Die Rationalität des Mythischen: Der philosophische Mythos bei Platon und seine Exegese im Neuplatonismus [Reprint 2011 ed.] 9783110894622, 3110173379, 9783110173376

The present study examines the significance of the mythical for Plato's philosophy and for classical thought after

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German Pages 450 [452] Year 2002

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Table of contents :
I Einleitung
II Die platonische Philosophie des Mythos anhand des Schlußmythos der Politeia
A Die Funktion des Mythos bei Piaton und die Deutung der platonischen Mythen in der Forschung
B Dichtung und Mythos in ihrer pädagogischen Bedeutung bei Platon
C Die Bildung der Wächter
D Die Mythen der Politeia
E Die Bildung der Philosophen
F Der Schlußmythos in seiner Funktion für die Ethik der Politeia
G Die Wahl des Schicksals im Er-Mythos
III Zur Bedeutung des (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie
A Die Zeit vor Proklos
B Allgemeine Anmerkungen zum Phänomen des Mythischen bei Proklos
C Anmerkungen zur christlichen Rezeption des Er-Mythos
IV Der Mythos bei Proklos und seine Deutung des Er-Mythos
A Zur 16. Abhandlung und ihrer Stellung im Gesamtkommentar
B Die Analyse des Er-Mythos und ihre Bedeutung für die Bestimmung des Mythischen in Proklos’ Philosophie
C Proklos’ Deutung der Wahl des Lebens innerhalb des Er-Mythos im Kontext ihrer Bedingungen, Umstände und Folgen
V Schluß
VI Appendices
A Anmerkungen zum Er-Mythos bei Simplicius
B Anmerkungen zum Prinzipienpaar von Gleichheit und Ungleichheit
C Anmerkungen zur Stellung der Henaden bei Proklos
D Zur Funktion des Mythischen im Timaios
VII Literaturverzeichnis
VIII Register
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Die Rationalität des Mythischen: Der philosophische Mythos bei Platon und seine Exegese im Neuplatonismus [Reprint 2011 ed.]
 9783110894622, 3110173379, 9783110173376

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Dirk Cürsgen Die Rationalität des Mythischen

W DE G

Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jürgen Mittelstraß, Dominik Perler, Wolfgang Wieland

Band 55

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

Die Rationalität des Mythischen Der philosophische Mythos bei Piaton und seine Exegese im Neuplatonismus von Dirk Cürsgen

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einbeitsaufnahme Cürsgen, Dirk: Die Rationalität des Mythischen : der philosophische Mythos bei Piaton und seine Exegese im Neuplatonismus / von Dirk Cürsgen. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Quellen und Studien zur Philosophie ; Bd. 55) Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 2000 ISBN 3-11-017337-9

© Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen Printed in Germany Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Danksagung Die hier vorliegende Arbeit ist die leicht veränderte und erweiterte Fassung der Dissertation, mit der ich im Dezember 2000 an der Ruhr-Universität Bochum promoviert wurde. Ich danke meinen Betreuern Prof. Dr. Theo Kobusch und Prof. Dr. Burkhard Mojsisch von der Ruhr-Universität für die fachliche Betreuimg der Arbeit und für die Gespräche, die ihr Entstehen und Gelingen begleitet haben. Ebenfalls danken möchte ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Arbeit mit einem Promotionsstipendium im Rahmen ihres Graduiertenkollegs Der Kommentar in Antike und Mittelalter gefördert hat. Mein letzter und besonderer Dank gilt meinen Eltern und Frau Dr. Rebecca Paimann. Bochum im Oktober 2001

Dirk Cürsgen

Inhalt

I

Einleitung

1

II Die platonische Philosophie des Mythos anhand des Schlußmythos der Politeia

13

Α Die Funktion des Mythos bei Piaton und die Deutung der platonischen Mythen in der Forschung 1) Die Deutung der Mythen in der Forschungsliteratur 2) Anmerkungen zum Verhältnis von Mythos und Logos

13 13 25

Β Dichtung und Mythos in ihrer pädagogischen Bedeutung bei Piaton

32

C Die Bildung der Wächter

39

D 1) 2) 3) Ε 1) 2)

Die Mythen der Politeia Die Gyges-Erzählung Der Autochthonen-Mythos Der Mythos des Er Die Bildung der Philosophen Das Verhältnis von Wächtern und Philosophen Der Philosoph und die Herrschaft im Staat

51 51 54 58 68 68 76

F 1) 2) 3)

Der Schlußmythos in seiner Funktion für die Ethik der Politeia Die Bildung und die Güte des Menschen Das Verhältnis von Arete und Seele Das Wesen der Gerechtigkeit und der Mythos

G Die Wahl des Schicksals im Er-Mythos

88 88 92 103 114

VIII

Inhalt

III Zur Bedeutung des (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

122

Α Die Zeit vor Proklos

122

Β bei Allgemeine Proklos Anmerkungen zum Phänomen des Mythischen

144

C Anmerkungen zur christlichen Rezeption des Er-Mythos

160

IV Der Mythos bei Proklos und seine Deutung des Er-Mythos

164

Α Zur 16. Abhandlung und ihrer Stellung im Gesamtkommentar

164

Β Die Analyse des Er-Mythos und ihre Bedeutung für die Bestimmung des Mythischen in Proklos' Philosophie 1) Einleitung und Ausführungen zum Er-Mythos in der 15. Abhandlung 2) Der einleitende Teil des Kommentars a) Die Bestimmung des skopos und ihre Bedeutung für den Mythos b) Die Einwände des Colotes und die theoretische Bestimmung des Mythos 3) Die Auslegung des Er-Mythos a) Zum Abschnitt In Rep. II, 109,4 -122, 11 b) Zum Abschnitt In Rep. II, 122, 12 - 136, 16 c) Zum Abschnitt/« Rep. II, 136, 17 - 144, 12 d) Zum Abschnitt In Rep. II, 144, 13 -152, 26 e) Zum Abschnitt In Rep. II, 153, 1 - 163, 12 f) Zum Abschnitt/« Rep. II, 163, 13 - 171,21 g) Zum Abschnitt In Rep. II, 171, 22 -185, 18 h) Zum Abschnitt In Rep. II, 185, 19 - 202, 2 i) Zum Abschnitt In Rep. II, 202, 3-213, 12 j) Zum Abschnitt In Rep. II, 213, 13 - 225, 25 k) Zum Abschnitt In Rep. II, 236, 16 - 257, 25 1) Weitere Überlegungen zu ausgewählten Stellen des Kommentars zum Er-Mythos

169 169 172 172 188 211 211 218 222 227 238 246 251 255 263 270 275 295

Inhalt

IX

C Proklos' Deutung der Wahl des Lebens innerhalb des Er-Mythos im Kontext ihrer Bedingungen, Umstände und Folgen 1) Vorbemerkung 2) Zum Abschnitt In Rep. II, 257,26 - 268,26 3) Zum Abschnitt In Rep. II, 271,6 - 279, 10 4) Zum Abschnitt In Rep. II, 279, 10 - 291, 26 5) Zum Abschnitt In Rep. II, 292, 23 - 328, 18 6) Zum Abschnitt In Rep. II, 330, 17 - 359, 8

308 308 309 322 329 337 350

V Schluß

365

VI Appendices

378

Α Anmerkungen zum Er-Mythos bei Simplicius

378

Β Anmerkungen zum Prinzipienpaar von Gleichheit und Ungleichheit

383

C Anmerkungen zur Stellung der Henaden bei Proklos

386

D Zur Funktion des Mythischen im Timaios

389

VII Literaturverzeichnis

394

VIII Register

429

I Einleitung

Gegenstand dieser Arbeit sollen die Darstellung und Untersuchung des Wesens, der Funktion und der Konzeption des philosophischen Mythos bei Piaton und Proklos sein, wobei als Ausgangs- und Bezugspunkt der Schlußmythos der Politeia bzw. der Kommentar des Proklos zu diesem Mythos dient. Eine Gegenüberstellung des platonischen Mythenverständnisses anhand der Politeia mit der Proklischen Rezeption und (Um-)Deutung läßt am selben Grundtext deutlich werden, welcher Wandel in der Bestimmung des philosophischen Mythos, seines Status und seiner Funktion schon innerhalb des Piatonismus stattfand; trotz der Intention seiner Nachfolger, nur authentische Exegeten Piatons sein zu wollen, vollzogen sich im Neuplatonismus eine fundamentale Vereinseitigung und Metamorphose des ursprünglichen platonischen Philosophiekonzepts. Bestimmte Tendenzen und Linien des platonischen Denkens wurden zugunsten der völligen Ausblendung anderer Aspekte in den Vordergrund gestellt, betont und entwickelt, so daß sich in der Folge etwas Eigenständiges, aber dennoch an Piaton Gebundenes bildete. Die Gewaltsamkeit der Deutung und die radikale Vereinseitigung Piatons im Neuplatonismus zeigen, daß ein 'authentischer' Piatonismus die Wahrheit Piatons in der vollständigen Konstruktion einer seiner Potenzen und Gestalten sucht und suchen muß - ein Ansatz und eine Bestimmung, die noch für Nietzsche, Heidegger oder Whitehead Geltung besitzen und bereits bei Aristoteles und der Alten Akademie feststellbar sind. Aber nirgendwo klaffen Selbstverständnis und Tatsächlichkeit des Verhältnisses zu Piaton derart auseinander wie bei den Neuplatonikern, was sich u. a. an ihrer Interpretation des platonischen Mythos aufweisen läßt. Während bei der Deutung der platonischen Mythen die Piatonforschung fast ausschließlich zu einer generalisierenden Verhältnisbestimmung von Logos und Mythos als den postulierten grundsätzlichen Erscheinungsformen der platonischen Philosophie tendiert, unterbleibt der notwendige Versuch, die Mythen in ihrer jeweiligen dialogimmanenten und damit konkreten Funktionsbindung zu analysieren und aufzuzeigen ein Versuch, der bei einem so umfangreichen Dialog wie der Politeia besonders naheliegt und aufschlußreich für Piatons gesamtes Werk sein, d.

2

Einleitung

h. als repräsentatives Exempel fungieren kann. Deshalb bemüht sich die vorliegende Arbeit darum zu prüfen, in welcher Beziehung der Schlußmythos der Politeia zu den wesentlichen Themen und Gegenständen dieses Dialogs steht. Weder wird der Mythos als hermetisch geschlossener Textabschnitt betrachtet - und damit isoliert - , noch wird er auf sein Verhältnis zu den anderen platonischen Mythen hin angesehen, so daß sonst im Mittelpunkt des Forschungs- und Auslegungsinteresses stehende Themenkomplexe nicht den schwerpunktmäßigen Gegenstand dieser Arbeit bilden. Statt dessen wird der Er-Mythos im Hinblick auf den Verlauf und die Inhalte des ihm vorangehenden Gesprächs bzw. ihre Ordnung untersucht. Dabei zeigt sich, daß Piaton den Mythos sehr viel weitgehender in den Dienst seiner Philosophie stellt, als bisher erkannt wurde, und daß er mittels einer freien und detailreichen Verbindung von Elementen des tradierten Mythos darauf ausgeht, die Ergebnisse des philosophischen Gesprächs abschließend in Erinnerung zu rufen, ihre Akzeptanz zu fördern und zu ihrer Verwirklichung beizutragen, indem die Hörer oder Leser mit allen Mitteln überzeugt werden sollen. Der Mythos 'bildet' die Fähigkeit, sich überzeugen lassen zu können, bzw. er überredet zu ihr; er überredet zur Einsicht, das eigene Selbst, Denken und Handeln in der vernünftigen, dialogischen (Selbst-)Überzeugung zu begründen. Im einzelnen erweist sich, daß der Schlußmythos in einem sehr hohen Grad die Ergebnisse und Stufen des Dialogs integriert, wobei dem epistemologischen und ontologischen Fortschritt der Gesprächspartner und ihrer Erkenntnis der behandelten Gegenstände auf allen Ebenen Rechnung getragen wird. Der Schlußmythos soll der Verwirklichung des platonischen Staatsentwurfs 1 dienlich sein und hätte im realisierten Staat der Arete aller Bürger bzw. ihrer Bildung förderlich sein sollen. Es ist zur Bestätigung dieser Thesen daher im folgenden wichtig, den Er-Mythos in Verbindung zu setzen mit den Bestimmungen zum Wesen des Gerechten (im I. Buch der Politeia), mit den pädagogischen und theologischen Kriterien guter Mythen und Dichtung (im II. und III. Buch), mit den Bildungskonzepten für Wächter und Philosophen, mit der Erkenntnistheorie und Psychologie des Werks und mit den übrigen Mythen im Dialog; nur so läßt sich ein Gesamtbild mit allgemeingültigen Aussagen entwerfen und aufweisen. Bevor dann eingehend die Funktion des Mythos bei Proklos und seine Auslegung des platonischen (Er-)Mythos analysiert werden, soll versucht werden, die Hauptstationen in der Entwicklung des Mythenverständnisses vor Proklos zu skizzieren. Einerseits soll damit die Zeitspanne zwischen Piaton und Proklos überbrückt werden, andererseits soll wenigstens anDen utopischen Charakter der Politeia hebt Bloch (1959), S. 592 ff. hervor.

Einleitung

3

satzweise klar werden, auf welchen Grundlagen und Prämissen Proklos' Interpretation ruht, welche Tendenzen er aufnimmt und weiterentwickelt. In diesem Kontext sollen die Grundzüge seiner allgemeinen Mythenauffassung hervortreten und als Hintergrund seiner Auslegung eines einzelnen platonischen Mythos entwickelt werden. Im Anschluß wird dann in einem zweiten Hauptteil Proklos' Kommentar zum Schlußmythos der Politeia (innerhalb seines Politeia-Kommentars) detailliert dargestellt und auf sein Konzept und sein Verständnis vom Wesen des Mythischen insgesamt bezogen werden, um Einsicht in die expliziten und impliziten Verhältnisstrukturen zwischen allgemeinen, theoretischen Bestimmungen des Mythos (bei Piaton) und konkreten Einzelanalysen und sachlich-inhaltlichen Aussagen gewinnen zu können. An geeigneten Stellen sollen dabei die ontologischen und metaphysischen Prinzipien des Proklischen Systems als Hintergrund entfaltet werden, soweit sie für sein Mythenverständnis relevant und erhellend sind. Auf einige knappe Anmerkungen zu formalen und kommentartechnischen Aspekten der 16. Abhandlung des Politeia-Kommentars und ihrer Stellung in ihm werden anschließend die Untersuchung und konkrete Darstellung dieses Kommentarabschnitts selbst folgen. Diese werden sich an der Abfolge und dem Verlauf des Textes orientieren, so daß sich unter Wahrung der gegebenen Ordnung die Aussagen zu sachlichen Fragen und ihrer mythischen Repräsentation von ihrem jeweiligen Ort aus referieren, interpretieren und in das Ganze einordnen lassen. Den Abschluß soll aufgrund seiner relativen thematischen Geschlossenheit die Analyse des Komplexes der Wahl des Lebens im Er-Mythos bzw. der Freiheitsproblematik bilden, wobei in beiden Abschnitten versucht wird, den prinzipientheoretischen Hintergrund sowohl des Mythos als auch der Freiheit durchscheinen und sichtbar werden zu lassen. Grundsätzlich läßt sich feststellen, daß der Schlußmythos auf die Entwicklung und die Resultate des Dialogs rekurriert und in ihrem Licht zu lesen ist. Er genügt den Forderungen Piatons bezüglich der pädagogischen und theologischen Rolle von Mythen im allgemeinen, sofern sie im platonischen Staat eine Funktion beanspruchen können. Er erfüllt alle inhaltlichen und formalen Kriterien guter, staatstragender Dichtung - und folglich guter Mythen - , wie sie in den Büchern II und III entfaltet werden. Weiterhin steht der Mythos im Dienst der Bildung und Erziehung der Wächter und berücksichtigt ihren seelischen Status, indem er den Bereich und die Grenze der Wissensform der Doxosophie reflektiert und darstellt. Auf dieser Ebene vollendet er auch die Möglichkeiten mythischer Wahrheit und ihrer Erkenntnis, wie sich aus einem Vergleich mit den anderen

4

Einleitung

Mythen der Politeia schlußfolgern läßt. Der Endmythos ist inhaltlich, formal und funktional ein Gipfel- und Grenzpunkt des doxischen Wissens und seiner Gegenstände, die ja für die Wächter maßgeblich sind. Aber der Er-Mythos erweist sich auch noch als Versuch, einen vermittelnden Übergang zwischen Wächter- und Philosophenpaideia zu finden. Das Wissen der Philosophen unterscheidet sich fundamental von dem der Wächter, so daß Piaton vor der Aufgabe steht, seine Bildungskonzepte zu vermitteln, will er seinen Staat verwirklichen. Der Schlußmythos integriert die Bildungsentwürfe und bietet philosophischen Naturen die Möglichkeit, einen Anfang in den Übergang von doxischem zu gnomischem Wissen zu gewinnen. Denn hinter dem Anschaulichen wird das Begriffliche angedeutet, worin ja der wissenschaftliche Arbeitsbereich der Philosophen liegt. Schließlich bestätigt sich noch bei der Ethik der Politeia die enge Bindung zwischen Dialog und Endmythos. Da Bildung nämlich für Piaton stets Bildung zur Arete bedeutet, greift der Mythos alle Ausführungen zum Wesen des Gerechten und der Tugend (etwa im I. Buch) auf und zeigt, was von ihnen vor dem Hintergrund der Definition der Gerechtigkeit als Tun des Seinigen auf welche Weise und in welchem Maße haltbar ist und was nicht. Der Schlußmythos umfaßt die traditionellen Ansichten zum Wesen des Gerechten in gereinigter Form und bindet sie an die philosophisch entwickelte Wesensdefinition, wodurch deren allgemeine Akzeptanz ermöglicht wird, die eine mögliche Verwirklichung des entworfenen besten Staates bedingt. Wie sich zeigen wird, besitzt der Mythos bei Piaton keine sachliche bzw. epistemische Selbständigkeit, so daß er unabhängig für sich und ohne höhere Begründung und Verweisungsausrichtung bestehen und wirken könnte. Piaton markiert die Vollendung im Wandel des Wesens des griechischen Mythos, den er im Dialog dem rationalen Logos unterwirft, so daß der Mythos - als Vorstufe und Wiedervermittlung des Logos - nicht mehr selbst das Medium der Lösung der 'großen Fragen' bildet, obwohl er auch bei Piaton die alten Themen aufgreift (Schuld und Verantwortung, Freiheit und Schicksal, Ursprung des Übels und des Menschen, Stellung des Menschen im Ganzen usw.). Der Mythos ist das Produkt eines philosophischen Wissens, das bereits weiß, welche Veranschaulichungen des Begriffs am besten die unsinnlichen Einsichten im Bereich des Anschaubaren repräsentieren und zugleich zum philosophischen Erkennen überleiten können. Bei Piaton gehört es zum Wissen des Philosophen, bestimmen zu können, welche Veranschaulichungen dazu taugen, zur philosophischen Denkweise überzuleiten, ohne daß doch die mythischen Sachverhalte und Elemente wirklich schon gehaltlich die Veran-

Einleitung

5

schaulichung unsinnlicher Entitäten und Einsichten wären. Der Philosoph weiß also formal um den Übergang zwischen Meinung und Wissen, weshalb der Mythos bei Piaton auch nicht gehaltlich in ein unsinnliches Wissen aufzulösen ist. (Die Form des Übergangs liegt also in einem Sprung, wie auch in der neuplatonischen Allegorese, weshalb die mythischen Sachelemente auch für sich genommen noch einen Sinn haben müssen, ohne nur ein Modus des Begriffs zu sein; bei Proklos geht der Mythos hingegen vollständig im Geistigen auf.) Die mythischen Details bedeuten eben nicht selbst ein korrespondierendes Begrifflich-Intellektuelles, sondern repräsentieren letzteres nur, anders als später bei Proklos, der versucht, eine 'Bedeutungsidentität' zwischen Mythos und theologischbegrifflichem Prinzip herzustellen. Bei Piaton erweist sich der Mythos als eine Funktion des Logos, die folglich gar nicht im Gegensatz zu diesem stehen kann (Piaton läßt Mythos und Logos nur als Gegensatz erscheinen), so daß ein Interpretationsansatz, der von einer wie immer gearteten Verhältnisbestimmung zwischen ihnen ausgeht, zumeist die Unselbständigkeit des Mythos bei Piaton verkennt. Im Gorgias als weiterem Beispiel offenbart der Schlußmythos mit seiner Gewalttätigkeit die Grenze dessen, was sich im Logos noch mit Gewalt erzwingen und mitteilen läßt, denn hier hören die beteiligten Sophisten dem drohenden Mythos des Sokrates gerade noch zu. Piaton greift im Mythos aus dem Dialog stammende Ergebnisse sowie die Atmosphäre des Gesprächs auf und repräsentiert sie in mythischen Elementen und Geschehnissen. Anders liegen die Dinge dann bei Proklos. Für ihn weiß der Philosoph - erfüllt durch das metaphysische Wissen in der Form der Epoptie - um die Weise der Transformierbarkeit eines geistigen Wissens in mythische Bilder auch material, und dieses Wissen gehört selbst zur Philosophie. Die Mythen sind inhaltlich selbst die (idealen und einzig möglichen) veranschaulichten Logosgehalte in Gestalt ihrer sachlich kontradiktorischen Darstellung; zumeist bedeuten die Mythen als sie selbst ihr Gegenteil. Der ontologisch-theologische Referenzbereich der Mythen liegt dabei für Proklos in den unteren Seins- und Götterstufen bzw. in speziellen, teilhaften Sachverhalten. Die Mythen sind und bedeuten selbst die unteren Teile der symbolischen Theologie und ihres Systems, so daß nur der unaufgelöste Mythos bei Proklos unselbständig und unsinnig ist. Der logischnoetisch umgedeutete Gehalt der platonischen Mythen wird bei Proklos nicht nur sachlich eigenständig, sondern die Umdeutungen nehmen bei ihm nicht auf den Dialog, in dem der Mythos jeweils steht, Bezug. Bei Piaton bedeuten die Mythen das, was sie repräsentieren; bei Proklos repräsentieren die Mythen das, was sie bedeuten.

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Einleitung

Zwar stellt Proklos in seinem Kommentar zum Er-Mythos noch einen formalen Bezug zwischen Dialog und Mythos her (Gerechtigkeit), aber er interpretiert den Mythos vorrangig als hermetischen Text, als Kern der Politeia mit einem spezifischen Gehalt. Im Vordergrund steht dabei für Proklos (neben der Freiheitsthematik) die Interpretation des Mythos als eines subordinierten Bestandteils der Platonischen Theologie, d. h. der am Parmertides orientierten, theologisch zentrierten, gestuften, systematischen Gesamtauslegung Piatons. Die im Er-Mythos auftretenden Göttinnen Ananke und die Moiren bilden für Proklos die Stufe der hyperkosmischenkosmischen Götter, die im Parmertides unter dem Prinzip ΊηKontakt/Ohne-Kontakt' ihren Ausdruck finden. Für ihn besteht nur ein System des theologischen Wissens, das einen symbolischen Hymnus auf das absolute Eine darstellt und das als Einheit aller Negationen des Parmenides in der Seele existiert. Piaton wird zum Zentrum der Inhalte und Darstellungsformen des Gesamtsystems, in dem dem Er-Mythos sein genau umrissener Ort und Zweck zugewiesen wird. In der Platonischen Theologie tritt der Mythos nur hinsichtlich seines theologischen Gehalts auf, d. h. Ananke und die Moiren werden in die Götterhierarchie eingeordnet und in ihrem Rang und ihren Funktionen analysiert. Im Kommentar hingegen greift Proklos auf die gesamte Kommentartradition, u. a. des Mittelpiatonismus, zurück. Der Rückgriff auf den sonst weniger beachteten Mittelpiatonismus gründet darin, daß der ErMythos einen ontologisch und theologisch tiefrangigen Bereich abhandelt, für den eben deshalb auch der Mittelpiatonismus noch relevant ist. Es wird ersichtlich, daß den in der Geschichte des Piatonismus erfolgenden Umdeutungen der platonischen Philosophie auch der Mythos unterlag: In einem zunehmend theologisch und systematisch akzentuierten Bild des platonischen Denkens werden die Mythen zu Bausteinen der Platonischen Theologie mit spezifischen Sachbereichen. Innerhalb dieser Tendenzen erfuhr aber gerade der Schlußmythos der Politeia den weitgehendsten dogmatischen Niedergang. Im Mittelplatonismus fungierte er als Ergänzung, Bestätigung und als korrespondierender Parallel- und Referenztext zum Zentralwerk Timaios, der aber mit diesem auf derselben Stufe dogmatischer Relevanz stand. Spätestens seit Plutarch wurde er als Symbol für die Totalität der innerseelisch verstandenen Seinsordnung angesehen, und er behielt diesen Bedeutungsbereich bis in den späten Neuplatonismus. Aber für diesen war der Bereich der Seele nur der dritte im Hypostasengefüge, so daß der Er-Mythos folgerichtig zurückgestuft wurde. Anders als der Timaios wurde dieser Mythos im späten Neuplatonismus auch nicht 'gedehnt', d. h. über mehrere Stufen hinweg als Quelle herangezogen. Der Er-Mythos trat zunehmend hinter

Einleitung

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den Timaios zurück, der nicht nur zur Physik des Neuplatonismus, sondern auch bis hin zu Proklos theologisch immer bedeutsamer wurde. Bereits im Mittelplatonismus wurde der platonische Mythos nicht mehr als innere, jeweils auf den Dialog zurückzubeziehende Einheit aufgefaßt, sondern als eigenständiges Gebilde, das dann für immer enger begrenzte Sachfragen Bedeutung hatte. Das Fortwirken des Er-Mythos und seiner Kommentierung belegt zwar das Fortwirken des Mittelplatonismus in der neuplatonischen Schultradition und der Systemfundierung aus platonischen Quellen (ebenso wie beim Timaios und seinen Kommentaren und anders als beim Parmenides, der im Mittelplatonismus unbekannt war). Aber zugleich zeigt sich, daß schon im Mittelplatonismus die Grundlage einer Mythenexegese gelegt wurde, die trotz ihrer Intention der Authentizität Piaton fundamental umdeutet: Der - logisch umgedeutete - Gehalt der Mythen wird auf den unteren Seinsstufen sachlich eigenständig (vgl. die Kommentare bloß zum Er-Mythos bereits im Mittelplatonismus). Im Schlußmythos der Politeia läßt sich aber auch der Beginn der Reflexion auf das Freiheitsproblem, im Zusammenhang mit den damit verbundenen Fragen, etwa nach dem Wesen der Notwendigkeit, des Schicksals, des Zufalls, der göttlichen Vorsehung, der Psychologie oder der Theodizee, innerhalb der griechischen Philosophie festmachen. Neben den kosmologisch-astronomischen und theologischen Aspekten des Mythos prägte deshalb v. a. die Rede des Propheten der Göttin Lachesis, die das Freiheitsproblem exponiert, die Rezeptionsgeschichte dieses platonischen Textes, nicht nur in der Antike, sondern noch im 20. Jahrhundert. Bereits im Mittelplatonismus wurde der Er-Mythos zu einem kanonischen Text der platonischen Schule, der die drei Bereiche Kosmologie, Theologie und Freiheit (Stellung des Menschen in der Gesamtordnung) in einer Einheit behandelte, also somit für die Interessen der Mittelplatoniker neben dem Timaios besonders wichtig war. Der Neuplatonismus setzte die vorgegebenen Tendenzen auch in dieser Hinsicht fort, d. h. der Er-Mythos blieb das Fundament der Philosophie der Freiheit bei den Piatonikern, auf das sie, auch in der Auseinandersetzung mit anderen Schulen, Bezug nahmen. Dabei muß einschränkend hinzugefügt werden, daß die Freiheit im Neuplatonismus auf zwei verschiedenen Ebenen betrachtet wird: Durch die Verselbständigung der Prinzipien (aus der Einheit der Weltseele heraus) und die Steigerung der Transzendenz des Absoluten wird die Frage nach der Freiheit auf allen Ebenen und für alle Hypostasen virulent. Anders als bei Piaton, der nur nach der Freiheit des Menschen fragt, stellt der Neuplatonismus die Frage nach der Freiheit der Seele(n), des Geistes und sogar des Einen. Innerhalb der Entwicklung des Neuplatonismus läßt sich eine Umkehr des Interesses

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Einleitung

ausmachen. Plotin behandelt das Freiheitsproblem (v. a. in Enn. VI, 8 2 ) rein systematisch und primär aus einer henologischen Fundamentalperspektive heraus. Um das Absolute vom Nicht-Absoluten in seinen Hauptgestalten abgrenzen zu können, wird ihm das Moment des Freiseins in einer völlig anderen Weise zugesprochen als diesem, weshalb sich vom Einen nur in einem ganz eigentümlichen und unübertragbaren Sinn als etwas Freiem reden läßt. Der Geist ist hingegen schon auf seiende Weise frei (was bei Proklos zurücktritt), ebenso die Seelen bis hin zur menschlichen Seele. Und nur im Kontext der Diskussion der menschlichen Freiheit nutzt Plotin auch den Er-Mythos als doxographisches Fundament (ζ. B. in Enn. III, 4). Der Er-Mythos trägt also nur dazu bei, den nicht-zentralen Komplex der subordinierten menschlichen Freiheit zu erhellen. Schon bei Porphyrios findet aber die Rückwendung zu einer interpretierenden Analyse der Freiheit ihren Ausdruck. Er teilt zwar Plotins Bestimmung der Freiheit des Absoluten, aber für ihn steht die menschliche Freiheit im Vordergrund. Entsprechend setzt er sich umfassend mit dem Er-Mythos auseinander, um ihn zur platonischen Grundlage der neuplatonischen Freiheitsphilosophie aufbauen zu können. Gerade auf der Ebene der menschlich-seelischen Freiheit liegen auch die Berührungspunkte mit den anderen Schulen der Zeit, die Porphyrios in seine Diskussion einbezieht. Noch in Proklos' Kommentar zum Er-Mythos spielen die Etablierung einer platonischen Freiheitstheorie und ihre Verteidigung gegen Einwände eine wichtige Rolle. Grundsätzlich kennzeichnet die Verbindung zwischen Problemen der Freiheit in der seelischen Seinsmitte und psychologischen Fragen (Transmigration) Porphyrios' Interpretation des Schlußmythos der Politeia. Der Kommentar des Proklos zur Politeia umfaßt 17 Abhandlungen zu verschiedenen Themen und Stellen des Dialogs, von denen diejenige zum Er-Mythos fast die Hälfte des gesamten Kommentars ausmacht, was schon das hervorragende Interesse an diesem Mythos belegt. Mit seiner Gewichtung steht Proklos in einer langen Tradition, die wohl auch bei der

Das Eine ist weder sein Herr noch hat es einen Herrn; es will nichts (anderes), weil es das Beste ist, obwohl es anderes sein könnte, d. h. es will nur sich selbst und ist notwendig, was es ist; es kann alles, wird aber nicht sein Gegenteil. Plotin faßt das Eine als Sich-Selbst-Setzendes und als Wollen seiner selbst, aber da alle Freiheits- und Willensakte ein Objekt und Relatum außerhalb voraussetzen, ist ein Wollen im strengen Sinne für das Eine unmöglich. Die quasi affirmativen Bestimmungen in VI, 8 häufen sich auffalligerweise besonders in dieser Freiheitsschrift. Anders als später für Proklos zählen Vorsehung und Unbegrenztheit für Plotin zum Bereich des Geistes.

Einleitung

9

Gewichtung des Freiheitskomplexes im Mythos (ein Drittel des Kommentars) maßgeblich mitwirkte. Proklos geht bei der Frage nach der Existenz, den Bedingungen, dem Umfang und den Grenzen der menschlichen Freiheit von der Verhältnisbestimmung zwischen freiem Willen und Fatum aus, d. h. die Einwirkungen des Alls auf den Willen und seine Eigenwirksamkeit werden als Faktoren der Lebenswahl und aller Handlungen festgelegt und gegeneinander abgewogen. Dabei erweist sich die Freiheit als existent sowie als Spezifikum der Seinsmitte, genauer der mittleren Seelenformen: Weder höhere noch niedrigstufigere Wesen sind frei, erstere wegen ihres rein noetisch geprägten Existierens, letztere wegen ihres fehlenden Denkvermögens und Auswahlvermögens. Nur der Mensch ist im eigentlichen Sinne frei, so daß Freiheit und notwendiges Tun des Guten nicht zusammenfallen, und er vermittelt das Überfreie an das Unfreie. Die Besorgung des Physisch-Somatischen bildet den Relationshorizont der menschlichen Seele, innerhalb dessen sie frei wählt; zugleich kann sie (während ihres körperlichen Lebens) in sich zurückgehen und zum Einen aufsteigen. Der doppelte Relationshorizont der Seele bedeutet für Proklos aber auch den spezifischen Existenz- und Wirkmodus der göttlichen Vorsehung in diesem Seinsbercich. Die göttliche Vorsehung bedient sich der menschlichen Seelen, um bis in die Natur hinab wirken zu können, und die menschliche Vorsehung ist in der Hauptsache die Gestalt dieses Wirkens. Die Hervorbringung der menschlichen Seelen und ihrer Freiheit bildet einen pronoetischen Wirkakt der Götter und ist das ontologische Faktum, durch das allein sie den Übergang zu den letzten Hypostasen zustande bringen können. Die Freiheit ist somit eine Notwendigkeit für die pronoetische Kontinuität und die ontologische Vermittlung, so daß sie der faktische Gestaltungsmodus des Seinszusammenhangs in der Mitte ist, aber die Träger dieses Faktums, die menschlichen Seelen, sind als sie selbst und im Ergreifen aller ihrer Möglichkeiten ungebundene und freie Wesen. Nur die Rahmenbedingungen des Vollzugs der Freiheit - etwa die Muster, die Wahlfolge oder die Notwendigkeit, überhaupt wählen zu müssen - werden vom Kosmos vorgegeben. Der freie Wille ist das spezifische Gut, das die göttliche Vorsehung der menschlichen Seele zugeteilt hat und das seine Funktion im Ganzen erfüllt, indem es gebunden ist. Man muß zwischen der Freiheit als funktionalem Teil des Ganzen der Vorsehung und der Freiheit in ihrer Bedeutung als existenzbestimmende Tatsache und Horizont des einzelnen freien Wesens unterscheiden. Die Freiheit ist die Weise der Existenz der Vorsehung beim Menschen - und dies unabhängig von der konkreten (guten oder schlechten) Ausübung dieser Freiheit.

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Die menschliche Seele hat ihren notwendigen Ort bezüglich des übrigen Seienden, mit dem sie in Verbindung steht und treten kann, aber welche ihrer Möglichkeiten sie konkret verwirklicht, muß sie selbst frei wählen; wie sie sich innerhalb ihres Lebens dem Ganzen einordnet, liegt bei ihr selbst. Die Seele muß in einem intellektuellen Entscheidungsakt alle ihre frei verfügbaren Beziehungen zu Seiendem durchlaufen und sich konkret auf eine festlegen, wodurch der Wahlakt für Proklos zu einer dialektischen Einheit von Tun und Leiden wird. Die höchste Potenz des menschlichen Wahlvermögens und das höchste Wählbare liegen in der Bindung an das Gute, das den Menschen als freies Wesen an seinen Ort gestellt hat und an das er sich zurückbinden soll, aber er ist eben nicht zum Gutsein gezwungen. Sich derart vom Guten bestimmen zu lassen, bedeutet für Proklos keine Unfreiheit, im Gegensatz zur intellektuellen Fehlleistung der Hinwendung zum Körperlichen oder zur falschen Lust; scheinbare Freiheit erstrebt hier bloß scheinbare Güter. Die Freiheit definiert den enormen Raum, den die menschliche Seele durchdringt und der als solcher zwar stets gleichbleibt, jedoch im Individuellen dynamisch durchdrungen und ausgefüllt wird; er reicht bis zum Stofflichen hinab und bis zum Noetischen hinauf. Die Menschen müssen den Aufstieg wählen, und dazu müssen sie ihn durch ihre Vernunft als höchstes Gut erkennen und wollen, womit das Denken zum primären Modus einer als Seelenrettung verstandenen, aufsteigenden Freiheit wird. Im Denken findet die Abkehr vom Äußeren und der Rückgang und Aufstieg im Inneren statt, das die Fülle der Seinsprinzipien bildet. Die Freiheit ist zunächst also die Möglichkeit und Kraft zur Selbstbefreiung vom Äußeren im Denken, aber das letzte Ziel der Freiheit und des sie leitenden Denkens liegt für Proklos in der Befreiung von der Freiheit selbst, vom Denken und vom (eigenen) Sein, in der Einung mit dem Einen. Die Henosis gründet in der Lösung von der zeitlich wirkenden Freiheit, die das Denken gebraucht, hin zu einer Freiheit, die Sein und Denken transzendiert, dem höchsten Status des Selbst. Die Freiheit zum Wissen und von der Unwissenheit ist nur der Anfang der Befreiung vom Wissen, wobei jedoch beides durch Kräfte im Menschen geleistet wird. Die höchste Befreiungsform, die Henosis, fehlt im Kommentar zum Er-Mythos, weil dieser die menschlich-seelische Freiheit nur im Bereich der kosmischen Seinsmitte abhandelt. Auf dieser Ebene etabliert Proklos die Freiheit als vor-durchdachtes, ontologisches Faktum des menschlichen Anfangenkönnens in der Seinsmitte, wodurch zugleich der zentrale Übergang im Seinsganzen bewerkstelligt wird. Die Freiheit bleibt im Horizont des Denkens gebunden, das sie und ihre Handlungen bestimmt. Proklos ontologisiert damit die Freiheit, sowohl unter dem Aspekt der Vorsehung

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und des Seinszusammenhangs als auch hinsichtlich ihrer Fundierung in der neuplatonischen Prinzipientheorie. - Die Seele wird sie selbst als im Sein Vermittelndes, aber zugleich vollendet sie sich im Ergreifen ihrer üb erseiend-ab soluten Potenz. Dem Denken als faktischem Aufstiegsmodus entspricht die pronoetisch durchdachte Rolle der Freiheit im All, aber der Gipfel ist die Befreiung vom Denken als Befreiung vom Selbst, sofern es seiend ist. Die Freiheit reinigt zunächst vom Minderseienden hin zum Höheren, letztlich erfolgt aber die Befreiung vom Sein überhaupt. Der notwendig zugleich erkennende und moralische Aufstieg befreit von ontologisch-faktischen und erworbenen Übeln; die Freiheit wählt das relativ Notwendige und Gute und das absolut Notwendige und Gute, wobei das Denken das Handeln bestimmt, aber nie umgekehrt. Der Er-Mythos hat die innere Teleologie des Lebens entdeckt, die den ontologischen Zweck der Freiheit erfüllen kann und soll. Zuletzt ist jedoch jede Freiheit endlich, weil das Sein endlich ist. Die Festlegung des Er-Mythos v. a. auf die Freiheitsthematik, die schon in der Antike erfolgte, bleibt bis in die Moderne hinein erhalten. Als Beispiele mögen hier für das 19. Jahrhundert Schopenhauer und für das 20. Cassirer stehen. Für Schopenhauer dient der Mythos der Verhältnisbestimmung von intelligiblem, empirischem und erworbenem Charakter sowie der Analyse der Seelenwanderung, wobei er sogar auf den Neuplatonismus zurückgreift. Im 20. Jahrhundert weicht nur Heidegger von dieser Linie ab, der im Er-Mythos nicht primär das erstmalige Erscheinen von etwas philosophisch Neuem (Freiheit) betont, sondern den Reflex der zunehmend in Vergessenheit geratenden ursprünglichen Unverborgenheit des Seins.3 Hier schließlich sei nun bezüglich der Zitierweise der Arbeit noch folgendes angemerkt: Im ersten Hauptteil wird Piaton unter Angabe des abgekürzten Dialogtitels und der Stelle gemäß der Stephanus-Paginierung nachgewiesen; nur die Politeia wird ausschließlich nach letzterer zitiert, d. h. ohne Angabe von Dialogtitel und Buch werden nur Seiten bzw. Seitenabschnitte genannt. Außerhalb dieses Teils wird Piaton stets vollständig nachgewiesen.

Auf weitere Nachklänge des Er-Mythos, auf die im folgenden nicht mehr eigens eingegangen wird, sei hier nur summarisch verwiesen, wobei v.a. Derkylides, Albinos, Apuleius, Tacitus, Vergil, Herakleides Ponticus, Theon von Smyrna, Ammianus Marcellus, Servius, Milton, Rabelais, Leibniz, Goethe, Schelling, Mainländer, Kierkegaard, Sartre, Klages, Ricoeur oder N. Hartmann zu nennen wären.

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Proklos' Werke werden in den in der Forschung üblichen Abkürzungen zitiert, v. a. die Kommentare (ζ. B.: In Rep. oder In Parm.); sofern Bandangaben erfolgen, orientieren diese sich an den griechischen Standardausgaben, ebenso Seiten- und Zeilennachweise. Die Platonische Theologie wird durchgehend mit PT, die Elemente der Theologie mit ET abgekürzt, wobei Angaben, die sich auf erstere beziehen, zumeist Bücher, Kapitel, Seiten und Zeilen nach der Ausgabe von Saffrey und Westerink nennen, während Bezugnahmen auf letztere stets nur die Propositionen angeben, auch wenn Beweise oder Corollarien relevant sind. Andere Werke der Primärliteratur werden unter Nennung des Autors und des Buchtitels entsprechend den gebräuchlichen Einteilungsweisen, Abkürzungen und Ausgaben verzeichnet.

II Die platonische Philosophie des Mythos anhand des Schlussmythos der Politeia Α Die Funktion des Mythos bei Piaton und die Deutung der Mythen in der Forschung

platonischen

1) Die Deutung der Mythen in der Forschungsliteratur Die Bedeutung und Funktion des Mythos innerhalb der platonischen Philosophie zählen zu den schwierigsten und wichtigsten Fragen bei der Interpretation dieser Philosophie. Dementsprechend lassen sich in der Platonforschung zu fast allen Einzelfragen zum Komplex der platonischen Mythen konträre Ansichten aufweisen. Einer der ältesten und dauerhaftesten Ansätze zur Auslegung der Mythen liegt im Versuch, den Mythos aus seinem Verhältnis zum Logos heraus zu bestimmen, wobei diese beiden Begriffe die grundsätzlichen Erscheinungsformen der platonischen Philosophie verkörpern sollen, die selbst bei möglichen Zwischenformen rahmenbildend bleiben. Da sich an diesem Ansatz jedoch auch viele Probleme der Mythentheorien aufweisen lassen, ist es tunlich, von ihm auszugehen. Innerhalb der Forschungsliteratur finden sich hauptsächlich drei Positionen: Die erste geht vom Primat des Mythos über den Logos aus, die zweite vom Primat des Logos über den Mythos, die dritte von einem ausgeglichenen und gleichwertigen Verhältnis zwischen beiden. Dabei können die Begriffe 'Logos' und 'Mythos' wegen ihres weiten, umfassenden Charakters kaum genau bestimmt und voneinander unterschieden werden. So treten Abgrenzungsprobleme4 zwischen Logos und Mythos sowie möglichen Zwischenstufen oder zwischen Mythen und Gleichnissen auf letztere werden von einigen Forschern sogar gleichgesetzt.5 Zwischen 4

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Vgl. Willi (1925), S. 28 f. - Rudolph (1994), S. 110 f. - Zaslavsky (1978), S. 2986. (Diese Autoren bezeichnen die gesamte Politeia als Mythos.) - Teilweise werden auch der Idealstaat und die Ausführungen zur Bildung als Mythen gefaßt: vgl. Segal (1978), S. 330. - Moors (1988a), S. 217. Vgl. Beneke (1842), S. 242. - Ritter (1923), S. 45. - Stöcklein (1937), S. 6. Windelband (1920), S. 119 f. - Willi (1925), S. 30. - Friedländer (1960), S. 124. Halevy (1896), S. 296. - Hildebrandt (1959), S. 119 f. und S. 238 f. - Hoffinann (1950), S. 62. - Cassirer (1978), S. 95. - Martin (1973), S. 28 f./ S. 94. - Müller

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Logos und Mythos läßt sich allerdings ein fließender Übergang ausmachen; im Höhlengleichnis etwa, das als bildlicher Logos oder als logisches Bild ausgelegt werden kann, finden sich mythische Elemente. Diejenigen Autoren, die von einem Primat des Logos ausgehen 6 , tun dies entweder betont und explizit oder schwankend und implizit. Der Logos wird allgemein als philosophisches Gespräch verstanden, in dem die Gesprächspartner versuchen, Fragen durch vernünftiges Argumentieren, dialogisch hergestellte Übereinkunft und schrittweise Prüfung und Klärung von Grundbegriffen zu lösen; der Logos gilt in diesem Fall als Medium begrifflich-rationaler Wissenschaft und Forschung. Der Mythos repräsentiert dagegen eine Art (zeitweiliger oder dauerhafter) 'ancilla philosophiae'. Er kann einen strengen Beweis vorläufig oder - bei schwierigen Problemen und Gegenständen - dauerhaft ersetzen, ohne doch dessen Wert zu erreichen, so daß er ein prinzipieller oder vorläufiger Notbehelf anstelle des wissenschaftlichen Beweises bleibt. Mythen treten dort auf, wo sicheres Wissen fehlt und (momentan) nicht zu erreichen ist. Spätestens hier stellt sich die Frage, welchen Gegenstandsbereich der Logos haben soll und welcher im Gegenzug dem Mythos zukommen kann. Meist wird dem Mythos ein ontologisch, epistemologisch und axiologisch minderer Bereich zugewiesen, wobei die im Liniengleichnis der Politeia genannten Wissensformen den Ausgangspunkt bilden und der gesamten platonischen Philosophie unterlegt werden; dem Mythos wird hierbei der Bereich doxischen Wissens mit seinen Gegenständen zugewiesen. 7 Während die Wissensformen aber kontinuierlich ineinander übergehen können - wie es die Politeia zeigt 8 sollen die Gegenstände doxischen Wissens jedoch

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(1986), S. 24. - Hirsch (1971), S. 236. - v. Loewenklau (1958), S. 738. - Rudolph (1994), S. 99flF.- Brumbaugh (1954), S. 170. - Mc Gowan (1984), S. 3092. Vgl. Schopenhauer (1988), ΙΠ, S. 535. - Stöcklein (1937), S. 2 - 14 und S. 55. Hartmann (1965), S. 217 ff. - Hartmann (1957), S. 56 f. - Biesterfeld (1970), S. 9, 72 und S. 174. - Ritter (1923), S. 38,45 f., 80 und S. 628. - Kytzler (1997), S. 9. - Edelstein (1949), S. 467 f. - Gauss (1956), S. 97 f. - Krüger (1948), S. 57 f. Otto (1955), S. 263. - Mayr (1962), S. 42. - Müller (1986), S. 121. - Huber (1964), S. 121 f. - Crombie (1962), I, S. 153. - Schleiermacher (1969), S. 29 f. Gaiser (1963), S. 243 f. und S. 288 f. - Fries (1969), S. 305. - Comford (1941), S. 348. - Natorp (1900), S. 436. - Thomas (1938), S. 75. - Couturat (1896). Frutiger (1930), S. 269. - Rist (1964), S. 7 -13. - Dönt (1995), S. 7 - 20. An expliziten Zuweisungen seien genannt: Hartmann (1965), S. 295 f. - Fries (1969), S. 305. (Hartmann siedelt den Mythos auf der Stufe der πίσπς an, Fries auf der Stufe der βίκασία.) In diesem Kontext läßt sich das Liniengleichnis als Darstellung eines übergängigen Wissenskontinuums, das Höhlengleichnis als Schilderung des sprunghaft-gewaltsamen Aufsteigens der Erkenntnis auslegen; die Mathematik

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nicht transzendierbar sein, wofür der Mythos stehe. In diesem Bereich bleibt alle 'Erkenntnis' unsicher, ungenau, wandelbar, bloß wahrscheinlich und im eigentlichen Sinne nicht wissenschaftlich. Als Gegenstandsbereich des platonischen Mythos gelten das Sichtbare, Werdende, Materielle und somit nur Wahrscheinliche.9 In diesen Gegenstandsbereich sollen ζ. B. der Kosmos, die Natur oder die Anfänge der menschlichen Geschichte gehören, aber auch das Wesen der (göttlichen und menschlichen) Seele.10 Dem Mythos bleibt ein Bereich vorbehalten, der als alogisch eingestuft wird bzw. in dem der Logos eine prinzipielle Defizienz aufweist; im Fall des doxischen Feldes folgt die Insuffizienz des Logos aus seiner hohen Arete. Von der Annahme einer grundsätzlichen Defizienz des Logos gehen viele Forscher aus, so daß der Mythos in diesem Bereich zu einem unter-, gleich- oder übergeordneten Ersatz oder zu einer Ergänzung des Logos wird. Im ersten Fall steckt seine Arete dem Logos Grenzen, im letzten seine Schwäche; im zweiten Fall läßt sich beides verbinden. Die Mangelhaftigkeit des Logos kann sowohl als zeitweilige und methodisch begründete gemeint sein als auch als prinzipielle und unaufhebbare11, so daß ein Übergang oder ein Bruch zwischen Mythos und Logos besteht. All diese Angaben sind problematisch: Wenn der Mythos für eine ihn später ersetzende, bewiesene Einsicht vorläufig stellvertretend sein und sie antizipieren soll, so wäre dazu auch ein doxischer Logos tauglich. Es bleibt offen, was mit den Vorstufen nach dem Erreichen des Ziels geschieht und warum gerade ein Mythos diese Stellvertreterfunktion haben soll bzw. was er dem Logos dabei voraushätte. Ein Wissensfortschritt kann sich in gleichem Maße logischer und mythischer Vorstufen bedienen, d. h. der Bereich der δόξα ist keinesfalls ausschließlich mythisch zu begreifen und auszudrücken. Außerdem trifft die Ansicht, der Mythos sei ein vorläufiger Stellvertreter des Logos, nicht auf alle Mythen (gleichermaßen) zu. Um diese Rolle ausüben zu können, muß der Mythos einfach und

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tritt dementsprechend als vermittelnder Wissensbereich in letzterem in den Hintergrund. Vgl. Jaspers (1994), S. 202 f. - Frutiger (1930), S. 37. - Brochard (1954), S. 56 f. - Cassirer (1924), S. 11. - Hermann (1969), S. 43 f. - Gaiser (1963), S. 28, 205 und S. 286. - Huber (1964), S. 124 f. - Bertram (1877), S. 193 f. - Görgemanns (1994), S. 72. - Hartland-Swann (1951), S. 16. - Edelstein (1949), S. 468. Vgl. Stöcklein (1937), S. 9. - Hirsch (1971), S. 38, 165 und S. 252. - Papadis (1989), S. 26. - Kobusch (1990), S. 17 f. - Moors (1988a), S. 243. - Quarch (1994), S. 138. - Gaiser (1963), S. 286. - Biesterfeld (1970), S. 55 und S. 174. Segal (1978), S. 334. Vgl. Meyer (1919), S. 218 f. - Wiggers (1927), S. 14. - Dupre (1973), S. 948 ff. v. Loewenklau (1958), S. 735 f. - Raeder (1905), S. 76 f. - Schilling (1948), S. 170. - Beierwaltes (1989), S. 276.

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Die platonische Philosophie des Mythos

relativ leicht faßlich sein, weil er auf niedere Wissens- und Bildungsstufen bezogen wird - dies gilt aber wiederum nicht für alle Mythen, denn etwa die langen und komplexen Endmythen müssen hier ausgenommen werden. Für letztere bedeutete ein möglicher Stellvertretercharakter den inneren Konnex zwischen den Dialogen, weil diese Stellvertretung entweder in späteren Dialogen oder nie einlösbar wäre; ein ganzer Dialog könnte so ins Zwielicht der Vorläufigkeit geraten, womit sich die Scheidung von Logos und Mythos hinsichtlich ihrer Sicherheit wieder verwischte. Was Piaton über einen möglichen Vergleich zwischen seinen Mythen untereinander (und seinen Dialogen) dachte, muß letztlich offenbleiben; und die Endmythen greifen mindestens in dem Maß auf ihren Dialog zurück, in dem sie Neues andeuten, womit sich eine unauflösbare Doppelfunktion ergibt. Primär ist die Funktion der Mythen innerhalb des jeweiligen Dialogs, so daß sie auch nur in diesen 'hineinpassen' und kaum zu isolieren sind. Besonders bei den Endmythen muß deshalb der Stellvertretungscharakter zur Wesensbestimmung des Mythos in Frage gestellt werden, so daß schon hier erkennbar wird, daß es den platonischen Mythos als präskriptive Norm nicht wirklich gibt. Die Mythen sind daher zunächst einzeln zu analysieren, denn sie erweisen sich als nach Länge, Komplexität, Ort und Funktion höchst heterogene Gebilde, die nicht einheitlich bestimmt werden können. Weiterhin kann man fragen: Warum braucht der Logos überhaupt einen Stellvertreter? Warum ist der Mythos dafür besonders geeignet? Für wen dient er als Stellvertreter? Welches Element im Mythos drückt einen späteren logischen Satz aus - der ganze Mythos oder nur ein Teil? Und wenn der Mythos zu den unteren Wissensformen zu zählen ist, warum beendet Piaton dann wissenschaftliche Dialoge mit unsicheren Mutmaßungen? Warum stehen Mythen dort, wo sie stehen? - All diese Fragen verweisen darauf, daß das Wesen der Mythen sich nur durch die Untersuchung ihres jeweiligen Dialogumfeldes und ihrer Funktion darin bestimmen lassen wird. Nimmt man die Mythen dagegen als dualistisch dem Logos unter- oder auch übergeordnet, so geht die Einheit des Dialogs verloren12, weil dann die Rolle des Mythos im Text zugunsten einer hermetisch isolierten Betrachtung der Mythen und ihres Vergleichs untereinander vernachlässigt wird, deren Ergebnisse Piatons Ansichten vom Wahrscheinlichen oder vom Höchsten ungefähr wiedergeben sollen. Mögen die Mythen in der Folge unwichtig oder bedeutsam sein, so sind sie jedenfalls isoliert, unüberprüfbar, unverbindlich und mehr oder weniger statisch und unfruchtbar.

Ein Beispiel hierfür findet sich bei Szlezak (1976), S. 50 f.

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Die Mythen sind aber nicht thematisch geschlossen, sondern behandeln dieselben Fragen und Probleme wie der Dialog, in dem sie stehen; sie sind 'Knotenpunkte' im Dialog, die Früheres zusammenfassen, Späteres andeuten und den Dialog zeitweise zur Ruhe bringen, sie können aber auch dem Gespräch einen neuen Impuls, eine andere Wendung und einen geänderten Verlauf geben. Anders als der Logos, der diese Funktion teilweise auch selbst wahrnehmen könnte, erfüllt der Mythos sie auf einer anderen Ebene. Mythos und Logos deuten einander ihre Grundlagen, Voraussetzungen und Eigentümlichkeiten (sowohl Stärken als auch Schwächen) an, die sie je selbst nicht herstellen und bedingen können; sie begründen sich gegenseitig als zwei Formen nicht-göttlichen Wissens. Der Mythos hebt den Dialog zeitweilig auf eine Ebene, auf der seine Ergebnisse, die sonst von Argumenten und Dialogpartnern abhängen und somit menschliche Wahrheiten sind, die fraglich bleiben, unbedingte Gültigkeit besitzen und als gesichert angenommen werden. Die Einsichten eines menschlichen Logos werden als wahr und göttlich verbürgt dargestellt, um vom Menschen erneut bedacht werden zu können. Der gedankliche Entwurf tritt auch mittels der Mythen den Weg zu seiner Verwirklichung an; so wird etwa die Erzählung von Gyges (359 b/c) als Übergang von der διάνοια, in einen Logos von Realem und Faktischem eingeführt. Mit dem Göttlichen selbst ist zwar kein Dialog möglich, aber es gilt, daran festzuhalten, daß das menschliche Streben nach Wahrheit im Göttlichen gründet und sich erneut darauf zubewegt. Der Logos versichert sich während seines Ganges seines Ursprungs und Ziels, an die er seine Ergebnisse zurückbindet. Was die Götter als Wissen haben, muß der Mensch übergängig erwerben - ζ. B. durch διάνοια und Dialog; dabei zeigen die Mythen die Grenzen und Bewegungen zwischen den Wissensformen an. Das Göttliche bleibt jedoch trotz seiner Verbundenheit mit ihm der Gegenpol zum menschlichen Logos. Daher sind die Mythen auch grundsätzlich monologisch gegeben - im Gegensatz zur dialogischen Erkenntnissuche, die selbst in den Gleichnissen noch aufrechterhalten wird. Was der Logos als Einsicht erst sukzessiv gewinnen und stets revidieren können muß, steht im Mythos unter dem Index zeitloser Gültigkeit, wobei er die Resultate des Logos prüft, indem er sie auf die höchsten und letzten Dinge anwendet und untersucht, ob sie diesem Bereich entstammen und dort gelten könnten. Der Bezug und die Differenz zwischen Menschen und Göttern finden somit im Mythos ihren Ausdruck, der einerseits die Ergebnisse des Logos aufnimmt und ihre Gültigkeit bis zum Göttlichen erweitert, aber andererseits blockhaft neben dem Dialog steht und sich von ihm abhebt; Kontinuität steht also neben Sprunghaftigkeit.

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Die platonische Philosophie des Mythos

Noch unbefriedigender sind Ansichten, die im Mythos Falschheiten oder Lügen wiedergegeben sehen.13 Die Mythen, die bei einem Primat des Logos immer mehr oder weniger überflüssig und verzichtbar erscheinen, sinken hier zur völligen Bedeutungslosigkeit ab, womit sich aber die Frage ergibt, welche Rolle Mythen als Lügen spielen sollten und warum Piaton seine Dialoge oft mit langen Lügen beenden, d. h. warum er bewußt Falsches benutzen sollte. Einen derart zentralen Ort wie den Schluß eines Dialogs mit Unwahrem zu besetzen, läßt sich schwer erklären; außerdem verbietet sich diese Deutung bereits dadurch, daß ein Mythos den Logos als Instanz seiner Prüfung fordert und daher nicht einfach falsch sein kann. Dieselben Probleme finden sich im Grunde bei Ansichten, die im Mythos dichterische Phantasieprodukte Piatons14 oder spielerische Erholungen von den Mühen des Logos sehen.15 Auch bei diesen Positionen müssen die Fragen nach Piatons Motiven und seinen Adressaten gestellt werden; die Mythen bleiben isoliert und funktionslos, erklären nichts und werden nicht erklärt. Dabei werden mögliche Einzelaspekte verallgemeinert; aber wer die Differenzen zwischen den Mythen nicht erkennt, kann auch ihre Gemeinsamkeiten nicht erfassen. Eine weitere Position sieht im Mythos den Versuch, bestimmte Ergebnisse des Logos anschaulich zu machen, wobei das philosophisch Wahre ebensogut nichtmythisch sagbar sein soll.16 Dies kann insofern als richtig bezeichnet werden, als die Mythen grundsätzliche Dialogeinsichten aufnehmen, aber sie leisten dies auf eine Weise, in der die logischen Einsichten zu einem geschlossenen Weltbild vereint werden, so daß eine Rücküberführung nicht ohne weiteres möglich ist. In der Politeia etwa werden die Bestimmungen vom Wesen der Gerechtigkeit ins Kosmische und Göttliche erweitert und zu einem Weltgesetz17 erhoben; die Frage bleibt aber auch hier, warum und für wen dialogisch gewonnene Wahrheiten der Veranschaulichung bedürfen und welchen Zweck sie verfolgen. Wenn die Aussagen der Mythen auch nichtmythisch auszudrücken wären: warum faßt Piaton sie dann nicht in logischer Form? 13 14

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Vgl. Otto (1955), S. 263. - Mayr (1962), S. 42. Vgl. Kierkegaard (1991), S. 99 ff. - Hartland-Swann (1951), S. 12. - Schiller (1934), S. 328. - Junge (1947), S. 193 f. - v. Milamowitz-Moellendorff (1919), I, S. 409. - Beierwaltes (1989), S. 278. - Windelband (1920), S. 119 f. Vgl. Edelstein (1949), S. 469. - Mc Minn (1990), S. 221. - Kierkegaard (1991), S. 101 f. - Wright (1979), S. 366. Vgl. Müller (1986), S. 121. - Huber (1964), S. 121 f. - Crombie (1962), I, S. 153. -Jamme(1999), S. 79. Der Gorgias (504 b/c) zeigt, daß Mythos und Logos dem Gesetz unterliegen müssen, um die Seelen bessern zu können.

Die Funktion des Mythos bei Piaton

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Die Grundeinsichten des Logos gelten im Bereich des Göttlichen rein und ungetrübt, so daß die inneren Verbindungen zwischen (lebenswichtigen) Grundsachverhalten deutlich hervortreten und eine Einheit konstituieren, deren Wahrheit man sich nicht mehr unmittelbar versichern muß, weil sie durch den bisherigen Logos fundiert ist: Durch Erweiterung und Übertragung eines gültigen und geprüften Logos auf das Göttliche lassen sich (Ähnlichkeits-)Einsichten in dasselbe gewinnen. Der Logos bedeutet aber kein menschliches Eigentum, weil er seinen Ursprung im Göttlichen hat; deshalb vermag der Mythos, auch den Grund des Logos anzusprechen. Aus der in den Raum des Göttlichen verlegten Synthese logischer Grundeinsichten heraus kann versucht werden, das Fundament des Logos und seinen Anfang (aus seinen Ergebnissen) zu erschließen und damit eine neue, logisch prüfbare Einsicht zu gewinnen. Der Mythos führt den Logos ausgehend von dessen Ergebnissen zu seinem Anfang im Göttlichen zurück, mag dieser dann frei (Politeia) oder geschickhaft {Phaidros) gedacht werden. - Auf dieser Ebene fallen Ursprung und Ziel des Logos zusammen, wodurch er sich als die von den Göttern gewollte Ordnungsmacht im menschlichen Bereich offenbart. An seinem Endpunkt (im Schlußmythos) vergewissert sich der Logos, daß sowohl seine Anfange als auch sein Gültigkeitsbereich vernünftig und gut sind; der Anfang des Logos kann ihm selbst zwar nicht zugänglich sein, darf jedoch auch seinem Wesen nicht zuwiderlaufen. Der Logos repräsentiert das gottgewollte Instrument menschlicher Gottverähnlichung, während die Götter selbst keine Dialoge mehr führen; deshalb greift Piaton auf die Form des Offenbarungsmythos 18 zurück, die dem Logos immerhin noch verständlich bleibt (vgl. auch das Lehrgedicht des Parmenides). Die Philosophie tritt im Mythos als gottgewollter Grund des menschlichen Seins hervor - und zwar in archaischer, tradierter Form und Sprache. In der Politeia rettet 19 der Mythos die Anweisung und Begründung zur Aufgabe des Logos vor dem Vergessen und setzt den Logos als Mittel zur Wiedergewinnung von Wissen und Ordnung ein; ein Gewinn, der selbst nur in Form der Sicherung des Kommenden existieren kann, womit die α,νάμ,νησις sofort in die έπιμ,έλβια umschlagen muß. - Der Mythos kann mehrere verschiedene Funktionen im Dialog ausüben: Er kann im Bereich der δόξα vorläufige Einsichten stabilisieren, einen Fortschritt oder eine Umwendung des Dia-

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Der Phaidros- und der Er-Mythos sind (Wiedergaben) göttliche(r) Offenbarungen; im Gorgias und Phaidon trägt Sokrates vor, was er von anderen gehört hat, was aber auch nur göttlichen Ursprungs sein kann; die anderen Mythen der Politeia sind explizit menschliche Erfindungen. Vgl. Brisson (1996), S. 20 - 38, wo der Rettungsbegriff als zentral für Piaton hervorgehoben und der Bezug des Mythischen zum Seelischen betont wird.

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Die platonische Philosophie des Mythos

logs einleiten, Späteres andeuten und auf einer vorlogischen Ebene (etwa als alte Geschichte) einführen oder Einsichten des Logos auf der doxischen Ebene für Nichtphilosophen festigen und dauerhaft gültig machen. Der Mythos kann den wissenschaftlichen Logos auf der doxischen Ebene vorbereiten und dorthin rückübertragen, und er kann seinen letzten Grund in der übernoetischen Ebene andeuten. 20 Mit dieser Doppelfunktion hebt sich der platonische zugleich vom tradierten Mythos ab. So zeigt der Anfang der Politeia die Tugendhaftigkeit des alten Kephalos, die in den alten Mythen verwurzelt ist. Wenn sein Sohn ihn 'beerbt', heißt dies auch, daß der Logos den alten Mythos beerbt und ihn als Grund der Tugend ablöst; gleichzeitig werden dem neuen Mythos, der u. a. die Funktion hat, den Nichtphilosophen ihre Tugend zu sichern, Inhalt und Form vorgegeben. Eine Funktion des Mythos bleibt also gleich, wird aber gereinigt, im Logos abgesichert und an ihn gebunden, wobei der neue Mythos sowohl im Dienst des Logos stehen und ihm untergeordnet sein kann als ihm auch übergeordnet werden und über ihn hinausgehen kann, d. h. er steht keinesfalls zusammenhanglos neben dem Logos, seinen Einsichten und Aufgaben. An der Ansicht, der Mythos mache etwas auch nichtmythisch Sagbares anschaulich, läßt sich ein weiteres Grundmuster der Deutung platonischer Mythen exemplifizieren, nämlich das Modell von Kern und Schale. Jeder Mythos soll dieser Auffassung zufolge einen (wahren) Kern enthalten, der eine logisch gewonnene Einsicht - etwa einen zentralen Punkt des Dialogs - aufnimmt; daneben soll der Kern von einer Schale aus Details umkleidet sein, von der man abstrahieren könne, weil sie unsichere, ungültige, nebensächliche oder ornamentale Elemente enthalte und darstelle, oft aus der Tradition übernommen. 21 Einen solchen Kern kann jeder Mythos einzeln haben, aber es Diese doppelte Funktion deutet den Sachverhalt an, daß Mythos und Logos den Bereich des μεταξύ ordnen, seine Rahmenpunkte erfassen und die Orte, Zusammenhänge und Bewegungen in ihm untersuchen. Vgl. Hirsch (1971), S. 291 f. - Müller (1986), S. 23 f. und S. 113 f. - Stenzel (1928), S. 180 f. - Gaiser (1963), S. 28 und S. 287. - Huber (1964), S. 122 ff. Raeder (1905), S. 250. - Windelband (1920), S. 135 f. - Hildebrandt (1959), S. 119 f. - Edelstein (1949), S. 468 f. - Crombie (1962), I, S. 153 f. - Ritter (1923), S. 45 f. - Willi (1925), S. 17 f. - Kobusch (1990), S. 18. - Friedländer (1954), S. 201 und S. 220 f. - Krüger (1948), S. 57 f. - Mc Minn (1990), S. 224. - Findlay (1978), S. 19. - Beierwaltes (1989), S. 280. - Szlezäk (1976), S. 50 f. - Annas (1982), S. 132. - Rohde (1980), S. 280. - Vretska (1958), S. 74 f. und S. 627. Jaeger (1947), S. 100 f. - Alt (1982), S. 298. - Smith (1986), S. 28 f. - Adam (1963), Π, S. 456. - Thayer (1988), S. 376. - Brumbaugh (1954), S. 167 - 169. Mourelatos (1987), S. 101 f. - Bröcker (1990), S. 327. - Trendelenburg (1855), S. 143.

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wurde auch versucht, einen einzigen Kern aller Mythen zu konstruieren, der dann Piatons Grundansicht wiedergeben soll, während das zwischen den Mythen Abweichende eine zwar kunstvolle, aber doch unwesentliche Hülle sei, von der es des Kerns wegen abzusehen gelte. Die Schwierigkeiten dieses Ansatzes, der v. a. von Befürwortern eines Logosprimats und der Vermittlungsposition vertreten wird, liegen auf der Hand: Versucht man, den Kern eines einzelnen Mythos zu bestimmen, so reißen schnell Brüche zwischen den Mythen auf, die dazu führen, sie zuletzt kollektiv als in sich und untereinander schwankend, ungenau, uneinheitlich und damit unverbindlich abzuwerten22, obwohl es auch in und zwischen den Dialogen Abweichungen gibt.23 Beim Versuch, einen allen Mythen gemeinsamen Kern zu fixieren, wird schnell etwas einem jeden Mythos Eigenes und Wesentliches zugunsten der sonst üblichen Überbetonung des vorhandenen Gemeinsamen verdrängt, so daß oft nur bloße Gemeinplätze zurückbleiben. Was schließlich dem Kernbereich und was der Peripherie angehört, läßt sich methodisch nicht sichern und im Einzelfall kaum entscheiden. Daß das Modell von Kern und Schale häufig auch auf den Dialog angewandt wurde, trägt nicht zur Klärung des Verhältnisses von Mythos und Logos bei. Im folgenden läßt sich an den Politeia-Mythen demonstrieren, daß die 'Details' eine eminent dialogbezogene Funktion aufweisen und nicht abstrahierbar sind und daß der 'Kern' das Bestreitbare und Unsichere ausmacht oder sogar falsch ist. Der Kern besteht zumeist aus einem neuen Gedanken, den die aus der Tradition stammenden mythischen 'Details' stützen müssen, um ihn überhaupt einfuhren zu können und akzeptabler zu machen. Das Neue erscheint im Gewand des alten und bekannten Mythos, wodurch es als etwas in den Ursprung zurückverlegt wird, das dort bereits gültig und nur noch nicht erkannt worden war; eine 'neue' Einsicht und Wahrheit soll zugleich etwas uranfänglich Gültiges repräsentieren. Wenn Piaton beispielsweise im Er-Mythos erstmals von einer Art menschlicher

Vgl. Huber (1964), S. 229. - Biesterfeld (1970), S. 78. - Thomas (1938), S. 75. Rohde (1980), S. 277. - Alt (1982), S. 295. - Hager (1963), S. 174. - Leisegang (1950), S. 29. Es ist also zwischen dem einen Logos - mit seiner prinzipienontologischen Form - und den vielen Logoi, den konkreten Dialogen zwischen bestimmten Menschen über bestimmte Sachverhalte, zu unterscheiden. Was einen Logos anstößt, was ihn bewegt und was er intendiert, deckt sich nicht mit dem, was er dann im Verlauf seines Vollzugs wirklich leistet und erbringt. Gerade das NichtIntendierte oder das, was über den Intentionsbereich hinausgeht, gelingt oftmals sogar besser, wie der Sophistes belegt. Auch der Grund, warum Sokrates einen Mythos ins Gespräch einfiihrt, erschöpft nicht all das, was wirklich im Erzählten enthalten ist, was am Er-Mythos exemplifiziert werden soll.

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Freiheit redet, so wird diese zugleich in die ferne Vergangenheit als dort schon gegebenes und von den Seelen im Jenseits gefordertes Faktum zurückprojiziert. - Beim Vergleich der Positionen, die einen Primat des Logos annehmen, mit denen, die einen Primat des Mythos oder ein Ausgleichsverhältnis zwischen beiden postulieren, wird schnell deutlich, daß sie im Grunde alle mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Geht man von einem - wie immer gearteten - Primat des Mythos24 aus, so wird auch dieser mit einer Mangelhaftigkeit des Logos begründet. Es sind aber die höchsten Dinge, nicht mehr das Sichtbare und Werdende, für die der Logos unzureichend sein soll.25 Diese Position wird oft von christlichen Philosophen oder von Mitgliedern des George-Kreises vertreten, die im Mythos ein überrationales, eigenständiges und tiefgehendes Offenbarungswissen, das dem rationalen Logos überlegen sei, verkörpert oder ein übernoetisches Einheitswissen im Mythos ausgedrückt sehen. Bei bestimmten Fragen und Problemen - etwa im Bereich der Seele, des Jenseits, des Göttlichen oder der Anfange der menschlichen Geschichte reicht der Logos zur Lösung nicht hin, d. h. sie zu beantworten, soll ihm (momentan) unmöglich sein. Das menschliche Fassungsvermögen, das sich im Logos manifestiert, soll dem Höchsten und Unsagbaren nicht gewachsen sein, das den Gegenstandsbereich des religiösen und eschatologischen Mythos ausmacht. Dabei kann der Mythos als mystische Schau definiert werden, für die der Philosoph Piaton weder Rechenschaft noch Auslegung geben kann, weil er passiv von einer höheren Kraft überwältigt wird; er kann jedoch auch als etwas verstanden werden, das der Philosoph bewußt reflektierend geschaffen hat, um Probleme und Sachverhalte, die er rational (noch) nicht (völlig) lösen und begründen konnte, darzustellen, deren fundamentale Bedeutung er aber erkannte und andeutungsweise einführen wollte. Als Offenbarungswissen wäre der Mythos unwandelbar gültig, als Andeutungswissen wahrscheinlich, ohne letztgültig und unwandelbar zu sein; eine spätere logische Prüfung und Sicherung - mag sie möglich sein oder nicht - erreicht jedenfalls nie die Höhe mythischen Wissens und mythischer Überzeugungskraft. - Auch bei dieser Position ergibt sich das Problem, einen Zusammenhang zwischen den vorhandenen Darstellungsweisen von Mythos und Logos herzustellen; als Offenbarung und überrationales Wissen steht der Mythos isoliert neben oder über dem Vgl. Pieper (1962). - Pieper (1965). - Pieper (1964), S. 54 - 60. - Duprö (1973), S. 948 ff - Wiggers (1927). - Raeder (1905), S. 76 f. und S. 423. - Schilling (1948), S. 170. - Rohr (1932), S. 96 f. - Hildebrandt (1959), S. 6, 52,223 und S. 231 f. - Hoffinann (1931), S. 49 f. - Mach (1966), S. 253 ff. Der Logos als Vernunft wird hier einmal der Unvernunft, einmal der Übervemunft entgegengesetzt.

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Logos und soll ohne ihn verständlich sein. Die Details werden hier zwar ernst genommen, bleiben aber funktionslos, so daß die Bestimmung einer Funktion des Mythos für den Dialog willkürlich wird oder gänzlich fehlt. Eine Defizienz des Logos führt auch hier zum Mythos, wobei dieselben Gegenstände in den Bereich mythischer Behandlung verwiesen werden wie beim Logosprimat - der Wert derartiger Gegenstände, von denen ein sicheres Wissen nicht möglich sein soll, wird jedoch umgekehrt. Ungenauigkeit und Andeutungscharakter sind einmal positiv und einmal negativ gemeint; war der Bereich vorher minderen Status als der des Logos, so hat er nun einen höheren Wert, was daran erkennbar ist, daß ζ. B. dieselben auf die Mythen angewandten Begriffe wie 'religiös' oder 'irrational* einerseits positiv, andererseits negativ konnotiert sein können. 26 Einem Bereich des Wissens wird in beiden Positionen ein Bereich des Glaubens entgegengestellt, die aber gegeneinander verschieden bewertet werden; oft stehen dabei andere philosophische Grundkonzepte hinter der Deutung des platonischen Mythos, etwa diejenigen Kants oder Hegels. - An einen Mythosprimat lassen sich zum Teil dieselben Fragen stellen wie an den Logosprimat: Bereitet der Logos in irgendeiner Weise den Mythos vor und bedingt etwa den 'Absprung' in diesen? Sind vom Mythos aus Rückschlüsse auf den vorangehenden Logos möglich? Und wenn Piaton - aktiv oder passiv - ein Offenbarungswissen wiedergibt, das vom Dialog unabhängig sein soll: warum fügt er es dann überhaupt dem Dialog ein oder an? Besteht zwischen den Mythen eine Verbindung, ein Fortschritt oder eine Einheit, d. h. sind alle Mythen derartig zu deuten? Lassen sich eine Funktionsbindung des Mythos an den Dialog und seine Eigenständigkeit wie auch Geschlossenheit gegebenenfalls vereinen, oder wären beim Erweis der ersteren die letzteren hinfällig? Wenn der Mythos einen Glauben reproduziert, an wen richtet sich dieser, d. h. müssen alle Adressaten etwas glauben oder nur einige? Ein Wandel des Verhältnisses oder eine fallweise Bestimmung werden in der Forschung kaum erwogen, woraus folgt, daß vieles, womit der Mythos definiert werden soll, nur einer seiner Teilaspekte oder Möglichkeiten ist. Die Deskription vorliegender Mythen wandelt sich schnell in eine Präskription, obwohl die Forschungsstandpunkte meist mehr offen lassen als sie letztlich klären. Die dritte Grundposition zur Deutung des platonischen Mythos geht von einem Gleichwertigkeits- und Ergänzungsverhältnis zwischen Logos

Vgl. Natorp (1900), S. 436. - Schilling (1948), S. 170. - Hildebrandt (1959), S. 6 und S. 52. - Thomas (1938), S. 161 f.

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und Mythos aus.27 Ein solches Verhältnis kann - wie bei den anderen Positionen - statisch-dualistisch oder zirkulär-dynamisch bzw. monistisch gemeint sein. Im ersten Fall deutet man Logos und Mythos als zwei ganz grundsätzlich verschiedene und damit gegensätzliche philosophische Darstellungsformen, die aber gerade dadurch zu einer Einheit werden und die Philosophie Piatons konstituieren. Ihre Gegenstandsbereiche und Fähigkeiten sind völlig verschieden, so daß eines leistet, was dem anderen mangelt, und so die Erkenntnismöglichkeiten des Menschen überhaupt sichert. Der Nexus zwischen Logos und Mythos muß hier jedoch in einer dritten Instanz erfolgen, wobei offenbleibt, wie und wo das geschieht. Auch innerhalb dieser Position wird der Ausgang zumeist von einer fundamentalen oder auf spezifische Sachbereiche eingeschränkten Defizienz des Logos genommen. In jedem Fall aber bleibt der Mythos eine unverzichtbare Ergänzung des Logos in einem ihm entzogenen Bereich, mag dieser über oder unter ihm liegen; der Mythos fungiert nicht mehr nur als Ersatz, sondern kann als Propädeutik oder Abschluß28 des Logos angesehen werden. Der Logos bedarf, sei es auf der Ebene des Werdens oder der eines Höchsten, unter allen Umständen der gleichwertigen Ergänzung durch den Mythos, da beide Stärken und Mängel aufweisen. Mythos und Logos sollen sich jeweils bei bestimmten Fragen überlegen sein, so daß sie insgesamt gleichwertig sind; dieses Prinzip läßt sich sowohl statisch als auch dynamisch verstehen. In der Forschung liegt die Betonung oft auf der Ergänzung gegenseitiger Defizite, wobei die Mängel des Logos den Ausgangspunkt bilden. Wenn dieser jedoch immer und bei allen Gegenständen unsicher und mangelhaft bleiben und dennoch unverzichtbar und im Mythos vorläufig weitergeführt sein soll, so erhebt sich die Frage, wo überhaupt eine Grundlage der Erkenntnis gewonnen werden kann. Die platonische Philosophie gliche hier den zwei Fallenden, die im Fall gegeneinander stürzen und so halbwegs aufrecht bleiben. Zumindest müssen graduelle Mängel des Logos unterscheidbar sein, um irgend etwas zum relativ gesicherten Fundament menschlicher Erkenntnis machen zu können. So wird dem Logos zumeist ein begrenzter, aber sicherer Bereich von Gegenständen und ihrer Vgl. Rohatyn (1975), S. 322 f. - Reinhardt (1927), S. 94 und S. 111 f. - Martin (1963), S. 134. - Martin (1973), S. 21 und S. 113. - Görgemanns (1994), S. 72 f. - Quarch (1994), S. 114. - Rudolph (1994), S. 95 f. - Roy (1977), S. 1628. - Kobusch: (1990), S. 17 f. - Dörrie (1972), S. 9 f. - Cassirer (1978), S. 95 und S. 380. - Papadis (1989), S. 27. - Friedländer (1954), S. 220 f. - Hirsch (1971). Beierwaltes (1989), S. 274 f. - v. Loewenklau (1958), S. 735 - 739. Vgl. Dörrie (1966), S. 49 und S. 52, wo die abschließenden Mythen auf das der Dialektik transzendente'ipptpovbezogen werden.

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Erkenntnis zugewiesen, während der Mythos darauf - auf einer sub- oder translogischen Ebene - bezogen das Wissen des Logos durch Überzeugungen und wahrscheinliche Annahmen weiterführen und an den höchsten oder niederen Dingen abschließend ergänzen soll. In diesem Fall wäre der Mythos das Unbegrenztere, aber Unsicherere, obwohl sich auch der Logos bei Piaton faktisch dem Letzten nähern und unsicher sein kann. Für die Vertreter dieser Position soll der Mythos die Grundeinsichten des Logos aufnehmen, erweitern und auf andere Bereiche übertragen.29 Es wird sichtbar, daß auch hier zum Teil dieselben Muster und Bestimmungen auftreten wie in den anderen Positionen, wodurch sich der Unterschied wiederum auf die Bewertungsebene der angesetzten Sachverhalte verlagert. Der Mythos dient auch der Veranschaulichung oder Ergänzung des rationalen Logos und seiner Ergebnisse30, aber dieser Sachverhalt wird hier höher bewertet, so daß die Probleme dieser Position teilweise die der anderen sind. - Mythos und Logos können ebenfalls durch einen (permanenten) Zirkel in ihrer Gleichwertigkeit verbunden werden; der Logos mündet dann in den Mythos und dieser wiederum in ihn, d. h. der Mythos erwächst aus dem Logos und setzt ihn voraus, erweitert und ergänzt ihn, wird dabei jedoch von ihm überwacht und geprüft. Ihr Verhältnis gestaltet sich als Zirkel oder als Spirale ständiger Höherentwicklung durch den logisch-mythischen Wechselbezug. Dagegen spricht aber, daß die Themen der platonischen Mythen letztlich gleichbleiben, weil Piaton in ihnen den einheitlichen Grund und Ursprung verschiedener Probleme nur von verschiedenen Seiten aus reflektiert.

2) Anmerkungen zum Verhältnis von Mythos und Logos Zum platonischen Mythos, seinem Verhältnis zum Logos, ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen soll aufgrund der Themenstellung dieser Arbeit knapp einiges Wesentliche festgehalten werden: 1) Den einen platonischen Mythos im strengen Sinne gibt es nicht, denn Mythen erfahren bei Piaton abweichende Wertungen, werden differierend gebraucht und unterscheiden sich nach Länge, Ort und Komplexität. Piatons Auseinandersetzung mit den Mythen ist von den vorgetragenen Mythen zu unterscheiden; seine Aussagen zum Mythos gelten nicht für alle 29

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Vgl. Thomas (1938), S. 12. - Papadis (1989), S. 27. - Friedländer (1954), S. 201. - Gadamer(1968), S. 201 f. Vgl. Kobusch (1990), S. 17 f. - Görgemanns (1994), S. 72 f. - Papadis (1989), S. 27 f.

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Mythen. Das Mythische hat - wie das Logische - eine enorme Spannweite und kann nicht nach einem Prinzip behandelt werden. Alle Mythen aber erfüllen eine oder mehrere verschiedene Funktionen in ihrem Dialog, aus denen heraus sie verschieden zu deuten und zu bewerten sind; sie sind keine isolierten oder isolierbaren Gebilde. Zwischen den Mythen bestehen gleichwohl inhaltlich-thematische, formale und auch funktionale Gemeinsamkeiten, die zu einer völlig isolierten Deutung jedes Einzelmythos ein Gegengewicht aufbauen und einen Vergleich der Mythen untereinander fordern, der einen Beitrag zur Erhellung der Frage nach der verborgenen Einheit der platonischen Philosophie leisten kann, d. h. zur Lösung des Problems, wo und welcher Art der Nexus zwischen den Dialogen ist. Den Ausgangspunkt muß dennoch die Rolle des Mythos im jeweiligen Dialog bilden, da alle platonischen Mythen den Dialog, in dem sie stehen, oder einen Teil davon voraussetzen, um verständlich zu sein. Der platonische Mythos folgt dem Dialog und bedeutet nicht mehr die erste und ursprünglichere Form der Erkenntnis, womit er sich vom alten Mythos abhebt; die Mythen integrieren die Dialogergebnisse, den Dialogstand und führen das Vorangegangene zusammen, weshalb es auch keine Anfangsmythen bei Piaton gibt. Ihre Dialogfunktion bedingt ihre Komplexität und ihren hochreflektierten Charakter; Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen den Mythen gründen in den jeweiligen Dialogen und deren Gemeinsamkeiten und Differenzen, so daß kein Mythos den Ergebnissen seines Dialogs zuwiderläuft oder sie unberücksichtigt läßt. 31 2) Der platonische Mythos hat - wie die Dialoge - eine Entwicklungsgeschichte. Die Mythen können sich auseinander heraus entwickeln, sowohl innerhalb eines Dialogs als auch innerhalb der Abfolge der Dialoge; außerdem bedingt die Chronologie der Dialoge eine Entwicklung der in den jeweiligen Dialogen stehenden Mythen. Die Wandlungen der platonischen Philosophie, ihre Selbstdeutung, ihre Absichten und ihre Gegenstände schlagen sich auch in der Gestaltung und Funktion der Mythen nieder. Beim frühen Piaton fehlen Mythen beispielsweise vollständig. 3) Die Mythen besitzen bei Piaton ein Verhältnis zum griechischen Erbe, ebenso wie seine Dialoge, wobei sie zum einen Elemente der mythisch-dichterischen Tradition (etwa das Simonides-Zitat im I. Buch der Politeia) aufnehmen und sich zugleich von den alten Mythen abheben 32 , wobei sie aber zum anderen auch Bestandteile der philosophischen Über-

Vgl. Görgemanns (1994), S. 70 f. und S. 93. - Findlay (1978), S. 19. - Edelstein (1949), S. 464 f. - Bertram (1877), S. 193 f. - Leisegang (1929), S. 137. Vgl. Gundert (1977), S. 10. - Müller (1967), S. 21. - Edelstein (1949), S. 464 466. - Hager (1963), S. 119. - Cassirer (1925), S. 165 ff.

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lieferung (etwa pythagoreische im Er-Mythos) integrieren. Aufnahme, Kritik und Wandlung der Tradition erfolgen in beiden Fällen in einer Haltung von Vorsicht und Ehrfurcht. Durch die Verschränkung der beiden Überlieferungsstränge in Mythos und Logos sowie in der Verbindung beider nutzt Piaton das gesamte Erbe zu seinen Zwecken und synthetisiert es. Die Schlußmythen, die den vorangegangenen Dialog und die Elemente der Überlieferung zusammenfuhren, verbinden so Altes und Neues. Im ErMythos beispielsweise erscheinen eine neue Kosmologie und Ethik im Gewand mythischer Elemente und Formen und einer archaischen Sprache. Mag das Neue wahr oder nur wahrscheinlich sein, durch die Elemente der Tradition wird es jedenfalls vertrauter, überzeugender und gültiger, so daß die verfolgten Absichten leichter erreicht werden können. - Die Mythen stehen in der Spannung zwischen zweckgebundener Schöpfung und Veränderung des Tradierten durch den Philosophen Piaton und der Aura geoffenbarter, überlieferter und bloß nacherzählter Faktizität; die gesamte Dichtung steht bei Piaton in der Doppelperspektive von menschlicher Hervorgebrachtheit und göttlicher Offenbarung. In der Politeia werden alle Mythen bewußt und zweckbedingt gegenüber der Tradition verändert und treten doch mit dem Anspruch der Authentizität auf.33 Insbesondere der 'neue', den Griechen unbekannte Schlußmythos, der am freiesten tradierte Elemente verbindet, wird zu einer göttlichen Offenbarung stilisiert, die sachlich wahr sein soll; bei Piaton wird auch der Logos auf all seinen Ebenen stilisiert und zum idealen Gespräch erhoben, das die Bedingungen des διαλέγβσθαι durchscheinen läßt. 4) Die Mythen verfugen in vieler Hinsicht über eine dem Logos komplementäre Struktur. Während der Logos in einen räumlichen und zeitlichen Nahbereich gestellt ist, greifen die Mythen in dieser Hinsicht in weiteste Fernen aus; sie haben eine geschlossene, monologische Struktur im Gegensatz zum offenen, dialogischen und sich sukzessiv entwickelnden Logos. In diesem steht die Beziehung zwischen Menschen im Vordergrund, während im Mythos das Verhältnis des Menschlichen zum Göttlichen thematisiert wird; daher tritt der Mythos auch in Gestalt einer Wahrheit auf, die der Mensch vorfindet und aufnehmen kann, die aber nicht von ihm (mit-)entwickelt wurde. Die gemeinsame Aufgabe von Logos und Die Erzählungen von Gyges und dem autochthonen Ursprung der Menschen behalten einen tradierten Kern bei, während der Er-Mythos als etwas völlig Neues und erstmalig Erzähltes auftritt. In allen drei Fällen wird ein Dialogstand in die Vergangenheit zurückgespiegelt und mit ihr verbunden. - Der Mythos tritt als eine in der Entwicklung dargestellte Ganzheit auf, während der Logos die sich entwickelnde Möglichkeit einer Ganzheit repräsentiert; jedesmal wird die Entwicklung jedoch auch stilisiert.

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Mythos liegt in der Förderung der menschlichen Erkenntnis und der Güte menschlicher Lebensführung. Innerhalb dieser Aufgabe gibt es zwischen ihnen Überschneidungen und spezifische Eigenheiten: So können die Mythen logische Einsichten aufnehmen, projizieren sie aber in ein anfängliches Einst zurück und heben sie dort auf die Ebene faktischen Geltens und ursprünglicher, direkt dem Menschen mitgeteilter, göttlicher Verbürgung ihrer Wahrheit. Der Mythos zeigt, daß die Einsichten des Logos von Anfang an schon galten und wahr waren, wodurch der aktuelle, konkrete Logos und der Logos als Form der Wahrheitsfindung überhaupt bestätigt werden; jeder Mythos fordert den Logos als Instanz menschlicher Selbstordnung und Annäherung an das Göttliche. Hieran schließt sich die Tatsache an, daß Mythos und Logos zwei verschiedene Situationen der Kommunikation darstellen. Während der Logos den Dialogpartnern angepaßt wird und auf deren Wissensstand eingeht, spricht der Mythos alle Menschen an und bietet jedem Wissensstand ein bestimmtes Maß von Verständnis und Nutzen. Die Mythen sind - wenigstens in der Politeia - zwar auch dem Erkenntnisstand des Dialogs adäquat, und bei ihrer Analyse wird auf das Verständnisniveau der Partner Rücksicht genommen, aber sie verfugen für jede Wissensebene über einen Erkenntniswert. Im Dialog gilt es dagegen mitzudenken, da sein Gelingen und Fortschritt von den Unterrednern unmittelbar abhängen, während der Mythos angehört wird und jeder einzelne auf sich zurückverwiesen ist, wenn er den Mythos bedenkt und prüft. Besonders die Schlußmythen werden nicht mehr (erschöpfend) ausgelegt und geprüft, sondern von der Aufnahme des vorangegangenen Logos und seiner Anwendung und Rückbeziehung auf die gottnahen Anfange des Menschlichen beglaubigt. Der Logos wird an etwas ihm Vorzeitiges gebunden, aus dem er Gültigkeit und Aufgabe gewinnt; der Mythos 'öffnet' somit den Logos in gewissem Maße zeitlich für einen Blick in seinen Ursprung. 5) Mythos und Logos sind aber nicht als menschliches Eigentum und Werk zu verstehen, sondern sind göttlichen Ursprungs; beide beruhen auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht herstellen können. Sie bilden die zusammengehörigen Weisen menschlicher Selbstordnung aus einem göttlichen Ursprung. Wenn der Logos zwischen Menschen stattfindet und der Mythos zwar aus der göttlichen Sphäre stammt, aber immerhin von Menschen übermittelt wird, so entfalten sie ihre Wirkung im menschlichen Bereich. Beide können ein philosophisches Streben wecken, beide fordern vom Menschen Entscheidung und Handeln. Anders als das göttliche ist das menschliche Wissen weder absolut sicher und vollständig, noch kann es je diesen Status erlangen. Alles menschliche Wissen ist ein ständiges Streben und eine Annäherung an das

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göttliche Wissen, ohne es doch je zu erreichen. Der Mensch steht mit seinem Sein und Streben im Bereich des μεταξύ mit Logos und Mythos als den Weisen, in denen Piaton diesen Status reflektiert. Mit ihrer komplementären Struktur und Zusammengehörigkeit bedenken sie Ursprung, Ende und eine mögliche Aufhebung der Begrenztheit menschlicher Wahrheitserkenntnis, so daß sie vielleicht als die zwei Stämme der Erkenntnis bei Piaton bezeichnet werden können, deren gemeinsame Wurzel die menschliche Sterblichkeit ausmacht. Der Grad der Güte und die Unvollkommenheit menschlichen Wissens finden in beiden und in ihrer Einheit ihren Ausdruck, d. h. letztlich sind beide gleich sicher oder unsicher, und in ihrem Kontrast und Wechselspiel wahrt Piaton den Bezug seiner Philosophie zum sokratischen Nichtwissen; beide unterliegen deshalb auch der platonischen Schriftkritik und stehen im Wechselverhältnis von Ernst und Spiel (Ironie), nicht die Mythen allein.34 - Der Logos ist die Instanz menschlicher Erkenntnissuche im Bereich des μεταξύ, der Mythos sucht nach dem Grund und Ursprung dieses menschlichen Status überhaupt. Der Mythos zeichnet den Verlust eines anfänglichen gottnahen und wissenden Zustands der menschlichen Seele und die Möglichkeit seines Wiedergewinns. Indem der Mythos aus den Ergebnissen des Logos heraus gebildet wird und in deren Aufnahme, Rückprojizierung und Ausweitung den Ursprung des Logos aufweist, wird er zugleich zum ersten Mittel des Wiedergewinns verlorenen Wissens. Deshalb ist der Tod der Grund und das Ziel der Philosophie; der Mythos entfaltet die im Tod gegebene Einheit von Herkunft und kommendem Schicksal des menschlichen Seins und stellt sie nach Gesetzen dar. Dabei verbindet der Mythos die eine und gleiche Herkunft aller Seelen mit ihren verschiedenen Wegen und Möglichkeiten im Bereich des μεταξύ und begründet beide Sachverhalte; das μεταξύ steht also für eine Tendenz, nicht für die Indifferenz. Der philosophische Dialog wendet im philosophischen Mythos seine Einsichten auf die ersten und letzten Dinge an: Wenn sie bei diesen greifen, beglaubigt er den Mythos und sich selbst. So wäre es etwa sinnlos, wenn Mensch und Staat gerecht verfaßt am besten existierten, der Kosmos jedoch nicht; indem letzterer aus den Einsichten in erstere heraus als gerecht erwiesen wird, werden die früheren Einsichten und Sachverhalte bestätigt, in einer grundlegenderen Ebene fundiert und als aus dieser entspringend erfaßt. Der Mythos 'prüft' die Ergebnisse des

Zur Schriftkritik in diesem Kontext vgl. Wieland (1982), S. 61. - Die Mythen als Spiel bzw. Ironie sehen Schilling (1948), S. 97 und S. 168. - Biesterfeld (1970), S. 95. - Apelt (1912), S. 84. - Rohr (1932), S. 95 und S. 101. - Friedländer (1954), S. 220. - Reinhardt (1927), S. 105. - Krüger (1948), S. 57 f.

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Die platonische Philosophie des Mythos

Logos am Grenzbereich menschlicher Erkenntnis dergestalt, daß er sie über die Grenzen des Beweisbaren hinaus weiterfuhrt und die "größten Buchstaben" mit ihrer Hilfe zu lesen versucht. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, warum der Mythos ζ. B. von den Gegenständen noetischen Wissens in einer doxisch-bildhaften Sprache reden {Phaidros) und warum er überhaupt auf verschiedenen Wissensstufen auftreten (Politeia) bzw. ihre spezifischen Gegenstandsbereiche repräsentieren kann. Der Status des Menschen und seines gesamten Wissens wird in den platonischen Mythen reflektiert, was auf allen Wissensstufen sinnvoll ist. 6) Wenn in der Forschung nach einer konkreten Funktion des platonischen Mythos gesucht wird, so werden vorrangig die pädagogisch-didaktische und die sittlich-religiöse Funktion genannt. 35 Wie dies genau zu verstehen ist, bleibt aber meist offen, wobei im Hintergrund oft der dreiteilige Seelenbegriff Piatons und seine Ausführungen zu den Wissensstufen in der Politeia stehen. Piatons Mythen werden unpräzise mit den niederen Stufen des Wissens in Verbindung gebracht, da der Mythos auf den Bereich niederen Wissens und seiner Gegenstände sowie der unteren Seelenteile irgendwie rekurrieren soll. Die Mythen sollen eine Form der Vorbereitung zum Aufstieg zu höheren Wissensformen bilden oder der Festigung moralischen Handelns und der inneren Seelenordnung dienen - auch hier bleibt offen, wie dies genau vor sich gehen soll. Die unteren Seelenteile, die mit den modernen Begriffen Wollen und Fühlen identifiziert werden, sollen den niederen Wissensformen und den Affekten korrespondieren. Ein zum Wissen aufgestiegener Verstand teilt dem alogischen Seelenteil in den Mythen - verschlüsselt und ihm verständlich - grundsätzliche Einsichten mit, um ihn zu überzeugen und zu ordnen. Die noch sehr allgemeinen und unklaren Ansichten zur Funktion des platonischen Mythos sind für die Politeia als einen Dialog, in dem Pädagogik, Ethik, Psychologie und Epistemologie zentral sind, von hoher Relevanz. Es ist daher geboten, seine Funktionsrichtung genauer zu untersuchen und offengebliebene Fragen näher zu bestimmen: Welche Rolle spielen die Mythen in den Einzelseelen und Ständen des Staats? Welche Bedeutung haben sie für den Gesamtstaat? Wie wirken sie in der Bildung der Philosophen und Wächter? Welche Relevanz besitzen sie fair vollendete Vgl. Mc Minn (1990), S. 219 f. - Wright (1979), S. 370 f. - Halevy (1896), S. 296. - Smith (1986), S. 20. - Cassirer (1978), S. 66. - Bertram (1877), S. 193 f. Müller (1986), S. 117. - Görgemanns (1994), S. 70 f. - Apelt (1912), S. 82. Schilling (1948), S. 168 f. - Ritter (1923), S. 45 f. - Hartland-Swann (1951), S. 140. - v. Loewenklau (1958), S. 738. - Gaiser (1963), S. 243 f. und S. 288 f. Schleiermacher (1969), S. 29 f. - Droz (1992), S. 12. - Tarrant (1990), S. 19 - 31. -Moors (1989), S. 154- 172.

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Philosophen, und wie stehen sie zu den Formen des Wissens? Warum sollen gerade Mythen den alogischen Seelenteil ordnen und ethisch-religiöse Zwecke erfüllen, und was haben sie dem Logos dabei voraus, der diese Themen doch auch behandelt? Dienen bestimmte Mythen anderen Zwecken als andere, und wie hängen sie dabei zusammen? - Um derartige Fragen zu klären, ist es notwendig, die Mythen der Politeia auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu prüfen, sie in ihrem Dialogumfeld zu betrachten und in Beziehung zueinander zu setzen, um zu sehen, was sie für Piaton leisten sollen und können und wo ihre Grenzen liegen. Im Vorangehenden wurde vieles äußerst knapp angesprochen oder nur angedeutet, was sich im folgenden bei der Analyse eines platonischen Mythos in seinem Dialog erst erhellen und belegen lassen wird, um dann stellvertretend für den platonischen Mythos überhaupt zu gelten. Dabei dürfen Wesenszüge, die nur einem Mythos eignen, nicht schlechthin verallgemeinert werden; aus einigen Eigenschaften, die ein Mythos mit anderen Mythen teilt, darf nicht vorschnell auf die generelle Übereinstimmung aller Mythen geschlossen werden. Einige Gemeinsamkeiten wurden daher vorgreifend aufgewiesen, um vor diesem Hintergrund eingehender die Rolle des Schlußmythos der Politeia untersuchen zu können - eines Dialogs, dessen Länge, thematische Breite und Dichte sowie innere Verflechtung eine Funktionsanalyse des Er-Mythos geradezu fordern. Dieser Mythos wurde bereits häufig als geschlossener Text untersucht, während Hinweise auf seine Dialogfunktion spärlich sind und eine eingehende Prüfung völlig fehlt, weshalb dieser Aspekt hier im Vordergrund stehen soll. Dadurch kann der Beleg erbracht werden, daß es schlechthin sinnvoll ist, die Dialogfunktion von Mythen zu prüfen, um auf diese Weise Aufschluß über das Wesen des platonischen Mythos zu gewinnen - ein Grundsatz, der keineswegs selbstverständlich zu sein scheint. 36 Die Neuplatoniker nehmen explizit oder implizit viele Deutungstopoi der platonischen Mythen in der modernen Forschung vorweg: (1) Der Kern des Mythos (skopos) wird von den mehrsinnigen Details abgegrenzt, die jedoch auf den Kem zu beziehen sind. - (2) Der Mythos wird dem Logos unter- oder nebengeordnet und gilt als Offenbarung, jedoch nie von den höchsten Prinzipien. - (3) Die mythische Hülle kann für den Wissenden wegfallen; die Mythen verbergen stets auch auf andere Weise sagbare Wahrheiten. - (4) Der Mythos unterhält (die Phantasie); die Mythen sind zugleich wahr und falsch. - (5) Der Mythos ist grundsätzlich auslegungsbedürftig. - (6) Die Mythen wiederholen bzw. verdichten die Dialogthemen, werden aber zugleich teilweise isoliert. - (7) Die Synopse aller Mythen bildet den Weg zur Erschließung ihres Sinn- und Gegenstandsbereichs. (8) Der Mythos weist oft eine Nähe zum Bereich des Seelischen auf. - (9) Die Grenzen zwischen Mythos und Logos bleiben, trotz bestehender Trennungsintentionen, unscharf und fließend. - (10) Die Mythen werden häufig

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Die platonische Philosophie des Mythos

Um diesen Ansatz angemessen durchführen zu können, wäre es zunächst notwendig, Inhalt und Form des Mythos zu erfassen und davon ausgehend die Beziehungen zum Dialog zu suchen. Obwohl es schwierig ist, bestimmte Themen und Fragestellungen im Dialog zu isolieren, soll doch versucht werden, an einigen exemplarischen und zentralen Gegenständen den formalen, inhaltlich-motivlichen und funktionalen Bezug des Schlußmythos zum Dialog hervortreten zu lassen und zu deuten, wobei vieles knapp umrissen werden muß, was für sich genommen eingehender darzustellen wäre: um die Dialogfunktion zu analysieren, ist es allerdings geboten, dies in Kauf zu nehmen. Der Aufweis mannigfaltiger Querverbindungen zwischen Dialog und Schlußmythos überhebt die Grundthese des Vorwurfs, einige wenige und zufällige Nähen zu sehr zu betonen und unzulässig zu verallgemeinern. Sowohl im Dialog als auch im Mythos müssen einige Komplexe zurücktreten, um andere Seiten einer Sache besser hervorzuheben.

Β Dichtung und Mythos in ihrer pädagogischen

Bedeutung

bei Piaton

Die Mythen und die Frage nach Wesen und Aufgabe des Mythischen bilden den Rahmen der Politeia, was allein schon auf die Wichtigkeit dieses Komplexes hindeutet. Wenn man annimmt, daß Sokrates den Dialog von Anfang an überblickt und weiß, wie er enden wird, dann steht nach dem Gespräch mit Kephalos schon fest, daß der Dialog in einen Mythos auslaufen wird und daß der Mythos einen festen Platz in (Sokrates1 Wissen von) den Verlaufsgesetzen des Dialogs einnimmt. Kephalos äußert seine Erfahrung (330 d ff.), daß die alten Erzählungen vom Hades im Alter an Bedeutung gewinnen und anfangen, den Ungerechten zu ängstigen, während sie früher nicht ernstgenommen wurden. Dahinter steht die offenbar landläufige Ansicht, Mythen seien Kindermärchen und damit falsch und bedeutungslos; eine Ansicht, die auch Thrasymachos vertritt (350 e), der außerdem jedoch den sokratischen Logos als ein solches Kindermärchen betrachtet. Mythen galten in diesem Sinne als tradierter Teil der Kindererziehung, der mit zunehmendem Alter bedeutungslos wurde und schließlich als unwahr galt. Es ist davon auszugehen, daß auch Kephalos

mittels vorplatonischer Quellen gedeutet. - (11) Bei richtiger Auslegung sind die Mythen wahr und genau, d. h. mehr als nur wahrscheinlich.

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in dieser Tradition erzogen wurde; wenn er im Alter wieder auf die Mythen zurückkommt, so wird deutlich, daß sie im Leben zwar keine bestimmte Rolle spielten, aber dennoch latent weiterwirkten, um wieder mit neuer Kraft hervorzubrechen, indem sie den Menschen mit den letzten Dingen konfrontieren und seinen Bezug zu ihnen erhalten und prägen. Als Aufforderung, im Hinblick auf die letzten Dinge angemessen und gerecht zu leben, lassen sich Mythen offensichtlich nie ganz ausschalten - wenigstens nicht für Menschen, die wie Kephalos im Rahmen tradierter Sittlichkeit und Frömmigkeit leben, die Piaton später beide in seine philosophische Gerechtigkeitsbestimmung integrieren wird. In 376 e - 377 a bestimmt Sokrates wahre und falsche Logoi als einen Teil tradierter musischer Bildung und identifiziert die falschen Reden mit den Mythen, die Reden seien, die zwar eine Wahrheit in sich trügen, im ganzen aber falsch seien. Solche Märchen bilden für Kinder die erste Erziehung und sollen es auch bleiben; aber weder meint Sokrates, alle Mythen seien falsch, noch behauptet er, Mythen spielten nur für Kinder eine Rolle und könnten (später) keine andere Bedeutung mehr erlangen. Sokrates bringt nur zum Ausdruck, daß die Mythen der notwendige Anfang der Erziehung sein sollen und u. a. zu diesem Zweck von moralischen und theologischen Makeln zu reinigen sind (377 b). Das zur Deutung des platonischen Mythos gern verwendete Modell von Kern und Schale gilt jedenfalls hier nur für den traditionellen Mythos und seine Deutung. - In 377 d werden Homer und Hesiod vor allen anderen als erste bezeichnet, die falsche Mythen verfaßt hätten. Schon hier ist die Scheidung zwischen wahren und falschen Mythen impliziert, d. h. der Mythos läßt sich nicht mehr insgesamt als falscher Logos bezeichnen. Außerdem stellt Piaton hier einen Zusammenhang her, der nicht selbstverständlich ist: Dichter sind Mythenerzähler (vgl. auch 392 d) - eine Funktion, auf die Piaton sie ausschließlich festlegen wird. Zugleich wird die große Bedeutung ersichtlich, die der Mythos in der griechischen Kultur besaß und die Piaton vorfand; die Kritik an den traditionellen Mythen zielt auf die griechischen Dichter, besonders Homer und Hesiod, weshalb Piaton in 392 a/b expliziert, die Dichter hätten von Göttern, Heroen und Menschen falsch gehandelt. Piaton behält die pädagogische Funktion der Mythen als musische Früherziehung der Kinder bei, aber er besteht auf ihrer Reinigung von Fehlern und Irrtümern (377 b - e; 381 e), er baut die weitere Bildung auf der mythischen Früherziehung auf und duldet ihre Vernachlässigung wie bei Kephalos nicht. Der Mythos nimmt bei ihm einen festen Ort im Bildungsgang ein und erfüllt darin eine bestimmte Rolle. Die Reinigung erstreckt sich sowohl auf alte als auch auf kommende, neu zu dichtende

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Die platonische Philosophie des Mythos

Mythen, so daß das Tradierte in den neuen Staat integriert und zugleich Vorbild fur die neue Dichtung wird. Schon hier kann festgehalten werden, daß die Politeia drei Beispiele von Mythentypen enthält: Sofern Mythen grundsätzlich Götter- und Heroengeschichten sind (378 c; 391 e), ist die Erzählung vom Ring des Gyges (359 c - 360 d) ein falscher Mythos. Wenn Gyges ein Heros ist, handelt er nicht so wie geschildert - wenn er so handelt, ist er kein Heros, so daß sein Mythos es nicht verdient, vor Kindern erzählt zu werden. Im Autochthonen-Mythos (414 b - 415 d) wird der Bericht Hesiods zu pädagogischen Zwecken umgeformt. Obwohl er als Märchen bezeichnet wird, enthält er viele Wahrheiten des neuen Staats und dient seinen Erfordernissen, so daß er (vom philosophischen Standpunkt aus) eine Lüge im Dienst der Erziehung zum Guten darstellt, d. h. insgesamt mehr Wahrheit als Falschheit enthält, wie sich zeigen wird. Er entwirft den faktisch unbekannten Anfang menschlicher Geschichte den ethisch-politischen Einsichten des Logos gemäß (382 c/d). Er ist für die Kindererziehung deshalb von zentraler Bedeutung, womit die Mythen (als Dichtungsprodukte) eine politisch-paideutische Funktion im Staat erhalten, der die Politeia-Mythen genügen. Der Er-Mythos schließlich repräsentiert einen neuen Mythos, der allen Gesetzen, die Piaton der Dichtung gibt, genügt; er ist eine Götter- und Heroengeschichte, wie schon der Autochthonen-Mythos, in dem aber die Falschheit keinen Platz mehr hat. Zugleich kann der Schlußmythos nicht mehr der Kindererziehung dienen, da er zu schwierig und komplex ist; seine Funktion muß auf einem anderen Gebiet gesucht werden. Der wohl zentralste Kritikpunkt des Sokrates an den Dichtern richtet sich gegen ihre Theologie: Sie produzieren falsche Bilder von den Göttern und dem Jenseits (363). Damit sind sie die Hauptquelle pädagogischer Schädigungen, gegen die es vorzugehen gilt. An Irrtümern und Fehlern, die die Dichter hervorgebracht haben, nennt Sokrates folgende: Die Götter teilen den Guten ein schlechtes, unglückliches Leben zu (364 b); sie sind beeinflußbar und lenkbar, zum Guten wie zum Üblen (364 d); sie sind bei begangenen Sünden einfach zu versöhnen (365 d - 366 a). Daß sie mit solchen Eigenschaften einem ungerechten Leben der Menschen Vorschub leisten, ist leicht verständlich. Dagegen stellt Sokrates eine andere, wahre Theologie. Die Götter dürfen keine Verbrechen und Ungerechtigkeiten begehen, wie etwa Kriege (377 e ff.); Gott ist gut, schadet niemandem und ist keines Übels Ursache, sondern nur des Guten (379)37; er ist einfach in

Das hier anklingende Theodizeeproblem greift Piaton im Schlußmythos auf (617 e 5) und bemüht sich um seine Lösung, deren Erfolg jedoch umstritten ist. - Für Hager (1963), S. 172 f. stellt Ananke den Seelen durch schlechte Lebensmuster

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seiner Gestalt und seinem Wesen und unwandelbar in jeder Hinsicht derselbe (380 d/e); er ist vollkommen und ändert sich nicht in der Zeit (381 b/c), lügt nicht und schafft keine trügerischen Erscheinungsbilder (382 a); er liebt die Vernünftigen und Gerechten (382 e). - Mit diesen Charakterisierungen werden die Götter (oder Gott) zur Verkörperung der Arete in jeder Hinsicht; gleichzeitig wird die Gerechtigkeit Gottes in seinem Wesen und seinen Eigenschaften (so wie sie hier bestimmt werden) zum vorläufigen Maßstab für Form und Inhalt der Dichtung und ihrer Güte innerhalb des Staats. Im X. Buch erfolgt dann auf der Grundlage der neuen Psychologie und der Ideenlehre eine neue, weitergehende Bestimmung der Dichtung. Sofern der Schlußmythos der Politeia als Dichtung betrachtet wird, läßt sich fragen, ob er die theologischen Kriterien staatstragender Dichtung erfüllt und somit einen pädagogischen Wert besitzt. Es wird sich zeigen, daß dies der Fall ist38 und daß alle Mythen in der 'Politeia' im verwirklichten

Staat erzählbar

wären und ihren Zweck besäßen-, die My-

then lassen sich aus ihrer Ausrichtung auf die Stände des Staats als ihren primären Adressaten deuten. Die traditionellen Fehler der Mythen werden korrigiert, und der wahren Theologie wird Rechnung getragen, indem die Götter den guten Menschen kein schlechtes Leben mehr zuteilen, sondern im Schlußmythos jeder für sein Leben selbst die Verantwortung trägt. In 364 b 4 - 6 tauchen die auch im Er-Mythos zentralen Begriffe τύχη, βίος und μοίρα auf, die dort eine neue Bedeutung erhalten. Die Götter sind nicht mehr zum Guten wie zum Schlechten lenkbar und nicht mehr leicht zu versöhnen, sondern alle müssen für ihre Sünden nach einem festen und allgemein gültigen Gesetz büßen. Die Götter im Schlußmythos sind geeine Falle und führt die Menschen irre; so auch Meyer (1919), S. 218 f. Hingegen muß eingewandt werden, daß die Wahl nur bei jedem selbst liegt und die Seelen auf ihrer Wanderung oft genug Gelegenheit haben, sich auf die Wahl vorzubereiten. Schlechte Lebensmuster sind notwendig, weil sonst gute und schlechte Seelen gleichermaßen nur ein gutes Leben wählen könnten; ein naturgegeben gutes Leben existiert nicht mehr, sondern der Mensch muß sich ein solches selbst schaffen. Die Frage, ob Piatons eigene Mythen seinen Dichtungsnormen entsprechen, ist in der Forschung umstritten. Bejaht wird sie von Cassirer (1924), S. 24 f. - Hildebrandt (1959), S. 250 f. - Beierwaltes (1989), S. 284. - Biesterfeld (1970), S. 7 und S. 93. - Moors (1988a), S. 244 f. - Für Edelstein (1949), S. 464 f. und S. 480 hat Piaton nur die Bauart des neuen Mythos vorgegeben, ihn aber nicht selbst gedichtet. - Für Segal (1978), S. 333 ist die gesamte Politeia ein Exempel für die neue Dichtung. - Völlig verneint wird die Frage von Gadamer (1968), S. 201 f. Daß Mythos und Logos nicht genau abgegrenzt worden sind, spielt bei dieser Frage eine wichtige Rolle, und ihre Lösung hängt teilweise davon ab.

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Die platonische Philosophie des Mythos

recht, gut, schaden niemandem und sind am Üblen unschuldig; ebenso ist alles, was ihrer Herrschaft untersteht, gut, geordnet und den Seelen förderlich. Sie teilen weder ein schlechtes noch ein gutes Leben unmittelbar den Seelen zu, sondern hüten nur die Wahlfreiheit als ein Gut, d. h. die Verantwortlichkeit für das Leben liegt beim Menschen, aber Möglichkeit und Notwendigkeit der Wahl repräsentieren ein göttlich begründetes, garantiertes und umrahmtes Gut, das allen gleichermaßen zukommt. Gott ist nicht mehr auf derselben Ebene Ursache des Guten und auch nicht Ursache des Üblen (etwa in der Zuteilung eines bestimmten Lebens), sondern er ist auf einer höheren Ebene allein Ursache von Gutem sowie dessen harmonischer Ordnung und Erhaltung; daß es mehr Böses als Gutes in der Welt gibt (379 c), liegt im Schlußmythos an den Menschen selbst. Auch Gottes einfache Gestalt und Natur sowie seine Vollkommenheit spiegeln sich im Er-Mythos wider 39 : Alle göttlichen Wesen haben eine

Innerhalb der Politeia nimmt Apollon gegenüber den anderen Göttern eine hervorgehobene Stellung ein. Zwar umspannt Sokrates' persönliche Frömmigkeit alle Götter - man betrachte nur sein Gebet zur Göttin Bendis am Anfang - und stellt sich nie vollständig auf den Boden eines Monotheismus, aber dennoch ist Apollon ein ihm persönlich besonders nahestehender Gott, was sich bereits im Phaidon zeigt. Wenn Sokrates vom Göttlichen öfter im Singular als im Plural redet (411 e; 415 a; 425 e; 469 a; 470 a; 492 a; 517 b; 597 b/c), deutet das auf einen relativen Apollonmonotheismus in der Politeia, wofür sich einige Belege finden. In den auf Apollon bezogenen //i'as-Zitaten (383 b; 391 a) steht er noch neben den anderen Göttern und bildet nur einen Beleg für Homers falsche Theologie. Aber in 427 b/c ist Apollon der alleinige religiöse Gesetzgeber des Staats; er regelt Heroen-, Dämonen- und Götterkulte (469 a; 470 a; 540 b/c), womit er von besonderer Bedeutung für den Staat ist. - Betrachtet man seine Stellung in der griechischen Mythologie, so bestätigt sich das Gesagte. Er ist der Gott der Stadtgründer und begünstigt das Gelingen ihrer Unternehmungen; er ist der Gott der Dichter und schützt die Musik (399 e); er ist (Zeus') Prophet in Delphi (461 e); er ist ein strafender Gott (391 a; 394 a), aber auch ein rettender und schützender Gott (425 e; 492 a; Krat. 404 d - 406 a - dies ist für die Bildung von zentraler Bedeutung); und er war seit dem 6. Jahrhundert auch der Sonnengott (509 b/c), der Gott der Helle und des Lichts, der die Funktion des Helios übernahm; ebenso legte man ihm Reinheit und Erkenntnis bei. Alle diese Aspekte erweisen sich in der Politeia als bedeutungsvoll. Die Dialogpartner beenden ihre Stadtgründung mit der Zuweisung der religiösen Gesetzgebung an Apollon und stellen sie damit (als Menschenwerk) unter göttlichen Schutz. In 443 b/c erklärt Sokrates, die Gunst eines Gottes lasse die Stadtgründung und die Suche nach dem Wesen der Gerechtigkeit gelingen, womit durchaus Apollon gemeint sein kann. Besonderes Augenmerk verdient Apollons Präsenz aber im Schlußmythos. Moors (1988), S. 435 f. hat bereits daraufhingewiesen, daß das Werfen der Lose vor der

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Gestalt, die sie nicht ändern, wobei sie ihre stets gleichen Aufgaben immer auf dieselbe Weise erfüllen. Die Seelen wandeln sich - anders als die Götter - zwar in freier Wahl selbst, aber auch ihr Ideal liegt in einer möglichst großen Annäherung an die Unwandelbarkeit und Einfachheit des Göttlichen - ein Ideal, das sich am besten in einem vernünftigen Leben verwirklichen läßt. In ihrer Vollkommenheit verfügen die Götter über alle Tugenden im Höchstmaß und vereinigen sie in ihrem einfachen Wesen; ihr Sein und Tun vollziehen sie in bestmöglicher Weise. Diese Eigenschaften prägen die Götter im Schlußmythos und den φυτουργός des X. Buchs. Die Götter besitzen jede Arete, ohne doch ausschließlich über sie zu verfügen, weshalb die Tugend im Schlußmythos als herrenlos bezeichnet wird (617 e 3). 40 Im neuen Staat verfügt jeder Stand über sein Maß und seinen Anteil an der Tugend, die Philosophen im gottähnlichen Maximum. - Auch die Wahrhaftigkeit im Wesen Gottes, die jede Lüge und Täuschung ausschließt, gilt im Er-Mythos. Sofern er eine Offenbarung und ein Auftrag der Götter an Er ist (614 d), liegt darin keine Täuschungsabsicht, da die Wahl der Praxis in Delphi entsprach und Delphi als Erdmittelpunkt der Sitz Apollons war, was im Er-Mythos entsprechend deutbar ist. Vretska (1958), S. 45 hat gezeigt, daß die ganze Politeia aus sieben Teilen besteht, der Zahl Apollons. Aber die apollinische Präsenz im Schlußmythos reicht noch weiter: Sowohl sein Charakter als strafender Gott spiegelt sich im Mythos als auch seine Rolle als Retter. Er offenbart die Wahrheit über das Jenseits zur Rettung der Menschen, und entsprechend häufig taucht der Begriff σ-ωτηρία. (im Mythos) auf (432 c; 449 d; 450 d - 451 a; 453 c/d; 472 a/b; 493 a; 536 b). Zum vorrangigen Vollstrecker und Hüter der Rettung wird dann Sokrates stilisiert, der das rettende Wissen bewahrt und die Menschen mittels seiner Philosophie fördert. Auch als Gott von Dichtung und Musik ist Apollon im Mythos präsent: Zunächst bildet die Musik den zentralen Ausdruck göttlicher Harmonie (Sirenen und Moiren), dann läßt sich der Er-Mythos insgesamt als Produkt des Dichters Piaton ansehen, dessen Qualität durch Apollons Anwesenheit betont ist. - Besonders problematisch bleibt jedoch eine Adaption Apollons als Sonnen- und Lichtgott. Zwar spielt die Lichtsymbolik auch im Schlußmythos eine Rolle, lebt aber weit mehr von Andeutungen als in der Gleichnisserie. Läßt man diese Funktion jedoch gelten, so wird die Bedeutung dieses Gottes in der Politeia allumfassend. Er wäre für Wächter und Philosophen eine zentrale Instanz, wäre Staatsgott, Hüter der Erziehung und verbindende Kraft zwischen den Ständen sowie auf allen Wissensstufen von Bedeutung; er wäre Zentrum des sichtbaren Kosmos und der Hüter der Göttlichkeit der Ideen, ihrer Einheit und rettenden Erkennbarkeit; er wäre überdies die Verkörperung aller Tugenden, indem er alles Gute fördert, rettet, bewahrt, reinigt und alles Wissen und Können zusammenhält. Die Götter haben die Arete im höchsten Maß, sind aber nicht mit ihr identisch, denn die Tugend steht noch über ihnen.

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Die platonische Philosophie des Mythos

Götter keine falschen Zeichen senden; alles, was von ihnen kommt, ist gut und fördert die Bildung der Seelen und ihrer Vernunft, weil sie die Vernünftigen lieben und ihren Fortschritt unterstützen. Formal bestehen für die Dichtung in theologischer Hinsicht zwei Alternativen: Da Güte mit Gottnähe und Schlechtigkeit mit Gottferne identifiziert werden, kann sie Götter und Heroen nur als gute und vernünftige Wesen darstellen - wenn sie dennoch Übles zeigt, kann sie sich nicht der Götter und Heroen als Figuren bedienen (391 c - e). Dem trägt der ErMythos durch eine Umwertung des epischen Heroismus Rechnung; faktisch schließt Piaton eine mögliche Darstellung von Schlechtem zunehmend aus. Weil Götter und Heroen eo ipso gut sind, bleiben allein die Menschen als Gruppe übrig, in der Schlechtigkeit noch möglich ist. Auch bei der Nachahmung schlechter Menschen trifft Piaton umfangreiche Vorkehrungen, um möglichen pädagogischen Schaden abzuwenden (395 b 398 b). - Neben den Inhalten der Dichtung gilt es aber auch, ihre Form und Mittel zu bedenken. Was Piaton hierzu ausführt, läßt im vorliegenden Kontext zwei wichtige Schlüsse zu: Erstens bestimmt er Form und Mittel der Dichtung dem Wesen ihrer Inhalte analog; zweitens finden auch diese Bestimmungen ihre exemplarische Anwendung im Endmythos.

In 393 unterscheidet Piaton zwischen der mittelbaren Erzählung, in der der Dichter redet, und der unmittelbaren Darstellung, in der die Protagonisten reden. Zunächst (393 b) bezeichnet er beide Formen als Erzählung (ΰιήγησις), schränkt den Begriff aber später (393 d 5 f.; 394 d) als απλή Si'ήγησ-ις auf eine mittelbare Erzählung ohne Dialog ein und bevorzugt für die Darstellung den Begriff μίμησ-ις, wobei er den Begriff nur auf die Rede der Personen reduziert. Obwohl Piaton hier vorrangig die Trennung der beiden Grundformen von Dichtung vornimmt, deutet sich bereits (396 e 397 a) die grundsätzliche Verwerfung der unmittelbaren Darstellung (μίμησ-ις) an, wenn er betont, man solle mehr erzählen als darstellen; im X. Buch wird die Ablehnung allgemein (595 a - c). Die Erzählung im einfachen Sinne ohne Darstellung (393 c/d; 397 b) ist mit ihren Eigenschaften der göttlichen Wahrheit näher als die μίμησ-ις, denn sie ist einfach, unwandelbar und offenbart das Wesen des Dichters (393 e i l ff.); all das zählt auch zu den göttlichen Attributen (380 - 381). Letztlich unterwirft Piaton den ganzen Logos diesem Kriterium der Unveränderlichkeit, wenn er für den Logos innere Einheit durch Stimmigkeit seiner Teile fordert (398 c). Die Güte des Logos (der διηγησ-ις) besteht bei Menschen und Göttern in seiner Einfachheit und Unveränderlichkeit, was etwa dazu führt, daß bestimmte Tonarten und Rhythmen verboten werden (398 d 399 e).

Dichtung und Mythos

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Diese Bestimmungen sind im Er-Mythos exemplarisch realisiert, da er - abgesehen von der Rede des Propheten, die sich stilistisch und rhetorisch auf gehobenem Niveau bewegt - fast keine direkte Darstellung enthält. Damit erfüllt Piaton das Kriterium direkter Nachahmung (393 c), die Rede dem Nachgeahmten möglichst angemessen und ähnlich zu gestalten; einem göttlichen Wesen wie dem Propheten steht eine gehobene Sprache wohl an - sonst vermeidet Piaton die direkte Darstellung. Die Götter und anderen Wesen im Jenseits reden überhaupt nicht bzw. geben nur Urlaute wie Gesang (617 b/c) oder Gebrüll (615 e) von sich. Um mit den Menschen zu kommunizieren, haben die Götter den Propheten als eigene Instanz, weil ihnen der menschliche Logos fremd ist. Selbst dort, wo eine unmittelbare Darstellung möglich wäre, vermeidet Piaton sie, etwa bei den Richtern (614 d) oder auf der Asphodeloswiese, wo er mit dem Begriff διηγησ-ις (614 e - 615 a) die Dialoge nur andeutet, aber nicht ausführt. Darüber hinaus erfüllt der Schlußmythos im Gesang der Sirenen und Moiren die Definition von μέλος (398 d), das aus λόγος, αρμονία und ρυθμός

bestehen muß. Ihr Gesang ist unwandelbar harmonisch, wobei nicht anzunehmen ist, daß er sich einer verbotenen Tonart bedient. Als Inbegriff der Zeit selbst verkörpern die Moiren sowohl den λόγος, indem sie alles Gewesene, Gegenwärtige und Kommende singen, als auch den ρυθμός, indem sie als Zeit zugleich ihr eigenes Maß sind. Auffalligerweise beginnt Piaton seine Ausführungen zu Form und Vortrag der Dichtung mit dem Hinweis auf ihre Zeitlichkeit (392 d), sofern er sie als notwendig zeitlich bestimmt. Es liegt nahe anzunehmen, daß der Schlußmythos den Zeitfaktor in einer zentralen Hinsicht wieder aufgreift, indem er ein vergangenes Geschehen in seiner Bedeutsamkeit für zukünftiges Leben erschließt und dieses wiederum von einem Moment höchster Gegenwärtigkeit abhängig macht, nämlich der Wahl; so umfaßt der Schlußmythos die gesamte Zeitsphäre mit ihren drei Dimensionen.

C Die Bildung der

Wächter

Die skizzierten Ausführungen zur Dichtung stehen im Rahmen des platonischen Entwurfs der Bildung der Wächter. Deshalb ist anzunehmen, daß die Bestimmungen für eine gereinigte, neue Dichtung unmittelbar im Hinblick auf die Wächtererziehung gemacht werden. Die Dichtung wird hinsichtlich ihrer Wirkung und Bedeutung für die Wächter, ihrer Natur und Aufgaben untersucht, so daß es tunlich ist, ihre Rolle im Rahmen der Wächtererziehung zu betrachten und ihre Funktion in ihr zu klären; die Adressaten Glaukon und Adeimantos sind dazu als tapfere Krieger kom-

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petent (368 a). - Nach einem ersten Anklang des Wesens der Wächter in 334 a (wo man sieht, daß das Hüten eine τέχνη ist, weil der gute Hüter hüten und stehlen kann und damit Konträres beherrscht) wird der Wächterstand erst im Rahmen des "entzündeten" Staats eingeführt, in dem das Kriegshandwerk notwendig geworden ist (373 d ff.). Die luxuriösen Bedürfnisse, deren Befriedigung der Kriegerstand durch Landeroberung ermöglicht, lassen den Ursprung dieses Staats als ungerecht erscheinen, aber später zeigt sich, daß dem Wächterstand ein ursprüngliches Seelenvermögen korrespondiert, das in jedem Staat seine Aufgabe und Bedeutung hat. Durch das Konzept des Fortgangs von einem natürlichen zu einem entzündeten Staat kann Piaton ein begehrendes Seelenvermögen implizit schon vor seiner Psychologie von einem ehrliebenden Seelenvermögen abgrenzen. Der Naturstaat ist eine naturgemäße und gottgegebene Ordnung zwischen den Menschen, die auf notwendigen Begierden und ihrer Befriedigung beruht bzw. sich von Natur aus einstellt. Der Wächterstaat und seine Ordnung bedürfen dagegen zu ihrer Erhaltung des menschlichen Eingriffs und der Steuerung, so daß er keine naturgegebene Ordnung mehr darstellt und den Anfang einer gesetzlich formulierten παιδεία, erforderlich macht. Ab jetzt ist die Arete vom Menschen herzustellen und aufrechtzuerhalten und liegt nicht mehr natürlich vor; der Mensch muß sich und den Staat bilden. Piaton scheint anzudeuten, daß jedem späteren Seelenvermögen und dem ihm entsprechenden Stand eine eigene Staatsordnung korrespondieren kann, die er von unten nach oben, d. h. vom dritten zum ersten Seelenteil hin konstruiert. Vom Standpunkt einer komplexen Seele wird die beste Gesamtordnung des Staats zu einem proportionierten Gefüge zwischen seinen Teilen. Zunächst werden die Wächter als zweiter Stand notwendig, um einer zunehmenden Maßlosigkeit der Begierden zu genügen; später aber bestimmt Piaton die Wächter als die Besten im Staat, weil sie ihre komplexe Seele in eine richtige Ordnung bringen und dieser analog auch ihren Staat. Die Ordnung des dritten Seelenteils besteht nicht mehr von Natur aus, sondern durch menschliche Arete; ähnlich wird es mit den Philosophen sein. Die Natur der Wächter ist vielschichtiger als die der Menschen im Naturstaat, und entsprechend wird auch ihre παιδεία, schwieriger. Piaton beginnt seine Prüfung von Natur und Bildung der Wächter mit einer Tieranalogie.41 In 375 a vergleicht er die Natur eines zum Wächter

Diese Analogie ist auch in 411 gültig, ebenso in 466 d, wo Piaton den Menschen als eine besondere Tierart bezeichnet. Auch die Seelenteile werden durch eine Tieranalogie verdeutlicht: Der dritte Seelenteil wird als wildes, der zweite als zahmes Tier angesehen; in diesem Sinne lassen sich die Tierwahlen im

Die Bildung der Wächter

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zu erziehenden Jünglings mit einem guten Hund, wodurch zweierlei klar wird: Jede Bildung muß auf einem (vor-)gegebenen Charakter aufbauen, und sie muß so früh wie möglich in der Jugend beginnen. Gute Hunde nehmen scharf wahr (αϊσ-θησ-ις), sind stark und tapfer (375 a/b); ihr Eifer (θυμός) begründet ihre Tapferkeit und macht ihre Seele furchtlos und unbesiegbar. Damit fuhrt Piaton den mittleren Seelenteil und die ihm entsprechende Tugend auf eine Weise ein, die den θυμός gegen Homer umwertet. Zwar bleibt er Teil des αλογον, aber er ist mit der Vernunft verbündet und steht in ihrem Dienst. Entsprechend müssen Wächter - wie gute Hunde - sowohl sanft gegen Bekannte und Freunde als auch hart gegen Feinde sein (375 c) - gleiches gilt für die Seele. Hierbei definiert Piaton das Bekanntsein mit etwas und ein korrespondierendes Verhalten als etwas Philosophisches (375 e - 376 a), egal ob die Bekannten gut oder schlecht sind. Die Erkenntnis der Güte der Bekannten wird also nicht konstitutiv bzw. das Bekannte wird mit dem Guten gleichgesetzt. - Mit der Forderung nach Sanftheit gegenüber Freunden und Härte gegenüber Feinden greift Piaton zugleich auf die Gerechtigkeitsbestimmung in 332 a zurück, wo es als gerecht angesehen wird, den Freunden zu nützen und den Feinden zu schaden.42 Was aber dort als insgesamt unzureichend gilt, wird hier in bestimmter Weise als gültig erwiesen, so daß es in die vollständige Gerechtigkeitsdefinition integrierbar wird. Die Forderung an die Wächter, philosophisch zu sein (375 e - 376 b), zeigt, daß Piaton einen weiteren und einen engeren Begriff von Philosophie hat, die auch beide im Schlußmythos relevant sind. An der eben genannten Stelle ist von den späteren Philosophen als Königen und Dialektikern nicht die Rede, da Wächter und Philosophen noch nicht voneinander abgehoben wurden.43 Philosophie ist für Piaton hier gleichbedeutend mit Philomathie, der Liebe zu Kenntnissen in einem undifferenzierten Sinne. Später bei der Bildung der Philosophen gilt die Philomathie eher als auszubildende Bedingung für wirkliche Philosophie (485 d); dazu paßt die Forderung nach einer scharfen Wahrnehmung der Wächter (375 a/b). Die Wahrnehmung wird im Liniengleichnis die niedrigste Form des Wissens darstellen, ist aber dennoch die Ausgangsbasis der Wächtererziehung. Die Schlußmythos deuten (620 d). Damit wird die Einheit der Seelenteile bereits im doxischen Bereich hergestellt, was bis in den Phaidros-Mythos hineinwirkt. Dieses Motiv steht am Anfang und am Ende der Ausführungen zur Wächterpaideia: Vgl. 471 a, wo Piaton das Verhalten gegen Hellenen und Barbaren auf diese Weise kennzeichnet. In 411 c werden Musik und Philosophie analogisiert: Es läßt sich eine Art 'Jünglingsphilosophie' von der wissenschaftlichen Dialektik als 'Altersphilosophie' bzw. Philosophie im engeren Sinne unterscheiden.

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Die platonische Philosophie des Mythos

Reinigung der Wahrnehmung durch die Musik ist dabei die notwendige Verlaufsform aufsteigenden Wissens (411 d), das auf einer stabilen Kenntnis von Wahrnehmungen beruht, wie sie das Bild (εΐκών) der Tieranalogie darstellt (375 d). Piaton geht also von einem Alltäglichen und Bekannten aus, auf das er alles Weitere aufbaut.44 Ausgehend von der Natur der Wächter greift Piaton für ihre Bildung auf die traditionelle griechische Erziehung durch Musik und Gymnastik zurück (376 e); durch die Aufnahme der Musik durch das Hören ergibt sich eine natürliche Beziehung zur παιδβία, die ihren Anfang auch im Hören (von Mythen) nimmt. Musik geht als Seelenbildung der Gymnastik zeitlich voran, und das Kind soll durch wahre und falsche Reden gebildet werden, die in den Mythen als Teil der tradierten musischen Erziehung ihren Ausdruck fanden; die Mythen bilden somit den notwendigen Anfang der Wächterpaideia, dem - wie jedem Anfang - höchste Bedeutung zuzumessen ist (377 a/b). Hier entscheidet sich die Möglichkeit aller weiteren Bildung und ihres Gelingens, weshalb die Mythen und ihre Inhalte ihrem pädagogischen Gebrauch entsprechend aufzubereiten sind (377 a/b und 386 a). Es gilt, die Arete von Kindheit an zu fördern, was es erforderlich macht, daß Kinder nur Gutes hören sollen - sei es wahr oder unwahr (378 d/e); so werden die Kinder von Anfang an vom Guten geprägt und für es eingenommen. Ein Ziel besteht dabei darin, die Wächter gottesfürchtig und gottähnlich zu machen (383 c), was bedeutet, daß sie in ihrer Seele und ihrem Leben unveränderlich, gut und einfach werden müssen, soweit dies möglich ist: Diese göttlichen Eigenschaften sind in den Wächterseelen nachzubilden. Zu diesem Zweck werden Bestimmungen zur Darstellung des Hades, des Todes und der Götter getroffen (386), die die Tapferkeit der Wächterseelen fördern sollen. Die Mythen sollen den Wächtern die Todesfurcht und die Angst vor den Schrecken des Hades nehmen, um den Tod vielmehr als Gut zu preisen (387 c - e). Jammern und Furcht vor dem eigenen und dem fremden Tod - etwa dem der Heroen - werden als unvernünftig begriffen und verboten, womit Piaton einen Sachverhalt einführt, den er später im X. Buch tiefer begründet: Übermäßiges Jammern oder Lachen sind zu verbieten (388 d/e), weil sie den dritten Seelenteil aufstacheln. Zugleich läßt er dadurch, daß er das Klageverbot auf Männer und Frauen ausdehnt, erstmals ihre spätere Gleichheit anklingen. Mit dem Gebot, weder übermäßig zu jammern noch zu lachen, wird zuerst das in

Der Erkenntniswert des Bildes wird durch den Er-Mythos bestätigt. Die Formulierung in 616 d 2 deutet darauf hin, daß Sokrates seinen Zuhörern ein Bild des geschilderten Kosmos aufmalt, um an ihm dessen Wesen aufzuzeigen, ähnlich wie imMenon (82 b ff.).

Die Bildung der Wächter

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vieler Hinsicht zentrale Ideal einer Bestheit als abgemessener Mitte zwischen zwei Extremen exponiert; was Piaton hier zu seiner Begründung anfuhrt, wird auch später noch gültig sein. Ein Übermaß bewirkt einen Wandel zum Schlechteren in Seele und Staat (μεταβολή), wie die Verfallsreihe des VIII. und IX. Buchs noch zeigen wird. In 380 d - 3 8 1 c werden Vollkommenheit und Güte explizit als Unwandelbarkeit definiert, so daß das mittlere Maß für den Wächter am stärksten seine Unwandelbarkeit zu befestigen scheint. Sofern die Nachahmung von etwas dessen Übernahme in die (und Sein in der) eigene(n) Seele bewirken kann (395 c), sollen die Wächter nur tugendhafte Menschen imitieren; sofern sie die Mitte zwischen Extremen einnehmen und leben, soll eine Nachahmung des Mittleren die Mitte in der eigenen Seele stärken. In 389 d - 390 e führt Piaton die Besonnenheit als Maß halten etwa gegen Begierden und äußere Güter ein. Schon die Tapferkeit war zuvor als Mitte zwischen Sanftheit und Härte konstruiert worden, den beiden Tugenden, die später zentrale Bestimmungen der Gerechtigkeit und die spezifischen Tugenden des zweiten und dritten Standes sein werden. Daraus wird ersichtlich, daß der Wächterstand die Tugend des dritten Standes vollständig besitzt und darüber hinaus tapfer sein muß - eine Tugend, über die dieser Stand nicht im selben Maß wie der zweite verfügt (468 a). Außerdem zeigt sich, daß auf beiden Ebenen zum Finden, Einhalten und Anwenden des mittleren Maßes schon ein bestimmtes Maß an Vernünftigkeit erforderlich ist, mittels dessen das Messen erst vorgenommen werden kann. Die Anwendung der Vernunft ist aber bei der Tapferkeit komplexer als bei der Besonnenheit, d. h. bei letzterer äußert sich die Vernunft eher als Einhalten eines vorgegebenen Maßes, das in jedem Fall unverändert gilt, während bei ersterer die Vernunft die bestimmten Anwendungsfalle von Härte oder Sanftheit erst zu identifizieren hat. In 401 d/e verlangt Piaton, die Wächter sollten von Kindheit an mit schönen Reden in Ähnlichkeit, Freundschaft und Übereinstimmung stehen. Noch vor der Fähigkeit zur vernünftigen Rede (402 a) soll die Seele durch Musik - genauer durch Harmonie und Rhythmus - geprägt und zur Aufnahme der Wahrheit und der Gerechtigkeit tauglich gemacht werden. Die Vorprägung zur eigentlichen Erziehung stellt für Piaton bereits eine Freundschaft zwischen den hinsichtlich ihrer Qualität des Guten Ähnlichen her und ebenso die Feindschaft gegen alles Üble; auch dies ist eine Integration der Gerechtigkeitsdefinition aus 332 a - d. Die natfcia. soll also die guten Seelen qua Naturanlagen sowohl untereinander als auch dem Guten selbst ähnlich machen und dieses ganze Gefüge unveränderlich festigen und erhalten. Erziehung muß Erziehung zur Gerechtigkeit sein, weshalb zur Erkenntnis der Gerechtigkeit nicht nur das Wissen um die

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Natur der Wächter gehört, sondern auch das um ihre Bildung, wie der Übergang zwischen diesen Ebenen in 376 c/d belegt. Die Erkenntnis der Gerechtigkeit bedeutet auch eine Erkenntnis der Bedingungen (der Herstellung) derselben, die allein in der Bildung liegen können. - Die Musik fördert die Freundschaft und Bindung zwischen Gleichen, alle Tugenden und die Mäßigung in allen Lüsten. Ihren Endpunkt erreicht sie in der Liebe zum Schönen (402 d - 403 c); für Piaton ist sie das Fundament und der Anfang der Philosophie. Die musische Ausbildung ist grundlegender als die gymnastische und beginnt auch vor ihr - nämlich mit der Erzählung von Mythen. Der Vorrang der Musik vor der Gymnastik ist nicht nur ein zeitlicher, sondern ein prinzipieller, weil die auf die Seele gerichtete Musik grundlegender ist als die Gymnastik, die auf den Leib bezogen ist. Das Ideal der Mitte, das Piaton in 410 b - e auch auf Musik und Gymnastik ausweitet, kann also durchaus verbunden sein mit dem Vorrang eines Besseren innerhalb des Ganzen. So wird auch die gut verfaßte, harmonische Seele die sein, in der der beste Teil das Übergewicht über die anderen Teile hat, was verständlich ist, wenn man berücksichtigt, daß mit der Musik erst der Maßgedanke und das Meßvermögen gebildet werden, die auf den Leib und seine Bildung anzuwenden sind. Hierbei muß festgehalten werden, daß die Musik eine quasi vernünftige Seelenregung und -Wirkung repräsentiert, die auf die ganze Seele Einfluß ausübt; die späteren Seelenteile sind an dieser Stelle noch nicht ausdifferenziert. In 403 b - 404 e fordert Piaton für die Wächter ein einfaches Leben, wozu maßvolle Ernährung45 und Sexualität, Gesundheit und die Fähigkeit, physische Extreme und äußere Anstrengungen zu ertragen, gehören (vgl. 380 e). Die guten Wirkungen der Musik und Gymnastik beruhen auf ihrer Einfachheit (404 e), woraus sich schließen läßt, daß Leben und Bildung der Wächter dem Göttlichen angeglichen sind; die natdeia bildet den Weg dieser Gottverähnlichung und ist primär Seelenbildung, die wesentlich schwieriger als die Leibbildung ist. Die einfache Musik führt zur Besonnenheit in der Seele (410 a), während die Gymnastik zur leiblichen Gesundheit hinleitet - beides sind aber Tätigkeiten der Seele. Zunächst wird eine harmonische Grundproportion zwischen Leib und ganzer Seele hergestellt, während die Ordnung innerhalb der Seele noch erreicht werden muß. In 410 b - e zeigt Piaton, daß die Gymnastik auch dem natürlichen Mut (θυμοειδής) der Seele dient und daß es gelte, die Mitte zwischen den

In 441 c - e warnt Piaton, zu viel Essen schade dem Verstand; in 558 d - 559 c unterscheidet er zwischen notwendigen und nichtnotwendigen Begierden und nennt aus dem Bereich der Ernährung die Beispiele von Brot, Fleisch und Luxusgütern.

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Extremen zu erreichen und zu erhalten, d. h. die Wächter dürften weder zu mild noch zu hart werden, wozu es nötig sei, Musik und Gymnastik im Gleichgewicht zu fördern bzw. eine einseitige Ausbildung zu vermeiden. Zentral für eine ausgewogene παιδεία, sei die rechte Mischung beider Erziehungsstränge (441 e), so daß sowohl die Anlagen zur Härte als auch zur Milde in der Seele zu fördern seien. Auffalligerweise weist Piaton der Gymnastik eine Art Doppelnatur zu, wenn sie zum einen der leiblichen Gesundheit, zum anderen dem natürlichen Mut dient; ähnlich dient die Musik der Besonnenheit (404 e; 410 a) und der philosophischen Natur der Seele (411 c). Zunächst hat Piaton somit alle Tugenden eingeführt, die später zur Gerechtigkeit gehören, und darüber hinaus sind hier bereits ihr innerer Konnex und ihr gegenseitiges Bedingungsverhältnis ebenfalls präsent: Ausgehend von den natürlichen Anlagen der Seele hat die Bildung die Aufgabe, diese Anlagen gemeinsam zu bilden, was nur möglich ist, indem man sie gegeneinander stimmt und sie sich ausgleichen läßt. Die milde und die rauhe Naturanlage tendieren von sich aus und bei einseitiger Bildung dazu, extrem zu werden und auszuarten, d. h. der Mensch wird feige oder roh ( 4 1 0 b - 4 1 1 e ) . Nur indem sie gegeneinander wirken und sich gegenseitig abschwächen, wird eine mittlere Bildung beider Anlagen erreicht, die je als ihr Optimalzustand gilt und mit den Tugenden Tapferkeit, Besonnenheit und Wißbegierde bezeichnet wird. Die Ausbildung der philosophischen und milden Natur durch die Musik fördert diese Anlage und wirkt der mutigen und rauhen Anlage entgegen, deren Förderung umgekehrt die philosophische Natur vor ausartender Weichlichkeit bewahrt. Die richtige Gegeneinandergestimmtheit beider Anlagen46 und ihre parallele Ausbildung fuhren zum Besten jeder einzelnen Anlage und des Ganzen, was auch später für die Gerechtigkeitsbestimmung als Tun des Seinigen gilt. Eine falsche παιδεία kann die Naturanlagen zu schwach oder zu stark werden lassen und sie damit unbrauchbar und schädlich machen; so ist etwa die Körperstärke kein Selbstzweck, sondern nur im mittleren Maß gut (410 b). Es gilt, die Naturanlagen nach dem Ideal der Mitte und der richtigen Mischung auszubilden, um das Beste zu erreichen, was auch noch für die Philosophen relevant ist (503 c - e). Das Ideal der richtigen Gegeneinandergestimmtheit In 441 e - 442 a wird der Gymnastik ein anspornender und der Musik (mittels Harmonie und Rhythmus) ein besänftigender Charakter zugesprochen. In 547 c 548 c beschreibt Piaton den Vorrang der Gymnastik vor der Musik als Grund des ethischen Verfalls; in 586 b/c schließlich zeigt er, daß der mutartige Seelenteil für sich genommen zu hart und wild wird. Jedes Wissen - unabhängig von Form und Tiefe - besänftigt diesen Seelenteil, und die Gymnastik garantiert immer den ausreichenden Grad charakterlicher Härte.

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stellt eine Anwendung eines musischen Zentralprinzips dar, nämlich der Harmonie, und deutet so bereits den späteren Primat des obersten Seelenteils als Kennzeichen der besten Ordnung der Seelenteile und der ganzen Seele an. Dessen Bildung währt das ganze Leben, das als das rechte Maß, Reden zu hören, angesehen wird (450 b). In der Jugend dürfen die Naturanlagen nicht ausarten und sind miteinander ins Gleichgewicht zu bringen, was für jede einzelne Anlage eine mittlere Realisierung verlangt. Während aber für Besonnenheit und Tapferkeit das Ideal der Mitte immer gelten wird, muß die philosophische Natur - nachdem sie der Verweichlichung entgangen ist - zunehmend stärker gefördert werden und kann (auf der Basis von Besonnenheit und Tapferkeit) durch ihre weitere Ausbildung nicht mehr entarten, so daß sie allein oder doch vorrangig zu fördern ist. Die musikalische Verwirklichung der philosophischen Natur mündet bei echten Philosophen in eine wissenschaftliche Weiterbildung. In 412b - 414b beschreibt Piaton die Auswahl der Herrscher innerhalb des Wächterstaats, die nicht mit den Philosophenkönigen gleichzusetzen sind, sowenig wie die Wächter mit den späteren Helfern. Vielmehr bleiben die obersten Wächter an die bisher entworfene Wächterbildung gebunden, denn sie haben als vollkommene Wächter die spezifischen Tugenden und die Bildung ihres Standes optimal entwickelt, ohne doch dessen Rahmen zu sprengen. So behauptet Piaton, sie seien die musikalischsten und gymnastischsten Seelen, ebenso die achtsamsten (412 a - c), wobei auch das Gefüge von Befehlen und Gehorchen, das jeden guten Staat kennzeichnet, im Wächterstand entwickelt wird (412 b). Die jungen Wächter müssen den alten Wächtern, die ihr Geschäft am längsten versahen, gehorchen und von ihnen lernen. Die vollkommenen Hüter zeichnen sich besonders durch ihre innere Bindung an das Wohl des Ganzen aus; ihr Wohl hängt von dem des ganzen Staats ab; ihr Eifer für das Ganze (προθυμία) sowie für seine Güte und sein Heil hebt sie hervor (412 e). Die Verständigkeit, die dazu erforderlich ist, beschreibt Piaton auffälligerweise nur in der Terminologie der δόξα, d. h. von Wissen im philosophischen Sinne ist nicht die Rede.47 Der größte Eifer und die am besten befestigte wahre Meinung bilden die Grundlage der Herrschaft der ältesten und besten Wächter, woran sich deutlich der Sprung zwischen Wächter- und Philosophenstaat offenbart. So erklärt Piaton auch in 497 c/d, der Wächterstaat sei nur meistenteils auch derjenige Staat, in den Philosophen kommen könnten; im Philosophenstaat werden die kommenden Herrscher

Vgl. dazu die ähnliche Stellung und Funktion, die die wahre Meinung im Menon einnimmt. Dort spielt auch schon das Festbinden der Meinung in der Seele (vgl. 97 c - 98 a) eine zentrale Rolle, wie später in der Politeia.

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schon in der Jugend und nicht erst im Alter selektiert. Aus 412 b ersieht man, wie Piaton die Stände im Wächterstaat in einem natürlichen Sukzess von unten nach oben ableitet: Im Naturstaat existiert nur der dritte Stand, dann werden zunächst Wächter nötig, die im Alter (als physischem Prozeß) nochmals selektiert werden. Wer die παιδεία der Wächter in diesem Sinne leiten soll, bleibt offen; in 412 a werden zwar Aufseher genannt, aber nicht näher bestimmt. Die Philosophen werden jedenfalls später auf dem Wächterstaat aufbauen und in ihm von oben herab Wächter und Philosophen bilden. Der notwendige und einzige Weg für die Wächter, Gerechtigkeit zu erlangen, liegt in der παιδεία-, aus einer guten Bildung und der aus ihr resultierenden gut verfaßten Seele folgen von selbst alle konkreten Handlungsweisen im Leben (423 e), die damit keiner expliziten Regelung mehr bedürfen (426). Aufbauen kann und muß die παιδεία ausschließlich auf einer guten Natur und guten Anlagen, über die sie nicht verfügt; hinsichtlich ihrer Güte sind φύσις und παιδεία zirkulär und bedingen einander, d. h. die eine besie παιδεία baut auf der einen guten Natur auf und formt sie gleichzeitig erst zu ihrer vollentwickelten Qualität (424 a/b) - ebenso ermöglicht sie erst neue gute Naturen. Gerechtigkeit und Güte sind notwendig verbunden mit einer Bildung zur Gerechtigkeit, die selbst gut sein muß, so daß verständlich wird, warum die Formen der Erziehung unwandelbar dieselben sein sollen, da sonst eine Entfernung von der erreichten Qualität der παιδεία stattfände (424 c/d). Die παιδεία verbindet aber auch das Wesen von Staat und Einzelnem unauflöslich (425 a/b): Ein guter Staat zeigt sich an seinen Bildungsgesetzen und hat überhaupt nur pädagogische Gesetze, weil seine Erhaltung von nichts anderem abhängt. Die hochwertige Bildung des Einzelnen zu seiner Güte bedingt die des Staats, so daß der Gipfelpunkt der Bildung des Einzelnen dann erreicht ist, wenn er sein Wohl an das des Staats gebunden hat (wie bei den vollkommenen Hütern). Um das Verhältnis von φύσις und παιδεία zu klären, bringt Piaton in 429 d/e das Beispiel der gefärbten Wolle.48 Eine gute Bildung kann der Dieses Motiv wird im Schlußmythos zentral, der die Technik des Spinnens und ihr Produkt mit den wählbaren Lebensmustern verbindet. (Vgl. Onians (1988), S. 306 f. und S. 403 f.) Wenn die Muster als Wolle eingefärbt werden und das für eine doxische Bildung steht, so erweist sich die Meinung als spezifische Wissensform der Wächter, deren höchstmögliche Sicherung und Festigung die Wächter nicht überschreiten werden. Es geht in der naiSeia der Wächter darum, ihnen die wahren Meinungen echt und fest einzufärben in eine gute, zugrundeliegende Wolle; ihre Ansichten müssen gerettet und erhalten werden (429 a - d; 430 b 3; 433 c; 442 d), wobei der Rettungsbegriff im Schlußmythos

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natürlicherweise reinen Seele eine bestimmte Prägung verleihen, so wie der gute Färber eine weiße Wolle so einfärben kann, daß die Farbe nicht mehr auswaschbar ist. Der Bildung ist die Natur zwar vorgegeben, aber sie gibt dieser eine Prägung, die für einen Menschen zur zweiten Natur werden kann; die Wolle selbst kann von Natur aus gut oder schlecht sein, so daß es folglich geringerer oder größerer Mühe bedarf, um ihr eine dauerhafte Färbung zu geben. Gleichzeitig interpretiert Piaton die naiSeia mit seinem Bild implizit als τέχνη, weil das Färben ein technisches Beispiel bedeutet. In 452 a werden Musik und Gymnastik explizit als Techniken bezeichnet, wodurch die παιδεία der Wächter, die aus diesen beiden Zweigen konstituiert wird, selbst als τέχτη sichtbar wird. Sie vermittelt Musik und Gymnastik und weiß um ihren je eigenen und gemeinsamen Nutzen, Zweck und Gebrauch, womit die Hierarchie der Techniken im X. Buch bereits vorweggenommen wird (601 c - 602 b). Von 449 c - 466 d entwickelt Piaton die Grundzüge der Frauen- und Kindergemeinschaft sowie der gemeinschaftlichen Lebensweise der Wächter. Sokrates greift zunächst in 451 c/d auf die Analogie zwischen Wächterseelen und Hunden zurück: Als Hüter der Herde erfüllen männliche und weibliche Hunde die gleiche Aufgabe, so daß - auf der Basis derselben Natur (452 e - 453 a) und derselben Erziehung (451 e) - Männer und Frauen ebenfalls gleiche Aufgaben erfüllen können. Sokrates wendet die Analogie an, um die Unglaublichkeit (450 c 7: άπιστία) dieser Gemeinschaft widerlegen zu können; er bekämpft auf der Stufe der δόξα. Gleiches mit Gleichem, den Unglauben mit einem Bild: Hierbei fällt auf, daß das Tierbild mit der Darstellung von Natur, Bildung und Leben der Wächter endet und keine Relevanz mehr in der Entwicklung des Philosophenstaats besitzt49; das doxische Bild dient nicht mehr als zentrales Erkenntnisinstrument. Einen inneren Zusammenhang zwischen der Bildung und dem Leben der Wächter einerseits und der Wissensform der Meinung andererseits kann hier bereits vorläufig festgehalten werden - ein Bezug, der schon das Färberbeispiel kennzeichnet. - Der Grund für die Gleichheit in der Männer- und Frauengemeinschaft besteht in derselben Natur und Seele beider (454 c - e). Der Mensch besitzt nur eine Natur (455 d), und geschlechtsspezifische Verschiedenheiten wie Körperkraft oder Behaarung sind nebensächlich (455 c/d). Wenn ihre Seele dieselbe ist, können Mann wiederum bestimmend ist. Was der παώβία in 429 d/e fertig vorliegt - die Wolle und ihre Qualität findet im Er-Mythos seine Begründung durch eine freie Wahl. In diesem Kontext ist noch darauf hinzuweisen, daß der mittlere Seelenteil aus denselben Gründen mit der höchsten Tiergattung, dem Löwen, vergleichbar wird (588 d 3; 620 b 2. - Vgl. auch Empedokles: DK Β 127.).

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und Frau dieselben Aufgaben erfüllen, denn ihre wesentliche Gleichheit macht sie auch gleichermaßen tauglich; diese Erkenntnis gilt noch im Philosophenstaat, sofern Männer und Frauen philosophisch tätig sein und den Staat leiten können. Die Bestimmung der Gerechtigkeit als Tun des Seinigen auf der Basis naturbedingter und gebildeter Seelenverfassung gilt also unabhängig vom Geschlecht des Menschen; alle Aufgaben, Tugenden und Künste müssen auf den Menschen, nicht auf die Geschlechter bezogen werden (455 - 456). Neben einer guten Bildung ist auch eine gute Natur notwendig, um den Menschen - wie alle Lebewesen - zur Arete, zur wesensgemäßen Erfüllung seiner Aufgaben, heranzubilden. In 458 d - 460 b regelt Piaton deshalb die Fortpflanzung und die Hochzeiten in seinem Staat, wozu er sich zunächst erneut der Tieranalogie bedient. In jeder Gattung von Lebewesen führt die Vereinigung der besten Exemplare zur Zeugung eines weiteren guten oder noch besseren Exemplars, während die Vereinigung von Schlechten nur zu deren Reproduktion und weiterer Verschlechterung führt. Um die Qualität des ganzen Staats zu sichern, muß das Prinzip der Zuchtwahl herrschen, nach dem sich die Guten möglichst oft mit ihresgleichen und die Schlechten möglichst selten fortplanzen sollen; nur durch die Selektion der Besten zur Fortpflanzung sind die Güte und die Zahl der Staatsbürger zu reproduzieren oder noch zu vervollkommnen (461 a). Das Prinzip der Bestheits(-re-)produktion durch Zucht gilt für alle Lebewesen und hängt vom menschlichen Handeln ab bzw. stellt sich nicht von Natur aus ein. Bei Tieren und Menschen muß der Mensch mit seiner Vernunft die Besorgung der Zucht übernehmen, indem er die Besseren von den Schlechteren absondert. Nur durch den Geschlechtstrieb geleitet, vermischte sich alles mit allem, was der Güte des Ganzen nur schaden kann; um die Arete des Staats und seiner Bürger herzustellen und zu erhalten, muß der Mensch von Anfang an gegen die Natur arbeiten, wobei die Zuchtselektion die erste Form vernünftiger Konstitution des guten Staats durch den Menschen darstellt. Die Natur des Menschen kann nicht mehr als faktisch akzeptiert werden, sondern der Versuch muß unternommen werden, die Natur des Menschen selbst zu formen, um der Erziehung die angemessene Grundlage zu geben, auf der allein ihre Arbeit aufbauen und gelingen kann, nämlich die Güte des Ganzen und des Einzelnen zu bilden und zu festigen. Von Relevanz ist noch eine kurze Betrachtung der Rolle des Krieges in der Wächterbildung. Wie erwiesen, ist der Krieg der Grund für das Auftreten der Wächter und ihr spezifisches Handwerk, aber die Kriegsführung bedeutet keine Kunst wie jede andere. Sie betrifft einen besonderen Seelenteil und erfordert eine eigene Bildung ihrer Träger. Die Krieger sind

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durch ihr Können extrem gefährdet, die Macht im Staat zum Schaden des Volks auszuüben, wogegen die Bildung (Vor-)Sorge zu leisten hat. Die Wächter lassen sich nicht mehr qua Natur bilden, sondern bedürfen der pädagogischen (Selbst-)Ordnung. - Der Krieg spielt im weiteren Sinne in der gesamten Politeia eine wichtige Rolle. Am Kampf der seelischen Strebungen entwickelt Piaton seine Psychologie: Innere Kämpfe bilden die Darstellungsfolie beim Verfall des besten Staats; der Krieg fungiert als ausgezeichnete und erste praktische Anwendungsform der höheren Wissenschaften. Am Fehlen oder Vorhandensein innerer Kämpfe mißt Piaton die Güte oder Schlechtigkeit der Seele, des Staats, des hellenischen Kulturraums und des Kosmos, wobei der Krieg (als Gegensatz zu innerer, harmonischer Einheit) die Schlechtigkeit einer Entität repräsentiert. Dergestalt sind Krieg und Kampf einerseits Ausdruck schlechter Verfassungen, und die Fähigkeit, sie zu vermeiden oder zu beenden, ist ein Zeichen innerer Güte; andererseits kann das Vermögen, Kriege gut zu führen und zu gewinnen, ebenfalls ein Zeichen der inneren Güte des Staats und des Einzelnen sein. Der innere Krieg und der Krieg nach außen müssen so als verschiedene Dinge angesehen werden. Der Krieg und die Fähigkeit, ihn siegreich zu fuhren, stehen im Dienst der (Wieder-)Herstellung der besten inneren Ordnung und ihres Bestehens, womit sich der Krieg als Instrument der Durchsetzung, Erhaltung und des Wiedergewinns der am besten geordneten Einheit von Seele, Staat und Hellas erweist: Dazu gibt es im Staat den Wächterstand. Später müssen sich auch die Philosophen am besten in der Kriegsführung auskennen, was ein Nebenprodukt ihrer wissenschaftlichen Ausbildung sein wird. Die Bildung der Wächter dient am Anfang v. a. der Stärkung ihrer Kampfkraft durch die Ausschaltung schwächender Einflüsse - wie der Angst vor dem Tod und dem Jenseits - sowie der Förderung ihrer Tapferkeit und Todesbereitschaft. Daß Piaton dies mit den ersten Bestimmungen göttlicher, allumfassender Gerechtigkeit verbindet, zeigt die Kunst seiner Dialogkomposition, da die Arete der Krieger auf diese Weise von Anbeginn mit der Gerechtigkeitsfrage verbunden wird. Piaton beendet die Ausführungen zur Wächterbildung mit einer Kriegsgesetzgebung: Die Wächter sollen ihre Kinder mit in den Krieg nehmen (466 e f.), teils damit sie ihr künftiges Handwerk kennenlernen, teils damit die Eltern durch sie angespornt werden, ihr Äußerstes zu leisten, wie es auch bei den Tieren der Fall ist. Es geht Piaton nur darum, wie etwas auf die Seele wirkt, sei es bei Musik, Gymnastik oder hier bei der Kriegsführung, um es danach zu beurteilen. Das Verhältnis der Griechen untereinander ist von dem der Griechen zu den Barbaren zu unterscheiden. Zwischen Hellenen gibt es keinen Krieg, sondern nur Zwist, weil Hellas

Die Bildung der Wächter

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nur eine πόλις ist (470 b); deshalb sollen Griechen nicht beraubt oder versklavt werden (469 b - 470 a). Da alle Griechen untereinander Freunde sind, sollen sie sich nur Gutes tun, den barbarischen Feinden aber Übles, denn zwischen ihnen bestehe eine natürliche Feindschaft (470 c). Damit wird Hellas als Wächterpolis, in der alle sich als Bekannte und Freunde sanft behandeln sollen (vgl. 332 a; 375 c), gegen die Barbaren abgrenzt, die hart und als Feinde zu behandeln sind; daß Piaton so der hellenischen Praxis entgegensteht, weiß er selbst (471 b). - Bezüglich der Scheidung zwischen Hellenen und Barbaren ist davon auszugehen, daß die Differenz zwischen Gerechten und Ungerechten noch grundsätzlicher ist. So wäre wohl ein gerechter Grieche einem gerechten Nichtgriechen weit eher befreundet als einem ungerechten Griechen, denn Gerechte sind untereinander stets befreundet, und daß gerechte Barbaren als Feinde zu betrachten sind, fordert Piaton nirgendwo; in 499 c/d nennt er sogar barbarische Gegenden als solche, wo die Philosophenherrschaft möglich sei, womit er sie in den Bereich gut verfaßter πόλεις einschließt.

D Die Mythen der

Politeia

Aufgrund ihrer inneren Verwandtschaft sowie der Einheit ihrer sukzessiven Funktion lassen sich drei Abschnitte der Politeia als Mythen bezeichnen: Die Erzählung von Gyges und seinem Ring (359 b - 360 d), der Mythos von der autochthonen Herkunft der Menschen und den Seelenmetallen (414 b - 415 d) und der Mythos des Er (613 e - 621 d). Die Mythen erfüllen je für sich und gemeinsam eine Fülle von Funktionen, folgenden aufgewiesen werden sollen.

die im

1) Die Gyges-Erzählung Die Erzählung von Gyges und seinem Ring gehört zu Glaukons Wiedergabe der traditionellen Ansichten über Wesen und Wert der Gerechtigkeit am Anfang des II. Buchs der Politeia. Da diese Ansichten im wesentlichen falsch oder mangelhaft sind, ist auch der Mythos, der sie darstellen und verdeutlichen soll, eine falsche Rede - entsprechend wird er in 612 b (unmittelbar vor dem Er-Mythos und im Kontrast zu ihm) korrigiert. Glaukon berichtet von Gyges, um die Ansicht zu belegen, Gerechtigkeit sei nur das Unvermögen, Unrecht zu tun, und eine Übereinkunft zwischen diesbezüglich Unvermögenden. Gibt man einem gerechten und einem ungerechten Menschen die Macht, alles zu tun, was er will, ohne ihn dafür

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Die platonische Philosophie des Mythos

zur Rechenschaft zu ziehen, so ist zwischen beiden kein Unterschied festzustellen. Sowohl der Gerechte als auch der Ungerechte folgen nur ihren Begierden (359 c 3: επιθυμία), beide streben danach, immer mehr haben zu wollen (359 c 5: πλεονεξία); Besitz ist das größte Gut und gleicher Besitz ist nur gesetzlicher Zwang. - Auffälligerweise greift Piaton die tradierte Meinung über die Gerechtigkeit später explizit als eine bestimmte Form der Ungerechtigkeit - bezüglich des dritten Seelenteils nämlich - wieder auf. Die tradierte Meinung bezieht sich, im Rahmen der platonischen Psychologie betrachtet, nur auf einen Teil dessen, was zu beachten wäre, um die Gerechtigkeit angemessen zu bestimmen. Damit stellt Piaton auch einen Bezug zwischen den (tradierten) Meinungen und dem begehrenden Seelenteil her, der zentral bleiben wird. Für ihn ist die einfache Ordnung der Begierden von der Natur vorgegeben, wie der Naturstaat zeigt, kann aber leicht entarten und ins Übermaß verfallen. Die πλεονεξία, die hier als konstitutives Streben aller Menschen ausgegeben wird, bildet später eine wichtige Erscheinungsform der Ungerechtigkeit, der gegenüber Piaton Gleichheit und Allgemeinheit von Besitz und Gütern als Ideal stellen wird. Betrachtet man die Gyges-Erzählung im einzelnen, so fallt die Nähe zu den anderen Mythen schnell ins Auge. Alle drei Mythen sind durch ein starkes physisch-chthonisches50 und erotisch-somatisches Element gekennzeichnet; so ist die Rede von χάσματα (359 d 3 f.; 614 c 3) und von Naturzeichen wie Unwettern und Erdbeben (359 d 3; 621 b 2 f.), wobei das chthonische Element im Autochthonen-Mythos durchgehend bestimmend ist. Das erotisch-somatische Element äußert sich in Gyges' Ehebruch (360 b 1 f.), in der φιλία zwischen den Erdgeborenen, der Liebe zur Erde als Mutter und zum Staat (414 e) sowie schließlich in der Liebe zur Philosophie und zu Kenntnissen im Schlußmythos (619 d/e); erst in diesem ist überhaupt von einer (physisch beschriebenen) Seele die Rede. In der Gyges-Erzählung hat der Eros eine zerstörerische und ungerechte Form, während er sonst die Gerechtigkeit fördert. Jeder der drei Mythen befaßt sich eingehend mit einem Seelenteil - und zwar in aufsteigender Folge: Die Gyges-Erzählung redet von den Begierden im Bereich individueller Ungerechtigkeit und steht für eine falsche Meinung. Der Autochthonen-Mythos bezieht sich auf den mutartigen Seelenteil und stellt im doxischen Bereich ein Modell kollektiver Gerechtigkeit vor. Der Er-Mythos schließlich bedenkt den Verstand im Übergangsbereich von Meinung zu Wissen, wobei die individuelle Gerechtigkeit vor dem Hintergrund des umfassenden, gerechten Kosmos Vgl. dazu schon die Promethie des Aischylos oder den Ödipus auf Kolortos von Sophokles.

Die Mythen der Politeia

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entfaltet wird; damit deutet sich der Sachverhalt an, daß die Einheit der drei Seelenteile im doxischen Bereich hergestellt wird, vor dem Aufstieg zum Wissen. In diesem Kontext stellen alle Mythen den Versuch dar, einen Übergang von dialogischer Wahrheitssuche und rationalem Wirklichkeitsentwurf zur Realität selbst herzustellen. Besonders der Autochthonen- und der Er-Mythos sind in den verwirklichten Staat eingebunden oder dienen seiner Verwirklichung, wie sich noch zeigen wird, weshalb alle drei Mythen zu etwas überreden wollen oder es wenigstens versuchen, wobei sie sich im Bereich der Meinung als dem alltäglichen Kommunikationsbereich, der Lebenswelt aller Menschen, bewegen, in dem alle mitreden können und von dem auch die Philosophen ausgehen müssen; der Er-Mythos wird Grenze und Übergang von δόξα und γνώμτ) von beiden Seiten aus darstellen. Die drei Mythen werden vom Motiv des Auf- und Abstiegs geprägt, von Ana- und Katabasis als lebensbestimmenden Ereignissen; sie stehen zwischen Geburt und Tod, weshalb in ihnen oft von Leichen die Rede ist. In der Gyges-Erzählung stehen Abstieg und Aufstieg am Anfang, während das Motiv im Er-Mythos doppelt auftritt: Erstens ziehen Lohn und Strafe im Jenseits einen Auf- und Abstieg nach sich, je nach dem Urteil der Richter; zweitens müssen alle Seelen zum Ort der Wahl aufsteigen und wieder in das Leben hinabsteigen. Der Gipfelpunkt (im Er-Mythos) oder der Tiefpunkt (in den anderen Mythen) sind dabei die Orte, an denen das ganze Leben geprägt wird.51 Gyges findet auf dem Grund des Spalts den Ring, der sein Leben umlenken wird; die Seelen wählen ihr Leben am Ort der Spindel neu. Während Gyges mit dem Ring sein Leben aber zur Ungerechtigkeit und Tyrannis wendet, haben die Seelen im Schlußmythos die Gelegenheit zur Erkenntnis, nach der sie ihr Leben ordnen können - etwa

Eine wirkliche Raumbildung existiert nur im Er-Mythos: Die (zumeist durch den menschlichen Leib gestifteten) Raumindikatoren (rechts - links, oben - unten, vorne - hinten) sind dort mit Wertkonnotationen versehen, wobei rechts, oben und vom mit einem positiven, die anderen mit einem negativen Index versehen sind. - Vgl. Lloyd (1962), S. 56 ff. - Adam (1963), Π, S. 453. - Hommel (1960), S. 296 ff. - Cassirer (1925), S. 109 und S. 122. - Die Mythen transformieren menschliche Maße, sei es der Zeit oder des Raums, bei umfassenderen Entitäten in größere Dimensionen, ohne doch andere, dem Menschen unverständliche Maße zu wählen, etwa die Ewigkeit; dennoch insistiert Piaton auf der göttlichen Herkunft auch der menschlichen Maße, ohne daß diese für die Götter selbst relevant wären. Die Mythen zeigen die Möglichkeiten und Grenzen des Menschen, seine mögliche Annäherung an das Göttliche bzw. seine Entfernung von ihm. Besonders der Ideenbezug des Menschen wird in den Mythen am Göttlichen gemessen oder durch dieses vermittelt.

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Die platonische Philosophie des Mythos

bei der Kosmosansicht, dem Gesang der Moiren und Sirenen oder der Prophetenrede. Weiterhin sind die drei Mythen durch eine einheitliche Raum- und Zeitbestimmung gekennzeichnet: Ihr Geschehen liegt in weiten räumlichen und zeitlichen Fernen, wobei alle Orte am Rande des griechischen Kulturkreises liegen (Lydien, Phönikien, Pamphylien: 359 c/d; 414 c; 614 b) und das Geschehen sich in der zeitlichen Dimension des Einst vollzieht (359 c 8; 414 c; 614 b 4). Damit werden einerseits der Horizont und die Bedeutung des Geschehens erweitert, andererseits macht seine Ferne die Wahrheit des Gesagten unüberprüfbar und zwingt die Dialogpartner, mit den Mitteln der Vernunft das Geschehen in den Mythen zu prüfen und an den Ergebnissen des Dialogs zu messen, um daraus seine potentielle Wahrheit beurteilen zu können. Wenn Gyges durch die Eigenschaften und Frevel des Tyrannen bestimmt und die völlige Ungerechtigkeit als quasi gottbegründete Macht beschrieben wird (360 c 3), so kann dies nicht wahr sein, da die Götter gut sind und nichts Übles verursachen und weil Tyrannen elend leben. Dadurch werden die Vorzüge des Tyrannenlebens wie Glaukon sie schildert (362 a - c) - später den Gerechten zugewiesen, womit die Gyges-Erzählung als falsche Meinung mit menschlichem Ursprung entlarvt wird; wenn Gyges mit dem Ring zum Tyrannen wird, ist er nicht glücklich, und wenn er glücklich ist, ist er kein Tyrann. Zugleich deutet diese Erzählung spätere Dialogstellen an: Erstens hebt sie das Leben des einzelnen Ungerechten und die Folgen der Ungerechtigkeit für das Leben jedes Einzelnen ins Blickfeld; zweitens deutet sie eine Form falscher Herrschaft im Staat an, indem sie ein Mitglied des späteren dritten Standes - Gyges ist Hirt52 (359 d 2) - zur Macht kommen läßt.

2) Der Autochthonen-Mythos Der Autochthonen-Mythos greift auf die in Griechenland traditionelle, bekannte Metallsymbolik zurück, deren generelle Akzeptanz Piaton voraussetzen konnte.53 Er formt die Rede von den vier Weltaltern bei Hesiod (Erga, 106 ff.) zu seinen Zwecken um, indem er nur drei Metalle aufnimmt und sie nicht sukzessiv, sondern gleichzeitig entwickelt. Damit bestehen die Wertdifferenzen der Metalle nebeneinander, die noch dadurch Diese Verbindung von Hirtentum und chthonischer Symbolik läßt sich auch noch im Politikos nachweisen. Vgl. Prot. 340 d; Menex. 273 b; Soph. 247 c; Pol. 271 a; Tim. 23 d; Krit. 109 d; Nomoi 663 e. - Zur Funktion dieses Mythos vgl. Carter (1953), S. 299. - CantoSperber (1997), S. 111-113.

Die Mythen der Politeia

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verstärkt werden, daß die Metalle nach oben hin immer seltener werden. Piaton führt die Geschichte als Beispiel einer notwendigen, nützlichen und glaubhaften Täuschung im Dienst des Staats ein (414 b/c).S4 Dennoch wird der Mythos einer Fülle von Wahrheiten und der Einführung vieler im Staat notwendiger Eigenschaften dienen. Während in 389 b und 459 c/d die Regierenden selbst die Bürger zum Wohl des Ganzen täuschen sollen, gilt es hier, den gesamten Wächterstaat von außen zu überreden, den Mythos zu glauben; das Ziel kann nur darin bestehen, dem Staat eine möglichst starke Einheit und allen Bürgern ein Einheitsgefühl zu vermitteln. Die einheitliche Herkunft der drei Stände - womit nur die erste Generation gemeint ist - soll ein staatstragender Glaube sein, den das Kollektiv braucht.55 Dieser Glaube läßt sich nicht in Wissen überführen und fällt auf einem bestimmten Wissensniveau weg, aber für die Masse ist ein Glaube erforderlich, der die Philosophie nicht beschädigt und mit ihren Einsichten verträglich ist. Die Einheit des Handelns jedes Standes und aller Stände erfolgt je im Hinblick auf das Ganze; jeder Stand kennt das notwendige Maß, sein spezifisches Wissen in sein Handeln umzusetzen. Zunächst greift Piaton auf die frühere Einsicht zurück, daß Gott nur die Ursache von etwas Gutem sein kann. Wenn also Gott den Seelen in der Erde Metalle beigemischt hat, um sie zu bilden, kann dies nichts Übles bedeuten. Für den Staat ist es also das Beste, wenn seine Bürger eine Herkunft haben und an sie glauben; ebenso ist es sinnvoll, wenn zwischen den Bürgern eine anfangliche und gottbegründete Ungleichheit besteht. Der Staat kann so als ganzer nicht mehr in Bewegung geraten, so daß sie nur noch zwischen den Ständen auf der Basis einer physisch geordneten Leistungsaristokratie möglich ist. Mit der Verbindung zur Erde wird die Ordnung des Staats und seiner Bürger als natur- und gottgegeben eingeführt; sie ist jedoch als dreigliedrige eine andere Naturordnung als die des Naturstaats, der allein aus der Ordnung des begehrenden Seelenteils entspringt, was im unterschiedlichen Zweck der Konstruktionen gründet. Alle Bürger besitzen trotz ihrer Ungleichheit einen gleichen und gleichzeitigen Ursprung, so daß alle Bedeutung haben und eine Einheit bilden. Daraus folgt, daß jeder Bürger nur das tun soll, wozu er von Natur aus fähig ist; er soll ebenso den anderen Bürgern in Freundschaft verbunden sein. Ihr gemeinsamer Ursprung verpflichtet alle, zum Wohl aller das Ihrige zu tun und anderen zu helfen, d. h. einem solchen Ursprung soll ein gemeinsames Leben entsprechen, in dem jeder das Staatswohl über sein eigenes stellt

Zaslavsky (1978), S. 2986 bezeichnet eine solche Geschichte als Paramythos. Vgl. Carter (1953), S. 302. - Hildebrandt (1959), S. 222 f. - Moors (1988a), S. 219.

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(420 b/c).56 In einem solchen Staat tut und erhält jeder das seiner Natur Entsprechende. Piaton entwickelt im Autochthonen-Mythos zugleich die notwendige Gleichheit und Ungleichheit zwischen den Bürgern des Staats, wobei die Ungleichheit als gottgegebenes Gut zu akzeptieren ist, obwohl sie nicht begründet wird; im Er-Mythos wird die (Un-)Gleichheit der Menschen aus ihrer freien Wahl abgeleitet. In beiden Mythen tritt die Ungleichheit dynamisch auf, d. h. ein Statuswechsel ist möglich; im ErMythos aber fehlt der Ungleichheit die zwingende Notwendigkeit, da sie nur vom Einzelnen abhängt. - Die Einheit der Herkunft stiftet zwischen allen Bürgern Gleichheit und Freundschaft, aber daneben besteht zwischen den Mitgliedern eines Standes durch die Gleichheit ihres überwiegenden Seelenmetalls eine weitere Form von Gleichheit und Freundschaft, die dem Staat ebenfalls nur nützen kann. Zwischen und in den hermetischen Ständen besteht Harmonie, so daß Staat und Stand zur Einheit gelangen. Es ist aber zu beachten, daß die Seelenmetalle nur den Ständen, nicht ihren spezifischen Tugenden entsprechen, da sonst das goldene Geschlecht alle Metalle im Höchstmaß aufwiese, was nicht der Fall ist. Piaton redet in 415 a/b auch nur davon, daß den Seelen bestimmte Metalle beigemischt sind; ob alle in einem gewissen Maß alle Metalle oder nur ein Metall haben, bleibt offen. Zwar lassen sich die Metalle mit den späteren Seelenordnungen gleichsetzen, jedoch ohne Hinsichtnahme auf bestimmte Einzeltugenden. Die Metalle stehen eher für standesspezifisch verschiedene, gerechte Gesamtordnungen der Seelen. Was am Anfang als göttliche Bildung und Naturordnung entstand, sollen die Herrscher im Staat durch Vernunft erhalten und fortführen, ohne daß von einer naiSela der Anlagen (Metalle) oder von einer Zuchtselektion die Rede wäre: Die Herrscher sollen allein auf die Seelen und ihre Metalle, so wie sie sind und vorliegen, achten (415 b) - dabei ist ein Wechsel der Anlagen möglich. Die Menschen kommen fertig gebildet auf die Erde, weshalb sie nur noch so zu erkennen sind, wie sie sind, wofür der Gott verantwortlich ist. Später wird der Gedanke der Entwicklung durch Zucht und Bildung die naturgegebene Seelenordnung absorbieren, indem die Ungleichheit zwischen den Seelen teilweise natürlich mit den Anlagen gegeben ist, teilweise vom Menschen produziert und beeinflußt ist. Daß der Wechsel zwischen den Ständen trotz aller Zucht möglich bleibt - denn sie kann fehlschlagen - , zeigt, daß das Naturgegebene nicht völlig außer In 520 a - d sollen die im Staat erzogenen Philosophen (als goldenes Geschlecht) für andere sorgen. In üblen Staaten seien die Philosophen αυτοφυής entstanden und daher zu nichts verpflichtet, während im Autochthonen-Mythos alle gebildet werden; die Bildung wird die Natur teilweise ersetzen und nur noch auf ihr aufbauen, so daß der Mensch seine Arete grundsätzlich selbst gewinnen muß.

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Kraft zu setzen ist. Der Mythos dient aber auch der Zuchtselektion, indem er verdeutlicht, daß die Besten im Staat sich zum Besten des Ganzen untereinander fortpflanzen sollen. Der Erdgeborenen-Mythos bereitet verschiedene Dialogerkenntnisse vor57: Durch den Primat des Allgemeinen vor dem Einzelnen (420 b/c), die Einheit jedes Standes und des Staats wird die Auflösung der Familien vorbereitet. Gleiches gilt für die gemeinschaftliche Lebensweise der Wächter (415 d/e), ihre Eigentumslosigkeit (416 d), das Unterbinden von Reichtum und Armut im Staat (421 d) und für das Vorbeugen seines übermäßigen Größenwachstums (423 b). Indem der Mythos die Metalle als Seelenordnungen auffaßt, zeigt sich auch der Vorrang der seelischen vor der physisch-materiellen Ordnung: Nach Sokrates verbietet das göttliche Seelengold das Verlangen nach irdischem Gold als etwas Minderwertigem (416 e). Zugleich kann das Gold, das hier für die besten Hüter steht, später für die Philosophen stehen; auf das Eisen, dessen Herrschaft zum Untergang führt, kann ebenfalls zurückgegriffen werden (415 c; 545 d 547 c). Anders als Gold und Silber ist Eisen besonders für das Üble anfällig (609 a: Rost) und kann in ein gewalttätiges Luststreben ausarten (586 b). Es dient aber auch der Verdeutlichung der Wächterbildung (411 a/b), wo es durch Musik und Gymnastik in der Mitte zwischen Härte und Weichheit zu halten ist und für den zweiten und dritten Seelenteil zugleich steht. - Sokrates erklärt vom Autochthonen-Mythos ausdrücklich, seine Wirkung liege in späterer Zeit (415 d), denn dann sei er weit glaubwürdiger als jetzt und werde als erster Ursprung des Staats akzeptiert. In seiner relativ einfachen Grundaussage ist dieser Mythos auch der erste neue Mythos, den man Kindern erzählen und der für Nicht-Philosophen ein offizieller Staatsglaube bleiben kann, der ihre Seele festigt und ordnet. Obwohl der Mythos also explizit als Lüge und Täuschung eingeführt wird, befördert er die Güte des Staats und der Erziehung. Er bereitet Dialogerkenntnisse vor und dient in einer künftigen Zeit als Ursprungsmythos des Staats; als solcher teilt er eine Eigenschaft mit der Wahrheit, nämlich unveränderlich zu sein, da er seinen Zweck im Gebrauch optimal erfüllt, so daß bei ihm eher der Kern als die Schale falsch ist. Eine höhere Bildung braucht den Mythos wohl nicht mehr, aber das ändert nichts an seiner Gültigkeit für die παιδεία, und seiner Funktion als Meinung, aus der ein richtiges Handeln folgt; aus diesem Mythos kann nichts Schlechtes resultieren, weder für den Staat noch für den Einzelnen. Er erweist sich als

So greift die Musenrede am Anfang der Verfallsreihe (545 d ff.) auf den Autochthonen-Mythos zurück, wenn davon die Rede ist, die anfänglich reinen Metalle würden nicht rein gehalten, wodurch der Verfall begönne.

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zwingendes Durchgangsstadium zur höheren Bildung und stellt die pädagogische Notwendigkeit heraus, die Täuschung vor die Wahrheit zu stellen, wenn sie nützlicher und faßlicher ist und ihr nicht schadet; die Wahrheit läßt sich am Anfang der Bildung zu schwer fassen, schwerer als eine ihr dienende Lüge, die sie vorbereitet.

3) Der Mythos des Er Der Er-Mythos, der hier im Vordergrund stehen soll, ist wesentlich komplexer als die beiden früheren Mythen, und schon aufgrund seiner Stellung am Ende der Politeia kann vermutet werden, daß ihm auch die größte Bedeutung zukommt. Anders als die Gyges-Erzählung und der Autochthonen-Mythos ist er weder falsch, weil seine Inhalte falsch sind (Gyges), noch, weil er insgesamt erfunden und produziert ist (Autochthonie). Der Schlußmythos tritt ausdrücklich als göttliche Offenbarung und göttlicher Auftrag an einen glaubwürdigen Mann auf, so daß auch seine Inhalte wert sind, über die Zeiten gerettet zu werden.58 Daß er zugleich den formalen und inhaltlichen Kriterien guter pädagogischer Dichtung genügt, heißt noch nicht, daß er hergestellt wurde. Es ist jedoch tunlich zu überprüfen, inwieweit der Schlußmythos eine pädagogische Funktion ausüben kann und soll, auf welche Weise und mit welchen Mitteln er dies tut und an wen er sich wendet. Da Piaton in der 'Politeia' eine Bildung der Wächter und Philosophen entwirft, läßt sich der Mythos im Hinblick auf beide Konzepte betrachten.

Zum Bildungsentwurf der Wächter finden sich im Er-Mythos auffällige motivliche Parallelen und Wiederaufnahmen. Daß er die neuen theologisch-eschatologischen Grundlagen der Mythendichtung aufnimmt, wurde oben schon festgehalten. Im Mythos sind alle Götter und göttlichen Wesen gut, affektfrei, unwandelbar und schuldlos an irdischem Elend; sie teilen kein übles Leben zu, sind unbeeinflußbar, und die Menschen sind nicht mehr leicht von ihren Sünden zu reinigen; sie begehen keine Verbrechen, lügen nicht, haben nur eine Gestalt und alle Tugenden im Höchstmaß und lieben die Vernünftigen. Alle diese Kriterien sind im Schlußmythos erfüllt: Die Götter (Ananke und die Moiren) hüten und erhalten die Ordnung des Kosmos (616 c - 617 d) und bewegen ihn stets auf immer gleiche Weise, ebenso wie sie selbst allzeit gleich sind und das Gleiche tun (617 b/c). Sie Bereits hier deutet sich der Sachverhalt an, daß es falsch ist, den Mythos auf die Meinung und den Logos auf das Wissen einzuschränken, denn es gibt sowohl doxische und gnomische Mythen als auch ebensolche Logoi.

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sind an irdischem Elend und schlechten Leben schuldlos (617 d/e), denn dafür sind die Menschen vielmehr selbst verantwortlich. In ihrem Tun sind sie durch nichts zu beeinflussen und belügen die Seelen nicht, wie die Rede des Propheten (617 d/e; 619 b) belegt, sondern wollen sie auf verschiedenste Weise fördern; ebensowenig teilen sie den Menschen ein schlechtes Leben zu oder vergeben ihre Sünden leichtfertig, für die nach einem festen Gesetz, dem sich niemand entziehen kann, Buße zu tun ist (614 c - 616 b). Für ihr Leben müssen die Menschen selbst einstehen und haben die Möglichkeit - was Tugend und Vernunft betrifft - sich den Göttern frei nachzubilden59; die Tugend steht somit allen offen und ist herrenlos (617 e 3). - Der Hades als jenseitiger Aufenthaltsort der Seelen wird als freundlich und für den Gerechten wünschenswert gezeichnet, so daß Angst vor dem Tod unnötig ist; eine solche Darstellung war in 386 387 von den Dichtern verlangt worden, um die Kampfkraft der Wächter zu heben. Piaton schildert den Hades lichtvoll, vernunftbeherrscht, gerecht und voller Ordnung; die Seelen werden nicht mehr als Schatten, sondern als kraftvolle und starke, quasi leibliche Existenzen beschrieben, die Mühen sowie Qualen ertragen können (614 d; 616 a; 621 a/b). Beispielsweise erfüllt Piaton auch die Forderung aus 387 b/c, die Unterweltflüsse von ihren schreckenerregenden Namen zu befreien, wenn er im Schlußmythos vom Fluß Ameles spricht (621 a 5 f.). 60 - An diesen An einer solchen Stelle läßt sich auch der doppelte Sinn des Nachahmungsbegriffs aufweisen: Innerhalb der Kunst begreift Piaton die Nachahmung als Abstieg und Verfall; bei der Tugend findet sich hingegen die aufsteigende Bedeutung, die positiv bewertet wird. Das Feld der Vergessenheit und der Fluß Sorglos hängen innerlich zusammen. Vgl. Rankin (1963), S. 51 ff. - Hirsch (1971), S. 330. - Mattei (1993), S. 65 - 68. - Das Feld der Vergessenheit erfüllt die Funktion, den Seelen den notwendigen Trank nicht nur als Zwang erscheinen zu lassen, sondern auch als wünschenswert, indem er ihren Durst erregt. Vgl. Eichholz (1940), S. 182. - Der Name des Flusses ist doppeldeutig: Erstens liegt in Ameles eine Beruhigung für die Seelen, sofern sie trinken müssen; zweitens weist der Name aber auf einen Mangel an Sorgfalt für das Gedächtnis hin. Vgl. Vemant (1960), S. 171. - Piaton weicht von der überlieferten Darstellung des Letheflusses ab. Vgl. Lincoln (1982), S. 21 ff. - Bei Piaton gibt es nur noch einen Fluß, aus dem man vor der Geburt trinken muß; er hat den Erinnerungsfluß eliminiert, um das Erinnern in die Verantwortung der Seelen zu stellen. Zwar gibt es ein allgemeines und notwendiges Vergessen, das zum Wesen des Menschen gehört, aber darüber hinaus gibt es auch ein eigenverantwortliches Vergessen, das von der Selbstbeherrschung der Seelen abhängt. Vgl. Huber (1964), S. 406 und S. 475 f. - Der Trank ist eine Prüfung der Selbstbeherrschung und Vernunft der Seelen, d. h. um nicht alles zu vergessen, sollen sie nur maßvoll trinken. Auffalligerweise beweist Piaton am Beispiel des Trinkens auch die Eigenständigkeit des mittleren

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Sachverhalten erkennt man deutlich, wie Piaton sich besonders von Homers Theologie und Dichtung entfernt; die Auseinandersetzung mit Homer durchzieht die ganze Politeia und auch den Er-Mythos. So läßt sich der Dialog als 'Odyssee der Rede' fassen, was Piaton mit dem Bild der Wellen (457 b) andeutet, das in Analogie zum Bild des Floßes im Phaidon zu sehen ist. Das gesamte Leben stellt für den Vernünftigen das Maß dar, Reden zu hören und daran teilzunehmen (450 b), und in dieser Form sucht der Mensch sein ganzes Leben lang nach dem Guten und Wahren und versucht, sich vor Unwahrem und Üblem zu schützen; beides, die lebenslängliche Suche und die Rettung, erinnern an Odysseus. Zur Rolle des Begriffs der Rettung im Schlußmythos wurde bereits einiges ausgeführt, aber es fällt auf, daß Odysseus der einzige der wählenden Heroen ist, der sich wirklich rettet und zum Besseren entwickelt (620 c/d).61 Im Schlußmythos finden sich noch weitere Anspielungen auf Homer: So weist die Rede des Propheten starke Übereinstimmungen hinsichtlich der menschlichen Verantwortung mit dem Proömium der Odyssee auf; der Mythos wird mit einer Anspielung auf die Alkinoos-Episode im IX. bis XII. Buch eröffnet, in der der Held auch seine Nekyia schildert. In 614 b 1 f. spielt Sokrates mit dem Namen 'Alkinoos' und setzt ihm das Adjektiv 'alkimos' entgegen, womit er zeigen will, daß seine Geschichte glaubwürdiger ist als die homerische Darstellung des Hades und der Seelen in ihm, denn Er ist ein tapferer und mutiger Mann, dessen Bericht Glauben zu schenken ist. Anders als bei Homer werden für Piaton die Toten (Heroen) erst dort wichtig, wo Homer sie verläßt, nämlich nach ihrem Tod auf dem Schlachtfeld. Es ist sicher kein Zufall, daß der Träger des Mythos, der Pamphylier Er, ein Krieger ist, der bei der Erfüllung seiner Pflicht, das Vaterland zu verteidigen, gefallen ist; nichts anderes ist die Aufgabe der Wächter im

Seelenteils (437 b ff.). - Zur logischen Struktur dieses Beweises vgl. Robinson (1971), S. 38fT. Piaton gestaltet die Beispielwahlen nach dem Vorbild des XI. Gesangs der Odyssee: Im Hades tritt Ajas als 20. auf - wie im Er-Mythos. Die Bedeutung der Heroenwahlen ist in der Forschung umstritten: Für Annas (1982), S. 132 sind sie nicht ernstzunehmen; für Hildebrandt (1959), S. 250 f. zeigen sie insgesamt einen Mangel an echter Weisheit, und für Ferguson (1950/51), S. 6 belegen sie die Deformierung der Seelen durch die Gesellschaft, in der sie unlösbar gebunden seien. Zum ganzen Komplex dieser Wahlen vgl. Moors (1988b), S. 55 - 61. - Die Bekanntheit der Heroen dient der Erkenntnis des Wesens der Wahl durch den Boten Er, ebenso die vielen Tierwahlen (620 a - c), die ein reines -ήθος ausdrücken sollen (vgl. 375 a); so ist etwa der Löwe die höchste Stufe der Tierinkamation (vgl. 588 b - 589 a), der Affe die niedrigste Stufe (vgl. 589 d - 590 b).

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platonischen Staat, als im Krieg die Freiheit ihres Staats zu hüten (395 b/c).62 Er ist ein tapferer und verständiger Mann und erfüllt seine Pflicht im Staat, weshalb er von den höheren Mächten auserwählt wird, den Menschen im Diesseits ein Bote63 der Ordnung des Jenseits zu sein, wie die Richter es mitteilen (614 d 2 ff.) - so erfolgen auch oft Sonderanreden an Er (617 e 7 f.; 621 b). Vermutlich geben die Richter nur einen Beschluß höherer Stellen weiter, so wie sie höhere Gesetze auch nur anwenden. Er ist der Bote von Dingen, die alle Menschen zentral betreffen und die die Götter ihnen bekanntgeben wollen. Deshalb wird die Jenseitswanderung so eingerichtet, daß Er alles verstehen und im Gedächtnis bewahren kann. Um Lohn und Strafe in ihrem Grund zu begreifen, trifft Er auf einen pamphylischen Tyrannen, den er kennt, so daß ihm der Zusammenhang zwischen dessen Leben und seiner ewigen Verdammnis klar wird ( 6 1 5 b - 6 1 6 a). Zeit- und Raumverhältnisse im Mythos (etwa beim Kosmosmodell) werden so verkürzt, daß ihr innerer Sukzess erkennbar wird; ebenso wählen die Heroen nicht zufällig dann, wenn Er gerade seine Jenseitswanderung absolviert: Sie sind so bekannt, daß Er die Verbindung ihres Vorlebens mit ihrer Wahl durchschauen und so die Qualität derselben und ihrer Seelenordnung beurteilen kann. So erst vermag Er einzusehen, daß das Ehrstreben als Ordnungsmaßstab der Heroen für eine gute Wahl nicht hinreicht, weshalb es der Philosophie als Ordnungsstandard der Seele weichen muß, was den Menschen mitzuteilen wohl eine Absicht der Götter war. Die Wächter erkennen also, daß die Heroen, die zuvor stets die nächsten Vorbilder von Kriegern waren, unvernünftig und in ihrer Seele nicht optimal geordnet sind; die Bildung der Heroen war falsch, und die Götter wollen die Ablösung der alten Bildung. Die wählenden Seelen im Mythos lebten vor 1000 Jahren und wurden nach den Maß Stäben ihrer Zeit erzogen, die eine sichere Seelenordnung nicht mehr gewährleisten können,

Ebenso sind die Dämonen (617 e 1; 620 d/e) und die feurigen Männer (615 e) im Schlußmythos zu verstehen. Die Dämonen als göttliche Wesen können als Vorbilder für das Leben der Wächter betrachtet werden, so daß Piaton entsprechend in 468 e - 469 a zum Ausdruck bringt, die gefallenen Wächter kämen in das goldene Geschlecht und würden fromme Dämonen, die die sterblichen Menschen schützten (vgl. 540 b/c). Die feurigen Männer können als unmittelbares Leitbild fur das Handeln der Wächter dienen, denn sie bewachen die Tyrannen im Tartaros, was genau der Aufgabe der Wächter im Staat korrespondiert. In der Politeia fungiert das Feuer oft als Grenzinstanz, sei es beim Höhlengleichnis, dem Scheiterhaufen des Er oder den feurigen Männern, die den Tartaros von den anderen Jenseitsbereichen abgrenzen. Schon Pindar verweist in der Vierten Pythischen Ode (13) darauf, daß die Würde des Boten stets die Würde der Botschaft erhöhe.

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so daß sie suspendiert werden müssen. Die leer gewordene Stelle des epischen Heroenbegriffs wird später mit einem philosophischen Heroentum, für das im Mythos Odysseus und im Ganzen Sokrates als Retter der Seelen64 stehen, ausgefüllt, so daß man von einer Umwertung des Heroischen sprechen kann. Die für die Wächter geforderten Anlagen, Tugenden und Bildungselemente sind im Er-Mythos ebenfalls von zentraler Bedeutung: Alle Wege, Wanderungen und Ruhepausen im Mythos werden gemeinschaftlich absolviert, wobei die Seelen Lust und Leid miteinander teilen (614e-615a); eben diese Gemeinschaft im Leben und im Teilen von Lust und Unlust verlangt Piaton von den Wächtern (415 d/e; 462 b - e). Die Wächter sollen weiterhin lerneifrig, tapfer, besonnen, fromm und stark im Ertragen inneren und äußeren Leidens sein, welche Tugenden im Schlußmythos ständig präsent und erforderlich sind. Die Frommen (gegen Götter und Eltern: 463 c/d) erhalten in 615 c großen Lohn und nehmen die Mahnungen des Propheten sehr ernst, wodurch sie wenigstens nicht unüberlegt oder vorschnell wählen. Die durch die Gymnastik vermittelte Fähigkeit, Mühen und Leiden zu ertragen, kommt den Seelen auf ihren langen Wanderungen zustatten. In diesem Fall macht ihnen die Reise zur Lichtsäule und Spindel (616 b) weniger Mühe als anderen Seelen und schwächt ihre Vernunft nicht (vgl. 380 e), so daß sie aus dem, was sie sehen, etwas lernen und erkennen können, was ihnen bei der Wahl hilft. Auch auf dem Weg zur Wiedergeburt durch das Feld der Vergessenheit (621 a/b) ertragen sie ihre Qualen gut und trinken maßvoller und besonnener als andere Seelen, weshalb sie das Gewesene nicht über das notwendige Maß hinaus vergessen. Sie beherrschen durch Vernunft, Tapferkeit und Besonnenheit ihren begehrenden Seelenteil beim Trank und erhalten sich dadurch genug Wissen, um diese Tugenden in ihrem neuen Leben fortfuhren zu können. Der Nutzen der übrigen Tugenden beim Lernen auf der Wanderung, besonders bei der Wahl, zu der sie die Seelen tauglich machen, läßt sich leicht einsehen und wird noch zur Sprache kommen. Sehr wichtig ist außerdem die Bezugnahme auf die musisch-gymnastische Bildung der Wächter im Schlußmythos: Beide Erziehungsstränge 64

Vgl. 432 c; 449 d - 451 a; 453 c/d; 472 a/b; 493 a; 536 b. - Dies wird u. a. durch das in der Politeia häufige Katabasismotiv belegt, das an die Nekyia der Odyssee erinnert und Sokrates als Nachfolger des Odysseus legitimiert. - Vgl. Segal (1978), S. 323 f. - Mc Gowan (1984), S. 3092. - Voegelin (1959), S. 56 ff. - Zu Sokrates' Stilisierung zum Retter der Gerechtigkeit in 358 d und 367 d/e vgl. v. Wilamowitz-Moellendorff (1919), I, S. 443. - Hirsch (1971), S. 316 und S. 322. Hosek (1991), S. 23-25.

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werden dort deutlich exemplifiziert und gespiegelt. Die Gymnastik wurde schon ansatzweise behandelt, insofern sie die Seelen dazu befähigt, die Mühen der Wanderungen im Jenseits zu ertragen. In diesem Zusammenhang wird oft auf die 'Leiblichkeit' der Seelen im Mythos hingewiesen, die mühsam zu erklären versucht wird65; erinnert man sich aber an die doppelte Funktion der Gymnastik als Förderung des θυμοβιδης und des Leibes, so kann damit der Sachverhalt erfaßt werden: Piaton schildert die Seelen leiblich, um den Nutzen gymnastischer Erziehung zu verdeutlichen. - Die Musik fördert alle Tugenden, Mäßigung in den Lüsten und führt zur philosophischen Liebe zum Schönen (402 d - 403 c), indem sie die Seelen durch Harmonie und Rhythmus bildet. Genau diese Funktion übernimmt sie im Schlußmythos, wo die Seelen den vollkommenen Gesang von Sirenen und Moiren hören (können), der Harmonie und Rhythmus verbindet; gleichzeitig sehen sie den harmonischen Kosmos. Ist der Gesang in seiner Einfachheit und Unveränderlichkeit göttlich, so ist er darüber hinaus ein Beispiel der Definition der Gerechtigkeit der Politeia bzw. ihrer Anwendung: Die Sirenen und Moiren tun das Ihrige, und jede einzelne von ihnen tut nur eines. So singen die Sirenen je nur einen und denselben Ton (617 b 5 - 8); die Moiren erfüllen ihre spezifischen Aufgaben, ohne sich etwa untereinander abzuwechseln (617 c/d; 620 d/e: Diese Aufgaben bestehen in der Lenkung des Kosmos, der Bereitstellung und Sicherung der Wahlbedingungen und der Befestigung der Wahl). Überhaupt besitzen die Seelen die Möglichkeit, auf jeder Station ihrer Wanderung zu lernen und Erkenntnisse zu gewinnen - dabei ist das Lernen nicht als passive Aufnahme, sondern als aktives, durchdringendes Verstehen der Wahrheit aufzufassen; erst die Lernmühen schalten Irrtümer wirklich aus. Die Beziehung zwischen irdischem Leben und Lohn und Strafe im Jenseits, die im Gericht hergestellt und erfüllt wird, ist durch die zwei Wege (614 c/d) leicht zu erfassen, wonach die Seelen auf der Asphodeloswiese wieder Gelegenheit haben, im Gespräch miteinander etwas vom Wesen der Gerechtigkeit einzusehen, nämlich daß das gerechte Leben das beste und glücklichste ist. Auch die Ansicht des Kosmos kann den Seelen dazu dienen, sich am Muster seiner Vollkommenheit zu orientieren. Er kann in seiner Einheit zur Einsicht hinleiten, daß auch für den Staat und die menschliche Seele die beste Ordnung mit der größten Einheit koinzidiert; ebenso dient die Gerechtigkeit der Moiren und Sirenen den Seelen zum Vorbild und kann die Wahl des neuen Lebens günstig beeinflussen, wozu auch die Reden des Propheten dienen. Die ganze Wanderung fördert also

Vgl. Szlezäk (1976), S. 49 ff. - Thomas (1938), S. 20. - Halliwell (1988), S. 172 f.

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die Vorbereitung auf die Wahl und auf das, was deren Güte allein garantieren kann, nämlich die Philosophie. Das Kosmosmodell verdeutlicht aber noch etwas anderes: Piaton unterscheidet in 475 c - 476 c zwischen Schaulustigen, die die Meinungen lieben, und Philosophen, die schaulustig nach der Wahrheit sind. Die δόξα, steht in der Mitte zwischen Erkennen und Nichterkennen, zwischen Seiendem und Nichtseiendem (477 a/b). Von den Schaulustigen demonstriert Piaton, sie liebten Farben und Töne (476 b; 480 a; vgl. 429 d/e; 601 a), wovon allein bei der Schilderung des Kosmos im Mythos die Rede ist.66 Die Planeten haben keine Namen, sondern werden mittels ihrer Farben, Breiten und Geschwindigkeiten beschrieben (616 e - 617 b), wobei die Geschwindigkeiten sich in einer Harmonie von Tönen äußern; auf dieser Linie liegt auch das Regenbogen-Gleichnis (616 b). Der Schlußmythos richtet sich also auf zentrale (nicht auf beliebige und zufallige) Weise an die 'Doxosophen' und ihren Wissens- und Bildungsgrad, indem er den Gegenstandsbereich der δοξοσ-οφία auf der höchstmöglichen Stufe von Harmonie und Schönheit ordnet. Diese Stufe bedeutet zugleich das Bildungsziel der Wächterpaideia durch Gymnastik und besonders durch Musik.67 Das Ziel der Musik ist es, durch Maß, Harmonie und Rhythmus die

Im Hippias Maior (298 a) stehen Sehen und Hören in Beziehung zum Schönen als Angenehmem (vgl. Aristoteles: Topik 146 a 21). Die Lust bzw. das Schöne und das Wissen bzw. die Doxosophie haben dieselbe Bestimmung, und der Sophist ist auch selbst als schön und weise charakterisiert. - Im Philebos ( 5 1 b d) wird die geistige Lust an Tönen und Farben als Mitte zwischen Lust und Einsicht und als spätere fünfte Lebensform eingeführt. - Im Theaitet (153 d ff.) gilt die Farbe als Instanz zwischen dem Auge und der es treffenden Bewegung. Zur Schaulust insgesamt vgl. Thukydides (ΙΠ, 38), der den Athenern den Vorwurf ihrer Hörlust macht (vgl. Apg. 17, 21). Piaton verbindet dieses ästhetische Gefallen mit seinen Mythen und Dialogen, die jedoch beide zum Wissen, nicht mehr zur bloßen Doxosophie führen sollen. - Noch bei Brentano (1959), S. 154, wird ausgeführt, daß Sehen und Hören zusammen besser und schöner sind als die je einzelnen Aktvollzüge. Nach 549 b gilt: Musik in Verbindung mit dem Logos bewahrt die Tugend lebenslang (α-ωτηρ αρετής διί βίου), womit drei im Schlußmythos zentrale Begriffe auf die Wächter bezogen werden. Das Festhalten an Vorstellungen steht für ihre Güte und ist ihr Bildungsziel; in 412 e wird dieses Festhalten sogar als Ausdruck des Muts gefaßt, der spezifischen Wächtertugend. - Die ausgezeichnete Rolle von Zorn und Mut als seelenteilbildenden Ausnahmeaffekten geht vielleicht auf ihren Status in Homers Epen zurück, in denen sie als bestimmende Struktur- und Handlungsprinzipien fungieren.

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Seele zu ordnen und zur Philosophie zu führen68; auf diese Stufe können die Seelen nun gelangen, wenn sie die schönen Farben und Töne in sich aufnehmen, die dem Kosmos anhängen. Die so vorbereitete Philosophie bildet auch unmittelbar danach bei der Wahl die beste Garantie ihres Gelingens. - Daneben verweist das Kosmosmodell auch auf die Bildung der Philosophen, denn es klingen wenigstens die höheren Wissenschaften Astronomie und Harmonik an, die in eine dialektische Wahl münden und sie vorbereiten; dies mag als Hinweis genügen, um zu belegen, daß der Mythos nicht allein auf die δοξοσ-οφία Bezug nimmt. Wie bereits gesagt, ist die richtige Meinung diejenige Wissensstufe, die die Wächter erreichen sollen; sie ist aber auch die Wissensstufe, die die Philosophen durchschreiten müssen, bevor sie zu höherem Wissen gelangen können. Für die Erziehung der Kinder gilt, daß in ihnen wahre und schöne Meinungen zu wecken sind, die ihrem Fassungsvermögen entsprechen. Während für die Philosophen die δόξα nur ein Durchgangsstadium bildet, kann sie für die Wächter den Endpunkt ihrer Bildung darstellen.69 Für die Bildung der Wächter besteht die Aufgabe, die Meinungen im höchsten Maße zu festigen und von Fehlern und Mängeln zu befreien, so daß die Seele der Wächter gut geordnet und zu ihrer Aufgabe tauglich wird und bleibt. Neben der letzten und stärksten Befestigung der ίόξα, die als Wissensform zu einer guten Wahl und einem guten Leben für die Wächter genügt, zeigt der Mythos aber auch ihre Grenzen.70 Damit sind nicht die falschen Meinungen bezeichnet, die zu Fehlwahlen und Irrtümern führen, sondern die prinzipielle Differenz von doxischem und noetischem Wissen. Alles, was den Seelen im Mythos widerfahrt und was sie sehen, wird in der Sprache sinnlich-materieller Wahrnehmung beAn dieser Stelle erweist sich die Philosophie in einem weiteren Sinne als Inbegriff des Lernens und Lehrens insgesamt und in einem engeren Sinne als höchste Wissenschaft. Vgl. Stenzel (1928), S. 143. Im Wächterstaat fehlen Philosophen, während im Philosophenstaat die Bildung der Wächter als Grundlage der Philosophenbildung integriert wird; damit ist die Meinung einmal Endpunkt und einmal notwendiges Durchgängsstadium von Bildung und Wissen. - Der wichtigen Aufgabe der Festigung doxischer Erkenntnis dient ζ. B. die Tieranalogie (375 a/b; 620). So brauchen die Farben, die an den Dingen sichtbar werden, Licht, um erkennbar zu sein, so daß sie von etwas Höherem abhängen. Das Licht ist immer vorhanden und verbindet das Sichtbare mit dem Auge - eine Funktion, die im Schlußmythos von der Lichtsäule erfüllt wird (616 b/c). - Das Auge als Sitz des Sehvermögens ist für Piaton etwas Gottähnliches und ein Symbol der Erkenntnis (vgl. 507 d 508 b). Der Kosmos besitzt als etwas Sichtbares eine eigene Arete, unabhängig von seinem Gesehenwerden; er ist zwar für alle sichtbar, wird aber nur von wenigen wirklich erkannt.

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schrieben, worauf Lernen und Wissen der Seelen gerichtet sind. Sie stehen vor einem sichtbaren Kosmos, einer hörbaren Harmonie und wählen materiell greifbare Lebenslose - eine Linie, die sich bis zum Trank und den ihn begleitenden Naturzeichen durchzieht: Den Bereich des rein Geistigen und seiner Gegenstände erreichen die Seelen im Mythos nicht. Ein Leitbegriff, der die Absicht zur Reinigung und Festigung der richtigen Meinung anzeigt, liegt im Terminus 'Adamant' vor. In 360 b 6 taucht dieser Begriff erstmals (innerhalb der Gyges-Erzählung) auf; Glaukon bringt die These, daß mit dem Ring des Gyges niemand "stahlhart"71 an der Gerechtigkeit festhielte, sondern daß jeder ungerecht werde - eine der zentralen Meinungen, die von Piaton im Gang der Politeia als falsch erwiesen werden. Im Schlußmythos aber kehrt der Begriff als Kennzeichen und Eigenschaft der wahren δόξα wieder (619 a 1 f.): Die Seelen sollen eisenfest an der Meinung festhalten, daß das gerechte Leben auch das beste und glücklichste ist; über den Vergleich der δόξα mit der härtesten Materie hinaus sind diese Wissensform, ihre Gegenstände und das Festhalten an ihr nicht weiter zu erhärten. Deshalb besteht wohl auch das Zentrum des Kosmos, die Spindel der Notwendigkeit, aus diesem härtesten, unzerbrechlichen Werkstoff (616 c 6 f.), der die Grenze des Bereichs der Meinung anzeigt und den Kosmos als Objekt wahrscheinlichen Wissens symbolisiert. Auch hier ist nochmals auf das Färberbeispiel von 429 d/e hinzuweisen: Die wahren Meinungen wurden mit echten und festen Einfarbungen verglichen, die an einer guten Wolle dauerhaft bestehen. Deutlich läßt sich der Bezug des Er-Mythos zum Konzept der Wächterbildung noch an einem anderen Punkt nachweisen, nämlich anhand des in beiden Sachgebieten geforderten Ideals des mittleren Lebens und der damit verbundenen Ethik des (mittleren) Maßes. Die Zusammenhänge, in denen Piaton das Ideal postuliert, seien nochmals erwähnt: Er fordert für die Wächterseele ein ausgewogenes Maß zwischen Sanftheit und Härte (375 c) und für ihre Erziehung eine ausgemittelte Mischung von Gymnastik und Musik (441 e - 442 a), weiter das Einhalten eines mittleren Maßes bezüglich äußerer Güter (423 e) wie Körperstärke (410 b) und Leibesbildung, Reichtum (421 e - 422 a), Nahrung (403 d ff.) und Sexualität 72 ; auch gilt eine mittlere Staatsgröße als ideal (423 b). Sodann bilden

Vgl. zu diesem Begriff auch: Gorgias 509 a 2. - Der Anonymus Iamblichi (Protreptikos 20) rekurriert auch auf die adamantene Seelenstärke, die aber nicht dazu verhelfe, gegen das gegebene Recht zu bestehen (σ-ώζειν). Es findet sich also dieselbe Verhältnisstruktur wie im Er-Mythos. In 460 e sagt Piaton, die Zeugung habe - wie jede Sache (369 e - 370 c) - eine rechte (= mittlere) Zeit; auch das Tun des Seinigen besitzt eine Zeitdimension.

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die Wächter später den mittleren Stand des Staats (432 a), und ihre spezifische Tugend gründet sich auf den mittleren Seelenteil. Überdies liegt die ihnen erreichbare Wissensstufe der doxa in der Mitte zwischen Erkenntnis und Unkenntnis (477 a/b), was zwar nicht das Ideal repräsentiert, aber Glaukon war ja schon mit der Meinung über das Gerechte zufrieden (435 d; 504 b - d). - Im Er-Mythos wird das Ideal des μέσος βίος mit der αδαμάντινος δόξα verbunden, die besagt, daß das gerechte das beste Leben sei; das mittlere Leben stellt den unmittelbaren Ausdruck dieser Meinung dar. Unter ihrer Herrschaft erkennt man den wahren Wert aller Güter und Übel und wird nicht von ihnen verblendet. Die Wahl, die unter dieser Bedingung getroffen wird, fällt auf ein mittleres Leben, das im ständigen Erstreben und Erhalten der Mitte zwischen Extremen steht (619 a 6 - b l). 73 Daher fordert Piaton ein Leben ohne Übermäßigkeit bezüglich der zuvor genannten Sachverhalte (618 a - d), die auf genau dieselbe Weise in der Grundlegung der Wächterpaideia erscheinen: Geld und materielle Güter, Körperkraft, Abkunft, politische Tätigkeit oder auch leichte Auffassungsgabe sind Güter, gegen die die Wächter einen mittleren, maßgeleiteten Standpunkt einnehmen sollen.74 Das Ideal des mittleren Lebens integriert die tradierte Adelsethik in die platonische παιίε/α; da Wächter und Philosophen die gleiche Grundausbildung erhalten, macht Piaton dieses Ideal zu einem Fundament seines Staats. Für die Wächter ist es hinreichend zur Erfüllung ihrer Pflichten und zur Erlangung des Glücks, für die Philosophen aber bedeutet es nur einen Anfang, d. h. für erstere ist es die condicio per quam ihrer Selbstordnung, für letztere nur die condicio Vielleicht deuten die Moiren im Schlußmythos symbolisch diesen Zeitindex gerechten Handelns an. Die Rolle dieses Ideals in der Politeia ist in der Forschung umstritten: Vgl. Kerschensteiner (1945), S. 153. - Jaeger (1947), S. 104. Diese Autoren sehen das Ideal ganz auf der Linie der Politeia und ihrer Ausführungen zum besten Leben. Vretska (1958), S. 631 f. hingegen deutet es nicht als Forderung und Ziel Piatons, sondern als Lebensform, die dem Geist des Er entspreche und nicht die Aufforderung zum philosophischen Leben darstelle, sondern zur wirklichen Welt zurücklenke, um diese zu bestehen. - Krämer (1959), S. 196, 339 und S. 369 sieht im Ideal des mittleren Lebens eine tradierte, gemeingriechische Norm, die in der Politeia noch gelte, und verweist in diesem Kontext auf Aristoteles (EN 1106 b 6 f.). - Alle Forschungsmeinungen bergen einen wahren Kern, verwischen aber zugleich die Bedeutung der Forderung Piatons. Die Abkunft aller Wächter ist gleich, da sie alle als Eltern gelten; was die politische Tätigkeit angeht, leben die Wächter weder völlig staatsmännisch noch völlig privat. Die Extreme treten erst in den Verfallsformen des Staats auf, Reichtum und Armut etwa in der Oligarchie, Freiheit und Unfreiheit in der Demokratie.

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sine qua non. Das mittlere Leben ist für die Wächter das gerechte Leben, weil es zur Erfüllung ihrer Aufgaben genügt. Sowohl Besonnenheit als auch Tapferkeit sind als Einhaltung der Mitte zwischen Sanftheit und Härte bzw. Tollkühnheit und Feigheit bestimmt worden. Das mittlere Leben ist als gerechtes unter allen Umständen die beste Wahl, weshalb Sokrates fordert, an diesem Satz der Mitte 'eisenfest' festzuhalten. Scheinbar will er eine ethische Grundeinsicht nicht nur auf der Ebene des Wissens konstituieren, sondern auch auf der der Meinung stabilisieren, um sie Menschen zugänglich zu machen, die nie die Ebene -wahren Wissens erreichen können. Um für sie ein dauernd gerechtes Leben zu gewährleisten, bedarf es wahrer Meinungen, die sich zwar nicht völlig begründen lassen, an denen sich aber ein gutes Leben orientieren soll, wie das Bild vom Lebenslauf und der mittleren Laufkraft unmittelbar vor dem Er-Mythos zeigt (613 b/c).

Ε Die Bildung der Philosophen

1) Das Verhältnis von Wächtern und Philosophen Es ist sehr schwierig, den Zusammenhang zwischen Wächter- und Philosophenstaat zu bestimmen - ebenso den zwischen den beiden Bildungsentwürfen. Während der Wächterstaat noch aus dem 'natürlichen' Prozeß der Entstehung eines Staats resultiert und an dessen Ende steht, bildet der Philosophenstaat das Produkt einer Revolution von oben (473 b - d). Er entsteht durch eine minimale Veränderung bestehender Staaten: die Machtübernahme durch einen oder mehrere Philosophen, die allein dem Staat die beste Verfassung geben können und sie zu erhalten vermögen. Fraglich ist, welche Veränderungen durch die Philosophenherrschaft im Leben der anderen Stände entstehen, die in den Philosophenstaat integriert werden. Scheinbar ändert sich für die unteren Stände nichts; der grundlegende Unterschied zwischen den Staaten besteht in ihren Führern und deren Ausbildung. Im Wächterstaat herrschen die obersten Hüter, die eben keine Philosophen sind, sondern die ältesten, erfahrensten und besten Wächter, deren Bildung die obersten Wissensformen nicht erreicht; sie herrschen aber bereits als die relativ Vernünftigsten und wissen, daß die Vernunft im Staat herrschen soll. Dazu gehört auch die Einsicht, daß die Philosophie - als Inbegriff der Vernunft - als Herrschaftsprinzip noch vorzuziehen ist. Zwar wenden später die Philosophen ihr höchstes Wissen bei der Herrschaft nicht direkt an und bleiben so unterhalb ihrer Fähig-

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keiten, aber sie verfugen darüber als umfassend einsetzbaren Urteils- und Handlungsmaßstab, wie das Höhlengleichnis bzw. die Rückkehr zu den Schatten belegen. Die Gefahr, Fehlern und Irrtümern zu verfallen, ist bei den Philosophen wesentlich geringer als bei den höchsten Wächtern. Generell muß aber zwischen der Gründung des Philosophenstaats, die die Existenz von Philosophen voraussetzt, und der Bildung der Philosophen im einmal existierenden Philosophenstaat unterschieden werden. Philosophen können im Wächterstaat auftreten, aber sie werden von ihm nicht dazu erzogen - anders als im Philosophenstaat; im Wächterstaat kann daher auch keine Philosophenselektion aus den Wächtern stattfinden, wie dies in ihrem eigenen Staat möglich ist75, denn im Wächterstaat sind die Natur, die Bildung und das Wesen der Philosophen unbekannt. Dennoch werden im Wächterstaat auch (im engeren Sinne) philosophische Naturen durch die Wächterpaideia gefördert und können sich zu Philosophen entwickeln, wenn auch nicht durch eine vollständige Philosophenpaideia. So können Philosophen sich im Wächterstaat besser als in anderen Staaten entwickeln, aber nicht durch die ihnen völlig gemäße Bildung. Umgekehrt ist der Wächterstaat der, in den Philosophen am ehesten kommen können, um ihn zu führen (497 c/d), während dazu von den anderen bestehenden Staaten keiner geeignet ist (497 a/b). Zunächst bestimmt Piaton - wie schon bei den Wächtern - die Natur der Philosophen (485 a - 487 a): Philosophische Naturen müssen Weisheit und Wahrheit lieben und nach allen Kenntnissen streben (474 c - 475 c: φιλαμαθία,)·, sie müssen mäßig, tapfer und besonnen (σωφροσύνη), großherzig und großsinnig sein (jieyaXonpeneia), wozu die Übersicht über die Ganzheit der Zeit und alles Seienden76 sowie die Geringschätzung des menschlichen Lebens und des Todes gehört. Die philosophische Seele muß von Jugend an gerecht und mild sein, ebenso gelehrig und erinnerungsstark; sie muß musikalisch, harmonisch und wohlgemessen sein und eine natürliche Anlage besitzen, sich leicht zu den Ideen führen zu lassen. - Die Natur der Philosophen weist also viele Gemeinsamkeiten mit der der Wächter auf, die auch die Wahrheit lieben, mäßig, besonnen und tapfer sein, den Tod geringachten, gerecht, mild, gelehrig, musikalisch und wohlgestimmt sein müssen. Die Zahl der für die Philosophen neu geforderten Eigenschaften ist dagegen weit geringer - dennoch sind gerade sie sehr bezeichnend: Bei den Wächtern ist von einem besonders guten GeVgl. Vretska (1958), S. 506 und S. 529. Die im Schlußmythos durch die Moiren repräsentierte Totalität der Zeit kann für die Philosophen den Übergang vom Werdenden zum Seienden einleiten, anders als bei den Wächtern. Im Er-Mythos werden Beziehungen und Differenzen zwischen Wächtern und Philosophen ihren verdichteten Ausdruck finden.

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dächtnis und Erinnerungsvermögen nicht die Rede, ebensowenig von einer Übersicht über die ganze Zeit und alles Seiende oder von einer natürlichen Anlage, sich leicht zu den Ideen leiten zu lassen.77 Die Wächter- und Philosophennaturen liegen noch recht nahe beieinander, so daß sie auch ihre erste Erziehung durch Mythen, Musik und Gymnastik gemeinsam erhalten dürften, in der gleichwohl die Unterschiede im intellektuellen Bereich gleichzeitig früh genug auftreten werden, um ihre teilweise Trennung schon in der Jugend statuieren zu können. Deshalb spricht Piaton davon, daß alle Seelenteile ständig geprüft werden sollen, bevor es zur Selektion kommt (412 e - 414 a; 502 e - 504 a); die völlige Trennung tritt jedoch erst mit der Zulassung zu den höheren Wissenschaften ein, während sie bis dahin fast alles gemeinsam tun - etwa im Krieg - , wobei die philosophischen Seelen alles tiefer erfassen. - Gegen dieses hohe Bild von Natur und Aufgaben der Philosophen erhebt Adeimantos Einwände (487), da die meisten Philosophen schlechte Menschen oder doch unbrauchbar für Staat und Politik seien. Hierauf antwortet Sokrates zunächst mit dem Bild vom Schiff (488 a - 489 a; vgl. 341 d; 389 c): Der Staat gleiche einem Schiff, dessen Herr das Volk sei, der aber keine Kenntnis von der Schiffahrt und Schiffsführung besäße78; die Schiffsleute seien untechnisch, wollten das Schiff aber um jeden Preis führen und bestritten deshalb die Lehrbarkeit der Steuermannskunst. Ständig herrsche Fehde zwischen den Schiffsleuten, und die Konkurrenten um die Schiffsführung töteten sich gegenseitig und fesselten das Volk; besonders gefährdet seien Menschen, die die Lehrbarkeit der Schiffsführungskunst behaupteten - sie würden beschimpft oder sogar getötet. - Dieses Bild muß hier nicht erschöpfend dargestellt werden; nur so viel sei festgehalten: Der Vergleich zwischen Staat und Schiff soll verdeutlichen, daß die Philosophie wesensgemäß nichts Übles nach sich ziehen kann, sondern allein Gutes. Ihre praktische Unwirksamkeit ist nicht ihre eigene Schuld, sondern die der Matrosen, die die wahrhaft Wissenden von der Macht fernhalten und dabei nur auf ihre

Die Wächter sollen wenige wahre Meinungen durch die Zeit hindurch festhalten (412 d/e), die Philosophen jedoch sollen über die Ganzheit der Zeit hinausgehen, wozu sie vielerlei verschiedenen Wissens bedürfen. Der Bezug zum Schlußmythos zeigt sich an der Rolle der Himmelskenntnis fur die Schiffahrt. Die Schiffsleute sind bezeichnenderweise schwerhörig und kurzsichtig, womit ihnen die im Er-Mythos zentralen Eigenschaften fehlen, um die Harmonie des Himmels zu erfassen. In 527 d fuhrt Piaton aus, daß die Astronomie der Schiffahrt dient und daß zur Nautik die Himmelskenntnis gehört (vgl. 488 d). Der Philosoph besitzt mittels der Astronomie die Fähigkeit, das Schiff dem Himmel entsprechend zu leiten, wobei im guten Staat jeder Bürger ein bestimmtes Wissen vom Himmel hat.

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Lust sehen, nicht auf das Wohl des Ganzen; nur die Wissenden können das Schiff vor dem Untergang bewahren und sicher führen. Die Philosophie ist unschuldig an der Schlechtigkeit der meisten Philosophen (489 d/e) und schließt ihrem Wesen entsprechend alles Üble aus (490 a/b) - eine Eigenschaft, die sie mit dem Göttlichen teilt. Diese Auffassung von Eigenart und Zweck der Philosophie herrscht auch im Schlußmythos. Sie ist die einzige Instanz, um den Einzelnen und den Staat zu retten (621 c 1; vgl. 502 d 2). Aus der Philosophie resultiert nur Gutes und Gerechtes - folglich muß das Üble eine andere Quelle haben. Den Vorwurf der Lebensuntauglichkeit und Schlechtigkeit an die Philosophen findet man im Er-Mythos umgekehrt, sofern die gute Wahl, die das Leben bedingt, direkt von der philosophischen Verfassung der Seelen abhängt (619 c 8; 619 d 9). Nur eine philosophische Seele erkennt Wert und Wesen aller Dinge und ihrer Bedeutung für das Leben, so daß sie zum Inbegriff der menschlichen Arete und der Lebenstauglichkeit wird. Besser als alle anderen können die Philosophen ihre eigene Seele und ihr Leben ordnen, weshalb sie zugleich das Ganze ordnend erhalten können; in dieser Funktion wird die Philosophie im Er-Mythos von den Göttern bestätigt. Sie ist die von den Göttern gewollte Ordnungsmacht im menschlichen Bereich und ebenso Ziel und Gipfel der Bildung. - Daneben findet sich im Schlußmythos ein direkter Nachklang des Schiffsbildes. Um die Funktion der Lichtsäule und Lichtbänder zu erläutern (616 b/c), die den Kosmos zusammenhalten, bedient sich Piaton eines Vergleichs aus dem Schiffahrtswesen: Die Lichtbänder umspannen den Kosmos wie die Streben und Gurte (ύποζώματα79) von Trieren, d. h. jener großen Kriegsschiffe, die unter ihrem Rumpf durch Bänder zusammengehalten wurden. Auffälligerweise waren Trieren geruderte Schiffe mit drei Decks, was der Anzahl der Stände im Staat entspricht, und sie dienten im Krieg, was die Funktion des Er-Mythos für die Wächter bestätigt. Während das Staatsschiff aber durch seine unfähige Führung gefährdet ist, bewegt sich das 'Schiff des Kosmos ungefährdet, da es gut gebaut und geleitet ist. An dieser Güte sollte sich auch die Schiffsmannschaft orientieren, um sich ihr nachzubilden.80 Die Ordnung des Kosmos ist somit nicht nur ein Vorbild

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Zum Verständnis des Bildes vgl. Morrison (1955), S. 68. - Schreckenberg (1964), S. 90 f. Die Ordnung des Kosmos ist ein Vorbild für die Ordnung des Staats und des Einzelnen, da die Seelen sich vor ihrer Wahl durch seinen Anblick ordnen können; weder die Seele noch Staat und Kosmos besitzen eine Idee. - Vgl. Maurer (1970), S. 81. - Fink (1970), S. 73. - Thomas (1938), S. 97 f. - Adam (1963), Π, S. 441. - Richardson (1926), S. 128. - Brumbaugh (1954), S. 164. - Reinhardt

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für den Einzelnen, der ihn vor der Wahl sieht, sondern auch für die ganze πόλις; das 'Schiff des Kosmos hat eine feste Bahn und Ordnung, was auch das Ziel des Staatsschiffs sein sollte, das nur unter philosophischer Führung erreicht werden kann. Der Grund, warum die meisten Philosophen wirklich schlecht oder unbrauchbar sind, liegt in der besonderen Gefährdung der philosophischen Natur zu entarten (490 e - 495 b). Philosophische Naturen existieren selten, und jede einzelne ihrer Anlagen und Tugenden ist der Gefahr ausgesetzt, zu entarten und in einer extremen Ausprägung andere Anlagen zu zerstören, so daß die ganze Seele verdorben und von der Philosophie abgezogen wird; so ist es problematisch, alle philosophischen Tugenden etwa Gelehrigkeit und Beharrlichkeit - in einem Maßgefüge zu vereinen. Das für die Wächter zentrale Prinzip der mittleren Anlagebildung und wohlabgewogenen Mischung gilt zunächst auch für die Philosophen; je größer und komplexer Naturen aber sind, desto größer ist die Gefahr ihrer Entartung, weshalb keine Einzelanlage zu stark oder zu schwach entwickelt werden darf, um das Ideal zu verwirklichen. Besonderen Gefahren ist eine philosophische Natur durch äußere Güter und eine schlechte Bildung ausgesetzt, denn das Streben nach äußeren Gütern wie Reichtum, Schönheit, Körperkraft und Abkunft zieht eine Seele vom philosophischen Streben ab und verdirbt sie so (491 c); daß genau diese Güter im Schlußmythos als solche genannt werden (618 a - d), deren Wert für ein gutes Leben abgewogen werden muß, ist sicherlich kein Zufall. Auch dort verblenden diese Güter viele Wählende, weil ihr Zusammenhang mit anderen Elementen des Lebensmusters nicht durchschaut wird. Eine philosophische Seele kann ihren Nutzen und Schaden verbunden mit anderen Faktoren bestimmen und ordnet sie der Güte des ganzen Lebens unter; bis philosophische Naturen in ihr Wesen eingehen, schützt sie auch der Mythos vor ihren Gefährdungen, wobei es durchaus so sein kann, daß leibliche Schwäche, Krankheit oder Armut zur Philosophie fuhren, während Stärke, Gesundheit oder Reichtum dies verhindern (vgl. den Fall des Theages; 496 b/c). Derartige Güter sind indifferent, erhalten ihren Wert erst als Mittel zu einem guten oder schlechten Zweck und sind im Hinblick auf ihn zu bewerten. Vielleicht noch verderblicher als derartige Phänomene ist für eine philosophische Natur eine falsche und schlechte Erziehung, die aus der edelsten Seele die schlechteste machen kann, in der die ursprünglichen Anlagen und Fähigkeiten völlig pervertiert sind. Besonders Sophisten und (1927), S. 110 f. - Frank (1923), S. 107. - Junge (1947), S. 192. - Gaiser (1963), S. 259. - Stenzel (1928), S. 181.

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Rhetoren sind Vertreter einer solch üblen Bildung (494 c/d), da sie alles versuchen, um begabte Menschen in ihrem Sinne zu führen und ihre Gegner sowie Unüberredbare mit Mitteln, die denen der Matrosen im Schiffsgleichnis entsprechen, auszuschalten (492 d). Wahre Bildung fuhrt dagegen zur Philosophie, die allein den Einzelnen und den Staat retten kann. Wenn es auch schwer ist, die wenigen philosophischen Naturen zu retten, so ist es doch nicht unmöglich - sei es durch Zufälle, äußere Umstände oder ein göttliches Geschick (492 a - 493 a; 502 a/b); entsprechend selten finden im Schlußmythos philosophische Wahlen statt. Für solche Naturen ist es also am schwierigsten, ihr Wesen zu verwirklichen; wenn es aber gelingt, so retten sie sich und das Ganze. Pointiert läßt sich sagen: Wesensgemäß gut und gerecht zu werden ist für Philosophen das Schwierigste, aber gut und gerecht zu sein und zu bleiben (wenn sie es einmal sind) fallt ihnen am leichtesten. Die Rettung der Philosophie und die Rettung durch dieselbe bedingen einander und sind beide schwer zu verwirklichen, aber dennoch notwendig, um gut zu sein; genau dieser Zusammenhang ist eines der im Er-Mythos zentralen Probleme, wie die Wahlen verdeutlichen. - Für Philosophen ist es schwer, ihre spezifische Aufgabe im Staat (d. h. die Herrschaft) mit der politischen Praxis zu vereinen. Sich selbst vermag der Philosoph auch in schlecht verfaßten Staaten zu erhalten, in denen er ruhig als Privatmann (vgl. 620 c/d) im Umkreis frevelhafter Menschen lebt (496 b - e; vgl. 520 b), ohne an der Politik Anteil zu nehmen; er sorgt nur dafür, selbst gerecht zu sein, um im Tod hoffnungsvoll scheiden zu können. Der Philosoph wäre aber dazu fähig, nicht nur sich selbst, sondern auch den Staat zu retten, vollbrächte er doch in diesem Fall mehr und verwirklichte seine Möglichkeiten umfassender als durch seine passive und selbstbezogene Lebensweise, aber von den vorhandenen Staaten ist keiner für die Philosophen so tauglich, daß sie anfangen könnten, ihn zu ordnen (497 a/b). Sokrates bestimmt den Wächterstaat als den zwar nicht notwendig einzigen, aber doch möglichen Staat, in dem die Philosophen die Entfaltung ihres Wirkens beginnen könnten; er ist der am ehesten und wahrscheinlichsten für die Übernahme durch die Philosophen geeignete Staat (497 c/d). Deutlich treten die Kluft und Verbindung zwischen Wächterund Philosophenstaat hervor: ersterer hat eine für die Philosophie und ihre Herrschaft günstige Vorordnung, auf die aufgebaut werden kann und deren sich Piaton bedient. Im Wächterstaat herrscht der Glaube an den Primat des Ganzen, an den zentralen Wert der παι&ία und ihrer Struktur als rechter Mischung von Musik und Gymnastik, denn er unterliegt dem Endzweck der Stabilisierung und Reproduktion einer guten Seelenordnung. An diesen Vorstellungen orientieren sich die obersten Hüter des

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Wächterstaats (412 b ff.), weshalb sie auch ausgewählt werden. Ihr Mut und ihre natürliche Vernunft halten unerschütterlich an den einmal gefaßten Einsichten fest - eine Basis, auf der Piaton jetzt den Philosophenstaat aufbauen kann (497 c/d). Der Staat benötigt eine Instanz, die denselben Begriff guter Verfassung und ihrer Bedingungen fixiert; die besten Wächter können aber allein auf die Reproduktionsbedingungen guter Wächter achten, nicht auf eine vollständige Philosophenausbildung, so daß der Staat unter ihnen Wächterstaat bleibt und nicht wirklich philosophisch werden kann, da es dazu einer anderen Erziehung bedürfte. Dementsprechend revidiert Piaton nun teilweise seine Konzeption der Wächterbildung im Hinblick auf die Erziehung der Philosophen (498 a - c): Philosophische Naturen sollen sich nicht nur in der Jugend und nebenbei mit Philosophie befassen, auch nicht erst im Alter (Kephalos: 328 d/e), sondern von Jugend an und immer und vor allem anderen; die Beschäftigung mit der Philosophie soll von einer Neben- zur Hauptsache werden, wie es auch der Schlußmythos fordert (619 d/e). Deutlich tritt die Philosophie einmal in ihrem engeren, einmal in ihrem weiteren Sinn auf, aber beide Ebenen hängen im Bildungsgang der Philosophen genetisch zusammen. Als Kinder sollen potentielle Philosophen den Leib bilden, später die Seele üben, dann Staats- und Kriegsdienste leisten und zuletzt zur reinen Philosophie gelangen; ein Grobraster, das im VII. Buch noch präzisiert wird. Piaton entwirft den allgemeinen Verlauf der philosophischen Bildung als einen Prozeß, der bereits innerhalb des Wächter- oder gar des Philosophenstaats unter Anleitung der einsichtigen Staatsherrscher stattfindet. Die Bildung der Philosophen erfolgt schon nach einer geplanten Ordnung im Staat und zu seinen Zwecken, d. h. der Philosoph ist kein Produkt glücklich gelungenen Wildwuchses mehr. Erst allmählich muß er aus den Wächtern ausgesondert werden, und über eine lange Strecke werden beide zusammen erzogen, wobei der Philosoph sich regelmäßig unter ihnen hervortun muß; erst auf dieser Grundlage erfolgt die endgültige Selektion der Philosophen. - Hier (498 c/d) deutet Piaton auch die Rolle der Philosophie im Er-Mythos an: Philosophen leben im Diesseits schon glückselig und krönen ihr Leben im Jenseits durch ein angemessenes Los (μοίρα); eine philosophische Bildung ist so die beste Propädeutik für ein mögliches neues Leben mit seinen Gefahren (498 d) - ein Hinweis auf die Seelenwanderungslehre im Schlußmythos. Nicht zufallig wird hier auf die Zeit und die Bedeutung ihrer Proportionen hingewiesen. Die παιδβία sorge nur für eine kurze Zeit vor (für das nächste Leben), die im Vergleich mit der ganzen Zeit nichts sei; analog werden die Seelen im Schlußmythos auch

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als "eintägige Seelen" bezeichnet (617 d 7 f.).81 Obwohl das menschliche Leben von verschwindender Geringfügigkeit ist, gilt es, den einen Tag, den es umfallt, gut zu nutzen - schon weil alle Taten dieses Tages zehnfach vergolten werden, was bis zur ewigen Verdammnis führen kann (616 a). Wieviel an diesem einen Tag für Piaton zu leisten möglich ist, wird an der Politeia ersichtlich, denn der ganze lange Dialog spielt fiktiv im Rahmen eines einzigen Tages, so daß die Dialogzeit zum Symbol der Lebenszeit wird.82 Die Bildung zur Philosophie ist verglichen mit der Zeit wenig, aber sie ist doch die einzig hinreichende Macht, um die unsterblichen Seelen in ihrem zeitlichen Existierenmüssen zu ordnen; nur sie kann die Ordnung im Diesseits gewährleisten, sie immer wieder in der Wahl neu begründen und aufrechterhalten. Das Geflecht von Philosophie, Bildung und Zeit ist im Er-Mythos äußerst relevant: Bildung und Philosophie (als ihr Endzweck) lassen allein die Seelen in der Zeit gut bestehen und entheben sie des Verlusts ihrer Ordnung in der und durch die Zeit genau das, was die göttlichen Mächte im Mythos bewirken wollen. Die Philosophie ordnet die Seele und überhebt sie in gewissem Sinne der Zeitlichkeit ihrer Existenz mit deren Wechselfallen: Sie ist zum einen die in der und gegen die Zeit wirkende Ordnungsmacht für den Einzelnen und den Staat, zum anderen enthebt sie die Seele der Zeit und gründet sie im Ewigen und im Wissen davon, indem sie sich im noetisch-dialektischen Umgang mit den Ideen erfüllt, worin die Seele ihre höchste Fähigkeit verwirklicht83; solch einer Seele kann die Zeit nichts mehr anhaben. Die hinreichende Bedingung der Güte des Einzelnen und des Staats ist also die Philosophie. Nur in der philosophischen Führung des Staats liegt das Heil für das menschliche Geschlecht (473 c - e); gerade diese Rolle erfüllt die Philosophie auch im Er-Mythos, wo die Belohnung der Gerechten bzw. die Bestrafung der Ungerechten den Anfang macht, wobei schon hier die Philosophie relevant ist, weil der Philosoph auch der Gerechteste ist. Er ist derjenige, der diesbezüglich über das tiefste Wissen verfügt und sein Handeln fest darin gründet. Auch die Neuwahl eines gerechten Lebens fallt den Philosophen am leichtesten, woran der enge Konnex von Tugend und Philosophie hervortritt. Philosophie begründet und erhält die Arete von 81 82

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Vgl. Thayer (1988), S. 384. - Biesterfeld (1970), S. 45. Den Nexus von natürlicher und fiktiver Zeit findet man auch in der Odyssee, in der eine Rückkehr vom fiktiven zum natürlichen Zeitablauf erfolgt, während es in der Politeia gerade umgekehrt ist. - Zur Rolle der Gegenwart und der Eintägigkeit in der Stoa vgl. ζ. B.: Marc Aurel: Selbstbetrachtungen VIII, 25. Ihre höchste Transzendenz kann die Seele für Piaton schon im Diesseits erlangen, nämlich in der Schau des Guten. Während zum αγαθόν aber nur wenige gelangen, müssen alle Seelen wählen, wozu sie auch der Philosophie bedürfen.

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Mensch und Staat, aber nicht als einmal erworbenen und dann dauerhaften Besitz, sondern als ständiges Wiederergreifen der Arete, die ja herrenlos ist (617 e 3), gemäß der festgelegten zeitlichen Ordnung, wie sie im Mythos bestimmt wird. Bildung, Philosophie und Arete bestimmen sich wechselseitig, was sich noch genauer zeigen wird.

2) Der Philosoph und die Herrschaft im Staat Für die Güte des Staats ist die Philosophenherrschaft notwendig, die zwar schwierig, aber möglich ist. Sie ist möglich, wenn sich für Philosophen schicksalhaft (τύχη) die Notwendigkeit der Herrschaft ergibt oder wenn Königssöhne durch göttliche Eingebung eine wahre Liebe zur Philosophie erlangen. Man sieht, daß hier die Möglichkeit des Anfangs einer Philosophenherrschaft in einem glücklichen Einzelfall gesucht wird, der von der 84 τύχη (499 b 6) oder von einer θεία, imπνο/α (499 b 9; diese bedingt für Piaton das Gelingen der Staatsgründung überhaupt) abhängt, aber nicht von einer geregelten und systematischen Ausbildung der Philosophen innerhalb des Staats. Ein einzelner, äußerer, göttlicher Eingriff steht gegen eine spätere allgemeine, planvolle naideia, die durch den göttlichen Eingriff erst beginnen kann. Diese Stelle ist für den vorliegenden Zusammenhang wichtig, weil Piaton hier die im Schlußmythos zentralen Begriffe Notwendigkeit und Zeit mit der Philosophenherrschaft verbindet. Um die unbedingte Möglichkeit einer solchen Herrschaft zu belegen, nimmt Piaton die gesamte Zeit und auch den gesamten Raum in Anspruch (499 c/d), wie er es in den Mythen ebenfalls tut. Damit will er sowohl die Schwierigkeit und große Seltenheit als auch die allgemeingültige Möglichkeit der Philosophenherrschaft bestätigen; er stellt den ganzen Bereich unter die Obliegenheit der Ananke, die auch im Er-Mythos zentral ist und von der die drei Zeitdimensionen 'abstammen'. Die Verwirklichung des besten Staats in der Zeit untersteht samt ihren Bedingungen der Ananke: Der Bezug zwischen Philosophenherrschaft und Staatsgüte ist ebenso zwingend wie der zwischen den Teilen (Ständen) des Staats; zu seiner Gesamtarete müssen seine Teile notwendig auf die vollständige Entfaltung ihrer Einzelarete verzichten (540 b). Alle Stände werden auf die notwendigen Bedingungen des Gesamtwohls verpflichtet, die sie einzeln unter einen gewissen Zwang stellen und somit Einschränkungen implizieren. In einem guten Staat ist dieser Zwang aber mit freier Einsicht und freiwilliger Erfüllung des Notwendigen verbunden, woraus die einzelnen Teile 84

Vgl. dazu Menon 99 c - d.

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vermittelt über die Gesamtarete des Staats - ihre spezifische Bestheit (als Maß und Mitte bezüglich ihrer Einzeltugenden) erhalten. - Gegen ihre Kritiker kann die Philosophenherrschaft durchgesetzt werden, indem den Menschen die wahre Philosophie gezeigt wird, die von ihren Zerrbildern abzugrenzen ist (499 e - 500 a) - genau wie im Schlußmythos. Wenn bewiesen wird, daß die Philosophen die Vernünftigsten und Gerechtesten sind und daß die Herrschaft dieser Tugenden das Wohl des Staats und seiner Bürger bedingt, so ist die Menge einsichtig, und in der Folge werden die Kritiker dieser Herrschaft sanft (501 c - e); Piaton sieht die Definition der Besonnenheit (als richtige Mischung von Sanftheit und Härte) auch als Bedingung der Möglichkeit des διαλέγβσΰαι an. Wenn ein Mensch nur besonnen ist, so ist er auch durch richtige Vorstellungen und Gründe von etwas Gutem und Wahrem zu überzeugen und sieht zugleich den wahren Wert der Philosophen im Gespräch mit ihnen. Wie geht der Philosoph bei der Ordnung des Staats vor? In 500 b - e behauptet Piaton, er schaue auf das Göttliche, Geregelte, Wohlgeordnete und sich immer Gleichbleibende, denen er sich ebenso nachzubilden versucht wie den Staat. Wie genau dieser Bereich zu verstehen ist, bleibt noch unklar; klar ist nur, daß der vorbildhafte Bereich göttlich ist und in ihm 85 τάξις und κόσμος herrschen (500 c 2 - 4) - also Begriffe, die wichtige Inhalte des Aretebegriffs repräsentieren und im Er-Mythos zentral sind. Ein Bereich höchster Güte und Ordnung dient aller Nachbildung zum Guten als Muster; der Philosoph, der sich diesem Bereich (so wie es Menschen möglich ist) nachbildet, versucht, ein gewisses Maß seiner Ordnung auf alle Menschen und den Staat zu übertragen. Er ist die zentrale Vermittlungsinstanz göttlicher Arete fur den menschlichen Bereich, wobei diese Vermittlung für Piaton wiederum unter dem Gesetz der Notwendigkeit steht (500 d 4). Die Nachbildung am Guten verbindet Notwendigkeit und Freiheit auf eine Weise, die auch im Er-Mythos deutlich hervorgehoben wird. Der Akt der Nachbildung bedeutet ein freies Erstreben von Tugend und Güte gemäß einem größeren Vorbild; zugleich steht die Nachahmung des Guten und für gut Gehaltenen unter dem Gesetz der Notwendigkeit und einem Zwang der menschlichen Natur. Der Nachahmungsbegriff verbindet wie im Er-Mythos Freiheit und Notwendigkeit, wo die wählenden Seelen sich frei der Ordnung des Kosmos (als Inbegriff der Ananke) und den Göttern nachformen können. Um die Seele zu ordnen und philosophisch zu werden, ist eine höhere Ordnung nachzubilden, was den einzig möglichen Weg bedeutet, was aber nur frei und aus eigener Einsicht geschehen kann. Vgl. zu τάξις und κόσμος schon: Gorgias 504 b.

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Am Ziel der Philosophen, die Bürger zu Besonnenheit, Gerechtigkeit und jeder volksmäßigen Tugend zu bilden (500 d), zeigt sich, daß Piaton nicht nur einen doppelten Philosophiebegriff, sondern auch einen mehrdeutigen Aretebegriff gelten läßt. Beide Begriffe finden aber gerade in ihrer Mehrdeutigkeit einen Ausdruck im Schlußmythos der Politeia\ sie werden auf der Ebene der Meinung und der des Wissens zu den grundlegenden Handlungszwecken und Ordnungsstandards des menschlichen Lebens erhoben. Die Mahnung des Mythos, sich im Leben der Philosophie zu befleißigen (619 d), besitzt Gültigkeit und Wert in der παιδεία, der Wächter (in deren Musikbegriff) und gilt natürlich auch für den engeren wissenschaftlichen Philosophiebegriff der Dialektiker, d. h. nach dem Maß ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten können alle Bürger philosophisch werden und daraus nur Gutes gewinnen; genauso verhält es sich bei der Arete. Wenn Piaton zum Ausdruck bringt, die Tugend sei herrenlos, so heißt dies, daß jeder nach seinen Möglichkeiten ein gewisses Maß an Tugend erlangen und in seinem Leben verwirklichen kann, wobei dieses Maß aber wieder vom Stand des Wissens abhängt, so daß beide einander bedingen. Es gibt die tradierte und volksmäßige Tugendauffassung (vgl. 619 c/d und Kephalos' Tugendbegriff), von der Piaton in der Terminologie der δόξα redet (500 d 8/e 1/e 5), sowie einen philosophischen Aretebegriff. Beide zu vermitteln und so eine Einheit zwischen Tradition und Philosophie herzustellen liegt im Aufgabenbereich der Philosophen; sie müssen die tradierten Tugendauffassungen philosophisch prüfen, sichern und jedem im Staat begreiflich machen, wodurch es zu einer Integration beider Tugendbegriffe kommen kann - nichts anderes leistet Piaton in der Politeia. Bloß angewöhnte Tugenden werden derart in der Seele gefestigt. Jedem Bürger seinen Anteil an Philosophie und Tugend zu vermitteln ist die Aufgabe der Bildung, woraus sich deren gewichtige Rolle und lange Dauer im Staat erklären. Sie ist das wichtigste Instrument der Philosophen bei der Neuordnung des Staats, und Piaton traut ihr große Kraft und starken Einfluß auf die Seelen zu. In 501 a - e heißt es, die Philosophen müßten den Staat und die Gemüter der Bürger zuerst reinigen, dann den Grundriß des Staats in den Seelen vorzeichnen und schließlich die Menschen sukzessiv bilden; Piaton scheint also nur falsche Meinungen ausrotten, wahre aber erhalten und sichern zu wollen, um so die Nichtphilosophen schrittweise zu bessern. Für letztere geht es nicht um das Maximum des Menschenmöglichen, sondern um einen stabilen Mittelbereich von Wissen und Tugendhaftigkeit - dementsprechend redet Piaton von Mischungen, Zusammensetzungen und menschlichen Sitten und deren Gottgefalligkeit, nicht von höchstem Wissen und umfassender wissenschaftlicher Bildung.

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Die Herrschaft der Philosophen und die Bedingungen der Güte des Staats stehen unter dem Gesetz der Notwendigkeit, des Zwangs und der Nötigung, zum allgemeinen Besten beizutragen, obwohl alle Stände freiwillig dem Zwang der Vernunft und des Guten folgen sollen. Für die Philosophen hat der Verzicht auf die vollständige Verwirklichung ihrer Möglichkeiten den weitesten Umfang, da sie die Differenz zwischen ihrer Pflicht im Höhlenstaat und dem wissenschaftlichen Umgang mit dem wahren Seienden kennen; aber sie erfüllen das Gesetz der Notwendigkeit trotzdem freiwillig als Teil ihrer Pflicht und Gerechtigkeit. Allein durch eine eigene freie Entscheidung kann man gerecht werden und das Gesetz der Notwendigkeit erfüllen, nicht mehr durch einen natürlichen, passiven Vorgang, zu dem man selbst nichts beizutragen hat: Diesen Nexus zwischen Notwendigkeit, Freiheit und Gerechtigkeit wird der Er-Mythos genau darstellen. - In 521 d - 522 c zeigt sich, wie die Bildung der Philosophen auf der der Wächter aufbaut und sie integriert. Gymnastik und Musik betreffen jetzt den Bereich des Werdens, so daß die Musik nicht als Wissenschaft gelten kann, weil sie in diesem Bereich bleibt und nur die Gewohnheiten der Seelen bildet und sichert. Ihre Kraft reicht nicht hin, die Seelen selbst zum wahren Seienden zu führen, obgleich sie diesen Aufstieg doch notwendig vorbereitet. Musik und Gymnastik bleiben unabdingbare Vorstufen und Durchgangsstadien zur höheren Bildung, die auch die Philosophen durchlaufen müssen; der Verfall des Staats beginnt deshalb auch mit ihrer Vernachlässigung als grundlegenden Bildungsinstrumenten (545 d - 547 c). Piaton bestreitet also nur ihre Fähigkeit, die Seelen selbst zum Seienden zu leiten, so daß die Musik zu Recht in der philosophischen Liebe zum Schönen endet. Die unmittelbare Vorbereitung zur wissenschaftlichen Philosophie erfolgt durch die Vorwissenschaften Arithmetik, Geometrie, Stereometrie, Astronomie und Harmonik, die in innerem und sukzessivem Bezug stehen, um die Dialektik unmittelbar vorzubereiten. Die höheren Wissenschaften leiten die Seele vom Bereich des Sichtbaren und Werdenden weg zu dem des Seienden und Denkbaren hin. Am Anfang steht dabei - als Grundlage aller τέχναι wie auch der dianoetischen Wissenschaften und als ihnen Gemeinsames - die Arithmetik (522 c), die es mit Zahlen und Rechnen zu tun hat; sie wird im praktischen Wissen ebenso angewendet wie als Hinleitung zum noetischen Wissen und zur Einheit (523 a; 524 d/e). In unserem Zusammenhang ist v. a. wichtig, daß alle dianoetischen Wissenschaften in ihrem praktischen Nutzen bedacht werden - besonders hinsichtlich ihres Nutzens für den Krieg (521 d; 522 c; 527 c), der ein unverzichtbares Stadium der Herrscherausbildung im Wächter- und Philosophenstaat bildet. An dieser Stelle bleibt die Aufgabenverteilung zwischen Wächtern und Philosophen im

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Philosophenstaat offen; die Wächter treten jedoch immer mehr in den Hintergrund und werden zu Soldaten bzw. besseren Technikern der Einheitsbewahrung im Staat. Für die Philosophen bedeutet auch das praktische Kriegshandwerk nur einen Durchgang, bei dem sie sich bewähren müssen, während es für die Wächter im Philosophenstaat zum Endstadium wird. In diesem Staat sind die Aufgaben und Bildung der Wächter zu einem Teil der Aufgaben und Bildung der Philosophen geworden, aber in beiden Fällen ist der Krieg die Bewährung vor der letzten Selektion zum Herrscheramt; in beiden Staaten erreicht der Bürger erst im Alter und nach der Bewährung im Krieg das Herrscheramt. Die ständige Bezugnahme der dianoetischen Wissenschaften auf den Krieg bestätigt jedenfalls die ausgezeichnete Stellung, die die Kriegskunst schon im Wächterstaat hatte und die im Philosophenstaat erhalten bleibt, wenn auch nur als Mittel zur Philosophenausbildung, das neben anderen steht und keinen Endpunkt mehr bildet. Der immer wiederkehrende Bezug auf den Krieg86 erklärt sich auch daraus, daß er die Nahtstelle zwischen Wächtern und Philosophen ist und das Geschäft, das sie gemeinsam angeht. Der Krieg ist keine τέχνη wie die anderen handwerklichen, sondern er bezieht sich auf die Ganzheit des Staats und dient der Aufrechterhaltung seiner Einheit. Außerdem zeigt die Kriegskunst schon die geforderte innere Zusammengehörigkeit der Wissenschaften (531 d), wenn sie wegen ihres praktischen Gebrauchswerts im Krieg vereinigt und gemeinsam gebraucht werden. Die Philosophen können also im Krieg den inneren Konnex der Wissenschaften durch ihren zusammenhängenden Nutzen erkennen. Besonders interessant für die vorliegende Themenstellung sind Piatons Ausführungen zu Astronomie, Harmonik sowie Dialektik, weil diese Wissenschaften im Schlußmythos auf maßgebliche Weise repräsentiert sind: Zunächst sind mit Kosmos und Sirenengesang wichtige Teile der Gegenstandsbereiche von Astronomie und Harmonik im Mythos gegeben; ebenso wird der Ansicht vom Schwestercharakter der beiden Wissenschaften (530 d) dadurch Rechnung getragen, daß ihre Sachbereiche im Mythos unauflösbar zusammenhängen, denn die Kosmosbewegungen stehen in enger Verbindung mit dem Gesang der Sirenen, wenn sie ihn auch nicht direkt produzieren. Da der Darstellung des Kosmosmodells im Mythos die Wahl des Lebens unmittelbar folgt, spiegelt sich darin die vorbereitende Aufgabe von Astronomie und Harmonik für die Dialektik; letztere ist die Bedingung des Gelingens der Wahl. - Neben diesen offenViele Begriffe im Er-Mythos haben dementsprechend einen militärischen Hauptoder Nebensinn, etwa τάξις, ίφικνείσβαι (616 d 2), α,Ίρεσ-ις (617 e 1) oder κίνδυνος

(618 b 7); die Bedeutung dieser Sprache für die Wächter ist evident.

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sichtlichen Fakten muß aber auch auf die Unterschiede zwischen den Bestimmungen der Wissenschaften im VII. Buch und ihren Repräsentationen im Er-Mythos hingewiesen werden. Piaton erforscht die Wissenschaften hinsichtlich ihres Werts für die Philosophenbildung sowie der Hinleitung zum Guten und Einen: Die Wissenschaften sollen die Seele vom Werden zum Sein umwenden; sie dürfen so nicht das sinnlich Erfahrbare untersuchen, sondern sollen nur das Unsichtbare und Denkbare erforschen (529 a - 531 c). Die Dialektik soll alles nur noch mit Begriffen erfassen, ordnen und als es selbst und im Ganzen erkennen (532 a; 533 b/c). Diese rein intellektuellen Wissenschaften sind aber im Schlußmythos nicht gemeint, wo es um ein sichtbares All, eine hörbare Harmonie und eine auf greifbare Lebensmuster und deren Erkenntnis gerichtete Dialektik geht. Die Vereinbarkeit der beiden Wissenschaftskonzepte kann folgendermaßen konstruiert werden: Wenn es in der reinen Astronomie darum geht, allein mittels der Vernunft das Wesen der Bewegung, der Geschwindigkeit und der Proportionsverhältnisse zwischen den Himmelskörpern zu erkennen (529 dJe), so heißt das nicht, daß diese Erkenntnisse in keiner Weise auf den wahrnehmbaren Kosmos übertragbar wären; denn die reine Vernunftastronomie fuhrt zu Einsichten in die unsichtbare Ordnung des Kosmos, aus denen das Verhalten der sichtbaren Himmelsgebilde erfaßt und erklärt werden kann, da sie in ihm anwesend sind. Der sichtbare Kosmos folgt den Bewegungsgesetzen und Zahlproportionen der Himmelskörper, obwohl ihre unmittelbare Erkenntnis nicht der Sinnlichkeit entstammt. Da die Astronomie jedoch eine dianoetische Wissenschaft ist (510 b - e), bedient sie sich des Sichtbaren als Ausgangspunkt des Gewinns und als Bereich des Erweises der Gültigkeit ihrer Einsichten. Die sichtbaren Himmelsgebilde sind für Piaton in ihrer Art das Beste (529 c/d), aber gegenüber den nur mit dem Verstand erfaßbaren Bewegungsgesetzen sowie den Begriffen und Zahlverhältnissen, die das Wesen der Bewegung bestimmen, ist der sichtbare Kosmos unvollkommener (erkennbar). Im sichtbaren Kosmos finden sich für die Erkenntnis ein unvollkommenes Abbild und eine unreine, ungenaue Anwendung und Übertragung des reinen Wesens der Bewegung wie auch ihrer Gesetze. Was Bewegung wirklich ist und was dem Kosmos zugrunde liegt, erfaßt nur das Denken, nicht die Wahrnehmung; so ist der sichtbare Kosmos für Piaton nur ein Beispiel (παράδΐίγμα.) und eine Vorzeichnung (διάγραμμα.), an denen man lernen kann, was wirklich ist (529 d/e). Der wahren Astronomie geht es um das Wesen der Bewegungsbegriffe und ihrer Verbindung, also um eine Vorbereitung der dialektischen Arbeit mit reinen Wesensbegriffen und Begriffswesen; sie behandelt die Erkenntnis von Begriffen wie Geschwindigkeit, Schnelligkeit oder Langsamkeit und ihr Verhältnis zueinander,

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ebenso die Zahlenverhältnisse und -gesetze zwischen reinen Bewegungen (von Körpern) (529 d). Dazu müssen in der Arithmetik zuvor das Wesen der Zahlen und in der Geometrie das der Verhältnisbegriffe (Gleichheit Doppeltes) geklärt werden, die dann in der Astronomie zur Erkenntnis des Wesens der Ortsbewegung kräftefrei bewegter Körper angewandt werden können, die selbst wieder der Bestimmung von Zeiteinheiten und -maßen sowie deren Proportionen untereinander dienen (530 a/b). Der sichtbare Kosmos ist mit seiner inneren Struktur nur ein Abbild der reinen Gesetze und Begriffsverhältnisse, die sie bloß annäherungsweise erfüllen; dennoch läßt sich an seiner immer gleichen Ordnung ermessen, wie vollkommen die Bewegungsgesetze sind, wenn sie schon den sichtbaren Kosmos so unveränderlich bestimmen. - Das Verhältnis von reiner und empirischer Astronomie prägt auch die Deutung des Kosmosmodells im Er-Mythos und spiegelt sich in ihm. Das Modell stellt dort den wahrnehmbaren Kosmos dar, der in einen technischen Rahmen eingebunden ist (Spindel). Piaton nennt die Namen der Planeten nicht, sondern arbeitet mit (relativen) Farbbestimmungen und relationalen Geschwindigkeitsangaben (616 e 617 b), ohne konkrete Zahlen oder Proportionen anzuführen. Die verschiedenen, aber konstanten Geschwindigkeiten äußern sich nur im harmonischen Verhältnis verschieden hoher, gleichbleibender Töne. Alle Angaben Piatons beziehen sich auf sinnlich Wahrnehmbares. Früher hat er bereits die Liebe zu Farben und Tönen als Kennzeichen der Doxosophie bestimmt (476 b; 480 a), woraus zu schließen ist, daß sie in der schönsten und dauerhaftesten Harmonie des Seh- und Hörbaren ihren Höhe- und Grenzpunkt erreicht; zugleich bildet sie den Endpunkt der Musik im Sinne der Liebe zum Schönen. In der Betrachtung des harmonischen Kosmos87 erreichen die δοξοσ-οφία, bzw. die δόξα die Peripherie ihres Gegenstandsbereichs und gewinnen den ihnen höchstmöglichen Grad an Sicherheit und Stabilität. Das doxische Wissen vom sichtbaren Kosmos verleiht der nichtphilosophischen Seele das Höchstmaß ihrer möglichen Ordnung, das sie an den wahren Meinungen festhalten läßt. Im Bereich des Sichtbaren ist die wahre Meinung das epistemologische Maximum, so daß man davon sprechen könnte, daß Piaton die Form des Wissens nichtphilosophischer Seelen so gut wie möglich ordnet und sie hermetisch abschließt als eine in sich stabilisierte Welt, die für Nichtphilosophen nicht zu transzendieren ist. Piaton überwindet die den Dialog eröffnende Schaulust am agonalen Wettstreit (327 a - 328 b) und fixiert den Bereich der Doxosophie auf der

Die Elemente des Mythos symbolisieren implizit die Bewegungsformen insgesamt: Der Thron steht für die Ruhe, die Spindel fur die Rotationsbewegung, der Kosmos selbst fllr das Kreisen.

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Ebene seiner höchsten Gegenstände; er transformiert das Agonale zu etwas, bei dem alle gewinnen können: Das Leben wird so zu einem athletischen Wettkampf (403 e 9; 608 c 2; 613 b/c; 621 c/d), in dem aber jeder siegen kann. Die philosophische Reise88, bei der alle nur gewinnen können, muß jedoch bei der Doxosophie nicht enden. Für philosophische Naturen kann das Kosmosmodell des Er-Mythos den Übergang zu den dianoetischen Wissenschaften einleiten. Das Sichtbare ist auch für die

Philosophen das erste, ihnen Begegnende, wie die Schatten der Höhle zeigen; der Mythos kann für junge Männer Wahrheiten einführen, die später erst dialektisch zu prüfen und zu begründen sind. Wenn die 'Doxosophen' den Mythos glauben, müssen die Philosophen ihn später prüfen, denn sie erfahren an der Peripherie der Doxosophie die Kontinuität zwischen den Wissensstufen, aber keine innere Abschließung doxischen Wissens. Sie erkennen, daß dem Sichtbaren und Werdenden etwas Seiendes und Unsichtbares zugrunde liegt, zu dem sie durch das Sichtbare hindurch zu gelangen streben. Wie aus 533 b - 534 e ersichtlich wird, gilt für Piaton, daß die Dialektik89 - anders als die dianoetischen Wissenschaften - keine Voraussetzungen mehr macht und nichts mehr annimmt, das sie nicht begründen kann. Sie ergreift als Wissenschaft von Begriffen und Begriffsverhältnissen von allem die Anfange und bestimmt allem seinen Ort in der Ordnung des Seienden. Piaton spaltet hier den früheren, einheitlichen Begriff von τέχνη und επιστήμη auf: Eine wirkliche (= noetische) Wissenschaft ist nur die Dialektik; die anderen vorbereitenden 'Wissenschaften' sind dagegen dianoetisch. Ordnet man diese Bestimmungen in das Bildungsprogramm der Politeia ein, so folgt, daß Musik und Gymnastik in den Bereich der Meinung gehören. Für die Wächter ist dieser Bereich der Endpunkt ihrer Bildung, während die Philosophen beim Aufstieg zu höheren Formen des Wissens diese Stufe durchlaufen müssen, ohne doch auf ihr stehenbleiben zu können. Die φιλαμαθία als Wesensmerkmal der Philosophen (490 a/b) äußert sich im kontinuierlichen Fortschritt von δόξα zu διάνοια und νόησις. Weil sie Kenntnisse vom Seienden lieben, können sie nicht eher aufhören zu lernen, bevor sie Dialektiker geworden sind, denn nur im Bereich der voytr/f geht die Seele ausschließlich mit Seiendem um. Die δόξα liegt in der Mitte zwischen Sein und Nichtsein (477 a/b) und bezieht sich auf das Werden; nun liegt die διάνοια in der Mitte zwischen δόξα und νόησ-ις, so daß sie also zwischen Werden und Sein steht. Hier erweist sich sowohl die

Zum Motiv der Reise vgl. Tarrant (1946), S. 30 ff. Zur Dialektik bei Piaton allgemein vgl. etwa: Robinson (1953). - Stenzel (1961). - Pfafferott (1976).

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Kontinuität zwischen den Wissensstufen als auch ihre je mögliche Hermetik, aber was jede Wissensform ist und worin sie von anderen Stufen differiert, läßt sich erst am Endpunkt der Entwicklung ermessen, d. h. nur innerhalb der Dialektik; bis dahin bestimmt Piaton die Wissensformen nur aus ihren Relationen gegeneinander. Indem die παιδεία, der Philosophen die der Wächter integriert, entsteht eine Kontinuität, in der der Abstand der Wissensformen voneinander zunächst nicht genau bestimmbar ist. Erst vom festen Standpunkt des Dialektikers aus werden die Differenzen zwischen den Wissensformen und zwischen Wächter- und Philosophenstaat ermeßbar; so nimmt der Abstand zwischen den Wächtern und Philosophen im Verlauf der Darlegungen immer mehr zu, und sie entfernen sich voneinander90, obwohl die Natur beider als Ausgangspunkt noch recht ähnlich war. Beim Aufstieg zur Dialektik müssen die Philosophen die Stufe der Meinung notwendig durchlaufen. Ihre Bildung endet aber nicht in einer gereinigten Doxosophie, sondern steigt von ihr ausgehend zu dem auf, was die Gegenstände der Meinung erst begründet. Das sichtbare All genügt den Philosophen nicht; denn aufgrund der relativen Bestimmungen der Himmelskörper untereinander (ζ. B. 'x ist schneller/heller als y') fragen sie nach den dahinterstehenden Begriffen (Schnelligkeit, Zahl, Farbe) mitsamt ihren Verhältnissen und Gesetzen. Was beim Aufstieg zu den gnomischen Wissensformen noch als notwendiger Ausgangspunkt und als Vorstufe anzusehen war, entfernt sich immer mehr vom wirklich Seienden (vgl. 506 c/d). Wenn die dianoetischen Wissenschaften schon ausschließlich in das Bildungsprogramm der Philosophen gehören, dann muß die Selektion von Wächtern und Philosophen bereits auf der doxischen Ebene stattfinden. Die Erziehung besteht hier noch aus Musik und Gymnastik, die Piaton beibehält und in den Bildungsgang der Philosophen integriert. Die Selektion zwischen Wächtern und Philosophen muß hier relativ früh erfolgen, denn anders als in 412 c werden schon Jugendliche zum Herrschen erzogen; dianoetische Wissenschaften sollen auf spielerische Weise bereits im Knabenalter eingeführt werden (536 d - 537 d), denn im Spiel zeigen sich das Wesen und die Begabung der Kinder. Bei der Betrachtung der zeitlichen Dimensionen des Bildungsgangs der Philosophen (539 d 540 c) wird deutlich, daß die platonische Erziehung das ganze Leben währt und nur kontinuierlich zur Höhe des Wissens und der Arete führen kann. Verfehlt man einmal die Auswahl zum Philosophen, so kehrt die Möglichkeit dazu im ganzen Leben nicht wieder - ein Sachverhalt, der auch ein Licht auf die Deutung der Schicksalswahl im Schlußmythos wirft. 90

Vgl. Vretska (1958), S. 580.

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Nicht nur ist dort das ganze Leben zur Vorbereitung auf die Wahl notwendig (619 d/e), sondern die Wahl legt zugleich den kommenden Lebensweg in einer Weise fest, in der er seine konkrete und spezifische Einheit schon sehr früh erhält, die sich dann sukzessiv entfaltet. Der einmal beschrittene Weg wird in aller Regel nicht verlassen, was alle Ausführungen zur Bildung in der Politeia bestätigen; so sind Kinder etwa nur bis zum zehnten Lebensjahr wirklich formbar (540 e - 541 a) - eine Ansicht, die auch im Er-Mythos gilt (615 b/c). Sowohl die Wächter als auch die Philosophen erreichen die höchste Arete erst gegen Ende des Lebens und können sie nur in einem lebenslangen Prozeß erwerben. Die Tragweite der frühen Bildung liegt in ihrem Fundierungscharakter für alle späteren Entwicklungen. Die ίόξαι und das ήθος müssen zuerst gefestigt werden, weil ein anderer Anfang der Bildung unmöglich ist; die Gewohnheit kann den Schein oder die Schale eines Wesens und einer Ordnung repräsentieren. So werden Wächter und künftige Philosophen zunächst musisch-gymnastisch erzogen und hören auch verschiedene Mythen, die je auf spezifische Altersstufen zugeschnitten sind. Der Autochthonen-Mythos ist ein relativ leicht und früh faßbarer Mythos, der für Nichtphilosophen zu einem seelenordnenden Glauben und in der Folge zu einem allgemeinen Staatsglauben wird, der nicht in Wissen transformierbar ist. Auf den höheren Wissensstufen ist dieser Glaube unnötig, da andere und höhere Ordnungsstandards bereitstehen, während der Fall beim Schlußmythos anders liegt, der sehr komplex und entsprechend schwer verständlich ist, so daß davon auszugehen ist, daß er einer höheren Altersstufe vorbehalten bleibt. Er hat in der Politeia die Funktion, das doxische Wissen der Wächter zu festigen und bei philosophischen Naturen den Übergang zu höheren Wissensformen91 einzuleiten wie auch deren Der Übergang zwischen den Formen des Wissens bzw. die Bildung der inneren Einheit jeder Wissensform fallen für Piaton implizit mit dem Übergang von Wissen zu Handeln zusammen, weil jeder Wissensstatus dem Menschen die Frage vorlegt, was und wieviel vom Gewußten in ein Handeln umzusetzen möglich und notwendig ist. Das Wissen prägt das Selbstverhältnis aller Menschen, nicht nur der Philosophen. Die innerseelischen Wissensformen bilden die sukzessive Einheit der das Selbstsein der Seele repräsentierenden und konstituierenden Seinsverhältnisse (im Erkennen). - Piaton setzt die Möglichkeit von Erkenntnis (in verschiedenen Formen) nicht mehr voraus - im Gegensatz zu Parmenides sondern bedenkt sie und damit auch ihren Übergangszusammenhang. Ftlr das Verhältnis von wahrer Meinung und Wissenschaft ist v. a. der Theaitet zentral. [Vgl. Sprute (1962), S. 33.] Die Meinung ist nicht der Bewußtseinszustand überhaupt, sondern vielmehr stets der Ausdruck urteilenden Meinens [vgl. ebenda, S. 48 und S. 53], denn nur etwas als etwas zu prädizieren, läßt Wahrheit und Falschheit zu, wobei jede Meinung sich

Die platonische Philosophie des Mythos als solche immer für wahr hält. Nicht die ihrem Urteilen zugrundeliegende αίσβ^σις ist das πάθος, sondern das in der αΰτ&ησις als etwas Aufgefaßte. Die δόξα ist ein Urteil über ein Ding, das wahrgenommen und aufgrund der Wahrnehmung beurteilt wird, so daß sie eo ipso ein sich für wahr haltendes Wahrnehmungsurteil ist. Dabei stellt sich jedoch die Frage, wie die Meinung von sich sagen kann, sie sei wahr, aber nicht sie sei Wissen, d. h.: Was fehlt der Meinung für den Meinenden zum Wissen, wenn nur das Wissen weiß, daß der wahren Meinung das Grundwissen fehlt? - Im Theaitet 201 b/c gilt die Augenzeugenschaft von etwas als Wissen, während das Hören davon in einem Logos als wahre Meinung betrachtet wird (ebenso ist es in der Politeia 601 ff., wo der Werkzeugbenutzer dem Verfertigenden über seinen Wert Mitteilung macht). Daraus läßt sich schließen, daß der Mythos auch deshalb eine wahre Meinung ist, weil er nur mitgeteilt und gehört, nicht authentisch erlebt wird (vs. Phaidros). Es geht Piaton an den genannten Stellen um die Relationen und Differenzen der Wissensformen, nicht um ihr Wesen, weshalb auch nicht die Gegenstände, sondern die Wissensmodi in ihrem Status unterschieden werden. [Für Sprute (1962), S. 63 f. ist kein Differenzkriterium zwischen Meinung und Wissen vorhanden, weil er von differenten Gegenstandsbereichen ausgehen will.] - Die Frage, ob bei Piaton immer der Gegenstandsbereich oder der Wissensmodus das Bestimmungskriterium der Differenz ist, läßt sich schwer beantworten. Es wäre auch denkbar, daß beide Kriterien in gewissem Sinne gültig sind, wodurch Sein und Denken in ein ausgeglichenes Verhältnis träten und eine epistemologische Eigenwirksamkeit erhielten, so daß Piaton weder zum strengen Eleaten noch zum Kantianer gemacht werden muß. Das Wissen vermittelt für Piaton zwischen Denken und Sein, ohne daß einer der beiden Seiten der Primat zuzusprechen wäre. (Die Wahrheit ist deshalb bei Piaton die Ur- und Universalbeziehung zwischen den allgemeinen Urgegebenheiten Sein und Denken, die ausgleichend zwischen ihnen vermittelt, weil sie unmittelbar mit ihnen gegeben ist. - Die doxa ist wie die empeiria ein reines Daß-Wissen, also das Minimum von Wahrheit und die minimale Grundlage aller Techniken, wie die Schattenkünste im Gorgias belegen.) Jedenfalls gründen δόξα, und έπιστήνη nicht in verschiedenen Seelenvermögen, sondern in verschiedenen (objektiven) Einflüssen des 'άλογου auf das λογιστικού, da der Mensch von Ideen und von Sinnendingen Meinung und Wissen haben kann; im ersten Fall besitzt er ein Existenzwissen, im zweiten ein Wesens- oder Begründungswissen. Die verschiedenen Aktivitäten des λογιοτικόν verfügen jedoch zugleich über verschiedene Objektbereiche. - Gemäß Phaidros 266 b sind Meinung und Wissen u. a. auch als Strukturen des διαλέγβσϋαι zu differenzieren: Beide sind Formen der συμπλοκή zwischen Dingen und der Seele, die sich im Logos äußern, der als inhaltlich auf Gegenstände rekurrierendes Selbstverhältnis der Seele gefaßt wird, dessen Formen diesen analog sind. Die Dihairesen etwa sind sachhaltige Logoi, die gemäß den Ideen(-relationen) 'schneiden'. In Sophistes 263 a wird das Sitzen oder Fliegen eines Menschen nicht anhand der Wahrnehmung als wahr oder falsch bestimmt, sondern schon dihairetisch als in einer Hinsicht unmöglich

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Existenz andeutend aufzuweisen. Er schließt den doxischen Bereich ab und stellt für Nichtphilosophen ein in sich geschlossenes Weltbild dar, das ihnen ein gerechtes Leben ermöglicht; er weist zugleich den Grenzbereich der Meinung auf und zeigt, was sie nicht kann. Die dauerhafteste (Selbst)Ordnung vermag die Seele sich nur durch die Philosophie zu geben, und sie zu ergreifen, mahnt der Mythos an.92 Die Aufforderung zur Philosophie läßt sich in einem weiten, musischen und in einem weiterfuhrenden Sinn verstehen, doch auf beiden Ebenen bleibt die Philosophie das neue, seelische Ordnungsprinzip. Für die Wächter endet die Philosophie in und mit dem Mythos; für die Philosophen beginnt sie erst mit ihm im engeren Sinne. Das Faktum hinzugerechnet, daß der Er-Mythos eine Idealdichtung, gemessen an den Anforderungen der Wächterbildung, ist, scheint er nichts anderes als ein Selektionsinstrument93 zur absoluten Trennung des entschieden, sofern man in diesem Fall vorher schon weiß, daß Menschen nie fliegen können. Wenn Wieland (1990), S. 393 - 406 ausführt, ein unverkürztes Wissen über sich selbst sei für den Menschen, auch für Sokrates, unerträglich und müsse deshalb im Staat gradweise aufgewiesen werden, so stellt sich die Frage der Funktion des Mythos bezüglich der Milderung des Wissens (über die Götter). Wieland interpretiert den Autochthonen-Mythos im Sinne der Vermeidung des unverkürzten Selbst- und Bedingungswissens (zu dem auch das Vergessenmüssen der Lebenswahl im Er-Mythos gehören mtlßte) und der Statuierung eines notwendigen, existentiellen Kontingenzminimums (für das auch das Losen im Schlußmythos heranzuziehen wäre). Der Metallmythos ist eine äußere Gesamttäuschung des Staats durch Sokrates, während der Er-Mythos eine göttliche Offenbarung darstellt, die aber die Philosophie im dunkeln läßt; der (täuschende) gemeinsame Gesamtursprung findet im Schlußmythos seine Ergänzung durch den gemeinsamen Individualursprung, so daß man schließen muß, daß Sokrates hinsichtlich des Wissens (von Piaton konstruiert) zwischen den staatimmanenten Bürgern und den Göttern steht, wobei das Verhältnis beider Mythen diese Beziehung hervortreten läßt. (Die Frage, ob Sokrates eine unverkürzte Einsicht in Herkunft und Wesen des Schlußmythos besitzt, muß offenbleiben.) Geht man davon aus, daß der Staat verwirklicht werden soll, so muß man schließen, daß Sokrates in ihm - mit seinem Wissen von ihm und mit seinem Philosophiekonzept ständiger Prüfung und Hinterfragung - eine unmögliche Person wäre (was auch von Wieland vertreten wird); dies spricht nicht dagegen, daß Piaton seinen Staat verwirklichen will, denn Sokrates ist eben nicht Piaton. Die reproduktive Philosophie im Staat ist durchaus vereinbar mit einem staatsabgewandten, geheimen und bedingungslos forschenden Denken. Wenn man davon ausgeht, daß der Mythos im verwirklichten Staat erzählbar wäre, so kämen als Adressaten nur Wächter und Philosophen in Frage. Erstere können ihn glauben und eher als ganzen betrachten; letztere können ihn prüfen und durch ihn hindurch zu höherem Wissen aufsteigen. - Daß im Schlußmythos alle Hinweise auf Ideen oder zur Wahl kommende Philosophen fehlen, belegt

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Bildungsgangs der Wächter und Philosophen zu sein, das die zur höchsten Bildung Auszuwählenden letztmals prüft, bevor sie ernsthaft in die dianoetischen Wissenschaften eingeführt werden. Der Er-Mythos bildet das geschlossene, in sich harmonisierte Weltbild der Wächter und die Öffnung eines neuen Horizonts für die Philosophen. Er ist eine Vermittlungsinstanz zwischen Wächter- und Philosophenstaat und bietet als ein von Göttern stammender Mythos jeder Seele ein Maß richtiger Einsichten, das nur von der Bildung jedes Einzelnen abhängt; der Mythos hebt damit den dialogischen Entwurf auf die Ebene faktischen Wirklichseins und integriert dessen Hauptbestandteile.

F Der Schlußmythos in seiner Funktion für die Ethik der Politeia

1) Die Bildung und die Güte des Menschen Die ethischen Überlegungen der Politeia sind sehr komplex, da sie ein Grundthema dieses Dialogs bilden. Im Rahmen des Themas dieser Arbeit läßt sich deshalb nur einiges auswählen, das im Dialog und auch in seinem Schlußmythos relevant ist. Der Komplex der Bildung ist von der Ethik nicht zu trennen, da Bildung immer auf die Güte des Menschen, sein Wissen und seine Tugend zielt. Erziehung ist für Piaton notwendig Erziehung zum Guten, die freilich auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Graden zum Ziel führt, wie anhand von Wächtern und Philosophen gezeigt wurde. Die παιδεία, bildet zum Guten und baut dabei auf den verschiedenen Anlagen und Fähigkeiten der Seele auf, die zur höchstmöglichen Güte entwickelt werden. Damit fördert die Bildung die spezifische Qualität jeder Seele nach ihren Vermögen und Aufgaben im Staat; zugleich ist sie der einzige Weg zur Güte des Einzelnen und des Staats. Güte und Tugend der Menschen sowie ihre Bildung sind auch die Horizonte, in denen der Mythos als Problem und als Faktum in die Betrachtungen der Politeia einbezogen wird, wie die Anfangsepisode mit Kephalos zeigt (330 d - 331 b). Auch die drei Mythen, die in diesem Dialog erzählt werden, stehen unter dieser Prämisse und dienen der (Bildung zur) Güte und

seine Orientierung an der Wächterpaideia; er mahnt den Aufstieg zur Philosophie an, aber zu vollendeten Philosophen fehlt jeder Hinweis.

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Tugend des Staats. Damit der Mensch seine Güte und damit erst sein Wesen und Menschsein selbst erreichen kann, muß er in diese eingeführt werden, d. h. er steht nicht von selbst und von Natur aus in seiner Güte; die Arete muß durch die Bildung gebildet werden, die den einzigen Weg zur Arete darstellt. Auf diesen Grundzug gehen auch die drei Mythen ein. Die naiSela wird von Piaton als τέχνη behandelt, so daß sie (wie jede τέχνη) einen bestimmten, begrenzten Besorgungsbereich besitzt, nämlich den, die Güte der menschlichen Seele zu bilden. Sie ist die Technik der Bildung des Menschen zu seiner Arete. Um die Tugend herzustellen, bedarf es für Piaton einer langen Zeit - bei Philosophen einer noch längeren als bei Wächtern; die Erziehungskunst nutzt und gebraucht dabei verschiedene andere Techniken und Wissenschaften und bedient sich ihrer zur Erreichung des Ziels. Der Gebrauch von Mythen, Musik und Gymnastik in der Elementarerziehung des Staats vereinigt diese Künste durch ihren gemeinsamen Gebrauch zum Zweck der Aretebildung. Die höheren dianoetischen Wissenschaften sind so auch nur die Vorbereitung zur Dialektik und werden dazu verwendet, während die musische Frühbildung wiederum selbst der dianoetischen Propädeutik dient.94 Im X. Buch gelten deshalb die Techniken, die im Gebrauch bestimmter Techniken und ihrer Werke bestehen, als höchste Künste (601 d - 602 a); das Gebrauchswissen gilt als höchstes Wissen. - Sofern die naifoia. eine τέχνη ist und Anwendung, Wirkungsweise und Werk jedes einzelnen Elementes der Bildung kennt, verbindet sie sie durch einen gemeinsamen, sukzessiv zusammenhängenden Gebrauch zu einer Einheit, womit sie auch ihr eigenes Werk realisiert. Die Güte von Musik und Gymnastik etwa und das Wissen um ihre Wirkungen werden von der Erziehung genutzt, um den Menschen zur Güte zu führen. Dem Ziel und Werk der Bildung als solcher dienen Musik und Gymnastik, wozu diese von ihrer eigenen spezifischen Güte und Wirkungskraft teilweise abzusehen haben; nur für sich genommen ist es die Arete der Gymnastik, den Leib zu bilden, was aber zu einer Vernachlässigung der Seele führen kann. Die παιδία verbindet Musik und Gymnastik und ordnet sie ihrem Werk unter, wobei beide ihr spezifisches Werk nur in einem aus dem Ganzen bestimmten Maß und einer Proportion gemäß dem Schon hier deutet sich an, daß Bildung und Gerechtigkeit als τ^χνα» an die Grenze des Kompetenzmodells der re^yo stoßen. Bei ihnen gilt nicht mehr die Fähigkeit, Konträres zu beherrschen, als Kraft, sondern nur noch die Verwirklichung des Guten. Der Gerechte erkennt zwar Gerechtes und Ungerechtes, aber handeln kann er nur gerecht; dies gilt ähnlich auch für die Bildung. - Wenn in 619 b - e gesagt wird, daß bei den meisten Seelen die Wahl zu einer konträren Umkehr ihres früheren Lebens führt, so steht der Gegensatz hier für eine Kraftlosigkeit, nicht mehr für ein Vermögen wie bei den τεχνα«.

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Ideal der Mitte verwirklichen dürfen, um dem Werk der Bildung insgesamt zu dienen. Was sich hier also andeutet, ist die Möglichkeit von Aretaikonflikten, die Piaton durch den Maßbegriff (als Inbegriff des Existierens einer Ganzheit) löst; die Güte der Gymnastik etwa liegt nicht mehr in deren maximaler Verwirklichung, sondern die maßvolle und dem Ganzen der Bildung harmonisch ein- und untergeordnete Ausübung ist allein zweckmäßig und das Seinsmaß eines Teils im Ganzen bestimmend. Indem die παιδεία ihre spezifische Aufgabe und ihr Werk im Ganzen erfüllt, unterliegt sie zugleich der Definition der Gerechtigkeit in der Politeia-, sie tut nämlich, indem sie die Arete des Menschen herstellt, das Ihrige, womit sie der Wesensbestimmung der Gerechtigkeit genügt. Diese ist eine komplexe Arete, die unmittelbar nur dem Ganzen zukommt, und zwar dann, wenn alle seine Teile ihre spezifische Aufgabe erfüllen; die Teile sind nur mittelbar, in bezug auf ihr Ganzes, in dem sie existieren, gerecht zu nennen. Alle Teile - seien es Stände oder Seelenteile - müssen ihr wesensgemäßes, naturgegebenes Streben zügeln und mäßigen, d. h. man darf nicht nach allen, sondern nur nach guten und notwendigen Lüsten streben; ebenso verhält es sich bei den Ehren, und auch die Philosophen müssen ihre Forschungen zurückstellen. In ihrer Mäßigung finden die Teile die eigentliche Güte, die sich an der Güte des Ganzen bestimmt. Die Arete der Teile wird so zum Maß und findet ihr Optimum in der Mitte, nicht mehr im Maximum; das Gute wird so zum Selektions- und Maßbegriff im Streben der Teile und steht für deren Güte. Analog verhält es sich bei der παιδεία: Damit sie als ganze zu ihrer Güte kommt und das Ihrige tut, wird das Wesen ihrer Teile nicht vollständig verwirklicht, sondern nur in bestimmten Maßen und Hinsichten (531 c/d; 533 b - d); dieses Maß wird zur Arete der Elemente eines Ganzen. Wenn aber die Bildung als ganze das Ihiige tut, dann tun auch ihre Teile das Ihrige: (Wahre) Mythen, eine ausgewogene Übung von Musik und Gymnastik, eine nichtempirische, dialektikbezogene Forschung in den dianoetischen Wissenschaften - alle diese Elemente tun innerhalb des Ganzen der Bildung das Ihrige und verzichten auf die vollständige Verwirklichung aller ihrer Potenzen. Sie realisieren nur ihre besten Möglichkeiten, die vom Endzweck und dessen Wesen aus definiert werden. In jedem Teil besitzt dessen beste Möglichkeit den Primat, ebenso wie im Ganzen das Beste den Primat hat; letzteres bestimmt den Teilen, was in ihnen und für sie je das Ideal darstellt. Indem die Teile ihre Arete zurücknehmen, kann das Ganze zu seiner Arete kommen und durch seinen besten Teil über seine anderen Teile herrschen, denn das Ganze mit seinen Teilen kommt durch die Herrschaft des besten Teils über die anderen erst zu seiner Güte, also als adäquates,

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inneres Relationsgefüge; dadurch entsteht auch die beste Relation der Seele insgesamt zum Staat. Die Definition der Gerechtigkeit als Tun des Seinigen gilt - obwohl sie als vorläufige Bestimmung des Wesens der Gerechtigkeit bezeichnet wird (vgl. 504 - 506) - innerhalb der Politeia für alle Dinge und Sachverhalte, für die Götter, den Kosmos, den Staat, die Stände, die Seele, die Wissenschaften und Künste, den Logos und den Mythos. Alle diese Entitäten tun trotz ihrer Verschiedenheit in ihrem Bereich das Ihrige und erfüllen derart ihre Arete; die Tugend jeder Sache begründet ihre Gerechtigkeit und verwirklicht sich, indem alles das Seinige tut. Selbst auf die Idee des Guten wird diese Definition noch angewandt (508 a - 509 b), indem das αγαθόν jede Arete überhaupt ermöglicht und so selbst das Seinige tut.95 So wie die Gerechtigkeit bei komplexen Dingen deren Arete Das'wyaBävbesitzt keinen Wasgehalt mehr, so daß das Gehalt-lose als reines Relationsbedingendes existiert und das Seinige tut (dazu zählt auch die Ermöglichung des Übergehenkönnens im Sein und zwischen den Wissensformen); eine analoge Funktion hat die χώρα. im Timaios, die - zwischen Sein und Werden stehend - aktiv wie das Gute wirkt. Der reine Relationscharakter des Tuns des Seinigen und des Seiendseins offenbart sich beim Gehalt-losen am deutlichsten. (Die Idee des Guten bedeutet das Ende des unbegrenzten Strebens und der relationalen Tendenzen, weil sie ein inhaltsleeres, identisches Eines ist.) Das wyaßöv ist das Prinzip der Seins- und der Wissenseinheit bzw. der Transformation der Wissensformen; es bedingt das Wissen vom Übergang (und dessen Bedingungen) zwischen den Wissensformen, wobei man den Übergang erst nach dem Übergegangensein erfaßt. - Das Tun des Seinigen faßt jedes Seiende als Selbstrelation (= Wesen), die aus den Relationsbestimmungen gegen alles andere entspringt. Die Einheit aller (spezifischen) Relationen zu allem anderen bestimmt das Selbstsein, gründet aber auch in diesem; das Sein des Selbst geht nicht im Tun auf, d. h. man ist mehr, als man tun kann. Das Tun des Seinigen gegen sich erst erschöpft das Selbstsein (= Gefüge von Selbst- und Außenrelationen, die sich gegenseitig bedingen). Als Tun des Seinigen gefaßt ist das Wesen einer Sache die relationale Einheit aller seiner Relationen, der dynamische Zyklus seiner relationalen Kräfte und Vollzüge insgesamt. Das Pflichtprinzip umfaßt bei Piaton das Sinnliche und das Übersinnliche (anders als später bei Kant oder Fichte, die es auf das sittliche Subjekt in semem überempirischen Wesen einschränken), so daß bei ihm Legalität und Moralität vereinbar sind. Das Tun des Seinigen ist zunächst formal und allgemein, weshalb inhaltliche Bestimmungen nur spezifische Auslegungen darstellen. - Wenn die Sonne als εκγονος des Guten bestimmt und in der Höhle die «τνγγάκια zwischen den Menschen betont wird, so erweist sich, daß Sein und Denken durch die yevr) geprägt werden, d. h. das Sein zeigt sich durch und als spezifischer und gemeinsamer Modus der Herkünftigkeit. - Später besitzt noch der Staatsmann das Relationswissen durch die Kenntnis der Güte des Ganzen (d. h. der Maß- und Proportionsrelationen zwischen den Teilen): Das Weben steht

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durch die Vermittlung der Einzeltugendeni in ihnen herstellt, so stellt auch das αγαθόν die Einheit aller Tugenden und ihren inneren Zusammenhang her. Die spezifischen Tugenden bekommen ihren Ort und ihre Funktion im Ganzen durch die allumfassende und universal gültige Definition der Gerechtigkeit. Erst wenn jede Entität im Ganzen und für es das Ihrige tut, kommt sie zu ihrer spezifischen Arete und zur Tugend der Gerechtigkeit; jede Entität verwirklicht ihre Güte erst dann wirklich, wenn sie der Güte des Ganzen dient. Der Begriff der Arete ist nun auch im Schlußmythos von höchster Bedeutung, weshalb es geboten ist, etwas näher auf diesen Begriff einzugehen.

2) Das Verhältnis von Arete und Seele Die Arete ist die Seiendheit jeder Sache, ihr Wesen, ihr οίκβΓον96; sie stellt in allen Dingen deren δύναμις, ihr spezifisches Werk zu tun, dar und bildet die Existenznorm jeder Entität, ihres Seins, Tuns und Handelns, ihres Gebrauchs und Tätigseins sowie ihrer Behandlung durch anderes. Die Arete ist die wesensbestimmende Bestheit und immanente Tauglichkeit jedes Dings, die sein Sein und seinen Zweck ausmachen. Der Begriff der Arete steht für das (Gut-)Sein jeder Sache, die ihr von Natur aus und/oder durch Zwecksetzung gegeben wird, wobei sie jeder Sache ihre Güte in höherem oder geringerem Grad zuteilen kann. Einige Entitäten - technische Gegenstände, aber auch Naturprodukte - zeigen ihre Tugend im Maß der Erfüllung ihrer zweckbestimmten Brauchbarkeit; komplexer strukturierte Sachverhalte verwirklichen ihre Tugend in der Einigkeit, Ordnung und Harmonie ihrer Elemente.97 Beispiele für letztere sind die menschliche Seele oder der Staat, bei denen verschiedene Teile in einem bestimmten Verhältnis und in einer bestimmten Ordnung zueinander stehen müssen, damit das Ganze sein Wesen erfüllt und zu seiner Aufgabe tauglich wird; in diesen Fällen herrscht zugleich das Bessere über das Schlechtere - etwa die Seele über den Leib oder das λογιστικόν über das αλογον. Der Mensch steht gewissermaßen im Zentrum aller Tugenden; er vermittelt allen Dingen durch seine Vernunft ihre Tugend, die sich aus ihrem Nutzen und ihrer Brauchbarkeit für ihn ableiten läßt (601 d). Jede Sache besitzt ihr spezifisches Wesen, ihren Zweck und ihre besondere Ordnung, in deren

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als königliche Kunst (vgl. Euthydemos) in einem Analogieverhätlnis zu den Ausführungen der Politeia, wo die Philosophen die Gerechtigkeit und das Gute als Ordnungskriterien des und im Ganzen wissen. Vgl. Krämer (1959), S. 51. Vgl. Krämer (1959), S. 56 und S. 119.

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Verwirklichung sie ihr Wesen erlangt, ihre Aufgabe erfüllt und in adäquater Weise tätig ist oder benutzt werden kann. Der Mensch vermittelt allen Dingen durch die Techniken und Wissenschaften das Ihrige und tut damit auch selbst das Seinige, so daß ein αγαθόν auf ihn bezogen notwendig zugleich ein όφβλιμόν darstellt. In 353 d werden Besorgen, Beherrschen und Beraten als Aufgaben der Seele bestimmt, in deren Erfüllung ihre Arete und ihr Werk bestehen. Sie besorgt und beherrscht alle Entitäten und läßt ihnen das Ihre zukommen, wodurch ihr auch ihre eigene Ordnung zuteil wird, da sie nur in der Vereinigung von beidem zu ihrer Tugend gelangt. Die Dinge erreichen so ihre Güte mit der Brauchbarkeit für den Menschen, denn wenn der Mensch selbst gut geordnet ist, dient er der Einheit und Ordnung seines ganzen Wirkungsbereichs. Die Seele ist also sowohl Subjekt als auch Objekt der Tugendvermittlung; ihr Objektbezug ist zugleich durch den Tugendbegriff ein Selbstbezug. Die Vielheit der Tugenden verschiedener Dinge oder der Seelenvermögen erfordert eine hierarchische Ordnung zwischen den Einzelentitäten und ihren Tugenden, wobei die Bedingungen zur Güte des Ganzen den Vorrang besitzen, denn unter ihrem Primat kommt das Ganze und mittelbar auch jeder Teil zu seiner bestmöglichen Existenz. Indem die Seele alles in ihrem Bereich Liegende besorgt, seine Arete fördert und allem das ihm Wesensgemäße zukommen läßt, erfüllt sie zugleich einen Teil ihrer eigenen Güte und besorgt sich selbst; so besorgt die Seele den Leib und sich selbst - wie durch Medizin und Rechtsprechung in 404 d - 408 c - , und nur wenn sie beides tut, tut sie das Ihrige. Als gerechte und gut verfaßte Seele läßt sie sich selbst das Ihrige zukommen und erfüllt im selben Maß die Bedürfnisse der Dinge, die Bedingungen ihrer Entfaltung und wesensspezifischen Existenz. Die Instanz, die den Dingen dabei ihre Tugend vermittelt, ist die Vernunft, durch die die Seele nach der Stufe ihres Wissens alles so, wie es ist, erkennen kann, einhergehend mit seiner Arete und Gesamtordnung, aber sie erkennt damit auch sich selbst und ihre Stellung im Kosmos, ihre Aufgabe, alles zur Harmonie und Güte eines komplexen Ganzen zu führen, d. h. ihren Wirkungsbereich entsprechend der Erkenntnis in das Wesen aller Dinge. Dabei verbindet die Seele Wissen und Handeln: Die Vernunft offenbart das Beste für die Dinge und für die Seele selbst, nämlich die Tugend der Seele und ihres höchsten Vermögens. Die Seele besitzt eine doppelte Arete: Erstens ist sie der Inbegriff des Lebens überhaupt, und diese Tugend ist unzerstörbar, da das eigene Übel sie nicht vernichten kann (608 e - 610 a); zweitens hat sie ihre dreifache, spezifische Arete, die ihr nicht von selbst zukommt, sondern die sie erst aktiv erreichen und sich erarbeiten muß, was nur durch Gerechtigkeit und Wissen möglich ist. Überhaupt zu leben

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und gut zu leben, können bei der Seele auseinanderfallen und in einen Widerspruch geraten, d. h. nur wenn sie lebt und gut lebt, die beste innere Ordnung besitzt, in der das Beste herrscht, ist sie wirklich gerecht und steht in ihrer Tugend.98 Ist dies nicht der Fall, so ist die Seele ungerecht und steht in ihrer κακία, ohne doch durch sie zerstört zu werden. Die Verbindung beider Aspekte wird im Schlußmythos als freie Verbindung durch eine Wahl bestimmt - die Aufgabe, die der Seele stets neu gestellt wird, was in der Forschung oft zu Unrecht als Unfreiheit gedeutet wird. Das gute Leben bildet (als Arete der Seele) einen Sonderfall des allgemeinen eS πράττβιν aller Dinge." Die Politeia bestimmt das eS πράττβιν als τά αυτού πράττβιν, womit die Gerechtigkeit zur Tugend aller Dinge wird; umgekehrt wird die Ungerechtigkeit zum Übel aller Dinge, dem Gegenbegriff zur Arete. Mit dem Begriff der Arete sind die Begriffe Wissen und Technik eng verbunden: Die Techniken fördern, schaffen, erhalten oder gebrauchen die Dinge ihrer Güte entsprechend und wissen dabei um ihre Natur, die Bedingungen ihrer Herstellung und ihren Gebrauch. Die τέχνη teilt dem Gegenstand ihres (begrenzten) Besorgungsbereichs das ihm Zukommende zu und fördert ihn, wobei sie von diesem Bereich Wissen und Erfahrung besitzt. Jede τέχνη weiß, was der Güte von etwas nützt und schadet, wodurch sie die konträren Gegenteile innerhalb eines Besorgungsbereichs beherrscht und umspannt. Sofern sie die Arete einer Sache fördert, ist sie gerecht, sofern sie die κακία, fördert, ungerecht. Die Güte repräsentiert aber sowohl Wesen, Zweck und Natur jeder Sache als auch der sie besorgenden τέχνη, weil es für Entität und τέχνη ein fest bestimmtes Optimum ihrer Wesensverwirklichung gibt (vgl. 332); in der Politeia ζ. B. sind die Wächter fähig, zu hüten und zu stehlen (389 b/c), die Philosophen können die Wahrheit sagen und lügen. Techniken gibt es auf allen Stufen des Wissens.100 Auf der Ebene der εικασία gibt es die mimetischen τέχναι der Künstler, auf der Ebene der In diesem Sinne wäre die Möglichkeit einer reinen Denkseele auch ein Ausblick auf die mögliche Identität von Leben und Gutleben. Diese beiden korrespondieren im Er-Mythos den Vermögen, zu wählen und gut zu wählen, wobei das Leben und die δΰυαμ,ις ungewählte Fakten sind. Vgl. Krämer (1959), S. 51. Für die Hochschätzung der Technik durch Piaton lassen sich folgende Argumente nennen: 1) ihre Lebensweltlichkeit, d. h. ihre allgemeine Bekanntheit, durch die sie ein voraussetzbares Vorwissen für den Philosophen bildet; 2) ihre Universalität, d. h. in allen Bereichen existieren τβχναι und wirken horizontal und vertikal; 3) die Integration des Heterogenen in einer höheren Einheit, d. h. eine Gebrauchstechnik tlberformt eine Herstellungstechnik und gibt dieser ihre Prinzipien; 4) der nichtpropositionale Status technischen Wissens, das in jedem Bereich dem propositionalen Wissen als vorangehend begreifbar ist (etwa beim

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π/στις die handwerklichen τέχναι und auf der Ebene der διάνοια die gebrauchenden τέχναι (601 c - 602 b). Wer eine Sache gebraucht, weiß am meisten von den Bedingungen ihrer Güte, nach der der Herstellende sich richten muß. Der Gebrauch bestimmt die Tugend aller Dinge, so daß es naheliegt, in der Dialektik das Einheitswissen vom Gebrauch aller Dinge und aller τέχναι zu sehen; das universal begleitende Gebrauchswissen ersetzt für Piaton die scheinbar universale Erwerbskunst der Sophisten. Die Einheit der e'tfa) liegt im umfassenden Wissen vom Gebrauch aller Dinge sowie vom Konnex ihres Gebrauchs. Im Staat kennen nur die Philosophen den Gebrauch, Wert und Zweck aller Entitäten und deren inneren Zusammenhang, so daß sie allem den ihm entsprechenden Ort und die ihm entsprechende Aufgabe zuweisen können. Die umfassende Einheit des Gebrauchswissens dient dem Wohl und der Arete des Ganzen und mittelbar auch dessen Teilen, da sie wegen ihrer spezifischen Tugend von Natur aus nur in einem Ganzen stehen können, für das Sorge zu tragen, die besondere Aufgabe der Philosophen im Staat ist. Das jeweilige technische Beherrschen eines Besorgungsbereichs bestimmter Objekte wird vom dialektischen Gebrauchs- und Wesenswissen bezüglich aller Entitäten und τέχναι zu einer geordneten Einheit zusammengefaßt. Das Vermögen des dialektischen Wissens wird durch die dianoetischen Wissenschaften vorbereitet, weil diese nicht mehr nur hinsichtlich ihres eigentümlichen Objektbereichs und Wissensfokus' untersucht werden, sondern auch als eine Vorbereitung auf die Dialektik, wobei ihr Nutzen für diese primär ist. Die Dialektik weiß, was Wissen und Können selbst sind, und besorgt sie hinsichtlich ihrer Einheit und Tugend im Ganzen (vgl. 342 c). Dieser Zug der Dialektik bestätigt auch die frühere Deutung der παιδεία als τέχνη der menschlichen und staatlichen Aretebildung, die sich dazu ihres Wissens von dem Zweck, der Brauchbarkeit und Wirkung ihrer Elemente im zeitlichen Sukzess bedient. Die Bildung ist ein Wissen vom einheitlichen und verbundenen Gebrauch und Wirken bestimmter Techniken und Wissenschaften, gemessen an einem bestimmten Ziel: der Förderung von Wissen und Ordnung in der Seele. Damit dient sie der (Re-)Produktion der Tugend des Menschen, der Stände und des Staats und ist ein Wissen von den Bedingungen der Qualität dieses Bereichs. Die παιίε/'α ist der einzig stabile Weg, die Tugend der Seele und ihrer Teile zu fördern und sie so zu ihrem spezifischen Werk vermögend, d. h. gerecht, zu machen; dieses Wesen der

Dialog oder der Bildung); 5) die Gegebenheit von τewai auf allen Seins- und Wissensstufen in theoretischer, praktischer oder poietischer Form, durch die sie ein universales Seinsverhalten darstellen (in diesem Sinne werden sie auch von Heidegger (1992), §§ 7, 8 und 11 -13 gedeutet).

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παιίε/α legt es nahe, sie im Staat dem Aufgabenbereich der Philosophen zuzuweisen. Die Seele verfugt über ihre Tugend, wenn sie gerecht ist, denn nur dann ist sie fähig, ihre Aufgaben zu erfüllen, die Dinge und sich selbst zu besorgen, zu beherrschen und zu beraten. Ihr naturgemäßes Werk, überhaupt zu leben, erfüllt sie immer, unabhängig von ihrer inneren Ordnung, wie die ewig Verdammten und doch Unsterblichen im Er-Mythos belegen (615 e - 616 a), aber ihr spezifisches Werk hängt von ihrer inneren Ordnung ab. Sofern die Seele in der Politeia als dreiteilig bestimmt wird, besteht ihre beste innere Ordnung in der Herrschaft des besten Teils und der Unterordnung der anderen Teile unter ihn. Die Seele erfüllt ihre Aufgaben, wenn alle ihre Teile das Ihrige tun und so die beste Gesamtordnung gewährleisten; hiermit wird die Analogie zwischen Individuum und Staat über beider Ganzheit hergestellt, d. h. die Definition der Güte über die Ganzheit erfolgt bei beiden Instanzen analog. Die Gerechtigkeit ist deshalb die gegliederte Gesamtarete der Seele, die es ihr ermöglicht, ihr Werk zu tun; das λογισ-πκόν herrscht über das αλογον und besorgt es, aber dieses läßt sich zugleich beherrschen und besorgen. Damit kann die Seele als ganze ihre Aufgaben nach außen hin erfüllen, wobei der Verstand seine Pflichten gegen die anderen Seelenteile und sich selbst erfüllt. Im Staat kommt jeder Stand und jeder Einzelne seiner spezifischen Aufgabe nach und ist damit gerecht - gemessen an der besonderen Ordnung seiner Seele. Egal was ein Einzelner im Staat tun muß, er benötigt ein gewisses Maß an Wissen und Verstand, um seine Seele zu ordnen, was impliziert, daß der zweite und dritte Stand einsehen, daß es das Beste ist, sich im Staat beherrschen zu lassen. Jeder Stand hat in bestimmten Maßen an allen Tugenden und Seelenvermögen teil, auch am Verstand, weil zu jedem Grad von Teilhabe an der Arete Vernunft gehört, um die Arete in irgendeiner Gestalt überhaupt erkennen und erstreben zu können.101 Die Vernunft muß für Piaton bei jedem Streben zum Ordnungsprinzip werden; beim Streben nach Lust oder Ehre ordnet sie dasselbe nur den unteren Wissensformen gemäß, während beim Streben nach Wissen die höchste Wissensform selbst das leitende Ziel darstellt. Die Philosophen besitzen alle Tugenden im Höchstmaß sowie den höchsten Wissensstand, so daß die Philosophie zur dauerhaftesten Art und Weise wird, in der man gut lebt, ohne daß der zweite und dritte Stand deshalb tugendlos und unwissend

So müssen nach Hoffmann (1964), S. 36 f. drei Erkenntnisarten in der Denkkraft unterschieden werden. Dagegen behaupten Graeser (1975), S. 63 f. und Mayr (1962), S. 31 f., nur Philosophen hätten völlig intakte Seelen und wären im eigentlichen Sinne zu einem Intelligenzakt vermögend.

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lebten. Jeder Stand besitzt seine Arete und kann ein Wissen erwerben, das sie sichert; wenn der Philosoph alle Tugenden und das höchste Wissen besitzt, so ist er unter den Menschen der den Göttern ähnlichste, ohne daß die Wächter darum gottfern wären. Die Götter bilden den Inbegriff der Tugend, denn sie verfugen über alle Tugenden im höchsten Maß, sind einfach und unwandelbar, gerecht, gut und lieben die Vernünftigen und Gerechten, ebenso wissen sie alles; diesen Aretebegriff antizipiert der Philosoph unter den Menschen weitgehend. Die Seele liegt als Lebendiges zwar von sich aus vor, aber nicht ihre Güte - anders als bei den Göttern. Die Menschen müssen ihre Arete erst gewinnen, während die Götter immer im Stand vollkommener Tugend sind, was selbst zur Höhe und Fülle ihrer Tugend gehört. Der Schlußmythos führt alle diese Dialogergebnisse zusammen. Wenn die Tugend als herrenlos bestimmt wird (617 e 3), bedeutet das, daß es verschiedene und graduell gestufte Weisen der Arete gibt, so daß alles auf seine Weise und in verschiedenem Grad an ihr teilhaben kann. 102 Jede Sache besitzt ihre Güte und die Bedingungen ihrer Herstellung und Erhaltung; beim Menschen erfolgt dies durch eine freie Wahl. Die Arete existiert in Form der Vielheit verschiedener, untereinander verträglicher Tugenden, in Form einer gegliederten Einheit unter der Gerechtigkeit und in Form absoluter Einheit (Gutheit), die alles überhaupt möglich macht. Sie steht unter keiner höheren Macht, die sie bestimmte; wer sie besitzt, braucht keinen anderen Herrn. Alles Streben richtet sich auf sie, wobei nur das, was man darunter (irrtümlich) versteht, verschieden ist und von der Ordnung und dem Wissensstand der Seele abhängt; die Fähigkeit, die Arete zu erkennen, ist selbst eine solche und ebenfalls herrenlos. Die Tugend geht in keiner Form und in keinem Maß der Teilhabe an ihr auf und erschöpft sich darin nicht, wodurch etwas von ihr ausgeschlossen wäre. Alles kann in dem seinem Wesen entsprechenden Maß an ihr teilhaben, ohne sie einzuholen und zu besitzen; bei der Wahl etwa liegen für alle Seelen gute Muster bereit, und sie können bis zur letzten ein gutes Leben wählen (619 b). Der Mensch wählt seine Tugend frei und kann in ihrer Stabilisierung gottähnlich werden, womit er das Ziel der menschlichen Arete erreicht. Die Ausführungen zum Bildungskonzept der Politeia zeigten bereits, wie sowohl die Wächter- als auch die Philosophenpaideia Damit wird auch die Übereinkunftsthese bezüglich des Wesens des Gerechten vom Anfang des Π. Buchs widerlegt. Der Mensch ist nicht der Herr der Arete, sondern sie ist herrenlos und verleiht allem an ihr Teilhabenden seine Güte und sein Vermögendsein. Die Tugend stammt aus dem göttlichen Bereich, wo die Menschen sie wählen können; man kann ihr aber - wie den Göttern - nur ähnlich werden, nicht gleich.

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zu einer seelischen Ordnung und einem Wissensstand führen, die beide trotz ihrer Verschiedenheit den Menschen ein gutes Leben und eine gute Wahl ermöglichen. Dieser Sachverhalt steht auch unter dem Schlagwort der Herrenlosigkeit der Tugend; denn beide Paideiakonzepte stehen unter einer Einheit. - Bei der Seele und beim Staat als komplexen Gebilden, die aus mehreren Elementen bestehen, liegt die Arete des Ganzen in ihrer harmonischen Einheit; die Ordnung der Teile untereinander ist zentral.103 Tun alle Teile das Ihrige, so gelangt das Ganze zu Einheit und Güte, wozu es notwendig ist, daß die Teile ihr Wesen und Streben nicht vollständig entfalten und ihr spezifisches Gut nicht bedingungslos, sondern in Maßen erstreben. Die Teile müssen um der Güte des Ganzen willen auf die vollständige Realisation ihrer Möglichkeiten verzichten; gerade diese abgemessene Verwirklichung der spezifischen Leistungen der Elemente wird zu ihrer eigentlichen Areteverwirklichung. So dürfen in der Politeia nicht alle Lüste erstrebt werden, sondern nur die guten und unschädlichen; es dürfen nicht alle Ehren gesucht werden, sondern nur die guten und vernünftigen; die Philosophen bemühen sich nicht um jedes Wissen, sondern nur um das dialektische und ihm Dienliches. Im Staat verzichten alle Stände durch ihre eigentümliche Tugend auf das vollständige Erreichen ihrer Objekte und Güter. Alle Stände bleiben unter der umfassenden Realisation und Entfaltung ihrer Fähigkeiten und bedingen so die vollständige Entfaltung der Güte des Ganzen; in der Rückwendung dieses Bezugs auf die Teile wird deren Eigenart als Mäßigung definierbar. An diesem Punkt wird auch ersichtlich, wie Piaton die bereits angesprochenen Tugendkonflikte löst, nämlich durch den Maßgedanken. Das Maß stellt die harmonische Einheit aller Tugenden her, wobei der Verstand die Instanz ist, die ihnen ihr Maß im Ganzen bestimmt und sie 'zusammenmißt' mit Blick auf seine Tugend. Was als Teil die Arete eines Ganzen vorrangig fördert und folglich sein bester Teil ist, soll in ihm das Übergewicht besitzen und ist selbst vor allem zu fördern. Die Herrschaft des besten Teils dient dem Ganzen am besten (vgl. 341 d) und vermittelt jedem Teil (auch sich selbst) das ihm Zukommende. Das Spezifikum des weniger Guten wird entsprechend zur Mäßigung und zur Einsicht, sich beherrschen zu lassen, wobei eben dieses Gefüge von Befehlen und Gehorchen die Tugend eines komplexen Dinges darstellt. Seine Teile stehen in einem bestimmten Proportionsverhältnis zueinander, das die beste Ge-

Vgl. Martens (1996), S. 220 f. Hier wird daraufhingewiesen, daß seelische und staatliche Ordnung bei Piaton nicht mehr naturgegeben vorliegen, sondern vom Menschen hergestellt werden müssen. In diesem Sinne wird auch die Rolle der Philosophie für eine gute Wahl im Schlußmythos interpretiert.

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samtordnung ausmacht. In diesem Sinne ist die Arete selbst als κόσμος und 104 τάξις definierbar ; gerade unter diesen Begriffen tritt sie auch im ErMythos auf (617 d 5; 617 e 3; 618 b 3; 618 c 8; 620 d 8). Die τάξις steht dort für die Ordnung der Seelen untereinander und die Arete für die Güte und Tüchtigkeit jeder einzelnen Seele, ihrer Wahl und ihres Lebens; die τάξις wird bei der Wahl und bei der Befestigung der Wahl eingehalten. Τάξις und κόσμος bedeuten aber allgemein den Zustand der gerechten Seele105: Sie ist gerecht und gut geordnet, wenn ihre Teile im natürlichen Verhältnis von Befehlen und Gehorchen stehen, wenn also das Beste herrscht; d. h. die τάξις steht für die Einheit und Güte einer Entität im Modus von Befehlen und Gehorchen (458 c/d). Κόσμος und τάξις stehen auch für die Ordnung eines relativ Besseren gegenüber einem relativ Schlechteren (560 a/b); im Schlechten bzw. Schlechteren fehlen Ordnung und Notwendigkeit, während im Guten bzw. Besseren τάξις und κόσμος herrschen - sei es in Staat, Seele (577 d) oder überhaupt Vernunftgeleitetem (586 d - 587 b).106 Die Vernunft läßt den Menschen das Bessere dem Schlechteren vorziehen und fügt alles zu einer hierarchisch gegliederten Gesamtordnung (vgl. 618 a - 619 b); das Menschsein ist daher stets mit einer προαίρ€σις verbunden107, was bei der Wahl des Lebens deutlich zur Geltung kommt. Die Gerechtigkeit als Seelenarete (348 c; 353 d/e) ist an die Vernunft gebunden, die die Seele zu ihrem Werk tauglich macht und dieses selbst erfüllt. Sie wird als Machtkonstellation zwischen Teilen (443 b; 444 d108) bestimmt, die ihnen allen gerecht wird (anders als die Gruppendefinitionen im I. Buch), indem das Beste sich selbst und die anderen Teile besorgt und fördert. Jeder Teil erhält seinen Ort und seine proportionale Wesensrealisation im Ganzen, indem er gegen sich, wie auch gegen die anderen Teile, das Seinige tut und in der Folge auch das Seinige erhält. Der Maßgedanke führt zu einer bestimmten inneren Proportion einer Entität, die ihr Wesen und ihre Einheit darstellt, wobei die Vernunft die Teile und das Ganze fördert. Die Vernunft in der Seele sowie

Vgl. Krämer (1959), S. 70 f. und S. 82. - Über die Bedeutung dieser Faktoren in der Zerfallsreihe des VIII. und IX. Buchs der Politeia vgl. ebenda, S. 102, 109 undS. 117. Vgl. Görgemanns (1994), S. 131. In 587 definiert Piaton die Lustdifferenz zwischen gutem und schlechtem Leben durch die Lebenszeit, während die Aretedifferenz unendlich ist - eine Antizipation der Bestimmung des Verhältnisses von Lust und Vernunft im Philebos. Vgl. Krämer (1959), S. 239. In 443 d - 444 a zeigt Piaton sachlich und terminologisch eine ideale Wahl im Sinne des Schlußmythos.

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der erste Stand im Staat erfüllen somit das spezifische Werk der Seele, während die ganze Seele und der ganze Staat das Werk der Seele überhaupt erfüllen. Der Maßgedanke beinhaltet so zwei Komponenten: Neben dem Gefüge von Beherrschen und Beherrschtwerden gilt für jeden Teil das Prinzip der Selbstbeherrschung; nur von außen beherrscht zu werden, kann nicht zu einer dauerhaften seelischen Ordnung führen, denn dazu gehört auch Selbstordnung - und zwar durch den eigenen Verstand und seine Bildung. Jeder Einzelne kann auf seine Art, jeweils durch den Stand seines Wissens, gerecht sein, und dieser Zug von individueller Selbstordnung durch Wissen wird bei der Wahl des Lebens absoluten Vorrang erlangen. Die Teile erhalten ihre Qualität durch den Maßgedanken, denn sie wollen nicht alles in ihrem Bereich Liegende, sondern nur das Beste und Vernünftige (591 e - 592 a), wobei alle diesbezüglichen Intentionen untereinander verträglich sind. Auf diese Weise löst Piaton die Tugendkonflikte, etwa zwischen der Güte des Leibes und der Seele (403 c/d; 407 b/c; 455 b/c), zwischen den Seelenteilen oder zwischen Dichtung und philosophischer Bildung (378 e - 379 a; 387 b; 606 e - 608 b). Wenn die Verwirklichung einer Sache der Entwicklung der anderen, besseren Sache schadet, muß sie auf ein Maß reduziert werden, das mit der Arete des Besseren übereinkommt. Dieselbe und ihre Bedingungen besitzen den relativen Primat vor einer anderen Tugend, zu der sie in Beziehung stehen. So hat die Seele den Primat vor dem Leib, die besseren Seelenteile vor den schlechteren, die Erziehung vor der Dichtung. Die Arete des Vorrangigen definiert das Maß der Verwirklichung des ihr Untergeordneten und des auf sie Bezogenen; damit erfüllt das Herrschende auch seine Aufgabe, für das Ganze und seine Güte zu sorgen. Das Herrschende ist also der Inbegriff des Wissens vom Sein, vom Wesen, Wirken und Zusammenhang der Einzelelemente, die es den Bedingungen der Güte des Ganzen gemäß ordnet. Unter der Herrschaft des Maßgedankens können alle Dinge ihre eigentliche und wahre Bestimmung entwickeln, die sich aus ihrem Ort und Zweck im Ganzen ableitet, nicht aus ihrer isoliert-hermetischen Singularität. Die Auslegung der Gerechtigkeit und Arete als maßgefugter Ordnung und Einheit entspricht der Definition der Ungerechtigkeit und κακία in der Terminologie der Maßlosigkeit und Übermäßigkeit. Allen Begriffen, mit denen Piaton in der Politeia die Ungerechtigkeit umschreibt, kommt der gemeinsame Index der Übermäßigkeit zu, sei es bei der πλεονεξία, der ακολασία, der πολυπραγμοσύνη oder der απληστία in der Verfallsreihe des

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VIII. und IX. Buchs (555 b/c; 562 b; 586 b).109 Überschreitet nur ein Teil des Ganzen sein ihm gesetztes Maß und will mehr oder anderes tun und erhalten als ihm zukommt, so gerät das Ganze aus der Ordnung, weil seine inneren Proportionen gestört sind. Es gerät in Uneinigkeit und Zwietracht (στάσις), so daß weder das Ganze noch seine Teile mehr das Ihrige tun können; Ungerechtigkeit führt also zugleich zum Unvermögendsein (420 e - 421 a). Nur wenn jeder Teil an seiner ihm natürlich zukommenden Aufgabe festhält und sein eigentümliches Gut in Maßen erstrebt, können Stabilität und Güte des Ganzen gewahrt bleiben. In der Verfallsreihe fuhrt das unersättliche Streben nach Ehre, Geld oder Freiheit jeweils zum Umschlag in die nächst schlechtere Staatsform; ein maßvolles Streben führt hingegen zur Stabilisierung des Besseren. - Auch hier tritt der Bezug von Erziehung und menschlicher Bestimmung hervor, denn schon in der Entwicklung der Bildung ist der Maßgedanke von zentraler Bedeutung. Sowohl in der Bildung der menschlichen Güte als auch im Begriff der Güte selbst spielt der Maßgedanke eine entscheidende Rolle. In der παιδεία, und im Gerechtigkeitsbegriff wird er nach dem Ideal der Mitte entfaltet; die Bedeutung dieses Ideals und des mittleren Lebens wurde bereits herausgestellt. Die Mitte bestimmt gegen Güter und Übel die beste Haltung der Seelen. Die Naturstadt etwa kennt weder die größten Güter noch die größten Übel (372 a - d), und erst wenn die Zahl und Größe der Begierden das natürliche Maß überschreiten, beginnt die Stadt zu verfallen (373 b). Die Mitte definiert den Idealzustand zwischen den Extremen von Zuviel und Zuwenig (329 d; 330 b; 474 d; 613 b/c), ζ. B. beim Reichtum der Stadt (421 b - d), ihrer Größe oder Bevölkerungszahl (423 c); die Folge dieses Zustande sind Einheit und Gerechtigkeit, weil die Mitte das Stadium des dauerhaften Ausgleichs von Extremen ist, der als Normzustand einer Entität gilt (583 c). So expliziert Piaton in 571 d - 572 a, vor dem Schlaf sollten der zweite und dritte Seelenteil im mittleren Maß befriedigt werden, also weder übermäßig noch zu wenig, der beste Seelenteil jedoch solle angeregt werden, damit das Beste im Ganzen das Übergewicht erlange. Weiterhin gilt es als ideale Ausbildung, konträre Naturanlagen in eine Mitte zu bringen und darin auszugleichen, wie es auch die Tugenden leisten; überdies spielt in der Verfallsreihe der Begriff der Mitte eine wichtige Rolle. Jede Verfallsform des Staats wird zunächst als Mitte zwischen Besserem und noch Schlechterem definiert, wird aber dann vom Schlechteren her wieder relativ aufgewertet (572 c/d). Der Verlust der

In 444 b gehören zur Ungerechtigkeit auch die spezifischen Untugenden ακολασία., SeiXia und αμαθία, wobei erstere ein Übermaß anzeigt, letztere ein Fehlen oder ein Zuwenig, womit beide das Notwendige verfehlen.

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Mitte bedeutet immer einen weiteren Verfall gegenüber einem Besseren, wobei der Maßgedanke stets mit einem Primat der Vernunft in der Seele verbunden ist; nur Denken und richtige Meinung können Einheit und Maß bewirken (431 c), d. h. Gerechtigkeit begründen. Der Primat des 'άλογον hingegen führt zu Maßlosigkeit und Ungerechtigkeit. Die Rolle des μέτρον und μέσον im Er-Mythos wurde oben schon erwiesen. Hier bleibt nur noch festzuhalten, daß Piaton mit diesem ethischen Grundsatz eine traditionelle griechische Auffassung in seine philosophische Bildung und Ethik integriert hat (330 b). Für die Nichtphilosophen ist dieser Grundsatz ein Bestandteil ihrer Lebensführung und ihres doxischen Wissens, während Philosophen ihn zwar aufnehmen, aber neu fundieren und ableiten. Das Bemühen, Tradiertes und Neues zu vermitteln und zu integrieren, ist ein die gesamte Politeia kennzeichnender Zug.110 In der Erziehung, der Seelenwanderung, der Kosmologie, der Ethik und den Mythen ist diese Absicht Piatons leitend, die er erfüllt, indem er die Pädagogik und die Ethik etwa im Blick auf den Sukzess und Zusammenhang der Wissensstufen entwickelt: Das Tradierte erhält so seine Gültigkeit auf den doxischen Stufen des Wissens und gründet dadurch im neuen philosophischen Wissen, wodurch es sachlich haltbar wird; das philosophische Wissen wird so gleichzeitig erst vorbereitet und läßt sich ohne einen radikalen Bruch mit dem Überlieferten entwickeln. Wenn Piaton seine Ethik oder Pädagogik ohne Verbindung mit der Tradition entworfen und auf eine Vermittlung verzichtet hätte, wäre ihm die Möglichkeit der Akzeptanz und des Wirkens verschlossen geblieben. Eine Ethik (oder Pädagogik) ohne irgendeinen Bezug zum oder Integration des Früheren wäre sinnlos oder bliebe wirkungslos, denn ein Anfang mit einer philosophischen Definition ohne bekannte Vorstufen setzte sich dem Scheitern aus. In den Ausführungen zur naifeia, zeigte sich, daß Piaton die traditionelle griechische Erziehung durch Gymnastik, Musik und Mythen in sein Bildungsprogramm als Wächtererziehung bzw. philosophische Früherziehung auf der Stufe der δόξα aufgenommen hat - und zwar schon im Hinblick auf die Bedingungen des höheren, späteren und grundlegenderen Wissens und Lebens mit seinen Erfordernissen; diese Kontinuität wurde oft hinter der Betonung der Brüche (etwa durch die Homer-Kritik) übersehen. Für die Ethik läßt sich dasselbe zeigen: Piaton integriert frühere Gerechtigkeitsdefinitionen des I. Buchs, die die Tradition widerspiegeln, Dies ist besonders bei der Gyges-Erzählung und dem Autochthonen-Mythos der Fall. Vgl. Moors (1988a), S. 229 und S. 237. - Fauth (1970), S. 1 ff. - Ebenso sind das Motiv der Seelenwanderung, die Kosmologie und die Definition der Gerechtigkeit eng mit der Tradition verbunden. Vgl. Halliwell (1988), S. 167. Vlastos (1968), S. 668.

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in seine philosophische Bestimmung des Wesens der Gerechtigkeit, womit zugleich die Unzulänglichkeit der früheren Thesen als vollständige Definitionen derselben korrigiert wird. Die universale Bestimmung ihres Wesens integriert und legitimiert die früheren Partikulärdefinitionen und stellt sie an ihren Platz, indem sie sie als solche erweist und die Bedingungen, den Bereich und die Hinsicht ihrer Gültigkeit festlegt. Der unzureichende Charakter dieser Definitionen wird aufgehoben, sie werden als früher gelebte Auffassungen vom Gerechten gesichert und in das Neue aufgenommen; dem Schlußmythos wird diesbezüglich die besondere Funktion zukommen, alle im Dialog gegebenen Definitionen abschließend zusammenzuführen und ihre Einheit sinnfällig zu machen.

3) Das Wesen der Gerechtigkeit und der Mythos In 331 c wird die Gerechtigkeit als wahrhafte Rückerstattung definiert 111 : Jedem ist das Schuldige zu leisten (331 e). Diese Bestimmung erweist sich zwar als unzureichend, wird aber später in der Politeia wieder aufgenommen und als ein Fall von gerechtem Handeln in das Wesen der Gerechtigkeit eingebaut (vgl. 506 e - 507 a). Jedem das Seinige zu erstatten und aufrichtig rückzuerstatten, bildet ζ. B. eine unerläßliche Bedingung des διαλέγεσ-θαι und begründet seine Güte und Wahrheitsfindung. So beginnt auch der Er-Mythos mit dem Hinweis auf dieses Prinzip (614 a 5 8). Sokrates fordert von Glaukon das in der Rede Geborgte zurück (612 c 5) und spricht dabei (wie in 331 e 4 f.) von άττόδοσ-ις; nachdem er im Logos das Seinige geleistet, nämlich das Wesen der Gerechtigkeit bestimmt hat (vgl. 363 a - c), werden nun ihre Folgen aufgewiesen - und zwar im Mythos. Die aufrichtige Rückerstattung wird in das Tun des Seinigen einbezogen, wobei der Dialog zugleich (wie alle Dinge) unter diese Definition fällt, ebenso wie unter das Gesetz der Herrenlosigkeit der Tugend, weil es verschiedene gute Logoi gibt, je nach dem Vermögen der Partner. Als aufrichtig Gesinnte können alle Beteiligten im Logos und im Mythos nur gewinnen.112 Der Dialog steht unter der Bedingung der gutwilligen Zur Bedeutung und Herkunft dieser Definition vgl. Diogenes Laertius I, 78, wo sie im Kapitel über Pittakos angeführt wird. Mit dem Lehren und Lernen tun die Partner im Dialog das Ihrige (337 d/e). Wenn die Gerechtigkeit alle Dinge dazu bestimmt, nur ihre guten Möglichkeiten zu verwirklichen und der Logos unter dieses Gesetz fällt, so sind die Sophisten, bei denen die Erwerbskunst den Logos begleitet - die Erwerbskunst kann ja auch alle τέχμα.» begleiten (346 c/d) - , nicht gerecht, d. h. sie tun im Dialog nicht das Ihrige.

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und wahrhaften Rückerstattung von Geliehenem und der Erfüllung von Schuldigkeiten (614 a 7 f.); ebenso wird der Mythos getreu wiedererzählt und muß gutwillig gehört werden. Der Anklang an den Beginn der Politeia ist unverkennbar, denn dort sind die Gutwilligkeit und die Bereitschaft zum Hören und Sichüberzeugenlassen die unerläßliche Bedingung zum Gelingen und zur Möglichkeit jeden Dialogs (327 c; 328 a) wie auch des Mythos. Hören und Hörenwollen (vgl. άκούειν in 327 c; 614 a 8; 614 b 1) zählen zu den Bedingungen des Dialogs und der Erzählung des Mythos. Ohne aufmerksames, wohlgesonnenes Zuhören können Dialog und Mythos das Ihrige weder tun noch bekommen; dementsprechend äußert Glaukon wohl stellvertretend fur alle - den Wunsch, einen Mythos zu hören. Die Bestimmung der Gerechtigkeit als aufrichtige Rückerstattung wird im Er-Mythos sowie in der Lohn- und Strafschilderung aufgegriffen; sie wird hier zu einer notwendigen Folge von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Wer das Seinige tut und getan hat, bekommt es im umfassenden Horizont jenseitiger, kosmischer Gerechtigkeit erstattet. Gerechter und Ungerechter werden im Jenseits ihrem Wesen gemäß beurteilt und behandelt - und zwar nach dem festen Gesetz der zehnfachen Vergeltung jeder Tat (615 a/b). Die Differenz zwischen Sein und Schein der (Un-)Gerechtigkeit (334 a - 335 b; 361 a - d) ist im Er-Mythos aufgehoben, denn das Urteil der Richter (614 c) sieht nur auf die Seele und das Wesen des Menschen, wobei ihr Wissen irrtumsfrei ist; auch in der Wahl verhilft nur wirkliche Gerechtigkeit zu ihrem Gelingen. Lohn und Strafe bilden eine resultative Form der Gerechtigkeit, da sie aus einem (un-)gerechten Leben und Handeln erst folgen, d. h. der Mensch trägt für sie - wie für seine Wahl selbst die Verantwortung. Lohn und besonders Strafe dienen bei Piaton der Erhaltung der Güte (was die Belohnten oft nicht verstehen: vgl. 615 a 3 f.) oder der Besserung des Täters, wie in der Politeia oft hervorgehoben wird (380 a/b; 388 d; 445 a; 591 a/b; Gorgias 525 a - c).113 Der Täter soll durch die Strafe von Ungerechtigkeit und Unwissenheit geheilt werden, so daß sie dem Wohlergehen des Täters und der ιτόλις, nicht der bloßen Vergeltung 114 dient. Sie soll den Täter dazu bringen, kein Unrecht mehr zu verüben und überhaupt einzusehen, daß er Unrecht begangen und sich damit vor allem selbst geschadet hat; den Bösen zu schädigen, macht diesen nur noch schlechter (335 b/c). In diesem Sinne ist die Bestrafung als Besserung auf Einsicht und Vernunft gerichtet, welchem Zweck auch

Vgl. Szlezäk (1976), S. 50. - Görgemanns (1994), S. 70 f. und S. 131. - Apelt (1912), S. 44 und S. 189 f. - Barth (1921), S. 61. - Mackenzie (1981), S. 225 f. Vretska (1958), S. 508. Vgl. Döring (1893), S. 488 f.

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die Einheit und Klarheit ihres Grundprinzips der zehnfachen Vergeltung dienen. Die Strafe bildet daher kein autonomes Gut, sondern ist auf Besserung und Heilung ausgelegt (vgl. 357 b - d), wodurch sie das Ihrige tut und ihr Wesen und ihre Aufgabe, sei es in Staat oder Kosmos, erfüllt. Es gibt aber auch einige Seelen, die von ihrer Ungerechtigkeit und Unwissenheit nicht zu heilen sind und für die das Prinzip der zehnfachen Vergeltung nicht hinreicht (vgl. die Rolle des Arztes im Staat, der die unheilbar Kranken nicht mehr therapieren soll). Den Inbegriff dieser Unheilbaren bildet für Piaton der Tyrann (615 c/d), bei dem αδικία, κακία, άμαθία und κακοδαιμονία im Höchstmaß zusammenfallen, der aber doch das allgemeine Werk der Seele (ζην) erfüllt (615 e - 616 a) und an ihrem spezifischen Übel nicht zugrunde geht (vgl. 353; 609). Die Tyrannen müssen ewig leiden und dienen den Heilbaren nur noch zur Warnung und als abschreckende Beispiele, die sie zur Umkehr bewegen sollen.115 Der Tyrann ist für Piaton der Inbegriff aller Übel, und so tritt er auch im ErMythos auf (615 c - 616 b; 619 a - c); denn er verübt alle Verbrechen bis zu den schlimmsten wie Mord, Verrat, Tempelraub, Diebstahl, Frevel gegen Götter und Eltern oder Inzest. Diese Sünden werden in 615 b/c als schwerwiegendste genannt, die sich gegen den Einzelnen (Mord), den Staat (Verrat) und den Kosmos (Tempelraub) als die großen Wirklichkeitsbereiche richten. In jedem dieser Bereiche gibt es einen höchsten Frevel, wobei nur der Tyrann sie alle vereinigt (443 a 3 ff.; 469 c/d; 552 d 4 ff.; 562 e 7 ff.; 568 d 7 ff.; 569 b 6 f.; 571 c 9 - d 1; 573 c 2 ff.; 574 a - d; 575 b 6 ff.). Diese Frevel, die so schon in der Tradition galten116, machen nochmals deutlich, wie vielschichtig Piaton das Überkommene in sein Denken einbezieht. Der Tyrann als Inbegriff innerer, seelischer und äußerer, an den Folgen gemessener Schlechtigkeit wird im Mythos so aufgegriffen, daß die Einsichten des Dialogs auf die Ebene des Kosmos ausgedehnt werden. Er ist ungerecht, unglücklich, unfrei, hat keine Freunde, keine Ordnung und kein Maß, ist Göttern und Menschen verhaßt, ist schwach und ständig gefährdet und am weitesten von wahrer Lust, Tugend und Güte entfernt. Indem Piaton das im VIII. und IX. Buch belegt,

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Vgl. Adam (1963), Π, S. 439. - Gegen eine ewige Verdammnis wendet sich v. Wilamowitz-Moellendorff(1919), I, S. 410, was aber gegen den Text spricht. Auch Lessing (1996), VII, S. 196 f. deutet anhand des Go/gios-Mythos die Bestrafung der Seelen im Jenseits als ewig. - Der Eintritt und Austritt aus dem Zyklus ist im Er-Mythos irrelevant; die Seelen werden hier nicht vor die Ursprungsfrage gestellt (wie im Phaidros durch die Ideenschau und die Erstgeburt), weil dies die Einheit des Er-Mythos sprengte. Keine Seele will die ursprüngliche Ideennähe verlassen. Vgl. Adam (1963), Π, S. 437.

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werden die Anfangsprämissen der ersten beiden Bücher umgekehrt; der Gerechte ist nicht mehr der Schwache, Leidende und Unglückliche, sondern der Ungerechte ist so zu charakterisieren. Wesen und Lohn des Ungerechten im II. Buch werden zu Wesen und Lohn des Gerechten transformiert, weshalb Sokrates die Bestätigung dieser Wahrheit am Beispiel des Gyges als des vermeintlich starken und glücklichen Tyrannen fordert (vgl. 359 - 360; 612 a/b). Die falschen Meinungen des Anfangs werden korrigiert und in die wahre Ansicht von Glück und Stärke des Gerechten umgekehrt. Nachdem Polemarchos117 das Gespräch von seinem Vater "geerbt" hat (331 d/e) - und damit die mythische Tradition den sokratischen Logos als Erben eingesetzt hat - , womit er das Seinige bekommen hat und tut, modifiziert er die erste Definition der Gerechtigkeit derart, daß es gerecht sei, den Freunden Gutes und den Feinden Schlechtes zuzufügen; dadurch bekomme jeder das ihm Zukommende, so daß ihm das Schuldige geleistet werde. Die Gerechtigkeit wird so zur τέχνη (und zum Wissen), den Freunden zu nützen und den Feinden zu schaden (332 a - d); bei beiden ist eine Unterscheidung hinsichtlich des ihnen Gebührenden zu treffen, was bei der ersten Definition nicht der Fall war. Obwohl sich auch diese Separationsdefinition in der Prüfung als unzulänglich erweist, wird in ihr doch die Gerechtigkeit erstmals als eine Art von Einheit gruppenspezifisch verschiedener Verhaltensweisen erörtert, um zugleich mit Erkenntnis und Einsicht des Gerechten verbunden zu werden. In der ersten Definition wird ein besonderer Typ gerechter Handlungen zum Wesen der Gerechtigkeit erhoben, wobei sie nicht zwischen verschiedenen Zielgruppen des Handelns differenziert. Erst Sokrates1 Prüfung der ersten Definition erzwingt eine gruppenspezifische Modifikation der aufrichtigen Rückerstattung, die sich primär am Seelenzustand und der Seelenordnung des Objekts der gerechten Handlung orientiert (Wahnsinn oder Zurechnungsfähigkeit dessen, dem Waffen zurückerstattet werden sollen: 331 c); es besteht ein Ausnahmefall, in dem diese Definition nicht gilt - aber die wahre Bestimmung der Gerechtigkeit muß in allen Fällen und unter allen Bedingungen gelten. - Beide Definitionen beinhalten im Kern schon die Bestimmung der Gerechtigkeit als Wesensförderung und -Verwirklichung von etwas in einem spezifischen Besorgungsbereich, sind aber auf andere Menschen eingeschränkt und somit nicht universal. Wesensförderung als Da Polemarchos das Zitat des Dichters Simonides in seiner Teilnahme am Gespräch rechtfertigen muß, kann man schließen, daß der Logos erstens die Dichtung dahingehend zu prüfen hat, ob sie das menschliche Handeln ordnen kann; zweitens wird geprüft, ob die Menschen verstanden haben, was sie tun und sagen.

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Gerechtigkeit kann auch bei den Feinden nicht heißen, ihnen zu schaden (335 b - e); jedem kommt für Piaton nur das Gute zu (und dieses kann dann konkret differenziert werden), weil nur das Gute das Wesen einer Sache fördern kann. Piaton wird im folgenden die Definition der Gerechtigkeit auch auf das Nichtmenschliche (Dinge, Tiere, Götter) ausdehnen, wie der Er-Mythos zeigt; was das Menschliche betrifft, wird die Gerechtigkeit nicht mehr nur auf andere Menschen bezogen, sondern auch als Selbstbezug und innere Ordnung gefaßt. Die Gerechtigkeit wird zur universalen τέχνη, jedem das Seinige zu vermitteln und zu erstatten, um darin jeweils selbst das Seinige zu tun. Mit der Einführung einer gruppenspezifisch orientierten Gerechtigkeitsdefinition werden zugleich Vernunft und Erkenntnis in dieses Problemfeld einbezogen. Es besteht eine Irrtumsmöglichkeit darüber, wer (im Einzelfall) jemandes Freund oder Feind ist, weshalb man dem wahren Freund schaden und dem scheinbaren Freund nützen kann. Innerhalb dieser Definition muß ein Wissen existieren, das es jemandem ermöglicht und zwar dem Gerechten, denn der Ungerechte besitzt keine wirklichen Freunde - , in jedem Fall irrtumsfrei sowohl den Freund als auch das ihm Nützliche zu erkennen; dieser Sachverhalt gilt ebenso für die spätere Definition des Thrasymachos (338 c), denn auch in diesem Fall ist für den Stärkeren und Regierenden ein irrtumsfreies Wissen notwendig, mittels dessen er das ihm Zuträgliche erkennen kann. Mit Thrasymachos' Definition ist erst die eigene Seele in die Überlegungen zum Gerechten einbezogen worden. Alle diese Punkte werden in den späteren Ausführungen wieder aufgegriffen und in die endgültige Definition integriert. Obwohl im platonischen Staat keine Feinde mehr existieren und alle einander freund sind, wird die Gerechtigkeit gruppen- und ständespezifisch entfaltet. Für jeden Stand liegt das Gerechte in etwas anderem, weil er sich auf seine Weise zum Ganzen verhält; für die einen ist das Gehorchen gerecht, für die anderen das Befehlen und die Besorgung des Ganzen. Die Philosophen werden diejenigen sein, die das irrtumsfreie Wissen besitzen, das im I. Buch noch fehlt, nämlich die Dialektik, durch die sie allem das Seinige zuteil werden lassen können. Die Herrschaft des Stärkeren, als die Thrasymachos die Gerechtigkeit auffaßt, besteht de facto im platonischen Staat, in dem aber der Stärkere zugleich der Beste ist, der sein Wohl nur im Verbund mit der Güte des Ganzen (mit-)fördert, wie Sokrates es schon im I. Buch wollte (342 c/d).118 Die Philosophen verfügen über das Wissen und die Technik, 118

Eine Gerechtigkeit, die nur im Befehlen oder Gehorchen bestünde, existiert nicht. In jeder Seele gibt es Befehlendes und Gehorchendes; auch die Staatsherrscher

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allem das Seinige zuzuteilen, und im Er-Mythos schließlich übernehmen die Götter die Garantie für das Gerechtigkeitsprinzip. Wissen und Kunst sind die Stärke und das Vermögen des Gerechten, nicht die Bedingungen irrtumsfreier und rücksichtsloser Selbstförderung. Die Gerechtigkeit ist in den verschiedenen Formen des Wissens von ihrem Wesen doch stets ein Wissen und Vermögen, das Ganze auf die jedem Einzelnen eigentümliche Weise zu fördern. Jeder Einzelne wird so auf irgendeine Weise zum Subjekt der Gerechtigkeit seiner selbst und des Ganzen; dieser Zug von 'Individualität' wird im Schlußmythos tragend: Sowohl Lohn und Strafe (als gruppenspezifisch verschiedene Formen der Gerechtigkeit) als auch die Wahl (als Selbstgründung der eigenen Gerechtigkeit) sind völlig vom Einzelnen und seiner immanenten Ordnung abhängig. - Die Gerechtigkeitsdefinitionen, die von einem separierten Gruppennutzen ausgehen - sei es zwischen Freunden oder zwischen Stärkeren der mit dem Ganzen und seinem Wohl nicht übereinkommt, sind unzulänglich.119 Die letzten Konsequenzen dieser Definitionen zieht Piaton in der MeTajSoÄijreihe des VIII. und IX. Buchs. Dort zeigt sich, daß die Einheit des Ganzen mit der Freundschaft zusammenfallt und daß Schädigungen nicht zum Gerechten gehören können; der Gruppennutzen ist in diesen Büchern ein destruktives Prinzip. Der Begriff der Freundschaft wird aber in Piatons Gerechtigkeitsdefinition integriert - wie etwa in der Wächtererziehung (375 c), bei der Legitimität der Lüge, die dem Freund nützt und dem Feind schadet (382 c), bei den Kriegen gegen Barbaren (470 b/c) oder beim Schaden, den der falsche Logos Freunden zufügt (451 a); zuletzt gelten die Gerechten immer wieder als von Gott geliebt und ihm befreundet, die Ungerechten als ihm verhaßt. Freundschaft als Gerechtigkeit (vgl. 351 d/e) wird als Einheit und Gleichheit zur Bedingung des gerechten Staats, während Feindschaft nur noch nach außen möglich ist. (An solchen Ausführungen wird ersichtlich, daß die Gerechtigkeit für Piaton zumindest im selben Maße ein ontologisches, Essenzund Existenzbedingungen verbindendes wie auch ein axiologisches Prinzip ist.) Auch im platonischen Staat leistet jeder das Seinige, wenn er Freunden nützt und Feinden schadet; dort gelten aber feste Bereichsgrenzen für Freundschaft und Feindschaft, nämlich Innen und Außen, über die ein Irrtum unmöglich ist.

müssen sich selbst gehorchen. Die vielen verschiedenen Definitionen der Gerechtigkeit fallen zugunsten einer einzigen fort, die in verschiedenen Gestalten im Hinblick auf das Ganze auszulegen ist. Der Autochthonen-Mythos begründet deshalb auch gleichzeitig eine Freundschaft der Bürger untereinander und ihre Liebe zum ganzen Staat.

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Aus dem Bisherigen ist deutlich zu ersehen, wie Piaton die tradierten Ansichten zur Gerechtigkeit in seine neue, philosophische Auslegung derselben integriert und sie mit dieser vereinbar macht. 120 Sowohl Polemarchos als auch Thrasymachos geben weitverbreitete, gängige Meinungen zum Wesen des Gerechten wieder. Wenn ihre Aussagen als allgemeingültige unhaltbar, als partikuläre, fallspezifische Bestimmungen innerhalb der umfassenden Definition aber haltbar sind, so macht Piaton zugleich seinen ορος akzeptabler und verständlicher, indem er ihn in einem kontinuierlichen Fortschritt aus dem Tradierten ableitet. Das Gegebene bildet den natürlichen und notwendigen Ausgangspunkt auf dem Weg zu einer philosophischen Letztbegründung des Gerechten - und nicht nur bei diesem. Im Rückgang von der philosophisch fundierten Wesenserfassung erscheinen die Ausgangspunkte als ungenaue Vorstellungen, die im Kern schon auf dem richtigen Weg sind, aber nicht gehörig durchdacht waren. Nur wenn Sokrates das Tradierte mit dem Neuen verbindet und vom ersten ausgehend das zweite nachvollziehbar entwickelt, kann er alle Menschen erreichen, auf ihre Akzeptanz hoffen und seinen Staat verwirklichen. Der Konnex zwischen den Ansichten und Einsichten wird somit deutlich, und selbst im Philosophenstaat bleibt die Ehrung der Tradition und der tradierten Tugendhaftigkeit als Band zwischen den Philosophen und Nichtphilosophen aufrechterhalten (vgl. dazu auch den VII. Brief (325 d)). Ob das immer so sein muß, mag offenbleiben; bei der Stadtgründung aber sowie in ihrer Anfangszeit ist die Ehrung der Tradition notwendig und bildet für den jungen Dialektiker ein Gegengewicht zur Allmacht der Dialektik mit ihren Gefahren (537 e - 539 d). Der Ausgang vom Bekannten und Vertrauten hin zum philosophischen Grund bildet den prägenden Zug der Gerechtigkeitserörterung in der Politeia und findet seinen Ausdruck auch im Höhlengleichnis. Piaton entwickelt die Bestimmung der Gerechtigkeit als Tun des Seinigen 121 entlang den Stufen des Wissens, wie sie das Linien- und Höhlengleichnis im Sukzess darstellen, wobei die 'Schatten' der Gerechtigkeit das Bekannte, VerIn diesem Sinne ließe sich auch die latente Koexistenz von Poly- und Monotheismus deuten, die ebenfalls der möglichen Akzeptanz der platonischen Ausführungen durch Verfechter der Tradition dienen könnte. - Die Verbindbarkeit des Alten mit dem Neuen macht das Alte, Vorläufige zugleich zur Entwicklungsgeschichte und Genese des Neuen, das somit rückftmdiert wird, d. h. das Neue lag ursprünglich schon im Alten. Die Mythen dienen dieser Konstruktion, wobei sie eine geschichtliche Kontinuität aufbauen. Vgl. Charmides 162 c und 164 d. - Gorgias 526 c. - Timaios 72 a. - Im Euthyphron gilt die Pflege der Götter als Gerechtigkeit im Teilbereich der Frömmigkeit.

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traute und Tradierte sind, von dem Piaton ausgeht und fortschreitet. In 369 b - 370 c entwirft er das Entstehen der Naturstadt und nimmt dabei die somatisch-physischen Bedürfnisse der Menschen als Ursprung an. Ihre beste und stabilste Organisation und Erfüllung entstehen durch die Arbeitsteilung; die Handwerker üben je nur ein Handwerk aus, für das sie von Natur aus geeignet sind, so daß alle insgesamt die Bedürfnisse der Stadt befriedigen. Das Prinzip der Arbeitsteilung ist ein allen Menschen bekannter Sachverhalt, dessen Geltung sie im Alltag ständig erfahren können, und genau unter diesem Prinzip führt Piaton seine spätere Definition der Gerechtigkeit zum ersten Mal ein, denn Arbeitsteilung ist nichts anderes als eine Anwendungsform des Gerechtigkeitsprinzips. Wenn jeder nur ein Handwerk ausübt und so allen alles zuteil wird, so tut jeder nur eines und das Seinige. Dabei ist das Prinzip der Arbeitsteilung noch keine explizit ethische und auf Tugenden bezogene Anwendung des Gerechten; die Tugenden werden erst im Wächterstaat wirklich eingeführt. Die Arbeitsteilung wird dann v. a. ein Ordnungsprinzip des dritten Standes sein; Herrschaft und Bewachung sind zwar auch spezifische Aufgaben, aber sie beziehen sich nur auf das Ganze als solches. Der Grundsatz der Arbeitsteilung ist das 'Schattenbild' der Gerechtigkeit (443 c). Nicht im luftleeren Raum, sondern im Ausgang von etwas Bekanntem und relativ leicht Verständlichem prüft Piaton das Wesen der Gerechtigkeit, so daß seine Hörer Sokrates beim Aufstieg zum Wissen folgen können. Ohne die Kontinuität des Weges wäre die Schlußbestimmung isoliert und der Allgemeinheit nicht zu vermitteln; auch nach dem vollendeten Aufstieg behalten die Zwischenstufen ihre Geltung.122 Die spätere Auslegung des Gerechten als Tun des Seinigen tritt zuerst in der Erörterung des Wächterstaats auf (433 b) - nämlich im Rückgriff auf den Gedanken der Arbeitsteilung (433 a). Die Definition erfolgt somit noch auf der doxischen Ebene und ist daher auch nicht völlig genau (435 d). In 504 b - 505 b wird dies aufgegriffen: Zur vollständigen Bestimmung der Gerechtigkeit muß analysiert werden, inwiefern die Gerechtigkeit gut ist und alles, was an ihr teilhat, gut macht. Der Gerechte ist so letztlich nur mit der Idee des Guten zu fassen; Glaukon ist aber mit dem früher Geleisteten schon zufrieden, ja die Definition als Tun des Seinigen ist für den Staat hinreichend, weil er auch unter der Herrschaft der Philosophen noch ein 'Höhlenstaat' bleibt. Der Er-Mythos hat die Funktion, die ethischen Grundeinsichten der Politeia zusammenzuführen, was für die Bildung schon nachgewiesen

Andernfalls wäre die Volldefinition der Gerechtigkeit nur eine weitere Definition neben anderen.

Der Schlußmythos in seiner Funktion für die Ethik der Politeia

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wurde. Wegen der räumlichen Beschränkung sei das diesbezüglich Wesentliche hier kurz wiedergegeben: 1) Piaton verbindet im Mythos Tradiertes und Neues dichter als sonst irgendwo. Dazu bedient er sich des bekannten mythischen Personals und der vergangenheitsbezogenen 123 Zeitstruktur des Mythos. Im Mythos wird die Gerechtigkeit zu einer kosmischen Potenz erhoben, die ihre Rolle für den Einzelnen und den Staat stützt und gründet. Alle Figuren und Dinge im Mythos tun nur eines und das Ihrige, seien es die Richter, die feurigen Männer, die Orte im Mythos (Schlund, Tartaros), Ananke, die Moiren, die Sirenen, das Feld der Vergessenheit, der Prophet, die Dämonen, der Fluß Ameles, das Licht oder der Kosmos. 124 Jedes Element im Mythos besitzt eine bestimmte Aufgabe, Funktion und Tauglichkeit, die es permanent und ohne Schwächen erfüllt. Das Wesen der Arete als Tun des Seinigen wird im Mythos auf alle Dinge ausgedehnt, was die wandernden Seelen erkennen sollen. Die Seelen sind Bestandteile der kosmischen Ordnung, in der sie das Ihrige erhalten, aber auch tun sollen; gleichzeitig bestimmt Piaton so die Gerechtigkeit unter jeder möglichen Bedingung und in jeder Hinsicht, denn sie ist für die Teile von etwas und für das Ganze, für den Einzelnen und das Kollektiv, für Krieg und Frieden, in ihrem Wesen und ihren Folgen und im Mythos noch für Diesseits und Jenseits definiert. Dabei werden die Tradition und das philosophisch begründete Neue integriert. Für Maßethik, mittleres Leben, Lohn und Strafe sowie Sünden wurde dies schon nachgewiesen, aber der Bezug zur Vergangenheit erstreckt sich noch weiter. In der mythischen Klammer der Politeia vereint Piaton die natürliche Sittlichkeit und Frömmigkeit etwa eines Kephalos mit seiner neuen Bildung und Ethik, so daß auch Kephalos' Tugend an der herrenlosen Tugend teilhat. 125 Um das Alte in das Neue zu integrieren, Die Wächter ζ. B. fuhren ein auf die Vergangenheit bezogenes Leben, was im Mythos durch den Lachesisprimat repräsentiert wird. Bei den Moiren etwa oder den Sirenen ist auch zu erkennen, daß Piaton alle Definitionen der Gerechtigkeit zusammenzieht. Man kann ihre Tätigkeit nach dem Prinzip der Arbeitsteilung verstehen, unter dem sie den Kosmos besorgen, aber auch auf der höheren Ebene als Tun des Seinigen. (Mit der Jungfräulichkeit der Moiren und Sirenen grenzt Piaton sie und den Mythos symbolisch von der μίμ-ησις ab, die er als Hetäre umschreibt.) — Wenn Koller (1988), S. 288 behauptet, es sei unmöglich, die Sphärenharmonie durch die Sirenen bildlich auszudrücken, weil jede Sirene einen Ton der Tonleiter singen soll, was aber keine Harmonie sei, so verfehlt dies den platonischen Text. - Die Dämonen können auch als dem Sokratischen δαιμόνων entsprechend begriffen werden: Es bildet den guten Dämon des Sokrates, der die Einheit seines βίος wahrt. Zum Bezug der Kephalosepisode zum Schlußmythos vgl. Kakridis (1948), S. 35 ff. - Raeder (1905), S. 199. - Schilling (1948), S. 114. - Else (1973), S. 66. - v.

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Die platonische Philosophie des Mythos

greift der Mythos in mannigfacher Weise Vergangenes auf, das er zu seinen Zwecken ändert - so bei der Seelenwanderung, der dichterischen Tradition (Heroen, κατάβασ-ις), dem sprachlichen Stil des Mythos126, dem Gesang der Sirenen und Moiren127 sowie bei der Kosmologie128 des ErMythos. Eine Vermittlung von Tradiertem und Neuem erleichtert dessen Akzeptanz, welchem Zweck der Mythos dient. Die Götter wollen eine Verbindung von alter und neuer Erziehung sowie von alter und neuer Tugend; dabei wird der Mythos als Ausdruck und Medium dieser göttlichen Botschaft dargestellt. 2) Die Unzerstörbarkeit der Seele, die ihr allgemeines'epyovimmer erfüllt, wird nach dem dazugehörigen Beweis (609 a - d) im Mythos exemplifiziert: Selbst die Tyrannenseelen sind unsterblich (615d-616a). 3) Der Mythos zeigt, daß der Gerechte am glücklichsten ist, belohnt wird, von den Göttern geliebt wird und sich durch seine Vernunft selbst in Ordnung erhalten kann; der Tyrann steht für das genaue Gegenteil.129 4) Im Mythos werden Sein und Schein der Gerechtigkeit (vgl. 505 d) endgültig vermittelt. Nur durch die Gerechtigkeit kann man gut sein und gut leben. Ein Streben, das das Gute ohne das Gerechte sucht und will, ist verfehlt und irrtümlich. 5) Wesen und Folgen130 der Gerechtigkeit werden der Wahrheit gemäß wieder verbunden, nachdem Sokrates im Dialog ihr Wesen bestimmt hat.

Wilamowitz-Moellendorff (1919), I, S. 443 und Π, S. 181. - Friedländer (1960), S. 113. - Vretska (1958), S. 28. - Brumbaugh (1954), S. 167. - Schiller (1934), S. 339 f. - Schubert (1995), S. 170. - Apelt (1920), S. XVII f. und S. 431. Vgl. Adam (1963), Π, S. 454. - Willi (1925), S. 55 f. - Halliwell (1988), S. 183 f. undS. 187. Frank (1923), S. 4 - 9 bemerkt, daß die griechische Musik ursprünglich eine homophone (diatonische) Vokalmusik war und erst mit Euripides die Chromatik auftauchte; der Gesang der Moiren und insbesondere der Sirenen bildet ein Exempel dieser ursprünglichen homophonen Vokalmusik. Piaton verarbeitet in dieser Hinsicht in hohem Maße wissenschaftliche Fakten und oftmals gerade die neuesten Entdeckungen. Vgl. Ferguson (1950/51), S. 19. Frank (1923), S. 28 und S. 88. - Reinhardt (1927), S. 108. - Müller (1986), S. 114 f. - Schilling (1948), S. 167. - Görgemanns (1994), S. 71. - Halliwell (1988), S. 177. - Brumbaugh (1961), S. 522. - Zur Astronomie vgl. Lisi (1991), S. 97 1 1 1 . - Piaton bettet die wissenschaftlichen Neuerungen aber im Mythos in eine archaische, rückwärtsgewandte Darstellung ein, in der auf Namen und eine genaue Ausftlhrung verzichtet wird. Vgl. zur tausendfachen Differenz zwischen Vernunft- und Lustleben Philebos 66 a - 67 a. Hier ergibt sich durch die Zahlensymbolik eine Verbindung zur Dauer der Jenseitswanderung im Mythos.

Der Schloßmythos in seiner Funktion für die Ethik der Politeia

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Der Er-Mythos zeigt den individuellen, selbstverantwortlichen Folgezusammenhang von Gerechtigkeit und Lohn, die im Bereich des Göttlichen neu verbunden werden, während das Jenseits früher nur hinsichtlich der Folgen bedacht wurde, wie bei Kephalos. 6) Der Mythos verdeutlicht den Grundzug des Ungerechten und Unvernünftigen als Maßlosigkeit und Übermäßigkeit eines Strebens, wie besonders bei der Wahl noch deutlich werden wird. 7) Im Motiv der Schicksalswahl erweist Piaton die Arete der Seele als etwas nur frei zu Erlangendes, anders etwa als bei den Tugenden von Dingen in technischen Besorgungsbereichen; der Mensch kann sich selbst sein Eigenwesen nur durch eine freie Entscheidung vermitteln. In den spezifischen Bereichen der τεχναι kann er deren Objekte fördern oder schlechter machen, aber nur im ersten Fall besitzen die Techniken selbst ihre höchste Vollkommenheit, denn ihre eigentümliche Aufgabe ist allein die Förderung ihrer jeweiligen Gegenstände; die τέχναι sind aber zugleich ein Ausdruck des besonderen Werks der Seele: Nur wenn der Mensch die Dinge fördert, tut er das Seinige und ist selbst gerecht.131 Der natur- und wesensgemäße Gebrauch der τεχναι ist nur ein äußerer Ausdruck der menschlichen Gerechtigkeit selbst, der nicht der einzige und nicht umkehrbar ist, d. h. der Mensch ist nicht nur dann gerecht, wenn er die Dinge fördert und besorgt. Die Gerechtigkeit des Menschen besteht in seiner inneren Seelenordnung und drückt sich dann erst in seinem Handeln und dessen Einheit aus. Die Gerechtigkeit als Arete des Menschen wird als τά άυτόυ ·ηραττ€Ϊν und damit als ei> πραττεΐν definiert, zunächst im Sinne eines genau abgemessenen inneren Wirkungsgefiiges und Kräfteverhältnisses in der Seele, das sich erst mittelbar in einzelnen Handlungen und ihrem Konnex äußert. Nur eine gerechte Seele ist dazu fähig, nach außen hin gut zu handeln, weil ihre inneren Vermögen in der besten Ordnung zueinander stehen; nur bei ihr entsteht nämlich ein dauerhafter Folgezusammenhang von innerer Einheit und Einheit der nach außen (auf Dinge) gerichteten Einzelhandlungen. Durch die Gerechtigkeit erlangt die Noch Kant untersucht die Zulässigkeit sinnlicher religiöser Triebfedern (Jenseitsstrafen) für das Handeln und grenzt sie von einer reinen Vernunftmoral als Motiv ab (vgl. Kritik der reinen Vernunft (B 839) vs. Kritik der praktischen Vernunft). Das Tugendwissen verbindet das Wissen vom Sein der Ideen und vom Sein der Seele. Die reine Theorie ist für Piaton eine Art teleologisches Seinswissen (Wofür ist X als so und so Seiendes gut und nützlich?'). Das Übel existiert v. a. als falsches Relationswissen, etwa bezüglich der Seelenteile untereinander, während bei den Ideen und dem Wissen von ihnen die Relation und das Maß das Identische darstellen; dabei unterscheidet Piaton notwendige, identisch bleibende von zufälligen Relationen, ζ. B. dem Wahnsinnigwerden des Freundes.

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Die platonische Philosophie des Mythos

Seele ihre Güte und erfüllt dadurch ihr Wesensgesetz, indem sie alle Tugenden zur geordneten, abgemessenen und vernünftigen Einheit bringt, d. h. zur Einheit der Arete selbst. Das Ganze steht in seiner Güte und seinem Wesen, weil seine Teile nur eines und das Ihrige tun. - Das Wesen der Gerechtigkeit zeigt Piaton im Mythos, indem er ihre Qualität sowie ihren Nutzen bei der zentralen Handlung der freien Schicksalswahl betont. Die Güte der Wahl spiegelt das Sein der Gerechtigkeit in der Seele wider, denn nur in ihr ist die Gerechtigkeit das, was sie als sie selbst ist; in der Seele gelangt das Gerechte erst an seinen οικείος τόπος (366 e). Die Gerechtigkeit macht die Seele zur Wahl tauglich. Die Erörterung des Motivs der Lebenswahl, das allein im Schlußmythos präsent ist, erweist sich deshalb bei der Darstellung der Funktion dieses Mythos für die Ethik der Politeia als von zentraler Bedeutung, weshalb es im folgenden knapp untersucht werden soll.

G Die Wahl des Schicksals im Er-Mythos

Die Wahl des Lebensloses im Schlußmythos der Politeia und ihre Deutung stehen in der Forschung immer im Mittelpunkt des Interesses an diesem Mythos132, wohingegen seine Funktion im Dialog kaum erwogen, geschweige denn untersucht wird. Die Wahl gilt als Kern des Mythos, und ob in ihr erstmalig in der griechischen Philosophie der Gedanke der (Willensfreiheit 133 antizipiert wird, ist umstritten und steht im Zentrum der Diskussion. Sie soll eine Ahnung von etwas völlig Neuem sein, das sich im Er-Mythos noch mit allen Unklarheiten verwoben Bahn bricht. In der Tat läßt sich das Wahlmotiv so deuten, aber es ist nicht von seinem Kontext im Mythos und seiner Bindung an den Dialog zu isolieren.134 So noch bei Droz (1992), S. 134 - 146. Der Text wird nur ab 617 d abgedruckt, wobei nur die Wahl inhaltlich kurz referiert und untersucht wird (S. 142 - 146). Vgl. auchNeto (1991), S. 57-61. Zum Willensbegriff in der Antike vgl. Dihle (1985), zu Piaton v. a. S. 64 f. und zum Neuplatonismus v. a. S. 82 f. und S. 126 - 130. Für Stenzel (1928a) zeigt der mythische Kontext, daß die wesentlichen Probleme der Willensfreiheit umgangen werden (S. 294), obwohl an dieser Frage das Eigentümliche des griechischen Denkens am schärfsten hervortrete (S. 295). Nur ein kleiner Teil des Naturverlaufs, das Affektleben, werde unter dem Gesichtspunkt der Freiheit betrachtet, denn die Erkenntnis des Guten hebe sie auf (S. 296), unter der von vornherein das Bessere vorgezogen werde (S. 301). Der Er-Mythos symbolisiere nur die Bedeutung des irdischen, aktuellen Lebens und die Beziehung jeder einzelnen Handlung auf die Ganzheit einer Person und der Welt überhaupt; die ganzheitliche Willenswahrheit stehe über den einzelnen

Die Wahl des Schicksals im Er-Mythos

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Piaton stellt die Wahl im Rahmen eines sehr vorsichtigen Vorgehens in einen tradierten mythischen Kontext, und sie bleibt an die Ausführungen zur Bildung, zur Psychologie und zum Staat gebunden und ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Im folgenden gilt es, den mythischen Kontext des Motivs der Wahl darzustellen und zu sehen, was Piaton damit bewirken will und inwieweit von einer Wahlfreiheit die Rede sein kann. Viele Details, die bei einer Analyse des Mythos als eines geschlossenen Textes wichtig und interessant wären, müssen im Rahmen der Themenstellung ungenannt bleiben. Im Er-Mythos wird der Mensch nicht mehr wie in der tragisch-epischen Tradition von den Göttern bestimmt. Eben die Götter, die in der Tradition den Menschen ein Lebenslos zuteilten, Ananke135 und Moira, sind dieser Funktion enthoben. Die Moiren standen in der griechischen Tradition noch über den olympischen Göttern und bestimmten das Schicksal der Sterblichen von Geburt an. Im Er-Mythos hüten sie nur noch die Einheit des Kosmos, seine Gesetze und die Rahmenbedingungen der freien Wahl (617 c 5 ff.; 620 e); die Freiheit ist in das kosmische Gesetz integriert und wird von den Moiren bloß gehütet. (Das Losen, die begrenzte Zahl der Muster, der Trinkzwang, die fehlende Wahl der Wahl oder die Zufalle schränken die Wahlfreiheit nicht ein.) Die periodischen Bewegungen des Kosmos und der menschlichen Existenz werden zugleich von den Moiren verwaltet, die bei Piaton erstmalig mit den Zeitstufen verbunden werden.136 Dabei ist Ananke für den Makrokosmos (616 c; 617 b), ihre Töchter sind für den Mikrokosmos zuständig (617 b - d), wobei Lachesis als Älteste den Vorrang besitzt und über ihren Propheten Kontakt zu den Menschen herstellt und ihre Wahl regelt (sie bietet die Lebensmuster an: 617 d). Ananke hütet mit ihren Töchtern nur noch ein vorgegebenes Gesetz und seine Vollstreckung, dem sie auch selbst unterworfen sind. In der Ordnung des Kosmos hat die Wahl einen festen Platz und eine notwendige willkürlichen Taten und Akten bzw. den Restriktionen der Notwendigkeit (S. 309 - 311). Nur der Mythos, nicht die Theorie, komme dem Kern des Problems von empirischem Charakter, intelligibler Freiheit und menschlichem Willen andeutungsweise näher (S. 312). - Indem Stenzel die fragliche Debatte, in teilweiser Abgrenzung von den Neukantianern (grundlegende Bedeutung des Praktischen bei Piaton trotz Intellektualismus des Willens), im Kontext seiner Zeit anstößt, isoliert er den Mythos zugleich vom Logos und restringiert seine Erkenntnisfähigkeit: Der Mythos exponiert dunkel und vorläufig etwas immer schon Zentrales, aber dennoch erst neu Entdecktes, das trotzdem nie deutlicher zu fassen sein soll. Zu Ananke und ihrer Tradition vgl. Schreckenberg (1964). - Gundel (1914). Eitrem (1932), Sp. 2449 - 2497. Zur Rolle der Zeit vgl. Dicks (1970), S. 123. - Cassirer (1925), S. 141 ff.

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Die platonische Philosophie des Mythos

Funktion; hierbei steht die Wahlfreiheit im höchstmöglichen Kontrast zur mechanischen Gesetzmäßigkeit, mit der der Kosmos bewegt wird. Die Seelen sind also frei, ob sie wollen oder nicht, und das Gesetz der Notwendigkeit fällt formal mit der Freiheit der sittlichen Wahl zusammen; alle Seelen sind frei zum Guten und werden bei der Wahl gleich behandelt. Lachesis' Hände bewegen den Kosmos und spinnen das Schicksal an den Menschen fest (617 c/d; 620 d/e), so daß eine fundamentale Beziehung zwischen Kosmos und menschlichem Leben statuiert wird.137 Vor der Wahl haben die Seelen Gelegenheit, den Zusammenhang zwischen dem bestirnten Himmel über ihnen und dem moralischen Gesetz in ihnen zu erkennen; Piaton deutet aber im Mythos noch einen Bereich an, der jenseits der Herrschaft der Ananke steht. Das Gebiet Anankes138 wird von einer Lichtsäule zusammengehalten und begrenzt (616 b/c), die nicht in ihrer Macht steht. Jenseits des Lichts mag es einen Bereich geben, in dem die Seele eingestaltig ist, so daß sich auch das Fehlen von wählenden Philosophen im Mythos oder von Ideen erklären ließe. Die Aussagen des Mythos gelten für den Bereich der Ananke und sind in diesem Sinne zu deuten. Die dreiteilige Seele139, die Seelenwanderung140 und die Wahl des Ein unmittelbarer Kontakt zwischen Menschen und Göttern fehlt im Mythos. Den Menschen wird die Rede der Lachesis durch ihren Propheten vermittelt (617 d/e), und sie haben sonst nur Kontakt zu ihren Dämonen (617 e; 620 d/e). Die Götter stehen über dem menschlichen Logos, weil im Propheten eine Instanz existiert, die den Menschen das göttliche Wissen in ihre Sprache übersetzt - ob mit einem Verlust an Tiefe und Gehalt, bleibt offen; alle Seelen verstehen aber ganz selbstverständlich die griechische Sprache, selbst der Barbar Er. Ananke repräsentiert ein durch das Wissen um die (Bedingungen der) Tugend und Güte des Ganzen vermitteltes Wissen um die nicht völlig idealen Mittel zur Erreichung und Erhaltung dieses Ziels und der (untergeordneten) Ordnung der Teile. Für folgende Forscher hat Piaton in der Politeia nur eine dreiteilige Seelenstruktur entwickelt: Vgl. Gundert (1971), S. 90. - Szlezak (1976), S. 41 f. und 52 f. - Robinson (1967), S. 147 ff. - Jaeger (1923), S. 48 f. - Barth (1921), S. 119. - Windelband (1920), S. 128 f. und S. 134. - Pohlenz (1955), S. 99. - Eine reine Denkseele könnte Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit rein erkennen und hätte zwischen Wissen und Handeln keine Differenz mehr zu überbrücken, so daß sie nur gerecht handeln könnte - wenn sie überhaupt noch handelt. Zum Gedanken und zur Bedeutung der Seelenwanderung im Er-Mythos und bei Piaton generell vgl. Adam (1963), Π, S. 456. - Huber (1964), S. 252 f. - Thomas (1938), S. 71 und S. 123 f. - Stenzel (1928a), S. 311. - Friedländer (1954), S. 195. - Hommel (1960), S. 298 f. - Rohde (1980), S. 273 ff. - Findlay (1978), S. 23 und S. 28. - Halliwell (1988), S. 189 und S. 193. - Hirsch (1971), S. 322 f. Ferguson (1950/51), S. 6 und S. 32. - v. Wilamowitz-Moellendorff (1919), I, S. 410. - Alt (1983), S. 16. - Annas (1982), S. 130 f. und S. 136. - Biesterfeld

Die Wahl des Schicksals im Er-Mythos

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Lebens stehen unter dem Gesetz der Notwendigkeit und gehören diesem Bereich an, ebenso wie der entworfene Staat. Es liegt nahe zu vermuten, daß die genannten Motive eine Funktion für den Staat und für die Bildung in ihm haben und deren Erfordernissen dienen, also nicht isoliert zu diskutieren sind. Die Seele ist im Schlußmythos gegenüber der Tradition von einem Objekt zum Subjekt der Wahl geworden, was die Seelen auch wissen sollen; deshalb redet der Prophet zu ihnen. Die diesseitigen Seelen sollen all das durch den Boten Er erfahren und sich im Diesseits schon auf die auf sie zukommende Wahl vorbereiten, wozu auch die Bildung und der Staat ihren Beitrag leisten, indem sie das gesamte Leben der Menschen erfassen. So wie das ganze Leben der Wahlvorbereitung dient (welcher Prozeß sich im Jenseits noch fortsetzt), so wird auch die Richtung des kommenden Lebens von der Wahl abhängen. Die Seelen wählen ein komplettes, komplexes Leben und einen Dämon, womit sie die Richtung festlegen, in der sie das Gute suchen werden. Piaton trägt damit dem Faktum Rechnung, daß die meisten Leben sich linear entwickeln und zu einer Einheit gestalten; im Staat wird die Individualität der Seelen und ihres Lebens dem einheitlichen Lebensmuster und -gang der einzelnen Stände zum Teil weichen. Die Seelen sind für ihre Wahl selbst verantwortlich und werden nicht mehr vom Schicksal zu einem konkreten Leben bestimmt. Daran halten die meisten Forscher fest - egal ob sie die Wahlfreiheit bejahen oder leugnen.141 Die Seelen tragen für ihr vergangenes und zukünftiges Leben selbst die Verantwortung. Der Mythos appelliert an sie, gut zu leben und sich selbst zu ordnen; er ermahnt sie, sich im Maß des ihnen Möglichen philosophisch zu betätigen (619 d/e). Piaton führt für die Wächter einen weiten und für die Philosophen einen engen Philosophiebegriff als Ziel der

(1970), S. 20, 52 f. , 80 und S. 87. - Bonnann (1993), S. 99 und S. 106. - Barth (1921), S. 171. - Thayer (1988), S. 377 - 380. - Das Kreis-Sein (bei den Seelen etwa die Seelenwanderung) bedeutet bei Piaton und den Neuplatonikem nicht mehr nur Strafe und Mühe (wie bei Empedokles DK 115 und 147; vgl. Plotin: Enn. IV, 8, 1), sondern eine auch bei den Göttern anzutreffende Seinsweise. Bei den Vorsokratikern erfolgt die Rückkehr zu den seligen Göttern als zu Wesen, die als kreisfrei existierend begriffen werden. Vgl. Rohatyn (1975), S. 327. - Fink (1970), S. 94. - Cassirer (1925), S. 165 ff. Stöcklein (1937), S. 33 ff. - Rohde (1980), S. 276. - Raeder (1905), S. 242. Mackenzie (1981), S. 225 f. - Willi (1925), S. 71 f. - Alt (1983), S. 16. - Hildebrandt (1959), S. 249 f. - Cornford (1941), S. 350. - Jaeger (1947), S. 101 f. Moors (1988a), S. 220. - Müller (1986), S. 114 f. - Else (1973), S. 18. - Gaiser (1963), S. 201. - Graeser (1975), S. 65. - Pohlenz (1955), S. 133 f.

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Die platonische Philosophie des Mythos

naifeia, ein, der jeweils der Ordnungsstandard ihrer Seelen sein soll. Nur die Philosophie ermöglicht ihnen eine gute Wahl und ein gerechtes Leben. Die Seelen haben auf ihrer Wanderung oft genug Gelegenheit zu lernen, wobei alle Instanzen des Jenseits die Selbstordnung der Seelen durch das Lernen fördern. Nur durch ihre eigene Vernunft kann die Seele zu einem guten Leben gelangen, d. h. ein naturgegeben gutes oder schlechtes Leben existiert nicht mehr. Der Mensch muß eine Entscheidung treffen zwischen Arete und κακία, und dabei hilft ihm nur seine eigene seelische Verfassung, so daß die Seelen selbst der Grund der Güte ihres Lebens sind. Bei der Wahl sind sie von äußeren Einflüssen und Bedingungen frei und allein auf sich angewiesen; das Schicksal des Menschen wird in ihn verlegt, so daß die mythische Notwendigkeit nur noch die innere, ethische Notwendigkeit hütet. Die Freiheit der Wahl im Er-Mythos wird von den meisten Forschern zumindest bedingt bejaht142 und als Kern des Mythos angesehen. Die negative Freiheit von äußeren Bestimmungen wurde bereits festgehalten; wie die Wahlfreiheit aber sonst zu verstehen ist, ist weitgehend umstritten. Eine Freiheit zum Schlechten und Unvernünftigen existiert bei Piaton nicht, denn im Grunde bleibt das Prinzip des Handelns dem Bereich des Wissens zugehörig. Die Freiheit der Wahl besteht darin, daß im Nachdenken vor der Wahl ersichtlich wird, daß es eine Freiheit zum Üblen gäbe, bestünde nicht die Erkenntnis, daß dieses schlecht ist. Erkennt jemand das Gute, so weiß er zugleich auch um das Üble, aber er wählt allein das Gute. Freiheit ist die Einsicht in das Wesen von allem und die Möglichkeit, diesem Wissen folgen zu können, um durch sich selbst seine Güte zu erlangen; der Handelnde weiß, daß er von außen - etwa durch Götter oder durch τύχη und βία - nicht mehr zu Fall gebracht werden kann. Freiheit bedeutet außerdem, daß jeder selbst für seine Güte sorgen und sie aus eigener Kraft erreichen und erhalten kann, wozu das ganze Leben nötig ist. Der Mythos fordert zur ständigen Sorge um sich selbst auf, denn man weiß nur, daß man gewählt hat und nie frei ist, nicht zu wählen, aber man weiß nicht, wie man gewählt hat; das irdische Leben resultiert aus der Wahl, aber es kann nicht durch sie determiniert sein.143 Denn Eine völlige Leugnung jeder Freiheit findet man nur bei Annas (1982), S. 132 f. Ferguson (1950/51), S. 6 und S. 32. - Ritter (1923), S. 532 f. - Gundel (1914), S. 44. Im irdischen Leben bilden em^eXeta und παιδεία, den Dämon des Menschen. Die Philosophie ist für Piaton nicht wählbar, sondern nur ihre Bedingungen, die die Bildung verwirklichen kann. Ebenso sind Erkenntnisfähigkeit und andere Seelentugenden nicht wählbar. - Die Differenz zwischen Philosophen und Nichtphilosophen liegt auch darin, daß die meisten Dinge, die die Menschen als Dinge erstre-

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wären die Seelen determiniert, so hätten Piatons Ausführungen zur Bildung, zum gerechten Handeln und zum besten Staat keinen Sinn mehr, da sie grundsätzlich nichts mehr ändern könnten. Im Laufe des Lebens treten Umstände auf, die die Wahl hemmen oder fördern können (489 d 497 c)144, wozu eben Bildung und Staat gehören; Kinder sind durchaus noch zu jedem Leben formbar (615 c 1 - 3). Die Wahlfreiheit ist im aktuellen Leben eine Mahnung zur Sorge um sich selbst und eine Aufforderung, sein ganzes Leben und seine unsterbliche Seele im Blick zu behalten, d. h. alles an ihr zu messen. Es geht im Schlußmythos nicht um schon vollkommene Seelen, sondern um den Aufstieg zur Vollkommenheit und um die Reinigung der Seelen, der die Bildung dient. Der Vollzug des Gesetzes der Freiheit steht - wenn er durch Vernunft und Philosophie geleitet wird - unter der grundsätzlichen Einsicht von der geschlossenen, lückenlosen Einheit und Ganzheit menschlicher Lebenszusammenhänge, ihrer Stationen und inhärenten Bedingungsverhältnisse. Die Aufgabe der Vernunft in der Wahl ist es, dem eigenständigen menschlichen Bereich hinsichtlich eines seiner festgelegten Elemente die Ordnung und Gesetzmäßigkeit des Ganzen mitzuteilen. So ist zugleich die Ganzheit der dem Seelischen eigenen (zyklischen) Verlaufsform und ihrer Güte gemäß der in ihr herrschenden Bedingungsverhältnisse antizipiert. Die Vernunft erfüllt das Gesetz der Eigenständigkeit des menschlichen Bereichs als proportional bestimmte Angleichung an die Harmonie und Ordnung des Göttlichen, so daß die menschliche Seele nach den Proportionen ihrer Bewegungsgesetze in der Ordnung des Ganzen ihren Ort ausben, vom Philosophen nur als Wissen von ihnen erstrebt werden. - Zum Verhältnis von Wahlakt und irdischem Leben vgl. Thayer (1988), S. 377 - 380. - Bröcker (1990), S. 327. - Halliwell (1988), S. 184 - 186. - Leisegang (1950a), Sp. 2472 f. - Trendelenburg (1855), S. 143. - Stenzel (1928), S. 181 f. und S. 186 f. - Stenzel (1928a), S. 294 und S. 312. - Pohlenz (1955), S. 133 f. - Alain (1928), S. 102 ff. Kerschensteiner (1945), S. 152 f. - Derbolav (1954), S. 211. - Funke (1958), S. 32 f. Wahlakt und irdisches Leben scheinen im Verhältnis von Ganzheit und Teilkomponenten zu stehen, die Piaton im Ideal einer guten Wahl in Kongruenz bringen will; Ganzheit und Teil können aber auch in Opposition geraten. - Bei der Erfüllung eines βίος trifft die πραξις das wahre Wesen weniger als der Logos (473 a). Der Entwurf des Lebens, das παράδειγμα., reicht hin, um den Gerechten und den Ungerechten zu erkennen, wobei das Leben nur eine Angleichung an die Wahl bedeutet (vgl. 548 d). Wie dies zu verstehen ist, zeigt Piaton am Tyrannen: In 566 a sagt er, der Tyrann sei nach den ersten Morden dazu bestimmt (ανάγκη), ein Tyrann zu werden; mit zunehmender Lebenszeit werde er immer tyrannischer (576 b/c) oder eine δυστυχία nötige ihn zur Verwirklichung seines βίος (578 c; 579 c).

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Die platonische Philosophie des Mythos

füllt und sich so im Ganzen bewegt. Nur bewußte menschliche Erkenntnis kann die Güte des seelischen Existierens vollständig gewährleisten, da diese Güte mit der Erfüllung der Aufgabe der menschlichen Seele im Ganzen des Kosmos zusammenfallt (und so mit seiner Güte); die Selbstordnung der Seele bedeutet zugleich die Einnahme ihres natürlichen Ortes im All. Im Moment der Wahl ist den Seelen mehr als jemals sonst die Möglichkeit gegeben, die in sich gegliederte Totalität ihrer Existenz in den Blick zu nehmen, um aus ihr heraus auch zu wählen. Die Wahl des Lebensloses bedeutet für die Seelen die Möglichkeit, frei den ihnen zukommenden Platz und die ihnen zukommenden Aufgaben aufgrund ihrer Einsicht in die Natur des Alls und ihrer selbst in ihm zu erfüllen. Als Höchstmaß der Freiheit deutet Piaton das Sicheinfügen der Seele in die Gesetze des Ganzen; bei einer wirklich freien Wahl fallen Freiheit und Notwendigkeit zusammen, deren Synthese auch im Leben des Menschen notwendig und zugleich gerecht ist. Das Gute verfehlen zu können, gehört zur Freiheit der Wahl, ist aber nicht als solches zu intendieren. Die Rolle der παιδεία, als ständige und lebenslange Vorbereitung auf einen Moment höchster Gegenwärtigkeit in der ewigen, zyklischen Existenz der Seele, die Freiheit nur zum Guten und der Primat des Aufstiegs legen das Wahlmotiv im Er-Mythos fest.145 Das Wahlmotiv bildet eine Mahnung zur ständigen Sorge der Seele um sich selbst und zur Selbstverantwortlichkeit bei all ihrem Tun. Tugend und Gerechtigkeit sind untrennbar; Bildung und Philosophie sind die primären Modi der Herstellung menschlicher Güte. Was Piaton darüber hinaus (willentlich) andeuten mag, bleibt (s)ein Geheimnis. Es ist deshalb sinnvoller, den Schlußmythos vom Dialog aus, in dem er steht, zu analysieren und nicht umgekehrt im Mythos etwas

Zur Erörterung der Rolle und der Auffassung von Freiheit im Er-Mythos wäre u. a. eine umfassende Bezugnahme auf das Motiv der Freiheit im Höhlengleichnis notwendig. Dort erfolgen der Aufstieg und der Abstieg unter Zwang bzw. aus der Einsicht in die notwendige Bedingung staatlicher Güte. Auch im Höhlengleichnis besteht nur Freiheit zum Guten und Notwendigen; es geht um die Bildung zum Guten. Der innere Konnex von Erkenntnis(-gewinn) und Handlung ist in beiden Passagen zentral. Im Er-Mythos fehlt aber der Zwang beim Aufstieg (ebenso die Philosophen); erst einem Verfall kann das Wissen gegensteuem, wobei die Bedingungen fllr Fortschritt und Verfall ewig festliegen. - Für Piaton gestaltet sich der Prozeß des Freiwerdens als ein Sich-frei-denken, d. h. als Fortschritt in den Formen, in denen man das Sein denkt und dergestalt einen Bezug zu ihm herstellt. - Die Gleichnisse werden in der Politeia je ineinander transformiert und sind so und als eigene philosophische Darstellungsform der Übergang zwischen Mythos und Logos.

Die Wahl des Schicksals im Er-Mythos

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Neues146 und Geheimnisvolles zu suchen und den Dialog außen vor zu lassen, denn dies öffnet nur Scheingefechten und haltlosen Spekulationen147 Tür und Tor, dient aber nicht der Förderung des Verständnisses Piatons.

So warnt auch Ricoeur (1953), S. 80 davor, in den eschatologischen Mythen Piatons eine Erweiterung seiner Philosophie über das Göttliche zu sehen. Vgl. ζ. B. Pappas (1995), S. 184 - 186, der versucht, den Er-Mythos aus einer konstruierten Nähe zu den Fröschen des Aristophanes zu begreifen.

III Zur Bedeutung des (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie Α Die Zeit vor Proklos In diesem Kapitel soll versucht werden, einiges Wesentliche und die Hauptpunkte in der Entwicklung des Mythenverständnisses vor Proklos aufzuzeigen. Es geht darum, die Frage zu beantworten, was der Mythos insgesamt ist und welche Rolle er spielt, sowie zu klären, welche Bedeutung dem Er-Mythos speziell in diesem Zeitraum zukommt. Dabei kann es aus räumlichen Gründen schon nicht das Ziel sein, alle wesentlichen Stationen in diesem Prozeß darzustellen und in ihrer Bedeutung für das Hauptthema aufzuweisen, weil die Rezeptionsgeschichte allein des ErMythos bereits ein hinreichender Gegenstand für eine eigene Auseinandersetzung wäre, vielmehr noch der platonische Mythos überhaupt. Dennoch ist es notwendig, die Grundzüge der Auffassung des (philosophischen) Mythos im angegebenen Zeitraum und ebenso ihre Wandlung wenigstens knapp zu umreißen, um sichtbar zu machen, in welcher Tradition Proklos auch in dieser Hinsicht steht und welchem Boden seine Auslegung des Mythos entwachsen ist, welche Voraussetzungen und Fundamente sie hat. Darüber hinaus soll noch angedeutet werden, daß die zentralen Figuren in der Geschichte des antiken Mythenverständnisses nicht selten zugleich auch diejenigen waren, die die Auslegung des platonischen Mythos, besonders des Er-Mythos bestimmten. Abschließend sollen einige grundsätzliche Ausführungen zu Proklos' allgemeiner Mythenauffassung folgen, wie sie sich primär aus seinem Hauptwerk, der Platonischen Theologie, ergeben, ebenso einige Bemerkungen zu deren Verhältnis zum platonischen Mythenverständnis; ein eingehender Vergleich zwischen Piaton und Proklos unterbleibt, da er unfruchtbar ist und keinen Erkenntnisgewinn bietet, wie es bei einem Blick auf die Einzelanalysen des platonischen Mythos und des Proklischen Kommentars dazu schnell ersichtlich wird. Die Ausführung eines derartigen Vorhabens geriete mechanisch zu einer sterilen, leerlaufenden Wiederholung immer desselben, nämlich der Betonung der Inkommensurabilität der Funktionszuweisungen an den

Die Zeit vor Proklos

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platonischen Mythos bei beiden Denkern aufgrund ihres philosophischen Ansatzes. Für unseren Zusammenhang ist es hinreichend, zwei Rezeptionsstränge des Er-Mythos zu unterscheiden, die beide auf ihre Weise an die epikureische Kritik am platonischen Mythos und der platonischen Philosophie insgesamt anknüpfen (Colotes) 148 : Einerseits verteidigt Cicero Piaton gegen seine Kritiker, setzt sich aber auch selbst in De re publica mit Piatons Politeia auseinander und will sie in seinem Sinne verbessern. Aus dieser Absicht ist auch seine Aufnahme des Er-Mythos im Somnium Scipionis149 zu verstehen, der seinen Dialog über den Staat abschließt. Cicero billigt die Aussagen über den Kosmos und die gute und gerechte Weltordnung, hält diese aber für unmittelbar nicht zugänglich und beweisbar, weshalb er die Vision des Er bei Piaton in einen Traum 150 Scipios umformt, um die darin getroffenen Aussagen unter einen geringeren Gewißheits- und Sicherheitsindex zu stellen. Anknüpfend an Poseidonios 151 , der

Zur Wirkungsgeschichte vgl. auch Gigon (1976), S. 109 f. Schon Macrobius und Favonius Eulogius (in seiner Disputatio de Somnio Scipionis, die von ersterem abhängt) haben beide Texte miteinander verglichen. Macrobius' Kommentar hängt von Porphyrios' r/wa/os-Kommentar ab, so daß der ErMythos hier bereits in einen Bezug zum Timaios gestellt wird. Macrobius begründet den Wechsel von Vision zu Traum mit der Kritik der Epikureer in 1,1, 9; Cicero faßte die Einkleidung spielerisch auf, d. h. ohne eigenen Wahrheitsanspruch unabhängig vom Inhalt des Mythos, wobei Scipio fur Macrobius (1,2, 1) nur die Intention Ciceros ausdrückt. Aber auch die Traumeinkleidung könnte die Kritik der Epikureer nicht beruhigen (1, 2, 3 - 5): Anders als Macrobius ist Cicero weniger offenbarungsgläubig (vgl. De divirtatione 2), so daß der Traumcharakter der Offenbarung seine Skepsis gegenüber der Beweisbarkeit der Inhalte ausdrückt. Cicero verlegt seinen Unsterblichkeitsbeweis für die Seele in den Mythos (und zwar in der Fassung des Phaidros, womit er die systematische Vereinigung der platonischen Mythen intendiert), d. h. er glaubt an ihn, hält ihn aber nicht für rational prüfbar; ebensowenig ist die Kosmologie epistemologisch im strengen Sinne zugänglich, weshalb auch sie im Mythos am richtigen Ort ist. In beiden Bereichen sind für Cicero nur subjektive Wahrscheinlichkeiten ohne Allgemeingültigkeitsanspruch zu erreichen, was für ihn bei Piaton anders ist (objektive Wahrscheinlichkeit). - Zum Traum des Scipio vgl. etwa Harder (1960a), S. 354 - 395. - Görgemanns (1968), S. 46 - 69, v. a. S. 66 f. Bereits Aristoteles (1997), S. 110 und S. 197 deutet die Ohnmacht des Er als Schlaf, in dem er Traumbilder sieht. - Die Rolle des Mythos in der Philosophie sowie die Arten der Träume werden auch von Macrobius ( 1 , 2 - 3 ) nacheinander abgehandelt, weil er Cicero folgt, der beides vereint. - Bei Piaton treten seine Mythen nie als Träume auf. Mit Poseidonios' Kommentar, auf den Cicero zurückgreift, beginnt der Primat des Timaios, der im Mittelplatonismus ausgebaut wird und bis ins Mittelalter vor-

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Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

Piatons Philosophie insgesamt für die Stoa erschloß und deren frühere Ablehnung Piatons überwand, imitiert und modifiziert Cicero den ErMythos, besonders was seine Einrahmung betrifft, und mischt ihn mit stoischem Gedankengut. In dieser Gestalt hatte der Mythos, vermittelt über den Kommentar des Macrobius, starke, oft implizite, Nachwirkungen bis in die Neuzeit hinein (etwa bei Petrarca, in Chaucers Parlament der Vögel oder in Metastasios Opernlibretto zum Traum des Scipio), auch weil der Dialog, der dem Traum voranging, relativ früh verlorenging und im gesamten Mittelalter nur der Traum bekannt war152 und als wichtige Quelle für Ciceros Philosophie rezipiert wurde. Cicero begründet eine eigene Tradition, die den Er-Mythos als Ursprung überlagert, und dies trotz der Kenntnis des Zusammenhangs schon bei Macrobius. Im Gegensatz zu dieser eher skeptischen und relativierten Aufnahme des platonischen Mythos ist Plutarch153 zu sehen. Für die neuplatonische Auffassung des platonischen Mythos war Plutarch von entscheidender Bedeutung154, sowohl im allgemeinen, grundlegenden Sinne als auch, was den Er-Mythos im besonderen angeht. Bei ihm bereitet sich das vor, was man grob als Theologisierung des Mythos bezeichnen kann: Das seit Theagenes gängige Modell der allegorischen Deutung kanonischer Autoritäten - Homers Götter etwa werden als Naturkräfte oder ethisch gedeutet - wird wegen seiner Willkür und Gewalttätigkeit von Plutarch abge-

heirscht - etwa durch den Jimaios-Kommentar des Chalcidius, der das mittelalterliche Piatonbild entscheidend prägte. Mit dem Timaios beginnt insgesamt die Kommentartätigkeit der Alten Akademie (Kiantor). Für die christliche Philosophie war dieser Dialog aufgrund der in ihm enthaltenen Weltentstehungslehre die primäre Piatonquelle. Zugleich ergibt sich damit schon am Anfang der Piatonexegese die Frage nach der Deutung eines mythischen Textes und seines Bezuges zum Logos, d. h. hier konkret die Frage, ob die Weltentstehung zeitlich oder unzeitlich zu verstehen sei. - Auch noch im Traum des Scipio wird an den Protreptikos des Poseidonios angeknüpft, womit sich die große Bedeutung dieses Denkers fiir die nachfolgende Zeit dokumentiert. Zum Piatonismus im Mittelalter und den Nachwirkungen des Traumes vgl. Flasch (1986), S. 91 und S. 315. - Von besonderem Interesse ist die Tatsache, daß der Traum im 13. Jahrhundert von Maximos Planudes ins Griechische übertragen wurde. Zu Plutarch allgemein vgl. Ziegler (1951), Sp. 636 - 962; zu seiner Stellung in der Geschichte der antiken Allegorienexegese vgl. Hani (1976); zu ihrer Methode vgl. Soury (1942). Zum Einfluß des Mittelpiatonismus auf den Neuplatonismus vgl. grundsätzlich Dörrie (1960), S. 191 - 223. - Wallis (1972), S. 30 - 32. - Whittaker (1987), S. 277 und S. 290 f.

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lehnt155, die den wahren Sinn verfalschen und die letztlich im deutenden Menschen gründen. Plutarch ersetzt den Begriff αλληγορία zugunsten des Wortfeldes αίνιγμα156, was auch bei den Neuplatonikern so bleiben wird, die nur weitere verwandte Termini, wie σνμβολονλ5Ί oder σύνθημα, für die Deutung der Quellen-Autoritäten erschließen. All diese Begriffe unterscheiden sich aber weniger sachlich158 von αλληγορία oder ύπόνο/α,159 (letzterer Begriff wird noch bei Proklos relativ oft verwendet) als vielmehr durch ihren Anspruch und ihre Fundierung, d. h. mit diesen Termini tritt der Anspruch zutage, nicht mehr menschlich-willkürlich Texte auszulegen, sondern verbunden mit Gott und diesem verwandt; denn schon der Begriff αίνιγμα bei Plutarch hat einen Bezug zum Mysterienwesen und zu göttlichen Offenbarungen, was bei Piaton belegt ist. Wenn aber die Götter selbst sich doppelsinnig und kryptisch verrätselt offenbaren, so hat die analoge menschliche Auslegung dieser (meist schriftlichen) Offenbarungen dem Rechnung zu tragen, ist legitimiert und der Willkür enthoben, weil sie dem Vorgehen der Götter korrespondiert. Was die Götter zum Schutz der Wahrheit verbergen und uneigentlich sagen, müssen die berufenen Menschen wieder auflösen, indem sie mehrere Sinnebenen eines Textes erschließen, wobei der Deutende einen Einweihungsanspruch geltend machen kann und es zu einer reziproken Zyklik des Wahrheitswissens kommt. Da Piaton sowohl seine Mythen als auch bestimmte philosophische Logoi über die höchsten Dinge und auch über das Unsagbare mit Mysterienterminologie160 durchsetzt hat, hat er letztlich selbst die spätere Durchdringung von Mythos und Logos neben ihrer Scheidung grundgelegt. Alle Philosophie, Mythen und Logoi, und ebenso die Mysterien oder die Dichtung sind gottgewollte und göttlich fundierte Weisen des menschlichen Aufstiegs zum Göttlichen und ergänzen einander zu einer Art System, das besonders der späte Neuplatonismus noch erweitern wird. Vgl. Plutarch: De audiendis poetis 4, Moralia 19 e. Vgl. Porphyrien 305 F, 372 F und 382 F 8 (Smith), wo der Begriff zusammen mit dem Wortfeld von κρΰπσις und'άρρητονauftritt. Zur historischen Entwicklung des Symbolbegriffs und seiner Funktion im Neuplatonismus vgl. Crome (1970), bes. S. 161 -196 zu Proklos. Beide Begriffsfelder stehen für Doppelsinnigkeit und Uneigentlichkeit von Reden. Vgl. auch Plutarch: De Pythiae oraculis 25/26, Moralia 406 f - 407 f. Bei Cicero etwa wird die Dichtung an der Jurisprudenz gemessen, die zwischen dem Wort (ρ-ημα,) und dem Willen (διάνοια) des Autors differenziert. Dabei ist der menschliche Wille jedoch zentral, nicht der göttliche Einfluß. - Der Terminus Interpret' bedeutete ursprünglich den Vermittler in Rechtssachen. Vgl. dazu Riedweg (1987). - Dörrie (1975), S. 9 - 24. - Merlan (1963), S. 163 176. - Zur historischen Entwicklung des antiken Mythenverständnisses mit Bezug zu den Mysterien vgl. Brisson (1996), bes. S. 78 - 142.

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Aber nicht nur die Götter selbst, sondern auch die göttlich inspirierten Autoritäten reden zu wenigen und nur wenige können sie erschließen, so daß auch die Hüter und Deuter, die zu den höchsten Sinnebenen aufsteigen können161, inspiriert sein müssen, womit die dialogische Vermittelbarkeit bei Piaton in letzter Konsequenz zugunsten inspirierter Dogmatik aufgegeben wird. Gleichzeitig gelten die minderen Bedeutungsebenen für die Masse, die so auch an der Wahrheit teilhaben kann - eine Tendenz, die im Christentum ebenso wie im Neuplatonismus zu finden ist, etwa in den Hymnen des Proklos und des Synesios. Was Plutarch an der Allegorese v. a. ablehnte, war ihre menschliche Willkür, die er besonders in der stoischen Allegorese verkörpert sah. Weil die Exegesen der Stoiker von den menschlichen Logoi ausgingen, waren sie nicht nur (zu) vielartig162 - physikalisch, historisch, ethisch usw. sondern verblieben bei all ihren Deutungsebenen auch insgesamt im menschlichen Seinsbereich, lagen gleichsam alle in einer 'horizontalen' Linie. Dagegen insistiert Plutarch auf einer 'vertikalen', weniger vielschichtigen Auslegungstendenz, die den theologisch-metaphysischen Bereich, besonders die Dämonologie, als Ausgangs- und Zielpunkt des zu Deutenden im Blick hat, ein Auffassungswandel, der noch für den Neuplatonismus bestimmend ist. Gleiches gilt für seine Ansicht, man müsse alle Weisheitsquellen, griechische und nichtgriechische, in das System des inspirierten Wissens einbeziehen, weshalb er ζ. B. den ägyptischen Isisund Osiris-Mythos163 mit griechischen Göttern in Konkordanz bringt; eine Tendenz, die noch im späten Neuplatonismus gilt, wenn Proklos stets von griechischen Namen ausgeht. Auch Plutarchs Ansicht, die stoische Exegese führe zum Atheismus164, wird von Prokos verallgemeinert, aber aus denselben Gründen auf die epikureische Kritik am platonischen Mythos angewendet. Explizit bezieht sich Plutarch in seinen (ebenfalls von Poseidonios beeinflußten) Mythen165 in De genio Socratis (Moraiia 589 f - 592 e) und Initiation und Mystagogie finden also durch die Philosophie statt und verkörpern diese inbegrifflich. Vgl. dazu Plutarch: De Iside et Osiride 68 und 77, Moraiia 378 a - d und 382 d/e. Vgl. Plutarch: De Iside et Osiride 32 - 44, Moraiia 363 d - 368 f. Vgl. Plutarch: De Iside et Osiride 12-19, Moraiia 355 d - 358 e. Vgl. Plutarch: De Iside et Osiride 11 und 23, Moraiia 355 b - d und 359 f - 360 a. Vgl. dazu Hamilton (1934), S. 24 - 30.- Hamilton (1934a), S. 175 -182. - Timarchos zweifelt (590 b), ob er schläft oder wacht, wobei für Iamblich {De mysteriis 3, 2) derartige Zwischenzustände göttliche Offenbarungen evozieren, anders als Träume im normalen Schlaf, die menschlich sind (wie dies bei Cicero der Fall ist).

Die Zeit vor Proklos in De facie

in otbe lunae (Moralia

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940 f - 945 d) auf den Er-Mythos,

wobei er wie Cicero eine eigenständige Nachahmung anstrebt. Im ersten Mythos dringt ein Lebendiger in die Unterwelt ein, wo ihm die Ordnung und der Zusammenhang des Kosmos geoffenbart werden: Die Moiren treten auf, um den σύνδεσμος und die συνέχεια der vier Weltschichten ζοτή, κίνησις, γένεσις und φθορά zu erklären, d. h. an den drei Übergängen fun-

giert jeweils eine Moire als vermittelndes Band. Das Leben bestimmt dabei den Bereich jenseits der Fixsterne, der unsichtbar ist, die Bewegung den Bereich der Fixsterne, das Entstehen den Bereich zwischen Sonne und Mond, das Vergehen den unter dem Mond, wobei jede tiefere Ebene vom Prinzip der höheren mitbestimmt wird. Die Moiren treten als Vermittler zwischen den άρχαί auf; Atropos wird als erste gesetzt und als μονάς bezeichnet, Klotho als zweite (νους), Lachesis als dritte (φύσις).166 Für den Mittelplatonismus gehörten alle diese άρχαί jedoch zur Weltseele161, sowohl die άρχη κινήσεως als Seele als auch die φύσις im doppelten Sinne von Entstehen und Vergehen, was für das spätere Schicksal des Er-Mythos von zentraler Bedeutung werden sollte. Zwar läßt sich auf die Stufung der Moiren (μονάς, νοΰς, φύσις) die spätere neuplatonische Fundamentalschichtung der Hypostasen (ev, νους, ψυχή) terminologisch zurückführen168, aber ihre mittelplatonische Bindung an die Weltseele und den Kosmos begründet auch schon das Absinken des Mythos zu einer theologischen Quelle zweiten Ranges, zuständig für den hyperkosmisch-enkosmischen Bereich, wie es sich bei Proklos manifestiert. Dadurch, daß das Eine und der Geist bei Plotin zu selbständigen Hypostasen über der Seele werden, verfallt der Er-Mythos zu einer sehr spezifischen Quelle für 'seelische' Götter über dem Kosmos, eben die Moiren, die eigentlich noch bei Proklos dieselben Aufgabenbereiche wie bei Plutarch haben. Seit Xeno-

Vgl. dazu Ps.-Plutarch: De fato 2, 568 e/f. - Ps.-Plutarch unterscheidet Heimarmene als οΰσ-ία und als evepyeia; als erstere ist sie die Totalität der Weltseele, als letztere hat sie drei Moirai, die ίτίλανης μοίρα., die mittlere und die sublunare μοίρα. - Siehe auch Chalcidius: In Tim. 182, 16 ff. (Waszink). - Nemesius: De natura hominis 38. - Nomoi 982 c. - Die Heimarmene tritt im Neuplatonismus teilweise als Weltseele, teilweise als vegetative physis auf bzw. sinkt in zunehmendem Maße zu letzterer herab, so daß man sagen kann, Ananke und Heimarmene erfahren eine fortschreitende ontologische Herabstufung. Die beiden Ananken bei Proklos sollen später beide Stufen verbinden. Vgl. Attikos bei Eusebius: Praeparatio evangelica 15, 12. - Albinos: Didask. 14 (169, 18), wo die physis eine Funktion der Weltseele ist (neben dem Geist: Didask. 10 (164, 35 - 165, 4)) und die άρχα,ί erst in der Seele wirklich seiend und wirksam werden. Vgl. Dörrie (1954), S. 331 - 342.

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krates169 waren die Moiren hierarchisierte, symbolische Repräsentationen bestimmter Seins- und Erkenntnisstufen in Welt- und Einzelseele - Atropos des ννητόν außerhalb des Himmels, Lachesis des δόξα,στον, Klotho des αΥαύητον innerhalb des Himmels, worauf Plutarch zurückgreift170, obwohl er die Moirenfolge im unmittelbaren Rückgang auf Piaton umstellt. Ebenso hat Xenokrates (Fragment 15) Dike als Seele des Alls bezeichnet, sie mit Ananke verbunden und mit Zeus als nous koordiniert.171 In De facie werden die Moiren Sonne, Mond und Erde zugeordnet, wieder in derselben Reihenfolge wie in De genio, und Geist, Seele und Körper172 analog gesetzt, die auch hier als Momente der Seele betrachtet werden. Schließlich werden in den Quaestiones convivales (9, 14, 4, Moralia 745 b; vgl. auch 739 e ff.) die Moiren mit drei Musen identifiziert, was Proklos wieder unterscheidet, wobei sie als λόγοι evaρμόνιοι die Weltsphären verbinden, also dieselbe Funktion wie die σύν^β-μοι in De genio haben, wo die drei λόγοι benannt werden als ev, νους und φυχή', eine innerweltlich-innerseelische Differenz, die später deshalb angegriffen wurde173. In De genio ist die innerseelische Schichtung der Seins- und Vgl. Xenokrates: Fragment 5 (Sextus Empiricus: Adversus mathematicos 7, 147). Dort wird zwischen dem noetischen Sein, dem die Wissenschaft entspricht, dem gemischten bzw. zusammengesetzten Sein, dem die Meinung entspricht, und dem wahrnehmbaren Sein unterschieden. Mit der mittleren Substanz, die allein Wahrheit und Unwahrheit verbindet, haben sich Vernunft und Wahrnehmung gleichermaßen zu befassen; der Gegenstandsbereich dieser mittleren Ebene ist für Xenokrates - wie schon im Er-Mythos - der Himmel. - Schon früh geriet der Er-Mythos einerseits zu einer symbolischen Gesamtchifüe der platonischen Philosophie, andererseits (und darauf bezogen) zu einem zentralen Angriffspunkt der antiplatonischen Kritik, was wiederum die (platonische) Apologetik des Mythos nach sich zog, die noch bei Proklos zu finden ist, der den Mythos freilich nur noch als einen Teil der platonischen Weisheit retten will. Auch Plutarchb Hesiod-Kommentar ist sicher wichtig für Proklos, weil auch er vermutlich die Diskussion über die Moiren aufnimmt. Xenokrates opponiert die Monade der Dyade und stellt Zeus über beide; er ordnet die Seele dem doxastisch-ästhetischen Bereich zu. Zeus werden die Einheit, die Monade und die Vernunft zugesprochen; es wird jedoch zwischen einem oberen und unteren Zeus unterschieden (Fragment 18). Die Weltseele ist für Xenokrates die sich selbst bewegende Zahl (Idee): vgl. Fragmente 60, 64 und 68. Die Zahl vermittelt Seele und Idee, während bei Piaton die Seele keine Idee, aber etwas in Maß- und Zahlverhältnissen Geordnetes ist. - Zu Xenokrates' Nachwirkungen vgl. Krämer (1964), S. 21 ff. - Die Teilung von Geistmonas (Fixsterne) und Hebdomade (Planeten) findet sich auch bei Philon (De decalogo 103) mit einer Nähe zum Er-Mythos. Noch Kant ((I960), I, S. 940) unterscheidet diese drei Stufen. Vgl. Syrianus: In Met. 105, 36 - 42.

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Erkenntnisbereiche, die die Moiren repräsentieren, zwar beibehalten, aber eine Stufe über die Sonne (Geist) heraufgehoben, wobei die doppelsinnige Natur zugleich in den Bereich der Seele gerückt wird. Die Moiren symbolisieren so eine innerseelisch gefaßte Hypostasenlehre, so daß der ErMythos von hier aus nicht nur eine Quelle174 der neuplatonischen Ontologie wurde, sondern auch sein Absinken in der späteren neuplatonischen Hypostasenausdifferenzierung schon vorprogrammiert war, d. h. er wurde zur Theologie des hyperkosmisch-enkosmischen Bereichs, analog zu De genio. Plutarch geht nicht über das Seelische als Seinsraum hinaus (ebensowenig wie Macrobius) und verbleibt so im Bereich des Timaios, dessen Psychologie und Physik er im Er-Mythos symbolisch verdichtet sieht und den er für den alleinigen Grundriß des Weltbaus und des Seienden überhaupt hält; im Neupiatonismus tritt dazu aber dann der Parmenides als Quelle der Henologie und der Hypostasenlehre, und der Timaios175 wird zum System des Seelisch-Kosmischen unter dem Parmenides erklärt, wobei der Er-Mythos zuletzt völlig hinter den Timaios zurücktritt.176 Wichtig ist es, vor Plotin noch kurz auf Numenios™ und Kronios einzugehen. Bei ihnen setzen sich die generellen Auffassungstendenzen von Mythen bei Plutarch in Richtung auf den Neuplatonismus hin fort. So Plotin (Enn. V, 6,1) vergleicht das Eine mit dem Licht, den Geist mit der Sonne, die Seele mit dem Mond. Der Timaios gilt als φυσιολογία, etwa bei Albinos: Isagoge 3, 148, 31 f. und 3, 153, 21 ff. (Hermann). - Proklos: In Tim. I, 1, 5. - Anonyme Prolegomena zur platonischen Philosophie 22, 23 ff. - Zur historischen Entwicklung des Verhältnisses zwischen Geist und Seele bei Plutarch, Numenios, Attikos, Albinos, Plotin und Porphyrios vgl. Deuse (1983), S. 109 - 168. Deuse zeichnet die Übersteigung des Seelenbereichs durch die Verselbständigung der anfanglich höheren Seelenvermögen und -formen nach. - Auch in De mundo (1. Jhd. n. Chr.) prägt der Timaios die Physik und ihre halbmythische Darstellungsform; im VE. Kapitel hat der eine Gott viele Namen, von denen einige in der PT zu selbständigen, kosmosnahen Göttern werden. Die gesamte Theologie des Mittelpiatonismus geht letztlich auf den Timaios zurück, wo Theologie, Kosmologie und Physiologie verbunden und weitgehend bereichsgleich sind, so daß er, der Phaidros und der Er-Mythos im Mittelplatonismus als platonische Haupttexte galten. - Bei Maximus Tyrius tritt der Er-Mythos bereits topisch-rhetorisch auf: Die Prophetenrede dient als Beleg für die Theodizee und die Reinheit Gottes (Dissertationes 41, 5; 153); die Wahlfreiheit wird als durch die Moiren vermittelt dargestellt, wobei die platonischen Mythen in eine Nähe zu Homer gestellt werden (4,4; 75 - 77). Zu Numenios' Deutung des Er-Mythos vgl. Lamberton (1986), S. 37 und S. 63. Zu seinem Einfluß auf Plotin und Porphyrios vgl. Dodds (1960), S. 10 f. und S. 18 f. - Merlan (1962), S. 138 - 145. - Schwyzer (1951), Sp. 574 f. - Zur Rolle und Deutung des Timaios bei Numenius vgl. Baltes (1999), S. 1 - 32.

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bildet Numenios eine wichtige Vorstufe des Neuplatonismus schon durch seine Auslegung der homerischen Nymphengrotte aus der Odyssee, auf die Porphyrios in seiner Deutung zurückgreift; auch zeigen viele Stellen aus der Vita Plotini178 seinen Einfluß auf Plotin und den Neuplatonismus generell. Numenios setzt die bereits bei Plutarch greifbare Tendenz fort, alle Weisheitsquellen zu einem System des inspirierten Wissens auf einem platonisch-pythagoreischen Hintergrund zusammenzuziehen und zu vereinigen.179 Wie Plutarch versteht er derartige Texte esoterisch, d. h. er versucht, stets höhere, übertragene, hintersinnige Bedeutungsebenen als eigentlichen Gehalt auszuweisen (vgl. auch Fragmente 9 b und 19), um solche Gehalte insgesamt zu einer verträglichen Einheit zu formen. Dieser Zielsetzung entspricht auch seine Interpretation der Nymphengrotte, wie etwa Fragment 30 zeigt: Die wasserbeherrschenden Mächte bei Homer werden mit den Pythagoreern, der Genesis (1, 2), den Ägyptern und Heraklit verglichen und zusammengeschaut, wobei das Wasser und die Feuchtigkeit in einen allgemeinen Bezug zu den Seelen gebracht werden, die auf das Werden und die Zeugung gerichtet sind.180 Überdies verbergen die Weisen oder die Götter bei Numenios die Wahrheit aus denselben Gründen wie bereits bei Plutarch: In Fragment 23 wird die Gestalt des Euthyphron aus dem platonischen Dialog als verhüllende Darstellung der schlechten, lächerlichen und untheologischen Athener gedeutet, die Piaton nicht direkt anklagte, um sein Leben zu retten. Piaton lehrte über die (höchsten) Dinge - gemäß dem göttlichen Willen - geheim, verbergend und nur für wenige Berufene, um sie zu schützen, d. h. wie bei Plutarch ist das Göttliche181 das zu Verbergende und das höchste Lehrbare, nicht mehr die untergeordneten Dinge und Prinzipien. Anders als Plutarch setzt Siehe ebenda: 3,44 f.; 14,12; 17,1 - 6. Numenios: Fragment 1 a (Ε. des Places: Numenios. Fragments. Paris 1973.) Vgl. noch Kant (1960), ΠΙ, S. 279. Numenios: Fragment 37. - Dieser Gedanke findet sich noch bei Proklos, wenn er die Wiesen des Phaidros und des Er-Mythos im selben Sinne deutet, vielleicht vor dem Hintergrund des "Meers der Unähnlichkeit" aus dem Politikos (273 d/e). - Vgl. auch In Tim. 1,76, 30 - 77,24. - Zur Bedeutung von Numenios für Proklos vgl. die Parallelität zwischen Fragment 14 und ET 27 und 57 sowie zwischen Fragment 41 und ET 103. Das Göttliche als Thema und Grund esoterischen Wissens und die Tendenz, Quellen aller Völker zu benutzen, hängen notwendig zusammen, weil die Götter überall wirken und präsent sind und die Wahrheit in verschiedenen Formen offenbaren; auch die Neigung, Götter verschiedener Völker zu identifizieren, resultiert hieraus. Selbst in der Stoa, deren Allegorese auf das Physikalische und Ethische hinauslief, muß eine derartige sichere Basis gelten, nämlich der überall seiende und wirkende Logos.

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Numenios sich aber schon nicht mehr produktiv-imitativ mit Piaton und seinen Mythen auseinander, sondern kommentiert die wissenserfüllten Quellentexte v. a. mit der Absicht, vermeintliche Unstimmigkeiten zwischen ihnen und besonders mit Piaton aufzulösen; alle Eigenständigkeit tritt hier, wie im Neuplatonismus, im Gewand des Bewahrenwollens und des Deutens auf. Das Alte wird nur noch wiederholt gedeutet, d. h. das Neue scheint weder mehr nötig noch möglich zu sein. Generell scheinen Plutarchs Mythen für die Neuplatoniker Nachahmungen Piatons zu sein, so daß sie unter ihre Auffassung dieser Dichtungsform fallen. Das Wahre wird als ein in sich harmonisches Ganzes von Teilen verschiedener Herkunft gedacht, die der Deutende als eigentlich versöhnt zu zeigen hat, obwohl sie sich in scheinbaren Unstimmigkeiten verbergen. Diesem Zweck trägt auch der Kommentar zum Er-Mythos Rechnung, in dem versucht wird, eine Konkordanz zwischen ihm und der homerischen Nymphengrotte herzustellen - eine allgemeine Aufgabe, die spätestens seit dem Zeitpunkt latent war, als beide Autoren kanonische Autoritäten waren, und die auch Proklos noch allgemein und speziell zu lösen bemüht ist182; nicht jede Allegorese ist jedoch zugleich apologetisch. Bei Plotin stehen der Mythos183 und Symbole allgemein im Kontext der Verhältnisbestimmung zwischen Ur- und Abbild, Überzeitlichem und Zeitlichem, Geistigem und Sinnlichem, Einheit und Vielheit. Zwar ist der platonische Mythos auch für Plotin noch eine Äußerungsform der göttlichen Weisheit seines Schöpfers, hat aber keine sachliche oder erkenntnismäßige Autonomie, sondern ist Ausdruck der didaktisch vermittelnden Kunst Piatons. Bei Plutarch verdichtet der platonische Mythos, wie Mythen überhaupt, das Wissen vom Weltbau zu einem bildhaft-symbolischen Panorama und ist eine ursprüngliche Entäußerungsform göttlichen Wissens; deshalb produziert Plutarch auch noch selbst Mythen, anders als die Neuplatoniker. Für sie dienen die Mythen von vornherein der Vermittlung höheren, unbildlichen Wissens an niedere Erkenntnisweisen, sind eine mindere Parallelebene, die das Höhere vereinfacht reproduziert. Der Mythos entspringt dem höheren Wissen und fuhrt zu ihm zurück, d. h. er ist funktional und semantisch festgelegt; wer das höhere Wissen hat, braucht keine Mythen mehr, kann sie aber korrekt auslegen. Da es nur ein System des Seienden und des Wahren gibt, nämlich die neuplatonische Hypostasenlehre, sind die Mythen daran gebunden und können es vereinVgl. Numenios: Fragment 35 und Proklos: In Rep. Π, 128,26 - 130, 16 und 131, 8 -14. - Vgl. auch das verlorengegangene Werk des Telephos von Pergamon: Über den Einklang von Homer und Piaton aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Zum Mythischen bei Plotin vgl. Theiler (1960), S. 70 f. - Cilento (1960), S. 243 310. - Geyer (1991), S. 243 f. - Lamberton (1986), S. 83 - 107.

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facht und veräußerlicht darstellen, wobei sie das unzeitliche Zugleichsein dieser Hierarchie diskursiv, sukzessiv und zeitlich entfalten, also der seelischen Erkenntnis gemäß, weil die Seele dasjenige ist, worauf die Vermittlungsfunktion des Mythos zielt.184 Sie zerlegt eine Einheit in Vieles und fügt es beim Aufstieg ihrer Erkenntnis wieder zusammen. Dabei ist auffällig, daß Plotin platonische Mythen ausschließlich auf die Seelenhypostase bezieht, andere hellenische Mythen185 aber zum Teil auch auf das Gesamtsystem des Seins. So wird der Hesiodsche Mythos186 von Uranos, Kronos und Zeus (s. auch Politeia 377 e - 378 b) zu einem Gesamtbild des Systems von Einem, Geist und Seele gemacht, was Plotin in allen Einzelheiten durchführt. Hesiod hat also sein Wissen zugleich mythisch verborgen und dunkel angedeutet, ebenso wie es Piaton später teilhaft in seinen Mythen und bestimmten Dialogen, ganzheitlich im Parmenides getan hat. Hesiod hat mit seinem Mythos das Wahre vor Unberufenen verborgen und es zugleich bestimmten Menschen didaktisch deutlicher offenbart, insofern sie einen Bezug zum Eigentlichen herstellen konnten und hergestellt bekamen. Noch Proklos folgt in den Einzelheiten Plotin, stuft den Mythos aber insgesamt systematisch herab; für ihn zeigt kein Mythos mehr das ganze System. Neben dem Timaios waren für Plotin an platonischen Mythen v. a. der Phaidros und das Symposion wichtig. In Enn. III, 5 deutet er - gemäß Phaidros 242 d/e und Symposion 203 c - Eros doppelt, weil ihm verschiedene Entstehungen zugewiesen werden, die auf den ebenfalls doppelten Charakter der Aphrodite zu beziehen sind: Die höhere Aphrodite ist die Tochter des Kronos, des personifizierten Geistes, also die Seelenhypostase, die - mit Kronos vereint - den höheren, universalen, göttlichen Eros erzeugt187; die zweite Aphrodite ist Zeus' Tochter und zeugt einen Vgl. Plotin: Enn. ΠΙ, 5, 9, 24 - 28 und IV, 3, 9, 15 - 20. - Sallust: De deis IV, 8. Logos und διάνοια, zerlegen das Synchrone, wie auch die Dialektik, und machen es, zum Teil unangemessen, vorstellbar; Ähnliches ist beim platonischen Timaios der Fall. Den Spiegel des Dionysos verbindet Plotin mit der Weltschöpfung des Demiurgen im Timaios, der Weltseele und dem Abstieg der Seelen in die Welt. Vgl. Enn. IV, 3,12. Vgl. zur Moirensymbolik bei Plotin im Ausgang von Hesiod: Cilento (1960), S. 292. - Schon Numenios deutet diesen Mythos wie Plotin. Vgl. Fragment 21 = Proklos: In Tim. I, 303, 27 - 304, 7. - Zu Plotin vgl. Enn. ΠΙ, 9, 11, 33 - 45; IV, 4, 9,1 - 18; V, 1,4, 9 f. und 7, 30 - 35. Mythische Gestalten und Personen verkörpern bestimmte Prinzipien und Realitäten; ihre Eigenschaften, Bestimmungen, Handlungen, Wirkungen usw. repräsentieren ihre Relationen und Bezüge zu anderem. - Im späten Neuplatonismus kann jeder Gott verschiedene systematische Funktionen und

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zweiten, innerweltlichen, dämonischen Eros, womit auch zwei Seelenteile impliziert sind, ein höherer, der den intelligiblen Bereich nie verläßt, und ein niederer, der in die Welt absteigt und durch Liebe und Erinnerung allein wieder aufsteigen kann188. Plotin deutet die Mythen freier als Proklos, der versucht, jedem Mythos einen eindeutigen Seinsbereich zuzuordnen, aber beiden gemein ist die Prämisse, daß zwar verschiedene Mythen dasselbe sagen können, aber nicht derselbe Mythos Verschiedenes. Beide bemühen sich um Mythensynopsen, wobei Plotin einzelnen Mythen größere und umfassendere Seinsbereiche zubilligt als Proklos, was auch daran liegen mag, daß die Mythen Piatons für letzteren autonome theologische Quellen bestimmter Götterstufen, nicht mehr nur geminderte Parallelreproduktionen eines in jedem Fall auch anders und höher Gewußten sind. Dieselbe Wahrheit und Seinsstufe wird bei beiden zwar immer mehrfach dargestellt, aber Proklos gibt oft dem (gedeuteten) Mythos wegen seiner Deutlichkeit und Ausführlichkeit den Vorzug vor möglichen anderen Quellen - im Gegensatz zu Plotin. Der gedeutete Mythos geht fur Plotin noch voll in einem anderen eigenen, höheren Wissen, einem Logos, auf189; für Proklos ist der gedeutete Mythos ein eigener Logosgehalt, der seinen systematischen Ort, seine Funktion und seine Bedeutung hat, die zum Ganzen des Wissens und des Systems beiträgt. Bei Plotin bestätigen die Mythen, bzw. ihre Deutungen, ein grundsätzlich vorher feststehendes System, und auch wenn dessen philosophische Darstellung, im Rahmen des Menschlichen, Unklarheiten und Mängel haben kann, so ist sie doch der alleinige Bezugspunkt und Horizont für Sinn und Bedeutungsgehalt

Örter haben, mehrfach auftreten und mehrsinnig gedeutet werden, so wie hier Aphrodite doppelt gedeutet und die Seele in verschiedenen Mythen verschiedenen Göttern zugeordnet wird; wichtig ist, daß die faktischen und wahren, im System bestehenden Relationen und Entitäten je richtig repräsentiert und bestimmt sind. Daneben gibt es für Plotin noch viele individuelle Eroten-Dämonen, die in jeder Seele sind, ähnlich wie die Dämonen, von denen im Er-Mythos die Rede ist; in Enn. VI, 9 wird sogar noch der Eros-Psyche-Mythos herangezogen, um die Liebe der Seele zum Einen mythisch zu verbildlichen. - In Proklos' zweiter Hymne (an Aphrodite) treten ebenfalls zwei Aphroditen und drei Erotenarten auf. Die Hymne redet von der πρόνοια, dem Äther, den sieben Kreisen, dem Adamant usw.: die Nähe zum Er-Mythos ist unübersehbar. Grundsätzlich ahmt die 'sinnliche' Hymnendichtung das Hymnus-sein des Seienden und der Götter nach. Zum stoischen Einfluß auf Plotin vgl. allgemein: Witt (1931), S. 103 - 111. Wallis (1972), S. 25. - Theiler (1964), S. 61 - 152, wo besonders das Verhältnis zu Poseidonios behandelt wird und auch das Verhältnis von Plotin und Gaios (S. 57). - Theiler (1960), S. 66, 74 und S. 85 f.

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von Mythen 190 ; so kann man vom Einen philosophisch doch wenigstens ansatzweise noch reden, aber Mythen nur über das Eine selbst gibt es nicht, sondern sie sind primär auf das Seelische bezogen, sowohl was ihren Gegenstand als auch was ihren Adressaten angeht. Einige implizite Bezugnahmen 191 auf den Er-Mythos finden sich zunächst in Über das Schicksal (Enn. III, 1): Ausgehend davon, daß es in der Welt des Werdens kein äva'mov gibt, so daß dort alles äußere oder innere Ursachen hat, die auf letzte Ursachen zurückzufuhren sind, fordert Plotin eine lückenlose Kette der Ursächlichkeit in der Welt. Aber weder die Natur des Alls noch die Himmelsbewegungen, noch die Weltseele, noch die Kette der Ursachen selbst (als Heimarmene (Enn. III, 1, 4, 17)) können den Menschen in seinem Sein und Handeln vollständig determinieren, sondern er hat neben diesen Einflüssen eine eigene Willensfreiheit, die seiner Überlegung und seinen Antrieben folgt; der Mensch ist frei, wenn er dem λόγος καθαρός entspricht, und nur im gegenteiligen Fall unterliegt er Zufall und Fatum. Man muß dem Menschen das ihm Eigene geben, und nur darauf kann das All ζ. B. einwirken; was wir selbst bewirken und was wir gemäß der Notwendigkeit erleiden, muß unterschieden werden (Enn. III, 1, 5, 22). Charaktere und Neigungen gründen nicht in irgend etwas anderem, sondern in uns selbst, und die Götter bewirken nichts Übles oder Schlechtes, sondern wenn wir "untergehen und unter die Erde wandern", sind wir selbst dafür verantwortlich (Enn. III, 1, 6, 29). - Diese kurzen Bemerkungen zeigen hinreichend Gedanken des Er-Mythos, die hier ungenannt angewendet werden. 192 In Enn. IV, 8, 1, 6 wird dieser Mythos kurz herangezogen, um die Vielartigkeit der Gründe anzuzeigen, die Piaton für den Abstieg der Seele in die Leibeswelt geltend macht, doch schon hier zeigt sich der Primat des Timaios für alle Fragen, die auch im Er-Mythos thematisch sind. - In Der Dämon, der uns erloste (Enn. III,

Zum Wesen der Bilder allgemein und ihrer philosophischen Uneigenständigkeit bei Plotin vgl. Ferwerda (1965), besonders S. 194 ff. - Den symbolisch-illustrativen Charakter der Verwendung von (platonischen) Mythen zeigt Pepin (1955), S. 5 - 27. - Pepin (1958), S. 190 - 209. Für Plotin war die Politeia insgesamt nur wegen ihrer "Bilder' brauchbar und wurde demgemäß rezipiert. - Zur Rezeption und selektiven Bedeutung der Politeia bei Plotin vgl. Wallis (1972), S. 22. - Theiler (1960), S. 68 f. - Wenn die neuplatonischen Kommentare die Einheit eines ganzen Dialogs im Blick haben, so bedeutet dies eine Fortentwicklung gegenüber Plotin, der selektiv vorgeht und die platonischen Dialoge noch nicht systematisiert teleologisch auffaßt. Zum Er-Mythos bei Plotin vgl. noch Enn. 1,1,12; IV, 3, 8 -10; IV, 4,16.

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4)193 tritt der Mythos als wichtige Quelle für Fragen der platonischen Dämonologie und ihrer Klassifikation im Zusammenhang mit den Seelenfunktionen auf. Plotin versucht, die relevanten Piatonstellen in Konkordanz zu bringen, indem er verschiedene Dämonenstufen auf die einzelnen Texte aufteilt, wobei alle Dämonen zwischen Menschen und Göttern stehen und der persönliche Dämon von Plotin abgelehnt wird, anders als bei Piaton und Proklos. Nach dem Tod wird jede Seele zu dem, was in ihr im Leben überwogen hat, d. h. wer sich schon im Leben dämonisch oder göttlich verhielt, wird nach dem Tod zum Dämon oder Gott, wer stofflich lebte, verfallt der Materie. Gemäß diesem Grundsatz begreift Plotin auch die Neueinkörperungen, von denen die Mythen im Phaidon oder der Politeia reden und die menschlich, tierisch und sogar pflanzlich sein können; der Mensch besitzt also eine Spanne von der Pflanze bis zum Gott. Der Dämon, der den Menschen erlost (Phaidon 107 d), steht für Plotin eine Stufe über dem, den der Mensch sich wählt (Politeia 617 e), so daß der Dämon, der die Menschen nach ihrem Tod ins Jenseits führt, ein höherer ist als der, der sie in ihrem Leben betreute. Letzterer gehört der Seele in gewissem Sinne an und muß seinem höheren Dämon folgen, um nicht abzusinken. Der menschliche Wille ist grundsätzlich frei, weshalb die Seele durch ein gutes Leben stufenweise aufsteigen und sich mit der Weltseele, dem Geist oder dem Einen identifizieren kann. In einem sittlichen Leben folgt der Mensch dem höheren Dämon, der sich aber nicht immer durchsetzen kann, weil die Geburt die Verbindung stört, aber dennoch bleibt er zwischen Tod und Wiedergeburt bei seiner Seele, bis diese gemäß ihrem Leben zur Neueinkörperung kommt und einen neuen diesseitigen Dämon erhält, der sie zur Weltspindel bringt, wo sich ihr Schicksal entscheidet. Dieser Text findet weder bei Plotin selbst noch später eine wirkliche Nachfolge. Proklos (In Rep. II, 310, 9) geht kurz auf ihn ein, um zu belegen, daß wir das werden, woran wir uns binden; aber man kann hier erkennen, wie der Er-Mythos schon weitgehend bloß als unterer Teilausschnitt der Zusammenhangsganzheit des seelischen Existierens und seiner dämonologischen und göttlichen Verflechtung betrachtet und eingebunden wird. Schließlich geht Plotin noch im Zusammenhang von Enn. II, 3 (Ob die Sterne wirken)194 auf den Schlußmythos der Politeia ein. Er nimmt eine Zur Rolle der Theurgie in dieser Schrift und allgemein bei Plotin vgl. Merlan (1953), S. 344. - Schwyzer (1951), Sp. 580. - Wallis (1972), S. 71 f. Noch Ficino folgt Plotin in der mittleren Haltung, d. h. die Sterne drängen, zwingen den Menschen aber nicht; sie schaffen nur Dispositionen und Rahmenbedingungen des Handelns. Auch in der Einheit zwischen Piaton und Aristoteles, der Vereinigung Piatons mit anderen Weisheitsquellen (Hermes

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mittlere Haltung zum Wirken des Himmels auf die Menschen ein, d. h. er lehnt sie weder völlig ab noch bejaht er sie als universal, und für diese Haltung sucht er Bestätigung im Er-Mythos. Die Seelen sind für ihre Übel und Tugenden im Leben selbst verantwortlich und werden nur in bezug darauf belohnt oder bestraft, wobei das All und die Sterne mitwirken, da der Kosmos ein Lebewesen ist und alles in ihm in συμπάθεια steht; die Sterne als Beseeltes bewirken nicht Übles, sondern nur Gutes, das Einzelseelen aber oft nicht aufnehmen können. Die Tugend ist für Plotin herrenlos und frei, die Teilhabe an ihr gründet nicht in Planetenkonstellationen; nur äußere Bestimmungen, besonders körperliche Faktoren und Lebensumstände, hängen von bestimmten Planeten mit ab, aber jede Seele und jede Seelenart (wie in Enn. III, 1) ist durch ihre Vernunft grundsätzlich frei195 - göttliche Seelen sind vollständig von jedem Schicksalszwang befreit. Aber auch das Übel und die Verfehlungen haben ihren Ort und ihre Funktion im Ganzen, dessen Ordnung sie nie aufheben können, sondern letztlich nur bestätigen; v. a. die Kapitel Enn. III, 1, 7 und 15 ziehen explizit und eingehend den Er-Mythos heran, um Plotins Ansicht mit platonischer Bestätigung untermauern zu helfen. Da Plotin thematisch vorgeht, hat er die platonischen Texte nie systematisch und im Zusammenhang ausgelegt, sondern im Kontext bestimmter Sachfragen herangezogen, was sich noch bei Porphyrios1 Interesse am Er-Mythos zeigt, weshalb auch

Trismegistos) oder der Freude Gottes an verschiedenartigen Riten und Formeln folgt er dem Neuplatonismus. Ficino übersetzt folgerichtig Piaton, Plotin und die anderen Neuplatoniker (1474 schreibt er eine eigene Platonische Theologie) hierbei greift er auf Plethon und Cusanus als Quellen seines christlichen Neuplatonismus zurück. (Im S>w/>ario«-Kommentar gilt der Kosmos als konzentrische Kreisfolge; in der Platonischen Theologie bildet die Seele die dritte, mittlere Substanz im Sein, die alles in ihren Kategorien Raum und Zeit betrachtet - die folglich nicht mehr an den Dingen selbst bestehen. Die Seele ist die Bedingung der dynamischen, abgestuften Einheit des Seins, in der alles auf seelische Weise existiert; sie spiegelt die Seinsproportionen, und im Menschen kommt die Weltseele zum Bewußtsein, so daß Gott die Verbindung zur Schöpfung halten kann.) - Was die Vereinigungstendenz bezüglich der Quellen betrifft, so verbindet bereits der alexandrinische Neuplatonismus Piaton und Aristoteles; im Mittelalter wird Aristoteles (von Thomas oder Albert) oder Piaton (von den Chartrensem) der Besitz der christlichen Weisheit zugewiesen; Abaelard findet die Weisheit auch bei nichtchristlichen Autoren und Religionen; für Ficino reinigt der Neuplatonismus Piaton und vollendet ihn. Zur Freiheit bei Plotin vgl. allgemein: Henry (1931), S. 50 - 79, 180 - 215 und S. 318 - 339. - Trouillard (1955), S. 477 - 479. - Daß Plotin ein Konzept des Selbst hat, zeigt sich bereits an seiner Verwendung von αυτός, ίυτός und -ημέίς, wobei das Selbst sich in der unio mystica in seinem Aufstieg vollendet.

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Proklos nicht auf ihn zurückgriff, sondern nur auf die systematische Kommentarliteratur zum Mythos. Für Plotin war nicht nur der Mythos insgesamt von untergeordneter Bedeutung und bloß spezieller Relevanz, sondern der Er-Mythos war noch im besonderen von sehr geringem Gewicht und wurde den anderen (platonischen) Mythen nachgeordnet - trotz aller sachlichen Differenzen setzt sich diese Tendenz bei Proklos fort. Der Sach- und Aussagebereich, dem der Er-Mythos zugeordnet wurde, scheint seit dem Mittelplatonismus immer enger und spezieller geworden zu sein, so daß gesagt werden kann, seine Nähe zum Timaios sei ihm zum Verhängnis geworden, weil er hinter diesen zurücktrat als ihn einerseits bloß noch bestätigend und geringfügig variierend und als andererseits von untergeordneter eigener thematischer Relevanz im Ganzen des Systems. Proklos hat zuletzt den Mythos auf sehr geringem Niveau gefestigt und im Ganzen verortet - ein Prozeß, der seit Plutarch latent war wegen seines see/ewbezüglichen Gehalts und des Dualismus zum Timaios196; für den Neuplatonismus hat Plotin diese Tendenz bestimmt und festgelegt. Bei Porphyrios setzen sich die bei Plotin angelegten Entwicklungen fort, um bei Proklos systematisch ausgebaut und abgeschlossen zu werden. Porphyrios geht davon aus, daß die alten Weisen in bestimmten mythischen Gebilden das Göttliche bildhaft verrätselt zur Anwesenheit brachten, wobei die Übertragung einiges Wahre aus dem Verbildlichten ins Bild überführt.197 Das Symbol bzw. das Symbolgefüige (ein Begriff, den Plotin fast nie gebraucht und sachlich auch nicht untersucht) sind die Weise, von einem höheren Wissen ausgehend, das Göttliche in minderen Darstellungsformen, die sich auf sinnlich gebundene Wesen und Erkenntnisweisen beziehen, auszudrücken, wobei nur Teile und bestimmte Aspekte des Verbildlichten in seiner Wahrheit und Ganzheit übertragen werden können; die Knappheit des Mythos ist hier sein Vorteil. Damit dienen die mythischen Symbole dem Aufstieg derjenigen Seelen, die die Differenz und den Mangel durch das bildhaft Gegebene hindurch zu erfassen vermögen. Waren bei Plotin die Mythen mit ihrer Bildhaftigkeit noch vollständig in einen geistigen Gehalt auflösbar und übertragbar (Allegorie), so übersteigen bei Porphyrios die mythischen Symbole diese Auflösbarkeit, weil sie - vom Göttlichen herstammend und über es redend - das Wesen des Göttlichen im Sinnlichen eben nicht mehr vollständig

Zur dominanten Stellung des Timaios im vorplotinischen Piatonismus vgl. Dörrie (1976), S. 45. - Zum Proklischen T/maHos-Kommentar und seiner Tradition und Stellung vgl. Baltes (1978). Vgl. Porphyrios: De antra nympharum 36, 81,1 - 8 (Nauck).

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ausdrücken können.198 Das mythisch-physikalisch verhüllte Bild führt nicht mehr nur zum philosophischen Logos, sondern zur εποπτεία199, d. h. zur unmittelbaren, überdiskursiven Schau der Fülle des Wahren durch ein sittlich reines, seelisches Wesen. Das Symbol verbindet den Menschen und das Göttliche unmittelbar, ohne daß letzteres in dieser Relation vollständig präsent und erfaßbar wäre; deshalb reden die Mythen v. a. vom Wirken der Götter im seelischen Bereich und tragen der doppelten sinnlich-geistigen Natur der seelischen Erkenntnis Rechnung, indem sie einerseits ihren geistigen Gehalt freigeben und durchscheinen lassen, andererseits seine vollständige Auflösung in bezug auf das Wesen des Göttlichen unmöglich ist. Symbole zeigen das Göttliche in Wirkungen und Relationen, nicht in seinem Sein, so daß sie mit diesem nur teilidentisch oder teilähnlich sein können, wobei sie den übertragbaren Gehalt überdies sukzessiv teilhaft darstellen müssen.200 Erst die Einsicht in diese Disproportion ermöglicht eine Erschließung des positiven Relationsgehalts von Bildern und Symbolen; der menschlichen Erkenntnis bleibt nichts als die Herstellung der Einheit des Systems aller Symbole bzw. des Systems der (potentiellen) Mehrsinnigkeit jedes einzelnen Symbols, um fortschreiten zu können. Wie seine Vorgänger ist Porphyrios bemüht, die von ihm vertretene Ordnung des Seins mit den Autoritäten in Einklang zu bringen, ebenso die möglichen verschiedenen Sinnebenen eines Textes oder einer Entität parallel nebeneinander bestehenzulassen und hierarchisiert zu verbinden201 Das Höhere geht jedoch bei beiden Autoren nicht vollständig in seinen Bildern auf. Die Abfolge von Ethik, Physik und Epoptik findet sich ebenfalls etwa bei Plutarch (De Iside 382 d), Theon von Smyrna (Expos, rer. math. 14), Clemens von Alexandrien (Stromata I, 28) und Origenes (In Cant. cant. 75, 6). Diese Disziplinenteilung tritt auch in der Enneadenordnung des Porphyrios (vgl. Calcidius: In Tim. 272 und 335), dessen Anordnung der platonischen Dialoge und in seiner Allegorese auf. - Zur Epoptie vgl. Symp. 210 a 1. - Phaidros 250 c 4. Anders bei Iamblich: Bei ihm sind die Götter in den Symbolen anwesend, bei Porphyrios wirken sie von außen in ihnen. Vgl. Über die Standbilder 351 F - 354 F (Smith) mit sachlicher und terminologischer Nähe zu Proklos. Das läßt sich hinsichtlich der faktischen oder symbolischen Existenz des Hades feststellen. In den Sententiae 29 sind die Schatten im Hades körperartige Entitäten, die Körper und Seele verbinden und an die die Seelen nach dem Tod des lebendigen Körpers gebunden bleiben, so daß der Hades ein realer Ortftirdie Anwesenheit von unkörperlichen Seelen ist. An anderer Stelle (Über den Styx (Stobaios I, 418, 8 - 427, 3 = 373 F - 375 F und 377 F (Smith))) werden die Hadesstrafen allegorisch als Imaginationen gedeutet, aber als solche, die die Seelen nach ihrem wirklichen Tod erleiden, so daß nur körperlich-physische Seelenleiden abgelehnt werden. Daneben können ein transzendent-realer und ein

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oder die unterschiedlichen Zugangsformen des Menschen zum Höheren (Theurgie oder argumentative Philosophie) zu vereinen. Eine Eigenart der harmonisierenden Richtung seiner Exegese, die bei Proklos noch fortwirkt, ist es, den in Frage stehenden Autor zuerst aus sich selbst zu deuten und mit sich selbst und dann mit anderen Autoritäten in Einklang zu bringen, wie man einem Fragment aus Über den Styx entnehmen kann (Stobaios II, 1, 32 = 372 F (Smith)). Man soll den Auszulegenden, dort Homer, nicht gewaltsam anderen Quellen oder dem eigenen Denken anpassen wollen, sondern den in Rätseln verborgenen dogmatischen Hintersinn des Vorliegenden aus dem Autor selbst ableiten; ein Prinzip, an das Porphyrios sich selbst freilich nicht immer hält. Ein zentraler Text für Porphyrios' Auslegungsmethodik ist seine Schrift über die homerische Nymphengrotte (Odyssee XIII, 102 - 112) - für unseren Zusammenhang v. a. deshalb, weil sie diesen Text in der Tradition von Numenios und Kronios mit dem platonischen Er-Mythos in Verbindung bringt. Porphyrios universalisiert die Allegorese ausgehend vom Bereich der Seele und aus ihrer Seinsperspektive; er verbindet Dichter- und Mythenallegorese (beides im Gegensatz zur Stoa) und entfaltet die Deutung komplexer und detaillierter als Plotin. Im Ganzen ist die Odyssee für Porphyrios das narrative Bild für die zyklische Existenz der menschlichen Seele, die nach ihrem Sturz in die Welt des Werdens zu ihrem geistigen Ursprung zurückkehrt.202 Dabei ist die Grotte die symbolische Darstellung des innerweltlichen Bereichs, des sichtbaren Kosmos, bzw. des innerweltlichen Lebens der Seelen, wobei sie neben dieser höheren Bedeutungsebene auch schlicht und faktisch vorhanden war. Seit alters waren Grotten Orte kultisch-religiöser Akte, was sie für symbolische Bedeutungsübertragungen besonders tauglich machte. Durchgängig wird das Innere der Grotte bei Homer mit einer doppelten symbolischen Se-

diesseitig-metaphorischer Hades sehr wohl nebeneinander bestehen. Ebenso ζ. B. können wir in diesem Leben (allegorisch) zu "Tier-Bestien" werden, aber es nach dem Tod auch real werden (Stobaios I, 445, 14 - 448, 3 = 382 F (Smith). Für Deuse (1983), S. 137 f. ist dieser Text nicht von Porphyrios, den er zuvor auf eine der beschriebenen Positionen festgelegt hat), dergestalt, daß wir in einen Tierkörper eingehen, ohne eine irrationale Seele zu werden. - Diese Gedanken sind auch für Proklos im selben Kontext bestimmend, was Freiheit und Seelenwanderung betrifft. So weitet er den Begriff der σχέσ-ις universal aus, während Porphyrios ihn nur für die Seele-Körper-Relation einsetzt. Ζ. B. ist Circe die Allegorie der Seelenwanderung und wirkt quasi als körperlich verzaubernde Dämonin. - In Kapitel 29 der Schrift wird die pythagoreische Tafel wie im Er-Mythos verwendet; dagegen wird etwa die Atlantisdeutung späterer Autoren einheitlich aus der Prinzipienlehre des Sophistes vollzogen.

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mantik in Beziehung gesetzt - einerseits haben Urnen, Krüge, purpurne Gewänder und Bienen einen Bezug zu Wassergottheiten und deren Wirken in der Welt, andererseits weisen sie auf das Sein des Seelischen in der Welt hin.203 Durch das Einatmen feuchter Luft binden sich die Seelen an Körper. Wasser und Stein symbolisieren den Bereich des Stofflichen, in den die sich inkarnierenden Seelen herabsteigen; die Seelen weben sich Körper wie Gewänder; die Bienen und der Honig stehen für die Werdelust der Seelen und die Lust zu erzeugen, aber auch für den Trieb der Seelen, ins Geistige zurückzukehren (alle diese Gedanken tauchen später in Proklos' Deutung des Er-Mythos wieder auf). Die beiden Eingänge der Grotte stehen für die Wendekreiszeichen von Krebs und Steinbock, die für das menschliche Schicksal zentral sind, weil die Seelen von den Fixsternen zur Erde im Ausgang vom Krebs absteigen, und weil sie nach ihrem Tod vom Steinbock ausgehend wieder zum Fixsternhimmel aufsteigen, wobei Porphyrios den Er-Mythos bestätigend heranzieht, um diesen Weltbereich aus den Symbolen heraus in seiner göttlich-seelischen Wirklichkeit erkennen zu können. Der Ölbaum vor der Grotte steht für Athenes Weisheit (φρόνησις-, vgl. Kratylos

407 b und Über die Standbilder

359 F 60

- 62 (Smith), wo Athene dem Mond und Apollon der Sonne entspricht, und Macrobius: Saturnalia I, 17, 70) und die Tatsache, daß der Kosmos mit seinen Gesetzen einen göttlichen Grund hat und die Götter in ihm, dem Zufall übergeordnet, wirken. Odysseus kehrt über das "Meer der Unähnlichkeit" hinweg zum Geistigen und Göttlichen zurück, weshalb er für die Seele überhaupt steht. Das göttliche Wirken im Bereich des Seelischen ist also das verborgene Thema der mythischen Symbole sowohl bei Homer als auch bei Piaton und den anderen alten Weisen. Die Relation des Göttlichen zum Seelischen wird in beiden Richtungen in den Mythen verschlüsselt dargestellt, um sie einerseits den Unwürdigen, Unwissenden

Wassergötter und Seelen sind als mögliche Bedeutungsebenen aber beide auf das Werden bezogen. Die Deutung in Richtung auf die enhyletischen Götter ist aber nicht willkürlich, wie Praechter (1973), S. 187 behauptet, sondern tritt nur hinter die seelenbezogene Deutung als mindere Parallelebene zurück; Proklos verbindet später diese Götter wieder mit den Seelen. - Vielleicht hat Porphyrios in seiner Frühzeit Mythen und Symbole auf höhere Prinzipien als die Seele bezogen, später aber tut er das nicht mehr und läßt nur noch Analogien für Eines und Geist zu (vgl. Macrobius: In Somnium Scipionis 1, 2, 13 - 14). Wenn Plotin in verschiedenen Kontexten Zeus zum Symbol für Seele, Geist oder Eines macht (Enn. ΠΙ, 5, 8, 11 - 20 und VI, 9, 7, 21 - 26), so gründet das in der Uneigenständigkeit der Vergleiche, d. h. die Mythen werden nicht in sich systematisch interpretiert und auf einen eigenen Sachbereich bezogen wie bei Porphyrios.

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und im wahren Sinne Gottlosen vorzuenthalten, sie andererseits den Würdigen mitzuteilen und ihre Erkenntnis voranzubringen. Bei Proklos setzt sich das fort, und die Mythen werden zur regionalen 'Kryptotheologie' des Seelischen und der seelischen Götter, während die anderen platonischen Texte als ebenso verborgene Theologie größerer und höherer Seinsbereiche fungieren. Nicht mehr bloß jeder Einzeltext muß zu einem vollständigen, widerspruchslosen Ganzheitsgefüge von Hülle und Bedeutung je in sich und untereinander gemacht werden, sondern alle Texte müssen ein System dieser Art bilden, in dem alles seinen spezifischen Ort hat, und nur eine Methode mit ihren Prinzipien darf diese Einheit begründen; deshalb wendet Porphyrios, nicht erst Iamblich, als erster das Prinzip des "eTg σ·κοπός"20Α an. Es kann nur eine Deutung geben, die allen Elementen eines Textes ihre wahre, mit allen anderen Elementen verträgliche Bedeutung zuweisen kann; das Finden der richtigen, grundlegenden Deutungsebene, d. h. der Wirklichkeitsstufe, auf die man alles bezieht, entscheidet über Wahrheit und Einheit der Deutung. Dieses Prinzip der "henologischen Exegese" ist dabei dem Wirken des Einen selbst im Sein analog: Wie das Sein nur eine lückenlose Ganzheit ist, so auch jedes Deuten. Die Annäherung der Dichter- und Philosophenmythen an den Bereich der Seele und die Eingliederung von Mythos, Kult, Theurgie und Dialektik in den Horizont einer weit verstandenen Philosophie bzw. ihrer Erkenntnisfunktion gründen letztlich in der Stellung der Seele (als mittlerer Substanz zwischen Gott und Körper) in der zentralen, aber gefahrvollen Seinsmitte, von wo aus sie, in der Form der Zeit, durch das Seinsganze kreisend dieses zusammenhält. Dem Kampf um die Rettung der Seele entspringt auch Porphyrios' Interesse an den Mythen allgemein und dem Er-Mythos im besonderen, ebenso das Streben nach ihrer harmonischen Vereinigung, denn es kann nur einen Weg geben, die Seele im und für das Sein zu retten. Das Zurücktreten des Er-Mythos hinter den Timaios205 findet bei Porphyrios seine erste, ansatzweise systematische Begründung. Nicht nur ist sein r/ma/os-Kommentar das Fundament etwa von Macrobius' Kommentar zum Traum des Scipio, also einem Text, der letztlich auf den Er-Mythos zurückgeht, sondern v. a. hat Porphyrios erstmals grundsätzlich festgelegt, daß der Timaios nach der Politeia zu lesen sei, wobei die beiden Dialoge

Porphyrios: De antro nympharum 79, 19. - Vgl. auch Origenes: De principiis IV, 2, 9, 321,11 f. (Koetschau). Auch die popularphilosophische Platondarstellung und -deutung der Zeit stützt sich fast ausschließlich auf den Timaios, wie das dritte Kapitel bei Diogenes Laertios zeigt.

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im Verhältnis von Vorbereitung und ganzheitlicher Vollendung stünden 206 ; damit muß natürlich auch der Er-Mythos unter diese Bestimmung fallen. Weiterhin hat Porphyrios den Er-Mythos in gewissem Maße verselbständigt, weil er ihn aus sachlichen Gründen nicht im Rahmen seines Po/z'tez'a-Kommentars auslegte, sondern ihn isoliert in Über den freien Willen als Quelle zur Lösung des Freiheitsproblems heranzog. Dadurch hob sich der Schlußmythos vom Dialog zwar etwas ab, blieb aber dem Timaios untergeordnet, d. h. er stand gewissermaßen zwischen beiden Dialogen; alle diese Entwicklungen setzen sich bei Proklos mit Modifikationen fort, wodurch auch klar wird, warum er sich in seinem Kommentar zum Er-Mythos v. a. auf Porphyrios bezieht (In Rep. II, 96, 13 - 15). Wie schon angedeutet, ist der Er-Mythos wegen seiner Aussagen zum freien Willen der Seelen, mit dem sie ihren Ort im Kosmos bestimmen, von Bedeutung, denn die Seelen können durch ihre eigene Willensentscheidung Auf- und Abstieg im Sein bewirken, wozu sie sich selbst und das Sein erkennen müssen; Selbst- und Gotteserkenntnis sind also unlösbar. Die Philosophie dient der Reinigung und Rettung der Seelen, weshalb Porphyrios den Philosophen auch als Seelenarzt tituliert. 207 Neben ihrer ousiologisch-faktischen Stellung in der Seinsmitte ist die Seele aber auch durch ihren Willen und ihre Erkenntnis dynamisch auf die beiden Endpole des Seins, das Göttlich-Noetische und das Physisch-Stoffliche, gerichtet, d. h. sie muß eine Entscheidung über sich selbst und die Art ihres Wirkens treffen, die nicht einfach gegeben ist, weil die Seele in beiden Richtungen wirken will 208 , wobei die Ausrichtung nach unten ein (notwendiges) Übel ist und eine freie Selbstherabstufung der Seele innerhalb der unauflösbaren Seinstaxis darstellt. Ihr spezifisches Seiendsein, gemäß ihrem ontologischen Wesen, bestimmt die Seele also selbst durch ihren Willen. Ob Porphyrios einen eigen- und vollständigen Kommentar zur Politeia abgefaßt hat, ist zumindest fraglich, weil alle seine Bezugnahmen auf diesen Dialog, die aus einem Kommentar stammen könnten, sämtlich auf den Er-Mythos Bezug nehmen. Es ist möglich, daß Porphyrios EinzelabVgl. Proklos: In Tim. I, 202, 2 ff. - Die Abfolge von Politeia, Timaios und Parmenides entspricht derjenigen von Ethik, Physik und Epoptik, aber schon die Physik kann für die Neuplatoniker vom epoptischen Standpunkt aus betrieben werden; alle Disziplinen dienen insgesamt dem Aufstieg der Seele. - Noch bei Schleiermacher findet sich eine ähnliche Aufteilung des platonischen Systems, bei ihm jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Vgl. Porphyrios: Ad Marcellam 31. - Zur Identität' von Philosophie und Theologie vgl. Porphyrios: Ad Marc. 16. Vgl. Proklos: In Tim. Π, 105, 2 ff. - Siehe dazu auch: Porphyrios: Sententiae 33, 16 ff. und 40, £ ff.

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handlungen zur Politeia verfaßt hat, wie später Proklos, aber deren Form und Umfang sind nicht mehr zu rekonstruieren, ebensowenig, ob er den Er-Mythos in ausgezeichneter Weise interpretiert hat (wie Proklos, der ihn als einzigen Politeia-Text in Form eines Lemma-Kommentars behandelte); die Spannbreite der Kommentarformen, die sich bei Proklos findet - mit dem Timaios und der Politeia als Extremen - , könnte aber schon bei Porphyrios vorhanden gewesen sein. In Über den freien Willen209 zieht Porphyrios den Er-Mythos zur Verhältnisbestimmung von Freiheit und Notwendigkeit heran, ebenso zu damit verbundenen Unterscheidungen zwischen Seelenzuständen und Fragen der Transmigration. Wie an vielen anderen Stellen verbindet Porphyrios auch hier literale und allegorische Auslegungsebenen und -aspekte, um zu einer Gesamtlösung zu gelangen; ebenso wird die Konkordanz mit Homer angestrebt. Zentrales Thema ist das genaue Verständnis der Wahl des Lebens: In den verschiedenen Konstellationen der Gestirne sind die Lebensformen, wie die Schrift auf einer Tafel, in die Himmelskugel eingeschrieben, wobei die Sterne auf den menschlichen Bereich nicht kausal einwirken, sondern in ihren Stellungen nur ankündigende Bedeutung haben. 210 Die Seelen schauen die Lebensformen und wählen sich dann eine der Konfigurationen aus (erste Wahl), wonach sie an eine Stelle des Himmelsbaus geführt werden, die in ihrer Sternkonstellation dieses Leben 'ankündigt'. Danach erfolgt eine zweite Wahl, die die bloß richtungs- und gattungsbestimmte Grundwahl spezifiziert, d. h. in der ersten Wahl wird festgelegt, ob man in einem menschlichen oder tierischen Körper lebt, in der zweiten Wahl, welches menschliche oder tierische Leben genau man führen wird.211 Porphyrios meint damit einen zusammenhängenden Prozeß der Einkörperung der Seelen, nicht zwei verschiedene Arten derselben. Vor der Wahl des ersten Lebens ist die Seele weder menschlich noch tierisch, d. h. sie erfüllt nur ihr ontologisches Werk, überhaupt zu leben; mit dem ersten Leben ist die Seele 'Mensch' oder 'Tier', was in der Wahl des zweiten Lebens nur noch genau bestimmt wird. Solcherart gelingt es Porphyrios, die tradierte platonische Seelenwanderungslehre, die das Eingehen in Tiere erlaubt, mit einer allegorisierend-beschränkenden Deutung 212 zu verbinden. Vor der ersten Wahl gilt das platonische Dogma; 209

210 211

212

Stobaios Π, 163,17 - 173, 2 = 268 F - 271 F (Smith). So schon bei Plotin: Enn. ΙΠ, 1,6 und Π, 3, 7. Es handelt sich bei der Wahl also um verschiedene Relationstypen und -bereiche. Nach der Lösung von der Menschenseele und dem Menschenkörper (= βίος) sind beide nicht mehr so zu nennen, und ein Wechsel zwischen den Lebensformen ist möglich. Vgl. Deuse (1983), S. 129 - 167.

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Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

nach der ersten Wahl ist es (dihairetisch) unmöglich, daß einmal menschlich gewordene Seelen noch in Tierkörper eingehen können, sondern sie können nur im allegorischen Sinne 'tierisch' (in Menschenkörpern) leben, etwa als Tyrannen. Damit hat Porphyrios grundsätzlich Übergängigkeit und strenge Trennung zwischen Mensch und Tier verbunden, denn nach der Trennung vom jeweiligen Körper beginnt der Zyklus auf identische Weise erneut. Proklos geht später von dieser doppelten Wahl wieder ab, ist aber auch der Ansicht, daß menschliche nicht zu tierischen Seelen werden können 213 , sondern sich durch ihre Wahl nur an tierische Körper zu binden vermögen. Ebenso lehnt er es ab, den zeitgleichen Wiedereintritt von Menschen und Tieren in das Leben mit asynchronen Wahlzeitpunkten zu verbinden, eine These, die Porphyrios annahm, um dem Einwand zu entgehen, Menschen und Tiere würden dennoch unter derselben Himmelskonstellation geboren, müßten folglich auch unter derselben gewählt haben. Bei Porphyrios läßt sich insgesamt die bezugnehmende Ordnung des Er-Mythos unter den Timaios nachweisen, aber auch die Zuordnung dieses Mythos zum Bereich des Seelischen bzw. seine Einordnung als Quelle zur Lösung spezifischer Sachfragen, die die Seele betreffen Tendenzen, die bei Proklos ihre abschließende Darstellung und Vollendung erfahren.

Β Allgemeine Anmerkungen zum Phänomen des Mythischen bei Proklos Was Proklos selbst betrifft, soll im folgenden versucht werden, einige allgemeine Grundzüge seines Mythenverständnisses aufzuzeigen und sie in ihren philosophisch-theologischen Hintergrund einzubetten, um eine Basis für die dann folgende Analyse seines Kommentars zum Er-Mythos gewinnen zu können. In 'Peri tes kath' Hellenas hieratikes technes' versucht Proklos, eine als τέχναι-Gefiige verstandene Hieratik und Theurgie214, als Rückkehrmodus der Seele zum Göttlichen, ontologisch und epistemologisch grundzulegen. Zwischen den irdischen Dingen und ihren göttlichen Gründen besteht das Faktum einer universalen Verwandtschaftsund Sympathiebeziehung (die Sympathie bedeutet eine technisch erzeugte Diese grundsätzliche Festlegung geht wohl auf Porphyrios zurück und gilt in der Folge bei Iamblich (De mysteriis 24, 4), Proklos (In Tim. ΙΠ, 294, 21 f. und In Rep. Π, 309,28 f.) und Sallustius (20). Zur Theurgie bei Proklos und im Neuplatonismus insgesamt vgl. Praechter (1973). - Gombocz (1997), S. 221 f. - Zintzen (1965), S. 94 - 98. - Dodds (1951), S. 283 - 311. - Hopfner (1936), Sp. 258 - 270. - Esser (1967). - Saf&ey (1984a), S. 161 -171. - Sheppard (1980), S. 150 - 156. - Sheppard (1982), S. 212 - 224.

Das Mythische bei Proklos

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Präsenz, die die Seinsgesetze nutzt), weil erstere Abbilder der letzteren sind. Alle Phänomene stehen untereinander und zu ihren Gründen in einem systematischen Wirk- und Relationsgefüge, das es zu erkennen gilt und das sich von Göttern, Engeln und Dämonen bis zu Mensch, Tier, Pflanze und Stein erstreckt. Alles Intelligible ist im Sinnlichen präsent, alles Sinnliche präexistiert im Noetischen, und wer alle horizontalen und vertikalen Analogiezusammenhänge im Sein kennt, kann die höheren Gründe systematisch, eben durch dieses technische Wissen, im Sinnlichen zur Anwesenheit bringen. Die Lückenlosigkeit des Seinskosmos macht alle Dinge zum Hymnus auf ihre jeweiligen Monaden und insgesamt zum Hymnus auf das Eine. Jedes Ding ist ein mehr oder weniger starkes Symbol einer göttlichen δύναμις, und jede Monade gründet eine Symbolkette, in der sie in abnehmendem Maße präsent ist, wobei jedes Einzelding in seinem Teilhabegrad auf das Erste als Fülle und Ganzheit einer bestimmten Kraft verweist. Wenn ein Mensch, eben der Priester und Theurg, weiß, welche Kraft in jedem Seienden symbolisch anwesend ist, kann er bestimmte Dinge trennen und verbinden (mischen)215 und so spezifische Symbolgefüge und Götterpräsenzen hervorbringen, womit er zugleich die πρόνοια der Götter erkennt und ihr Wirken nachahmt. Das Symbol verbindet unsinnliche Gründe mit sinnlichen Dingen, die als deren verhüllende Präsenzen gedacht werden und als solche zu erkennen sind, um die Seele aufsteigen zu lassen. Das Symbolgefüge ist sukzessiv und hierarchisch wie das Sein selbst, wobei der Unterschied zwischen natürlichen Götterpräsenzen in Symbolen und technischen Symbolen zweitrangig ist, da beide letztlich auf die gleiche Weise eidetisch-intelligibel fundiert sind und ein System bilden216, das das Wirken der göttlichen auch in der menschlichen πρόνοια ausdrückt. Neben diesen in der Form menschlich-technischer Erkenntnis wirkenden und gegebenen Symbolen217 und wiederum mit ihr verbunden gibt es noch unmittelbarere, aber teilhafite symbolische Offenbarungen des Göttlichen an die Seelen, etwa in Autophanien, die in menschlichen Ausnahmezuständen stattfinden. In diesen fügen die Götter alle ErkenntnisverDie μίξις bezieht sich hier auf die τεχναι: Alle Symbole sind nur teilhaft und teiladäquat, auch die dialektischen und mythischen Namen der Götter, weshalb die Mischung sie verbinden muß. Vgl. Proklos: In Parm. 828 f. und 835 f. Die Symbole vermitteln auch in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen das Sinnliche mit dem Geistigen und den Formen seiner Aktivität (in Sprache, Mythos, Religion, Kunst und Wissenschaft), wobei Raum, Zeit und Zahl als zentrale Kategorien fungieren. Die von Cassirer genannten Bereiche und seine 'symbolische Deduktion' sind identisch mit denen bei Proklos.

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Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

mögen der Seele (auf der Grundlage des Primats der φαντασία vor der α'ισ-θησ-ις) in einen aufsteigenden Sukzess, und die 'sinnlichen' Komponenten haben neben ihrem symbolisch-verhüllenden Charakter keine Eigenständigkeit mehr, wie etwa ein Stein sie hat, sondern sind rein innerseelische Verbergungsmodi und uneigentliche Präsenzen unsinnlicher Sachverhalte, die es zu erkennen gilt. Mythen gebrauchen Symbole in diesem Sinn, ebenso aber auch Logoi v. a. in ihren Rahmenpartien, so daß beide in den Bereich symbolischer Erkenntnis gehören. In De philosophia chaldaica (V, 5, 8 - 25) unterscheidet Proklos Bild und Symbol 218 und ordnet ersteres den noetischen Logoi, letzteres den göttlichen Henaden zu, wobei die Seele beides ist und an beidem Anteil hat, so daß sie in sich einen göttlich bewirkten Erkenntniszusammenhang darstellt. Die höchste Ebene ist die der Theologie, und die Mythendeutung hat, wie jede gute Deutung, die Sichtbarmachung verhüllter Götterpräsenzen zum Ziel. Die Theologie ist das System universaler Herausarbeitung von Götterpräsenzen

Vgl. Proklos: PTI, 4. - Proklos scheint eine Ordnung der Arten von Ähnlichkeit aufzeigen zu wollen; in der oben angegebenen Stelle ordnet er die Folge von Bild und Symbol auch den Pythagoreern zu, die Bilder den Symbolen vorordneten, und wendet sie auf den Anfang des Timaios an: Die Wiederholung der Politeia ist bildhafte, die Atlantis-Erzählung ist mythisch-symbolische Propädeutik (παράδοσις) für die Schöpfung des Alls (vgl. In Tim. I, 30, 11 - 15); der Timaios ist auch insgesamt bildhafte Physik. In Rep. I, 84,22 - 26 ordnet Proklos Bilder der παιδεία zu, Symbole der Mystagogie, wobei Piatons Mythen sogar auf beiden Ebenen Sinn zu machen scheinen, anders als bei Homer. Selbst bei den paideutischen Bildern scheint der Sinn aber in der Darstellung theologischer Grundsätze zu liegen, etwa daß die Götter nichts Übles tun. Proklos bemüht sich meist, in den platonischen Mythen Bilder von Symbolen zu unterscheiden oder über Bildern wenigstens noch einen höheren symbolischen Sinn derselben Sache aufzuzeigen, etwa bei den Wegen im Hades (deren Deutung als Dämonenklassen den Vorrang vor Lohn und Strafe als Sinnmomenten der Wege hat), so daß eine Sache mehrere, hierarchisierte Sinnebenen koexistent haben kann. Generell sind platonische Mythen jedoch inspiriert und sollen symbolisch gesehen werden. Man muß unterscheiden zwischen inspirierten Mythen und Dichtungen, die ihren Gehalt in eikastischen, mimetischen Gebilden verbergen, d. h. scheinbar mimetisch sind, und Dichtungen, die wirklich mimetisch sind, weil sie nichts Göttliches nachbilden. Symbole sind keine Nachahmungen, sondern gottbewirkte Entitäten, die die Erkenntnis der Seele bis zum Göttlichen erheben, wobei die Mehrschichtigkeit des Symbols Epoptie, noetisches Denken ontologischer Prinzipien, physikalisch-moralische Belehrung und bildhafte Vorstellungen, die sich selbst, nichts oder anderes bedeuten können, verbindet. In PT I, 2, 10 muß der Hörer, bevor er zur Theologie kommt, moralisch rein sein, Physik und Logik beherrschen.

Das Mythische bei Proklos

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in allen Formen ihrer (notwendig verhüllt gedachten) Anwesenheiten und ihrer Ordnung, wobei im Symbol die Unähnlichkeit gehaltlich, nicht mehr nur formal wie beim Bild, zur Ähnlichkeit hinzutritt; die Ähnlichkeit ist im Symbol verhüllt anwesend, anders als im Bild, so daß man von der Symbolik als einer Kryptosemantik des Göttlichen sprechen kann. Im Gegensatz zu Plotin deutet Proklos das Symbol nicht mehr selbst als sukzessive Entfaltung synchroner Sachverhalte, sondern nur die Symbolfolge in Mythen zeigt ein Eines in der Weise des Nacheinander. Dabei verbinden die Mythen alle Arten von Symbolen, stofflich-gegenständliche und formale, logisch-ungegenständliche, die allesamt einen geistigen, zuletzt theologischen, Sinn verhüllt repräsentieren. Die göttlichen Präsenzen in mythischen Symbolen sind vom Exegeten als in seienden, ontologischen Prinzipien und Sachverhalten Gemeintes zu identifizieren, mit diesen in Zusammenhang zu bringen und dann wieder mythisch-theologisch verdichtet (in Götternamen) zu restituieren, so daß das Symbol zwischen dem Sein und dem überseienden Göttlichen einen zyklisch-dynamischen Erkenntniszusammenhang komprimiert zum Ausdruck bringt. Im Po//te/a-Kommentar bringt Proklos Mythen und Symbole in einen Bezug zur Poetik 219 , zu der die Mythen ja auch gehören, wobei er die symbolerfüllten Mythen von der mimetischen Dichtung unterscheidet: Symbole zeigen das wahre Wesen bestimmter Dinge auch durch eine έναντίωσ-ις an, nicht nur durch Ähnlichkeit, während Nachahmungen (wie ζ. B. Bilder) nie wirkliche Gegenteile des von ihnen Nachgeahmten sein können. Im Anschluß an den Ion deutet Proklos die symbolische Dichtung als Hermeneutik des Göttlichen, so daß der entheastische und enthusiastische Dichter kein Nachahmer sein kann, sondern das Wahre zeigt, wie es die Aufgabe der εποπτεία ist.220 Was die Mythen dennoch an mimetischen

Noch bei Vico ζ. B. gilt die Anfangsepoche der Welt und des Wissens als höchste Stufe, wobei für ihn die mytho-poietische, imaginative Dichtung, als Deutungsund Erkenntnismodus, einen ursprünglichen Vorrang vor der begrifflichen Philosophie besitzt, während Proklos den Dichter selbst zu einem speziellen Philosophentyp erhebt, den Begriff über die Phantasie stellt und ihn in der Dichtung als bestimmendes Moment anwesend sein läßt, d. h. die Dichtung ist zuhöchst und ursprünglich eine verhüllte Präsenz philosophisch-begrifflichen Wissens. Vgl. Proklos: In Rep. 1, 198, 8 - 20. - Der Ion ist eine wichtige Quelle der neuplatonischen Exegeseterminologie und Auffassung vom Wesen der Dichtung, wie die Begriffe ερμηνβύς, βξηγησΊς, διάνοια und überhaupt der göttliche Bezug und die magnetische Kette belegen. - Generell werden Piatons Frühdialoge nur insofern von den Neuplatonikem herangezogen, als sie positiv affirmative Bestimmungsversuche enthalten oder zu solchen hingedeutet werden; man übernimmt bestimmte Partien - etwa den /Votagoras-Mythos Terminologien oder Definitio-

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Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

Effekten aufbieten, liegt nur auf der Ebene der Verhüllungsfunktionen und ist 'eigentlich' symbolisch zu überhöhen. Dichterisch-mythische Symbole gehören im weitesten Sinne zu den ungegenständlichen, technisch gemachten Gebilden, d. h. sie sind nicht Symbole in dem Sinn, wie es faktische, materielle Gegenstände sein können, sondern sind als formale, erzählte, vorgestellte Sachverhalte Verhüllungen geistiger Dinge; sowohl Seiendes als auch dargestelltes Seiendes können als Symbole fungieren. Wie alle Symbole sind aber auch diese theologisch zu verstehen und verbinden menschliche Seelen mit den Göttern - eine Tendenz, die Proklos nur verallgemeinert und systematisch spezifiziert. Analog den gegenständlichen Symbolen bildet das Eigensein des Mediums und des Verhüllungsträgers für sich genommen auch bei ungegenständlichen Symbolen einen gewissen Gegensatz zum verborgenen Gehalt. Sowohl ein Stein z.B. als auch die 'unmoralischen' Geschichten Homers sind an sich Gegenteile dessen, was sie an Bedeutung tragen können; in diesem Gesetz zeigt sich zugleich das ontologische Prinzip, daß das Eine und die Grundursachen bis ins Letzte hinein wirken, denn die Symbole gründen, wie jedes Seiende, in der göttlichen Kausalität. Anders als bei den Steinen zwingen die absurden Hüllen bestimmter Mythen den würdigen Hörer oder Leser, nach einem höheren inneren Sinn zu suchen, weshalb die Erkenntnisfunktion der Mythen für den Aufstieg der Seelen wichtiger ist als bei anderen gegenständlichen Symbolen. Generell zwingen aber alle Symbole die Seele in gewissem Maße dazu, die Wahrheit ihrer Verborgenheit aktiv zu entreißen. Das relationale Wesen des Seins zeigt sich in der seinsbezogenen, auf die Theologie als letzten Zweck gerichteten, universalen symbolischen Epistemologie, die die Erkenntnis der Seele durch das Sein hindurch zum Göttlichen hinführt, weil alles Seiende und alle Symbole vom ersten bis zum letzten ein relationales, nach oben weisendes Gefuge bilden. Weder Symbol noch Seiendes jedoch ermöglichen einen sprungfreien Übergang in die Einung mit dem überseienden Einen, sondern bereiten darauf nur vor; auch das Wissen um die platonische Theologie in Proklos' Sinne bleibt ein Wissen unter dem Einen selbst, ihm nur das Nächste. Dabei ist die Prinzipienfolge des platonischen Parmenides die ganzheitliche Symbolik des Göttlichen, während andere platonische Texte teilhaftere Symbole geben.221 Insgesamt ist alles in ein System des theologischen nen - etwa die θεραπεία των θειων - , die man ihrer funktionalen Vorläufigkeit enthebt, in das platonische System. Die Zahl der herangezogenen (platonischen) Quellen der Theologie und der Grad ihrer systematischen Auswertung und Inbezugsetzung haben bei Proklos ihren Höhepunkt erreicht, so daß man die vielbemerkte und -gescholtene Hypostasenausdifferenzierung auch im Lichte der Proklischen Exegese sehen

Das Mythische bei Proklos

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Wissens einzuordnen und dort in Beziehung zu setzen; erst diese eine Theologie kann ein Hymnus, ein Symbol des Einen selbst genannt werden, das in der menschlichen Seele existiert. Um das System der Theologie historisch und systematisch zu einer Einheit zu bringen, konstruiert Proklos einerseits eine historische Kontinuität zwischen den Exegeten der Epoptie222 und der geheim tradierten mystischen Wahrheit von Plotin bis Syrianus (PT I, l) 223 , die das System herausarbeiteten und in seinen Teilen gegeneinander bestimmten, wobei einige mehr Philosophen und Dialektiker, andere mehr Theurgen und Theologen waren, andererseits unterscheidet er Formen der Lehre, in denen die Weisen primär ihr Wissen darstellten, und setzt diese ins Verhältnis, d. h. die universal verstandene Theologie äußerte sich in den Formen des symbolischen Mythos, des Bildes, der entheastischen Mysterien und der dialektischen έπιστημ.'η (PT I, 4). Piaton ist derjenige, der alle diese Weisen theologischer Dogmatik systematisch gebraucht, in Bezug setzt und ihre spezifischen Vertreter in eine Einheit zusammenfuhrt, so daß in ihm die eine Wahrheit über alles Göttliche in allen möglichen

muß: Da allein der Parmenides als σκοπός die Theologie als Wissenschaft vom Einen enthält und die Zahl der anderen Quellen stark zugenommen hat, ist es nicht mehr möglich, die ersten drei Hypothesen global den ersten drei Hypostasen zuzuordnen, sondern jede Hypothese muß im Detail zu den vielen Unterhypostasen und Nebenquellen in Bezug gesetzt werden. (Vgl. Saffrey (1987), S. 33.) So enthält schon die zweite Hypothese alles Göttliche und Seiende bis hinab zu den Seelen und wird in PT ΠΙ - VI entfaltet, während PT Π auf den Kommentar zur ersten Hypothese zurückgreift, wobei gesagt werden kann, daß die weiteren Hypothesen, samt ihren Gegenstandsbereichen, in den übrigen Kommentaren des Proklos eingehend ausgelegt werden. (Daß Proklos hier mehr an Syrianus als an Iamblich anknüpft, für den der Parmenides nicht die gesamte Theologie umfaßte, zeigt Saffrey im eben genannten Aufsatz auf S. 39 f. und 43 f.) - Einen eigenständigen Kommentar auch zur zweiten Hypothese postuliert Saffrey (1961), S. 320. Die Metaphysik als Epoptie ist für Proklos das Hauptobjekt der Exegese; die Philosophie' tritt dabei hinter das Wissen zurück. Auf die Ähnlichkeit des historischen Abschnitts in Proklos' Text zu Ansichten des Hierokles von Alexandrien (vgl. Codex 214, 173 a) verweist Westerink (1987), S. 106. - Zur mystischen Identität aller Autoritäten als Wahrheit und Ziel der Erkenntnis vgl. Geizer (1966), S. 3. - Saffrey (1992), S. 35 - 50. - Zu den Bezügen und Differenzen der späten Neuplatoniker zu Plotin vgl. Blumenthal (1981), S. 212 - 222. - Im Codex 251 (463 a 32 ff.) bei Photius geht Hierokles auf den ErMythos ein, wenn er davon spricht, die Wahl hänge von uns ab, die Dämonen leiteten uns oder die Folgen des Lebens hingen vom Los ab (vgl. auch 465 a 40 ff. und 466 a 21 ff.).

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Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

Verhüllungsformen präsent und verbunden ist.224 Dabei sind alle Lehrformen deutungsbedürftig und zu einer einzigen Wahrheitsebene hinzufuhren, die sie vollständig beschreiben; alle theologischen Texte sagen letztlich dasselbe über dasselbe, nämlich die Ganzheit des Göttlichen in seinem Zusammenhang und seinen Wirkungen. Bevor der Kommentar zum Er-Mythos in seinen Einzelheiten analysiert wird, soll versucht werden, anhand der PT bzw. einiger ausgewählter Abschnitte derselben den unmittelbaren Hintergrund des Kommentars anzudeuten. Zu Proklos1 Verständnis von Piatons Mythen (und von Piatons eigenem Verständnis seiner Mythen) läßt sich einiges allgemein ausmachen, aber auch die Verbindung zwischen dem systematischen Grundriß der Theologie, eben in der PT, und dem Er-Mythos läßt sich umreißen, weil v. a. das Kapitel VI, 23 nicht nur ein funktionsbedingter Auszug aus dem Kommentar zum Mythos ist, sondern auch den Mythos in das Ganze der Theologie einordnet und ihn als genau bestimmten Teil dieses Wissens definiert. Im vierten Kapitel des ersten Buchs der PT unterscheidet Proklos vier Formen theologischer Lehre, die von Piaton gebraucht werden, nämlich Entheastik, Dialektik, Symbolik und Bilder.225 Piaton verwendet in seinen verschiedenen Schriften alle diese Formen, während die älteren Weisen sich in ihren Äußerungen jeweils auf eine Form beschränken, weshalb Piaton, da er formal und inhaltlich das Gesamtwissen über das Göttliche in einer Einheit hervortreten läßt, auch seine Vorgänger formal und inhaltlich in das Ganze integriert.226 Daher kann Proklos den Darstellungsformen nicht nur bestimmte platonische Texte zuweisen, sondern auch bestimmte vorplatonische Quellen des Wissens. So ordnet er Orpheus die symbolische Redeweise zu, den Pythagoreern die (mathematischen) Bilder (απόφανσις), den Mysterien, d. h. besonders den Chaldäischen

Orakeln, die

Entheastik (αίνιγμα oder θεία enimoia) und Piaton spezifisch die επιστημη

Vgl. dazu Porphyrios' Aussagen über Mythen und alte Theologie in 351 F (Smith). Die Theologie als Epoptie vereinigt Physik, Dialektik und Mathematik. Nicht die Neuerung, sondern die Vereinigung des Bestehenden gilt als Inspiration, d. h. das Aufzeigen der impliziten Identitätsbeziehung zwischen den bestehenden Quellen auf eine eigene Weise, bei Piaton der der βττκττημτ). In PT IV, 13, 42 f. vollendet die wahre Wissenschaft die Seelen und umkreist das Sein diskursiv; hierbei kommt Piaton eine besondere Funktion zu. Piaton eint alle vier Arten der Darstellung, von denen er drei übernimmt und integriert, weil er kein Neuerer sein soll. Zugleich ist die Einigung der griechischen Tradition bei Proklos antichristlich intendiert.

Das Mythische bei Proklos

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(apodeiktische Dialektik).227 Diese Zuordnung der Dialektik zu Piaton gründet wohl im neuplatonischen Verständnis des Zentralwerkes Parmenides als eines dialektischen Dialogs, aber daneben gebraucht Piaton alle Formen, in manchen Texten mehrere nebeneinander (im Parmenides etwa neben Beweisen auch Symbole und Rätsel). Der Dialektik wird neben dem Parmenides der Sophistes zugewiesen; den symbolischen Mythen werden Gorgias, Symposion oder Protagoras zugeteilt; Timaios und Politikos gebrauchen v. a. Bilder, die vom Ethisch-Physischen ausgehen, aber auch Symbole, so wie der Phaidros entheastisch redet, jedoch auch Symbole verwendet.228 Die Formen sind bei Piaton nicht mehr r^in zu trennen; wie sich noch zeigen wird, finden sich für Proklos auch im ErMythos alle Formen theologischer Dogmatik in verschiedenen Gewichtungen. Jeder platonische Text redet auf eine bestimmte Weise oder vielfaltig von verschiedenen Götterarten, was den Quellenwert und Rang, den jeder Text im System besitzt, begründet. Der Phaidros und der Timaios handeln von mehreren Götterstufen, weshalb sie eine hohe Stellung im System der platonischen Mystagogie einnehmen.

Man muß annehmen, daß zumindest die historische Dimension auf Syrianus zurückzuführen ist, zu dessen Schriften ein Werk über die Übereinstimmung zwischen den Lehren des Orpheus, der Pythagoreer, Platans und der Orakel gezählt wird. Syrianus hat für Proklos die systematische Einigung der Theologie begründet, weshalb er ihn als Führer zur mystischen Wahrheit und als letzten großen Epopten verehrt (PTI, 1, 7); auch PTIV, 23,69, 8 -12 ist in diesem Sinne sicher auf Syrianus zu beziehen. Grundsätzlich ist Proklos nur ein beispielhafter Vertreter der generellen neuplatonischen Suche nach der ιτυμφονία. der Autoritäten, die spätestens mit Porphyrios ihren Anfang nahm und bis zuletzt als Aufgabe verstanden wurde (Hierokles, Damaskios). - Noch Lessing (1996), VIII, 5. 560 geht bei Gelegenheit seines Bekenntnisses zur Metempsychose von denselben Urquellen der menschlichen Weisheit aus. Zum Sophistes bei Proklos vgl. Steel (1992), S. 51 - 64. - Der entheastische Logos hat für Proklos überredende Funktion (PT I, 6, 29, 14 -17), was bezüglich der Palinodie im Phaidros völlig richtig ist; während bei Piaton aber die überredende Rhetorik im zweiten Teil von der Dialektik abhängt, ist sie für Proklos Überredung zur πίστις bezüglich der göttlichen Wahrheit. - Alle Lehrformen haben aber einen heimeneutischen Zweck und Gehalt, der außerhalb ihrer selbst liegt (ου'ένεκαoder eWa σκοπών), etwa die Übung des göttlichen Seelenteils zur Erkenntnis grundsätzlicher Seins- und Kausalrelationen, die es beim Deuten zu beachten gilt - ζ. B. Bilder und Stoffliches auf Modelle und Unstoffliches zurückzuführen und eine Selbstzweckhaftigkeit der Lehrformen zu vermeiden. - Der Zweck des Er-Mythos ist die άπό^ιξις der Gerechtigkeit (PT I, 6, 28, 24 f. und In Rep. Π, 97, 10 - 18), woran die gegenseitige Durchdringung der Lehrformen ersichtlich ist.

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Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

Alle Lehrformen fordern vom Exegeten229 die Fähigkeit der Übertragung und Rückführung zum Grund, der Durchdringung des uneigentlich Gesagten auf den eigentlichen Gehalt hin, der Analyse synthetischer Gebilde, weshalb das symbolisch Ausgedrückte in klare Lehre überführt werden soll. Die propädeutischen sollen in Musterbilder zurückgeführt werden (PT I, 2, 9), die dialektischen Logoi in göttliche γνωσ-ις und nitreις münden, die Mysterien sollen zur reinen Schau und unbewegten Bindung an das Göttliche hinleiten. Dabei ist es schwer zu sagen, ob und wieweit Proklos die vier Grundlehrformen hierarchisch und als Aufstiegsbewegung versteht (mit einer spezifischen Zuordnung von Bild zu α'ισθιμπς, von Symbol zu φαντασία, von Dialektik zu διάνοια und von Mysterium zu νόησ-ις), da sie sich in vielen Texten durchdringen und auf alle Götterstufen angewendet zu werden scheinen; so gibt der dialektische Parmenides jeder Götterstufe ein qua Negation des Einen bewirktes, ontologisches Prinzipiensymbol. Was die Mythen betrifft, so akzeptiert Proklos nur solche, die die Wahrheit schön umhüllen und deren υπόνοια die theologischen Hypothesen darstellt, etwa Güte, Unwandelbarkeit und Wahrheit der Götter (PT I, 4, 21); die wahren Mythen sind alt, und ihre Umhüllungen weisen einen Bezug zur Natur auf230, während man bei der Auslegung des Gehalts die Götter im Mythos vom Physischen reinhalten soll, υπόνοια und φαινόμβvov231 sind zu unterscheiden; der Mythos als Gebilde soll nicht insgesamt vom physischen Charakter der Hülle her gedeutet werden (PT I, 4, 22 f.). Die Notwendigkeit der Exegese verdeutlicht insgesamt den Aspekt der notwendigen Text(-quellen-)Gebundenheit der theologischen Mystagogie. Implizit scheint Proklos zwischen "alten Mythen", die Piaton nur mythisch erzählt (weil er ihren Symbolgehalt durchdringt) und die ursprüngliche Visionen anderer waren, und eigentlich "platonischen Mythen" zu unterscheiden, wie der Palinodie des Sokrates im Phaidros, die er als Entheastik definiert. Die Nähe des Mythos durch seine Hüllen zur physis verweist zugleich auf den physischen Charakter von Bildern. Die Götter selbst sind άπλοΰ?, μονοειδής und jenseits von Vielheit, haipeσις, μέρη, διάστασις, σχίσις oder σΰνθβοΊς, wie sie in den Phänomenen auftreten, weil die φαντασία sie nur πολυβίδής und polymorph erfassen kann. In den seelischen Erkenntnisweisen können die Götter sich keine gegensatzfreien (überseienden) Repräsentationen geben, sondern die göttliche Wahrheit kann in allen Logoi und psychischen Erkenntnisweisen nur gemischt mit ihrem Gegenteil und zum Teil uneigentlich auftreten, da sowohl Meinung als auch Wissen noch irgendwelche Teile und Gegensätze als im Göttlichen real gegeben annehmen - wobei die Gegensätze zum Geistbereich hin immer mehr verbunden auftreten. Für Proklos ist das (Real-)Sein und Erkennen von Gegensätzen das Sein des Seienden selbst und eben nicht der Götter (vgl. PT I, 20 - 21). Deshalb ziehen die Götter im

Das Mythische bei Proklos

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Die Wahrheiten über das Göttliche im ganzen sind über alle Dialoge Piatons verstreut, in einigen bestehen sie verdunkelt, in anderen liegen sie klar zutage (PT I, 5, 23, 22 - 25), in einigen finden sie mehr und universalere Aussagen, in anderen weniger und teilhaftere. Wie die Götter in der Natur viele verschiedenartige und -wertige Verweisungen auf sich verstreuen (vgl. die stoischen 'keimhaften logoi'), die es für den Mystagogen zu enthüllen und zu ordnen gilt, so sind auch bei Piaton die Quellen der Mystagogie gemäß einer dreifachen Wertskala zu verbinden (PT I, 5). Die zentrale Mystagogie liegt in den Dialogen Phaidon, Phaidros, Symposion, Philebos,

Sophistes,

Politikos,

Kratylos

und Timaios-, Quellen zweiten

Ranges sind die Nomoi und die Mythen des Gorgias, Protagoras und des X. Buchs der Politeia, denen als drittrangige Autoritäten noch die Briefe folgen. Damit diese Bestandteile aber eine wirkliche Einheit bilden und keine bloß willkürliche, unsachgemäße Aggregation abgeben, muß die Ganzheit des einen Systems der theologischen Wahrheiten im Grundriß vor allen seinen Teilen bestehen; diesen Grundriß macht Proklos im Parmenides aus, der zeigt, wie alle Götterstufen sukzessiv zusammenhängend aus dem Einen selbst hervorgehen. Alle weiteren Dialoge sind Teile der platonischen Mystagogie, die bestimmte Stufen des Parmenides genauer explizieren, bestätigen, ergänzen und erweitern und nur vom Parmenides als Totalität des Wahren her in ihrem wirklichen, vollen Sinn erkennbar sein können. Der Parmenides ist die vollständige theologische επιστήμη und bildet eine Hymne auf alle Götter (PT I, 7). Neben ihm als seine wichtigste und umfassendste Ergänzung steht ν .a. der Timaios, der für Proklos die platonische Physik und die volle Dogmatik des Enkosmischen enthält (PT I, 8, 32, 14 - 18; In Tim. I, 13, 5 - 17), die έπκττήμ.'η φύσ-βως

neben der Theologie, obwohl in der Folge auch der Timaios bei intelligiblen und besonders intellektuellen Göttern oft herangezogen wird. Der Timaios scheint die Begründung des Kosmos und des Seienden bis in

Einheitsmodus aus (PT I, 28, 120) und bilden keine Gegensätze, sondern entfalten in sukzessiver Hierarchie die Fülle des Ganzen, während Sein und Ideen die Gegensätze kennen und an diesen Modus gebunden auch kausal wirken; dort brauchen wirkliche Übergänge reale Gegenteile. Vor und über den λόγος stellt Proklos den Glauben an das Gute und an die gemeinsamen, eingeborenen Gedanken, die, über jeder Art der γνωσις stehend, das Göttliche einartig erfassen und in seiner reinen aXrfitta. schauen. Eine so verstandene πίστις (Theurgie) und akrßeta. (σοφία, und Philosophie) transzendieren jede seelische Erkenntnis. (Vgl. PT I, 25. - Die Abwertung des Wissens hier trifft den Parmenides nicht, weil er auch symbolisch und mit negativer Dialektik vorgeht, die die Gegensätze verneint.) Es scheint, daß der Mythos sowohl in Wissen als auch in Glauben übergehen kann.

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Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

ihre höchsten Gründe zurückzuverfolgen, bis zum ίυτοζωον, dem παράδειγμα und der Kette der Demiurgie, während der Parmenides in der ersten und zweiten Hypothese den Auszug alles Göttlichen aus dem Einen bis zu den Seelen hinab ausdrückt; was die Hypothesen 3 bis 9 darstellen, scheint im Timaios und anderswo ausführlicher zu sein. Die Kanonisierung des Er-Mythos zur theologischen232 Quelle zweiten Ranges gründet jedenfalls auch darin, daß der Parmenides und der Timaios in ihrer Ausführlichkeit den symbolisch verdichteten Gehalt, den dieser Mythos tendenziell bei Plutarch noch besaß, sowohl auf die Hypostasenlehre im ganzen als auch auf die Seele im besonderen hin absorbiert, auf sich übertragen und explizit entfaltet haben. Epistemologisch betrachtet sind die Mythen für Proklos Gebilde, die in ihrer synthetischen Vielschichtigkeit auf alle seelischen Erkenntnisvermögen in spezifischer Weise rekurrieren und deshalb auch im Kontext eines innerseelischen Erkenntnissukzesses zu sehen sind, wobei die Mythen Piatons für Proklos in ihrer Symbolik eine bestimmte Götterstufe nicht mehr übersteigen können.233 Man muß bei den Mythen grundsätzlich zwischen Innen und Außen, Wissen und Meinung unterscheiden, die die beiden möglichen innerseelischen, intellektuellen Verständnis- und Deutungstypen von Mythen überhaupt klassifizieren. Die Meinung steht für ein Mythenverständnis, das der zunächstliegenden, phänomenalen Präsenz des Äußeren, der Hülle, verhaftet bleibt, während die Wahrheit das Wissen des eigentlichen Gehalts, der υπόνοια, des verborgenen Inneren ausdrückt, über das die Weisen verfügen, weshalb das doxische Verständnis der Menge eigentlich die αγνοία über das wahre Innere ist. (Vgl. PT V, 3, 17 f. - Man hält das Äußere für die Sache selbst und wertet die Mythen deshalb ab, während der Weise über die μυστικά νοήματα der unsagbaren Wahrheit schweigt.) Diese beiden Zustände von Erkenntnis sind aber mit Erkenntnisvermögen verbunden, die in einem Zusammenhang stehen: Bleibt man der Wahrnehmung verhaftet, so gelangt man nie über die Meinung hinaus, die die sinnliche Hülle für die Sache selbst hält; dagegen vermag die Anwendung des φανταστικό» auf das äußere Gebilde für Proklos den Übergang in die διάνοια und νόησις einzuleiten, da sie das Bildhafte auf Unsinnliches zu beziehen bestrebt ist. Das Äußere ist ein Bild des Inneren, sowohl inhaltlich als auch formal, was das Bewirken des Äußeren durch Sein und Kraft des Inneren betrifft (so ist es auch bei

232

233

Auflalligerweise spielen die Moiren für Plotin in seiner Beschäftigung mit dem Er-Mythos keine Rolle, anders als bei den späteren Neuplatonikern. Grundsätzlich scheint das Bild auf Seiendes bezogen zu sein, das Symbol auf die Götter.

Das Mythische bei Proklos

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Göttern, deren Wirken ad extra ihrem Inneren gemäß ist). Die Meinungsbilder sind auf λόγοι zu beziehen (διάνοια,), die wiederum Bilder von Noesen sind, die sie entfalten, so daß der Übergang zwischen den Erkenntnisformen einen innerseelischen Aufstieg bis hin zum Geist bewirkt und repräsentiert, wobei immer ein Außen etwas Inneres ausdrückt. Die an das Sinnliche gebundenen Ansichten sollen auf eine bloß intellektuell-diskursive, innerseelische Wissensform zurückgeführt werden, die die Entfaltung und die Entäußerung eines intuitiv-noetischen Wissens darstellt. Die μ,ετάβασ-ις von in sich Bleibendem zu auf anderes Bezogenem rekurriert auf kausales Wirken und Erkenntnis und wird in der Erkenntnis zugleich denselben Weg zurückgeführt, weil sie vom Äußeren je zum Inneren zurückgeht. Dabei sind manche Seelen fähig zur Teilhabe und Aufnahme der Wirkungen eines göttlichen Wesens nach außen und können diese Wirkungen - von ihren verhüllten Präsenzen ausgehend - auf ihren Grund und wahren Gehalt zurückwenden, andere Seelen sind nicht dazu fähig und gelangen nie über das Äußere hinaus zum Gründenden zurück. Für diese Seelen sind Mythen gefahrliche Übel, egal ob sie eine υπόνοια haben oder nicht, und in dieser Hinsicht lehnt Piaton Mythen ab. Nur sofern Mythen die zwiefältige Struktur von Innen und Außen besitzen und es sowohl den würdigen Seelen ermöglichen, in ihrer Erkenntnis aufzusteigen, als auch die unbegabten Seelen fernhalten, ohne ihnen durch eine, in ihrer Eigenständigkeit genommenen, allzu gefahrlichen Hülle schaden zu können, billigt Piaton Mythen und zählt sie zur Philosophie. Sofern Symbole in Mythen auftreten, haben sie für Proklos einen bestimmten theologischen Bezugsbereich, den sie nicht übersteigen können, auch weil die Mythen hermetische und teilhafte Gebilde sind; deshalb bemüht sich Proklos, den universalen und weiträumigeren Phaidros-Mythos234 oder den Timaios von Mythen im strengeren Sinne abzugrenzen. Das Eine jedenfalls ist jenseits mythischer Symbole, jenseits von Logos und Schweigen, von διάνοια und mystischer άλήθεια, von seelischer und noetischer Erkenntnis, während die intelligiblen Götter das Schweigen und die unsagbaren Symbole lieben (Mystik und Wahrheit). Die intellektuellen Götter sind sogar mit Mühe sagbar (Logos), wißbar in ihrer Transzendenz und nicht schlechthinnigen Denkbarkeit (PT V, 28, 105). Zwar ordnet Proklos bestimmte Mythen schon den intelligiblen Göttern zu (PT V, 3, 17), aber auf dieser Ebene bringt er kein platonisches Mythenbeispiel, und die Quellen der Theologie dieser Klasse im dritten Buch sind v. a. Parmenides,

Sophistes,

Philebos und Timaios-, höchstens nichtplatonische

Zur neuplatonischen Phaidros-Oextimg insgesamt vgl. Geizer (1966), S. 10 und S. 22 f. - Bielmeyer (1930).

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Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

Mythen werden dieser Stufe zugeordnet, etwa die von κοινωνία und διάκρκης, die in der Theomythie durch δεσ-μός und βκτομή symbolisiert werden (PT V, 3, 18). Da die platonischen Mythen strenggenommen σήματα 2 3 5 sind (PT V, 34, 124, 8) und eine morphologische ίποτυπόσ-ις jeder Wahrheit, ihren Abdruck, darstellen, treten sie erst auf der unteren Stufe der intelligibel-intellektuellen Götter als Seiendes prinzipienfundiert hervor (PT IV, 37); dies gilt auch fur die Ideen. Die Stellung zur PhaidrosPalinodie und zum Timaios ist deshalb auch eine doppelte, denn sie werden sowohl als Quelle für überintellektive Götter herangezogen (weshalb sie keine reinen Mythen sind) als auch als Quelle für intellektive bzw. hyperkosmisch-enkosmische Götter (weshalb sie auch mythische Symbole verwenden; vgl. PT V, 36, 133). Die Mythen im eigentlichen Sinn (Protagoras, Politikos, Gorgias, Phaidon, Kritias, Politeiä) werden daher von Proklos erst v. a. im fünften und sechsten Buch der PT als Quellen der Theologie ins Feld geführt, wo es um die seelenbezogenen, weltnahen Götter geht. Da alle Symbole letztlich auf das Unsagbare und Transzendente abzielen und alle Götter, egal auf welcher Stufe, für die seelische Erkenntnis in gewissem Maße notwendig und immer transzendent und in ihrem vollen Sein verborgen bleiben, kann Proklos den Anwendungsbereich der (mythischen) Symbole einmal enger und spezifischer, einmal weiter und allgemeiner fassen und umgrenzen. Jedenfalls gründen die Symbole ontologisch und theologisch 236 in einem

Auch in PT VI, 9,43,15 wird der Mythos als σχήμα, bezeichnet. - Dasselbe Symbol, der Schnitt, kann mythisches Symbol sein, bezüglich der intellektuellen Ebene (PT V, 36, 131 und 133), und übermythisches Symbol, wie im Timaios. Es scheint, die göttliche Schematisierung der mystischen Wahrheit zum Logos hin durch die Phantasie, die σχήματα, und μοpii gebraucht, ist deijenigen analog, durch die in der Seele die Phantasie λόγος und διάνοια schematisiert. Wenn in PT V, 36, 131 den Dichtem das mystische Verrätsein der Dinge und der Gott Apollon zugeordnet wird, muß man schließen, daß die platonischen Mythen keine reinen Dichtungen sind. - Die Funktion, die die drei Arten des Schema in PT IV, 37 erfüllt, entspricht der, die später das Schematismuskapitel in Kants Kritik der reinen Vernunft übernimmt, nämlich die Vermittlung von Anschauung und Begriff. Im Neuplatonismus gründet die Einheit (als Bedingung des Existierenkönnens aller Entitäten) im Einen, während sie bei Kant im Ich (als Bedingung der Möglichkeit allen Seins durch die Synthesis zu Einheiten) fundiert ist; in beiden Fällen ist das Warum' von Einem bzw. Ich unhinterfragbar. Durch den Polytheismus verlaufen Qntologie und Theologie parallel, womit er zur notwendigen Basis einer Relationstheologie wird (vgl. die Deutung der Trinität bei Origenes mit Christus als μεταξύ). Mythos und Logos sind Formen der Theologie und gebrauchen ihre Symbole: Beide zeigen auf konträre Weise

Das Mythische bei Proklos

157

Bereich unterhalb des Intelligiblen, obwohl sie die Seelen, auf die sie exklusiv gerichtet sind, bis zum Intelligiblen hinaufführen können. In PT VI, 23 (99, 23 - 109, 17) befaßt Proklos sich mit Ananke und den Moiren, die er, neben den zwölf Göttern des Phaidros237, der Klasse der hyperkosmisch-enkosmischen (apolytischen) Götter238 zuordnet, die zwischen den unerzeugten, hyperkosmischen Hegemonen (Archonten) und erzeugten, enkosmischen Göttern stehen und wirken (PT VI, 1, 6 f.), womit sie den Seelen verwandt sind239, die ja auch zwischen Unentstandensein und Entstandensein stehen (vgl. PT I, 28, 120). Deshalb tritt bei dieser Götterklasse der seelische Charakter der unterintellektiven Götter hervor (PT VI, 16, 80), obwohl sie Intellekte besitzen, so wie die Welt und die Körper in ihr fähig sind, das Seelische aufzunehmen. Während die hyperkosmischen Götter die 'unteilgenommene' Seele repräsentieren, die völlig über dem Kosmos steht, stellen die hyperkosmisch-enkosmischen Götter die 'unteilgenommene' Natur dar, die Seele und Materie verbindet. Wie die Ideen und die Seele geht auch die Natur aus den intellektiven Göttern und aus dem νους insgesamt hervor, wobei Proklos hier weder von der α,μ,έθεκτος φύσις redet, deren Monade Ananke sein soll, noch die zwölf Götter des Phaidros auf sie bezieht. Die einzelnen Naturen wirken dann enkosmisch als ordnende Prinzipien bestimmter Lebewesen und Körper, die vollständig der Heimarmene unterstehen. Weil bei den hyperkosmisch-enkosmischen Göttern das Wesen des Seelischen hervortritt, ist es nicht verwunderlich, daß die Moiren die Wahl des Lebens der individuellen Seelen leiten, da diese Wahl und ihre Freiheit den Zwischencharakter des Seelischen zwischen rein göttlichen Wesen und Hervorgebrachtem ausdrücken. Die Seelen sind weder unhervorgebracht zum Teil dasselbe über eine Entität, die umgekehrt das Vermögen besitzt, in konträrer Weise ausgesagt zu werden. Die Palinodie und der Er-Mythos reden über Zwischenstufen von Göttern, aber nur erstere behandelt beide Zwischenstufen (vgl. PT I, 5,25). Speziell zu Lachesis als Göttin dieser Klasse vgl. Damaskios: Dub. et Sol. §§ 351 und 359. In PT VI, 15, 75 werden die hyperkosmisch-enkosmischen zwischen die wahrnehmbaren und die intellektiven Götter gestellt, womit sich eine spezifische Affinität zur Phantasie ergibt, die auch zwischen den diesbezüglichen Erkenntisformen liegt. Durch die Phantasie beginnen die Seelen ihren Aufstieg, und wie die Seelen trägt auch diese Götterklasse neben ihrem spezifischen Prinzip (In-Kontakt und Getrennt) alle Prinzipien entfaltet und sichtbar in sich und ermöglicht so den Seelen ihren Aufstieg in das Sein; auch sie sind in Kontakt und getrennt von Körpern und haben die Ähnlichkeit κατ' οΰο-ιίν in sich. Das InKontakt ist überdies ein spezifischer Fall der Ähnlichkeit in bezug auf den Kosmos.

158

Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

jenseits aller Freiheit noch völlig der Naturnotwendigkeit unterworfen, weil sie sich durch ihre logische Wahlfähigkeit selbst einem Bereich zuordnen und gemäß ihrer Wahl dann in der Natur und auf sich selbst wirken. In PT VI, 23 sind für Proklos nur Ananke und die Moiren sowie ihr Verhältnis relevant, so daß er, im Gegensatz zum Kommentar, v. a. die Abschnitte 617 b 4 - d 6 und 620 d 7 - 621 a 5 der Politeia heranzieht, wobei er auf die entsprechenden Teile seines Kommentars zum Er-Mythos zurückgreift - ζ. B. nennt er die Symbole der Moiren in umgekehrter Folge gegenüber Piaton und dem Kommentar {PT VI, 23, 108, 5 - 109, 6). Ananke ist als Monade der intelligibel-intellektuellen Adrasteia analog, ist dem Enkosmischen völlig transzendent, beherrscht den Kosmos durch ihr bloßes Sein und wendet alles Seiende zum Guten um, womit sie über der Triade der Moiren steht, die geteilt das von der Mutter Umfaßte bewirken. Das Wirken ihrer Hände und die Zeitindikatoren begründen daneben symbolisch eine Rangfolge der Moiren, die eine gleichursprüngliche Hierarchie bilden, so daß sie die Monade ganzheitlicher und teilhafter entfalten. 240 Grundsätzlich wird nichts Anderes dargestellt als im Kommentar zum Er-Mythos. Der Bezug von Ananke und den Moiren zum Seelischen, zur Freiheit, zum Kosmos und zur Zeit hat den Er-Mythos bis hin zu Proklos zu einer theologischen Quelle von eng begrenztem, niederstufigem Umfang gemacht, die hinter andere Quellen zurücktrat. Der Ausbau und die innere Entfaltung des Geistes hinsichtlich der auf ihn bezogenen Götterklassen haben den Bereich des Seelischen - nach seiner Trennung vom Geist überhaupt - absinken lassen und den Er-Mythos hinter 'Timaios' und 'Phaidros' zurückgestuft. Zwar haben die Orphischen Hymnen und die Chaldäischen Orakel eine Aufwertung des Mythischen überhaupt bewirkt, aber auch das kam ν .a. Phaidros und Timaios zugute. Selbst bei den hyperkosmisch-enkosmischen Göttern bieten die Götter des Phaidros ein höheres Vergleichbarkeits- und Analogiepotential mit den Hymnen und Orakeln als der Er-Mythos; die Chaldäischen Orakel stärken als mittelplatonische Versifizierung des Timaios v. a. dessen Autorität, d. h. ihre Offenbarungsform und ihr soteriologisch pointierter Piatonismus fördern die wechselseitige Beglaubigung und Universalisierung zwischen Timaios und Orakeln. Als Abschluß der neuplatonischen 'Timaios'- und Er-MythosKommentierung hat Proklos die früheren Tendenzen zusammengefaßt und vollständig zu Ende geführt. Für sich genommen behielt der Er-Mythos

Dabei ist von ούσ-ία, δΰναμ,ις und evipyeia nicht die Rede, wie Beutler (1957), Sp. 241 konstatiert.

Das Mythische bei Proklos

159

weitgehend seine Bereichs- und Bedeutungsidentität, d. h. er war das platonische Symbol für die Totalität der innerseelisch verstandenen Seinsund Hypostasenordnung, aber - in das Ganze eingeordnet - sank er im Neuplatonismus zur Quelle für Probleme des Seelischen, der Freiheit, der kosmischen Ordnung, der Dämonologie und einer spezifischen unteren Götter stufe ab.241 Der Er-Mythos wird am Ende der PT und des Parmenides-Kommcntars jeweils kurz behandelt (obwohl in der ersten Hypothese bei Piaton der 'Kontakt' fehlt, wird der Mythos zu Fragen der Zeit herangezogen; in der zweiten Hypothese wäre er wohl analysiert worden, wie hier in PT VI, 23, wobei die Bücher III - VI eine Art Kommentar zur zweiten Hypothese darstellen, während Buch II die erste Hypothese rekapituliert). In einer möglichen Fortsetzung der PT über Buch VI hinaus wäre der Er-Mythos dann unter anderen, über 'seine' Götter hinausgehenden Gesichtspunkten oft herangezogen worden.242 Neben seiner Funktion als Teilquelle der platonischen Theologie blieb der Er-Mythos eine verselbständigte Schulaufgabe, der gemäß es galt, seine innere Einheit und Stimmigkeit aufzuzeigen und zu verteidigen; der Kommentar betrachtet einen Seinsbereich, der in der PT auf seine göttliche Fundierung reduziert ist, gleichsam unter der Lupe vergrößert und ins Detail gehend, was für das System der Theologie unnötig ist. Deshalb kann der Kommentar auch als Grundlage

Der geschichtliche Weg, den der Piatonismus zurücklegt, spiegelt sich im Absinken des Er-Mythos, der einerseits hinter den Parmenides zurücktritt, andererseits bereits im Mittelplatonismus vom Timaios zurückgedrängt wird, so daß er im neuplatonischen Selbstverständnis weder eine explizite Quelle für das Hypostasensystem bleibt noch für den Kosmos im weitesten Sinne wird. Für Proklos ist er ein Zeugnis zweiten Ranges mit einem engen Sachbereich, dessen früherer Umfang auf andere Zeugnisse, die mit Namensangaben arbeiten, übergeht. Im Mittelpunkt des Interesses der Platoniker steht immer mehr platonischer Text, der umfassend und systematisch auf die theologischen Stufen verteilt wird; Proklos steht innerhalb dieser Tendenz und vollendet sie. Erst nach dem Ende der genuin platonischen Schulen wird der Text wieder frei von seiner Bindung an das verbindliche Schulsystem. Plutarch deutet die Moiren als Schaltstellen innerseelischer Übergänge zwischen Hypostasen, weshalb der ErMythos im Mittelplatonismus zentral ist, aber im Neuplatonismus zusammen mit der Seele selbst eine Herabstufimg erfährt. So hat Taylor (1995) nicht recht, seine Rekonstruktion des siebten Buches v. a. auf den 7wHajoj-Kommentar, aber nie auf den Er-Mythos-Kommentar zu stützen. Die Fortsetzung hätte wohl insgesamt nur Altes neu geordnet und zusammengefaßt, wie es die PT auch insgesamt zum Teil tut, so daß man alle Kommentare zu den Bereichstheologien' Piatons als Vorarbeiten und als Ersatz für die unnötige Fortsetzung der PT ansehen muß.

160

Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

für den funktionsbestimmten Auszug dienen, was Ananke und die Moiren betrifft, den PT VI, 23 darstellt; sogar die Zitate anderer Autoren bezüglich dieser Götter sind dort dieselben wie im entsprechenden Abschnitt des Kommentars, nämlich aus den Nomoi und Euripides. Proklos benutzt seine Kommentare (zum Phaidros in den Büchern IV und VI, zum Timaios in Buch V und zum Er-Mythos) als Fundament der PT, ohne auf sie zu verweisen, und hätte sie in deren Fortsetzung weiter benutzt, hätte er diese für notwendig, sinnvoll und eigenständig genug erachtet.243

C Anmerkungen

zur christlichen

Rezeption

des

Er-Mythos

Auch in der christlichen Philosophie der ersten Jahrhunderte tritt der ErMythos als ein repräsentatives Zeugnis der platonischen Philosophie insgesamt auf (neben dem Höhlengleichnis, dem Phaidon, dem Phaidros, dem Timaios, dem Gorgias oder den Nomoi, wobei mythisch-bildliche bzw. theologisch relevante Texte besonders oft zitiert werden), das, wie im Neuplatonismus, häufig für dieselben sachlichen Themen und Fragen herangezogen wird, d. h. für Freiheit und Schicksal, Vernunft und Wahl, Theodizee, Seelenwanderung usw. - Justin (.Apologie I, 40 ff. 244 ) führt die griechische Philosophie insgesamt (Homer, Orpheus, Pythagoras, Piaton) auf ein unvollständiges Verständnis oder auf Mißdeutungen des Alten Testaments zurück, wobei aber gleichwohl Reste der Wahrheit in ihren Auslegungen liegen, da sie ja immerhin auf die christliche Wahrheit Bezug nehmen. Die Samen der einen Wahrheit seien überall (I, 44/60; vgl. die Stoa), aber ungenau und abgestuft gemindert in allem NichtchristliZu den mannigfachen Nachwirkungen des Proklischen Denkens und des Neuplatonismus allgemein vgl.: Beierwaltes (1987a), S. 287 - 297. - Windelband (1957), S. 527. - Kremer (1989), S. 673 - 694. - Merlan (1965a), S. 167 - 181. Beierwaltes (1995), S. 26 f. - Beierwaltes (1972), S. 145 - 187. - Beierwaltes (1969). - Beierwaltes (1972a), S. 188 - 194. - Albert (1998), S. 311. - Pöggeler (1999), S. 192. - Bröcker (1966). - Baumgartner (1980), S. 321 - 342. - Husserl (1987), S. 281 - 283. - Kobusch (1997), S. 3 f. - Tsouyopoulos (1969), S. 7 - 33. Saflrey (1992), S. 49 f. - Beierwaltes (1975), S. 191. - de Libera (1992), S. 89 119. - Aertsen (1992), S. 120 - 140. - Beierwaltes (1992), S. 141 - 169. - Bos (1992), S. 171 -189. - Kristeller (1987), S. 191 - 211. - Iber (1999), S. 20 - 24. Benakis (1987), S. 247 - 259. - Hoffinann (1998). - Halfwassen (1999). - Lask (1911), S. 235 ff. In I, 44, 8 wirft Justin Piaton vor, er habe die Stelle Rep. 617 e von Moses übernommen, woran sich auch Tatian anschließt (Or. 11,2). Justins Platonkenntnisse beruhen jedoch nicht auf eigener Lektüre. - In I, 8 und 28 gelten die Jenseitsstrafen Justin als ewig, nicht nur als 1000-jährig wie bei Piaton.

Zur christlichen Rezeption des Er-Mythos

161

chen. Was Piaton zur Wahlfreiheit, zur Unsterblichkeit der Seele oder zu den Jenseitsstrafen sage, stamme ursprünglich von Moses (I, 8/44; vgl. Philon). - Gegen dieses Konzept der hierarchischen Vereinbarkeit vieler platonischer mit christlichen Lehren wenden sich etwa Hermias oder Tertullian: Sie versuchen, die Inkongruenz sowohl der heidnischen Philosophien untereinander (im Gegensatz zu den Neuplatonikern) als auch ihre jeweilige Unvereinbarkeit mit dem Christentum nachzuweisen. In Tertullians De anima (51, 2) ζ. B. wird der Er-Mythos textlich verfremdet, um die Unhaltbarkeit der platonischen Aussagen bezüglich der Trennung von Seele und Körper nachzuweisen. - Dagegen integriert Minucius Felix Piaton und die heidnischen Philosophen wieder in eine eo ipso als christlich verstandene Philosophie (vgl. Octavius 20): Jede wahre Philosophie anerkennt die Einheit und Existenz des Göttlichen, wobei aber gerade die Mythen als unwahre Fabeln und Dichtungen für Leicht- und Wundergläubige zurückgewiesen werden. Die Seelenwanderung bzw. die 'Metemsomatosis' trübt deshalb die Einsicht in die Unsterblichkeit der Seele (in 34, 6 wird der Er-Mythos angeführt), obwohl Piaton theoretisch die Mythen ablehnt. - Ähnlich versöhnende und integrierende Tendenzen finden sich auch bei Arnobius. Zwar negiert er eine im Wesen der Seele selbst liegende Unsterblichkeit oder die Anamnesislehre, aber die Notwendigkeit einer Vergeltung im Jenseits und die Freiheit der Lebenswahl sowie die Schuldlosigkeit Gottes am menschlichen Leben werden mit platonischer Autorität bejaht, auch mittels des Er-Mythos {Adversus nationes II, 64). - Auch für Laktanz finden sich in jeder Philosophenschule Keime der Wahrheit (Institutiones divirtae VII, 7), die in eine systematisierte christliche Weltanschauung eingebunden werden können. Im Rückgang auf Ciceros De re publica VI wird auch der Er-Mythos aufgegriffen (VII, 10), wobei Unsterblichkeit und Tugend ein auf Gott als Grund und Ziel bezogenes Geflecht bilden (VII, 8 - 1 1 ) . Für Clemens von Alexandrien (Stromata I, 7) und Origenes sind die griechischen Philosophen, Piaton insbesondere, von höchster Bedeutung für die christliche Philosophie; die griechische Philosophie steht bereits unter der Einwirkung Gottes (I, 5; VII, 3). Nur der Sohn, der Logos, ist für Clemens dem Menschen zugänglich, nicht der Vater, von dem nur gewußt werden kann, was er nicht ist - analog dem neuplatonischen Einen. Die menschliche Seele fungiert als Zentrum der Schöpfung und der göttlichen Vorsehung; sie ist durch göttliche Gnade unsterblich und frei. Anders als später die Neuplatoniker lehnt Clemens eine vollständige und durchgehende allegorische Deutung von Mythen ab. Nicht alle Wörter, sondern nur Ausdrücke für Gedanken von Allgemeinem und Grundsätzlichem sollen symbolisch-allegorisch interpretiert werden, was er bezüglich

162

Der (Er-)Mythos in der nachplatonischen Philosophie

des Er-Mythos expliziert (V, 9; 58, 6); in V, 14 (103, 2) bildet der ErMythos das Exempel eines Wiederauferstehungsmythos. - Für Origenes stehen griechische und christliche Philosophie im Verhältnis von Vorbereitung und Vollendung. Die Beschreibung der Wahlfreiheit in De principiis III, 1, 3 - 5 (der Mensch kann zwischen Gut und Böse wählen; der freie Wille ist nur vom innerlichen Verstand und seiner krisis, nicht von Äußerem abhängig, obwohl es diesem die Schuld bei Fehlwahlen zuweist) erinnert an den Er-Mythos, der gleichwohl nicht zitiert wird, anders als in Contra Celsum, wo er zumindest viermal wörtlich angeführt wird (II, 16: Wiederaufleben; IV, 17: 'Metemsomatosis' in den platonischen Mythen; V, 21 und VIII, 34: Zitate aus der Prophetenrede). Trotz seiner zum Teil negativen Haltung zur griechischen Philosophie bedeutet Piaton auch für Eusebius von Cäsarea den Höhepunkt des heidnischen Denkens: Piaton sei in seiner prophetischen Gabe Moses vergleichbar, mit dem er auch inhaltlich übereinstimme - ebenso wie mit Paulus - (besonders auf den Timaios gestützt). Dementsprechend widmet er Piaton drei Bücher seiner Praeparatio evangelica (XI - XIII), obwohl bei ihm fast nichts völlig frei von Irrtümern sei. Der Er-Mythos wird in XI, 35 und XIII, 13/16 für bereits topische Sachfragen herangezogen und aus der beschriebenen Gesamttendenz heraus bewertet. - Eine eigene Untersuchung verdiente der platonische Einfluß auf Gregor von Nyssa, der sich auf fast alle Themenbereiche und Disziplinen seines Denkens erstreckt, ζ. B. in der Entwicklung des Willensbegriffs, für den Gregor allgemein von zentraler Bedeutung ist. Gregor verwendet auf der Grundlage einer umfassenden Textkenntnis v. a. die mittleren Dialoge Piatons nahezu vollständig. Im Hinblick auf den Er-Mythos mögen nur zwei Belege hinreichen: In De mortuis (Band IX, S. 37) wird die Rede des Propheten zitiert; in In Canticum Canticorum (Band VI) wird der Mythos dreimal herangezogen (Oratio II, S. 50: 617 d/e; Oratio IV, S. 102: 620 a d; Oratio VIII, S. 251: 620 a - d). Nemesius von Emesa vertritt als Neuplatoniker eine platonische und zum Teil antiaristotelische Psychologie, zu deren Stützung er v. a. den Phaidros und den Timaios verwendet, aber auch den Er-Mythos (Präexistenz der Seele, Unmöglichkeit neuer Seelen, Unmöglichkeit von Tierwahlen, Willensfreiheit und Wahl, Mittelstellung der menschlichen Seele), etwa in De natura hominis III (M 129) und XXXVII (M 305 - 306). Theodoret greift in seiner Graecarum affectionum curatio v. a. auf Clemens und Eusebius zurück, um Material zu seiner systematischen Gegenüberstellung von griechischer und christlicher Philosophie zu gewinnen, in der der Er-Mythos in topischer Weise auftritt (VII und IX); Ähnliches gilt für Aeneas von Gaza in seinem Dialog Theophrastus, der

Zur christlichen Rezeption des Er-Mythos

163

Piaton gut kennt und ausfuhrlich zitiert. - Sehr häufig finden sich Bezugnahmen auf den Schlußmythos der Politeia - zumeist schon in Verbindung mit Proklos' Kommentar zu diesem Mythos - bei Dionysius Ps.-Areopagita, besonders in seiner Schrift Über die göttlichen Namen und im VIII. Briefe, 5 - 6; 187, 9 - 192, 1).

IV Der Mythos bei Proklos und seine Deutung des Er-Mythos Α Zur 16. Abhandlung und ihrer Stellung im Gesamtkommentar Unter den später (wahrscheinlich im 9. Jahrhundert) 245 zum PoliteiaKommentar zusammengefaßten 17 Abhandlungen des Proklos zu diesem Dialog 246 nimmt die 16., die den Er-Mythos auslegt, eine besondere Stellung ein. Sie ist mit ca. 270 (von 660) Kroll-Seiten nicht nur mit Abstand die längste unter den Schriften zur Politeia, sondern auch die einzige, die als Lemma-Kommentar aufgebaut ist, d. h. den ihr zugrundeliegenden Piatontext Zeile für Zeile durchgeht. Proklos teilt die sieben StephanusSeiten, die der Mythos ausfüllt, in 35 Lemmata, wobei er den Text nur von 614 b 2 - 621 c 3 deutet; der Abschnitt 621 c 3 - d 3 gehört für ihn nicht zum Mythos, und auch zwischen 614 c 1 - 2 und c 3 - 5 finden sich zwei kurze Auslassungen. Proklos teilt die Lemmata ausschließlich nach inhaltlich-sachlichen Erwägungen ein und nimmt auf die syntaktischen Strukturen keine Rücksicht, wobei sie aber nur sechsmal länger als zehn Zeilen sind und nur dreimal über 20 Zeilen. Die ersten, kürzeren Lemmata bis zu fünf Zeilen Länge gibt Proklos noch vollständig wieder, geht dann aber dazu über, sie grundsätzlich abzukürzen, auch schwierigere oder länger kommentierte. Das Verhältnis zwischen kommentiertem Text und Kommentartext ist je nach seinem Inhalt ganz unterschiedlich: Lange Abschnitte, die Proklos wenig bedeuten, können sehr kurz und eher der Vollständigkeit halber kommentiert sein, etwa 6 1 8 b 6 - 6 1 9 b l i n nur 72 Zeilen, aber es können ganz kurze Textpassagen auch sehr eingehend besprochen werden, etwa 6 1 4 c 2 - 3 i n 2 1 8 Zeilen. Bei längeren Auslegungen gibt es oft Lemmawiederholungen, sowohl aus dem aktuellen Lemma als auch aus anderen Lemmata, die argumentativ-affirmative BeVgl. Lamberz (1987), S. 2. Zum Po/rte/a-Kommentar allgemein vgl. Whittaker (1961), S. 295 - 314. - Zu Fragen der (inneren) Chronologie des Kommentars vgl. Freudenthal (1881), S. 214 - 224. - Praechter (1905), S. 505 - 540. - Gallavotti (1929), S. 208 - 219. Sheppard (1980), S. 15 - 38. - Zu Proklos als Piatonkommentator vgl. Bastid (1969), S. 34 - 207 (zur Politeia, v. a. zum Er-Mythos S. 53 - 65). - Auf die Eigenständigkeit der Proklischen Kommentare, bezogen auf seine Vorgänger, verweist Mras( 1933), S. 237.

Zur 16. Abhandlung

165

deutung haben können, aber auch Bezüge im Piatontext vorwegnehmen oder erinnern sollen; Lemmata und Textzitate werden zum Teil syntaktisch in den Kommentartext durch Demonstrativa und Konjunktionen eingebunden. Der Kommentar zum Schlußmythos der Politeia ist, wie gesagt, die einzige Schrift zu diesem Dialog, die den in ihr thematischen Text Zeile fur Zeile durchgeht, wobei Proklos diese Form nur dann gebraucht, wenn für ihn wichtige und zentrale Fragen zur Sprache kommen. Daß er diese Form247 also bei einem Text gebraucht bzw. beim Teil eines Dialogs, der nicht zum neuplatonischen Lektürekanon gehört, ist um so erstaunlicher und legt die Vermutung nahe, daß der Er-Mythos für Proklos nicht nur das zentrale Stück der Politeia ist, sondern auch eine wichtige Rolle als festumrissener Teil des Gesamtsystems zu erfüllen hat. Selbst die Dialoge des Lektürekanons scheinen von Proklos nicht notwendig durchgängig kommentiert, sondern nur das Wichtigste scheint eingeteilt und dann zeilenweise ausgelegt worden zu sein, wenn man Timaios und Parmenides als zentrale Werke zum Maßstab nimmt; bei kanonischen Dialogen ist aber mehr wichtig als bei nichtkanonischen. Es ist auffällig, daß bei den Dialogen Piatons, die mythische Partien besitzen, diese für Proklos das Bedeutsamste sind und ausschließlich oder doch vorrangig kommentiert werden, egal ob sie in kanonischen Dialogen stehen oder nicht, wie es bei der Politeia

der Fall ist. Hierbei sind Phaidon,

Gorgias,

Symposion

(die

Rede der Diotima), Phaidros (die Palinodie), Politikos zu nennen. Die Mythen scheinen für Proklos auf besondere Weise die platonische Dogmatik bezüglich bestimmter Sachbereiche verdichtet und repräsentiert zu haben und bilden insgesamt einen systematischen Teil des Gesamtsystems. Der Kommentar zum Er-Mythos unterscheidet sich aber nicht allein durch seine Länge und Form - er ist der längste Kommentar zu einem nichtkanonischen Text - von den anderen Abhandlungen zur Politeia, sondern er setzt diese voraus, was umgekehrt nicht der Fall ist. Er ist nach Form und Gehalt ein völlig eigenständiges Werk, greift jedoch auf die vorangehenden Dissertationen implizit oder explizit zitierend zurück. Zwar werden schon im frühen T/zwa/os-Kommentar einige Passagen des

Zur historischen Entwicklung des griechischen Kommentars insgesamt vgl. Geffcken (1932), S. 397 - 412. - Zu den verschiedenen Formen, Typen und Adressaten der spätantiken Kommentare vgl. Hadot (1997), S. 169 - 176. - Zu den Einfiihrungsschemata spätantiker Kommentare vgl. Hadot (1987), S. 99 122, besonders S. 120 - 122. - Zu den Kommentarformen bei Proklos im Kontext der Schultradition vgl. Festugtere (1977), S. 337 - 366. - Lamberz (1987), S. 1 20.

166

Der Mythos bei Proklos

Er-Mythos zitiert 248 , aber ihre Deutungen gemäß dem diesbezüglichen Kommentar werden nicht integriert; erst im späten Parmenides-iLomvaentar und in der PT finden sich inhaltliche Entsprechungen zur Kommentierung des Er-Mythos, die wiederum deren ontologisch-theologische Hauptprinzipien anwendet und einbezieht, wie sich im einzelnen später noch zeigen wird. Die Dichte der Querverweise zu anderen Werken Piatons, zu anderen eigenen Werken des Proklos und zur Kommentierungstradition, die in seinen anderen Po/;?e2a-Abhandlungen fehlt, zeigt nicht nur den Bezug der 16. Dissertation auf die fortgeschrittenen Kenner 249 der neuIn Tim. ΙΠ, 325, 21 f. wird auf den Kommentar verwiesen. Proklos rekurriert im Jima/os-Kommentar nicht nur auf alle Schriften aus dem Politeia-Kommentai, sondern auch auf den Parmenides-Kommentai und viele andere seiner eigenen Texte. Das Einfügen von Verweisen auf eigene Schriften ist aber nicht auf derselben Ebene zu verstehen wie ein vermeintliches Einfügen von Anspielungen auf Zeitereignisse, denn die eigenen Schriften gehören zum System des Wissens in seiner Einheit, aber die Historie nicht. Schon für Piaton und auch für Proklos sind die Mythen nicht für das Volk, sondern für Schulangehörige bestimmt; sie sind weniger Anfangereinführungen, weil sie die Tradition und das System der (Proklischen) Philosophie schon voraussetzen und anwenden, d. h. die Mythen sind nichts anderes als das System in seinen unteren Stufen. Was sie an wahrem Wissen sachlich enthalten, liegt in ihnen, so daß sie nicht transzendiert werden sollen. Als inspirierte Gebilde zeigen sie die Wahrheit über bestimmte Entitäten und sind - wenn man diese kennt statisch. Anders als die Chaldäer und Orpheus redet Piaton aber für die Neuplatoniker von den höheren Göttern vor allem in symbolischen Logoi. Die Hüllen von Mythen und Logoi machen für sich keinen rechten, vollen, d. h. insgesamt systematisierbaren Sinn, sondern erst als theologisch ausgelegte Bedeutungsträger, so daß sich die Gleichung ergibt: Verbergung = Rettung = Vorsehung = Einheit des Systems. Mythen und Logoi Piatons sind für Proklos das hierarchische System der Theologie. Die Grenzen zwischen den Wissenstypen (Philosophie, Mythos, Dichtung und Theurgie) verfließen. - Der Logos ist für die Neuplatoniker nichts Suchendes, sondern - wie der Mythos - Dogmatik; allerdings werden bei jenem zum Teil vorher schon aus dem Logos extrahierte Lehren wieder extrahiert, um den Logos zu affirmieren. Beide philosophischen Darstellungsformen symbolisieren einen ontologischen Status, aitiologische Bezüge, Götterklassen, Wesenseigenschaften einer Entität und ihre Bewegungen im Seinsganzen, Physisches und Noetisches usw. Dem Logos entsprechen vor allem Prinzipiensymbole für Göttliches, dem Mythos mythische Symbole (die Prinzipien und Götter verhüllen), wobei jedoch alle Symbole zyklisch ineinander kreisen. Die Relationen sind zentral und bleiben bestehen: Das Prinzip X entspricht dem Gott X und dem Gegenstandssymbol X; Bilder und Begriffe verbergen also das Göttliche. - Im Mythos offenbart sich das Göttliche in einem Zwischending zwischen Logos und άλογ/α, während das Prinzipiensymbol den Gott unmittelbar verbirgt, d. h. der Mythos verbirgt einen Gott und ein Prinzip in

Zur 16. Abhandlung

167

platonischen Philosophie, sondern legt auch die Vermutung nahe, daß es sich bei ihr um eines der spätesten Werke des Proklos handelt, das im Kontext seiner letzten Formulierung eines Gesamtsystems zu sehen ist. Dafür spricht auch eine der bei Proklos sehr seltenen historischen Angaben, die sich innerhalb des Kommentars findet (In Rep. II, 297, 26 - 28) und die auf den Einfall der Goten in Thessalien im Jahre 482 rekurriert, also auf ein Datum nur drei Jahre vor Proklos' Tod.250 Ähnlich späte Verweise auf historische Ereignisse oder überhaupt zeitliche Angaben gibt es in Proklos' Werk sonst nicht; es ist nicht plausibel, daß es sich hierbei um eine nachträgliche Einfügung handelt, denn die historische Angabe ist argumentativ zu wertlos und ist in Proklos' Denken als Beleg für Einsichten nicht notwendig, um sie als Nachtrag zu rechtfertigen. Warum sollte Proklos etwas, was er ohnehin fast nie tut und was er auch nicht für notwendig hält, gerade hier nachträglich tun? Daneben sprechen aber auch inhaltlich-sachliche Gründe für einen späten Entstehungszeitraum dieses Kommentars; dazu später noch.251 Proklos bezeichnet seinen Kommentar zum Er-Mythos als υπόμνημα (In Rep. II, 359, 10), und er ist die einzige "eis"-Schrift zur Politeia, im Gegensatz zu den übrigen "peri"-Schriften. Das auf die Vorlesungstätigkeit zurückgehende Auslegungsschema von Allgemein- (θεωρία) und Einzelerklärung (λέξις)252, die zusammen eine exegetische Vorlesungseinheit bilden (πράξις), fehlt in diesem Kommentar vollständig. Wo λέξις und θεωρία noch unterscheidbar sind, ist ihre Reihenfolge oft umgekehrt, oder die lexis kann über mehrere Lemmata verstreut sein, wobei der Terminus 'Lexis' - ebenso wie etwa συναναγνώα-ις und σννουσ-la253, die auch auf die Vorlesungstätigkeit rekurrieren - hier überhaupt fehlt. Da der Mythos, wie physischen Gegenstandssymbolen, die somit re- und entmythisierbar sind. - Der Mythos tritt als Bild, Symbol, Analogie, Sprachgebilde, Dichtung, Text und Gehalt, Fabel, Ähnliches, Gestalt, Schema, Offenbarung, Allegorie, Mysterium und Erkenntnisform auf. Es ist also nicht richtig, daß in Proklos' Schriften alle Zeitanspielungen fehlen, wie Beutler (1957), Sp. 186 und 190 annimmt. Der Kommentar vermittelt zwischen originären, systematischen Schriften des Proklos und den alten Quellen. Er verdeutlicht, daß das in den systematischen Schriften Entwickelte schon viel früher vorhanden war bzw. daß 'Altes' und •Neues' dasselbe sagen. Was an anderen Stellen direkt ausgeführt wird, muß in den Kommentaren als eigentlich Gemeintes herausgedeutet werden, wobei die Differenz, die sich im Deuten zeigt, die Tiefe des alten Denkens belegt. Diese Termini werden nicht nur zur Kennzeichnung der Methode gebraucht, sondern lassen sich ontologisch-epistemologisch verstehen: Die Ganzheit besitzt den Primat vor den Teilen. (Vgl. In Rep. Π, 350.) Vgl. Symposion 176 e; Gorgias 461 b; VII. Brief 341 c.

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Der Mythos bei Proklos

die ganze Politeia, nicht zum Lektürekanon gehörte 254 , scheint die 16. Dissertation nicht auf eine Vorlesung rückführbar, sondern von vornherein als reine Schrift konzipiert gewesen zu sein, wofür auch die Widmung an Marinos spricht (In Rep. II, 96, 2; 200, 30 und 327, 13 f.). Das steht nicht im Widerspruch dazu, daß wohl Diskussionen zwischen beiden über den Mythos stattgefunden haben (In Rep. II, 200, 30 - 201, 2), weil im Neuplatonismus von Anfang an Mündlichkeit und Schriftlichkeit eng verbunden waren. Der Schulkontext bleibt also auch hier, wie bei allen Schriften, bestimmend, obwohl die 16. Abhandlung nie eine Vorlesung war. Was die inhaltliche Gliederung des Kommentars betrifft, so kann man zwischen einer Einleitung und einem Hauptteil unterscheiden. Die Einleitung (In Rep. II, 96, 2 - 109, 3) befaßt sich mit der Bestimmung des σκοπός bzw. der πρόθβσις des Mythos, mit der Analyse der Voraussetzungen des Seelengerichts und mit den Einwänden des Colotes gegen den Mythos. Der Hauptteil kommentiert dann sukzessiv den in 35 Lemmata unterteilten Text des Er-Mythos (In Rep. II, 109, 4 - 355, 7); schließlich endet die Abhandlung mit einigen zusammenfassenden Schlußbemerkungen (In Rep. II, 355, 8 - 359, 10) über das Schicksal, die Vorsehung und den freien Willen - für Proklos die Hauptthemen dieses Mythos. Während etwa die erste oder die dreizehnte Abhandlung des PoliteiaKommentars das formale Einleitungsschema der Kommentare des Proklos zu den kanonischen Dialogen Piatons, weitgehend und soweit es sinnvoll ist, berücksichtigen 255 , ist das bei der 16. Abhandlung, ähnlich wie auch bei der fünften und sechsten, nicht der Fall, was seinen Grund darin hat, daß die letztgenannten drei Abhandlungen eine andere Stellung innerhalb des Schul- und Vorlesungsbetriebs besaßen als die anderen beiden. Zwar war die Politeia insgesamt kein kanonischer Dialog, aber bestimmte Partien, etwa die Rede der Musen, scheinen im alltäglichen Schulbetrieb neben den zwölf Hauptdialogen behandelt worden zu sein - und das auch gemäß derselben Form, wie sie zumindest in den Einleitungen zu den Kommentaren zu den Hauptdialogen Verwendung fand. Die sechste Abhandlung dagegen ist eine systematische Vorlesung über ein bestimmtes Thema, nicht primär über einen Piatontext selbst, wobei sie zu einem festlichen Anlaß verfaßt wurde (In Rep. I, 69, 23 f.), also eine Ausnahme

Wahrscheinlich ist deshalb das Einleitungsschema für Kommentare dieser Zeit hier nicht anwendbar, das Hadot (1987), S. 120 - 122 rekonstruiert hat. Die Frage nach der Stellung innerhalb der Lektürefolge ist fur die Politeia überflüssig. Vgl. In Rep. 1,6 und Π, 7, 8 - 8,14.

Zur 16. Abhandlung

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bildet, während die 16. Dissertation zwar Kommentarform hat, aber eben nie als Vorlesung gedacht, sondern als Schrift konzipiert war.

Β Die Analyse des Er-Mythos und ihre Bedeutung für die Bestimmung des Mythischen in Proklos' Philosophie

1) Einleitung und Ausführungen zum Er-Mythos in der 15. Abhandlung In diesem Kapitel soll versucht werden, Grundsätzliches zu Proklos' Auffassung des (platonischen) Mythos aufzuzeigen, wobei sein Kommentar zum Er-Mythos als Textgrundlage dienen soll. Dieser Text bietet sich als Hauptquelle einer diesbezüglichen Darstellung nicht nur deshalb vorrangig an, weil er der - neben dem 77/na/os-Kommentar - einzige erhaltene Text des Proklos zu einem platonischen Mythos ist, sondern auch, weil der ErMythos neben dem Phaidros-Mythos und dem Timaios für Proklos der wichtigste platonische Mythos ist. Da der Kommentar zur Palinodie verlorengegangen ist, und der r/mö/oi-Kommentar wegen seiner Länge, Komplexität und thematischen sowie doxographischen Vielschichtigkeit und Weitläufigkeit als Haupttext für eine Darstellung von Proklos' Verständnis des platonischen Mythos weniger geeignet ist, soll der Kommentar zum Er-Mythos zur Grundlage gemacht werden. Es wird damit möglich, einen geschlossenen Text vollständig zu interpretieren, ohne bloß einzelne Abschnitte zu selektieren, so daß die Analyse aller Hauptinhalte eines Mythenkommentars durchgehend mit den formalen sowie theoretischen Aussagen desselben Textes zum (platonischen) Mythos verbunden und auf sie bezogen werden kann, womit ein Gesamtbild gezeichnet wird, das beim 77/wazos-Kommentar so nicht möglich wäre. Überdies liegen zum Kommentar des Er-Mythos, im Gegensatz zum 77ma/os-Kommentar, noch keinerlei Untersuchungen vor. Darüber hinaus ist der Timaios für Proklos kein reiner Mythos, sondern eine umfassende Sammlung und Zusammenführung der platonischen Dogmatik bezüglich des Kosmos und des Wesens der Seele, die in diesem Dialog für Proklos auch explizit argumentativ fundiert wird, ein Charakteristikum, das ein reiner Mythos für ihn nicht aufweist.256 - Im folgenden In Rep. I, 15, 19 - 1 6 , 2 5 unterscheidet Proklos drei Arten von Logoi, den instruktiv-narrativen (ΰψηττηκόν), den suchenden (ζ·ηττττικόν) und den gemischten, wobei er den Er-Mythos zur ersten Art zählt (diese Differenz läßt sich schon auf Albinos zurückführen). Wenn er sagt, die Politeia stelle einen Aufstieg der Seele zum Kosmischen hin dar und der Timaios wiederhole die Ergebnisse der Politeia rein kontemplativ und ohne Leidenschaften und setze sie auf der Ebene des

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Der Mythos bei Proklos

soll Proklos' Auslegung des Er-Mythos sukzessiv betrachtet und in ihren wesentlichen Inhalten wiedergegeben werden, so daß seine Deutung dieses Mythos in ihren Hauptpunkten klar wird. Neben diesen inhaltlichen Darstellungen sollen an den entsprechenden Punkten Ausführungen zu seinem Verständnis vom Wesen des Mythos treten, wie sie sich aus der Methode, der Form und den Gehalten seiner Interpretationen dieses Mythos ergeben. An einem ungekürzten Text können somit Theorie, Praxis und Gehalt seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie Piatons, in Gestalt ihrer Mythen, deutlich zutage treten. Schon am Ende der 15. Abhandlung zu Piatons Politeia (In Rep. II, 84, 1 - 95, 24), die knapp den Aufbau und die Themen des X. Buchs wiedergibt und versucht, dieses Buch als eine sachliche Einheit zu erweisen, geht Proklos auf den Er-Mythos ein (In Rep. II, 92, 20 - 95, 24). An dieser Stelle ist es Proklos v. a. darum zu tun, den Er-Mythos als Teil des X. Buchs zu skizzieren, der mit dessen Themen innerlich zusammenhängt und ihnen nicht bloß unverbunden folgt. Daneben soll aber schon hier die einheitliche Struktur des Mythos selbst als eines geschlossenen Teils des Buchs und des ganzen Dialogs erwiesen werden.257 Proklos unterscheidet vier Teile des Er-Mythos, die alle mit dem Bereich des Werdens und der Seele befaßt sind (In Rep. II, 92, 20 - 93, 13), wobei die Prinzipien des Seins und des Überseelischen in diesen Bereich nur hineinragen und vorrangig insofern betrachtet werden, als sie in ihm wirksam sind, weniger als sie selbst. Die Einheit der vier Teile sieht Proklos durch den Begriff der Gerechtigkeit gewährleistet, die auch in der 16. Abhandlung als Grund des inneren Konnexes im Mythos angesehen wird. Damit schließt sich Proklos der Charakterisierung der Politeia als Dialog "nepi δίκαιον, πολιτικός" an, wie auch Thrasyllus ihn klassifizierte. Wie bei Piaton fallt die Gerechtigkeit nicht mit dem Guten zusammen, sondern ist ein spezifischer Zentralbegriff zur Deutung der Seinsstufung und ihrer Einheit. Bei Proklos wird die Gerechtigkeit darüber hinaus primär hinsichtlich des Bereichs des Werdens untersucht und vorrangig auf ihn bezogen. Zwar sind auch die in das Werden hineinragenden Seinsmächte gerecht, aber ihr Sein und ihre Einheit werden schon im Hinblick auf das Eine und Gute gedeutet; nur sofern sie in das Werden hineinwirken, werden sie als gerecht betrachtet. Dabei ist der Kommentar zum ErKosmisch-Demiurgischen fort, so muß man schließen, der Er-Mythos vermittle den Aufstieg zum Demiurgen und zur kosmischen πολιτεία bzw. bereite den Timaios vor. Der Mythos basiert für Proklos auf der Unsterblichkeit der Seele und greift die Wirkungen der Dichtung auf (In Rep. Π, 304 - 312), so daß er in Bezug zu den Themen des X. Buchs steht.

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Mythos ein Haupttext des Proklos, was die Beziehungen im Bereich des Seelischen und des Werdens und seinen Bezug zum Göttlichen betrifft. Nach der Unterscheidung der vier Hauptteile des Mythos werden seine Details in der Folge ihres Auftretens genannt und kurz in ihren symbolischen Bedeutungen bestimmt (In Rep. II, 93, 13 - 95, 24). Auch die Symbolik ist ein Einheitsprinzip des Mythos, da sie alle seine Elemente erfaßt, seien es Orte, Zahlen, Entitäten, Ereignisse oder Sachverhalte, und sie in ein Sinngefiige bringt. Die knappe Synopse der symbolischen Grundbedeutungen aller Elemente des Mythos steht in der 15. Abhandlung wohl deshalb, um den Mythos insgesamt als einen Teil des X. Buchs zu erweisen und ihn als ganzen faßbar zu machen; dieser Absicht scheint für Proklos am ehesten seine Darstellung als Symbolgefuge zu dienen. Die Ausführungen zum symbolischen Sinn der Teile des Mythos in der 16. Abhandlung sind ausfuhrlicher und tiefgehender als hier, und teilweise weichen sie sogar vom hier Gesagten ab.258 Dennoch wird schon in der Übersicht der 15. Abhandlung die Tendenz sichtbar, alles im Mythos Vorkommende als lebendig und denkend tätig zu deuten und in diesen Hinsichten den Mythos als inneres Übergangsgeschehen zu erweisen. Das Werden ist bereits die zugleich vertikal-ontologische und horizontal-logische Ergänzung zum Sein259; es ist das Andere gegen das Sein und das Mindere. Der Bezug beider Ebenen und ihre Einheit haben schon einen doppelten Sinn. Zugleich ist es interessant, wenn Proklos seine Übersicht über das Gefüge der allgemeinen symbolischen Grundbedeutungen der Elemente des Mythos am Ende der 15. Abhandlung als Grundriß der noematischen Keime im Mythos bezeichnet (In Rep. II, 95, 22): In den mythischen Symbolen verbergen sich Keime von Gedanken, weshalb die SymSo wird an dieser Stelle weder der Versuch unternommen, die Richter in allen platonischen Mythen als identisch zu erweisen wie In Rep. Π, 134, 24 - 136, 15 (obwohl die Richter in der Politeia schon mit dem enkosmischen Prinzip der ίσόηκ, das im Kosmos die Gerechtigkeit repräsentiert, verbunden sind (In Rep. Π, 93, 16 f.)), noch wendet sich Proklos bezüglich der Lichtsäule gegen Porphyrios' Deutung (vgl. In Rep. Π, 94, 10 f. und 196, 22 - 198, 28). Wenn alles an der Einheit Teilhabende eines und nicht eines ist (ET 2), so gilt das für Sein und Werden, Geist und Seele, die zugleich auf ihre Weise eines und nicht eines sind. Sie gehören in denselben Bereich des Nicht-Einen, Teilhabenden, Auch-Vielen, Relationalen, wobei ihre ontische Verschiedenheit aus dem ousiologischen Sukzess und der Nähe zum Einen resultiert. - Die das Denken bestimmenden logischen Prinzipien der Gegensätzlichkeit werden relativiert durch die gleichzeitige kausal-ousiologische Begründungsabfolge zwischen den gegensätzlichen Entitäten. Sie sind zwar logisch verschieden, aber das Mindere ist zugleich das Höhere, das ihm transzendent bleibt, als dessen Wiederholung; die Relation zwischen den Entitäten eint dabei beide Aspekte.

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Der Mythos bei Proklos

bole die für sie empfänglichen Seelen nach oben führen können. Der Mythos wird sich auch im folgenden als Ort der Koexistenz von Unsinnlichem und Sinnlichem, Denken und Wahrnehmen, Sein und Werden, Raum- und Zeitlosem und Raum-Zeitlichem erweisen. Wenn Proklos in der 15. Abhandlung die Gerechtigkeit als zentralen Gegenstand und als Prinzip der Einheit sowie des inneren Zusammenhangs der Politeia, ihres X. Buches und ihres Schlußmythos bestimmt, so gilt das ebenso für die 16. Dissertation, weshalb er seine These dort wiederholt. Die Gerechtigkeit umfaßt alle Teile und Ausführungen der Politeia und verbindet sie zu einer Einheit260; sie erweist sich als Einheit der Themen des Dialogs und als sein Hauptgegenstand, aber sie ermöglicht als ontologisches Prinzip auch die Existenz des Dialogs sowie seine Deutung und Deutbarkeit, d. h. die Möglichkeit seiner Deutung als in sich gegliederter Einheit aus einer einheitlichen Deutungsmethode heraus. Die Gerechtigkeit verbindet die Teile des Dialogs, die Stufen des Seinskosmos in Harmonie und die Hauptteile des Mythos ebenso wie den Mythos als ganzen mit den logischen Abschnitten; sie verbindet die Details des Mythos in ihrer noch zu erweisenden Mehrsinnigkeit und seine Wirkungskräfte (Unterhaltung, Erziehung, Erkenntnis). Die Gerechtigkeit ermöglicht die Einheit jeder Ebene für sich und den Zusammenhang aller Ebenen untereinander innerhalb der Einheit des Ganzen. Unter dem Prinzip der Gerechtigkeit besteht ein Kosmos aus Ähnlichkeits- und Analogieverhältnissen, die Seins- und Erkenntnisebenen verbinden und die Seiendes und zu Deutendes je für sich und miteinander in einen Nexus bringen. Dieser universale und 'gerechte' Relationskosmos des Seins und seiner Deutung und Erkenntnis wird sich später als notwendige Komplementärinstanz zum relationslosen Einen erweisen.

2) Der einleitende Teil des Kommentars a) Die Bestimmung des σκοπός und ihre Bedeutung für den Mythos Auch im Kommentar zum Schlußmythos der Politeia wird in der Gerechtigkeit das gesehen, was die Einheit des Mythos begründet und dem Deuten faßbar macht. Es ist für Proklos notwendig, daß der Mythos kein Zufallsprodukt und Flickwerk darstellt (ebensowenig wie der Kosmos beides sein kann), weil die Gerechtigkeit stärker als die Ungerechtigkeit ist (In In Rep. Π, 325, 22 - 326, 1 sind die Definitionen der Gerechtigkeit alle präsent, bezogen auf die Verfassung von Seele, Staat und Kosmos.

Die Analyse des Er-Mythos

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Parm. 691), sondern eine geordnete Sinneinheit mit zusammenhängenden Inhalten und Gegenständen bildet. Um diese im Text des Mythos vorliegende Sinneinheit erfassen zu können, ist es erforderlich, den einen σ-κοπός26] des Textes aufzuweisen bzw. seine πρόθεσις, d. h. Thema und Gegenstandsbereich, die alle Teile und Aspekte des Textes umfassen, bestimmen und in einen einheitlichen Sukzess führen - ein Prinzip, das die neuplatonische Art des Kommentierens fundamental prägt.262 Als diesen σκοπός bestimmt Proklos die Gerechtigkeit263 (In Rep. II, 97, 10 12): Sie ist der einheitliche Horizont des Mythos, der seinen Teilen ihren Sinn und Bezug gibt. Der Mythos kann, wie jeder Text, nur (als Einheit) existieren und erkannt werden, wenn man ihn aus einem σκοπός heraus versteht. Dieses Deutungsprinzip gilt universal für mythische, poetische und philosophisch-dialektische Texte, so daß auf dieser Ebene kein Unterschied zwischen Mythos und Logos besteht, d. h. auch, daß die Formen des Deutens und Kommentierens mit ihren Unterschieden nicht vom mythischen oder logischen Charakter des gedeuteten Textes abhängen, sondern andere Gründe haben. Dieses für alle (zentralen) Texte identische Grundauslegungsprinzip ermöglicht sowohl die Bestimmung der Einheit jedes einzelnen Textes als auch die Herstellung eines Einheitszusammenhangs zwischen allen Grundtexten, sofern sich ein zielgerichtetes Zweckgefüge aller Texte konstruieren läßt, das im σκοπός eines Zentraltextes seinen Höhepunkt und seine Zieleinheit findet. Für die Neuplatoniker ist dieser abschließende Höhepunkt Piatons Parmenides als Grundriß der gesamten platonischen Theologie. Diese fundamentale Vorgehensweise ist beim Auslegen von Texten ein Analogon zum Aufbau der Seinsordnung, in Vgl. In Rep. Π, 96, 5. - In Parm. 630. - In Ale. 11, 12 ff. - Zur Notwendigkeit solcher Zwecke vgl. Albinos: Isagoge 149 f. - Anonyme Prolegomena zur platonischen Philosophie 26, - Olympiodor: In Alcibiadem 1 1 . - Ohne diese Intentionen wären eine Lektüreordnung und Reihe im Unterricht unmöglich. - Im 9. Kapitel der Anonymen Prolegomena werden zehn Regeln zur Bestimmung eines σκοπός angeführt. Dieses Kommentierungsprinzip beruht darauf, daß alle Seinsstufen analog sind; sie sind als Produkte des Einen oder höherer Prinzipien vergleichbar, wobei sie einen gestuften (Ισότης) Sukzess bilden, in dem die Stufen vergleichbar sind und trotz verschiedener Seinshöhe paronym (als seiend) angesprochen werden. Das Deuten gründet also in den Prinzipien Analogie und Paronymie. Wenn das Wovon und das Worauf identisch sind, besitzt auch die Fundamentaltrias μονή, πρόοδος und επιστροφή einen Bezug zu diesen Prinzipien. In der PT (VI, 23) bildet die Monade der Gerechtigkeit den Deutungsschweipunkt, nicht die kosmische Entfaltung der Gerechtigkeit selbst. Zur Behandlung des Homerverses (Odyssee XXTV, 527) in In Rep. H, 96, 14 vgl. In Crat. 51, 52. - De mal. subs. 36, 8 f. - Olympiodor: In Gorg. 54, 9.

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der verschiedene Seinsstufen und -formen hierarchisiert koexistieren, so daß jede Seinsebene in und für sich eine Einheit konstituiert, aber auch ihren festen Ort innerhalb des einen henologisch zentrierten Seinsganzen besitzt, weshalb sie im Hinblick auf ihren Bezug zu den höheren und höchsten Prinzipien zu betrachten ist, um ihr eigenes Wesen (sofern es dem Ganzen immanent ist) ausmachen zu können. Wenn Proklos als σκοπός des Er-Mythos die Gerechtigkeit bestimmt, so wird der Text damit an seinen spezifischen Ort im Ganzen des platonischen Corpus und zu den anderen Texten in ein Bezugssystem gestellt, zu denen seine positiven und negativen Verbindungen aufgewiesen werden, so daß der Text seine 'Gestalt' und seine Grenzen im Ganzen erhält. Neben die Gerechtigkeit als σκοπός eines bestimmten Textes tritt noch ein universaler Sinn dieses Begriffs, denn jeder Text ist als 'gerechter' er selbst und tut das Seinige im Ganzen. Die Gerechtigkeit stiftet die Einheit jedes Textes und zwischen den Texten, grenzt sie ab und ordnet sie durch Bezüge in die eine Totalität ein; alles kann so es selbst und auf anderes bezogen sein. Durch die Gleichheit des Auslegungsprinzips bei allen (mythischen und logischen) Texten werden also nicht nur ihre Inhalte, sondern auch alle Formen und Typen in die Einheit dieser Totalität gefügt; das Prinzip des σκοπός trennt und verbindet so alle Texte zugleich. Wie sich noch zeigen wird, ist die platonische Definition der Gerechtigkeit (als Tun des Seinigen) aus der Politeia Proklos selbstverständlich gegenwärtig - auch und besonders bei seinen Auslegungen dieses Dialogs. Proklos paraphrasiert die Definition oft fast wörtlich, wobei es ihm entgegenkommt, daß schon in Piatons Definition ein doppelter Sinn liegt: Das Tun des Seinigen drückt einerseits den Selbstvollzug des jeder Sache innerlichen Wesens aus, den Vollzug ihres wesensgemäßen Selbstverhältnisses, das seinen Grund in ihr hat und auf sie zurückbezogen ist; andererseits richtet sich dieses Tun nach außen und verbindet den Selbstvollzug mit der Bezogenheit auf anderes, sei es gleicher oder anderer Art. Im Tun des Seinigen ist etwas es selbst, indem es zu sich und anderem seinem Wesen angemessen ein Verhältnis aufbaut; die Gerechtigkeit hat so bereits bei Piaton einen relationalen Sinn, den Proklos nur aufgreifen muß. Daneben ist die Gerechtigkeit jedoch schon bei Piaton nicht das Höchste, sondern dem Guten nur ähnlich264 und die Repräsentation dieses nichtBereits in der siebten Dissertation zeigt sich das relationale Wesen der Gerechtigkeit far Proklos. Sie hat für ihn einen ausgezeichneten Bezug zur Ebene des Seelischen: Sie ist der Grund des guten Lebens und der Glückseligkeit der Seele; für die Seelen ist die Gerechtigkeit der Grund ihres Gut-seins und -lebens sowie ihrer spezifischen Arete, die das Leben der Seele als deren Werk begleiten (In Rep. I, 26 f.). Auch im Parmenides-Kommentai zählt die Gerechtigkeit nicht

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mehr-seienden Höchsten im Sein und dessen Analogon. Beide Aspekte kommen Proklos sehr entgegen und bilden wichtige Elemente seines Denkens. Sowohl das Wesen der Gerechtigkeit als innerer Selbstbezug und Außenverhältnis eines Seienden ist für Proklos' Ontologie zentral als auch der relationale Charakter des Seinsganzen - und nur des Seins, nicht des Einen; die Gerechtigkeit gibt allem seinen Ort (In Parm. 855). Ersteres läßt sich auf die Struktur des Seinskosmos anwenden, sofern jede Stufe in sich existiert, bei sich bleibend sie selbst ist und ihr Wesen vollzieht, aber auch nach außen auf anderes wirkt, d. h. bei Proklos durch Kausalität und Partizipation anderes Sein unter sich hervorbringt, wobei diese Aspekte zugleich und gleichermaßen das relational bestimmte Selbstsein einer Seinsstufe prägen und notwendig zusammenhängen. Letzteres bedeutet für Proklos die Konstitution eines 'gerechten' Seinsganzen, das für ihn als Relationsgefüge und -Ordnung aller seiner Stufen besteht, die insofern gegen sich und anderes 'das Ihrige tun', so daß sie gegen sich und anderes verhältnisbestimmt existieren. Dieses relationale Wesen des 'gerechten' Seinsganzen wird abgrenzbar gegen das völlig relationslose, nicht-seiende Eine, das zugleich das absolute Gute ist und Grund des relationalen Seins.265 Ontologie und Henologie, als zwei Seiten des einen Denkens bei Proklos, finden somit ihren Niederschlag in der analogen Ausdeutung des Begriffspaars Gerechtigkeit - Gutes aus der Politeia. Anders als bei Piaton erfolgt bei Proklos jedoch die Deutung des Seinskosmos als relationaler Gerechtigkeitseinheit - in den Einzelheiten entfaltet - primär in seinen Auslegungen der platonischen Mythen. Die Gerechtigkeit macht das Wesen des Seinsganzen und jedes Seienden in ihm faßbar, aber zugleich 'verbirgt' sie den überseienden Grund des Seins, das Eine. In dieser Hinsicht erläutert Proklos das Wesen des Mythos als zu den höchsten Ideen. In Parm. 810 bilden Gutes, Schönes und Gerechtes eine in sich hierarchische Triade, weil sie jeweils verschiedene 'Seinserstreckungen' besitzen (sofern Dike Vorsehung übt, hat sie am Guten teil). Wenn der platonische Mythos nicht nur die Gerechtigkeit des Kosmos darstellt, sondern auch einen Bezug zur Schönheit und -πρόνοια, hat, so ist er ein Ausdruck von deren gemeinsamem Wirken. - In PT IV, 14, 44, 25 f. verteilt die Gerechtigkeit die allgemeinen Güter an alles gemäß seinem Wert. Sie übt πρόνοια, und läßt dem etwas Gutes zukommen, welches das Seinige tut; überdies hält sie alle Götter an ihrem Seinsort. Die Relationalität von Sein und Seiendem bedeutet für Proklos ein dynamisches Schweben und Sich-selbst-Halten, das das arelationale Absolute verbirgt. Das 'Schweben' des Seins ist die Verborgenheit des Einen, und in der Relationalität, die es begründet, verbirgt sich das Absolute: Die einzige Möglichkeit des Seins, gegeben und denkbar zu sein, ist also notwendig zugleich die Verborgenheit seines Grundes.

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Der Mythos bei Proklos

Ähnliches: Der Mythos ist eine eigene, besondere Form des Wissens und seiner Darstellung, die die Gegenstände und Inhalte zugleich verbirgt und deutlicher macht; dieser Zwiespältigkeit unterliegen letztlich jedes Seiende und jedes Wissen von Seiendem bei Proklos. Zwar ist das von Piaton mythisch Explizierte für Proklos etwas, das auch durch Logos und Dialektik bzw. theologisch sagbar und in deren Diskurse überfuhrbar wäre nichts anderes unternimmt Proklos selbst in seinen Deutungen der Mythen - , aber diese Entmythisierung ist nie absolut. Erstens bleibt der Mythos als Neben- und Minderform des philosophischen Wissens immer bestehen, wie auch die niederen Seinsstufen als solche doch beständig sind, und es findet neben der analytischen Entmythisierung sogar eine Remythisierung des Logischen statt, da alles philosophische Prinzipienwissen wieder in die Sprache und Bildlichkeit des Mythos rücküberführbar ist und von Proklos selbst rücküberfuhrt wird. Zweitens unterliegt alles Seiende, nicht nur der Mythos, der Zwiespältigkeit, zugleich zu verdeutlichen und zu verbergen, wobei diese Zwiespältigkeit einen onto-epistemologischen (niederes Seiendes und Wissen zeigen und verbergen höheres) und einen henoepistemologischen (alles Seiende gründet im Einen und weist auf es zurück, aber in keinem Seienden zeigt sich das Eine wirklich als es selbst) Aspekt besitzt. Wenn der Mythos also auch im Logos auflösbar und dieser wieder in ihn rücküberführbar ist, so können doch letztlich beide das Eine als Grund und tiefstes Wesen des Seinsganzen nicht adäquat erfassen; beide können das Sein auf ihre Weise darstellen, die seinem Wesen und seiner Fähigkeit, überhaupt auf das Eine, als Grund allen Seins und Wissens, zu verweisen, gerecht wird. Die 'ontologische Differenz' von Mythos und Logos, Bild und Gedanke besteht somit zwar, ist aber bei der 'henologischen Differenz' zweitrangig bzw. nur vom Sein aus und in diesem meßbar (überdies verbergen Bilder und Begriffe das Göttliche). Zwischen Mythos und Logos vollzieht sich also nicht nur eine Aufstiegsbewegung hinsichtlich von Sein und Wissen, sondern auch eine Art Kreisbewegung, was sich nicht widersprechen muß; der Mythos ist im Sein das Mindere, aber doch ebenso notwendig und beständig neben dem Höheren. Der Mythos ist für Proklos grundsätzlich auf ein höheres Sein und Wissen bezogen, als er es selbst mit seinen Mitteln und seiner Form darstellen kann. Er ist die Sache, die er bildlich und erzählend sukzessiv wiedergibt, und er ist sie auch nicht, weil er sie nicht in der Gegebenheitsweise ihrer selbst, sondern in seiner Form und auf seine Art und Weise erfaßt und sie in diese transponiert; er ist seinem höherstufigen Bezug also ähnlich, aber notwendig zugleich auch immer unähnlich. Aus dieser ontologischen Struktur ist er für Proklos auch in der Lage, die Sache, auf die er bezogen ist, auf seiner Ebene zugleich zu zeigen und zu

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verbergen; mit dieser doppelten Fähigkeit besitzt er eine ontologische und epistemologische Zentral- und Gelenkstellung im Ganzen: Die beiden Momente des Offenbarens und des Verbergens sind im Mythos als solchem zwar untrennbar verbunden, aber sie können in ihren Wirkungen auf die ihnen korrespondierenden Rezipienten, nämlich die menschlichen Seelen, auseinandertreten. Denjenigen Seelen, die sich im Sein nach unten wenden und in denen die sinnlichen Erkenntnisweisen herrschen, bleibt die wahre, nach oben weisende Bedeutung des Mythos verborgen, und sie finden entweder bloß Gefallen an seinem bildlich-unterhaltsamen Gehalt oder verstehen ihn sogar als unsinniges Gebilde. Diejenigen Seelen aber, die sich nach oben wenden und in denen die höheren Erkenntniskräfte bestimmend sind, erfassen die philosophische Bedeutung des Mythos, die sich in seinem bildlichen Gewand verbirgt, so daß der Mythos für sie eine enthüllende Funktion besitzt, indem er auf die Sache selbst verweist. Solche Seelen, die einmal den eigentlich und als ihn selbst nicht mythisch sagbaren und existierenden Gehalt des Mythos als solchen begriffen haben, können sich daneben noch des bildlich-unterhaltenden Potentials erfreuen, ohne von diesem von der Sache selbst getrennt werden zu können, denn die Seelen haben Freude an Nachahmungen {In Rep. I, 46, 14). Die Momente des Mythos treten für Proklos also im Bezug auf die menschlichen Seelen in trennende und aussondernde Funktionen auseinander, sofern sie bestimmte Seelen völlig von dem höheren Wissen fernhalten und andere Seelen zur reinen, von der Unähnlichkeit befreiten Erkenntnis der Dinge an sich hinführen. Anders als bei Piaton hat das Durchdringen des Mythos und der Durchgang durch ihn zu Höherem hin für Proklos einen weit reproduktiveren Charakter, denn der Mythos wiederholt für ihn nur ein philosophisches Wissen, das der Auslegende schon haben muß, wenn er den Mythos deuten will.266 Das Moment eines fortschreitenden Wissens, das im Rahmen der platonischen παιδεία, auch den Mythos durchschreiten muß, um zur philosophischen Einsicht zu gelangen, bleibt bei Proklos im Dunkeln. Für ihn existiert das höhere Seiende im Mythos in einem detaillierten und systematischen Entsprechungsgefüge parallel noch einmal auf einer ontologisch niedrigeren Ebene, als es selbst sie innehat. Diese Rückübertragung eines einmal erlangten philosophischen Wissens in die diesem analoge Deutung eines Mythos findet bei Piaton praktisch nie statt, weil bei ihm der Philosoph für sich keiner Bestätigung und Verdopplung seines Wissens im Mythos bedarf. Daß genau das für Proklos aber den Mythos ausmacht, gründet v. a. darin, daß er für

Piaton zeigt das höhere Wissen im Mythos selbst nicht, sondern bildet ihn nur implizit im Ausgang von diesem Wissen.

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Der Mythos bei Proklos

ihn göttlichen Ursprungs ist und eine gottgewollte Offenbarung des Göttlichen selbst auf einer niedrigeren Parallelebene darstellt, die wegen ihres Ursprungs notwendig immer existieren wird - auch für den Philosophen. Der Mythos muß zudem von seinen Deutungen unterschieden werden, die, wie alles philosophische Wissen, die höchsten Wahrheiten nie vollständig wiedergeben; diesen Aspekt des Unvollkommenen bei aller menschlichen Erkenntnis hat Proklos, anders als Piaton, stets betont. Wichtig ist aber, daß der Mythos für beide auf die menschlichen Seelen bezogen ist und unter diesen eine Trennungsfunktion ausübt, was ihr Wissen betrifft; daß auch bei beiden der Mythos neben und unter dem philosophischen Wissen angesiedelt doch unaufgehoben bestehen bleibt, hat verschiedene Gründe. Bei Proklos ist der Mythos noch für 'fertige' Philosophen von Bedeutung, während er bei Piaton für Nichtphilosophen bzw. für die Bildung philosophischer Seelen in ihrer Entwicklung zum höheren Wissen bestimmt ist und bestehen bleiben muß. Der Mythos ist seinem höheren Bezugsgegenstand ähnlich und unähnlich wie auch die Stufen des Seins im gerechten Seinskosmos und das Gerechte selbst in bezug auf das Gute. Wie alles hat der Mythos als Seiendes seinen festen Ort im gerechten Seinskosmos und ist den Ebenen und Seienden über ihm gradweise ähnlich; durch diese Ähnlichkeiten ist der Mythos auf das Höhere bezogen und beziehbar, wobei er selbst und seine Relationen im Ganzen notwendig und 'gerecht' sind. Es geht nach Proklos im Er-Mythos grundsätzlich darum, die Ähnlichkeit zwischen Mensch, Staat und Kosmos offenzulegen, sofern sie gerecht sind. Der Mythos tut das Seinige, wenn er auf eine den Sachen selbst ähnliche Weise Ähnlichkeitsrelationen zwischen Seinsebenen herstellt und so das Wesen jeder Stufe und ihre spezifische Eingebundenheit in die Einheit des Ganzen zeigt. Er hat nicht nur eine Affinität zum Seelischen, sondern auch zur Gerechtigkeit und zum Ähnlichkeits- und Relationscharakter des Seins. Mythen machen für Proklos das Wesen bestimmter Sachverhalte durch ihre Relationen zueinander offenbar - hier, sofern Mensch, Staat und Kosmos gerecht und sich untereinander als gerechte ähnlich sind; der Mythos ist die abbildlich gefaßte Einheit eines Relationsgefüges, das auch den Grundzug des Seinsganzen ausmacht. Gerechtigkeit ist das Bestehen von Ähnlichkeiten zwischen Dingen, und ihr Ähnlichsein ist wiederum ihr Gerechtsein; in diesem Feld existiert und wirkt auch der Mythos: Er ist Dingen ähnlich und zeigt Ähnlichkeiten zwischen ihnen - und zwar im Kontext eines Begriffs, der alles als und durch Ähnliches sein läßt.267

Auch auf dieser Ebene offenbart sich das fundamental ontologische Interesse der Neuplatoniker. Vgl. dazu Ueberweg (1926), S. 37. - Sonderegger (1982), S. 27.

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Der Mythos stellt für Proklos das gerechte All in seiner Ganzheit aber auch dar, indem er alles Seiende in den Rahmen umfassender, 'logischer' Gegenteile stellt, die alles Seiende in Bezug zueinander setzen und ordnen, wobei die Gegensatzpaare selbst analog zueinander verstanden werden; solche Paare sind etwa Gerecht - Ungerecht, Lohn - Strafe, Eines Vieles, Ganzes - Teile, Einfaches - Zusammengesetztes, Unsinnliches Sinnliches, Denkendes - Nichtdenkendes usw. Diese Gegensätze umfassen den gesamten Seinsraum, und in ihrem Gefuge hat jedes Seiende seinen bestimmten Ort - je nach seinem Wesen und Tun. Dabei verkörpert ein solch logisches Gegensatzprinzip für Proklos zugleich einen ontologischaxiologischen Sinn, d. h. alles Seiende steht durch dieses Prinzip in einer hierarchisch gestuften Einheit, so daß die logischen Gegensätze auch Seins- und Wertgegensätze bilden, wobei das Bessere und Höhere das Schlechtere und Mindere bestimmen und begründen.268 Das Ungerechte ist so nicht mehr nur das notwendig zu denkende Gegenteil des Gerechten, sondern ein spezifischer Teil des Ganzen, das vom Gerechten abhängt und als notwendige Seinsmöglichkeit seinen Ort im All haben muß, ohne selbständig zu sein. Deshalb hat noch das Ungerechte seinen gerechten, notwendigen und angemessenen Ort in einem Kosmos269, der gemäß dem Gerechtigkeitsprinzip eine hierarchisierte Einheit bildet und als solche auch dem Einen zugleich entsprungen und in ihm begründet ist; das gerechte Seinsganze ist der Entfaltungsraum des Einen. Damit das Leben der Seelen im Jenseits Folgen haben kann, muß man als Prämissen die Unsterblichkeit derselben und das Vorhandensein einer alles umfassenden Vorsehung annehmen, die das Gebende zur nehmenden Seele sein muß (In Rep. II, 101 f.). Die Analogie von Pronoia und Dike (In Rep. II, 102, 12)270 erweist die Gerechtigkeit als Ausdruck des relational-

Ftlr die Neuplatoniker bedeutet das logisch Unmögliche immer zugleich auch das ontologisch Unmögliche. - Die Seele trägt in sich einen ontologischen, erkenntnistheoretischen und axiologischen Rückbezug zu ihrem Grund, d. h. sie hat ihr Woher in sich, erkennt es und erstrebt es. Deshalb wird In Rep. Π, 7, 19 f. bewiesen, die Fehler von Seelen könnten das All und seine Ordnung nie umstürzen, sondern nur stärken. Proklos' Abwehr der Epikureer, konkret des Colotes, dient v. a. dazu, die Einheit der Existenz der Götter und ihrer πρόνοια zu wahren, wohingegen die Epikureer den Zufall walten lassen. Vgl. In Rep. Π, 102, 10 -14. - In Tim. 1,262,2 - 9; 267, 14 - 1 6 und 356, 29 - 31.-ET 122.-PT1,15, 74 ff. - Zu Colotes'Einwänden gegen den Er-Mythos vgl. besonders Tarän (1987), S. 266 f. - Festugiere (1970), ΙΠ, S. 47 - 49. - Das Schema der Nomoi (X, 885 b), gemäß dem die Götter nicht existieren, keine πρόνοια gegenüber den Menschen üben und in ihrer Gerechtigkeit wandelbar sind, taucht topisch auch in der PT (1,13, 59,21 ff), bei

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dynamischen Einsseins des Kosmos, dessen Teile und Stufen beziehungsbestimmt zusammengefügt sind. Gemäß der einen und einzigen πρόνοια271 und τάξις verteilen sich die Seelen nach ihrem Wert in Gruppen, und jeder Teil hat seinen Ort im Ganzen, nämlich dort, wo er dessen Sein nicht gefährden kann; Wesen, Tätigkeit und Seinsort sind einander also komplementär. Das Stärkere und Bessere herrscht zwar über das Schwächere und Schlechtere, aber beides existiert in der gestuften Ordnung des vernunfterfiüllten Ganzen; diesem Prinzip analog sind auch Strukturen von Logos und Mythos und ihre Auslegungen: Beide reden über alles, Wichtiges und Unwichtiges, Allgemeines und Details, in einer zusammenhängenden Ordnung, so daß man Logos und Mythos als 'gerechte' Seiende betrachten kann, die auf ihre Weise existieren, wirken und durch das Sein führen. Der Logos ist ebenso wie der Mythos ein notwendiges, inneres Proportionsgefüge, in dem man über alles Nötige an seinem Ort im Konnex des Ganzen reden muß; Logos und Mythos werden also - wie bei Piaton - als Entitäten behandelt, wenn auch gemäß dem neuplatonischen Seinsverständnis. Pronoia und iiirq272 gehören zueinander und stiften die universale Einheit einer Ordnung für Ganzes und Teile, auf die das Ganze über Zwischenstufen wirkt. Wenn einerseits die Individuen als Grenze der bezeichnet werden und die Mythen andererseits anschaulich-exemplarisch sein sollen, so ist der Mythos die Darstellung des Bereichs der J/'kij von deren unterer Grenze aus; demgemäß schildert er die Folgen der πρόνοια vor dieser selbst und nennt deshalb viele Einzelnamen (In Rep. II, 102 f.). Simplicius (In Epicteti Encheiridiott XXXVIII) und sogar im 15. Jahrhundert noch bei Plethon (Erinnerung an Manuel) auf. Die Pronoia bildet die Stufen des Kosmos, sie gilt filr das Ganze und die Teile im gesamten Bereich des Logos; dabei bringt sie Zwischenstufen hervor, um auf die Teile wirken zu können (etwa die jüngeren Götter im Timaios), d. h. sie bildet die Stufen des Seins, umfaßt das All und gelangt durch Teilungen zu allen Entitäten, wobei sie alles Seiende im Umfeld seiner Seinsstufe und ihm gemäß göttlich wirken läßt. Sie repräsentiert das Abwärtswirken des Göttlichen und das stufenweise Übergehen, das die Menschen erkennen können, um sich zu retten: Die πρόνοια, bewirkt also das Sein als Erkennbares. Auch die Tatsache, daß im All nichts Neues hinzukommen kann und nichts das All verlassen kann, zählt zur pronoetisch intendierten Erkennbarkeit des Seins: Die πρόνοια, garantiert die zyklisch-hermetische Totalität des vor-durchdachten Seins, das nur in sich dynamisch existiert; sie vermag sogar - als vorseiend die παρυπόστασις vorzudurchdenken. Ohne einen σκοπός, der die Existenz der δίκηj und der πρόνοια, belegt, wären alle Texte bloße Zufallsprodukte. Zur Geschichte der Differenz von Dike und τύχη schon in der Stoa vgl. SFFII, 925 und 965 - 971 sowie 999.

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Der Mythos verbirgt für Proklos (höhere) Wahrheiten in sich und kann als er selbst und durch seine Auslegung zum Göttlichen hinführen (In Rep. II, 96 f.). Er demonstriert das bildhaft, was der Logos auch sagt. Mythos und Logos sind zwei Erscheinungsformen 'desselben', die in logischer und ontologischer Gegensätzlichkeit stehen, obwohl beide im Medium menschlicher Sprache wirken und relational aufeinander bezogen sind. Da der Mythos aber verbirgt, muß er rational gedeutet (d. h. entmythisiert) werden, um seinen das Denken aufsteigen lassenden Sinn freizulegen. Der Gang des Denkens von Mythos zu Logos ist ein Aufstieg zwischen Seinsund Erkenntnisstufen in der Darstellung 'desselben', in seinem Wesen hochstufigen Sachbereichs. Dabei wird der Mythos von der Sache selbst zu ihrem Bild gemacht, bleibt als solches erkannt und neben seiner Gedeutetheit bestehen, sowohl weil er Freude macht als auch weil er eine göttlich inspirierte Dichtung und ein Symbolgefüge ist, das die Götter gegeben haben und das sich als göttliche Offenbarung manifestiert. Das Ziel liegt darin, die Beziehung zwischen Gehalt und Hülle zu zeigen, d. h. zwischen Verbergung und Offenbarung. Der Mythos ist immer neu zu deuten (was seine pädagogische Dimension ausmacht) und ist als göttliches Symbolgefuge nie völlig durchschaut (was ihn zu einer fortdauernden Aufgabe des Schulbetriebs macht), so daß es allein einen zeitlichen Fortschritt gibt, der das Prinzip des Aufstiegs durch Deuten nur begrenzt verwirklicht - was auch für den Logos gilt, da etwa der Parmenides ebenfalls stets neu gedeutet wurde; nur daß Mythen und Dialoge Wahrheit enthalten, blieb unumstritten. Der Mythos spiegelt das Höhere auf der Ebene seines Gegenteils wider; er muß sowohl hinsichtlich des Höheren begriffen und aufgelöst als auch hinsichtlich des Widerspiegeins verstanden und erhalten werden (die Ironie hingegen bedeutet ausschließlich etwas Anderes). Er unterliegt den Prinzipien des Seins und ist eine Ausstrahlung des Höheren, die dieses nicht vermindert, aber auch etwas, das zum Höheren hin überschritten wird, wobei der Mythos als Stufe bestehen bleibt. Vom Mythos zum Logos findet ein Übergang in Sein und Denken statt, ein Übergang in der Seele zwischen ihren jeweils tätigen Vermögen. Beide sind dem Menschen gemäße Erscheinungsformen des Wissens vom Höchsten, liegen sprachlich-diskursiv und als quasi körperlich teilbarer Sukzess vor, so daß der Mensch in sich von der 'geteilteren' und sinnlicheren mythischen zur relativ einheitlicheren und unsinnlichen Erkenntnis übergeht, die den höchsten Dingen selbst angemessener ist, wenn auch nicht völlig adäquat. Im Konzept der Einheit einer allumfassenden Theologie in Proklos' Sinn haben Mythos und Logos beide ihren Ort, hängen zusammen und sind zwei ungleiche Gegebenheitsweisen eines theologischen Wissens.

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Der Mythos bei Proklos

Wie sich noch genauer zeigen wird, ist die Allegorese das Instrument der auf eine höchste Sinnebene zielenden Deutung inspirierter Gebilde, das auch auf den Mythos angewandt wird, der (als Art der Dichtung) philosophisch auszulegen ist, wobei das Inspirierte in ihm nicht Dichtung und Bild ist, sondern Philosophie und Gedanke. Die Dichtung steht nicht mehr - wie bei Piaton - als göttlicher ένθυσιασμός neben den Möglichkeiten philosophisch-menschlicher Prüfbarkeit (weshalb Piaton die Allegorese ablehnt), sondern fordert die philosophische Deutung als Freisetzung seines eigentlichen Gehalts, auch weil die Götter selbst im Mythos auf dem Menschen adäquate Weise Philosophisches kryptisch gegeben haben, das in reine Philosophie zu überfuhren ist.273 Der Mythos ist für Proklos Philosophie außerhalb der Form und des Mediums derselben, nämlich des Denkens, wohl aber in ihrem Inhalt, wobei erst das Denken den Mythos in den philosophischen Begriff überführt. Menschen und Götter haben beide Freude an Bildern und sind zuhöchst denkende Wesen; die Götter bzw. gottinspirierte Menschen verbergen Gedanken in Mythen, die Menschen lösen das Verborgene wieder auf und führen es in die Eigentlichkeit seiner wesensgemäßen Selbstgegebenheit zurück. Gottgegebene Mythisierung und menschlich deutende Entmythisierung bilden ein Band zwischen Göttern und Menschen. Die Götter verhüllen die Wahrheit in einer Weise, bei der immer ein Rest von Deutungsunsicherheit bleibt: Der Mensch kann die Wahrheit des Höchsten auch philosophisch nicht vollkommen erkennen, so daß das philosophische Deuten der Mythen diese nie restlos auflösen kann, obwohl die Götter die Grundtendenz vorgegeben haben. Im Mythos nähern sich die Götter dem Menschen auf menschliche Weise und bringen ihn zu sich selbst, d. h. sie führen ihn zu seinen höheren Vermögen und seinem höheren Sein. Der Mensch kann sich in seinem Selbstsein, nicht in seinem Wissen, ganz sammeln, denn dieses dient nur der Selbstsammlung; die Theologie bildet das Einheitsband von Philosophie und Mythos bzw. Dichtung. Das Schaffen von Mythen unter dem Einfluß göttlicher Inspiration (als göttliche Offenbarung) und ihre wissenschaftliche Deutung durch den Menschen sind gegenläufige Verhältnisse (des Menschen) zur einen

Der Mythos steht zwischen Dichtung und Philosophie, bildet aber die der Philosophie nächste Form des Dichtens. Die Grenzen verfließen, weil alle Symbole zuletzt auf dasselbe abzielen, d. h. die Ausdrucksformen kreisen untereinander um die Wahrheit herum. Dennoch treten Dichtung und Mythos hinter die Philosophie zurück, da nur sie die Einheit des Göttlichen sammeln und darstellen kann.

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Wahrheit des Mythos.274 Symbolisches Verhüllen im Mythos und auflösendes Deuten der Symbole stehen stets in bezug zur Einheit des Mythos, in der sie allein Wahrheit besitzen. Der Mythos wird als Einheit und Ganzheit geschaffen und muß auf sie hin ausgelegt werden {In Rep. II, 97, 9), so daß er nur als ganzer wahr sein kann und nie nur in seinen Teilen; die Sicherung der Wahrheitseinheit ist die Aufgabe, der Grund und das Ziel des Deutens und seiner Methoden, wobei der Mythos in mehrfachem Sinne wahr sein kann, es aber in jedem Fall auf symbolischer Ebene sein muß. Das Schaffen inspirierter Mythen und ihre Deutung sind nicht die Sache derselben Person, nicht einmal derselben Epoche. So hat Proklos zwar Hymnen verfaßt, die aber als didaktische Dichtung ganz und gar aus den Einsichten philosophischer Deutung entsprungen und diesen gefolgt sind.275 Die Hymnen sind eine Form didaktisch motivierter Remythisierung philosophischer Erkenntnisse und eine Wendung des auf seine Weise erkennenden Menschen zum Göttlichen, nicht des Göttlichen selbst zum Menschen, ein rein menschlicher Gottesdienst und keine ursprüngliche göttliche Selbstoffenbarung. Die Einheit des Mythos ist nicht nur eine Bedingung für und eine Forderung an die methodische Exegese, sondern sie ist auch durch die Tatsache notwendig, daß der Mythos - wie alles Seiende - den Prinzipien des Seins genügen und deshalb - wie jedes Seiende und jede Erkenntnisform ein bestimmtes Maß von Einheit besitzen muß. Das Deuten von Mythen und Logoi steht also unter dem Gesetz der Suche nach einem σκοπός, und beide beziehen sich auf dieselbe Wahrheit und Einheit des Göttlichen, von dem sie letztlich beide herstammen. Mythen und Logoi müssen als Einheit und auf Einheit hin ausgelegt und überhaupt gedeutet werden, um ihre Wahrheit zu offenbaren. Beide können dabei verschiedene und unterschiedlich hohe und umfängliche Stufen und Ausschnitte aus der Einheit des Seins darstellen. Was und wieviel ein Mythos oder Logos darstellen mag - er muß es als Einheit und Ganzheit tun; Darstellung und Dargestelltes müssen je eine Einheit bilden. "Σκοπός des Mythos - zumeist schon derselbe wie im Dialog - und symbolisches Deuten begründen einander, wozu der σ-κοπός die Allegorese benötigt, die wiederum zu ihm führt und ihn als einen bestätigt. Mythos und Logos sind zwei Drehebenen einer Spirale, die sich um dasselbe herumbewegt, nämlich die Einheit der noetischen Wahrheit der höchsten Dinge. Noch im Mittelalter gelten etwa Visionen oft als zugleich von Gott empfangen und vom Menschen komponiert. Vgl. Meier (1976), S. 56. Zur theologisch-philosophischen Fundierung der Hymnen vgl. Erler (1987), S. 179 - 217. - Geizer (1966), S. 19. - Dörrie (1975a), S. 276 - 278. - Vogt (1957), S. 361 und S. 370.

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Nur die Einheit, die eine Absicht und der eine Zweck machen den Mythos zu einer wirklichen Entität, die bloß als harmonische und geordnete Ganzheit existieren und etwas bedeuten kann276; andernfalls wäre der Mythos nichts, bedeute nichts und wäre "buntscheckiger, wunderlicher Unsinn" (In Rep. II, 97, 26 - 98, 1). Daß der Mythos bzw. die μυθολογία hier als Seiendes unter Seiendem gefaßt und auf dieses - als Ganzheiten und in ihren Teilen - bezogen wird, zeigt sich auch daran, daß ontologische Grundprinzipien auf sie angewendet werden: Der Mythos behandelt nicht nur Seinsstufen und -Verhältnisse in sich, sondern unterliegt ihnen auch selbst, wenn er nur als "ungemischt Gemischtes" (In Rep. II, 97, 26) Sein und Sinn haben kann; dieser Terminus wird ebenso dann verwendet, wenn Sein als Koinonie und Mischung bestimmt wird. Später wird auf den Mythos noch das triadische Prinzip von ά,ρχη, μέσον und τέλος angewandt (In Rep. II, 104, 7 - 10), woran schon sichtbar wird, daß Mythen nicht nur Prinzipien ausdrücken, sondern ihnen auch selbst gemäß sind. Darüber hinaus ist die Bestimmung eines σκοπός für den Mythos notwendig, um ihn gegen den schon früh erhobenen Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit und Wertlosigkeit verteidigen zu können. Nur wenn der Mythos denselben Deutungs- und Erkenntniskriterien genügt wie der Logos (in den er eingebettet ist), kann er einen diesem gleichwertigen Rang und analogen Anspruch geltend machen. Er muß also zum Dialog und dessen wissenschaftlichen Einsichten einen erkennbaren Bezug haben und seine Themen aufnehmen, aber er muß auch etwas Eigenes sein und dem Logos etwas Neues hinzufugen; die Struktur eines "ungemischt Gemischten" gilt somit nicht allein für den Mythos in sich, sondern auch für den Bezug zwischen und das gemeinsame Vorliegen von Mythos und Logos. Deshalb erfahren die Mythen von Proklos eine eigenständige Kommentierung und verfügen über einen eigenen σκοπός, um ihren unabhängigen Wert belegen zu können, aber sie werden überdies zum Dialog und dessen σκοπός in Beziehung gesetzt; beide Vorgehensweisen dienen dem Erweis der eigenen Relevanz des Mythos im Kontext der ganzen platonischen Philosophie, seiner Eigenheit, die dann relational ausgelegt wird - wie bei jedem Seienden. Auf diesem Boden ist es möglich, daß Mythos und Logos je für sich als wissenschaftlich und als göttlich inspiriert aufgefaßt werden, und nicht der eine nur letzteres, der andere nur ersteres ist. Deshalb kann Proklos sagen, Der Mythos ist ein Seiendes und wird durch den σκοπός zu einer Einheit, die den Lebewesen analog gefaßt wird, wobei er ein Wissen darstellt, und auch seine Rtickwendung erfolgt in allen diesen Momenten (Sein, Leben, Denken). Vgl. ET 39. - Da alles in allem ist, aber auf je eigene Weise, ist auch der Mythos alles auf seine Weise, d. h. die Natur, die Seele, der Geist oder die Einheit existieren im Mythos auf seine Seinsweise.

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der Mythos entwickle, wie der ganze Dialog, die Formen der universalen Gerechtigkeit von Seelen, Staat und Kosmos, mache die Gerechtigkeit aber anhand des Kosmos noch besser verständlich (In Rep. II, 98, 1 - 20). Was der Dialog auf der Ebene des Sublunaren und der eingekörperten Seele leistet, fuhrt der Mythos auf der Ebene des Translunaren, Himmlischen und der entkörperten Seele fort, was gegen den Dialog etwas Eigenes, aber nichts Isoliertes und Beziehungsloses ist, womit der grundsätzliche, dem σκοπός angemessene Bezug des Mythos zum Dialog hergestellt wird. Im einzelnen wird dadurch die Zitation der Politeia im Kommentar zum ErMythos überflüssig, ganz im Gegensatz zu anderen platonischen und überhaupt philosophischen Werken. Wenn Proklos darauf eingeht, daß der Mythos die Gerechtigkeit anhand des Kosmos und auf dessen Ebene verständlicher mache, als sie es beim Staatsmodell sei, so stellt das keinen Widerspruch zur allgemeinen Verbergungstendenz des Mythischen dar, denn erstens gebraucht Proklos nur den Komparativ (In Rep. II, 98, 19), und zweitens verbleibt das hier gemeinte Deutlichermachen im Bereich des Bildlichen, d. h. ein Bild wird durch ein anderes, vergrößertes und schärfer konturiertes Bild verdeutlicht, auf das es sich im Ganzen und in seinen Einzelheiten beziehen läßt. Die Verdeutlichungsbeziehung besteht in bildimmanenten Ähnlichkeiten und Relationen: Die Philosophen, Helfer und Diener in der irdischen Staatsverfassung werden zu den Göttern, Dämonen und Menschenseelen als den Klassen des Himmelsstaates in Beziehung gesetzt (In Rep. II, 7 und 98, 20 - 99, 6) und ihnen analog aufgefaßt, wobei diese Bezüge im Kontext des Bildlichen verbleiben, da sie noch nichts über das Wesen der Götter, Dämonen und Menschenseelen selbst sagen bzw. über das, was sie auf der Ebene des Kosmos tun und leiden. All das aufzuzeigen ist die Aufgabe des Mythos und seiner Deutung. Dabei besteht zwischen dem irdischen und dem himmlischen Staat nicht nur eine bildlich gebundene Ähnlichkeit, sondern auch Unähnlichkeit, weil es sich in letzterem um höherstufige Wesen handelt. Was für Proklos am Himmelsstaat zu verdeutlichen ist, betrifft v. a. die Funktionen und Relationsbindungen, die zwischen den drei Ständen beider Staaten bestehen (Gesetzgebung, Bewachung, Gesetzesunterworfenheit und Dienst). Das Wesen der Götter, insbesondere von Ananke und Moiren, ist mit der Analogie zu den Philosophen nicht ausgeschöpft, da sie nicht nur in den kosmischen, sondern auch in den hyperkosmischen Bereich gehören; alle diese Strukturen muß der Mythos explizieren. Er zeigt also etwas Ähnliches wie der Logos, aber er geht noch darüber hinaus, und ebenso ist der Mythos selbst dem Logos zugleich ähnlich und unähnlich, hat Gemeinsames mit ihm und ist von

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ihm verschieden, wobei diese Strukturverhältnisse für das Sein im ganzen gelten. Wenn Mythos und Logos bestimmte Sachverhalte an größer dimensionierten Gefügen bildlich verdeutlichen können, so ist eine Ähnlichkeit und Verwandtschaft zwischen den beiden Vergleichspunkten Grundlage und Ergebnis des Vergleichs, in dem sowohl das Ähnliche als auch das Unähnliche zwischen den Vergleichspolen hervortritt, d. h. es kommt niemals zu einer vollständigen Identifizierung des Verglichenen. Das Ähnlichkeitsprinzip in Mythos und Logos wirkt und gilt aber nicht nur zwischen Sachbereichen, sondern auch bei dem Erkennenden, bei den Seelen. Reden enthüllen den ihnen ähnlichen Seelen Wahrheits- und Verwandtschaftsverhältnisse, die zwischen Seienden und Seinsebenen bestehen, d. h. die Reden, Mythen und Logoi, sind nicht nur dem Seienden und seinen Verhältnissen ähnlich, sondern auch dem Erkennenden und auf Seiendes Bezogenen, das selbst wieder als seiend zu fassen ist. Reden sind also mit ihrem Offenbaren von Seinsähnlichkeiten selbst auf etwas (in) ihnen Gezeigtes Ähnliches bezogen, nämlich auf die erkennenden Seelen; denn sie zeigen keine Bezüge im Sein, wenn sie nicht selbst auf etwas wirkend bezogen sind {In Rep. II, 104, 3 f.). Die Reden sind den erkennenden Seelen und den erkannten Entitäten an sich ähnlich; sie führen, indem sie Wahres zeigen, Seiendes zu diesem hin (was für Reden und ihre Auslegung gilt). Proklos versteht in diesem komplexen Gefüge von Sein, Reden und Seelen nicht nur alles als in sich und nach außen relational, sondern auch als seiend und wesensverwandt. Das seinsdeutende, seelenbezogene Potential der Mythen wird später noch differenziert, wenn Proklos bestimmte mythische Kräfte auf bestimmte Seelen wirken läßt. Hier deutet sich schon an, daß alle drei in das Ganze des primär von seinen Beziehungen her bestimmten Seinsganzen eingebunden sind und sich als Entitäten zu allen anderen in Bezug setzen lassen können müssen, um sie selbst zu sein und ihr Wesen zu vollziehen. Es ist daher verständlich, wenn Proklos ζ. B. betont, die Reden des Propheten entwickelten nicht nur die Wahrheit des Seins, sondern seien auf die wählenden Seelen gerichtet und sollten auf ihr Handeln wirken, das wiederum auf das eigene Sein und die Güte bezogen sei. Was das Verhältnis von Logos und Mythos angeht, so ist dem bisher Gesagten noch hinzuzufügen, daß der Mythos nicht nur dem Logos ähnlich und unähnlich, auf ihn bezogen und von ihm getrennt ist, sondern daß sich die Mythen auch untereinander so verhalten. Proklos zieht alle platonischen Mythen synoptisch zusammen und hält sie für vereinbar; sie müssen sich aber zu einer Totalität erst gegenseitig ergänzen, weil sie Verschiedenes sagen und zum Gegenstand haben. Entsprechend sucht er

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fur seine Deutung des Er-Mythos in den Mythen des Gorgias, Phaidon, Phaidros oder des Politikos Bestätigung, aber auch Erweiterung zu einer Art mythensynoptischem, bildhaftem Weltpanorama. Es muß sogar festgestellt werden, daß er für Details der Auslegung des Er-Mythos vorrangig andere Mythen als Ergänzungs- und Bestätigungsbelege heranzieht. Die Mythen scheinen für Proklos also eine Gegenstands- und Darstellungseinheit zu bilden, die in sich zusammenhängt, ohne daß die einzelnen Mythen in Wiederholung und Indifferenz verlorengingen. Die Mythen teilen mit ihrem Dialog scheinbar den allgemeinen σκοπός, haben aber auch alle einen gemeinsamen σκοπός und sind in Einzelheiten eher untereinander und weniger zu dialogischen Partien in Beziehung zu setzen. So ist es auch nicht verwunderlich, wenn für Proklos Mythos und Logos in sich und miteinander dem triadischen Seinsbau genügen: Ebenso wie das X. Buch insgesamt den Bau von αρχή, μέσον und τέλος (mit dem Mythos als

επιστροφή) aufweist, so erfüllt auch der Mythos in sich dieses Prinzip (In Rep. II, 104, 7 - 12), wobei die Mitte des Mythos Einsicht in das Ganze gewährt; die Moiren als μέσον sind das alles zusammenhaltende Band, d. h. in der Mitte zeigt sich das Ganze von seinem Grund her. Im folgenden wird sich darüber hinaus noch zeigen, daß Ananke und die Moiren dasjenige 'sind1, als was sie je in verschiedenen Hinsichten fungieren - als Göttinnen, πρόνοια, richterliche Monade und Triade - , und sie lassen sich sowohl enkosmisch als auch hyperkosmisch betrachten (In Rep. II, 105, 11 - 17).277 Um den σκοπός und die πρόθΐσις des Er-Mythos bestimmen, belegen und anwenden zu können, dient Proklos die Ausfaltung des ganzen Mythos in Anfang, Mitte und Ende, in denen jeweils die Hauptpunkte278 anzugeben und gegeneinander zu ordnen sind, um eine harmonische Einheit zu gewinnen. Es ist auffallig, daß Proklos die drei Teile in sich und zueinander - gemäß analogen Grundrelationen - ordnet: Der Anfang befaßt sich mit den Schicksalen, dem Gericht und den Urteilen über die Seelen, die Mitte mit dem All und dem Ganzen, das Ende mit den Abstiegsbewegungen der Seelen (In Rep. II, 104, 7 - 12); damit hat Proklos die vier Teile des Mythos (In Rep. II, 92, 20 f.) nun zu dreien zusammengezogen, wobei er alle diese Teile jeweils grundsätzlich in sich nach der Relation von'άρχοντα,und αρχόμενα in ihrem Gehalt bestimmt (In Rep. II, 104, 12 - 18), der aber noch analoge und komparative, d. h. bloße Teilhabe ausdrückende Relationen zur Seite gestellt werden (καλλίονος Die Mitte des Mythos wird auch als Digression bezeichnet (In Rep. Π, 104, 9), weil das Ganze sich von außen in den διάκοσμος Tiineindreht'. Proklos bezeichnet die Hauptpunkte als κβφαλα,ΐα. (In Rep. Π, 104,7 und 105,18), wodurch sich eine Nähe zum Kopf als Ort des Denkens ergibt (In Rep. Π, 247, 11).

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χείρονος — ίλογοττέρος / ολικωτέρος — μερικωτερος (In Rep. II, 104, 17 - 20)). Unter den Herrschenden (Moiren, Richter und Dämonen) unterscheidet Proklos weitergehend zwischen έππροπεΐα έξηρημ,ένη (vgl. ET 23, 75, 93) und emrponeia προς τά αρχόμενα σνντεταγμέντ), unverbundener Besorgung und Besorgung im direkten Bezug zu den Beherrschten, was an die Grundtrias ά,μέθεκτον, μετεχόμενον und μετέχον erinnert (In Rep. II, 104, 15 f.). Wichtig ist hierbei, daß Proklos die Einheit und σύνταξις des Ganzen dadurch sichern will, daß er zwischen den drei Teilen als inneren Relationsgefügen ein diesen gleichartiges Relationsgefüge aufzeigen will, d. h. in allen drei Teilen findet sich dieselbe Relation, die zwischen ihnen noch einmal besteht; durch eine solche 'Wahrheit' wird die Einheit des Ganzen unter dem einen α-κοπός erwiesen und zyklisch bestätigt, so daß der Aufbau des Mythos dem des Seins folgt und denselben Gesetzen gehorcht. Daher ist es verständlich, daß Proklos ontologische Prinzipien auf den Mythos überträgt und in aller Strenge anwendet, denn der Mythos redet nicht nur von Seiendem, sondern er ist selbst ein Seiendes. Sein ist τάξις und κόσμος, ebenso wie der Mythos in sich und im Seins- und Erkenntnisganzen; mit dieser "Auffassung und ihrer relationalen Auslegung folgt Proklos letztlich, wenn auch mit stärkerer Betonung, der schon bei Piaton angelegten Tendenz.

b) Die Einwände des Colotes und die theoretische Bestimmung des Mythos In Rep. II, 105, 23 - 109, 3, dem Abschnitt, der den einleitenden Teil der 16. Abhandlung bis zum Anfang des Lemma-Kommentars abschließt, befaßt sich Proklos mit den Einwänden des Epikureers Colotes gegen den Er-Mythos, und er entfaltet in diesem Abschnitt auch Grundsätzliches zu seiner Auffassung von Wesen und Bedeutung des (platonischen) Mythos. Von den vier bekannten Schriften des Colotes279 - gegen den Euthydemos, den Lysis, den Er-Mythos und gegen die Lehren nichtepikureischer Philosophen allgemein - war v. a. die Schrift gegen den Er-Mythos der Anknüpfungspunkt der Neuplatoniker bei ihrer Verteidigung der platonischen Zu Colotes lind zur epikureischen Platonkritik vgl. Diogenes Laertios X, 25. Proklos folgt in seiner Darstellung der Kritik Macrobius (I, 2, 4 f.). (Vgl. Mras (1933), S. 236 f.) Beide greifen dabei auf Poiphyrios zurück. - Die platonischen Mythen einen alles, was die Epikureer ablehnen: nämlich die göttliche Vorsehung, den Menschen als Zweck der Schöpfung, die Theodizee, das Wirken der Götter in der Welt, die Einheit und sachliche Hochschätzung der Astronomie, die nicht-materialistische und nicht-mechanistische Weltsicht, die Existenz und das Wirken eines Fatums sowie die Rolle der Dialektik.

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Philosophie, was einerseits sicher durch ihr geringes Interesse an den Frühdialogen Piatons mitzubegründen ist, andererseits aber auch darin wurzelt, daß der Er-Mythos, durch die antiplatonische Polemik und die platonische Reaktion darauf vorgegeben und vermittelt durch Plutarch, zu einer Quelle bei der Ausbildung des neuplatonischen Verständnisses vom System der platonischen Philosophie wurde280, auch wenn er im späteren Selbstverständnis der Neuplatoniker von untergeordneter Bedeutung war. Seine Rechtfertigung gegen Angriffe war füir die Neuplatoniker geradezu zwingend notwendig, so daß es verständlich ist, wenn die Kommentierung des Er-Mythos bzw. seine Sicherung als Bestandteil des platonischen Erbes in seiner Ganzheit (und seine Stimmigkeit im und mit dem Ganzen) vor Proklos schon eine lange Tradition im Piatonismus aufzuweisen hat und geradezu als Schulaufgabe281 zu bezeichnen ist, zu der dann auch die Apologie des Mythos gegen Einwände aller Art gehört. In Rep. II, 96, 1113 verweist Proklos selbst auf diese Tradition und ordnet sich ihr ebenfalls zu, wobei er als deren Exponenten Numenios, Albinos, Gaios282, Maximos, den Nicäer, Harpokration, Eukleides und allen voran Porphyrios nennt (Syrianus ist in dieser Hinsicht sekundär), dem er selbst am meisten verdankt und den er an entsprechenden Stellen ausführlich heranzieht, ohne ihm immer zu folgen; da Porphyrios wohl nicht den gesamten ErMythos gedeutet hat, sondern nur bestimmte Abschnitte, zieht Proklos ihn primär bei der Verteidigung gegen Colotes, der Deutung der Moiren, der Wahl und der Seelenwanderungsfrage heran. Plotin griff den Er-Mythos nicht kommentierend und explizit verteidigend auf, sondern bezog ihn faktisch in sein Denken ein, v. a. in seine Dämonologie, und rechtfertigte ihn so implizit als mit dem Ganzen stimmiges Lehrstück Piatons. Schon hier ist ersichtlich, daß der Er-Mythos früh in den polemischen Kontext der Piatondeutung geriet und dementsprechend von den Piatonikern apologetisch behandelt wurde, wobei beide, Angreifer und Verteidiger, sahen, daß dieser Mythos nur sehr schwer vollständig mit dem in Einklang

Der Er-Mythos ist fur die historische Entwicklung der neuplatonischen Hypostasenlehre wichtig, aber nicht mehr für das platonisierende Selbstverständnis der Schule. Dieser Status des Er-Mythos erweist sich auch noch in der Widmung des diesbezüglichen Proklos-Kommentars an seinen Schüler Marinos. - Vgl. zu dieser Widmung und zum Bezug des Kommentars zu Marinos: Sambursky (1985), S. 17 f. Proklos besaß noch die Kenntnis der Γ/ma/as-Kommentare von Albinos und Gaios, die, wie er, sowohl diesen Dialog als auch den Er-Mythos als platonische Zentraltexte kommentierten.

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zu bringen war, was als platonische Lehre angesehen wurde.283 Mehr als bei den meisten Texten und als bei allen anderen Mythen Piatons empfand man bei diesem Mythos gewisse Schwierigkeiten bei der Vereinbarkeit mit dem System Piatons (und mit anderen Quellen) und widmete sich in den Auslegungen deren Lösung - eine Tendenz, die bei Proklos sicherlich ihren Höhepunkt erreichte; denn er kommentierte den Mythos nicht nur vollständig, sehr ausführlich und doxographisch reichhaltig, sondern er wollte auch den Nachweis seiner Vereinbarkeit mit den anderen Mythen Piatons, mit der gesamten Philosophie Piatons und mit dem Ganzen der philosophisch-theologischen Weisheit seiner Zeit erbringen, also etwas Fundamentales und relativ Endgültiges leisten. Diese Absicht brachte die Notwendigkeit mit sich, dem Er-Mythos einen festen Ort in der Totalität des Wissens und einen genau umrissenen Bezug und Bereich in der Ordnung des Seins zuzuweisen, damit er ein Teil beider werden und als solcher gesichert werden konnte. Wenn der Parmenides-Kommentar den dialektisch-philosophischen Grundriß des platonischen Systems aufweist und die PT das theologische Pendant dazu bildet, so muß der Kommentar zum Er-Mythos besonders zu letzterer in Beziehung gesetzt werden, um seinen Ort im System erkennen zu können, weil die PT Dialektik, Theologie und Mythologie als philosophische Darstellungsformen zu einer Einheit verschmilzt, in der ihre Verhältnisse zueinander klar werden. Bei seinen Widerlegungen der Einwände des Colotes stützt sich Proklos auf schon von Porphyrios Vorgebrachtes, geht aber über ihn hinaus (In Rep. II, 106, 14 - 16). Colotes greift mit dem Er-Mythos exemplarisch alle platonischen Mythen an und betrachtet sie als unwissenschaftlich, unwahr und voller Täuschungen, eben weil sie Mythen und so auch Dichtungen sind, die eo ipso im Gegensatz zur wissenschaftlichen Wahrheit stünden. Weiterhin sieht er in Piatons Mythen einen Selbstwiderspruch, da er in der Politeia Kritik an den Dichtern übt, dann aber selbst einen "schreckenvollen" Mythos284 über den Hades verfaßt, der die alten Mythen und tragischen Märchen in Colotes' Augen noch überbietet. Drittens gelten Die Mythen scheinen eine Art äußere Gesamtrepräsentation des platonischen Werkes gewesen zu sein. Im polemischen Kontext war Piaton einerseits der gotterfüllte Weise, andererseits der schamlose Plagiator (vgl. etwa die Platonviten der Zeit); in beiden Ansätzen gerieten die Mythen jedoch in Isolation, bezogen auf ihren Dialog. Auch im allgemeinen Zeitverständnis gilt Piaton als zu starker Liebhaber des Fabelhaften, d. h. des Mythos, der mit dunklen Andeutungen des Jenseits von Freveln abschrecken will (vgl. Diogenes Laertios ΙΠ, 80). Grundsätzlich gilt das dunkle Andeuten als theologische Redeweise, die übertragen zu verstehen sei (vgl. ebenda 1,122).

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ihm alle Mythen als verlogen und unnütz, weil sie letztlich für niemanden geschrieben seien, denn für das gewöhnliche Volk seien sie zu schwierig und unverständlich, für die Weisen aber, die derartiger Schrecken nicht bedürften, um sich zu bessern, seien sie überflüssig (In Rep. II, 105, 23 106, 14). Obwohl Proklos, wie alle Neuplatoniker, Piaton gegen diese Vorwürfe verteidigt, ist doch auffällig, daß Colotes und Proklos der Beurteilung und Deutung des platonischen Mythos dieselben Prämissen und Ansprüche zugrunde legen: Beide postulieren die Einheit und Zusammengehörigkeit nicht nur der platonischen Mythen untereinander, sondern der alten Mythen insgesamt; bei Colotes wird diese Einheit negativ konnotiert und als selbstverständlich empfunden, während sie bei Proklos Grund und Ziel allen Deutens und des Systems des Wissens ist. Beide messen dem Mythos ein Täuschungspotential zu und stellen die Frage seiner Vereinbarkeit mit der und seiner Beziehung zur wissenschaftlichen Philosophie; die Täuschungskraft des Mythos liegt für Proklos in dessen Hülle, die man durchdringen muß, um zur Wahrheit zu gelangen - genau das hat Colotes für ihn nicht erreicht. Beide sehen die Aufgabe, Piatons Mythen mit seinen theoretischen, dichtungskritischen Aussagen in Einstimmung zu bringen, und betrachten die Mythen selbstverständlich als Formen der Dichtung. Sie stellen schließlich gemeinsam die Frage, für wen Mythen geschrieben sind und was sie bei wem bewirken wollen und können, wobei sie dem Wissen oder Inhalt der Mythen (auch) eine ethisch-charakterbildende Zielrichtung zuweisen, d. h. sie zwecken ihrem Wesen gemäß darauf ab, Menschen mit bestimmten Wissenshorizonten durch Einsichten zu bessern; dieser ethisch-praktische Aspekt allen Wissens scheint in der ganzen Antike präsent zu sein, d. h. jedes Wissen übt ein praktisches Wirken auf Sein und Handeln desjenigen aus, der es besitzt, so daß ein wissender stets mit einem ethischen Seins- und Selbstbezug verbunden ist. Wenn Proklos, im Gefolge seiner Vorgänger, Piatons Mythen und wahre Mythen überhaupt gegen Angriffe verteidigt, ist es wichtig zu beachten, daß er zum Teil die Prämissen und das Problembewußtsein der Angreifer teilt. Colotes' Einwände gegen Piaton sind zu Proklos' Zeit bereits kanonisch, da die Platoniker schon häufig versucht hatten, ihn zu widerlegen, und mehrmals zu einer Verteidigung gerade gegen Colotes angesetzt hatten (hierbei ist etwa an Plutarch zu denken, dessen Adversus Colotem Porphyrios und Proklos nicht für hinreichend halten). Gerade die Tatsache, daß Proklos Colotes' Prämissen teilt, macht eine Verteidigung Piatons gegen die Schlüsse aus diesen Prämissen dringend notwendig.

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Proklos nutzt seine Zurückweisung des Colotes285 auch dazu, vor der Auslegung eines einzelnen platonischen Mythos allgemeine Aussagen zum Wesen des Mythos einzuschalten und seinen Kommentar so grundsätzlich zu fundieren, so daß die Detailauslegungen auf Grundbestimmungen des Mythos beziehbar sind, die seiner Deutung Einheit und Zusammenhang verleihen (In Rep. II, 106, 14 - 109, 3). Zunächst referiert Proklos die Argumente des Porphyrios gegen Colotes (In Rep. II, 106, 14 - 107, 14), denen er dann noch einiges hinzufügt (In Rep. II, 107, 14 - 109, 3). So sind beide der Ansicht, Piatons Mythen entsprächen seinen Beweisen und Lehren über die Unsterblichkeit der Seelen, ihren Aufenthalt und ihre Schicksale im Hades und über diesen Ort selbst; was Piaton im Dialog analysiert, kommt mit den Ausführungen des Mythos überein, denn das Leben der Seelen bestimmt ihre Schicksale und Anteile im Jenseits, und

Colotes' Unverständnis gründet in seiner Unfähigkeit, die φαινόμενα πλάσματα und die ίφανη λα,νοημάτα, zu unterscheiden (In Rep. I, 74, 12 und 19), so daß er die Mythen falsch gebraucht, was ihn in Proklos' Augen letztlich zum Atheismus führt, zu dessen Abwehr die Mythendeutung deshalb auch wichtig ist. Man darf die Dinge nur nach ihrem Wesen und richtigen Gebrauch beurteilen, besonders heilige Dinge wie Mythen, weshalb Proklos Colotes vorwirft, er sei unfromm (In Rep. I, 75, 23) und unterscheide nicht zwischen paideutischen und inspirierten Mythen. Colotes ist somit gemäß der sechsten Abhandlung ein "phantasiegeleitetes, unfrommes Kind", womit Proklos alle Attribute über die Epikureer und Colotes im besonderen zusammenfaßt. - Jedes Wirken richtet sich nur auf Aufnahmefähiges (In Parm. 843; PTI, 2, 8, 17 - 23), das seinen Grund zugleich erstrebt, was auch für den Mythos und sein mögliches (FehlVerständnis gilt, wobei das Gute Wirken und Aufnehmen pronoetisch stiftet; keine Wirkung nimmt ihren Grund völlig auf (In Parm. 845 und 859). [Ιη/Ύ 1,2, 8, 17-23 wird die platonische Philosophie als ύψa/y/o.s-Kommentar vgl. Romano (1987), S. 131 - 133. - Zum aristotelischen und stoischen Einfluß auf diesen Kommentar vgl. Sheppard (1987), S. 138.

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Anfang dieses Aufstiegs zuletzt ganz hinter sich lassen, wobei die Symbole als gerichtetes Relationsgefüge ein zentrales Element der göttlichen Vorsehung sind und zur Erkenntnis des Seienden hinführen sollen. Die Transformation des Wissens in dessen mythische Verhüllung findet als Verbildlichung statt; das eigentlich Gewußte, das Intelligible als Inneres, bleibt neben seiner es nach außen repräsentierenden, mimetischen Verdopplung bestehen und fundiert sie (In Rep. II, 108, 2 f.). Diese Doppelstruktur des Mythos verweist nach Proklos auf den Menschen (bzw. auf die individuellen Seelen), der mit seinem doppelten Verstand dem Mythos verwandt ist und mit ihm verbunden werden muß (ης und Paronymie eines deflnitorischen Begriffs (etwa von Substanz oder Qualität bei Aristoteles).

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ein zentraler Bestimmungspunkt fur das ontologische und epistemologische Prinzip der Ähnlichkeit und der Analogie, weil sie in beide Richtungen Ähnlichkeiten aufweist und doch etwas Eigenes ist, so daß sie ein Symbol des Ganzen bedeutet. Die verschiedenen Namen für den einen Ort in der Mitte311 sind jedenfalls einzelne Symbole für Aspekte seines göttlichen Wesens, die zusammengefaßt werden müssen, aber auch untereinander verträglich sind, so daß für die Mythen, in denen sie Verwendung finden, dasselbe gilt. Für Proklos können göttliche Offenbarungen 312 wie die Mythen deshalb auch nie Einzelfälle sein, sondern zwar seltene, aber doch einige, partielle Manifestationen des Göttlichen, die der Mensch verbinden muß, um ihren vollen Sinn als Einheitszusammenhang und das Wesen ihres gemeinsamen Ursprungs zu erfassen; die Symbole sind untereinander und auf ihren Ursprung hin stark relationale Entitäten. Das von den Mythen verwendete Bild der Reise bestätigt an dieser Stelle nochmals das bereits zum Verhältnis von Hülle und Verhülltem im Mythos Gesagte: Das Reisen ist ein Übergang von niederer zu höherer Lebensart der Seele, die zur Verbindungslosigkeit gegen den Körper tendiert (In Rep. II, 125, 18 - 25) - ein Übergang, der im Vergleich zu örtlichen Bewegungen im Mythos 'Reise' genannt wird, weil in der Seele alle Grundmuster körperlicher Bewegungen präexistieren. 313 Der Raum ist also das Bild für etwas Unräumliches bzw. für einen Übergang im Sein, dem er ähnlich ist; er ist ein Bild der Seinsordnung und das Reisen ein Ausdruck für die Übergänge in ihr - so wie die Zeit das zeitlos Synchrone verkörpert - , wobei die Seele hier nur als differente, diskursive Einheit erkennen kann, nicht intuitiv. Der Raum fungiert als das der Wirklichkeit ähnliche Bild, das die Seele wählt, um mythisch ihre Bewegungen im Sein auszudrücken, weil es ihr näher als jedes andere Bild liegt, da sie ihre körperlichen und körpergebundenen Bewegungen im Raum als Muster schon in sich vorumfaßt. Die Seele bringt aus sich das ihr ähnliche Bild hervor, unter dem sie sich mythisch vorstellt und das ihr aus ihrem Wesen heraus

Wenn den Dämonen die Mitte entspricht (In Rep. Π, 135,7 -14), den Göttern das Oben und den Seelen das Unten, so existiert in der Mitte alles auf dämonische Weise, d. h. als von Übergangsprozessen her Verstandenes. Zur Mitte als Symbol vgl. In Rep. Π, 135, 28. - Die Bezeichnung "dämonisch" steht für keine ουσία, sondern für eine σχεσις (In Rep. Π, 136, 3 f.); das κοινόν von Göttern, Dämonen und Seelen ist also der mittlere Ort. Zu den Autophanien vgl. etwa In Rep. I, 39,1 - 40, 5. Die Präexistenz gründet darin, daß für Proklos das Niedere vom Höheren prinzipiell vorumfaßt wird. Vgl. ET 80. - Generell ist der Körper der zyklisch gegebene Relationshorizont der Seele, sofern sie zeitlich gebunden existiert, d. h. lebt.

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das Nächste ist, so daß das mythische Bild nicht willkürlich gesucht wird, sondern im Wesen des Verbildlichten schon angelegt und vorgegeben ist; die Seele trägt ihr Bild als das zugleich unter ihr existierende, nächste Ähnliche bereits in sich. Das Sein der Seele innerhalb des Seinsganzen ist örtlichen Bewegungen von Körpern im Raum analog, so daß das räumliche Reisen das naheliegendste Bild für die Übergänge der Seele im Seinskosmos darstellt; der Körper fungiert auch selbst als zentraler Bezugspunkt der Seele. Neben diesem tieferen Sinn läßt sich das Reisen der Seele überdies noch wörtlich verstehen, da sie in Verbindung mit dem Seelenfahrzeug wirkliche örtliche Bewegungen vollzieht (In Rep. II, 125, 25 - 126, 3), wobei die Koexistenz von Literal- und Symbolsinn später oft als Auslegungsziel und -grundsatz wiederkehrt.

c) Zum Abschnitt In Rep. II, 136, 17 - 144, 12 Bei der Diskussion der vier χάσ-ματα (In Rep. II, 136, 21 - 144, 12), die mit dem Ort des Gerichts verbunden sind, tritt das Deutungsprinzip des Proklos erneut in signifikanter Weise hervor. Nach einer textimmanenten Literaldeutung folgt eine texttranszendierende, symbolische Deutung, wobei Proklos dieses Prinzip seiner Ontologie gemäß faßt und im Aufbau des Seins fundiert. Der Literalsinn erscheint zwar stets als das Ersterkannte und Naheliegende für den erkennenden Ausleger, hängt aber vom tiefer liegenden symbolischen Sinn ab, der ihn erst ermöglicht - ein Zusammenhang, den Proklos seinem Kausalbegriff entsprechend versteht: jede Ursache trägt ihre Wirkungen in sich, bringt sie hervor und bleibt ihnen transzendent, so daß sie vom Bewirkten nicht vollständig begriffen werden kann. Der symbolische Sinn bildet die höherstehende und -gründende Seinsebene des Mythos, auf die bezogen der Literalsinn, der in ihrem Dienst steht, erst hervorgebracht wird. Der symbolische Gehalt, den zu verstehen und zu offenbaren das Ziel der göttlichen Vorsehung bezüglich des Menschen ist, kann den Menschen nicht direkt vermittelt werden, sondern bedarf einer Zwischenstufe, die im Dienstbezug zu ihm steht, um ihn zu schützen und nur die Richtigen seiner teilhaftig werden zu lassen. Es gelingt nur auserwählten Menschen, die Kausalbezüge zwischen Göttlichem, symbolischem und wörtlichem Sinn zu erfassen, während den anderen der Symbolgehalt als 'Ursache' des Wortsinns transzendent und unverständlich bleibt. Darüber hinaus hält nur der symbolische Sinn jeden Mythos in sich und die Mythen und Symbole untereinander zusammen, bringt sie in eine Einheit und fügt sie zu einem stimmigen Aussagegefüge, d. h. nur auf ihrer symbolischen Ebene ergeben die Mythen ein in sich

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vereinbares, sich ergänzendes und bestätigendes Gesamtbild vom Aufbau des Jenseits und des Göttlichen, während die Literalebene diesen Einheitsverbund eher verschleiert und oft durch scheinbare Widersprüche verbirgt. Letztere Ebene verdeckt so das Einheits- und Relationszentrum als Grund aller Mythen und Symbole und zerstreut sie für das Verstehen in eine disparate Vielheit.314 Die Anwendung des Kausalbegriffs auf Herkunft, Wesen und Zusammenhang der Mythen je in sich und untereinander ermöglicht es Proklos, die Elemente eines Mythos und die Mythen insgesamt in eine gestufte, koexistente Mehrsinnigkeit zu fügen, d. h. die Hierarchie mehrerer koexistenter Bedeutungen und Sinnebenen bildet die Weise der Einheit alles Deutbaren, analog dem hierarchischen Aufbau des Seins selbst; das Nebeneinander eines derartigen Mehrsinns ist der gestuften Ordnung synchroner Seinsformen und Hypostasen verwandt. An der jetzigen Stelle deutet der Mythos für Proklos verhüllt an, daß die vier Schlünde vier Dämonenklassen sind (In Rep. II, 141, 21 - 28), so daß neben ihren räumlich-körperlichen der höhere unräumlich-unkörperliche Sinn tritt, wodurch im mythischen Bild zwischen beiden Sinnebenen eine verborgene Relation besteht.315 Dieses Element des Mythos gründet, wie jedes andere auch, in der hierarchischen Einheit mehrerer zusammenhängender Bedeutungen, die es zugleich besitzt; die Abgründe stellen Bilder von Dämonenklassen dar, deren Kräfte koordiniert sind und Auszüge sowie Bewegungen hervorbringen, woran erkennbar wird, daß der Wortsinn grundsätzlich das Bild des unbildlichen symbolischen Sinns verkörpert, der im Bild nur auf bildliche Seinsweise verborgen anwesend ist. Die vier Abgründe weisen für Proklos aber auch auf die fundamentale Bestimmtheit des gesamten Kosmos und seiner Ordnung durch die Vierzahl hin, der die Teilung der Seelenleben in vier Gattungen entspricht (In Rep. II, 136, 21 - 137, 4), wobei dieser Bereich der δημιουργία, vom Seelischen und der Gerechtigkeit geprägt wird (In Rep. II, 136, 24 f. und 137, 2 - 4). Das Wesen der Seele ist von Begrenzung, Selbigkeit und Ruhe316 in Dennoch sollen auch die Literalebenen für sich einen geschlossenen Sinn und eine Einheit, die neben der symbolischen Ebene bestehenbleibt, aufweisen, aber sie sind isolierter als die Symbolebenen. Der Wortsinn entspricht den niederen Seinsebenen, wohingegen der symbolische Sinn den höheren Seinsebenen Ausdruck verleiht, so daß der Deutungsprozeß die Stufenordnung des Seins nachahmt. Vgl. In Tim. I, 220,6. - Die Seele und ihr Leben haben die letzte Ähnlichkeit mit dem intelligiblen Abgrund (In Rep. H, 138, 23 f.), womit sich die Frage des Primats unter den Prinzipien stellt. - Die Termini ίνβλίξις und συνβλίξις, die in diesem Abschnitt verwendet werden, sind Synonyme ftlr πρόοδος und επισ-τροήτή

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ihren Prinzipien geprägt, ihr Leben hat teil an der belebenden Zweiheit und der Andersheit, gemäß der ihre Lebensformen wechseln und in Bewegung sind (.In Rep. II, 137, 5 - 1 1 ) , so daß Bewegung und Unbegrenztheit in bezug auf Ruhe und Begrenztheit bestimmt werden. Das Wesen der Seele bleibt immer gleich, während ihr Leben sich in einer Unendlichkeit von Umläufen vollzieht; die Dyade hat im Leben und im kosmischen Bereich überhaupt den Vorrang vor der Monade, Monade und Triade beziehen asymmetrisch das Wesen der Seele auf die väterliche Monade, die Dyade317 bezieht symmetrisch das Leben auf die mütterliche Zweiheit und Unbegrenztheit (In Rep. II, 137, 13 - 138, 7), so daß resümiert werden kann, die Substanz habe den Vorrang vor dem Leben, die Monade vor der Dyade, die Asymmetrie vor der Symmetrie, obwohl über dem Sein Grenze und Unbegrenztheit formal gleichwertig sind. Im folgenden wird sichtbar, wie Proklos versucht, mehrere Elemente des Mythos und seiner Deutung durch die Vierzahl in einen Einheitsnexus zu bringen. Da die Vierzahl den ganzen Kosmos bestimmen soll, werden nicht nur die vier Abgründe als Dämonenklassen ausgelegt, sondern die Figur des X, die sie bilden, wird zu den Seelen, der herrschenden Seelenmonade und dem Lebensprinzip in Beziehung gesetzt (In Rep. II, 141, 14 143, 13 und 143, 24 - 26); das X ist ein figürliches Symbol für die Zirkel von ταυτόν und erepov in der Seele und ein Bild für die Schicksale der Seelen im Jenseits, die sie ihrem Leben gemäß erhalten. Außerdem symbolisiert das X vier Dämonenklassen, so daß der Bereich des Kosmos durch ein mehrfaches, zusammenhängendes Auftreten der Vierzahl umfassend im Symbol des X dargestellt wird. Der dämonische Ort als Mitte des Kosmos ist zugleich der Verbindungspunkt des X, das den ganzen Kosmos repräsentiert, woraus folgt, daß die Dämonenklassen den gesamten Werdebereich in einer konträr bestimmten Einheit umspannen, in der auch alle Seelen präsent sind; wie die Boten sind auch die Dämonen nach den Formen seelischen Existierens unterschieden, auf das sie ebenfalls insgesamt bezogen sind, wodurch ihr relationales Wesen ersichtlich wird. 318 (vgl. In Rep. Π, 46, 25; 121, 5 und 17; 137, 10; 231, 8; 214, 10); die συνελ',ξ,ς ist stets mit -πέρας und περιφέρβια. verbunden. Vgl. zur Dyade In Parm. 712. - Nur die Symmetrie ist der Asymmetrie untergeordnet, die aus der Reihe des'άπειρονentspringt, womit wohl nicht die PhilebosMonade gemeint ist. Daß an diesem Ort Seelen, Dämonen und Götter anwesend sind {In Rep. Π, 140, 14 - 21), zeigt nur den starken inneren Zusammenhang des Seinsganzen von seiner Mitte aus; überdies sind für Proklos die Götter überall präsent. - Die Boten und Dämonen üben dieselben Tätigkeiten aus: Warnen, Belehren, Emporführen und Offenbaren.

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Piatons Darstellung des Kosmos ist nicht nur aus seinen einzelnen Mythen zu synthetisieren, sondern Proklos zieht alle hierzu existierenden Lehren heran - hier etwa die Pythagoreer und die alten Theologen, die Orphiker. Alles verhüllend Gesagte und Dunkle muß gedeutet und zur Einheit bzw. Wahrheit gebracht werden, wobei Proklos das Deuten einer synthetischen Einheit aller Symbole wie eine Technik betreibt. Der Mythos scheint alle Symbolarten in sich zu tragen, so daß ζ. B. Naturdinge, von denen Piaton handelt (etwa die Abgründe), in den Mythen genauso verstanden werden wie Naturdinge selbst als theurgisch gebrauchte Symbole, nämlich als Anwesenheiten von höheren Mächten, was letztlich nicht verwunderlich ist, da sich nur das Göttliche in Symbolen verborgen andeutet. Das X ist nicht nur die figürliche Wiedergabe von Abgründen, sondern auch ein Bild für die Seelen, für Dämonenklassen und für den Aufbau des ganzen Kosmos; all das kann es nur als göttlich bewirktes Einheitsgefiige sein, wodurch es ein in sich geschlossener, vermittelter, zum Allgemeinen aufsteigender Symbolkomplex wird, der als ganzer der Prinzipienvermittlung dient und zum Aufstieg seines 'Empfängers' führt. Wie bereits dargestellt, unterscheidet Proklos die Richter des Gorgias von denen der Politeia, indem er erstere als Teilklasse, letztere als umfassendere Klasse von Richtern bezeichnet; diejenigen Richter, die der Mythos des Gorgias nennt, sind Heroen, die die Seelen nur zu bestimmten Orten des plutonischen Bereichs schicken können - zu den Inseln der Seligen und zum Tartaros - , während die Richter des Er-Mythos dämonisch und göttlich sind (In Rep. II, 140, 24) und den Seelen deshalb umfassendere Orte zuweisen - den Himmel und alle unterirdischen Gefängnisse (In Rep. II, 139, 22 - 140, 6). Die Spezifität der Richter ist der der gerichteten Seelenklassen analog; später wird Proklos Ananke als umfassende richterliche Monade und als Anfang dieser Reihe bestimmen. Beide Richterklassen scheinen verschiedene Gruppen von Seelen zu richten (bzw. ein höheres Grundsatzurteil zu spezifizieren), aber auch am selben Ort zu sitzen - dem dämonischen Ort in der Mitte als κοινόν der Abgründe und der richterlichen Klassen. Die Mitte als Gemeinsames aller Klassen in einem Seinsbereich vermittelt also alles in ihm Anwesende und verteilt es, wobei hier die Seelen von der Mitte aus zum Tartaros und den noch tieferen Gefangnissen oder zu den Inseln der Seligen und dem Himmel geschickt werden; die Gegensätze werden in der Mitte verbunden und vereint, so daß sie einen einheitlichen Bereich bilden - hier den der Dike und des Kosmos. In der Mitte erhält alles Enkosmische - resultierend aus seinem Sein oder Tun - das ihm Zukommende und den ihm angemessenen Ort aus dem Wirken eines richterlichen Prinzips und Maßes heraus. Allgemein ist der Kosmos unter die drei Kroniden aufgeteilt, wobei die Ge-

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fängnisse, Bußorte, der Gerichtsort und zum Teil die Inseln der Seligen zum plutonischen Bereich gehören319, wozu auch der Kreuzweg paßt, während man zu Zeus und Poseidon auf je einem Weg gelangt (In Rep. II, 140, 14-21). Bei der Diskussion, welche Abgründe paarweise zusammengehören, zeigt Proklos, daß an jedem Abgrund das Gegenteil dessen ankommt, was am anderen anlangt, weil der Ort, den der eine verläßt, vom anderen eingenommen werden muß, was das Eigentümliche der Gegensätze darstellt (In Rep. II, 141, 8 - 13). Der Abgrund, der aus der Erde kommt, gehört zu dem, der in den Himmel führt, und der, der in die Erde führt, gehört zu dem, der aus dem Himmel kommt. Die Mitte ist auch in dieser Hinsicht Maß und Bestimmungspunkt für Gesetzmäßigkeiten des Ganzen, weil sie das Gemeinsame aller Elemente desselben bildet, die zwischen den Gegensätzen entfaltet sind. Durch die Mitte muß sich alles hindurchbewegen, und im κοινόν allein kann der Durch- und Übergang von allem zu seinem Gegenteil hin stattfinden, sofern Bewegungen und Übergänge das Sein dieses Bereichs kennzeichnen. Die Mitte ist der Ort des Ausgleichs zwischen den Extremen, durch den alle Bewegungen stattfinden müssen, der aber als er selbst eine gewisse Ruhe aufweist und sich gleichbleibt (In Rep. II, 141, 12 f.); sie ist nicht nur der Anfang der himmlischen und unterirdischen Zyklen, sondern auch deren Ende und der Anfangspunkt der Wanderung zum Ort der Wahl des neuen Lebens. Zugleich sind die Abgründe selbst Μδοι von Bewegungen und Auszügen, die den ersten, intelligiblen Abgrund nachahmen (In Rep. II, 141, 25 - 28 und 143, 3); außerdem sind sie dämonische Klassen mit inneren Unterabteilungen (In Rep. II, 141, 22 f. und 142, 16 - 22), genauer gesagt: plutonische und dionische Dämonen (In Rep. II, 143, 9 f.), von denen Proklos analog auf das Dämonische überhaupt schließt. Proklos versucht also hier - ebenso wie später bei anderen Abschnitten zum Dämonischen - , aus dem Er-Mythos eine platonische Dämonologie abzuleiten, der gemäß die Dämonen v. a. den Auszügen und der inneren Bewegtheit des Kosmos dienen, die ja vom ersten Abgrund bewirkt werden.320 Dabei sind die Dämonen grundIm Widerspruch dazu steht In Rep. Π, 156, 13. Insgesamt sind die Zuordnungen der Jenseitsregionen an die Kroniden also unklar. - Vgl. zu Pluton auch In Rep. Π, 184, 14 - 185, 18. - Im Gorgias und in den Nomoi wird die Dike von der τιμωρία, unterschieden. - Zum Verhältnis von Dike und τιμωρία vgl. Nomoi 716 a 2. - Orphica 158. - Philon: De decalogo 177. - Proklos: In Rep. Π, 294, 9 ff. Simplicius: In Epicteti Encheiridion XXXV, 451 f. Die Dämonen scheinen die Prinzipien der Zweiheit und des Unbegrenzten, die Kroniden die Prinzipien der Monas, Trias und der Begrenztheit zu repräsentieren, da letztere die Jenseitsbereiche abstecken. Vgl. In Rep. Π, 140,18 und 20.

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sätzlich auf die Existenzstadien, die Lebensweisen und die jenseitigen Aufenthaltsorte der Seelen bezogen, d. h. sie werden bestimmt und differenziert nach den Klassen des Seelischen {In Rep. II, 142, 22 - 143, 2), denen analog ihr göttlicher Ursprung sie als Reihe hervorgebracht hat {In Rep. II, 143, 12 f.). Die Dämonen sind eine Vermittlungsinstanz des Göttlichen und seiner Ordnung schon hinsichtlich der Seelen, auf dessen Sein bezogen sie selbst ihr Sein und funktionales Wesen erhalten. Die Reihe des Dämonischen bildet eine lückenlos gestufte Einheit und Gemeinschaft {In Rep. II, 143, 10 - 13), die von der Mitte her verbunden und zusammengehalten wird, wobei diese Mitte zugleich der gemeinsame Ort aller Seelen, Heroen und enkosmischen Götter ist, der sie alle vereint. Wichtig ist, daß die Figur der Abgründe, die das X nachahmen, für Proklos zu den Seelen und ihrem allgemeinen Wesen paßt und um ihretwillen hier als Symbol auftaucht; der Demiurg hat nämlich - wie im Timaios belegt wird - den Charakter der Seelen als X gebildet. Wenn die Götter, Dämonen und Heroen sich im Bereich des Kosmos im Mittelpunkt dieser Figur zusammenschließen und zusammentreffen, so zeigt sich, daß im Kosmos alles auf seelische Weise und auf das Seelische als inneren Bezugspunkt bezogen existiert; der Mittelpunkt des Kosmos ist zugleich der Grund der Einheit und das Zentrum des Seelischen. Die menschlichen Seelen bilden wiederum die Mitte dieses Bereichs überhaupt, wobei der Mythos den Kosmos bis zur Natur und den Körpern hinab darstellt.

d) Zum Abschnitt/« Rep. II, 144, 13 - 152, 26 Bei der Diskussion der Urteile der Richter und ihres Prinzips {In Rep. II, 144, 17 - 148, 15) geht Proklos auch auf die Stellung und das Verhältnis der Seelen zum richterlichen Prinzip und dessen Bedeutung für den Kosmos und die Ordnung des Göttlichen ein. Dike, die später mit Ananke identifiziert werden wird, ist die eine alles umfassende, richterliche Monade, die allem im Kosmos das spezifische Seinige zuteilt, den Göttern, den Dämonen, den unsterblichen Seelen, den sterblichen Naturen und den Körpern {In Rep. II, 144, 18 - 22), der also nichts und niemand entrinnen kann. Dike hält den Rang jeder Entität im All aufrecht, der vom Demiurgen (Zeus) festgesetzt wurde, und sie teilt sich mit ihm die Herrschaft über alle Dinge {In Rep. II, 144, 27 - 145, 9).321 Die Richter führen das aus, was

Daß Dike Zeus begleitet, findet sich schon bei Pindar (Achte Olympische Ode, 21 f.), Plotin (Enn. V, 8, 4, 41 f.) und Hermias: In Phdr. 170, 11-14; auch In Tim.

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Dike für die Seelen entschieden hat, wobei sie sie nachahmen und trotz der verschiedenen Urteile, die sie fällen, eines Sinnes sind; die Herrschaft der Richter setzt ihre eigene intellektive Entscheidung um, so daß sie nicht nur - wie die unteren Richter - die Urteilsmaße festsetzen, sondern die Leben der Seelen selbst bestimmen (In Rep. II, 144, 22 - 27 und 145, 10 - 24). Die oberen Richter bestimmen die unteren Richter und die Dämonen, insofern diese beiden Gründe von Handlungen der Seelen sind, aber sie fuhren auch die Seelen selbst, indem sie in ihnen den Trieb erwecken, das Ihrige zu tun und das Urteil zu erfüllen, d. h. zum ihnen angemessenen Ort zu wandern; so reden die Richter nicht, da sie nicht nur Urteile festsetzen (In Rep. II, 145, 21 - 28).322 Die Richter vermitteln zwischen der Herrschaft der Dike als Monade, die jedem das Seinige zuteilt323, und den umsetzenden Instanzen sowie den Seelen in ihrer Vielheit. Sie sind einen Sinnes und handeln nach einem geistigen Sinn (In Rep. II, 144, 25), setzen aber verschiedene Maße für verschiedene Seelen an, so daß sie die Einheit der Monade an die Vielheit der Seelen vermitteln; es ergibt sich hier ein Analogieverhältnis von μβτρον, μέσον und μεταξύ. Die richterliche Reihe geht aus der richterlichen Monade hervor und steigt über verschiedene Stufen bis zu den Seelen hinab, wobei nur Dike und die oberen Richter reine Tätigkeiten ohne Leiden ausüben. Die oberen Richter stehen der Dike nahe, so daß sie sich zu ihr zurückwenden können - anders als die unteren Stufen der Reihe (vgl. ET 108, 128, 130) - , und sie bestimmen die Funktionen und Relationen des unter ihnen Seienden zueinander, was wiederum selbst ihr relationales Bestimmtsein und ihre Funktionsfestlegung durch die Monade ausmacht. Zeus als Demiurg hat allem im Kosmos sein Maß (ορος) gesetzt (vgl. ET 117), und Dike hält es aufrecht (φρουροΰσα: In Rep. II, 144, 27), was eine eigene Aufgabe des Göttlichen ist (ET 154); Zeus repräsentiert derart das väterliche Prinzip im Kosmos (ET 151), das zwischen dem Einen und den Göttern vermittelt. Es zeigt sich, daß der Er-Mythos für Proklos Piatons Behandlung des Kosmos und der kosmischen Götter darstellt, wobei dieser Mythos zwar - wie gezeigt - Überkosmisches andeutet und als Hintergrund implizit voraussetzt, es aber nicht entfaltet, sondern im Bereich des Kosmischen bleibt und alles andere nur in bezug auf ihn abhandelt. Nicht die Schaffung des Kosmos ist hier zentral (wie im 77ΙΠ, 232, 29 - 233, 4 wird Dike so aufgefaßt und zugleich mit den enkosmischen Göttern verbunden. Das Erkennen ist bei den Richtern eine evepyeia und ein Urteil über das Erkennbare, das jedoch nichts leidet (In Rep. Π, 164,17 f.). Dies ist eine zentrale Aufgabe der Vorsehung, die von Dike hier repräsentiert wird. Vgl. Proklos: De dec.dub. 33,1.

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maios), sondern die Struktur seines Seinsvollzugs und Dauerns, sofern sie im Göttlichen gründen und zu ihm in Relation zu setzen sind. Daneben bestätigt sich der relationale Seinssinn von Begriffen wie μονή, πρόοδος oder επιστροφή am Beispiel der richterlichen Reihe im Kosmos und ihrer inneren kausalen Abstufung sowie ihrer Abfolge bis zu den Seelen hinab; dabei sind wiederum die Seelen, nicht die anderen Lebewesen oder Körper das Bezugs- und Wirkungszentrum: Letztere verbleiben - wie die unteren Richter und Dämonen - an ihrem zugewiesenen Ort im Kosmos und verwirklichen ohne jeden Wandel ihr Seinsgesetz, während die Seelen verschiedene Maße besitzen und ihren kosmischen Ort (im Rahmen ihres zyklischen Seinsgesetzes) wechseln können. Wie jedes Seiende so bewegen sich auch die Seelen gemäß dem inneren Gesetz zu dem ihnen Ähnlichen hin (In Rep. II, 145, 28 - 146, 1), so daß die eine Seele, die himmlisch war, sich zum Himmel sehnt, die andere, die irdisch war, zur Erde; außerdem wirken die die Seelen beaufsichtigenden Dämonen mit und legen in jede Seele die Mittel, ihr Urteil zu erfüllen (In Rep. II, 146, 1 - 3), wobei nun die unkörperlichen Dämonen auf die unkörperlichen Seelen, die körperartigen Dämonen jedoch auf die körperlichen Seelen Einfluß ausüben. In beiden Fällen folgt das Leidende dem Handelnden, das etwas in ersteres hineinträgt (In Rep. II, 146, 3 - 9). Richter und Dämonen fugen den natürlichen Lebensanlagen und Vermögen der Seelen noch antreibende Kräfte hinzu, wodurch sie die Seelen zu den ihnen angemessenen Orten fuhren (In Rep. II, 146, 9 - 18); diese Kräfte nennt der Mythos "Befehl" oder "Herrschaft" (κέλευσις: In Rep. II, 146, 16). Der mythische Name ist also auch hier ein Symbol für einen ihm ähnlichen, unbildlichen Sachverhalt, nämlich das Wirken und Übergehen von Kräften höherer Entitäten in niedrigere (vgl. ET 57, 77 - 81); die Seelen vollenden ihren Weg durch das Wirken vollendender Wesen (vgl. ET 153). Die Seelen streben zu dem ihnen Ähnlichen, aber sie sind vielem ähnlich - etwa durch ihren doppelten Verstand - , weil sie mit vielem verbunden sind, das in ihnen präsent ist, so daß ihre Vielbezüglichkeit sie einerseits zum inneren Seinszentrum und innerlich Vielartigem macht, sie sich aber andererseits auf die Einheit ihrer selbst hin sammeln und dazu eine zentrale Relation auswählen und überordnen müssen; beides kennzeichnet das Sein der Seelen. Die Seele ist das innere Relationszentrum des Seins, sofern es in seiner Ganzheit genommen wird, aber sie ist als solches auch in ihrer Einheit und Güte gefährdet und deshalb für Proklos ein zentraler Bezugspunkt der göttlichen πρόνοια und ihres Wirkens.324

Wenn Heidegger die Aussage macht, die platonische Metaphysik rücke den Menschen in die Seinsmitte, ohne ihn zum höchsten Seienden zu machen, so bedeutet

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Das primär relationale325 Wesen der Seele zeigt sich auch an den Bestimmungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit als αύτοπρα,γία. und τάξις bzw. αλλοτριοπραγία. und αταξία. (In Rep. II, 146, 21 - 23): Das Tun bzw. Nichttun des Seinigen sind wahre und falsche Relationsbindungen gegen Äußeres, die in einer wahren oder falschen inneren Relationsstruktur der Seele gründen, so daß sie immer zusammen auftreten.326 Seelen, die in sich falsch geordnet sind (was Proklos stets als Form der falschen Herrschaft begreift), treten zugleich gegen Äußeres in schlechte Beziehungen, weil sie sich mit dem in ihnen Schlechteren an ähnliches, äußeres Schlechteres binden, während es sich bei innerlich gut geordneten Seelen umgekehrt verhält; der logische Gegensatz ist daher auch hier ein ontologisch-axiologischer.327 Die geordneten Seelen sind dem Himmlischen ähnlich und streben zu ihm, die ungeordneten Seelen sind dem Irdischen verwandt und binden sich daran; insofern verhalten sich die Seelen wie die Naturelemente, die zu ihrem οικείος τόπος streben. Ähnliches tendiert also zum stärkeren Ähnlichen, setzt sich aber ebenso dessen Kräften und Einwirkungen aus (In Rep. II, 147, 18 - 23), was dem Gesetz der Dike entspricht, die die Ordnungs- und Kausalverhältnisse im enkosmischen Sein derart aufrecht- und jede Seinsstufe rein erhält. Proklos unterscheidet im vorliegenden Kontext zwischen drei Arten von Strafe und drei Arten des Aufstiegs der Seelen (In Rep. II, 147, 14 - 28). Die ersten strafenden der Neuplatonismus in dieser Hinsicht die konsequente Vollendung Piatons. Der Mensch befindet sich in einem durch eine Vielzahl von Beziehungen geprägten Zustand, durch den er auch die stärkste und weitgehendste Vermittlungsfünktion ausübt; und dies trotz und durch seine Herabstufüng im Rahmen der Ausdifferenzierung des Seins, die für Heidegger nur ein metaphysisch-humanistisches Problem darstellt. (Vgl. Heidegger (1975), S. 49 - 51.) Die Seele steht qua ούσ-ία, und δΰναμις bzw. σχέσεις zwischen Sein und Werden, Ewigkeit und Zeit, Teilbarkeit und Unteilbarkeit, d. h. sie hat ein amphibisches Wesen (vgl. Plotin: Enn. IV, 4, 3, 11 und IV, 8, 4, 31, worauf Proklos in In Rep. Π, 85,25 anspielt) und vollzieht es in beidseitig gerichteten Relationen. Taxis und Ataxia der Seele, die in bestimmten Relationsordnungen bestehen, scheinen einen Zusammenhang mit dem ontologischen Grundbegriff der μίξις zu besitzen, d. h. sie können als unreine oder reine Mischungen von Relata in sich oder mit etwas anderem verstanden werden. Gerechtigkeit kann als Wesensgemäßheit von allem in bezug auf sich selbst verstanden werden, als Sein der wesensgemäßen Relationen zwischen allen Entitäten, die ihrem eigenen Wesen entsprechend existieren, aber auch als Herstellung dieser Ordnung. Bei den höheren Wesen gehört das Wissen um diese Bestimmungen von Sein und Relation jeder Sache zum Wissen über die Gerechtigkeit. Bei der Seele besteht die Güte in ihrer inneren Einheit, aber auch das Üble hat seinen 'gerechten', notwendigen Ort in der Gesamtordnung des Seins und die ihm angemessenen Relationen.

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Mächte richten sich auf die Begierigen, die zweiten auf die Zornigen, die dritten auf die Seelen mit "zersetzten, dunklen Meinungen", so daß sie die Seelen mit demjenigen, was dem in ihnen Herrschenden ähnlich ist, strafen. Von den Kräften, die zum Aufstieg bewegen, wirkt die erste Kraft auf die Seelen, die ihr Leben richtigen Logoi gemäß verbrachten, die zweite auf die Seelen, die einen einsichtigen Intellekt besaßen, ein heiliges Leben führten oder dem Schönen dienend lebten, die dritte auf die Seelen, die gottähnlich waren und den Göttern verbunden. Hier scheint nicht nur eine vollständige, kontinuierliche Skala von Kräften im Hintergrund zu stehen, die auf alle Seelen entsprechend ihrem Leben wirken - επιθυμία, θυμός, διαστρόφος δόξα., ορθός λόγος, λόγος νους (ιερόν) bzw. «αλλ/α, θειοειδόν — , sondern es fällt auch auf, daß der philosophisch inspirierte Mythos genau in die Schnittstelle zwischen Strafe und Lohn paßt, weil er vermittels der Phantasie dauerhafte Meinungen und richtige Einsichten in den Seelen erzeugt, die die höheren Aufstiegsformen schon antizipieren, bildhaft in sich tragen und vorbereiten, so daß also der Mythos sich dem zusammenhängenden Gefiige göttlichen Wirkens auf die Seelen vermittelnd einfügt. Die falschen Mythen gehören noch zu den falschen Meinungen. Die wahren Mythen sind bereits richtige Einsichten bzw. tragen diese verborgen in sich, womit sie zum Aufstieg der Seelen beitragen und gefährdete Seelen mit der untersten der gültigen Wissensformen retten können. Zugleich leiten sie das zeitlich schwankende "Wissen" der zu strafenden Seelen (In Rep. II, 147, 18) zum dauerhaften Wissen, über das aufsteigende Seelen verfügen müssen. Das Prinzip der Ähnlichkeit bestimmt jedenfalls nicht nur kausales Wirken, sondern auch die innere Ordnung des Kosmos sowie die Wirkungen, Bestrebungen und Bewegungen des Seienden in ihm, d. h. Ähnliches stammt aus Ähnlichem, existiert mit ihm auf derselben Seinsstufe und bewegt sich zu ihm hin. Als unmittelbaren Bezugspunkt des Ähnlichkeitsstrebens der individuellen Seelen nennt Proklos an dieser Stelle das Feld des Dämonischen, das sehr weit und mannigfaltig ist und von den göttlichen bis zu den stofflich gebundenen Dämonen reicht, wobei dieser Bereich den der teilhaften Seelen umschließt, die in der Mitte des Dämonischen kreisen, ohne dessen Extreme jemals erreichen zu können (In Rep. II, 147, 28 - 148, 4). Alle Formen des Lebens (e/'ίών της ζοτης) bestehen in den Seelen κατά σχέσιν (= παρά φύο-ιν), in den Dämonen sind sie κατ' outriav προϋπαρχόντων (= κατά φΰσ-ιν), da nichts Ewiges gegen die Natur steht (In Rep. II, 148, 4 - 7); nur

wenn etwas ewig eine Natur und ein Wesen besitzt, kann dies sein wahres Wesen sein (vgl. ET 104, 107). Bei den Dämonen sind ουσία und ενέργεια in der Zeit dauerhaft dieselben, während bei den individuellen Seelen erstere zwar ewig ist, nicht aber letztere, zu der wohl auch die

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verschiedenen Leben zu rechnen sind, die sie innerhalb ihrer zyklischen Existenz führen. Bei den Dämonen ist die Verbundenheit von Sein, Leben und Denken immer gleich und unwandelbar, so daß sie immer bei dem ihnen Ähnlichen sind, während die Seelen diesbezüglich einen ständigen Wechsel erfahren, d. h. die Formen des Lebens und des Denkens, an denen sie teilhaben und die in ihnen herrschen, wechseln je nach ihrer inneren Relationsordnung zwischen den Seelenvermögen. Deshalb besitzen die Seelen ein bestimmtes Leben und eine bestimmte Verstandesform immer nur als zeitweiligen Zustand und ebensolche Relationsbindung, während die Dämonen stets so sind, leben und denken, wie es dem angemessen und ähnlich ist, woran sie sich gebunden haben. 'Κατ' ούσίαν' bedeutet also bei den Dämonen das Sich-immer-gleich-Bleiben ihrer inneren Ordnung und äußeren Beziehungen mit dem ihnen innerlich Verwandten, d. h. die ewige Gemäßheit der Tätigkeit am Sein; 'κατά. σχέσιν' bedeutet hingegen das bloß zeitlich begrenzte Dauern dieser Strukturen und Bindungen. 'Σχεσ-ις' ist der relational bedingte, zeitlich begrenzte Zustand einer bestimmten Verbindung von ουσία, und evepyeia der Seele, was später bei der Analyse des Verhältnisses von Seele und Körper wichtig sein wird (etwa In Rep. II, 309, 28 - 310, 4). Da der oü