an dessen Ende die in Ps 119 dargestellte Vollkommenheit stehe. Dabei helfe die 1. Pers. Sg. in Ps 119 dem Leser des Psalms, sich mit dem idealen Psalmisten zu identifizieren und somit selbst diesen Aufstieg zu vollziehen. 246 DAHMEN, Psalterrezeption, 292. 244
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
den, die Hohepriester ernannten. Hinzu kamen Intrigen und Rivalitäten um die Erlangung des Amtes. Nach der Einsetzung des Menelaos als Hohepriester (172 v.Chr.) kam es zu einer verstärkten Hellenisierung Jerusalems, in deren Verlauf u.a. die Befolgung der Tora verboten, im Tempel eine ZeusStatue auf dem Brandopferaltar errichtet und der Jahwe-Tempel dadurch dem Zeus geweiht wurde (vgl. z.B. 1. Makk 1,41ff.; 2. Makk 6; Dan 9,27; 11,31; Flav.Jos., Ant. XII, 262f.). Diese Ereignisse führten zum erfolgreichen Aufstand der Makkabäer, sodass in Folge der Tempel wieder eingeweiht und die jüdische Religionsausübung wieder erlaubt wurde. Im Zuge dieser Geschehnisse kam es jedoch auch im Jahr 152 v.Chr. zur gewaltsamen Aneignung des Hohepriesteramtes durch den Makkabäer Jonathan.247 In der Forschung besteht kein Konsens über die geschichtliche Entstehung der Gemeinschaft der Qumranfrommen. Aus der Vielzahl der bestehenden Hypothesen werden im Folgenden fünf vorgestellt.248 1.) Nach J. Murphy-O’Connor ist die Qumrangemeinschaft eine späte Rückkehrergruppe aus dem babylonischen Exil. Diese Hypothese stützt er auf seine Untersuchung der ältesten Schichten der Damaskusschrift und interpretiert das „Lande von Damaskus“ als symbolischen Namen für Babylon.249 Wann und aus welchem Grund die Mitglieder der späteren Gemeinschaft der Qumranfrommen nach Palästina zurückkehrten, lasse sich nicht eindeutig bestimmen. Mögliche Ursache könnte der erfolgreiche Aufstand des Judas Makkabäus 165 v.Chr. gewesen sein. Dieser makkabäische Erfolg löste zum einen eine Welle des Antisemitismus in den umliegenden Ländern aus (vgl. 1. Makk 5,1f.), sodass auch die Juden in Babylon möglicherweise Repressalien fürchteten. Zum anderen könnte die Aussicht auf freie Religionsausübung in Judäa ohne Angst vor fremden Einflüssen eine große Anziehungskraft auf die jüdischen Gemeinden in der Diaspora ausgeübt haben. 2.) Die sog. „Groningen-Hypothese“ postuliert die Anfänge der essenischen Bewegung in der apokalyptischen Tradition des späten 3. oder frühen 2. Jh. v.Chr. Innerhalb dieser Bewegung gab es ein Schisma, infolgedessen sich eine Gruppe um den „Lehrer der Gerechtigkeit“ vom übrigen Teil der
247
Vgl. z.B. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 319f.; KOLLMANN, Neutestamentliche Zeitgeschichte, 32–38; STEGEMANN, Essener, 198–204. 248 Einen Überblick über die verschiedenen Theorien bietet z.B. VANDERKAM, Identity and History, 507–523. 249 Vgl. MURPHY-O’CONNOR, The Essenes, 215–244; MURPHY-O’CONNOR, Damascus Document Revisited, 223–246.
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Essener trennte und nach Qumran zurückzog.250 Der jeweilige in Jerusalem amtierende Hohepriester wurde als Frevelpriester bezeichnet.251 3.) In Anlehnung an Y. Hirschfeld interpretiert J. Zangenberg den Chirbet als „fortified farmstead“252. Er deutet Qumran in seiner rekonstruierten ersten Bauphase als „ein befestigtes Landhaus […], das mit seinen industriellen Einrichtungen […] eine Art Dienstleistungsstützpunkt“253 darstellte. Aus archäologischer Sicht erklärt er das in den Höhlen von Qumran gefundene Schriftrollencorpus als einen „Hortfund“254. Die Schriften stehen nicht in Zusammenhang mit dem landwirtschaftlichen Betrieb in Qumran, sondern sind angesichts der Belagerung Jerusalems 68 n.Chr. zum Schutz vor den Römern in den Höhlen versteckt worden. 4.) In der neueren Forschung ist die sog. „Umbrella-These“ von J. Collins von Bedeutung.255 Collins zufolge bezieht sich die Bezeichnung „Jaḥad“ aus 1 QS V,1 nicht auf eine einzelne Gruppierung, sondern auf eine „umbrella organization“256, der mehrere, unterschiedlich große Gemeinschaften angehörten. In 1QS VIII wird eine Gruppe von 12 Männern und drei Priestern benannt, die durch ihr Wissen und ihre Ausübung des Gesetzes herausstechen. Sie sollen sich von den Frevlern absondern, um in der Wüste Gott den Weg zu bahnen (1QS VIII,13). Vermutlich waren es diese Männer, die sich in Qumran niederließen und dort die Gemeinschaft der Qumranfrommen gründeten. Wichtig ist dabei, so Collins, dass die Qumrangemeinschaft nicht durch Abspaltung, sondern vielmehr als Ableger des größeren Jaḥad entstand.257 Die Schriften, die in Qumran gefunden wurden, sind Zeugnisse des Jaḥad. Sie wurden im Jüdischen Krieg 66–68 n.Chr. zum Schutz vor Zerstörung aus den Siedlungen der einzelnen Gemeinschaften zum Chirbet gebracht.258 5.) Die Mehrheit der Forscher, der ich mich anschließe, geht davon aus, dass die Anfänge der Qumrangemeinschaft bei einer Gruppe von Priestern und ihren Anhängern lag, die sich vom Jerusalemer Tempel absonderten und 250
Vgl. GARCÍA MARTÍNEZ, Qumran Origins; GARCÍA MARTÍNEZ/VAN DER WOUDE, “Groningen” Hypothesis. 251 Vgl. GARCÍA MARTÍNEZ/TREBOLLE BARRERA, The People of the Dead Sea Scrolls, 31–48.86–96. Ähnlich auch z.B. DAVIES, Behind the Essenes, 28; LIM, Wicked Priests, 415– 425. 252 ZANGENBERG, Region oder Religion, 49. Vgl. dazu HIRSCHFELD, Early Roman Manor Houses, 161–189. 253 ZANGENBERG, Region oder Religion, 62. 254 ZANGENBERG, Region oder Religion, 65; Kursivierung im Original. 255 Vgl. COLLINS, Beyond the Qumran Community; COLLINS, Forms of Community, 97– 111. 256 COLLINS, Forms of Community, 104. 257 Vgl. COLLINS, Forms of Community, 105f. 258 Vgl. COLLINS, Beyond the Qumran Community, 210.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
ins „Lande von Damaskus“ (CD VI,5) zurückzogen, bevor sie sich in der judäischen Wüste niederließen.259 Die Abspaltung dieser „Jaḥad-Bewegung“260 vom Rest des Judentums geschah aufgrund von Uneinigkeit bezüglich der hohepriesterlichen Sukzession. Die Aussagen im Habakuk-Kommentar und die gegen Feinde gerichtete Polemik der Damaskusschrift zeigen, dass es in diesem Zusammenhang auch Auseinandersetzungen um die Reinheit des Kultes gegeben hat. Demnach bestand ein ernsthafter Konflikt zwischen dem „Lehrer der Gerechtigkeit“ und seinem Gegner, dem „Frevelpriester“/„gottlosen Priester“, der vermutlich der amtierende Hohepriester Jonathan war (vgl. 1QpHab VIII,8; IX,9; CD XX,15; 4Q171 IV,7–9).261 Der Lehrer der Gerechtigkeit, selbst ein (Hohe-)Priester, der mit dem Anspruch auftrat, Gott habe ihm alle Geheimnisse der Propheten offenbart (1QpHab VII,4f.), war Gründer und Leiter der Gemeinschaft.262 H. Stegemann modifizierte diese These. Der „Lehrer der Gerechtigkeit“ sei nicht Gründer der Qumrangemeinschaft gewesen, sondern er sei in eine bereits bestehende Gemeinde gekommen und habe dort den Führungsanspruch erhoben (vgl. CD I,8–11).263 Der Konflikt zwischen dem Lehrer der Gerechtigkeit und dem Frevelpriester ging sogar so weit, dass der Lehrer und seine Anhänger vom Frevelpriester Verfolgung erlitten (1QpHab IX,8ff.; XI,2–8; XII,2ff.). Vermutlich führten dieser Konflikt, das strenge Gesetzesverständnis und die damit einhergehenden Differenzen in kultischen Fragen zur Abspaltung der torafrommen Gruppe von den Jerusalemer Autoritäten. Besonders der HabakukKommentar 1QpHab bietet Einblick in die Missstände in Jerusalem zu jener Zeit, welche die Gemeinschaft missbilligte und verurteilte. Die Vorwürfe der „Gemeinschaft der Täter des Gesetzes“ (z.B. 1QpHab VII,11; VIII,1) gegen die Priesterschaft von Jerusalem, die vom „gottlosen Priester“ geführt wurde (1QpHab VIII,8), waren u.a. Verwerfung der Gesetze um des Reichtums willen (1QpHab VIII,10f.; vgl. CD IV,17), Entweihung des Heiligtums 259
Vgl. dazu z.B. MAIER, Qumran-Essener III, 47ff.; VANDERKAM, Qumranforschung, 121ff.; FABRY, Archäologie und Text, 79ff.; BERGMEIER, Qumran-Essener-Hypothese, 34– 39.109ff.124f. Zu den antiken Essener-Berichten von Philo von Alexandrien, Flavius Josephus und Plinius dem Älteren vgl. die ausführliche Erörterung von BERGMEIER, Essener-Berichte; BERGMEIER, Qumran-Essener-Hypothese, passim; VANDERKAM, Qumranforschung, 92–120. Ferner FREY, Zur historischen Auswertung. Die Quellen sind zusammengestellt bei BURCHARD, Antike Berichte. 260 BERGMEIER, Qumran-Essener-Hypothese, 109. 261 Zur Person des Lehrers der Gerechtigkeit und des Frevelpriesters vgl. besonders JEREMIAS, Lehrer der Gerechtigkeit, 10ff. 262 Der erste, der diese These vertrat, war VERMÈS, Les manuscrits. Vgl. auch den Überblick bei VANDERKAM, Identity and History; CROSS, Bibliothek von Qumran. 263 Vgl. STEGEMANN, Entstehung; STEGEMANN, Essener, 206–213.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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(1QpHab XII,9; vgl. CD IV,18; V,6ff.), Götzendienst (1QpHab XII,12–14; XIII,1–4) und Verfolgung des Lehrers der Gerechtigkeit samt der Gemeinschaft der Gesetzestreuen (1QpHab IX,9f.12; XI,4–6).264 Neben 1QpHab enthält auch die Schrift „Miqṣat Maʿase Ha-Torah“ (4QMMT) eine Auflistung und Erläuterung der umstrittenen gesetzlichen Fragen. Kontroversen bestanden demnach vor allem in Fragen der rituellen Reinheit und unzulässiger sexueller Verbindungen. Zudem wurde die Abkehr der Gruppe von der Mehrheit des Volkes mit deren Unreinheit und Abfall vom Gesetz begründet (4QMMT C,7ff.21ff.).265 Der fundamentale Dissens über die Gesetzesauslegung führte zum Rückzug der torafrommen Gruppe. Die Trennung beinhaltete auch, dass es den Mitgliedern der Gemeinde des neuen Bundes verboten war, den Tempel zu betreten um darin zu opfern (CD VI,11ff.). Solch ein Opfer wurde aufgrund der Entweihung des Heiligtums als ungültig und somit als vergeblich angesehen.266 Dennoch blieb Jerusalem für sie weiterhin der von Jahwe erwählte Ort (4QMMT I,32f.60ff.). Man distanzierte sich lediglich von dem dort praktizierten Kult.267 Zu diesen Differenzen kam eine weitere hinzu, welche die Beachtung der Kultzeiten betraf. Während sich die Autoritäten in Jerusalem nach dem Mondkalender mit 354 Tagen richteten, orientierte sich die Qumrangemeinschaft am 364-Tage-Sonnenkalender. Sie nahm für sich in Anspruch, den einzig richtigen Kalender mit den genau festgeschriebenen Festzeiten zu befolgen, da er ihr von Gott offenbart worden war. Ganz Israel hingegen gehe in Bezug auf Gottes heilige Sabbate und seine Festzeiten in die Irre (CD III,13ff.; vgl. auch VI,18ff.; 1QS I,14f.; 1QpHab XI,4ff.)268. Nach Ansicht der Qumrangemeinschaft war demnach nicht nur der Jerusalemer Tempel entweiht und unrein, sondern auch die Kultzeiten und damit ebenfalls die Kulthandlungen, da sie zu den falschen Zeiten vollzogen wurden und somit wirkungslos waren.269 Diese Absonderung der Qumranfrommen vom Jerusalemer Tempel und dem dortigen Kult führte zu einer grundlegenden Umdeutung. Aus einigen 264 Vgl. auch die Darstellungen von KLINZING, Umdeutung, 11ff.; MAIER, Lebensbild der Gemeinde, 36–72; VANDERKAM, Qumranforschung, 121–131. 265 Vgl. dazu auch VANDERKAM, Qumranforschung, 81. 266 Vgl. auch KLINZING, Umdeutung, 19f. 267 Dimant hat in 4QFlor drei verschiedene Tempelvorstellungen differenziert: Das zukünftige Heiligtum, der historische Tempel in Jerusalem und der Menschentempel, vgl. DIMANT, 4QFlorilegium. Die Kultkritik der Gemeinschaft der Qumranfrommen bezog sich lediglich auf den am Tempel praktizierten Kult und nicht auf den zukünftigen Tempel. 268 Vgl. auch die Ausführungen der festgelegten Zeiten in 1QS X,1ff.; 1QH XII,4ff. 269 Vgl. KLINZING, Umdeutung, 15–18; MAIER, Lebensbild der Gemeinde, 53ff.; MAIER, Qumran-Essener I, XV–XX; MAIER, Qumran-Essener III, 52–86; VANDERKAM, Qumranforschung, 137ff.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Qumranschriften geht hervor, dass sich die Gemeinschaft nach der Trennung selbst als „heiliges Haus“ (z.B. 1QS VIII,5) – traditionell ein Terminus für den Tempel – und als „Tempel von Menschen“ (Miqdash adam – 4QFlor III,6) bezeichnete. Da der Tempel als Ort der besonderen Gottespräsenz und des Opferkultes durch die dort geschehene Entheiligung für sie nicht mehr zugänglich war, fand sie Ersatz in ihrer Gemeinschaft, die nach strengen Reinheitsvorschriften lebte und sich als das wahre Israel vom Rest des Judentums abgrenzte (vgl. 1QS VIII,1–16).270 Durch die Entweihung des Tempels war jedoch die Teilnahme am Opferkult unmöglich geworden. Den Texten lässt sich entnehmen, dass untadeliger Wandel, Lob und Gebet der Mitglieder als gleichwertige Opfer dienten. „Das Hebopfer der Lippen nach der Vorschrift ist wie Opferduft der Gerechtigkeit und vollkommener Wandel wie ein wohlgefälliges freiwilliges Opfer“ (1QS IX,4f.; vgl. CD XI, 20f.). Folglich dienten vorschriftsmäßig korrekt ausgeführte Gebetsgottesdienste den Qumranfrommen als legitime Opfergaben.271 Die verschiedenen strengen Reinheitsvorschriften (z.B. 1QSa II,3–11; vgl. auch CD VI,11–VII,6) zeigen sehr deutlich, wie die Qumrangemeinschaft versuchte, die für den Tempel und die Priesterschaft in Jerusalem geltenden Heiligkeitsvorschriften innerhalb ihrer Gemeinschaft zu erfüllen. Nur auf diese Weise konnte sie zu einem „Ersatz“ für den Tempel werden und dadurch die Möglichkeit zur Sühne schaffen, die ansonsten einzig Tempel und Opferdienst boten.272 Zugleich wird in den strengen Vorschriften das priesterliche Selbstbewusstsein der Gemeinde erkennbar. Die Gemeinschaft der Qumranfrommen war gekennzeichnet durch die Teilhabe aller Mitglieder am priesterlichen Leben. Alle mussten ein reines Leben gemäß den Vorschriften führen, denn nur so konnte die Gemeinschaft zu einem „Heiligtum von Menschen“ werden. Dies geht in aller Deutlichkeit aus den Vorgaben über Reinheit und Mahlzeiten hervor (vgl. auch 1QS V,13ff.). Durch die Umdeutung des Tempel- und Opferbegriffs erfuhr auch das Priestertum in Qumran eine Veränderung, da nun die gesamte Gemeinde priesterlich geprägt war.273 Des Weiteren gibt es Texte, die im Rahmen der Eschatologie von einem von Gott erbauten neuen Tempel sprechen. So legt beispielsweise die nur noch bruchstückhaft erhaltene Schrift 4QFlor I,1–7 das Zitat Ex 15,17f. aus und berichtet von dem Haus, das Jahwe am Ende der Tage errichtet. Dieses endzeitliche Heiligtum wird gekennzeichnet sein durch Reinheit, Heiligkeit 270 Vgl. KLINZING, Umdeutung, 50–93; BERGMEIER, Qumran-Essener-Hypothese, 109– 123, bes. 114ff. 271 Vgl. KLINZING, Umdeutung, 93–106. 272 Vgl. KLINZING, Umdeutung, 95.99ff.; ferner LICHTENBERGER, Menschenbild, 15–17; LANGE, Kriterien essenischer Texte, 65f. 273 Vgl. dazu KLINZING, Umdeutung, 106–143; MAIER, Qumran-Essener III, 47–50; FABRY, Archäologie und Text, 97–99; ferner GARCÍA MARTÍNEZ, Priestly Functions.
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(I,4) und ewige Beständigkeit (I,5f.; vgl. 1QS VIII,8f.).274 Ähnliche Vorstellungen in Jub 1,27 oder 1Hen 91,13 zeigen, dass die Erwartung eines eschatologischen, von Gott erbauten Heiligtums im Judentum durchaus verbreitet war. Neben dieser eschatologischen Hoffnung existiert in der Kriegsrolle 1QM und in 4Q171 III,10f. die Vorstellung der Qumrangemeinschaft von der zukünftigen Inbesitznahme Jerusalems und des Tempels und der damit gegebenen Möglichkeit zur ordnungsgemäßen Kultausübung.275 Die Opfervorschriften, die sich trotz Ablehnung des Jerusalemer Tempelkults in den Schriften auffinden lassen (z.B. 1QM II,1ff.), verdeutlichen, dass die Qumrangemeinde den Kult nicht grundsätzlich zurückwies. Vielmehr war es für sie durch die Entweihung des Jerusalemer Tempels und die Konflikte mit der dortigen Priesterschaft nicht mehr möglich am Tempelkult teilzunehmen. Aus dieser Notlage heraus fand sie Ersatz für den Tempel in der Heiligung der Gemeinschaft, in der Hoffnung auf die Kontrolle über das Heiligtum in der Endzeit sowie in den eschatologischen Vorstellungen von Stadt und Tempel.276 Aus den Texten geht zugleich hervor, auf welcher Grundlage die Umdeutung von Kult und Tempel innerhalb der Gemeinde der Qumranfrommen geschehen ist: Es war keine eigenmächtige Entscheidung der Gemeinschaft, sondern es trat ein, was im Geschichtsplan Gottes vorgesehen war. Besonders im Habakuk-Kommentar ist der Anspruch der Gemeinde wahrnehmbar, die gesamte Deutung der Prophetenworte zu kennen, sodass die Geschehnisse als den göttlichen Plan erfüllend geschildert wurden.277 5. Ps 135f. + Katene + Ps 145 (Kol XIV–XVII) In der Psalmenrolle 11QPsa schließt an Ps 119 eine Komposition aus Ps 135f. + Katene + Ps 145 (Kol XIV–XVII) an.278 Das vorherrschende Thema dieser Komposition ist das Lob Jahwes, wodurch sie auf die Halleluja-Psalmen 104– 148 in Frag E I – Kol II zurückweist. Wie die folgende Analyse aufzeigt, bildet die Anordnung Ps 135f. + Katene + Ps 145 zusammen mit den Halleluja-Psalmen 104–148 eine Inklusion um den Wallfahrtspsalter Ps [120]–132 274 Vom eschatologischen Heiligtum sprechen auch die Fragmente, die die „Beschreibung des neuen Jerusalems“ beinhalten: 1Q32; 2Q24; 5Q15; vgl. BARTHÉLEMY, DJD 1, 134f.; BAILLET, DJD 3, 184ff. 275 Zu den Vorstellungen der Qumrangemeinschaft über den endzeitlichen Krieg zwischen den Söhnen des Lichts und den Söhnen der Finsternis vgl. z.B. YADIN, Scroll of the War. 276 Vgl. auch KLINZING, Umdeutung, 22–41. 277 Vgl. z.B. 1QpHab II,5ff.; V,3ff.; VIII,1ff.; IX,4ff.; vgl. dazu auch ELLIGER, HabakukKommentar, 150ff. 278 Vgl. SKEHAN, Liturgical Complex; im Anschluß an Skehan auch FABRY, Psalter in Qumran, 154; vgl. auch WILSON, Comparison, 459ff. DAHMEN, Psalterrezeption, 290ff. ordnet Ps 135f. aufgrund ihrer Verbindung mit Ps 120–134 den vorangehenden Wallfahrtspsalmen zu.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
und Ps 119. Geht man davon aus, dass Ps [120]–132.119 den Höhepunkt und das thematische Zentrum279 der Psalmenrolle 11QPsa bilden, wird in den Kompositionen Ps 104–148 und Ps 135–145 eine Rahmung dieses Kernstücks erkennbar. Den Auftakt der „Hymnus-Komposition“280 bilden die beiden Lob- und Dankpsalmen 135–136, welche die Geschichte Israels vom Exodus bis zur Landnahme darstellen und diese Schilderung mit dem Aufruf zum Lob auf den allmächtigen Schöpfer verbinden. Der von einem imperativischen הללו jeweils am Anfang (Kol XIV,7) und am Ende (Kol XV,5) gerahmte Ps 135281 hebt im Besonderen die Mächtigkeit Jahwes gegen die weltlichen Könige (V. 10f.*) und die Götzen der fremden Völker (V. 5 – Kol XIV,11f.; Götzenbildpolemik in V. 15f.*+17f. – Kol XV,1f.) hervor. Ps 136, das sog. Große Hallel282, wird in den Versen 1–3 (Kol XV,6f.) und 26a* durch die הודו-Formel gerahmt. Ein auffälliges Merkmal dieses Psalms ist die Wiederholung der Formel „ – כי לעולם חסדוdenn seine Güte währt ewig“ – am Ende jedes Verses. Durch sie entsteht eine Dialektik zwischen dem allmächtigen Wirken Jahwes, das jeweils im ersten Teil des Verses beschrieben wird, und dessen Begründung in seiner Güte.283 Zugleich werden die Taten Jahwes, die Grund für den Lobaufruf הודו ליהוהsind, genannt: Jahwes Schöpfungshandeln (V. 4–9 – Kol XV,8–12), die Rettung seines erwählten Volkes (V. 10–16 – Kol XV,13–17 und V. 17–22*) und schließlich seine gegenwärtige Begleitung Israels und aller Geschöpfe. Die Zwillingspsalmen 135f. akzentuieren die Allmacht Jahwes. Dabei dominiert in Ps 135 die Vorstellung des schlagenden Gottes ( – נכהV. 8.10– 12*), der seine Macht darin erweist, dass er alle Unterdrücker und Bedroher seines Volkes Israel (er)schlägt.284 Dieser Aspekt des Gottesbildes schwingt auch in Ps 136 mit (vgl. – למכהV. 10 – Kol XV,13). Doch durch den Refrain lenkt dieser Psalm den Fokus auf die von Jahwe gewährte Gnade. Ps 135,2 hat in 11QPsa eine Textergänzung erfahren. Am Ende des Verses ist in Kol XIV,9 ובתוכך ירושליםeingefügt, sodass Jerusalem dadurch direkt angesprochen wird (vgl. so auch in Ps 122,2f.6 – Kol III,8f.11f.). Diese Hinzufügung sei, so U. Dahmen, als qumranspezifisch zu erkennen, da durch sie 279
Die Anzahl der in 11QPsa enthaltenen Psalmen variiert je nach Zählung, so z.B. wenn man die Rolle mit einem anderen Ps als 101 beginnen lässt oder größere Textrekonstruktionen voraussetzt, wie etwa die Psalmen des Pesach-Hallels Ps 113–117. Aufgrund solch unsicherer Zählungen spreche ich hier von der Komposition Ps [120]–132.119 als thematischem Zentrum, nicht jedoch als einem numerischen. 280 LEUENBERGER, Pragmatik, 185. 281 11QPsa weicht in V. 1 vom PMT ab. Statt des einleitenden הללו יהsteht הללו עבדי יהוה (Kol XIV,7), während das הללו יהerst am Ende des Verses/der Zeile zu finden ist. 282 Vgl. MILLARD, Komposition des Psalters, 32f.; BALLHORN, Telos, 255ff. 283 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 676. 284 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 661.
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eine Bewegung vom Heiligtum weg hin zum Profanen entstanden sei (vgl. Haus Jahwes – Vorhöfe – Jerusalem). Ebenso wie der Wallfahrtspsalter nicht im Tempel, sondern in der Tora gipfele, sei auch hier die Bedeutung des Tempels zurückgenommen und somit der Psalm an die aktuelle Situation der Qumrangemeinde angepasst worden.285 Eine umfangreichere Textergänzung in Ps 135,6 (Kol XIV,12–14) unterstreicht die Allmachtsaussagen über Jahwe, die den gesamten Psalm prägen. Sie führt das Bekenntnis zu Gottes Größe aus V. 5 (Kol XIV,11f.) weiter und steigert zugleich die Aussage über seine Einzigkeit: „ – אין כיה אין כיהוה ואין שיעשה כמלך אלוהיםEs ist keiner wie Jah, es ist keiner wie Jahwe, und es ist keiner, der tut wie der König der Götter“. Zugleich erhält dieses Bekenntnis zur göttlichen Allmacht durch die in V. 15f.*+17f. (Kol XV,1f.) beschriebene Polemik gegen die Götzen der Völker und ihre Machtlosigkeit besonderen Nachdruck.286 Ohne eine Leerstelle dazwischen schließt an Ps 136,26b in Kol XVI,1 eine Sammlung von Versen aus Ps 118 an (V. 1.15.16.8.9.X.29). Dieser nahtlose Übergang ist ein Indiz dafür, dass die Katene als Teil von Ps 136 anzusehen ist.287 Dabei weisen diese Verse im Vergleich zum PMT einige Varianten auf. Die Textänderungen bzw. -ergänzungen der Verse 16 (Kol XVI,3)288 und 8f.X (Kol XVI,3–5)289 sind in ihrem Aufbau ähnlich der Variante in Ps 135,6 (Kol XIV,12ff.). Das verstärkt die fließende Anfügung der Katene an Ps 135f. zusätzlich. Durch die Variationen entstehen, wie in Ps 135,6, zwei Dreierreihen mit gesteigerter Aussage.290 Die Modifikation in V. 16 (Kol XVI,3) führt zu einer Dreierkette von Gedanken über die Stärke der Rechten Jahwes. Diese Reihung beginnt bereits in V. 15 (Kol XVI,2: [ רום – חילPi. Part.] – )גבורה. Der Zusatz nach V. 9 in Kol XVI,5 verstärkt die Botschaft der טוב מןReihe: Es ist besser auf Jahwe zu vertrauen/sich bei Jahwe zu bergen als sich auf Menschen (Z. 4) – auf Fürsten (Z. 5) – auf tausend Völker (Zusatz) zu verlassen. Die Katene endet in V. 29 (Z. 6) mit einem הללו יה, wie vorher bereits Ps 135 (Kol XV,5). Die Katene besteht aus den beiden הודו ליהוה-Versen 1.29 (Kol XVI,1.5f.), die zwei Dreierketten mit Aussagen über Jahwes Stärke und Verlässlichkeit rahmen, und erweist sich dadurch als formal sowie inhaltlich aufs engste mit Ps 135f. verbunden. An die Katene anschließend folgt in 11QPsa der akrostichisch aufgebaute Ps 145, der in Kol XVI,8 nicht wie im PMT mit „( תהלהLobgesang“), sondern 285
Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 186. Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 188f.294f. 287 Vgl. WILSON, Editing, 111. 288 ימין יהוה עשׂה חילPMT ימין יהוה עשתה גבורה11QPsa 289 Nach V. 8f. wird in 11QPsa folgender Zusatz eingefügt: טוב לבטוב ביהוה מבטוח באלף עם. 290 Vgl. Vgl. auch zum Folgenden DAHMEN, Psalterrezeption, 194f. 286
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
mit „( תפלהGebet“) überschrieben ist. Dieser Psalm weicht in mehrfacher Hinsicht vom PMT ab: Er enthält eine zusätzliche נ-Zeile in Kol XVII,2f.291 sowie den Kehrvers ברוך יהוה וברוך שמו לעולם ועדam Ende jedes Verses. Die נZeile, die auch in LXX und Peschitta bezeugt ist, vervollständigt die akrostichische Form des Psalms. Durch den Kehrvers ist die Struktur des Psalms bedeutend verändert worden, sodass Ps 145 strukturell eng an seinen Vorgängerpsalm 136 gebunden wird.292 Der thematische Schwerpunkt von Ps 145 liegt auf dem immerwährenden Lob der Königsherrschaft Jahwes und seines machtvollen Handelns. Diese Beständigkeit des Lobes, die in der pmt Fassung schon angelegt ist, wird durch den in 11QPsa eingefügten Kehrvers zusätzlich verstärkt. Während in V. 1–3 (Kol XVI,8–12) der Beter David Gott die Ehre erweist, weiten die Verse 4–9 (Z. 13ff.) das Gotteslob auf alle Geschlechter aus. Zugleich entfaltet sich im Folgenden der Grund hierfür: Jahwes Güte und Gerechtigkeit geben Anlass zu stetigem Lob (V. 7 – Z. 17). Die Verse 10f.*+12f. (Kol XVII,1f.) weiten das Lob Davids und der Geschlechter auf alle Werke Jahwes aus. Diese Steigerung zum universalen Lob wird durch die Verwendung einer umfangreichen Lobterminologie verstärkt (vgl. z.B. הללin Kol XVI,10; ברךin Kol XVI,9f. und Kol XVII,16; רוםin Kol XVI,8; נגדund שׁבחin Kol XVI,13; u.a.).293 Der zweite Teil des Psalms (V. 14–20 – Kol XVII,4–15) beschreibt die Güte und das Handeln Jahwes, bevor der letzte Vers noch einmal zum ewigen Gotteslob auffordert.
In 11QPsa endet der Psalm jedoch nicht an dieser Stelle, denn in Kol XVII,17f. ist folgender Zusatz erhalten geblieben: [ ] ] [ל][ל] [ל] [ל/ „ – זואת לזכרוןdies zum Gedächtnis“. Aufgrund der Zerstörung am unteren Rollenteil lässt sich nicht mehr nachvollziehen, ob die noch erkennbaren Wort- bzw. Buchstabenreste ein Zusatz zu Ps 145 darstellten. Dann bestünde hier eine Parallelität zu Ps 136 + Katene. Sie könnten jedoch auch als eine eigenständige Komposition zwischen Ps 145 und dem nachfolgenden syr Ps II angeordnet gewesen sein.294 Zusammenfassung: An den vorhergehenden Wallfahrtspsalter ist Ps 135 durch vielfältige Stichworte gebunden.295 Ebenso weisen die Textvarianten in 11QPsa Ps 135 einen Bezug zu den Varianten der Wallfahrtspsalmen auf. So 291
Zur נ-Zeile in 11QPsa Ps 145 vgl. ZENGER, Alles Fleisch, 9; DAHMEN, Psalterrezeption, 199; BALLHORN, Telos, 290f.; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 791f.; ferner z.B. KIMELMAN, Psalm 145, 50f. 292 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 196. 293 Vgl. BALLHORN, Telos, 285. 294 Nach DAHMEN ist das größtenteils verlorene Textstück für diesen Zusammenhang bewusst abgefasst worden, um entweder einen Verschriftungsprozess abzuschließen oder als erklärender Zusatz im „Gebetskontext der Ps 136 + 145“ zu fungieren, vgl. Psalterrezeption, 202f. 295 Vgl. z.B. עבדי יהוהin Ps 135,1; 134,1 / שׁם יהוהin Ps 135,1; 122,4; 124,8; 129,8 / ברכו את־יהוהin Ps 135,20; 134,1 / בית יהוהin Ps 135,2; 122,1.9.
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wird beispielsweise durch den Zusatz in Ps 135,2 (s.o.) die Entfernung vom Jerusalemer Tempel, die im Wallfahrtspsalter durch das Weglassen der Ps 133f. stattfand, in dieser Komposition weitergeführt.296 Auf den הודו-Psalm 136 folgt die Katene aus Ps 118, die sich nicht nur formal und inhaltlich gut an die vorhergehenden Zwillingspsalmen anfügt, sondern die zusammen mit Ps 136 einen Bogen zurück zu Ps 118 in Frag. E I schlägt (vgl. z.B. Ps 136,1 – Kol XV,6 und Ps 118,29 – Frag. E I,5 + Kol XVI,5f.). Parallel zu Ps 136 + Katene ist auch der im Vergleich zum PMT divergent gestaltete Ps 145 (+ Zusatz) aufgebaut.297 Dieser Psalm erfüllt im Kontext von 11QPsa eine zweifache Aufgabe: Zum einen rundet er die Hymnus-Komposition Ps 135f. + Katene + Ps 145 ab, indem er das Lob der Herrlichkeit Jahwes zu einem universalen Lob aller Werke und allen Fleisches steigert (vgl. Ps 145,10* + V. 21 – Kol XVII,16f.). In Ps 135f. erwächst der Lobaufruf aus der Erinnerung an Jahwes Schöpfungshandeln und sein Geschichtshandeln an Israel. Ps 145 hingegen weitet diese Perspektive und endet mit der Mahnung zum stetigen und universalen Lobpreis allen Fleisches.298 Hinzu kommt, dass der Reichtum an Lobvokabular in seiner ganzen Breite ausgeschöpft und der Psalm dadurch zu einem „Kompendium ‚vollkommenen’ Gotteslobes“299 wird, das kaum mehr überboten werden kann. Zum anderen ist nun ein Kompositionsbogen erkennbar, der sich von Ps 104 in Frag. E I über den Wallfahrtspsalter mit Ps 119 bis zu Ps 145 in Kol XVII erstreckt und sich folgendermaßen darstellen lässt: (Ps 118) Ps 104 Ps 147 Ps 105 Ps 146 Ps 148 Wallfahrtspsalter Ps [120]–132 Ps 119 Ps 135 Ps 136 + Katene Ps 145 (+ Zusatz) (syr Ps II)
Vergleicht man die Untersuchungsergebnisse der Halleluja-Sammlung Ps 104–147–105–146–148 und der Anordnung Ps 135f.+Katene+Ps 145, ergeben sich zahlreiche Bezüge zwischen beiden Psalmengruppen. Zunächst fällt 296
Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 186.294. Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 295f. 298 Vgl. auch BALLHORN, Telos, 291. Anders interpretiert DAHMEN, Psalterrezeption, 296f., der Ps 145 als programmatische Eröffnung der Teilsammlung Ps 145 – syr Ps II – Plea – Ps 139 – 137 – 138 auffasst. 299 BALLHORN, Telos, 298. 297
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
auf, dass die Geschichtspsalmen 135f. durch ihre Anfangs- und Schlussverse an die Halleluja-Sammlung gebunden sind. Ps 135 erhält durch den HallelujaRuf eine Einleitung und einen Abschluss (vgl. Kol XIV,7 u. Kol XV,5). Ebenso wird Ps 136 durch die –הודוFormel gerahmt (vgl. Kol XV,6 u. V. 26a*) und verweist damit auf den einzigen Geschichtspsalm der HallelujaSammlung Ps 105, der ebenfalls mit הודוeingeführt wird (vgl. Frag. E III,8).300 Das in Ps 135f. thematisierte Heilshandeln Jahwes an seinem Volk Israel ist das verbindende Element zu Ps 147,12–14* und V. 19f. (Frag. E III, 5–7) sowie zu Ps 105 (Frag. E III,8–17 u. Kol I). Jahwes Geschichtswirken bezeichnet neben seinem Schöpferhandeln den wichtigsten Grund für den Lobaufruf in den Psalmenanordnungen 104–148 (Frag. E I – Kol II) und 135– 145 (Kol XIV – Kol XVII).301 Ein weiteres verbindendes Element zwischen diesen beiden Psalmengruppen findet sich im Gedanken des Königtums Jahwes. In Ps 104 (Frag. E I,6– 11 u. Frag. E II,1–14) und Ps 146 (Kol II,1–5) ergeht das Lob an Jahwe den Himmelskönig, der in Ewigkeit regieren wird. Ps 145 (Kol XVIf.), der Schlusspsalm der Anordnung Ps 135f. + Katene + Ps 145, gipfelt seinerseits im Lob der universalen Königsherrschaft Jahwes. In den bisher untersuchten Psalmen wird Jahwe vornehmlich als Schöpfergott und Retter Israels gepriesen. Sein Königtum spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die Thematisierung der königlichen Herrschaft Jahwes an diesen exponierten Stellen – Ps 104 ist der erste Psalm der Halleluja-Sammlung und Ps 145 der letzte in der Abfolge in Kol XIV–XVII – ist sehr markant. Des Weiteren ergibt sich eine unübersehbare Parallelität zwischen den letzten Psalmen der jeweiligen Gruppen, Ps 148 (Kol II) und Ps 145 (Kol XVI). Beide erfüllen in ihrer Position die Aufgabe, die Kompositionen zu Ende zu führen. Sie tun dies, indem sie die Aufforderung zum Gotteslob aus den vorhergehenden Psalmen aufnehmen und zum universalen Lob steigern. Ps 148 ermahnt alles Geschaffene im Himmel und auf der Erde, Gott die Ehre zu erweisen. Eine kunstvoll gestaltete Zahlensymbolik wirkt dabei unterstützend und die Gruppe der Halleluja-Psalmen abrundend (vgl. o. S. 40f.). Ebenso steigert auch Ps 145 das Gotteslob ins Universale und schöpft dabei die Fülle der Lobterminologie aus (vgl. o. S. 60). Mithilfe mehrfacher Bezüge zueinander bilden die Halleluja-Sammlung und die Psalmenanordnung Ps 135f. + Katene + Ps 145 eine Rahmung um die Ps [120]–132.119. Dadurch wird diese Komposition über Zion und Tora als Zentrum der Psalmenrolle 11QPsa akzentuiert. Die Psalmen [120]–132, die inhaltlich um den gewährten Schutz durch Jahwe, seinen Segen und den von ihm zur Wohnstätte erwählten Zion kreisen, und die ausführliche Meditation über die Tora Jahwes in Ps 119 bilden die thematische Mitte. Die Bedeutung 300 301
Vgl. dazu WILSON, Comparison, 456. Vgl. die Analysen o. S. 29-41 und 57ff.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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dieser Komposition als Herzstück von 11QPsa wird durch die Rahmung verstärkt. Denn allein das Lob auf den mächtigen und segnenden Schöpfergott Jahwe ist angemessen, die Komposition Ps [120–]132.119 einzuleiten und abzurunden. Die bisherige Analyse der Psalmen in 11QPsa hat zugleich deutlich gemacht, dass zwar vielfältige Verknüpfungen von Nachbarpsalmen sowie Psalmengruppierungen existieren, diese Gruppen jedoch keine geschlossenen Einheiten bilden. So wurde beispielsweise aufgezeigt, wie Ps 118 in Frag. E I und Ps 145 in Kol XVII als Übergänge zwischen verschiedenen Psalmengruppen fungieren. Ps 118 ist sowohl mit den vorhergehenden Ps 101– 103.109 als auch mit der nachfolgenden Halleluja-Sammlung Ps 104–148 verbunden, ohne einer dieser Anordnungen völlig zuzugehören (s. S. 27f.). Ebenso verhält es sich mit Ps 145, der einerseits einen engen strukturellen und inhaltlichen Bezug zu Ps 136 + Katene herstellt und andererseits zugleich thematisch auf den folgenden Ps 154 verweist. Diese Tatsache zeigt deutlich, dass die einzelnen Kompositionen als „offen gestaltete“ Gruppierungen verstanden werden wollen, die überdies auch größere Kompositionsbögen bilden können. 6. syr Ps II – Plea for Deliverance – Ps 139 – 137 – 138 Mit Kol XVIII beginnt der Teil der Psalmenrolle 11QPsa, der in seiner Psalmenanordnung einmal mehr stark vom PMT abweicht. Eröffnet wird dieser Abschnitt von den Bitt- und Dankpsalmen syr Ps II (= Ps 154) – Plea for Deliverance – Ps 139 – 137 – 138 in Kol XVIII–XXI, die sich mit der rettenden Güte Gottes befassen302. Der erste Psalm dieser Abfolge ist der weisheitlich geprägte syr Ps II (= Ps 154), von dem in Kol XVIII,1–16 noch V. 3–19 erhalten sind.303 Mithilfe zahlreicher Imperative und Infinitive ergeht in V. 1f.*+3–8 die Aufforderung, Gott in der Gemeindeversammlung (V. 1*) zu verherrlichen, seine Majestät zu verkünden und seine Macht den Menschen, die weit entfernt sind von der Weisheit, kund zu tun (V. 4.7f. – Z. 1–3.4–6). Diese wurde den Menschen offenbart, um die Herrlichkeit Gottes zu bezeugen (V. 5f. – Z. 3f.). In den ersten acht Versen stehen sich zwei Gruppen oppositär gegenüber. Zur ersten gehören die Einfältigen (V. 4.7 – Z. 3.4: )פותאים, die Unverständigen (V. 7 – Z. 5: )חסרי לבבund diejenigen, die fern von den Toren der Weisheit sind (V. 8 – Z. 5: )הרחוקים מפתחיה. Sie sollen von der zweiten Gruppe über die Erhabenheit Gottes und seine mächtigen Taten belehrt werden. Zum letztgenannten Personenkreis zählen die Vielen (V. 1*: )רבים, die Aufrichtigen und Treuen (V. 2*: )אמונים ;ישריםsowie die Guten 302
Vgl. FLINT, Dead Sea Psalms Scrolls, 197f. SANDERS rekonstruiert die fehlenden V. 1–2.20 und die Lakunen in Kol XVIII,15f. aus dem Syrischen, vgl. DJD 4, 66. Zur Übersetzung von syr Ps II und Plea for Deliverance sowie allen weiteren Apokryphen und Neukompositionen vgl. ebenfalls SANDERS, DJD 4, 53–93. Vgl. auch CHARLESWORTH, Dead Sea Scrolls. Zum syr Ps II vgl. z.B. SANDERS, Psalm 154 revisited. 303
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
und Reinen (V. 3 – Z. 1: )תמימים ;טובים.304 An sie ergeht der Aufruf einen יחדzu gründen und darin Gott zu loben und seine Größe zu verkündigen (V. 4 – Z. 1ff.). Er ist der Herr Jakobs und alle seine Werke zeugen von seiner Majestät (V. 9 – Z. 6f.). Beachtenswert sind die anschließenden V. 10–15 (Z. 7–13), da hierin Themen angesprochen werden, die auch für die Gemeinschaft der Qumranfrommen von Bedeutung waren. Zunächst bestätigt und bekräftigt V. 10f. (Z. 7–19) das Lob Gottes als gleichwertigen Ersatz für das Brandopfer im Tempel. Sodann legt der Psalmist dar, wie die Versammlung der Frommen ( – קהל חסידיםZ. 10) Mahlgemeinschaft (V. 13 – Z. 11f.) hält und dabei gemeinsam über die Weisheit und über Gottes Gesetz meditiert (V. 12.14f. – Z. 10f.12f.). Auch hierin dürften sich die Qumranfrommen wiedergefunden haben (vgl. 1QS VI,4ff.).305 Im letzten Teil des Psalms (V. 16–19+20* – Z. 13–16) drückt der Beter seine Gewissheit aus, dass Gott mit den Guten ( – טוביםZ. 14) und denen, die ihn loben ( – מפאריוZ. 14), gnädig ist und sie segnet. Er erlöst die Armen ( – עניZ. 15) und Reinen ( – תמימיםZ. 16) aus der Hand ihrer Bedränger. Darum gebührt ihm alleine Ehre. Die aus dem Syrischen rekonstruierten V. 19f. markieren nach J.A. Sanders den Zielpunkt des Psalms.306 Gott hat aus Jakob ein Horn erhöht (vgl. Ps 148,14), das als Symbol sowohl für Kraft (vgl. z.B. 1. Kön 22,11; Micha 4,13) als auch für Schönheit (vgl. Dtn 33,17; Ps 92,11) gilt.307 Gleichzeitig tut V. 20 die Hoffnung kund, dass Jahwe in Zion sein Zelt ausspannen ( )נוטה אהלund für immer in Jerusalem wohnen wird.
Inhaltlich trägt syr Ps II „massiv essenisch-qumranische Spezifika“308 in die Komposition von 11QPsa ein. An diesen Psalm schließt „Plea for Deliverance“ (Kol XIX), welche die חסדJahwes zum Inhalt hat, an. Plea for Deliverance, deren Vokabular, Form und Inhalt biblisch sind 309, ist an dieser Stelle die erste der vier Neukompositionen der Psalmenrolle. Kol XIX enthält 17 vollständige Zeilen des Psalms, die 18. ist nur noch teilweise erhalten. Vermutlich existierten ursprünglich weitere fünf oder sechs Zeilen am unteren Ende von Kol XVIII und eine 19. Zeile am Ende von Kol XIX. Anfang und Schluss des Psalms sind jedoch verloren.310 Neben 11QPsa Kol XIX ist dieser Psalm auch in 11QPsb Frag. 4–5 erhalten. Darin finden sich einige Worte aus einer Zeile, die in 11QPsa nicht mehr vorhanden ist, vermutlich aber am unteren Ende von Kol XVIII gestanden hat. Bis auf einige kleinere orthographische Varianten sind die beiden Texte in 11QPsa und Psb identisch.311
304 Vgl. SANDERS, DJD 4, 68f. Er sieht in V. 15.18 noch eine dritte Gruppe, die ohne Weisheit ist. 305 Vgl. SANDERS, DJD 4, 69f. 306 Vgl. SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 108. 307 Vgl. o. S. 40. 308 DAHMEN, Psalterrezeption, 240. 309 Vgl. SANDERS, DJD 4, 76. 310 Vgl. SANDERS, DJD 4, 76. 311 Vgl. GARCÍA MARTÍNEZ, DJD 23, 37–47, besonders 42–44; GARCÍA MARTÍNEZ, Psalms Manuscripts, 78–80.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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In Z. 1–9 ist der Psalmbeter voll des Gotteslobes. Er preist den Schöpfer und Bewahrer allen Lebens (Z. 3–4), der sich gnädig gegenüber allen erweist, die ihn lieben (Z. 4–6). Mit seiner ganzen Seele will der Beter Jahwe verherrlichen und die göttliche Treue kundtun (Z. 8–9). Denn – und nun wird ein vielverwendetes alttestamentliches Argument eingesetzt (vgl. Jes 38,18f.; Ps 6,4–6; Hiob 7,21 u.ö.) – die Toten können Jahwe nicht loben, die Lebenden hingegen sind dazu fähig (Z. 1f.). Diese Erklärung schließt zugleich die Bitte um Bewahrung ein, damit der Beter weiterhin zusammen mit den Lebenden Jahwe preisen kann. Die anschließenden Zeilen enthalten einen Dankteil und ein Bittgebet. Der Beter dankt für die erfahrene Rettung aus den Verstrickungen in die eigenen Gräueltaten, durch die er dem Tode nahe war (Z. 9–13). Sodann bittet er um Vergebung seiner Sünden (Z. 13), um die Gabe eines treuen und einsichtigen Geistes (Z. 14) und die Bewahrung vor dem Widersacher und vor Bösem (Z. 15f.). Der Psalmist setzt seine Hoffnung in Jahwe und mit dem ganzen Haus seines Vaters wird er sich in Gott freuen.
Das Thema der Bedrängnis des Beters setzt sich in Ps 139 fort, der in Kol XX,1–16 auf Plea for Deliverance folgt. Der Beter weiß sich in seiner Ganzheit von Gott erkannt (vgl. V. 1–6, die nicht mehr zum erhaltenen Bestand in 11QPsa gehören). Von allen Seiten ist er von Jahwe umgeben und dieses Bewusstsein versetzt ihn in Erstaunen (V. 6*). Doch scheint diese Verwunderung negativ besetzt zu sein, denn in V. 7*+8–12 (Kol XX,1–4) sucht der Beter nach den verschiedensten Möglichkeiten, vor Jahwes Angesicht und seiner ergreifenden Hand ( ;אחזV. 10 – Z. 2) zu fliehen. Die Fluchtwege erweisen sich jedoch alle als aussichtslos und er muss erkennen, dass er Jahwes Gegenwart nicht entkommen kann. Diese Dissonanzen zwischen dem Beter und Jahwe scheinen in den folgenden Versen nicht mehr vorhanden zu sein. Vielmehr bestimmt Dank die Ausführungen des Psalmisten über seine wunderbare Erschaffung durch Gott (V. 13–18; Z. 4–10). Die allumfassende Erkenntnis Jahwes beunruhigt ihn nicht mehr, sondern erfüllt ihn voller Staunen (V. 17f. – Z. 9f.).312 V. 19–24 thematisieren die Bedrängnis des Beters, denn seine Gottesbeziehung wird vom Frevler ( )רשׁעund den Blutmännern ( )אנשׁי דמיםbedroht (V. 19 – Z. 10f.). Es stellt sich heraus, dass diese Männer nicht primär Feinde des Beters, sondern Feinde Jahwes sind, da sie heimtückisch ( )למזמהüber ihn reden (V. 20 – Z. 11f.). Durch seine intensive Gottesnähe werden diese Feinde jedoch auch zu Gegnern des Beters, der sich durch die Gewalt der Blutmänner zum Handeln und zum Widerstand veranlasst sieht (V. 21f. – Z. 12–14).313 Der Psalm endet in V. 23f. (Z. 14–16) mit der Bitte, Jahwe möge den Beter erforschen und erkennen und ihn auf ewigem Wege führen.
Von dem in 11QPsa anschließenden Ps 137 sind lediglich Teile von V. 1 in Kol XX,17 und V. 9 in Kol XXI,1 erhalten. Ps 137 führt das Thema der Bedrängniserfahrung der vorhergehenden Psalmen fort, weitet es jedoch auf die Exilszeit Israels aus.314 V. 1–4* zeichnen die Szenerie der nach Babylon deportierten Israeliten, die fern ihrer Heimat voll Trauer an Zion denken. Mit V. 5* ändert sich die Sprecherperspektive und es ist nun ein individueller Beter, der seine Rede direkt an Jerusalem richtet (V. 5–6*). Dabei 312
Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 721ff. Vgl. BALLHORN, Telos, 270; ZENGER, Gott der Rache, 80–88. 314 Vgl. SEYBOLD, Psalmen, 509; BALLHORN, Telos, 259.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
belegt er sich mit Selbstverwünschungen für den Fall, dass er Jerusalem je vergessen sollte. Im letzten Teil des Psalms (V. 7–8*+9 – Kol XXI,1) wird wiederum die Sprechrichtung gewechselt und nun ist Jahwe der direkt Angesprochene. Der Psalmist bittet ihn, er möge Jerusalems gedenken (V. 7*). Der Wunsch nach Vergeltung beendet den Psalm (V. 9 – Kol XXI,1).
Die in Plea for Deliverance und in Ps 139 geschilderte Bedrängnis des Beters kommt in Ps 137 zu ihrem Höhepunkt. Die Bitten um Vergeltung und die Einforderung von Gerechtigkeit durch den Psalmisten verstärken diesen Eindruck. Auf Ps 137 folgt in Kol XXI,1–10 der vollständig erhaltene Davidpsalm 138. Dieser letzte Psalm der Abfolge ist anders als seine Vorläufer ein „Dank- und Bekenntnisgebet“315. In dieser neuen Position in 11QPsa wirkt Ps 138 wie eine Antwort auf seine Vorgängerpsalmen.316 Er beginnt mit dem Vorhaben des Beters, Jahwe von ganzem Herzen zu preisen, ihm zu spielen und vor ihm niederzufallen (V. 1f. – Z. 1–4). Der Grund für diesen Dank wird in V. 3 (Z. 4f.) in aller Kürze genannt: Der Beter rief und Jahwe erhörte ihn und gab ihm Kraft. Es bleibt allerdings nicht allein beim Lob des Beters, denn in V. 4f. ist von allen Königen der Erde die Rede, die sich in den Hymnus einreihen werden. Die einzige Voraussetzung dafür ist ihr Hören der Worte aus Jahwes Mund, d.h. der Tora317 (Z. 5f.). Der Beter preist die Erhabenheit Gottes, der in seiner Größe sowohl die Armen und Niedrigen als auch die Hohen und Stolzen sieht (V. 6 – Z. 7). Indem er erhöht und erniedrigt, übt er zugleich sein Richteramt aus.318 Am Ende des Psalms bekennt sich der Beter zu Jahwe, der ihn belebt und ihn mit starker Hand aus der Not rettet (V. 7 – Z. 7–9). Er bittet Gott, seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen treu zu bleiben (V. 8 – Z. 9f.).
Zusammenfassung: Markante Stichwortverbindungen zwischen den einzelnen Psalmen dieser Sammlung von Bitt- und Klagepsalmen in Kol XVIII–XXI fehlen.319 Feststellen lassen sich allerdings kleinere thematische Verflechtungen. Den Auftakt der Sammlung bildet syr Ps II mit seinem Aufruf zum Lob der Macht und Herrlichkeit Gottes. Das Lob der חסדJahwes wird im folgenden Psalm Plea for Deliverance fortgesetzt. Zugleich leitet die Bitte um Schutz vor Bösem in den letzten Versen dieses Psalms über zum anschließenden Davidpsalm 139, der seinerseits das Thema der Feindbedrohung fortschreibt. Der Beter bittet hierin den Schöpfergott um Vernichtung seiner Bedränger, die gleichermaßen Gottes Feinde sind. Die Klage wird in Ps 137 315
HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 705. Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 299; BALLHORN, Telos, 267. 317 Vgl. BUYSCH, Der letzte Davidpsalter, 38. 318 Vgl. BALLHORN, Telos, 267. 319 syr Ps II baut sogar eher zu seinem Vorgängerpsalm 145 in Kol XVIf. thematische und motivliche Bezüge auf (vgl. z.B. להודיעin syr Ps II Kol XVIII,2.3.4.12; Ps 145,12*; כבודin syr Ps II Kol XVIII,3; Ps 145 Kol XVI,14; מעשׂיםin syr Ps II Kol XVIII,4; Ps 145 Kol XVI,13 und Kol XVII,3.10). DAHMEN strukturiert die Psalmen der Bitt- und Klagesammlung paarweise, vgl. Psalterrezeption, 296. 316
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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als Klage des Volkes Israel in Babylon wieder aufgenommen und verbunden mit der Bitte um Vergeltung der Zerstörung Jerusalems. Die beiden Klagepsalmen Ps 139 und 137 erhalten durch den Dank für die erfahrene Rettung und Stärkung in Ps 138 einen Abschluss. Durch diese Psalmenabfolge – Ps 139 (Klage) → Ps 137 (Klage) → Ps 138 (Dank) – wird ein „geradlinigerer Verlauf als im MT erreicht“320. 7. Sir 51 – Apostrophe to Zion – Ps 93 Die nächste Psalmenabfolge in 11QPsa besteht aus dem Weisheitslied Sir 51,13–30 (Kol XXI,11–Kol XXII,1), der vorher unbekannten „Apostrophe to Zion“ (Kol XXII,1–15) und Ps 93 (Kol XXII,16f.). Der hebräische Text Sir 51,13ff.30 ist neben 11QPsa (Sir 51, 13–19 = Kol XXI, 11–17; Sir 51,30 = Kol XXII,1) nur noch im mittelalterlichen Handschriftenfragment MS B aus der Geniza der Esra-Synagoge in Kairo erhalten.321 Das Lied auf die Weisheit ist als Alphabetakrostichon gestaltet, womit zugleich die Lebenserfahrung des weisen Lehrers ausgedrückt wird.322 Dieser Weise besingt sein Streben und seine Suche nach der Weisheit in der Jugend und schildert, wie er sie schließlich fand. Dabei verwendet er besonders in V. 13–21 mehrere Liebesmotive. J.A. Sanders hat aufgezeigt, wie mehrdeutig die eingesetzte Motivik ist. Sprachlich komme das Weisheitslied einem erotischen Lied sehr nahe.323 Die Doppeldeutigkeit der hebräischen Fassung von Sir 51,13ff. wird in fast jedem Vers deutlich. So können beispielsweise die Substantive ( רגלFuß – Kol XXI,13) und ( ידHand – Z. 17) als Euphemismus für die Schamteile dienen (vgl. z.B. Ex 4,25; Ri 3,24; Jes 7,20; 57,8) und das Verb ( ידעerkennen – Z. 13) die Bedeutung „Geschlechtsverkehr haben“ implizieren (vgl. z.B. Gen 4,1.17.25; 24,16; 1. Sam 1,19).324 Ein Vergleich der hebräischen und der griechischen Version von Sir 51,13ff. lässt erkennen, dass diese Doppeldeutigkeit des Qumrantextes in der LXX abgeschwächt ist. Die erotischen Motive des hebräischen Textes werden im Griechischen vergeistigt, sodass schließlich ein sehr geistlicher Text entsteht.325 320
LEUENBERGER, Pragmatik, 189. Vgl. KAISER, Apokryphen, 80; MARBÖCK, Weisheit im Wandel, 121ff. 322 Vgl. MARBÖCK, Weisheit im Wandel, 124. 323 Vgl. SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 112–117. Auf S. 114f. bietet Sanders eine Synopse, welche die Septuaginta-Version, den Qumrantext und eine englische Übersetzung enthält. 324 Vgl. SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 114f. + Anm. und 116f., dort auch weitere Beispiele. Vgl. auch MURAOKA, Sir. 51,13–30. 325 Auch die lateinische und syrische Übersetzung sowie MS B folgen hierin der LXX. Ob der griechische Übersetzer bewusst abschwächte oder ob eine abgemilderte hebräische Über321
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Auffällig ist fernerhin das Fehlen jedweder theologischer Interpretation von Weisheit in Sir 51,13ff.326 Zudem scheint die Einflechtung dieses Textes, der die (Liebes-)Beziehung zwischen dem Weisen und der Weisheit besingt, in die davidisch geprägte Psalmenrolle 11QPsa zunächst unpassend. Jedoch hat schon die Analyse des Prosatextes DavComp gezeigt, dass auch König David als weise und scharfsinnig charakterisiert wird. Das sind Charakterzüge, die ebenfalls das biblische Davidbild prägen (vgl. 2. Sam 14,20; 23,2). Daher lässt sich Sir 51,13ff. außerordentlich gut in die Reihe der Kompositionen in 11QPsa einordnen.327 Die anschließende „Apostrophe to Zion“ ist ebenfalls als Alphabetakrostichon gestaltet328 und in Kol XXII,1–15 vollständig erhalten. Neben 11QPsa belegen auch 11QPsb Frag. 6 und 4QPsf Kol 7f. diesen Psalm.329 Ein Vergleich der Textformen in 4QPsf und in 11QPsa zeigt mehrere Varianten auf und es wird ersichtlich, dass in 11QPsa aramäischer umgangssprachlicher Einfluss durch hebräische Formen ersetzt wurde. Damit erweist sich die Textform aus 11QPsa gegenüber der aus 4QPsf als sekundär.330 Apostrophe to Zion ist ein Gebet, das nicht an Jahwe, sondern an Jerusalem gerichtet ist. Das sehr stark biblisch beeinflusste Gebet (vgl. ähnliche Gebete in Jes 54,1–8; 60,1–22; 62,1–8) lässt sich in drei Strophen aufteilen: V. 1–6 (Z. 1–6), V. 7–13 (Z. 6–11) und V. 14–18 (Z. 11–15).331 Die erste Strophe beginnt mit der liebevollen Erinnerung des Beters an Zion (V. 1 – Z. 1f.). In direkter Anrede versichert er der Stadt, dass Frieden und die langersehnte Erlösung kommen werden (V. 2 – Z. 2f.). Generationen werden in ihr wohnen und sich ihrer Pracht und Herrlichkeit erfreuen (V. 3–6 – Z. 3–6). Die zweite Strophe bedenkt das Leid und die Misere, die Zion widerfahren sind, und äußert die Hoffnung auf Erlösung, die ihre Kinder niemals aufgegeben haben (V. 7–10 – Z. 6–9). Der Beter sehnt sich danach, dass allen nach ihren Taten vergolten wird und die Feinde Zions vernichtet werden (V. 11–13 – Z. 9–11). Die letzte Strophe des Gebets preist Zion und verkündigt die Erfüllung der Gebete, die seine Propheten für die Stadt gesprochen haben, sodass Zion schließlich verherrlicht und vom Höchsten gesegnet sein wird.
In der direkten Anrede Zions führt dieser Psalm das Thema aus Ps 137 (Kol XXf.) fort. Während den Beter in Ps 137 noch das Schicksal Jerusalems zur Klage veranlasste, ist es nun in Apostrophe to Zion die erwartete Erlösung
setzungsvorlage vorhanden war, lässt sich nicht mehr mit Eindeutigkeit feststellen. Vgl. SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 113.116. 326 Vgl. MARBÖCK, Weisheit im Wandel, 124f. 327 Vgl. auch SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 112f. 328 Zum parallelen Aufbau der beiden Akrosticha Sir 51,13–30 und Apostrophe to Zion vgl. SEGERT, Parallelism, 271f. 329 Vgl. GARCÍA MARTÍNEZ, DJD 23, 44f.; ULRICH, DJD 16, 85–106, bes. 96–102. 330 Vgl. dazu STARCKY, Psaumes apocryphes. 331 Vgl. SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 123.
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der geplagten Stadt, die ihn mit Freude erfüllt.332 Die Einordnung dieser Neukomposition in 11QPsa zeigt deutlich die Loyalität der Qumranfrommen gegenüber der Stadt Jerusalem, auch wenn sich die Gemeinschaft vom dortigen Tempelkult abgesondert hat.333 Zugleich drückt der Psalm die Hoffnung der Qumranfrommen auf die eschatologische Erlösung der Stadt aus, die sich darin zeigen wird, dass die צריםund ( משׂנאיםFeinde und Hasser V. 13 – Z. 11) vernichtet und sich die ( חסידיםV. 3.6 – Z. 3.6) an ihrer Herrlichkeit erfreuen werden (vgl. dazu auch Exkurs III). Ein ganz anderes Thema als in Sir 51 und Apostrophe to Zion bringt hingegen der in Kol XXII,16f. folgende Ps 93 zur Sprache. Hierin geht es weder um die Weisheit noch um die Stadt Jerusalem, sondern um das Königtum Jahwes. Als einziger der Jahwe-König-Psalmen (Ps 93–100) hat Ps 93 in 11QPsa Eingang gefunden. Zudem ist dieser Psalm der einzige aus dem Textbereich vor Ps 101 stammende Text in der Psalmenrolle. Von den fünf Psalmenversen ist allein der erste vollständig erhalten geblieben, von V. 2f. sind noch Reste am unteren Teil von Kol XXII vorhanden. Inhalt dieses Psalms ist die majestätische Herrschaft Jahwes als König (V. 1 – Z. 16f.), die Beständigkeit und Ewigkeit seiner Regentschaft (V. 5*) sowie – davon abgeleitet – die Stabilität des Erdkreises (V. 1f. – Z. 16f.), der immerzu Bedrohungen ausgesetzt ist (V. 3f.*). Betrachtet man den erhaltenen Textbestand, fällt besonders das einleitende הללויהauf, das in der Texttradition des Psalms einzigartig ist.334 Dieses הללויה, das die Aussage des ersten Verses „Jahwe ist (herrscht als) König“ einleitet und unterstreicht, macht aus ihr einen Lobausruf. Dem ersten Anschein nach wirkt Ps 93 in der Anordnung von 11QPsa deplatziert. Das Ziel, auf das der Psalm zuläuft, ist das Bekenntnis zu Jahwes zuverlässigen Geboten und die Einsicht, dass dem Gotteshaus ewiglich Heiligkeit gebührt (V. 5*).335 Blickt man auf die Neuanordnung des Wallfahrtspsalters (Ps [120]–132.119) und die Minderung von Ansehen und Bedeutung des Tempels als Ort der Erfahrbarkeit Jahwes in Ps 104, so erscheint die Parallelisierung von עדותund ביתin V. 5 – verglichen mit den bisherigen Aussagen der Psalmenrolle – nicht vereinbar. Behält man jedoch im Auge, dass die Gemeinschaft der Qumranfrommen im Rahmen ihrer Eschatologie mit einem neuen, von Jahwe selbst erbauten Heiligtum rechneten, das durch Reinheit und Heiligkeit geprägt sein wird (vgl. 4QFlor I,1–7), beweist sich Ps 93 als in der Psalmenrolle keineswegs fehl am Platz. Vielmehr schließt er gut an die Komposition „Apostrophe to Zion“ an, die auf die eschatologische
332
Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 300. Vgl. SCHIFFMAN, Apostrophe to Zion, 18. 334 Vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 210. 335 Vgl. BALLHORN, Telos, 88; SPIECKERMANN, Heilsgegenwart, 184. 333
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Erlösung Jerusalems hofft. Das einleitende Lob auf Jahwes Königsherrschaft in Ps 93,1 (Kol XXII,16) unterstreicht diese Hoffnung. Zusammenfassung: Das Weisheitslied Sir 51 besingt unter Verwendung einer von Liebesmotivik geprägten Sprache das Streben nach Weisheit. Mit diesem Weisheitstext ist die anschließende Apostrophe to Zion lediglich über die akrostichische Form verbunden – ein Kennzeichen weisheitlicher Texte.336 Dieses Gebet drückt die Hoffnung auf Errettung und Verherrlichung Jerusalems aus. Schließlich fügt sich daran Ps 93 an, der das Lob auf Jahwes Königtum im Tempel artikuliert. 8. Ps 141 – 133 – 144 – syr Ps III – Ps 142 – 143 An Ps 93 reihen sich Ps 141 – 133 – 144 – syr Ps III – Ps 142 – 143 in Kol XXIII–XXV. Inhaltlich dominiert diese Psalmen hauptsächlich die Bitte um Erlösung. Zudem wird in Ps 141 – 144 – 142 – 143 Jahwe als Zuflucht des Beters beschrieben, eine Charakterisierung Gottes, die in 11QPsa weder vor dieser Psalmenanordnung noch nachher zu finden ist.337 Den Auftakt der Gruppe macht das „weisheitliche Klage- und Bittgebet“338 Ps 141, von dem noch V. 5–10 in Kol XXIII,1–6 erhalten sind. In V. 1* fleht der betende David, Jahwe möge herbeieilen und seine Bitten erhören. Gott soll das Gebet als gleichwertiges Opfer anerkennen (V. 2*) und den Beter vor den Versuchungen durch die Feinde bewahren (V. 3f.*). Der weisheitlichen Pädagogik zugehörig erweist sich in V. 5 (Kol XXIII,1f.) die Züchtigungsaufforderung des Psalmisten, der sich selber zur Gruppe der Gerechten zählt.339 Diese Gruppe befindet sich in einer akuten Notsituation und sogar in Todesgefahr, welche besonders V. 7 (Z. 3f.) anschaulich schildert. Schließlich endet der Psalm mit der Versicherung des Gottvertrauens des Beters, der Bitte um Schutz vor den Provokationen der Feinde und dem Wunsch nach Bestrafung dieser Frevler (V. 8–10 – Z. 4–6).
Nach der Notschilderung der Gruppe der Gerechten in Ps 141,7 (Z. 3f.) wirkt der in 11QPsa an Ps 141 anschließende Ps 133 (Kol XXIII,7–11) wie das Aufzeigen eines Auswegs aus dieser Bedrängnis durch die Gegner. Ps 133, der im PMT zum Wallfahrtspsalter gerechnet wird, ist eine Schilderung des einträchtigen Zusammenlebens von Brüdern als יחד. Insbesondere V. 3 (Z. 9–11) hat in der Textform von 11QPsa tiefgreifende Modifikationen erfahren: PMT: כטל־חרמון שׁירד על־הררי ציון כי שׁם צוה יהוה את־הברכה חיים עד־העולם 336
Vgl. WILSON, Comparison, 462. Vgl. WILSON, Comparison, 462f. 338 HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 746. 339 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 748f.
337
71
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
11QPsa: כטל חרמון שלום על ישראל
עד עולם
ציון כי שמה צוה יהוה את הברכה
שיורד על הר
PMT: Wie der Tau des Hermon, der auf die Berge Zions herabfließt, denn dort hat Jahwe den Segen befohlen, Leben bis in Ewigkeit. 11QPsa: Wie der Tau des Hermon, der auf den Berg Zion herabfließt, denn dorthin hat Jahwe den Segen befohlen bis in Ewigkeit. Friede über Israel. Neben der Verwendung der singularischen Form ( הר ציוןvgl. z.B. 125,1 – Kol IV,3), die wohl als stilistische Angleichung zu werten ist, und der Veränderung von שׁםzu שׁמה, ist der umgestaltete Versschluss die bedeutendste Textabwandlung des Psalms. M. Millard und U. Dahmen verstehen die Änderung der Segensformel von der Kriegsrolle 1QM her und lesen diese Zufügung im Zusammenhang mit dem in 11QPsa auf Ps 133 folgenden Ps 144 (Kol XXIII,12–17 + XXIV,1f.). Dieser Psalm lobt in V. 1 Jahwe, den Unterweiser im Kriegshandwerk. Verbunden mit den Aussagen vom endzeitlichen Krieg in 1QM bezeichnet die modifizierte Segensformel in Ps 133,3 daher „de[n] endzeitliche[n] Friede[n], der der großen Schlacht Gottes folgt“340. Ps 133 ist durch seine neue Platzierung in 11QPsa in Kol XXIII,7–11 zum Gegenbild von Ps 141 geworden.341 Dies drückt besonders die antagonistische Verwendung des Stichworts יחדaus. Während יחדin Ps 141,10 (Kol XXIII,6) negativ im Zusammenhang mit dem Ergehen der Feinde des Beters gebraucht wird, beschreibt es schon im darauffolgenden Vers (d.i. Ps 133,1 – Z. 8) das harmonische und einträchtige Beisammensein von Brüdern. Fernerhin sind die beiden Psalmen auch über die Stichworte שׁמן, „( רואשׁÖl auf dem Kopf“ in Ps 141,5 – Z. 1 und Ps 133,2 – Z. 8) sowie die Wurzel ( נעםPs 141,6 – Z. 3 und 133,1 – Z. 8) miteinander verbunden. Auf Ps 133 folgt in Kol XXIII,12–17 und Kol XXIV,1f. der Bitt- und Klagepsalm 144, von dem noch V. 1–7.15 erhalten sind. Ps 144, der eine Relecture von Ps 18 darstellt,342 wird durch eine Benediktion, die der königliche Beter an Jahwe richtet, eröffnet (V. 1f. – Z. 12–14).343 Der König preist Gott, der den Beter das Kriegshandwerk lehrt und ihm Festung und Zuflucht ist. Dieser göttlichen Souveränität stehen in V. 3f. (Z. 14f.) Nichtigkeit und Vergänglichkeit des Menschen kontrastierend gegenüber. In V. 5–7.8* (Z. 15–17) bittet der Beter, Jahwe möge ihn mittels einer kosmischen Theophanie (vgl. Ps 18,8–16) aus seiner Bedrängnis erretten. Daran schließt das Versprechen an, Gott, der Könige rettet und David befreit (V. 10*), ein neues Lied ( – שׁיר חדשׁV. 9*) zu singen. Der erste Teil des Psalms (V.1–11) erweist sich als ein 340
MILLARD, Komposition des Psalters, 221; vgl. auch DAHMEN, Psalmentext, 117; DAHMEN, Psalterrezeption, 214f. 341 Vgl. KLEER, Sänger, 314 Anm. 1. 342 Vgl. BALLHORN, Telos, 277; vgl. auch MATHYS, Dichter und Beter, 262–266. 343 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 777.780f.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Königslied, das sich zwar an die Königsdarstellung von Ps 18 anlehnt, diese jedoch verändert und das Bild eines Herrschers zeichnet, der vergänglich und auf Gottes Hilfe angewiesen ist.344 Mit V. 12* beginnt ein im Wir-Stil gehaltenes Segensbekenntnis345, das den Wohlstand der betenden Gruppe beschreibt (V. 12–14*), bevor der Psalm mit zwei Makarismen über das Volk Gottes (V. 15 – Kol XXIV,1f.) endet. Diese Erweiterung des Psalms um die Volksperspektive in V. 12–14*+15 (Kol XXIV,1f.) lässt erkennen, dass das Ziel des Psalms im Wohlergehen des Volkes zu sehen ist. Dementsprechend haben auch die Bitten um Errettung des Königs in V. 5–7+8*.11* (Kol XXIII,15–17) den Zweck, das Heil des Volkes zu sichern.346
Eine der bemerkenswertesten Textvarianten von Ps 144 in 11QPsa ist das Entfallen der Zuschreibung des Psalms an David in V. 1PMT. Die Psalmenabfolge Ps 141 – 133 – 144 – syr Ps III – Ps 142 – 143 enthält jedoch mit Ps 141, 133, 142f. vier Davidpsalmen347, sodass Ps 144 in diese Sammlung eingebunden und die Zuschreibung an David implizit enthalten ist.348 Der in 11QPsa an Ps 144 anschließende syr Ps III (Ps 155 – Kol XXIV,3– 17), der ebenfalls ohne Überschrift steht, ist ein Danklied mit eingebetteter Klage. In Sprache und Inhalt orientiert er sich an biblischen Psalmen (vgl. Ps 22; 51).349 Der Beter, der sich seiner Sünden bewusst ist (V. 8.12 – Z. 6f.11), ruft zu Jahwe und bittet um Erhörung (V. 1–5 – Z. 3–5). Der göttliche Richter der Wahrheit ( דין האמתV. 7 – Z. 6) möge ihn von seinen Sünden und allem Bösen erlösen und gnädig mit ihm sein. Der Beter fleht um Belehrung durch die Gesetze Jahwes (תורה, משׁפטV. 9 – Z. 8), denn so könnten die Taten Gottes in den Völkern verkündet werden (V. 10 – Z. 9). In V. 15–19 (Z. 13–17) dankt der Psalmist für die Erhörung seiner Bitten.
syr Ps III baut mehrere Stichwort- und Motivverbindungen zu seinen Nachbarpsalmen auf, sodass er sich gut in seinen neuen Kontext einfügt.350 Mit seinem Vorgängerpsalm 144 verbindet syr Ps III das Motiv der Niedrigkeit und Machtlosigkeit des Menschen gegenüber Jahwe (Ps 144,3f. – Kol XXIII,14f. und syr Ps III,16 – Kol XXIV,14f.). Überdies besteht eine Entsprechung zwischen syr Ps III,8 und dem noch folgenden Ps 143,2.351 Im Anschluss an syr Ps III stehen die beiden thematisch eng aneinandergebundenen Ps 142 (Kol XXV,1–5) und Ps 143 (Kol XXV,6–15), die gleichzei344
Vgl. MATHYS, Dichter und Beter, 266; SAUR, Königspsalmen, 257f. Vgl. SEYBOLD, Formen der Textrezeption, 281. 346 Vgl. SAUR, Königspsalmen, 265ff. 347 Die Zuschreibung לדוידist textlich nur noch in Ps 133 (Kol XXIII,7) und Ps 143 (Kol XXV,6) erhalten. 348 Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 216. 349 Vgl. SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 109. 350 Vgl. WACHOLDER, David’s Eschatological Psalter, 54f. 351 Zum syr Ps III vgl. z.B. SANDERS, Two Non-Canonical Psalms; AUFFRET, Psaume 155. 345
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
73
tig die Sammlung von Klagepsalmen in Kol XXIII–XXV zu Ende führen. Das Klagelied Ps 142 enthält in V. 1, der in 11QPsa nicht mehr vorhanden ist, eine ausführliche Überschrift mit historischem Bezug zur Biographie Davids. Thematik und Motivik der vorausgehenden Psalmen werden auch in diesem Psalm fortgesetzt. Der Beter, der sich in großer Not und Einsamkeit befindet (V. 4f. – Kol XXV,1f.), schreit zu Jahwe und richtet seine Klage an ihn (V. 2f.*). Er ist sich bewusst, dass er in seinem Leiden seine Hoffnung allein auf Jahwe setzen kann, der ihm Zuflucht ist ( מחסהV. 6. – Z. 2f.; vgl. Ps 141,8 – Kol XXIII,4 und Ps 144,2 – Kol XXIII,13f.). Daher bringt er drei Bitten um Errettung und Erhörung vor Gott (V. 7f. – Z. 3–5).
Im nächsten Ps 143 (Kol XXV,6–15) geht es ebenfalls um die Not und Bedrängnis des Beters durch seine Feinde. Seine Widersacher bringen ihn immer wieder in Todesgefahr (V. 3–6 – Z. 8–12), darum bittet der Psalmist Jahwe um Errettung (V.1f. – Z. 6–8 und V. 7f.+9* – Z. 13–15). Schließlich wird in V. 10–12*, die in Form eines Bekenntnisses gestaltet sind, die Rettung des Beters durch Jahwe angesagt.
Über das Motiv des verzagenden Geistes (Ps 142,4* und 143,4 – Z. 10), des Weges (Ps 142,4* und 143,8 – Z. 14f.) sowie des Herausführens des Beters aus dem Gefängnis/der Bedrängnis (Ps 142,8 – Z. 4f. und Ps 143,11*) sind die Nachbarpsalmen 142 und 143 mehrfach miteinander verbunden. Die eröffnende Bitte um Erhörung spannt einen Bogen zu Ps 141, der die Sammlung der Klagepsalmen einleitet (vgl. Ps 141,1*; 142,2*; 143,1 – Kol XXV,6f.).352 Zusammenfassung: Zentrales Thema der Psalmengruppe Ps 141 – 133 – 144 – syr Ps III – Ps 142 – 143 ist die Bitte um Erlösung. Ps 141 setzt ein mit dem Flehen um Bewahrung des Beters und der Gruppe der Gerechten vor den Feinden, woran Ps 133 als „zionstheologische[…] Segenszusage brüderlichen Zusammenlebens“353 anschließt. Darauf folgen in Ps 144 ein an Jahwe gerichtetes Königslied und das Gebet des Königvolkes. Auch in syr Ps III ruft der Psalmist und erbittet Gebetserhörung sowie Belehrung durch das Gesetz Jahwes (syr Ps III), bevor die Psalmengruppe mit Ps 142f. endet. In diesen beiden letzten Psalmen schreit der Beter in Not (Ps 142) und Todesgefahr (Ps 143) zu Gott und ist sich dabei immer bewusst, dass allein Jahwe ihn retten kann. Die Zuordnung der in Kol XXVI folgenden Komposition Ps 149 – 150 – Hymn to the Creator lässt sich nicht eindeutig bestimmen. Während direkte Bezüge zwischen den Sammlungen Ps 141–143 und Ps 149-Hymn fehlen, klingen Ps 149f. wie ein Dankgebet auf die erflehte und nun erhaltene göttli-
352 353
Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 771. LEUENBERGER, Pragmatik, 190.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
che Rettung. Die vorliegende Untersuchung geht von einer Zäsur zwischen Ps 143 und Ps 149 aus.354 9. Ps 149 – 150 – Hymn to the Creator Nach Abschluss der Gruppe der Klagepsalmen kehren Ps 149f. (Kol XXVI,1–8) wieder zurück zum Gotteslob. Dabei thematisiert der eschatologische Hymnus Ps 149, von dem in 11QPsa lediglich V. 7–9 in Kol XXVI,1–3 erhalten sind, die endgültige Manifestierung der Königsherrschaft Jahwes. Im PMT stellt der Psalm intertextuelle Bezüge insbesondere zu den Jahwe-König-Psalmen 93–100 (v.a. Ps 96 und 98) sowie zu Ps 145–148 her.355 Ps 149 beginnt im PMT mit dem rahmenden Halleluja, dem der Aufruf an die קהל חסידים (Versammlung der Frommen) folgt, Jahwe ein neues Lied zu singen (V. 1*). Damit spielt er auf Jes 42,10; Ps 96,1 und Ps 98,1 an. Israel bzw. die Kinder Zions sollen sich über ihren Schöpfer und König freuen (V. 2*) und ihm tanzen und aufspielen (V. 3*), denn er hat die ( ענויםdie Armen/Demütigen) gerettet (V. 4*). Reigentanz und Instrumentalspiel sind Ausdruck des Danks und des Lobes Jahwes nach erfahrener Rettung aus Bedrängnis (vgl. z.B. Ex 15; Ri 5; 1. Sam 18,6; Ps 9,12f.; 18,50f.; 27,6; 28,7; 68,5–7). Des Weiteren zeigen Ps 95,1–3; 98,4–6 und 150 auf, dass mit Tanz und Gesang Jahwes Königsherrschaft gepriesen wird. Auch Ps 149 erweist sich als „eine Aufforderung zum Dank für wunderbare Rettung aus tödlicher Bedrohung und zum Jubel über JHWHs universale und kosmische Königsherrschaft“356 (vgl. auch V. 2.4*). Der zweite Psalmteil (V. 5–9) ist geprägt von der Verwendung mehrerer Kriegs- und Rachebilder. Jedoch will Ps 149 kein Aufruf zur Vernichtung der Völker durch Israel sein. Unübersehbar ist zwar der Einfluss der Vorstellung eines endzeitlichen Strafgerichts Jahwes, bei dem er seine universale Königsherrschaft manifestiert (vgl. z.B. Jes 13f.; 34,1–17; Ez 38f.; Sach 9–12). Jedoch spricht der Psalm nicht von Vernichtung der Könige und Edlen, sondern von ihrer Fesselung (vgl. V. 8 – Z. 1f.). Zudem besteht Israels Aufgabe nicht darin, Rache zu üben, sondern darin, Jahwe zu loben. Israels Lobgesänge werden ihre Macht entfalten und dadurch zum Instrument der Durchsetzung von Gottes Rechtsordnungen werden (V. 5f.*; vgl. auch Jes 49,2; Ps 52,4; 55,22 u.a.).357 V. 7–9 (Z. 1–3) entfalten, wie sich diese Rechtsordnungen in einem Strafgericht Jahwes durchsetzen werden. Ziel wird es sein, zu züchtigen ( תוכחותV. 7 – Z. 1) und Recht zu üben ( עשׂה משׁפטV. 9a – Z. 2). In diesem Zuge werden die Könige und Machthaber gefesselt werden (V. 8 – Z. 1f.), jedoch nicht zum Zweck ihrer Vernichtung. Denn es ist ein Sieg,
354 So auch LEUENBERGER, Pragmatik, 190. Von einer anderen Zuordnung gehen DAHMEN, Psalterrezeption, 301ff. und WACHOLDER, David’s Eschatological Psalter, 55 aus. WILSON, Comparison, 462f. sieht in Ps 149–150-Hymn einen Abschluss der vorhergehenden Klagesammlung. 355 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 860f. 356 HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 864. 357 Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 866ff.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
75
der „zur Anerkennung Jahwes, zum Bekenntnis und zum Lobpreis [führt] (vgl. [Jes] 45,22–24 sowie 60,14)“358.
Zu diesem Lobpreis auf Gottes Machttaten und seine Größe ruft der folgende Ps 150 in kunstvoller Gestaltung auf (Kol XXVI,4–8). Aller Atem (V. 6 – Z. 7f.) wird zum universalen Gotteslob, unterstützt und verstärkt durch verschiedene Instrumente, aufgerufen. Dabei lässt die Aufzählung der Musikinstrumente in V. 3–5 (Z. 5–7) eine Bewegung vom Allerheiligsten des Tempels hin in profane Bereiche erkennen.359 Die Abfolge der Klangmittel beginnt mit dem Schofar (V. 3a – Z. 5), einem Instrument, das u.a. bei der Ausrufung eines neuen Königs eingesetzt wird (vgl. 2. Sam 15,10; 1. Kön 1,34.39.41; 2. Kön 9,13) und dessen Signalton ebenfalls die Königsherrschaft Jahwes verkündigt (vgl. Ps 47,6; 98,6). Als Lärminstrument mit einem schrillen und lauten Ton wird der Schofar besonders nahe an den Bereich des Göttlichen herangerückt.360 Danach werden Harfe und Leier ( נבלund כנורV. 3b – Z. 6) genannt, welche die Leviten zur Begleitung bei der Tempelmusik verwendeten (vgl. 1. Chr 15,16; 16,5; 25,6; 2. Chr 5,12ff.). Schließlich begleiten in V. 4f. – Z. 6f. Tamburin ()תוף, Saiten ()מן, Flöte ( )עוגבund Zimbeln ( )צלצלdas Lob im Reigentanz. Diese Bewegung vom Tempel hin ins Profane erreicht ihren Höhepunkt im Gotteslob durch alle Menschen.
Ps 149 und 150 sind hauptsächlich durch die Stichworte במהול בתף וכנורin Ps 149,3* und 150,3f. (Z. 6) sowie אלin 149,6* und 150,1 (Z. 4) miteinander verbunden. Im PMT bilden diese beiden Psalmen den Abschluss des sog. Kleinen Hallels bzw. Schluss-Hallels Ps 146–150 und damit das Ende des protomasoretischen Psalters. Da Ps 146–150 anhand zahlreicher Motive und Stichworte aufeinander bezogen und miteinander verknüpft sind, ist davon auszugehen, dass diese Psalmengruppe eigens als „fünfteiliger HallelujaZyklus“361 und folglich als Abschluss des protomasoretischen Psalters komponiert wurde. Dieser Zusammenhang der fünf Schlusspsalmen im PMT ist in der Psalmenrolle 11QPsa aufgehoben. Ps 149 erhält in 11QPsa in V. 9 (Z. 3), noch vor dem abschließenden הללו יה, folgenden Zusatz: ( לבני ישׂראל עם קודשׁוvgl. die Parallelität zu Ps 148,14*). Diese Ergänzung ist die Näherbestimmung der „ לכול חסידיוalle seine Frommen“. Sie sind „die Kinder Israels, das Volk seiner Heiligkeit“. Die חסידיםgehörten vermutlich zu einer Weisheitsbewegung aus dem 3. Jh. v. Chr., die sich von der priesterlichen Hierarchie abgrenzte, sich besonders mit der Eschatologie der Propheten auseinandersetzte und durch eine entschiedene Gesetzestreue und –strenge auszeichnete.362
358
FÜGLISTER, Ein garstig Lied, 97. Vgl. auch zum Folgenden HARTENSTEIN, Musikinstrumente, bes. 116ff.; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 878ff. 360 Vgl. HARTENSTEIN, Musikinstrumente, 120. 361 ZENGER, Alles Fleisch, 16; vgl. auch MILLARD, Komposition des Psalters, 144f.; WILSON, Editing, 226–228. 362 Vgl. HENGEL, Judentum und Hellenismus, 322.325. 359
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Da die חסידיםin der weiteren Qumran-Literatur eher unbedeutend sind363, fällt es besonders auf, dass sie – neben den aus dem PMT übernommenen Psalmen (d.i. 148,14*; 132,9.16 – Kol VI,1.8; 145,10*; 149,1*.5*.9 – Kol XXVI,3) – in vier der außerbiblischen Psalmen genannt werden, nämlich in syr Ps II,12 (Kol XVIII,10), Plea for Deliverance (Kol XIX,7), Apostrophe to Zion (Kol XXII,3.6) sowie syr Ps III,21* (Kol XXIV). Bereits im PMTPsalter bilden die חסידיםeine Sondergruppe, die den Anspruch erhebt, das wahre Israel zu sein, und dadurch in Konfrontation zum Rest Israels steht.364 Auch ihre Charakterisierung in den vier außerbiblischen Psalmen scheint dieses Bild und ihren Anspruch zu unterstützen. Die קהל חסידיםhält Mahlgemeinschaft und meditiert über die Weisheit und Gottes Gesetz. Außerdem wird ihr Gotteslob als gleichwertiges Brandopfer anerkannt (vgl. syr Ps II; s.o. S. 63f.). Jahwe krönt seine Frommen mit Gnade und Erbarmen (vgl. Plea; s.o. S. 64f.). Sie werden Zions Ruhm sein und sich an Zions Herrlichkeit erfreuen (vgl. Apostrophe; s.o. S. 68f.). Syr Ps III und der Zusatz zu Ps 149 charakterisieren die חסידיםüberdies als ישׂראלbzw. בני ישׂראלund עם קודשׁו, was ihren Anspruch, das wahre Israel zu sein, bekräftigt. Die Übernahme gerade dieser außerbiblischen Psalmen in 11QPsa lässt es als möglich erscheinen, dass die Gemeinschaft der Qumranfrommen sich mit den חסידיםidentifiziert oder zumindest ihren Anspruch übernommen haben könnte.365 Falls sich die Gemeinschaft der Qumranfrommen tatsächlich mit den חסידיםidentifiziert haben sollte, so ist die Bedeutung der Hinzufügung von Ps 149 nicht zu unterschätzen. Allein Lobpreis und Jubel in den Kehlen der ( חסידיםPs 149,5f.*), die hier als עם קודשׁוeingegrenzt und vom Rest Israels abgegrenzt werden (vgl. z.B. 4Q171 III,7f.; 4Q503,1–6,II,20; 11,3), sind für die Durchsetzung der Rechtsordnungen Jahwes und seines Königreiches notwendig. Damit käme es zu einer Neubestimmung des Israel, dessen sich Jahwe bei der Durchsetzung seines Königreiches bedient. Es sind die חסידים und damit die Qumranfrommen, die durch ihr Gotteslob zum Werkzeug Jahwes im eschatologischen Kampf werden.366 Die Psalmenrolle 11QPsa selbst unterstützt diese These. In dieser Komposition überwiegen Psalmen, die zum beständigen Lobpreis Jahwes aufrufen. Dadurch erhalten Gotteslob und Beachtung der Tora (vgl. die Abfolge Ps [120]–132.119) ihren zentralen Stellenwert im Widerstand gegen den Rest Israels und im Endgericht.
363
Belegt sind die חסידיםlediglich in 4Q175,14; 4Q377,2i8; 4Q380,2,5; 4Q408,3+3a,6; 4Q509,50,2; 4Q521,2ii+4,5 und 4,7; vgl. dazu ABEGG, Dead Sea Scrolls Concordance, 272. 364 Vgl. BALLHORN, Pragmatik des Psalters, 249. 365 Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 225f. 366 Vgl. auch ZENGER, Alles Fleisch, 19, der hier Ps 149 in seinem PMTKompositionszusammenhang Ps 145–150 interpretiert.
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
77
„Hymn to the Creator“ heißt die Komposition, die sich in Kol XXVI, 9– 15 an den ausladenden Aufruf zum Gotteslob aus Ps 150 anschließt. Dieser weisheitlich geprägte Schöpfungspsalm weist enge Beziehungen zu alttestamentlichen Texten auf. So bestehen etwa V. 7–9 (Z. 13–15) aus den Texten Jer 10,12–13 (51,15–16) und Ps 135,7.367 Hinzu kommen außerdem Gemeinsamkeiten mit weiteren Texten aus Qumran, besonders mit den Hodajot (vgl. z.B. המון מים רביםin V. 2 – Z. 9f. und 1QH II,16; שׁחר הכיןin V. 4 – Z. 11f. und 1QH IV,6).368 Das Loblied ist über die beiden Wurzeln ( גדלHymn V. 1 – Z. 9 und Ps 150,2 – Z. 5) und ( קדשׁzwei Mal in Hymn V. 1 – Z. 9 sowie in Ps 150,1 – Z. 4 und dem Zusatz in Ps 149,9 – Z. 3) mit seinen beiden Vorgängerpsalmen 149f. verbunden und fügt sich hierdurch einwandfrei in den Zusammenhang von 11QPsa ein.369 Dem Aufruf zum Gotteslob aus Ps 150 wird in Hymn to the Creator Folge geleistet und die Komposition stellt sich als Durchführung des Gotteslobes dar. Sie preist die Größe und Heiligkeit Jahwes (V. 1 – Z. 9), seine Treue (V. 3 – Z. 10f.) sowie sein Handeln als Schöpfer (V. 4f.7–9 – Z. 11f.13–15) und Ernährer alles Geschaffenen (V. 6 – Z. 13).370 Zusammenfassung: Durch ihren hymnischen Inhalt erweisen sich die Ps 149; 150 und Hymn to the Creator als Antwort auf die ausführlichen Bitt- und Klagepsalmen 141–143 (Kol XXIII–XXV).371 Hymn to the Creator vollendet dabei die Psalmenfolge, da er sich als umfassendes Lob des Schöpfergottes Jahwe gestaltet. Durch die schöpfungstheologische Thematik und das Gotteslob weist dieser Psalm zugleich auf die Halleluja-Sammlung Ps 104– 148 in Frag. E I – Kol II zurück und ist zudem die Durchführung des Gotteslobes, das in Ps 101,1 (Frag. ABC I,1) von David angekündigt war.372 Des Weiteren kommt die Komposition der Psalmen in 11QPsa an dieser Stelle zunächst zu einem Ende, da anschließend die davidische Rahmung 2. Sam 23,[1–]7 + DavComp folgt.373
367
Vgl. SANDERS, DJD 4, 89ff.; vgl. auch SEYBOLD, Hymnusfragment. Vgl. SANDERS, DJD 4, 90f.; DAHMEN, Psalterrezeption, 251. 369 Vgl. SKEHAN, Liturgical Complex, 203. 370 Vgl. auch SEYBOLD, Hymnusfragment, 201–204. 371 Vgl. LEUENBERGER, Pragmatik, 191. 372 Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 306. 373 Zu den Stücken 2. Sam 23,[1–]7 + DavComp vgl. die Analyse auf S. 13ff. JAIN gliedert die Texte an dieser Stelle anders. Sie sieht in Ps 150 wie im PMT und der LXX den Abschluss des Abschnitts oder der gesamten Komposition. Hymn to the Creator könnte dann „ein isoliertes Element innerhalb eines Anhangs [… oder] auch der Auftakt des auf Ps 150 folgenden Segments sein“, Psalmen oder Psalter, 259. 368
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
10. Ps 140 – 134 – 151 A und B Die Kompositionen 2. Sam 23,[1–]7 + DavComp in Kol XXVII,1–11 bilden noch nicht den Schluss der Psalmenrolle. Es folgen die Bitt- und Lobpsalmen 140 – 134 – 151 A und B (Kol XXVII,12 – Kol XXVIII,14). Ps 140, von dem in Kol XXVII,12–15 noch V. 1–5 erhalten sind, ist ein Bittgebet eines Einzelnen, das David zugeschrieben wird. Der Beter bittet Jahwe um Errettung vor den Feinden, die böswillig gegen ihn reden und ihn zu Fall bringen wollen (V. 3f.6* – Z. 13–15). Gemäß dem Tun-Ergehen-Zusammenhang soll es den Feinden so ergehen, wie sie es gegen den Beter ersinnen (V. 10–12*). Dieser ist sich der Zuwendung Jahwes, der sich für das Recht der Armen und Elenden einsetzt (V. 13*), bewusst. Das bewegt den Psalmisten zum Vertrauensbekenntnis zu Jahwe (V. 7f.*) und zu einer Verheißung für die Aufrichtigen ( – ישׁריםV. 14*).
Hierauf folgt in Kol XXVIII,1–2 Ps 134, der im PMT den Schlusspsalm des Wallfahrtspsalters bildet. Dieser Psalm ruft alle עבדי יהוהzum Gotteslob auf (V. 1f. – Z. 1f.) und endet in V. 3 – Z. 2 mit der Zusage, dass Jahwe vom Zion aus segnet. Der als letzter Psalm in 11QPsa anschließende Ps 151 (Kol XXVIII,3–14) war vor Entdeckung der Psalmenrolle schon aus der LXX sowie in lateinischer und syrischer Übersetzung bekannt. Ein Vergleich der griechischen und der hebräischen Version verdeutlicht die großen Unterschiede zwischen den beiden Texttraditionen. Es zeigt sich, dass die hebräische Fassung von Ps 151 aus zwei Psalmen besteht. Daher wird er in Ps 151 A und 151 B – von dem in 11QPsa nur der Anfang erhalten ist – unterteilt. Dabei entspricht Ps 151 A den V. 1–5, allerdings in geänderter Abfolge, und Ps 151 B den V. 6–7 des griechischen Ps 151.374 Des Weiteren sticht besonders die Ausdruckslosigkeit von Ps 151,1–5LXX im Vergleich zur poetisch durchgestalteten und abgerundeten Fassung von 11QPsa Ps 151 A hervor. Aus diesem Grund hat der hebräische Psalm die textgeschichtliche Priorität.375 Ps 151 A ist ein Hymnus Davids, der sich inhaltlich an der Erzählung von Erwählung und Salbung Davids in 1. Sam 16,1–13 orientiert.376 Nach der Überschrift (Z. 3), in der David als Beter des Psalms identifiziert wird, setzt selbiger mit der Schilderung seiner Ausgangssituation ein. Er war kleiner/geringer ()קטן und jünger ( )צעירals seine Brüder und wurde von seinem Vater mit der Aufgabe des Kleinviehhütens betraut (V. 1 – Z. 3f.). Schon im zweiten Vers entfernt sich Ps 151 A von der 374
Vgl. SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 96ff.; SANDERS, DJD 4, 54ff. So z.B. SANDERS, DJD 4, 60; KLEER, Sänger, 205 Anm. 2; FABRY, 11Q Psa und die Kanonizität, 59. In jüngster Zeit mehren sich jedoch die Stimmen, die dem griechischen Text den Vorzug geben. Dabei stelle 11QPsa Ps 151 die Erweiterung eines hebräischen Psalms dar, der in seiner ursprünglichen Fassung dem LXX Ps 151 nahe stehe, so erstmalig vertreten von HARAN, Two text forms; SMITH, How to write a poem; FERNÁNDEZ-MARCOS, David the adolescent; SEGAL, Literary Development. 376 Zu Ps 151 A vgl. ausführlich KLEER, Sänger, 204–281. 375
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
79
textlichen Vorlage 1. Sam 16,1–13. Der Beter David beschreibt in diesem Vers, wie er mit seinen Händen Musikinstrumente fertigte. Dies tat er allein zu dem Zweck, mit den Instrumenten Jahwe die Ehre zu geben (V. 2 – Z. 4f.). Das Ende dieses Verses leitet zugleich eine Rede Davids ein, die er zu sich selbst spricht ( ;אמרתי אני בנפשׁיV. 3.4a – Z. 5–7). Durch diese Seelenschau Davids knüpft der Autor des Psalms an 1. Sam 16,7 an und führt diesen Vers weiter. Doch während in 1. Sam 16,7 Jahwe auf das Herz des Menschen sieht, wird in Ps 151 A,3.4a offengelegt, was in Davids Seele vorgeht (vgl. auch V. 4b – Z. 7f.).377 David ist sich sicher, dass weder Berge noch Hügel für Jahwe Zeugnis ablegen oder seinen Namen verkünden (V. 3 – Z. 5f.)378. Dieser Überzeugung korrespondiert in V. 4 (Z. 7f.) die rhetorische Frage, wer denn die Taten Gottes verkündet und erzählt. In den griechischen und syrischen Textvarianten sind V. 2b–4 (Z. 5–8) größtenteils nicht vorhanden. Ihre Übersetzung führt zu mehreren Interpretationsmöglichkeiten, besonders da die Schreibweise von יund וnicht immer eindeutig ist.379 Auffällig ist zudem die Prägung dieser Verse durch das Orpheus-Motiv.380 In V. 5–7 (Z. 8–12) kehrt Ps 151 A wieder zurück zur Vorlage 1. Sam 16,1–13. Die Brüder Davids, deren äußere Erscheinung auffällig schön ist, kommen zu Samuel, jedoch ohne dass unter ihnen der Auserwählte zu finden ist (V. 5f – Z. 8–10). Schließlich wird der Hirtenjunge David von seiner Herde weggeholt und mit Öl gesalbt. Er wird von Jahwe zum Fürsten über dessen Volk und zum Herrscher über die Söhne seines Bundes eingesetzt (V. 7 – Z. 10–12). Die Verse 7b (Z. 11f.) und 1b (Z. 3f.) drücken eine doppelte Erwählung Davids aus und bilden dadurch die Inklusion und den kompositorischen Höhepunkt von Ps 151 A.381 Sein Vater macht den jungen David zum Hirten über das Kleinvieh und zum Herrscher über die Zicklein. Dabei weist bereits die Verwendung der Wurzel משׁל, die Majestät und Erhabenheit mitklingen lässt382, auf die spätere Erwählung Davids durch Jahwe zum Herrscher über das Gottesvolk voraus.
Nach dem Bericht über die Salbung Davids durch Samuel in Ps 151 A folgt Ps 151 B, der sich an die Erzählung vom Kampf Davids gegen Goliath in 1. Sam 17 anlehnt. Von diesem Psalm sind lediglich die Überschrift und der erste Vers in Kol XXVIII,13f. erhalten geblieben, sodass keine Auskunft darüber gegeben werden kann, welchen Umfang der Psalm insgesamt hatte. Der erhaltenen Überschrift ist zu entnehmen, dass die folgenden Verse von Davids großen Taten nach seiner Salbung berichtet haben, sodass Ps 151 B die inhaltliche Fortführung von Ps 151 A darstellt.383 Der erhaltene Text von V. 1 erzählt – ebenso wie Ps 151 A in der 1. Pers. Sing. – von einem verhöhnenden Philister und spielt folglich auf 1. Sam 17,10 an. 377 378
Vgl. KLEER, Sänger, 235. Gegen diese Behauptung stehen z.B. Jes 42,10–12; 44,23; 55,12; Ps 148; Micha 6,1–2
u.a. 379
Vgl. SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 100ff.; SANDERS, A Multivalent Text; KLEER, Sänger, 208–211.230–264. 380 Vgl. SANDERS, Dead Sea Psalms Scroll, 98ff.; KLEER, Sänger, 244ff. 381 Vgl. FABRY, 11Q Psa und die Kanonizität, 60; KLEER, Sänger, 229. 382 Vgl. z.B. 2. Sam 23,3f.; 1. Kön 5,1; 2. Chr 23,20; Ps 22,29; Jes 40,10 u.a. 383 Auch semantisch weist Ps 151 B Z. 13 zurück auf Ps 151 A und ist dadurch mit diesem verbunden, vgl. משׁחin Ps 151 A,5.7 (Z. 8.11); נביאund אלוהיםin Ps 151 A,5.6 (Z. 8.10); vgl. DAHMEN, Psalterrezeption, 264.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
Die Komposition von 11QPsa schließt mit zwei Psalmen, deren Schwerpunkt auf der Erzählung von Davids Aufstieg vom unbedeutenden Hirtenjungen zum Gesalbten Jahwes sowie auf dem Bericht der davidischen Machterweise liegt. Nachdem die Analyse der intertextuellen Beziehungen zwischen dem Eröffnungspsalm 101 und 2. Sam 23,[1–]7 + DavComp diese Psalmen und das Prosastück als die davidische Rahmung der Rolle 11QPsa erwiesen hat, ist nun noch der Frage nachzugehen, welche Funktion der Sammlung Ps 140 – 134 – 151 A und B im Anschluss an die Rahmung zukommt. Die vier Psalmen 140–151 B sind inhaltlich miteinander verbunden und aufeinander bezogen und bilden dadurch eine geschlossene Gruppe mit einer inhaltlichen Entwicklung384: In Ps 140 wendet sich David betend an Jahwe und bittet um Errettung vor den bösen Absichten seiner Feinde. Er ist sich der Rettung durch Jahwe, der sich für das Recht der Elenden einsetzt, gewiss und beendet daher sein Gebet in der Zuversicht, dass die Aufrichtigen Gott loben und vor seinem Angesicht wohnen werden. An diese Hoffnung knüpft der folgende Ps 134 an und ruft zum Lob der Knechte im Heiligtum auf. Der anschließende Ps 151 A wiederum nimmt den Segenszuspruch aus Ps 134,3 auf und verdeutlicht an der Person Davids, dass Gotteslob zu Jahwes Segen führt. Diese Zuwendung Gottes drückt sich schließlich auch in der Besiegung der spottenden Feinde durch David aus (Ps 151 B). Demnach besteht eine Entsprechung zwischen Ps 140 und 151 B als erstem und letztem Psalm der Gruppe mit der Bitte um Errettung und ihrer Erfüllung sowie zwischen Ps 134 und 151 A als den beiden mittleren Psalmen mit dem Thema Gotteslob und daraus erwachsendem Segen.385 Mit diesen Themen haben die letzten vier Texte noch einmal die vorherrschenden Inhalte der Psalmen von 11QPsa zusammenfassend aufgenommen: Gotteslob in Ps 140,14; 134; 151 A; Bitte um Errettung vor Feinden in Ps 140; Protektion der Elenden und Armen durch Jahwe in Ps 140,13f.; Schöpfung in Ps 134,3 und Hervorhebung der Gestalt Davids in Ps 151 A und B. Deutlich wird: Diese Psalmen sind nicht willkürlich angehängt worden, nachdem sie etwa vorher vergessen worden waren. Vielmehr wurden sie bewusst zusammengestellt, was vornehmlich durch ihre inhaltliche Entwicklung und Zusammengehörigkeit erkennbar ist. Im Anschluss an das Prosastück DavComp, das eine „Bibliographie“ Davids enthält und in der Psalmenrolle die Funktion eines Kolophons übernimmt386, wirken die Ps 140 – 134 – 151 A und B mit ihrer thematischen Zusammenfassung somit wie ein Nachwort. Dafür spricht auch, dass wieder David in der 1. Pers. Sing. zu Wort kommt. Hierdurch wird zugleich ein Bogen zurück zum Anfangspsalm 101 geschlagen. Den Willen zum Gotteslob 384
Vgl. zum Folgenden KLEER, Sänger, 314. Vgl. auch DAHMEN, Psalterrezeption, 306f. 386 Vgl. KLEER, Sänger, 311. 385
II. Struktur- und Inhaltsanalyse
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hatte Jahwe in Davids Herzen gesehen (vgl. Ps 151 A,2–4 – Z. 4–8) und in Ps 101 (Frag. ABC I) erklärt David das Gotteslob zu seinem „Herrschafts- und Handlungsprinzip“. Auf diese Weise bilden Ps 151 A und B die Überleitung zum Anfangspsalm (vgl. auch תחלתin Ps 151 B).387 Dadurch wird der Psalmbeter, sobald er am Ende der Psalmensammlung angekommen ist, wieder an ihren Anfang verwiesen. So wird er zu beständigem Gotteslob angeleitet und hat dabei David als Vorbild vor Augen, dem es nachzueifern gilt.388 Das Beispiel Davids verdeutlicht dem Psalmbeter, dass aus immerwährendem Gotteslob Segen erwächst und die Kraft, Feinde zu besiegen (vgl. Ps 151 A und B). „Davids Kampf mit ihm [d.i. Goliath] nach seiner Salbung ( )משׁמשׁחוsteht stellvertretend für den Kampf des auf JHWH vertrauenden und ihn lobenden messianischen Gottesvolkes mit den gottlosen Feinden.“389 Jedoch geht die Bedeutung der Figur Davids über die eines bloßen Vorbilds hinaus. „[D]urch seine Attribute als Weiser, Schriftgelehrter und Prophet [erscheint er auch als…] Autorität zur Einführung und Legitimierung einer situationsbedingt reformierten Theologie, mit der eine neue religiöse, den Opferkult und die Verherrlichung Jhwhs betreffende Praxis einhergeht“.390 Für die Gemeinschaft der Qumranfrommen, die sich ihrerseits in der Situation der Bedrängnis sah und die diese Psalmensammlung verwendete, könnte diese Konzeption des Rollenendes die Bedeutung einer nicht zu unterschätzenden Verheißung gehabt haben. Diese Gemeinschaft, die sich selbst als Heiligtum betrachtete und deren Gebete und Gotteslob ihre Opfergaben darstellten, sah hierin die hoffnungsvolle Zusage, am Ende die Kraft für die Überwindung der gottlosen und frevelhaften Feinde zu erhalten.391 Trotz ihrer abweichenden Texteinteilung am Rollenende392 kommt E. Jain zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn sie schreibt, dass „mit Hymn to the Creator bis David’s Compositions ein Abschnitt vorliegt, der die Verherrlichung Jahwes […] als ein durch die Weisheit gegebenes Schöpfungswerk darstellt. Damit ist die Verherrlichung Jhwhs […] eine von Jhwh selbst legitimierte alternative Form der spirituellen Opferdarbringung. [… A]m Weg des ge
387 DAHMEN, Psalterrezeption, 307; Zitat auf S. 308. Dahmen erachtet die letzten vier Psalmen als sekundär hinzugefügtes Schlusswort. 388 Vgl. auch KLEER, Sänger, 315. 389 KLEER, Sänger, 315. 390 So treffend JAIN, Psalmen oder Psalter, 264. 391 Vgl. auch KLEER, Sänger, 317; DAHMEN, Psalterrezeption, 308. 392 Sie nimmt nach Ps 150 eine Zäsur vor und interpretiert die verbleibenden sieben Texte (Hymn to the Creator – 2. Sam 23,7 – DavComp – Ps 140 – Ps 134 – Ps 151 A – Ps 151 B) als eine einzige Komposition, vgl. Psalmen oder Psalter, 258–264.
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1. Kapitel: Die Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran
rechten Beters [wird] aufgezeigt, dass ihm der Lobpreis Gottes wirklich und selbst in aussichtslos erscheinenden Situationen zum Heil gereichen wird.“393
III. Zusammenfassung der Ergebnisse Mithilfe der detaillierten Psalmenanalyse konnten intertextuelle Beziehungen und inhaltliche Bezüge zwischen einzelnen Psalmen aufgezeigt werden. Als wesentliches Ergebnis kann Folgendes festgehalten werden: Die Psalmenanordnung in der Psalmenrolle 11QPsa, die im Vergleich zum pmt zunächst willkürlich und ungeordnet wirkt, stellt sich als planvoll zusammengefügte Komposition heraus.394 Motivische und inhaltliche Verbindungen machen Psalmenzusammenhänge kenntlich, wodurch Psalmengruppen (= Teilkompositionen) und letztlich sogar übergreifende Kompositionsbögen erkennbar sind. Somit lässt sich die zweifache Bedeutungsebene, welche E. Zenger für die Psalmen des pmt festgestellt hat395, auch für die Psalmenrolle der Qumrangemeinschaft aufweisen: Die Psalmen sind einerseits einzelne abgeschlossene Texte, bilden aber andererseits gleichzeitig in ihrer neuen Anordnung in 11QPsa gemeinsam eine planvoll konzipierte Textfolge. Einen ersten übergreifenden Kompositionsbogen stellt die davidische Rahmung der Rolle durch Ps 101 und 2. Sam 23,[1–]7 + DavComp dar. Die Motiv- und Stichwortverbindungen zwischen diesen Texten sind so zahlreich, dass von ihrer bewussten Positionierung am Anfang und gegen Ende der Rolle auszugehen ist. Demgegenüber bilden die letzten vier Psalmen Ps 140 – 134 – 151 A und B mit ihrer thematischen Zusammenfassung das Nachwort von 11QPsa, das zugleich wieder an den Rollenanfang verweist und den Psalmenbeter dadurch zu beständigem Gotteslob anleitet. Des Weiteren ist dieser fließende Übergang vom Ende der Psalmenrolle zurück zu ihrem Anfang zugleich Ausdruck für die Geschlossenheit der Komposition 11QPsa.396 Ein weiterer Kompositionsbogen von zentraler Bedeutung und obendrein der Höhepunkt der Psalmenrolle lässt sich in den Ps [120]–132.119 (Kol III– XIV) erkennen. Diese Anordnung, die sich im PMT über Ps 120–134 erstreckt und unter dem Titel „Wallfahrtspsalter“ firmiert, zeichnet sich in 11QPsa durch eine geänderte Psalmenreihenfolge aus. Dadurch verändert sich ihre inhaltliche Aussage beträchtlich. Sie endet nicht mit Ps 133f. – 393
JAIN, Psalmen oder Psalter, 263. Hierin schließe ich mich dem Ergebnis von DAHMEN, Psalterrezeption, 308 an. 395 Vgl. ZENGER, Psalter als Buch, 26. 396 Dieser Interpretation von DAHMEN, Psalterrezeption, 309 schließe ich mich an. JAIN hingegen geht von einem nicht mehr rekonstruierbaren und daher offenen Kompositionsbeginn aus, wodurch sie die Interpretation von 11QPsa als geschlossene Komposition bestreitet, vgl. Psalmen oder Psalter, 281ff. 394
III. Zusammenfassung der Ergebnisse
83
denjenigen Psalmen der Wallfahrtskomposition, die kultische Akzente setzen –, sondern mit Ps 132, an den der Tora-Psalm 119 anschließt. Das Ziel der in Ps 122,1 angekündigten Wallfahrt, nämlich die Kultgemeinschaft auf dem Zion, wird nicht erreicht. Denn in Ps 119 mündet die Wallfahrt nicht im Tempel und im damit verbundenen Tempelkult, sondern im Empfang der Tora. Durch diese Psalmenanordnung wird der Wallfahrtspsalter in 11QPsa gezielt umstrukturiert und uminterpretiert und die Tora sowie die damit einhergehende Torafrömmigkeit hervorgehoben. Durch die HallelujaSammlung Ps 104–148 (Frag. E I–Kol II) und die Ps 135–145 (Kol XIV– XVII) erhält die Komposition Ps [120]–132.119 als inhaltliches Zentrum der Psalmenrolle ihre eigene hymnische Rahmung. Mit Kol XVIII beginnt der Teil von 11QPsa, in welchen die apokryphen Texte und die Neukompositionen eingeflochten sind. Diese Texte sind zum einen auffällig stark von weisheitlicher Tradition geprägt (vgl. z.B. syr Ps II; Sir 51,13ff.30; Hymn to the Creator; 2. Sam 23,[1–]7 + DavComp sprechen David Weisheit zu) und betonen zum anderen die sündige, schwache Natur des Menschen, den nur Gott erlösen kann (z.B. Plea for Deliverance; syr Ps II + III).397 Hinter dem Rollenabschnitt Kol XVIII–XXVI ist keine derartige systematische Gliederung wie in Frag. ABC I–Kol XVII zu erkennen. Es fällt jedoch auf, dass hierin besonders Klage- und Bittpsalmen dominieren, die erst in Ps 149f.–Hymn to the Creator (Kol XXVI) eine Antwort erhalten und mit erneutem Gotteslob abgeschlossen werden. Damit erweist sich 11QPsa als Lehr- und Gebetbuch, das einerseits der „Installation, Rechtfertigung und Reflexion der neuen Kultpraxis“ sowie andererseits der „Ein- und Ausübung der neuen kultischen und liturgischen Praxis abseits des Jerusalemer Tempels“398 dient.
397 398
Vgl. WILSON, Comparison, 454. JAIN, Psalmen oder Psalter, 280.
Kapitel 2
Die Verwendung der Psalmen im Allegorischen Kommentar des Philo von Alexandrien Einleitung 1. Vorgehen und Leitfragen Philo von Alexandrien, der wohl bedeutendste Repräsentant des alexandrinischen Judentums, war zugleich Philosoph, Theologe und Exeget. Als Ausleger der Schrift befasste er sich fast ausschließlich mit dem Pentateuch. In seinen Traktaten griff er gerne auf die alttestamentlichen Schriften zurück und verwendete sie in Form von Zitaten, Paraphrasen oder Anspielungen innerhalb seiner Auslegung. Ein Großteil dieser Referenzen bezieht sich auf den Pentateuch und lediglich ein geringer Anteil entfällt auf Texte außerhalb desselben. Hiervon wiederum sind nur 18 Zitate aus dem Buch der Psalmen entnommen. Trotz dieser, gemessen an der Zitationshäufigkeit, geringen Anzahl an Psalmzitaten ist der Psalter nach dem Pentateuch das meist zitierte alttestamentliche Schriftencorpus bei Philo. Das zeigt zugleich, dass der Psalter in den Schriften des Alexandriners, trotz der wenigen Verweise, durchaus präsent ist. Im vorliegenden Kapitel, das sich auf die Liste der Schriftzitate von H. Leisegang stützt1, werden die Psalmenzitate je für sich in ihren neuen philonischen Zusammenhängen analysiert. Leitend ist dabei die Frage nach dem Umgang Philos mit dem übernommenen Psalmenmaterial. Dazu gehören etwa die Fragen nach Einleitung, Autorisation und Abänderung des LXXTextes. Es wird zu untersuchen sein, welche Funktion die Psalmzitate in den 1
Vgl. LEISEGANG, Index locorum Veteris Testamenti, 27–43. LEISEGANG nennt außer den eindeutig als Psalmenzitate identifizierten Textstellen in der nachstehenden Liste noch Her 290 (Ψ 83,11) und Imm 182 (Ψ 90,11–12). Diese werden in der nachfolgenden Untersuchung außer Acht gelassen, da sie als Anspielungen zu bewerten sind. Auch wenn sich Philo in Her 290 auf einen Propheten bezieht, liefert er kein wörtliches Zitat aus den Psalmen, sondern paraphrasiert stark. Er geht somit anders vor als bei den zweifelsfrei den Psalmen zuzuordnenden Zitaten. Diese Stelle ist wohl am ehesten als „Grenzgänger“ zu beurteilen. Vgl. RUNIA, Philo’s reading, der Her 290 als Zitat behandelt, es jedoch als eine die Regel bestätigende Ausnahme wertet (S. 111) und Imm 182 zu den Anspielungen rechnet (S. 108). RUNIA listet außer den bei Leisegang aufgeführten Stellen zusätzlich noch Quaest in Gn IV.147 und IV.232 als Zitate/Paraphrasen auf (vgl. dazu u. S. 115f.).
86 Kapitel 2: Die Verwendung der Psalmen im Allegorischen Kommentar des Philo neuen Kontexten erhalten. Dabei ist es unerlässlich, sich Philos Schriftverständnis vor Augen zu führen. In einem zweiten Arbeitsschritt werden die Ergebnisse unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung und Funktion innerhalb der philonischen Abhandlungen ausgewertet. Die folgende Untersuchung bezieht sich lediglich auf die Textstellen in Philos Werk, in welchen ein Psalmzitat eindeutig als solches zu identifizieren ist, z.B. durch eine Zitateinleitung. Nur bei diesen Stellen kann davon ausgegangen werden, dass Philo bewusst aus dem Psalter zitiert. Mögliche Anspielungen auf Psalmtexte finden hingegen keine Berücksichtigung, da die Analyseergebnisse dieser Textstellen hypothetisch bleiben müssten. Ebenso wenig werden zitierte poetische Texte von außerhalb des Psalmenkorpus (wie z.B. Ex 15 und Dtn 32 in All III 105; Det 114; Post 121, 167 etc.) herangezogen. Da Philos Textgrundlage für seine Exegese und seine Referenzen die LXX ist2, beziehen sich Angaben der Psalmstellen im Folgenden immer auf ihre Zählung. 2. Liste der Psalmzitate im Allegorischen Kommentar Philos3 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Textstelle bei Philo4 Gig 17 Imm 74 Imm 77 Imm 82 Agr 50; 52 Plant 29
Zitierter Psalm Ψ 77,49 Ψ 100,1 Ψ 74,9 Ψ 61,12 Ψ 22,1 Ψ 93,9
2 S.u. S. 96 inklusive Anm. 31: Das Zitat in Imm 77 ist ein Beleg für Philos Verwendung des LXX-Textes, da der Psalmentext in seiner protomasoretischen Version differiert. Für weitere Beispiele vgl. auch AMIR, Authority, 440f. Fernerhin vgl. BROOKE, Psalms, 22. Der Terminus „protomasoretischer Psalter“ bezeichnet den in der Biblia Hebraica Stuttgartensia (BHS) überlieferten Konsonantentext der Psalmen, der im 7./8. Jh. n.Chr. von der Masoreten-Schule des Ben Ascher durch Einfügung von Vokal- und Akzentzeichen, paratextlichen Elementen (wie z.B. Texteinteilungen) etc. interpretiert wurde. Diese Interpretation der Masoreten wird als „Masoretischer Text“ bezeichnet. Als Vergleichstext für die folgende Untersuchung dient der in der BHS überlieferte Konsonantentext, der protomasoretische Text. Um sprachliche Ungenauigkeit zu vermeiden, wird im Folgenden dieser Bezugstext mit dem Kürzel PMT (protomasoretischer Text) / pmt (protomasoretisch) versehen. 3 Zitate aus COHN, Philonis Alexandrini opera quae supersunt II+III. Die Übersetzung ist in der Regel meine eigene. Wo das nicht der Fall ist, ist sie entnommen aus: COHN, Philo von Alexandria I+IV+V+VI. 4 Die Abkürzungen der philonischen Schriften sind entnommen aus SCHWERTNER, TRE Abkürzungsverzeichnis, XXIVf.
Einleitung
7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18.
Plant 39 Conf 39 Conf 52 Migr 157 Migr 157 Fug 59 Mut 115 Som I 75 Som II 242 Som II 245 Som II 246 Quaest in Gn IV.147
87
Ψ 36,4 Ψ 30,19 Ψ 79,7 Ψ 79,6 Ψ 41,4 Ψ 113,25 Ψ 22,1 Ψ 26,1 Ψ 36,4 Ψ 64,10 Ψ 45,5 Ψ 68,345
1. Gig 17 – Ψ 77,49 Einleitung: marturei/ de, mou tw/| lo,gw| to. para. tw/| u`mnogra,fw| eivrhme,non evn a;|smati tou,tw|∙ „Es bezeugt aber mein Wort das von dem Psalmisten in diesem Lied Gesagte.“ Zitierter Vers: evxape,steilen eivj auvtou.j ovrgh.n qumou/ auvtou/, qumo.n kai. ovrgh.n kai. qli/yin, avpostolh.n diV avgge,lwn ponhrw//n „Er sandte zu ihnen seinen grimmigen Zorn6, Grimm und Zorn und Bedrängnis, eine Aussendung durch böse Engel.“ 2. Imm 74 – Ψ 100,1 Einleitung: kaqa,per kai. o` u`mnw|do.j ei=pe, pou∙ „Gleichwie auch der Psalmist irgendwo sagt.“ Zitierter Vers: e;leon7 kai. kri,sin a;|somai, soi „Von Erbarmen und Gericht will ich dir singen.“ 3. Imm 77 – Ψ 74,9 Einleitung: 5
Zu diesem Zitat vgl. u. S. 115f. Philo verwendet hier die griechische Stilfigur der Antiptosis: „seinen grimmigen Zorn“. 7 Die Abweichungen vom überlieferten LXX-Text innerhalb der Zitate werden in dieser Liste durch Unterstreichung angezeigt. In diesem Zitat verwendet Philo nicht den Akkusativ des Neutrums to. e;leoj, sondern den des Maskulinums o` e;leoj, das in der Profangräzität verwendet wird. Zudem entfällt am Ende des Zitats der Vokativ ku,rie. 6
88 Kapitel 2: Die Verwendung der Psalmen im Allegorischen Kommentar des Philo dia. tou/to evn e`te,roij ei;rhtai „Deshalb heißt es an anderer Stelle.“ Zitierter Vers: poth,rion evn ceiri. kuri,ou, oi;nou avkra,tou plh/rej kera,smatoj „Ein Becher ist in der Hand des Herrn von unvermischtem Wein, voll eingeschenkt8.“ 4. Imm 82 – Ψ 61,12 Einleitung: toi/j dV eivrhme,noij o[moio,n evsti kai. to. e`te,rwqi lecqe,n „Dem Angeführten ähnlich ist aber auch das an anderer Stelle Gesagte.“ Zitierter Vers: a[pax ku,rioj evla,lhse9, du,o tau/ta h;kousa „Einmal hat der Herr gesprochen, diese beiden (Dinge) habe ich gehört.“ 5. Agr 50; 52 – Ψ 22,1 Einleitung: tou,tou de. evgguhth.j ouvc o` tucw.n avlla. profh,thj evsti,n, w-| kalo.n pisteu,ein, o` ta.j u`mnw|di,aj avnagra,yaj∙ le,gei ga.r w-de∙ „Dafür ist aber kein Gewöhnlicher Bürge, sondern es ist ein Prophet, dem es gut ist zu glauben, der Dichter der Loblieder; denn er spricht so.“ Zitierter Vers: ku,rioj poimai,nei me, kai. ouvde,n me u`sterh,sei „Der Herr weidet mich und nichts wird mir mangeln.“ 6. Plant 29 – Ψ 93,9 Einleitung: marturei/ de, mou tw/| lo,gw| o` qespe,sioj avnh.r evn u[mnoij le,gwn w-de∙ „Es bezeugt aber mein Wort der gottbegeisterte Mann, der in den Lobgesängen so spricht.“ Zitierter Vers. o` futeu,wn ou=j ouvk avkou,ei; o` pla,sswn ovfqalmou.j ouvk evpible,yei;10 8
ke,rasma bedeutet wörtlich: „das eingeschenkte Getränk“, vgl. Septuaginta Deutsch,
827. 9 In diesem Zitat ändert Philo die LXX-Vorlage evla,lhsen o` qeo,j, indem er zum einen den Gottesnamen ku,rioj verwendet und zum anderen das ν der 3.Sg. Ind. Aor. Akt. des Verbs lale,w entfallen lässt. 10 Der LXX-Text von Ψ 93,9, der von Philo mit mehreren Modifikationen zitiert wird, lautet: o` futeu,saj to. ou=j ouvci. avkou,ei h' o` pla,saj to.n ovfqalmo.n ouv katanoei/. Folgende Abweichungen lassen sich nennen: Verwendung von Partizipien statt finiter Verbformen, Entfallen der Artikel und Änderung von ovfqalmo,j Sg. in Pl., Verwendung des Adverbs ouvk statt ouvci. und ouv, Entfallen der Partikel h; sowie Verwendung des Verbs evpible,pw anstelle von katanoe,w.
Einleitung
89
„Der ein Ohr pflanzt, sollte er nicht hören? Der Augen bildet, sollte er nicht hinblicken?“ 7. Plant 39 – Ψ 36,4 Einleitung: tou,tou tou/ ganw,matoj avkra,tou tij spa,saj, o` tou/ Mwuse,wj dh. qiasw,thj, o]j ouvci. tw/n hvmelhme,nwn h=n, evn u`mnw|di,aij avnefqe,gxato pro.j to.n i;dion nou/n fa,skwn „Jemand, der diesen Erquickungstrank ungemischt getrunken hat, der Anhänger des Mose gar, der nicht zu den Geringsten zählte, hat in den Lobliedern laut ausgerufen, indem er zu seinem eigenen Geist sagte.“ Zitierter Vers: katatru,fhson tou/ kuri,ou „Erfreue dich am Herrn.“ 8. Conf 39 – Ψ 30,19 Einleitung: kaqa. kai. tw/n Mwuse,wj gnwri,mwn tij evn u[mnoij euvco,menoj ei=pen∙ „Gleichwie auch einer der Freunde des Mose in den Lobgesängen betend sprach.“ Zitierter Vers: a;lala gene,sqw11 ta. cei,lh ta. do,lia „Es sollen verstummen die betrügerischen Lippen.“ 9. Conf 52 – Ψ 79,7 Einleitung (nachgestellt): w`j kai. evn u[mnoij pou le,lektai „Wie es auch irgendwo in den Lobgesängen gesagt ist.“ Zitierter Vers: e;qeto ga.r h`ma/j o` qeo.j12 eivj avntilogi,an toi/j gei,tosin h`mw/n „Denn Gott hat uns gesetzt (zum Gegenstand) des Widerspruchs für unsere Nachbarn.“ 10. Migr 157 – Ψ 79,6 Einleitung: peri. w-n evn u[mnoij ei;rhtai∙ „Worüber in den Lobgesängen gesagt worden ist.“ Zitierter Vers: 11 Hier steht der Imperativ Aor. Med. 3.Sg. gene,sqw anstelle des Imperativs Aor. Pass. genhqh,tw. 12 Die Person des Verbs ist von der 2.Sg. in die 3.Sg. geändert und der Gottesname o` qeo,j sowie die Konjunktion ga,r eingefügt.
90 Kapitel 2: Die Verwendung der Psalmen im Allegorischen Kommentar des Philo ywmiei/j h`ma/j a;rton dakru,wn „Du wirst uns mit Tränenbrot13 speisen.“ 11. Migr 157 – Ψ 41,4 Einleitung: s.o. Nr. 10 Zitierter Vers: evge,neto14 ta. da,krua, moi a;rtoj h`me,raj kai. nukto,j „Die Tränen wurden mir zum Brot bei Tag und bei Nacht.“ 12. Fug 59 – Ψ 113,25 Einleitung: w`j kai. evn u[mnoij le,getai „Wie es auch in den Lobgesängen heißt.“ Zitierter Vers: nekroi. dV ouvk aivne,sousi ku,rion15 „Tote aber werden den Herrn nicht loben.“ 13. Mut 115 – Ψ 22,1 Einleitung: a|;detai de. kai. evn u[mnoij a=|sma toiou/ton∙ „Denn auch in den Lobgesängen wird ein solches Lied gesungen.“ Zitierter Vers: ku,rioj poimai,nei me, kai. ouvde,n me u`sterh,sei „Der Herr weidet mich und nichts wird mir mangeln.“ 14. Som I 75 – Ψ 26,1 Einleitung (nachgestellt): evn u[mnoij a;|detai „…wird in den Lobgesängen gesungen.“ Zitierter Vers: ku,rioj ga.r16 fwtismo,j mou kai. swth,r mou „Denn der Herr ist mein Licht und mein Retter.“ 13
Erneut verwendet Philo hier die Stilfigur der Antiptosis. Anstelle des Ind. Aor. Pass. evgenh,qh steht der Ind. Aor. Med. evge,neto. Zudem entfällt das Personalpronomen mou. Das Pronomen moi wird dem Subjekt nachgestellt. 15 Der LXX-Text von Ψ 113,25 lautet: ouvc oi` nekroi. aivne,sousi,n se ku,rie. Beim Zitieren entfällt der Artikel, die Konjunktion de, wird eingefügt, es wird ouvk anstatt ouvc verwendet, das n der 3.Pl. Ind. Fut. Akt. von aivne,w entfällt sowie ebenfalls die direkte Gottesanrede se ku,rie (wie im PMT, wo nur die Kurzform hy steht), die in den Akk. Sg. geändert ist. Die Fortsetzung des Zitats - zw,ntwn ga.r to. e;rgon – nimmt den Grundgedanken von V. 26 auf. 16 Die Konjunktion ga,r ist hinzugefügt. 14
Einleitung
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15. Som II 242 – Ψ 36,4 Einleitung: evpei. kai. evn u[mnoij a;|detai∙ „Da ja auch in den Lobgesängen gesungen wird.“ Zitierter Vers: katatru,fhson tou/ kuri,ou „Erfreue dich am Herrn.“ 16. Som II 245 – Ψ 64,10 Einleitung: tou/ton to.n lo,gon eivka,saj potamw/| tij tw/n e`tai,rwn Mwuse,wj evn u[mnoij ei=pen∙ „Diesen Logos verglich einer der Gefährten des Mose mit einem Fluss und sprach in den Lobgesängen.“ Zitierter Vers: o` potamo.j tou/ qeou/ evplhrw,qh u`da,twn „Der Fluss Gottes ist angefüllt worden mit Wassern.“ 17. Som II 246 – Ψ 45,5 Einleitung: e;sti de. kai. e[teron a=|sma toiou/ton∙ „Es gibt aber auch ein anderes solches Lied.“ Zitierter Vers: to. o[rmhma tou/ potamou/ euvfrai,nei17 th.n po,lin tou/ qeou/ „Das Strömen des Flusses erfreut die Stadt Gottes.“
17 Der Plural ta. o`rmh,mata euvfrai,nousin ist im Zitat in den Singular to. o[rmhma euvfrai,nei geändert worden. Zudem wird der Genitiv tou/ potamou/ dem Subjekt nachgestellt.
92 Kapitel 2: Die Verwendung der Psalmen im Allegorischen Kommentar des Philo
I. Analyse der Psalmzitate 1. Die Psalmzitate im Kontext von De gigantibus und Quod deus sit immutabilis Die beiden Schriften De gigantibus und Quod deus sit immutabilis, die ursprünglich ein einziges Buch mit dem Titel peri. giga,ntwn h' peri. tou/ mh. tre,pesqai to. qei/on bildeten, enthalten eine Auslegung von Gen 6,1–12.18 Diese Verse berichten zum einen vom Verkehr der Gottessöhne mit den Menschentöchtern (Gen 6,1–4a). Zum anderen thematisieren sie die Reue Gottes über die Erschaffung der Menschen angesichts deren Bosheit und seinen Entschluss, Mensch und Tier wieder zu vernichten. Einzige Ausnahme soll Noah sein, der Gnade vor Gott gefunden hat (Gen 6,4b–12). a) Das erste Psalmzitat findet sich in Gig 17 und wird von Philo im Zusammenhang seiner Auslegung von Gen 6,2 verwendet. Der zitierte Vers lautet: ivdo,ntej de. oi` a;ggeloi19 tou/ qeou/ ta.j qugate,raj tw/n avnqrw,pwn, o[ti kalai, eivsin, e;labon e`autoi/j gunai/kaj avpo. pasw/n, w-n evxele,xanto („Als aber die Engel Gottes sahen, dass die Töchter der Menschen schön sind, nahmen sie sich Frauen von allen, die sie sich auswählten.“ – § 6). Philo übernimmt diesen Satz nicht wortgetreu. Denn an der Stelle, wo die LXX in Gen 6,2 von oi` ui`oi. tou/ qeou/ spricht (vgl. pmt ~yhlah-ynb), fügt er oi` a;ggeloi tou/ qeou/ ein. Diese Lektüre entspricht der von Ψ 77,49. Den Vers aus Gen 6,2 nimmt er zum Ausgangspunkt für einen allgemeinen Diskurs über Engel. Er geht dabei von dem Grundgedanken aus, dass der gesamte Kosmos beseelt und auch die Luft von fliegenden Seelen erfüllt ist (§§ 6–9).20 Diese Seelen sind in drei verschiedene Gruppen unterteilt: Es gibt die rein himmlischen Seelen, die nie in einen Körper hinabsteigen, sondern Gott als Gehilfen bei der Aufsicht über die Sterblichen zur Seite stehen (crh/sqai pro.j th.n tw/n qnhtw/n evpistasi,an – § 12). Daneben existiert eine Gruppe von Seelen, die in einen irdischen Körper „wie in einen Fluss“ eintaucht (§ 13). Diese Schar lässt sich weiterhin unterteilen in diejenigen Seelen, die sich zwar zunächst mit dem Körper mischen, dann aber wieder in den Himmel hinaufsteigen. Das sind die echten Philosophen, die nach dem unkörperlichen und unvergänglichen Leben streben (§ 13f.). Die zweite Gruppe hingegen wird von denjenigen Seelen gebildet, die im Körperlichen ertrinken. Diese menschlichen Seelen streben nicht nach der Weisheit, sondern geben sich ganz dem Körperlichen und Weltlichen hin (§ 15). 18
Vgl. COHN, Philo IV, 53; COHN, Einteilung, 397. Statt oi` ui`oi, verwendet Philo oi` a;ggeloi. 20 Diese Vorstellung Philos ist beeinflusst von Platons Zuordnung der Lebewesen auf die vier Elemente, vgl. z.B. Tim. 39E–40A; symp. 202E. Vgl. dazu auch LOSEKAM, Sünde der Engel, 109; WRIGHT, Some observations, 476ff. 19
I. Analyse der Psalmzitate
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Schließlich kommt Philo zu der Aussage, dass „Seelen“ (yucai,), „Dämonen“ (dai,monej) und „Engel“ (a;ggeloi) von derselben geistigen Wesensart beschaffen sind (§ 16).21 Jede dieser Kategorien existiert sowohl in guter als auch in böser Ausprägung. Ebenso wie es gute und böse Seelen und Dämonen gibt, existieren auch gute und böse Engel. Als Nachweis für diese Feststellung zitiert er Ψ 77,49 (§ 17): marturei/ de, mou tw/| lo,gw| to. para. tw/| u`mnogra,fw| eivrhme,non evn a;|smati tou,tw|∙ evxape,steilen eivj auvtou.j ovrgh.n qumou/ auvtou/, qumo.n kai. ovrgh.n kai. qli/yin, avpostolh.n diV avgge,lwn ponhrw//n („Es bezeugt aber mein Wort das von dem Psalmisten in diesem Lied Gesagte: Er sandte zu ihnen seinen grimmigen Zorn, Grimm und Zorn und Bedrängnis, eine Aussendung durch böse Engel.“). Im primären Kontext von Ψ 77,49 sind die a;ggeloi ponhroi, Teil der Strafen, die Gott vor dem Exodus Israels über die Ägypter kommen ließ. Dadurch gehören sie zu den Zeichen und Wundern, durch die Gott seinem Volk seine Gnade erwies (vgl. Ψ 77,42–52). In seiner Exegese verbindet Philo Ψ 77,49 mit seinen Ausführungen zu Gen 6,2 – die Engel Gottes nehmen sich die Töchter der Menschen. Dabei werden mit a;ggeloi ponhroi, jedoch nicht – wie im ursprünglichen Psalmkontext – Unheilsboten bezeichnet. Ebenso wenig spricht Philo hier etwa von „gefallenen Engeln“, die als widergöttliche Mächte in Opposition zu Gott stehen.22 Er denkt stattdessen an diejenigen Seelen, welche sich mit dem Körperlichen verbunden und sich dessen Faszination und Genüssen hingegeben haben (§ 17f.).23 a;ggeloi ponhroi, sind die Seelen, die „wie in einen Fluß in den Körper hinabsteigen“ (§ 13) und sich die „Töchter der Menschen“, d.h. die körperlichen Lüste, nehmen. Die „Töchter der rechten Vernunft“ hingegen, die Wissenschaften und Tugenden, verschmähen sie (§ 17). Über das Stichwort a;ggeloi ponhroi, gelangt Philo zu Ψ 77,49. Jedoch dient es ihm an dieser Stelle nicht dazu, die Existenz böser Engel zu beweisen. Vielmehr beschreibt er damit die Seelen, die sich vom Körperlichen gefangen nehmen lassen.24 Im Kontext dieser philonischen „Seelenallegorese“25 ist es die Aufgabe des Psalmzitats, die Ausführungen zu bezeugen (marturei/ de, mou). Warum gerade dem Wort des Psalmisten diese Zeugniskraft zukommt, wird im weiteren Verlauf der Analyse zu zeigen sein. b) In Quod deus sit immutabilis begegnen insgesamt drei Psalmzitate (§ 74, 77, 82). Sie sind alle in den mit § 70 beginnenden Gedankengang integriert 21
Vgl. LOSEKAM, Sünde der Engel, 110. So etwa die Interpretation von WOLFSON, Philo, 383–385. 23 Vgl. NIKIPROWETZKY, Sur une lecture démonologique, bes. 54ff.; vgl. auch WINSTON, Two treatises, 203ff.236ff. 24 Vgl. dazu auch NIKIPROWETZKY, Sur une lecture démonologique, 58f., und im Anschluss an ihn auch DILLON, Philo’s doctrine, 203ff. 25 HECKEL, Der innere Mensch, 49. 22
94 Kapitel 2: Die Verwendung der Psalmen im Allegorischen Kommentar des Philo und Philo baut seine Argumentation zu einem großen Teil auf diesen Zitaten auf. Ein ähnliches Vorgehen ist nur noch bei den Psalmzitaten in Som II 242– 246 (s.u.) festzustellen. In seiner Auslegung von Gen 6,7 in §§ 51–69 macht Philo wesentliche Aussagen zu seinem Gottesbild. Seiner Ansicht nach ist Gott durch den menschlichen Geist nicht zu begreifen (§ 62). Er ist ein Einziges (mo,non), sich selbst genügend (avprosdeh,j), einfach (a`plo,oj), unvermischt (avmigh,j), unvergleichbar (avsu,gkritoj – § 56), unveränderlich (a;treptoj – § 22) und v.a. frei von jeglichen menschlichen Affekten (e;sti dV ouvdeni. lhpto.n pa,qei to. para,pan – § 52). Aufgrund dessen kann der Mensch Gott lediglich in seiner reinen Existenz begreifen, Gottes Eigenschaften hingegen versteht er nicht (§ 62). Man kann von Gott nur sagen „daß er ist, nicht was er ist“26. Daher bezeichnet Philo ihn oftmals auch ontologisch als „das Sein“ oder „der/das Seiende“ (z.B. to. o;n in § 52). Hierin folgt er dem Bild des apathischen (avpa,qeia) Gottes der antiken griechischen Philosophie. Diese Gottesvorstellung geht von der Unveränderlichkeit und Unbeeinflussbarkeit der Gottheit von Leiden und Leidenschaften aus.27 Philo zufolge können jedoch lediglich „die Freunde der Seele“ (§ 55) diese göttliche Wesenheit verstehen. Sie allein sind dazu fähig, das Sein in seiner reinen Existenz zu begreifen. Daneben gibt es jedoch auch die „Freunde des Körpers“. Sie sind nicht in der Lage, das Sein als etwas Ungewordenes zu verstehen und bedürfen daher der Hilfe von Anthropomorphismen. Aus diesem Grunde bedient sich auch Mose ebensolcher in der Hoffnung, auch den „Freunden des Körpers“ verständlich zu sein (vgl. §§ 60ff.). Dadurch erhalten Anthropomorphismen eine pädagogische Bedeutung.28 Mit dieser Erklärung hat Philo zugleich einen Weg gefunden, seinen eigenen – an die griechische Tradition angelehnten – Gottesbegriff mit den Aussagen über die Gefühlsregungen Jahwes, die ihm als jüdischem Exegeten in der LXX begegnen, zu korrelieren. Nach der Entfaltung seines ontologischen Ansatzes versucht Philo in §§ 70–85 die Aussage von Gottes Zorn in Gen 6,7 ([o[ti] evqumw,qhn o[ti evpoi,hsa auvtou,j – „[denn/dass] ich ergrimmte, da ich sie schuf“ – § 51/70) zu erklären. Dabei geht er zunächst von dem Verb qumo,w aus. Durch den Grimm (qumo,j) 26
HALFWASSEN, Platonismus, 1388. Vgl. auch HALFWASSEN, Hegel, 59ff. So richtet sich beispielsweise nach Platon das Maß der Unbeeinflussbarkeit der Gottheiten nach ihrem jeweiligen Rang in der göttlichen Hierarchie, vgl. z.B. rep. II 380d– 381e; Phaid. 78c; soph. 248c; Phaidr. 245c.252b–c; Tim. 64a. Eindeutiger als Platon äußert sich Aristoteles zur Apatheia des Göttlichen, z.B. cael. I 270a 13; 270b 1ff.; an. I 408b 29f.; III 430a 23. Auch die Stoa betrachtet die göttliche Seele als frei von jeglichen als negativ angesehenen Leidenschaften, z.B. Cicero, nat.deor. II 70. Vgl. zu diesem Thema die Ausführungen von FROHNHOFEN, Apatheia tou theou, bes. 61–115; vgl. auch SELLIN, Gotteserkenntnis, 58ff. 28 Vgl. MOSES, De gigantibus, 15f. 27
I. Analyse der Psalmzitate
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Gottes sind die einen Menschen schlecht, durch seine Gnade (ca,rij) die anderen, wie z.B. Noah (Gen 6,8), gut (§ 70). Grimm gehört zu den menschlichen Affekten und wird in diesem Fall auch auf Gott übertragen. Dies geschieht jedoch allein aus einem einzigen, nämlich einem pädagogischen Grund. Auf diese Weise soll verdeutlicht werden, dass diejenigen Taten, welche aus den Affekten heraus entstehen, zu tadeln sind. Jene aber, die der Vernunft entspringen, sind lobenswert (§ 71). Zugleich kehrt Philo die Aussage in Gen 6,7 um, indem er von der unterschiedlichen semantischen Valenz der Konjunktion o[ti Gebrauch macht. o[ti kann sowohl kausale („denn, weil“) als auch konsekutive („dass“) Bedeutung erhalten. Dadurch ist es ihm möglich, Gen 6,7 „o[ti evqumw,qhn o[ti evpoi,hsa auvtou,j“ nicht als kausale Aussage zu verstehen: „Deshalb, weil (dio,ti) ich sie schuf, erzürnte ich“, sondern vielmehr konsekutiv: „Dass ich, weil ich erzürnte, sie schuf“ (§ 72; vgl. All II 78).29 Philos Interpretation geht von einer Inkonzinnität im Gebrauch der Konjunktion o[ti aus und macht damit deutlich, dass Reue und Grimm nicht Ausdruck des tatsächlichen Wesens Gottes sind, sondern lediglich aus pädagogischen Beweggründen eingesetzt werden (vgl. §§ 52.71). Er kommt zu dem Schluss, „dass die Quelle der Sünden der Grimm, die der geordneten Zustände aber der Verstand ist“ (phgh. me.n a`marthma,twn qumo,j, logismo.j de. katorqwma,twn – § 72). Da die Menschheit aufgrund ihres Handelns aus den Affekten heraus durch und durch sündig ist, ist sie auf die vollkommene Güte Gottes angewiesen (telei,a avgaqo,thj – § 73), um nicht vollständig vernichtet zu werden. Darum findet auch Noah Gnade vor Gott, während die undankbaren Sünder untergehen. In diesem göttlichen Handeln vereinigen sich Erbarmen und Gericht Gottes (§ 74). Dies ist gleichzeitig der Kontext des ersten Psalmzitats (§ 74): kaqa,per kai. o` u`mnw|do.j ei=pe, pou∙ e;leon kai. kri,sin a;|somai, soi („Gleichwie auch der Psalmist irgendwo sagt: Von Erbarmen und Gericht will ich dir singen.“). Das Zitat entstammt dem Davidpsalm Ψ 100,1. Philo folgt der vom Codex Alexandrinus gebotenen Lesart und verwendet den Akkusativ e;leon statt e;leoj. Neben der Davidzuschreibung enthält V. 1 die direkte Gottesanrede ku,rie, die Philo beim Zitieren jedoch nicht übernimmt. Dadurch geht die Doppeldeutigkeit verloren, die im ursprünglichen Psalmkontext entsteht, indem offen bleibt, von wessen Erbarmen und Gericht/Recht gesungen werden soll. Sie können sowohl auf Gott (vgl. Ψ 88,15; 118,14; Jer 9,23) als auch auf den Menschen bezogen werden (vgl. Hos 12,7; Mi 6,8).30 Im philonischen Kontext von Ψ 100,1 rekurrieren Erbarmen und Gericht auf das Handeln Gottes, das nach Aussagen Philos im Bezug auf den Menschen „gemischt“ ist. Das Stichwort, um das die folgende Analyse Philos kreist, ist avnakera,shtai (§ 74). Gott handelt am Menschen durch Gnade und 29 30
Vgl. COHN, Philo IV, 88 Anm. 4. Vgl. HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 101–150, 32.
96 Kapitel 2: Die Verwendung der Psalmen im Allegorischen Kommentar des Philo Erbarmen, zugleich aber auch durch Gericht und Strafe. Würde Gott ohne Erbarmen richten, wäre die Menschheit schon bald vernichtet (§ 75). Um solches zu verhindern, richtet Gott nicht ohne Barmherzigkeit und erweist darin seine Gnade. Denn er erbarmt sich nicht nur nachdem er gerichtet hat, sondern richtet auch aus Erbarmen (vgl. § 76). Diese Handlungsweise Gottes wird, so Philo, auch an einer anderen Stelle in den Psalmen belegt: dia. tou/to evn e`te,roij ei;rhtai∙ poth,rion evn ceiri. kuri,ou, oi;nou avkra,tou plh/rej kera,smatoj („Ein Becher ist in der Hand des Herrn von unvermischtem Wein, voll eingeschenkt.“ – § 77). Dieses Zitat aus Ψ 74,9 drückt in seiner LXXFassung einen paradox erscheinenden Sachverhalt aus: Es spricht von einer Mischung ungemischten Weines (oi=noj a;kratoj und ke,rasma)31. Nach Philos allegorischer Auslegung besteht jedoch darin kein Widerspruch. Gott verwendet seine Kräfte in Bezug auf sich selbst ungemischt, bezogen auf seine Schöpfung jedoch gemischt (§ 77). Anschaulich wird diese Handlungsweise im Beispiel des Sonnenlichts. Sowenig ein Mensch den ungeschützten Blick in die Sonne unbeschadet übersteht, sowenig kann er auch die reine Erkenntnis Gottes ertragen (§ 78f.). Deshalb treffen Gottes Kräfte in einer gemischten Form auf den Menschen. Ebenso verhält es sich mit Gnade und Strafe Gottes. Gott teilt sie in einer für die Menschen ausgewogenen und erträglichen Mischung aus, jedoch nie in ihrer reinen Form, die der Mensch nicht ertragen könnte (§ 80f.). Ψ 74,9 schildert eine Gerichtsvision.32 Zentrales Bild dieser Vision ist der Gerichtsbecher in der Hand des Herrn. Er ist angefüllt mit unvermischtem Wein und Bodensatz/Hefe (trugi,aj) und alle Sünder müssen aus ihm trinken. Philo zitiert nur den ersten Teil von V. 9. Dadurch geht die Schärfe der Gerichtshandlung, welche die LXX in diesem Vers mit Nachdruck betont, verloren. Auch geht aus dem Zitat nicht hervor, dass der Becher in seinem ursprünglichen Kontext ein Gerichtsbecher ist. Erst in den anschließenden Ausführungen Philos und in Verbindung mit dem Zitat aus Ψ 100 wird der Gerichtsgedanke aufgenommen. Als drittes Psalmzitat führt Philo in § 82 Ψ 61,12 an: toi/j dV eivrhme,noij o[moio,n evsti kai. to. e`te,rwqi lecqe.n a[pax ku,rioj evla,lhse, du,o tau/ta h;kousa („Dem Angeführten ähnlich ist aber auch das an anderer Stelle Gesagte: Einmal hat der Herr gesprochen, diese beiden [Dinge] habe ich gehört.“). Dieser V. 12 ist in seinem primären Kontext in einen stark weisheitlich geprägten Teil von Ψ 61 (= V. 9–13) eingebunden und bildet zusammen mit V. 13 einen Zahlenspruch33: Gott wirkt durch Macht (kra,toj) und Barmherzigkeit (e;leoj) und wird jedem nach seinem Handeln vergelten. „Es sind zwei polare Wirk-
31
Der PMT liest an dieser Stelle rmx !yyw „und der Wein schäumte“. Vgl. SEYBOLD, Psalmen, 293. 33 Vgl. SEYBOLD, Psalmen, 246; HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100, 180. 32
I. Analyse der Psalmzitate
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weisen, die in Gott eine spannungsreiche Einheit bilden.“34 Diesen Gedanken entnimmt auch Philo aus Ψ 61. In der an das Zitat anschließenden Exegese legt er die Lehre von der Einzahl (mona,j) und der Zweiheit (dua,j) dar. Dabei steht die mona,j für die ungemischte Einheit, die dua,j hingegen bezeichnet das Gemischte, welches sowohl Vereinigung als auch Trennung zulässt und dadurch keine Einheit sein kann (§ 82). Während Gott ungemischte Einheiten „spricht“ (mona,daj me.n ou=n avkra,touj o` qeo.j lalei/), die unkörperlich und nackt sind (avsw,matoj kai. gumno,j), hört der Mensch in der Zweiheit (§ 83f.). Philo bezieht sich hierbei auf den physischen Vorgang des Sprechens, bei dem sich der Hauch, sobald er den Mund verlässt, mit Luft vermischt und dadurch eine Zweiheit bildet (§ 84). Das Handeln Gottes besteht zum einen im erlösenden Erbarmen, das er etwa an der Person Noahs sichtbar gemacht hat. Es beinhaltet zum anderen jedoch ebenso sein Gericht, das über die Sünder ergeht (§ 74). Diese zweifache und polare Handlungsweise Gottes sieht Philo auch in den Psalmen bezeugt. Die zitierten Verse verbindet ihre Thematik der Gegensätze: Erbarmen und Gericht (Ψ 100,1); Mischung ungemischten Weines (Ψ 74,9); einmal hat der Herr gesprochen, zwei (Dinge) habe ich gehört (Ψ 61,12). Die polaren Wirkweisen göttlichen Handelns treffen den Menschen allerdings nicht in ihrer reinen Form, da der Mensch sie nur in der Mischung ertragen kann. Um die Diskrepanz dieses Sachverhalts veranschaulichen zu können, greift Philo auf die Psalmverse zurück. Er verwendet das Bild des ungemischten Weins sowie vom Akt des Sprechens als allegorisches Substitut für das sich aus Erbarmen und Recht zusammensetzende göttliche Wirken. 2. Die Psalmzitate im Kontext von De agricultura In der Schrift De agricultura widmet sich Philo der Exegese von Gen 9,20f.: kai. h;rxato Nw/e a;nqrwpoj gewrgo.j gh/j ei=nai, kai. evfu,teusen avmpelw/na, kai. e;pie tou/ oi;nou, kai. evmequ,sqh evn tw/| oi;kw| auvtou/35 („Und Noah fing an, ein die Erde bebauender Mensch zu sein und pflanzte einen Weinberg und trank den Wein und wurde betrunken in seinem Haus“ – § 1). Dabei geht er von der Voraussetzung aus, dass Landwirtschaft (gewrgi,a) und Ackerbau (gh/j evrgasi,a) nicht dasselbe bezeichnen. Aufgrund zweier Unterscheidungsmerkmale sind sie voneinander zu trennen. Der erste Unterschied liegt in der te,cnh: Während der Landwirt in der Landwirtschaft geschult ist, kann Ackerbau hingegen auch von einem Laien betrieben werden (§ 3f.). Die zweite Diffe-
34
HOSSFELD/ZENGER, Psalmen 51–100, 187. Philo weicht vom nachfolgenden LXX-Text ab: kai. h;rxato Nwe a;nqrwpoj gewrgo.j gh/j kai. evfu,teusen avmpelw/na. kai. e;pien evk tou/ oi;nou kai. evmequ,sqh kai. evgumnw,qh evn tw/| oi;kw| auvtou/. Neben der Einfügung von ei=nai in V. 20 entfallen in V. 21 das ν des Verbes e;pien, die Präposition evk sowie die Aussage, Noah habe sich entblößt (kai. evgumnw,qh). 35
98 Kapitel 2: Die Verwendung der Psalmen im Allegorischen Kommentar des Philo renz besteht darin, dass der Ackerbauer als Lohnarbeiter tätig ist, während der Landwirt zugleich Grundbesitzer ist (§ 5). In Aufnahme des Stichwortes gewrgi,a entfaltet Philo schließlich die „Landbaukunst der Seele“ (yuch/j gewrgikh, – § 7). Aufgabe dieser Kunst ist es, für den menschlichen Geist Gewächse mit genießbarer Frucht zu pflanzen (§ 8f.). In der Vorschule der enkyklischen Wissenschaften (paidikh.n h`liki,an ta. th/j evgkukli,ou mousikh/j propaideu,mata) sollen schon die Kinder „Milchnahrung der Seele“ (yuch/j galaktw,deij) erhalten, damit daraus „edle und lobenswerte Handlungen“ (kala.j kai. evpaineta.j pra,xeij) als Früchte sprießen (§ 9). Dabei werden die unnützen Gewächse, wie z.B. die Bäume der Torheit und Zügellosigkeit (ta. avfrosu,nhj de,ndra kai. avkolasi,aj) und der unterschiedlichen Leidenschaften, ausgerottet. An ihre Stelle wird eine umfassende Bildung sowie Vernunft, Tapferkeit etc. „eingepflanzt“, die im Laufe der Jahre ihre Früchte erbringen werden (§ 17f.). Diese „Kunst des Landbaus der Seele“ (h` th/j yuch/j gewrgikh,) hat Mose in Gen 9,20 dem „Gerechten“ (d.i. Noah) zugeschrieben, während der Brudermörder Kain, als der Ungerechte und Schlechte, lediglich als lastentragender Landarbeiter bezeichnet wird (§ 20ff.). Beide Figuren stehen gleichzeitig, so Philos allegorische Deutung, für zwei Kräfte, die im Menschen wirken (§ 22). Zum einen die Kraft des „erdhaften Körpers“ (to. gh,inon sw/ma), die zur Erfüllung der körperlichen Lust treibt (§ 22ff.), und zum anderen die „Mysterien der seelischen Landwirtschaftskunst“36 (oi` gewrgi,aj me.n avmu,htoi yucikh/j), die nach Tugend und dem seligen Leben streben (§ 25).37 Neben dem Beispiel von Ackerbauer und Landwirt, die nach ihrem allegorischen Sinn sehr verschiedene Dinge bezeichnen, beschreibt Philo die allegorische Differenz zwischen Hirte (poimh,n) und Viehzüchter (kthnotro,foj) – § 26ff.38 Er geht davon aus, dass die menschliche Seele zwei „Schösslinge“ erzeugt: Der eine ist das unteilbare Denkvermögen, der andere ist sechsmal geteilt und bildet damit die fünf Sinne sowie das Sprech- und Zeugungsvermögen. Durch diese Teilung trägt jeder Mensch eine „vernunftlose Vielheit“ (plhqu.j a;logoj) in sich, welche der Führung bedarf (§ 30ff.). Ein schlechter und unkundiger Herdenführer versorgt diese Herde nicht angemessen. Sie verstreut sich und der Führer bleibt ohne sie zurück (§ 31ff.). Ebenso wird die Herde der Sinnesorgane abgelenkt, wenn das Denkvermögen nachlässig und unachtsam ist. Die Sinne erfahren Übersättigung durch überflüssige Musik, unnötige Schauspiele und Völlerei, sodass man von der rechten Lebensführung abweicht (§ 34ff.). Jemanden, der solches zulässt und seiner Herde immer das gibt, was sie begehrt, bezeichnet Philo als Viehzüchter. Der Hirte hingegen kennt das rechte Maß und die angemessene Strafe für begangene 36
Übersetzung nach COHN, Philo IV, 117. Vgl. auch KONSTAN, Of two minds, 132f. 38 Zur Rolle des guten Hirten vgl. z.B. CACHIA, Good shepherd, zu Philo bes. 35f. 37
I. Analyse der Psalmzitate
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Verfehlungen. Deshalb kommt dem Hirtenamt hohes Ansehen zu und selbst Könige werden als „Völkerhirten“ (poime,nej law/n) bezeichnet (§ 39ff.). Den unterschiedlichen Varianten einer schlechten Führung (z.B. Pöbelherrschaft – h` ovclokrati,a; Despotismus – ai` despotei/ai; § 45–48) steht die Beschreibung des einzig wahren Hirten für die menschliche Seele gegenüber (§ 49f.). Allein die Betrachtung (evpi,skeyij) Gottes, dem ebenso wie Königen oder Weisen dieses hohe Gut des Hirtenamtes zugeschrieben wird, kann die Zerstreuung der Seelenherde verhindern und sie angemessen führen. Als Bürge hierfür führt Philo in § 50 (Wiederholung in § 52) den „Dichter der Psalmen“ mit einem Zitat aus Ψ 22,1 an: tou,tou de. evgguhth.j ouvc o` tucw.n avlla. profh,thj evsti,n, w-| kalo.n pisteu,ein, o` ta.j u`mnw|di,aj avnagra,yaj∙ le,gei ga.r w-de∙ ku,rioj poimai,nei me, kai. ouvde,n me u`sterh,sei („Dafür ist aber kein Gewöhnlicher Bürge, sondern es ist ein Prophet, dem es gut ist zu glauben, der Dichter der Loblieder; denn er spricht so: Der Herr weidet mich und nichts wird mir mangeln.“). Als Quelle seiner Analyse zieht Philo nach eigenen Angaben nicht eine beliebige oder gewöhnliche (o` tucw,n) Person heran, sondern den Verfasser der Loblieder. Ihm spricht er die Autorität eines Propheten zu. Philo, dessen Hauptwerk die Auslegung des Pentateuchs darstellt, sieht in Mose einen „von göttlichem Geiste erfüllten grossen Propheten“39. Weiterhin ist auch jeder weise und gerechte Mann der Schrift ein Prophet, der als tönendes Instrument Gottes wirkt (vgl. z.B. Her 259f.). Ebenso spricht er auch vom Psalmisten als Propheten oder als einem göttlich inspirierten Mann (o` qespe,sioj avnh,r– Plant 29 s.u.) und verleiht dadurch den Worten des Psalmisten ebensolche Autorität wie Mose.40 Der von Philo zitierte V. 1 ist dem Vertrauenspsalm Ψ 22 entnommen, der vor dem Hintergrund einer vom Beter konkret erlebten Gefahr gelesen werden muss (vgl. V. 5). Der Beter ist sich jedoch trotz der Bedrohung durch seine Feinde des Schutzes und der Führung Gottes sicher und drückt diese Zuwendung in Bildern von Gott als Hirten und Gastgeber aus.41 Im Kontext des Zitates ist für Philo lediglich das Hirtenbild von Bedeutung. Jeder gottliebende Mensch (filo,qeoj – § 51) wird die Führung Gottes erfahren, welcher als der gute Hirte weder Mangel noch Zerstreuung der Seelenherde zulässt. Im Anschluss an das Zitat weitet Philo das Herdenbild auf das gesamte Weltall aus (§ 51). Auch hierauf passt das Lied (a=|sma), d.i. der zitierte Ψ 22,1. Diese Herde aus Elementen, Pflanzen, Tieren, Himmelskörpern etc. wird ebenfalls von Gott als dem Hirten und König nach Recht und Gesetz geleitet. Unter der Obhut Gottes kommt jedem Wesen in Fülle zu, was es benötigt, sodass das zitierte Lied eine außerordentlich schöne Ermun39
COHN, Philo I, 12; vgl. dazu besonders die Ausführungen unten auf S. 118f. Vgl. LEONHARDT, Jewish worship, 149f.; s. auch u. S. 125. 41 Vgl. KRAUS, Psalmen 1–59, 334–341. 40
100 Kapitel 2: Die Verwendung der Psalmen im Allegorischen Kommentar des Philo terung zur Frömmigkeit darstellt (pagka,lh de. eivj o`sio,thta parai,nesij – § 54). Denn nur derjenige, der zu Gott gehört, hat den „sehenden“ Reichtum (plou/ton ble,ponta) und muss keinen Mangel leiden. 3. Die Psalmzitate im Kontext von De plantatione In De plantatione zitiert Philo zwei Mal aus den Psalmen. Die Schrift beginnt mit einem Überblick über die Weltschöpfung, welcher in zwei Abschnitte untergliedert ist. Der Erste thematisiert Gott als Pflanzer „der Welt im Großen“ (§§ 1–27). Dabei ist die Welt diejenige Pflanze, aus welcher die vielen tausend Einzelpflanzen wie aus einer Wurzel sprossen (§ 2). Der unvergängliche Logos (lo,goj o` ai