Die Praxis des Digitalen Humanismus: Welchen Beitrag Unternehmen dazu leisten und wie sie davon profitieren können 3658429453, 9783658429454, 9783658429461

Digitaler Humanismus entwickelt sich zu einem der zentralen Themen der Digitalisierung in der Wirtschaft. Einerseits ent

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German Pages 328 Year 2023

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Table of contents :
Geleitwort
Vorwort und Danksagung
Inhaltsverzeichnis
Autorinnen und Autoren
Teil I POLITIK_INTERESSENSVERTRETUNG
Digitaler Humanismus: Europa muss weltweit denken
Gute Arbeit im digitalen Zeitalter
Der Wiener Weg des Digitalen Humanismus
Humanistisch durch Innovationen
Mitbestimmung ist der Schlüssel für eine menschengerechte Digitalisierung der Arbeitswelt
Die Wirtschaft braucht eine pragmatische Regulierung, die Innovation ermöglicht
Teil II WIRTSCHAFT_GESUNDHEITSWESEN
Telekom-Unternehmen haben Verantwortung für den lokalen Standort und die Gesellschaft
Versicherungen brauchen global die gleichen Ausgangsbedingungen
Digitalisierung und ihre Chancen für eine nachhaltige Transformation von Industrie und Infrastruktur bei Siemens
Gelebte Verantwortung des Rundfunks für Humanismus und Demokratie
Als IT-Kompetenzzentrum des Bundes braucht es eine solide Basis mit humanistischen Werten
Gesundheitsstrukturen müssen um den Menschen herum etabliert werden
Von Technologie und Menschlichkeit: Der bewusste Umgang mit Digitalem Humanismus in der Software-Branche
Hinter jedem unserer Services für die Versicherten steht der Menschennutzen
Digitaler Humanismus in der Welt der digitalen Mobilität
IT-Beratung als Hebel und Begleiter für menschenorientierte Digitalisierung
Teil III WISSENSCHAFT_GEISTLICHKEIT
Der neue Humanismus kennt keine religiösen, kulturellen oder geographischen Grenzen
digital human zentral: (K)ein Widerspruch?
Digitaler Humanismus – by Design
Was meint der Digitale Humanismus?
Wegweiser für das Management
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Die Praxis des Digitalen Humanismus: Welchen Beitrag Unternehmen dazu leisten und wie sie davon profitieren können
 3658429453, 9783658429454, 9783658429461

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ars digitalis

Georg Krause   Hrsg.

Die Praxis des Digitalen Humanismus Welchen Beitrag Unternehmen dazu leisten und wie sie davon profitieren können

ars digitalis Reihe herausgegeben von Peter Klimczak , Dr. phil. et Dr. rer. nat. habil. Außerplanmäßiger Professor an der Brandenburgischen Technischen Universität IT-Verfahrensverantwortlicher und IT-Infrastrukturverantwortlicher für das Berliner Schulwesen

Die Reihe ars digitalis wird herausgegeben von Prof. Dr. Dr. Peter Klimczak. Sollen technische und kulturelle Dispositionen des Digitalen nicht aus dem Blickfeld der sie Erforschenden, Entwickelnden und Nutzenden geraten, verlangt dies einen Dialog zwischen den IT- und den Kulturwissenschaften. Ausgewählte Themen werden daher jeweils gleichberechtigt aus beiden Blickrichtungen diskutiert. Dieser interdisziplinäre Austausch soll einerseits die Kulturwissenschaften für technische Grundlagen, andererseits Entwickler derselben für kulturwissenschaftliche Perspektiven auf ihre Arbeit sensibilisieren und den Fokus auf gemeinsame Problemfelder schärfen sowie eine gemeinsame ‚Sprache‘ jenseits der Fachbereichsgrenzen fördern. Notwendig ist eine solche interdisziplinäre Auseinandersetzung nicht zuletzt deshalb, um den vielfältigen technischen Herausforderungen an Mensch, Kultur und Gesellschaft ebenso informiert wie reflektiert zu begegnen. In dieser Reihe finden nicht nur Akteure aus Wissenschaft, Forschung und Studierende aktuelle Themen der Digitalisierung fundiert aufbereitet und begutachtet, auch interessierte Personen aus der Praxis werden durch die interdisziplinäre Herangehensweise angesprochen. Peter Klimczak, Dr. phil. et Dr. rer. nat. habil., ist außerplanmäßiger Professor an der Brandenburgischen Technischen Universität und IT-Infrastrukturverantwortlicher für das Berliner Schulwesen.

Georg Krause (Hrsg.)

Die Praxis des Digitalen Humanismus Welchen Beitrag Unternehmen dazu leisten und wie sie davon profitieren können

Hrsg. Georg Krause msg Plaut AG Wien, Österreich Weiterführende Informationen unter: www.digitalerhumanismus.business

ISSN 2662-5970 ars digitalis ISBN 978-3-658-42945-4 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1

ISSN 2662-5989 (electronic) ISBN 978-3-658-42946-1 (eBook)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Vieweg © msg Plaut AG 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung: Petra Steinmüller Springer Vieweg ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.

Geleitwort Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a. D.

Dieses Buch versammelt unterschiedliche Projekte und Praxisideen zum Digitalen Humanismus. Wenn jemand nun fragt: „Was ist das eigentlich, der Digitale Humanismus?“, so könnte man antworten: nun gerade das, was sich hier als Gemeinsames in der Praxis zeigt. The proof of the pudding is in the eating. Tatsächlich ist es ein weit verbreiteter Irrtum anzunehmen, dass Begriffe erst durch Definitionen klar werden. Ludwig Wittgenstein hatte dem prominent entgegengesetzt: Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks ist sein Gebrauch. Es ist die Art und Weise, wie wir diesen Ausdruck verwenden, der ihm Bedeutung verleiht. Der sprachliche Gebrauch ist regelgeleitet, auch dann, wenn uns diese Regeln nicht bewusst sind und wenn wir Schwierigkeiten haben sie zu explizieren. Damit könnte ich dieses Geleitwort schließen, aber so einfach will ich es mir als Urheber des Ausdrucks „Digitaler Humanismus“ nicht machen. Es ist mir erst spät klargeworden, dass meine Art und Weise zu philosophieren und meine zentralen philosophischen Thesen einen humanistischen Charakter haben, ja dass diese von einer humanistischen Grundeinstellung zusammengehalten sind. Um dies deutlich zu machen, habe ich 2016 im Suhrkamp Verlag einen Sammelband mit einschlägigen Texten unter dem Titel „Humanistische Reflexionen“ publiziert. Der Mensch als Autorin oder Autor des eigenen Lebens, der sich von Gründen affizieren lässt, der insofern zu theoretischer und praktischer Vernunft befähigt ist – der frei und verantwortlich ist, steht im Mittelpunkt humanistischer Theorie und Praxis. Der Humanismus hat eine theoretische und eine praktische Dimension. Eine theoretische, als zu klären ist, wie dieses menschliche Selbstbild als freie und verantwortliche Autorinnen und Autoren unseres Lebens mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild, mit Befunden der Neurowissenschaften, der Psychologie, aber auch der Evolutionsbiologie und der Physik vereinbar ist. Wie sich Freiheit in dieser Welt denken lässt. Und wie Verantwortung und Freiheit miteinander zusammenhängen. Dazu hatte ich, ohne das Thema Humanismus überhaupt anzusprechen, in einer Reclam-Theologie Stellung genommen: Strukturelle Rationalität (2001), Über menschliche Freiheit (2005) und Verantwortung (2011). Diese Vorüberlegungen sind dann erst kürzlich in einer größeren Monographie systematisch zusammengeführt worden: A Theory of Practical Reason by Palgrave Macmillan 2023. Diese Erneuerung des Humanismus hat im philosophischen und kulturellen Diskurs zwei Opponenten: den postmodernen und poststrukturalistischen, der sich auf Nietzsche und Heidegger, Foucault und Lacan bezieht, und den analytischen und naturalistischen, der V

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Julian Nida-Rümelin

einem naturwissenschaftlichen Reduktionismus verpflichtet ist und die ethische Dimension in Psychologie und Sozialwissenschaft aufzulösen versucht. In seiner praktischen Dimension setzt sich der Humanismus für die Bedingungen einer genuin humanen Lebensform ein: für eine inklusive und egalitäre Bildungspraxis, für eine an Menschenrechten orientierte Politik, für demokratische Zivilkultur und Rücksichtnahme gegenüber den Interessen zukünftiger Generationen. Er stellt sich gegen jede Form von Kollektivismus, gegen Freund-Feind-Verhältnisse in der Politik, gegen die Herabsetzung des Menschen zu einer bloßen ökonomischen oder auch militärischen Größe. Die politische und ökonomische Praxis sollte darauf gerichtet sein die menschliche Autorschaft zu stärken, Gestaltungsspielräume zu erweitern, Selbstbestimmung zu ermöglichen.1 Ein effizienter Markt, auch die Konkurrenz um das beste Produkt, sind Treiber des Fortschritts. Aber das Marktgeschehen muss am Ende den Menschen dienen. Es muss kulturell eingebettet bleiben und Regeln folgen, die die menschliche Selbstbestimmung ermöglichen und humane Werte fördern.2 Der Digitale Humanismus versteht die digitalen Technologien primär als Chance und nicht als Gefahr für die menschliche Entwicklung. Aber Technologien sind immer ambivalent, auch digitale. Sie können eingesetzt werden, um einzelne Menschen, ja die gesamte Bürgerschaft staatlich zu kontrollieren und gegebenenfalls zu sanktionieren, wie es weltweit in Autokratien und Diktaturen vorexerziert wird, sie können für mehr oder weniger harmlose kommerzielle Zwecke eingesetzt werden, aber auch die Formen der öffentlichen und halböffentlichen Kommunikation gravierend und, wie man auf den Social Media sieht, nicht immer zum Guten, beeinflussen. Es ist die allein menschliche Aufgabe technologische Innovationen so zu gestalten, dass sie der Stärkung menschlicher Autorschaft und der Realisierung humaner Werte, also den zentralen Prinzipien des Humanismus, dienen. Die digitalen Technologien stellen uns vor vertraute Herausforderungen, etwa den Verlust von Arbeitsplätzen durch Automatisierung, ein Thema, das den technischen, ökonomischen und sozialen Wandel seit Beginn der Industrialisierung begleitet hat. Dabei hat sich immer wieder erneut herausgestellt, dass der Verlust bestimmter Arbeitsplätze, die Überflüssigkeit bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten durch die Nachfrage nach anderen Arbeitsplätzen und anderen Fähigkeiten und Fertigkeiten kompensiert, meist überkompensiert wurde. Auch heute weisen bislang alle Daten darauf hin, dass es zwar eine massive Veränderung der Arbeitsmärkte durch die digitale Transformation gegeben hat und weiterhin geben wird, dass sich aber das Szenario eines immer weiter schrumpfenden Erwerbsarbeitsmarktes, mit massiv anwachsender Massenarbeitslosigkeit auch in diesem digitalen Transformationsprozess als Fehleinschätzung herausstellen wird. Diejenigen, die diese Sorgen hatten, sind regelmäßig von der Entwicklung widerlegt worden. Auch jetzt liegt die Entwicklung der Produktivität mitten in der dritten, eventuell schon vierten Welle der Digitalisierung nicht oberhalb der realen Wachstumsrate des Bruttoinlandsproduktes

1

Vgl. dazu die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats von 2023: „Mensch und Maschine“ Vgl. Julian Nida-Rümelin: Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie (2011)

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Geleitwort

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und solange dies so bleibt, ist mit einem per saldo Verlust von Arbeitsplätzen in größerem Umfang nicht zu rechnen. Die digitale Transformation wirft allerdings auch völlig neue Fragen auf, zu denen insbesondere der Status digitaler Entitäten gehört. In den Feuilletons, weniger unter SoftwareEntwicklern und Experten, ist die Vorstellung weit verbreitet, dass wir es hier mit mehr oder weniger menschenähnlichen Akteuren zu tun haben, dass es nicht nur metaphorisch zu verstehen ist, wenn von Intelligenz, Beratung, Kooperation die Rede ist. Wer sich dieser Mystifikation anschließt, sollte aber wenigstens wissen, welche Konsequenzen das hat. Wenn die Fähigkeit von Textproduktionssystemen geeignete Antworten auf gestellte Fragen zu geben, wie es Chat GPT eindrucksvoll dokumentiert, von Einsichtsfähigkeit, auch von Empathie (je nach gestellter Frage, bekommt man empathisch wirkende Antworten), von Wahrhaftigkeit, wenn auch nicht Irrtumsfreiheit, zeugen sollte, dann müssten wir diesem System personale Eigenschaften, also genuine Intelligenz, Einsichtsfähigkeit, Intentionen und Bewertungen unterstellen. Wenn sich diese Interpretation durchsetzt, und es scheint eine starke Sehnsucht danach zu geben, vielleicht auch um sich durch eine Wiederverzauberung der Welt aus den aktuellen, bedrückenden Herausforderungen, wie Klima und Krieg, lösen zu können, dann wäre es mit der technologischen Dynamik rasch vorbei, denn es ist völlig ausgeschlossen, dass wir Wesen mit personalen Eigenschaften nur dann Menschenrechte zuerkennen und entsprechende rechtliche Normen im Umgang mit diesen etablieren, wenn sie zur menschlichen Spezies gehören. Wenn der Bestsellerautor Yuval Noah Harari Recht hat und wir uns auf dem Weg zum homo deus befinden, also gottgleich beseelte und mit Vernunft ausgestattete Wesen in Softwaregestalt erschaffen, dann dürfen sie für uns in Zukunft nicht mehr bloße Instrumente des technischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen, sprich humanen, Fortschritts sein, dann sind sie Selbstzweck, dann dürfen wir sie nicht verstümmeln, rekombinieren, quälen oder gar vernichten. Der digitale Humanismus kritisiert jedoch diese Form der Mystifizierung digitaler Technologien. Es würde hier zu weit führen, die starken Argumente anzuführen, die sachlich gegen diese Aufladung digitaler Tools sprechen.3 Menschen sind keine Maschinen und Maschinen keine Menschen. Simulation von Gefühlen darf nicht mit dem Haben von Gefühlen verwechselt werden. Das Reagieren auf äußere Stimuli ist nicht zu verwechseln mit einer Entscheidung. Der Thermostat, der die Raumheizung ab dem Erreichen einer bestimmten Temperatur abschaltet, entscheidet nichts und weiß nichts, auch nicht die Raumtemperatur. Aber es gibt auch die umgekehrte Gefahr, dass nicht die Maschinen vermenschlicht werden, dass der in der Menschheitsgeschichte uralte Animismus, der nur mühsam überwunden wurde, nun auf digitale Technologien übergreift, also Maschinen beseelt, sondern 3

Einiges ist dazu nachzulesen in unserem Buch Digitaler Humanismus [2018] in der englischen Fassung Digital Humanism [2022] (Springer, Open access, abrufbar unter https://link.springer.com/ book/10.1007/978–3–031–12482–2) sowie in Perspectives of Digital Humanism (Springer, Open access, abrufbar unter https://link.springer.com/book/10.1007/978–3–030–86144–5), das von Hannes Werthner et.al. herausgegeben wurde und in Introduction to Digital Humanism, die demnächst ebenfalls bei Springer, Open Access erscheinen wird.

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Julian Nida-Rümelin

auch die umgekehrte Gefahr der Entseelung des Menschen, wonach dieser nichts anderes sei als eine schlecht funktionierende Software, um noch einmal Harari zu zitieren. Es ist durchaus charakteristisch, dass diejenigen, die von der disruptiven, alles verändernden technologischen Innovation durch Digitalisierung geschwärmt haben, die sich in transhumanistischen Phantasien ergangen sind, von Mensch-Maschinen-Mischwesen, von ewigem Leben in Softwaregestalt usw. nun vor Schreck erstarren und Moratorien für die weitere technologische Entwicklung fordern. Die Projektion alter Menschheitsträume auf die digitale Technologie führt zum Erschrecken darüber, dass mit ihrer Realisierung sich in der Tat alles ändern könnte und am Ende Softwaresysteme die Welt und uns Menschen beherrschen, vielleicht nicht zu unserem Guten. Der Digitale Humanismus plädiert dafür die Kirche im Dorf zu lassen: keine Panik, aber auch keine Nachlässigkeit, politische und rechtliche Gestaltung der digitalen Transformation, keine Mystifizierung und vor allem keine Abwertung des Menschen zu bloßen Maschinen ohne Verantwortung und Freiheit, ohne Einsichtsfähigkeit und Vernunft. „Künstliche Intelligenz“ gibt es nur mit großem „K“. Wir sollten die gewaltigen Potenziale der digitalen Technologien nutzen to make the world a better place, wie es die PR-Abteilungen der big tech Konzerne gerne formulieren, aber ohne Irrationalitäten und Mystifizierungen, ohne in Angststarre oder Euphorie zu verfallen. Dazu benötigen wir die Kompetenzen und das Engagement Aller in Politik und Verwaltung, in Wirtschaft und Gesellschaft, in Kunst und Kultur. Die hier vorgestellten Projekte und Ideen geben Grund zu der Hoffnung des Digitalen Humanismus, dass die digitale Transformation sich zum menschlich Guten gestalten lässt.

Vorwort und Danksagung Georg Krause, CEO und Vorstand der msg Plaut AG, Herausgeber

In diesem Buch geht es um nichts weniger als um unsere Zukunft. Die Digitalisierung gewinnt zunehmend Einfluss auf das Leben aller Menschen, und wir erleben tagtäglich, wie wahr die Aussage des „Wiener Manifest für Digitalen Humanismus“ (Wien, Mai 2019) ist, nämlich dass keine Technologie neutral ist. Ganz im Gegenteil, jeder digitalen Lösung ist das Wertesystem derer, die sie konzipiert, erstellt oder trainiert haben, inhärent. Diese Konsequenz war für uns in der Vergangenheit oft nicht so deutlich spürbar, solange die Digitalisierung vor allem die Automatisierung von Bestehendem bedeutet hat. Seit aber die digitalen Lösungen maßgeblich die Art wie wir Handel betreiben, wie der Verkehr organisiert wird, wie medizinische Diagnosen und Behandlungen durchgeführt werden, wie wir Informationen erhalten (und welche) und sogar, wie politische Willensbildung erfolgt maßgeblich beeinflussen oder oft sogar verändern, ist es für uns sehr relevant, welches Menschen- und Gesellschaftsbild und Werte diese Lösungen abbilden. Die Auswirkungen haben dabei einen besonders großen Hebel für die Menschheit, da eine der zentralen Eigenschaften digitaler Lösungen eine praktisch beliebige Skalierbarkeit ist. Einzelne Lösungen können durchaus mehrere hundert Millionen Nutzer haben, eine Situation, die in der bisherigen Ökonomie praktisch nicht anzutreffen war. Dadurch werden die inhärenten Werte einer digitalen Lösung rasch für eine breite Öffentlichkeit spürbar. Schon heute führt dies zu Diskussionen, wenn diese Werte nicht mit dem Wertesystem des Landes oder der Region übereinstimmen, in denen sie eingesetzt werden. Stichworte hierzu sind „Filterblasen“ und „süchtig machende“ Algorithmen. Somit finden sich auch die gesellschaftspolitischen Unterschiede zwischen den Weltregionen USA, Asien und Europa in der digitalen Welt wieder. Während die USA den Unternehmen und somit dem Markt Vorrang und Macht geben, kommt diese Rolle beispielsweise in China dem Staat zu. Europa hingegen ist geprägt durch einen Ansatz, der den Bürger und seine Rechte in das Zentrum stellt. Im „Reformvertrag von Lissabon“ (in Kraft seit 1. 12. 2009) haben die EU-Staaten gemeinsam Werte, wie Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit, Bekämpfung von sozialer Ausgrenzung und Wahrung der Menschenrechte verankert. Daher ist es für uns in Europa eine gemeinsame Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese oft aus der humanistischen Tradition Europas entstammenden Werte auch in der digitalen Welt abgebildet werden.

IX

X

Georg Krause

Im Zuge der Vorgespräche zu diesem Buch konnte ich feststellen, dass es zu dieser Aussage über die Richtung der Digitalisierung in Europa eigentlich praktisch immer Zustimmung und Verständnis gab. Sehr schnell wurde dann aber die Frage gestellt, wie man das gewährleisten könnte. Ebenso wurde diskutiert, wie Lösungen vermieden werden können, die diese Werte gefährden, oder zumindest die Risiken reduziert werden können. Tatsächlich gibt es derzeit keine umfassende Antwort darauf. Es gibt Publikationen, regelmäßige Vorträge und Projektförderungen (insbesondere der Stadt Wien) uvm. In der Zwischenzeit gibt es sogar einen Lehrstuhl für Digitalen Humanismus an der TU Wien. Was jedoch fehlt, sind konkrete Umsetzungshinweise für Unternehmen und andere Organisationen sowie Standards – wie wir sie beispielsweise aus dem Qualitätsmanagement von der ISO 9000 kennen – und vor allem auch Erfahrungsberichte von Organisationen aus den unterschiedlichsten Anwendungsfeldern und Branchen. Dieses Buch hat das Ziel, diese Lücke zumindest teilweise zu schließen und Praktiker:innen, die sich mit dem Digitalen Humanismus beschäftigen, die Bedeutung des Themas verständlich zu machen und konkrete Umsetzungsideen und -beispiele zu geben.

Buchaufbau Das Buchkonzept beleuchtet zu diesem Ziel den Digitalen Humanismus aus verschiedenen Perspektiven. Im Teil I „Politik_Interessensvertretung“ wird die Bedeutung des Digitalen Humanismus für Europa und Österreich behandelt. Es werden die Rahmenbedingungen beleuchtet, die Bedeutung für den Wirtschaftsstandort aufgezeigt und wichtige Handlungsfelder, wie Bildung, Forschung und Regulierung im Spannungsfeld zu Innovation diskutiert (Tursky / BMF-Digitalisierung, Neumayer / Industriellenvereinigung, Kühnel / WKO). Besonderes Augenmerk wird auf den Themenbereich „Zukunft der Arbeit“ gelegt, angesichts fortschreitender Digitalisierung und den damit verbundenen Verbesserungen aber auch Risiken für die Arbeitnehmer:innen (Katzian / ÖGB / EUGB, Teiber / GPA). Die Stadt Wien, einer der Vorreiter des Digitalen Humanismus, zeigt auf, welche Maßnahmen bereits zur Umsetzung ergriffen wurden und wie sie zur führenden Digitalhauptstadt werden will (Ludwig / Stadt Wien). Der Teil II „Wirtschaft_Gesundheitswesen“ bringt zahlreiche Beispiele für Herangehensweisen und Erfahrungen von führenden Unternehmen und Organisationen aus den unterschiedlichsten Branchen. Jede dieser Branchen hat verschiedenartige Herausforderungen bei der Umsetzung der Prinzipien des Digitalen Humanismus. Einige stehen im harten internationalen Wettbewerb und sind teilweise konfrontiert mit Mitbewerbern, die ganz anderen regulatorischen Regimen unterliegen als in Europa (Arnoldner / A1, Brandstetter / UNIQA, Neumann / Siemens). Andere sind täglich tiefgreifenden ethischen Fragestellungen ausgesetzt, unabhängig von Digitalisierungsthemen, und haben daher schon länger gelernt, mit diesen umzugehen (Heinisch / Vinzenz Spitalsgruppe). Wieder andere haben mit Ihren Aktivitäten eine große direkte Hebelwirkung für die Gesellschaft und tragen daher eine ganz besondere Verantwortung für die Beachtung der humanistischen

Vorwort und Danksagung

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Werte (Ledinger / Bundesrechenzentrum, Kräuter / ORF, Wackerle / IT Services der Sozialversicherungen, Schmerold / ÖAMTC). Letztlich gibt es Unternehmen, die im Business-toBusiness-Bereich tätig sind, und daher mit ihren Produkten und Services für andere Firmen indirekt ebenfalls einen sehr großen Hebel haben (Wilfinger / SAP, Krause / msg Plaut). Im Teil III „Wissenschaft_Geistlichkeit“ liegt der Schwerpunkt auf den Grundlagen für den Digitalen Humanismus, warum dieser immer bedeutender für uns wird und wie Lösungsansätze für Bildung und Forschung aussehen können. Einen Überblick über bereits bestehende Lösungsansätze und Methoden gibt der Artikel von Martin Giesswein. Der Beitrag von Rektorin Geyer / FH Technikum geht auf die Verantwortung und die Herausforderungen für Bildungseinrichtungen ein. Rektorin Seidler / TU Wien führt aus, wie aufbauend auf den bereits sehr früh aufgesetzten Aktivitäten der TU Wien zum Digitalen Humanismus, die Umsetzung in der Wissenschaft erfolgt. Dieser Teil wird abgerundet durch den Beitrag des Abts des Stifts Wilhering (Dessl), der über seine Erfahrungen mit der von ihm (mit-)organisierten „Expedition des Digitalen Humanismus“ berichtet und die Suche nach dem Menschlichen im Digitalen in den Mittelpunkt stellt. Dieses Buch handelt, wie eingangs erwähnt, von unserer Zukunft. Einer Zukunft, die maßgeblich von der Digitalisierung geprägt sein wird. Die zentrale Frage für uns ist es daher, ob es uns gelingt, diese Digitalisierung so zu gestalten, dass sie im Einklang mit unserem europäischen Wertefundament steht. Zu diesem Ziel wollen wir mit dem vorliegenden Buch einen Beitrag leisten.

Danksagungen Danke an alle Autorinnen und Autoren für ihre Bereitschaft, ihre Erfahrungen zu teilen und für die Arbeit, die sie neben ihren anspruchsvollen beruflichen Aufgaben in ihre Beiträge gesteckt haben. Ohne sie wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Danke an Prof. Nida-Rümelin, Autor des Standardwerks „Digitaler Humanismus“ und wissenschaftlichphilosophischer Wegbereiter, für das Geleitwort. Danke an ein großartiges Team, das das Buchprojekt von Anfang an mit vollem Elan unterstützt hat, insbesondere geht der Dank an: Claudia Vlach, Michaela Liebsch, Theresa Hackl (Text), Raoul Kirschbichler (Text), Karin Larnhof (Grafik, Fotos). Sie haben die Interviews und Artikelerstellung begleitet, die Grafiken gesetzt, die rechtlichen Fragen geklärt und alles andere, was zur Erstellung des Buches notwendig war, hervorragend umgesetzt. Danke auch an den Springer Verlag, vertreten durch unsere Ansprechpartnerinnen Frau Petra Steinmüller und Frau Ulrike Butz. Sie haben ab dem ersten Entwurf an unser Buchprojekt geglaubt und uns professionell durch das Projekt begleitet, das für uns das erste dieser Art war. Danke Georg Krause

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a. D. Vorwort und Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Georg Krause, CEO und Vorstand der msg Plaut AG, Herausgeber Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII Teil I

POLITIK_INTERESSENSVERTRETUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Digitaler Humanismus: Europa muss weltweit denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Florian Tursky, Staatssekretär für Digitalisierung im Bundesministerium für Finanzen in Österreich Gute Arbeit im digitalen Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Wolfgang Katzian, Präsident des ÖGB (Österreichischen Gewerkschaftsbundes) und des Europäischen Gewerkschaftsbundes Sebastian Klocker, ÖGB-Mitarbeiter im Kompetenzzentrum Arbeit und Technik Der Wiener Weg des Digitalen Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Michael Ludwig, Bürgermeister der Stadt Wien Humanistisch durch Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung Mitbestimmung ist der Schlüssel für eine menschengerechte Digitalisierung der Arbeitswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Barbara Teiber, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft GPA Die Wirtschaft braucht eine pragmatische Regulierung, die Innovation ermöglicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Mariana Kühnel, Generalsekretär-Stellvertreterin der WKO

XIII

XIV

Teil II

Inhaltsverzeichnis

WIRTSCHAFT_GESUNDHEITSWESEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Telekom-Unternehmen haben Verantwortung für den lokalen Standort und die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Thomas Arnoldner, CEO A1 Telekom Austria Group Versicherungen brauchen global die gleichen Ausgangsbedingungen . . . . . . . . . 101 Andreas Brandstetter, Vorstandsvorsitzender UNIQA Insurance Group AG Digitalisierung und ihre Chancen für eine nachhaltige Transformation von Industrie und Infrastruktur bei Siemens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Patricia Neumann, Vorstandsvorsitzende, Siemens AG Österreich Gelebte Verantwortung des Rundfunks für Humanismus und Demokratie . . . . 135 Harald Kräuter, Direktor für Technik und Digitalisierung ORF Als IT-Kompetenzzentrum des Bundes braucht es eine solide Basis mit humanistischen Werten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Roland Ledinger, Geschäftsführer Bundesrechenzentrum (BRZ) Gesundheitsstrukturen müssen um den Menschen herum etabliert werden . . . 163 Michael Heinisch, CEO Vinzenz Gruppe Krankenhausbeteiligungs- und Management GmbH Von Technologie und Menschlichkeit: Der bewusste Umgang mit Digitalem Humanismus in der Software-Branche . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Christina Wilfinger, Geschäftsführerin SAP Österreich Hinter jedem unserer Services für die Versicherten steht der Menschennutzen . 201 Hubert Wackerle, CEO der IT-Services der Sozialversicherung Digitaler Humanismus in der Welt der digitalen Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Oliver Schmerold, Direktor ÖAMTC IT-Beratung als Hebel und Begleiter für menschenorientierte Digitalisierung . 227 Georg Krause, CEO msg Plaut AG Teil III WISSENSCHAFT_GEISTLICHKEIT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Der neue Humanismus kennt keine religiösen, kulturellen oder geographischen Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Reinhold Dessl, Abt des Zisterzienserstiftes Wilhering (OÖ) digital human zentral: (K)ein Widerspruch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Sabine Seidler, Rektorin der TU Wien Digitaler Humanismus – by Design . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Sylvia Geyer, Fachhochschule Technikum Wien

Inhaltsverzeichnis

XV

Was meint der Digitale Humanismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 Mit Christopher Frauenberger, Professor für Human Computer Interaction (HCI) am Fachbereich Artificial Intelligence and Human Interfaces an der Universität Salzburg und Peter Reichl, Professur für Informatik, Universität Wien Wegweiser für das Management . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Martin Giesswein, Digital-Humanist, Autor und Fakultätsmitglied der WU Executive Academy

Autorinnen und Autoren

Mag. Thomas Arnoldner, A1 Telekom Austria Group, studierte Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien und der Stockholm School of Economics. Seine berufliche Laufbahn begann Thomas Arnoldner 2003 bei Alcatel Austria. Nach verschiedenen Stationen im Unternehmen übernahm er 2013 den Vorstandsvorsitz der Alcatel-Lucent Austria AG. Im Rahmen der Übernahme durch Nokia war er Teil des Integrationsteams und verantwortete daraufhin für Nokia die europäische Wachstumsstrategie. Von 2017–2018 war er Geschäftsführer der T-Systems Austria GesmbH. Thomas Arnoldner übernahm 2018 die Funktion des Chief Executive Officer der A1 Telekom Austria Group. Seit September 2023 bekleidet er dort die Rolle des Deputy CEO. Dr. Andreas Brandstetter ist CEO der UNIQA Insurance Group AG und seit 2002 Mitglied des Vorstands bzw. seit 2011 dessen Vorsitzender. Vor seiner Zeit bei UNIQA leitete er das EU-Büro des Österreichischen Raiffeisenverbandes in Brüssel. Der promovierte Politikwissenschaftler studierte in Wien und den USA und schloss einen Executive MBA an der California State University, Hayward/IMADEC ab. Darüber hinaus absolvierte Andreas Brandstetter postgraduale Weiterbildungen an der Stanford Graduate School of Business sowie an der Harvard Business School. 2018 wurde er für drei Jahre zum Präsidenten von Insurance Europe, der Interessenvertretung der europäischen Versicherungen und Rückversicherungen in Brüssel, gewählt, 2021 wurde sein Mandat für weitere drei Jahre verlängert. Mag. Reinhold Dessl ist Abt des Zisterzienserstifts Wilhering. Er wurde in Linz als Johann Dessl geboren, stammt aus Zwettl a. d. Rodl und ist Absolvent des Stiftsgymnasiums Wilhering. Nach der Matura 1980 trat er in den Zisterzienserorden ein und erhielt den Ordensnamen Reinhold. Er studierte Theologie an der Katholisch-Theologischen Hochschule in Linz und spondierte dort 1987. Seit der Priesterweihe 1988 wirkte Dessl als Seelsorger in Gramastetten. 1990 folgte seine Promotion im Fach Kirchengeschichte. Am 25. April 2013 wurde er zum 74. Abt des Stiftes Wilhering gewählt. Er ist weiterhin auch Pfarradministrator von Gramastetten und Eidenberg. Zudem ist er Vorsitzender der Diözesanen Ordenskonferenz sowie gewähltes Mitglied im Vorstand der Ordensgemeinschaften Österreichs. Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Christopher Frauenberger, Ph.D., Universität Salzburg, ist Professor für Human-Computer Interaction an der Paris-Lodron Universität Salzburg und beschäftigt sich mit der Gestaltung von digitalen Technologien und deren Bedeutung in den vielfältigen Lebenswelten von Menschen und der Gesellschaft. Er forscht dabei in XVII

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Autorinnen und Autoren

verschiedensten Kontexten, von der Gestaltung von Smarten Dingen für autistische Kinder bis zu Studien zur Interaktion älterer Menschen mit Robotern und bedient sich vor allem partizipativer und kritischer Designmethoden, sowie Perspektiven und Theorien aus der Philosophie, Soziologie oder auch der Kunst. FH-Prof.in Dr.in Sylvia Geyer, Rektorin FH Technikum Wien, studierte Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität Wien und promovierte danach an der Wirtschaftsuniversität Wien. Nach Erfahrungen im Zuge von Lehrtätigkeiten in der Erwachsenenbildung wechselte sie in das IT-Projektmanagement. Seit 2010 arbeitet sie an der Fachhochschule Technikum Wien als Lehrende, entwickelte mehrere Hochschullehrgänge sowie den Masterstudiengang Data Science. Aktuell leitet sie das Department Computer Science. Seit 2021 ist sie darüber hinaus die Rektorin der Fachhochschule Technikum Wien. Mag. Martin-Hannes Giesswein bezeichnet sich selbst als Digital-Humanist. Er ist Digital-Unternehmer und arbeitet für eine digitale Transformation, die den Menschen und der Umwelt dient. Seine Berufung ist die Stärkung der Digitalkompetenz von 10.000 Personen pro Jahr. Er erreicht dieses Ziel als Buchautor und als Podcaster, als Vortragender, Sparringspartner und als Fakultätsmitglied der WU Executive Academy. Er baut an digitalen und realen Communities mit, zum Beispiel als Mit-Initator der DigitalCity. Wien, als Co-Founder des Innovationscampus Talent Garden Wien, als Co-Orchestrator von „Community creates Mobility“. Als CEO leitete er 2014 den Exit des Onlineportals immobilien.net. Zuvor atmete er 15 Jahre Konzernluft, zuletzt als General Manager und Marketing Direktor CEE bei Nokia Phones. Dr. Michael Heinisch, Vinzenz Gruppe, hat 1995 sein Doktoratsstudium an der Wirtschaftsuniversität Wien bei Prof. R. Eschenbach abgeschlossen. Seine berufliche Laufbahn startete er als leitender Berater am Malik Management Zentrum St. Gallen und in der VATECH Transmission & Distribution, wo er das Beteiligungsmanagement/Beteiligungscontrolling verantwortete. Seit 2001 ist Michael Heinisch Vorsitzender der Geschäftsführung der Vinzenz Gruppe Krankenhausbeteiligungs- und Management GmbH und Geschäftsführer der Vinzenz Gruppe Service GmbH. Des Weiteren ist er als Lektor an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie an der Donau Universität Krems tätig. Von 2014–2022 wirkte Michael Heinisch als Vorstandsmitglied im Verband für gemeinnütziges Stiften mit. Von 2018 – 2023 stellte er seine Expertise als Mitglied des Universitätsrats der Medizinischen Universität Graz zur Verfügung. Seit März 2023 ist Michael Heinisch Vorsitzender des Universitätsrats der Medizinischen Universität Graz. Seit 2019 ist er Vereinsmitglied in DIE ERSTE österreichische Spar-Casse Privatstiftung. 2021 wurde Michael Heinisch in den Aufsichtsrat der UNIQA Versicherungsverein Privatstiftung bestellt. Wolfgang Katzian, ÖGB, ist Präsident des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. Seinen gewerkschaftlichen Werdegang begann er nach seiner Lehre in einer Bank als Jugendsekretär in der Gewerkschaft GPA. Nach zahlreichen weiteren Funktionen innerhalb der Gewerkschaft wurde er 2005 zum Vorsitzenden gewählt. Parallel zu seiner gewerkschaftlichen Arbeit war Wolfgang Katzian über zehn Jahre lang Abgeordneter zum Nationalrat.

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Seine Schwerpunkte lagen in den Bereichen Arbeit und Soziales, Wirtschaft, Industrie und Digitalisierung sowie Energie. 2018 wurde er zum Präsidenten des ÖGB gewählt und übernahm zeitgleich Aufgaben im europäischen wie im internationalen Gewerkschaftsbund. Dieses Jahr wurde Wolfgang Katzian zusätzlich zum Präsidenten des Europäischen Gewerkschaftsbundes gewählt. Sebastian Klocker, ÖGB, arbeitet im Kompetenzzentrum Arbeit und Technik im Österreichischen Gewerkschaftsbund. Er betreibt gewerkschaftliche Grundsatzarbeit zu Fragen der Digitalisierung und deren gesellschaftlichen Auswirkung. Seine Themenschwerpunkte sind Beschäftigtendatenschutz, Technikfolgenabschätzung und betriebliche Mitbestimmung. Dr. Georg Krause, ist seit 2017 Vorstand und CEO des IT-Dienstleisters msg Plaut AG mit Verantwortung für Österreich, CEE und CIS. Er engagiert sich seit vielen Jahren in Fragen der Digitalökonomie und der Digitalpolitik unter anderem als Lehrbeauftragter an der Donau Uni Krems (seit 2012), in der Internetoffensive Österreich (bis 2017) und als Vorstandsmitglied der Digitalkompetenzoffensive fit4internet (seit 2019). Nach seinem Studium an der Wirtschaftsuniversität Wien startete er bei CSC (jetzt: DXC) seine Laufbahn als Management und IT-Berater. In den folgenden Jahren leitete und verantwortete er das Beratungsgeschäft in Österreich bei Horváth &Partners, Steria Mummert, Deloitte Consulting und SAP. Dr. Harald Kräuter, ORF, Direktor für Technik und Digitalisierung, absolvierte eine HTL-Ausbildung in Nachrichtentechnik und Elektronik und schloss das Studium der Publizistik & Kommunikationswissenschaft/ Politikwissenschaft mit einem Doktortitel ab. Seine ORF-Laufbahn begann er 1990 als Tonmeister im Funkhaus in Wien. 1999 wurde Kräuter Technischer Leiter im Landesstudio Niederösterreich, bis er ab 2002 die Hauptabteilung Technisches Facility Management im ORF-Zentrum leitete. 2007 übernahm er das Investitionsmanagement in der Technischen Direktion und war in dieser Funktion maßgeblich an der Einführung von HDTV im ORF beteiligt. Nach der stellvertretenden und interimistischen Leitung der Technischen Direktion bis Ende 2011 zeichnete Kräuter für das ORF-unternehmensweite Effizienzsteigerungsprogramm Focus verantwortlich. Im Jänner 2013 wurde er zum Geschäftsführer für die ORF-Tochtergesellschaft Gebühren Info Service GmbH (GIS) bestellt, im September 2021 wurde er zum Direktor für Technik und Digitalisierung im ORF gewählt. Mag.a Mariana Kühnel, M. A., WKO (Wirtschaftskammer Österreich), ist seit September 2018 Generalsekretär-Stellvertreterin der Wirtschaftskammer Österreich. In ihrem Verantwortungsbereich liegen nicht nur europapolitische und internationale Angelegenheiten, insbesondere die gesamte Außenwirtschaftsorganisation, sondern auch zukunftsorientierte Themen der Bildungspolitik, Innovation und Digitalisierung sowie Zielgruppen- (u. a. Startups und Kreativwirtschaft) und Krisenmanagement. Sie hat einen Master der Europäischen und internationalen Beziehungen und der Diplomatie am Europakolleg Brügge absolviert und studierte Wirtschaftswissenschaften an der Wirtschaftsuniversität Wien. Seit Mai 2022 ist Mariana Kühnel auch im Aufsichtsrat der Erste Group Bank AG tätig.

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Ing. Roland Ledinger, BRZ (Bundesrechenzentrum) war ursprünglich in der Privatwirtschaft tätig und arbeitet seit 1987 in der Bundesverwaltung. Von der Einführung des elektronischen Akts im Bund über die Leitung der IT-Rechenzentren und der IKT-Strategie des Bundeskanzleramtes bis zur Leitung der Gruppe eGovernment im Bundesministerium für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort war Ledinger in verschiedenen Funktionen tätig. Ab 2005 koordinierte er die Plattform Digitales Österreich und übernahm 2021 die Funktion des CDO im Amt der Burgenländischen Landesregierung. Roland Ledinger ist seit 2010 Präsident der ADV (Arbeitsgemeinschaft Datenverarbeitung) und seit 2022 Vizepräsident der EURITAS (European Association of Public IT Service Providers). Seit November 2021 ist er Geschäftsführer des Bundesrechenzentrums. Dr. Michael Ludwig, Bürgermeister der Stadt Wien, ist ein österreichischer Politiker der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ). Nach seinem Präsenzdienst von 1981 bis 1982 absolvierte er das Studium der Politikwissenschaft und Geschichte an der Universität Wien und wurde 1992 mit einer Dissertation über die DDR-Staatspartei SED zum Dr. phil. promoviert. Seine Laufbahn in der Wiener Kommunalpolitik begann Michael Ludwig als Bezirksrat in Floridsdorf. Er ist seit dem 24. Mai 2018 der Bürgermeister der Stadt Wien und war zuvor als Stadtrat für Wohnen, Wohnbau und Stadterneuerung tätig. Ludwig hat während seiner Amtszeit verschiedene Maßnahmen zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus und der Stadterneuerung in Wien umgesetzt und engagiert sich aktiv für Digitalisierung und für eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Stadt als Wirtschafts- und Forschungsstandort. Mag.a Patricia Neumann ist CEO der Siemens AG Österreich. Davor war sie mehr als 25 Jahre bei IBM, wo sie zuletzt den Softwarevertrieb für Daten, Künstliche Intelligenz und Automation in Europe, Middle East und Africa verantwortete. Sie studierte an der Wirtschaftsuniversität Wien und war in unterschiedlichen Executive-Rollen bei IBM, unter anderem in London, Mailand und Deutschland, tätig. Nach mehreren Jahren im Ausland kehrte sie mit ihrer Familie nach Wien zurück, wo sie von 2017 bis 2021 Geschäftsführerin von IBM Österreich war. Patricia Neumann setzt sich für die Anwendung von Technologie als Basis für Innovationskraft, Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit ein. Mag. Christoph Neumayer, Industriellenvereinigung e. V., studierte Geschichte, Publizistik und Rechtswissenschaften an der Universität Wien und absolvierte den Hochschullehrgang /32. Post Graduate Management an der WU Wien sowie den 7. Strategischen Führungslehrgang der Landesverteidigungsakademie (LVAK). Christoph Neumayer hält zudem ein Diploma in Postgraduate Management (General Management) der ESMT Berlin. Seit April 2011 Generalsekretär der Industriellenvereinigung, leitete er zuvor 10 Jahre den Bereich Marketing & Kommunikation im Haus der Industrie; im Laufe seines beruflichen Werdegangs arbeitete er auch als Journalist für den ORF (1991–1996 Radio und TV) und übte Mediensprechertätigkeiten aus. Er ist u. a. Mitglied des Executive Bureau des europäischen Arbeitgeberverbandes BusinessEurope, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Senats des Public Relations Verband Austria (PRVA) und seit 2012 Vorstand der Ludwig Boltzmann Gesellschaft.

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Prof. Dr. Dr. h. c. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a. D., ist Rektor der neu gegründeten Humanistischen Hochschule Berlin und Mitglied der b.-b. Akademie der Wissenschaften. Er war Kulturstaatsminister in der ersten Regierung Schröder und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie. In den letzten Jahren hat sich JNR intensiv mit anthropologischen, erkenntnistheoretischen und Technik-philosophischen Fragen befasst. Er war Leiter eines EU-Forschungsprojektes zur Ethik der Robotik und hat sich mit philosophischen und ethischen Aspekten des autonomen Fahrens und generell des Einsatzes von Software-Systemen in der beruflichen und privaten Praxis auseinandergesetzt (Digitaler Humanismus, Piper 2018 – Übersetzungen existieren auf Englisch, Koreanisch, Italienisch und demnächst auf Spanisch). JNR ist Direktor am Bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation. Univ.-Prof. Dipl.-Math. Dr. Peter Reichl, Universität Wien, studierte Mathematik, Physik und Philosophie in München und Cambridge und absolvierte sein Promotionsstudium in Informatik an der RWTH Aachen und der ETH Zürich. Nach mehr als 10 Jahren an einem industrienahen Forschungszentrum, einem dreijährigen Forschungsaufenthalt in Frankreich und einer Professur in Helsinki forscht und lehrt er seit 2013 an der Universität Wien, wo er die Forschungsgruppe Cooperative Systems leitet. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich intensiv mit den gesellschaftlichen und politischen Folgen des Digitalen Wandels und gehört u. a. zu den Gründern des Gesprächszirkels homodigitalis.at. Daneben ist er auch als Musiker aktiv und macht als Klavierbegleiter verschiedener Opernsänger:innen die Konzertpodien dieser Welt unsicher. Dipl.-Ing. Oliver Schmerold, ÖAMTC, studierte Industrielle Elektronik und Regelungstechnik an der Technischen Universität Wien. Nach Abschluss des Studiums war Oliver Schmerold von 1996 – 1999 als Referatsleiter im Büro für Internationale Forschungs- und Technologiekooperation tätig. 1999 wechselte er zu Alcatel, wo er zuletzt als Vicepresident Vertical Markets Services Division am Hauptsitz in Paris tätig war. Seit 2011 ist Oliver Schmerold Direktor des ÖAMTC. O.Univ.Prof.in Dipl.-Ing.in Dr.in techn. Dr.-Ing.in h. c. Sabine Seidler, ist Rektorin der TU Wien. Sie studierte Polymerwerkstofftechnik an der damaligen Technischen Hochschule Merseburg und promovierte im Jahr 1989. Ihr wissenschaftlicher Weg führte sie von der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg über die Ruhr Universität Bochum an die Technische Universität Wien. Hier ist sie seit 1996 Universitätsprofessorin für Nichtmetallische Werkstoffe. Im Jahr 2007 wurde sie als erste Frau in das Rektorat der TU Wien als Vizerektorin für Forschung berufen. Seit 2011 ist sie Rektorin. Sie ist vielseitig engagiert u. a. als Kuratoriumsvorsitzende des Naturhistorischen Museums in Wien und Aufsichtsratsmitglied bei der AMAG Austria Metall AG und im Helmholtz-Zentrum Hereon in Geesthacht. Barbara Teiber, M.A. ist seit Juni 2018 Bundesvorsitzende der Gewerkschaft GPA. Von 2013 bis 2018 war sie Abgeordnete zum Wiener Landtag und Mitglied des Wiener Gemeinderats und von 2001 bis 2006 Frauensekretärin der Gewerkschaft GPA – Wien. Danach wurde sie dort politische Sekretärin des Vorsitzenden und 2007 Bundesfrauen-

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sekretärin der GPA. Seit März 2008 fungiert sie als Regionalgeschäftsführerin der GPA Wien. Seit dem Jahr 2015 ist sie Mitglied der Bundesgeschäftsführung der GPA. Seit 2004 ist sie Kammerrätin der Arbeiterkammer Wien. Von 2007 bis 2010 war sie Mitglied des Vorstandes der AUVA. Weiters ist sie seit 2007 Stv. Vorsitzende der FSG-Wien, seit 2009 Vorstandsmitglied der Arbeiterkammer Wien, 2018 wurde sie zur Vizepräsidentin der AK-Wien gewählt, und ab 2020 Mitglied ist sie im Verwaltungsrat der neu gegründeten Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Hofrat Florian Tursky, MSc., MBA, ist Staatssekretär im Bundesministerium für Finanzen in Österreich. Er hat seinen Master an der Donau-Universität Krems in PR & integrierte Kommunikation gemacht. Seine ersten politischen Schritte machte er in der Schülerunion und in der Jungen ÖVP Tirol, dabei von 2006 bis 2010 als Landesgeschäftsführer. Florian Tursky sammelte als Standortleiter einer Agentur und als Geschäftsführer eines Start-ups Führungserfahrung, ehe es ihn auf Bitte von Tirols Landeshauptmann Günther Platter wieder in die Politik zog, zuerst als Pressesprecher und anschließend als Büroleiter. Im Mai 2022 wurde Florian Tursky als Staatssekretär für Digitalisierung und Telekommunikation im Finanzministerium angelobt. Hubert Wackerle, MBA, ITSV ist seit deren Gründung im Jahre 2004 Geschäftsführer der ITSV GmbH. Er ist seit über 20 Jahren in der IT tätig, unter anderem bei nationalen und internationalen Finanz-Dienstleistern. Durch seine technische und vorwiegend betriebswirtschaftliche Ausbildung befasst sich Hubert Wackerle neben IT-technischen Fragen seit jeher mit dem Thema der Organisationsentwicklung und Innovation. Die ITSV GmbH stellt seit Anbeginn die Bedürfnisse Ihrer Kunden in den Mittelpunkt und lebt als markenorientiertes Unternehmen den digitalen Humanismus. In den letzten 19 Jahren hat sich die ITSV GmbH von ursprünglich sechs Mitarbeitenden und ca. 2 Mio. Euro Umsatz auf über 890 Mitarbeitenden und ca. 132 Mio. Euro Umsatz entwickelt. Die ITSV GmbH steuert und koordiniert die IT-Agenden der Sozialversicherung und agiert als zentraler IT-Dienstleister für diese. Dipl.-Ing.in Christina Wilfinger, SAP Österreich, ist seit Februar 2021 als Geschäftsführerin der SAP Österreich tätig. In dieser Funktion wird sie mit dem Führungsteam den Transformationsprozess der SAP-Kunden in Richtung Cloud-Nutzung fortführen und mit viel Know-how die digitale Transformation auch bei mittelständischen Kunden erfolgreich auszubauen. Christina Wilfinger war in den letzten vier Jahren als Mitglied des Führungsteams bei Microsoft Österreich für den Lösungsvertrieb im Enterprise-Bereich verantwortlich. In dieser Rolle unterstützte sie vorrangig die Umstellung von Kunden und Partnern auf das Cloud-Geschäft und wird daher durch ihre Expertise neue Impulse und Schwerpunkte bei SAP setzen. Vor ihrem Wechsel zu Microsoft im Jahr 2016 war sie Mitglied der SAP Österreich Geschäftsleitung, davor war Christina Wilfinger in leitenden Positionen im Beratungs- und Vertriebsbereich des IT-Konzerns sowie bei Partnerunternehmen tätig. Die gebürtige Steirerin hat einen Abschluss für Wirtschaftsingenieurwesen an der Technischen Universität Wien und unterrichtet als Dozentin an der Donau-Universität Krems.

Teil I POLITIK_INTERESSENSVERTRETUNG

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digitalerhumanismus.business

Digitaler Humanismus: Europa muss weltweit denken In der digitalen Welt wird sich der Wettkampf der Ideologien wiederholen Florian Tursky, Staatssekretär für Digitalisierung im Bundesministerium für Finanzen in Österreich

Kurzfassung

Florian Tursky ist Verfechter des „Digitalen Humanismus“. In seinem Interview mit Georg Krause legt er den Fokus darauf, den Menschen in den Mittelpunkt der digitalen Transformation zu stellen und dabei europäische Standards zu etablieren und die digitale Souveränität zu fördern. Im Gegensatz zu anderen Regionen, wie Asien und den USA, strebt Europa an, anerkannte Werte und Prinzipien aus der analogen in die digitale Welt zu übertragen. Tursky betont, dass dies notwendig sei, um Europas Wettbewerbsfähigkeit und Unabhängigkeit zu stärken. Er geht sowohl auf die Bedeutung des Digital Services Act als auch auf jene von Gaia-X und der digitalen Identität als Teil dieser Bemühungen ein, und hebt Europas Vorreiterrolle bei der Entwicklung digitaler Standards hervor. Weitere von ihm ausgeführte Themen befassen sich mit der Rechtssicherheit als wesentliche Voraussetzung für die Wirtschaft und die Bürger:innen. Dabei geht es vor allem darum, das Vertrauen und die digitalen Kompetenzen zu fördern, da sonst digitale Lösungen nicht angenommen und beurteilt werden können.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_1

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Fotocredit: msg Plaut

„Mein größtes Ziel? Die Menschen in Österreich sollen sich über die Digitalisierung freuen.“ Florian Tursky, Staatssekretär für Digitalisierung im Bundesministerium für Finanzen in Österreich

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich persönlich … … den Menschen im Mittelpunkt unseres digitalen Handelns zu sehen. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … … die Datenschutzgrundverordnung, die uns allen wahnsinnig oft auf die Nerven geht, am Ende des Tages aber wirklich für Datenschutz gesorgt hat. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird oder bleibt, welcher wäre das? Dass sich weltweit alle an diese Regeln des Digitalen Humanismus halten, aber bis dorthin ist es noch ein langer Weg. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische oder europäische Politik? Das ist aktuell sicherlich die Künstliche Intelligenz, wo wir merken, dass es große Sorgen in der Bevölkerung gibt. Diese Ängste in der Bevölkerung sind ernst zu nehmen, und deshalb müssen wir darauf reagieren. Was ist die eine Sache, die uns in Österreich am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Volle Transparenz für alle Bürger:innen, damit sie erkennen, KI und Digitalisierung sind kein Zauber und auch keine Hexerei, sondern am Ende des Tages Mathematik. Was ist dein Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Ich glaube, wie an jeden Change-Prozess heranzugehen, sich mit den Mitarbeitenden zu unterhalten. Sie auch zu fragen, was ihnen wichtig ist, welche Bedürfnisse sie haben in der digitalen Welt. Am Ende des Tages macht genau das nämlich den Digitalen Humanismus aus: Auf die Menschen einzugehen und sie zum Mittelpunkt des Handelns zu machen. Mein wichtigster Beitrag zur Umsetzung der ethischen Prinzipien in der österreichischen Regierung ist … … auf eine schnelle Regulierung von künstlicher Intelligenz zu pochen und es auch rechtssicher für die Unternehmer:innen umzusetzen.

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Georg Krause: Was verstehst Du unter Digitalem Humanismus? Florian Tursky: Den Menschen im Mittelpunkt der Digitalisierung zu sehen. Das ist mit Abstand das Wichtigste. In Europa beschäftigen wir uns schon lange mit Humanismus, also müsste Digitaler Humanismus für uns ganz selbstverständlich sein. Aber dieses Selbstverständnis hat aus irgendeinem Grund lange gefehlt. Und deshalb hat sich die Begrifflichkeit des Digitalen Humanismus in den letzten Jahren erst wirklich entwickelt. Und ich bin sehr froh, dass Österreich dabei eine große Rolle gespielt hat. Denn es wird besonders an uns Europäer:innen liegen, den Digitalen Humanismus zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln. Asien beispielsweise geht sehr breit angelegt in die Themen Bildung und Digitalisierung hinein, dabei wird das Individuum wenig geachtet. In den Vereinigten Staaten ist die Digitalisierung eher ein Elitethema, so wird es an uns Europäer:innen liegen, davon bin ich überzeugt, wieder auf das Individuum einzugehen, den Menschen im Mittelpunkt unseres Handelns zu sehen und in diesem Punkt auch Standards zu setzen. Selbst wenn andere Kontinente derzeit einen anderen Weg einschlagen, es wird sich sicher ein guter Digitaler Humanismus weltweit ausbreiten, weil er in der Bevölkerung als Wunsch und als Notwendigkeit angesehen wird. Die autoritären Regime klammere ich jetzt einmal aus.

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Du hast hiermit die Vorreiterrolle Europas angesprochen. In einem Artikel hast du auch schon einmal einen gemeinsamen europäischen Wertekompass für die europäische digitale Transformation erwähnt … … bevor ich Staatssekretär wurde, war mir nicht bewusst, mit wie vielen europäischen Themen ich mich beschäftigen werde. Alles, was wir auf europäischer Ebene tun, ist in Wahrheit drei großen Zielen untergeordnet: Das erste ist die Standardisierung, um in einem Binnenmarkt Europa die gleichen Regeln zu haben. Dazu gehört beispielsweise die digitale Identität, die für alle gleich sein soll. Das Zweite ist die digitale Souveränität Europas, wo man sich datenseitig nicht von der restlichen Welt abhängig machen will und bei der Thematik Semiconductor, also Hardware in Mikrochips, nicht noch abhängiger machen möchte – sondern in Zukunft bestrebt sein muss, diese Abhängigkeiten zu reduzieren. Der dritte Punkt verdeutlicht, dass wir uns als Europäische Union mit dem Digitalen Humanismus schon viel länger beschäftigen, als wir uns eingestehen. Er dreht sich um die Frage, wie übertragen wir die Grundsätze und Werte, die wir uns in Europa hart erarbeitet haben, von der analogen Welt in die digitale Welt. Um es besser zu illustrieren: Es hat in Wahrheit mit der Datenschutzgrundverordnung angefangen, die aus verschiedenen Perspektiven auch kritisch gesehen werden kann. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen, das Bedürfnis des Menschen nach Datenschutz hat es immer schon gegeben.

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Durch die digitale Welt war alles plötzlich sehr verschwommen und einfach sehr vieles sehr schnell möglich geworden. Die Datenschutzregeln, wie wir sie vorher gekannt haben, waren nicht für die digitale Welt festgelegt worden. Im Laufe der Zeit verlagerte sich aber immer mehr von der analogen in die digitale Welt. Als Europäer:innen müssen wir nun darauf achten, wie wir unser Menschenbild mitsamt seinen Werten und Grundsätzen dabei absichern. Als zweites Beispiel fällt mir der Digital Services Act ein, vorangetrieben durch Österreich, vor allem durch Bundesministerin Karoline Edtstadler (Anm.: Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt) – dort wurden verschiedene wichtige Punkte aufgegriffen: Der Hass im Netz beispielsweise, und wie wir damit umgehen. Oder die Frage, welche Rechte habe ich mit meinen digitalen Profilen, was muss gelöscht werden, wie kann ich darauf reagieren und auch welche Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung habe ich. Das sind alles Themen, die für uns in Europa – Gott sei Dank – ganz selbstverständlich geworden sind, die wir aber in diese digitale Welt erst einbringen müssen.

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Oft diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Frage, ob sich Wettbewerbsnachteile für Europa ergeben, wenn wir diese Standards umsetzen oder besteht umgekehrt vielleicht sogar eine Chance, dass sich daraus Vorteile eröffnen? Schließlich werden wir die Asiaten und auch die Amerikaner nicht mehr einholen, würden wir den gleichen Weg einschlagen. Wie stellt sich die Situation der Digitalisierung für Dich dar, angesichts dieser geopolitischen und wirtschaftlichen Großwetterlage zwischen den verschiedenen Blöcken? Ganz grundsätzlich glaube ich, dass diese Dinge weltweite Standards werden, ähnlich wie wir es bei der Datenschutzgrundverordnung gesehen haben. Das heißt, es wird die Notwendigkeit bestehen, solche Regeln überall einzuführen. Und wir sehen es bereits jetzt, dass die Datenschutzgrundverordnung in großen Teilen der Vereinigten Staaten übernommen wurde. Eine ähnliche Entwicklung erwarte ich auch beim oft diskutierten europäischen Gesetzestext über die Regulierung der Künstlichen Intelligenz, dem AI-Act. Wo immer ich weltweit in den letzten Wochen unterwegs war, war ich ein interessanter Gesprächspartner, der auch überall sofort einen Termin bekam, weil die ganze Welt nach Europa schaut, um zu erfahren, wie wird diese erste Grundregulierung der KI ausformuliert. Man ist sich im Klaren, dass hier weltweite Standards gesetzt werden können. Andererseits: Weder ein Verbot von Social Scoring – um ein Extrembeispiel zu nennen – noch harte Regeln im Versicherungsmanagement oder im HR-Bereich werden uns in unserer Innovationsfähigkeit aufhalten. Zwei Dinge sind sicherzustellen. Erstens müssen wir Innovation in Wissenschaft und Forschung betreiben, ähnlich wie wir es aus der Gentechnik kennen, wo wir bestimmte – auch ethnische Ansprüche haben – was aber nicht bedeutet, dass

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deswegen innovatives Denken verboten ist, sondern es soll viel mehr ermöglicht werden. Das Gleiche ist im AI-Act berücksichtigt. Und der zweite Punkt, wovor viele Angst haben und wo vielleicht auch der eine oder andere Fehler bei der Datenschutzgrundverordnung passiert ist, ist die Rechtssicherheit. Ich muss den Unternehmer:innen konkret sagen, was erlaubt ist und was nicht. Dieser Punkt, so glaube ich, hat viele in der Datenschutzgrundverordnung frustriert. Möglicherweise können wir das eine oder andere aber in der nationalen Umsetzung besser machen. In Bezug auf den AI-Act liegt mein Fokus auf der Umsetzung mit Hausverstand, die Innovation ermöglicht und den Unternehmer: innen Rechtssicherheit gibt. Unter diesem Aspekt ist auch die von mir eingesetzte KI-Behörde zu sehen, wo es genau darum geht: eine Beratungsstelle und Transparenz zu schaffen. Bei allen digitalen Lösungen wird sehr viel davon abhängen – und da sind wir auch beim Thema des Buches – ob die Menschen die digitalen Lösungen auch benutzen. Die Antwort hat sehr viel mit Vertrauen zu tun. Die Menschen werden sich nur darauf einlassen, wenn sie einer digitalen Lösung auch vertrauen. Und dieses Vertrauen können wir nur durch volle Transparenz, auch im Datenschutz, aufbauen. Die elektronische Gesundheitsakte wurde viel diskutiert in Österreich, wie derzeit auch das Thema Künstliche Intelligenz. Deswegen müssen wir den Menschen sagen, was mit ihren Daten passiert, wie sie verwendet werden. Und bei der KI müssen wir ihnen mitteilen: Jetzt warst du gerade mit Künstlicher Intelligenz konfrontiert.

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Die EU hat im Rahmen der digitalen Dekade vor einem Jahr die digitalen Rechte und Grundsätze verabschiedet, die eigentlich schon eine Leitlinie für viele andere Dinge wie AI oder ähnliches darstellen. Diese digitalen Rechte und Grundsätze lesen sich fast schon wie das europäische Manifest des Digitalen Humanismus, wo der Mensch im Mittelpunkt steht. Kann uns diese Entwicklung optimistisch stimmen, geht sie Deiner Ansicht nach in die richtige Richtung und werden diese Punkte auch tatsächlich ernst genommen? Man sieht auch, dass die Gesetzestexte, die in diesem Zusammenhang von der Europäischen Union herausgegeben und entwickelt werden, genau in diese Richtung gehen. Egal, ob es sich jetzt um den Digital Services Act oder den Digital Markets Act handelt, wir sehen, dass der menschenzentrierte Ansatz von der Europäischen Union ernst genommen wird. Wir alle wissen, dass wir die Menschen mitnehmen müssen, denn die Menschen haben Angst vor der Digitalisierung. Das habe ich unterschätzt, bevor ich in dieses Amt gekommen bin, es gibt tatsächliche eine Digitalisierungsangst. Aber die Menschen haben auch vor Künstlicher Intelligenz Angst, weil sie die unsichere Zukunft darstellt. Es gibt die Sorge, einfach nicht mehr mitzukommen oder teilweise auch die Angst, den Job zu

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verlieren. Und solchen Ängsten und Befürchtungen kann ich nur mit einem menschenzentrierten Ansatz begegnen, um die Menschen auf dem Weg zur Digitalisierung mitzunehmen.

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Wie auch du es bereits erwähnt hast, spielt Österreich im Digitalen Humanismus eine spezielle Rolle. Und wir sind alle stolz, dass das Manifest des Digitalen Humanismus in Wien entstanden ist. Ein Dokument, das von zahlreichen internationalen Wissenschaftler:innen erarbeitet und unterzeichnet wurde und grundlegende Postulate für eine menschenzentrierte Digitalisierung aufstellt. Die Gemeinde Wien hat sich dabei sehr stark engagiert. Wie können wir diese positive Dynamik mit ihrer Widerspiegelung auf europäischer Ebene nun in Zukunft nutzen? Sind hier Aktivitäten seitens der Regierung geplant? Im Zuge dessen möchte ich einen weiteren Aspekt einbringen: Maßgeblich vorangetrieben wurde der Digitale Humanismus immer auch durch das Außenministerium. Dieses hat die Thematik frühzeitig erkannt und schon vor längerer Zeit Konferenzen gemeinsam mit Tschechien und der Slowakei organisiert und tatsächlich auch Benchmarks gesetzt. Als ich erstmals an einem Technologierat auf europäischer Ebene teilgenommen habe, ist die Idee des Digitalen Humanismus noch belächelt worden. Aber das hat sich innerhalb eines halben Jahres schlagartig geändert. Ich glaube aber, dass Europa zu klein ist. Denn wenn wir über Digitalen Humanismus sprechen, müssen wir weltweit denken. Deshalb bin ich auch sehr froh, dass wir uns bei diesem Thema auf UN-Ebene stark engagieren: Zum Beispiel Bundesministerin Karoline Edtstadler, die beim Internet Governance Forum der Vereinten Nationen im Vorstand sitzt. Weiters gibt es einen neuen UN-Sonderbeauftragten für Digitalisierung in Wien. Im UN-Kontext hat das Thema Digitaler Humanismus also enorm an Bedeutung gewonnen – das ist der richtige Weg. Wir müssen uns dafür einsetzten, dass die Standards eines menschenzentrierten Ansatzes weltweit Fuß fassen. Es ist ähnlich wie bei den Klimamaßnahmen: Wir können als Europäer:innen sehr viel umsetzen, aber wenn die restliche Welt nicht mitmacht, wird uns das nicht helfen. Wenn wir Europäer:innen Digitalisierung nicht weltweit denken, kann daraus wirklich einmal ein Wettbewerbsnachteil entstehen.

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Die Einstellung gegenüber dem Thema Digitaler Humanismus hat sich innerhalb eines halben Jahres also gänzlich geändert. Was ist in diesen Zeitraum passiert, hast du eine Beobachtung dazu? Ja, es hängt schon sehr mit Künstlicher Intelligenz zusammen. Also bis vor einem Jahr haben alle bei Künstlicher Intelligenz an den Terminator oder an Knight

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Rider gedacht. Im November kam ChatGPT auf. Vor ungefähr einem halben Jahr hat die Angst der Bevölkerung, den Arbeitsplatz zu verlieren, deutlich abgenommen. Wir hatten nahezu Vollbeschäftigung, Unternehmen suchten händeringend nach Arbeitskräften – daraus haben die Menschen geschlossen, die Digitalisierung kostet mich nicht meinen Job. Doch dann kam generative Künstliche Intelligenz auf den B2C-Markt, vereinfacht in einem ChatGPT-Programm, das jeder ausprobieren konnte, um herauszufinden, was Künstliche Intelligenz eigentlich ist. Wir wissen, dabei handelt es sich nur um einen kleinen Teilbereich, aber der war für alle plötzlich benutzbar. Vergleichen wir diese Entwicklung nun mit 2007, als das erste iPhone auf den Markt gekommen ist. Vorher hatten wir schon den Nokia Communicator, Blackberrys oder andere Smartphones, aber die waren alle keine Massenprodukte. Doch dann kam Apple mit dem einfach bedienbarem iPhone, und es wurde in kürzester Zeit ein Massenprodukt. Ähnlich verhält es sich jetzt mit der Künstlichen Intelligenz. Und es ist doch kein Zufall, dass der Digitale Humanismus jetzt an Bedeutung gewinnt, denn durch die KI hat man plötzlich das Gefühl, hier ist etwas Neues aufgetaucht, das wir so bisher nicht kannten. Das kreative Denken, das Verstehen von Zusammenhängen, daraus wiederum Ableitungen zu treffen und etwas Neues zu erschaffen – das alles hat den Menschen bisher ausgemacht, das kannten wir von Maschinen nicht. Ich denke, die KI war ein großer Aha-Effekt, der aufgezeigt hat, dass wir an einem Punkt in der Entwicklung angekommen sind, wo wir definieren müssen, wie weit diese Entwicklung noch gehen soll. Und ich meine das nicht im Sinne eines Moratoriums, um eine Innovation aufzuhalten. Auch bei der Einführung des Autos hat es eine Straßenverkehrsordnung gebraucht. Unlängst wurde der Entwicklungsprozess verglichen mit der Weltatombehörde und mit dem Abkommen zur Atom- und Kernwaffenregulierung, ohne hier einen zwingenden Vergleich anzusteuern. Aber irgendwann ist im Bewusstsein der Menschen jener Moment gekommen, der Druck aufgebaut hat und in weiterer Folge auch das Bewusstsein in der Politik geschärft hat, dass es hier nun ein Momentum gibt, wo es Antworten in der Regulierung geben muss.

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Du hast gesagt, wir müssen über Europa hinausschauen, aber auch innerhalb Europas tut sich sehr viel. Gibt es aus deiner Sicht Länder, die sich auch schon intensiv mit dem Thema beschäftigen, wo man vielleicht auch hinschauen sollte, um zu lernen oder sind wir bei diesen Überlegungen wirklich ganz vorne dabei? Ich glaube, wir sind absolut ganz vorne dabei. Mir sind nur wenige Länder bekannt, die sich in dieser Tiefe mit diesem Thema beschäftigen. Europa ist Vorreiter und das spiegelt sich in der Entwicklung der Regulierung: Wir mussten erst

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einmal definieren, was Künstliche Intelligenz überhaupt ist. Und ich möchte in diesen Zusammenhang auch warnen: Nicht jede Regulierung, die vielleicht vermeintlich zum Digitalen Humanismus führt, kann uns auch recht sein. Ich habe in den letzten Wochen und Monaten sehr deutlich betont, dass ich mit den Absichten, die ich derzeit aus China höre, wenn es um die Regulierung von Künstlicher Intelligenz geht, nicht einverstanden bin. So hat die chinesische Regulierungsbehörde verlautbart, dass in der Volksrepublik nur KI-Algorithmen entstehen und auf den Markt kommen sollen, die mit den Grundsätzen des kommunistischen Staatssystems und damit mit jenen der kommunistischen Partei vereinbar sind. Das kann es nicht sein, nicht aus europäischer Sicht. Wenn wir uns auf einem weltweiten Konzert befinden, so darf es nicht möglich sein, dass auf dem europäischen Markt digitale Algorithmen auftauchen, die in irgendeiner Weise einen ideologischen Bias haben, der unseren Werten widerspricht. An dieser Stelle beginnt aber eine ganz schwierige Diskussion. Denn auf der einen Seite ist es für uns ganz klar, was ein ideologischer Bias ist, dabei geht es mir gar nicht um eine Unterscheidung zwischen kommunistisch und nicht-kommunistisch. Aber für mich steht fest, das soll und darf nicht sein. Andererseits könnte China genauso sagen, wie ihr reguliert, ist es ebenfalls ideologisch gefärbt. Logischerweise stellt sich die schwierige Frage, kann es überhaupt eine unideologische Regulierung geben? Auch der Digitale Humanismus ist in gewisser Weise eine Ideologie. Europa sagt offen, wir haben ein Regelwerk bestehend aus Menschenrechten und anderen Dingen, die wir uns zugrunde gelegt haben, die für uns Leitplanken darstellen. Es versteht sich von selbst, dass eine Regulierung nicht rassistisch sein darf, dass niemand ausgeschlossen werden darf aufgrund seines Alters, seiner Religion, seines Geschlechts usw. Aber alle diese Selbstverständlichkeiten gilt es wieder zu erkämpfen, wie wir sie schon früher in der analogen Welt erkämpfen mussten, um sie zu weltweiten Standards zu machen. Und davon sind wir in der digitalen Welt noch meilenweit entfernt.

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Technologie ist nicht wertneutral. Du hast es schön auf den Punkt gebracht. Einerseits China und deren Sicht auf die Welt, die sie in ihre KI-Lösungen verpacken, auf der anderen Seite die Europäer, die ihre eigene humanistisch geprägte Sicht der Dinge haben … … und so gesehen wird es in der digitalen Welt wieder einen Wettbewerb der Ideologien geben. Für Europa gilt es, das Menschenbild mit seiner christlich-jüdisch geprägten Tradition und mitsamt den Grundsätzen des Zusammenlebens bestmöglich zu verankern. Und das wird nicht so einfach.

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Abt Reinhold Dessl vom Stift von Wilhering erzählt in seinem Beitrag, dass die Wege zum Digitalen Humanismus immer auf dieselbe grundsätzliche Frage hinausliefen: Was ist ein sinnerfülltes Leben? Daraus leiten wir die Werte ab, die wir in der Technologie verwirklicht sehen möchten, genauso wie du es eben skizziert hast. Natürlich, aber zu grundlegend philosophisch müssen wir nicht werden. Worum es geht, darüber haben sich in der analogen Welt Philosoph:innen der letzten Jahrhunderte Gedanken gemacht. Davon lässt sich schon sehr viel in die digitale Welt übertragen, selbst wenn sich vieles immer wieder ändert. Die heutige Generation hat andere Anforderungen an ein sinnerfülltes Leben als unsere Eltern.

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Kommen wir konkret zu deiner Arbeit. Vielleicht kannst du uns einen Überblick geben. Was sind die wesentlichen Schwerpunkte, die du jetzt in deiner Aufgabe für die nächsten Jahre gestartet hast oder die gerade laufen? Im Digital Austria Act ist bereits sehr viel zusammengefasst. Welche Schwerpunkte setzt du in Richtung Digitaler Humanismus? Meine Hauptaufgabe ist es, den Staat zu digitalisieren. Und deshalb habe ich auch einmal in einem Interview gesagt – was viele nicht so cool fanden – es sei auch meine Aufgabe, mich selbst abzuschaffen. Wenn wir auf die gesamte Staats-Digitalisierung blicken, so muss das Wichtigste sein, wie wir die Menschen in dieser Rolle sehen. Wir haben in diesem Jahr mit dem von dir erwähnten Digital Austria Act sicher den fundamentalsten Masterplan für das digitale Österreich entwickelt, den es je gegeben hat. Mit 36 klaren Grundsätzen und 117 Maßnahmen, wohin sich die staatliche Digitalisierung in Österreich entwickeln muss. Dabei steht der Mensch im Mittelpunkt, weil wir überzeugt sind, die Digitalisierung soll den Bürger:innen dienen. Das hört sich zunächst einmal selbstverständlich an, aber ich erwähne das Beispiel der elektronischen Gesundheitsakte – sie war nie als Produkt für die Bürger:innen gedacht, sondern immer nur für die Kommunikation zwischen verschiedenen Stellen. Alle Digitalisierungsmaßnahmen, die wir umsetzen, sollen das Leben einfacher, bequemer und schneller machen. Gleichzeitig müssen wir voll die Datenschutzregeln im Auge behalten und alles soll barrierefrei sein. Das allein macht den Digitalen Humanismus nicht aus. Es ist aber auf jeden Fall bereits fundamental, weil es um den Menschen geht, sein Leben wird einfacher gemacht und er wird nicht in seinen Grundrechten berührt. Im Mittelpunkt unserer digitalen Arbeit steht dabei immer die Transparenz, weil ich sie als Enabler ansehe, damit die Technologie auch verwendet wird. Gleichermaßen wichtig ist die Usability, die auf den ersten Blick vielleicht nicht direkt mit dem Digitalen Humanismus zu tun hat, aber die Menschen dürfen in der digitalen Welt nicht ständig frustriert werden, ansonsten werde ich sie auch nicht in die

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digitale Welt führen können. Der/die durchschnittliche Österreicher:in hat pro Jahr 1,2 Amtswege. Das ist zu selten, um sie auf eine digitale Plattform zu bringen. Als Staat muss ich tagtäglich mit den Bürger:innen digital in Kontakt sein. Nur so kann es auch gelingen, die Rechte der Bürger:innen stärker abzubilden als früher. Um einen neuen Pass zu bekommen, musste ich früher meinen Staatsbürgerschaftsnachweis auf das Passamt mitnehmen. Der Standesbeamte hat vor Ort alle erforderlichen Dokumente durchgesehen, auch wann die Staatsbürgerschaft ausgestellt wurde. Zukünftig werden das alles nur noch digitale Verknüpfungen sein, und auf diesem Weg werden wir einen höheren Datenschutz für die Menschen erreichen. Oder: Wenn sich junge Leute beim Eintritt in einen Club künftig ausweisen müssen, dann werden sie nicht Name und das genaue Geburtsdatum nachweisen müssen, sondern sie zeigen dem Türsteher einfach einen QR-Code. Ich glaube demnach, wenn wir an Digitalen Humanismus denken, sollten wir die Digitalisierung auch als Enabler sehen, wodurch wir den Menschen wieder in den Mittelpunkt rücken. Dabei wird es darum gehen, dass gewisse Dinge, die analog nicht abbildbar waren, künftig digital abgebildet werden. Nur weil etwas digital ist, heißt das noch lange nicht, dass es auch komplizierter ist.

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Dafür gibt es bereits gute Beispiele in der österreichischen Verwaltung, wo sehr vieles wesentlich vereinfacht wurde: von Finanz Online bis zur automatischen Arbeitnehmerveranlagung – das sind alles Meilensteine … … das glaube ich auch. Und es soll helfen, dass sich die Menschen und Mitarbeitenden in unserem Land darum kümmern können, was ihnen ein Anliegen ist.

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Als Beispiel für den Digitalen Humanismus hast Du bereits das Thema digitale Identität erwähnt. Warum ist das aus deiner Sicht für Europa ein so wichtiges Thema, wenn wir über Digitalen Humanismus sprechen? In wenigen Jahren werden wir darüber lachen, dass wir früher alle diese Ausweise in der Geldtasche mitführten. Ähnlich wie wir uns heute kaum noch vorstellen können, dass wir früher alle möglichen Landeswährungen in der Geldbörse haben mussten, wenn wir über den Brenner nach Italien oder von Tirol über Kiefersfelden nach Deutschland reisten, wo mit der D-Mark bezahlt wurde. Alles hat sich in unserem Leben maßgeblich vereinfacht und uns in Europa zusammengeführt. Deswegen bin ich überzeugt, dass wir bald eine vollständige Identität im Internet haben, dabei denke ich jetzt nicht an Metaverse. Vielmehr bin ich überzeugt, dass es künftig möglich sein wird, wie eine physische Person mit seinem Ausweis, sich im digitalen Raum auszuweisen und dort auch dementsprechend zu agieren. Mit meiner digitalen Identität kann ich sämtliche Rechtsgeschäfte machen, kann ich mich überall anmelden und jeden Behördenweg in Angriff nehmen.

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Diese digitale Identität habe ich auf meinem Handy gespeichert, wenn ich also in der analogen Welt etwas brauche, kann ich mich mit dieser digitalen Identität ausweisen. Somit muss ich zum Ärzt:innenbesuch keine e-card mitnehmen und den Polizist:innen zeige ich künftig nicht meinen Führerschein, sondern meinen QR-Code, mit dem ich auch bei der Post mein Paket abholen kann. Letztendlich ist die Digitalisierung also so angelegt, dass wir den Menschen in Europa helfen und sie auch im alltäglichen Leben unterstützen. Das ist das Ziel, das im Mittelpunkt stehen muss.

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Dabei muss der Schutz der privaten Daten natürlich garantiert werden. Wir wollen mit der Privatwirtschaft zusammenarbeiten. Am Ende des Tages gehören dem Staat und den Bürger:innen die Identitäten. Beide sollen gleichermaßen darauf aufpassen und deshalb sollen künftig so wenig Daten wie nur möglich in die Privatwirtschaft übertragen werden. Bei entsprechenden Anwendungsfällen in der analogen Welt kann der Bürger seine Daten zur Verfügung stellen, sofern er aber seine Daten aus der digitalen Welt zur Verfügung stellt, soll er sie auch wieder entziehen können.

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Ein weiteres Thema, das wir eingangs angesprochen haben, war die digitale Souveränität. Es läuft bei euch schon seit Jahren eine Initiative zum Thema Gaia-X, die in Österreich sehr früh und in enger Kooperation mit der Wirtschaft aufgesetzt ist. Warum ist dir dieses Thema so wichtig? 80 Prozent der weltweiten Daten liegen nicht in Europa. Und wir wissen, dass künftig jegliches wissenschaftliche oder wirtschaftliche Arbeiten, jedes staatliche oder medizinische Arbeiten vom Zugang zu Daten abhängig sein wird. Wenn ich beispielsweise entsprechend viele Gesundheitsdaten habe, kann die Forschung daraus bessere Medikamente entwickeln. Wir können dann eine Krebserkrankung sehr präzise diagnostizieren und so eine möglichst wirksame Behandlung zusammenstellen auch über Künstliche Intelligenz. Aber das wird uns nur gelingen, wenn wir auch Datenzugang haben. Wenn ich Daten von Unternehmen über Produktionsprozesse habe, wird es möglich sein, Maschinen effizienter, auch energieeffizienter einzusetzen. Daraus entstehen Vorteile für die Umwelt, aber auch für den Konzern und seine Wettbewerbsfähigkeit, weil er günstiger produzieren kann. Wir werden auf all diesen Ebenen aber nur erfolgreich sein, wenn wir Zugang zu unseren Daten haben und nicht von anderen Systemen, von anderen Staaten abhängig sind. Deshalb gibt es die Initiative Gaia-X, wo es in Wahrheit darum geht, Datenmanagement-Standards und Datenkommunikation-Standards zu entwickeln, die wir dann als Europa anwenden können. Für das Thema Digitaler Humanis-

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mus ist es deshalb so wichtig, weil mit unseren Daten nur das passieren darf, was wir auch wollen. Das soll unter einer gewissen staatlichen Kontrolle bzw. Aufsicht passieren. Aber um das gewährleisten zu können, brauchen wir diese Daten auch in unserem Einflussbereich. Erst dann können wir die Daten für die Menschen in unserem Land auch bestmöglich einsetzen. Gaia-X ist eine unglaublich interessante Idee. Allerdings wurde anfangs im Rahmen der europaweiten Kommunikation einiges falsch gemacht. Gaia-X wurde als European Cloud übersetzt, auch mir wurde das Projekt anfangs so vorgestellt. Nur das ist eine vollkommen falsche Bezeichnung, weil es wirklich um Datensouveränität geht und um die Frage, wie sich Europa in diesem Punkt aufstellt. Und so gesehen ist es eine fantastische Initiative.

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Woran wirst du in ein paar Jahren inhaltlich messen, ob du erfolgreich warst oder nicht? Sämtliche Amtswege sollten dann digitalisiert sein. Bis 2030 wollen wir in ganz Österreich flächendeckendes Internet haben, sowohl mobil als auch stationär Gigabit-fähig und wir sollten auch die Möglichkeit haben, alle Ausweise digitalisieren zu können. Alle Österreicher:innen sollten dann über grundlegende digitale Fähigkeiten verfügen. Das wichtigste Ziel in Bezug auf den Digitalen Humanismus wäre für mich persönlich, dass sich die Menschen in Österreich über die Digitalisierung freuen. Vielen Dank für das interessante Gespräch

Digital Austria Act:

117 Maßnahmen und 36 Digitalisierungsgrundsätze – mit dem DAA wollen wir digitale Lösungen in allen Lebensbereichen der Menschen schaffen. Ziel ist es, Wohlstand und Sicherheit durch Digitalisierung zu erhalten und auszubauen. Deshalb soll Digitalisierung in Österreich neugestaltet werden und dabei die geltenden Datenschutzgrundsätze und die barrierefreie Zugänglichkeit berücksichtigen. Hindernisse für die Digitalisierung sollen identifiziert und beseitigt werden. Ein Beispiel hierfür ist das Ziel, dass Menschen in Österreich über das Digitale Amt ihre persönlichen Dokumente und Nachweise kostenfrei abrufen können. „Mir ist es wichtig, in Zukunft Digitalisierung mit Nutzen zu schaffen. Der Digital Austria Act ist das digitale Arbeitsprogramm der Bundesregierung, damit alle Mitglieder der Bundesregierung gemeinsam in die richtige digitale Richtung arbeiten. Die Schwerpunkte des Digital Austria Act sind ressortübergreifend und betreffen alle Mitglieder der Bundesregierung und alle Lebensbereiche der Menschen“, so Staatssekretär für Digitalisierung Florian Tursky.

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Neben der besten digitalen Infrastruktur ist jede technologische Neuerung nutzlos, wenn sie von der Bevölkerung nicht genutzt werden kann. Damit die digitale Transformation für Österreich erfolgreich ist, braucht es eine digital kompetente Bevölkerung. Daher unterstützt die Bundesregierung alle Maßnahmen, die zum Aufbau von digitalen Kompetenzen beitragen. Die digitale Kompetenzoffensive, welche Anfang des Jahres gestartet wurde, wird intensiv fortgeführt und hat zum Ziel, möglichst alle Menschen in Österreich bis 2030 digital fit zu machen. Nur so können die Chancen der Digitalisierung von allen genutzt werden.

Gute Arbeit im digitalen Zeitalter Digitalisierung für den Menschen – nicht gegen ihn Wolfgang Katzian, Präsident des ÖGB (Österreichischen Gewerkschaftsbundes) und des Europäischen Gewerkschaftsbundes Sebastian Klocker, ÖGB-Mitarbeiter im Kompetenzzentrum Arbeit und Technik

Kurzfassung

Wolfgang Katzian und Sebastian Klocker schreiben über die Bedeutung von Digitalem Humanismus in der Arbeitswelt und wie Technologien zu gestalten sind, dass sie Arbeitsbedingungen verbessern und Arbeitnehmende unterstützen. Zentrale Themenbereiche der europäischen Sozialpartner sind dabei die Achtung der Menschenwürde, Fragen der (Nicht-)Erreichbarkeit, Künstliche Intelligenz und Kontrolle, sowie Digitale Kompetenzen und Beschäftigungssicherung. Proaktive Politik und betriebliche Mitbestimmung sind entscheidend, um die Chancen gerecht zu nutzen. So können Vorteile der Digitalisierung, wie flexible Arbeitszeiten, Telearbeit und Erleichterung der psychischen und physischen Arbeit, genutzt werden, wenn der Interessensausgleich zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden gelingt. Weiters beschreiben sie die Rolle und Verantwortung der Gewerkschaften, damit der technologische Fortschritt auch sozialen Fortschritt bedeutet.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 19 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_2

„Man muss die Risiken der Digitalisierung ernst nehmen.“

Fotocredit: ÖGB/Heribert Corn

Wolfgang Katzian, Präsident des Österreichischen und Europäischen Gewerkschaftsbundes

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W. Katzian und S. Klocker

Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich … … die Möglichkeiten der Digitalisierung zu nützen, um unsere Arbeit zu erleichtern und effizienter zu gestalten. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … Wir verhandeln derzeit auf EU-Ebene über das „right to disconnect“. Das Recht, in der arbeitsfreien Zeit, keine arbeitsbezogenen elektronischen Kommunikationen wie E-Mails, Anrufe oder andere Nachrichten zu führen. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird bzw. bleibt, welcher wäre das? … eine raschere Gestaltung der rechtlichen Rahmbedingungen für die technischen Entwicklungen. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische oder europäische Politik? Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz von Künstlicher Intelligenz. Was ist die eine Sache, die den Unternehmen am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus zum Wohle der Arbeitnehmer:innen besser umsetzen zu können? People over Profit. Die betriebliche Mitbestimmung ernstnehmen und die Digitalisierung zum Wohle Aller gestalten. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Den Betriebsrat und die Gewerkschaften in die digitale Transformation von Anfang an miteinbeziehen und die Prozesse gemeinsam gestalten ist ein wichtiger Erfolgsfaktor. Mein wichtigster Beitrag als Präsident des ÖGB zur Umsetzung der ethischen Prinzipien im Unternehmen ist … Die öffentliche und interne Diskussion mit den Gewerkschaften. Mit den technischen Entwicklungen ändern sich auch die Rahmenbedingungen für die gewerkschaftliche Arbeit.

Gute Arbeit im digitalen Zeitalter

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Unsere Welt ist von digitaler Technik durchdrungen. Sie beeinflusst die Art und Weise, wie wir kommunizieren, lernen, reisen und sogar Kunst und Kultur erleben. Die Arbeitswelt steht im Mittelpunkt dieser technologischen Revolution. Technologischer Fortschritt hat die Arbeitswelt schon immer stark beeinflusst. Der rasante Fortschritt durch die Digitalisierung und die Entwicklung der Produktivkräfte birgt enorme Potenziale, aber auch Risiken. Der digitale Humanismus hilft uns dabei, das Wesentliche – den Menschen – nicht aus den Augen zu verlieren. Im Zentrum des Digitalen Humanismus steht die Idee, dass Technik zum Wohle des Menschen eingesetzt werden sollte. Der Mensch soll nicht zum Sklaven der Maschine werden, sondern die Maschine soll ein Werkzeug für den Menschen sein, das seine Fähigkeiten erweitert und ihn bei seinen Aufgaben unterstützt. Digitale Technologien sollten daher so gestaltet und eingesetzt werden, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, und seine Interessen, Rechte und Freiheiten respektiert werden. Im Kontext der Arbeitswelt bedeutet Digitaler Humanismus, Technologie so zu nutzen und zu gestalten, dass sie die Arbeitsbedingungen verbessert, die Arbeit sicherer macht und letztlich die Lebensqualität der Arbeitnehmenden erhöht. Digitaler Humanismus in der Arbeitswelt zielt darauf ab, gute Arbeit zu schaffen. Gute Arbeit ist Arbeit, die den Mitarbeitenden Mitbestimmung, gerechte Bezahlung, nachhaltigen Arbeits- und Gesundheitsschutz, soziale Sicherheit und ein diskriminierungsfreies Umfeld bietet. Es geht darum, Arbeitsprozesse so zu gestalten, dass sie die Menschen stärken und ihre menschlichen Qualitäten zur Geltung bringen, statt sie zu entmenschlichen. Diese Sichtweise gewinnt insbesondere in Zeiten zunehmender Automatisierung und dem Aufkommen künstlicher Intelligenz an Bedeutung. Der technologische Fortschritt führt dazu, dass Maschinen zunehmend menschliche Aufgaben übernehmen, wodurch sich die Rolle des Menschen in der Arbeitswelt verändert. In dieser sich schnell verändernden digitalen Landschaft ist es wichtiger denn je, die menschlichen Aspekte unserer Arbeit zu erhalten und zu stärken. Wir müssen sicherstellen, dass wir auf dem Weg in eine zunehmend digitalisierte Arbeitswelt den Menschen nicht aus den Augen verlieren. Die betriebliche Mitbestimmung durch Betriebsräte und Belegschaften ist dabei der wichtigste Aspekt. Die Gestaltung der digitalen Transformation muss immer die Beschäftigten als Subjekte in den Mittelpunkt stellen und sie von Anfang an in den Transformationsprozess einbeziehen. Nur so können die Potentiale der Digitalisierung zum Wohle aller genutzt werden.

Risiken der Digitalisierung ernstnehmen Obwohl die digitale Transformation das Potenzial birgt, das Wohlbefinden und die Produktivität der Arbeitnehmer:innen zu steigern, können wir nicht ignorieren, dass die Digitalisierung auch erhebliche Risiken und Herausforderungen mit sich bringt. Eines der drängendsten Probleme ist der potenzielle Verlust von Arbeitsplätzen durch Automatisierung. Viele Aufgaben quer durch alle Sektoren können zunehmend von Maschinen übernommen werden. Das disruptive Potenzial, das sich aus der rasanten Entwick-

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lung der künstlichen Intelligenz ergibt, wird massive Auswirkungen auf die Beschäftigung haben. Laut einer aktuellen Studie arbeiten 80 Prozent der Beschäftigten in den USA in Berufen, in denen mindestens eine Aufgabe durch generative KI schneller erledigt werden könnte. Die prognostizierten Auswirkungen erstrecken sich auf alle Lohnniveaus, wobei Arbeitsplätze in höheren Lohngruppen stärker von den Auswirkungen von Softwarekomponenten mit großen Sprachmodellen betroffen sein könnten. Der „Future of Jobs“ Report des Weltwirtschaftsforums kommt zu dem Schluss, dass sich die Arbeitswelt stark verändern wird und es weltweit zu einem Rückgang der Beschäftigung kommen wird. Insbesondere Tätigkeiten wie Kommunikation und Koordination werden in Zukunft voraussichtlich stärker automatisiert werden können. 50 % der befragten Unternehmen erwarten, dass dadurch Arbeitsplätze geschaffen werden und 25 % gehen davon aus, dass Arbeitsplätze verloren gehen. Was sich aber in vielen Branchen mit Sicherheit ändern wird, ist die Art der Arbeit. Viele Menschen werden künftig verstärkt KI-gestützte Prozesse steuern und KI-Ergebnisse überprüfen und nachbearbeiten. Ein weiteres ernstzunehmendes Risiko der Digitalisierung ist die zunehmende Kontrolle und Überwachung am Arbeitsplatz. Viele unserer digitalen Werkzeuge bieten erhebliches Potenzial, den/die gläserne/n Arbeitnehmer:in zu schaffen – dessen/deren Aktivitäten bis ins letzte Detail aufgezeichnet und protokolliert werden. Die rasante Entwicklung der Informationstechnologie hält immer mehr Einzug in den betrieblichen Alltag. Die eingesetzten Systeme sind oft komplex und intransparent, der Ausbau und die Weiterentwicklung schreiten rasant voran. Der Beschäftigtendatenschutz steht vor immer größeren Herausforderungen. In Österreich ist der Einsatz von Systemen, die die Menschenwürde berühren, zustimmungspflichtig. In Betrieben mit Betriebsrat ist darüber eine Betriebsvereinbarung abzuschließen. In Betrieben ohne Betriebsrat ist die Zustimmung der einzelnen Arbeitnehmer:innen einzuholen. Dies ist eine in der Praxis lang bewährte Methode, um den Interessensausgleich zwischen Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen zu gewährleisten. Die Digitalisierung führt auch zu einer Intensivierung der Arbeit. Die ständige Erreichbarkeit kann dazu führen, dass Freizeit und Arbeit verschwimmen und das Gefühl entsteht, ständig erreichbar sein zu müssen. Durch die Digitalisierung von Arbeitsprozessen steigt auch die Arbeitsdichte, d. h. es wird mehr in der gleichen Zeit produziert. Damit steigt auch das Stresspotenzial und damit die gesundheitliche Belastung. Ein weiterer Aspekt, den wir nicht aus dem Blick verlieren dürfen, ist der erhöhte Bedarf an Fachkräften und die Gefahr einer Marginalisierung von Arbeitnehmer:innen, die nicht über die notwendigen digitalen Kompetenzen verfügen. Die Gefahr einer zunehmenden „digitalen Kluft“, bei der einige wenige weiterhin von der technologischen Entwicklung profitieren, während andere zunehmend zurückbleiben. All diese Risiken erfordern erhöhte Wachsamkeit und eine umsichtige, proaktive Politikgestaltung. Wir müssen sicherstellen, dass die Digitalisierung der Arbeitswelt nicht zu Lasten der Arbeitnehmer:innen geht. Ein humanistischer Ansatz zur Digitalisierung kann uns helfen, diese Herausforderungen zu bewältigen und sicherzustellen, dass die Vorteile der Digitalisierung allen zugänglich sind.

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Chancen der Digitalisierung nützen Digitaler Humanismus hilft uns, Technologien zum Wohle des Menschen zu gestalten. Es geht also nicht nur darum, die Risiken zu minimieren, sondern auch darum, die Chancen der Digitalisierung zu erkennen und zu nutzen. Die Digitalisierung bietet die Chance, die Arbeitsbedingungen durch flexible Arbeitszeiten und Telearbeit zu verbessern. Die CoronaPandemie hat zu einer massiven Beschleunigung digitaler Technologien geführt. Videokonferenzsysteme, gemeinsame Dokumentenbearbeitung und Projektmanagement-Tools ermöglichen es vielen Beschäftigten, unabhängig von Ort und Zeit zu arbeiten. Dies erhöht potenziell die Autonomie der Arbeitnehmer:innen. Es bietet ihnen die Möglichkeit, ihre Arbeit nach ihren persönlichen Bedürfnissen und Lebensumständen zu gestalten. Dies kann in vielen Fällen zu einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und zu weniger Stress führen. Gerade Pendler:innen haben hierbei enorm von der Einsparung von Wegzeiten profitiert. Darüber hinaus haben digitale Technologien das Potenzial, die physischen und psychischen Belastungen der Arbeitnehmer:innen zu verringern. Dies kann durch die Automatisierung gefährlicher oder repetitiver Tätigkeiten erreicht werden. Dabei soll die Maschine den Menschen nicht ersetzen, sondern eine Unterstützung sein, die Tätigkeiten sicherer und erfüllender zu machen. Ein weiterer Aspekt des Potenzials digitaler Technologien ist die Förderung von Partizipation und Zusammenarbeit. Digitale Plattformen erleichtern kollaboratives Arbeiten für Arbeitnehmer:innen. Es wird einfacher, eigene Ideen und Vorschläge einzubringen und sich aktiv an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Die genannten Beispiele zeigen, dass Digitaler Humanismus einen proaktiven Ansatz zur Gestaltung der digitalen Arbeitswelt bietet. Die betriebliche Mitbestimmung durch Betriebsräte und Personalvertretungen ist ein wichtiger Faktor, um die Chancen der Digitalisierung im Betrieb für alle optimal zu nutzen. Es gilt, die technischen Möglichkeiten zu nutzen, um die menschlichen Fähigkeiten zu erweitern und gute, sichere und hochwertige Arbeitsplätze zu schaffen und somit das Potential aller Arbeitnehmer:innen zu entfalten. Als Gewerkschaft setzen wir uns dafür ein, dass technologischer Fortschritt immer auch sozialen Fortschritt mit sich bringt. Die Einbeziehung der Arbeitnehmer:innen ist dabei unerlässlich und entspricht dem Kerngedanken des Digitalen Humanismus.

Die Rolle der Gewerkschaft Der Digitale Humanismus bietet uns einen guten Rahmen, um diese Veränderungen so zu gestalten, dass sie den Interessen und Bedürfnissen der Menschen dienen. Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern ein Werkzeug zur Erweiterung menschlicher Fähigkeiten, zur Förderung menschlicher Werte und zur Verbesserung des menschlichen Wohlergehens. Wir als Gewerkschaften spielen in diesem Prozess eine entscheidende Rolle und werden konstruktiv dazu beitragen, die Vorteile der Digitalisierung zu maximieren und ihre Risiken zu minimieren. Wir stellen sicher, dass die Stimme der Arbeitnehmer:innen in Debatten und Entscheidungsprozessen gehört wird – sei es auf betrieblicher, nationaler

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oder europäischer Ebene. Wir liefern Expertise im Großen, in der Politik, wie im Kleineren, in den Betrieben. Wir gestalten den digitalen Wandel mit und tragen dazu bei, dass er im Einklang mit den Prinzipien des digitalen Humanismus erfolgt – zum Wohle der Beschäftigten und der gesamten Gesellschaft. Ein Garant hierfür ist eine funktionierende Sozialpartnerschaft. Ein zentrales Anliegen der Gewerkschaften im digitalen Zeitalter ist es, den digitalen Wandel fair und gerecht zu gestalten. Das bedeutet, sich dafür einzusetzen, dass die Beschäftigten an den Vorteilen der Digitalisierung teilhaben und Produktivitätsgewinne in Form von höheren Löhnen sowie Gehältern und Arbeitszeitverkürzungen an diejenigen weitergegeben werden, die diese Gewinne erarbeiten. Das Recht auf Privatsphäre endet nicht am Werkstor. Datenschutz ist ein Menschenrecht und gilt auch für die Beschäftigten in den Betrieben. Alle Maßnahmen, die die Menschenwürde verletzen, sind grundsätzlich verboten. Überwachungsmaßnahmen wie z. B. Videoüberwachung auf dem Betriebsgelände verletzen die Menschenwürde nicht, berühren sie aber. Sie dürfen in Betrieben mit Betriebsrat nicht ohne Betriebsvereinbarung eingeführt werden. Die Betriebsvereinbarung garantieren den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer:innen. Auch Leistungsaufzeichnungen durch Maschinen, die einen Rückschluss auf die Arbeitsleistung der an der Maschine tätigen Arbeitnehmer:innen ermöglichen, berühren die Menschenwürde. Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass niemand von der rasanten technologischen Entwicklung abgehängt wird. Die Anforderungen an digitale Kompetenzen werden immer wichtiger, um in einer zunehmend digitalen Arbeitswelt erfolgreich zu sein. Wenn der Digital Gap wächst, kann dies bedeuten, dass einige Arbeitnehmer:innen nicht über die notwendigen digitalen Fähigkeiten verfügen und daher Schwierigkeiten haben könnten, Arbeit zu finden oder ihre Arbeit zu behalten. Wir müssen sicherstellen, dass Arbeitnehmer:innen die Möglichkeit haben, sich am Arbeitsplatz weiterzubilden, um ihre digitalen Fähigkeiten zu verbessern. Viele Arbeitnehmer:innen im Niedriglohnsektor haben derzeit wenig oder gar keine Weiterbildungsmöglichkeiten. Hier besteht Handlungsbedarf. Gerade in Zeiten eines erhöhten Fachkräftebedarfs dürfen wir auf diese wichtigen Ressourcen nicht verzichten. Digitale Grundkompetenzen sind für die gesamte Bevölkerung gleichermaßen essentiell, da sie die Grundlage für ein erfolgreiches und sicheres Handeln in einer zunehmend digitalisierten Welt bilden.

Nur gemeinsam sind wir stark Diese Herausforderungen, denen wir uns in Europa stellen müssen, erfordern eine enge Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure. Umso erfreulicher ist es, dass sich die europäischen Sozialpartner bereits im Juni 2020 auf eine Rahmenvereinbarung zum Thema Digitalisierung einigen konnten. Es konnten in vier Themenbereichen offen Fragen geklärt und ein breiter Konsens gefunden werden: • Digitale Kompetenzen und Beschäftigungssicherung • Erreichbarkeit und Nicht-Erreichbarkeit

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• Künstliche Intelligenz und Garantie des menschlichen Kontrollprinzips • Achtung der Menschenwürde und Überwachung Eines der vereinbarten gemeinsamen Ziele ist es – im Sinne des Digitalen Humanismus – die Entwicklung eines auf den Menschen ausgerichteten Ansatzes für die Integration digitaler Technologien in die Arbeitswelt zu unterstützen, den Arbeitnehmer:innen Hilfe und Unterstützung zu bieten und die Produktivität zu steigern. Diese Rahmenvereinbarung ist die gemeinsame Verpflichtung der europäischen branchenübergreifenden Sozialpartner, im Sinne des digitalen Humanismus den Nutzen der Digitalisierung für die Arbeitswelt zu verbessern und sich den Herausforderungen der Digitalisierung zu stellen. Es liegt nun an den europäischen Sozialpartnern, die vereinbarten Ziele in die Praxis umzusetzen. Sie werden sich an der Umsetzung messen lassen müssen. Wir müssen gemeinsam einen Weg finden, die Digitalisierung der Arbeitswelt so zu gestalten, dass sie den Prinzipien des digitalen Humanismus entspricht. Das ist keine einfache Aufgabe. Es wird sicherlich Herausforderungen und Widerstände geben. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir uns dieser Aufgabe stellen müssen. Denn am Ende geht es nicht nur um Technologie oder Profit – es geht um den Menschen, seine Würde, seine Rechte und sein Wohlergehen. Es geht darum, eine Arbeitswelt zu gestalten, die dem Menschen dient und nicht umgekehrt. Und das ist eine Aufgabe, für die es sich zu engagieren lohnt.

Literatur 1. Eloundou, T., Manning, S., Mishkin, P., & Rock, D. (2023). GPTs are GPTs: An Early Look at the Labor Market Impact Potential of Large Language Models. https://doi.org/10.48550/ARXIV.2303.10130 2. World Economic Forum (2023). Future of Jobs Report 2023. Insight Report May 2023. https:// www3.weforum.org/docs/WEF_Future_of_Jobs_2023.pdf 3. European Social Partners Framework Agreement on Digitalisation (2020). https://www.etuc.org/ system/files/document/file2020–06/Final%2022 %2006 %2020_Agreement%20on%20Digitalisation%202020.pdf

Der Wiener Weg des Digitalen Humanismus Digitale Technologien sind nicht neutral, sondern spiegeln Werte, Normen und wirtschaftliche Interessen wider Michael Ludwig, Bürgermeister der Stadt Wien

Kurzfassung

Das Interview des Wiener Bürgermeisters Michael Ludwig mit Georg Krause beschäftigt sich mit der Verantwortung der Politik bei technologischen Umbrüchen und der Rolle der Stadt Wien als Wegbereiter des Konzepts des Digitalen Humanismus. In seinem Interview geht er darauf ein, mit welchen Maßnahmen es gelingen soll, dass Wien auf der Grundlage der Prinzipien des Digitalen Humanismus zur Digitalisierungshauptstadt wird. Zahlreiche Beispiele zeigen, wo die Stadt Wien bereits entsprechende Strategien und Maßnahmen entwickelt hat, und geben einen tiefen Einblick, wie es in Wien gelingt, dem Digitalen Humanismus Inhalt und Bedeutung zu geben, der für die Bevölkerung spürbar und erlebbar wird. Aus den Ausführungen wird auch verständlich, dass der Digitale Humanismus in Wien aus einer langen Tradition eines menschenorientierten Innovationsverständnisses entstanden ist.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 29 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_3

Fotocredit: Stadt Wien / PID / David Bohmann

„Ich möchte den Alltag der Menschen in Wien durch neue Technologien verbessern.“ Michael Ludwig, Bürgermeister der Stadt Wien

Fotocredit: msg Plaut

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich…. …den Alltag der Menschen mit der Unterstützung neuer Technologien zu verbessern. Unser wichtigster Erfolg bei den bisherigen Umsetzungsschritten in Richtung Digitaler Humanismus war… …, dass Digitaler Humanismus als eines der Leitprinzipien der Stadt Wien angesehen wird – national wie international. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird / bleibt, welcher wäre das? In der EU eine gemeinsame, eigenständigere Strategie festzulegen, die den Werten Europas stärker Rechnung trägt. Welches ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische / europäische Politik? Die Förderung der Entwicklung eigenständiger europäischer Technologien, die die Abhängigkeit von multinationalen Konzernen minimieren. Was ist die eine Sache, die uns in Wien am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Eine kohärente sowie innovative europäische Digitalpolitik. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Ein erfolgreiches Geschäftsmodell und der Mehrwert für Gesellschaft und Umwelt sind kein Widerspruch. Ganz im Gegenteil! Mein wichtigster (persönlicher) Beitrag als Bürgermeister zur Umsetzung der ethischen Prinzipien in Wien ist… … die Bereitstellung von Ressourcen und Mittel zur praktischen Umsetzung des Digitalen Humanismus in Wien. Und dass den Menschen mit ihren Anliegen zu jeder Zeit zugehört wird.

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Georg Krause: Überwiegen für Sie die Vorteile oder die Nachteile der Digitalisierung für die Menschen und die Stadtverwaltung in Wien? Michael Ludwig: Digitale Technologien sind Thema zahlreicher Debatten – zuletzt oft verbunden mit dem Gefühl, es könnte etwas außer Kontrolle geraten. Man denke an die Diskussionen über die Gefährdung der Demokratie (Filterblasen, Einsatz von Bots in Wahlkämpfen…) oder aktuell zur Entwicklung der generativen Künstlichen Intelligenz wie ChatGPT. Gleichzeitig sind die Errungenschaften der Digitaltechnologien nicht mehr wegzudenken: Kommunikation, Ticketing, Digitale Amtswege, digitale Gesundheitsangebote und auch Unterstützungsleistungen der Stadt Wien wie die Energiekostenunterstützung sind ohne die enorme Effizienz digitaler Technologien nicht bewältigbar. Das mobile Arbeiten, die Kommunikation über Videokonferenzen oder das Nutzen von QRCodes zur schnelleren Datenverarbeitung sind nach Corona nicht mehr wegzudenken. Es gibt also ein ambivalentes Verhältnis zu digitalen Technologien: Sie nutzen uns im Alltag enorm, aber sie werden auch als Bedrohung unserer Lebensformen wahrgenommen. Diese Ambivalenz technologischer Entwicklungen ist nicht neu.

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Bedeutet das also, dass technologischer Fortschritt eine wesentliche Basis für Wohlstand und Fortschritt ist, aber eben auch Schattenseiten hat? Ja, genau. Trotz aller Herausforderungen und Probleme, die aktuell auch durch die hohe Inflation verschärft werden, leben wir in Österreich im Wohlstand. Dass dieser nicht immer gerecht verteilt ist, ist eine andere – notwendige – Debatte. Unser Wohlstand ist das Ergebnis der enormen Produktivitätssteigerungen der Volkswirtschaften durch den technologischen Fortschritt der Vergangenheit (vgl. hierzu und zum Folgenden: Himpele 2022). Es wurde möglich, mit immer geringerem Arbeitseinsatz einen immer höheren Output zu erzeugen, also Güter und Dienstleistungen für die Menschen bereitzustellen. Die Entwicklungen der Technologie und die damit verbundenen Modernisierungen der Volkswirtschaften sind dabei auch historisch nicht gleichmäßig verlaufen, sondern haben zu erheblichen Umbrüchen der Gesellschaften geführt. Man denke an die Mechanisierung ab Mitte des 18. Jahrhunderts: Durch Erfindungen konnte menschliche Handarbeit etwa im Textilgewerbe durch Maschinen unterstützt oder ersetzt werden. Oder an die Verwendung elektrischer Energie gegen Ende des 19. Jahrhunderts etwa zur Beleuchtung durch Glühbirnen. Heute sind es die digitalen Technologien, die eine enorme und sich beschleunigende Bedeutung haben. Die Ausrollung der Technologien verlief dabei selten friktionsfrei – erinnert sei an den enormen Pauperismus in Folge der industriellen Revolution, die zu erheblichen gesellschaftlichen Verwerfungen und Herausforderungen geführt hat (vgl. Brait / Theurl 2018). Erst die massiven politischen Auseinandersetzungen

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und Interventionen über den Umgang mit den Folgen dieser Veränderungen haben die Technologien tatsächlich zur Basis eines breiten, gesellschaftlichen Wohlstandes gemacht.

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Das bedeutet also, dass in Umbruchphasen, wenn neue Technologien aufkommen, die Politik in hohem Maße gefordert ist, die Schattenseiten dieser Technologien einzudämmen? Jedenfalls. Als Sozialdemokrat ist mir sehr bewusst, dass die Gründung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften eine Antwort war auf die Verwerfungen und den Pauperismus der industriellen Revolution. Diese Antwort war notwendig, um den technologischen Fortschritt tatsächlich in einen Fortschritt für die Menschen zu übersetzen. Auch andere Institutionen – genannt sei bspw. die katholische Kirche und die Sozial-Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII – beteiligten sich an den Debatten. Der moderne Sozialstaat ist letztlich die Antwort auf die enormen sozialen Umbrüche des 19. Jahrhunderts – und auch die Geschichte des „Roten Wien“ lässt sich ohne Industrialisierung nicht erzählen (vgl. Bauer / Himpele 2019; Stadt Wien 2019a; Weigl 2000). Die Einhegung des technologischen Wandels in der industriellen Revolution war die Geburtsstunde der Arbeiterbewegungen – und ihr Selbstbewusstsein nennt Lotter (2020, 181) ein „echtes Vorbild“. So wurden soziale Sicherungssysteme erkämpft, Arbeit reguliert (Arbeitszeit, Arbeitsschutz, Arbeitsplatzsicherheit) und die Gewinne der technologischen Entwicklung durch Lohnkämpfe gerechter verteilt.

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Das gilt also sinngemäß auch für die digitalen Technologien? Ja, weil auch die digitalen Technologien nicht neutral sind, sondern eine ordnende Kraft haben. Sie sind von den handelnden Menschen geprägt und spiegeln deren Werte, Normen und wirtschaftliche Interessen wider. Die Art und Weise wie Technologien entwickelt werden, kann einen erheblichen Einfluss auf unser Leben haben. Nichtsdestotrotz müssen wir uns stets bewusst sein, dass viele der in unserer globalisierten Welt entstandenen Innovationen nicht top-down entwickelt wurden – sondern oft beinahe evolutionär entstanden sind oder – wie Adrian Daub in seinem Buch über das Gedankengut des Silicon Valleys darlegt – von eng kodifizierten Marketingstrategien, die sich als Philosophien verkleiden, motiviert wurden. Die Antwort der Sozialdemokratie auf den technologischen Fortschritt hat sich über die Jahrhunderte nicht geändert: Wir wollen die Technologien nutzen, um das Leben für die Menschen einfacher und besser zu machen. Das gilt explizit auch für die Künstliche Intelligenz, die derzeit auf Grund der enormen Entwicklungssprünge in aller Munde ist. Gleichzeitig wissen wir, dass es Regeln braucht –

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europäische Regeln, nationale und auch lokale – um die Digitalisierung zu gestalten. Diesen Gestaltungsanspruch der Politik nehmen wir in Wien sehr ernst, weil er die Basis unseres friedlichen und gedeihlichen Zusammenlebens ist.

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Gibt es dafür in Wien Beispiele, wo Sie diesen Gestaltungsanspruch auch bereits umgesetzt haben. Wir haben beispielsweise Regelungen für die Nächtigungsplattformen schon sehr früh getroffen und schaffen jetzt Regeln für die Mikromobilität. In Wien folgen wir bei der Gestaltung der Digitalisierung dem Weg des Digitalen Humanismus. Wie im Wiener Manifest zum Digitalen Humanismus von 2019 festgehalten, wollen wir in Wien “[…] Technologien nach menschlichen Werten und Bedürfnissen formen, anstatt nur zuzulassen, dass Technologien Menschen formen“ (Werthner et al., 2019). Sich dem Digitalen Humanismus verpflichten heißt, dass wir uns in Wien aktiv und kritisch mit der Frage nach unserer menschlichen Existenz in der neuen veränderten digitalen Gesellschaft auseinandersetzen und bewusst Wege einschlagen, um gesellschaftliche Veränderungsprozesse nach unseren Werten zu gestalten. Digitaler Humanismus bedeutet für uns auch, dass wir Technologien verstehen und bei eigenen Entwicklungen oder beim Einsatz beschaffener Technologien immer wieder einen bewussten und den menschlichen Bedürfnissen erfüllenden Ansatz verfolgen.

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Eine der großen Sorgen im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen ist der Verlust von Arbeitsplätzen…. Die Digitalisierung ist mit Sicherheit eine der größten gesellschaftlichen Veränderungen der Gegenwart – neben dem Klimawandel, der Klimawandelanpassung und den demografischen Entwicklungen. Dazu gehört auch die Debatte um die Zukunft der Arbeit. Bis vor wenigen Monaten wurde hierbei die These vertreten, die Arbeit könne uns ausgehen. Derzeit wird umgekehrt vom gewaltigen Fachkräftebedarf der kommenden Jahre gesprochen – auch für die Stadt Wien ein zentrales Thema, bei dem produktivitätssteigernde Technologien ein Teil der Antwort sein können. Die Debatte um die Auswirkungen des technologischen Fortschritts auf die Arbeit ist dabei keinesfalls neu. Der britische Ökonom John Maynard Keynes bspw. war davon überzeugt, dass das „wirtschaftliche Problem – wenn wir in die Zukunft sehen – nicht das beständige Problem der Menschheit ist“ (Keynes 1930). Keynes ging davon aus, dass der technologisch getriebene Produktivitätsfortschritt das wirtschaftliche Problem lösen kann und er hat dieses Mehr an Wohlstand begrüßt. Diese Chancen auf ein Mehr an Wohlstand gilt es auch heute zu nutzen (Androsch 2021,

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50 ff.), denn die Steigerung der Arbeitsproduktivität bedeutet, dass mit gleicher Arbeit mehr an Wert erzeugt werden kann. Produktivitätssteigerungen lassen sich in höheres Einkommen oder in mehr Freizeit übersetzen – beides historische Errungenschaften von Gewerkschaften und Sozialdemokratie.

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…und die Dominanz der großen Plattformen und Technologiekonzerne… Die Digitalisierung hat und wird unser Leben auch an anderen Stellen erheblich verändern. Der Einfluss der digitalen Medien auf den öffentlichen Diskurs, die Marktdominanz bestimmter Plattformbetreiber und großer Technologiekonzerne sind nur eine Auswahl der vielen Herausforderungen. Viele dieser Fragen werden dabei auf Ebene der EU verhandelt – etwa Datenschutz und „Überwachungskapitalismus“ (Zuboff 2018), die Cybersicherheit (Wolfangel 2022) und die Probleme mit den sozialen Netzwerken wie „Hass im Netz“ (vgl. Pörksen 2018; Schrems 2014; Brodnig 2016; 2018). Vieles davon ist auf supranationaler – europäischer – Ebene zu lösen. Hier bringt sich Wien aktiv ein, so waren etwa Abgeordnete des Wiener Gemeinderats Berichterstatter zum Thema „Collaborative Economy“ im Ausschuss der Regionen der EU. Ihnen ist es gelungen, einen einstimmigen Beschluss – über Städte, Regionen und Parteifamilien hinweg – zu erwirken (European Committee of the Regions 2019), der auch Einfluss auf den gerade beschlossenen Digital Services Act genommen hat. Mit diesem Digital Services Act, der 2024 in Kraft treten wird, erfolgt eine weitere institutionelle Einhegung der Digitalökonomie. Auslöser für die starken Aktivitäten Wiens in dieser Debatte war die Plattformökonomie: Wir konnten letztlich eine Vermietung von Gemeindewohnungen über Plattformen abstellen. Auch künftig wollen wir gesellschaftliche Veränderungen in Wien aktiv gestalten. Innovation muss dabei nützlich sein, sie muss das Leben der Menschen verbessern (ausführlich bei Lotter 2018). Oder – in Anlehnung an Julian NidaRümelin (2022): Es muss die menschliche Autorenschaft über unser Leben erhalten bleiben. Genau das meinen wir, wenn wir uns im Regierungsübereinkommen1 der Fortschrittskoalition aus SPÖ und NEOS dem Digitalen Humanismus verpflichten.

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Das heißt Technikfolgenabschätzung ist auch in der digitalen Transformation ein zentrales Thema, dem man mehr Aufmerksamkeit widmen muss? Digitale Technologien sind bereits vor Jahrzehnten entstanden und in vielen Formen auch schon seit Jahrzehnten massenhaft im Einsatz – etwa als Personal Computer (PC). Ebenso lange gibt es die Auseinandersetzung mit den Kon-

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https://www.wien.gv.at/regierungsabkommen2020/

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sequenzen der Digitaltechnologien. Diskussionen um die gesellschaftlichen Rückwirkungen der Computerisierung finden sich bereits Ende der 1960er-Jahre: Arthur Miller (1969: 54, auch 1967; ähnlich: Mumford 1967) vermutete, dass die positiven Effekte der Computer den Blick auf ihre negativen Folgen verstellten: Früher sei eine Anhäufung personenbezogener Daten schlicht unmöglich gewesen, nun aber wachse das individuelle Datendossier kontinuierlich an. „Thus, success or failure in life ultimately may turn on what other people decide to put in an individual’s file and the programmer’s ability, or inability, to evaluate, process, and interrelate information. “ Aus diesen Debatten entwickelten sich zahlreiche Regelungen zum Datenschutz, die in der EU mit der DatenschutzGrundverordnung vor fünf Jahren ihre derzeitige Kodifizierung fanden. Auch hier wurden die Risiken also erkannt – und regulatorisch eingehegt. Insgesamt entstand vor rund fünfzig Jahren immer mehr das Gefühl, die Folgen neuer Technologien nicht immer vernünftig abschätzen zu können. Insbesondere die Gesetzgebung hatte daher das Problem, Informationen zu erheben, die solche Einschätzungen ermöglichten. Als Konsequenz daraus kam es zu einer Institutionalisierung der Technikfolgenabschätzung, in den USA wurde 1972 die Etablierung eines Office of Technological Assessment beschlossen – welches bis 1995 tätig war (vgl. Grunwald 2022, S. 61 ff.). In Österreich folgte 1987 das Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA), welche heute in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften beheimatet ist. Technikfolgenabschätzung war und ist dabei nicht auf Digitalisierung begrenzt (man denke an Debatten der Energieerzeugung oder der Biowissenschaften), ihre Methoden lassen aber einen systematischen Zugang zu Nutzen und Risiken von Technologien zu. Also etwa den Risiken von schweren Unfällen, den Folgen eines Ausfalls der Technologie, dem Beleuchten von Abhängigkeiten, der Betrachtung gesellschaftlicher und kultureller Verschiebungen usw. (hierzu: Grunwald 2022). Der Zweck dieser Übung besteht darin, Technologien so einzusetzen, dass sie den maximalen Nutzen für die Bevölkerung erbringen können. Es geht also nicht um Technikverhinderung oder gar Technikfeindlichkeit, sondern es geht um Technikgestaltung und um den Einsatz der richtigen technologischen Lösungen für menschliche und gesellschaftliche Anforderungen. So verstehen wir in Wien auch den Digitalen Humanismus.

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Können Sie uns bitte etwas näher ausführen, wie es in Wien gelingt den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen? Die Smart Klima City Strategie der Stadt Wien (2022a) beschreibt ein Zieldreieck, an dem sich die Wiener Stadtpolitik orientiert: Lebensqualität für alle Wienerinnen und Wiener bei gleichzeitiger Schonung der Ressourcen. Und das geht nur durch Innovation. Damit wird der Anspruch formuliert, technologische Innova-

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tionen gezielt zu nutzen, um das Leben der Menschen in Wien zu verbessern. In einer Gegenüberstellung der damals (2018) gültigen Smart-City-Strategien der Städte Wien, Berlin und Barcelona stellen die Autor*innen fest, dass den digitalen Technologien in Wien „relativ wenig Aufmerksamkeit“ gewidmet wird (Exner et al. 2018, 337). Die Wiener Strategie sei „thematisch umfassend, komplex und kohärent“ (ebd.). Die oft thematisierte Technologiedominanz (dazu bspw. Kropp 2018) findet sich in der Wiener Strategie nicht. Und das ist kein Zufall, denn unser Ziel ist nicht, möglichst viel Technologie, sondern eine möglichst hohe Lebensqualität für alle Wienerinnen und Wiener. Das bedeutet explizit auch: Schonung unserer natürlichen Ressourcen (vgl. Stampfer 2022). Genau dafür wollen wir auch die Digitalisierung nutzen, und die spannenden Debatten um die Künstliche Intelligenz bestätigen mich darin: Technologie ist kein Selbstzweck, aber Technologien sind – richtig eingesetzt – wunderbare Instrumente zur Verbesserung unserer Lebensqualität. „Digitalisierungshauptstadt“ – um das von mir formulierte Ziel noch einmal zu nennen – ist also jede Stadt, die digitale Tools für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen nutzt und moderne Technologien auch tatsächlich einsetzt. Dieser eben beschriebene Zugang macht auch klar, warum Wien für den Digitalen Humanismus prädestiniert ist. Die Stadt Wien hat in verschiedensten Bereichen wegweisende gestalterische Maßnahmen ergriffen, immer mit dem Ziel eines besseren Lebens für die Vielen: Ob sozialer Wohnbau, die Durchsetzung von Arbeiter*innenrechten, die Förderung von Bildung und lebenslangem Lernen oder die stetige Investition in die Infrastruktur und somit Lebensqualität der Bewohner*innen dieser Stadt: Wien war hier kontinuierlich um Verbesserungen und Weiterentwicklungen bemüht. Die Stadt kann sich zurecht als lebenswerteste Stadt der Welt bezeichnen. Inklusion, Diversität, Selbstbestimmung, Gemeinwesen und Solidarität prägen die Daseinsvorsorge und das gesellschaftliche Zusammenleben in dieser Stadt – das alles hat in Wien Tradition. Genau dort schließen wir mit der Debatte an. Bereits 2019 hat die Stadt „Akteure, Instrumente und Themen für eine Digital Humanism Initiative in Wien“ analysiert (Strassnig et al 2019). Bereits damals war klar: Wien ist Heimat zahlreicher Initiativen, die auf der DNA Wiens aufbauen, und es muss uns gelingen, das weiter zu stärken. Exemplarisch genannt seien: Die NGO „NOYB“ (None of your business) von Max Schrems zur Durchsetzung von Datenschutzgesetzen insbesondere gegenüber multinationalen Konzernen wurde in Wien gegründet und hat hier ihren Sitz (Der Standard 2017). Im Zusammenhang mit Regeln zum Umgang mit Künstlicher Intelligenz hat das Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) mit Sitz in New York (und Europasitz in Wien) einen Standard – IEEE 7.000 – herausgegeben. Mit Sarah Spiekermann-Hoff war eine Wissenschaftlerin der WU Wien hier in führender Verantwortung tätig.

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Mit dem bereits zitierten „Vienna Manifesto on Digital Humanism“, das federführend an der TU Wien entwickelt wurde, gibt es ein international beachtetes Dokument zu diesem Thema aus Wien. Zudem hat Wien die Werte in der IT schon länger verankert, etwa in der Digitalen Agenda (Stadt Wien 2019c). Hierin sind als Leitmotive Offenheit, Transparenz und Partizipation, Vertrauen und Sicherheit, Altersgerechtigkeit, Barrierefreiheit und Digitale Gleichheit, Gendergerechtigkeit, Unabhängigkeit, Eigenständigkeit, Bürger*innenorientierung, die Stärkung des Wirtschaftsstandorts, Ressourcenschonung, die Konsolidierung und Innovation sowie Flexibilität und Lernen genannt. Wenn Wien sich also nun dem Digitalen Humanismus verschreibt, dann tut es dies aus einer langen Tradition heraus, Innovationen und Neuerungen in den Dienst der Menschen zu stellen.

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Dass Ihnen der Digitale Humanismus ein echtes Anliegen ist, kann man unter anderem darin sehen, dass Sie bzw. die Stadt Wien vor wenigen Monaten eine Broschüre „Digitaler Humanismus in Wien“ herausgegeben haben, mit dem Ziel den Begriff mit Inhalt und Bedeutung zu füllen und zu zeigen, wie er in der Praxis gelebt werden kann. Können Sie uns einige Beispiele nennen, wo das bereits gelungen ist? Wien hat den Anspruch formuliert, Digitalisierungshauptstadt zu werden und sich dabei an den Werten des Digitalen Humanismus zu orientieren. Dafür sind bereits zahlreiche Aktivitäten gesetzt worden, die hier nur kursorisch angeführt werden können. Es soll jedoch verdeutlich werden: Wir kennen die Handlungsfelder, und wir sind aktiv – genannt wurden schon die Regulierungen der Plattformökonomie und die Studie zu den Akteuren in Wien. Der Digitale Humanismus ist ein junges Betätigungsfeld, weshalb Wirtschaft und Wissenschaft in diesem Feld unterstützt werden sollen. Denn Wien als Standort des Digitalen Humanismus heißt vor allem auch, entsprechende Betriebe und Wissenschaftler*innen in Wien zu haben. Deshalb hat unsere Kultur- und Wissenschaftsabteilung bereits 2019 einen ersten Förder-Call durchgeführt, auch der Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds WWTF unterstützt Projekte des Digitalen Humanismus. Die neueste Errungenschaft ist die Unterstützung und Förderung eines Doktoratskollegs ab Herbst 2024 mit 5 Millionen Euro. Zudem wird es einen weiteren Projekt-Call des WWTF mit 3,5 Millionen Euro geben. Damit wird auch die Kooperation zwischen den Hochschulen und der Stadt Wien intensiviert, wie es in unserem Hochschulabkommen vorgesehen ist (Stadt Wien 2019b). Hervorzuheben ist auch der erste gemeinsame Förder-Call von Wirtschaftsagentur Wien und WWTF zur Förderung von „Roadmaps Digitaler Humanismus“. Hier

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sind Konsortien aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft unterstützt worden, die Roadmaps entwickeln wollen, um den Digitalen Humanismus in ihrem eigenen Wirkungsbereich sicherzustellen. Ein wichtiger Aspekt des Digitalen Humanismus ist die Partizipation und Teilhabe der Bevölkerung. Wir wollen daher digitale Technologien, aber auch bewährte analoge Instrumente nutzen, um einerseits die partnerschaftliche Entwicklung kreativer und innovativer Lösungen für unsere Stadt zu ermöglichen und andererseits den gesellschaftlichen Diskurs über digitalpolitische Fragen zu fördern. Hierzu wurde vor wenigen Monaten mitgestalten.wien.gv.at gestartet – und bspw. die Wiener Klimateams darüber abgewickelt, die gerade mit dem österreichischen Verwaltungspreis ausgezeichnet worden sind. Das Inklusionsprinzip ist ein zentrales Anliegen bei der Entwicklung und Bereitstellung barrierefreier digitaler Services. Transparenz ist ein wesentliches Element des digitalen Humanismus, „Daten sind die neue Macht“ (Reichl / Welzer 2020, 47) und sollen entsprechend transparent behandelt werden. Transparency International hat Wien als transparenteste Stadt Österreichs ausgezeichnet. Das ist vermutlich auch durch den Einsatz digitaler Technologien gelungen: Wien hat als erste Stadt im deutschen Sprachraum ein Open Government Data Portal implementiert – und 2021 das zehnjährige Bestehen gefeiert. Die Digitalisierung hat relevanten Auswirkungen auf unsere Gesellschaft – sie muss daher auch von der gesamten Gesellschaft mitgestaltet werden. Der geringe Frauenanteil im Bereich der Digitalisierungsdebatten ist daher nicht hinzunehmen. Um die Gleichstellung zu fördern, hat Wien seit Jahrzehnten Aktivitäten gesetzt. Im Bereich IT ist, der mit 10.000 Euro dotierten und jährlich vergebenen Hedy Lamarr Preis der Stadt Wien zu nennen, ebenso die jährlich durchgeführten Girls Hackathons, die FemPower-Calls der Wirtschaftsagentur und die Runden Tische „Frauen in der IT“. Gerade in diesem Bereich ist noch sehr viel zu tun! Cybergewalt ist ein ernstes und wichtiges Thema. Denn mit Entstehung des Internets haben sich auch Straftaten dorthin verlagert, man denke an Cybermobbing, Cyberstalking, Erpressung, aber auch Viren, Datendiebstahl und Betrug. Cyberangriffe werden laut dem World Economic Forum binnen zehn Jahren zum zweitgrößten Risiko (nach Finanzkrisen) für die Wirtschaft (vgl. Androsch 2021, 84). Die zentrale Eigenschaft des Internets – und damit auch der Verbrechen im Internet – ist die Orts- und Zeitunabhängigkeit. Die Stadt Wien nimmt sich dieses Themas an und hat 2020 eine Kompetenzstelle „Cybergewalt gegen Frauen“ gestartet. Die IT-Sicherheitsspezialist*innen der Stadt Wien arbeiten dazu eng mit dem 24-Stunden Frauennotruf und den Wiener Frauenhäusern zusammen. Zudem gibt es seit 2022 die Cybercrime Helpline. Personen, die Opfer von Internet-Kriminalität geworden sind, bekommen kostenlos erste Informationen und Handlungsempfehlungen.

Der Wiener Weg

Bildung in Wien soll jedem Menschen eine bestmögliche Entfaltung ermöglichen. Eine entsprechende digitale Infrastruktur ist dabei zentral. Die Stadt Wien hat über 100 Millionen Euro bewilligt, um Schulen und Kindergärten entsprechend auszustatten und so moderne Formen des Lernens zu ermöglichen. Damit wurden enorme Investitionen getätigt, die jedoch notwendig sind, um die Digitalisierung allen Personengruppen zugänglich zu machen. Hier sind wir noch nicht am Ende, aber einiges wurde erreicht. Mit einem zentralen Einstiegspunkt für Bürgerinnen und Bürger, die ein Anliegen an die Stadt Wien haben, sollen Kontakte erleichtert und Verfahren vereinfacht werden. Mein.Wien und die Stadt Wien App stehen dazu bereit und werden kontinuierlich ausgebaut. Auch im Gesundheitsbereich spielt die Digitalisierung eine zunehmende Rolle – hier werden wir die nächsten Schritte setzen müssen. Die Erhaltung der Privatsphäre und des Datenschutzes sind zentrale Werte des Digitalen Humanismus und legen gemeinsam mit der Selbstbestimmungsfreiheit des Einzelnen die Grundsteine unserer demokratischen Öffentlichkeit fest (siehe auch Prem et al. 2022). Um diese Werte in unser verstärkt auf Daten basierendes Informationsumfeld einzubetten, kooperiert die Stadt Wien mit Expert*innen, um Technologien, Architekturen und Konzepte zu entwickeln, die unseren Ansprüchen nach Selbstbestimmung und Privatsphäre mit der Erwartung nach Personalisierung und Serviceorientierung im Einklang bringen. Schließlich kommunizieren wir die zentralen Werte des Digitalen Humanismus breit, durch Veranstaltungen etwa der Wienbibliothek oder des Digitalen Salons und eine eigene Broschüre zum Digitalen Humanismus (Stadt Wien 2022b).

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Können Sie uns zum Abschluss bitte noch einen Ausblick geben, wo sehen Sie die großen Herausforderungen und Handlungsfelder in der Zukunft? Die Lebensqualität für alle Wienerinnen und Wiener ist ein guter Maßstab für eine gelungene Gestaltung der Stadt. Gerade aktuell sind wir in einer Phase, in der zahlreiche Herausforderungen gleichzeitig einer Lösung zugeführt werden müssen. Wir hatten eine Pandemie zu bewältigen und haben das in Wien gemeinsam gut gemeistert. Die Frage der Energieversorgung ist auch in den nächsten Wintern aktuell. Über allem steht das Riesenthema des Klimawandels: Es ist unsere Aufgabe, Städte wie Wien lebenswert zu halten, indem wir massiv dekarbonisieren und die Stadt grüner machen. Und wir haben die enormen Veränderungen durch die Digitalisierung zu gestalten. Dieser Beitrag sollte einen Einblick in unsere Denk- und Arbeitsweise geben und dabei deutlich machen: Wir stellen uns diesen Themen. Nutzen wir die wunderbaren Möglichkeiten der Technologien – und lassen wir dabei niemanden zurück. Eine große Herausforderung in Wien wird genau das sein: All jene mitzunehmen, die digitale Technologien nicht nutzen können oder nicht nutzen wollen. Einer-

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seits geht es hier um die Einfachheit der Bedienbarkeit der Angebote der Stadt Wien, andererseits um Bildungsangebote, wie sie beispielsweise durch den WAFF und die Volkshochschulen bereits heute angeboten werden. Es muss aber auch die Frage beantwortet werden, wie wir Orte und Anlaufstellen künftig gestalten werden, damit Menschen sich mit ihren Problemen und Herausforderungen an die Stadt wenden können und ihnen dort auch bei digitalen Antragsstellungen geholfen werden kann. Auch diese Frage werden wir in Wien lösen – denn wir wollen und werden die Digitalisierung gestalten. Im Kern des Digitalen Humanismus steht eine grundlegend optimistische Haltung – nämlich jene, dass wir gemeinsam als Gesellschaft die Fähigkeit haben unsere Zukunft nach unseren Idealen zu gestalten. Von Wien werden wir diesen Aufruf zur Gestaltung von Technologien nach den Prinzipien der Grund- und Menschenrechte mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen und unseren Teil beitragen, damit dieser Diskurs Früchte über die Grenzen von Österreich hinaustragen kann.

Literatur 1. Androsch, Hannes (2021): Digitalisierung verstehen. Was wir über Arbeit, Bildung und die Gesellschaft der Zukunft wissen müssen, Wien. 2. Bauer, Ramon / Himpele, Klemens (2019): Auf dem Weg zurück zur Zwei-Millionen-Stadt – die Entwicklung der Wiener Bevölkerung. Teil 1: Eine Metropole entsteht (1850–1910), Blogpost: https://wien1x1.at/site/bev-entwicklung-1/ (05. 06. 2023) 3. Brait, Romana / Theurl, Simon (2018): Über Mühlen, Fabriken und Maschinenstürmer. Technologischer Wandel als umkämpfter Prozess, in: BEIGEWUM (Hrsg.): Umkämpfte Technologien. Arbeit im digitalen Wandel, Hamburg, S. 14–24. 4. Brodnig, Ingrid (2016): Hass im Netz. Was wir gegen Hetze, Mobbing und Lügen tun können, Wien. 5. Brodnig, Ingrid (2018): Lügen im Netz. Wie Fake News, Populisten und unkontrollierte Technik uns manipulieren. Zweite, überarbeitete Auflage, Wien. 6. Daub Adrian (2020): Was das Valley denken nennt: Über die Ideologie der Techbranche, Berlin. 7. Der Standard (28. 11. 2017): Max Schrems gründete in Wien Datenschutz-NGO NOYB, https:// www.derstandard.at/story/2000068634361/max-schrems-gruendete-in-wien-datenschutz-ngonoyb (05. 06. 2023) 8. European Committee of the Regions (2019): A European framework for regulatory responses to the collaborative economy, ECON-VI/048, Brüssel. 9. Exner, Andreas / Cepoiu, Livia / Weinzierl, Carla (2018): Smart City Policies in Wien, Berlin und Barcelona, in: Bauriedls, Sybille / Strüver, Anke (Hg.): Smart City. Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten, Bielefeld, S. 333–344. 10. Grunwald, Armin (2022): Technikfolgenabschätzung. Einführung, 3. Auflage, Baden-Baden. 11. Himpele, Klemens (2022): Den technologischen Wandel gestalten. Die Verbesserung der Lebensbedingungen als zentrale Prämisse, in: Kaiser, Elisabeth / Schober, Marcus (Hg.): Digitale Wohlstandsgesellschaft. Der Weg in eine digitalisierte Zukunft, Wien, S. 58–71. 12. Keynes, John Maynard (1930): „Über die wirtschaftlichen Möglichkeiten für unsere Enkelkinder“, in: Norbert Reuter 2007: Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität. Wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen Gestern und Morgen. Mit Texten zum Thema von John Maynard Keynes und Wassily W. Leontief, 2., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage, Marburg.

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13. Kropp, Cordula (2018): Rationalität, Einfluss und Legitimation von Algorithmen, in: Bauriedls, Sybille / Strüver, Anke (Hg.): Smart City. Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten, Bielefeld, S. 33–42. 14. Lotter, Wolf (2018): Innovation. Streitschrift für barrierefreies Denken, Hamburg. 15. Lotter, Wolf (2020): Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen, Hamburg. 16. Miller, Arthur R. (1969). Personal Privacy in the Computer Age: The Challenge of a New Technology in an Information-Oriented Society. Michigan Law Review, 67(6), 1089–1246. 17. Miller, Arthur R. (1967): The National Data Center and Personal Privacy. In: The Atlantic 11 / 1967, S. 53–57 18. Mumford, Lewis (1967): The Myth of the Machine. Technics and Human Development. Vol. 1. New York 19. Nida-Rümelin, Julian (2022): Demokratietheoretische Implikationen des digitalen Humanismus, in: Bogner, Alexander / Decker, Michael / Nentwich, Michael / Scherz, Constanze (Hg): Digitalisierung und die Zukunft der Demokratie. Beiträge aus der Technikfolgenabschätzung, Baden-Baden, S. 23–32. 20. Pörksen, Bernhard (2018): Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München. 21. Prem, Erich / Hardman, Lynda / Werthner, Hannes / Timmers , Pauls (Hg., 2022). Research, innovation, and education roadmap for digital humanism. The Digital Humanism Initiative. Wien 22. Reichl, Peter / Welzer, Harald (2020): Achilles und die digitale Schildkröte. Thesen zu einer digitalen Ökologie, in: Hengstschläger, Markus (Hrsg.): Digitaler Wandel und Ethik, Wals bei Salzburg, S. 38–61. 23. Schrems, Max (2014): Kämpf um Deine Daten, Wien. 24. Stadt Wien (2019a): Das Rote Wien in Zahlen, Textband. Wien. 25. Stadt Wien (2019b): Kooperationsabkommen zum Hochschulstandort Wien, Wien. 26. Stadt Wien (2019c): Digitale Agenda Wien 2025. Wien wird Digitalisierungshauptstadt, Wien. 27. Stadt Wien (2022a): Smart Klima Strategie Wien. Der Weg zur Klimamusterstadt, Wien. 28. Stadt Wien (2022b): Digitaler Humanismus in Wien, Wien. 29. Stampfer, Michael (2022). Why Don’t You Do Something to Help Me? Digital Humanism: A Call for Cities to Act. In: Werthner, Hannes / Prem, Erich / Lee, Edward A. / Ghezzi, Carlos (Hg.) Perspectives on Digital Humanism, Cham, S. 257–262. 30. Strassnig, Michael / Mayer, Katja / Stampfer, Michael / Zingerle, Simon (2019): Akteure, Instrumente und Themen für eine Digital Humanism Initiative in Wien, Studie im Auftrag der Stadt Wien – Magistratsabteilung 23, Wien. 31. Weigl, Andreas (2000). Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien. 32. Werthner, Hannes et al. (2019): Vienna Manifesto on Digital Humanism, https://dighum.ec.tuwien. ac.at/dighum-manifesto/ (01. 06. 2023) 33. Wolfangel, Eva (2022): ein falscher Klick. Hackern auf der Spur: Warum der Cyberkrieg uns alle betrifft, München. 34. Zuboff, Shoshana (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Frankfurt am Main/New York.

Humanistisch durch Innovationen Eine humanistische Digitalisierung Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung

Kurzfassung

Christoph Neumayer von der Industriellenvereinigung teilt geschichtliche und weltpolitische Hintergründe und ordnet diese im aktuellen Kontext – mit Blick in die Zukunft – ein. Entgegen früheren Befürchtungen hat Digitalisierung keine Massenarbeitslosigkeit verursacht, sondern gezeigt, dass Länder mit hoher Digitalisierung innovativ und wirtschaftlich erfolgreich sind. Technologische Revolutionen haben historisch betrachtet mehr Arbeitsplätze geschaffen, doch dazu braucht es qualitativ hochwertige Bildung, um Arbeitsplätze zu sichern. Christoph Neumayer zeigt unterschiedliche Sichtweisen und gibt Denkanstöße zum notwendigen Regelwerk rund um das Thema Künstliche Intelligenz sowie der Bedeutung von Innovationen für Wirtschaft und Gesellschaft.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 45 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_4

„Ob wir die lebenswichtige Innovationskraft unter Bedingungen des internationalen Wettbewerbs gewährleisten und damit Arbeit dauerhaft aufwerten können, hängt eben letztlich von der Bildung der Bevölkerung ab.“ Christoph Neumayer, Generalsekretär der Industriellenvereinigung

Fotocredit: Industriellenvereinigung

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C. Neumayer

Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich … … Innovation zu gestalten. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … … die-Initiative Saferinternet.at, die Kinder und Jugendliche bei der sicheren Nutzung digitaler Medien unterstützt und Cybermobbing entgegenwirkt. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird bzw. bleibt, welcher wäre das? … einen gesellschaftsweiten, sachlichen Diskussionsprozess statt überhasteter Schnellschüsse. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische oder europäische Politik? … eine Kennzeichnungspflicht für KI-generierte Bilder und Inhalte. Was ist die eine Sache, die unseren Mitgliedern am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? … praktikable Vorgaben und Rechtssicherheit. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? … eine humanistisch umgesetzte Digitalisierung als große Chance zu sehen. Mein wichtigster Beitrag zur Umsetzung der ethischen Prinzipien in der österreichischen Industrie ist … … das IV-Zukunftsbild: „Welche Gesellschaft wollen wir sein“ in 99 Thesen.

Humanistisch durch Innovationen

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Die Frage wie „digitaler Humanismus“ gedacht und gelebt sein kann, ist nicht nur legitim, sondern geradezu notwendig. Die Entwicklung der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ (KI) schreitet so rasch voran, dass einander Hoffnungen und Befürchtungen fast stündlich abwechseln. Die Industriellenvereinigung (IV) vertiefte ihre Auseinandersetzung mit der Thematik spätestens 2019 mit einem Workshop zu „Ethik und Digitalisierung“ und setzte dies mit dem gesellschaftspolitischen Dialog „überMorgen“ fort. Im Zuge der Erstellung eines IVAktionsplans beleuchtete die Task Force „Digitalisierung und KI“ auch ethische Aspekte der Digitalisierung. Zudem untersucht die von der IV im Jahr 2015 mitbegründete Plattform Industrie 4.0, wie KI den Menschen in der Produktion unterstützen kann und menschenzentrierte Faktoren bei der Implementierung von KI-Lösungen einbezogen werden können. Die folgenden Seiten sind somit als aktueller Beitrag zu einer Diskussion zu verstehen, die bereits eine Vergangenheit hinter sich und mit Sicherheit noch eine längere Zukunft vor sich hat. Kurz noch einen Blick auf die zur Diskussion stehenden Begrifflichkeiten: Dem „Humanismus“-Begriff ist seit jeher eine gewisse Breite zu eigen. Es gibt eine klassische, eine idealistische, marxistische, existenzialistische usw. Humanismus-Version. Der Mensch, und zwar in einer durchaus optimistischen Interpretation, steht dabei stets im Mittelpunkt. Ähnlich vage ist es mit der Digitalisierung, die längst nicht mehr nur das Digitalisieren des Analogen, sondern eine zwar technologiebasierte, aber alle Gesellschaftsbereiche durchdringende Entwicklung meint. Die „Künstliche Intelligenz“ als ihre aktuell aufsehenerregendste Form leidet an der Übersetzung aus dem Englischen, in dem „intelligence“ nicht nur eine kognitive Leistung, sondern auch den Umgang mit Nachrichten bezeichnet. Alles in allem also schwammige begriffliche Voraussetzungen, die viel Raum für Interpretation geben – „for the good and for the bad“. Vorab sei festgehalten, dass der „Digitale Humanismus“ aus Sicht der Industrie eine große Stärke aufweist: Er führt die Technologie und die Menschlichkeit begrifflich zusammen, statt plakativ eine Abgrenzung vorzunehmen. Im Sinne dieser Synthese greift der „digitale Humanismus“ bereits ein Hauptargument auf: Die Menschlichkeit einer neuen Technologie kann nur durch kluge Rahmenbedingungen garantiert werden, die auch deren nützlichen und hilfreichen Aspekten ausreichend Raum zur Entwicklung geben. Doch was genau heißt das angesichts der sich massiv ändernden Rahmenbedingungen für Innovation, Arbeit und Bildung? Hat dies überhaupt noch einen Bezug zu dem, was bisher unter Humanismus verstanden wurde?

Der Wettbewerb gibt den Takt vor Ein Humanismus, der als Leitbild für die digitalisierte Gesellschaft dienen will, muss auf den realen, heute herrschenden Ausgangsbedingungen aufbauen. Und Wettbewerb ist ein faktisches und prägendes Merkmal dieser Realität: ganz besonders auf dem Feld der Digitalisierung, wirtschaftlich, aber auch zwischen unterschiedlichen politischen Systemen und Zugängen und den dahinterstehenden Gesellschafts- und Menschenbildern.

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Im wirtschaftlichen Wettbewerb erfolgreich zu sein, ist keineswegs nur für Unternehmen und Volkswirtschaften im engeren Sinn, sondern auch gesamtgesellschaftlich höchst relevant. Mit einem entsprechenden Pro-Kopf-Einkommen gehen meist positive soziale und ökologische Entwicklungen einher. Die Lebenserwartung und die Beschaffenheit der Umwelt korrelieren positiv mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit Österreichs hat im EU-Vergleich zuletzt abgenommen. Zudem zeigt sich, dass die volkswirtschaftliche Produktivität Österreichs verstärkt auf dem quantitativen Zustrom von Arbeitskräften statt auf deren Ausbildungsniveau oder auf technologischer Innovation beruhte – eine auf Dauer kaum zukunftsweisende Entwicklung. Österreich steht dabei heute mehr denn je in einem globalen Wettbewerb, u. a. um kritische Rohstoffe oder um wissenschaftliche Talente und gut ausgebildete Fachkräfte – aber besonders im Bereich der zukunftsweisenden Technologien, in dem wir einen intensiven globalen Wettlauf z. B. in der Chipproduktion oder bei den Quantentechnologien erleben. Europa droht dabei gegenüber den (derzeit führenden) USA und dem aufstrebenden China an Boden zu verlieren. Daher hängt vom Gelingen der digitalen Transformation nicht weniger als die Kapazität dafür ab, unsere zukünftige Gesellschaft aus einer Position des Wohlstands heraus zu gestalten. Durch die Erhöhung des Digitalisierungsgrads einer Volkswirtschaft können Wachstumseffekte von bis zu 1,9 Prozent pro Jahr erzielt werden, allein der Einsatz von KI kann ein zusätzliches Potenzialwachstum von 1,6 Prozent jährlich bis 2035 bringen. Trotz des großen Digitalisierungsschubs der vergangenen Jahre in Österreich erreichen bislang nur 1 bis 2 Prozent der heimischen Unternehmen den höchsten Digitalisierungsgrad. Diese Betriebe sind vergleichsweise resilienter, innovativer und verfügen über ein höheres Produktivitäts- und Umsatzwachstum – und sind nicht zuletzt für neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter attraktiver. Aufholpotenzial hat Österreich insbesondere bei der Breitbanddurchdringung und bei der Nutzung von Big Data oder Cloud-Systemen. Immerhin setzen heute bereits 8 Prozent der heimischen Betriebe KI in der Produktion ein, 2018 lag der Anteil noch bei 3 Prozent. Geschäftsmodelle, die auf digitaler Datennutzung beruhen, haben ein unglaubliches Wachstumspotenzial. Daher müssen parallel zur notwendigen Regulierung vertrauensbildende Maßnahmen gegenüber qualitätsgesicherter Datennutzung gesetzt und sichere „Datenräume“ geschaffen werden. Im Hinblick auf die KI gilt es, das Knowhow in der Bevölkerung zu den vielfältigen Einsatzmöglichkeiten sukzessive zu stärken. Das derzeit noch in der Öffentlichkeit verbreitete Bild einer KI, die z. B. als menschenähnlicher Roboter auftritt, kann dabei nicht als Grundlage dienen. Eher schon die zahlreichen Assistenzsysteme, die Menschen in ihrem Alltag zur Seite stehen: Sprachassistenten, Navigationssysteme, Lesehilfen bei Sehbehinderungen, Spurassistenten in Autos etc. Auf der Forschungs- und Entwicklungsebene muss Österreich internationale Programme wie Horizon Europe oder Digital Europe noch stärker strategisch nützen und durch Förder-, Vernetzungs- und Clustermaßnahmen ein vitales KI-Umfeld schaffen. Das erste Zwischenresümee mag nicht überraschen, kann aber trotzdem nicht genug betont werden: Ethische Überlegungen und die realen wirtschaftlichen und geopolitischen

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Gegebenheiten dürfen und sollen nicht getrennt voneinander gedacht werden. Humanismus ist nicht nur etwas, das wir nach innen gewährleisten, sondern auch etwas, das wir nach außen vertreten und wofür wir werben müssen: Europa als Vorreiter einer humanistischen Digitalisierung. Doch wodurch konkret können wir in diesem Wettbewerb reüssieren?

Kein Humanismus ohne Innovation Technologie wurde im Laufe der Geschichte schon für viel Gutes, aber auch Schlechtes eingesetzt. Nicht zuletzt waren und sind insbesondere kriegerische Auseinandersetzungen und Sicherheitsinteressen Innovations- und Technologietreiber. In welche Richtung das Pendel ausschlägt, entscheiden in Friedenszeiten auch die Strukturen, unter denen Technologien eingesetzt werden, und deren Verantwortungsträgerinnen und -träger. Während in vormodernen Zeiten feudalistische Strukturen die Verbreitung von innovativen Entwicklungen oft verhinderten, ist die systematische Entwicklung und Verbreitung von (oft technologischen) Innovationen eine der großen Errungenschaften der Moderne. Begrenzungen und Regeln insbesondere für risikobehaftete Technologien sind notwendig. Die in den vergangenen Jahren eingetretenen oder verstärkt wahrgenommenen Krisen befeuern zudem eher Dystopien als positive Visionen. Dass zahlreiche später ungemein erfolgreiche Technologien zu Unrecht totgesagt oder belächelt wurden, verbuchen wir gleichzeitig aber als unterhaltsame Irrtümer der Geschichte (von der Fehleinschätzung Ludwigs II zum Automobil bis zu jenen der Tech-CEOs zur Bedeutung von Computern und Mobiltelefonie). Bei den digitalen Technologien wiederholen sich viele dieser Muster. Sie werden vorwiegend unter dem Gesichtspunkt ihrer Risiken diskutiert, selten unter denen ihrer Chancen. Befeuert von prominenten Warnrufen und spektakulärer medialer Berichterstattung besteht die breite Öffentlichkeit zurecht darauf, über die Verwendung persönlicher Daten und dem Einsatz von algorithmisch gestützten Entscheidungen genauestens aufgeklärt zu sein, gerade in heiklen Bereichen wie der kritischen Infrastruktur, der Bildung, der Strafverfolgung oder im Bereich Asyl und Migration. Rechtzeitig eine sinnvolle Antwort auf potenziell missbräuchliche Verwendungen zu finden, kann nicht nur als humanistische Notwendigkeit betrachtet, sondern auch zum Wettbewerbsvorteil für jene werden, die sie entwickelt haben. Und es sind nicht nur die Bürgerinnen und Bürger, die davon profitieren, sondern auch die Unternehmen, die ihrerseits stark von Datendiebstahl und Spionagesoftware betroffen sind. Darüber hinaus sind einzelne Anwendungen wie manipulative Techniken oder Social Scoring sowieso ein No-Go für demokratische Gesellschaften. Doch die entwickelten Regeln müssen sowohl die praktische Handhabbarkeit als auch die Möglichkeit zur innovativen Nutzung von Daten garantieren. Denn z. B. die diagnostischen Möglichkeiten, die sich aus der Auswertung von Gesundheitsdaten ergeben, die Chancen zur Gestaltung des Bildungssystems anhand von Bildungsverlaufsdaten oder der Einsatz von Tutoring-Systemen sind in ihrem Umfang bislang nur Spezialistinnen und Spezialisten bewusst. Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) der EU hätte solch ein innovativer Rahmen hinsichtlich der Datennutzung werden können, kann diesen Anspruch aber angesichts ihrer Komplexität und vieler bestehender Unklarheiten maximal in Ansät-

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zen erfüllen. Zukünftige Initiativen wie die von Staatssekretär Florian Tursky angekündigte „KI-Behörde“ oder der EU „AI-Act“ müssen aus diesen Erfahrungen schöpfen und sich durch eine starke Praxisnähe auszeichnen. Nicht zu überschätzen ist die Rolle digitaler Technologien auch bei einem der zentralen Anliegen der Menschheit, der Energiewende und Dekarbonisierung. Im Sinne einer „Twin Transition“ werden digitale Technologien und mit ihnen verbundene Forschung und Innovationen zur Erreichung der Klimaziele entscheidend sein. Und die Industrie ist dabei Schlüsselpartner für innovative Produkte, Lösungen und Technologien, die es für die Transformation braucht. Nächstes Zwischenresümee also: Digitaler Humanismus bedeutet nicht nur das fraglos notwendige Zähmen negativer Auswirkungen der Digitalisierung – vom Datenmissbrauch über Meinungsmanipulation bis zum Kontrollverlust über digitale Technologien. Es bedeutet gleichermaßen das volle Ausschöpfen der großen Potenziale der Digitalisierung auf Basis der individuellen, gesellschaftlichen, unternehmerischen und kommunalen Kreativität und Innovationskraft. Doch was bedeutet dies alles für die arbeitende Bevölkerung, für unsere Mitarbeitenden?

Digitalisierung wertet Arbeit auf, nicht ab Vor einigen Jahren dominierte die Diskussion die Öffentlichkeit, wie viele Arbeitsplätze die Digitalisierung kosten würde. Die pessimistischsten Annahmen prognostizierten Massenarbeitslosigkeit und -armut. Ein Horrorszenario in vielerlei Hinsicht, da Arbeit für Menschen neben dem Einkommen auch eine wichtige Funktion im Sinne der Tagesstruktur, eines sinnvollen Beitrags zur Gesellschaft und fürs lebenslange Lernen hat. Schon damals bezweifelte die Industriellenvereinigung die Befürchtungen und wies darauf hin, dass z. B. jene Länder, die die meisten Industrieroboter in Relation zur Beschäftigtenzahl aufwiesen (Südkorea, Japan, Deutschland, Schweden), auch führend in der Innovation und im Wirtschaftswachstum waren. Heute sind Österreich und Europa stattdessen mit einem ausgewachsenen Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel konfrontiert: Alleine die offenen Stellen im produzierenden Sektor haben sich 2023 mit rund 40.000 Menschen auf hohem Niveau verfestigt. In den nächsten 12 Jahren fehlen dem österreichischen Arbeitsmarkt alleine durch die demografische Entwicklung rund 540.000 Personen. Mit der sichtbaren Verbreitung der „künstlichen Intelligenz“ wird gegenwärtig die nächste Runde der Diskussion geführt. Mit Arbeitslosigkeits- und Abstiegsszenarien sollten wir diesmal ein bisschen vorsichtiger umgehen. Erst kürzlich diagnostizierte eine OECDStudie für Österreich, dass es durch die KI zu keinen Arbeitsplatzverlusten, sondern zur Umorganisation von Arbeit, einer Verbreiterung des Kompetenzbedarfs und einer höheren Beschäftigungsqualität komme. Auch die Geschichte zeigt, dass technologische Revolutionen (z. B. jene der Dampfmaschine am Ende des 18. Jahrhunderts) unterm Strich mehr Arbeitsplätze generiert als gekostet haben – nur eben mit veränderten Kompetenzprofilen. Qualitätsvolle Bildung, nicht nur als formaler Abschluss, sondern im Sinne lebenspraxisund arbeitsmarktrelevanter Kompetenzen, ist somit der Schlüsselfaktor, um nicht an wirtschaftlicher Bedeutung zu verlieren und Arbeitsplätze einzubüßen.

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Nicht umsonst und in ihrem ureigensten Interesse investiert die Industrie überdurchschnittlich stark in die Weiterbildung ihrer Fachkräfte. Nach den Finanzdienstleistungen und dem IT-Bereich sind der Maschinenbau, die Elektrotechnik, die Energie- und Wasserversorgung, die Metallerzeugung und der Fahrzeugbau die Wirtschaftsbereiche mit dem höchsten Anteil an weiterbildungsaktiven Unternehmen. Gesamtgesellschaftlich werden wir um eine Ausweitung der öffentlich finanzierten Anreize für die Weiterbildung von Erwerbstätigen nicht herumkommen. Individuelle und betriebliche Weiterbildung müssen dafür zusammengedacht und Kooperationen zwischen Arbeitskräften und Unternehmen forciert werden. Nächstes Zwischenresümee also: Eine menschenzentrierte Digitalisierung wertet Arbeit auf, indem sie Prozesse umfassend unterstützt, Monotonie verhindert, lebenslanges Lernen ermöglicht und auch einfordert. Dass Arbeit aufgrund der Digitalisierung verschwindet oder nebensächlich wird, war und ist kein tragfähiges und realistisches Szenario. Doch ist diese Aufwertung der Arbeit schon durch die Weiterbildung der arbeitenden Bevölkerung gewährleistet oder müssen wir „qualitätsvolle Bildung“ dafür nicht noch viel umfassender verstehen?

Das geforderte Bildungssystem Fast schon unausweichlich landet jede Diskussion eines gesellschaftlich relevanten Themas bei der Bildung. Und so auch hier: Ob wir die lebenswichtige Innovationskraft unter Bedingungen des internationalen Wettbewerbs gewährleisten und damit Arbeit dauerhaft aufwerten können, hängt eben letztlich von der Bildung der Bevölkerung ab. Zur humanistischen Gestaltung der Digitalisierung braucht es sowohl eine fachlich fundierte Grundbildung als auch überfachliche Kompetenzen. Insbesondere die MINTKompetenzen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) mit einem besonderen Fokus auf digitalen Kompetenzen gewinnen an Bedeutung – das grundsätzliche Beherrschen von Deutsch und Englisch stellt für deren Erwerb eine Grundvoraussetzung dar. Und gleichermaßen verlangt der Umgang /mit den zunehmend selbstgesteuerten digitalen Systemen nach kreativen Problemlösungsfähigkeiten, kritischem Hinterfragen, disziplinärer und persönlicher Offenheit sowie Kooperations- und Kommunikationsfähigkeiten. Letztlich steht hinter dem Wirksamwerden der Digitalisierung in der Gesellschaft ein deutlich kompetenteres, reflektierteres und sozialeres Menschenbild, das es zu verwirklichen gilt. Das Interesse an MINT und die humanistischer Bildung im Sinne der gerade genannten Kompetenzen und Eigenschaften können im Jugendlichen- und Erwachsenenalter vertieft und verfeinert werden, grundgelegt werden sie weitaus früher. Der Kindergarten ist die erste und eine besonders wichtige Bildungseinrichtung. Mit ihm ist – wirtschaftlich gesprochen – eine hohe Bildungsrendite verknüpft: Jeder hier investierte Euro kommt 8-fach zurück. Daher braucht es aus Sicht der IV einen konsequenten Ausbau der Kinderbetreuungsplätze, einheitliche Qualitätskriterien, eine Ausbildungsoffensive für Pädagoginnen und Pädagogen sowie Planungs- & Finanzierungssicherheit (ein Aufschließen auf den EU-Schnitt von 1 % des BIP). Ebenso wichtig ist die weitere Grundbildungsphase:

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Wer z. B. die Sekundarstufe I (AHS-Unterstufe/ Mittelschule) mit einer sehr guten Beurteilung abschließt, hat eine fast 17-mal höhere Chance auf einen erfolgreichen Abschluss der Sekundarstufe II. Um hier einen Qualitätsschub zu erreichen, soll aus IV-Sicht u. a. eine ganztägige Schule der 6–14-jährigen sowie eine Bildungspflicht von der 1. bis zur 8. Schulstufe eingeführt werden. Letztere steigert das Beherrschen der Grundkompetenzen, betont die Stärken der Kinder und Jugendlichen und führt zu einem motivierenden formalen Abschluss. In allen Bildungsphasen bietet der Einsatz digitaler Tools unheimliches Potenzial für den Unterricht selbst. Die Individualisierung des Lernens, sowohl, um Schwächen aufzugreifen als auch, um Talent und Exzellenz zu fördern, kann zum Quantensprung werden. Die Rolle der Pädagoginnen und Pädagogen kann sich deutlich in Richtung Lernbegleitung und -reflexion verbessern, anstatt sich in Bürokratie und Defizitorientierung zu erschöpfen. Dafür braucht es die Ressourcen und Offenheit gegenüber der digitalen Lernmöglichkeiten, aber auch den Kulturwandel an Schulen und beim pädagogischen Personal, um die Chancen nachhaltig zu nutzen. Angesichts dieser massiven Erwartungen und Anforderungen an das Bildungssystem bedarf es nicht nur einer fortschrittlichen Bildungspolitik, sondern einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung. Diese umfasst auch das politische Einsehen, dass die aktuelle Verteilung von Verantwortung fürs Bildungssystem und die ideologiegeleitete Auseinandersetzung mit Bildungsfragen den großen anstehenden Aufgaben nicht gerecht werden können. Es braucht einen übergreifenden Konsens zumindest zu den Grundzügen eines zukünftigen Bildungssystems, das die große Mehrheit der Menschen dazu befähigt, in einer digitalisierten Welt den Menschen mehr denn je ins Zentrum zu stellen. Eine gute Nachricht beinhalten diese Erkenntnisse aber jedenfalls: Das Bildungssystem, auf das wir hier hoffen, bedeutet eine endgültige Aussöhnung des humanistischen Bildungsbegriffs z. B. eines Wilhelm von Humboldt mit den Anforderungen aus Industrie und Wirtschaft. Oftmals wurde die Forderung nach Arbeitsmarktrelevanz und Fachkompetenz als Gegensatz zum ganzheitlichen, bürgerlichen Bildungsideal gesehen. Die digitalisierte Gesellschaft verlangt aber nach beidem, der fachlichen Expertise und dem (zumindest in Ansätzen von den Klassikern inspirierte) breiten Welt- und Wertverständnis, das Mündigkeit, Autonomie und Vernunft verleiht.

Schlussresümee – ein ermöglichender Humanismus Aus Sicht der Industrie ist ein „digitaler Humanismus“, der die Realität des globalen Wettbewerbs und seiner Konsequenzen ernst nimmt, einer der ermöglicht: Er ermöglicht (technologische) Innovation genauso wie er sie reguliert. Er ermöglicht hochwertige und sinnvolle Arbeit, anstatt sie abschaffen zu wollen. Und er ermöglicht dem Bildungssystem, jene Rolle einzunehmen, die ihm schon längst zugeschrieben wird: als zentrale Stellschraube für eine humanistische, digitalisierte Gesellschaft. Und damit kommen wir möglicherweise historisch dem besonders nahe, was schon vor Jahrhunderten mit Humanismus gemeint war.

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Literatur 1. https://übermorgen.at/ (28. 6. 2023) 2. IV (2021) DIGITAL.ERFOLGREICH.INDUSTRIE. Transformation zum digitalen Österreich 2030+, https://www.iv.at/-Dokumente-/Publikationen/digitalerfolgreichindustrie-kurzfassung.pdf (26. 6. 2023) 3. https://plattformindustrie40.at/ (29. 6. 2023) 4. Economica (2023) Optionen zur Stärkung der heimischen Wettbewerbsfähigkeit 5. Produktivitätsrat (2023) Jahresbericht des Produktivitätsrates 2023 6. Accenture (2020) Digitalisierung – Konjunkturmotor in der Krise 7. Accenture/IV (2022) Die digitale Dividende 2022 8. Digital Society and Economy (DESI) Index der Europäischen Kommission 9. OECD (2023) The Impact of AI on the Workplace: Evidence from OECD Case Studies of AI Implementation. OECD Social, Employment and Migration Working Papers No. 289 10. Statistik Austria (2023) Betriebliche Weiterbildung 2020

Mitbestimmung ist der Schlüssel für eine menschengerechte Digitalisierung der Arbeitswelt Geschwindigkeit und Arbeitsdruck sind heutzutage enorm – Digitalisierung kann entlasten und eine gesunde Arbeitswelt ermöglichen Barbara Teiber, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft GPA

Kurzfassung

Barbara Teiber, Vorsitzende der Gewerkschaft GPA, spricht in diesem Interview über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt. Sie betont die positiven Aspekte wie Arbeitserleichterungen und die Möglichkeit, sich auf kreative Aufgaben zu konzentrieren. Dennoch gibt es auch branchen- und berufsspezifische Unterschiede. Im Gesundheitsbereich hat die versprochene Entlastung nicht stattgefunden, da die Dokumentationsarbeit zugenommen hat. Ängste vor der Digitalisierung sind zwar zurückgegangen, aber Unsicherheit und schnelle technologische Entwicklungen bleiben Herausforderungen. Teiber erwähnt Risiken wie Diskriminierung durch algorithmische Entscheidungen und beschreibt die Notwendigkeit von Transparenz und Kontrolle bei KI-Systemen und geht auf den „Human in Command“-Ansatz der GPA ein. Sie spricht auch den steigenden Arbeitsdruck und die Überwachung von Mitarbeitenden durch digitale Werkzeuge an und fordert eine Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung, Regulierung und Ausbildung, um eine gerechte Arbeitswelt in der digitalen Ära zu schaffen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 57 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_5

„Der Mensch lernt am meisten vom Menschen.“ Barbara Teiber, Bundesvorsitzende der Gewerkschaft GPA

Fotocredit: msg Plaut

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich persönlich … … dass der Mensch im Zentrum steht und seine Bedürfnisse auch beim technologischen Fortschritt nicht vergessen werden dürfen. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … … im Gesundheitsbereich, wenn das Leben von beeinträchtigten Menschen wirklich besser gemacht werden kann. Es gibt Beispiele, die beeindruckend sind und das ist so etwas Positives. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird oder bleibt, welcher wäre das? Betriebsrätinnen und Betriebsräte in allen Unternehmen. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische oder europäische Politik? Das Thema Datenschutz bzw. was mit unseren Daten passiert. Daten sind bekanntlich das Gold der Gegenwart und der Zukunft und daher bleibt dieses Thema der Dreh- und Angelpunkt. Was ist die eine Sache, die den Unternehmen am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus zum Wohle der Arbeitnehmer:innen besser umsetzen zu können? Auf uns zu hören. Ein bisschen zumindest. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Lernreisen. Dahingehend, dass man schaut, was auch andere Unternehmen schon auf den Weg gebracht haben. Es ist immer schön, wenn man sich nicht nur theoretisch mit etwas beschäftigt, sondern Dinge auch angreifen kann. Wichtig ist, dass die Lernreisen gemeinsam stattfinden. Das ist ein praktischer Tipp, weil wir als GPA machen das auch. Mein wichtigster Beitrag als Vorsitzende der GPA zur Umsetzung der ethischen Prinzipien in Unternehmen ist… … dass es überall zum Thema gemacht wird.

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Georg Krause: Was verstehen Sie unter dem Begriff Digitaler Humanismus? Barbara Teiber: Unter Digitalem Humanismus verstehe ich, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, dass wir einen positiven Fortschritt haben, wo es nicht um Profitmaximierung geht, bei der alles ausgeschöpft wird, was nur immer möglich ist. Es geht darum, dass die Interessen und die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen. Aus dieser Perspektive sollte man immer alles betrachten, was man tut und was möglich ist.

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Verwenden Sie den Begriff hier im Haus oder haben Sie andere Begriffe für ähnliche Themen? Als Gewerkschaft GPA haben wir eine lange Geschichte, in der wir uns mit dem technischen Fortschritt beschäftigen. Wir haben noch immer eine Abteilung, die Arbeit und Technik heißt, sie wurde nie umbenannt. Wir verwenden verschiedene Begrifflichkeiten – dass einer vorherrschend ist, kann man nicht wirklich sagen. Ganz konkret in unserem Arbeitsprogramm der GPA steht, dass wir den Human in Command-Ansatz verfolgen. Das bedeutet, dass immer der Mensch, bei allem, was möglich ist, letztendlich die letzte Entscheidungshoheit haben muss.

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Sehr schöner und aussagekräftiger Begriff. Die Veränderungen in der Arbeitswelt sind für Sie ein zentrales Thema – Sie haben auch den Bereich Arbeit und Technik erwähnt. Was sehen Sie als besonders positive Entwicklung für die Arbeitswelt der Menschen durch die Digitalisierung? Es gibt dabei große Vorteile, wie wir wissen, aber auch kritische Punkte und Gefahren. Bei jedem technischen Fortschritt hat es immer viele Ängste gegeben, auch berechtigte. Aber letztendlich gibt es schon viele Arbeitserleichterungen. Da gibt es eine große Palette, wenn man in die verschiedenen Branchen schaut. Stichwort: Industrie Robotik. Es gibt weniger Arbeitsplätze, die die Mitarbeitenden auf Dauer körperlich wirklich ruinieren. Das ist ein durchaus positiver Aspekt. Auch wenn es gut bezahlte Arbeitsplätze in der Industrie gekostet hat. Es ist durchaus positiv, wenn Arbeitserleichterungen mit sich bringen, dass Mitarbeitende sich auf das Kreative, auf das Wesentliche und auf andere Aufgaben konzentrieren können. Dazu habe ich eine Anekdote aus dem Bankenbereich von einer Betriebsrätin gehört, die gesagt hat: Wir haben so einen Personalmangel und so einen enormen Arbeitsdruck, dass der digitale Fortschritt sogar positiv bei den Beschäftigten gesehen wird, weil man sich dann wieder auf Dinge konzentrieren kann, die sinnvoll sind, die notwendig sind, Arbeiten die Mitarbeitende auch gerne machen wollen.

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Ist das aus Ihrer Sicht ein allgemeiner Trend, dass es zu einer Entlastung von schweren und unangenehmen Tätigkeiten gekommen ist. Sie haben die Roboter erwähnt, andererseits gilt das gilt aber auch für geistige Tätigkeiten, wie ihr Banken-Beispiel aufzeigt. Man kann es nicht generell sagen, es gibt Wellen, und es ist auch sehr branchenspezifisch. In der Pflege und im Gesundheitsbereich gibt es schon sehr lange sehr viel Dokumentationsarbeit im Bereich der Datensammlung, dort klagen die Mitarbeitenden eher darüber. Die seit Jahren in Aussicht gestellte Entlastung hat dort nicht stattgefunden. Man muss mehr und mehr dokumentieren und hat somit mit Sicherheit nicht mehr Zeit für den Menschen – das wird natürlich als nicht sehr positiv empfunden. Es ist also tatsächlich von Branche zu Branche unterschiedlich. Aus meiner Sicht gibt es auch immer Wellen und Trends. Als Gewerkschaft fragen wir regelmäßig die Sorgen und Ängste ab. Die Angst vor der Digitalisierung war dabei sehr weit oben. Doch das ist in den letzten ein bis zwei Jahren zurückgegangen – das hat sicherlich einerseits mit der Corona-Krise zu tun, andererseits mit der Teuerung. Die Digitalisierung wird nicht mehr als so großes Schreckgespenst empfunden, viele sehen sie durchaus schon positiv. In erster Linie haben die Menschen Angst vor Dingen, die sie nicht kennen. Und derzeit ist das Tempo der technologischen Entwicklung wirklich enorm – ich erinnere in diesem Zusammenhang an KI, an die Robotik und ChatGPT. Viele Ängste haben sich gelegt, neue sind entstanden durch die schnelle Entwicklung. Den Arbeitnehmer:innen ist oftmals nicht klar, was dahintersteckt.

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Haben Sie eine aktuelle Umfrage dazu? Das klingt sehr interessant. Sind die Ängste durch ChatGPT wieder gestiegen? Nein, eine ganz aktuelle Umfrage zu diesem Thema haben wir nicht. Die letzte Umfrage wurde vor etwa 8 Monaten gemacht, bei der wir gemerkt haben, dass die große Angst vor der Digitalisierung in der Arbeitswelt zurückgegangen ist. Aber was ChatGPT auslöst und mit sich bringt, dazu haben wir noch keine Umfragedaten. Im letzten Herbst hatten wir eine Konferenz mit Betriebsrätinnen und Betriebsräten zum Thema Künstliche Intelligenz geplant. Alleine, was nur in der Vorbereitungsphase dieser Konferenz bis letzten Mai an neuen Innovationen auf den Markt gekommen ist, war einerseits unglaublich und erstaunlich, andererseits aber – negativ formuliert – auch erschreckend. Im Rahmen dieser Konferenz haben wir vorgeführt, was mit ChatGPT alles möglich ist: Beispielsweise kann man eingeben, dass ein Gedicht entworfen werden soll, zum Thema Gewerkschaftsrechte der Arbeitnehmer:innen angelehnt an einen bestimmten Dichter. Das war für 90 Prozent unserer Kolleg:innen wirklich neu. In diesem Zusammen-

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hang stellen sich nun die Fragen: Wie schnell werden diese Innovationen im Unternehmen eingesetzt, wie werden die Mitarbeitenden mitgenommen? Aber auch, wo ist es sinnvoll, diese Innovationen tatsächlich einzusetzen.

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Wo sehen Sie bei KI oder eben auch bei ChatGPT die großen Chancen für die Arbeitswelt? Haben Sie da ein Bild? Zu ChatGPT wüsste ich im Moment kein Beispiel. Wir als Gewerkschaft sind in einer schwierigen Situation, weil die große Nachfrage nach Arbeitskräften aktuell schon auch dazu führt, dass die Arbeitsbedingungen in manchen Branchen wirklich besser werden. Die Nachfrage bestimmt den Preis, die Löhne und Gehälter steigen. Das ist im Prinzip etwas unglaublich Positives, andererseits sehen wir schon auch, dass die große Nachfrage nach Arbeitskräften in vielen Branchen sich nicht verändern wird, auch demographisch. Es ringt nicht nur Österreich nach Arbeitskräften, auch andere Länder, letztendlich ganz Europa. Natürlich kann das schon auch dazu führen, dass man für die wirklich notwendige Arbeit am Menschen für Menschen genügend Ressourcen hat – aber es ist für uns zumindest zwiespältig.

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Eine der Thesen ist, dass so lange es einen akuten Arbeitskräftemangel gibt, KI – beispielsweise ChatGPT – helfen kann, Arbeiten zu übernehmen, die ansonsten liegen bleiben würden. Schließlich ist die Gefahr, dass der Druck und die Belastung überproportional steigen, sehr real. Dabei gibt es gute Begleiterscheinungen, wie höhere Gehälter, zumindest aus der individuellen Sicht. Daher habe ich das Banken-Beispiel bewusst erwähnt, weil die Mitarbeitenden in dieser Branche unglaublich gelitten haben unter der Digitalisierung, weil es zu sehr vielen Sozialplänen und Kürzungen gekommen ist. Mittlerweile sehen das die bestehenden Teams in den Banken anders, weil der bestehende Druck für die Mannschaft so groß ist, dass die Digitalisierung mittlerweile als durchaus positiv und entlastend empfunden wird. Schließlich gibt es durch die Digitalisierung nun erstmals Hoffnung, mehr Zeit für andere wichtigen Tätigkeiten zu haben. Das hören wir erstmalig, ich gehe davon aus, dass das mittlerweile die reale Welt widerspiegelt.

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Wir haben über das Positive gesprochen, jetzt kommen wir zu den Risiken. Wo sehen Sie denn Risiken? Ein Thema, dass beim Digitalen Humanismus in diesem Zusammenhang sehr schnell erwähnt wird, ist das Thema Diskriminierung. Wir haben natürlich Sorgen rund um das Thema Diskriminierung. Wenn Algorithmen entscheiden, wer überhaupt zu Vorstellungsgesprächen eingeladen wird

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und man gewisse Dinge dann auch fortschreibt, die sich weiter manifestieren – das alles ist aus unserer Sicht ein Riesenproblem. Bei einzelnen Unternehmen wird dahingehend bereits immer stärker vorselektiert. Das öffnet Tür und Tor für Diskriminierung.

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Es könnte auch umgekehrt sein, dass man eine Maschine so programmiert, dass sie eben nicht diskriminiert und dann wäre sie neutraler als der Mensch es sein kann. Natürlich. Aber das muss verstanden werden und auch offengelegt werden, wie die Dinge programmiert, welche Annahmen getroffen wurden. Die Frage ist, wer schaut sich das wirklich an? Wer ist die Instanz, die das kontrolliert?

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Es entwickeln sich bereits technische Lösungen, die dann wiederum die KI auf Bias überprüfen. Aber natürlich ist der Punkt, den sie erwähnt haben, sehr wesentlich, dass jemandem dafür Verantwortung übertragen werden muss. Wer das ist, muss noch entschieden werden. Wer sorgt für die Nachvollziehbarkeit, auch wenn es immer komplexer wird? Ganz genau. Wer ist eben diese Instanz und wie ist sie legitimiert? Eine Frage, die in einer Demokratie immer gestellt werden muss. Und mit welchen Machtbefugnissen wird diese Instanz auch ausgerüstet. Als Gewerkschaft beobachten wir, dass diejenigen, die Geld, Macht und Einfluss besitzen, auch am meisten vom Fortschritt profitieren und damit deren Macht und Einfluss auch immer größer werden.

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Durch digitale Arbeitswerkzeuge werden Möglichkeiten der Überwachung, der Kontrolle von Mitarbeitenden geschaffen, die es früher in dieser Form nicht gab. Teilweise hört man von (internationalen) Konzernen, dass sie diese Möglichkeiten der Überwachung auch bereits nutzen. Wie sehen Sie das? Wie kann man das entsprechend verhindern? Die Antwort hat auch wieder zwei Seiten: Die technische Ausstattung im Arbeitnehmerbereich schafft viele Freiheiten und Flexibilität, die sich die Mitarbeitenden auch wünschen – das muss man auch einfach so sehen. Auf der anderen Seite werden uns auch problematische Geschichten übermittelt. Beispielsweise, dass jede Minute einem Kunden zugeschrieben werden muss oder, dass die Zeit gemessen wird, wie schnell auf E-Mails geantwortet wird. Der Arbeitsdruck steigt durch den technischen Fortschritt durch die Digitalisierung gewaltig. Wir haben

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zwar kürzere Arbeitszeiten als noch vor einigen Jahrzehnten, aber das größte Thema seit mehreren Jahren, es hat sich jetzt noch deutlicher herauskristallisiert durch die Corona-Krise, ist und bleibt der Arbeitsdruck, unter dem immer mehr Menschen leiden. Das ist technisch getrieben. Auch durch die Erwartungshaltung von Kund:innen oder Geschäftpartner:innen, sie erwarten, dass man – in der Sekunde antwortet, Dinge bearbeitet, weil alles offensichtlicher ist und man alles sofort auch überall lesen kann. Diese Annahme, diese Erwartungshaltung setzt sich in den Köpfen fest. Wir treiben uns gegenseitig zu einer unfassbaren Geschwindigkeit, die sich auf Körper, Geist und Seele auswirken. Der gestiegene Arbeitsdruck ist das Thema schlechthin und wird noch weiter verstärkt durch den Personalmangel – das führt zu gesundheitlich schlimmen Folgen. Wie wir es schaffen, eine gesunde Gesellschaft und eine gesunde Arbeitswelt aufrechtzuerhalten, ist nicht nur eine Frage, der sich die Gewerkschaft zu stellen hat, sie betrifft die gesamte Gesellschaft mitsamt den Arbeitgebern. Wir brauchen gesunde Arbeitnehmer:innen, die ihren Job gut und gerne über Jahrzehnte ausüben möchten. Das ist eine ethisch sehr bedenkliche Entwicklung. Denn wir selbst fordern und fördern diesen Geschwindigkeitskreislauf, wir beschleunigen ihn sogar alle gemeinsam durch unsere Erwartungshaltungen. Das ist ein wirklich schwieriges Thema.

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Gibt es von Ihrer Seite Empfehlungen oder Vorstellungen, wie man dieses wirklich schwierige Thema adressieren kann? Es mag banal klingen, aber wir haben versucht, mit ganz einfachen Slogans „mach‘ mal Pause“ dem entgegenzuwirken. Wir haben mit ganz einfachen Aktionswochen begonnen, in denen wir wirklich aufrufen, die gesetzlichen Pausen – die es gibt und auch vorgeschrieben sind – einzuhalten. Wer bewusst Pausen macht, kann auch entschleunigen in dieser Zeit. Es gibt auch Vereinbarungen von und mit Betriebsrätinnen und Betriebsräten, dass es gewisse Zeitfenster gibt, in denen keine E-Mails weitergeleitet werden. An dieser Stelle versuchen wir viel zu machen und auch stark zu sensibilisieren, damit beispielsweise das Diensthandy im Urlaub auch tatsächlich ausgeschalten oder zumindest nur ganz kurz eingeschaltet wird. Wir selber wissen und kennen den Widerspruch, wenn es um Arbeitnehmer:innen geht, die Projekte in leitender Position umsetzen. Trotzdem: Es braucht ein Bewusstsein, denn der Druck wird immer größer.

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Ein weiterer wesentlicher Aspekt und eine weitere Herausforderung im Digitalen Humanismus ist die Kompetenzentwicklung. Aus meiner Sicht gibt es zwei große Themengebiete. Das eine ist, dass man Leute, die kompetenzmäßig noch nicht in der digitalen Welt angekommen sind, dort hineinführt, um sie im Arbeitsprozess auch erhalten zu können. Das andere ist, dass die Mitarbeitenden im laufenden Beschäftigungsverhältnis so kompetent weiterentwickelt werden, dass sie im besten Fall lebenslang ihren Job ausüben können. Das war vor vierzig Jahren eine Selbstverständlichkeit, heute ist es das nicht mehr. Wie ist Ihre Sicht und welche Antworten haben Sie darauf? Vielen Menschen fehlen immer noch die absoluten Basics. Es wird aber immer relevanter, weil man gewisse digitale Kompetenzen mittlerweile bald überall braucht, auch bei einfachen Tätigkeiten. In diesem Punkt gibt’s einen enormen Aufholbedarf, auch weil digitale Bildung bei älteren Mitarbeitenden noch gar nicht Teil ihrer Schulbildung war. Es geht darum, die digitalen Grundkompetenzen vielen zukommen zu lassen. Ansonsten geht es darum, sich permanent weiterzuentwickeln. In diesem Punkt haben auch die Arbeitgeber:innen Verpflichtungen und eine Verantwortung, beides kann man nicht nur dem Staat überlassen. Unter Arbeitnehmer:innen ist die Bereitschaft, das sehen wir ganz deutlich, teilweise enorm, sich permanent weiterzuentwickeln, wir erkennen aber genauso, dass es viele gibt, die das Angebot der betrieblichen Weiterbildungsangebote nicht wahrnehmen möchten. Hier lässt sich vielleicht der Gestaltungsspielraum dahingehend verändern, dass Fort- und Weiterbildung auch Spaß machen kann – in diesem Bereich gibt es noch Potenzial.

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Sie haben eine eigene Bildungseinrichtung, oder? Der ÖGB und die Arbeiterkammer sind Träger des BFI. Auch wir als GPA haben eine eigene Personalentwicklung, die viel anbietet – gemeinsam mit dem BFI, aber auch mit vielen anderen Einrichtungen. Wir haben die besten Erfahrungen damit gemacht, dass die eigenen Leute in den Unternehmen, die wirklich affin für Weiterbildung sind, ihre Begeisterung am ehesten an Kolleg:innen weitergeben, die schwerer dafür zu gewinnen sind. Der Mensch lernt am meisten vom Menschen. Die jüngste Generation sieht dieses Thema möglicherweise schon etwas anders – Stichwort Fernschulen. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass sich Mitarbeitende von Kolleginnen und Kollegen besser abholen und mitnehmen lassen, als von einem E-Mail, das gelesen werden muss, wo auch genau aufgelistet ist, was man nun alles machen muss. Durch Homeoffice und Remote Working kommt im Rahmen der Digitalisierung eventuell das Zwischenmenschliche zu kurz – vor allem dann, wenn es sich durch mehrere Lebensbereiche zieht: Ich gehe nicht mehr zur Bank, weil es

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Online-Banking gibt; ich kaufe via E-Commerce ein, bestelle online, unterhalte mich im Supermarkt nicht mehr mit der Kassierer:in und arbeite von Zuhause aus und bin nur noch selten im Unternehmen unter Mitarbeitenden – wenn ich alle diese Aspekte zusammenrechne, bleibt am Ende des Tages nicht viel zwischenmenschlicher Kontakt übrig. Der Mensch ist aber sozial, er begegnet Menschen, er erlebt Menschen, er lernt und lebt mit anderen Menschen. Aber diese Orte, wo es zum persönlichen Austausch und Kontakt kommt, werden immer weniger. Ob der Digitale Humanismus hier die Lösung ist …

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… Sie haben jetzt die Brücke zur nächsten Frage geschlagen. Was ist denn Ihre Vision einer zukünftigen, stark digitalisierten Arbeitswelt, – davon können und müssen wir ausgehen – die aber trotzdem menschengerecht ist? Was sind Eckpfeiler? Der Mensch muss weiterhin über alles Mögliche entscheidungsbefugt bleiben, das meinen wir mit unserem Human in Command-Ansatz. Aber das muss im Austausch passieren, dass es also trotzdem ein Miteinander gibt und Teamarbeit durchaus zunehmen kann. Teamarbeit ist, das sehen wir teilweise bereits, wirklich wieder im Kommen. Als GPA sind wir im Handel für die meisten Beschäftigten zuständig. Und im Handel sehen wir schon seit langem die Missstände. Schauen wir zu Amazon, wo es sich mittlerweile für Arbeitnehmende und Arbeitgebende um mehr als nur ein großes Risiko handelt. Denn Amazon nutzt alle Daten, die sie haben, um Produktionen zu beeinflussen, um mitzubestimmen, was auf den Markt kommt und was nicht, wer gelistet wird, wie man Oligopole schafft, das ist ärger als die Monopole aus der Vergangenheit, weil es sich nicht nur um eine einzelne Branche handelt. In diesem Bereich geht es um viel mehr und in diesem Zusammenhang brauchen wir eine mutige Politik, die Dinge auch entflechtet und nicht zu viel Marktmacht zulässt. Hier muss man sich nicht nur als Gewerkschafter:in, sondern auch als Bürger:in Sorgen machen.

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Durch die Digitalisierung ist nicht nur die Arbeit per se betroffen, sondern auch die prekären Arbeitsverhältnisse. Es kommt häufig das Argument, dass man nicht mehr wettbewerbsfähig ist, wenn man einen anderen Weg geht. Was kann man denn in dem Fall tun? Gibt es Ideen und Ansätze seitens der Gewerkschaft, wie das vernünftig in Balance gebracht werden kann? Amazon habe ich als Geschäftsmodell mit einer enormen Marktmacht grundsätzlich kritisiert. Als GPA hatten wir mit Amazon schon zu tun – wir haben auch den ersten Fall aufgezeigt, mit welchen Methoden das Unternehmen die Ar-

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beitnehmenden in Österreich behandelt. Bei internationalen Meetings haben wir noch mehr über andere Missstände erfahren, dass Mitarbeitende nicht einmal Zeit haben, aufs WC zu gehen, weil jeder so eingetaktet ist. Mitarbeitende werden durch Scannen und Aufzeichnungen unter Druck gesetzt, wer etwas falsch macht, wird oft gedemütigt – das sind wirklich hässliche Methoden.

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Ich denke, dass es offensichtlich ist, dass diese Nutzung der digitalen Möglichkeiten substanziell die Prinzipien des Digitalen Humanismus verletzt. Wenn wir sagen, wir wollen in Europa die Prinzipien auch umsetzen – was braucht es dann? Unser Ansatz ist die betriebliche Mitbestimmung, die muss es aber dann auch geben. Amazon bekämpft Betriebsräte. Es braucht eine betriebliche, gesetzlich verankerte Mitbestimmung. Demokratie fängt für uns im Unternehmen an. Wenn wir wissen, dass Großkonzerne teilweise größer sind als ganze Volkswirtschaften – da braucht es einfach Mitbestimmung, Regeln und die dazugehörigen Kontrollmöglichkeiten. Nur so können auch alle verstehen, was passiert – das nimmt auch Sorgen und Ängste. Und es braucht, eine mutige Politik, die im Interesse aller, Grenzen setzt – nicht nur im Sinne der Arbeitnehmenden, sondern im Interesse von ganz vielen Menschen auf der Welt. Denn wenn ich keine Grenzen setze, wird es nur zu noch mehr Macht und noch mehr Einfluss von den wenigen kommen, die an den neuralgischen Punkten sitzen. Es gibt sehr viele Apps und Innovationen, die wirklich Fortschritt mit sich bringen, vor allem im Gesundheitsbereich. Vieles, das wirklich positive Innovation ist, wird aber dann wieder von den Marktmächtigen aufgekauft. Daraus ergibt sich dann schon die Frage, wer steuert was auf den Markt kommt, was allen dienen könnte oder auch nicht, vieles wird eben auch verhindert.

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Wenn ich ein wenig zusammenfassen darf: Ihre zentralen Ansatzpunkte, um solche Missstände zu vermeiden und Risiken zu verhindern, ist der Human in Command-Ansatz. Und wesentlicher Faktor ist das Thema Mitbestimmung. Sie sagen, dass durch Mitbestimmung im Unternehmen Dinge frühzeitig aufgezeigt, diskutiert, gemeinsam entschieden werden – und auch gröbere Missstände verhindert werden. Die betriebliche Mitbestimmung ist für uns der zentrale Punkt, der ausgeweitet werden muss auf die neue Arbeitswelt und das ist faktisch noch nicht passiert. Dazu gehören der Datenschutz, das Sammeln von Daten und die jeweiligen Kontrollmaßnahmen. Das wäre zum Vorteil aller. Ich versuche hier nicht nur die In-

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teressensgegensätze zu sehen, schließlich leiden auch Arbeitgebende darunter, die einen humanistischen Ansatz haben. Wenn die Konkurrenz vieles machen darf, das dem nicht entspricht, so ist das auch nicht richtig. Aktuell ist es etwas entspannter aufgrund der großen Nachfrage nach Arbeitskräften im IT-Bereich, eigentlich in fast jedem Bereich. Letztendlich dürfen die guten Arbeitgeber nicht übrigbleiben, nur weil die anderen alles machen dürfen, weil es einfach keine Regeln, die eben Grenzen setzen.

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Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf betreffend Regulatoren, damit es uns gelingt, die Prinzipien des Digitalen Humanismus umzusetzen? Es fehlt den Beteiligten an Mut. Hier ist die europäische Ebene gefordert. Beim Thema Amazon haben 99 Prozent europaweit dieselben Befürchtungen und Betroffenheit. Aber letztendlich fehlt der Politik, auch den Arbeitgebervertreter:innen selber, der Mut Dinge durchzuziehen. Wenn wir die Zukunft positiv gestalten wollen, dann muss man sich eben auch durchringen, Dinge durchzusetzen, die man jahrzehntelang abgelehnt hat, – uns kann ich hier ausnehmen, – damit es wieder gesunden Wettbewerb in manchen Branchen gibt. Dazu gehört, dass man mutig auch Marktmacht beschränkt, selbst wenn es einzelnen großen Unternehmen weh tut. Solche Schritte muss man wagen, selbst wenn diese Megakonzerne mittlerweile selbst über sehr viel Macht verfügen. Wir müssen die Mitbestimmungsrechte, auch für europäische Betriebsrät:innen ausbauen. Das zählt zu unseren wichtigsten Forderungen.

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Sie stimmen sich auch international ab. Wie ist es in anderen Ländern? Gibt es einen Konsens über Fragestellung zum Thema Digitalisierung, wenn Sie sich auf europäischer Ebene austauschen? Gibt es unterschiedliche Vorstellungen? Gibt es Länder, die in der Umsetzung sehr viel weiter sind und von denen wir auch etwas lernen können? Ich denke, dass es durchaus positive erste Ansätze in Europa gibt, was beispielsweise Crowd Working betrifft. Alles wird zudem europaweit unterstützt von positiven richterlichen Entscheidungen. Im Zuge der Digitalisierung sind vereinzelte Beschäftigte, vermeintliche noch Arbeitgebende mittlerweile Arbeitnehmende geworden – das ist in Großbritannien und vielen Ländern festgestellt worden. Wenn es um die KI geht, dann sind wir als Gewerkschaften international sehr ähnlich aufgestellt, vor allem wenn es um die Frage geht, wo in welcher Form Handlungsbedarf besteht. Nur ist das Tempo der Entwicklungen dermaßen hoch, dass wir hinterherhinken, gar nicht nachkommen alles zu regeln. Vieles, was auf dem Markt ist, kann gar nicht so schnell von den Politiker:innen und Entscheidungstragenden verstanden werden.

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B. Teiber

Vor einigen Jahren gab es noch die große Angst, dass die Digitalisierung Arbeitsplätze vernichtet und viele Jobs verschwinden oder ersetzt werden. Heute, etwa zehn, zwanzig Jahre später, sehen wir – das Gegenteil ist der Fall. Was sind Ihre Erwartungen an die Zukunft? Können Sie eine Prognose stellen, wie es weitergehen wird? Eines meiner ersten Erlebnisse als Vorsitzende der GPA war eine Fernsehdiskussion, bei der prognostiziert wurde, dass bald die Hälfte der Menschen keinen Job mehr haben wird. Dem habe ich damals widersprochen und bin als naiv dargestellt worden. Aber meine Annahme hat sich bestätigt. Natürlich hat der technologische Fortschritt Sorgen und Ängste bei den Beschäftigten ausgelöst, die man ernst nehmen muss. Aber es sind parallel dazu auch immer neue Arbeitsplätze und auch neue Branchen mit neuen Geschäftsmodellen entstanden. So wird es auch in Zukunft sein, davon bin ich überzeugt. Gerade die gesamte Green Technology, die uns helfen wird, den Klimawandel zu schaffen, braucht den digitalen Fortschritt – das weckt viel Hoffnung für unser Überleben, wenn wir das gut nutzen. Voraussetzung ist, dass der Mensch in der Entscheidungsgewalt bleibt. Aber in diesen Bereichen werden unzählig viele und neue Arbeitsplätze entstehen, also in diesem Punkt bin ich sehr zuversichtlich. Wichtig ist natürlich, dass alles, was wir politisch beschließen, auch auf den Boden bringen. Als Gesellschaft sind wir vor allem bei den Themen Aus- und Weiterbildung gefordert. Sorge bereitet mir der große Arbeitskräftemangel. Auf einmal heften sich alle Arbeitgeber:innen Employer Branding an ihre Fahnen und haben angeblich immer schon darauf hingewiesen. Das stimmt so nicht. Das kommt nun eher aus einer Not heraus, so wie ich das beurteile. Deswegen brauchen wir Regeln in vielen Bereichen, auch im Digitalen Humanismus, die auch funktionieren, wenn die Arbeitgeber:innen nicht mehr in einer solchen auch selbstdefinierten Not sind. Noch vor zweieinhalb Jahren haben wir uns alle Sorgen um die steigenden Arbeitslosenzahlen im Zuge der Covid-Krise gemacht und niemand hat gesehen, dass ein halbes Jahr später die Wirtschaft wieder anspringt und alle um Arbeitskräfte ringen. Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Die Wirtschaft braucht eine pragmatische Regulierung, die Innovation ermöglicht Digitales Wissen muss die vierte Grundkompetenz der Ausbildung werden Mariana Kühnel, Generalsekretär-Stellvertreterin der WKO

Kurzfassung

Im Interview mit Georg Krause geht Mariana Kühnel darauf ein, welche Rahmenbedingungen es in Europa benötigt, damit das europäische Potenzial an Talenten und Innovation genutzt werden kann. Wesentlicher Aspekt ist, eine Balance zwischen erforderlicher und übermäßiger Regulierung zu schaffen. Bildung und digitale Kompetenzen spielen eine wichtige Rolle, ebenso wie die ethische Nutzung von Künstlicher Intelligenz. Österreich hat gute Voraussetzungen, um das Menschliche in der digitalen Welt voranzutreiben und die ökosoziale Marktwirtschaft digital zu denken. Bildungseinrichtungen, neue Lehrberufe und moderne Lernplattformen, die von der österreichischen Wirtschaftskammer initiiert und gesteuert werden, werden beispielhaft dargestellt.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 71 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_6

Fotocredit: msg Plaut

„Wir müssen die ökosoziale Marktwirtschaft auch digital denken.“ Mariana Kühnel, Generalsekretär-Stellvertreterin der Wirtschaftskammer Österreich (WKO)

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M. Kühnel

Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich? Die Menschen am Weg in die Digitalisierung nicht nur zu begleiten und mitzunehmen, sondern sie mit den Kompetenzen auszustatten, die sie für die Anwendungen brauchen und den Unternehmen dafür die Chancen aufzuzeigen. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … … allen Menschen lebenslang Bildung durch Technologie zu ermöglichen und sie so zu befähigen selbstbestimmt zu leben. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung menschenzentriert bleibt oder wird, welcher wäre das? Die Digitalisierung von der Geburt an ins Bildungssystem zu integrieren und den Menschen dadurch zu ermöglichen, ein grundlegendes Verständnis dafür zu entwickeln. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die europäische oder österreichische Politik? Eine einheitliche Regulierung für alle auf europäischer Ebene, denn die Digitalisierung kennt keine Landesgrenzen. Dieser Rahmen muss Innovationen aber trotzdem ermöglichen zu wachsen und zu entstehen. Was wäre die eine Sache, die unseren Mitgliedern helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Das Bewusstsein für die Chancen der Digitalisierung und die Technologien, die die Welt verändern werden, zu schaffen. Durch dieses Wissen können sie sich sowohl der Chancen als auch der Herausforderungen bewusst sein. Unsere Innovation Map macht das zum Beispiel! Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen sich mit diesem Thema zu beschäftigen? Ausprobieren, ins kalte Wasser springen, aus Erfahrungen lernen und dann besser werden. Mein Beitrag zur Umsetzung der ethischen Prinzipien in der österreichischen Wirtschaft ist … … Bildung, Bildung und Bildung.

Pragmatische Regulierung für Innovation

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Georg Krause: Was verstehen Sie unter Digitalem Humanismus? Mariana Kühnel: Unter Digitalem Humanismus verstehe ich die Anerkennung und Berücksichtigung der digitalen Chancen und Risiken, die den Menschen in seiner Verletzlichkeit angreifbar machen. Dabei liegt der Fokus darauf, das Bewusstsein für diese Chancen zu schärfen und die Bildung in den Vordergrund zu stellen. Der Mensch muss wissen, was Digitalisierung für ihn persönlich bedeutet und bedeuten kann. In der Geschichte haben wir bereits verschiedene Revolutionen erlebt, wie die industrielle Revolution oder den Übergang von der Kutsche zur Eisenbahn und zum Auto. Nun stehen wir vor einer weiteren Revolution, bei der der Computer und seine Anwendungsmöglichkeiten im Zentrum stehen. Dabei geht es darum, die Menschen mitzunehmen und gleichzeitig die wirtschaftlichen Potenziale, die sich aus diesen Technologien ergeben, zu nutzen.

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Wenn wir heute eine Standortbestimmung machen, dann sehen wir, dass die USA und Asien, allen voran natürlich China, Europa wirtschaftlich und technologisch stark abgehängt haben. Das ist objektiv messbar und ist vor allem durch digitale Geschäftsmodelle passiert. Sie sind in der Wirtschaftskammer ja nicht nur für Digitalisierung, sondern auch für die Außenwirtschaft, Europapolitik und EU-Repräsentation zuständig. Stimmen Sie meinem Befund zu und glauben Sie, dass der Digitale Humanismus eine Rolle spielen kann, um eine europäische Antwort zu finden? Wir bewegen uns hier auf einem schmalen Grat. Ich war erst vor zwei Monaten in Amerika, und wenn wir dort die Expertise und Qualität eines Handwerks beurteilen, sind Europa und Österreich den Amerikanern meilenweit voraus. Zudem importieren sie massenhaft österreichische Anlagen, die der amerikanischen Technologie überlegen sind, auch bedingt durch unser berufliches Bildungssystem. Natürlich gibt es in den USA Hotspots wie das Silicon Valley, wo tatsächlich Innovationen in einem Ökosystem entstehen. In Bezug auf die Digitalisierung kann sich die USA auf ganz andere Finanzierungsstrukturen stützen als wir in Europa. In Europa haben wir nach wie vor keinen ausreichenden Kapitalmarkt und kein Risikokapital. Das bedeutet, selbst wenn ich in Europa oder in Österreich erfolgreiche digitale Start-ups habe, stoßen sie auf große Schwierigkeiten bei der Skalierung, weil ihnen einfach das Risikokapital fehlt. Ich würde nicht sagen, dass Amerika oder Asien die Europäer abhängt, sondern es geht in Europa eher darum, die Talente, die Wissenschaft und die Forschung, die wir haben, bestmöglich zu unterstützen – also unser bestehendes europäisches Potenzial, das es durchaus gibt, groß zu machen bzw. hervorzubringen. Dafür brauchen wir die erwähnten Rahmenbedingungen wie Risikokapital und

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M. Kühnel

Kapitalmarktunion. Wenn wir in Europa bleiben und nach Estland schauen, dann sehen wir ein hoch digitalisiertes Land. Die gesamte Verwaltung ist dort bereits digital und dem zugrunde liegt ein ganz anderes Verständnis für Daten und Digitalisierung, weil die Menschen vom ersten Tag an mitgenommen wurden. Es existiert auch ein anderes Transparenzniveau, was den Umgang mit Daten betrifft. Estland hat eine digitale Bürgerkarte, sie öffnet Tür und Tor in allen Bereichen: von der Anmeldung im Kindergarten bis hin zur Pensionsauszahlung. Ebenso ein weiteres Beispiel: Wer in Tallinn wohnt, kann die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos nutzen. Die lokalen Verkehrsbetriebe hatten zunächst geplant, dies über die Wohnadressen der Bürger zu überprüfen. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass die Frage nach der genauen Wohnadresse übertrieben war. Es ging letztendlich nur darum festzustellen, ob der Bürger in Tallinn wohnt oder nicht. Nun kommen wir zum Thema Regulierung. Ich möchte kein asiatisches Wertesystem in Europa, bei dem aufgrund meines Social Credits darüber beurteilt wird, ob ich einen Bankkredit bekomme oder nicht. Gleichzeitig muss jedoch ein Rahmen geschaffen werden, der Datenschutz gewährleistet und den sicheren Umgang mit KI einschließt. Vieles kann ähnlich gestaltet werden wie bei der Datenschutzgrundverordnung. Es ist jedoch wichtig, dass wir keine übermäßige Regulierung haben, sondern eine pragmatische, die dennoch Innovation ermöglicht. Unternehmen sollten Zugang zu generischen, nicht personenbezogenen Daten haben, um Geschäftsmodelle entwickeln zu können, ohne dass jemand persönliche Informationen preisgeben muss. Es muss also Raum für Innovationen geschaffen werden.

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Versteckt sich hinterer Ihrer Aussage bereits die Skizze für den europäischen Mittelweg? Er zeichnet sich durch pragmatische Regulierung aus, die Innovation zulässt. Im Gegensatz zum asiatischen, staatlich-zentralistischen Ansatz, aber auch im Gegensatz zur rein kapitalistischen Richtung, die in den USA eingeschlagen wurde. In Europa haben wir Werte, die Europa ausmachen: Datenschutz und Sicherheit, Stabilität und Lebensqualität. Darauf müssen und werden wir aufbauen. Gleichzeitig müssen wir Raum für Neues schaffen. Estland ist ein gutes Beispiel dafür. Aber auch große EU-Projekte wie die Cloud-Initiative Gaia-X ermöglichen die Schaffung neuer europäischer Räume, für die wir einen europäischen Rahmen benötigen. Die ganze Welt schaut auf den AI-Act, der in Brüssel verhandelt wurde und auf wertebasierenden Prinzipien aufbaut. Es muss klargestellt werden, wann KI im Spiel ist, insbesondere wenn es mich persönlich betrifft. Transparenz bedeutet jedoch nicht Verbot.

Pragmatische Regulierung für Innovation

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Sie haben Estland als Beispiel genannt, gibt es andere Länder, die Ihnen noch einfallen… … Finnland hat zum Beispiel eine digitale Bildungsstrategie entworfen, wo Schüler, Lehrer, Erwachsene auf ganz andere online Ressourcen zurückgreifen können. Wir haben in Dänemark eine Regierungsplattform, die sich dem Thema Förderung von offenen Daten verschrieben hat. In diese Richtung wollen wir uns auch bewegen: Mit offenen Daten meinen wir die Daten für die öffentliche Anwendung. Und hier wird essenziell sein, den Puzzlestein der Nutzung genau durchzudenken. Wie kann hier eine Schnittstelle für Unternehmen gebaut werden, um ihnen ebenfalls einen Zugang zu ermöglichen? Schweden konzentriert sich sehr stark auf die elektronische Gesundheitsakte inklusive Online-Konsultationen, die auch Ärzt:innen mit einschließen. Die Niederlande haben wiederum den Datenschutz, vor allem den Datenaufklärungsbereich, in den Mittelpunkt gerückt. Alles Beispiele, die best practices zeigen und in der Kombination Mensch und Digitalisierung als Turbo für den entscheidenden Standortvorteil dienen können.

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Das Thema Digitaler Humanismus hat sehr tiefe Wurzeln in Österreich und wurde von hier auch sehr stark vorangetrieben. Durch das Manifest der TUWien, durch Aktivitäten insbesondere der Stadt Wien bzw. durch das Engagement des Außenministeriums – hier gibt es sehr viele Akteure, die genau genommen auch Vorreiter waren. Haben wir in Österreich besonders gute Voraussetzungen, um das Menschliche in der digitalen Welt zu erkennen und voranzutreiben? Vorweg muss ich einmal die Digitalisierung selbst, das Bewusstsein dafür und wie gehe ich mit ihr um, auf ein Grundniveau bringen. Erst dann kann ich mir überlegen, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf den Menschen hat. Doch der Mensch muss ein Grundverständnis mitbringen, ansonsten kann auch kein Bewusstsein für die Auswirkungen mitsamt der Tatsache, dass Digitalisierung human sein soll, geschaffen werden. Und in diesem Punkt haben wir zweifelsfrei Aufholbedarf. Wenn ich bei diesem Thema auf die Rolle der WKO blicke: Wir haben vor fünf Jahren mit Harald Mahrer eine Bildungsstrategie entwickelt und wir haben jetzt auch eine Innovations- und Digitalisierungsstrategie, die sich mitten in der Umsetzung befindet. Da konnten wir schon viel erreichen. Wir haben auch Klarheit erreicht, was können wir selbst als Haus machen und was brauchen wir von der politischen Ebene und von den Akteuren. Das ist insbesondere das gesamte Bildungssystem, also Grundkompetenzen und digitale Bildung als Grundfach, das im Herbst 2023 endlich startet.

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Derzeit liegt die österreichische digitale Fitness bei 40 Prozent. Da ist es offensichtlich, dass wir hier einen großen Nachholbedarf haben. Die Ziellinie liegt bei 80 %. Hier müssen wir ansetzen, damit dies entsprechend in der schulischen Bildung, beginnend im Bereich der Elementarpädagogik, verbessert wird. In Österreich haben wir eine der höchsten Teilzeitquoten, aber gleichzeitig auch eine der niedrigsten Betreuungsquoten für Ein- bis Dreijährige. Auch bei den Drei- bis Siebenjährigen hinken wir gegenüber Estland weit hinterher. Es fehlt mir persönlich an Elementarpädagogik und Bildung für Kinder bis zum siebten Lebensjahr, die dann später mit einer soliden Grundbildung ausgestattet werden können. Für mich ist der wichtigste Ansatz für den Digitalen Humanismus die Schaffung von Bewusstsein und die Erhöhung des Bildungsniveaus. Gleichzeitig müssen wir den Lehrplan und den Bildungskanon betrachten und darüber nachdenken, wie wir Grundkompetenzen auf ein entsprechendes Niveau bringen können, auf dem wir aufbauen können. Stichwort PISA – Österreich fällt ständig ab. Für mich ist digitale Kompetenz eindeutig die vierte Grundkompetenz neben Lesen, Rechnen und Schreiben. Diese vierte Grundkompetenz muss implementiert und vorangetrieben werden. Dann müssen wir sicherstellen, dass die Qualität des Unterrichts und die vermittelten Kompetenzen tatsächlich den Bedürfnissen junger Menschen entsprechen. Ein Teil der aktuellen politischen Diskussion betrifft auch das Thema Schulpflicht versus Bildungspflicht. Tatsächlich sollten Jugendliche die Schule verlassen können, wenn sie bestimmte Grundkompetenzen besitzen. Wenn sie diese nicht haben, müssen sie nicht eine bestimmte Zeit absitzen, sondern das Erlernen dieser Grundkompetenzen wird zum Ziel. Das gilt auch für digitale Kompetenzen. Parallel dazu sollten die Lehrberufe alle fünf Jahre überarbeitet werden, wobei die digitale Komponente stark berücksichtigt werden muss. Gleichzeitig müssen wir die Infrastruktur an Schulen verbessern, um die Digitalisierung zu fördern und eine das Erlernen digitaler Kompetenzen durch praktische Erfahrungen zu ermöglichen. Ein Leuchtturmprojekt im Rahmen unserer Bildungsoffensive ist die virtuelle Lernplattform wîse up, also „klüger werden“, die auch als App verfügbar ist. Es handelt sich um ein Bildungsökosystem mit über zwanzig Bildungsanbietern und derzeit insgesamt über 20.000 Kursen. Das Angebot orientiert sich an den erwähnten vier Grundkompetenzen, einschließlich des digitalen Bereichs. Ein weiteres wichtiges Element, welches wir uns in Bezug auf die Plattform und das Angebot anschauen, ist Nachhaltigkeit. Wir entwickeln Lernpfade für alle Lehrberufe, einschließlich spezieller Angebote für Gründer, natürlich auch im digitalen Bereich. All dies ist unser Beitrag zu einem niederschwelligen Angebot, wo wir kleine, qualitätsgesicherte Lernmodule anbieten, die jederzeit von jedem erworben werden können. Natürlich kann man viele Informationen auch auf YouTube finden, aber die Frage ist, ob all diese Informationen von hoher Qualität, neutral und objektiv sind

Pragmatische Regulierung für Innovation

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Der gesamte Bildungskomplex ist ein zentrales Thema im Digitalen Humanismus. Angesprochen haben Sie bereits die Elementarpädagogik, wo bereits digitale Grundkompetenzen vermittelt werden sollen … Hierbei geht es darum bereits die Kleinsten spielerisch für Digitalisierung bzw. MINT-Aktivitäten zu begeistern, u. a. in Form von gemeinsamen Experimenten. Hier steht das selbst Erleben und Entdecken im Vordergrund und macht neugierig auf mehr.

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Als Kammer sind sie auch für die Lehrlingsausbildung mitverantwortlich. Vermitteln sie im Rahmen dieser Ausbildungen auch digitale Schwerpunkte? Wir entwickeln gemeinsam mit dem Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft die entsprechenden Lehrberufe. Dabei entstehen einerseits neue Lehrberufe wie zum Beispiel Applikationsentwickler:in, andererseits auch die Updates für die jeweiligen Lehrberufe. Wenn ich mich hier auf die Zahlen der Europäischen Kommission berufen darf: 90 Prozent der Arbeitsplätze setzen ein digitales Grundwissen und 76 Prozent der beruflichen Tätigkeiten setzen digitale Kompetenzen voraus. Ich muss diese Anforderungen und Voraussetzungen natürlich in den entsprechenden Lehrberufen laufend implementieren. Jeder Lehrberuf wird zumindest alle fünf Jahre überarbeitet. Es sind die Branchen selbst, die sich hier artikulieren und sagen, diese oder jene Lehrordnung gehört ergänzt. Das ist ein normaler Zyklus, aus dem auch neue Berufsbilder entstehen können.

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Einerseits gibt es die Berufsausbildung bis zum Berufseinstieg. Andererseits hat sich das Tempo der Digitalisierung gerade in den letzten Jahren gewaltig beschleunigt. Wer als Schweißer ausgebildet wurde, muss möglicherweise heute komplexe digitale Maschinen bedienen können, um mehr oder weniger die gleiche Tätigkeit auszuführen. Bietet die WKO in diesem Bereich auch Unterstützung für die jeweiligen Unternehmen an? Wie erwähnt entwickeln wir den Lehrberuf gemeinsam mit dem Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft. Das Ergebnis ist eine Lehrberufsordnung, die wir gemeinsam mit den Ausbildern besprechen, die ebenfalls permanent geschult und weiter ausgebildet werden. In diesem Punkt ist auch das angesprochene wîse up sehr hilfreich: von dem Angebot, das wir derzeit haben, decken wir heute bereits rund 55 Prozent der österreichischen Lehrlinge ab. Dabei haben wir die Plattform vor nicht einmal einem Jahr gelauncht. Es handelt sich hier - das ist unsere Unterstützung – um kuratierte Lernpfade, die der Lehrling absolvieren kann. Sein Ausbilder kann Einblick nehmen, um einen Eindruck zubekommen, was der Lehrling absolviert hat und was nicht, und gegebenenfalls auch nach-

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stoßen kann. Eine win-win Situation lernen überall und wo man will mit voller Transparenz für den Ausbildner. Im Zusammenhang mit der Plattform pilotieren wir auch verschiedene Nutzungsformate unter anderem in Vorarlberg. Dort wird die Plattform vom Lehrling in der Berufsschule, vom Berufsschullehrer und vom Ausbildner im Unternehmen verwendet. Somit bekommt der Lehrling alle Kompetenzen letztendlich aus einer Hand vermittelt. Daran arbeiten wir sehr intensiv, weil wir begleiten wollen und begleiten müssen. Bildung ist ganz klar ein Auftrag der Wirtschaftskammer.

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Sie vertreten kleine wie auch große Unternehmen. Gibt es bei den Themen Digitalisierung und Menschenzentrierung große Unterschiede zwischen Klein- und Großunternehmen? Man kann es nicht pauschalisieren. Unser Auftrag als Wirtschaftskammer (WKO) besteht darin, die großen Unternehmen im Ausland ausreichend zu unterstützen. Wenn wir uns jedoch die kleineren Unternehmen in Österreich anschauen, müssen wir ihnen einerseits Zugang zu Bildungsmöglichkeiten wie wîse up bieten, da sie sich in einem Dschungel von Bildungsplattformen kaum zurechtfinden würden. Das Hauptthema für kleinere Unternehmen ist Ressourcen im Vergleich zum Geschäft. Für kleine Unternehmen mit durchschnittlich zwei bis fünf Mitarbeitenden geht es um Umsatzmaximierung und erfolgreiches Wirtschaften. Sie beschäftigen sich erst mit Digitalisierung und Bildung, wenn es dem Unternehmen eher schlecht geht. bzw. die Notwendigkeit für das Geschäftsmodell besteht. Hier kommt wiederum unser Auftrag ins Spiel: die Schaffung von Bewusstsein und das Wecken von Interesse an Digitalisierung und Innovation. Es geht darum, den Unternehmern und Unternehmerinnen einfach bewusst zu machen, sich mit den Möglichkeiten der Digitalisierung zu beschäftigen und insbesondere die Auswirkungen auf das eigene Geschäftsmodell zu erkennen. Gemeinsam mit dem Wirtschaftsministerium haben wir das Beratungs- und Förderungsprogramm KMUdigital ins Leben gerufen. KMUdigital berät zunächst über die Möglichkeiten eines Unternehmens und hilft möglicherweise auch bei der Beantragung von Investitionsunterstützung über das AWS (Austria Wirtschaftsservice). Zudem haben wir eine Innovation Map erstellt, auf der 105 Technologien aufgeführt sind, die unserer Ansicht nach das Unternehmertum verändern werden. Diese Karte wurde in Zusammenarbeit mit unserem Außenwirtschafts- und Forschungsnetzwerk MIT, Stanford, ETH Zürich und anderen erstellt. Es handelt sich um 105 Technologien, die nach ihrer Nähe zur Marktreife gruppiert sind und den UNO-Nachhaltigkeitszielen (Sustainable Development Goals) zugeordnet sind. Derzeit entwickeln wir Formate und Workshops, um herauszufinden, welche Branchen davon betroffen sind und welche dieser Technologien eine entsprechende Inspiration für diese Branche sein könnten. Dabei geht es nicht gleich

Pragmatische Regulierung für Innovation

um Disruption, sondern darum, welche Ideen benötigt werden und welche Auswirkungen sich daraus ergeben. Auf dieser Basis können Unternehmen ihr Geschäftsmodell erweitern. Dies gehört selbstverständlich auch zur Sensibilisierung für verschiedene Themen. In den KMUs ist man sich oft bei Anwendungen nicht bewusst, dass es sich um Digitalisierung handelt. Oft wissen sie auch nicht, dass bestimmte Programme, die sie nutzen, bereits KI-unterstützt sind. In großen Unternehmen ist man sich dessen sehr wohl bewusst, da es spezielle Verantwortliche gibt, die sich damit auseinandersetzen.

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Wenn wir davon ausgehen, dass bei der Digitalisierung die Chancen im Vordergrund stehen, Risiken gleichzeitig vermieden werden sollen, inwieweit, angelehnt an die besprochenen Wertvorstellungen, können sie das alles beispielsweise in der Innovation Map oder KMUdigital mitnehmen oder wird das automatisch mitgedacht? Wir haben das im Rahmen der Innovation Map sehr intensiv diskutiert, welche Technologien wir hineinnehmen und welche nicht. Bei manchen Technologien weisen wir auch transparent darauf hin, dass sie gewisse Standards nicht erfüllen, jeder soll und muss Bescheid wissen. Wir zeigen somit auch die Vielfalt auf.

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Gibt es für die Mitglieder Empfehlungen, wenn es um Ethik bzw. um Transparenz oder auch um ethische Richtlinien für KI geht? Natürlich sollen sich Unternehmen im gesetzlichen Rahmen bewegen, der sich bereits auf bestimmte Werte bzw. Wertvorstellungen stützt. Gleichzeitig ist bekannt, dass 67 Prozent der österreichischen Unternehmen Opfer von Cyberangriffen werden. Die Folgen sind oft erhebliche finanzielle Schäden. In diesem Bereich ist es unsere Aufgabe, Unternehmen zu stärken und widerstandsfähiger zu machen.

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Die WKO ist die einzige Organisation in Österreich, die alle Unternehmen vertritt. Daher meine Frage: bei welchen Themen des Digitalen Humanismus ist die österreichische Wirtschaft schon weit? Was ist Ihr Blick in die Zukunft? Ich komme erneut auf die digitale Ausbildung zurück. Nur sie garantiert, dass der Mensch weiß, worum es geht, wie er Digitalisierung anwendet und wo er aufpassen muss. wîse up ist so gesehen unser größtes Projekt im Rahmen des Digitalen Humanismus, eine Plattform, zu der jeder Zugang hat. Und „Zugang ermöglichen“ sehe ich auch als Teil des Digitalen Humanismus an. Ich stimme zu, dass die elektronische Gesundheitsakte und das digitale Amt ebenfalls Teil dieses Themas sind, da es darum geht, den Menschen in Österreich

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den Zugang zu benötigten Dienstleistungen zu erleichtern. Auch in Bezug auf EGovernment liegt Österreich im Vergleich zu Deutschland gut positioniert, obwohl Estland hier eine führende Rolle einnimmt. Staatssekretär Tursky treibt die Digitalisierung in Österreich engagiert voran. Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass wir der größte nicht-staatliche Anbieter von Aus- und Weiterbildung sind, mit Einrichtungen wie den WIFIs, Fachhochschulen und ähnlichen Bildungseinrichtungen. Neben beruflicher und schulischer Bildung setzen wir auch auf lebenslanges Lernen. Auf diese Weise unterstützen wir das gesamte Bildungssystem mit unseren Einrichtungen, die keinen Gewinn erzielen. Generell möchte ich hinzufügen, dass wir seit dreißig Jahren erfolgreich in einer ökosozialen Marktwirtschaft leben. Der Charme besteht nun darin, diese ökosoziale Marktwirtschaft digital zu denken und weiterzuentwickeln. Schließlich sind in der ökosozialen Marktwirtschaft bereits die Elemente des Digitalen Humanismus verankert, und eine Ergänzung um die digitale Komponente würde unserem erfolgreichen Wertesystem entsprechen. Unsere Unternehmenswelt entwickelt sich genau in diese Richtung. Es werden neue Wirtschaftsformen und Geschäftsmodelle entstehen. Es ist weitgehend unbekannt, dass wir im GreenTech-Bereich, der auch die Digitalisierung umfasst, Unternehmen haben, die Weltmarktführer sind. Ob es um Photovoltaikanlagen, Wasserkraft, Umwelttechnologien oder Abwasser- und Abfallsysteme geht, ausländische Delegationen kommen regelmäßig nach Österreich, um unsere Betriebe zu besichtigen und von unserem österreichischen Know-how lernen. Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Literatur 1. Innovation Map: https://site.wko.at/innovationmap/welcome-to-2035.html

I

Teil II WIRTSCHAFT_GESUNDHEITSWESEN

Telekom-Unternehmen haben Verantwortung für den lokalen Standort und die Gesellschaft Wie gehen wir mit KI so um, dass sie ethisch richtig eingesetzt wird? Thomas Arnoldner, CEO A1 Telekom Austria Group

Kurzfassung

In diesem Interview spricht A1-Chef Thomas Arnoldner über die Rolle der Künstlichen Intelligenz und die Herausforderungen, die damit verbunden sind, einschließlich des Themas Bias. Er erläutert, welche Maßnahmen A1 bereits ergriffen hat, um ethische Richtlinien und Standards festzulegen, welches besondere Augenmerk bei hochskalierenden Lösungen erforderlich ist und er zeigt den Fokus im Bereich Datenschutz und Cybersicherheit. Das Unternehmen engagiert sich auch stark für digitale Bildung und betrachtet es als Teil seiner gesellschaftlichen Verantwortung, die negativen Auswirkungen der Digitalisierung einzudämmen. Thomas Arnoldner ist sich bewusst, dass die Digitalisierung und KI weiterhin große Herausforderungen darstellen werden und betont die Bedeutung von Regulierung, Technologie, Selbstverpflichtung und dem Bewusstsein der Menschen, um den Weg zum Digitalen Humanismus zu gestalten. Europa sollte einen eigenen Weg einschlagen, der auf europäischen Werten und Ethik basiert, er fordert aber auch globale Zusammenarbeit ein.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 85 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_7

Fotocredit: msg Plaut

„Wir versuchen die digitale Verantwortung von Anfang an mitzudenken.“ Thomas Arnoldner, CEO A1 Telekom Austria Group

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich persönlich … …, dass wir die Technologie für den Menschen nutzbar machen und nicht umgekehrt. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … …,dass wir selbst im Unternehmen versuchen, die Künstliche Intelligenz, die wir einsetzen, gegen Bias zu testen, zu prüfen ob wir ethischen Standards gerecht werden und versuchen, auch die Standards, die wir selbst einsetzen, entsprechend weiterzuentwickeln. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird oder bleibt, welcher wäre das? Dass wir einen wirklich global gedachten Zugang dazu haben, wie wir Digitalisierung ethisch richtig im Sinne des Digitalen Humanismus einsetzen und hier bei allen anderen nationalen und internationalen Konflikten, die es gibt, diese ethischen Standards weltweit außer Streit stellen. Welches ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische, europäische oder globale Politik? Dass es eben keine nationale Fragestellung und vielleicht auch keine nur europäische Fragestellung ist, – die Technologie ist so mächtig, hat so viel Potenzial, Gutes für die Menschheit zu tun, kann aber auch so verheerende Auswirkungen haben, wenn sie falsch und bösartig eingesetzt wird – wir werden hier also einen globalen Konsens brauchen. Was ist die eine Sache, die der A1 am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus noch besser umsetzen zu können? Die richtigen und mehr Ressourcen. Was ist dein Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen? Sich frühzeitig damit zu beschäftigen, eine konkrete Fragestellung herausnehmen und schauen, dass man anhand dieser konkreten Fragestellung, also zum Beispiel den Einsatz einer KI in einem bestimmten Bereich, lernt, welche Kriterien man anwenden möchte, welche Risiken entstehen, welche Maßnahmen man setzen muss, damit die Technologie verantwortungsvoll eingesetzt wird. Dein wichtigster Beitrag als CEO zur Umsetzung der ethischen Prinzipien bei A1 ist? Dass wir Bewusstsein schaffen und rechtzeitig auch die entsprechenden Rahmenbedingungen, Policies, Schulungen etc. implementieren.

Telekom-Unternehmen haben Verantwortung

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Georg Krause: Was verstehst Du unter Digitalem Humanismus? Thomas Arnoldner: Diese Frage wird intensiv diskutiert. Ich glaube generell geht es darum, dass wir es wieder einmal schaffen, Technologien zu bauen, die den Menschen in irgendeiner Form dienen. Ich bin ein sehr technologieaffiner Mensch und bin überzeugt davon, dass die meisten gesellschaftlichen Weiterentwicklungen, wenn wir auf die letzten hundert bis hundertfünfzig Jahre zurückblicken, vom technologischen Fortschritt geprägt waren. Mir fällt da das gesamte Gesundheitswesen ein, unser Bildungssystem, der soziale Bereich – aber natürlich auch die wirtschaftliche Produktivität, deren Entwicklung immer sehr stark durch technologischen Fortschritt beeinflusst war. Dabei ist es aber immer wichtig, dass die Technologie tatsächlich dem Menschen dient und zum Wohle der gesamten Menschheit eingesetzt wird. Es gab in diesem Zusammenhang bereits in der Vergangenheit Entwicklungen, wo die Grenzen dieses Kriteriums ausgetestet wurden, wo wir es aber trotzdem – Gott sei Dank – als Menschheit geschafft haben, diese Grenzen nicht zu überschreiten. Ich hoffe, dass es so bleibt, vor allem wenn wir uns nun einer so mächtigen Technologie wie der KI gegenübersehen. Wir haben diese Frage auch im Unternehmen diskutiert und darüber nachgedacht, was bedeutet das für uns? Zusammenfassend könnte man sagen: „Die anderen mitdenken“. Was meinen wir damit? KIs arbeiten heutzutage so, dass sie im Prinzip auf großen Datenbasen extrapolieren. Jetzt nicht mehr nur linear extrapolieren, wie in der Vergangenheit, sondern mit Deep Learning Mechanismen in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, die allerdings nie wirklich selbst getroffene Entscheidungen sui generis sind, sondern die immer auf irgendeiner Datengrundlage basieren. Das Problem ist, wenn sie auf einer Datengrundlage basieren, schauen sie natürlich dorthin, wo – wie schon bei der Gaußschen Normalverteilung – die höchsten Wahrscheinlichkeiten sind. Und man merkt, wie generative KIs wie ChatGPT einfach auf Basis der Wahrscheinlichkeiten Dinge erfinden. Wenn man ChatGPT nach mir bzw. nach meinem Lebenslauf fragt, bekommt man einen interessanten Lebenslauf. Er klingt konsistent. Wenn man auf „Antwort regenerieren“ klickt, kommt ein anderer großartiger Lebenslauf. Nur die haben beide einen Schönheitsfehler: Sie sind inhaltlich alle falsch, weil sie nur eine Abschätzung eines wahrscheinlichen Lebenslaufes eines Telekom-Executives darstellen. Deswegen habe ich gemeint, dass es für uns wichtig ist, Dinge mitzudenken, die sich nicht nur beim Blick auf die Datenbasis ergeben. Dazu gehört beispielsweise der gesamte Bereich der Kreativität. Kreativität ist nicht Engineering oder Extrapolation, sondern Kreativität ist beispielsweise das Kombinieren von unterschiedlichen Elementen, an die man auf den ersten Blick überhaupt nicht denken würde. In diesem Zusammenhang stellt sich dann auch die Frage, wie geht man mit Fakten, Datenpunkten, Menschen um, die jetzt nicht im 95 Prozent Konfidenz-

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intervall dieser Normalverteilung drinnen sind. Stichwort: Bias in der KI. Das ist eine der wesentlichen Gründe für die Voreingenommenheit der KI. Und zuletzt, als grundsätzlich positiv denkende Menschen, als Optimisten, die wir sind, gehen wir von der Grundannahme aus, dass die Mehrheit der Menschen versucht, die Technologien zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Aber wie geht man mit dem Fall um, wenn KIs bewusst schadenbringend eingesetzt werden, beispielsweise aus kriminellen Motiven heraus? Alle diese Fälle müssen wir auch mitdenken, damit man nicht das Opfer des empirischen Mittelmaßes wird. Und das ist für mich Digitaler Humanismus.

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Ihr habt euch mit diesem Thema demnach bereits eingehend auseinandergesetzt. Was hat euch motiviert, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Erstens: Wir haben den Anspruch, das Thema Verantwortung sehr breit zu denken und sehr ernst zu nehmen. Darunter verstehen wir, dass wir bestrebt sind, in all den Ländern, in denen wir tätig sind, enorm leistungsfähige Netze zu bauen und auch eine Verantwortung für den lokalen Standort und die Gesellschaft haben. Darüber hinaus bedeutet Verantwortung aber auch, dass wir im Bereich Nachhaltigkeit, Stichwort Klimawandel, unsere Hausaufgaben machen. Konkret, und hier sind wir schon sehr nahe an unserem Kerngeschäft, dass wir beim Einsatz unserer Technik bzw. Digitaltechnologien dieser Verantwortung gerecht werden wollen. Gleichzeitig wollen wir dem Vertrauen gerecht werden, das uns Gesellschaft, und unsere Kund:innen unserer Marke entgegenbringen – das ist so die Grundmotivation, die über allem schwebt und uns gleichzeitig antreibt. Und zweitens möchte ich an ganz konkrete Fragestellungen und Anwendungsbereiche erinnern, an die Data Privacy und an den Bereich Security, wo wir versuchen, die digitale Verantwortung von Anfang an mitzudenken. Wenn wir beispielsweise Prozesse in unserem Unternehmen automatisieren und auf diese Weise Entscheidungen von Menschen an Maschinen delegieren, mit der Konsequenz, dass diese Entscheidungen plötzlich sehr, sehr viel schneller und stärker regelbasiert fallen und deswegen auch besser skalieren können, so sind die Auswirkungen potenziell viel größer. Wir haben in Österreich ungefähr 1000 Callcenter-Mitarbeitende. Wenn eine:r von ihnen Vorurteile hat und aufgrund von diesen Vorurteilen Kund:innen anders behandelt, als das unseren Prinzipien entsprechen würde, dann ist das zwar immer noch schlecht und wir versuchen dem mit entsprechenden Schulungen entgegenzuwirken, aber am Ende des Tages ist es nur ein Mitarbeitender von 1000. Wenn wir das in ein automatisiertes Marketing-Tool einbauen, auch unwissentlich – wissentlich hoffentlich so oder so nicht – dann skaliert es natürlich sehr schnell hoch. Und dann kommt man sehr schnell auch in problematische Bereiche, die wir von Beginn an zu vermeiden versuchen.

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Der zentrale Antriebsmotor, euch mit dem Digitalen Humanismus zu beschäftigen, ist also das Thema Verantwortung. Primär, weil ihr euch bewusst seid, dass ihr eine zentrale Rolle in einem digitalen gesellschaftlichen Umfeld spielt. Daran gekoppelt ist das Thema Vertrauen in die Marke, das ihr erhalten wollt, um den Erwartungen der Kund:innen gerecht zu werden. Dieser Anspruch ist ein sehr hoher. Schließlich handelt es sich bei A1 um einen großen Konzern, der in vielen Ländern tätig ist. Gibt es Beispiele auf Unternehmensebene, wie ihr diesem Anspruch gerecht werdet bzw. habt ihr Standards oder Leitlinien definiert, auf die ihr jeden Tag zurückgreifen könnt? Eure Vorgaben müssen schließlich auch umsetzbar sein. Da hat man als Unternehmen einen recht großen Werkzeugkoffer. Gleichzeitig gibt es aber auch sehr unterschiedliche Reifegrade, gerade im Einsatz dieser verschiedenen Werkzeuge. Und wie so oft ist das Beste eine Kombination aus den entsprechenden Strategien und Richtlinien, um bei den Mitarbeitenden, gemäß ihrer Ausbildung, Bewusstsein für bestimmte Richtlinien zu schaffen. Dabei gilt es auch verschiedene Mechanismen einzusetzen, die sicherstellen, dass der abstrakte Wunsch, also die Theorie, im Unternehmen auch entsprechend umgesetzt wird. Wir haben zum Beispiel auch im Rahmen unserer ESG-Aktivitäten (Environment, Social, Governance) in vielen Bereichen heute Richtlinien, die wir früher noch nicht hatten.

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Gibt es dazu vielleicht Beispiele, die in Richtung Digitaler Humanismus zielen? Natürlich, in unserem Code of Conduct, der eigentlich über Allem steht, ist ein Kapitel über digitale Ethik festgeschrieben. Wir haben eine Human Rights Policy, die sich unter anderem auch mit diesem Thema beschäftigt. Wir haben zudem einen starken Fokus auf Data Privacy Policies und auf Cyber Security Policies gelegt. Wir haben auch – allerdings wahrscheinlich noch nicht in dem Reifegrad, wie wir es brauchen oder brauchen werden – Guidelines zum Umgang mit fairer KI. Noch nicht auf Gruppenebene, aber in diesem Punkt ist Österreich sehr weit. Die zentrale gedankliche Auseinandersetzung dreht sich dabei um die Frage, wie geht man mit KI so um, dass sie ethisch richtig eingesetzt wird? Bei der Begrifflichkeit und was wir darunter verstehen, beginnt allerdings schon das Problem, weil es keine absoluten Regeln gibt, sondern unterschiedliche Modelle, unterschiedliche Sichtweisen und unterschiedliche Interessen, die oftmals aufeinanderprallen und deswegen muss im Einzelfall abgewogen werden, ähnlich wie im Cybersecurity-Bereich. Ich denke, wir haben sehr hohe Standards, allerdings gleichzeitig eine enorm hohe Komplexität der Systeme. Wir haben weit über 1000 IT-Systeme in der gesamten Gruppe. Selbstverständlich gibt es darunter welche, die sehr, sehr wichtig sind und manche, die weniger wichtig sind.

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Deswegen gehen wir hier auch mit einem risikobasierten Ansatz heran. Es gibt, wie wir wissen, dabei verschiedene Methoden: Es gibt Hardware und Software, die einen unterstützt, es gibt Schulungen unter den Mitarbeitenden, es gibt entsprechende Tests und eine Strategie, die darüber liegt. Früher oder später werden wir in Bereichen, die den Digitalen Humanismus betreffen, ähnlich vorgehen.

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Du hast erwähnt, ihr habt eine digitale Ethik-Leitlinie bzw. einen Kodex bereits festgeschrieben … … wir haben ein Kapitel digitale Ethik im Code of Conduct, das sehr generisch abgefasst ist. Im Cybersecurity-Bereich hat die Thematik schon sehr viel Tiefgang, schon alleine aus der Regulatorik heraus oder, weil es einfach ein einzigartig großes Interesse gibt, die Daten unserer Kund:innen zu sichern. Ähnlich stark ausgeprägt ist der Data-Privacy-Bereich, letztendlich auch aufgrund der Regulatorik im Rahmen der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Und wir arbeiten auch daran, für den KI-Bereich diese Guidelines herauszuarbeiten. Beispielsweise haben wir einen Mitarbeiter, der bis vor einem Jahr im akademischen Bereich tätig war. Er ist ein ausgebildeter Wirtschaftspsychologe und setzt sich bei uns nun mit dem Thema Ethik bei Experimenten auseinander. Wenn man innovativ ist, probiert man vieles aus und gerade die neuen Technologien wie KI und große Datenmengen geben uns die Möglichkeit, Kund:innen über unterschiedliche Kanäle höchst personalisiert zu adressieren. Aber wir wollen und müssen dabei auch sicherstellen, dass diese Experimente bzw. Möglichkeiten in ethisch korrekter Art und Weise ablaufen.

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Diese Experimente betreffen bereits Kernprozesse in der Weiterentwicklung. Dabei bleibt das zentrale Thema, Verantwortung zu übernehmen, Vertrauen behalten oder neu zu erwerben. Dabei müsst ihr euch sicher schon im Vorfeld überlegen, welche Konsequenzen eine Innovation nach sich ziehen kann. Gibt es grundsätzlich systematische Prozesse, die darauf hinzielen, sich schon frühzeitig, beispielsweise bei der Softwareentwicklung, Gedanken über mögliche Folgen für die Betroffenen zu machen? In diesem Punkt haben wir sicherlich noch einen weiten Weg vor uns. Trotzdem gibt es Beispiele, wo wir schon sehr fortgeschritten sind. An dieser Stelle nenne ich jetzt das Thema Automatisierung des Marketings, personalisiertes Marketing. Manche Produkte wie WIFI-Equipment für zu Hause werden stärker von Männern nachgefragt als von Frauen. Das wissen wir und das ist empirisch einfach so. Gleichzeitig gibt es auch Produkte, die vorzugsweise bei Jüngeren stärker gefragt sind als bei Älteren. Wir arbeiten selbstverständlich mit Machine Learning und wir müssen nun sicherstellen, dass diese Datenbasis, die KI, die dahintersteht, nicht solche Blüten

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treibt, dass man gewisse Produkte, zum Beispiel Frauen, älteren Menschen oder Angehörigen von Minderheiten überhaupt nicht mehr anbietet. Und da gibt es tatsächlich auch bei uns automatisierte Verfahren, die genau das zu vermeiden versuchen. Es gibt Richtlinien, die implementiert wurden, damit so etwas eben nicht passiert. Wir stehen bei diesem Thema sicherlich eher noch am Anfang. In diesem Zusammenhang gibt es auch sehr prominente Beispiele mit einem schlechten Ausgang oder welche, die zumindest sehr viel Kritik hervorgerufen haben: Facebook, wo sie durch unterschiedliche Timelines versucht haben, bei Facebook-Usern entweder bessere oder schlechtere Stimmungen hervorzurufen. Das ist sehr bedenklich. Amazon wurde lautstark kritisiert, weil es individuelle Sonderangebote in erster Linie neuen, also weniger etablierten Nutzenden, angeboten hat.

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Wie lässt sich das in der Praxis konkret vermeiden? Es gibt ein Team, das sich schon sehr tiefgründig mit diesem Thema auseinandergesetzt hat, sich jetzt auch von wissenschaftlicher Seite Unterstützung geholt hat, das automatisiert diese Tests über die KI laufen lässt und das auch die Richtlinien erarbeitet hat. In diesem Punkt sind wir bereits sehr weit vorangekommen und es wird unsere zukünftige Aufgabe sein, wirklich einheitliche Standards zu definieren und in der ganzen Gruppe zu etablieren. Wie in sehr vielen Bereichen handelt es sich hier um eine weite Reise, die vor uns liegt, bei der wir schon weitergekommen sind als andere, aber trotzdem immer noch am Anfang stehen. Ein anderes Beispiel ist, wenn wir über Bias reden, dann reden wir nicht nur über maschinelle, sondern auch über menschliche Bias. Wir haben seit zwei bzw. drei Jahren im großen Stil Trainings angeboten, im großen Stil, diese ausgerollt und stark bewerben. Mit dem großen Schwerpunkt, die unbewussten Vorurteile (unconscious bias) der unzähligen Entscheidungen, die man tagtäglich bewusst wie auch unbewusst trifft, zu adressieren. Das halten wir einfach auch für einen ganz wichtigen Weg für ein ethisches Verhalten im Unternehmen. Ein anderes Beispiel für das Thema Verantwortung für die Gesellschaft äußert sich auch darin, dass wir verstärkt im Bereich digitaler Bildung sehr aktiv unterwegs sind. Mit dem A1 digital.campus sind wir einer der größten privaten Anbieter von digitaler Bildung in Österreich. Allein im letzten Jahr hatten wir österreichweit über 45.000 Teilnehmer. Im Jahr 2012 hatten wir „Internet für alle“ am Campus ins Leben gerufen, der Nachfolger ist der „A1 digital.campus“, ihn gibt es seit ungefähr zwei Jahren. Dabei konzentrieren wir uns auf die Frage, wie können wir Menschen im Umgang mit digitalen Technologien weiterbilden? Früher standen Tablets- und Smartphone-Schulungen im Mittelpunkt, jetzt liegt der Schwerpunkt auf der Frage, wie gehe ich mit der digitalen Technologie richtig um. Unsere Zielgruppe sind demnach eher Kinder und Jugendliche, weniger die ältere Generation.

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Welche Motivation steckt hinter diesem, eurem Bildungsauftrag? Wir sind der tiefen Überzeugung, dass die Technologie, die wir anbieten, ganz viele positive Möglichkeiten für die Gesellschaft bietet. Uns ist aber genauso bewusst, dass Technologie auch bewusst oder unbewusst falsch genutzt werden kann. Auf den Beipacktext von Medikamenten umgelegt bedeutet das, wir möchten die unerwünschten Nebenwirkungen ebenfalls adressieren. Gleichzeitig wissen wir, dass das nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein kann, weil – davon bin ich überzeugt – es sich hier um eine große gesamtgesellschaftliche Anstrengung handelt, die das Bildungssystem genauso betrifft wie die Erziehung zu Hause, den regulatorischen Rahmen und andere Unternehmen gleichermaßen. Sicher ist, wir nehmen diesen Punkt sehr ernst, deswegen haben wir unseren anfangs nur auf Österreich konzentrierten Bildungsauftrag mittlerweile auf alle anderen Länder erweitert.

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Das bedeutet, A1 geht über die reine Wirkungsfolgenabschätzung hinaus und hilft sozusagen auch von der anderen Seite mit, die erwähnten Nebenwirkungen einzudämmen. Das verstehe ich als eine gelebte gesellschaftliche Verantwortung, schließlich zieht ihr keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen daraus. Ganz genau und es geht hier auch nicht um unsere Reputation, denn wenn wir das Geld in eine Kampagne stecken würden, primär hätte das wohl einen stärkeren Effekt auf unsere Reputation. Der Wiener Campus wird täglich von Schulklassen besucht. Sie machen CodingSchulungen, beschäftigen sich mit Hate Speech oder Social-Media-Umgang. Ihnen versucht man primär die positive Seite der Digitalisierung zu zeigen. Ich denke, dass wir zurecht stolz sein dürfen, dass wir in diesem Bildungssegment sehr viel für die Kinder und Jugendlichen erreichen.

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Das Thema digitale Bildung versteht sich als eines der Kernthemen auf dem Weg zum Digitalen Humanismus. Vor allem, weil so auch schon frühzeitig Anwender:innen negative Auswüchse selbst erkennen können, wenn Unternehmen hier Fehler machen. Ja genau, Digitaler Humanismus lässt sich nicht delegieren. Natürlich gibt es viele Werkzeuge, die je nach Unternehmen verantwortungsvoll eingesetzt werden: die Regulatorik, die führt, unterstützt, fördert und dort bestraft, wo es notwendig ist. Aber am Ende des Tages müssen wir vor allem schauen, dass die Nutzer:innen so stark wie möglich enabled sind. Das wird im digitalen Bereich immer komplexer

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und schwieriger und dessen sind wir uns auch bewusst. Aber genauso wie das schwieriger wird, bin ich überzeugt davon, dass wir auch wieder neue Werkzeuge entwickeln werden, die uns helfen werden, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Es wird logischerweise immer schwieriger, Deep Fakes zu erkennen. Aber wir werden hoffentlich eines Tages Lösungen in die großen Plattformen eingebaut haben, die Deepfakes automatisch erkennen können. Oder der gesamte Cyber-Security-Bereich: Natürlich nehmen die Angriffe auf unsere Netze enorm zu. Die DDoS-Attacken gehen aber zurück, weil wir sie mittlerweile automatisiert erkennen und abwehren können, weil wir einfach die Gegentechnologie dazu entwickelt haben. Und so wird es immer weitergehen. Vor 50 Jahren war ein Auto viel weniger komplex als das heute der Fall ist. Einen Oldtimer kann man heutzutage wesentlich leichter auseinander- und auch wieder zusammenbauen. Heutzutage geht das mit einem modernen Auto aufgrund der vielen elektronischen Komponenten nicht mehr. Trotzdem ist die Anzahl der Verkehrstoten massiv zurückgegangen. Warum? Weil wir viele Möglichkeiten zur Verfügung haben, um den Verkehr sicherer zu machen. Und dazu gehören technische Maßnahmen, wie die Tatsache, dass es einen Gurt oder ein ABS-System und viele andere Assistenten gibt. Dazu gehört ein regulatorisches Rahmenwerk, Verkehrsregeln, Ampeln, die Gurtpflicht, Geschwindigkeitsbeschränkungen mitsamt den gesamten Überwachungsmöglichkeiten, wie beispielsweise durch eine Laserpistole. Vor allem zählt aber, dass die Menschen lernen, mit dem Auto richtig umzugehen und wissen, selbst wenn ich ein Allrad-Auto habe, Abstand muss ich trotzdem halten.

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Das ist ein sehr gutes Beispiel, es skizziert, wie wir diesem Thema begegnen müssen, damit es sich in die richtige Richtung steuern lässt. Es ist demnach eine Kombination aus vier Elementen: 1. Die Regulatorik, die notwendig ist, um Rahmenbedingungen zu schaffen. 2. Die Technologie, die hier unterstützt und mithilft. 3. Die Selbstverpflichtung mitunter auch die Leitlinien in einem Unternehmen und 4. ist das Bewusstsein in der Bevölkerung, Dinge zu erkennen und auch einzufordern. Ja, genau. Wobei man nicht vergessen darf, es gibt schon Komponenten, die es schwieriger machen. Zum Ersten die enorme Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung heutzutage. Der zweite Punkt, er ist eng verwandt mit der Geschwindigkeit, sind die Skalen- und Netzwerkeffekte, die bedeuten, dass bei dem, was wir im digitalen Raum tun, der Impact potenziell viel größer ist als früher. Und ich glaube, der dritte Faktor ist, dass die Transparenz der Technologie immer geringer wird – es also für den Einzelnen immer schwieriger wird zu verstehen, was tatsächlich passiert.

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Beispielsweise ist der Grat zwischen einem effizient arbeitenden Algorithmus und einer KI, die unethische Bias hat, manchmal schwer zu durchschauen.

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Wobei es aber auch bereits Tools gibt, die KI überprüfen können, ob sie gebiased sind … … natürlich gibt es das. Ich nehme dahingehend jetzt ein anderes Beispiel aus dem Bereich der Sicherheitspolitik. Es gab in der Vergangenheit schon sehr viele die Menschheit bedrohende Technologien. Zum Glück haben wir es bis jetzt geschafft, deren Auswirkungen relativ gering zu halten. Zweifelsfrei haben die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki unvorstellbares Leid nach sich gezogen, aber im Großen und Ganzen ist es der Menschheit gelungen, diese Technologie noch irgendwie im Zaum zu halten. Das hat aber auch damit zu tun, dass der Missbrauch, wann immer diese Technologie zum Einsatz kommen soll, ziemlich transparent ist. Sprengköpfe müssen entwickelt und getestet werden und die Raketen mit atomaren Sprengköpfen müssten zunächst einmal in Stellung gebracht werden, diese Vorbereitungen sind durch Satellitenbilder erkennbar. Bei KI, die uns täglich betrifft, egal ob es sich um den Sicherheitsbereich, um Medien oder soziale Plattformen handelt, ist das schwer bemerkbar, wenn jemand Veränderungen vornimmt: Woran merken wir, dass einer anfängt, Dinge zu manipulieren? Es ist kaum erkennbar. Das sind Bereiche, in denen sich viel verändert hat. Hier sollten wir auf jeden Fall sehr genau hinsehen, um sie auch noch besser zu verstehen, ohne gleichzeitig jede Innovation zu behindern.

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Das war eine schöne Brücke in Richtung Ausblick in die Zukunft. Wie wird sich das Thema des Digitalen Humanismus, bezogen auf die A1 Gruppe, weiterentwickeln? Welche Bedeutung wird es in Zukunft haben? Es wird zweifelsfrei zunehmen. Und ich glaube, wir sollten uns schon bewusst sein, dass wir bei manchen Themen, also insbesondere beim Thema KI, auf dem berühmten Peak des Hype Cycles sind. Und das Klassische bei diesen Hype Cycles sind zwei Dinge: Einerseits der Hype geht wieder zurück und plötzlich tritt irgendwie eine Kombination aus Desinteresse und Enttäuschung ein. Der zweite Punkt ist aber die darunter liegende Entwicklung, die geht ja ungebremst weiter. Und das eine ist öffentliche Perzeption und das andere ist das, was fundamental passiert. Künstliche Intelligenz ist nichts Neues. Neu ist diese schnelle Verbreitung von generativer KI, ihr massenhafter Einsatz und dieses sehr menschlich anmutende Interface. Aber grundsätzlich ist es nichts Neues und es wird folglich auch Ent-

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täuschungen geben und der Hype wird ein wenig zurückgehen. Trotz allem wird die Penetration enorm steigen und deswegen auch die Anforderungen an Organisationen wie A1, sich mit dem Thema und den damit verbundenen Fragen in allen Bereichen auseinanderzusetzen: – – – – –

Wie kann ich KI für mein Kerngeschäft nutzen? Wo gefährdet sie mein Geschäft? Wie kann ich Prozesse automatisieren? Welche neuen Anforderungen kommen auf unsere Mitarbeitenden zu? In welchen Bereichen werden wir mehr Mitarbeitende brauchen, wo werden sie durch Technologie ersetzt? – Wie setze ich diese Technologien an der Kund:innen-Schnittstelle ein und wie stelle ich sicher, dass sie auch entsprechend verantwortungsvoll eingesetzt werden? Das ist nicht die erste Challenge, die wir bewältigen müssen und es wird auch nicht die letzte sein. Das sind die aktuellen Herausforderungen, die wir jetzt aufnehmen, beantworten und bewältigen müssen. Davon bin ich überzeugt.

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Habt ihr konkrete Pläne, wie ihr an dieses Thema herangehen werdet? Das Thema KI-Richtlinien haben wir erwähnt. Gibt es darüber hinaus konkrete Schritte, einen absehbaren Fahrplan? Bereits heute haben wir sehr viele unterschiedliche Einsatzgebiete von KI und diese werden sicherlich zunehmen. Und ich glaube, dass wir noch am Beginn dieser Reise stehen, dass wir die Art und Weise besser verstehen müssen, wie wir die Technologien einsetzen, in der Gruppe stärker standardisieren und auch dementsprechende Rahmenbedingungen setzen – also sozusagen die internen Guidelines und Policies nachschärfen.

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Wird es den Begriff „Digitaler Humanismus“ in der A1 Gruppe geben? Ob es ihn in dieser Form geben wird, da bin ich mir nicht sicher. Trotzdem mag ich diesen Begriff. Ich glaube nur, dass er für uns, für den Einsatz im Unternehmen, noch zu abstrakt ist. Weil es, so denke ich, wichtig ist, dass wir den Mitarbeitenden konkret sagen können, was wir von ihnen wollen, was wir von ihnen erwarten, wohin die Reise geht.

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Eines der wesentlichen Themen und ein Treiber für den Digitalen Humanismus ist auch die Frage nach einem europäischen Weg, zwischen dem US-amerikanischen, kapitalistischen Weg auf der einen Seite und dem totalitären, asiatisch-chinesischen Ansatz. Wenn wir nun den Weg zum Digitalen Humanismus einschlagen, dabei unsere europäischen Prinzipien beachten, unseren Werten und der digitalen Ethik folgen, also wesentlich menschenzentrierter vorgehen, werden sich daraus wirtschaftliche Nachteile ergeben? Nicht notwendigerweise, aber wir müssen uns schon bewusst sein, dass wir gerade in so einem Bereich nicht isoliert europäisch, geschweige denn national agieren können. Gerade in diesen Bereichen ist die Globalisierung so groß wie nirgendwo anders. Zudem gibt es einfach Themen, die globale, nicht nur nationale oder kontinentale Antworten brauchen, primär dort, wo die Globalisierung, die internationale Vernetzung sehr groß ist. Ein gutes Beispiel ist und war die Pandemie. Ein Virus fragt nicht nach Grenzen, sondern breitet sich einfach international aus – in China genauso wie in der Europäischen Union oder in den USA. Und deswegen hat auch die Pandemie globale Antworten gebraucht – das ist uns mehr oder weniger gut gelungen, und durch die WHO wurde das Thema global adressiert. Und deswegen glaube ich, dass wir, wenn wir von Regulatoren im digitalen Bereich reden, unbedingt darauf achten müssen, dass wir globale Regulatoren brauchen. Das ist leicht gesagt, aber es ist in der Umsetzung bedeutend schwieriger. Wir kennen das aber auch aus anderen Bereichen: Thema Klimawandel oder Data Privacy. In diesen Bereichen wird es bei der Umsetzung führende Länder geben und andere Länder, die man mitnehmen muss. Aber ein rein isolationistischer Ansatz wird hier nicht funktionieren. Der zweite Aspekt: Europa wird andere nur dann mitreißen können, wenn es selbst attraktiv genug bleibt. Attraktiv genug als Markt durch die Kaufkraft seiner Einwohner:innen und vor allem attraktiv genug durch die ökonomische und Innovations-Stärke seiner Unternehmen. Ansonsten wird Europa gar nicht in der Lage sein, diese globalen Antworten einzufordern. Dabei geht es sehr stark darum, Wohlstand in Europa zu sichern, andererseits aus eigener Stärke heraus Verantwortung von anderen einzufordern oder zu exportieren. Und momentan habe ich ein bisschen Angst, dass wir eher glücklich in unserer eigenen kleinen Badewanne herumplanschen, aber irgendwie vergessen, dass da irgendwo draußen ein ganz großer Teich ist, wo andere nicht auf uns warten. Ich glaube, dass wir mit dem AI-Act schon Chancen haben, international Maßstäbe zu setzen. Es muss uns aber bewusst sein, wir bewegen uns da auf einem sehr schmalen Grat. Also diese Maßstäbe müssen stark genug sein, dass sie wirken und sie müssen auch so balanciert sein, dass sie für andere akzeptabel sind. Gleichzeitig dürfen sie unsere eigene Daten- und KI-Ökonomie nicht abwürgen, das heißt nicht nur nicht einschränken, sondern sogar stark fördern. Vergleichen

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wir das Ausmaß der Fördermittel, die in die einzelnen Bereiche hineinfließen, dann erkennen wir schnell, dass Europa sehr weit zurückliegt. Und es funktioniert nicht, etwas zu regulieren, was ich selbst nicht habe und – jetzt vielleicht etwas drastisch ausgedrückt – zu hoffen, dass das jemand, der schon viel weiter ist, es dann kopiert. Ich wüsste nicht, warum man das machen sollte. Es geht nur über wirtschaftlichen Zwang oder regulatorischen Zwang sowie um die darunterliegende Technologie. Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Beispiel

Um Fairness beim Einsatz von KI-Modellen sicherzustellen, wurden die „A1 Fair AI-Guidelines“ ins Leben gerufen. Bereits vor dem Einsatz der Modelle beschäftigen wir uns also mit möglichen Auswirkungen des Modells auf unterschiedliche Kundengruppen. Im Sinne der Transparenz müssen dabei im Vorhinein folgende Fragen beantwortet werden: • Was ist die Anforderung, welche das Modell lösen soll? • Welche Daten und Zielgruppendefinition werden für das Training des Modells verwendet (möglicher Bias in Trainingsdaten)? • Welche Attribute werden verwendet, wie sensitiv sind diese und wie stark beeinflussen sie die Entscheidung? • Welcher KI-Algorithmus wird verwendet? • Was ist der mögliche Schaden des Modells auf unterschiedliche Zielgruppen unter besonderer Berücksichtigung von Randgruppen? • Was wurde unternommen, um den Bias zu minimieren? In Bezug auf sensitive Attribute ist besondere Vorsicht in Bezug auf mögliche diskriminierende Ergebnisse geboten. Dazu zählen unter anderem Geschlecht, Alter, sozial benachteiligte Gruppen oder eine bestimmte Herkunft. So kann die Information der Herkunft zu unfairer Behandlung oder gar einem Ausschluss einer bestimmten Gruppe an Kund:innen führen. Damit das nicht passiert, muss das beim Erstellen des Modells entsprechend berücksichtigt werden. Dafür wurde ein Prozess definiert, welcher klare Schritte bei möglichen kritischen Auswirkungen vorsieht. Der zunehmende Einsatz von KI führt dazu, dass mehr und mehr Entscheidungen von Menschen an datengetriebene Algorithmen abgegeben werden. Als Leitbetrieb in Zentral- und Osteuropa ist es die Verantwortung von A1 sich diesem Thema anzunehmen. Das ist absolut im Sinne des digitalen Humanismus und sichert, dass Technologie den Menschen zugutekommt. Und damit meinen wir wirklich allen Menschen. Für A1 bedeutet Digitaler Humanismus das Mitdenken des Anderen.

Versicherungen brauchen global die gleichen Ausgangsbedingungen Das Grundprinzip der europäischen Versicherungswirtschaft: Daten gehören Kund:innen Andreas Brandstetter, Vorstandsvorsitzender UNIQA Insurance Group AG

Kurzfassung

Im Interview von Andreas Brandstetter mit Georg Krause wird deutlich, dass das Unternehmen traditionell großen Wert auf ethische Grundsätze und Vertrauen legt. Er zeigt auf, wie dieses in den eigenen Werten und der DNA des Unternehmens verankert ist und wie es gelebt wird. Moderne Technologien wie Künstliche Intelligenz und digitale Lösungen werden eingesetzt, um Kundennutzen zu schaffen und gleichzeitig mögliche Nachteile zu vermeiden. Anhand konkreter Beispiele stellt er dar, wie durch digitale Lösungen Menschen in schwierigen Situationen noch schneller und besser geholfen werden kann. Im Gespräch betont Brandstetter das Potenzial von KI in der Versicherungsbranche, insbesondere bei der Risikobewertung. Uniqa engagiert sich im Gesundheitssektor und strebt eine Partnerschaft mit anderen Institutionen an, um ein integriertes und patientenzentriertes Gesundheitssystem aufzubauen. Global einheitliche Standards und ein „globales Level Playing Field“ sind für Brandstetter von zentraler Bedeutung, um eine verantwortungsvolle KI-Entwicklung und somit die Grundprinzipien des Digitalen Humanismus zu gewährleisten, ohne an globaler Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 101 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_8

Fotocredit: msg Plaut

„Wir können einen Digitalen Humanismus nur global denken.“ Andreas Brandstetter, Vorstandsvorsitzender UNIQA Insurance Group AG

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich… …die Würde und die Rechte des Menschen auch in digitalen Zeiten weiterhin in den Mittelpunkt zu stellen. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … … überall dort, wo Menschen explizit darauf hingewiesen werden, was es für sie bedeutet, Daten auch nicht zu teilen. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird beziehungsweise bleibt, welcher wäre das? Sich immer die Frage stellen: Was ist der unmittelbare Vorteil diese Aktion oder Handlung für den Menschen? Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die europäische bzw. österreichische Politik? Besser europäisch als österreichisch. Und welcher Regulierungsbedarf es auch immer ist, es möge eine andere Regulierung dadurch wegfallen. Was ist die eine Sache, die unserer Organisation am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus noch besser umsetzen zu können? Noch besser zu verstehen, wo wir bei unseren Leistungen einen unmittelbaren Vorteil, eine Vereinfachungen, eine Verbesserungen für unsere Kund:innen schaffen können. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Langfristig denken. Bei Entscheidungen die Frage stellen: Kann ich mich damit auch noch in drei, fünf oder zehn Jahren in den Spiegeln schauen? Mein wichtigster Beitrag als CEO der UNIQA bei der Umsetzung der ethischen Prinzipien im Unternehmen ist … … unsere Werte versuchen vorzuleben, unabhängig davon, ob wir uns in digitalen Zeiten befinden oder nicht.

Gleiche Ausgangsbedingungen für Versicherungen

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Georg Krause: Was verstehst du unter Digitalem Humanismus? Andreas Brandstetter: Der Digitale Humanismus hat das Potenzial und läuft Gefahr, eines der größten Buzzwörter der Geschichte zu werden. Dahinter ver­ birgt sich die Schrebergartenidylle, dass wir in einzelnen europäischen National­ staaten der Europäischen Union etwas schaffen, das uns wieder vom Rest der Welt entkoppelt und das uns erneut in den Zustand eines Freilichtmuseums zurückversetzt.

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Um es auf den Punkt zu bringen, du verbindest den Begriff sehr stark mit Europa. In anderen Beiträgen wurde bereits auch der globale Aspekt erwähnt. Der Begriff Humanismus ist sehr stark in Europa verwurzelt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Erasmus von Rotterdam, der auch Fürst der Huma­ nist:innen genannt wurde. Aber wir Europäer leben Humanismus derzeit ei­ gentlich nicht. Bevor wir uns also über den Digitalen Humanismus den Kopf zerbrechen, sollten wir uns einmal über den quasi alten, den eigentlichen euro­ päischen Humanismus unterhalten. Erst dann können wir zum digitalen Huma­ nismus übergehen. In meiner Funktion als Präsident des europäischen Verbandes für Versicherun­ gen und Rückversicherungen möchte ich aber davor warnen, zu glauben, wir in Europa könnten digitalen Entwicklungen einfach ein humanes Gesicht aufsetzen und uns vom Rest der Welt entkoppeln. Das wird so nicht funktionieren.

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Ihr setzt vieles um, intern wie auch extern, was den Ideen und Werten des Digitalen Humanismus entspricht, selbst wenn ihr es vielleicht unter einem anderen Begriff zusammenfasst. Bei uns sind es die fünf Leitprinzipien: Kund:innenzentrierung, Einfachheit, Ver­ antwortung, Integrität und Gemeinschaft. Die Versicherungswirtschaft bzw. gute Unternehmen haben diese Werte, ob wir sie als humanistisch bezeichnen oder nicht, ist Geschmackssache. Aber es gibt eine ganz tiefe intrinsische Verant­ wortung in diesen Unternehmen, dass sie ihre Kund:innen, die Mitarbeitenden und Aktionär:innen nach bestimmten Werten behandeln. In unserer Branche ist es dabei besonders wichtig, die Welt besser zu übergeben als wir sie vor­ gefunden haben. Unser starkes Engagement gegen den Klimawandel ist das beste Beispiel dafür. Digitaler Humanismus ist etwas, worüber gerade viel geschrieben und gespro­ chen wird. Bedenken wir, dass 55 Prozent der Menschheit nicht in Demokratien leben. Und wir wissen, was es bedeutet: Tagtäglich erleben wir, dass digitale Anwendungen in die Hände von Despoten gelangen. Das gibt diesen Herrschern

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bisher unbekannte Machtinstrumente in die Hand. Es stellt sich somit die Frage, welche Art der Datenverarbeitungsstruktur wir künftig haben werden: Es wird „gute“ und es wird „nicht gute“ geben. In Europa sollten wir alles tun, damit es gute, saubere Datenverarbeitungsstruk­ turen gibt, die auf ethischen Prinzipien beruhen. Wir sollten aber nicht glauben und uns dahingehend auch nicht täuschen lassen, dass wir unsere Prinzipien global ausrollen werden. Und trotzdem darf daraus kein erneuter Wettbewerbs­ nachteil entstehen, wie bei vielen anderen Dingen.

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Aber wie können wir diese ethischen Werte leben bzw. umsetzen ohne, dass sie zum Wettbewerbsnachteil werden? Hast du dahingehend Vorstellungen, wie uns das gelingen kann? Ich stehe für die europäische Versicherungsbranche, die massiv darunter leidet, viel, viel stärker reguliert zu sein als in den USA oder in Asien. Wenn wir als eu­ ropäische Versicherungsunternehmen in den USA Geschäfte machen wollen, brauchen wir bis zu 30 Prozent mehr Kapital als amerikanische Unternehmen. In Asien ist vor allem der Umgang mit digitalen Strukturen verglichen zu Europa sehr unterschiedlich. Ich plädiere dafür, nicht arrogant zu glauben, was wir in Europa umsetzen, sei der Nabel der Welt. Vielmehr leben wir in einem globalen Wettbewerb: Versicherungen schaffen Wohlstand, beschützen hunderte Millio­ nen Europäer:innen. Wir investieren als größter Investor Europas 11 Billionen Euro an Vermögenswerten. Global suchen wir verzweifelt grüne Investments. Und in einer global interdependenten Wirtschaft, betone ich noch einmal: Wir können einen Digitalen Humanismus nur global denken. Europa darf nicht erneut den Fehler begehen und versuchen der Welt aufzuok­ troyieren, wie sie zu denken und wie sie bestimmte ethische Prinzipien an­ zuwenden hat. In mir findest du einen überzeugten Verfechter eines Digitalen Humanismus, solange uns daraus global kein Wettbewerbsnachteil erwächst. Das Ergebnis wäre, und davor kann ich nur sehr vehement warnen, dass sich die Kluft zwischen unserer bereits stark schrumpfenden Wettbewerbsfähigkeit und dem Rest der Welt weiter vergrößert.

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Ihr nehmt diese Werte sehr ernst und achtet sie auch, das ist vor allem in Österreich erkennbar. Warum habt ihr diesen Weg der Werte eingeschlagen, wenn er aus Deiner Sicht Wettbewerbsnachteile bringt? Ihr könntet ja auch sagen, wir kümmern uns nur um das gesetzlich notwendige Ausmaß. Aber die UNIQA agiert weit darüber hinaus. Was ist der Motor dahinter? In unserem Fall ist es die Verantwortung gegenüber mehr als 16 Millionen Kund:in­ nen und deren Selbstbestimmung über ihr eigenes Leben. Wir haben die glasklare Philosophie: Die Daten gehören ausschließlich unseren Kund:innen und ansons­

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ten niemandem. Niemals würden wir uns Daten aneignen und über diese nach eigenem Gutdünken verfügen – das wäre eine Anmaßung. Es ist letztendlich ein Grundprinzip der europäischen Versicherungswirtschaft: Daten gehören Kund:in­ nen, weder Automobilherstellern noch Datenunternehmen und schon gar nicht Finanzdienstleistern. Wenn ein Datentransfer von Kund:innen zu uns stattfindet, so muss dieser aus der Sicht des Betroffenen maximal transparent, nachvollzieh­ bar und immer widerrufbar sein. Im Mittelpunkt steht der Vertrauensvorschuss unserer Kund:innen, und nichts zerstört ihr Vertrauen schneller als irgendeine Form von Datenmissbrauch. Dieses Thema ist und bleibt fast das Allerheiligste, weil es die Intimität und Persönlichkeit von Millionen von Kund:innen berührt

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Habt ihr auf Unternehmensebene Rahmenbedienungen oder Regeln definiert, von denen man sagen kann, sie sind zumindest unternehmensintern normativ festgelegt? Wir beschäftigen uns nicht nur im Rahmen des Vorstands, sondern auch im Rah­ men unserer Eigentümer immer mehr mit diesen Themen. Insgesamt setzen sich regelmäßig drei Ausschüsse mit diesen Themen auseinander: der Ausschuss für IT, der Ausschuss für digitale Transformation und der Ausschuss für HR. Alle Aus­ schüsse sehen sich immer wieder mit den Fragen konfrontiert: Wie können wir moderne Technologien, KI oder digitale Lösungen bestmöglich im Sinne unserer Kund:innen nutzen? Das ist oft eine Gratwanderung, da weder den Betroffenen ein Nachteil entstehen soll, noch ein Reputationsschaden entstehen darf. Ethische Fragen waren in der Versicherungslandschaft immer ein Kernthema, weil es kaum vergleichbare Branchen gibt, die so viel mit Vertrauen arbeiten. Unser Geschäftsmodell ist es, dass wir gegen Geld ein Versprechen abgeben. Jeder und jede die wir enttäuschen, bedeutet für uns einen Reputationsverlust. Das tiefe ethische Verständnis darüber, was wir tun, haben wir in unseren Werten verankert, geht aber noch darüber hinaus.

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Dass sich auch der Aufsichtsrat damit beschäftigt, ist sicherlich ein sehr moderner Ansatz. Wie lässt sich das Grundverständnis beispielsweise über den Umgang mit Daten auf die Mitarbeitendenebene herunterbrechen? Durch Bewusstseinsbildung: Der Vorstand sorgt für Sensibilisierung im Unter­ nehmen, etwa durch Diskussionen in den einzelnen Teams bei der Umsetzung von diversen Projekten. Zudem gibt es in Europa eine sehr aktive Versicherungs­ marktaufsicht, auf nationaler Ebene zudem noch die Finanzmarktaufsicht, die diesen Themen immer mehr Aufmerksamkeit schenken. Das Problem, unter dem wir leiden, ist, dass die Geschwindigkeit der Entwicklung von künstlicher Intel­ ligenz und digitalen Anwendungen so rasch voran geht, dass wir mittlerweile, wie in einer komplexen Matrix reguliert werden.

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Das bedeutet: wir haben Regularien, gültig auf europäischer Ebene, die speziell für unsere Branche entwickelt wurden, so auch der Digital Operational Resilience Act (DORA). Parallel dazu gibt es aber gleichzeitig, ausgehend von der Brüsseler Kommission, horizontale Regulatorien, die noch dazukommen, die aber für die meisten Industrien gleichermaßen gelten, etwa der sogenannte Cyber Resil­ ience Act. Also treffen – wie in einer komplexen Matrix – viele regulatorische Anwendungen aufeinander. Diese sind aus Sicht der Behörden nachvollziehbar, um die Komsument:innen zu schützen und um Transparenz aufzubauen. Gleich­ zeitig erhöht sich dadurch aber die Komplexität im operativen Geschäft, letztlich werden auch die Bedingungen für die Endkund:innen komplexer. Derartige regulatorische Anwendungen erhöhen die Komplexität und verursa­ chen zudem ungeahnte Kosten bei uns. Das sind Tatsachen, die es in anderen Wirtschaftsräumen auf der Welt nicht gibt. Daraus ergibt sich: sobald wir Ge­ schäfte außerhalb Europas ins Auge fassen, haben wir einen Startnachteil, ob­ wohl die ursprünglichen Intentionen des europäischen Gesetzgebers durchaus gut und nachvollziehbar sind.

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Offenbar habt Ihr bereits umfassende Überlegungen und Vorstellungen zu diesen Themen, die auch mit dem Aufsichtsrat akkordiert sind. Es gibt aber viele Themen, die KI ist ein gutes Beispiel, wo Dinge auf einer eher operativen Ebene, in einem Land oder einer Abteilung, entstehen und die auf der TopEbene eines Unternehmens vielleicht in dieser Form gar nicht wahrgenommen werden. Richtlinien oder diverse Ethik-Boards können dabei helfen, diese zu erkennen und zu steuern. Habt ihr hier dahingehend Überlegungen bzw. Ansätze entwickelt? Vielleicht tut sich unsere Branche hier leichter, weil die Themen Nachhaltigkeit und Vertrauen die Grundwährung darstellen, in der wir unsere Dienstleistungen seit Jahrtausenden erbringen. Geht das Vertrauen verloren, sind die Kund:innen weg. Was uns immer hilft, ist die Sensibilisierung durch den Vorstand: Er verdeutlicht, worum es geht. Er nimmt sich die Zeit, etwa bei Townhalls oder Etagenkaffees, er spricht darüber, zieht Vergleiche und erwähnt Beispiele. Die Führungskräfte sprechen aber genauso über Fehler, die letztendlich in jedem Unternehmen pas­ sieren. Diese Vorgangsweise hat etwas Menschliches und schafft Bewusstsein. Das gilt übrigens auch für das Thema Klimawandel, das vor allem bei den jungen Mitarbeitenden immer mitgedacht und mitberücksichtigt wird. Ein Unternehmen, das nach Außen nur vorgibt, ethische Grundsätze zu leben, sie aber in Wirklichkeit nicht wirklich umsetzt – völlig egal ob es sich um die Digitalisierung oder einen anderen Bereich handelt – hat schon verloren. Das ist nicht die Kür, das ist die Pflicht, die jedes in Europa oder Österreich relevante Unternehmen erfüllen muss. Wir haben noch keine verschriftlichten Leitlinien zu diesem Thema, das ist dann der nächste Schritt. Das hat aber einen bestimmten Grund, und zwar die bereits erwähnte enorme Geschwindigkeit, mit der sich künstliche Intelligenz weiter­

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entwickelt. Das ist auf der einen Seite spannend und eröffnet unzählige neue Möglichkeiten. Andererseits ergibt sich aus dem hohen Tempo der Entwicklung die Schwierigkeit, etwas zu verschriftlichen, festzuhalten und langfristig auch einhalten zu können. Kaum haben wir uns geeinigt, werden wir vom Tempo der KI-Entwicklung bereits wieder überholt. Wir müssen, und das ist das Spannende daran, im Unternehmen up to date bleiben. Unsere „Digitale Ethik“ ist also noch nicht auf allen Ebenen des Unternehmens verschriftlicht und mit konkreten Zielen ausformuliert. Andererseits: Unsere zu Beginn genannten fünf Guiding Principles sind zwar niedergeschrieben, sie fin­ den sich aber in keinem Entlohnungssystem. Denn wie soll ich Mitarbeitende nach Integrität beurteilen? Ich gehe davon aus und weiß, dass die Mitarbeiten­ den integer sind. Wir versuchen bei Einstellungen und Weiterbildungen darauf zu achten, dass die Kolleg:innen entsprechend unseren Werten agieren.

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So gesehen kann man sagen, dass ihr dafür sorgt, dass gewisse Wertvorstellungen gefördert werden und die Mitarbeitenden darauf achten sollen, damit daraus ein Selbstverständnis wird. Es gibt auch keinen Alleinverantwortlichen, der sich darum kümmert? Es kann wie bei großen Projekten eine Schnittstelle geben oder eines Tages ei­ nen Single Point of Contact. Aber grundsätzlich ist dieses Bewusstsein ein sehr wichtiger Teil der Unternehmens-DNA. So werden diese Werte in digitale Zeiten transferiert. Es gab vor zwei Jahren eine Diskussion, die von der Automobilindus­ trie ausgelöst wurde: Wenn ich ein Auto kaufe oder in ein Auto einsteige, willigst du ein, dass deine Bewegungsdaten bzw. deine personalisierten Daten von dem jeweiligen Automobilproduzenten verarbeitet werden dürfen. Das kann und darf so nicht sein, wie ich meine. Alles muss so transparent sein, dass ausschließlich die Nutzer:innen darüber entscheiden, was mit ihren Daten passiert, wer sie bekommt und wer nicht. Grundlage dafür ist eine eindeutig definierte Customer Journey.

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Deine Aussage ist sehr klar und eindeutig formuliert. Und sie leitet sich ja unmittelbar aus einer der Richtlinien der Europäischen Union ab, dass die Daten den Bürgern gehören sollen. Eine zentrale Frage des Digitalen Humanismus ist die Frage nach den Auswirkungen, sobald wir für die Menschen bestimmte Lösungen erstellen. Ihr habt viele Initiativen, die das Leben eurer Kund:innen einfacher gestalten. Kannst du uns dahingehend einen Überblick geben? Wir haben anfangs im Zusammenhang mit dem Humanismus Erasmus von Rot­ terdam erwähnt. Aufklärung bedeutet, dass ich ein wissensbasiertes Denken besitze, mit dem ich althergebrachte Gerüchte, Traditionen, möglicherweise sogar religiöse Zuschreibungen überwinden kann. Deswegen versuchen wir im Unternehmen Mitarbeitenden, aber natürlich auch Kund:innen, die Vorteile

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neuer digitaler Lösungen zu erklären. Bei Mitarbeitenden achten wir auch darauf zu betonen, warum diese Innovation kein Job-Killer ist. Ohne digitale Anwen­ dungen könnten wir die Flut an Kundenanfragen und Leistungsanforderungen gar nicht mehr bewältigen. Ein Beispiel: Bei unserer ambulanten Krankenver­ sicherung werden bereits mehr als 60 Prozent aller Abrechnungen über die myU­ NIQA App abgewickelt, nur noch 40 Prozent wählen eine nicht digitale Variante. Wir haben unterschiedliche Systeme, etwa unsere „Digitale Sachbearbeiter“ und „Roboter“, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten. Ihre Aufgabengebiete bezie­ hen sich unter anderem auf die Erfassung der Daten und Schadensfälle, auf die Überprüfung einer möglichen Deckungszusage, aber sie klären auch ab, ob die einzelnen Komponenten mit den Daten der Kund:innen übereinstimmen. Den „digitalen Sachbearbeiter“ hat UNIQA in Zu­sammenarbeit mit dem Start-up omni:us 2021 gelauncht: – Das Ziel dabei ist es, standardisierte Schadensfälle zu automatisieren. Früher dauerte die Bearbeitung eines Schadensfalles zwischen 5 Tagen und 2 Wo­ chen. Dieser Prozess wird auf einen Tag verkürzt werden. Das bedeutet: Von der Schadensmeldung bis zur Auszahlung in 24 Stunden. – 2022 wurden bereits über 20.000 Elementarschäden (Leitungswasser, Glas­ bruch, Feuer und Sturm) mithilfe von KI angelegt (first notice of loss – erste Schadenmeldung). Das System erkennt bei eingereichten Schadensmeldun­ gen, auch wenn diese unstrukturiert als E-Mail gesendet werden, automatisch den Schaden sowie die Ursache und legt darauf aufbauend einen Akt an. Darüber hinaus ist das System in der Lage, die wesentlichen versicherungs­ technischen Überprüfungen selbstständig durchzuführen, wie etwa die Deckungsprüfung und die Kontrolle der damit verbundenen Bedingungen. Auch erkennt die KI, welche zusätzlichen Unterlagen noch für eine Regulie­ rung notwendig wären und fordert diese selbstständig an. Einige Beispiele aus dem Bereich „Kunde und Service“ sind etwa: – Der erste Roboter ging im März 2019 in Betrieb. Dieser bearbeitet seither die Freigabe der Kostenübernahmebestätigungen für die UNIQA Vitalplan. – Ein anderer Roboter ändert etwa kundenbezogenen Daten wie E-Mails oder Telefonnummern und informiert dann Kund:innen, dass die Änderungen durchgeführt wurden. – Ein weiterer Roboter storniert KfZ-Verträge nach der Abmeldung – entweder mit dem Papierstück oder über die Verkehrsbehördenmitteilung. – Ein weiterer Roboter kümmert sich um die Wiederaktivierung des Fahrzeug­ vertrags nach einer Wiederausfolgung des Kennzeichens. – In Summe wurden seit März 2019 über 300.000 Fälle bearbeitet. – Das bedeutet, dass sich UNIQA Kolleg:innen im Ausmaß von über 2.000 Per­ sonentagen um komplexere und individuellere Fälle kümmern konnten – die 08/15 Fälle wurden von einem Roboter übernommen.

Gleiche Ausgangsbedingungen für Versicherungen

Wir merken, dass digitale Anwendungen und KI auf der Mitarbeiter:innenseite für Entlastungen gesorgt haben und somit dieses Thema auch an Bedrohung verloren hat: Unsere über 15.000 Mitarbeitenden erkennen, hier ist künstliche In­ telligenz im Einsatz, ihretwegen verliere ich aber nicht meinen Job. Die Expertise der Mitarbeitenden wird dann nämlich für etwas Anderes benötigt. Dazu zählen komplexere Aufgaben, die die KI (noch) nicht bewältigen kann. Wird der Entwicklungsprozess dazu führen, dass die UNIQA eines Tages an­ stelle von 15.000 nur noch 7.000 Mitarbeitende hat? Ich glaube das nicht. Ich bin überzeugt davon, dass wir dann einfach Potenzial freisetzen können, um Mitarbeitende für andere Projekte einsetzen zu können. Aus der Perspektive der Kund:innen ergeben sich die großen Vorteile auf der „After-Sales-Seite“, also nachdem wir ein Produkt verkauft haben: Verein­ fachung, Geschwindigkeit, Convenience. Die Versicherten bekommen heut­ zutage beispielsweise in vielen Bereichen viel schneller ihr Geld. Sie müssen keine Dokumente ausdrucken, ausfüllen, scannen, an uns schicken – nahezu alles wurde vereinfacht. Ein Großteil unserer Investitionen, 80–90 Millionen Euro pro Jahr, fließt schwerpunktmäßig in die Bereiche Data, IT und KI – alles, was also derzeit hinter den Kulissen stattfindet. Das hat für uns den Effekt, dass wir steigende Geschäftsvolumina besser abfedern und auch Kostenvorteile nutzen können. Wer seit Jahrzehnten in dieser Branche tätig ist, wundert sich über den Hype, den die KI derzeit auslöst. Künstliche Intelligenz gibt es schon sehr lange, auch wenn sie damals vielleicht anders benannt wurde. Es hat sich nur das Tempo der Entwicklung gewaltig beschleunigt und das Volumen der global verarbei­ teten Daten. Es war über die letzten vier Jahre gesehen eine explosionsartige Vermehrung und ChatGPT hat alles noch plastischer gemacht: Ich könnte dieses Gespräch nun sofort in eine Power-Point oder in ein Word-Dokument übersetzen lassen. Dass sich das Tempo so beschleunigt hat, ist großartig. Aber der Grund, warum wir nie wirklich Angst vor KI hatten, ist: Sie ist in unserem Unternehmen seit Jahren Teil unseres Lebens – in unseren IT-Systemen, bei unserer App, bei Online-Angeboten im Bereich mentaler Gesundheit oder etwa bei Chatbots.

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Ihr entwickelt auch außerhalb, nicht nur im Kerngeschäft, sehr viele Innovationen. Dort entstehen auch viele neue Ideen. Werden diese Innovationen gemäß euren ethischen Grundsätzen überprüft oder geht ihr davon aus, dass eure Leitgrundsätze so und so eingehalten werden? Ich denke in diesem Zusammenhang auch an das Tochterunternehmen SanusX, das innovative Gesundheitsdienstleistungen anbietet. Es ist ebenfalls Teil unserer DNA, dass sich jedes Tochterunternehmen strengsten ethischen Prinzipien unterwirft, ohne dass wir einen speziellen digitalen Ethik­

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code haben. Möglicherweise müssen wir aber eines Tages verstärkt in diese Richtung gehen. SanusX ist im Gesundheitsbereich tätig, das Mutterschiff UNIQA im Versicherungsbereich. Für beide Industrien gilt: Vertrauen ist und bleibt die wichtigste Währung. Es geht heutzutage um mentale Gesundheit oder um das höchst aktuelle Thema der Pflege inklusive 24h-Betreuung zu Hause. Wenn du deine Versprechen in diesen Bereichen nicht einhalten kannst, wird es sehr eng für das Unternehmen.

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Die Daten gehören den Kunden, das hast Du überzeugend zum Ausdruck gebracht. Die Leitlinie hast Du ebenfalls schon erwähnt. Doch wie wird in sogenannten Graubereichen verfahren, die immer wieder auftreten. Wie wird dann entschieden? Im Zweifelsfall treffen wir eine Entscheidung, die auf Sicherheit basiert. Wir stellen uns die Frage: Sind wir uns sicher, dass wir im Namen des:der Kund:in entscheiden können? Oder holen wir das Einverständnis ein, um ganz sicher­ zugehen? Vor 20 Jahren, also seitdem ich im Vorstand bin, trafen wir einige Entscheidungen, die aus der damaligen Perspektive eindeutig und klar waren. Dabei rede ich jetzt gar nicht speziell von Daten, sondern von ganz unterschied­ lichen Geschäftsbereichen. Wenn wir jedoch heute, 10 oder 15 Jahre später, auf diese Entscheidungen zurückblicken, erscheinen sie uns zum Teil völlig unver­ ständlich. In diesem Zusammenhang müssen wir also versuchen, vorauszudenken, in wel­ che Richtung sich die Welt weiterentwickelt und welche Worst-Case-Szenarien wir erwarten und einkalkulieren müssen. In unserem Strategieprogramm haben wir deshalb bewusst ein sogenanntes Weltbild hinterlegt. Darin sind Thesen fest­ gehalten, wie sich die Welt aus unserer (damaligen) Sicht weiterentwickeln wird. Aber: Obwohl die WHO seit Jahren vor einer Pandemie gewarnt hatte, haben wir Corona nicht vorhergesehen, und wir hatten auch den falschen Krieg antizipiert: Wir rechneten fest mit einer kriegerischen Auseinandersetzung zwischen China und Taiwan, obwohl der derzeitige Krieg vor unserer Haustür stattfindet. Also haben wir vieles im Voraus nicht erkannt – die berühmten schwarzen Schwäne. Daher stellen wir uns immer wieder die Frage: Was könnte man uns in 15 Jahren vorwerfen? Was werden wir übersehen haben? Diese Vorgehensweise bewirkt manchmal einen kulturellen Clash mit den in­ novativen Kräften im Unternehmen. Es wird argumentiert, dass wir zu risikoavers und andere Unternehmen schneller und mutiger sind. Doch heutzutage bin ich darauf bedacht, dass wir möglichst wenige Fehler dieser Art machen, die unser Unternehmen in 15 Jahren wie ein Bumerang treffen könnten.

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Wenn du in die Zukunft blickst, siehst du Bereiche, die durch KI noch mehr Vorteile für die Menschen, die Versicherten mit sich bringen werden? Wenn Kund:innen bereit sind, ihre Daten mit uns zu teilen, ermöglicht uns dies, noch präzisere Angebote zu erstellen. Durch die Akquisition eines Mitbewerbers in Osteuropa haben wir in den letzten Jahren viel in unserem Kernbereich, dem Pricing, dazugelernt. Wir haben erkannt, dass Künstliche Intelligenz (KI) es uns ermöglichen wird, Risiken besser einzuschätzen und ein verbessertes Pricing anzubieten. Früher dauerte die Beurteilung von Schäden in unserer Branche zwischen 5 Tagen und zwei Wochen. Bei KI-unterstützten Fällen können wir dies heute in 24 Stunden bewerkstelligen. Ich sehe keinen Grund, warum dies in Zukunft für die meisten Kund:innen nicht auf wenige Stunden oder sogar Minuten reduziert werden könnte. Ich erwarte daher eindeutig, dass KI uns eine große Unterstüt­ zung bietet und damit die Qualität unserer Leistungen in allen Bereichen ver­ bessert – sei es für Krankenversicherte, Personen- und Unfallversicherte oder im Bereich des Privatkundengeschäfts bei Schäden und Unfällen.

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Die Krankenversicherung, wenn wir beim Gesundheitswesen bleiben, ist ein Baustein in einem Gesundheits-Ökosystem. Bringt Ihr Euch mit Euren Werten und Vorstellungen in diese Plattformen verstärkt ein, um hier vielleicht auch eine führende Rolle übernehmen zu können? Vor acht Jahren haben wir begonnen unser Ökosystem-Konzept umzusetzen. Die gesamte Versicherungsbranche hat im Grunde vier Möglichkeiten sich an Ökosystem zu beteiligen: Mobilität, Wohnen, Gesundheit und Risikoprävention. Im Gegensatz zur Allianz oder zur Zürich-Versicherung sind wir keine global agierende Versicherungsgesellschaft. Als mittelgroßer Player, der in 18 europä­ ischen Ländern aktiv ist, haben wir uns bewusst dafür entschieden, uns stärker als andere zu fokussieren. Wir haben uns für den Bereich Gesundheit entschie­ den, weil wir hier eine starke Position haben. Wir sind der größte private Kran­ kenversicherer in Österreich, haben aber auch außerhalb des Versicherungs­ bereiches wesentliche Assets. UNIQA ist beispielsweise Eigentümerin von fünf Privatspitälern, in denen wir jährlich 47.500 Patient:innen stationär versorgen. Wir bieten aber auch mobile Gesundheitsleistungen oder ein österreichweites Partnernetzwerk aus knapp 400 Ärzt:innen, Apotheken, Laboren und Röntgen­ institute. Mit SanusX bauen wir deshalb seit einigen Jahren unser Ökosystem Gesundheit auf. Unter anderem geht es um betriebliche Gesundheitsdienstleistungen, wo wir in Österreich im mentalen Bereich bereits Marktführer sind, oder um Pflege und 24 Stunden-Betreuung.

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Dabei treten wir als Orchestrator und teilweise als Marktteilnehmer auf. Wir haben viel gelernt, insbesondere über das Teilen von Ressourcen. Wir haben unsere ursprüngliche Arroganz abgelegt, nämlich zu glauben, dass wir alles zu 100 Prozent selbst besitzen zu müssen. Denn die Wahrheit ist: Der Kuchen ist heute zehnmal größer geworden. Und es ist besser, einen Teil davon zu haben, als einen winzigen Kuchen alleine zu besitzen. Ein Sprichwort, das wir derzeit in der Praxis lernen, lautet: „Wenn du schnell gehen willst, dann gehe allein. Aber wenn du weit gehen willst, dann gehe gemeinsam.“ Im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten spielt auch das Thema „Daten tei­ len“ eine wichtige Rolle. Wenn wir nach China schauen, sehen wir, dass Ping An Insurance eine dominierende Position im Bereich der Gesundheitsvorsorge einnimmt. Das Unternehmen geht jedoch auch auf eine andere Art und Weise mit Daten um. Für UNIQA ist das kein Nachteil, da wir nicht auf den chinesischen Markt abzielen. Dennoch stehen wir im Wettbewerb um Investorengelder mit global denkenden Investoren, die grundsätzlich gleiche Ausgangsbedingungen fordern. Wenn wir uns daher Restriktionen unterwerfen, die für andere nicht gelten, mag dies für eine gewisse Zeit funktionieren. Aber langfristig betrachtet brauchen wir ein „Level Playing Field“.

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Wie werden denn solche digitalen Plattformen, die ein hohes Potenzial haben, das Leben der Menschen zu verbessern, in Zukunft einmal aussehen. Gibt es dazu Ideen, Konzepte oder bereits konkrete Vorstellungen? Versicherungen haben eine vielversprechende Zukunft vor sich, da die Grenzen zwischen den Branchen verschwinden. Ein Beispiel: Alle, die bisher Mobilität angeboten haben, waren im Grunde genommen Autoproduzenten. Dann kam die Sharing-Industrie, die die Idee der gemeinsam genutzten, geliehenen oder getauschten Mobilität zum Geschäftsmodell machte. Doch nichts hindert uns daran, dass auch Versicherungen oder der Finanzdienstleister Mobilität anbie­ ten oder sich zumindest entsprechend am Ökosystem beteiligen. Warum? Weil allen vier bereits genannten Ökosystemen eine Annahme zu Grunde liegt: Sie befriedigen ein Bedürfnis. Gerade die gesättigte westliche Wohlstandsgesell­ schaft möchte weiterhin all ihre Bedürfnisse erfüllt haben. Dafür benötigt man jedoch jemanden, der das damit verbundene Risiko übernimmt. Das bedeutet, dass die Möglichkeit, unsere Produkte in den nächsten Jahrzehnten weiterhin zu verkaufen, nahezu unbegrenzt ist. Damit sind wir, etwa im Vergleich zur Medien­ welt, eine privilegierte Branche. Bei einer zukünftigen Gesundheitsplattform werden alle Anwendungen, staat­ liche – wie etwa die Gesundheitsakte – genauso wie private Lösungen, enger zusammenwachsen. Wir sehen uns als Partner des Staates, doch diese Rolle wird von den einzelnen staatlichen und staatsnahen Institutionen (Sozialver­

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sicherung, Ärztekammer, Apothekerkammer) oft nicht so wahrgenommen. Leider erleben wir dort teils noch eine „Silo-Mentalität“, die Notwendigkeit und vor allem die Vorteile des Teilens von Wissen und Fähigkeiten wurden noch nicht ausreichend verstanden. Stattdessen herrscht eher noch eine EllbogenMentalität, wodurch wir nicht als Partner, sondern als Konkurrenten angesehen werden. Doch in diesem Punkt spielt die Zeit eindeutig für das Ökosystem-Kon­ zept, denn wir müssen das System einfach aus der Perspektive der Kund:innen bzw. Patient:innen heraus betrachten. Wenn es um Prävention oder Krankheit geht, ist ganz klar, dass der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Mittelpunkt stehen muss. In diesem Moment ist es dem Menschen egal, wer in der Wertschöpfungskette welchen Service orchestriert und wer wie viel daran verdient. In diesem Zusammenhang wird die digitale Ent­ wicklung einen großen Beitrag leisten. Daher habe ich eine so positive Grund­ haltung gegenüber der digitalen Entwicklung, solange sie global ist.

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Welche Rahmenbedingungen sind denn notwendig bzw. was sind deine Wunschvorstellungen, damit das im weltweiten Wettbewerb auch so funktioniert? Wer ist wofür verantwortlich, damit diese Vorstellungen Realität werden können? Was auf keinen Fall passieren darf, und ich möchte hier an die Blamage in Italien erinnern, ist eine Maßnahme wie ein nationales Verbot von ChatGPT. Nationale Alleingänge innerhalb Europas können keine Lösung für Probleme sein – das heute noch zu glauben, ist geradezu peinlich. Es bedarf mindestens länderüber­ greifender Lösungsansätze innerhalb der EU. Basierend darauf müssen wir dann einen strukturierten Dialog mit anderen Wirtschaftsblöcken führen, sei es mit den USA oder mit Asien. Dort, wo europäische Politiker:innen diesbezüglich Verhandlungen führen, müssen sie klarstellen, dass KI in den kommenden Jahr­ zehnten nach dem Kampf gegen den Klimawandel das zweite große Thema der Menschheit sein wird. Wir benötigen eindeutig weltweite Standards. Dabei besteht mein Worst-Case-Szenario nicht in einem Konflikt zwischen den USA und China oder zwischen den USA und Europa, auch wenn es hier unter­ schiedliche Standards geben mag. Meine größte Sorge ist, dass KI in die falschen Hände gerät: Nämlich nicht unter der Kontrolle von Nationalstaaten, sondern in den Händen von Gruppierungen oder sogar einzelne Menschen. Dies muss verhindert werden, ansonsten wird es tatsächlich zum Fall des Zauberlehrlings, den ich rief, aber nicht mehr kontrollieren kann. Vielen Dank für das interessante Gespräch.

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A. Brandstetter Beispiele

Schnellere Hilfe bei Unwettern Künstliche Intelligenz beschleunigt den sogenannten Schadenprozess in einer Versicherung enorm. Dies ist besonders bei Schaden-Großereignissen von entscheidender Bedeutung. Denn in solchen Fällen werden innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von Schadenmeldungen eingereicht, und Künstliche Intelligenz hilft dabei, diese schnell und mit gleichbleibender Qualität abzuarbeiten. Ein konkretes Beispiel verdeutlicht am besten den Vorteil für die Kund:innen: Bei Unwettern im Sommer 2021 gab es an einem Wochenende etwa 19.000 Schäden. Das stellt eine enorme Herausforderung dar. Durch Automatisierung können solche Spitzen abgefangen werden, und die Kund:innen profitieren davon, indem sie ihr Geld wesentlich schneller erhalten. Dadurch kann den Menschen in einer meist sehr dramatischen Situation besser geholfen werden. KI ermöglicht es uns, dass wir schnell sind, wenn Kund:innen uns brauchen. Das kann je nach Situation unterschiedliche Bedeutungen haben, aber immer zum Vorteil der Kund:innen: • Schäden können schnellstmöglich, teils auch innerhalb von Sekunden, abgewickelt werden, wenn sie eine gewisse Schadenhöhe nicht überschreiten, eine bestimmte Schadenursache vorliegt und unsere Kund:innen auch die entsprechenden Nachweise erbracht haben (z. B. Rechnungen). • Bei anderen Schäden kann die KI selbständig Aufträge vermitteln, damit so rasch wie möglich Hilfe vor Ort ist, etwa Sachverständige oder eine Reparaturfirma. • Wir setzen die KI auch ein, um unsere Schadenreferent:innen so gut es geht zu unterstützen, damit sich diese auf die wesentlichen Elemente der Deckungsprüfung konzentrieren können. Es erfolgt ein Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine, bei dem die Maschine alle notwendigen Unterlagen bereits im Vorhinein für die Referent:innen vorbereitet. Krankenversicherung Einreichung via App leicht gemacht: „Foto – Upload – danke!“ • Besonders beliebt sind Einreichungen in der ambulanten Krankenversicherung, mehr als 60 Prozent aller Abrechnungen werden über die myUNIQA App abgewickelt. • Dieses Feature zeigt, wie neue Technologien das Leben einfacher machen können: Einfach die Rechnung mit dem Handy fotografieren, mit der myUNIQA App hochladen und in kürzester Zeit haben die Kund:innen das Geld auf dem Konto. • Bereits über 520.000 Kund:innen nutzen die myUNIQA Plattform.

Digitalisierung und ihre Chancen für eine nachhaltige Transformation von Industrie und Infrastruktur bei Siemens Unser wertvollstes technisches Kapital ist der Mensch Patricia Neumann, Vorstandsvorsitzende, Siemens AG Österreich

Kurzfassung

Im Artikel beschreibt Patricia Neumann ihre Vorstellung von Digitalem Humanismus im Kontext der 175-jährigen Firmengeschichte und der Werte von Siemens. Sie betont, dass der Erfolg technischer Systeme nicht nur von der Technologie selbst abhängt, sondern auch vom sozialen System, in dem sie entstehen und eingesetzt werden. Mit dem vorgestellten DEGREE Programm werden nicht nur Nachhaltigkeitsziele verfolgt, sondern auch wesentliche humanistische Prinzipien verankert. Weiters führt sie aus, wie das Zusammenwirken zwischen Mensch und Maschine ausgestaltet sein soll und weist insbesondere auf den Schlüsselfaktor Bildung hin, der eine Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinander darstellt. Mitarbeitende, genauso wie Kund:innen und Partner, werden bestärkt und befähigt. Der gelebte „growth mindset“ sorgt für die laufende Qualifizierung, durch Neugier und Experimentierfreude in der Organisation. Durch Partnerschaften und ein umfassendes Ökosystem strebt Siemens eine verantwortungsvolle und transformative Zukunft an und untermauert dies mit vielen Initiativen, die beispielhaft dargestellt werden.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 117 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_9

„Unser wertvollstes technisches Kapital ist der Mensch.“ Patricia Neumann, Vorstandsvorsitzende Siemens AG Österreich

Fotocredit: msg Plaut

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich … …, dass die Technologie ein Werkzeug des Menschen ist und bleibt und der Mensch dabei immer im Zentrum der Technologie steht. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist… …, wenn es uns gelingt, die Menschenrechte zu wahren, zum Beispiel den Schutz der Privatsphäre. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird oder bleibt, welcher wäre das? Mein Wunsch wäre, dass wir über ausreichend Wissen verfügen, um fundierte und vernünftige Entscheidungen zu treffen. Daher sollte das Thema Digitaler Humanismus und die digitale Welt von Anfang an umfassend in die Ausbildung der Gesellschaft integriert werden. Welches ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische oder europäische Politik? Das ist schwer zu benennen, aber ich würde eine intelligente und smarte Regulierung in den Vordergrund stellen. Was ist die eine Sache, die unserer Organisation am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Das wäre meiner Meinung nach die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und das Agieren im Ökosystem. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Mein Tipp ist folgender: Stellt euch die Frage nach dem Warum. Was ist die Sinnhaftigkeit und der Zweck? Was möchtet ihr als Unternehmen erreichen? Erst dann solltet ihr mit konkreten Aktionen und Handlungen beginnen. Mein wichtigster Beitrag als CEO zur Umsetzung der ethischen Prinzipien im Unternehmen ist … …, dass ich mir vorgenommen habe, mit meinen Taten ein Vorbild zu sein. Meine Handlungen unterstützen die Integrität des Unternehmens und gemeinsam leben wir unsere Prinzipien und Werte.

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Um es vorwegzunehmen: Ich bin durch und durch überzeugte Technologie-Anhängerin und Digitalisierungs-Sympathisantin. Ich liebe es, beides zusammenzubringen, zu vernetzen und Neues, Sinnvolles dabei entstehen zu sehen. Woran ich aber in erster Linie glaube, ist, dass das Neue nicht immer automatisch gleich das Bessere ist und sich erst dann als „sinnvoll“ erweist, wenn es in der Entwicklung bereits das menschliche Maß der zu lösenden Aufgabe mitgedacht hat. Technische Systeme haben nämlich immer auch eine menschliche Dimension. Dieser Aspekt ist in Conways Gesetz1 sehr schön zusammengefasst: „Organisationen, die Systeme entwerfen… sind gezwungen, Entwürfe zu produzieren, die Kopien der Kommunikationsstrukturen dieser Organisationen sind.“ Damit meinte er, dass die Schnittstellen wichtiger sind als die Softwaremodule, die sie verbinden. Und für Schnittstellen ist zwischenmenschliche Kommunikation notwendig. Das erklärt auch, warum die Kommunikation einer Organisation einen starken Einfluss auf die Schnittstellen hat. Damit sind wir schon beim Kern meiner Auffassung vom Digitalen Humanismus angelangt: Die grundlegende Voraussetzung für den Erfolg eines technischen Systems ist eben nicht die Technik selbst, sondern das soziale System, in dem es entsteht und eingesetzt wird. Dem Grunde nach sind technische Systeme immer auch menschliche Systeme. Das bedeutet, dass gute technische Systeme immer nur in guten sozialen Systemen entstehen können, in denen Leadership und Team gut kommunizieren. Naturgemäß haben große Organisationen, mit einer langen Geschichte ein starkes, gewachsenes humanistisches Wertesystem. Technologieunternehmen wie Siemens leben ihr Wertesystem im digitalen Umfeld neu und übernehmen dabei eine führende Rolle in der an Bedeutung gewinnenden Netzwerkökonomie. Gerade in turbulenten Zeiten haben die Unternehmenswerte einen besonderen Stellenwert, denn Standfestigkeit ist gefragt. Resilienz ist gefordert, wenn es darum geht, unvorhergesehene Herausforderungen zu meistern. Doch was verstehen wir eigentlich unter Resilienz? Wie kann sie uns helfen, besser durch turbulente Zeiten zu kommen? Und vor allem – was hat Resilienz mit Digitalem Humanismus zu tun? Wir von Siemens wissen aus unserer 175-jährigen Unternehmensgeschichte, dass wir uns in jeder Krise immer auch diese zwei Fragen zu stellen haben: 1. Wie haben wir in der Vergangenheit krisenhafte Herausforderungen gemeistert? 2. Wie gut sind wir auf zukünftige Herausforderungen vorbereitet? In den Antworten auf diese beiden Fragen steckt auch schon die Antwort auf die Frage, wie resilient wir sind. Denn Resilienz bezeichnet letztendlich die Widerstandsfähigkeit von Unternehmen. Kritische Erfolgsfaktoren sind schnelle Reaktion, Innovation, Customer Centricity, ethisches und soziales Verhalten sowie Nachhaltigkeit. Genau dabei helfen uns Digitalisierung und Technologie. Moderne Technologie hilft Unternehmen nicht nur widerstandsfähiger, sondern auch flexibler, effektiver und produktiver zu werden. Unsere Aufgabe ist es, gemeinsam mit unseren Partnern Betriebe 1

Der US-amerikanischen Informatiker Melvin Edward Conway machte 1968 die Beobachtung, dass die Arbeitsergebnisse von Systemen durch die Kommunikationsstrukturen der sie umsetzenden Organisationen vorbestimmt sind.

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und deren Prozesse resilienter zu machen und technologische Resilienz zu schaffen und nachhaltig zu sichern.

Transforming the Everyday – Technologie mit Sinn, die dem Menschen dient Bei Siemens steht Technologie mit Sinn, die dem Menschen dient, historisch betrachtet immer schon im Mittelpunkt. Analoger und Digitaler Humanismus sind Teil der Unternehmens-DNA. Hier lohnt sich ein Blick in die Geschichte. Siemens gibt es seit 175 Jahren. Das Unternehmen hat sich seit jeher zu seiner Verantwortung gegenüber der Gesellschaft im Ganzen, den Gemeinschaften, in denen es tätig ist (heute sagen wir Ökosysteme oder Eco-Systeme dazu) und gegenüber seinen Mitarbeitenden bekannt. In der Gründungsphase revolutionierte Siemens mit einem neuartigen Zeigertelegrafen die Kommunikation und machte einen ersten großen Schritt hin zur Vernetzung der Welt. Heute gestalten wir die digitale Transformation und verbinden wie kein anderes Unternehmen die digitale mit der realen Welt. Seit der Gründung vor 175 Jahren arbeiten wir bei Siemens daran, den Alltag der Menschen durch Technologie zu verbessern. „Den Alltag verbessern“, was bedeutet das konkret? Zum Beispiel, dass wir Gebäude effizienter machen sowie Produktionen und Stromnetze digitalisieren. Nachhaltigkeit ist immer intelligenter Umgang mit Ressourcen und bedeutet im Ergebnis mehr Lebensqualität. Das ist auch unser „Purpose“ oder Unternehmenszweck, verdichtet in unserem Claim: Transforming the Everyday – Technologie mit Sinn, die dem Menschen dient. Bei Siemens reden wir nicht nur über solche Ziele. Seit 175 Jahren erbringen wir den Nachweis, dass Technologie die Erreichung dieser Ziele nicht nur unterstützt, sondern vor allem auch beschleunigt. Kein Selbstzweck, nicht nur Verbesserung, sondern nachhaltige Transformation. Dieses Denken steht bei Siemens seit 175 Jahren in der Tradition der Gründer Werner von Siemens und Johann Georg Halske. Werner von Siemens etwa war überzeugt davon, dass Technologie die Welt verbessern kann und dass der Wert von Wissenschaft und Technik im Nutzen für die Menschheit liegt. Den Erfolg seines Unternehmens sah er aus einer ganzheitlichen Perspektive. Zur „befriedigenden Weiterentwicklung“ der Firma gehörte schon damals die Einheit aus erstrangiger Technologie, motivierten Mitarbeitenden und effektiver Organisation. Die Unternehmenskultur von Siemens ist zutiefst mit diesem Gründerdenken verwachsen, was uns in transformativen Zeiten besonders dabei hilft, offen auf Veränderungen zuzugehen.

„Wenn Siemens wüsste, was Siemens weiß.‘‘ Dieser legendäre Satz des ehemaligen Siemens-Chefs Heinrich von Pierer sagt uns noch heute sehr viel über das humanistische Selbstverständnis von Siemens. Von Pierer wollte

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damit zum Ausdruck bringen, dass die Mitarbeitenden des Unternehmens einen riesigen Wissensschatz hüten, diesen aber zu oft für sich behalten oder Dinge neu entwickeln müssen, die eine Kollegin oder ein Kollege in einem anderen Geschäftsbereich längst erfunden hat. Pierer vermutete, dass das Rad bei Siemens zu oft neu erfunden werde. Ab dem Jahr 2000 begann man damit, diesen verborgenen Wissensschatz zu erschließen, und es brachen die goldenen Jahre des Wissensmanagements an. Die Idee dahinter war simpel: Das implizite interne Wissen sollte in explizites und verwertbares Wissen umgewandelt werden. Hierfür waren Datenbanken und Wissensorganisation, leistungsstarke Computer und vor allem Vernetzung und Schnittstellen erforderlich.

Nachhaltigkeit als Treiber der Transformation und Wachstumsmarkt Die wichtigste Veränderung, die wir bei Siemens heute erkennen, besteht darin, dass wir unsere eigene Organisation, unser Portfolio und unsere Kunden auf den Klimawandel vorbereiten. Wir unterstützen die Industrie dabei, ihre Prozesse nachhaltig zu transformieren. Dabei sehen wir auch einen „sinnvollen“ Wachstumsmarkt, der den Kundennutzen und die gesellschaftliche Verantwortung miteinander verbindet. Wenn Unternehmen und Infrastrukturen produktiver, effizienter, flexibler und nachhaltiger werden, indem sie begrenzte Ressourcen schonen, bedeutet dies gleichzeitig eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und eine Erhöhung der Resilienz. Im Gebäudebereich ist das Ziel, die Energieeffizienz und Sicherheit zu erhöhen. In der Netzinfrastruktur geht es darum, den Umstieg auf erneuerbare Energien und Elektromobilität zu beschleunigen. Allein die im Geschäftsjahr 2022 an unsere Kunden weltweit verkauften Siemens-Produkte und -Lösungen werden über ihre gesamte Nutzungsdauer rund 150 Millionen Tonnen Emissionen einsparen (= Gesamtausstoß der Niederlande). Ein enormer Hebel liegt im Bereich der industriellen Vorprodukte, auf die rund 90 Prozent des CO2-Ausstoßes entfallen. Wie vor 175 Jahren, als die elektrische Kommunikation begann, die Welt zu verändern, so erleben wir heute wieder einen transformativen Schub. Wir sehen, dass unser Konzept der Verbindung der realen mit der digitalen Welt gerade seine volle Kraft entwickelt. Die Digitalisierung bringt Veränderungen, deren Implikationen mindestens so weit reichen werden wie die der „Elektrifizierung der Welt“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wir erleben gerade eine neue Welle des Wachstums, die durch smarte Innovation angeschoben wird. Im Internet der Dinge steckt ein enormes Potenzial, das unseren Kunden hilft, ihre Produktivität zu steigern, ihre Systeme effizienter und länger zu betreiben und mit weniger Ressourcen mehr zu erreichen. Die nächste Welle der digitalen Transformation baut sich auch schon auf: das industrielle Metaverse, wie wir es nennen. Dieser virtuelle und immersive Ort wird unsere Arbeiten grundlegend verändern, und ebenso unsere Innovationstätigkeit. Das setzt in allen unseren Märkten – in der Fertigung, in Gebäuden und der Infrastruktur – neue Standards für eine schnelle Zusammenarbeit in Echtzeit.

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EGO-Systeme aufbrechen – In ECO-Systemen denken und lenken Als einer der weltweit größten Hersteller von Industriesoftware verfügt Siemens über ein dichtes Netzwerk belastbarer Partnerschaften, das unser natürliches Biotop bildet. Wir bewegen uns daher immer in einem partnerschaftlichen Eco- oder Ökosystem. Das Führen und Gestalten dieses komplexen Ökosystems ist eine zentrale Erfolgsgröße, die unsere Kunden als Partner und Siemens als starken und verlässlichen Begleiter der Transformation sieht. Die Transformation in Richtung nachhaltige Zukunft erfordert nämlich ein anderes, neues strategisches und organisatorisches Verständnis. Eines, das auf einer dynamischen Systembetrachtung aufsetzt, die das traditionelle lineare Denken und die egozentrierte Perspektive der eigenen Unternehmensgrenzen überwindet. Neben unserer technischen Expertise sind es jetzt vor allem partnerschaftliches Denken und Lenken, die zu besseren Lösungen führen. Nur so schaffen wir nachhaltige Werte, die die Menschen mitnehmen. Das verstehen wir unter Ecosystem-Leadership und im Kern dieses neuen Konzepts steckt Digitaler Humanismus. Wie wir dieses Konzept in unser Handeln überleiten, zeigt ein Blick in unsere Unternehmensprioritäten. 1)

Kundennutzen erkennen – am besten noch bevor unsere Kunden diesen selbst kennen Dabei konzentrieren wir uns auf Bereiche, in denen wir einen echten Unterschied machen können: die Schaffung nachhaltigen und langfristigen Werts für unsere Kunden, die Umwelt, die Gesellschaft und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Siemens. Intelligente Fertigung, intelligente Energiesysteme und intelligente Gebäude, die unser Leben einfacher und nachhaltiger machen können, sind das Ziel. Im Geschäftsjahr 2022 haben wir unsere menschenrechtlichen Sorgfaltspflichtenverfahren erweitert. Diese schaffen die Möglichkeit, etablierte Siemens-Geschäftspartner jährlich auf etwaige umwelt-, sozial- und menschenrechtliche sowie reputationsbezogene Risiken zu untersuchen und bei Auffälligkeiten in den zielgerichteten Austausch mit dem entsprechenden Geschäftspartner zu gehen.

2)

Technologie mit Sinn und Zweck ist ein grundlegendes Prinzip, das seit der Gründung von Siemens besteht. Bereits seit 175 Jahren steht innovative Technologie im Mittelpunkt unseres Unternehmens.

3)

Menschen bestärken und befähigen Wir stärken Kunden, Partner und unsere Mitarbeitenden, damit sie das Beste aus ihren Fähigkeiten machen. Unser Portfolio hilft unseren Kunden, ihre Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Wir investieren in die Menschen in unserem Unternehmen und setzen uns ein für lebenslanges Lernen, Gleichbehandlung und Wohlbefinden ein, um ein Umfeld zu schaffen, in dem sie sich entfalten können.

Chancen für Industrie und Infrastruktur

4)

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Growth mindset – wachsen und lernen durch Neugier, Experimentierfreude und Anpassungsbereitschaft Wir legen großen Wert auf die ständige Qualifizierung unserer Organisation durch Lern- und Entwicklungsinitiativen. Zudem fördern wir eine verstärkte Zusammenarbeit durch globale Netzwerke. Auf geschäftlicher Ebene sind unsere Wachstumsmotoren die Digitalisierung, Automatisierung und Nachhaltigkeit. Dabei werden sich Software- und Hardwarelösungen künftig immer stärker positiv beeinflussen und das wertsteigernde Wachstum beschleunigen.

Keine Nachhaltigkeit ohne digitale Technologie Technologie und Digitalisierung sind die Treiber der nachhaltigen Transformation. Was dabei herauskommt, sind digital automatisierte Prozesse für Industrie und Infrastruktur, die zum Beispiel einen nachhaltigen Beitrag zur Energieeffizienz liefern. Siemens geht diesen Weg selbst voraus und teilt auch die eigenen Transformationserfahrungen mit seinen Kunden und Partnern. Unser hohes Eigentempo bei der Dekarbonisierung der Industrie haben wir mit einem ambitionierten Ziel der CO2-NeutralitätNeutralität der eigenen Geschäftstätigkeit bis 2030 hinterlegt. Das können wir nur durch die Verbindung von Spitzentechnologie und Digitalisierung erreichen. Unser Fokus ist Energieeffizienz als wichtigster Beitrag zur Energiewende. Wir glauben an Technologie mit Verantwortung, die die Menschen mitnimmt und nicht abhängt.

Nachhaltigkeit hat ein Programm – DEGREE Nachhaltigkeit war schon immer integraler Bestandteil unseres Geschäfts; nicht erst jetzt, wo die Herausforderungen global erkannt und adressiert werden. Dafür haben wir mit unserem Nachhaltigkeitsprogramm DEGREE einen 360-Grad-Nachhaltigkeitsansatz definiert, der alle für uns zentralen Handlungsfelder umfasst. Wir adressieren damit unsere Kunden, Lieferanten, Investoren, Mitarbeitenden, die Gesellschaft und unseren Planeten (siehe Abbildung 1). Jedes Grad („degree“) zählt, wenn wir uns bemühen, die Bedürfnisse einer sich ständig weiterentwickelnden Gesellschaft verantwortungsvoll zu erfüllen. DEGREE unterstreicht die Notwendigkeit, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Und, wir gehen selbst als global agierendes Unternehmen voran und wollen glaubwürdiger und ambitionierter Forerunner bei der Umsetzung sein.

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P. Neumann

Unser DEGREE-Rahmenwerk folgt klaren und messbaren Ambitionen D ecarbonization

Unterstützung des 1,5-Grad-Celsius-Ziels zur Bekämpfung der globalen Erwärmung

E thics

Eine Kultur des Vertrauens fördern, ethische Standards einhalten und mit Daten sorgfältig umgehen

G overnance

Anwendung modernster Systeme für effektives und verantwortungsvolles Geschäftsverhalten

R esource efficiency Kreislaufwirtschaft und

Dematerialisierung erreichen

E quity

Förderung von Vielfalt, Inklusion und Gemeinschaft, um ein Gefühl der Zugehörigkeit zu schaffen

E mployability

Mitarbeitende befähigen, in einem sich ständig verändernden Umfeld resilient und relevant zu bleiben

Abbildung 1  Das DEGREE-Rahmenwerk von Siemens in der Übersicht.

DEGREE – Klare Handlungsfelder und Ambitionen für Nachhaltigkeit D wie Dekarbonisierung Mit unserem Portfolio helfen wir unseren Kunden, ihre Emissionen zu senken und damit ihre Ziele im Bereich der Dekarbonisierung zu erreichen. Siemens war eines der ersten Industrieunternehmen weltweit, das sich zur CO2-Neutralität der eigenen Geschäftstätigkeit bis 2030 verpflichtete. Wir streben nicht nur an, die Emissionen aus dem Geschäftsbetrieb von Siemens (ohne SHS2) um 55 Prozent bis 2025 und um 90 % bis 2030 gegenüber 2019 zu reduzieren, sondern haben auch unser Engagement für die Senkung aller auf uns zurückführbaren Emissionen erweitert – von unserer Lieferkette bis zur Nutzungsphase. In seiner Lieferkette verpflichtet sich Siemens (ohne SHS) bis 2030 gegenüber 2020 zu einer 20-prozentigen Reduktion der Emissionen und strebt eine CO2-neutrale Lieferkette bis 2050 an. Mit seiner

2

Siemens Healthineers; Siemens ist mehrheitlicher Eigentümer des börsennotierten Unternehmens Siemens Healthineers – einem weltweit führenden Anbieter von Medizintechnik, der die Zukunft der Gesundheitsversorgung gestaltet.

Chancen für Industrie und Infrastruktur

Verpflichtung auf die Science Based Targets unterstützt Siemens das Ziel des Pariser Klimaabkommens, den Klimawandel auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Insgesamt werden die Produkte und Lösungen, die wir im Geschäftsjahr 2022 verkauft haben, über ihre gesamte Nutzungsdauer bei unseren Kunden ungefähr 150 Millionen Tonnen an klimaschädlichen Emissionen verhindern, während unser Unternehmen im eigenen Betrieb und in unserer Lieferkette insgesamt etwa 12 Millionen Tonnen an Treibhausgasen erzeugt hat. Siemens-Produkte werden unseren Kunden helfen, ungefähr das 13-Fache der Klimagase zu vermeiden, die wir in unserem eigenen Betrieb und in unserer Lieferkette erzeugt haben. E wie Ethik Bei Siemens sind wir überzeugt, dass verantwortungsvolle Geschäftspraktiken, zusätzlich zur Einhaltung von Recht und Gesetz, das Handeln nach ethischen Grundsätzen erfordern. Die Art und Weise, wie wir unser Geschäft betreiben, ist genauso wichtig wie unsere wirtschaftlichen Erfolge. Unsere Werte und ethischen Grundsätze sind in den Business Conduct Guidelines verankert, die bei Siemens bindend sind und zu denen wir alle Mitarbeitenden regelmäßig schulen. Unser Unternehmen prägt eine Vertrauenskultur. Wir haben außerdem die Initiative „Charter of Trust“ zum Schutz von Daten und zur Förderung der Cybersicherheit in einer vertrauenswürdigen digitalen Welt mitbegründet. G wie Governance (verantwortungsvolle Geschäftspraktiken) Es hat sich klar gezeigt, dass eine starke Governance mit einem besseren, nachhaltigeren Geschäft einhergeht. Wir haben diese in unseren Managementsystemen verankert und weiten sie auch auf unsere Lieferanten aus, die einem umfassenden Verhaltenskodex unterliegen. Nachhaltigkeitskriterien sind darüber hinaus Teil unserer langfristigen variablen Vergütung, sowohl für den Vorstand als auch für unser Senior-Management. R wie Ressourceneffizienz Wir wollen Recycling und Kreislaufwirtschaft voranbringen. Mithilfe von Software und Simulation bietet unsere Technologie sowohl unseren Kunden als auch uns selbst nachhaltige Handlungsansätze in der Designphase für Produkte und Lösungen. Für die Gestaltung umweltverträglicher Produkte haben wir einen neuen Standard gesetzt, der klare Produktdesignkriterien beinhaltet und mit dem wir 100 % der relevanten Produktfamilien abdecken wollen. Außerdem fördern wir die Entkopplung des Verbrauchs natürlicher Ressourcen vom wirtschaftlichen Wachstum, indem wir verstärkt Sekundärmaterialien einkaufen wollen und bis 2025 unsere Deponieabfälle verglichen mit dem Basisjahr 2021 um die Hälfte reduzieren wollen.

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E wie Equity (Vielfalt, Inklusion, Gemeinschaft) Gleichbehandlung und Respekt bilden den Kern unseres Wertesystems. Unsere Ambition ist es, der bevorzugte Arbeitgeber zu sein, sowie Vielfalt, Inklusion und Gemeinschaft zu fördern. Damit schaffen wir ein Gefühl der Zugehörigkeit und ein sicheres Umfeld, in dem alle unsere Mitarbeitenden ihr Bestes geben können. Bis 2025 soll der Frauenanteil unseres Top-Managements mindestens 30 % betragen. Wir streben an, den Zugang zu Aktienplänen für Mitarbeitende auf hohem Niveau beizubehalten und global auf 100 % auszuweiten. Als einer der ersten großen Akteure der Branche bieten wir die mobile Arbeitsweise und Arbeitsort-Flexibilität des hybriden „New Normal Working Model“ an (2–3 Tage pro Woche mobiles Arbeiten als Standardangebot für Mitarbeitende weltweit) und fördern damit eine Kultur, die von Vertrauen und Empowerment geprägt ist. E wie Employability In einem sich permanent verändernden Umfeld ist es entscheidend, dass wir als Unternehmen und als Individuen resilient und relevant bleiben. Bei Siemens investieren wir kontinuierlich in die Entwicklung und Weiterbildung unserer Mitarbeitenden. Unser verstärkter Fokus liegt unter anderem auf virtuellem Lernen (wir haben unser Ziel bei der jährlichen Nutzung digitaler Lernangebote als Beitrag zur Beschäftigungsfähigkeit auf 25 digitale Lernstunden bis zum Ende des Geschäftsjahres 2025 erhöht), Programmen für psychische Gesundheit und Maßnahmen zur Arbeitssicherheit unserer Belegschaft. So ist es unsere Ambition, bis 2025 eine Verbesserung der Mitarbeitenden-Unfallrate (Lost Time Injury Frequency Rate) um 30 % gegenüber 2020 zu erreichen.

Der Beitrag von Siemens zu den globalen Zielen für nachhaltige Entwicklung Die 17 globalen Ziele der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) sind die Richtschnur für die gemeinsamen Bemühungen zum Wandel, den Regierungen, Unternehmen, Städte und Zivilgesellschaften für eine nachhaltigere Zukunft vorantreiben müssen. Die SDGs sind auch für Siemens Kompass für die gemeinsamen Transformationsanstrengungen. Sie sind klar mit dem Nachhaltigkeitsrahmenwerk DEGREE verbunden (siehe Abbildung 2). Auch unsere Forschungs- und Entwicklungs-(FuE-)Aktivitäten sind darauf ausgerichtet, innovative und nachhaltige Lösungen für unsere Kunden zu entwickeln und damit zugleich unsere Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Bereits 45 % der aktiven Patentfamilien im Patentportfolio von Siemens beziehen sich auf mindestens ein SDG. Hauptaktivitäten finden sich in den Bereichen Gesundheit und Wohlbefinden (SDG 3), Industrie, Innovation und Infrastruktur (SDG 9), Maßnahmen zum Klimaschutz (SDG 13) sowie bezahlbare und saubere Energie (SDG 7).

Chancen für Industrie und Infrastruktur

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Abbildung 2  Die Verbindung des Nachhaltigkeitsrahmenwerks DEGREE von Siemens mit den globalen Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung (SDGs).

Wie sieht nun der Beitrag von Siemens zu ausgewählten Nachhaltigkeitszielen aus? SDG 3 – Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern Im Geschäftsportfolio sind das zum Beispiel Fertigungstechnologie für pharmazeutische Unternehmen. Es geht dabei auch um die Gesundheit und Sicherheit unserer Mitarbeitenden (etwa Zugang zu Employee-Assistance-Programmen, Senkung der MitarbeitendenUnfallrate usw.), aber auch der Auftragnehmenden.

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P. Neumann

SDG 4 – Inklusive, gerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern Lebenslanges Lernen ist die Grundvoraussetzung für eine gesicherte Beschäftigungsfähigkeit. Lern- und Bildungsmöglichkeiten für alle Mitarbeitenden sowie Berufsausbildung und Training im Rahmen von Partnerschaften mit Schulen und Hochschulen. Kunden- und Lieferantenschulung sind uns genauso wichtig, wie die Bildungsmotivation für MINT-Fächer bei jungen Menschen. Für letzteres engagieren wir uns sehr durch Corporate-Citizenship-Aktivitäten rund um den Globus. SDG 5 – Gleichberechtigung und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen Wenn wir Resilienz aufbauen wollen, brauchen wir Diversität. Ein Unternehmen wie Siemens lebt von seiner Innovationskraft. Ein Netzwerk der besten Köpfe setzt daher intrinsisch auf mehr Frauen insgesamt und im Top-Management insbesondere. Das Ziel ist sehr ambitioniert, aber machbar: bis 2025 wollen wir einen Frauenanteil von 30 % für die Ebene der Top-Führungskräfte erreichen. SDG 8 – Dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern Siemens engagiert sich global für das „New Normal Working Model“. Ziel ist es, dass alle Beschäftigten in einem „New Normal“ weltweit im Schnitt an zwei bis drei Tagen pro Woche mobil arbeiten können, und zwar immer dann, wenn es sinnvoll und machbar ist. Auf globaler Ebene haben wir uns dazu verpflichtet, attraktive Arbeitsplätze anzubieten und Beschäftigung zu ermöglichen, und fördern die Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Energieverbrauch. SDG 12 – Für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sorgen Siemens verpflichtet sich, Ressourcen verantwortungsvoll zu nutzen, und erkennt den hohen Mehrwert der Kreislaufwirtschaft (Circular Economy) für Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft an. Hinterlegt sind sehr konkrete Ziele und Projekte rund um die Reduktion von Deponieabfall, disruptive Technologien und innovative Geschäftsmodelle. SDG 13 – Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen (siehe Punkt Dekarbonisierung im DEGREE-Nachhaltigkeitsrahmenwerk, vgl. Abb. 1) Abbildung 3 zeigt zusammenfassend die Kombination der Nachhaltigkeitsaspekte bei Siemens mit den SDGs der UN, den unternehmensinternen strategischen Prioritäten und dem DEGREE-Rahmenprogramm.

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Chancen für Industrie und Infrastruktur

Responsibility

Dimension

Shared value

Nachhaltigkeitsaspekte

SDGs

Strateg. Prioritäten

DEGREE

Klimaschutz 1

D ECARBONIZATION

Nachhaltiges Produktdesign und Lebenszyklusmanagement1

R ESOURCE EFFICIENCY

Innovation und Geschäftsmodell

D ECARBONIZATION R ESOURCE EFFICIENCY

Partnermanagement und Zusammenarbeit2

D ECARBONIZATION G OVERNANCE

Verantwortungsvolle Wirtschaftsleitung2

G OVERNANCE

Zukunft der Arbeit2

E QUIT Y E MPLOYABILIT Y

Nachhaltiger Umgang mit natürlichen Ressourcen & Materialeffizienz2

R ESOURCE EFFICIENCY

Soziale und ökologische Standards in der Lieferkette1

G OVERNANCE

Cybersecurity und Datenmanagement2

E THICS

Gesundheit und Sicherheit der Mitarbeitenden2

E MPLOYABILIT Y

Diversität, Gerechtigkeit und Inklusion2

E QUIT Y

Kundensicherheit und Produktqualität2

G OVERNANCE

Corporate Governance und Nachhaltigkeitsführung2

G OVERNANCE

ESG-Risikomanagement2

G OVERNANCE E THICS

Compliance-Management2

G OVERNANCE E THICS

Ergebnis der Bewertung von organisatorischen Auswirkungen (Inside-out, d.h. auf die Umwelt und die Gesellschaft), Stakeholderrelevanz und Business Criticality (Outside-in)

TECHNOLOGIE MIT SINN UND ZWECK

KUNDENNUTZEN

MENSCHEN BESTÄRKEN UND BEFÄHIGEN

GROWTH MINDSET

Abbildung 3  Die Kombination der Nachhaltigkeitsaspekte bei Siemens mit den SDGs der UN, den unternehmensinternen strategischen Prioritäten und dem Siemens-DEGREE-Rahmenprogramm.

Transformation braucht einen Motor und dieser heißt Bildung Technologie ist für mich grundsätzlich neutral und soll aus meiner Sicht den Zweck erfüllen, den Menschen in seinen Tätigkeiten zu unterstützen. Technologie ist immer mit Chancen und Risiken verbunden, wobei die Chancen im Sinne der erwähnten unterstützenden Funktion von Technologie, für mich jedenfalls überwiegen. Die Risiken stehen stets im Zusammenhang mit den Menschen, die die Technologie bedienen. Ich sehe keine Anhaltspunkte dafür, dass Maschinen über uns entscheiden und wir ihnen ohne Kontrollmöglichkeiten ausgeliefert sind. Eine immer wichtiger werdende Aufgabe für den Digitalen Humanismus wird es sein, sich zu überlegen, welche Aufgaben wir als Menschen bewusst an Maschinen delegieren und welche Tätigkeiten wir selbst erledigen wollen. Die Klärung dieses Verhältnisses ist sehr wichtig und für die Ausgestaltung dieses Kooperationsmodells

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sollten wir uns Menschen und auch als Gesellschaften genügend Zeit geben. Grundsätzlich sehe ich die Interaktion von Menschen und Maschine als Modell im Sinne der Zusammenarbeit. Maschinen sollen und werden Menschen nicht ersetzen; Maschinen mitsamt der dazugehörigen Technologie sollen wie erwähnt eine Hilfe und Unterstützung für den Menschen bei bestimmten Tätigkeiten sein. Die Schlüsselfrage ist das Verhältnis von Menschen und Maschinen und der Schlüssel dazu ist Bildung. Es geht dabei um eine Frage, deren Beantwortung mitsamt aller Konsequenzen entscheidende Auswirkungen auf Gesellschaften bis hin zur Wettbewerbsfähigkeit von Wirtschaftsstandorten hat. Sie lautet: Was soll die Art und Weise sein, mit der wir im Zeitalter der Digitalisierung Bildung und Wissensvermittlung betreiben? Und davon abgeleitet und gleichzeitig auch eine der in die Zukunft gerichteten Kernfragen des Digitalen Humanismus: Wie viel Wissen müssen Menschen heute und morgen im Kopf parat haben und welcher Anteil kann unter der Zuhilfenahme von technologischen Hilfsmitteln abgedeckt werden? Ich denke da etwa an Themen in Zusammenhang mit der sich immer weiterverbreitenden Künstlichen Intelligenz (KI). Um im Bereich KI und mit den damit verbundenen ethischen Diskussionen auf der Höhe der Zeit zu sein, müsste dieser Themenkomplex als Teil des lebenslangen Lernens – von der Schule angefangen – völlig anders, nämlich vor allem aktueller und praxisbezogener, vermittelt werden. Es sollte dabei um Hilfestellungen und Diskussionen gehen, wie gefakte Inhalte erkannt werden können, welche Technologien beim Aufspüren von Fakes hilfreich sein können und so weiter. Angehörige der Generation X, zu der auch ich zähle, haben zumeist das Rüstzeug mitbekommen oder erworben, um Ergebnisse der KI im Alltag oder Berufsleben gegen das eigene Wissen zu benchmarken und, um daraus Einschätzungen über die Sinnhaftigkeit der KI-Aussagen treffen zu können. Doch wie gehen die nachfolgenden Generationen damit um? Bekommen sie in den Bildungseinrichtungen das Wissen und die Werkzeuge vermittelt, um Maschinenintelligenz richtig einschätzen zu können? Apropos richtig: Genau hier und jetzt hat der Digitale Humanismus seinen großen Auftritt, denn er zwingt uns, sich mit den Grundfragestellungen der Philosophie zu beschäftigen: Was ist richtig, was ist falsch? Wie soll im digitalen Zeitalter mit ethischen Maßstäben und Werten umgegangen werden? Stichwort Unconscious Bias. Hat Technologie vielleicht sogar eine bessere Entscheidungskraft was voreingenommene Urteile betrifft als der Mensch? Angesichts der schon am Beginn dieses Abschnitts ausgedrückten Überzeugung der Technikneutralität tendiere ich eher dazu, diese Frage mit Ja zu beantworten. Zum Schluss möchte ich noch kurz beim soeben angesprochenen Thema Bias bleiben. Und zwar geht es mir im Zusammenhang mit dem Digitalen Humanismus, auch um die Thematik des Cultural Bias. Die vorangegangenen Darstellungen enthalten viele Bezüge zu Themen wie Industrie, Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Arbeitsplätze. Im Falle unseres Unternehmens, das in rund 200 Ländern der Erde geschäftlich tätig ist, werden diese Aspekte global bzw. regional differenziert gesehen. Doch das ist nicht in jeder Organisation oder jedem Unternehmen so. Oft werden ökonomische Tatsachen unausgesprochen aus der Sicht einer westlich geprägten industriellen Wohlstandsgesellschaft gesehen. Digitaler

Chancen für Industrie und Infrastruktur

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Humanismus ist für mich deshalb auch, die zugrunde liegenden Konzepte und Annahmen universell zu denken. Während des Screenens des Textmaterials, das für diesen Beitrag Verwendung finden könnte, ist mir ein Zitat aus dem Vorwort von Nathalie von Siemens, Urenkelin von Firmengründer Werner von Siemens, für die Chronik anlässlich des 175-jährigen Bestehens des Unternehmens, untergekommen. Es lautet folgendermaßen: „Aber ist uns eigentlich nach einer Geburtstagsfeier zumute, während wir vor so drängenden Fragen stehen wie den globalen Auswirkungen einer Pandemie, der sichtbaren Klimakrise und einer drohenden digitalen Spaltung? Während für viel zu viele Menschen Frieden, Nahrung, Bildung, medizinische Grundversorgung, Einkommen durch eigene Arbeit und rechtsstaatlicher Schutz keine Selbstverständlichkeit sind?“ „Während für viel zu viele Menschen Frieden, Nahrung, Bildung, medizinische Grundversorgung, Einkommen durch eigene Arbeit und rechtsstaatlicher Schutz keine Selbstverständlichkeit sind?“ Das ist für mich Ausdruck des Cultural Bias, den ich hier zur Sprache bringen wollte. Im Zusammenhang mit dem Digitalen Humanismus auch ein interessanter Aspekt ist die im Zitat erwähnte „drohende digitale Spaltung“. In Anlehnung an Cultural Bias könnte man von einem Digital Bias sprechen. Genauso wie es im Sinne des Digitalen Humanismus gelingen muss, alle Weltregionen mit ihren Wertesystemen mitzudenken und miteinzubeziehen, ist es ebenfalls erforderlich, auch Gruppen nicht aus den Augen zu verlieren, denen der Zugang zur digitalen Welt bisher verwehrt war. Gehen wir noch einmal zurück zum Vorwort von Nathalie von Siemens. Dort heißt es weiter: „Gerade in einer krisenhaften Zeit, in der das Vertrauen in Institutionen schwindet, in der globale Kooperation infrage steht und das friedliche Miteinander von Menschen angegriffen wird – gerade in einer solchen Zeit können wir Zuversicht aus der Geschichte unseres Unternehmens schöpfen […]. Denn Siemens ist ein Beispiel dafür, was wir bewirken können, wenn wir zusammenarbeiten. Wenn wir gemeinsam nach Wegen suchen, wie technologische und soziale Innovationen uns bei der Lösung unserer Herausforderungen helfen können.“ Dieses Zitat möchte ich gerne als Schlusspunkt setzen, denn es reflektiert für mich einerseits sehr schön den Beitrag von Siemens zum Digitalen Humanismus und bringt seinen eigentlichen Auftrag prägnant auf den Punkt. Beispiel

SiGREEN – Eine digitale Lösung zur Dekarbonisierung von Lieferketten Unser Fallbeispiel stellt einen völlig neuen Ansatz zur Dekarbonisierung von industriellen Produkten dar. Das CO2-Management-Tool SiGREEN ist ein Beitrag zum Schutz der Umwelt und berührt in mehrfacher Art und Weise die Dimensionen des Digitalen Humanismus für eine bessere Zukunft für alle. Aufgrund immer strengerer regulatorischer Bestimmungen stehen Industrieunternehmen vor der großen Herausforderung, den gesamten Fußabdruck ihrer Produkte, den so genannten Product Carbon Footprint (PCF), nahtlos zu erfassen. Dies gelingt nur über einen ständigen Datenaustausch entlang der gesamten Wertschöpfungskette.

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Dafür braucht es digitale Lösungen, auf die alle angebundenen Unternehmen vertrauen können. SiGREEN von Siemens bietet ein skalierbares, akkurates und sicheres Tool zur Verwaltung von dynamischen PCF-Daten. Unternehmen brauchen eine solide Grundlage für datengestützte Entscheidungen über geeignete Dekarbonisierungsmaßnahmen. Herkömmliche PCF-Managementtools verwenden für die Emissionsberechnung Branchendurchschnittswerte, die lediglich statische Informationen liefern und für Entscheidungen auf der Grundlage von Daten unzureichend sind. Stattdessen sind dynamische, ständig aktualisierte Daten notwendig, die nur im direkten Austausch zwischen den beteiligten Unternehmen entlang einer gesamten Lieferkette erhoben werden können. Mit SiGREEN können Zulieferer proaktiv und zeitnah tatsächliche Emissionswerte übermitteln und über Resultate von Optimierungsansätzen informieren. SiGREEN kann die realen, aktuellen CO2-Werte beim Entstehen vor Ort erfassen und entlang der gesamten Lieferkette aggregieren. Das Ergebnis ist ein dynamischer PCF, der dabei hilft, datenbasierte Entscheidungen für wirkungsvolle Reduktionsmaßnahmen zu treffen. So können Emissionsdaten in ein mächtiges Werkzeug zur nachhaltigen Dekarbonisierung von Produkten verwandelt werden. SiGREEN kann die Kohlenstoff-DNA von Produkten entschlüsseln und nachvollziehbar machen, wann und wo Emissionen entlang der Lieferkette entstehen. Pro Wertschöpfungsstufe wird dabei dem jeweiligen CO2-Wert ein verifizierbarer, digitaler Nachweis (Verifiable Credential) zugeordnet. Dieser enthält Metadaten, mit denen gegenüber Behörden und Partnern die Herkunft und Echtheit des jeweiligen Wertes belegt werden kann. Direkt verzahnt mit der Wertschöpfungskette bilden die Datenpaare genau die Grundlage, die für eine datengesteuerte Produktdekarbonisierung benötigt werden. Together for Sustainability (TfS), eine globale Initiative aus 47 internationalen Unternehmen zur Förderung von Nachhaltigkeit in der Lieferkette der Chemieindustrie, will in einem Pilotprojekt die Skalierbarkeit des PCF-Datenaustauschs mittels SiGREEN in einer gesamten Branche demonstrieren – ein entscheidender Schritt für die Dekarbonisierung des Sektors. Die SiGREEN-Lösung wird in diesem Projekt erprobt und Erkenntnisse über den Austausch von PCF-Daten in der Chemieindustrie liefern.

Literatur 1. Nachhaltigkeitsbericht 2022, Siemens, 2022 (https://assets.new.siemens.com/siemens/assets/api/uuid:fff066f6-adb9-4434-920d60f2eb337820/nachhaltigkeitsbericht-gj2022.pdf) 2. 175 Jahre Siemens, Siemens, 2022 (https://assets.new.siemens.com/siemens/assets/api/uuid:e27c0a1c-0716-44b3-89f19f996ea00135/106-siemens-175-jahre-deutsch-digital.pdf)

Gelebte Verantwortung des Rundfunks für Humanismus und Demokratie Stehen Mensch und Technologie im Einklang, ist eine lebenswerte Zukunft möglich Harald Kräuter, Direktor für Technik und Digitalisierung ORF

Kurzfassung

Der Beitrag behandelt die Verantwortung des österreichischen Rundfunks für Humanismus und Demokratie von der Gründungsidee an. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk verfolgt ähnliche Ziele wie der Digitale Humanismus, indem er technologische Mittel nutzt, um die Entscheidungsgrundlage der Menschen zu verbessern und ihre Handlungskompetenz zu stärken. Er hat einen demokratischen Auftrag zur Herstellung von kritischer Öffentlichkeit, gesellschaftlicher Entwicklung und sozialem Zusammenhalt beizutragen. In diesem Artikel wird ausgeführt, welche Maßnahmen der ORF setzt, um diese Ziele in der digitalen Welt zu erreichen. Weiters zeigt Harald Kräuter auf, wie niederschwellige, vollständig barrierefreie Programme, Förderung von Medienkompetenz, Vielfalt in den Redaktionen, technologischer Fortschritt und nachhaltiges Handeln, alles wesentliche Prinzipien des Digitalen Humanismus, umgesetzt werden. Der ORF setzt sich für soziale Gerechtigkeit ein, trägt gezielt zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts bei, bietet bewusst Unterhaltung mit Haltung und widersteht Polarisierung und Populismus.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 135 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_10

Fotocredit: ORF

„Der ORF bekennt sich zum Grundsatz, den Menschen in den Mittelpunkt seines Handelns zu stellen.“ Harald Kräuter, Direktor für Technik und Digitalisierung ORF

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H. Kräuter

Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich…. …Mensch bleiben zu dürfen in der digitalisierten Welt. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist (egal ob privat oder beruflich) …. …vielleicht nicht das schönste Beispiel, aber der Beleg für mich, warum ich glaube, dass Europa die richtige Perspektive auf das Thema hat, ist die DSGVO. Sie ist ein Mahnmal, dass weder Überwachung noch Profitgier im Zentrum der Digitalisierung stehen dürfen, sondern der Schutz des Menschen und der Privatsphäre. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird/ bleibt, welcher wäre das? Eine weltweit einheitliche Sichtweise und Regelung, was die Transparenz und Kontrolle von KI betrifft. Also eine gemeinsame Wertewelt (was nicht nur dem Thema Digitalisierung helfen würde). Welches ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische/ europäische Politik? Mit der im Juli 2023 beschlossenen Novelle des ORF-Gesetzes wurde die Zukunftsfähigkeit von öffentlich-rechtlichem Rundfunk in Österreich gestärkt. Auf europäischer Ebene gewinnen Transparenzregelungen und die stärkere Kontrolle von neuen Technologien an Bedeutung. Was ist die eine Sache, die unserer Organisation am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Die einfache Ermöglichung und Umsetzung von entsprechenden Schulungsmaßnahmen, um noch mehr Menschen im Unternehmen zu haben, die mit dem Mindset des „Digitalen Humanismus“ sich den digitalen Aufgaben widmen. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Dieses Buch zu lesen. Mein wichtigster Beitrag als Direktor des ORF zur Umsetzung der ethischen Prinzipien im Unternehmen ist…. Ein Klima zu schaffen, in dem außer Frage steht, dass die Umsetzung aller Projekte – egal ob analog oder digital – den Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Verantwortung des Rundfunks

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Schon die Gründungsidee von öffentlich-rechtlichem Rundfunk in gänzlich analogen Zeiten nahm gedankliche Prinzipien vorweg, die im Rahmen der philosophischen Strömung des Digitalen Humanismus aufgehen sollten. Während letzterer darauf abzielt, das Leben der Menschen mittels Technologie zu verbessern und humanistische Werte in der digitalen Welt zu berücksichtigen, bedient sich öffentlich-rechtlicher Rundfunk verschiedenster Übertragungstechnologien, um die Allgemeinheit in aufklärerischer Tradition mit einem qualitätsvollen Gesamtangebot aus Information, Kultur, Sport und Unterhaltung zu versorgen. Damit wird die Entscheidungsgrundlage der Menschen verbessert und ihre Handlungskompetenz gestärkt. Beiden gemein ist die Verknüpfung von Technologie mit normativen Zielsetzungen sowie der Glaube an die gesellschaftliche Entwicklungsfähigkeit. Im Falle des Rundfunks gründet dies auf negativen Erfahrungen in der jüngeren europäischen Geschichte, die bis heute fortwirken: Nachdem das Medium Radio während der NS-Herrschaft auf fatale Weise für Propagandazwecke, Hass und Hetze missbraucht worden war, wuchs in den Trümmern des Zweiten Weltkriegs die Erkenntnis, dass ein derart mächtiges Instrument unter klare Regeln gestellt werden müsse, um dergleichen in Zukunft zu verhindern. Nach dem Vorbild der British Broadcasting Corporation (BBC) wurden in ganz Europa unabhängige Public Service Broadcaster gegründet und mit einem demokratischen Auftrag verknüpft: Der journalistischen Sorgfalt verpflichtete, öffentlich finanzierte Medien sollten einen Beitrag zur Herstellung von kritischer Öffentlichkeit, zur gesellschaftlichen Entwicklung und zum sozialen Zusammenhalt leisten und wurden hierfür einem gesetzlichen Rahmen sowie zahlreichen Kontrollinstanzen unterworfen. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk zählt seither zur medialen Infrastruktur Europas; im Protokoll zum Amsterdamer Vertrag wird seine demokratische, soziale, kulturelle und Pluralismus sichernde Funktion in den Mitgliedstaaten ausdrücklich betont (Vertrag von Amsterdam, 1997, S. 109). Dieser Anspruch besitzt bis heute Gültigkeit. Die technischen Mittel hingegen, die Nutzungsgewohnheiten des Publikums und das Wettbewerbsumfeld haben sich seither massiv verändert. Weiterhin jedoch bestehen zahlreiche Anknüpfungspunkte zum Digitalen Humanismus, auf die im Folgenden unter Verweis auf aktuelle Praxisbeispiele des ORF Bezug genommen wird.

Medien, Mindsets und Menschenbilder In seiner Unternehmensstrategie bekennt sich der ORF zum Grundsatz, den Menschen in den Mittelpunkt seines Handelns zu stellen (vgl. ORF, 2020, S. 7). Diese enge Publikumsbeziehung ist bereits in seiner Organisationsform angelegt: Als Stiftung öffentlichen Rechts gehört der ORF allen Menschen in Österreich, in deren alleinigem Auftrag er somit tätig ist. Er ist keinen wirtschaftlichen, politischen oder verlegerischen Interessen verpflichtet und zudem nicht auf Gewinn ausgerichtet. Konsequenterweise adressiert er sein Publikum daher auch nicht als Kundschaft, sondern als mündige Bürger:innen, womit er sich in seinem Menschenbild fundamental von der kommerziellen Konkurrenz unterscheidet. Als gemeinwohlorientiertes Unternehmen im Geiste des Digitalen Humanismus ist der ORF ethischen, sozialen und humanitären Standards verpflichtet, was in zahlreichen Aktivitäten zum Ausdruck kommt. Digitale Technologien spielen dabei eine wichtige Rolle.

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H. Kräuter

Zunächst werden die Programme des ORF besonders niederschwellig verbreitet und bewusst so gestaltet, dass möglichst viele Menschen diskriminierungsfrei daran teilhaben können, womit einem Grundprinzip des Digitalen Humanismus Rechnung getragen wird. Der ORF sorgt etwa dafür, dass sich auch Personen mit Lese- oder Hörschwäche barrierefrei über aktuelle Geschehnisse in Österreich und der Welt informieren können: Mit Untertiteln, Audiodeskription und Gebärdensprache macht er seine Fernsehprogramme allen zugänglich. Um das Programm bis 2030 vollständig barrierefrei zu gestalten, greift er künftig vermehrt auf Künstliche Intelligenz (KI) und technische Innovationen wie automatisierte Speech-to-Text-Systeme und digitale Avatare zurück. Das inklusive Grundverständnis des ORF erstreckt sich auch auf den digitalen Raum: Wenn der gesellschaftliche Diskurs immer stärker online geführt wird, müssen auch alle Menschen die Möglichkeit besitzen, daran teilzuhaben. Dies wiederum setzt digitale Grundkompetenzen und ein gewisses Maß an Media Literacy voraus, womit der ORF gefordert ist, seinen Bildungsauftrag entsprechend auszuweiten. Denn speziell auf Social Media sind Nutzer:innen in großem Stil mit Falschnachrichten und gezielten Desinformationskampagnen konfrontiert, ohne dabei auf die professionelle Einordnung durch ein redaktionelles Korrektiv zurückgreifen zu können. In seinem „Earth for All“-Bericht, der sich mit notwendigen Maßnahmen für eine lebenswerte Zukunft der Menschheit befasst, bezeichnet der Club of Rome die „kollektive Unfähigkeit, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden“ gar als die „bedeutendste Herausforderung unserer Tage“ (Club of Rome, 2022, S. 101). Unabhängige Medien können hier einen Beitrag leisten, um unsere Zukunft positiv zu gestalten.

Auf gute Nachbarschaft Der ORF geht aktiv gegen Fake News vor und hat sein Informationsangebot in den vergangenen Jahren zielgerichtet ausgebaut. Weil die Anforderungen laufend steigen und bei bestenfalls gleichbleibendem Budget und Personalstand ständig neue Plattformen zu bespielen sind, wurden durch die Förderung des multimedialen Arbeitens an einem gemeinsamen Standort programmliche, produktionstechnische und personelle Synergien zwischen den zuvor getrennt voneinander arbeitenden Redaktionen aus Fernsehen, Radio und Online gehoben. Allein im multimedialen Newsroom am ORF-Mediencampus produziert der ORF heute rund 100 Nachrichtensendungen täglich, darunter die erfolgreichsten News-Angebote des Landes. Dabei ist auch die richtige Software entscheidend: Mit dem Newsroom-Portal wurde ein gemeinsames redaktionelles Planungs-Tool entwickelt, das ein modernes Themenmanagement über Mediengrenzen hinweg ermöglicht. Zusammenarbeit braucht jedoch auch klare Spielregeln: Als ideelle Basis für die Medienproduktion der Zukunft wurde ein Leitbild für multimediales Arbeiten erstellt, das ein kooperatives Arbeitsklima fördern und als Handlungsanleitung für eine neue Form der Zusammenarbeit dienen soll. Darin werden u. a. Werte wie Transparenz oder das Teilen von Recherchematerialien postuliert. Um Barrieren in den Köpfen abzubauen und das gegenseitige Vertrauen zu stärken, wurde zudem ein

Verantwortung des Rundfunks

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unternehmenskultureller Change-Prozess initiiert, der nach Gemeinsamkeiten sucht, ohne die Charakteristika der jeweiligen Channels (Ö1, Ö3 etc.) zu negieren.

Technik als Treiber des Wandels In der digitalen Transformation des ORF spielt die hauseigene Technik eine zentrale Rolle: Sie ist Partner der Redaktionen und Wegbereiter des Programms auf allen Plattformen. Auf technischer Ebene ermöglichen volldigitale IP-Netzwerk­e anstelle früherer analoger Signalwege die multimediale Zusammenarbeit: Audio- und Videofiles lassen sich damit in Echtzeit und hoher Qualität auf verschiedene Betriebsstandorte verteilen, wo sie allen Redaktionsteams gleichberechtigt zur Verfügung stehen. Mittels Cloud Producing kann auch aus dem Homeoffice auf Materialien zugegriffen werden, was flexible Arbeitsmodelle ermöglicht und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärkt. Produktionsseitig setzen sich vermehrt userzentrierte Arbeitsweisen durch, bei denen die jeweilige Zielgruppe eines neuen Digitalprodukts bereits im Konzeptions- und Entstehungsprozess intensiv einbezogen wird. Damit soll verhindert werden, dass an den Bedürfnissen des Publikums vorbeientwickelt wird, und zugleich sichergestellt werden, dass Innovationen möglichst effizient und kostensparend realisiert werden. Derzeit wird dieser Ansatz etwa im Rahmen des geplanten Relaunches der ORF-Videoplattform TVthek praktiziert, wo in sogenannten Sprints und mithilfe von Focus-Gruppen gemeinsam eine möglichst intuitive Nutzeroberfläche entwickelt wird. Auch im Umgang mit Daten blickt der ORF auf den Menschen dahinter: Er bekennt sich zu hohen Schutzstandards und einer verantwortungsbewussten Handhabe sämtlicher elektronischer Informationen der Nutzer:innen, um deren Vertrauen in den ORF zu stärken. Dieser Anspruch wurde auch strukturell im Unternehmen abgebildet: Ein Datenschutzbeauftragter stellt den sorgsamen Umgang mit Daten im ganzen Haus und die Kompatibilität aller relevanten Maßnahmen mit den Grundsätzen der Europäischen DatenschutzGrundverordnung (DSGVO) sicher, ein Chief Information Security Officer sorgt für die Sicherung der Datenbestände und der IT-Infrastruktur.

Vielfalt als Erfolgsfaktor Diversität ist Trumpf: Im redaktionellen Alltag versprechen sozial, ethnisch und kulturell durchmischte Teams, die moderne Gesellschaften in all ihrer Vielfalt abbilden, eine breitere Themenauswahl, andere Blickwinkel auf gesellschaftliche Fragestellungen, eine höhere Qualität des journalistischen Outputs und eine breitere Publikumsakzeptanz. Und doch wurde journalistischer Nachwuchs allzu lange vornehmlich aus vertrauten, mittelständischen Milieus und Akademiker:innenzirkeln rekrutiert, womit journalistisch Tätige weitgehend unter sich blieben. Heute sollen eine Diversity-Arbeitsgruppe sowie neue Ausschreibungsdesigns und Rekrutierungsprozesse dabei helfen, für mehr Vielfalt im ORF zu sorgen. Auch die Direktion für Technik und Digitalisierung hat sich dieser Herausforderung gestellt: Um dem Fachkräftemangel in technischen Berufen aktiv entgegenzuwirken und

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H. Kräuter

für ein ausgeglicheneres Geschlechterverhältnis in der Branche zu sorgen, haben der ORF und Infineon Technologies Austria in Partnerschaft mit der Austria Presse Agentur (APA) im Jahr 2022 den Frauen-Förderpreis für Digitalisierung und Innovation ins Leben gerufen. Gemeinsames Ziel ist es, mehr junge Frauen für Technik zu begeistern und deren Einstieg in technische Berufe zu fördern, um gesamtgesellschaftliche Herausforderungen mitzugestalten. Ethische Grundsätze wie Respekt und ein wertschätzender Umgang sind auch in der Personalstrategie obligatorisch: Angefangen bei diskriminierungsfrei formulierten Ausschreibungen über objektive und faire Personalauswahlverfahren bis hin zu speziellen Förderprogrammen für Frauen richtet der ORF mittlerweile sämtliche Recruiting-Prozesse entlang humanistischer Werte aus. Weil sich die Bedürfnisse der Belegschaft jedoch laufend verändern, sind ausgewählte Schulungsangebote, die zu einem positiven Arbeitsumfeld beitragen, etwa der Besuch von Gender-Kompetenzseminaren, für alle Führungskräfte des Hauses verpflichtend.

Taten statt Worte Als größtes Medienhaus des Landes ist sich der ORF auch seiner Vorbildfunktion im Hinblick auf Ökologie und Nachhaltigkeit bewusst: Er ist dem klimaaktiv-Pakt beigetreten, einer freiwilligen Selbstverpflichtung zur CO2-Reduktion für österreichische Großunternehmen, und hat das Thema mit der Einsetzung einer Nachhaltigkeitsbeauftragten und der Einführung gezielter Weiterbildungsmaßnahmen (ORF-Klimadialoge) strukturell im Unternehmen verankert. Seit einigen Jahren setzt er verstärkt auf umweltfreundliche Film- und Fernsehproduktion (Green Producing) sowie auf energiesparende Technologien. Zahlreiche Maßnahmen wie die Inbetriebnahme von Fotovoltaikanlagen auf dem Betriebsgelände, die Attraktivierung öffentlicher Verkehrsmittel oder die sukzessive Umstellung des Fuhrparks auf Elektrofahrzeuge tragen zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks bei. Am deutlichsten aber treten humanistische Werte im Rahmen des Humanitarian Broadcastings zutage: Gemeinsam mit anerkannten Hilfsorganisationen unterstützt der ORF dabei Menschen in Notlagen und setzt sich seit mehr als 50 Jahren für soziale Gerechtigkeit im In- und Ausland ein. Bei den Initiativen „Licht ins Dunkel“, „Nachbar in Not“ und „Österreich hilft Österreich“ stellt er seine Senderflotte in den Dienst der guten Sache: Er nutzt die hohen Reichweiten, um alle Menschen, die helfen wollen, mit jenen, die Hilfe brauchen, zu vernetzen. Neben hohen Spendenergebnissen sorgt der ORF mit seiner Berichterstattung auch für ein stärkeres gesellschaftliches Bewusstsein in Fragen der Inklusion und der Barrierefreiheit. Wertorientiertes Handeln zeigt sich auch in anderen Programmgenres. Der ORF bietet Unterhaltung mit Haltung: Ob Filme, Serien oder Shows – immer respektiert er Persönlichkeitsrechte, hält die Menschenwürde hoch und achtet die Privatsphäre aller Beteiligten. Hier gibt es aus gutem Grund keine „Dschungelshow“, keinen Partnertausch und keine voyeuristischen Ausbeutungen sozial benachteiligter Gruppen. Stattdessen stellen viele Produktionen einen zeitgemäßen gesellschaftspolitischen Anspruch, der sich etwa in gleich-

Verantwortung des Rundfunks

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geschlechtlichen Tanzpaaren in „Dancing Stars“, dem Zelebrieren von Vielfalt beim „Eurovision Song Contest“ oder in der Abbildung unterschiedlichster Familienkonstellationen in fiktionalen Produktionen manifestiert. Der ORF bringt Menschen mit unterschiedlichen Ansichten in Dialog und verbindet über das gemeinsame mediale Erleben eines Live-Ereignisses und den fortan geteilten Erfahrungshorizont. Als integratives Element und „Kitt der Gesellschaft“ wirkt er damit Spaltungstendenzen entgegen. Nicht zuletzt deshalb dient er populistischen Bewegungen als beliebtes Feindbild, weil er deren Polarisierungsbestrebungen konterkariert und Emotionalisierung mit objektiver, faktenbasierter Information begegnet. Das ist heute mindestens so wichtig wie Mitte des vorigen Jahrhunderts und für die Zukunftsfähigkeit der Menschheit wesentlich. Nur ein starker öffentlich-rechtlicher Rundfunk, der sich seiner Vergangenheit und seiner Grundwerte bewusst ist, kann einen wirksamen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme leisten und damit auch die Ideen des Digitalen Humanismus weiter in der Gesellschaft verankern, für eine lebenswerte Zukunft im Einklang von Mensch und Technologie.

Literatur 1. Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte, ABl. EG 1997 Nr. C 340, 1997 2. Österreichischer Rundfunk (ORF): Strategie ORF 2025, Vom klassischen Rundfunk zur multimedialen Plattform, 2020 3. Club of Rome (Hrsg.): Earth for All, Ein Survivalguide für unseren Planeten, 2022

Als IT-Kompetenzzentrum des Bundes braucht es eine solide Basis mit humanistischen Werten Digitaler Humanismus beginnt bei den Mitarbeitenden Roland Ledinger, Geschäftsführer Bundesrechenzentrum (BRZ)

Kurzfassung

Roland Ledinger geht in seinem Interview mit Georg Krause auf die Grundlagen für den Digitalen Humanismus ein und setzt sich mit der Frage auseinander, wie sich diese in der EU – beginnend in Tallin 2017 – entwickelt haben und wie sie dokumentiert sind. Er stellt außerdem die Frage, ob es überhaupt eine länderübergreifend einheitliche Sichtweise darauf geben kann. Hinsichtlich der Umsetzung der Prinzipien im BRZ stellt er das eigens entwickelte Konzept „BRZ DigiConnect“ vor, mit dem Stakeholder frühzeitig in Entwicklungsprozesse eingebunden werden und Wirkungsfolgenabschätzungen zu einem integralen Bestandteil bei der Konzeption neuer Lösungen werden. Weiters zeigt er Verfahren auf, wie die Einhaltung der definierten Prinzipien und Werte gewährleistet werden, und, wie mit Abweichungen, also der sogenannten „technischen Schuld“, umgegangen wird. Das ist ein Konzept, das sich im BRZ an der Schnittstelle zu den Auftraggebern bewährt hat. Letztlich weist er noch auf die Notwendigkeit der Messbarkeit von Prinzipien und Regelwerken hin, damit diese auch tatsächlich gelebt werden.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 145 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_11

Fotocredit: msg Plaut

„Digitaler Humanismus muss durch Regelwerk sichtbar und messbar gemacht werden.“ Roland Ledinger, Geschäftsführer Bundesrechenzentrum (BRZ)

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich … … Transparenz und Souveränität. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … … aus meinem Blickwinkel, dass die Verwaltung die Daten geöffnet hat und mit Open Government Data mehr Transparenz für die Bürger und Bürgerinnen bereitgestellt hat. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird bzw. bleibt, welcher wäre das? Dass die Entwickler:innen einen Fokus auf den Menschen und deren Bedürfnisse und nicht auf die Technik haben. Welcher ist der eine wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische oder europäische Politik? Wir müssen verstärkt von segmentierten Lösungen wegkommen, immer über den Tellerrand hinaus die Verbindungen erkennen und Regulierungen anstreben, die gesamteuropäische Zusammenhänge erkennen und berücksichtigen. Was ist die eine Sache, die einem Unternehmen am meisten helfen würde, die Ideen des digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Mehr Zeit, um den Mitarbeitenden zu erklären, worum es geht. Was ist Dein Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Strukturiert zu schauen, was man schon hat und dann zielgerichtet in die Richtung zu gehen, die ich für mein Unternehmen als am besten geeignet erachte. Mein wichtigster Beitrag als Geschäftsführer des BRZ zur Umsetzung der ethischen Prinzipien in der eigenen Organisation ist … … die Zusammenhänge zu erkennen und im Management zu vermitteln, um anschließend die Mitarbeitenden in die Lage zu versetzen, diese Zusammenhänge auch in ihrem täglichen Handeln umzusetzen.

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Georg Krause: Was verstehst du persönlich unter dem Begriff Digitaler Humanismus? Was versteht ihr im BRZ unter Digitalem Humanismus? Roland Ledinger: Ich habe lange über die Frage nachgedacht, und auch darüber, woher unsere Werte eigentlich wirklich kommen. Beim Digitalen Humanismus geht es darum, unsere Werte, an denen wir uns orientieren, umzusetzen und gleichzeitig den Menschen selbst ins Zentrum zu rücken. Wir haben bei der KI zum ersten Mal einen Ethikkatalog entwickelt und deshalb ist die Frage der Begrifflichkeit stark davon abhängig, in welchen Bereichen wir tätig sind. Und das hat in unserem Fall mit Verwaltung zu tun. Unser strategischer Zugang ist es, Services für Bürger:innen und Unternehmen zu schaffen, um deren Verwaltungsleben wesentlich zu erleichtern, um sie in ihren Aufgabenstellungen mit digitalen Mitteln effizient zu unterstützen. Das ist unser Fokus. Unsere Zielgruppen sind Bürger:innen, die Verwaltung selbst und die unterschiedlichen Unternehmen. Wenn man in der Zeit zurückgeht und sich die Frage stellt, ob das etwas Neues ist, dann kann man klar und eindeutig sagen: Nein ist es nicht. Früher war der Fokus sehr stark darauf ausgerichtet, benutzerorientierte Schnittstellen zu haben und Usability in den Vordergrund zu stellen. Nun ist der Begriff des Digitalen Humanismus aufgetaucht und wenn man dazu etwas recherchiert, findet man die Tallinn-Deklaration, die bereits 2017 im Rahmen der estnischen EU-Präsidentschaft verabschiedet wurde. Dort wurden erstmals Prinzipien festgeschrieben, wie wir die Digitalisierung der Verwaltung den Bürger:innen und Unternehmen gegenüber gestalten wollen. Hier wurde also erstmals versucht, bestimmte Prinzipien festzulegen. Ich ringe bei dieser allgemeinen Diskussion immer mit grundlegenden Fragen: Woher kommt das Wertesystem in Europa? Wo ist es niedergeschrieben und wo finden wir dazu etwas? In China sind die Grundprinzipien eindeutig durch die kommunistische Partei festgeschrieben – es gibt also etwas, worauf die Führung verweisen kann. In Europa gibt es so etwas wie Grundrechte und eine Charta. Ansonsten gibt es aber nichts Niedergeschriebenes, auch weil unsere Grundwerte ein Selbstverständnis geworden sind und gerade in Bezug auf die Menschenrechte, zumeist in den nationalen Verfassungen verankert sind. Sie aber in der digitalisierten Welt abzubilden, ist gar nicht so einfach. Daher beginnt für mich der Digitale Humanismus bei der Frage, welche Werte bilde ich ab. Denn in Wirklichkeit ist die digitale Unterstützung nur ein Werkzeug, das die Art und Weise, wie wir leben, abbildet. Um Prozesse, Lösungen, Anforderungen von der analogen Welt in der digitalen Welt transferieren zu können, brauchen wir einen Werterahmen. Meines Erachtens gibt es ihn bereits, aber er ist nicht ausreichend definiert.

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Ich möchte Bezug nehmen auf die Prinzipien der Tallinn-Deklaration 2017 für die IT. Ist das ein Vorgänger-Papier für die EU-Deklaration 2022 betreffend Grundlagen und Prinzipien? Ja, genau, es baut darauf auf. Es gibt die Tallinn-Deklaration, es gibt die Berliner Erklärung zur digitalen Gesellschaft und wertebasierten digitalen Verwaltung aus dem Jahr 2020. Und es gibt noch Randthemen der Europäischen Union. Sie hat sich bereits 2018 erstmals mit Künstlicher Intelligenz beschäftigt. Damals sind Grundprinzipien zur Erhaltung der Menschenrechte erhoben worden, allerdings wurden diese nicht festgeschrieben. Aber das sind alles Grundlagen für unsere heutige Diskussion. Auf der politischen Ebene zu glauben, wir erfinden das neu, ist ein Irrtum. Der ganze Prozess läuft seit zehn Jahren, seit damals beschäftigen wir uns mit KI-Themen. Man hat sehr schnell erkannt, dass eine Einstufung problematisch ist, aber ein risikobasierter Ansatz schon möglich wäre. Die Tallinn-Deklaration war die erste, die sich mit diesem Thema allgemein beschäftigt hat. Ich war damals noch im Hintergrund daran beteiligt, dieses Thema zu bearbeiten. Damals wusste man nicht genau, ob das sinnvoll ist oder nicht. Man hat sich anfangs sehr stark darauf konzentriert, sogenannte ErleichterungsThemen festzulegen, die eben primär die Verwaltung vereinfachen. Aber es gab gleichermaßen auch schon Themen wie Digital by Default, Inklusivität, Zugänglichkeit, Vertrauen und Sicherheit und Barrierefreiheit – das alles wurde hinein urgiert und man hat auch diesen userzentrierten Ansatz mit Prinzipien hinterlegt. Es gibt einen Annex dazu, wo schon damals nicht nur Forderungen zu den einzelnen Punkten, sondern auch diese Themen zumindest angerissen wurden. Dieses Dokument war zweifelsfrei der erste große Rahmen, in dem festgehalten wurde, wie wir digitale Services gestalten wollen. Die Berliner Erklärung baut darauf auf. Sie wird dann schon etwas konkreter: Es geht bereits um die Geltung und Wahrung der Grundrechte und demokratischen Werte, auch um soziale Teilnahme und die Gestaltung der Inklusivität. Die Berliner Erklärung soll auch in einen Monitoring-Prozess durch die Mitgliedstaaten übergehen, ohne dass sie dadurch eine rechtliche Substanz erhält. Aber die Themen menschenzentrierte Systeme und digitale Souveränität greifen hier viel weiter als das Thema Humanismus. Es geht primär um die Frage, wie wir Systeme souverän gestalten, damit sie dem Wohle der Menschen dienen und nicht zu Abhängigkeiten und Manipulationen führen. Was wir heute diskutieren, sind Themen aus der Berliner Erklärung (2020), deren Vorläufer – wie erwähnt – die Tallinn-Erklärung war. Sie münden in einer gemeinsamen Erklärung vom Parlament, Rat und Kommission zu den digitalen Rechten und Grundsätzen für die Digitale Dekade.

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Die EU hat im Rahmen der Digitalen Dekade „Digitale Rechte und Prinzipien“ letztes Jahr verabschiedet und veröffentlicht. Diese fußen auf der Berliner Erklärung, richtig? In diesem Zusammenhang geht es um die Prinzipien und dazu gibt es ein schönes Übersichtsblatt. Darin wird festgelegt, wie digitale Rechte und Grundsätze für die Erfüllung der Digitalen Dekade gesichert werden können, damit der Mensch immer im Mittelpunkt bleibt. Es finden sich Themen wie Wahlfreiheit, Teilhabe, Schutz, Sicherheit, Nachhaltigkeit, Solidarität, Inklusion, damit Menschen durch digitale Systeme nicht aufgespalten oder gruppiert werden. Dahingehend soll es auch ein Monitoring geben.

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Das halte ich für substanziell für unser Thema Digitaler Humanismus. Hier spiegeln sich nämlich genau die Prinzipien des Digitalen Humanismus. Interessant ist vor allem die Frage, was sind unsere Wertvorstellungen und haben wir in Europa überhaupt gemeinsame Werte? Diese Erklärungen dienen als gute Grundlage, die sich über Jahre entwickelt hat. Es gibt schon ein gemeinsames europäisches Grundverständnis, das be- und niedergeschrieben ist. Das wäre doch ein guter Ansatzpunkt. Aber wie schaut denn die Ausgangslage aus? Wir bauen auf humanistischem Gedankengut auf, das sich an den Menschenrechten orientiert. Gleichzeitig gibt es kein Dokument, in dem es um allgemeine Werte- und Rechtefestlegung geht. Im Rahmen der Digitalisierung hat sich vieles sukzessive aufgebaut – man hat beispielsweise gesagt: Digitale Services in der Verwaltung müssen bestimmte Vorgaben erfüllen, sie müssen sicher sein, müssen den Schutz des Einzelnen garantieren und die Wahlfreiheit miteinschließen. Zwar geht man hier schon viel weiter, weil ja die Digitalisierung nicht nur die Verwaltung betrifft, aber wo ist denn die Grundlage, auf die wir verweisen können, so wie die Chinesen auf ihre kommunistischen Grundsätze. Es gibt 27 unterschiedliche Verfassungen, wo einiges drinnen steht und wir haben zudem auch noch die Menschenrechtscharta. Aber dieses Wertesystem, das wir auch leben, wie Barrierefreiheit und alle Zugangsfragen, hat sich schon aus einer Realität entwickelt, die aber unzureichend faktenmäßig beschrieben ist.

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Aber das muss kein Nachteil sein, solange es ein gemeinsames Grundverständnis gibt. In einem föderalen System, wie in der EU, ist das womöglich sogar ein guter Ansatz. Eine einheitliche Parteidoktrin wird es hoffentlich in Europa nicht geben. Nehmen wir als Beispiel die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Wir haben ein gemeinsames Empfinden von Datenschutz und dann fahre ich zum Beispiel

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nach Dänemark, Deutschland und wieder nach Österreich und zurück bleibt die Erkenntnis, dass es ein komplett unterschiedliches Empfinden zu der Frage gibt, welche Daten schützenswert sind. Das heißt, das Reglement regelt nur, wie man etwas macht, nicht, was man tut. Und in diesem Punkt kommen wir wieder zurück zu den Werten – das ist ein schwieriges Thema in Europa. In den nordischen Staaten kann man beispielsweise nachsehen, was jede:r verdient. Bei uns ist es ein No-Go. Ich erinnere an die Megadebatte, ob Gehälter von Angestellten in öffentlichen Einrichtungen ab einer gewissen Grenze vom Rechnungshof publiziert werden sollen. Die DSGVO gilt in Dänemark, Finnland und Norwegen genauso wie bei uns, nur wird sie völlig anders interpretiert. und gehandhabt. Das wirkt sich auch auf die digitalen Systeme massiv aus, weil es Länder gibt, die mit nicht europäischen Cloudanbietern kein Problem haben, für Deutschland zum Beispiel ist die Handhabung der Daten durch so manchen nicht europäischen Cloudanbieter wiederum eine rote Linie. Dieses Problem zieht sich durch ganz Europa. Wir schaffen durchaus einheitliche Regelungen, aber wir sind doch alle ein wenig anders. Das wird sich auch in einem Wertesystem für den Digitalen Humanismus widerspiegeln. Digitale Rechte und Grundrechte sind genauer betrachtet sehr schwammig: Jeder soll Zugang haben, die Gesellschaft soll nicht aufgespalten werden. Die Frage ist, wie man etwas umsetzt, wie man Transparenz gestaltet, wie man Teilhabe ermöglicht, das alles wird sehr unterschiedlich gehandhabt.

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Meinst Du damit, es wird eine gewisse gemeinsame Basis geben, aber jedes einzelne Unternehmen oder jede einzelne Organisation wird für sich noch viel interpretieren und vieles auch selbst festlegen müssen? Ja, und das bedeutet auch wieder eine schlechte Ausgangslage für die Wirtschaft, für die IT-Wirtschaft vor allem, weil sie keine einheitlichen Services anbieten kann. Das ist im Föderalismus immer so: Jeder ist ein wenig anders, so kann ich mit Standards kaum an konkrete Lösungen herankommen. Ein ähnliches Problem haben wir bei unseren Kund:innen. Allein wenn wir von Werten reden, muss ich festhalten, dass wir keine einheitliche Vertragssituation mit den einzelnen Ministerien haben. Es gibt also schon auf dieser Ebene kein einheitliches Wertesystem. Und das spiegelt sich letztendlich auch auf EUEbene wider: Die DSGVO setzt jede:r in seinem Wirkungsbereich um, dadurch gibt es kein einzigartiges einheitliches Lösungskonzept. Deshalb werden die digitalen Lösungen für die Wirtschaft in Europa wieder sehr differenziert aussehen. Es wird demnach nie ein einheitliches Konzept für Europa geben, wir werden immer nachjustieren. So ist es auch bei der Umsetzung der Richtlinie. Auch im Digitalen Humanismus wird es schwierig sein, einen gemeinsamen Zugang zu finden.

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Der für euch zuständige Staatssekretär Florian Tursky hat mehrfach schon über den Digitalen Humanismus und seine Bedeutung für Österreich und Europa gesprochen und hat in einem Interview das BRZ als Kompetenzzentrum für Digitalisierung in der Bundesverwaltung bezeichnet. Was leitet ihr daraus für euch ab? Was nehmt ihr also daraus an Überlegungen mit, wenn es in Richtung Umsetzung geht? Wir haben den Zugang, dass wir uns vornehmen, mit diesen Überlegungen bei unseren Vorhaben noch früher zu starten, als das in der Vergangenheit der Normalfall war. Vor allem, wenn es um eine Anforderung oder um eine Idee zu digitalen Lösungen geht. Aus diesem Grund haben wir BRZ DigiConnect entwickelt. So haben wir die Möglichkeit, diese Teilhabe, die Frage nach Anforderungen und Bedürfnissen schon zu Beginn der Entwicklung von digitalen Lösungen anzusprechen. An dieser Stelle beginnt für uns die Wertschöpfungskette der digitalen Transformation. Deshalb auch der Ausdruck Kompetenzzentrum für Digitalisierung. Wir bringen ganz am Anfang die Stakeholder gemeinsam an einen Tisch und versuchen, gemeinsame Lösungen zu gestalten. Somit setzen wir uns von Beginn mit den Bedürfnissen, Werten und Anforderungen auseinander.

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Welche Ziele leitest du für eure Organisation aus den Aussagen von Staatssekretär Tursky ab? Seid ihr an der Entwicklung der Strategien beteiligt? Wir sind an der Gestaltung solcher Strategien, wie es Florian Tursky macht, nicht unmittelbar beteiligt. Schließlich sind wir der Umsetzer. Wir haben den Spielraum in der Umsetzung und können so mitgestalten und Feedback geben. Beim Thema Digital Austria Act hat uns Florian Tursky schon sehr früh gesagt, was er sich vorstellt, aber wir sind nicht in die inhaltliche Dimension involviert, wie das zum Beispiel politisch umzusetzen ist. Dafür gibt es die Sektion, die verschiedenen Ministerien, wir selbst können methodisch und beratend unterstützen. Das heißt unser Ziel ist es, die öffentliche Verwaltung zu befähigen, zu unterstützen, damit sie ihre Lösungen in der Verwaltung und für die Bürger:innen und Unternehmen bestmöglich umsetzen kann.

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Das ist der allgemeine Unternehmensauftrag. Wie geht es nun in Richtung Digitalen Humanismus? Was ist das Verständnis oder eure Strategie? Habt ihr zum Beispiel Prinzipien festgelegt, nach denen ihr alles, was ihr tut, auch ausrichtet? Wir nehmen das, was regulativ vorhanden ist. Daran orientieren wir uns. Dafür haben wir im Enterprise Architekturmanagement auch Designprinzipien definiert. Sie leiten sich von dem ab, was der Kunde beauftragt bzw. bilden sie einen formalen Rahmen.

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Dabei geht es um Themen wie Userzentriertheit, Barrierefreiheit, Sicherheitsthemen oder Security bei Design. Sie orientieren sich aber nicht an digitalen Rechten oder Grundsatzthemen. Das müssen wir vielleicht noch entwickeln. Unser Segment ist sehr spezifisch und unser Kunde hat sehr klare Vorstellungen. Wir sind am freien Markt auch nicht vertreten. Wenn Staatssekretär Tursky im Ministerrat den Digital Austria Act mit 36 Digitalisierungsgrundsätzen ankündigt, dann bauen wir diese in unsere Designprinzipien ein, wir entwickeln aber keine Grundsätze selbstständig, weil wir dafür viel zu sehr mit den Auftraggebenden verschränkt sind. Bei der KI handelt es sich um eine andere Dimension: Hier stellen wir schon auch Kategorisierungsüberlegungen an, wie man sie einordnet. Mit ein Grund, weshalb wir schon sehr frühzeitig einen Katalog entworfen haben, der bestimmte Prinzipien vorgibt, wie wir KI handhaben.

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Du hast nun einige Beispiele in Richtung Umsetzung erwähnt. Kannst du uns einen Überblick über euren Instrumente-Baukasten geben? Wo würde man bei euch diese Elemente im Sinne der Umsetzung der Prinzipien des Digitalen Humanismus finden? Wir beginnen in dieser Kette sehr frühzeitig. Für uns ist die Teilhabe, die Partizipation, wie man etwas gestaltet, sehr wichtig. Daher binden wir bewusst Expertise von der Wissenschaft, aber natürlich auch von allen Betroffenen und Stakeholdern frühzeitig ein. Ich erwähne das Beispiel Online-Gästeblatt: Jeder muss in jedem Hotel immer wieder seine Daten angeben, die Gemeinde bekommt sie sehr spät. Im Krisenfall weiß niemand, wer sich im Hotel wann aufhält. Wir haben dazu alle Stakeholder eingeholt – auch den einen oder anderen Betroffenen – und haben alle Interessengruppen zusammengebracht. Dann haben wir mit Design Thinking und anderen Methoden die Aufarbeitung begonnen. Bei diesem Vorgehen handelt es sich inzwischen um ein Standardpaket, das wir unseren Kunden anbieten. Wo wir von unserer Seite sagen: Wenn ihr eine Idee habt, schauen wir uns das gemeinsam an, analysieren mit den Betroffenen und können die Lösung dann auch umsetzen. Im Zentrum stehen folgende Fragen: Wie holen wir die Menschen für die Digitalisierung ab, was sind ihre Bedürfnisse, was brauchen sie, was hilft ihnen und was bewirken wir mit unserer Lösung?

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Hier geht es demnach nun in die Richtung Wirkungsfolgenabschätzung … … ja genau. Dabei fokussieren wir uns sehr stark darauf, dass der Mensch tatsächlich im Mittelpunkt steht und was es für ihn bedeutet. Wir arbeiten hier

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mit Mockups, um in der frühen Konzeptionsphase bereits eine Vorstellung zu bekommen, wie das alles einmal aussehen könnte – so wie wir es auch beim Digitalen Amt gemacht haben, das wir mittlerweile als Standardprodukt bei uns im Haus haben. In der Konzeptionsphase haben wir über die Design-Prinzipien sehr klare Vorgaben und wir brechen das herunter auf eine sogenannte – wie wir es nennen – technische Schuld. Das bedeutet, wenn sich also jemand aus irgendeinem Grund nicht an die Prinzipien hält, dann wird das bei uns als Risiko behandelt und als technische Schuld bezeichnet. Wir versuchen seit zweieinhalb Jahren, unsere Denkweise noch stärker in die Konzeption einzubringen. Wenn Prinzipien nicht eingehalten werden, dann gehe ich eine technische Schuld ein, die festgehalten und als Risiko ausgewiesen wird. Wenn ich nämlich ein System baue, das beispielsweise einem Prinzip wie Barrierefreiheit widerspricht, dann wird das protokolliert. Auch dafür haben wir diesen KI-Katalog ausgefertigt. Wenn wir also nicht ausreichend transparent sind, dann ist das eine Schuld, die wir eingehen.

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Was bedeutet es, wenn ihr diese Schuld eingeht? In diesem Fall weist der Projektleiter dann darauf hin. Und wer bewertet letztendlich, ob weitergemacht werden darf, obwohl gegen ein oder mehrere Prinzipien verstoßen wurde? Die Kundinnen und Kunden entscheiden. In der Vergangenheit waren das einfache Prinzipien, weil man sich an irgendwelche Standardabwicklungen, die man mit dem Bund oder Ländern vereinbart hat, nicht hält. Ein typisches Beispiel ist der Portalverbund. Es handelte sich um eine Vereinbarung zwischen Bund und Ländern und das BRZ durfte keine Umsetzung machen, die dieser widersprach, auch wenn einzelne Kundinnen und Kunden das manchmal gefordert hatten. Damit das klarer wird, haben wir eine Pyramide erstellt. Ganz oben sind die Design-Prinzipien festgelegt, die die Basis darstellen und laufend weiterentwickelt werden. Diese sind die Grundlage, wie wir Konzepte und Umsetzungen machen.

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Eure Design-Prinzipien sind also eine Art Quality Gate. Wenn es eine Abweichung gibt, wird es an der Stelle auch aufgezeigt – ähnlich wie bei einem Quality Gate – und dann eine Entscheidung getroffen … … ja, genau. Wir stehen mit unserem internen Katalog noch am Beginn, aber wir arbeiten daran, dass er größer wird. Nicht zu verwechseln mit unserer Vorgangsweise gegenüber der KI: Da haben wir einen Prüfungsprozess, dann kommt der spezielle KI-Katalog zum Tragen, der sich auch an den Themen Transparenz, Datenschutz, Zuverlässigkeit und Gerechtigkeit orientiert. Vor allem bei Letzteren sind wir schon sehr weit weg von rein technischen Fragen.

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Diskriminierung ist nicht enthalten? Diskriminierung wird bei uns durch die Fragen rund um die Gerechtigkeit abgedeckt, speziell durch jene der sozialen Gerechtigkeit. Wir unterstützen das auch methodisch mit Hilfe eines Prüfkataloges. Über dementsprechende notwendige Fragestellungen ergibt sich ein Bild, das aufzeigt, ob wir eine Schuld eingehen oder nicht.

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Also habt ihr eine ähnliche Logik bei den KI-Regeln wie bei den Design-Prinzipien? Ja, für KI sind die Design-Prinzipien schon hinterlegt und dann beginnen jene Bereiche, die einfach besser oder weniger gut bis heute abgedeckt sind, weil sie oftmals auch noch nicht so konkretisierbar sind. Dazu zählt unter anderem die Frage, was bedeutet soziale Gerechtigkeit tatsächlich? Sie ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich uns hier ein Bereich öffnet, für den es heißt, konkretes Bewusstsein zu schaffen. Wir haben einen sehr hohen Anspruch an die Quality-Gates. Die Digital Design Principles und der Prüfkatalog für vertrauenswürdige KI sind auch öffentlich einsehbar. (Vgl. Quellenangabe am Ende des Beitrags.)

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Ihr berücksichtigt die Prinzipien nicht nur bei euren Aktivitäten, sondern ihr trägt auch mit euren Lösungen zur Umsetzung der humanistischen Prinzipien, wie Souveränität, Datensicherheit, Cybersicherheit etc. bei u. a. durch Projekte wie Gaia-X, ID Austria … Was sind die großen aktuellen Vorhaben, an denen ihr arbeitet, die als Lösungen unterstützend für die Prinzipien wirken? Wir arbeiten auf europäischer Ebene sehr intensiv an einem Framework für eine souveräne Infrastruktur für die einzelnen Services, um Souveränität sicherzustellen. Im punkto Teilhabe gibt es ein Produkt, das kaum angenommen wird. Wir haben für Partizipationsprozesse ein BRZ-Produkt, das digitale Partizipationsprozesse bis hin zur Abstimmung ermöglicht. Das wird kaum genutzt. Dabei handelt es sich um ein Produkt, das für alle Stufen der Teilhabe konstruiert wurde. Theoretisch ist es auch für Wahlen geeignet, aber das ist dann eine politische Frage. Wir verwenden es in Vereinen, die nahe der Verwaltung stehen, für Abstimmungen über Vorständ:innen oder Präsident:innen, kaum aber in anderen Bereichen. Wir haben neben diesen Themen auch z. B. den Register- und Systemverbund, wo Daten entsprechend gesammelt werden und nicht erneut von Bürger:innen oder Unternehmen eingegeben werden müssen – das ist derzeit sehr gefragt. Das BRZ ist außerdem stark aufgestellt bei dem Thema digitale Identität, die einen Grundstein für Sicherheit und Vertrauen darstellt.

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Die digitale Identität ist ja eine wichtige Voraussetzung für die Bürger:innen, um Souveränität über die eigenen Daten zu erlangen. Mit dieser ist es heute schon möglich auf die Daten zuzugreifen, die über sie in den öffentlichen Registern gespeichert werden. Wobei es mir in diesem Bereich noch nicht weit genug geht. Wir könnten einfach allen die Registerdaten persönlich zur Verfügung stellen, um dann das Feedback zu erhalten, dass möglicherweise ein Qualitätsproblem vorliegt, das man bereinigen kann. Warum kann ich nicht eine App haben, über die ich zumindest die bereits am Register- und Systemverbund gemeldeten Daten mit meiner eID ausgespielt bekomme? Dann würde man beispielsweise bemerken, dass man für die Behörde ganz woanders hauptgemeldet ist, als man selbst denkt. Das ist momentan nicht so. Wir stellen Dokumente und Nachweise zur Verfügung und das funktioniert auch über das bereitgestellte Dokumentenabfragesystem. Und falls meine Daten dort noch nicht aktuell sind, dann habe ich eine Telefonnummer, melde mich bei der Personenstandsbehörde und ersuche meine Dokumente zu überprüfen und zu korrigieren. Das ist allerdings noch zu wenig und ich sehe in diesem Bereich viel mehr Potenzial. Wenn man heute die Qualität der Daten ansieht, dann haben wir typischerweise 10 % – 20 % Clearing-Fälle. Dabei geht es gar nicht darum, wer auf meine Daten zugegriffen hat, sondern was die Verwaltung über mich alles so abgespeichert hat. Hier besteht ein riesiges Potenzial und es würde auf die Transparenz- und Vertrauensthematik stark einzahlen.

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Du hast nun euer System geschildert, wie ihr darauf achtet, eure Prinzipien einzuhalten. Ihr habt aber auch viele Partnerfirmen und Lieferant:innen, die für euch arbeiten. Überbindet ihr diese Verantwortung auch, sodass die sich auch an diese Prinzipien halten, auf die sich eure Kund:innen bei euch verlassen können? Das BRZ gibt wenig ganze Teile außer Haus. Wir machen nur skill staffing mit unseren Partnerfirmen. Selbst wenn die Lieferanten bei uns andocken, ist die Steuerung in unseren Händen. Wir schaffen ein Team, im Normalfall mit fünf externen und fünf internen Mitarbeitenden und dann haben wir in der Steuerung darauf zu achten, dass die Prinzipien eingehalten werden.

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Damit werden also eure Prozesse, eure Standards, euer Quality Gate entsprechend umgesetzt und somit werden die Prinzipien automatisch eingehalten. Wenn wir Standard-Software einkaufen, gibt es genauso die Standards, die zu erfüllen sind, bevor sie bei uns eingebettet wird. Im Normalfall, wenn wir etwas

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entwickeln, dann sind wir schon in der Steuerung und die Lieferant:innen müssen dem folgen.

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Standard-Software ist ein gutes Stichwort. Würden solche Prinzipien auch explizit in einer Ausschreibung erwähnt werden? Ja, die nehmen wir in die Ausschreibung mit auf und sie sind dann der Rahmen.

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Du bist seit einiger Zeit auch Vizepräsident im Verband der öffentlichen ITDienstleister EURITAS. Wie wird dort die Diskussion geführt, wenn die Stellung der europäischen Werte und Prinzipien in der digitalen Welt zur Sprache kommt? Dort geht es vor allem um das Thema Souveränität, weil es eine unmittelbare Betroffenheit von fast allen gibt. Mittlerweile haben wir auch die Thematik Nachhaltigkeit aufgegriffen. Ich bin schon gespannt, wie sich die Diskussion entwickelt. Da wir alle sehr stark von Auftraggebern getrieben werden ist der Gestaltungsspielraum für den digitalen Humanismus kleiner. Größer ist er beim klassischen Unternehmen, der das auch als USP verwenden kann. Das heißt, auf dieser Ebene wird der Digitale Humanismus kaum diskutiert. KI hingegen ist schon ein Thema, wir sprechen hier in erster Linie über Kriterienkataloge. Die Prinzipien des Digitalen Humanismus werden für die öffentliche Verwaltung primär in einem politischen Diskurs festgelegt, da können wir als IT-Provider nur beratend zur Verfügung stehen.

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Der Umgang mit Mitarbeitenden in der digitalen Welt ist ein zentrales Thema im Digitalen Humanismus. Wie gelingt es, Mitarbeitenden trotz dieser schnellen, digitalen Entwicklungen eine lebenslange Beschäftigung zu ermöglichen und sie auch entsprechend auf dieser sich permanent verändernden Reise mitzunehmen? Neue Systeme und auch die KI schüren Arbeitsplatzängste. Es geht aber auch darum, einen Schutz zu geben, weil Überwachungsmöglichkeiten natürlich laufend mehr werden. Wie ist eure Position zu dem Thema und was setzt ihr bereits um? Im Zeitalter des Wettbewerbs um die besten Fachkräfte muss man in allen Dimensionen mitdenken. Ich glaube, das Wichtigste ist, dass unsere Mitarbeiter:innen die Chance haben, die Kompetenzen dafür aufzubauen. Das gelingt nicht immer und wir sehen bei dem Wachstum, das wir hinter uns haben, dass es sehr schwierig ist, neben den vielen Kundenanforderungen hierfür noch Raum zu schaffen.

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Es gibt im BRZ aber verschiedene Programme, mit denen wir versuchen, die Mitarbeitenden auch im Bereich der Weiterbildung vor allem durch E-Learning abzuholen. Sobald wir Klarheit über die relevanten Themen haben, machen wir E-Learning daraus und bieten es den Mitarbeitenden an. Das machen wir auch für das Management. Ich möchte beispielsweise die gesamte europäische Regelrahmensituation, so wie wir sie jetzt besprochen haben, ins Management tragen, sodass sie auf allen Ebenen bekannt ist. Dazu gehören die Fragen: Was bedeutet beispielsweise ein Data Governance Act oder ein AIAct für uns oder wo müssen wir uns da einordnen? Was sind Dinge, die wir erfüllen können und welche nicht? Dabei geht es auch um die Kundinnen und Kunden, damit wir ihrer Erwartungshaltung dementsprechend klar und eindeutig begegnen können. Wir sind Anbieter einer KI, wir machen Lösungen für KI und wir werden uns auch zertifizieren müssen, wenn das einmal notwendig ist. Wir selbst können dafür nicht Aufsicht – oder Zertifizierungsstelle sein, das wäre ein Widerspruch. Grundsätzlich versuchen wir, Wissen sehr schnell an die Mitarbeitenden weiterzugeben. Wir sind allerdings noch nicht an dem Punkt angekommen, dass wir klar sagen können, dass jede:r Mitarbeitende das Wertesystem auch lebt. Wir haben viele Prozesse, die das absichern, dennoch ist es noch ein weiter Weg, bis wir das alle in unseren Genen haben und den Fokus auf den Menschen und nicht auf die Technik legen.

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Wie geht ihr selbst mit den Prinzipien gegenüber den Mitarbeitenden um, also etwa mit Überwachung oder Datenschutz der Mitarbeitenden? Bitte um deine Sichtweise als Arbeitgeber. In diesem Punkt sind wir noch durch die behördliche Situation geprägt. Es gab dazu kürzlich eine Diskussion zur Videoüberwachung von Administrator:innen. Das wäre bei uns schwierig und wir würden das auch im Management zehnmal überlegen, ob wir so etwas tun. Wenn wir unsere Geschichte und unseren kulturellen Hintergrund betrachten, so sind die Themen Schutz der Privatsphäre, Schutz der Mitarbeitenden und deren Gesundheit hochsensibel. Das ging so weit, dass es bereits Kritik hagelte, wieso das BRZ einige COVID 19-Maßnahmen bis vor Kurzem noch nicht aufgehoben hat. Bis Juni 2023 haben wir Contact Tracing gemacht und hatten eigene Quarantäne-Regelungen – alles wirklich primär im Sinne des Mitarbeiterschutzes. Auch wenn es effizienter gewesen wäre, hier aus Unternehmer-Sicht anders zu agieren. Die Mitarbeitenden des BRZ haben jedenfalls ein Management, für das die Mitarbeitenden das wichtigste Gut sind.

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Letzter Fragenbereich, Blick in die Zukunft. Was ist notwendig, um diese Prinzipien auch wirklich umzusetzen? Regulatorisch, aber auch in der Diskussion seitens der EU und Österreich? Wie geht es nun weiter? Ich glaube, man muss gewisse Dinge noch schärfen, man wird das mit Performance-Indikatoren (KPI) ausstatten müssen. Es gibt Leute, die darüber nicht glücklich sind, dass ein Monitoring über die Berliner Erklärung kommt. Aber ich denke, wir müssen die Sensibilität so erhöhen, dass die Menschen auch danach handeln. Ich muss nicht nur darauf achten, wie dieses Regelwerk aussieht, sondern wie es gelebt wird. Ich erwarte hier große Unterschiede. Daher muss ich KPIs ansetzen, damit ich weiß, ob das eingehalten wird.

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Habt ihr bereits Ideen für KPIs? Wir erwarten einen Vorschlag von der EU zum Monitoring der Berliner Erklärung. Wesentlich ist, dass man messbare Größen definiert, die uns Aufschluss darüber geben, wo wir stehen. Auch bei uns stellt sich die Frage, wie messen wir zum Beispiel Userzentriertheit. Eine Umfrage, ob etwas gefällt oder nicht, ist da wenig hilfreich, da es nicht um die subjektive Ebene geht. Es geht darum, ob ich alle Maßnahmen getroffen und alle Standards und Prozesse eingehalten habe. Vielleicht ist das Ergebnis dann trotzdem nicht für alle Benutzer:innen optimal, aber ich habe bestmöglich objektivierte Vorgaben und Standards umgesetzt. Die Messbarkeit ist wichtig, ansonsten wird es nicht gelebt, zurück bleibt dann nur eine schöne Hülle. Zur KI gab es bereits 2018 sehr klare Aussagen, aber es hat kaum jemanden interessiert. Warum? Es war ein Papier, wo sich einige sehr fachkundige Expert:innen etwas überlegt haben, aber es ist nicht in die Breite gekommen. Ich glaube, dass nicht Strafen, sondern Sichtbarkeit bei der Umsetzung helfen. Beispielsweise sind wir ein CO₂-neutrales Rechenzentrum und ich habe intern nachgefragt, wo steht das bei uns? Eigentlich müssten wir bei jedem Service, das wir ausliefern, angeben, dass dieses Service CO₂-neutral erbracht wird. Nicht, um zu zeigen, wie gut wir das machen, sondern um das sichtbar zu machen und andere zu motivieren, ebenfalls CO₂-Emissionen zu reduzieren. Und genau diese Frage haben wir auch bei den Themen des Digitalen Humanismus. Wir müssen dorthin kommen, dass diese Werte, die man festhält und manifestiert, auch in der Realität irgendwo sichtbar sind, nur dann werden sie gelebt werden. Vielen Dank für das interessante Gespräch.

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IT-Kompetenzzentrum mit humanistischen Werten Beispiel

Trustworthy AI – Der BRZ Kriterienkatalog für vertrauenswürdige KI-Anwendungen Mit Hilfe des BRZ Kriterienkataloges für vertrauenswürdige KI hinterfragen wir die Anwendung von Methoden künstlicher Intelligenz systematisch. Dazu haben wir einen internen Standard für Fragestellungen entwickelt, der bereits bei den ersten Überlegungen zur Nutzung von KI herangezogen wird. Diese Fragestellungen werden dann gemeinsam mit dem Kunden bewertet. Somit werden alle Aspekte bereits zu Beginn berücksichtigt und unterschiedliche Perspektiven und Kriterien analysiert und bewertet, wobei 22 Prüfkriterien, 70 Prüfpunkte und mehr als 250 Merkmale untersucht werden. Die Prüfung erfolgt in den Bereichen Transparenz, Verantwortung, Datenschutz, Zuverlässigkeit und Gerechtigkeit. Das Ergebnis gibt einen Überblick zu Risiken und Handlungspunkten. Nachfolgend die Abbildung 4 mit einem generischen Beispiel, wie wir die Ergebnisse einer Evaluierung einer vertrauenswürdigen KI-Anwendung nach unserem internen Kriterienkatalog für KI-Anwendungen darstellen. Das gibt einen schnellen Überblick und schafft Vergleichbarkeit. nicht anwendbar kritischer Handlungsbedarf

10% 10% 70 Prüfpunkte

20%

Nachbesserungen empfohlen

70%

Abbildung 4  Trustworthy Diagram des BRZ. (Quelle: brz.gv.at)

kein Risiko erkennbar

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Literatur 1. Tallinn Deklaration der Europäischen Kommission: https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/ node/3739 2. Berliner Erklärung der Europäischen Kommission: https://digital-strategy.ec.europa.eu/de/ node/479 3. brz.gv.at 4. https://www.brz.gv.at/wie-wir-arbeiten/So-funktioniert-Arbeiten-im-BRZ/Digital-DesignPrinciples.html 5. https://www.brz.gv.at/was-wir-tun/Innovationen/Wie-Zukunftstechnologien-die-Verwaltungmodernisieren/Kuenstliche-Intelligenz-in-der-Verwaltung/Vertrauenswuerdige-KI.html

Gesundheitsstrukturen müssen um den Menschen herum etabliert werden Digitaler Humanismus bedeutet für uns Menschenzentrierung Michael Heinisch, CEO Vinzenz Gruppe Krankenhausbeteiligungsund Management GmbH

Kurzfassung

Michael Heinisch behandelt im Interview mit Georg Krause wie in der Vinzenz Gruppe, der größten privaten Spitalsgruppe Österreichs, die Umsetzung des Digitalen Humanismus in Form der Patient:innenzentrierung erfolgt. Im Zentrum steht dabei die Ermächtigung der Patient:innen, die Ermöglichung einer individuellen Nutzung von Informationen und die Gruppierung der Organisationen und Strukturen des Gesundheitssystems rund um die Patient:innen. Michael Heinisch führt aus, wie diese Überlegungen – mit den Eigentümern abgestimmt – in die „Gene“ und Kultur der Organisation übernommen werden. Er stellt weiters dar, wie der Umgang mit ethischen (medizinischen, genauso wie managementbezogenen oder digitalen) Fragestellungen über Ethikbeiräte, Leitlinien, Ethikkodex, Wertebericht und Verankerung von Wertevorständen in den Führungsorganen behandelt und entschieden werden. Am Beispiel der „Hallo Gesundheit“-App zeigt er auf, wie digitale Möglichkeiten bereits genutzt werden, um eine bestmögliche „Patient:innen Journey“ zu erreichen. Letztlich geht er noch auf den sensiblen Bereich des Datenschutzes von Gesundheitsdaten im Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Bereitstellung für Forschungszwecke ein, und er zeigt die Grenzen der Künstlichen Intelligenz bei medizinischen Entscheidungen auf.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 163 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_12

Fotocredit: msg Plaut

„Wir müssen den einzelnen Menschen in seiner Gesamtheit betrachten.“ Michael Heinisch, CEO Vinzenz Gruppe Krankenhausbeteiligungs- und Management GmbH

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich… …bei der Patientenzentrierung eine bedingungslose Orientierung unseres Tuns am Patienten mit dem Ziel ihn zu stärken und zu ermächtigen. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … …dass wir die Patient:innen und die Mitarbeitenden aktiv in die Entwicklung von all diesen digitalen Lösungen einbinden, damit wir genau auf ihren Bedarf hin diese Lösungen anbieten. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute und in Zukunft menschenzentriert wird oder bleibt, welcher wäre das? Einfach die Betroffenen in die Lösungen einbinden und Maß an ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten nehmen. Welches ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische bzw. europäische Politik? Die Menschen müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Daten sicher sind und nur für die Zwecke verwendet werden, denen sie zugestimmt haben. Was ist die eine Sache, die unserer Organisation am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus alias Patientenzentrierung noch besser umsetzen zu können? Dass auch die dahinterliegenden Strukturen – Krankenhäuser, Ordinationen, RehaEinrichtungen, und Pflegeeinrichtungen – gemeinsam und integriert um den Menschen herum gedacht werden. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen sich mit den Themen zu beschäftigen? Mutig sein, sich nicht bremsen lassen von gefühlten Regelungen und überkommenen Rahmenbedingungen. Mein wichtigster Beitrag als Geschäftsführer zur Umsetzung der ethischen Prinzipien? Meine Aufgabe ist es, die Menschen zu motivieren, genau diese neuen Lösungen zu entwickeln und ihnen den Rahmen und die Freiheit zu geben, das auch tun zu können.

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Georg Krause: Was verstehst du unter Digitalem Humanismus? Du hast im Vorfeld gesagt, dass dieses Thema für euch sehr wichtig ist. Michael Heinisch: Die entscheidende Frage des Humanismus ist doch, wie es gelingen kann, den Menschen in seiner Freiheit und Würde zu stärken. Und in diesem Punkt ist natürlich das Thema Bildung ganz entscheidend. Wenn Menschen die Möglichkeit bekommen sich zu bilden, haben sie die Möglichkeit ihr Leben zu entfalten. Und das ist aus meiner Sicht das Ziel des Humanismus: Würde, Freiheit, Entfaltung. In unserem Kontext sprechen wir allerdings nicht von Digitalem Humanismus, wir nennen es Patient:innenzentrierung. Es geht um Haltungen und Rahmenbedingungen, die es braucht, damit sich Menschen entwickeln und entfalten können – in Phasen der Gesundheit und in ihrer Krankheit. Schließlich ist Gesundheit nichts, das du nur von Ärzt:innen oder von Pflegemitarbeiter:innen bekommst. Gesundheit kommt aus dem Menschen bzw. den Patient:innen selbst. Sie müssen daher ermächtigt werden, für ihre persönliche Gesundheit etwas zu tun. Du brauchst Bildung, du brauchst die richtigen Menschen an deiner Seite und du brauchst auch Instrumente dazu. Und die Digitalisierung liefert diese Tools, sehr gute Tools sogar. Gerade im Gesundheitswesen führt digitale Technologie zu einem echten Paradigmenwechsel. Es sind diese technologischen Möglichkeiten, die den Menschen ermächtigen, selbstbestimmter zu entscheiden und zu handeln. Digitalisierung im Gesundheitswesen bringt die Angebote und Leistungen zum Menschen und nicht nur mehr umgekehrt. Digitaler Humanismus definiert aber auch die Prioritäten richtig: Immerhin ist der Mensch die beste Medizin für den Menschen. Und digitale Technologien sind ein Instrument in dieser Beziehung.

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Warum habt ihr euch damit beschäftigt? Ihr seid eine ökonomische Organisation. Was hat euch dazu bewegt, das Thema Patientenzentrierung in den Mittelpunkt zu rücken? Natürlich sind wir ökonomisch orientiert. Das heißt wir haben alle eine ethische Verantwortung, knappe und kostbare Ressourcen so effizient und effektiv wie möglich einzusetzen. Wir sind allerdings nicht gewinnorientiert. Wir sind gemeinnützig und haben einen öffentlichen Versorgungsauftrag, Da gibt es keinen Unterschied zu den Spitälern, die dem Bund, den Ländern oder den Gemeinden gehören. Wir sind da sehr ähnlich aufgestellt und unterliegen den gleichen Gesetzen und Regeln. Der Unterschied liegt in der Eigentümerschaft. In unserem Fall ist der Eigentümer eine gemeinnützige Stiftung, die von einer Ordensgemeinschaft errichtet wurde. Wir haben uns deswegen mit dem Thema Patient:innenzentrierung beschäftigt, weil wir glauben, dass das Gesundheitswesen, so wie es im Moment gedacht und gemacht wird, an seine Grenzen stößt. Unser Gesundheitswesen wird vor allem

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aus seinen Strukturen heraus definiert und gedacht. In ihnen liegt die Autorität des Gesundheitswesens. Es sind die Leitorganisationen, wie insbesondere die Krankenhäuser, Ordinationen, Rehabilitations-Zentren und Pflegeeinrichtungen, welche die Rahmenbedingungen und die Möglichkeiten für die Patient:innen bestimmen. Und wenn du krank bist oder irgendeine andere Form der Unterstützung brauchst, dann musst du in diese Strukturen hinein und du musst dich natürlich auch ihren Regeln und ihren Prozessen unterordnen. Diese „Standard Operating Procedures“ durchziehen das gesamte Krankenhaus. Aber verstehe mich nicht falsch. Diese SOPs, welche über Jahrzehnte laufend weiterentwickelt wurden, sind auch einer der Erfolgsfaktoren für unser qualitätsvolles Gesundheitswesen, auf das wir zurecht stolz sein können. Ohne diese Prozessqualität wäre es unmöglich gewesen, den zunehmenden Bedarf und die Erwartungen an ein analoges Gesundheitssystem abzudecken. Aber wir kommen nun mit diesen Strukturen an ihre Grenzen. Die zunehmende Nachfrage nach Gesundheitsleistungen kann in diesen Strukturen – mit tendenziell immer weniger Personal – perspektivisch à la longue nicht mehr befriedigt werden. Und noch etwas Anderes kommt dazu: Der Mensch besteht nicht nur aus der Episode Krankheit, mit einer Durchschnittsverweildauer von sieben Tagen. Der Mensch besteht aus viel mehr. Er durchläuft von der Geburt bis zum Lebensende unterschiedliche Lebenszyklen: vom Säuglingsalter bis zum Kind, vom Erwachsenenalter bis zum multimorbiden, zum Teil schwer kranken Menschen am Ende eines Lebens. Wir müssen den einzelnen Menschen daher in seiner Gesamtheit betrachten. In diesem Fall reicht die Orientierung des Menschen an den verfügbaren Strukturen nicht mehr aus. Deswegen müssen wir das Gesundheitswesen neu denken: Strukturen müssen sich um die Patient:innen herumgruppieren und nicht umgekehrt. Ein junger Mensch hat andere Bedürfnisse als ein alter Mensch. Und Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Deshalb ist Prävention und Gesundheitsförderung auch so wichtig – und wieder die Bildung. Die Strukturen und Organisationen müssen zum Menschen kommen, sich um ihn gruppieren. Traditionelle Organisationsstrukturen kommen da schnell an ihre Grenzen. Deswegen denken wir in der Vinzenz Gruppe in neuen Organisationsformen, in Netzwerken. Netzwerke besitzen diese Flexibilität, Angebote und Leistungen an Bedürfnissen und Lebensphasen der Menschen besser auszurichten. Und die größten und mächtigsten Netzwerke sind die digitalen Netzwerke. Und das ist der Tipping-Point: Digitale Technologien und Lösungen ermächtigen die Patient:innen sich durch die Strukturen und Angebote individuell zu bewegen, orts- und zeitungebunden. Die Patient:innen lösen die Prozesse aus und nicht die Strukturen mit ihren Standard Operating Procedures. Die Patient:in hat Zugriff auf qualitätsgesicherte Symptom-Checker, sie bucht sich selbständig Termine, organisiert ihre Befunde und löst digitale Ambulanztermine aus. Durch

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den Vergleich mit Millionen Daten entsteht für die Patient:in ein wesentlich individuelleres Bild auf die eigene Situation. Mit den digitalen Lösungen geben wir Patient:innen völlig neue Möglichkeiten und schaffen neue Leistungen. Jedem das Seine und nicht das Gleiche. Diese Möglichkeiten hatten wir früher nicht. Wenn du die Patient:innen früher an einen anderen Gesundheitsleister zuweisen oder für ihn irgendetwas außerhalb des Krankenhauses organisieren wolltest, dann standen Dir das Telefon und ein Faxgerät zur Verfügung. Aber jetzt können wir den Patient:innen eine digitale Lösung zur Verfügung stellen, unabhängig davon wo sie leben, in welchem Lebensabschnitt sie sich befinden und was auch immer sie benötigen – die Patient:innen bekommen eine andere Stellung und eine andere Rolle. Die Strukturen gruppieren sich also um sie herum. Und das ist die Art, wie in Zukunft, – ich bin fest davon überzeugt – Gesundheit gedacht und gemacht werden wird für den Menschen.

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Das ist ein sehr starkes Bild. Und ich glaube, es zeigt deutlich, dass Ihr den Digitalen Humanismus auf die spezifische Patient:innensituation umgelegt habt. Gemäß eurer Denkweise steht nicht mehr die Struktur, sondern tatsächlich der Mensch bzw. Patient:innen im Mittelpunkt mitsamt ihrer Selbstbestimmung und Würde. Ihr habt zudem eine spezielle Eigentümerstruktur, vielleicht kannst du das auch kurz kommentieren. War sie auch ein Antreiber dafür, dass ihr euch offenbar schon sehr früh mit diesem Thema beschäftigt habt? Ja, schließlich geht die Vinzenz Gruppe auf eine Gründung der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul zurück. Die Schwestern sind immer der Not der Zeit gefolgt – kamen 1832 nach Wien. Es war die Zeit, als die CholeraEpidemie hier gewütet hatte. Damals hatte es noch kaum öffentliche Spitäler gegeben. Also Antworten auf die Not der Zeit zu geben, war immer im Denken der Ordensschwestern fest verankert und sie treibt uns auch heute noch voran. Beispielsweise zählen wir auch zu den Pionieren der Palliativmedizin: Sehr früh haben wir erkannt, dass es eigene medizinische und pflegerische Leistungen für Menschen braucht, die an einer unheilbaren Krankheit leiden. Es ist eine Form der Begleitung, die ein würdevolles Ende des Lebens zum Ziel hat. Damals hat man auch die Lehren aus dem Lainz-Skandal gezogen. Aktuell sehen wir neue Nöte unserer Zeit. Das ist mitunter auch die Orientierungslosigkeit der Menschen im Gesundheitswesen, nicht zu wissen, wohin man mit welchem gesundheitlichen Thema soll, und das Fehlen der ganzheitlichen Sicht auf den Menschen. Und es fehlt an Geborgenheit, was wohl auch mit den vorgenannten Punkten zusammenhängt. An diesen Themen müssen wir nun weiterarbeiten.

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Gefragt nach der Eigentümerstruktur: Die Vinzenz Gruppe ist im Eigentum einer gemeinnützigen Privatstiftung, die wiederum der Orden der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul gegründet hat.

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Steht ihr in einem Dialog mit den Eigentümern zu diesen Themen, um so gemeinsam Ideen zu entwickeln, Visionen, Strategien, Ziele, um Not nicht nur zu erkennen, sondern gemeinsam zu überlegen, wie man sie lindert? Oder seid ihr in diesem Punkt auf euch allein gestellt und tragt einfach die erwähnten Gene aus der Vergangenheit weiter? Also die Gene der Vergangenheit sind ein sehr starkes Momentum. Sie inspirieren uns, sie sind der Auftrag, den die Stiftung und damit die Vinzenz Gruppe in sich trägt und den wir umsetzen. Dazu muss man vorweg einmal sagen: Wir hatten schon immer eine sehr enge Beziehung zu unserer Geschichte und unserer Herkunft. Das stärkt uns sehr als Organisation. Das Bewusstsein zu unseren Ursprüngen und unserem Gründungsgedanken – das ist sehr präsent. Und zur Frage nach dem Dialog mit dem Eigentümer: Gerade jetzt waren wir gemeinsam in einem Visions- und Strategieprozess unterwegs, auch mit den Ordensschwestern. Dieser Prozess hat uns genau zu diesen Überlegungen geführt, über die wir gerade gesprochen haben. Unsere Überlegungen sind schon sehr weit nach vorne gerichtet und zum Teil auch radikal bzw. disruptiv. Deswegen ist es wichtig, dass die Eigentümer hier auch gut eingebunden sind, damit das ganze Netzwerk, in dem wir uns als Vinzenz Gruppe bewegen, eine gemeinsame Orientierung behält

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Jetzt haben wir gesehen, dass es an der Eigentümer-Schnittstelle diese Diskussion über die Strategieentwicklung gibt. Wie wird das dann heruntergebrochen in die Organisation? Schließlich seid ihr eine sehr große Organisation mit vielen Standorten und unterschiedlichen Häusern. Gibt es Richtlinien, Leitlinien, Strategiepapiere? Dahinter verbirgt sich eine sehr klassische Managementaufgabe, auch wenn es sich um ein Spital handelt. Ja, wir setzen unsere Strategien äußerst konsequent um. Ein konkretes Beispiel: Wir haben ja gerade über die Bedeutung von Netzwerken gesprochen, in denen wir uns mit unseren Möglichkeiten und Leistungen um die Patient:in ausrichten. Wir haben uns nun überlegt, wie wir in den bestehenden engen und einschränkenden rechtlichen österreichischen Rahmenbedingungen ein Netzwerk um die Patient:innen aufspannen können. Entstanden sind dabei unsere Gesundheitsparks. Ein Gesundheitspark ist ein Netzwerk, das sich um die Patient:innen herum spannt und das aus selbstän-

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digen Partnern besteht. Das Krankenhaus ist ein Partner, aber auch der niedergelassene Arzt oder Ärztin auf der gegenüberliegenden Straßenseite, oder die ambulante Rehaklinik bzw. das Pflegeheim, das ganz in der Nähe liegt. Therapeut:innen, Bandagist:innen, Apotheker:innen – alle zusammen sind Partner in diesem Netzwerk namens Gesundheitspark. Der Mensch steht in der Mitte und wir gruppieren uns mit unseren Angeboten um ihn herum. Wenn man patientenzentriert denkt, braucht es auch angemessene Organisationsformen. Aber die klassischen Organisationen und Strukturen sind nicht die richtigen. Es braucht Netzwerke, die über eine gemeinsame Vision, über ein gemeinsames Bild, also über ein gemeinsames Ziel miteinander verbunden sind. Gesundheitsparks gibt es an all unseren Krankenhausstandorten und sie sind zum Teil auch schon sehr groß: Wir sprechen hier von 80 bis 100 Partnern, die sich an einem Standort gemeinsam und integriert um die Patient:innen kümmern. Und diese Netzwerke wachsen laufend. Der größte Standort ist der Gesundheitspark die Barmherzigen Schwestern in Linz.

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Damit auch gewährleistet ist, dass Mitarbeitende in diesem Sinne handeln, habt ihr Ethikrichtlinien oder ein Mitarbeiter:innenhandbuch, wo solche Dinge festgelegt bzw. festgeschrieben sind? Irgendetwas, wo diese Vision festgehalten ist? Es gibt eine Vielzahl von Dokumenten und Maßnahmen, mit denen wir für die Mitarbeiter:innen Orientierung schaffen wollen. Ich beginne mit den Fragestellungen zur erwähnten Ethik. Wir haben in der Vinzenz Gruppe Ethikstrukturen aufgebaut, angefangen von einem Ethikbeirat, in dem alle unsere Gesundheitseinrichtungen übergreifend zusammenarbeiten. In diesem Ethik-Beirat sind ungefähr 20 Menschen tätig: Ärzt:innen, Pfleger:innen, Theolog:innen, Jurist:innen, die miteinander heikelste ethische Fragestellungen bearbeiten, immer in Blickrichtung Patientenzentrierung. Ihre Empfehlungen und Leitlinien werden dann heruntergebrochen auf konkrete Situationen, die in den Krankenhäusern regelmäßig erleben. Daraus entstehen für die Mitarbeiter:innen wichtige Orientierungsmarken, die sie in ethische schwierigen Situationen unterstützen. Trotzdem werden die Entscheidungen dort immer in Eigenverantwortung getroffen. Darüber hinaus gibt unsere Ethikarbeit auch unseren Patient:innen Sicherheit und Orientierung.

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Das ist ein wichtiger Punkt. Wie lange habt ihr diesen Ethikbeirat schon? Seit ungefähr 15 Jahren.

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Wir haben im Buch auch ein Beispiel, nämlich die SAP, die ebenfalls so einen Ethikbeirat eingerichtet hat. Er wird gebraucht, wenn es zu Dilemmasituationen kommt. Denn gerade im ethischen Bereich gibt es keine eindeutigen Entscheidungsvorgaben. Wer bei euch auf eine schwierige Fragestellung trifft, ruft euren Ethikbeirat an? Oder wie funktioniert das? Im Alltag unserer Gesundheitseinrichtungen kommen unserer Mitarbeiter:innen immer wieder zu schwierigen ethischen Entscheidungen. Zum Beispiel, wann soll man eine:n Patient:in nicht mehr wiederbeleben, weil ihm:r damit mehr geschadet als genutzt wird? „Do not resuscitate“ heißt das. Unsere Mitarbeiter:innen haben den Ethik-Beirat angerufen, weil sie ethische Orientierung für diese entscheidenden Momente benötigen. Die Mitglieder des Ethikbeirates, auf drei Jahre bestellt und komplett weisungsfrei, haben sich überlegt, welche Fragen in derartigen Situationen zu stellen sind, wie der Entscheidungsprozess ablaufen soll, um zu einer ethisch verantwortungsvollen Antwort zu kommen. Sie erarbeiteten dann eine Leitlinie, die sie an das Ethikkomitee des jeweiligen Krankenhauses weiterleiten. Das Ethikkomitee sammelt alle diese Leitlinien. Direkt am Patienten gibt es dann noch ein sogenanntes Ethik-Konsil. Sofern ein:e Patient:in in diese Situation kommt und man sich überlegen muss, wie es weitergeht, kann jeder Mitarbeitende, aber auch Angehörige, ein Ethik-Konsil einberufen. Das wird dann mit speziell geschulten Mitarbeitenden besetzt, sie alle haben eine dementsprechend profunde Ausbildung. Sie setzen sich interprofessionell zusammen, schauen sich den Menschen an, schauen sich die Leitlinie an und kommen dann gemeinsam zu einer Empfehlung. Es geht um einen ethischen Dialog. Es gibt auch einen Ethikkodex, ein lebender Sammelband, in dem Grundhaltungen formuliert sind, die laufend durch neue Leitlinien und durch neue Erfahrungen erweitert werden. Das war jetzt einmal nur die medizinische und pflegerische Ethik. Dann haben wir aber noch das sogenannte Wertemanagement etabliert. Ein Krankenhaus besteht in Österreich normalerweise aus der sogenannten kollegialen Führung. Da gibt es eine:n ärztliche:n Direktor:in, eine:n Pflegedirektor:in, und eine:n Verwaltungsdirektor:in. So setzt sich die klassische kollegiale Führung zusammen. Wir haben dieses höchste Führungsorgan erweitert – um einen Wertevorstand und um einen Personalvorstand. Einfach deshalb, weil wir überzeugt sind, dass diese Wertefragen der christlichen Kultur, des christlichen Miteinanders, diese Begegnungsqualität, die Zuwendungsqualität zu Patient:innen, diese Fragen der Geborgenheit eine außergewöhnlich große und wichtige Rolle spielen. Deswegen haben wir in diesem höchsten Leitungsorgan – dem Vorstand – eines Krankenhauses einen Wertevorstand etabliert. Der Gesamtvorstand entscheidet einstimmig. Das heißt, wenn der Wertevorstand sagt, ich bin dagegen, kommt es im Vorstand zu

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keiner Entscheidung, dann muss der Geschäftsführende entscheiden, quasi als zweite Instanz. Der Wertevorstand leitet eine Wertegruppe, sie besteht aus 10 bis 15 Mitgliedern, interprofessionell, hierarchieübergreifend und sie arbeiten gemeinsam an konkreten Projekten. Ein Beispiel aus der Arbeit der Wertegruppe im St. Josef Krankenhaus im 13. Bezirk: Das ist die größte Geburtshilfeklinik Österreichs mit über 4000 Geburten pro Jahr, in der auch immer wieder Kinder tot geboren wurden. Früher wurden diese Kinder nicht begraben. Das war leider einfach so. Die Wertegruppe hat daraufhin nachgedacht und ein Grab am Friedhof gekauft, wo diese Kinder seither bestattet werden. Mittlerweile ist das überall Standard. Solche Überlegungen und Entscheidungen kommen aus der Wertegruppe. Ein anderes Beispiel aus dem Orthopädischen Spital Speising: Die Wertegruppe dieses Krankenhauses hat sich überlegt, in welchen Phasen des KrankenhausAufenthaltes die Patient:in die größte Angst verspürt. Es ist wohl der Moment, in dem er oder sie von ein:em Bettenwagenfahrer:in vom Krankenzimmer abgeholt wird. , Die Patient:in kennt diese Mitarbeiter:in wahrscheinlich nicht und dennoch gehen sie gemeinsam durch die Gänge des Krankenhauses in den unsterilen Raum vor der Schleuse. Es riecht nicht angenehm und es ist auch kein sehr schönes Umfeld, das man vor seiner Operation mitbekommt. Wir haben uns daher in die Patient:innen hineinversetzt und eine Leitlinie erarbeitet, wonach jede:r Patient:in gefragt werden muss, ob sie oder er vom diplomierten Krankenpflegepersonal oder von einer anderen bekannten Person aus dem Stationsbereich, die vertrauter ist als ein:e Bettenwagenfahrer:in, begleitet werden will. Solche oder ähnliche Beispiele gibt es viele. Bei uns wird über die Not der Zeit nachgedacht, dazu gibt es Standards und Prozesse, Organisationen und Ressourcen. Das Wertemanagement kostet uns einiges, denn die Mitglieder sind zum Teil hauptamtlich dafür angestellt, sie bekommen ein Gehalt und das Team hat ein eigenes Investitionsbudget. Aber es sind sehr gut investierte Ressourcen.

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Es ist sehr beeindruckend, wie breit und tiefgehend zugleich Ihr euch mit allen Themen beschäftigt, die unter die Not der Zeit fallen. Das sind herausragende Beispiele, wie Ihr Euch mit der Abschätzung der Folgewirkungen Eures Handelns beschäftigt und wie Ihr Lösungen zur Verbesserung des Lebens schaffen könnt. Ein Kernthema des digitalen Humanismus. Wo würden denn beispielsweise Fragen landen, wenn es um den ethischen Einsatz von KI-Lösungen geht? Das macht auch unser Ethikbeirat. Gerade hatten wir eine intensive gemeinsame Diskussion darüber, wie wir mit den aktuellen Ressourcenproblemen im Personal so umgehen, dass Patient:innen trotzdem noch die optimale Leistung be-

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kommen. Es sind also auch solche Fragen, die wir diskutieren, nicht nur ethische medizinische bzw. pflegerische Fragen, sondern auch Fragen des Managements, die mit dem Ethikbeirat besprochen werden.

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Demnach auch Fragen wie kann man KI positiv einsetzen kann, wo sind aber auch die Grenzen … … in diesem Zusammenhang kann ich gerne auch über ein weiteres Projekt von uns sprechen. „Hallo Gesundheit“ ist eine App, die man sich über den App Store herunterladen kann. Es ist dieses digitale Tool, von dem ich zuerst gesprochen habe. Ein digitales Toll, dass das Gesundheitswesen zur Patient:in bringen soll. „Hallo Gesundheit“ wird die Patient:innen durch das System leiten, in anderen Worten: Es ist die Digitalisierung des Gesundheitsparks. Wir heißen derzeit Vinzenz Gruppe Krankenhausbeteiligungs- und Management GmbH, doch ich denke, dass wir in Zukunft nicht mehr für Krankenhausbeteiligungen bekannt sein werden, sondern für das Management von Gesundheitsparks. Wie entsteht diese App oder diese digitale Lösung „Hallo Gesundheit“? Diese Applikation, diese digitale Lösung, entwickeln wir gemeinsam mit SIEMENS Healthineers. Und es ist tatsächlich ein Gemeinschaftsprojekt: SIEMENS Healthineers bringt die technische Kompetenz ein, die ganzen Ressourcen eines großen Konzerns und wir unsere Patientenzentrierung und das Wissen um die Patient:innen-Bedürfnisse. Dazu haben wir vor etwa fünf Jahren unser Innovationszentrum entwickelt. Dort sitzen fünf Mitarbeiter:innen, die der Kopf dieses Projekts sind. Zudem haben wir in jedem Krankenhaus einen Innovations-Fellow mit einem eigenen Team. In Summe haben nun bereits rund 100 Mitarbeitende an „Hallo Gesundheit“ gearbeitet. Immer mit dem Ziel, dass die hinter der digitalen Lösung liegenden Patientenpfade einerseits zu den Patient:innen passen, aber gleichzeitig für uns umsetzbar sind. Aus diesem Grund haben wir auch über 100 Patient:innen in Workshops oder in Dialoggruppen eingebunden, damit wir wirklich herausfinden, was ihnen guttut, was weniger, in welchen Bereichen sie mitkönnen und in welchen weniger. Ihre Partizipation ist ein westliches Momentum gewesen. Und wir arbeiten schon seit zwei Jahren daran und stehen vor dem ersten Launch. Die App wird permanent weiterentwickelt, sie soll immer mehr können und soll immer patientenzentrierte Lösungen anbieten. Was wir bereits vorgezogen hatten – weil es in Corona-Zeiten wirklich wichtig war – ist die digitale Ambulanz. Vor allem Menschen mit einem geschwächten Immunsystem, beispielsweise Krebspatient:innen, oder Patient:innen mit chronischen Krankheiten, wollten wir dieses Angebot unbedingt machen. Und deswegen kann man sich schon jetzt bei uns in eine digitale Ambulanz einwählen und den Ambulanzbesuch digital machen – mit allem, was dazugehört.

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Im Sinne des digitalen Humanismus, welche ethischen Prinzipien unterstützt ihr mit dieser Lösung? Die Ermächtigung des Menschen, die Bildung des Menschen und ein ganz wesentlicher Punkt ist auch die Transparenz für den Menschen. Wir ermächtigen den Menschen, dass er einfach besser entscheiden kann über das Wichtigste, das er besitzt, nämlich seine Gesundheit.

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Bei der Entwicklung und Konzeption dieser Lösung, wie habt ihr da gewährleistet, dass diese Ziele auch erreicht werden können, dass die gewünschten Folgen auch möglichst eintreten werden? Wie hat das in der Konzeption ausgesehen, wie geht man da vor, damit die gesteckten Ziele auch erreicht werden? Wir haben über 100 Patient:innen in einer engeren Gruppe gehabt und gefragt, welche Themen sie im Moment als störend empfinden oder als ungelöst wahrnehmen. Und dahingehend entwickeln wir dann Lösungen. Wir entwickeln dann Gesundheitsparks, Patient:innen-Journey, immer gemeinsam mit den Patient:innen, aber auch mit den Mitarbeitenden, die dann auch die Ansprechpartner:innen sein werden für diese Patient:innen. Und so entsteht miteinander eine digitale Lösung, die wir in einem Krankenhaus pilotieren und dann konkret mit den Patient:innen testen. Daraus lernen wir und verbessern die Lösungen laufend, bis sie stabil sind. Erst dann, wenn alle sagen, damit kann man gut arbeiten, dann wird es ausgerollt. Es ist ein lernendes System und es entwickelt sich permanent weiter. Das ist übrigens ganz anders als die Vorgangsweise, mit der wir bislang IT-Lösungen eingeführt haben.

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Wie war das Feedback von Mitarbeitenden bzw. Patient:innen auf diese Lösung, auf die bisherigen Schritte, die ihr schon eingeführt habt? Ausgesprochen gut, und zwar generationenübergreifend. Also man kann nicht sagen, nur die Jungen mögen es, auch die älteren Personen nutzen diese Lösungen. Das gefällt ihnen, sie ersparen sich so viele Wege und Zeit.

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Würdest Du auf Grundlage bisheriger Erfahrungen irgendetwas anders machen an dem Weg oder glaubst du, das ist ein guter Weg, der sich auch für zukünftige ähnliche Projekte eignet? Ich halte unseren Zugang – also, dass wir die Lösungen nicht zentral top-down umsetzen, sondern bottom-up – für den richtigen Weg. Damit arbeiten wir immer in diesen Lernschleifen. Wir ändern auch immer wieder den Weg. Das Lernen ist Teil unserer Innovationsprozesse geworden.

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Ihr setzt offensichtlich bereits sehr umfassend die Prinzipien des digitalen Humanismus um. Jetzt ist es in der Wirtschaft aber immer so, dass man Dinge auch messen will. Gibt es irgendwelche Indikatoren, mit denen Ihr die Erfolge und Wirkungen Eurer Maßnahmen messt? Oder treibt euch einfach der Glaube an das Gute voran? Christliche Werte sind schon entscheidend bei uns. Sie prägen unsere Kultur. Aber wie gesagt, wir leiten auch eine Vielzahl patient:innenzentrierter Projekte daraus ab. Und die Ergebnisse machen wir transparent. Wir machen einmal im Jahr dazu einen Wertebericht. Darin erfassen wir beispielsweise die Anzahl der durchgeführten ethischen Konsilien. Wir haben auch Seelsorger:innen, die sehr professionell agieren. Wir achten darauf, dass sie sehr gut ausgebildet sind. Unter ihnen gibt es Mitarbeitendenseelsorger:innen und Patientenseelsorger:in. Wir erfassen die Anzahl der Gespräche, die sie führen und erkennen daraus, ob die Seelsorger:innen genug oder zu wenig Zeit haben. Es geht uns nicht um die maximale Anzahl der Gespräche, denn wenn diese nur 30 Sekunden dauern, sind sie sinnlos.

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Ist der jährliche Wertebericht öffentlich auf eurer Homepage einsehbar oder ist es ein rein interner Bericht? Intern, ich berichte immer an meinen Aufsichtsrat. Aber es gibt noch weitere Prozesse, in denen wir die Ergebnisse unserer Handlungen erfassen. Alle zwei Jahre machen wir eine Patient:innenbefragung, alle drei Jahre Mitarbeitendenbefragungen. Zentraler Bestandteil dieser Erhebungen sind die Wertefragen. Das Ergebnis vergleichen wir mit der Vergangenheit und können so eine Entwicklung ablesen. Wie ist die wahrgenommene Qualität der Seelsorge, wie ist die wahrgenommene Zuwendungsqualität des Ärzt:innenpersonals, wie wird der Schutz der Privatsphäre beurteilt? Oder, eine ganz wichtige Frage ist: Werde ich als Mensch zur Gänze wahrgenommen? Alle Antworten werden erfasst, auch solche auf eher offene Fragen.

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Das ist schon ein sehr professionelles und systematisches Management im Hinblick auf Werte und Ethik, zwei im Grunde genommen sehr „weiche“ Themen. Das ist aber genau die Herausforderung. Sogenannte „weiche“ Themen, professionell, strukturiert zu managen. Es bleibt uns nichts anderes übrig. Ich möchte in diesem Zusammenhang unseren Veränderungsprozess, den wir hatten, ansprechen: Früher waren die Barmherzigen Schwestern mit ihrer Ordenstracht überall zu sehen. Du hast gespürt

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und eben auch gesehen, du bist in einem Ordensspital. Schließlich wurden die Ordensschwestern immer älter und es gab auch kaum noch Nachwuchs. Die Gemeinschaften der Ordensschwestern werden kleiner. Letztendlich war es vor ein paar Jahren dann so, dass wir beispielsweise im Krankenhaus Göttlicher Heiland gar keine Ordensschwester mehr hatten. Für uns stellte sich die Frage, wie man ein Ordensspital ohne Ordensschwestern erhalten kann. Wie schaffen wir es, dass ein Krankenhaus als Ordensspital spürbar und erlebbar bleibt? Denn auch von außen schaut es aus wie jedes andere normale, öffentliche Spital. Das machst du, indem du an der Kultur arbeitest. Aber Kultur ist eine Gratwanderung, denn einerseits ist Kultur etwas, das du nicht so richtig gestalten kannst, andererseits darf alles auch nicht in Beliebigkeit ausarten. Und deswegen haben wir diese Managementstrukturen mit dem Wertevorstand aufgebaut. Wir wollten uns zu einer Form der Verbindlichkeit bekennen und haben Rahmenbedingungen geschaffen, damit diese Kultur eines Ordensspitals wirklich am Leben gehalten wird. Wir werden an der Kultur weiterarbeiten, wir werden immer wieder innovativ in diese Richtung wirken, um auch künftig andere, neue Nöte der Zeit zu erkennen.

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Du hast gesagt, es ist euch wichtig, dass man das auch erkennt, dass es sich um ein Ordensspital handelt, sobald man als Patient:in oder Mitarbeitende hineinkommt. Siehst Du das für euch auch als wichtiges Differenzierungsmerkmal? Es ist für mich weniger wichtig, dass es die Gesellschaft wahrnimmt, oder die Politik, sondern mir geht es hierbei um die Patient:innen. Und die Patient:innen sollen spüren, dass sie als Ganzes, in ihrer Einheit aus Körper und Seele wahrgenommen werden. Genau das soll erlebt werden.

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Die Digitalisierung nutzt ihr bewusst, um gezielt neue Möglichkeiten zu eröffnen. Sie sind aber oftmals auch für die Mitarbeitenden eine große, neue Herausforderung. Vor allem die älteren Mitarbeitenden sind betroffen, die eine ganz andere Ausbildung mitbringen. Erstens, wie schafft ihr es, sie mitzunehmen? Zweite Frage: Sie eben auch so mitzunehmen, dass die Mitarbeitenden auch in diesem ethischen und wertorientierten Sinn, die Digitalisierung anwenden? Schließlich hat jede Innovation auch eine andere Seite. Wir sind da sicherlich noch am Suchen. ChatGPT gibt es in unserer Wahrnehmung ja auch erst seit 2022. Aber ich muss sagen, ich bin immer wieder erstaunt, wie unglaublich innovativ und interessiert unsere Mitarbeitenden sind. Also nicht alle im gleichen Ausmaß, aber wenn ich mir die Radiolog:innen zum Beispiel

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anschaue, oder die Patholog:innen, oder die Labormediziner:innen, die sagen zu uns, wir brauchen jetzt ein Programm mit Künstlicher Intelligenz, weil wir wissen, dass uns dies in unserer Arbeit unterstützt und den Patient:innen dient. Die Mitarbeitenden kommen selbstständig auf uns zu und sagen, jetzt brauchen wir das oder jenes. Oder in puncto Roboterchirurgie: Alle Chirurg:innen, egal von welchem Fach, alle wollen neue Roboter-Technologien haben. Das ist etwas, das uns fasziniert, weil es neue Möglichkeiten eröffnet, und weil das auch für gewisse Patient:innen große Vorteile mit sich bringt. Und wir versuchen dementsprechend darauf zu reagieren. Ich habe vorhin über diese Innovations-Fellows gesprochen. Sie unterstützen eine Innovationskultur, sie nehmen die anderen Mitarbeitenden auch aus den Krankenhäusern mit, sie veranstalten Schulungen und organisieren jährlich Workshops. In diesen Workshops suchen wir nach pain points und innovativen Ideen der Praktiker:innen. Sicherlich erreichen wir nicht alle Mitarbeiter:innen, aber Schritt für Schritt immer mehr. Wir versuchen, eine Kettenreaktion guter Lösungen anzutreiben. Wir haben zudem eine Menge interne Medien, die wir bespielen: Wir haben ein Magazin für die Patient:innen und wir haben einen monatlichen Newsletter für alle Mitarbeitenden. Darin finden sich immer Artikel, die für diese Themen sensibilisieren. Wir drehen Schulungsvideos für Patient:innen, damit diese wissen, wie eine digitale Ambulanz funktioniert. Wir haben unterm Strich bereits viel Kommunikation, aber wir stehen trotzdem noch am Anfang. Ich kann auch nicht sagen, dass bereits alle mit wehenden Fahnen in die digitale Welt laufen.

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Kommen wir nun zum Datenschutz. Das ist gerade im Gesundheitswesen ein sehr wichtiges Thema. Auf der einen Seite werden durch die Digitalisierung, auch im operativen Bereich oder in der Diagnostik, immer mehr Daten generiert, wodurch gleichzeitig ein enormer Schutzbedarf entsteht. Aber auf der anderen Seite, handelt sich auch oftmals um Daten, die für die Forschung sehr wichtig sind. Und Künstliche Intelligenz, wissen wir alle, braucht große Datenmengen, möglichst viele Erfahrungswerte, um zu lernen, um besser zu werden und somit auch bessere Lösungen anbieten zu können. Wie geht ihr mit diesem Spannungsfeld um? Indem wir einfach sehr viel Wert auf Datenschutz legen. Bei uns müssen alle Patient:innen, allen Datenschutzerklärungen zustimmen. Wir schaffen völlige Transparenz, was wir mit diesen Daten machen werden. Und wir sind uns sehr wohl unserer Verantwortung für die Daten unserer Patient:innen bewusst. Ich will damit nicht sagen, dass wir nicht auch Gegenstand von Cyber-Angriffen sind. Aber wir tun alles, was wir können, damit wir für die Daten, die bei uns liegen, maximale Sicherheit schaffen. Wir haben eigene Verantwortliche für

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IT-Sicherheit, die auch mit externen Expert:innen zusammenarbeiten. Aus der Datenschutzperspektive sind wir mit Sicherheit ein attraktiver Ort. Und wir verkaufen auch keine Daten, wir haben kein Geschäftsmodell mit Daten.

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Aber stellt ihr die Daten der Forschung zur Verfügung, vielleicht in anonymisierter Form? Bei euch entstehen sehr wichtige Daten für die Forschung. Wir haben eine Menge klinische Studien, für die wir speziell Daten generieren. Wenn beispielsweise ein Pharmaunternehmen auf uns zukommt und sagt, wir wollen eine Studie mit euch machen, dann generieren wir diese Daten im Rahmen der Zusammenarbeit. Aber dass wir automatisch unsere Patient:innendaten zur Verfügung stellen, das würden wir nie tun, nicht für Externe. Im Haus arbeiten wir schon mit diesen Daten. Wir haben zum Beispiel eine Biobank, in der die von onkologischen Patient:innen entnommenen Gewebeproben eingemeldet werden. Mit diesen Daten können unsere Mitarbeitenden Studien durchführen. Aber nach außen werden diese Daten nicht weitergegeben – außer bei klinischen Studien, wo es ein eigenes Setting gibt.

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Eine Frage noch zu euren eigenen Prozessen: Es betrifft das Thema Inklusion bzw. Barrierefreiheit. Denn eine der Herausforderungen der digitalen Welt ist natürlich, dass es Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen gibt, und auch diejenigen, die vielleicht kein Smartphone bedienen können oder wollen, aus welchen Gründen auch immer – die sollten natürlich nicht auf der Strecke bleiben. Wie geht ihr denn mit diesen Menschen um? Das ist ein sehr entscheidender Punkt, denn wir haben es natürlich mit vulnerablen Personengruppen zu tun, die manchmal spezielle Bedürfnisse haben. Auf sie müssen wir extrem Rücksicht nehmen. Wir haben unsere Patient:innen vorab dazu befragt, ob sie überhaupt bereit sind, mit digitalen Lösungen zu arbeiten. Diesen Dialog haben wir eröffnet, noch bevor wir mit „Hallo Gesundheit“ begonnen haben. Und es war sehr beeindruckend, was dabei herausgekommen ist und wie aufgeschlossen die Patient:innen sind. Die Menschen haben Interesse an Portallösungen und digitalen Plattformen, über die sie Zugriff auf unterschiedliche Leistungen im Gesundheitswesen haben. Sie sehen die Relevanz von roboterassistierten Systemen, mit Hilfe derer sie operiert werden. Und sie sehen die Bedeutung von Datenbanken, über die sie Qualitätsdaten abrufen können, die darlegen, wer was wie gut macht. Und es war und ist wirklich überraschend, wie aufgeschlossen die Menschen diesen digitalen Lösungen gegenüberstehen. Aber sie wollen immer auch eine persönliche – also eine analoge – Alterna-

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tive haben. Sofern diese vorhanden ist, gibt es die höchste Zustimmung. Also analoge Ambulanzen gänzlich abzuschaffen – das geht nicht. Die Patient:innen wollen immer die analoge Alternative haben. Ich bin mir aber nicht sicher, wie lange sie diese Alternative tatsächlich noch in Anspruch nehmen werden. Trotzdem werden wir es auch so beibehalten müssen, weil es ansonsten zu einer Mehrklassenmedizin kommt: auf der einen Seite diejenigen, die digital affin sind und auf der anderen Seite jene, die es eben nicht sind. So eine Entwicklung müssen wir vermeiden, hier müssen wir sehr sensibel mitdenken. Wir schauen auch darauf, dass wir „Hallo Gesundheit“ barrierefrei entwickeln. Wir werden unsere digitalen Lösungen nach WACA zertifizieren. So wird extern und unabhängig beurteilt, ob die Applikation, die wir anbieten, der Barrierefreiheit entspricht und demnach auch für alle zugänglich ist. Das ist unser Fokus. Und wir arbeiten auch mit Behindertenorganisationen zusammen, die mit uns darauf achten, dass wir niemanden von den Möglichkeiten, die die Technologie bietet, ausschließen. Wir kollaborieren natürlich auch vor allem mit unseren Patient:innen, um herauszufinden, welche Lösungen sie gut bedienen können.

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Kommen wir jetzt zu Lieferanten und Partnern. Ihr habt für euch sehr hohe ethische und wertorientierte Prinzipien und Richtlinien erarbeitet und verankert. Inwieweit überprüft ihr diese auch bei euren Partnern, wenn beispielsweise eine neue Software oder neue medizinisch-technische Geräte geliefert werden, damit diese Vorleistungen in keinem Widerspruch zu euren Grundsätzen stehen? Sagen wir einmal so, wir sind am Weg, aber es gibt noch viel Spielraum. Wir haben selbstverständlich ein Einkaufshandbuch, wo wir auch Prinzipien dokumentiert haben, wie wir Lieferanten auswählen und welchen Standards die Zusammenarbeit entsprechen soll. Aber in diesem Bereich können wir sicherlich noch mehr tun. Insbesondere Nachhaltigkeit ist für uns ein hochrelevantes Thema. Noch ein Satz zur Künstlichen Intelligenz, die im Gesundheitswesen nicht mehr wegzudenken ist. Hier wird es Standards brauchen, um zu beurteilen, wer und wie diese Programme trainiert wurden. Welche Daten wurden verwendet? Ist es auszuschließen, dass es einen Bias in die eine oder andere Richtung gibt? Künstliche Intelligenz wird in Zukunft massive Bedeutung im Prozess der Diagnosestellung haben. Wir müssen allerdings sicherstellen, dass die Technologie nicht die Entscheidungen über Menschen trifft. Zwischen der digitalen Diagnose und dem Patient:innen muss immer ein Mensch bleiben, der letztendlich die Entscheidungen trifft.

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Das ist eines der Prinzipien des Digitalen Humanismus, auch in Bezug auf KI. Es dürfen nie Entscheidungen, die das Menschenleben unmittelbar betreffen, nur durch Technologie getroffen werden. Gleichzeitig ist gerade im medizinischen Bereich das explodierende Wissen die große Herausforderung. Der einzelne Arzt ist gar nicht mehr in der Lage, am Laufenden zu bleiben. Also das heißt, wenn die KI den Ärzt:innen eine Diagnose vorschlägt und diese dann entscheiden müssen, wird es immer schwieriger werden, mit dem KIWissen mitzuhalten. Und der Trend in der Medizin geht komplett in Richtung Personalisierung. Du hast in Zukunft eine statistische Größe von 1. Also nicht mehr ein Medikament für 50.000, weil es in Studien die Zielgruppe war, sondern 1 zu 1.

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Und damit wird es aber für die Ärzt:innen fast unmöglich, diese Komplexität zu beherrschen … … in der Diagnostik.

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Wir werden immer abhängiger von der Maschine. Die Zukunft der Medizin wird ohne Künstliche Intelligenz nicht mehr denkbar sein.

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Da kommen wir noch an sehr spannende Fragestellungen. Bei allen Prinzipien, die wir einhalten wollen, irgendwo bewegen wir uns doch auf Grenzen zu. Ja, aber die kenne ich noch nicht.

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Somit sind wir auch schon beim Thema Zukunft angekommen. Welche Bedeutung wird das Thema Digitaler Humanismus oder eben Patientenzentrierung in eurer Organisation haben bzw. welche wird sie im Gesundheitswesen allgemein haben, vor allem in Österreich aber auch darüber hinaus? Also eine Medizin ohne digitale Unterstützung wird es nicht mehr geben. Es wird auch jeder Arzt und jede Ärztin, auch jede:r Pfleger:in darüber schon während der Ausbildung lernen müssen. Die klassische Frage ist immer, wird die Digitalisierung den Arzt oder die Ärztin ersetzen? Nein, natürlich nicht. Aber, Ärzt:innen, die mit digitalen Lösungen arbeiten, werden den Arzt oder die Ärztin ersetzen,

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die ohne digitalen Lösungen arbeiten. Das ist der Punkt. Wir werden nicht mehr ohne Digitalisierung auskommen. Für die Patient:innen werden sie ganz neue Möglichkeiten eröffnen, weil man einen anderen Zugang bekommt. Du wirst als Patient:in im Rahmen dieser Patientenzentrierung selbst ermächtigt, weil du Herr oder Frau deines Devices bist, und genau jene Fragen stellen kannst, die dich interessieren. Zu jeder Tageszeit. Du kannst den Prozess anstoßen, der für dich wichtig ist. Ob das nun jetzt die Anmeldung im Krankenhaus ist, wo du nicht mehr hingehen und warten musst, oder die Informationen, die du dir zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Form ansehen kannst. Du kannst dir beispielsweise die Aufklärungsinformationen vor einem Eingriff dann ansehen, wann immer du dafür bereit bist. Das ist eine wichtige Phase: Menschen, die bereits im Krankenhaus sind, machen die Aufklärung oftmals unter Stress. Aber in Zukunft sollte es so sein, dass der Mensch sagt, jetzt bin ich bereit, denn jetzt bin ich aufnahmefähig, bin ausgeschlafen und ruhig, jetzt höre ich mir das an und dann versteht man es auch ganz anders. Der Mensch treibt den Prozess selbst voran. Und nicht wir sagen, jetzt ist es so weit. Das wird für den Menschen so wichtig sein und wird ihm eine ganz neue Form der Patientenzentrierung geben. Für die Mitarbeitenden wird es ebenfalls entscheidend sein. Wir haben ein klares Bekenntnis: Was in irgendeiner Form automatisierbar und nicht entscheidend für die Patient:innen-Beziehung ist, das soll auch automatisiert ablaufen. Die Mitarbeitenden sollen sich nicht primär um Bürokratie und administrative Prozesse kümmern, sondern um den Menschen. Alles, was man ihnen durch Technologie abnehmen kann, werden wir machen.

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Aus einer größeren Perspektive betrachtet, welche Verantwortung hat das Gesundheitswesen insgesamt, einen fördernden Beitrag bei diesen Themen zu leisten? Wie aktiv ist es auch in der politischen Diskussion verankert? Wie bringt ihr euch in diese Thematik ein? Wir sind schon in einem engen Austausch auch mit der Politik. Wann immer wir gemeinsam mit der Politik Papers formulieren, betonen wir, dass wir auf die Patientenzentrierung achten müssen, sie ist die künftige Herausforderung. Dafür brauchen wir Rahmenbedingungen. Wir sind natürlich vor allem Umsetzer, aber wir haben auch einen gesellschaftspolitischen Auftrag, uns öffentlich in die Meinungsbildung einzubringen. Das Gesundheitswesen selbst verstehe ich sehr umfassend. Es ist nichts, das sich nur in Krankenhäusern abspielt, sondern entlang des gesamten Lebenszyklus eines Menschen. Und daher ist Gesundheit verwoben mit der Gesellschaft. Du kannst Gesundheit und Gesellschaft, du kannst Gesundheit und Arbeit, du kannst Gesundheit und Wirtschaft nicht getrennt denken. Die Corona-Pandemie war das beste Beispiel dafür, wie Gesundheit und Wirtschaft engstens zusammenhängen.

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Und auch Bildung – sie war unser Ausgangspunkt – gehört dazu: Gesundheitskompetenz ist ein Bildungsauftrag. Wir müssen die Menschen ermächtigen, im Kindergarten, in den Schulen, in den Betrieben, zu verstehen, worauf sie achten müssen oder wo sie sich qualitätsgesicherte Informationen holen können, um zu wissen, wie sie mit einem gesundheitlichen Problem umgehen können – oder wie sie sich präventiv gesund erhalten können. Das ist so wichtig für die Gesundheit einer Gesellschaft. Diesen Bildungsauftrag müssen wir sehr ernst nehmen: erstens in den Schulen, aber auch bei uns. Vielleicht ist die richtige Idee dazu, eine Patientenakademie zu entwickeln, in der wir den Menschen ermächtigen und befähigen, über sich besser entscheiden zu können. Und Gesundheit ist einfach einmal eine der wesentlichen Entscheidungen, die du triffst.

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Das heißt, ihr geht auch aktiv hinaus in die Öffentlichkeit, in die Gesellschaft mit solchen Aufklärungsthemen? Wir reden von der Zukunft, noch haben wir es nicht etabliert. Aber das ist unser erklärtes Ziel – es braucht viele Einrichtungen, die sich um die Ermächtigung der Menschen, also auch um ihre Gesundheitsbildung kümmern. Wir wollen da einen Beitrag leisten.

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Gibt es einen Wunsch an die Politik? Welche Rahmenbedingungen braucht ihr, um erfolgreich auf eurem Weg weiterzugehen zu können? Wir bräuchten eine ganzheitlichere Sicht der Politik auf das Gesundheitswesen. Im Moment ist das Gesundheitswesen sektoral gegliedert. Es gibt den Krankenhausbereich, der steht in der Verantwortung der Länder. Es gibt den niedergelassenen Bereich, der wird von den Sozialversicherungen finanziert. Die Rehabilitation und die Pflege werden wiederum von anderen Institutionen gesteuert. Jeder optimiert sein System. Und es wäre großartig, wenn es in Zukunft einen gemeinsamen Blick auf die Patient:innen gibt, egal wo sie sich gerade befinden, wo immer sie sich in diesem System bewegen. Ich habe zuletzt ein schönes Beispiel für integrierte ganzheitliche Gesundheitsversorgung gehört. Kaiser Permanente ist eine sogenannte HMO (Health Maintainance Organization) in den USA. Kaiser Permanente finanziert übergreifend: sie ist verantwortlich für Krankenhäuser und Ordinationen, alles unter einem Dach. Und es gibt ein integriertes übergreifendes Budget. Wie wird in einem solchen Fall gedacht, wenn beispielsweise eine ältere Frau eine neue Hüfte bekommt. Der Prozess fängt schon einmal mit der Prä-Rehabilitation an, noch vor der Operation. Diese Form der Rehabilitation stärkt die Patientin durch Muskelaufbau. Dann kommt es zur Operation. Die Zeit im Krankenhaus wird minimal gehalten, weil die Patientin gut vorbereitet ist. Das Krankenhaus verwendet

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minimalinvasive Techniken, die sich günstig auf die Rekonvaleszenz auswirken. Und dann wird diese Frau sehr bald nach Hause geschickt. Und was macht Kaiser Permanente dann? Sie organisieren den Flug für die Tochter, die in New York lebt, nach San Francisco, bezahlen ihr Flugticket und den Uber, der sie abholt vom Flughafen und nach Hause bringt. Essen für zwei Personen wird organisiert und zugeliefert von Uber Eats. All diese Prozessschritte gehören zu einem ganzheitlichen und patientenzentrierten Gesundheitswesen. Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Beispiel:

„Hallo Gesundheit“ ist eine App, die Patient:innen dabei unterstützt, sich im Gesundheitssystem besser zu orientieren. Ziel ist es, die Angebote der Krankenhäuser, Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen zum Menschen zu bringen – orts- und zeitunabhängig. Patient:innen können sich digital zu Terminen anmelden. Sie bekommen digitale Erinnerungen. Sie können ihre Befunde online verwalten und jenen Partnern zur Verfügung stellen, welche sie in ihrer Gesundheitsbegleitung brauchen. „Hallo Gesundheit“ stellt digitale Informationen über Krankheiten und Therapien zur Verfügung. Und natürlich gibt es auch die Möglichkeit, sich online in eine digitale Ambulanz einzuwählen, um Befunde und Therapien zu besprechen. Um die Wartezeit zu überbrücken, werden im digitalen Wartezimmer Informationen zur Verfügung gestellt, welche die Gesundheitskompetenz stärken sollen. Schnittstellen gibt es auch, um selbst erhobene Daten zu Lebensstil und Verhalten mit den Informationen aus den Patientenakten ganzheitlich zu bündeln. Laufend wird an der Entwicklung von maßgeschneiderten Patient:innenpfaden gearbeitet. Beispielsweise wird es eine digitale Lösung geben, welche werdenden Mütter vom Beginn ihrer Schwangerschaft bis zur Geburt ihres Kindes begleitet. Diese App ist ein digitaler Begleiter, der Sicherheit und Orientierung geben soll.

Von Technologie und Menschlichkeit: Der bewusste Umgang mit Digitalem Humanismus in der Software-Branche KI-Richtlinien nur gemeinsam mit Raum für Innovationen Christina Wilfinger, Geschäftsführerin SAP Österreich

Kurzfassung

Die Geschäftsführerin von SAP Österreich, Christina Wilfinger, spricht in diesem Interview mit Georg Krause über den bewussten Umgang mit Digitalem Humanismus in der Software-Branche. SAP hat bereits 2018 Leitlinien für Künstliche Intelligenz festgelegt und ein Expertengremium sowie einen externen Beirat für ethische Fragestellungen eingerichtet. Die Grundsätze von SAP betonen den Menschen im Vordergrund, Transparenz, Integrität, Qualitäts- und Sicherheitsstandards sowie den Schutz von Datenschutz und Privatsphäre. Die Entscheidungen werden von einem mehrstufigen Evaluierungsprozess und externer Expertise unterstützt. Christina Wilfinger betont die Bedeutung des Humanismus bei der Entwicklung von KI und den Einsatz von Technologie, um das Leben der Menschen zu erleichtern. Sie unterstreicht auch die Notwendigkeit, Mitarbeitende im Unternehmen auf Veränderungen vorzubereiten und mitzunehmen. Sie zeigt, wie eines der Prinzipien, die 100 %-ige Vertrauensarbeit, gelebt wird. Es wird angestrebt, den Begriff „Humanismus“ stärker ins Licht zu rücken und den Einfluss des Digitalen Humanismus auf messbare Kennzahlen zu erfassen. SAP möchte auch in Zukunft Vorreiter:in diesem Bereich sein und europäische Standards setzen, während gleichzeitig Raum für Innovationen und Experimente gewahrt bleibt. Christina Wilfinger erachtet die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit verschiedenen Disziplinen und die Einbeziehung anderer Expert:innen als wichtig, um den bewussten Umgang mit Technologie und die Einhaltung ethischer Grundsätze zu fördern.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 185 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_13

„Es ist kein einfacher, aber ein notwendiger Weg.“ Christina Wilfinger, Geschäftsführerin SAP Österreich

Fotocredit: msg Plaut

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich … … eine unglaubliche Chance für Europa. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … Ich bin stolz darauf, in einem Unternehmen zu arbeiten, das sich seit vielen Jahren zu diesen ethischen Prinzipien bekennt und Vorreiter in diesem Bereich war. Als erstes europäisches Softwarehaus haben wir diese Leitlinien konsequent in unseren täglichen Abläufen, Evaluierungs- und Produktionsprozessen sowie in unserem Handeln umgesetzt. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird bzw. bleibt, welcher wäre das? Dass wir die Chance nutzen, unseren Alltag  – sei es beruflich oder privat  – mit digitalen Methoden und Tools zu verbessern, ohne den Menschen aus dem Mittelpunkt zu verlieren. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische bzw. europäische Politik in dem Bereich? Ich glaube, den einen gibt es nicht. Das wäre zu einfach zu beantworten, weil dann hätten wir ihn schon. Was ist die eine Sache, die einem Unternehmen am meisten helfen würde, die Ideen des digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Ich würde mir wünschen, dass ein Regulierungsrahmen ein Korsett darstellt, das auch das Atmen erlaubt. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen sich mit dem Thema zu beschäftigen aus eurer Erfahrung heraus? Ausprobieren und Mut haben. Was ist Dein wichtigster Beitrag als Geschäftsführerin der SAP Österreich, um die Umsetzung der ethischen Prinzipien in eurem Unternehmen voranzutreiben? Bewusst darauf hinweisen und Punkte sowie Themen zurückspielen, die nicht mit diesen Prinzipien im Einklang stehen, sowohl innerhalb des Unternehmens als auch nach außen.

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Georg Krause: Ist Digitaler Humanismus als Begriff in der SAP verankert? Christina Wilfinger: Als eigener Begriff nicht, auch weil er noch nicht so weit verbreitet ist. Bei SAP sprechen wir global von AI Ethics. Um ethische Fragestellungen und Konflikte von Anfang an bei der Entwicklung neuer Services und Anwendungsfälle zu thematisieren, hat SAP 2018 Leitlinien für KI festgelegt. Seit Januar 2022 ist nun auch die Global AI Ethics Policy für alle Mitarbeitenden in Kraft. Ein Expertengremium und ein externer Beirat diskutieren zudem fragliche Fälle.

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Und wo sind die Themen verortet? Gibt es da eine spezielle Initiative, also ESG zum Beispiel oder verteilen sie sich auf mehrere? Sie sind verteilt. Natürlich ist es sehr stark in der Produktentwicklung, in jedem einzelnen Produkt end2end-Prozess werden natürlich KI-Mechanismen jetzt schon verwendet. Diese Technologie verwenden wir schon seit einigen Jahren in unseren Lösungen. Es kommt aber darauf an, um welche Art von KI es geht, in diesem Punkt müssen wir unterscheiden: Machine Learning, Deep Learning oder generative KI. Sie ist in der Produktentwicklung verankert. Es handelt sich einerseits um ein internes Gremium, es wird aber auch von externen Berater:innen unterstützt. Wir haben auf unserer Website alle Informationen verfügbar, wer Mitglied in den Gremien ist und auch unser SAP AI Ethics Handbook mit Handlungsanleitungen ist abrufbar. Derzeit umfasst das SAP AI Ethics Steering Committee zwölf Personen aus unterschiedlichen Bereichen innerhalb der SAP. Zum Beispiel ist unser globaler ESG-Verantwortlicher dabei, der auch für das Gesamtthema ESG zuständig ist. Da bei uns KI stark mit der Produktentwicklung verbunden ist und alles, was mit Daten zu tun hat, betrifft es auch unseren globalen Datenschutzverantwortlichen. Es handelt sich also um eine breite Querschnittsorganisation – mit ein Grund, weshalb wir dieses Gremium gegründet haben. Alles, was in unserer Softwareentwicklung passiert und in irgendeiner Form KI beinhaltet, wird von diesem Gremium geprüft. Das tun wir bereits seit 2018. Daher glaube ich, dass wir als SAP sicherlich einer der Vorreiter sind, wenn es darum geht, unsere KIGrundsätze und Ethikstandards festzulegen.

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Was war denn der Auslöser? Warum habt ihr euch damit beschäftigt? Als Technologieunternehmen verfolgen wir seit 50 Jahren das Ziel, das „Intelligent Enterprise“ für unsere Kund:innen zu schaffen. Nun eröffnet der Einsatz von KI neue Möglichkeiten, und dafür haben wir sieben wichtige Grundsätze festgelegt. Diese Leitlinien sind unser Wertekodex. Wir entwickeln für Menschen und wir ermöglichen Unternehmen, vorurteilsfrei zu agieren. Bei allem, was wir tun, streben wir Transparenz und Integrität an, dabei achten wir auf Qualitäts-

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und Sicherheitsstandards. Datenschutz und Privatsphäre stehen immer im Mittelpunkt unseres Handelns. Gleichzeitig stellen wir uns den gesellschaftlichen Herausforderungen im Zusammenhang mit KI. Das sind grob die Leitsätze, die für KI erweitert wurden, in Zusammenarbeit mit den Gremien, die 2018 gegründet wurden. Es gibt ein eigenes Steering-Komitee, das anhand dieser Leitsätze entscheidet, ob etwas umgesetzt wird oder nicht.

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Ich komme noch mal kurz zur Motivation, schließlich ist sie eine ganz zentrale Frage. Als europäisches Unternehmen, wenn ich das richtig verstanden habe, fühlt ihr euch den europäischen Werten verpflichtet. Ja, und daraus leiten wir vor allem unsere Verantwortung ab. Wir sehen dies auch anhand der verschiedenen Aktivitäten unseres mittlerweile ausgeschiedenen Aufsichtsratsmitglieds Hasso Plattner, der als Mastermind im Hintergrund stark daran beteiligt war. Wir sind und bleiben ein europäisches Softwareunternehmen. Dabei legen wir großen Wert auf Kooperation und Partnerschaft. Im Frühjahr 2023 haben wir auf unserer größten Kundenmesse SAPPHIRE eine Kooperationspartnerschaft mit Google, Microsoft und IBM präsentiert. In Bezug auf die Zusammenarbeit der Technologieanbieter hat sich viel verändert, aber wir behalten unseren europäischen Fokus bei. Schließlich ist es für uns sehr wichtig, die Interessen der europäischen Länder zu vertreten. Es ist eine der Hoffnungen des digitalen Humanismus, dass wir unser Weltbild auch in die digitale Welt übertragen können.

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Bringt dieser Zugang für euch Wettbewerbsvorteile oder eher Nachteile mit sich? Ich glaube, im deutschsprachigen Raum ist das ein großer Vorteil, da Deutschland, Österreich und die Schweiz eher als Smart Follower gelten und nicht als First Mover. Einerseits ist es gut, dass wir zuerst die Werte hinterfragen, aber gleichzeitig kann es auch hinderlich sein, da wir dann oft vieles gar nicht ausprobieren. Das finde ich sehr schade, weil ich mir wünschen würde, dass wir unter dem Begriff des Digitalen Humanismus diese Werte in Verbindung mit dem Mut, Neues auszuprobieren, in den Vordergrund stellen könnten. Dabei geht es oftmals um zutiefst menschliche Themen, bei denen man etwas wagen, spüren und ausprobieren muss, um sie greifbar zu machen. Das gehört meiner Meinung nach auch zu diesem Überbegriff dazu, denn im Moment versuchen wir es uns als Europäer, meiner Ansicht nach, zu einfach zu machen, indem wir versuchen, alles zu regulieren. Es fehlt mir, auch die Neugier einzubeziehen und nicht immer nur an Regulierung und Ängste zu denken, sondern vielmehr das Positive und das Aus-

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probieren in den Vordergrund zu stellen, um herauszufinden, was alles dadurch eigentlich möglich ist. Natürlich brauchen wir Regeln und ein Rahmenwerk, aber das Experimentieren fehlt mir ein wenig. Ich glaube, dass wir als Europäer durch unsere Werte in der Wahrnehmung am Markt einen Wettbewerbsvorteil haben. Das zeigt sich auch in verschiedenen Gesprächen, insbesondere wenn es um Datenschutzthemen geht, wo wir andere Antworten liefern können. Im Großen und Ganzen ist es gut, wenn Europa versucht, Standards zu setzen und Maßstäbe vorzugeben, aber wenn wir die Scheuklappen aufsetzen und uns der wirklichen technologischen Innovation verschließen, wird sie an uns vorbeiziehen. Deshalb ist es auch so wichtig, dass wir als europäisches Unternehmen stark auf Partnerschaften setzen und das Beste aus beiden Welten, sowohl aus unserem Haus als auch von anderen Software- und Technologieanbietern, miteinander verbinden. Ich glaube, dass man hier sehr viel ausprobieren muss, und das funktioniert nur durch Kooperationen und Partnerschaften.

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Hasso Plattner hat dieses Thema also vorangetrieben. Gab es andere, für dich erkennbare, Treiber, dass die SAP sich stark diesem Thema widmet? Also sind beispielsweise Kunden auf euch zugekommen? Alle Kunden fragen natürlich: was macht ihr denn mit der künstlichen Intelligenz? Seit November ist das Thema in aller Munde und greifbar. Was oft unklar ist: KI wird bereits seit langem in unseren Branchen- und Standardlösungen eingesetzt, auch in scheinbar banalen Bereichen wie der Rechnungslegungsautomatisierung und ist bereits in unsere S/4-Standards und Prozesse integriert. Auf den ersten Blick ist es vielleicht nicht so offensichtlich, aber ich denke, das ist etwas, was den Menschen vermittelt werden muss: KI per se ist ja nichts Neues! Alle von uns, die irgendeine Form von digitaler Anwendung nutzen, sei es nur auf dem Smartphone im privaten Umfeld, sind bereits täglich KI-Anwender:innen, ohne dass es so deutlich im Vordergrund steht. Und das gilt auch für unsere Softwareprodukte. Beispielsweise im Bereich Group Reporting und Konzernabschlüsse gibt es bereits eine Vielzahl von KI-Algorithmen im Hintergrund, die Automatisierung und Vorschläge ermöglichen. Beim Unternehmens-Forecasting nutzen wir bei SAP selbst bereits eine KI-Basis, um beispielsweise den Geschäftserfolg der nächsten Monate oder Jahre vorherzusagen. Also auch wir nutzen das bereits in unserem täglichen Geschäft, auch in meiner Rolle als Geschäftsführerin. Das ist etwas, was SAP schon seit vielen Jahren automatisch macht. Es geht nicht nur um ein einzelnes Produkt, sondern wir versuchen in wirklich allen unseren Produkten zu überlegen, wo es sinnvoll ist, immer unter Berücksichtigung dieser sieben Grundsätze oder Leitlinien, den Menschen in den Vordergrund zu stellen und den Humanismus zu berücksichtigen.

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Euer Kernprozess ist die Produktentwicklung, wo auch die meiste Wirkung unmittelbar nach außen entsteht, gerade was Digitalisierung angeht. Vielleicht kannst du noch mal einen Überblick geben, was sind eure Maßnahmen in Richtung Digitaler Humanismus? Erwähnt wurde bereits der Ethikrat – wie geht ihr das an, was macht ihr alles in dem Bereich? Seit 2018 haben wir auch Richtlinien speziell für künstliche Intelligenz. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass unsere Kunden der Fähigkeit der SAP vertrauen, KI auf verantwortungsvolle und ethische Weise zu entwickeln und anzuwenden. Die SAP hat ihre KI-Ethikrichtlinien kürzlich formalisiert, als der Vorstand und die Betriebsräte die globale KI-Ethikrichtlinie der SAP unterzeichneten, die eine Governance-Struktur mit Richtlinien, einem Ethik-Office für KI und einem Lenkungsausschuss zur Überprüfung von KI-Anwendungsfällen einführt. Dies ist die Grundlage für unsere Portfolio-Entscheidungen und die Bewertung von vorgeschlagenen Anwendungsfällen zu verschiedenen Themen. Diese können von der Herangehensweise bei der Gesichtserkennung bis hin zu Produkt-UXStandards für erklärbare KI reichen.

SAP hat 2018 als erstes europäisches Technologieunternehmen eigene Leitlinien für künstliche Intelligenz (KI) entwickelt und einen externen Beirat für den ethischen Umgang mit KI geschaffen. Die Grundsätze der SAP für den Umgang mit KI: 1. Unser Handeln orientiert sich an unseren Werten. 2. Wir entwickeln für Menschen. 3. Wir ermöglichen Unternehmen ein vorurteilsfreies Handeln. 4. Bei allem was wir tun, streben wir Transparenz und Integrität an. 5. Wir wahren Qualitäts- und Sicherheitsstandards. 6. Der Datenschutz und die Privatsphäre stehen immer im Mittelpunkt unseres Handelns. 7. Wir gehen die gesellschaftlichen Herausforderungen an, die mit KI verbunden sind.

Natürlich gibt es Einsatzgebiete, in denen zum Beispiel Gesichtserkennung zum Einsatz kommen könnte, aber unsere Richtlinien sprechen in diesem Fall dagegen. Denn manche Lösungen können in einem unterschiedlichen Kontext missbräuchlich eingesetzt werden. Wir betonen, dass der Mensch im Vordergrund stehen muss und niemand ausgeschlossen werden darf. Es ist ein komplexes Thema, weshalb wir bei SAP einen KI-Ethikrat und ein entsprechendes Gremium haben. Es ist wichtig, eine breite externe Expertise hinzuzuziehen, wie beispielsweise aus Harvard oder von der Stanford University, um verschiedene Perspektiven auch einbeziehen zu können.

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Wir als SAP erkennen, dass es für diese hochkomplexen Themen eine breite Basis an Experten benötigt, die eben unterschiedliche Bereiche – Geisteswissenschaften wie Naturwissenschaften oder eben auch Philosophie – abdecken können.

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Ich meine, das klingt schon so, als wären die ethischen Prinzipien sehr eng verzahnt mit dem Entwicklungsprozess, sodass Dinge schon beim Design auf die Grundlagen des Digitalen Humanismus hin überprüft und mitbedacht werden… …vor allem nicht nur mitbedacht. Wir sollten nicht nur in diesem spezifischen Einsatzgebiet denken, sondern auch über den Tellerrand hinausblicken. Was könnte sich dadurch in anderen Bereichen ergeben? Ich glaube, das ist der entscheidende Punkt, denn uns fallen sofort zahlreiche Beispiele ein, in denen es einen enormen Mehrwert und eine unglaubliche Arbeitserleichterung bieten würde. Doch wir müssen stets den Weitblick behalten und in verschiedene andere Bereiche schauen. Das ist von großer Bedeutung. Genau deshalb ist es für uns so wichtig, dass unser KI-Gremium und unsere ethischen Grundsätze nicht nur interne Mitarbeitende umfassen, sondern auch externes Wissen einbeziehen.

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Das bedeutet also, dass Ihr großen Wert darauflegt, die Auswirkungen Eures Handelns für die Gesellschaft zu erkennen und zu berücksichtigen und es fest in den Entwicklungsprozess integriert habt? Dieser Bereich ist bei SAP hochrangig angesiedelt und natürlich wird dabei direkt an den CEO berichtet. In Fällen, in denen unterschiedliche Meinungen bestehen, die eine Balance zwischen wirtschaftlichen Interessen und ethischen Rahmenbedingungen erfordern, muss eine Entscheidung getroffen werden. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum wir diese Leitgrundsätze haben. Es ist schwierig, eine solche Entscheidung zu treffen, da es oft Grauzonen gibt und nicht nur eine klare Schwarz-Weiß-Entscheidung. Daher ist es gut, dass wir diese Grundsätze vorweg festgelegt haben. Es gibt einen mehrstufigen Freigabe- oder Evaluierungsprozess, da es oft Entscheidungen gibt, bei denen eine Lösung wirtschaftlich sinnvoll wäre, aber bewusst Nein gesagt wird. Es ist immer eine schwierige Entscheidung, ein Dilemma, bei dem zwischen wirtschaftlichen Interessen und ethischen Richtlinien und Werten zu entscheiden ist. Daher benötigen wir einen mehrstufigen Prozess und auch externe Expertise. Es ist sicherlich kein einfacher Weg, aber er ist notwendig für ein Softwareunternehmen wie uns.

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Vielleicht sollten wir auch einen Blick auf die internen Mitarbeitenden werfen, nicht nur aus der Perspektive der Softwareentwicklung. Es gibt Unternehmen, die moderne Technologien einsetzen, um ihre eigenen Mitarbeitenden zu überwachen und ähnliches. Wie sieht es bei euch aus? Gelten diese ethischen Grundsätze sinngemäß auch für die eigenen Mitarbeitenden? Natürlich, diese Grundsätze gelten sowohl für interne als auch externe Anwendungen. Wir nutzen eine Vielzahl von Kollaborationstools, und in Zusammenarbeit mit Partnern wie Microsoft, Co-Pilot und M365 entwickeln wir diese weiter. Dabei stellen wir sicher, dass wir die Transparenz im Arbeitsalltag sorgfältig prüfen. Zum Beispiel haben wir Funktionen wie das Nachverfolgen von Aktivitäten in herkömmlichen Kollaborationslösungen nicht aktiviert. Zum Beispiel nutzen wir KI auch für interne Zwecke wie die Suche nach MeetingSlots oder das klassische Reisekostenmanagement. Dadurch können wir gewisse Prozesse beschleunigen und ermöglichen, dass Back-Office-Mitarbeitende höherwertige Aufgaben erledigen können, anstatt sich beispielsweise mit dem Durchsuchen von sechs Kalendern und dem Versuch, Termine abzustimmen, zu beschäftigen. Diese Art von Aufgaben überlassen wir gerne KI, die dann Vorschläge machen kann, basierend auf vergangenen Aktivitäten oder sogar automatische Vorschläge für Projektteams generiert.

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Das heißt diese Ethik-Richtlinien sind jetzt nicht nur produktentwicklungsspezifisch, sondern decken auch das Selbstverständnis im internen Management mit ab? Durch unser Engagement als Vorreiter mit dem „Pledge to Flex“ im Jahr 2021 haben wir eine klare Vorstellung davon, wie New Work aussehen soll. Bei uns basiert die Arbeitsweise zu 100 Prozent auf Vertrauen. Das Thema wird kontinuierlich diskutiert, um den Umgang damit zu definieren. Es ist kein rein pandemiebedingtes Thema, sondern vielmehr in unsere Arbeitsrichtlinien und Arbeitsverträge eingebettet. Vertrauensarbeit ist für jeden Mitarbeitenden in jeder Abteilung verankert. Natürlich gibt es bestimmte Grundsätze für die Zusammenarbeit, aber das grundlegende Prinzip ist das Vertrauen in die Mitarbeitenden und ihre Zusammenarbeit. Dies spiegelt sich auch in unseren Prinzipien wider und betrifft somit auch den Einsatz von KI-Szenarien.

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Gibt es Kennzahlen, wo ihr sagt, ihr seid jetzt auf einem guten Weg, diese ethischen Richtlinien umzusetzen? Ich glaube jetzt nicht aus den KI-Richtlinien heraus. Im ESG-Reporting lassen sich die Ergebnisse darstellen.

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Ich glaube, das ist sicher ein spannender Aspekt, dem man sich widmen muss… ESG-Reporting ist ein wesentliches Instrument, denn es bildet den Rahmen für Unternehmen und Investoren, ihren ökologischen und sozialen Impact zu analysieren und zu messen.

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Das sieht man auch bei ESG, wie durch die europäische CSRD eine standardisierte Berichterstattung eingeführt wurde und damit das ESG-Thema einen wesentlichen Umsetzungsimpuls erfahren hat… … ja, wir geben natürlich starke Impulse mit unseren Vorschlägen, insbesondere im Hinblick auf die Regulierungsvorhaben von KI durch die Gesetzgebenden in der EU. Wir versuchen, das, was wir bereits erarbeitet haben, einzubringen. Ich könnte mir vorstellen, dass ein ähnlicher Prozess durchlaufen werden muss wie bei ESG.

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Eines der großen Themen des Digitalen Humanismus ist der Erhalt der Jobfähigkeit. Wie können wir es schaffen, unsere Mitarbeitenden im Unternehmen immer wieder an die sich rasch ändernden Anforderungen heranzuführen oder sie so auszubilden und zu begleiten, dass sie im Arbeitsprozess nicht verloren gehen? Unternehmt ihr gezielt Maßnahmen, um dies zu unterstützen? Das ist wahrscheinlich der Vorteil eines Softwarehauses: Wir sind immer sehr nahe am Puls der Zeit mit neuen Themen und haben eine Unternehmenskultur, die dies ermöglicht. Ich denke, in anderen Unternehmen oder Organisationen kann es schwieriger sein, mit diesem Veränderungsprozess umzugehen. Das ist definitiv eine Herausforderung. Und es wäre falsch zu behaupten, dass wir immun gegen diese Herausforderungen sind, einfach weil wir aus einer anderen Branche kommen. Denn was oft passiert ist, dass Unternehmen im Tech-Bereich in einer Blase leben, in der es normal ist, dass jeden Tag etwas Neues passiert. Traditionelle Industrien sind diesen schnellen Veränderungen oft nicht so gewohnt, und daher gibt es oft diese Drittelparität: Ein Drittel der Menschen ist sofort begeistert und dabei, ein Drittel hat eine „Schauen-wir-mal‘‘-Haltung und ein Drittel sind Skeptiker:innen oder Gegner:innen.

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Ein Dilemma. Das ist genau das Thema, bei dem viel Wissensaufbau und Schulung auf Führungsebene erforderlich ist, um die Mitarbeitenden anhand von Beispielen mitzunehmen. Es ist wichtig, in jedem Bereich konkrete Beispiele zu zeigen, und

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das Marketing-Grundprinzip anzuwenden: Gutes tun und darüber sprechen. Denn ich glaube, dass dieser Mitnahmeeffekt entscheidend ist, und das führt uns wieder zur Fan-Kultur, in der wir uns befinden. Menschen sind grundsätzlich Gewohnheitstiere. Wenn ein Prozess oder eine Arbeitsweise funktioniert und es keine Probleme gibt, warum sollte man es dann ändern? Aber es ist wichtig, Beispiele aus anderen Bereichen zu zeigen, um diesen positiven Mitnahmeeffekt zu erzeugen. Ich glaube, dass dies eine äußerst wichtige Aufgabe des Change Managements ist, die Mitarbeitenden mitzunehmen. Dabei kommen wir zu dem Thema Arbeitsplätze und Arbeitskräfte, bei dem der Aspekt des Humanismus eine große Rolle spielt. Ich möchte sogar behaupten, dass selbst im künstlerischen Bereich, das ist jetzt etwas Persönliches, Impulse gesetzt werden können. Gestern habe ich zum Beispiel meinem 76-jährigen Vater einen ChatGPT-Account eingerichtet, da er von der KI-Technologie begeistert ist. Wir haben über KI-unterstützte Musik diskutiert, wie zum Beispiel über die Fortführung von Schuberts unvollendeten Werken. Es gibt auch KI-generierte Kunstwerke oder neue Möglichkeiten in der Musikpädagogik. Das sind Bereiche, in denen der Humanismus eine große Rolle spielen wird. Im Change Management innerhalb eines Unternehmens ist es entscheidend, ein Gespür und eine Sensibilität dafür zu haben, wie man die Menschen mitnimmt. Die Technologie ist dazu da, uns zu helfen und uns das Leben leichter zu machen. Und wir müssen das richtig nutzen und die Personen auf diese Reise mitnehmen. Und ich glaube, da kann man sehr viel auch aus dem künstlerischen Bereich lernen. Das ist es, was den humanistischen Schwerpunkt ausmacht.

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Was können wir aus dem Künstlerischen lernen? Es ist vielleicht auch interessant, die Dinge mal von dieser Seite zu beleuchten? Das Ausprobieren. Ich glaube, es ist genau das. Jetzt kann man, wie gesagt, anhand einer Vielzahl von Datenpunkten, beispielsweise Gemälde in gewissen Stilen generieren, das ist kein Problem. Auch bestimmte Kompositionen in der Musik, das ist mein persönliches Interessengebiet, basieren auf Musiktheorie, Notentheorie, Mathematik und der Struktur von Tönen. Das bedeutet, dass man in diesem Stil weiterarbeiten kann, um etwas zu vervollständigen. Es ist wahrscheinlich der logische Ansatz, Dinge auszuprobieren, zu verwerfen und neue Impulse zu setzen. Ich denke, hier kann man viel von der Kunst lernen. Das würde ich mir wünschen, dass wir davon auch ein bisschen auf die Wirtschaftswelt übersetzen. Ein wenig improvisieren und aus der Improvisation dann vielleicht etwas mitnehmen.

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Ein interessanter Aspekt. Wie wird sich das Thema Digitaler Humanismus voraussichtlich bei SAP weiterentwickeln? Wird es ein wichtiges Thema bleiben? Wie wird es sich in Zukunft entwickeln? Wird es ein eigenes Thema werden? Wird das an Bedeutung gewinnen, verlieren? Ich glaube, dadurch dass wir bei SAP sehr frühzeitig die Grundlagen des Digitalen Humanismus erkannt und umgesetzt haben, wird dieses Thema sicherlich an Bedeutung gewinnen. Die Frage ist jedoch, wie wir den Begriff „Humanismus“ stärker in den Vordergrund rücken können. Es wird zwar mitgedacht, aber noch nicht ausdrücklich betont. Hier sehe ich einen Punkt, den wir zuvor diskutiert haben: Als Unternehmen sind wir auch darauf bedacht, messbare Ergebnisse zu erzielen. So muss der nächste Schritt sein, die Dinge auch tatsächlich messbar zu machen. Es geht darum, zu erfassen, was der digitale Humanismus tatsächlich bedeutet und wie er sich in einen wirtschaftlichen Kontext einfügt. Das von mir zuvor genannte Beispiel verdeutlicht, dass bewusste Entscheidungen im Hinblick auf Produkte aus den genannten Gründen wirtschaftlich hinterlegt werden sollten. Es ist wichtig, die Auswirkungen zu bewerten und zu analysieren, welche Einsparungen oder Effekte wir dadurch erzielen. Das sind dann nicht nur finanzielle, sondern auch gesellschaftliche Kennzahlen. Dies wird besonders deutlich bei der Definition des ESG-Reportings (Environment, Social, Governance). Hier stellt sich die spannende Frage, wie man den Aspekt des Humanismus in messbare Kennzahlen integrieren kann. Welche Parameter sollten berücksichtigt werden? Das ist eine äußerst faszinierende Fragestellung.

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Wie relevant ist das Thema für deine Branche? Überlebensnotwendig.

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Das habe ich so erwartet. Aus der Wirtschaftsperspektive: wie relevant ist das Thema für Österreich und Europa? Wir haben bereits gezeigt, dass wir mit Grundsätzen und Standards auch wirklich Standards über unsere Grenzen hinaussetzen können. Ein Beispiel dafür ist die Datenschutzgrundverordnung, mit der wir internationale Standards gesetzt haben. Mein Ziel wäre es auch, dies mit einer KI-Gesetzgebung zu erreichen. Allerdings gibt es hier einen wichtigen Aspekt zu beachten. Es ist wichtig, Raum für Experimente und Innovationen zu lassen. Im Moment spüren wir, dass das Korsett der Regulierung enger geschnürt wird. Meine Sorge dabei ist, dass es zu eng wird und wir dadurch nicht mehr atmen können. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen wir uns Luft zum Atmen, sprich zum Ausprobieren, erhalten. Gerade in Europa haben wir eine starke Industrie und viele Unternehmen in

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Österreich sind Weltmarktführer auf ihrem Gebiet. Das ist etwas, worauf wir stolz sein können. Wir müssen den Freiraum haben, unseren Unternehmergeist und unsere Ideenvielfalt mit KI-Technologie zu erweitern und zu fördern, ohne automatisch in einem zu engen Regulierungskorsett gefangen zu sein. Und das ist ein unglaublicher Spagat. Daher dauert es wahrscheinlich auch auf europäischer Ebene so lange, diesen Spagat zu bewältigen und Kennzahlen in ein gesellschaftliches Rahmenwerk zu integrieren. Aber ohne diese Freiheit, ohne dieses Atmen können, denke ich, dass wir europäischen Standards keinen Gefallen tun. Es ist wichtig, den Raum zu haben, Dinge auszuprobieren. Vielleicht kann dies durch einen europäischen Ansatz erreicht werden, der bestimmte Entwicklungen abwägt, ohne sich zu sehr in den Bürokratie-Dschungel zu verwickeln. Dabei sollten wir berücksichtigen, dass verschiedene Wirtschaftsbereiche und Volkswirtschaften unterschiedliche Zugänge haben. Dennoch glaube ich, dass es Schnittmengen gibt und dass es Bereiche gibt, in denen wir uns nicht verlieren, sondern gemeinsame Lösungen finden können. Es geht nicht nur um Schwarz oder Weiß, sondern auch um Grauzonen, in denen wir uns bewegen können. Ich meine, dort liegt auch die große Herausforderung, insbesondere für die Digitalbranche. Wir bewegen uns in derselben Branche, möglicherweise mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Aber wir stellen Lösungen zur Verfügung, insbesondere aus der Produktperspektive, bei denen wir bereits entschieden haben, ob der Digitale Humanismus darin enthalten ist oder nicht. Auf diese Weise können wir unseren Kunden, typischerweise Geschäftskunden, bereits bestimmte Aspekte des Digitalen Humanismus anbieten und mitgeben. Unsere Kunden vertrauen uns ihren größten Schatz, ihre Daten, seit mehr als 50 Jahren an. Gemeinsam entwickeln wir uns weiter und so kommt es auch, dass wir den vertrauensvollen Umgang mit KI für unsere Kunden sichtbar machen. Damit glaube ich, dass in unserer Branche die Bedeutung und der achtsame Umgang mit dem Thema besonders wichtig sind. Daher halte ich es für wichtig, dass große Konzerne wie SAP und andere Technologieanbieter bewusst auch andere Disziplinen einbeziehen. Dabei geht es nicht nur um die Technologiebranche. Das ist das Spannende daran. In den letzten fünf Jahren ging es eher um den Mangel an Arbeitskräften, insbesondere an IT-Fachkräften. Ja, wir brauchen Data Scientists, aber noch wichtiger ist eine Bewusstseinsbildung in der breiten Bevölkerung. Das kann nur erreicht werden, wenn auch andere Disziplinen einbezogen werden. Es geht nicht nur um Technologie oder darum, Expert:innen für Daten oder KI-Entwickler:innen zu haben, sondern um viel mehr: Große Softwarehersteller oder Technologieanbieter haben die Aufgabe, nicht nur die Technologie zu betrachten, sondern auch andere Disziplinen zu berücksichtigen. Das ist eine unglaublich spannende Aufgabe, insbesondere auf europäischer Ebene, und es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe. Vielen Dank für das interessante Gespräch.

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Beispiel

Ein blinder mexikanischer Coldplay-Fan half SAP dabei, die #MusicOfTheSpheresWorldTour-App barrierefrei für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen zu gestalten. Gemeinsam mit blinden SAP-Mitarbeiter:innen wurde die App optimiert, indem beispielsweise Beschreibungen für Screenreader hinzugefügt und die Navigation durch Gesten verbessert wurde. Der Fan war eng in den Entwicklungsprozess eingebunden und lobte die Zusammenarbeit mit SAP. Für SAP ist Diversität ein Treiber für Innovation, und das Feedback der Nutzenden ist entscheidend, um barrierefreie Produkte zu schaffen. Die nachhaltige #MusicOfTheSpheresWorldTour-App bietet den Fans exklusive Einblicke in die aktuelle Welttournee von Coldplay und ermöglicht es ihnen gleichzeitig, ihren CO2-Fußabdruck im Zusammenhang mit ihrer An- und Abreise zum Konzert anzuzeigen. Mithilfe dieser Informationen können die Fans ihre Anreise auf nachhaltigere Weise planen. Darüber hinaus werden diejenigen, die sich für umweltfreundlichere Alternativen entscheiden, belohnt. Die App ermöglicht der Band außerdem, den CO2-Fußabdruck ihrer Fans zu erfassen und die entstandenen Emissionen auszugleichen.

Hinter jedem unserer Services für die Versicherten steht der Menschennutzen Auf den Menschen maßgeschneiderte Dienstleistungsqualität bringt den größten Kund:innennutzen Hubert Wackerle, CEO der IT-Services der Sozialversicherung

Kurzfassung

Im Interview mit Georg Krause erklärt Hubert Wackerle, dass die ITSV seit ihrer Gründung den Humanismus in ihrer Unternehmensphilosophie verankert hat. Daher werden diese Ideen, die auch vollumfängliche Gültigkeit für die Fragestellungen im Zusammenhang mit der fortschreitenden Digitalisierung haben, bereits gelebt. Er stellt dar, wie der Markenkern der ITSV der Leuchtturm für Humanismus ist, wie er weiterentwickelt wird und wie ausgehend von den darin definierten Prinzipien die Umsetzung über alle Ebenen in der Organisation erfolgt. Die Einhaltung wird laufend überprüft und ist Teil der Mitarbeitergespräche und Zielvereinbarungen. Besonderes Augenmerk legt die ITSV darauf, wie es gelingen kann, Bots ohne Bias zu entwickeln, die die Philosophie, Kultur und DNA der Organisation wiedergeben. Anhand eines Beispiels zeigt er einen entsprechenden, erfolgreich selbst entwickelten, partizipativen Ansatz auf. Dabei wird die Frage diskutiert, ob gut trainierte Bots nicht sogar objektiver als Menschen handeln. Zuletzt wird noch auf die Bedeutung der Aufrechterhaltung analoger Zugangswege als Alternative hingewiesen, um diskriminierungsfreien Zugang zu allen Leistungen zu ermöglichen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 201 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_14

Fotocredit: msg Plaut

„Digitale Lösungen müssen immer den Nutzen für die einzelne Person in den Vordergrund stellen.“ Hubert Wackerle, CEO der IT-Services der Sozialversicherung

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H. Wackerle

Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich … … den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … … die Bereitstellung von „Unbiased Lösungen“ für unsere Kunden, wie beispielsweise die Kostenerstattung. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird bzw. bleibt, welcher wäre das? Ein europäisches Framework, das sich von den amerikanischen und chinesischen Modellen abhebt. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische bzw. europäische Politik in dem Bereich? Den einen wird es nicht geben. Ein wichtiger Aspekt ist jedoch, den Humanismus in den Mittelpunkt zu stellen. Was ist die eine Sache, die einem Unternehmen am meisten helfen würde, die Ideen des digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Ein verbrieftes Commitment der gesamten Sozialversicherung, sich den Prinzipien des Digitalen Humanismus zu unterwerfen. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen sich mit dem Thema zu beschäftigen aus eurer Erfahrung heraus? Im Gehen lernen. Was ist dein wichtigster Beitrag als Geschäftsführer der ITSV, um die Umsetzung der ethischen Prinzipien in eurem Unternehmen voranzutreiben? Die Vorbildwirkung und diese auch zu leben.

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Georg Krause: Was verstehst du unter Digitalem Humanismus? Hubert Wackerle: Ich verstehe darunter, dass man technische Möglichkeiten in einem ethischen Rahmen so einsetzt, dass es eben den Menschen in den Fokus stellt und den Menschen dienlich sein muss. Für uns geht der Begriff viel weiter und fängt nicht erst beim Digitalen Humanismus an, sondern beim Humanismus als solchem, dem wir uns als Dienstleistende für die Gesellschaft in der Sozialversicherung und in der ITSV im Speziellen, schon seit der Gründung, verschrieben haben. Das ist ein bisschen ein anderer Zugang. Wir müssen den Begriff des Digitalen Humanismus weder für uns prägen noch müssen wir ihn verwenden, weil wir das Thema in unseren Lösungsansätzen grundsätzlich schon drinnen haben.

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Das heißt, ihr macht bereits viel in dem Bereich, das in diese Richtung geht und dem Prinzip entspricht, nennt es aber nicht so? Ohne den Digitalen Humanismus so zu benennen, ja – mittlerweile nutzen wir den Begriff natürlich auch, damit das Kind einen Namen hat. Aber es ist tatsächlich so, dass es ein Grundelement unseres markengeführten Unternehmens ist. Wir haben einen Markenkern mit einer Zielsetzung und das ist die Kund:innenzufriedenheit. Und wenn man schaut, dass alle Versicherten in Österreich unsere Kund:innen sind, dann geht es uns darum, dass wir den Versicherten in Österreich mit unseren Services, entweder direkt oder indirekt über die Sozialversicherungsträger, deren Gesundheitsleben erleichtern. Wir brauchen also keine einzige Applikation als Selbstzweck, um die vermarkten zu können, sondern es hat immer Sinn für die Kund:innen – es steckt also ein Menschennutzen dahinter.

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Der Digitale Humanismus ist also in euren Genen – ist das auch irgendwo verankert? Gibt es irgendetwas Schriftliches dazu? Wir haben einen definierten Markenkern. Das sind fünf Säulen, auf denen dieser Markenkern aufbaut (vgl. Abb. 1). Und jede Säule muss den Menschen im Mittelpunkt sehen. Da geht es beispielsweise darum, dass Daten von Versicherten, von Kund:innen entsprechend geschützt werden und nur für den bestimmten Nutzen zur Verfügung stehen. Das ist tatsächlich verschriftlicht und diesen Markenkern wissen auch alle Mitarbeitenden auswendig, selbst wenn man sie um zwei Uhr in der Früh anruft und fragt.

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H. Wackerle Aktiver Gestalter der digitalen Zukunft Maßgeschneiderte Leistungspakete

Innovative Digitalisierungslösungen für die SV und das Gesundheitswesen

Gelebte Nähe zum Kunden

Gelebte Nähe zum Kunden

Begeisternde Dienstleistungsqualität Vertrauensvoller Hüter des Datenschatzes

Abbildung 1  Der Markenkern der ITSV.

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Der Markenkern enthält einige wesentliche Prinzipien, die für euch ein Motivierungspunkt sind. Ja, sie sind zwar jetzt nicht als Digitaler Humanismus gekennzeichnet, aber vom Inhalt her gehen sie in genau diese Richtung. Das ist auch das, was ich meine – für uns ist es ein Selbstverständnis, das zu leben. Natürlich gibt es rundherum ganz viele Aktivitäten, die wir setzen, damit wir den Prinzipien auch gerecht werden. Das gesamte Unternehmensziel setzt sich daraus zusammen und geht über jede Ebene – bis hin zu jedem einzelnen Mitarbeiter:innenziel im Mitarbeiter:innengespräch. Jedes Ziel, das Mitarbeitende haben, muss auf einen – mindestens einen – dieser Bausteine einzahlen. Was nicht auf die Prinzipien einzahlt, lehnen wir ab und machen wir nicht. Wichtig ist, dass das nicht nur für den Bereich der KI, die gerade so präsent ist, gilt, sondern generell für sämtliche technische Unterstützungen. Wir haben zum Beispiel mit allen Führungskräften Antidiskriminierungsworkshops gemacht oder haben ein Werkzeug im Einsatz, wo wir die Stimmung in der Organisation fast live monitoren können. Da ist ein methodischer Fragebogen dahinter und den haben wir adaptieren lassen, dass wir implizit abfragen und ein Gefühl bekommen können, ob die ganze Organisation diskriminierungsgefährdet ist oder nicht. Wir möchten wissen, wie wir ticken und wie unsere Kultur ist. Bei allen Ausschreibungen werden dann Dienstleistende von uns geprüft, ob sie auch die Kriterien erfüllen und zu uns passen.

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Wie lange macht ihr das schon? Wann habt ihr die Prinzipien festgelegt? Vor etwa 13 Jahren, im Jahr 2010, haben wir begonnen, gewisse Kriterien festzulegen, die den Menschen in den Mittelpunkt stellen und unserem Handeln einen Sinn geben. Also das Thema ist schon seit einigen Jahren bei uns deutlich präsent.

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Das heißt, diese Bausteine sind euer Leitstern auf Unternehmensebene. Gibt es darunterliegende Ebenen? Bleiben wir beim Beispiel Künstliche Intelligenz, weil das aktuell so prominent ist. Gibt es auch eine eigene KI-Ethik-Guideline oder ähnliche Dinge? Ja, die gibt es. Sie ist aus dem Learning heraus entstanden – das war sehr interessant. Wie die meisten, würde ich behaupten, haben wir vor etwa sechs oder sieben Jahren mit den Werkzeugen tatsächlich einfach zu arbeiten und auszuprobieren begonnen, und haben mit KI unseren ersten Bot gebaut. Man muss dazu ganz offen sagen, dass eine Handvoll Entwickler den Bot gebaut und mit ihrer eigenen Umgangssprache trainiert haben, um eben zu schauen, wie das funktioniert. Das hatte dann zur Folge, dass der Bot natürlich stark gebiased war. Daraus haben wir dann sehr intensiv und sehr schnell gelernt, wie feinfühlig wir mit diesen Tools eigentlich umgehen müssen, um tatsächlich dem gerecht zu werden, was wir uns selbst auf die Fahnen schreiben. Im Team ist der Bot natürlich umtrainiert und mit anderen Datasets befüllt worden, weil ein Bot ja meist den ersten Kontaktpunkt einer Organisation, dem man online begegnet, darstellt. Jedenfalls ist der Bot Mitarbeiter der Organisation und muss auch so wirken. Dazu muss das System korrekt und genau trainiert werden, um die Philosophie, die Kultur, die DNA der Organisation widerspiegeln zu können.

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Die DNA einer Organisation widerspiegeln – das ist ein sehr hehrer Ansatz. Wie schafft man das? Indem man wirklich breite Querschnittsabfragen macht. Wir haben den ersten Bot damals für die Wiener Gebietskrankenkasse gemacht, also schon zwei Jahre vor der Fusion. Der Bot hieß Caro und wurde mit tausenden Inputdaten aus dem ganzen Querschnitt, von der Selbstverwaltung angefangen bis zu Mitarbeiter:innen trainiert. Es wurden Daten gesammelt, um Fragen zu beantworten wie: Wie wird denn eine Anfrage zu eCard von einem Sachbearbeiter beantwortet? Wie wird eine Anfrage bei einer Obfrau, einem Obmann von dieser Person beantwortet? Um daraus sozusagen wirklich ein Gefühl zu entwickeln, wie diese Organisation tickt und das wurde in den Bot eingebaut. Und der Bot lernt auch ständig weiter. Es gibt laufende Re-Trainings, außerdem haben wir genau gecheckt, welche Fragen kommen, und daraus wurde gelernt.

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Innerhalb von neun Monaten waren 43 statt wie anfangs drei Fachgebiete involviert, weil wir gesehen haben, was Kund:innen eben wirklich fragen. Mit dieser Expertise wurde der Bot stetig verbessert. Und dann sind wir wieder ins Haus gegangen, haben dort wieder diesen Querschnitt gemacht, wie würden die Leute aus dem Träger solche Fragen beantworten und haben das dann ins Trainingsmodell eingebaut.

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Also ihr habt Erfahrungen gesammelt, dann festgestellt, dass das noch nicht den Zielen entsprochen hat und habt dann gewisse Richtlinien für die Entwicklung von KI, der Anwendung von Bots etc. erstellt? Also es gibt kein Nachschlagwerk, wo drinnen steht, eine KI ist so und so zu entwickeln. Ein paar Grundregeln gibt es natürlich schon, – das Thema der Transparenz, die Offenlegung, welches Modell verwendet wird und so weiter. Diese sind auch festgeschrieben als Entwicklungsrichtlinien, die für alle Entwicklungen gelten. Da gibt es Qualitätskriterien und die gehen auch in die Tiefe: unter welchen Bedingungen kann ein Service in eine Cloud gebracht werden? Da haben wir ein Prüfverfahren mit 135 Fragen. Und selbst wenn es ein Whiteboard ist, das man in der Cloud einfach bedienen will, dann hat es diesen Prüfprozess zu durchlaufen. Jährlich gibt es eine Stichprobe und alle drei Jahre wird dieses Verfahren für dieses Werkzeug komplett wiederholt.

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Das heißt ihr habt in diese Entwicklungsrichtlinien auch ethische Ansätze integriert? Ja, in dem Sinne, dass wir zum Beispiel sagen, dass ein Algorithmus nachvollziehbar und transparent sein muss – es darf also keine Blackboxes geben. Das gilt allgemein als ethische Richtung. Außerdem gelten bei uns die Asimov-Gesetze aus dem Jahr 1942. (Anm.: siehe dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Robotergesetze)

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Gibt es bei euch eine organisatorische Verankerung des Themas? Ihr habt ja offenbar einen sehr klaren Leuchtturm im Sinne der oben genannten fünf Prinzipien. Wer ist dafür verantwortlich, dass das auch eingehalten wird? Wer hebt die Hand, wenn es ein Problem gibt? Hoffentlich jeder. Also wir haben bewusst nicht externalisiert und gesagt, dass sich eine Stelle darum kümmern soll. Das ist ja kein Projekt, sondern ein Prozess, der seit mittlerweile 13 Jahren läuft. Dieser Markenkern wird immer wieder

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auch leicht novelliert. Zu Beginn, vor 13 Jahren, haben wir sieben Bausteine gehabt, die wurden dann auf fünf reduziert und wir haben ein bisschen die Begrifflichkeit geschärft, aber im Grunde ist es gleichgeblieben. Das wird dann in Großgruppenprojekten neu gedacht und das ist dann ein Querschnitt aus der ganzen Organisation. Das fängt beim Call-Agent an und geht bis in die Geschäftsführung. In gemeinsamen Workshops wird dieses Framing noch einmal gemacht. Und das wird mit verschiedensten Methoden gemacht. Wir haben einmal übers Wochenende die gesamte Bürofläche mit riesigen Bannern sozusagen zugekleistert, wo diese Bausteine drinnen stehen, damit die Leute, wenn sie in der Früh kommen, aufmerksam werden und dann gleich nachlesen können. Also wir versuchen auf verschiedenen Wegen die Werte breit in die ganze Organisation zu bringen. Und es ist beim Mitarbeiter:innengespräch ein fixer Bestandteil, dass sozusagen alles, was man tut, immer auf diesen Markenkern referenzieren muss.

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Also ist jede:r Einzelne verantwortlich? Jede:r ist verantwortlich. Jede:r sagt auch nein, wenn eine Führungskraft ein Ziel gibt, das auf keinen Baustein einzahlt. Das geht nicht. Das ist außerhalb der Range und das erwartet man. Umgekehrt erwartet man von den Führungskräften, dass die Ziele genau da hineinpassen. Das machen wir konsequent.

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Kommen wir vielleicht zu den Mitarbeitenden, die natürlich eine ganz zentrale Rolle bei allen Fragen des Digitalen Humanismus haben. Wie gehen diese damit um? In Feldern wie digitaler Bildung gibt es bei euch wahrscheinlich ein Selbstverständnis, dass es wichtig ist. Die Fragen sind aber auch ethische Fragen: was digitalisiert man intern, was erfasst man auch von Mitarbeitenden, welche Daten etc.? Auch der Schutz der Daten der Mitarbeitenden spielt eine Rolle. Wie ist das bei euch im Fokus? Massiv, also wirklich massiv. Ich bin mir nicht sicher, aber ich würde meinen, dass wir das Thema Digital Literacy vermutlich überproportional entwickeln. Uns ist die inhaltliche und soziale Weiterentwicklung der Leute ein Anliegen. Wir haben zum Beispiel einen Fokus auf das Thema Diskriminierung, was aus meiner Sicht ganz stark in das Ethik-Thema mit hineinspielt. Bei uns wurden wirklich alle Führungskräfte durch Workshops zum Thema geführt. Wir möchten Diskriminierung erkennen und vermeiden. Was ist denn überhaupt Diskriminierung? Ich war persönlich überrascht, wie viel Rechtsmaterie es dazu gibt und was alles diskriminierend ist, obwohl man ein

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sehr aufmerksamer Mensch ist. Das glaubt man teilweise gar nicht und daher braucht es die Schulungen und das Bewusstsein dafür. Das fängt mit einfachen Fragen an. Man bekommt fünf Bilder von Gesichtern vorgespielt und die einfache Frage, wem man am meisten vertrauen würde? Dann ertappt man sich regelmäßig, dass man völlig gebiased ist. Verrückt! Da arbeiten wir dagegen, und zwar intensiv. Also das geht tatsächlich über das rein fachliche Weiterbilden hinaus. Das tun wir und wir monitoren es, indem wir es eben implizit über unser bereits erwähntes Werkzeug abfragen. Wir sind ja mit unseren Lösungen immer wieder auch auf Fachkongressen, Konferenzen und so weiter als Vortragende dort und gehen dort ganz stark in die Reflexion. Ich selbst war jetzt vor zwei Wochen am EIT (European Institute of Innovation and Technology) und habe dort eine Keynote halten dürfen. Und allein die Diskussion danach mit den Teilnehmenden, das ist wirklich High-End-Publikum, da nimmt man persönlich so viel mit. Auch das machen wir. Also wenn man einen Kongress besucht, dann werden die Vorträge reflektiert, da wird hinterfragt.

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Wie sind die Arbeitsbedingungen bei Euch aus einer humanistischen Perspektive gestaltet, z. B. Vertrauen im Zusammenhang mit Homeoffice, digitale Überwachung…. Homeoffice gibt es seit unserer Gründung! Wir haben von Anfang an vollvariable Arbeitszeiten gehabt, mit der Ausnahme der Leute im Schichtdienst im Rechenzentrum oder Callcenter – aber mit einer nicht gedeckelten Homeoffice-Möglichkeit. Natürlich im Interesse der Organisation, dass das Homeoffice von der jeweiligen Führungskraft freizugeben ist, weil die Führungskraft ja wissen muss, wer wo ist – aber es gibt keine Limitierung. Das heißt, wir haben da wirklich hohes Vertrauen in die Leute, die ihren Job machen. Die Pandemie hat auch bewiesen, dass das geht. In der Pandemie waren wir sehr gut ausgelastet mit dem Impfpass etc. und das ist zu 100 Prozent remote im Homeoffice passiert – und es hat funktioniert, wir haben alles geliefert. Überwachung ist bei uns sehr geringgehalten. Es gibt in den Liftzonen ausgewiesene Kameraüberwachung und das ist allen bewusst. Das hat mit der Pandemie zu tun gehabt, weil es hier Anfeindungen von Impfgegnern gegeben hat, die gewusst haben, dass wir im Gesetz gestanden sind, zur Umsetzung des Impfpflichtgesetzes. Das war sehr unangenehm, daher haben wir die Schutzmaßnahmen und den Sicherheitsdienst verstärkt. Alles im Einvernehmen und mit einer Betriebsvereinbarung, gemeinsam mit dem Betriebsrat, in welchem Winkel darf geschaut werden, das ist alles geregelt. Und im physischen Rechenzentrum sind die Gänge zur Sicherheit der Daten videoüberwacht. Wir möchten unsere Leute nicht überwachen, sondern sicherstellen, dass in puncto Sicherheit nichts schief geht.

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Gut, dann kommen wir zum Kernthema eigene Produkte und Dienstleistungen: In eurem Aufgabengebiet geht es sehr stark darum, diese Schnittstelle zu Patient:innen, aber natürlich auch Träger, Ärzt:innen etc. zu sein. Du hast eingangs gesagt, ihr glaubt gut zu wissen und zu verstehen, was diese benötigen, damit ihr entsprechend eurer Schnittstellen, eure Leistungen noch besser anbieten könnt. Ein Grundprinzip im Digitalen Humanismus ist genau diese Wirkungsfolgenabschätzung. Wie macht ihr das? Vorwiegend machen das unsere Auftraggeber, also die Träger. Die machen diese Folgeabschätzungen. Wenn wir eine Lösung bei ihnen implementieren und sie das dann ihren Kund:innen zur Verfügung stellen, dann wird geschaut, welche Auswirkungen das hat. Was wir im Vorfeld tun, sind Design-Thinking-Methoden, um so bei Endkund:innen schon möglichst früh aufzuschlagen. Damit sehen wir, was inhaltlich gebraucht wird. Im Callcenter ist das nicht der Fall, weil wir dort direkte End-to-End-Kontakte haben, also B2C-Kontakte haben. Da ist einmal alles protokolliert, was passiert. Das heißt, Wir können genau nachvollziehen, ob irgendjemand unethisch gehandelt hat. Da hat es auch tatsächlich schon Entlassungen gegeben, weil Mitarbeitende ungerechtfertigt auf Daten zugegriffen haben. Das wird sofort geahndet. Dann gibt es null Toleranz, wirklich null. Und da schauen wir sehr streng, dass alles korrekt funktioniert. Wo es Lösungen mit künstlicher Intelligenz gibt, nutzen wir diese. Das sind zum Beispiel die Kostenerstattungen der Wahlarztrechnungen, die hereinkommen. Da behaupten wir, dass wir fast ethischer sind, als Mitarbeitende es sein können, weil wir tatsächlich völlig anonymisiert die Rechnungen prüfen, mit dem Katalog vergleichen und ungeachtet dessen, wer einreicht, tatsächlich dann einfach die Leistung überweisen oder nicht. Da würde ich sagen, das ist beinahe objektiver, als wenn Menschen diese Arbeit machen.

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Ich möchte noch bei der Verantwortung der Auftraggeber, der Träger nachhaken. Habt ihr Einblick, wie diese evaluieren? Seid ihr über Ergebnisse informiert oder so? Wir bekommen klarerweise mit, wenn das Ergebnis passt – oder eben nicht.

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Was würdet ihr machen, wenn etwas nicht passt bzw. wenn der Auftraggebende einen nicht-ethischen Auftrag erteilt? Das wird abgelehnt und das lassen wir nicht zu. Wir sind zwar in einem politischen Umfeld, aber in der Lösung ist kein politischer Bias drin.

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Ein weiteres großes Thema ist das Thema Ökologisierung, die eigene Leistungserstellung. Das ist ein Riesenthema und wir als Energieverbraucher mit Rechenzentren etc. sind da natürlich angesprochen. Wir alle wissen, dass Digitalisierung Energie verbraucht. Wir versuchen dem entgegenzuwirken und haben bereits sehr früh Zertifikate erhalten. Wir verwenden hier im Office-Gebäude nur Ökostrom. Mittlerweile ist das gesamte Bürogebäude auch mit einer Photovoltaikanlage ausgestattet. Man sieht unten im Parterre auch die gemessene Menge an Stromerzeugung auf einem Bildschirm dargestellt. Es wird ausgewiesen, wann Überstrom erzeugt wird. Das heißt, da wird massiv drauf geschaut und dort, wo die richtigen großen Stromfresser sind, das ist in den Rechenzentren. Daher sind wir vorletztes Jahr in ein neues Rechenzentrum übersiedelt und haben damit eine Energieeffizienzsteigerung von über 25 Prozent zustande gebracht – durch entsprechende Einhausung der Gänge, Investitionen in andere Klimatisierungstechnologien und sind dort auf den neuesten Stand gegangen, den es überhaupt gibt. Es ist sicherlich eine große Investition gewesen, aber das ist uns sehr wichtig, Es ist außerdem auch eine ökonomische Überlegung. Wenn ein Rechenzentrum 25 Prozent weniger Strom braucht, rechnet sich das bei explodierenden Strompreisen, aber es ist ursprünglich aus dem Green-IT-Konzept entstanden. Die Klassiker wie Vermeidung, Mülltrennung und so weiter, das machen wir von Anfang an. Wir tauschen alle Leuchten nach und nach (im Wartungszyklus) auf LED aus. Wir haben uns so aufgestellt, dass wir diese Aktivitäten bereits im Jahresabschluss 2023 gut ausweisen könnten. Die Homeoffice-Thematik betrachten wir auch unter diesem ökologischen Gesichtspunkt, weil es einfach Millionen von Pendelkilometern vermeidet und den CO2-Fußabdruck deutlich verringert. Da nutzt man Digitalisierung sehr schön für den guten Zweck, grüner zu werden. Wir bieten auch das Jobticket und über 60 Prozent der Mitarbeitenden haben diese Möglichkeit genutzt. Wir haben im letzten Jahr einige Parkplätze gekündigt, die wir einfach nicht mehr brauchen, weil die Leute öffentlich fahren oder gar nicht pendeln. Operativ tun wir unser Bestes, um einen Beitrag zu leisten.

Services mit Menschennutzen

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Ihr habt ja mehrere Millionen Kund:innen eurer Leistungen. Daher die Frage: Wie schafft ihr bei euren digitalen und nicht-digitalen Lösungen eine Barrierefreiheit und Inklusion herzustellen, damit auch wirklich alle Eure Leistungen nutzen können? Das wirkt wie eine riesige Herausforderung in einer so breiten und heterogenen Zielgruppe. Dort, wo es eigene Entwicklungen gibt, haben wir in unseren Entwicklungsrichtlinien das Thema der Barrierefreiheit verankert. Es gibt zum Beispiel Regelungen für Gehörlose, die halten wir selbstverständlich ein. Also alles, was bei uns neu entwickelt wird, unterliegt und entspricht den öffentlichen Standards. Das ist klar geregelt und einzuhalten. Ich erinnere mich an einen Fall vor ein paar Jahren mit einer App. Wir haben diese App herausgebracht und einen Tag nach dem Launch hat sich der Gehörlosenverband gemeldet und gesagt das ist nicht ganz barrierefrei. Da haben wir reagiert und im nächsten Release, etwa drei Monate später, die adaptierte Version veröffentlicht. So etwas kann passieren, zum Beispiel aus Zeitdruck oder Unaufmerksamkeit. Wenn jedoch so ein Feedback kommt, dann reagieren wir darauf.

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Ein grundsätzliches Thema ist natürlich, dass doch einige Gruppen in der Bevölkerung diese digitalen Services nicht nutzen können oder wollen. Wie geht ihr damit um? Genau, die gibt es. Allerdings schlägt das bei uns kaum auf, sondern eher im Kundenservice eines Sozialversicherungsträgers. Wenn dort jemand reingeht und einen Brief in der Hand hat, dann wird das dort bearbeitet…

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…und gibt es dann auch wirklich die Möglichkeit, dass man dort mit dem Brief hinkommt? Gibt es jeden Prozess, der digital abgebildet ist, auch analog? Ja, es gibt jeden Prozess, den es digital gibt, auch analog. Und es gibt eine Richtlinie. Wir wollen den analogen Kanal nicht unattraktiv machen, damit die Leute in den digitalen gehen. Das machen wir nicht. Es muss gleichwertig sein für alle, egal auf welchem Kanal man unterwegs ist. Es wird der analoge Kanal bewusst nicht schwieriger gemacht. Natürlich gibt es einige große globale Player, die das schon machen und auf diese analoge Gruppe verzichten. Wir haben Berührungspunkte mit analogen Unterlagen vor allem von der Widerspruchsstelle von ELGA, die betreiben wir. Widersprüche kommen oft als Brief. Und da gibt es einen ganz klaren Workflow, wie das abzuhandeln ist. Der Brief wird eingescannt und das Original-Druckstück archiviert. Da gibt es klare Regelungen intern, aber es darf für die Antragsteller:innen, keinen Unterschied machen, über welchen Kanal sie uns kontaktieren.

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Wie ist denn der Ausblick für eure Organisation? Welche Rolle wird das Thema in Zukunft spielen, wird sich etwas Wesentliches verändern – und wo steht ihr – auch im Hinblick auf eure Zielsetzung? Das Thema der Digitalisierung ist allgegenwärtig. Das heißt, das überlagert alles. Dabei stellt sich die Frage, wie geht man damit um. Letztendlich ist es genau das. Aktuell begleiten wir die ÖGK in einem richtig großen Digitalisierungsvorhaben. Und dort ist ganz klar in der Abstimmung mit der Generaldirektion, dass eben dieser Wertekompass, den die ÖGK für sich selbst hat, wir aber sozusagen bei uns in der technischen Abwicklung auch haben, unbedingt zu befolgen ist. Und das ist ein Projekt, das bis 2030 laufen wird, eben nur als ein Beispiel. Wenn man so will, ist das dann meist der übliche Rahmen, in dem wir uns bewegen können. Weiter darüber hinausgegriffen, wenn wir mit dem Gesundheitsministerium oder Finanzministerium, mit dem Digitalisierungsstaatssekretär im Austausch stehen, dann sind wir alle davon überzeugt, dass es eine europäische Charta geben muss, die uns gegenüber dem asiatischen, chinesischen Weg und dem liberalisierten, bis hin zur kybernetischen Selbststeuerung von KI-Systemen, Silicon Valley-Modell – also, dass es dazwischen einen europäischen Weg geben muss. Da gibt es auch ein 100-Prozent-Commitment von uns als ITSV sowieso, aber natürlich auch von den Trägern, die das komplett unterstützen.

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Was sind die zukünftigen besonderen Herausforderungen im Digitalen Humanismus vor allem in Bezug auf das Gesundheitswesen? Das ist ehrlich gesagt ein Spagat zwischen einer Überregulierung und einer Usability und einer Nutzenstiftung. Da wird es einen Weg brauchen, den wir noch nicht messerscharf kennen. In welche Richtung geht man und wie weit geht man. Ich glaube unter der Generalklausel, dass digitale Lösungen oder – im ganz speziellen – KI-Lösungen immer eben den Nutzen für die einzelne Person in den Vordergrund stellen müssen. Damit kann man schon sehr viel erreichen. Der Nutzen ist aber kein individueller, rein ökonomischer Nutzen. Das ist, glaube ich, das Entscheidende. Sondern der Nutzen ist im Umgang, in der Bewältigung der spezifischen Lebenssituation, was das Gesundheitswesen betrifft. Wenn man sich unter dieser Generalklausel und Prämisse einmal selbst einordnet, ist viel gewonnen. Wie so eine europäische Regelung genau ausschauen kann, bin ich überfragt, aber gerne bereit, an dieser Diskussion teilzunehmen und mich einzubringen. Vielen Dank für das interessante Gespräch.

Services mit Menschennutzen

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Beispiel:

Die ITSV hat bei der Entwicklung ihrer „Conversational AI“ den Kund:innen vollumfänglich in den Fokus ihrer Bemühungen gestellt. Da die Faktoren Bildung und sozioökonomischer Status großen Einfluss auf die Formulierung der Fragestellung an den Bot haben, war die frühe Einbindung des Menschen für uns Grundvoraussetzung und für den Projekterfolg essenziell. Das initiale Sprachmodell des Bots wurde als Basisversion durch interne Mitarbeitende erstellt und trainiert. Diese Basis wurde einem erweiterten Kreis von ca. 200 Personen zur Erstverwendung zu Verfügung gestellt, um deren Eingabe im Zuge der Nutzung zur Verfeinerung des Dialogmodells zu verwenden. Ergebnis war ein robustes Sprachmodell in kurzer Zeit, welches einen höheren Generalisierungsgrad aufwies. Im nächsten Schritt wurde das Produkt der ÖGK übergeben, welche es in dritter Iteration einem ÖGK-internen Publikum zur Verwendung stellte. Auch diese eingegebenen Anfragen führten zu einer Abrundung des neu trainierten Dialogmodells. Zusätzlich wurden die Antworten des Bots optimiert, um den humanistischen Werten der ÖGK vollends gerecht zu werden. Damit war der Zeitpunkt erreicht, den Chatbot live zu schalten und somit den Endkund:innen zur Verfügung zu stellen. Durch die frühe Einbindung zahlreicher Personengruppen zur Optimierung des Sprachmodells konnte der Bot bereits in der Anfangsphase den Kund:innen in vielen Belangen sehr gut weiterhelfen. Nach kurzer Zeit zeigte sich allerdings, dass der Informationshunger der Benutzer:innen mit laufender Verwendung immer größer wurde. Durch die kontinuierliche Analyse der Eingaben wurden sehr schnell neue Interessensfelder identifiziert und nach und nach in den Bot integriert. Somit gab der/die Endkunde/in, und somit der Mensch, maßgeblich die themenbezogene Evolution der „Conversational AI“ vor. Die vom Bot unterstützten Wissensgebiete wuchsen in die Richtung, in der bei Kund:innen die meiste Hilfe benötigt wurde. Darüber hinaus war es möglich, durch die Eingaben der Benutzer:innen ein umfängliches Stimmungsbild einzufangen und die Kund:innen somit abermals in den Fokus zu stellen.

Digitaler Humanismus in der Welt der digitalen Mobilität Am Ende soll und darf das Individuum entscheiden, in welcher Welt es sich wohler fühlt Oliver Schmerold, Direktor ÖAMTC

Kurzfassung

In seinem Beitrag geht Oliver Schmerold der Frage nach, wie in der modernen Mobilität die Prinzipien des Digitalen Humanismus beachtet werden sollten und wo Gefahren für die Wahrung – insbesondere der Persönlichkeitsrechte und des Datenschutzes – bestehen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Datenaustausch des Fahrzeugs mit dem Hersteller und wie dieser in einer zeitgemäßen europäischen Gesetzgebung reguliert werden sollte bzw. welche Entscheidungsrechte Fahrzeughalter:innen haben sollten. Ausgehend von dieser Fragestellung wird dann auf die Einschränkung der Nutzungsmöglichkeit des Autos bei Nicht-Erteilung der Erlaubnis zur Datennutzung und andere verwandte Themen, wie der Eingriff in Eigentumsrechte durch Updates, eingegangen. Außerdem beleuchtet Oliver Schmerold die Rolle des österreichischen Automobil- Motorrad- und Touringclubs (ÖAMTC) als Nothilfeorganisation und Anbieter von Mobilitätsdienstleistungen für seine über 2,4 Millionen Mitglieder. Er stellt dar, wie der ÖAMTC die digitalen Möglichkeiten nutzt, um den Mitgliedern einen Mehrwert zu bieten, gleichzeitig aber sich selbst strenge Auflagen gibt, die weit über die legalen Anforderungen hinaus gehen, um die europäischen Werte in der eigenen Arbeit verantwortungsvoll umzusetzen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 217 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_15

„Nur Daten, die für die Betriebssicherheit eines Fahrzeugs relevant sind, sollen dem Hersteller und seinen autorisierten Partnern vorbehalten sein.“

Fotocredit: msg Plaut

Oliver Schmerold, Direktor ÖAMTC

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich persönlich… … das Zusammenführen von menschlichen Werten mit moderner Technologie. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethnischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … …, dass wir über Opt-in und nicht über Opt-out-Möglichkeiten verfügen. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert bleibt oder wird, welcher wäre das? Dass sie nutzerfreundlicher wird und wirklich bestehende, nicht erzeugte Bedürfnisse des Menschen adressiert. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf in diesem Bereich für die österreichische bzw. europäische Politik? Der Schutz der persönlichen Daten und die Wahrung der Identität. Was ist die eine Idee, die uns in Österreich am meisten helfen würde, die Prinzipien des digitalen Humanismus besser umzusetzen? Wir könnten mit einem Beratungsgremium, das sowohl die Politik als auch die Verwaltung berät, im Sinne von sinnvollen Verordnungen und Richtlinien ganz viel erreichen. Alles unter einer breiten gesellschaftlichen Einbindung, um die Ausgestaltung für die Bevölkerung voranzutreiben. Welchen Tipp hast du für Mobilitätsanbieter aus welchem Bereich auch immer, die gerade beginnen, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen? Mobilitätssysteme entwickeln sich immer dann gut, wenn man mit open Data arbeitet. Das bedeutet, wenn einzelne Mobilitätsanbieter, sei es ihre Planungsdaten, aber insbesondere auch ihre Auslastung- und Echtzeitdaten so zur Verfügung stellen, dass neue digitale Services auf diese Daten aufsetzen können und damit etwas im Interesse der Nutzer:innen zu schaffen. Und dafür gibt es auch Beispiele in Europa. Mein wichtigster Beitrag als ÖAMTC-Direktor zur Umsetzung der ethnischen Prinzipien in der zukünftigen Mobilitätslandschaft ist … … die Vorbildwirkung, die wir mit 2,4 Millionen Mitgliedern und entsprechend viel personenbezogene Daten haben, bewusst und aktiv zu leben, also Daten nur so weit zu speichern oder zu verwenden, wie es im Interesse des jeweiligen Betroffenen ist und nicht darüber hinaus.

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Der Österreichische Automobil- Motorrad- und Touringclub (ÖAMTC) ist ein Verein mit über 2,4 Millionen Mitgliedern in Österreich. Er versteht sich als Nothilfeorganisation für Menschen, die, egal wie sie mobil sind, in eine ungeplante Situation kommen. Darüber hinaus bietet der ÖAMTC Information, Beratung und Dienstleistungen für die Mobilität seiner Mitglieder und darüber hinaus für die Allgemeinheit. Die Stärke des ÖAMTC liegt unter anderem in seiner starken physischen Präsenz im gesamten Bundesgebiet und – mittels europäischer Partnerclubs – auch darüber hinaus. Mobilität von Menschen ist immer mit einer tatsächlichen Ortsveränderung verbunden und somit vom Grund her als analog zu sehen. Jedoch wird diese vermehrt durch digitale Prozesse begleitet und oft auch erst ermöglicht. Als Beispiele solcher digitalen Begleitung seien genannt: 1. 2. 3. 4.

Im Internet abrufbare Fahrpläne öffentlicher Verkehrsmittel (Multimodale) Routen abfragen, teils mittels Echtzeitdaten Das digitale Servicebuch moderner Fahrzeuge Verkehrsbeeinflussungsanlagen aufgrund aktueller Verkehrsdaten

Wenn man von Begleiten und Ermöglichen spricht, dann ist der Gedankenschritt zum Überwachen nicht sehr groß. Damit stellt sich unmittelbar die Frage der Datenhoheit und des Datenschutzes. Beide Aspekte sollen in diesem Aufsatz aus Sicht des ÖAMTC betrachtet werden. Davor möchte ich aber die Anwendungsmöglichkeiten digitaler Dienstleistungen und Prozesse und deren Vorteile für unsere Mitglieder beleuchten. Den Abschluss des Beitrags bilden die Grundsätze, denen sich der ÖAMTC verpflichtet fühlt.

Der digitale Mobilitätsclub Das digitale Mitglied Eine der zentralen Einsatzmöglichkeiten digitaler Technologien stellt die unmittelbare Kommunikation und Interaktion jedes einzelnen Mitgliedes mit dem ÖAMTC dar. Voraussetzung dafür ist eine moderne, dem Stand der IT-Technik entsprechende Verwaltung der Mitgliederdaten. Zugegebener Weise hat man hier als Club einen natürlichen Vorteil gegenüber klassischen Unternehmen, die eine Kundenbeziehung zu gestalten haben. Bei einer Vereinsmitgliedschaft ist die Bekanntgabe persönlicher Daten geradezu Voraussetzung für eine Zugehörigkeit. Aber welchen Mitgliedernutzen kann man durch Anreichern dieser persönlichen Daten schaffen, welcher in der analogen Zeit von Karteikarten nicht möglich war? An einigen beim ÖAMTC im Einsatz befindlichen Datenservices möchte ich dies veranschaulichen: Es beginnt bei der dynamischen Verknüpfung von Relationen zwischen Mitgliedern. So sind der Abschluss einer (kostengünstigeren) Partner-Mitgliedschaft, das Führen von kostenlosen Kindermitgliedschaften mit Versicherungsschutz und die unmittelbare Deckungsprüfung für Angehörige möglich. Ein weiteres heutzutage von vielen als selbstverständlich vorausgesetztes Feature ist der OnlineSelf-Service Bereich. Beim ÖAMTC kann das Mitglied im Bereich „Mein ÖAMTC“ sowohl seine Daten aktualisieren, neue Produkte bestellen, Termine buchen als auch eine Leistungshistorie einsehen.

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Voraussetzung für sämtliche digitalen Mitgliederinteraktionen ist eine validierte E-MailAdresse. Diese ist für uns das digitale Pendant zur postalischen Wohnanschrift in der analogen Welt. Auch wenn E-Mail als Kommunikationsmedium mittlerweile durch andere digitale Formen an Bedeutung verliert, für uns bleibt es der primäre digitale Mitgliederschlüssel. Aufbauend darauf ermutigen wir unsere Mitglieder eine digitale Registrierung durchzuführen. Diese stellt faktisch den Zutritt zum digitalen Stützpunkt dar. Nur so können bestimmte Informationen abgerufen und gespeichert werden. Ein Mitglied, welches dank seiner Registrierung seine Spuren in der digitalen ÖAMTC Welt hinterlässt, kann deutlich schneller und zielgerichteter betreut werden. Wesentlich ist dabei, dass diese optimierte Betreuung nicht nur im digitalen ÖAMTC stattfindet, sondern das Mitglied auch beim analogen Kontakt mit uns diese Vorteile erlebt.

Der digitale Notfall Insbesondere in Notsituationen, egal ob es der Pannenfall auf der stark befahrenen Autobahn oder die Erkrankung im Ausland ist, kommen die analogen Stärken des ÖAMTC zum Tragen. Aus allen Mitgliederbefragungen und externen Marktforschungen wissen wir, dass der persönliche Kontakt mit Mitarbeitenden von hoher Bedeutung ist. Aber schon das Erkennen des Mitglieds am Telefon und die persönliche Ansprache erfordert digitales Wissen über die Person. Und, viele im Lösungsverlauf erforderliche Zwischenschritte lassen sich digital bewältigen. So kann uns das Mitglied seine genaue Position einfach über einen von uns zur Verfügung gestellten Weblink bekannt geben oder den Status der angelaufenen Hilfe ebenso über einen Weblink verfolgen. Natürlich ist es auch möglich, meist bei einfacheren Pannenfällen, die gesamte Hilfe gleich über die App anzufordern. Ein solcher „digital intake“ wird von uns als gewünschte Alternative angeboten, der telefonische Erstkontakt wird aber immer möglich bleiben. Ein wesentlicher Aspekt, der den humanen Fokus im digitalen Ablauf gewährleistet, ist die bestehende Möglichkeit, jederzeit aus diesem in ein analoges Medium umzusteigen. Eine Durchlässigkeit, die im Prozessdesign Komplexität bringt, für unsere Anwendungsfälle aber unabdingbar ist.

Neue digitale Services Gerade im Bereich Reise- und Mobilitätsservice bieten die digitalen Möglichkeiten Anwendungen, welche einen hohen Mitgliedernutzen darstellen. Stellvertretend seien zwei kurz erläutert: Das sogenannte Reise-Radar bietet unserem Mitglied gezielt Warnungen und Sicherheitshinweise für die (Urlaubs-)Region, in der es sich gerade aufhält. So können offizielle Reisewarnungen, aber auch viele weitere Ereignisse zielgerichtet adressiert werden. Der digitalen Registrierung bei uns und Bekanntgabe des Aufenthaltsortes steht ein klarer Mehrwert gegenüber. Ähnlich verhält es sich bei der Telekonsultation im Ausland durch eine

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heimische Ärzt:in. Eine online Abklärung einer Erkrankung oder von Symptomen in der Muttersprache und die digitale Ausstellung eines Rezeptes können den analogen Gang in eine Spitalsambulanz im Urlaubsland auf angenehme Weise verhindern.

Das digitale Fahrzeug Eine spannende digitale Entwicklung findet in der Fahrzeugindustrie statt. Der Einzug der Elektronik in den 1990-er Jahren hat bereits viele mechanischen und hydraulischen Systeme abgelöst und vor allem viele neue Möglichkeiten gebracht. Für Fahrzeughalter oder -nutzer waren diese oftmals noch nicht so sichtbar, aber der Servicetechniker:in konnte mit Diagnosegeräten bereits Diagnosen erstellen und Fehler beheben. Die Anzahl an Steuergeräten stieg rasant und der diese verbindende Datenbus versorgte die zentrale Logik im Fahrzeug. Aber erst durch die Einführung von Kommunikationsmodulen, basierend auf Mobilfunkstandards, tauscht das Fahrzeug digitale Meldungen, meist mit dem zentralen Backend des Herstellers aus. Konsumenten werden darüber oft nur vage informiert. Grob kann man zwischen digitalen Services, die der Betriebs- und Verkehrssicherheit des Fahrzeugs dienen und solchen, die der Convenience des Benutzers dienen.

Software defined vehicle Unter diesem, dem Begriff „Software defined radio“ aus der modernen Mobilfunkentwicklung entlehnten Begriff, möchte ich kurz auf jene Fragestellungen hinweisen, welche moderne vernetzte Fahrzeuge mit sich bringen. Eine neue Fahrzeugtype wird im sogenannten Typengenehmigungsverfahren einmal für die Zulassung in der EU freigegeben. Alle relevanten Eigenschaften des Fahrzeugs, die bekanntesten darunter wohl Leistung, Verbrauch und Emissionen werden festgehalten. Traten bislang bei einer Fahrzeugreihe zum Beispiel Produktionsmängel oder Komponentenfehler auf, so führte ein behördlich verordneter Rückruf zur Mangelbehebung in autorisierten Werkstätten. Heute sind viele Fehler allerdings auf mangelhafte Software zurückzuführen und die Hersteller führen sogenannte „over-the-air“ Updates an allen ausgelieferten Fahrzeugen durch. Meist ohne Wissen der Fahrzeughalter, ein Eingriff ins Eigentum Dritter. Neben Mangelbehebungen sind es mehr und mehr auch substanzielle Verbesserungen, besonders bei Elektrofahrzeugen kann über eine neue Software für das Lademanagement der Energieverbrauch deutlich verbessert werden. Eine Änderung, die behördlich festgestellt werden müsste, da sie auch Auswirkungen zum Beispiel auf die Besteuerung haben kann.

Daten aus dem Fahrzeug – wer verfügt darüber? Diese Frage, so trivial sie erscheinen mag, birgt eine hohe Komplexität und aktuell gibt es darauf noch keine eindeutige Antwort. Im Gegenteil, es herrscht eine rege Diskussion dazu und die Europäische Union versucht, mit dem Data Act einen Rechtsrahmen festzulegen.

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Dieser besagt, dass Daten diskriminierungsfrei und nur zu nachweisbaren Kosten der Transaktion Dritten zur Verfügung gestellt werden sollen und die Hersteller der Systeme keinen Wettbewerbsvorteil daraus ziehen dürfen. Diese allgemeinen Prinzipien reichen für den Betrieb von Fahrzeugen unserer Meinung nach nicht. Denn Automobilhersteller können zu Recht Sicherheitsbedenken geltend machen, welche ihre Haftungsverpflichtungen beeinträchtigen würden. Eine spezifische Sektorregelung könnte hier Antworten liefern. Daten, welche für die Betriebssicherheit eines Fahrzeugs relevant sind, sollen dem Hersteller und seinen autorisierten Partnern vorbehalten sein. Aber im Gegenzug müssen alle anderen Daten, insbesondere welche einen Personenbezug zum Halter:in oder Lenker:in erlauben, der Verfügungsgewalt dieser Personen unterliegen. Es entspricht einem humanistischen Grundsatz, dass man als Individuum hier Transparenz vorfindet und die eigenen Entscheidungen autonom treffen kann. Umfragen der FIA unter europäischen Autobesitzern haben ein klares Bild ergeben: Fahrzeugbesitzer:innen unterscheiden sehr wohl und wollen entscheiden, wer Zugriff auf die von ihnen generierten Daten hat.

Datenzugang – eine Frage der Personenrechte und des Wettbewerbs Neben der drohenden Verletzung von persönlichen Schutzbedürfnissen geht es bei dieser Frage auch um große volkswirtschaftliche Summen. Eine ebenfalls von der FIA beauftragte Studie, durchgeführt von Quantalyse und Schönenberger in 2019, prophezeit einen jährlichen volkswirtschaftlichen Schaden von 65 Mrd. €, wenn es bei innovativen Datenservices keinen Wettbewerb gibt und Konsument:innen dadurch höhere Kosten, auch bei „klassischen“ Autoservices tragen müssen. Es ist auch kritisch zu hinterfragen, inwieweit eine nicht gegebene Zustimmung zur Datenverarbeitung den Besitz oder die Nutzung eines modernen Fahrzeuges einschränken darf. Immerhin ist der materielle Wert des Fahrzeugs, welchen man als Konsument durch Kauf oder Leasing abgilt, ungleich höher als jedes erdenkliche Zusatzservice. Eine Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten durch den Hersteller bei Verweigerung der oft weitreichenden Zustimmungserklärungen, stellt aus meiner Sicht einen Verstoß gegen humanistische Grundsätze dar, rechtlich wie moralisch.

Die Grundsätze des ÖAMTC in der digitalen Welt Datenschutz geht vor Der ÖAMTC hat sich mit seinen Prinzipien verantwortungsvoller Vereinsführung einen Werte- und Verhaltenskodex unterhalb seines Statuts verordnet. Als großer Publikumsverein steht für uns ein ethisch, wirtschaftlich und rechtlich einwandfreies Handeln an oberster Stelle. Dies umfasst natürlich auch den Umgang mit den uns anvertrauten Daten. Die Implementierung eines Datenschutzmanagement Systems (DSMS) mit Inkrafttreten der europäischen Datenschutz Grundverordnung (DSGVO) 2018 wurde mit Akribie und dem erforderlichen Aufwand betrieben. Unser Anspruch dabei war und ist, nicht nur gerade

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compliant zu sein, sondern in der Umsetzung ganz im Sinne der europäischen Werte zu agieren und etwaigen Mehraufwand nicht zu meiden. Neben der transparenten Information unserer Mitglieder über die bei uns gespeicherten Daten gehen wir auch klar den Weg des „Opt-in“ und vermeiden umständlich formulierte, auf ein „Opt-out“ abzielende Einwilligungsverfahren. Ebenso gehört dazu ein offener Austausch mit der österreichischen Datenschutzbehörde. Nicht erst im Anlassfall, sondern während der Einführung und den ersten Schritten haben wir den Diskurs und Rat gesucht. An von uns organisierten Compliance Days konnten wir Vertreter der Behörde mit Rechtskanzleien und Unternehmensvertretern zusammenbringen. Das hat dazu beigetragen, dass die Einführung der DSGVO in Österreich im Interesse der Konsument:innen, bei gleichzeitiger Wahrung legitimer Wirtschaftsinteressen, möglich wurde.

Wir wissen, was wir wissen Die Abänderung des Spruchs „Wir wissen gar nicht, was wir nicht wissen“, sagt gut aus, wie wir im ÖAMTC das Datenmanagement betreiben. Die DSGVO hat schon als einen Grundsatz, dass man ein aktuelles Verzeichnis der im Unternehmen verarbeiteten (personenbezogenen) Daten zu führen hat. Unsere Ambition ist darüber hinaus, mit diesen Daten auch einen Mehrwert für unsere Mitglieder zu schaffen. Daten, die zu einem solchen Mehrwert nichts beitragen können, sollen tunlichst gar nicht erhoben und sonst nicht weitergeführt werden. Dieses Prinzip der Datensparsamkeit hat mehrere positive Effekte, wenn gleich es auch in der Befolgung oft herausfordernd ist.

Digital first, digital only? Diese Frage, gerade im Medienbereich intensiv diskutiert, stellt sich natürlich auch beim ÖAMTC. Und die Antworten darauf haben sich im Laufe der letzten Jahre durchaus geändert. Natürlich stand und steht noch heute der persönliche Mitgliederkontakt, insbesondere im Hilfefall, an erster Stelle. Und wir fühlen uns auch verpflichtet, diese analogen Kontaktpunkte aufrecht zu halten. Ein „digital only“ ist daher für uns kein Prinzip. Anders sieht es bei „digital first“ aus, hier wollen wir der gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung tragen. Viele unserer Mitglieder fordern nachgerade die digitalen Kanäle ein. Selbstverständlich bieten wir diese Option daher auch an erster Stelle in vielen unserer Geschäftsprozesse an. Ein Beitritt zum ÖAMTC inklusive Beitragszahlung und Bestellung von Zusatzservices kann online und voll digital erfolgen. Einreichungen von extern bezahlten Leistungen können genauso digital und online erfolgen wie die Lektüre unseres Mitgliedermagazins. Aber – und hier unterscheiden wir uns vielleicht von vielen Unternehmen – wir zwingen niemand in diese digitale Welt und lassen die analogen Wege zu uns offen. Am Ende, und das sehen wir als Aspekt eines digitalen Humanismus, soll und darf das Individuum entscheiden, in welcher Welt es sich wohler fühlt.

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Ausblick Die Frage, wie in einer zunehmend digital werdenden Welt die humanen Grundwerte beachtet werden können und welchen Stellenwert sie künftig dort haben, ist spannend und relevant zugleich. Für den ÖAMTC steht einerseits fest, dass technologische Weiterentwicklungen zu begrüßen und nach Möglichkeit anzuwenden sind. Andererseits steht bei uns das Mitglied mit seinen, oft dringlichen Bedürfnissen im Mittelpunkt und muss als solches auch behandelt werden. Hierbei sind oft analoge Formen die gewünschten. Was es aber in der analogen und digitalen Welt immer gleichermaßen zu beachten gilt, sind die ethischen Grundwerte, nach denen Geschäftsprozesse definiert werden und nach denen gehandelt wird. Hierbei ist die Gesellschaft, die Wirtschaft und die Politik gefordert, die Einhaltung dieser Werte einzufordern, aber auch zu ermöglichen. Es ist im Interesse von uns allen.

Literatur 1. https://www.fiaregion1.com/study-on-economic-impact-of-existing-data-access-models/

IT-Beratung als Hebel und Begleiter für menschenorientierte Digitalisierung Unser Weg, unsere Erfahrungen, unsere Ziele Georg Krause, CEO msg Plaut AG

Kurzfassung

Georg Krause geht in seinem Beitrag auf den Weg ein, den die msg Plaut in Richtung Digitaler Humanismus eingeschlagen hat. Er zeigt auf, wie die msg Plaut das Ziel dafür formuliert hat und sich der großen Verantwortung als IT-Dienstleister für die Umsetzung des Digitalen Humanismus intern, aber auch insbesondere in Projekten für Kund:innen, bewusst geworden ist. Er beschreibt die 5 Schritte, die das Unternehmen bereits umgesetzt hat – von der Folgewirkungsanalyse der eigenen Projekte, dem Onboarding von Führungskräften und Mitarbeitenden, der Suche nach geeigneten Standards und Methoden, bis zur internen und externen Kommunikation. Letztlich zeigt er die geplanten Schritte auf, um ein erstes Teilziel zu erreichen, nämlich den Kund:innen die Einhaltung der Prinzipien des Digitalen Humanismus zusagen zu können. Im Verständnis, dass es (noch) kein etabliertes Modell bzw. anerkannte Methoden gibt, beschreibt Georg Krause die Aktivitäten als eine Reise, auf die sich die msg Plaut begeben hat und wo sie selbst laufend dazu lernt. In diesem Sinn teilt er zum Schluss die bisherigen Erfahrungen, damit andere manchen Umweg vielleicht vermeiden können.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 227 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_16

Fotocredit: msg Plaut

„Wir IT-Dienstleister haben eine große Verantwortung bei der Umsetzung der menschlichen Prinzipien in der digitalen Welt.“ Georg Krause, CEO msg Plaut AG

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G. Krause

Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich … Nicht mehr und nicht weniger als die (gewünschte) Zukunft der Digitalisierung Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … Das Wiener Manifest für digitalen Humanismus, weil es für ganz viele Umsetzungen Orientierungspunkte bietet Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird bzw. bleibt, welcher wäre das? Tools mit denen wir einfach Lösungen erkennen, die den Menschen schaden Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische bzw. europäische Politik in dem Bereich? Gesetzgebungsverfahren zu entwickeln, die mit der Geschwindigkeit der technischen Entwicklungen mithalten können (z. B. Soft Law, Regulatory Sandboxes, Experteneinbindung) und die gleichzeitig damit Freiraum für Innovationen schaffen Was ist die eine Sache, die einem Unternehmen am meisten helfen würde, die Ideen des digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Vorbilder, Ideen, Beispiele, Standards etc….darum machen wir das Buch ;-) Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen sich mit dem Thema zu beschäftigen? Zuerst informieren, mit anderen darüber reden (und natürlich dieses Buch lesen) und dann erste Schritte einfach und pragmatisch ausprobieren Was ist Dein wichtigster Beitrag als Geschäftsführerin der msg Plaut AG, um die Umsetzung der ethischen Prinzipien in eurem Unternehmen voranzutreiben? Dem Thema Bedeutung und Inhalte geben und es selbst vorleben und ernst nehmen.

IT-Beratung für menschenorientierte Digitalisierung

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Digitaler Humanismus @msg Plaut: Motivation und Zielsetzung Vor etwa einem Jahr haben wir uns mit der Frage beschäftigt, wofür steht msg Plaut. Als einer der größten IT-Dienstleister im deutschen Sprachraum ist es natürlich selbstverständlich, dass wir für Digitalisierung stehen. Gleichzeitig sind wir nicht zuletzt aufgrund unserer Eigentümerstruktur, da wir uns noch vollständig im Privatbesitz der drei Gründerfamilien befinden, ein Unternehmen, das sich stark mit Werten und der nachhaltigen Entwicklung der Organisation beschäftigt. Daher war uns schnell klar, dass Digitalisierung um der Digitalisierung willen nicht unser einziger Zweck sein kann und wir so auch nicht am Markt wahrgenommen werden wollen. Wir haben daher etwas tiefergehende Überlegungen angestellt und sind auf das Thema der Singularität gestoßen, also jenen Punkt in der Zukunft, wo Intelligenz und Fähigkeiten der Computer jene der Menschen überholen werden. Zu diesem Thema gibt es viele dystopische Vorstellungen, wie die Maschinen dann die Herrschaft über die Menschen und die Welt übernehmen und möglicherweise die Menschheit ausrotten werden. Andererseits gibt es Wissenschaftler, die sehr klar sagen, dass Maschinen dies nicht tun werden, da sie dazu keine Veranlassung haben, weil Machtstreben oder ähnliche typisch menschliche Ziele ihnen nicht innewohnen. (Außer natürlich, sie werden mit diesen Zielen von Menschen programmiert/ trainiert.) Wie auch im Buch „Digitaler Humanismus“ von Professor Julian Nida-Rümelin (erschienen 2018 im Piper Verlag) ausgeführt, haben Maschinen eben keine eigenen Ziele, keinen Überlebenstrieb, kein Streben nach Lust oder Vermeidung von Schmerz, was zutiefst menschliche Eigenschaften und oft Triebfedern unseres Handelns sind. So sind wir zu der Überzeugung gelangt, dass wir mit unseren Digitalisierungsprojekten letztlich immer einen Beitrag leisten müssen, das Leben der Menschen zu verbessern, dass es nur dann Sinn macht, dass nur das ein lohnenswertes Ziel ist und Technologie nur dazu dienen darf und soll. Einige Jahre davor hat unsere Muttergesellschaft, die msg systems AG in Ismaning bei München, eine Vision definiert, die lautet: „we create ecosystems for enabling a better life“. Damit haben wir uns mit unserer Vorstellung, dass Digitalisierung die Ziele der Menschen unterstützen muss, bestens in dieser Vision wiedergefunden. Ebenso hat die msg Gruppe seit mehreren Jahren ein sehr gut zu diesen Überlegungen passendes internes Programm laufen, das sich „Mensch im Mittelpunkt“ nennt. Dieses Programm hat den Schwerpunkt, die Mitarbeitenden in unserer Gruppe ganzheitlich zu betrachten und das Arbeitsumfeld, die Arbeitsgestaltung, die Ausbildung, die Zielsysteme usw. im Einklang mit den persönlichen Fähigkeiten und Zielen zu bringen.

Der Heureka-Moment und die ersten Monate Uns war dann relativ rasch klar, dass dieser Weg einer menschenzentrierten Digitalisierung für uns perfekt passt. Wir standen vor der Frage, wie wir das Thema positionieren und umsetzen können und ob es bereits Erfahrungen in anderen Unternehmen gibt.

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Der Heureka-Moment kam dann in einem Gespräch mit dem Digital Humanisten Martin Giesswein, der seit vielen Jahren Erfahrungen mit diesem Thema durch seine Beratungsund Lehrtätigkeit gesammelt hat. Er hat uns unter anderem auf diverse Fachliteratur, wie das Wiener Manifest des digitalen Humanismus, die Aktivitäten der Gemeinde Wien oder der Wirtschaftsuniversität Wien hingewiesen. So konnten wir uns gezielt mit dem bereits vorhandenen Wissenstand auseinandersetzen. Dadurch wurde für uns klar, dass der Begriff des digitalen Humanismus genau das umschreibt, was wir zuvor bei unseren Überlegungen zur Positionierung und unserer Rolle festgestellt haben. Natürlich war es für uns auch sehr wichtig zu verstehen, wo unsere Kunden und der Markt in Bezug auf diese Themen stehen. Daher haben wir zahlreiche Gespräche mit Verantwortungsträgern geführt. Das Ergebnis war für uns mehr als überraschend, da praktisch alle Gesprächspartner dem Thema „Digitaler Humanismus“ sehr positiv gegenüberstanden. Viele hatten bereits davon gehört oder zumindest eine vage Vorstellung über das Thema und die meisten waren sehr interessiert daran zu erfahren, wie dieses Thema umgesetzt werden kann, also wie sie, diese Prinzipien in ihre Digitalisierungsvorhaben einbeziehen können. Dadurch wurde für uns klar, dass das, was wir als unsere Vision und Zielsetzung erkannt haben, auch bei unseren Kunden einen hohen Stellenwert hat. Wir fühlten uns bestätigt und ermutigt, das Thema Digitaler Humanismus gezielt und systematisch bei uns umzusetzen.

Die geoökonomische Dimension Im Laufe dieser Gespräche und weiteren Recherchen wurde uns schnell bewusst, dass der digitale Humanismus nicht nur eine moralisch-ethische Dimension hat, sondern auch gleichzeitig im globalen Wettbewerb der großen Wirtschaftsregionen einen Lösungsansatz für ein Wiedererstarken Europas bietet. Europa hat in den letzten Jahrzehnten im internationalen Wettbewerb massiv an Bedeutung verloren. Die größten Unternehmen der Welt, die größten Unicorns, die größten Plattformen usw. sind mittlerweile ganz überwiegend in den USA, zu einem geringeren Teil in Asien, insbesondere in China, zu finden (etwa die Hälfte von den USA) und davon wiederum etwa die Hälfte in Europa. Dies ist eine Folge der rasanten Digitalisierung der letzten Jahrzehnte, bei der der stark kapitalistisch-unternehmensfokussierte Ansatz der USA einerseits und der staatszentrierte, totalitäre Ansatz in Asien, insbesondere in China, andererseits besser genutzt werden konnten. Die Schattenseite dieser Entwicklung besteht darin, dass Bürger und Konsumenten teilweise mit massiven Einschränkungen der Privatsphäre, persönlichen Freiheiten, persönlicher Überwachung, manipulativen Algorithmen usw. konfrontiert sind. Wenn es Europa gelingt, die humanistischen Werte in die digitale Welt zu bringen, besteht eine durchaus realistische Chance, dass wir wieder zu einem wesentlichen Spieler auf der geopolitischen Bühne werden können und andere Länder unserem Vorbild folgen werden. Diese Dimension des Digitalen Humanismus hat unsere Motivation, uns diesem Thema zu verschreiben, weiter befeuert.

IT-Beratung für menschenorientierte Digitalisierung

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Die Gretchen-Frage: Wie kann die Umsetzung erfolgen? Nun standen wir vor der großen Frage, wie gehen wir es an? Uns war klar, dass die Zielsetzung darin besteht, Digitalisierung für ein positives Leben zu schaffen, aber was bedeutet das konkret? In der Literatur gibt es bereits sehr viele Überlegungen dazu, was digitaler Humanismus bedeutet, welche Ziele damit verbunden sind, und es gibt bereits viele konkrete Beispiele für Projekte in diesem Bereich. Insbesondere ist hier die Gemeinde Wien zu erwähnen, die eine eigene Broschüre mit Beispielprojekten zum Thema digitaler Humanismus herausgegeben hat. Allerdings haben wir keine Hinweise gefunden, wie wir uns als IT-Beratungshaus diesem Thema annähern und die Prinzipien in unserer Organisation und für die Projekte mit unseren Kunden verankern können. Daher mussten wir in Anlehnung an vorhandene Standards, Prozesse, Beispiele usw. einen für uns passenden Weg entwickeln. Dieser wird im Folgenden dargestellt, nicht weil wir glauben, dass er der richtige ist, sondern weil wir hoffen, anderen Organisationen damit vielleicht ein paar Ideen und Denkanstöße liefern zu können. Schritt 1: Wirkungen unserer Projekte auf das Leben der Menschen und die Gesellschaft Als ersten Schritt haben wir eine Liste unserer aktiven Projekte durchgesehen und einige beispielhaft ausgewählt. Bei diesen haben wir eine erste grobe Analyse der Wirkungsfolgen der Projekte durchgeführt. Die zentralen Fragestellungen waren: • Wer sind die wesentlichen Stakeholder, die von der Lösung betroffen sind? Das können die Nutzer in der Organisation genauso sein wie Endkunden, die die Lösung nutzen. • Welche positiven Auswirkungen hat die Lösung auf deren Leben bzw. auf die Gesellschaft? • Gibt es wesentliche Risiken und Gefahren, die sich aus dem Einsatz der Anwendung ergeben? (Datenmissbrauch, Diskriminierung etc. – mehr dazu weiter hinten) • Steht die Lösung hinsichtlich ihrer Funktionalitäten, ihrer Auswirkungen und ihres Einsatzbereichs im Einklang mit den Werten, für die wir stehen? Diese einfache Aufgabe hat bereits die Sicht auf unsere Projekte wesentlich verändert. Unsere Manager und Projektleiter haben begonnen, sich mit den Folgewirkungen der Projekte auseinanderzusetzen. Plötzlich wurde uns allen bewusst, dass wir in einem Projekt nicht einfach nur die Anforderungsanalyse für eine Diabetiker-App machen, sondern einen Beitrag leisten, damit chronisch kranke Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Oder dass die Projekte für Automotive-Unternehmen in unserem Functional Safety Team einen substanziellen Beitrag zu weniger Verletzten und Toten auf den Straßen leisten. Natürlich war unser Beitrag je nach Projekt mal größer, mal kleiner. Aber trotzdem war dieser Perspektivenwechsel ein wichtiger erster Schritt, um uns an die Denkweisen des Digitalen Humanismus in unserer praktischen Arbeit heranzutasten und die Konsequenzen unseres Handelns bewusst zu reflektieren.

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Das Ergebnis war folgende Liste an positiven Wirkungen für die Gesellschaft, zu denen wir im Rahmen der von uns beispielhaft ausgewählten Projekte beitragen dürfen: • Zu weniger Toten auf Österreichs Straßen • Zur Versorgung der österreichischen Bevölkerung im Krisenfall • Für eine sichere und für alle leistbare Medikamentenversorgung in Österreich • Zur Erreichung der Klimaschutzziele • Zur Souveränität der persönlichen Daten • Für krisensichere Spitäler • Dafür, dass niemand in der digitalen Welt zurückbleibt • Zur Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens auch für chronisch kranke Menschen Neben den positiven Auswirkungen haben wir uns auch mit der Frage möglicher Risiken für negative Auswirkungen beschäftigt und eine erste Themensammlung erstellt, die Anhaltspunkte gibt, welche typischen Gefahrenpotenziale auftreten können: • Monopole/Missbrauch von Marktmacht • Missbräuchliche Datenverwendung • Manipulation/Einflussnahme durch Algorithmen • Fake News • Untrusted KI (Künstliche Intelligenz) • Social Scoring • Mangelnde Nachhaltigkeit • Einschränkung des Zugangs zu Leistungen • Bias (Voreingenommenheit) Spätestens da wurde uns klar, dass dies der richtige Weg und die richtige Perspektive für uns ist, da sie uns hilft, die Konsequenzen unseres Handelns frühzeitig zu reflektieren, negative Auswirkungen zu erkennen und möglichst zu mindern, und positive Auswirkungen bewusst wahrzunehmen, weil sie letztendlich den tieferen Sinn unserer Arbeit erkennen lassen. Schritt 2: Wertekompass Die zentrale Fragestellung ist natürlich die Überprüfung, ob diese Lösung im Widerspruch zu unseren Wertevorstellungen steht. Die Idee dabei ist, dass wir einen Wertekompass benötigen, auf den wir uns als Firma verständigen und an dem wir die Projekte, zu denen wir beitragen, prüfen können. Unser Ziel ist es, diesen Wertekompass auch unseren Kunden zu kommunizieren und ihnen damit die Sicherheit zu geben, dass wir in all unseren Projekten auf die Einhaltung dieser Werte achten werden. Daher haben wir uns auf die Suche nach den „richtigen“ Werten gemacht, und das war gar nicht leicht. Die Werte des Humanismus sind nicht kodifiziert, schon gar nicht europaweit einheitlich. Es gibt ganz unterschiedliche humanistische Werte in der Geschichte sowie zwischen Ländern und Unternehmen. Deshalb haben wir eine erste Version dieser Werte für uns erstellt, im Bewusstsein, dass sie individuell sind und im weiteren Verlauf immer wieder angepasst werden, also keine statischen Größen sind.

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In einem ersten Schritt haben wir eine Kombination von allgemeingültigen humanistischen Werten, insbesondere jenen, die im Rahmen des Digitalen Humanismus bereits definiert wurden, und den Zielen der digitalen Dekade der EU mit unseren eigenen Firmenwerten in Einklang gebracht und daraus eine erste Version eines übersichtlichen Wertekompasses abgeleitet (siehe Abb. 1). Uns war dabei wichtig, ihn einfach und übersichtlich zu halten, da alle Mitarbeitenden damit arbeiten sollen und er daher einfach anwendbar sein muss.

VALUES

Gleichberechtigung

Lebenswerte Umwelt

Gesundheit

Respekt

Souveränität Human Oversight

Zugang zu Bildung Sicherheit

Verantwortung für eigenes Handeln

FOR A BETTER LIFE Abbildung 1  Wertekompass Version 1.0 der msg Plaut.

Schritt 3: Onboarding Führungskräfte Ermutigt durch die ersten Ergebnisse haben wir das Thema in einem Führungskreis-Workshop den beiden Führungsebenen vorgestellt und uns Zeit für eine ausführliche Diskussion genommen. Das Ergebnis übertraf sogar unsere positivsten Erwartungen. Das Thema stieß auf breite Zustimmung und Interesse. Fast alle hatten sich bereits mit diesen Themen beschäftigt, wahrscheinlich auch aufgrund der intensiven Diskussion über die Gefahren und Grenzen der KI seit dem Erscheinen von ChatGPT. Sie waren daher sehr daran interessiert, diese Themen im Kontext ihrer eigenen Arbeit und innerhalb der Firma zu diskutieren und sich damit auseinanderzusetzen. Es gab praktisch niemanden, der das Thema grundsätzlich ablehnte. Im Gegenteil, es wurde stark nachgefragt, wie die Umsetzung konkret erfolgen könne und wie man die Prinzipien des Digitalen Humanismus in den Arbeitsalltag integrieren könne.

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Schritt 4: Ambassador-Programm Um das Thema zu verbreiten, die Themen für unsere Arbeit konkret zu formulieren und in die gesamte Organisation zu tragen, haben wir im nächsten Schritt ein „Ambassador“Programm ins Leben gerufen, für das sich Freiwillige aus dem Führungskreis melden konnten. In drei Streams wurde die Umsetzung vorbereitet: 1.

Standards & Methoden: Um die Prinzipien des Digitalen Humanismus in unsere Projekte zu integrieren, benötigen wir Standards, Methoden und Richtlinien. Wir haben nach vorhandenen Standards und Methoden gesucht und festgestellt, dass es keine umfassende Methodologie für den Digitalen Humanismus gibt, die wir einfach übernehmen und einführen können. Als konkretester und für unsere Projekte am besten geeigneter Standard erscheint uns der IEEE 7000 Standard für Value-Based Engineering. Obwohl es noch wenig Erfahrung und Ausbildungsmöglichkeiten zu diesem Standard gibt, werden wir an ihm festhalten und den Weg in diese Richtung weiterverfolgen. Wir haben beschlossen, unsere Reise zum Digitalen Humanismus mit dem Entwicklungsstandard IEEE 7000 zu beginnen und planen noch in diesem Jahr erste Projekte mit diesem Standard gemeinsam mit Kunden, die diesen Weg mit uns gehen wollen, umzusetzen, um daraus zu lernen.

2.

Verbreitung und Kundenfeedback: Parallel dazu haben wir begonnen, mit vielen Kundinnen und Kunden über dieses Thema zu sprechen, um ihre Anforderungen an uns als IT-Dienstleister im Zusammenhang mit den Prinzipien des Digitalen Humanismus besser zu verstehen und daraus Zielsetzungen und Leitlinien für unsere Arbeit abzuleiten. Gleichzeitig haben wir versucht, in diesen Gesprächen besser zu verstehen, welche Rolle und welchen Stellenwert die Prinzipien des Digitalen Humanismus bei unseren Kundinnen und Kunden spielen.

3.

Einbindung der Mitarbeitenden: Ein wesentlicher Schritt war die Sensibilisierung aller Mitarbeitenden, erste Informationen und die Auseinandersetzung mit dem Digitalen Humanismus, unabhängig davon, ob sie Berater:innen oder Mitarbeiter:innen aus den Servicebereichen sind. Dies geschah im Rahmen eines Mitarbeitenden-Events.

Schritt 5: Superkräfte und böse Kräfte – die msg Plaut Heroes Uns war rasch klar, dass der Begriff „Digitaler Humanismus“ eine Philosophie und Denkrichtung repräsentiert. Er ist gut verständlich, aber nicht emotional aufgeladen und schwer in der Breite zu kommunizieren. Daher haben wir uns in der internen Kommunikation dafür entschieden, eine spielerische und emotionale Kommunikation mit einem Augenzwinkern und einer Prise Selbstironie zu wählen. Dabei sollten die Grundaussagen leicht verständlich sein, aber dennoch die Prinzipien des Digitalen Humanismus gut widerspiegeln und leicht zu merken sein.

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Die Kernaussage lautet: Unsere Mitarbeitenden sind Superheld:innen mit Superkräften, die dafür sorgen, dass die Menschen ein besseres Leben haben und sie vor den bösen Kräften schützen. (Vgl. Abb. 2) Erläuterung dazu: Mit Superkräften sind die fachlichen und persönlichen Kompetenzen gemeint, die Menschen sind die Kund:innen bzw. Kund:innen unserer Kund:innen und die bösen Kräfte meinen die Risiken der Digitalisierung. Das Marketing-Team hat begleitende Kommunikationsmaterialien in Form von Grafiken, Pixie Büchern mit Heldengeschichten und vielem mehr erstellt, um diese spielerische, humorvolle Geschichte zu erzählen.

Abbildung 2  Die Superhelden-Story der digitalen Humanisten.

Externe Kommunikation – „enabling a better life‘‘ In der externen Kommunikation haben wir uns auf die Vision unserer Muttergesellschaft konzentriert, die den Begriff „enabling a better life“ enthält. Dies beschreibt klar, was durch den Digitalen Humanismus erreicht werden soll, und daher konnten wir uns gut damit identifizieren. Unser Anspruch ist es, durch unsere Arbeit zu einem besseren Leben für die Menschen beizutragen, sei es für unsere Mitarbeitenden, Kund:innen oder Kund:innen unserer Kund:innen.

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Abbildung 3  Das Digitaler-Humanismus-Logo der msg Plaut Gruppe.

Um den Bezug zum Digitalen Humanismus auszudrücken, haben wir als Subclaim den Begriff „Innovationen auf den Prinzipien des Digitalen Humanismus“ gewählt und beides auf das bekannte Bild des vitruvianischen Menschen von Leonardo Da Vinci in einer digitalisierten Version gebracht. Das haben wir als Logo für unseren Weg des Digitalen Humanismus etabliert und verwenden es in allen unseren Kommunikationskanälen, wenn es um dieses Thema geht. (vgl. Abb. 3) Mit diesem Logo wollen wir bewusst eine Brücke zwischen der Digitalisierung und den Ideen des Humanismus in Bild und Wort schlagen, da dieses breite philosophische Gedankengebäude unser Leitstern für unsere Arbeit sein soll.

Das Ziel und der Weg dorthin Unser Ziel steht fest: Wir wollen den Digitalen Humanismus in unserer Arbeit leben, uns immer bewusst sein, welchen Beitrag wir leisten, und unseren Kund:innen das Versprechen geben können, dass wir bei allen Projekten auf die Einhaltung der von uns und unseren Kund:innen definierten humanistischen Werte achten werden. Was müssen wir noch tun, um dieses Versprechen geben zu können? • Noch in diesem Jahr werden wir erste ausgewählte Projekte mit dem IEEE 7000 Standard durchführen und daraus lernen, in welchen Projekten diese Methode hilfreich ist und wie wir sie umsetzen können. • Parallel dazu werden wir die oben genannten Fragen zur Auswirkung der Projekte und Lösungen (Wirkungsfolgenabschätzung) standardmäßig in unsere Arbeit und Angebote integrieren. • Wir werden eine Governance (Ethik Board und geeignete Prozesse o. Ä.) einrichten, um bei kritischen Fragen Entscheidungen zu treffen, sei es in Kund:innenprojekten oder internen Vorhaben. Dazu benötigen wir auch einen klar definierten Prozess (definierte

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Eskalationsschritte intern und mit Kund:innen usw.), anhand dessen Projektinhalte auf ihre Vereinbarkeit mit unseren Werten geprüft werden und typische Mitigationsmaßnahmen identifiziert werden können. • Wir werden ausarbeiten, wie unser Versprechen/Commitment gegenüber unseren Kund:innen aussehen kann, dass wir auf Basis des Digitalen Humanismus unsere Leistungen erbringen. Wir werden auch darstellen, welchen konkreten Mehrwert dies für die Kund:innen hat, beispielsweise durch Vermeidung von Reputationsrisiken, da kritische Anwendungsfälle der geplanten Lösungen frühzeitig erkannt und verhindert werden können.

Lessons learned Einige Erfahrungen aus unserem bisherigen Weg in Richtung Digitaler Humanismus: • „Tone from the top‘‘: Der Digitale Humanismus erfordert das Engagement des TopManagements und des Aufsichtsrats bzw. der Eigentümer, da es um grundlegende Einstellungen der Organisation in Bezug auf Ethik und Werte geht. • Fokus auf Mindset: Der wichtigste Erfolgsfaktor für die erfolgreiche Umsetzung der Prinzipien des Digitalen Humanismus ist das Verständnis und die Einstellung der Mitarbeitenden. Methoden und Standards können hilfreich sein, aber Werte und ethische Prinzipien müssen in den täglichen Entscheidungen jedes einzelnen Mitarbeitenden berücksichtigt werden. Daher ist es wichtig, Zeit für Diskussionen mit Führungskräften und Mitarbeitenden einzuplanen, Einwände aufzunehmen und vor allem eine Vorbildfunktion im täglichen Handeln zu leben. • Antworten auf kritische Fragen: Man muss gut auf interne und externe kritische Fragen vorbereitet sein. Die Art und Weise, wie diese Fragen beantwortet werden, bestimmt, ob Mitarbeitende bzw. Kund:innen glauben, dass die Prinzipien ernst genommen werden. In unserem Fall war die häufig gestellte Frage: Was passiert, wenn ein Projekt unseren Werten widerspricht? Machen wir es dann nicht? (Unsere Antwort: Wir suchen nach Möglichkeiten zur Risikominimierung oder -vermeidung, und wenn diese vom Kund:innen nicht akzeptiert werden und es sich um ein wesentliches Risiko oder eine wesentliche Abweichung von unseren Werten handelt, wird das Projekt nicht umgesetzt.) • Es gibt nicht immer eindeutige Antworten: Bei ethischen Fragen gibt es oft keine einfachen oder eindeutigen Antworten. Dies verursacht bei vielen Unbehagen, ist aber die Realität, mit der man umgehen muss. Daher ist der Einsatz eines Ethik Boards sinnvoll, wie es bereits in einigen Unternehmen praktiziert wird, um komplexe Dilemmata aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und Lösungen zu diskutieren. • Vermeidung von „Humanismus-Washing“: Durch ein klares Ziel, klar definierte und für alle erkennbare Umsetzungsschritte, Anwendung von Standards und Methoden, auch bei diesem sehr „weichen“ Thema, sowie ein klares Commitment des Managements kann dem Vorwurf des „Humanismus-Washing‘‘ von Anfang an entgegengewirkt werden.

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• Nicht in die Perfektionsfalle geraten: Das Thema befindet sich in der Umsetzung in der betrieblichen Praxis noch am Anfang. Daher ist es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, intern und mit Expert:innen zu diskutieren sowie Erfahrungen mit anderen Organisationen/Expert:innen auszutauschen. Erste Pilotprojekte in der eigenen Firma durchführen, um Erfahrungen zu sammeln. Danach überprüfen, verbessern und ausweiten. Wir betrachten uns als Lernende auf dem Weg zur Umsetzung des Digitalen Humanismus. Wir haben bereits einigen Aufwand in das Zusammentragen von Informationen und erste Umsetzungsschritte investiert. Unser Ziel ist es jedoch nicht, dass nur wir diese Prinzipien umsetzen, sondern wir sind fest davon überzeugt, dass es uns in Österreich und Europa insgesamt gelingen muss, diesen Weg zu beschreiten. Daher möchten wir unsere Erfahrungen und gesammelten Informationen teilen (siehe dazu https://www.msg-plaut.com/ at/digitaler-humanismus), um andere zu motivieren, sich ebenfalls mit diesem Weg auseinanderzusetzen und hoffentlich auch die Reise in Richtung einer menschenzentrierten digitalen Zukunft anzutreten.

Literatur 1. https://msg-plaut.com/digitaler-humanismus „Digitaler Humanismus“ von Professor Julian Nida-Rümelin, Piper Verlag, 2018

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Teil III WISSENSCHAFT_GEISTLICHKEIT

Der neue Humanismus kennt keine religiösen, kulturellen oder geographischen Grenzen Wir befinden uns auf der Suche nach dem Menschlichen im Digitalen Reinhold Dessl, Abt des Zisterzienserstiftes Wilhering (OÖ)

Kurzfassung

Abt Reinhold Dessl vom Stift Wilhering beschreibt im Interview mit Georg Krause, wie er sich dem Digitalen Humanismus gewidmet hat, um das Menschliche im Digitalen zu finden. Sein Ziel ist es, eine menschengerechte Nutzung der digitalen Welt zu fördern und christliche Werte in diesen Kontext zu integrieren. Dazu empfiehlt er die Entwicklung eines Wertekompasses, welcher Orientierung im „digitalen Dschungel“ ermöglicht. Im Rahmen der „Expedition für Digitalen Humanismus“, an der Manager:innen, Student:innen, Lokalpolitiker:innen, Bürger:innen und Vertreter der Geistlichkeit beteiligt waren, wurden bedeutende Fragen reflektiert und aufgeworfen. Als zentrale Frage und Voraussetzung für einen Weg in Richtung Digitaler Humanismus wurde dabei überlegt, wie man zu einem sinnerfüllten Leben kommen kann. Reinhold Dessl betont die Notwendigkeit des Brückenbaus zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen sowie die Einbindung des Menschlichen in unternehmerische Praktiken. Die erfolgreiche interdisziplinäre Zusammenarbeit während der Expedition kann als Beispiel für die Förderung des Digitalen Humanismus in anderen Bereichen dienen.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 243 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_17

Fotocredit: msg Plaut

„Wir können gar nicht genug Digitalen Humanismus haben, um Abgründen vorzubeugen.’’ Reinhold Dessl, Abt des Zisterzienserstiftes Wilhering (OÖ)

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich … … die Segnungen der Technik annehmen, dem Fluch widerstehen, einen Wertekompass bilden, die Technik für den Menschen einsetzen und so an einer besseren Welt zu arbeiten. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … … für mich ist die Medizin das beste Beispiel, weil sie Menschen geholfen hat, schmerzfreier Krankheiten zu überstehen, sich besser auf Operationen vorbereiten zu können und treffsichere Behandlungen zu bekommen. So gesehen hat die digitale Welt wirklich einem menschlichen Zweck gedient. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird bzw. bleibt, welcher wäre das? Mein Wunsch wäre, dass in allen diktatorischen Systemen die Überwachungskameras und Manipulationsversuche abgeschaltet bzw. aufgegeben werden. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische/ europäische Politik? Es ist für mich sehr schwer, darauf zu antworten. Ich denke mir aber, dass es wichtig für uns ist, gemeinsam wieder Fragen zu stellen und nicht sofort für alles Antworten zu haben. Man könnte auch sagen, die Datenhoheit zu gewinnen, Wahrhaftigkeit zu haben in den Aussagen und in den Bildern und vieles mehr. Was ist die eine Sache, die einem Unternehmen am meisten helfen würde, die Ideen des digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Sich dem Forum Humanismus Wilhering anzuschließen. Was können Führungskräfte von der Kirche für diese Aufgabe lernen bzw. mitnehmen? Ein Menschenbild, das nur auf Berechnung und Datensammlung ausgerichtet ist, ist unmenschlich. Es gilt, die Würde des Menschen wieder zu entdecken in seiner Größe und auch in seiner Unzerstörbarkeit.

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Georg Krause: Sie haben sich dem Thema Digitaler Humanismus gewidmet, begleitet von dem schönen Zitat bzw. Auftrag – die Suche nach dem Menschlichen im Digitalen. Was hat Sie, als Abt des Stiftes Wilhering, bewogen, sich auf diese Suche zu begeben, warum ist Ihnen persönlich dieses Thema wichtig? Abt Reinhold Dessl: Das Stift Wilhering ist ein Zisterzienser-Kloster, das seit 1146 besteht. Die Zisterzienser sind eine benediktinische Reformbewegung. Dabei berufen wir uns auf die Regel des Heiligen Benedikt von Nursia, die vor mehr als 1500 Jahren verfasst wurde und heute eine erstaunliche Aktualität besitzt. In dieser Regel heißt es, dass die Mönche mit dem Handwerkszeug des Klosters so umgehen sollen, als ob es heiliges Altargerät wäre. Das Digitale ist meiner Ansicht nach auch eine Art modernes Werkzeug, das uns in die Hand gelegt wurde. Dabei wissen wir aber oft nicht, wie wir damit umgehen sollen. Und ich denke mir, es ist eine wichtige Aufgabe in unserem Kloster genau darüber nachzudenken, eine Antwort zu finden, wie wir mit diesem modernen Handwerkszeug primär menschengerecht umgehen können? Selbst die Botschaft des Evangeliums können wir in diese digitale Welt einfließen lassen. Das war einer der Gründe für mich, mich mit diesem Thema näher zu beschäftigen. Mein guter Freund, der Unternehmer und Künstler Chris Müller hat mich auf die Spur von Ferdinand von Schirach gebracht, der neue Menschenrechte verfasst hat. Bekannt wurde der Schriftsteller und Jurist Schirach im deutschen Mauerschützenprozess (1991–2004). In Artikel 2 seiner neuen Menschenrechte erwähnt er das Recht auf digitale Selbstbestimmung, in Artikel 3 kommt er sehr prophetisch auf das Thema Künstliche Intelligenz zu sprechen, die derzeit in aller Munde ist und er leitet daraus das Recht auf Transparenz, Überprüfbarkeit und Fairness ab. Neben dem täglichen Umgang waren das so die wichtigsten Beweggründe, mich gemeinsam mit anderen Interessierten dem Digitalen Humanismus anzunähern.

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Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Digitalen Humanismus stellt sich die grundsätzliche Frage, was Sie persönlich darunter verstehen, schließlich gibt es keine klare einheitliche Definition? Hier bringen Sie eine sehr schwierige Frage auf den Punkt, nämlich, was man wirklich darunter versteht? Es handelt sich dabei eher um ein Gefühl, um ein gewisses Unbehagen kombiniert mit der Frage, wie kann man menschlicher mit der digitalen Welt umgehen. Es ist schwer, es in bestimmte Begriffe zu fassen, aber grundsätzlich geht es schon darum, die technische Entwicklung mit einem humanen Wertesystem in Zusammenhang zu bringen, im Sinne einer gegenseitigen harmonischen Verzahnung. Das wäre für mich so ein wichtiger Ansatzpunkt für den Digitalen Humanismus.

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Dabei geht es, etwas konkreter gefasst, darum, einen Werte-Kompass zu entwickeln, damit wir uns im Dschungel des Digitalen zurechtfinden können. WerteKompass, Evangelium und christliche Botschaft fügen sich sehr gut zusammen. Ich bin sicher, dass wir viele Anregungen aus unserem Glauben, auch aus dem Evangelium heraus auf diesen Bereich übertragen können.

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… der Werte-Kompass, der sich aus der christlichen bzw. katholischen Lehre mitsamt seiner Tradition ableitet … … auch, und aus dem allgemein Menschlichen. Die Zehn Gebote sind beispielsweise so ein Grundkompass. Darin ist festgeschrieben, „Du sollst nicht lügen“. Wenn wir aber dann an die Fake-News und Fake-Bilder denken, dann erkennen wir, dass es sich hier um ganz einfache Handlungsanweisungen handelt. Beachten wir sie achtsam, würden Vertrauen wie auch Menschlichkeit wachsen und letztendlich eine bessere Zukunft auch tatsächlich Gestalt annehmen – das ist der Impetus des Ganzen.

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Wo sehen Sie die großen Herausforderungen, aber auch Chancen bzw. Gefahren für die Mitmenschen, unsere Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft aufgrund der rasant zunehmenden Digitalisierung? Welche großen Umbrüche nehmen sie in diesen Punkten wahr? Die digitale Welt ist ein Segen, für den wir dankbar sind. Aber auch ein Segen kann zum Fluch werden. Persönlich genieße ich den Segen dieser Technik: Ich bin gerade dabei, unser Stift zu digitalisieren. Wie auch in anderen Klöstern schaffen wir digitale Rundgänge, wodurch wir mit den Menschen weltweit in Verbindung stehen können. Für unsere Kommunikationsmöglichkeiten bedeutet das unter anderem, dass ich mit afrikanischen Klosterbewerbern durch die sozialen Medien in Kontakt stehen kann. So nützen wir diese Segnungen. Doch wo ein Segen, dort auch ein Fluch: die Geschwindigkeit ist atemberaubend und unmenschlich zugleich. Bereits angesprochen habe ich die Thematik Wahrhaftigkeit mitsamt der Frage, was kann ich denn wirklich noch glauben? Der Mensch selbst vereinsamt zudem oft in dieser digitalen Welt. In diesem Zusammenhang darf ich wieder die Klosterregel von Benedikt von Nursia zusammenfassend anbieten: „Ora et labora et lege“. Dabei ist natürlich das „et“, das Verbindende, das wichtigste Wort. Darin wurzelt die Notwendigkeit einer menschenwürdigen Balance zwischen virtueller und realer Welt: Beziehungen aufbauen und diese auch über soziale Medien pflegen. Ich glaube, diese Ausgewogenheit, diese Balance wäre ganz ein entscheidender Faktor für einen gesunden Umgang mit dieser neuen Technologie.

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Lassen Sie mich aber auch die Risiken erwähnen, die diametral zur christlichen Lehre stehen: Zum Beispiel die Diskriminierung oder den Schutz der Privatsphäre, wenn das Private vom öffentlichen Leben oftmals kaum noch trennbar wird, was völlig wider die Natur des Menschen ist. Dazu zählt auch die Überwachungsgesellschaft in China, die totale Manipulation des Menschen. Wir gehen hier aber vorweg einmal von einem ganz anderen Prinzip aus, nämlich, dass der Mensch diesen Kompass in sich trägt und sich zum Guten entscheiden kann, somit weder ständig überwacht noch kontrolliert werden muss. Hier handelt es sich zweifelsfrei um einen ganz großen Missbrauch dieser technischen Errungenschaften. Somit ist sicher: Wir können gar nicht genug Digitalen Humanismus haben, um diesen Abgründen vorzubeugen. Dazu gehört auch das Suchtverhalten, sich der Möglichkeit bewusst zu sein, „nein“ sagen zu können. Wir müssen nicht alle Seiten im Netz besuchen, die uns reizen. Zur christlichen Askese müssen wir uns selbst durchringen, uns selbst Sperren einbauen, was natürlich gar nicht so einfach ist.

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Sie haben das „Forum Humanismus“ gegründet, mit dem Sie sich mit einer „Expedition für Digitalen Humanismus“ auf die Suche nach dem „Menschlichen im Digitalen“ begeben haben. Das ist und bleibt ein gesellschaftspolitisches Engagement, dem man nicht allzu oft begegnet, vor allem in dieser Dimension, mit einer solchen Öffentlichkeitswirksamkeit. Woher kam der persönliche Antrieb, sich weit über den christlichen Rahmen hinaus auf diese Art und Weise zu engagieren? Also mir ist es vorweg einmal wichtig festzuhalten, dass nicht wir allein dieses Forum gegründet haben. Das „Forum Humanismus“ ist ein gemeinnütziges Projekt von Stift und Marktgemeinde Wilhering mit Vertreter:innen der Wirtschaft, der katholischen Universität in Linz und anderen Institutionen. Es ist bewusst eine heterogene Plattform, wo wir uns brennender Menschheitsthemen annehmen und versuchen, gemeinsam neue Lösungen zu finden. Und ich denke mir, als Kloster mit einer 877-jährigen Tradition steht es uns gut an, so eine Plattform zu schaffen, für Bildung und Kultur, für Dialog und Austausch. Das war immer die Stärke der Klöster. Sie fragen zunächst nicht nach der Religion, sondern versuchen durch ihre Gastfreundlichkeit in erster Linie Anlaufstationen für Gespräche zu sein. Das war und ist der Grundgedanke. Und dann haben wir mehr als dreißig Expert:innen gesucht und gefunden aus verschiedensten Wissensgebieten: vom Bischof Manfred Scheuer aus Linz, über den Schauspieler Harald Krassnitzer bis hin zu Chris Müller, dem ehemaligen künstlerischen Leiter der ehemaligen Tabakfabrik Linz, er war von Anfang an, ein echter Inspirator, bis hin zu Schüler:innen unseres Stiftgymnasiums.

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Diese Expert:innen sind durch sieben Räume des Stiftes gegangen. Mit einer Führerin, die sich ganz nach der Regel Benedikts zunächst einmal dem Hören und Zuhören in den Räumen verschrieben hatte. Wir haben bei diesen sieben Stationen genauso viele Statements gehört und bewusst nicht diskutiert darüber. Die Teilnehmer:innen haben sich Fragen notiert, die erst später behandelt wurden. Begonnen haben wir in den Kellergewölben des Stiftes, wo wir auf dem nackten Lehmboden gestanden sind, um über die Fundamente der Gesellschaft und des Lebens nachzudenken. Der Lehmboden war auch der perfekte Untergrund, um zu erklären, woher das Wort Humanismus kommt, nämlich vom Wort „Humus“, Erdboden, also dem gleichen Stoff, aus dem der Mensch gemacht ist. Übrigens: Auch das Wort „Humor“ hat dieselbe Wurzel. Der Humor ist für das Menschsein etwas ganz Entscheidendes. Im Kellergewölbe hat es also begonnen mit der Meditation über die Fundamente, dann sind wir in die Totenkammer des Stiftes gezogen, wo sich beeindruckende Grabsteine befinden, die Chris Müllner immer als die Blogeinträge des Mittelalters bezeichnet. Hier haben wir über Transformation gesprochen: Was bleibt, was vergeht und was verändert sich? Gerade das Christentum ist, quasi ein Spezialist für Transformationen bis hin zum Auferstehungsglauben: Manches muss sich wandeln, vieles wird sich wandeln und, es wird sich alles einmal wandeln. Dann sind wir in die galerieartige Empore hinaufgestiegen, mit Blick auf das barocke Deckenfresko der Stiftskirche, wo Bischof Scheuer ein beeindruckendes Statement über den offenen Himmel gehalten hat, über Visionen, über die Entzauberung von falschen Götzen, aber auch über die Kultivierung von Eros und Sehnsucht. Im zweiten Durchgang sind die unterschiedlichen Gruppen in die Räumlichkeiten zurückgekehrt und wir haben versucht drei Fragen zu formulieren, die gleichzeitig das Resultat, also die Antwort, des Ganzen darstellen. Denn wir müssen endlich wieder lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Interessant dabei ist, dass in allen Gruppen, quer durch alle unterschiedlichen Altersgruppen und Disziplinen hindurch, eine einzige Frage an oberster Stelle stand: Wie kommen wir zu einem sinnerfüllten menschlichen Leben? Diese Frage nach dem Menschenbild muss zuerst geklärt werden, erst dann kann man in den Dialog mit dem Digitalen eintreten. Das ist die Grundlage des Digitalen Humanismus. Was ist der Mensch? Worin bestehen die wesentlichen Fragen? Das war auch das große Ergebnis der Gruppe der Wirtschaftsbosse wichtiger Unternehmen, die sich an dieser Expedition beteiligt haben – sie alle waren zum selben erwähnten Resultat gekommen. Im Frühjahr haben wir unser Projekt im Rahmen von drei Veranstaltungen fortgesetzt und haben drei Persönlichkeiten eingeladen, um eben genau über die erwähnten Fragen zu diskutieren.

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Was war ihre persönliche Erwartung und ihre Zielsetzung hinter dieser großen Veranstaltung? Wurden sie erfüllt? Schließlich sind Sie mit dieser großen Veranstaltung weit über den Wirkungsbereich eines Klosters hinausgegangen. Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang noch ergänzen, dass es auch öffentliche Veranstaltungen gegeben hat. So zum Beispiel am Vorabend unseres Expedition-Tages hat Professor Dr. Johannes Huber, ein Theologe und Humanmediziner, öffentlich einen sehr interessanten Vortrag über die Verheißungen eines ewigen Lebens durch Google gehalten. Und am Abend des Expeditionstages referierte eine Expertin zum Thema Verschwörungstheorien. Wir haben im Kreise der Expertenrunde dieses Thema dann auch in den sonntägigen Gottesdienst eingebaut. Gefragt nach meiner Erwartungshaltung würde ich heute sagen, ich war schlichtweg neugierig, dabei habe ich mir keine vorschnellen Lösungen erwartet. Mich einfach auf diese Expedition einzulassen, habe ich als sehr spannend empfunden. Irgendwie vergleichbar mit einer Entdeckungsreise, bei der man im Vorfeld auch oftmals keine Ahnung hatte, wo das Schiff landen wird. Vergessen wir zudem nicht, dass hinter diesem Projekt ein sehr motiviertes Team steckt. So hat sich eine Pastoraltheologin uns angeschlossen, federführend war vor allem aber Chris Müller, erwähnt werden muss Peter Weixelbaumer, der Obmann des Vereins, und auch der Bürgermeister und sein Stellvertreter waren dazugestoßen. Ab dem Betreten des Stifthofes wurde jede politische Farbe abgelegt. Getragen wird diese Initiative von einer einzigartigen Motivation, mit dem Ziel, Brücken zu bauen. Denn wir haben erkannt, dass die Gesellschaft durch Corona gespalten wurde, dass die Radikalisierung bis auf die politischen Ebenen zugenommen hatte, befeuert auch durch diverse Algorithmen.

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Wie kommen wir zu einem sinnerfüllten Leben? Diese Frage war schließlich das herausragende Ergebnis. Aber gab es noch andere Themen bzw. Fragen, die im Rahmen dieser Expedition aufgegriffen bzw. gestellt wurden? Wenn ich mich an die Gespräche mit den Wirtschaftstreibenden erinnere, dann waren wir uns überraschenderweise einig, dass wir alle auf bestimmte Fragen einfach keine Antworten haben. Daraus entstand dann das gemeinsame Bedürfnis, in einen Bildungsprozess einzutauchen. Deswegen möchten wir, selbst wenn wir jetzt noch am Anfang stehen, genau einen solchen Bildungsprozess ab Herbst anbieten und in Angriff nehmen. Aber eben nicht nur für die Vorstandsmitglieder, sondern auch für Studierende und Oberstufenschüler:innen. Wir werden diese Expedition also in abgeschwächter Form weiterführen, gemäß der gewonnenen Erkenntnis, wir möchten unterwegs bleiben.

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Ein Bildungsprozess, der sich ab Herbst gezielt mit welchen Inhalten auseinandersetzen wird? Es wird im Grund um dieselben Themen gehen, also um die Fundamente des Lebens und der Gesellschaft, um Transformationen und Visionen. Das alles in technische Begriffe zu gießen, das überlasse ich dann den Expert:innen.

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Für Wirtschaftstreibende ergibt sich doch sicherlich im Rahmen dieses Bildungsprozesses ein bestimmtes Spannungsfeld. Primär dann, wenn diese ihre persönlichen Ambitionen sehr ernst nehmen, aber bei der Umsetzung auch mit wirtschaftlichen Zwängen konfrontiert werden. Zumindest kurzfristig ergeben sich hier sicherlich Widersprüche. Was kann hier die Kirche bzw. was können Sie persönlich als Abt tun, damit dieser Prozess der Umsetzung zumindest erleichtert wird? Diese Fragestellung ist in der Kirche ganz oben angekommen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an beeindruckende Ansprachen von Papst Franziskus, in denen er einen neuen Humanismus fordert. Der Humanismus ist kein Feindbild mehr. Es braucht einen neuen Humanismus, der über das Europäische hinausdenkt, das asiatische ganzheitliche Denken, das wiederum mehr in die Schöpfungsverantwortung fällt, miteinschließt. Oder die afrikanische Denkweise, die sicherlich einen stärkeren Familienbezug hat und nicht so individualistisch geprägt ist wie in Europa. Es braucht also einen neuen Humanismus, der sich der digitalen Fragen annimmt. Dabei geht es nicht nur um schnelle Internetverbindungen, gefragt sind die notwendigen Verbindungen zu Menschen. Auf den Punkt gebracht: Der zentrale Kern besteht darin, Verbindungen zwischen Menschen zu ermöglichen, dabei die Segnungen einzubauen und Gefahren auch vorzubeugen. In Bezug auf Wirtschaftstreibende muss primär einmal vermittelt werden, dass es sich lohnt gut zu sein. Ein Buch von Johannes Huber greift dieses Thema auf. Darin wird sinngemäß darauf hingewiesen, dass es sich immer lohnt, etwas in das Humane zu investieren, folglich lohnt es sich eben auch gut zu sein. Am Ende des Tages geht es also nicht nur um Gewinnoptimierung, es lohnt sich durchaus auch das Menschliche auf allen Ebenen mit einzubauen. Die Unternehmer selbst sind uns sehr dankbar, wenn wir sie in diesem Sinne ermutigen und bestärken.

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Um es hier noch einmal zu verdeutlichen und gleichzeitig zu vertiefen, was Sie unter dem neuen Humanismus verstehen: Er soll über das europäische Denken hinaus auch unterschiedliche Wertesysteme anderer Religionen, also auch nicht-christlichen Religionen miteinschließen und vereinen unter Berücksichtigung der Digitalisierung.

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Europa ist schon längst nicht mehr der Mittelpunkt der Welt, weder aus kirchlicher noch aus wirtschaftlicher Perspektive. Es geht nun darum, die Reichtümer und Werte aller Kulturen zu verbinden, völlig unabhängig von Religion oder anderen Unterscheidungskriterien. Es gibt ein gemeinsames Grundwasser der Liebe Gottes, die uns verbindet. Wahrscheinlich müssen wir nur tiefer bohren, um es zu entdecken. Als Christen müssen wir schon auch sagen, dass uns das Grundwasser entgegengekommen ist.

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Was muss denn getan werden, damit die Digitalisierung vorweg einmal dem Wohl der Gesellschaft dient und gleichzeitig die Risiken in den Hintergrund drängt? Einerseits haben wir dazu bereits den Themenkomplex Menschenbild und Bildung beleuchtet, andererseits stellt sich die Frage, welche Aspekte könnten sich noch positiv auf die Gesellschaft auswirken, welche sogenannten äußeren Rahmenbedingungen sind zusätzlich erforderlich, abseits von Bildung und der persönlichen Einstellung zu diesem Thema? Wir haben im Forum Humanismus Wilhering eine erfolgreiche Buchhändlerin im Boot. Ihr Credo ist es, Brücken zu bauen. In diesem Punkt gebe ich ihr völlig Recht. Das Entscheidende ist und bleibt das Brückenbauen zwischen Menschen und ihren unterschiedlichen Meinungen, zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Wenn es darum geht, Mauern in Brücken zu verwandeln, ist die Digitalisierung eine große Hilfe. Selbst wenn es sich jetzt sehr idealistisch anhört, darüber kommen wir nicht hinweg – das ist mein Credo. Nicht die Vielzahl von Kontakten, sondern ihre Qualität ist entscheidend. Dabei dürfen wir die realen Beziehungen und Begegnungen nicht aus den Augen verlieren. Wir kommen zurück zum „et“ in der Regel Benedikts, das eine tun und das andere nicht vergessen.

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Was möchten Sie den Führungskräften in der Wirtschaft denn gerne mitgeben, wie kann jede:r einzelne von ihnen seinen Beitrag leisten, damit das Menschliche im Digitalisierungsprozess auch ausreichend einfließen kann? Also für den wirtschaftstreibenden Christen gilt es zuerst einmal wieder zu lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Wir haben nicht für alles Antworten, auch nicht die Kirche. Demnach ist die Frage selbst gleichzeitig die Antwort. Und sie betrifft nicht nur Vorstandsmitglieder, sondern jede:n einzelne:n von uns: Was sind die wesentlichen Dinge unseres Lebens? Das ist nur eine der brennenden Fragen, der wir im Stift Wilhering versuchen nachzugehen, indem wir uns einfach zusammensetzen und darüber reden. Aber konkrete Rezepte für das einzelne Unternehmen habe ich leider nicht. Aber mit einer Mitgliedschaft im Forum Humanismus wäre ein erster wichtiger Schritt in die richtige Richtung

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getan. Im Zentrum steht der Digitale Humanismus, der einfach viel mehr Mitstreiter:innen braucht.

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Zweifelsfrei war diese extreme interdisziplinäre Zusammenarbeit unterschiedlichster Gruppen unserer Gesellschaft im Rahmen dieser Expedition faszinierend, angefangen von Student:innen und Schauspieler:innen bis hin zu Vorstandsmitgliedern und hohen Vertretern der Kirche. Könnte das eine Vorbildwirkung haben, sodass der Digitale Humanismus auch in anderen Ländern und Regionen verstärkt Fuß fassen kann? Heterogenität beflügelt, Diversität bereichert. Verschiedene Standpunkte ergeben eine gute Mischung. Lassen Sie mich an dieser Stelle Harald Krassnitzer zitieren, der an diesem Expeditionstag gemeint hatte, er sei nicht als Schauspieler hier, sondern als Zuhörer und er werde auch nichts sagen. Wenn wir wieder zu dieser benediktinischen Grundhaltung zurückkommen, einander verstärkt zuhören, aufeinander zu hören und auch gegenseitig gehorchen, schließlich kommt das Wort Gehorsam auch vom Hören, dann werden wir wirklich weiterkommen. Darin liegt die Zukunft. Das sollte das Handwerkszeug des Alltags sein und keine Predigt. Vielen Dank für das interessante Gespräch

Beispiel

Das Forum Humanismus ist ein gemeinnütziges Projekt von Stift und Marktgemeinde Wilhering mit Vertreter:innen der Wirtschaft, der katholischen Universität in Linz und anderen Institutionen. Es ist bewusst eine heterogene Plattform, wo wir uns brennender Menschheitsthemen annehmen und versuchen, gemeinsam neue Lösungen zu finden. Im Zentrum stehen zentrale Fragen wie die Sinnhaftigkeit des Lebens. Der Bildungsprozess, der im Herbst beginnt (21. und 22. September 2023) soll helfen, die richtigen Fragen zu formulieren. Im Brennpunkt des offenen Diskurses steht wie schon im letzten Jahr der Digitale Humanismus und alle Wege, die dorthin führen können.

digital human zentral: (K)ein Widerspruch? „Prima di essere ingegneri voi siete uomini“ – „Bevor ihr Ingenieure seid, seid ihr vor allem Menschen“ Sabine Seidler, Rektorin der TU Wien

Kurzfassung

Der Beitrag diskutiert die Rolle der Technischen Universität Wien (TU Wien) im digitalen Transformationsprozess und die Bedeutung des Digitalen Humanismus. Sabine Seidler betont die Verantwortung der Wissenschaft, die gesellschaftlichen Auswirkungen von Technologieentwicklung zu berücksichtigen. Im Artikel wird darauf eingegangen, dass sich die TU Wien bereits vor über 40 Jahren mit der Wechselwirkung zwischen Technik-Wirtschaft-Gesellschaft auseinandergesetzt hat. Als Ergebnis dieses Prozesses gibt es heute verschiedene Initiativen und Forschungszentren der TU Wien, darunter das Center for Artificial Intelligence and Machine Learning (CAIML), das Cybersecurity Center und der Forschungsbereich Data Science. Besonderes Augenmerk wird auf den UNESCO Chair für Digitalen Humanismus gelegt, der sich mit ethischen und gesellschaftlichen Aspekten digitaler Technologien befasst. Die TU Wien strebt danach, Teil einer besseren Zukunft zu sein und betont die Kommunikation ihrer wissenschaftlichen Arbeit, unter anderem durch die Vienna Gödel Lectures.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 255 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_18

„Die TU Wien ist bestrebt, nicht nur technologische Innovationen voranzutreiben, sondern auch die sozialen Auswirkungen der Digitalisierung zu berücksichtigen. Als Autorin ist es meine Leidenschaft, diese Brücke zwischen Technologie und Gesellschaft zu schlagen und den Digitalen Humanismus zu fördern, um eine bessere Zukunft für alle zu schaffen.“ Sabine Seidler, Rektorin der TU Wien

Fotocredit: msg Plaut

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich persönlich? … bei allem, was man tut, nachzudenken, welche Konsequenzen es für andere haben kann. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethnischer Prinzipien in der digitalen Welt ist? … die Schaffung einer Servicestelle für verantwortungsbewusste Forschungspraktiken, die unseren Wissenschaftler:innen die Möglichkeit gibt, ihre Forschungsprojekte zu reflektieren. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute und in Zukunft wird, welcher wäre das? Schon Kindern zu zeigen, wie wichtig es ist, sich Gedanken zu machen, welche Konsequenzen digitales Tun hat. Was ist das wichtigste Ereignis an der TU Wien, das wesentlich dazu beigetragen hat, dass die TU eine der Geburtsstätten des Digitalen Humanismus ist? Die Entstehung des Wiener Manifestes für Digitalen Humanismus. Was ist die eine Sache, die der TU-Wien helfen würde, die Idee des Digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Die breite Unterstützung durch wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Thema. Was ist Ihr Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen sich mit diesem Thema zu beschäftigen? Ganz bewusst selbst darüber nachzudenken, was man selbst bereits tut, um Technologien, digitale Technologien und digitale Prozesse auf Mitarbeitende und Kunden:innen abzustimmen. Was würden Sie einem Studierendem sagen, um ihn oder sie für dieses Thema zu interessieren und zu begeistern? Frage ChatGPT, was Digitaler Humanismus ist und überlege Dir, ob ChatGPT recht hat. Mein wichtigster Beitrag als Rektorin zur Umsetzung der ethischen Prinzipien in der eigenen Organisation ist … … alle Aktivitäten, die in einem Zusammenhang zum Digitalen Humanismus stehen, zu unterstützen.

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Das Eingangszitat stammt aus der Antrittsvorlesung von Francesco de Sanctis (1817–1883) aus dem Jahr 1856, der als Geistes- und Literaturwissenschaftler die erste Professur für Italienische Literatur (1856–1860) an der ETH Zürich innehatte und wurde zum Leitmotiv der humanistischen (Freifächer-)Abteilung des Züricher Polytechnikums [1]. Bis heute erinnert sie, gemeißelt in eine Steintafel am Hauptgebäude der ETH, daran, dass durch Technik und Erfindergeist vieles erreichbar ist, der Mensch, dessen umfassende Bildung und Handeln dabei jedoch immer im Zentrum der Betrachtungen liegen sollte. So lese ich jedenfalls diese kurze, aber einprägsame Aussage. Zurzeit de Sanctis‘ Lehrtätigkeit war die industrielle Revolution in Europa bereits in vollem Gange und der Einsatz von Maschinen, der Bau von Fabriken und der Ausbau von Industrieanlagen veränderte den Alltag und die Arbeitswelt der Menschen massiv und nachhaltig. Die digitale Transformation wird oftmals als ebensolche Revolution beschrieben und, umgelegt auf das 21. Jahrhundert, stehen wir vor ähnlichen Herausforderungen und müssen die aufkommenden ethischen, technologischen, sozialen und humanistischen Fragen, die ein Transformationsprozess für eine Gesellschaft mit sich bringt, beantworten. Die Rolle der Technischen Universität Wien in diesem disruptiven Transformationsprozess ist einerseits die eines institutionellen Daches, unter dem sich Wissenschaftler:innen durch inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit dem Leitbild „Technik für Menschen“ verschreiben, andererseits aber auch die einer Wissenschaftseinrichtung, die „Technik für Menschen“ über ihren eigenen Fächerkanon hinausdenkt. Die vielfältigen Handlungsebenen der TU Wien sind in ihrem Mission Statement folgendermaßen umrissen: Um den Universitäten ihre spezifischen gesellschaftlichen Aufgaben – wissenschaftliche Forschung und Lehre sowie Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit – zu ermöglichen, muss das hohe Gut der Freiheit von Forschung und Lehre bewahrt und weiter ausgestaltet werden. Dem Humboldt’schen Bildungsideal folgend, versteht sich die TU Wien als eine Einrichtung, die Wissen primär durch Forschung generiert und vermehrt kritisches und eigenständiges Denken fördert. Dabei gilt Partizipation als Grundprinzip des Miteinanders an der TU Wien. Wir steuern in eine Zukunft, in der die Wissenschaft die Verantwortung für die Gestaltung der komplexen, modernen Welt trägt. Die TU Wien beansprucht eine wissenschaftliche und technologische Führungsrolle und positioniert sich als Zukunftsuniversität, mit Lösungen für globale und nationale Probleme wie etwa bei Energieversorgung, Klimawandel, Gesundheit, Infrastruktur, Sicherheit, Mobilität, Wasser, Armut, Bildung oder sozialem Frieden. Die TU Wien beteiligt sich aktiv und verantwortungsvoll an der Gestaltung technischer, wirtschaftlicher, kultureller, sozialer und ökologischer Strukturen. Durch Wissenschaft und Technologieentwicklung stiftet sie Innovation, unternehmerischen wie industriellen Nutzen und kulturellen Mehrwert für die Gesellschaft. Die TU Wien verbindet wissenschaftliche, sozioökonomische sowie künstlerische Qualität zu einem inklusiven Verständnis von Exzellenz. Als technische Universität hat die TU Wien die besten Voraussetzungen, ihre Rolle als innovative Treiberin der digitalen Transformation innerhalb der Gesellschaft weiter auszubauen.[2] An der TU Wien wird seit mehr als 200 Jahren geforscht, gelehrt und gelernt. Im naturwissenschaftlich-technischen Bereich sind wir heute mit rund 26.000 Studierenden und

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5.600 Mitarbeitenden Österreichs größte Forschungs- und Bildungsinstitution. Wir verstehen diese drei beispielhaften Zahlen als Auftrag, uns den Herausforderungen einer Zeit zu stellen, die aktuell stark vom digitalen Wandel geprägt ist. Wiewohl Digitalisierung und fortschreitende Vernetzung bereits heute zum Teil unseres täglichen Lebens geworden sind, stehen wir erst am Anfang eines Prozesses, den wir in seiner ganzen Tragweite noch nicht wirklich ermessen. Was wir aber können ist, diese Veränderung forschend und bildend nicht nur zu begleiten, sondern zu gestalten. Es liegt in unserer Verantwortung als Wissenschaftler:innen sicherzustellen, dass im technologischen Entwicklungsprozess die Konsequenzen für die Gesellschaft bereits berücksichtigt werden.

Technik und Gesellschaft Die Beschäftigung mit Technikbewertung und -folgenabschätzung ist für die Technische Universität Wien nicht neu. Induziert durch eine vorherrschende, nationale Technikskepsis in den 1970er Jahren, gegen die wir bis heute ankämpfen, und einem auch daraus resultierenden Stimmverhalten bei der Volksabstimmung über die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes Zwentendorf 1978, wurde an der TU Wien der Nährboden für die Auseinandersetzung mit der Technisierung unserer Welt und deren Folgen, bereitet. 1982 unterzeichneten die Technische Universität Wien und die Vereinigung Österreichischer Industrieller (heute Industriellenvereinigung) auf Basis des Universitäts-Organisationsgesetzes (UOG) 1975 eine „Vereinbarung zur Gründung eines Forschungsinstitutes ‚Technik und Gesellschaft‘ an der TU Wien“ [3]. In der Präambel des Vertrages ist die Motivation hinter dieser Pionierarbeit beschrieben und sofort werden Parallelitäten zur aktuellen Debatte über die Gefahren und Chancen beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz offensichtlich: „Zielten Vor- und Anwürfe zum Teil auf ein ‚Ende der Technik‘, so richtet sich nun eine ruhigere, verantwortungsbewusste Diskussion auf deren ‚Wende‘ zu einer neuen Qualität gegenüber unbeschränkter Quantität zur Verhütung und Behebung von Schäden. Es muss das gemeinsame Anliegen von Wissenschaft, Lehre und Forschung, wie angewandter Technik in den Industrieunternehmungen, wie der politisch Verantwortlichen sein, diese neuen Strukturelemente zu erkennen und zu fördern.“ Im darauffolgenden Gründungsbericht des „Forschungsinstituts für Technik und Gesellschaft“ (1983/84) [4] wurde festgehalten, dass „… der Gründungszweck dieses Institutes in der besonderen Beachtung und Erforschung der Wechselwirkungen von Technik–Wirtschaft–Gesellschaft in technischen Studien für Lehre und Praxis festgelegt“ ist. Und es heißt weiter: „Um diesen Aufgabenstellungen nachzukommen, wurde im Vertrag u. a. auch zum Ausdruck gebracht, dass die Forschungstätigkeit des Institutes auf breitester Ebene sämtliche Implikationen des naturwissenschaftlich-technischen Innovationsprozesses in bisheriger Entwicklung, sowie auch in künftigen Auswirkungen zu behandeln und dessen Wechselwirkungen mit der Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft zu untersuchen habe“. Die Verantwortung für das eigene Tun drang also immer weiter ins Bewusstsein der technischen Wissenschaften vor und gleichzeitig unterstreicht und bedingt Freiheit diese Verantwortung. Das gilt insbesondere für die Wissenschaft und ihre Institutionen. Auf der

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einen Seite ist die Freiheit der Wissenschaften und ihrer Lehre in Österreich ein hohes Gut, geschützt durch Art. 17 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger:innen und durch das Universitätsgesetz 2002. Auf der anderen Seite wird in den letzten Jahren der Ruf nach mehr Verantwortung in der Forschung und ethisch gebotenen Freiheitseinschränkungen immer lauter. An der TU Wien nehmen wir diese Thematik besonders ernst. Schließlich birgt die Entwicklung von Technologien ein großes, die Gesellschaft veränderndes Potenzial. Technik macht etwas mit dieser Welt und die Geschichte der Technik hat uns gelehrt, dass der Mensch und unsere Gesellschaft dadurch auch Schaden nehmen können. Selbst wenn Technik „für“ Menschen konzipiert ist, kann sie „gegen“ Menschen verwendet werden. Uns dessen bewusst zu sein, ist Teil unserer Verantwortung.

„Dieses Manifest ist ein Aufruf zum Denken und Handeln“ [5] Als Gesellschaft befinden wir uns momentan insgesamt in einer Entwicklungsphase, in der Verantwortung im Umgang mit Wissen stärker adressiert wird. Das ist einer der Gründe, warum die Zeit reif war für das „Wiener Manifest für Digitalen Humanismus“ [6]. Hannes Werthner, emeritierter Professor für E-Commerce und ehemaliger Dekan der Fakultät für Informatik an der Technischen Universität Wien, gilt als einer der Väter und ist Mitautor des Manifests. In der Publikation „Perspectives on Digital Humanism“ [7] beschreiben die Autoren die Geburt des Manifests „Information Technology and its artifacts act as the operating system of our life, and it is hard to distinguish between the real and the virtual. We cannot imagine a world without it, and—besides running the world—it contributes and will continue to contribute to solving important problems. However, this comes also with interconnected shortcomings, and in some cases, it even puts into question the sovereignty of states. Other critical problems are echo chambers and fake news, the questioned role of humans in AI and decision-making, the increasingly pressing privacy concerns, and the future of work. This ‚double face‘ is why we started the Digital Humanism initiative, with a first workshop in April 2019 in Vienna. Over 100 attendees from academia, government, industry, and civil society participated in this lively 2-day workshop. … The major outcome was the Vienna Manifesto on Digital Humanism, now available in seven languages, which lays down the core principles of our initiative.“ Die Arbeit im Digitalen Humanismus konzentriert sich sehr stark darauf, was die Digitalisierung in der Gesellschaft bewirkt. Das macht das Manifest so wertvoll, weil es stark in die Wissenschaft hineinwirkt und eine Ermahnung an uns selbst als Techniker:innen und Forscher:innen ist. Gleichzeitig ist es eine Handlungsanleitung für interdisziplinäres Arbeiten und adressiert das Hemmnis der Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen, sprich die Notwendigkeit und den Willen zum Erlernen einer gemeinsamen Sprache. Um dies zu ermöglichen, müssen Plattformen geschaffen werden, die Techniker:innen, Naturwissenschaftler:innen, Geistes- und Sozialwissenschaftler:innen, Jurist:innen usw. den Nährboden für die Entwicklung gemeinsamer wissenschaftlicher Ansätze bieten. Eine solche Plattform ist das an der TU Wien verankerte Center for Technology & Society (CTS), eine interhochschulische und interfakultäre Kooperationsplattform aus Universitäten und Fachhochschulen: der Technischen Universität Wien (TU Wien), der Universität Wien, der FH Campus

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Wien und der FH Technikum Wien. Das Ziel des CTS besteht darin, Wissenschaftler:innen zu vernetzen und dadurch die interhochschulische Zusammenarbeit in Forschung, Lehre und damit verbunden, den Austausch mit Gesellschaft und Wirtschaft, zu fördern. Letzteres umfasst Wissens- und Technologietransfer ebenso wie die Unterstützung von Weiterbildung und lebensbegleitendem Lernen. Im CTS werden „inter- und transdisziplinäre Kooperationen zu Fragestellungen technischer und gesellschaftsrelevanter Herausforderungen, die digitale Transformation ebenso adressiert wie die Klimakrise, der demographische Wandel u. v. m., auch unter Einbeziehung von nicht-akademischen Beteiligten. Diese Forschungsfragen betreffen die Nahtstelle von Technologieentwicklung und sozialer Verantwortung. Forschende, Studierende und andere Akteur:innen, die an Kooperation, Innovation und verschränkter Forschung interessiert sind, werden durch Netzwerkkompetenz, Koordinationsarbeit, partizipative Ansätze und kritische Denkweisen unterstützt.“ [8]

Technik und Freiheit Die digitale Transformation bringt einen gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch mit sich. Dementsprechend sprechen digitale Technologien direkt auch die gesellschaftliche Verantwortung der Universität an, geht es doch im Kern darum, Technologien so zu entwickeln, dass sie zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen, ohne neue Probleme zu schaffen. Das bedingt völlig neue Forschungsansätze, die bereits bei der Formulierung der Forschungsfrage die Überlegungen des Digitalen Humanismus einbeziehen. In diesem Sinn baut die TU Wien auf klare Rahmensetzungen und konstruktive, partizipative Zusammenarbeit aller Angehörigen und ihrer Kooperationspartner:innen, um ein tragfähiges, institutionelles Gesamtgefüge sicherzustellen und so die erfolgreiche und nachhaltige Umsetzung der digitalen Transformation sowie deren kontinuierliche Weiterentwicklung voranzutreiben.

Center for Artificial Intelligence and Machine Learning (CAIML) Inmitten dieses Transformationsprozesses, der auf der technologischen Ebene immer wieder einer Revolution gleichkommt, bestimmen Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen zunehmend unseren Alltag und dies auf eine Weise, die uns oft gar nicht bewusst ist. Computeralgorithmen schlagen uns Videos vor, die uns gefallen könnten, sie helfen uns im Auto, den richtigen Weg zu finden, und auch aus der wissenschaftlichen Forschung sind Künstliche Intelligenz (Artificial Intelligence, AI) und Maschinelles Lernen (Machine Learning, ML) nicht mehr wegzudenken. Im Dezember 2022 wurde an der TU Wien das „Center for Artificial Intelligence and Machine Learning“ (CAIML) [9] eröffnet. Seit Jahren wird an der TU Wien an KI und ML intensiv und mit großem Erfolg geforscht – und zwar an verschiedenen Instituten und Fakultäten, mit unterschiedlichen Methoden und Zielsetzungen. Das CAIML hat sich zur Aufgabe gemacht, diese Forschungsinitiativen zu stärken, zu vernetzen und zusammenzuführen. Die Ziele hierbei sind ambitioniert: Die TUW-Forscher:innen wollen damit die TU Wien sowohl in der Forschung als auch in der

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Lehre an bzw. in AI und ML im internationalen Spitzenfeld verankern. Vergleichbare Initiativen haben das MIT und die Stanford University gestartet. Das Zentrum besteht aus drei thematischen Säulen: (1) Methoden der symbolischen KI, (2) Methoden des maschinellen Lernens, und (3) erklärbare KI und KI-Aspekte im Kontext des Digitalen Humanismus. Der Vorstand des CAIML besteht aus zwölf international renommierten Forschenden der Fakultäten für Informatik und Mathematik und Geoinformation der TU Wien und das CAIML wächst. Interest Groups aus den Fakultäten für Maschinenwesen und Betriebswissenschaften, Bau- und Umweltingenieurwesen sowie Architektur und Raumplanung haben sich bereits gefunden und in naher Zukunft werden mit Sicherheit andere Fakultäten ebenfalls andocken. Damit werden die durch die Informatik und Mathematik stark theoretisch ausgeprägten Säulen um wesentliche Forschungsfragen aus den Ingenieurwissenschaften ergänzt und folglich wird dadurch gewissermaßen Forschungswertschöpfung betrieben.

Interfakultäres Kooperationszentrum „Cybersecurity Center“ [10] Cybersicherheit (Cybersecurity) umfasst Sicherheit, Schutz der Privatsphäre, Rechenschaftspflicht, Vertrauen, Fairness und andere Bürgerrechte, die die Eckpfeiler einer digitalen Gesellschaft sind. Die gesellschaftliche und industrielle Relevanz der Cybersicherheit zeigt sich unter anderem in der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die den Grundsatz des „Security and Privacy by Design“ vorschreibt, d. h. der Stand der Technik in Bezug auf Sicherheit und Datenschutz muss bereits in der frühen Entwurfsphase in digitale Technologien integriert werden. Cybersecurity selbst ist ein inhärent interdisziplinäres Forschungsfeld, das alle Disziplinen der Informatik und darüber hinaus auch andere Bereiche wie Elektrotechnik (Netzwerke, Hardware, Roboter), Physik (Quantencomputing und Kryptographie), Mathematik (Statistik und Data Science) und Recht umfasst. Seine zunehmende Bedeutung lässt sich anhand folgender Beispiele unterstreichen: • die gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Hacker- und Cyberangriffen in Friedens- und Kriegszeiten, • die Nachfrage nach Lösungen zum Schutz kritischer Infrastrukturen und cyber-physischer Systeme, die durch globale Konflikte, die Energiekrise und klimatische Herausforderungen noch verstärkt wird sowie • die wachsende Rolle von Kryptowährungen in der internationalen Wirtschaft und • die Bedeutung von Fairness und Robustheit in KI-gesteuerten Systemen. Diesen Herausforderungen steht ein eklatanter Mangel an Expert:innen auf diesem Gebiet gegenüber. Die TU Wien verfügt über eine starke Expertise in diesem Bereich, die in der Grundlagenforschung in der Anzahl prestigeträchtiger Grants (z. B.: 6 ERC Grants und 2 WWTF Nachwuchsgruppen) und Großprojekten (z. B.: 3 Christian Doppler Labs und 1 FWF Spezialforschungsprogramm), im Wissens- und Technologietransfer in der aktiven Beteiligung – die TU Wien war Gründungsmitglied am Comet-Zentrum Secure Business Austria (SBA) [11] – und in der Lehre in speziellen Bachelor-, Master- und Doktoratsstudien belegt ist. Das TU Wien Cybersecurity Center bündelt darüber hinaus vorhandene fakultätsübergreifende Expertise und Initiativen und baut diese aus, um die TU Wien als

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international führendes Exzellenzzentrum für Forschung, Lehre und gesellschaftliche Ausstrahlung im Bereich Cybersecurity zu etablieren.

Data Intelligence, Data Science „Data ist the new oil“ war 2017 im Economist zu lesen. Die rasante Entwicklung der vergangenen Jahre im Bereich AI und ML unterstreichen diese Aussage. Was liegt also näher, als auch dieses Fachgebiet wissenschaftlich zu bearbeiten? Als Stiftungsprofessur Data Intelligence [12] im Jahr 2017 gestartet, ist das Forschungsgebiet längst in einen eigenen Forschungsbereich Data Science überführt worden, dessen Mitarbeitende künftigen Data Scientists das Rüstzeug für die Digitale Transformation mit auf den Weg geben. Im Forschungsbereich wird daran gearbeitet, Daten für die spezifischen Anforderungen von Unternehmen durch Analyse nutzbar zu machen. Damit werden in einem strategischen Kernkompetenzfeld der Zukunft Theorie und Praxis verknüpft. Auch der Forschungsbereich Data Science bekennt sich in seiner Arbeit zu den Prinzipien, die im Wiener Manifest des Digitalen Humanismus niedergeschrieben sind: Die Verwendung von Daten transparent zu machen hat dabei oberste Priorität, um kontroverseren Phänomen wie Fake News, Micro-Targeting und Filterblasen entgegenzutreten. Gemeinsam mit den Unternehmenspartnern Preisvergleich Internet Services AG, Falter-Verlagsgesellschaft-GmbH und YKMB Software GmbH werden im zugehörigen Christian Doppler Labor für „Weiterentwicklung des State-of-the-Art von Recommender-Systemen in mehreren Domänen“ [13] an der Schnittstelle zwischen Forschung und Anwendung neue Wege erforscht, die digitale Welt diverser zu machen. Der nächste Schritt ist die Schaffung der Professur „Complexity Science for Societal Good“, die die vorhandene Expertise um sozial verantwortliche Data Science ergänzt.

UNESCO Chair für Digitalen Humanismus An der TUW stehen in Forschung und Lehre ethische Fragen bei der Entwicklung digitaler Technologie im Vordergrund. „Technologie bietet enorme Chancen für die menschliche Entwicklung“, sagt Chair Peter Knees, „aber nur, wenn Würde und Freiheit jedes Menschen respektiert werden. Mit dem Chair wollen wir wissenschaftliche Grundlagen für sinnvolle Regulierungen schaffen und die IT-Expert:innen von morgen mit einem interdisziplinären Mindset ausbilden.“ Am 15. Mai 2023 wurde der UNESCO Chair für Digitalen Humanismus [14] an der Fakultät für Informatik der Technischen Universität Wien zusammen mit BMBWF, BMK, BMEIA und der Stadt Wien inauguriert. Damit erhält die erste Informatik-Fakultät in Österreich einen UNESCO Chair. Der Lehrstuhl soll den Fokus auf die ethischen, sozialen und politischen Auswirkungen von digitalen Technologien legen. Wie bereits festgestellt, KI-Technologien sind auf dem Vormarsch und beeinflussen unseren Alltag schon jetzt in vielen Bereichen. Wir als Universität müssen sicherstellen, dass diese technologiegetriebenen Veränderungen mit gesellschaftlichen Spielregeln und Werten kompatibel sind. Der Chair für

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Digitalen Humanismus wird dazu beitragen, dass wir diese Transformation auf ethisch verantwortungsvolle Weise mitgestalten. Der Lehrstuhl wird von Peter Knees (Chair) und Julia Neidhardt (Co-Chair) geleitet, die sich seit mehreren Jahren Forschungsfragen des Digitalen Humanismus widmen, und fungiert als Knotenpunkt für Forschungszusammenarbeit. Aktivitäten mit Partneruniversitäten, insbesondere im globalen Süden, der internationalen Digital Humanism Initiative und dem fakultätsübergreifenden Zentrum für Künstliche Intelligenz und Maschinelles Lernen (CAIML) werden verknüpft. Darüber hinaus wird das Team Lehrpläne und Forschungsrichtlinien entwickeln, unter anderem anhand der UNESCO-Empfehlungen zur KI-Ethik [15]. In allen Bachelor-Curricula der TU Wien ist die Lehrveranstaltung (LVA) „Technik für Menschen“ verpflichtend verankert. Anhand von verschiedensten Beispielen aus allen Fakultäten werden Auswirkungen von Technologien auf Menschen bzw. die Gesellschaft generell aufgezeigt und diskutiert. Die in der Lehrveranstaltung betrachteten Technologien werden nach Aktualität und Relevanz ausgewählt und dienen dazu, ihre Auswirkungen auf Menschen und Gesellschaft greifbar zu machen. Besonders werden in dieser Lehrveranstaltung ethische Aspekte und Gender in den Blick genommen. Studierende sind nach Abschluss dieser LVA, die mit 3 ECTS bewertet ist, in der Lage soziale, ethische und gesellschaftliche Auswirkungen von Technologien aufzuzeigen und kritisch über diese zu reflektieren. Sie sind mit verschiedenen Thematiken aus ihren Fakultäten im Bereich Technik und Gesellschaft vertraut. Speziell in den Bachelor- und Masterstudien der Informatik sind in den Studienplänen soziale und kulturelle Aspekte der Interaktion mit digitaler Technologie, Verantwortung und Ethik, Verhaltensregeln, code of conducts oder der Begriff Freiheit der Forschung in die Lehrinhalte integriert. Nach Studienabschluss ist das Lernen jedoch nicht beendet. Big Data und digitale Technologien wie KI, Blockchain, Internet der Dinge (IoT) und Robotik haben weitreichende Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt. Durch diese Technologien verändert sich der Wettbewerb dramatisch. Er ist nicht nur globaler geworden, sondern hat auch an Intensität zugenommen. Große, informationsreiche Unternehmen beginnen den Markt zu dominieren. Marktgrenzen verschwimmen, Rollen ändern sich, Kund:innen werden zu Co-Produzent:innen, Konkurrent:innen werden zu Kollaborateuren. Als Reaktion auf diese Herausforderungen, führten viele Unternehmen neue digitale Technologien ein und optimierten Geschäftsprozesse. Eine bloße Digitalisierung reicht jedoch nicht aus, um diese Eruptionen zu bewältigen. Nur ein digitaler Transformationsprozess ordnet Abläufe und Geschäftslogiken neu und dafür ist gutes Management unerlässlich. Die TU Wien sorgt in diesem Zusammenhang für zeitgemäße Weiterbildungsangebote und etablierte den Executive Master of Business Administration (EMBA) in Management & Technology | Digital Transformation & Change Management [16].

Wien und Welt Die Stadt Wien greift den Ansatz der zentralen Stellung des Menschen im digitalen Transformationsprozess in einem Maßnahmenplan [17] auf, damit negative Auswirkungen digitaler Technologien auf das Individuum und die Gesellschaft vermieden werden. In einer von

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der Stadt Wien im Jahr 2019 durchgeführten Studie „Akteure, Instrumente und Themen für eine Digital Humanism Initiative in Wien“ [18] sind für Wien Aktionsfelder, vorhandene Akteur:innen und Initiativen sowie Programme und Instrumente dargestellt, die konsequent schrittweise gemeinsam am Standort umgesetzt werden. So bereitet die lebenswerteste Stadt der Welt durch Forschungsförderungsprogramme des Wiener Wissenschafts- und Technologie Fonds (WWTF) das Feld für eine neue Generation von Forschenden im Bereich Digitaler Humanismus. Im Rahmen des universitätsübergreifenden Doktoratskollegs „Digitaler Humanismus“ soll ab Herbst 2024 dem wissenschaftlichen Nachwuchs interdisziplinäre Spitzenforschung ermöglicht werden. Es werden junge Wissenschaftler:innen ausgebildet, die disziplinenübergreifend forschen können. Doktorand:innen, aus der Informatik kommend, brauchen für die verantwortungsvolle Technikentwicklung ein wissenschaftlich fundiertes Verständnis zu rechtlichen, psychologischen, ökonomischen, soziologischen und gesellschaftlichen Aspekten der Digitalisierung. Umgekehrt sollen die Studierenden aus den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften für ihre Forschungsfragen davon profitieren, dass sie die Logik und Modelle der digitalen Technik verstehen. Wenn also die TU Wien mit ihren zugehörigen Wissenschaftler:innen und Forschenden den Anspruch stellt, Teil einer gemeinsamen, besseren Zukunft zu sein, sind alle aufgefordert, neben fachlicher Kompetenz auch Kreativität und Weltoffenheit unter Beweis zu stellen. In einer Gesellschaft, die sich mit jedem Tag mehr vernetzt und komplexer wird, ist kein Platz für wissenschaftliche Elfenbeintürme. Die Zeichen stehen vielmehr auf Kommunikation. Was an der TU Wien täglich erarbeitet wird, gilt es auch verständlich zu kommunizieren und begreifbar zu machen. Dazu dienen beispielsweise öffentliche Vorträge.

Vienna Gödel Lectures [19] Diese Vortragsreihe holt seit 2013 Informatik-Wissenschaftler:innen von Weltrang zu öffentlichen Vorträgen an die TU Wien und betont dadurch den Beitrag der Informatik als Wissenschaft zur Erklärung und Gestaltung unserer Welt. Die Serie ist nach dem Mathematiker und Logiker Kurt Gödel benannt, der einen großen Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit in Wien leistete. In der Auflage 2021 erklärte Moshe Y. Vardi in der Vorlesung mit dem Titel „Technology is Driving the Future, But Who Is Steering? From the Vienna Circle to Digital Humanism“ [20], warum die ethische Brille zu eng ist, wenn es um die Auswirkungen der Technologie auf die Gesellschaft geht: Die Vorteile der Computertechnik liegen auf der Hand. Sie bringt enorme gesellschaftliche Vorteile mit sich, aber Datenverarbeitung ist kein Spiel. Sie ist real und bringt nicht nur gesellschaftliche Vorteile, sondern evoziert auch erhebliche gesellschaftliche Kosten, wie z. B. die Polarisierung der Arbeit, Desinformation und Smartphone-Sucht. Die gängige Reaktion auf diese Krise besteht darin, sie als „ethische Krise“ zu bezeichnen, und die vorgeschlagene Antwort darauf ist die Aufnahme von Ethikkursen in den akademischen Lehrplan für die Informatik. Vardi argumentierte in seinem Vortrag [21], dass der Blickwinkel auf den Umgang mit den Auswirkungen der Technologie auf die Gesellschaft zu richten ist und zeigte auf, wie diese

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Fragen mit dem Wiener Kreis und dem Wiener Manifest zum Digitalen Humanismus zusammenhängen.

[DigHum] Lecture Series Einen wichtigen Beitrag zur Verbreitung der Inhalte des Wiener Manifests zum Digitalen Humanismus leistet die gleichnamige Lecture Series, die auf einem eigenen „Youtube-Kanal Digital Humanism“ [22] nachzuschauen ist. Die Videos beschreiben und analysieren das komplexe Zusammenspiel von Technologie und Mensch für eine bessere Gesellschaft und ein besseres Leben. Sie zeigen die noch nie da gewesenen Möglichkeiten, die Digitalisierung eröffnet, ebenso wie die damit einhergehenden Risiken und Herausforderungen: Die Monopolisierung des Internets, die Zunahme extremistischer Meinungen, die durch soziale Medien orchestriert werden, die Bildung von Filterblasen und Echokammern als Inseln unzusammenhängender Wahrheiten, der Verlust der Privatsphäre, ethische Fragen in Bezug auf KI und die Ausbreitung der digitalen Überwachung. Wir als verantwortungsbewusste, aufgeklärte Universitätsangehörige sind verpflichtet, alles in unserer Kraft Stehende zu tun, der Gesellschaft digitale Technologien zur Verfügung zu stellen, die ihrem Wohl und Fortkommen dienen und vorhandene Technologien unter diesem Aspekt kritisch zu hinterfragen. Das ist Digitaler Humanismus.

Literatur 1. https://etheritage.ethz.ch/2013/06/14/prima-di-essere-ingegneri-voi-siete-uomini-bevor-ihringenieure-seid-seid-ihr-vor-allem-menschen/ (14. Juni 2013, Monica Bussmann) 2. https://www.tuwien.at/tu-wien/ueber-die-tuw/mission-statement 3. TU Wien Archiv [TUWA], Bestand „Institut Technik und Gesellschaft“, Vereinbarung TU Wien und Vereinigung Österreichischer Industrieller, GZl.: 1101/82, Seite 2ff 4. TU Wien Archiv [TUWA], Bestand „Institut Technik und Gesellschaft“, Gründungs- und Tätigkeitsbericht des Forschungsinstituts für Technik und Gesellschaft (FTG) 1983/1984 5. https://dighum.ec.tuwien.ac.at/wp-content/uploads/2019/07/Vienna_Manifesto_on_Digital_ Humanism_DE.pdf, Mai 2019, Seite 1 6. https://dighum.ec.tuwien.ac.at/wp-content/uploads/2019/07/Vienna_Manifesto_on_Digital_ Humanism_DE.pdf 7. Perspectives on Digital Humanism, Werthner, Prem, Lee, Ghezzi, 2022, https://doi.org/10.1007/9783-030-86144-5 8. https://cts.wien/ 9. https://www.tuwien.at/tu-wien/aktuelles/news/news/tu-wien-gruendet-zentrum-fuer-ai-undmachine-learning 10. https://www.tuwien.at/forschung/tuw-interne-foerdermoeglichkeiten/tu-kooperationszentren 11. https://www.sba-research.org/about/ 12. https://www.tuwien.at/tu-wien/aktuelles/news/news/die-zukunft-ist-data-driven-professor-allanhanbury-uebernimmt-neue-stiftungsprofessur-data-intel 13. CD-Labor für Weiterentwicklung des State-of-the-Art von Recommender-Systemen in mehreren Domänen – Christian-Doppler-Gesellschaft: Christian Doppler Forschungsgesellschaft (cdg.ac.at)

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14. https://www.tuwien.at/tu-wien/aktuelles/news/news/unesco-verleiht-chair-fuer-digitalenhumanismus-an-tu-wien 15. https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000381137 16. https://www.tuwien.at/ace/mba-programme/digital-transformation-change-management 17. https://www.wien.gv.at/forschung/wissenschaft/digitaler-humanismus-broschuere.html 18. https://gmbh.wwtf.at/upload/digital-humanism-wien.pdf 19. https://informatics.tuwien.ac.at/vienna-goedel-lectures/ 20. https://www.tuwien.at/tu-wien/aktuelles/veranstaltungskalender/news/idx-10458 21. https://www.youtube.com/watch?v=fL93WT3vy-0 22. https://www.youtube.com/@DigitalHumanism

Digitaler Humanismus – by Design Der digitale Humanismus als Leitprinzip für Lehre, Forschung und Unternehmen Sylvia Geyer, Fachhochschule Technikum Wien

Kurzfassung

Sylvia Geyer setzt sich in ihrem Beitrag mit der Frage auseinander, wie der Digitale Humanismus Bestandteil der Hochschullehre werden kann und geht darauf ein, welche Schritte das FH Technikum diesbezüglich bereits gesetzt hat bzw. plant. Zentraler Punkt dieser Bemühungen ist es, ein umfassendes, interdisziplinäres Verständnis der digitalen Transformation zu vermitteln. Sie beschreibt, wie es gelingen kann, Digitalisierung mit Soziologie, Ethik und Grundzügen der Philosophie zu verknüpfen. Dabei soll es gelingen, Akademiker:innen zu befähigen, komplexe Probleme nicht nur zu lösen, sondern auch deren Auswirkungen auf die Gesellschaft zu bewerten. Sie führt aus, welche Dimensionen bei dieser Bewertung von höchster Relevanz sind und folgert daraus, dass die Gestaltung von Curricula, die die Prinzipien des Digitalen Humanismus reflektieren, ein dementsprechendes Design benötigt. Im Folgenden stellt Sylvia Geyer die erforderlichen Designprinzipien vor und geht auch auf die entsprechenden geänderten Anforderungen an die Forschung ein. Abschließend werden die Ableitungen für Unternehmen und Politik erörtert.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 269 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_19

Fotocredit: Felixfoto

„Der Digitale Humanismus ist ein lebendiger Prozess, den wir täglich als Gesellschaft gestalten und anpassen müssen, um den sich wandelnden Bedürfnissen und Herausforderungen gerecht zu werden.“ Sylvia Geyer, Rektorin FH Technikum Wien

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S. Geyer

Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich…. Platz für die Vielfalt der Menschen zu haben. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist (egal ob privat oder beruflich) …. Digitale Lernangebote. Sie helfen dabei unterschiedlichste Herausforderungen zu überwinden und steigern damit die Teilhabe an Bildung. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird/ bleibt, welcher wäre das? Mein Wunsch wäre, dass die Wissenschafts- und Technologieskepsis in Bildungshunger und Lust am Diskurs übergeht. Welches ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische/ europäische Politik? Entscheidungen über die Zukunft, die Freiheit, die Rechte der Menschen müssen letztverantwortlich von Menschen getroffen werden. Was ist die eine Sache, die unserer Organisation am meisten helfen würde, die Ideen des digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Die politische Unterstützung, die damit einhergehende Awareness für das Thema und korrespondierende Förderschienen. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit dem Thema zu beschäftigen? Investieren Sie in Know-how zu dem Thema und/oder vernetzen Sie sich mit Unternehmen, die bereits mehr Erfahrung damit haben, und verschaffen Sie sich einen Überblick über die momentan brachliegenden Potenziale in Ihrem Unternehmen Was würden Sie einem Studierenden sagen, um ihn/sie für das Thema zu interessieren/ zu begeistern? Technik ist nie Selbstzweck! Wenn Sie Lösungen erzeugen möchten, die wirklich erfolgreich sind und die faszinieren, dann müssen Sie bei den Menschen und deren Anforderungen an Funktionalität, aber auch an Sicherheit und Ethik beginnen. Mein wichtigster Beitrag als Rektorin zur Umsetzung der ethischen Prinzipien an unserer FH ist…. Die im Leitbild verankerten Prinzipien der Vielfalt in Forschung und Lehre, der Verantwortung für Gesellschaft, Umwelt und natürlich gegenüber unseren Mitarbeiter:innen und Studierenden, sowie die in unserer Satzung referenzierten Richtlinien für Gute Wissenschaftliche Praxis, Integrität und Ethik in der Wissenschaft schaffen den Rahmen für ein respektvolles Miteinander.

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Die Digitalisierung und die daraus entstehende digitale Revolution haben eine Dynamik von disruptiven Innovationen ins Leben gerufen, für die das World Wide Web den Grundstein legte. Anwender:innen weltweit erkannten blitzschnell die Potenziale, die diese technologische Neuerung bot, und genossen die damit verbundenen Vorteile von Kosteneinsparungen und gesteigerter Effizienz, was wiederum eine Welle weiterer Innovationen auslöste. Innovation impliziert Kreativität, das Erschaffen von Neuem und das Ausweiten oder sogar Überschreiten von Grenzen. Hierbei taucht eine zentrale Frage auf: Dürfen wir alles tun, was technisch möglich ist? Zu Beginn der Digitalisierung waren es technische Kapazitäten, die den Handlungsrahmen begrenzten. Heute jedoch scheinen technische Barrieren beinahe irrelevant geworden zu sein. Wir erzeugen nicht nur täglich einen Datenstrom, dieser wird zudem gespeichert und – zumindest teilweise – analysiert. Viele Menschen sehen die Auswertung ihrer Daten als unbedenklich an, da ihre Aktivitäten und ihr Alltag weder illegal noch besonders faszinierend seien. Doch lassen Sie uns ein Gedankenexperiment durchführen: Was wäre, wenn aufgrund Ihrer Aktivitäten sämtliche Informationen und Nachrichten personalisiert würden? Was, wenn Ihr Fahrzeug kontinuierlich durch Telemetrie überwacht würde, Supermarktpreise dynamisch an Ihr Kaufverhalten angepasst würden oder Ihre Krankenversicherungsprämie auf Basis einer aus Ihrer DNA gewonnenen Krankheitswahrscheinlichkeit berechnet würde? All dies ist technisch umsetzbar. Daher kehren wir zu unserer Anfangsfrage zurück: Sollten wir technisch alles erlauben, was möglich ist? Die Schwierigkeit liegt darin, dass die Suche nach neuen Lösungen technische Möglichkeiten schafft, deren Auswirkungen auf den Menschen kontinuierlich neu bewertet werden müssen. Die Digitalisierung durchzieht sämtliche Aspekte unseres Lebens und übt damit einen allgegenwärtigen Einfluss aus. Wir alle nutzen die Digitalisierung, doch die Konsequenzen sind uns oft nicht bekannt oder nicht bewusst. Hier entwickelt sich die Aufgabe einer Hochschule in besonderem Maße, genau dieses Thema in den Fokus zu rücken. Es geht nicht darum, wissenschaftliche Neugierde zu beschränken, sondern darum, Lösungsansätze mit existenter Technologie aus einer ethischen Perspektive zu betrachten. Die Rechte und die Würde des Menschen sollen achtsam in den Prozess der Lösungserarbeitung einbezogen werden. Daher obliegt es einer technischen Hochschule, die Frage zu erörtern, wie digitaler Humanismus ein Bestandteil der Hochschullehre werden kann.

Digitaler Humanismus – die Ausgangslage Angefangen bei der ernsthaften Auseinandersetzung mit der Bedrohung, die eine Entkoppelung von Technologie und Menschheit darstellt, bis hin zur konsequenten Einbeziehung der sozialen, ethischen und rechtlichen Konsequenzen der Digitalisierung in den Diskurs, sollte deren Einfluss auf Demokratie und Inklusion im Blick behalten werden. Digitalisierung und Technik dürfen dabei nicht als Selbstzweck betrachtet werden, sondern die Menschen und der für sie generierte Mehrwert müssen stets im Zentrum stehen. In einem technischen Studiengang bedeutet dies, dass dieser Prozess in aktiver Zusammenarbeit mit den Studierenden gelebt wird. Der Nutzen dieses Ansatzes besteht darin, dass das aus ver-

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schiedenen Blickwinkeln betrachtete und hinsichtlich Inklusion analysierte Produkt eine höhere Validität aufweist. Daher fördert die Untersuchung einer Lösung aus der Perspektive des digitalen Humanismus ein umfassendes Verständnis der digitalen Transformation. Um die oben skizzierte Diskussion führen zu können, benötigt man fundierte Kenntnisse in den relevanten Fachgebieten. Diese reichen von den Grundlagen der Digitalisierung und des User Experience Design bis hin zur Soziologie, Ethik und Grundzügen der Philosophie, die miteinander verknüpft werden. Die Vermittlung von Kompetenzen für einen Diskurs an dieser Schnittstelle erfordert nicht nur grundlegende Kenntnisse in diesen Bereichen, sondern vor allem das Verständnis für die interdisziplinären Zusammenhänge. Damit Studierende darauf vorbereitet werden, komplexe ethische Fragen zu betrachten, müssen sie zunächst für diese Aspekte sensibilisiert werden. Ihr Bewusstsein für digitalen Humanismus, seine Wurzeln und Ziele bildet die Grundlage, um bei der Lösungssuche explizit und systematisch auf die Wahrung der Menschenrechte und der menschlichen Würde zu achten. Ein Studium, das sich am Leitbild des digitalen Humanismus orientiert, verlangt vermehrt demnach, dass Diskussion, Kritik und Analyse von Lösungen integraler didaktischer Bestandteil sind. Es geht nicht nur um die simple Produktion von Lösungen, sondern auch um die Bewertung ihrer Auswirkungen, was im Vergleich zur kognitiven Leistung der Lösungsgestaltung eine höhere Komplexität und Wertigkeit mit sich bringt. Als Ergebnis ist der Umgang mit digitalen Technologien ethisch fundiert und verantwortungsbewusst. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich auch das Bild des Akademikers beziehungsweise der Akademikerin wandeln muss. Ein:e, den digitalen Humanismus berücksichtende:r, Akademiker:in ist nicht nur dazu fähig, komplexe Probleme auf methodisch nachvollziehbare Weise zu lösen, sondern kann deren Auswirkungen auf den Menschen und die Gesellschaft unter ethischen, sozialen und inklusiven Gesichtspunkten diskutieren und bewerten.

Digitaler Humanismus in der Lehre Wir müssen uns einer Wahrheit bewusst sein: es gibt keine neutrale, technische Lösung. Jede technische Lösung besitzt das Potenzial, die Menschheit zu beeinflussen. Betrachten wir beispielsweise eine Softwarelösung wie eine Tourismus-App zur Navigation in einer unbekannten Stadt. Unabhängig davon, ob dies geplant oder ungeplant geschieht, beeinflusst die in der App vorhandene Auswahl an Sehenswürdigkeiten (und jene, die fehlen) oder die Routenführung durch die Stadt (kürzester, schönster, CO2-schonendster Weg), sowie die anderen Funktionen der App (und jene, die fehlen) die Nutzer:innen, und verändern damit ihr Verhalten und ihre Entscheidungen. Technologiegestaltung erfordert demnach ein faires und transparentes Design der Lösung, sodass die Nutzung klar, verständlich und nachvollziehbar ist. Eine klare Dokumentation in inklusiver Sprache, Support und die Bereitstellung von Schulungsunterlagen verbessern den Nutzungsgrad. Dies gilt insbesondere für Anwendungen wie Empfehlungssysteme und andere Systeme, bei denen (KI-unterstützte) Entscheidungen getroffen werden. Hier

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ist es wichtig, die Nachvollziehbarkeit der Entscheidung zu ermöglichen und eventuell vorhandene Voreingenommenheiten (Bias) zu minimieren und zu kennzeichnen. Lösungsdesign nach den Prinzipien des digitalen Humanismus bedeutet auch, den tatsächlichen Mehrwert für die Nutzer:innen zu fokussieren. Technik soll nicht als Selbstzweck genutzt werden, sondern soll jemandem nützen – dafür muss man sich ergebnisoffen dem Dialog stellen und immer wieder im Lebenszyklus einer Technologie hinterfragen, ob die existente Lösung dem Problem auch tatsächlich noch Rechnung trägt. Dies impliziert demnach auch den Ruf nach nachhaltigem Wirtschaften. Die Nutzung von Technologie hat einen erheblichen Effekt auf unsere Umwelt, was die Einbeziehung von Themen wie nachhaltiges Design von Lösungen und die Minimierung des CO2-Fußabdrucks notwendig macht. Ressourcenschonendes Gestalten und Betreiben von Lösungen sollte daher ebenfalls Teil des Kompetenzprofils sein. Wir sollten nicht nur mit den Ressourcen, sondern auch mit den Daten bei der Gestaltung von Lösungen schonend umgehen. Lösungen, die demnach den digitalen Fußabdruck minimieren, und dem Grundsatz „so wenig Daten wie möglich, so viele Daten wie nötig“ folgen, sind gefordert. Das Thema inklusive Gestaltung von Technik stellt die Vielfalt ins Zentrum der Überlegungen. Durch die Entwicklung von inklusiven Lösungen wird beispielsweise die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsalltag erleichtert oder sogar überhaupt erst ermöglicht. Darüber hinaus könnten Lösungen, die die Sprachbarrieren für Migrant:innen reduzieren, den Einstieg in die Arbeitswelt erleichtern. Die Entwicklung inklusiver Lösungen erfordert eine Analyse der Anforderungen und eine darauf aufbauende, sorgfältige Umsetzung unter Berücksichtigung der Usability und Accessibility. Es ist offensichtlich, dass Lehre und die Gestaltung ganzer Curricula, die die Prinzipien des digitalen Humanismus reflektieren, ein dementsprechendes Design benötigen. Die Sichtweisen der Sozialwissenschaften, Ethik, Philosophie, Privatsphäre, digitale Rechte und Inklusion können demnach curricular einbezogen werden. Inhalte wie Techniksoziologie, Technikfolgenabschätzung oder digitale Ethik könnten als Ergänzungen zu der Domäne die notwendigen Kompetenzen vermitteln und entsprechend im Curriculum verankert werden. Datenschutz, digitale Rechte oder ethische Gestaltung von KI sind Inhalte, die den Techniker:innen bei der Gestaltung von Lösungen helfen können, sodass Technologie in einer Form genutzt wird, die die Privatsphäre und die Rechte der Nutzer:innen respektiert. Darüber hinaus wird dadurch ein Bewusstsein für ein gemeinsames ethisches Verständnis und dessen Notwendigkeit geschaffen. Unabhängig von der fachlichen Ausrichtung eines Studiums braucht diese interdisziplinäre Bearbeitung von Themen Raum. Lehrveranstaltungen, die die Befassung mit technischen, realen oder realitätsnahen Problemstellungen unter Berücksichtigung von Aspekten des digitalen Humanismus erlauben, benötigen Zeit, um diesen Diskurs offen, kritisch und wertschätzend mit den Studierenden führen. Der Einfluss auf die Lehrenden beinhaltet demnach eine inhaltliche sowie eine didaktische Komponente. Inhaltlich bedeutet dies, dass die Lehrenden selbst inter- und transdisziplinäre Themengebiete in den Unterricht einbinden oder dies über Gastvorträge und

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Ringvorlesungen tun. Aus der Didaktik ergibt sich darüber hinaus die Notwendigkeit, sich vom Wissensvermittlungsprozess noch weiter in den Diskurs zu begeben. Lösungen unter Berücksichtigung interdisziplinärer Aspekte zu bearbeiten, erfordert die freie Diskussion über Lösungswege und Lösungsgestaltung. Die Lehrenden begleiten den Weg, identifizieren relevante Fragestellungen und reflektieren die Lösung gegen die Realität. Die Lehrenden werden zu Mentor:innen, Coaches und Facilitatoren im Prozess der Lösungsgenerierung. Der Kompetenzerwerb der Studierenden bezieht sich auf das Anwenden von Technologien auf eine konkrete Problemstellung unter Berücksichtigung der lösungsrelevanten, humanistischen Teilaspekte (wie z. B. Inklusion, Sicherheit, Privatsphäre und vieles mehr). Humanistische Digitalisierung in der Lehre kann aber auch auf einer Meta-Ebene bedeuten, dass Technologie die Lehr- und Lernprozesse in einer Form unterstützt, die verschiedene Lernstile und -bedürfnisse berücksichtigt. Ein Beispiel könnte hierbei eine adaptive Lernplattform sein, die ausgehend von Stärken und Schwächen, Vorkenntnissen und Präferenzen die Lehrmaterialien aufbereitet und somit das individuelle Erreichen der Lernziele positiv beeinflusst. Der Einfluss auf die Studierenden ergibt sich aus dem oben Genannten. Während in den Anfängen der tertiären Bildung das Wiedergeben und Reproduzieren von Faktenwissen den Kern der Bildung ausmachte, rücken die Vernetzung von Disziplinen, das Einbeziehen von Perspektiven, die kritische Auseinandersetzung mit dem Problem und die Kommunikation noch weiter in den Vordergrund. Die Komplexität der Aufgabe liegt also nicht mehr nur in der Lösung eines technischen Problems. Die Techniker und Technikerinnen der Gegenwart müssen gebrauchswert-orientierte, inklusive, rechtssichere und ethische Lösungen erarbeiten und evaluieren können – was ihnen im Gegenzug ein breites Kompetenzprofil vermittelt. Dieses breite Kompetenzprofil hilft ihnen, resilient und krisensicher als nachgefragte Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt zu agieren.

Digitaler Humanismus in der Forschung Ein auf den Humanismus abgestimmter Digitalisierungsprozess inkludiert eine ganzheitliche, ethisch ausgerichtete und inklusive Forschung, die sich auf mehr als nur technische Exzellenz gründet. Sie ist aufgerufen, sich in vielfältigen, interdisziplinären Zusammenhängen zu bewegen und mannigfaltige Aspekte und Auswirkungen, die ihre Arbeit nach sich zieht, aktiv in Betracht zu ziehen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Technologie keinen Selbstzweck darstellt und die schlichte Machbarkeit technischer Lösungen keine Legitimation in sich trägt, hinterfragen Forschende ihren Ansatz, stellen kritische Fragen und analysieren ihren eigenen Lösungsfindungsprozess. Sie lösen sich aus den Grenzen ihrer jeweiligen Fachbereiche und treten in einen konstruktiven Austausch mit anderen Disziplinen, mit dem Ziel, gemeinschaftlich robuste(re) Lösungen zu erarbeiten, die von hoher moralischer und ethischer Qualität sind. Hierbei vollzieht sich ein fundamentaler Wandel in der Rolle der Forschenden: Sie wandeln sich von Expert:innen in spezifischen Bereichen zu integrierten, verknüpften Akteur:innen in einem interdisziplinären Umfeld.

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Als Bildungs- und Forschungseinrichtung wie die Fachhochschule Technikum Wien liegt es in unserer Pflicht, den wissenschaftlichen Prozess transparent und nachvollziehbar darzustellen und dadurch das Vertrauen in die Technologie zu festigen. Sie ist aufgerufen, den gesamten Forschungsprozess – von der Identifikation von Forschungslücken über die Formulierung und Bearbeitung von Fragestellungen bis hin zum Review- und Evaluationsprozess – offen und verständlich zu kommunizieren. Darüber hinaus trägt sie die Verantwortung, darzulegen, wie Technologie im Dienste der Menschen entwickelt werden kann und welchen konkreten Nutzen diese mit sich bringt. Durch diese transparente Arbeit und offene Kommunikation kann die Fachhochschule Technikum Wien dazu beitragen, Wissenschaftsskepsis abzubauen und das Verständnis und die Akzeptanz von Technologie sowie dessen Nutzen in der Gesellschaft zu fördern. Forscher:innen entwickeln sich zu Vermittler:innen von Wissen und Technologie, die fähig sind, die Komplexität der Welt zu entwirren und ein breites Publikum für ihre Themen zu begeistern. Einer der wichtigsten Aspekte im Umgang mit Technologie ist die Bereitschaft zum Dialog und das Eingehen auf die Bedenken und Vorbehalte der Menschen. Die Entwicklung und Anwendung von Technologie dürfen nicht auf Kosten anderer Menschen erfolgen oder blind dem Prinzip des „höher, schneller, weiter“ folgen. Vielmehr sollte sie sorgfältig auf die Bedürfnisse der Nutzer:innen ausgerichtet werden und dazu beitragen, ihre Lebensqualität zu verbessern. Technologie durchdringt alle Lebensbereiche. Daher ist es von zentraler Bedeutung, nicht nur ihren Gebrauch zu lehren, sondern auch ihre sichere und verantwortungsvolle Umsetzung und Anwendung zu fordern. Es steht außer Frage, dass Hochschuleinrichtungen wie Fachhochschulen und Universitäten nicht nur eine zentrale Rolle bei der Gestaltung und Entwicklung von Lösungen, sondern auch unserer gesamten Gesellschaft einnehmen. Sie sind mehr als nur Bildungsstätten und Forschungseinrichtungen, sie tragen eine ethische und soziale Verantwortung. Unser Aufgabenbereich erstreckt sich über das bloße Vermitteln von Wissen und Fähigkeiten an Studierende hinaus. Wir sind dazu aufgerufen, Bewusstsein und Verständnis für die Auswirkungen von Forschung und Fortschritt auf die Gesellschaft zu fördern. Einhergehend ist die Förderung kritischen Denkens. Es ist unsere Verantwortung, Lösungen, Technologien und Fakten einer genauen Prüfung zu unterziehen und den wissenschaftlichen Prozess transparent zu gestalten. Nur dadurch haben wir die Möglichkeit, Wissenschaftsskepsis und Wissenschaftsfeindlichkeit zu begegnen. Die Konsequenz verringerter Wissenschaftsskepsis in einer Gesellschaft ist das steigende Interesse an Wissenschaft, Technik und dementsprechend MINT-Bildung, und die Konsequenz ein positiver Effekt auf den Fachkräftemangel und die Stärkung des Wirtschaftsstandorts. Noch stärker als der reine Fachkräftemangel zeigt sich im Besonderen der Mangel an weiblichen Fachkräften. Eine Ausdehnung in die Wertewelt des digitalen Humanismus kann die Genderrepräsentation positiv beeinflussen. Anwendungsfokussierung, Menschenzentrierung und Interdisziplinarität erweitern das Spektrum der Tätigkeiten und erhöhen oftmals für alle, und im Speziellen für Frauen, die Attraktivität des technischen Bereichs. Im Umkehrschluss erzeugen Umgebungen, die Vielfalt und Inklusion fördern,

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Lösungen von höherer Lösungsqualität, da die Perspektivenvielfalt eine innewohnende Designeigenschaft eines solchen Umfelds ist.

Perspektiven der Digitalisierung für die Zukunft Die Digitalisierung, obschon noch ein relativ neues Phänomen in der Geschichte menschlicher Entwicklung, entfaltet bereits zahlreiche Potenziale für unsere Zukunft. Im Gegensatz zu Perspektiven, die die Digitalisierung vorwiegend im Kontext von Überwachung oder kommerzieller Nutzung sehen, hebt der digitale Humanismus die menschenzentrierte Anwendung von Technologie und die Förderung von Diversität hervor. Technologische Entwicklungen haben schon immer einen weitreichenden Einfluss auf bestehende Berufsfelder gehabt. Betrachtet man zum Beispiel den Beruf KFZ-Mechaniker:in. Weiterhin im Kerngebiet Mechanik beheimatet, hat sich aber das Aufgabengebiet bereits weit in die Elektrik, Elektronik und Informatik (z. B. Heiz- und Klimaanlagen, Navigationssysteme, Bordcomputer, Alarmanlagen) entwickelt. Es erfolgte demnach die Notwendigkeit der (Weiter)Entwicklung des Berufsfelds zur Höherqualifizierung und zu einem umfassenderen und vielfältigeren Aufgabengebiet. Automatisierung und Künstliche Intelligenz beginnen bereits, Routineaufgaben zu übernehmen, was in Zukunft zu einem Rückgang niedrig qualifizierter und repetitiver Aufgabengebiete und zu einer steigenden Nachfrage nach hochqualifizierten und verantwortungsvollen Tätigkeiten führen könnte. Eine andere, aber spannende und höchst aktuelle Entwicklung könnte auf Grund der Durchdringung von generativen AI Tools zukünftig zu beobachten sein. Deren breite Nutzung könnte als Effekt zu einer Höherbewertung handwerklicher und empirischer Fähigkeiten führen. Der digitale Humanismus kann und soll demnach dazu beitragen, zu gewährleisten, dass diese Veränderungen die menschliche Würde und Arbeitszufriedenheit respektieren – weil es letztlich um die soziale Steuerung von Rahmenbedingungen geht. Technologie ist nie neutral, und es ist von Bedeutung, potenzielle inhärente Voreingenommenheiten zu identifizieren und zu evaluieren. Durch die Sensibilisierung für dieses Problem können wir einen bedeutenden Schritt zur Lösung machen. Fragen wie „Welche Daten werden gesammelt?“, „Wie werden sie genutzt?“ und „Wie sollte eine DatenethikRichtlinie aussehen?“ stehen, neben anderen, im Zentrum dieser Diskussion. Die sich stetig wandelnde Landschaft der Digitalisierung verlangt eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit digitalen Fertigkeiten und Bildung. Sowohl in der Anwendung als auch in der Entwicklung ist eine fortlaufende Weiterbildung essenziell. Diese Weiterbildung sollte jedoch nicht ausschließlich technische Aspekte berücksichtigen, sondern auch die humanistischen Aspekte integrieren. Letztendlich bietet der digitale Humanismus eine bedeutende Chance zur Förderung von Inklusion und zur Verringerung sozialer Ungleichheiten. Technologie kann beispielsweise dazu beitragen, Barrieren für die Teilnahme am öffentlichen Leben, wie Sprachhindernisse, abzubauen und Diskriminierung entgegenzuwirken. Sie kann dazu genutzt werden, Menschen mit Behinderungen stärker in den Prozess der Technologieentwicklung einzubinden und generell eine diskriminierungsfreie Teilnahme am Arbeitsleben unabhängig

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von Geschlecht, Herkunft, Ethnie, Religion, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung sicherzustellen.

Fachhochschule Technikum Wien und der Digitale Humanismus Das Wort „Technikum“ legt treffend den Schwerpunkt auf Technologie, den zentralen Fokus dieser Hochschule. Technologie kann als Gesamtheit aller Maßnahmen, Vorrichtungen und Verfahren definiert werden, die darauf abzielen, die Erkenntnisse der Wissenschaftsdisziplinen für den Menschen praktisch nutzbar zu machen. Es leitet sich vom neulateinischen Wort „technica“ ab, welches im Wesentlichen „Anweisung zur Ausübung einer Kunst oder Wissenschaft“ bedeutet. Folglich ist der Mensch per Definition das Zentrum der Technologie; die Menschwerdung ist ja auch anthropologisch an die Artefakt- und Technikentwicklung gekoppelt. Die Fachhochschule Technikum Wien hat sich als die Fachhochschule für Technologie und Digitalisierung positioniert. Sie wurde vor fast 30 Jahren gegründet und war die erste Fachhochschule in Wien. Mit ihren etwa 4.500 Studierenden und 15.000 Alumni ist sie die größte, rein technische Fachhochschule in Österreich. In 28 Bachelor- und Masterstudiengängen aus den Fakultäten Computer Science & Applied Mathematics, Electronic Engineering & Entrepreneurship, Industrial Engineering und Life Science Engineering bietet die Hochschule ein breites Spektrum an technischen Fachrichtungen in Form von Studiengängen und Hochschullehrgängen an. Allen Studiengängen gemein ist die strukturelle Verankerung nicht nur von technischen Lehrveranstaltungen zur Erlangung der erforderlichen technischen und studiengangsspezifischen Kompetenzen, sondern auch von wirtschaftlichen und persönlichkeitsbildenden Inhalten zur Vervollständigung des Qualifikationsprofils. Die Kombination dieser drei inhaltlichen Säulen garantiert, dass die Studierenden während ihres Studiums interdisziplinäre Arbeit und das Betrachten von Aufgaben oder Fallstudien aus unterschiedlichen Perspektiven üben und lernen. So ist die Betrachtung von interdisziplinären Fragestellungen, die Bearbeitung von Fallstudien und realen oder realitätsnahen Problemen ein integraler Bestandteil aller Studiengänge. Je nach Fachrichtung kommen zusätzliche inhaltliche Erweiterungen zu Themen wie Datenethik, Usability, Zugänglichkeit, Sicherheit oder nachhaltige Lösungsgestaltung hinzu. Nicht nur die Inhalte, sondern auch der Prozess sind wichtig, um humanistische Grundprinzipien widerzuspiegeln. Deshalb folgen alle Lehrveranstaltungen einem Blended-Learning-Konzept, das auf einer Mischung aus Selbstlernphasen und Präsenzeinheiten basiert, wobei Letztere online oder vor Ort stattfinden können. Diese Mischung von Phasen innerhalb einer Lehrveranstaltung ist speziell darauf ausgelegt, dass Studierende auf Basis ihrer eigenen Vorkenntnisse und Lernbedürfnisse Inhalte in ihrem eigenen Tempo und unter Verwendung verschiedener Medien erarbeiten können. Dadurch werden nicht nur verschiedene Lerntypen und Lernpfade besser bedient, sondern es ermöglicht auch, dass die Lehrenden sich innerhalb der Lehrveranstaltung komplexeren Themenbereichen widmen

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können, und Diskussionen, Analysen, Evaluierungen und kritische Auseinandersetzungen mit dem Lösungsraum ermöglichen.

Österreichische Unternehmen und der Digitale Humanismus Während der Einfluss des digitalen Humanismus auf Forschung und Lehre klarer zu sein scheint, mögen sich Unternehmen fragen, warum eine Auseinandersetzung mit dem Thema für sie relevant ist. Die Einflussbereiche des digitalen Humanismus auf geschäftliche Aktivitäten sind selbstredend abhängig von Betätigungsfeld und Tätigkeitsbereich und variieren stark. An dieser Stelle soll aber nicht auf Details einzelner Domänen eingegangen werden, sondern vielmehr übergreifende Aspekte hervorgehoben werden. Ein erster Aspekt, der hier zu nennen ist, betrifft die Diversität im Team. Wenn Technologien inklusiver gestaltet werden, kann ein breiterer Zugang zu verschiedenen Menschengruppen geschaffen werden. Österreich steht vor einem Mangel an Fachkräften, der von einigen als Fachkräftekrise bezeichnet wird. Gestaltung von Technologien und des gesamten Arbeitsalltags, die humanistischen Prinzipien folgen, kann daher den Fachkräftemangel positiv beeinflussen und gleichzeitig zur Erhöhung der Teamdiversität beitragen. Wie bereits ausgeführt, sieht sich die Fachhochschule in der Verantwortung, technologische Fragestellungen interdisziplinär zu diskutieren. Die ausgebildeten Expert:innen, die diese Prinzipien bereits während ihrer Ausbildung kennengelernt und für wichtig befunden haben, werden eine Fortsetzung des offenen Diskurses, der gelebten Vielfalt und der moralischen Verantwortung für technische Produkte fordern. Es sind diese Menschen, die einen Mehrwert durch ihr Handeln schaffen wollen und Veränderungen herbeiführen wollen – und die dies auch bei ihren Arbeitgeber:innen umsetzen wollen. Es gibt auch wirtschaftliche Gründe für interdisziplinäre Arbeit – die Fachliteratur ist voll von Beispielen, bei denen das Fehlen interdisziplinärer Zusammenarbeit zu Katastrophen geführt hat. Ein klassisches Lehrbuchbeispiel ist die Deepwater-Horizon-Ölkatastrophe, bei der eine Zusammenarbeit zwischen Sicherheitsteams, Umweltwissenschaftlern, Ökologen und Ingenieuren die massiven Umweltschäden hätte verhindern können. Auch wenn dies sicherlich ein sehr drastisches Beispiel ist, gibt es in jedem Unternehmen Potenziale, die durch die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen realisiert werden können. Interdisziplinär entwickelte Lösungen sind robuster, widerstandsfähiger, sicherer und erreichen eine größere Zielgruppe. Letztlich gilt es auch sich als Unternehmen auf zukünftige (EU-)Richtlinien vorzubereiten. Als Beispiel sei hier der EU AI-Act genannt, der sichere, transparente, nachvollziehbare, nicht-diskriminierende und umweltfreundliche AI-Systeme sicherstellen soll.

Forderung an die Politik Als Hochschule betrachten wir uns als Teil eines Netzwerks, dessen Aufgabe weit über die Vermittlung von technischem Fachwissen hinausgeht. Unser Ziel ist es ebenso, kritisches Denken zu fördern und einen Raum für einen offenen und konstruktiven Diskurs zu bie-

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ten. Dies erfordert unterschiedliche Parameter: Ein fundiertes Verständnis der relevanten Themen, die Kenntnis verschiedener Perspektiven und Fähigkeiten sowie engagierte Wissensträger:innen, die den Diskurs anleiten und fördern. Parallel dazu muss ein Bewusstsein für die Probleme geschaffen werden, die entstehen können, wenn wir als Gesellschaft diese Prinzipien ignorieren. Was wir brauchen, ist eine umfassende Vision und Rahmenbedingungen dafür, wie wir als Gesellschaft die Digitalisierung gestalten wollen. Dabei sollte im Zentrum stehen, dass Technologie als Werkzeug für den Menschen dient, nicht umgekehrt. Wenn wir uns der Relevanz und möglichen Risiken bewusst sind, kann dies genügend Druck erzeugen, um genau das einzufordern, was der Kern unserer Arbeit ist: Die Bildung von Studierenden, deren Blick auf Technologie nicht ausschließlich technologiezentriert ist, sondern menschen- und lösungsorientiert. Das dies Zeit und Ressourcen benötigt, liegt auf der Hand. Dieser Ansatz kann aber dazu beitragen, die in Österreich bemerkenswerte Skepsis gegenüber Wissenschaft und Technologie zu überwinden. Es könnte das Interesse an wissenschaftlicher Forschung und den damit verbundenen Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätzen im Land fördern. Im Idealfall könnten wir eine Kultur der Wissbegierde und der Innovation schaffen, die Österreich als Land der Zukunftstechnologien positioniert und das Interesse an MINT Studiengängen steigert. Es liegt in unserer Verantwortung, diesen Weg zu ebnen und zu gestalten. Und wir sind zuversichtlich, dass wir gemeinsam – Lehrende, Studierende und eine aufgeschlossene Gesellschaft – diesen Weg erfolgreich gehen können.

Conclusio Dieser Beitrag, der unter dem Titel „Digitaler Humanismus – by Design“ steht, soll als Appell verstanden werden, Lösungen bereits in der Planung unter Berücksichtigung humanistischer Prinzipien zu gestalten. Der digitale Humanismus ist kein fertiges Produkt mit strikten Regeln, Kennzahlen oder einer Normierung, sondern ein lebendiger Prozess, mit dem wir uns als Gesellschaft täglich auseinandersetzen sollten und der angepasst werden muss, um den sich ständig ändernden Bedürfnissen und Herausforderungen gerecht zu werden. Als Bildungseinrichtung sehen wir unsere Aufgabe darin, unsere Studierenden nicht nur mit den notwendigen technischen, sondern auch mit interdisziplinären Kompetenzen auszustatten und ihnen kritisches Denken sowie objektives und faktenbasiertes Arbeiten zu lehren. Auf diese Weise sind unsere Absolvent:innen in der Lage sich nicht nur den gegenwärtig bekannten Herausforderungen zu stellen, sondern auch unter stets ändernden Rahmenbedingungen Lösungen in einem heterogenen Lösungsraum zu erarbeiten. Begonnen wurde der Artikel rund um die Frage „dürfen wir alles tun, was technisch möglich ist?“ – die klare Antwort einige Seiten später ist nun, dass es unsere gesellschaftliche Aufgabe ist, neugierig zu bleiben, Technik zu nutzen und diese auch dadurch weiterzuentwickeln. Technik hat das Potential, als zielgerichtetes Werkzeug Prozesse beziehungsweise sogar das gesamte Leben zu verbessern– verlangt uns aber auch die

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sorgsame Lösungsgestaltung ab. Die dafür relevanten Impulse können aus dem digitalen Humanismus abgeleitet werden. Es soll also nicht Technikskepsis genährt, sondern das Bewusstsein für den Diskurs gefördert werden. Wir dürfen „es“ also tun, aber wir sollten es vernünftig tun! Dementsprechend der abschließende Appell: Lasst uns die zu Zukunft gemeinsam gestalten! #changeourtomorrow

Danksagung Zum Abschluss dieses Aufsatzes möchte ich meinen Dank gegenüber FH-Prof. Mag. Dr. Günter Essl ausdrücken, der mich in anregenden und konstruktiven Diskussionen inspiriert hat, und mit seinem Feedback dazu beigetragen hat, den Beitrag perspektivisch zu erweitern und zu verbessern.

Was meint der Digitale Humanismus? Ein Zwiegespräch Mit Christopher Frauenberger, Professor für Human Computer Interaction (HCI) am Fachbereich Artificial Intelligence and Human Interfaces an der Universität Salzburg und Peter Reichl, Professur für Informatik, Universität Wien

Kurzfassung

Peter Reichl und Christopher Frauenberger, beide Mitautoren des „Wiener Manifest für Digitalen Humanismus“, erläutern im Dialog mit Georg Krause warum uns Technologie zu der zentralen Frage „was wir als Menschen sind oder sein wollen“ führt. In einer Reflexion zum „Wiener Manifest für digitalen Humanismus“ gehen sie auf dessen Wirkung ein und betonen erneut die Verantwortung der Wissenschaft für von ihr in die Welt gesetzte Entwicklungen. Die zentrale Frage bleibt „wie gestalten wir Technologie, damit wir zu einer Zukunft kommen, die wir wollen“. Wie dies konkret erfolgen kann, wird diskutiert und anhand eines Projektbeispiels erläutert. Sie betonen, dass die Digitalisierung Machtverhältnisse verschiebt und es notwendig ist, eine verantwortungsvolle soziale Ordnung zu schaffen. Konkrete Vorschläge, wie die Begrenzung gezielter Werbung, um Manipulation zu verhindern und die Integration des Digitalen Humanismus in Geschäftsmodelle zur Berücksichtigung gesellschaftlicher Interessen und langfristiger Konsequenzen werden erörtert. Regulierungen, Selbstverpflichtung von Unternehmen und die Verantwortung der Verbraucher:innen werden als wichtige Handlungsebenen zur Förderung des Digitalen Humanismus genannt.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 283 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_20

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„Der Digitale Humanismus ist der Schlüssel, um die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Gesellschaft verantwortungsvoll zu gestalten und langfristige Konsequenzen zu berücksichtigen.“ Christopher Frauenberger, Professor für HCI (Human Computer Interaction), Universität Salzburg Peter Reichl, Professor für Informatik (Kooperative Systeme), Universität Wien

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C. Frauenberger und P. Reichl

Wordrap Peter Reichl Was bedeutet für dich Digitaler Humanismus ganz persönlich? …, dass wir in dieser schrecklich fragmentierten Welt endlich wieder zu einem Kern kommen. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung der ethischen Prinzipien in der digitalen Welt ist … … ich habe ehrlich gesagt noch nie ein schönes Beispiel erlebt. Allerdings: Ich war vor Jahren einmal in ein Projektkonsortium für Militärforschung eingeladen. Es ging darum, für autonome Drohnen ein Simulationstool zu bauen. Dort habe ich lauter Experten getroffen, die mir ein physisches Gefühl ihrer Angst vor den Gefahren vermittelt haben, die KI und ähnliche Technologien in der Militärtechnik einbringen werden. Sie haben sich extra jemanden von außen geholt und uns gebeten, das ganze Projekt aus ethischer Perspektive zu begleiten, damit sie gegebenenfalls auch ein „Nein“ bekommen. Das Projekt ist leider nicht verwirklicht worden, was mir vermutlich viele schlaflose Nächte erspart hat. Es war aber eine starke Erfahrung für mich, mit Menschen zu arbeiten, die in extremen beruflichen Situationen einen Kompass suchen und dann auch froh sind, wenn sie diesen von außen bekommen. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird oder bleibt, welcher wäre das… … ganz viel Zeit zu haben, um an den Universitäten mit den Student:innen und in den Schulen mit den Schüler:innen diese Themen auszudiskutieren. Was ist die eine Sache, die unserer Organisation hilft, die Ideen des Digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Endlich einmal die Mauern zwischen Fachdisziplinen wirklich niederzureißen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Also nicht nur immer von Interdisziplinarität zu reden, sondern sie zu leben (wie wir bei COSY das tun). Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen? Einen Tag Auszeit nehmen, den Blick ganz frei über das Gebirge schweifen lassen und sich dabei zu überlegen, was hält uns in diesem Unternehmen und warum sind wir eigentlich auf dieser Welt. Mein wichtigster Beitrag zur Umsetzung der ethischen Prinzipien im Unternehmen oder an der Universität ist … …, dass ich den Mund aufmache.

Was meint der Digitale Humanismus?

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Wordrap Christopher Frauenberger Was bedeutet Digitaler Humanismus für dich ganz persönlich? Ein etwas sperriger Begriff und vielleicht auch unglücklich gewählt, der es den Menschen aber trotzdem erlaubt, über etwas ganz Wichtiges zu reden, nämlicher über die Gestaltung von gewollten technischen Zukünften. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung der ethischen Prinzipien in der digitalen Welt privat oder beruflich ist … …, dass wir sehr viele kleine Projekte sehen, die Communities unterstützen - mir fallen in diesem Zusammenhang Nachbarschafts- oder soziale Netzwerke ein, die tatsächlich einen Mehrwert für Communities ergeben. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird oder bleibt, welcher wäre das… …, dass targeting advertising wieder verboten wird, damit wir wieder eine gemeinsame digitale und reale Öffentlichkeit für einen politischen Diskurs haben. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf, der helfen würde, die Prinzipien des Digitalen Humanismus umzusetzen? Ich glaube wirklich, es ist wichtig, targeted advertising zu regulieren, um gemeinsame Öffentlichkeiten zu gestalten. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird oder bleibt, welcher wäre das… …, dass wir grundsätzlich darüber nachdenken, was unsere Beziehung zur Technologie ausmacht und, dass wir von der Idee wegkommen, dass es sich um neutrale Tools handelt. Was ist die eine Idee, die der Universität helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus besser umsetzen zu können. Ich glaube auch, dass die Auflösung der Disziplinen wahrscheinlich eines der zentralsten Dinge ist. Sie würde uns erlauben, die Herausforderungen der Zukunft wahrzunehmen. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen, sich mit diesem Thema zu beschäftigen? Sich bewusst zu sein, dass die Technologie, die wir bauen, Ordnungsmacht in unseren Gesellschaften besitzt und wir deshalb auch Verantwortung dafür tragen, was sie aus unseren Gesellschaften macht. Somit muss ich mir überlegen, welche Technologie ich in die Welt bringen möchte, damit wir die Menschen werden, die wir gerne sein würden. Mein wichtigster Beitrag für Umsetzung von ethischen Prinzipien im Unternehmen ist … … also in „meinem“ Unternehmen, also auf der Universität, ist es tatsächlich so, dass ich versuche, die Agenda unserer doch sehr technisch ausgerichteten Fakultät, so zu lenken, dass Verantwortung und Gesellschaft nicht mehr gesondert oder getrennt betrachtet werden können. Und ich glaube, dass es eine ganz große Herausforderung für Lehrende an den Universitäten ist, dass wir zukünftige Technologen und junge Menschen ausbilden, die diesen kritischen Blick immer haben, egal was sie machen.

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Digitaler Humanismus ist in aller Munde. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Geht es dabei in erster Linie um die besondere Verantwortung der Informatik als Fachdisziplin, die uns den Digitalen Wandel ja letztlich beschert hat? Oder reden wir eher von einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs über die Wünschbarkeit möglicher technologischer Zukünfte? Und wie können wir dieses Konzept konkret auf das einzelne Unternehmen und seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen herunterbrechen? An einem lauschigen Nachmittag Ende Mai 2023 treffen sich die beiden Informatiker Christopher Frauenberger und Peter Reichl mit Georg Krause im Labor der Forschungsgruppe COSY an der Fakultät für Informatik der Universität Wien, um diese und ähnliche Fragen zu erörtern. Das Gespräch beginnt überraschend…

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Georg Krause: Wir haben kürzlich mit dem Abt des Stifts Wilhering, einem Kloster für Zisterzienser in der Umgebung von Linz, gesprochen. Im vergangenen Herbst haben sie dort eine „Expedition Digitaler Humanismus“ durchgeführt, bei der es auf verschiedenen Orten im Stift Impulsvorträge gab und am Ende eine Diskussion in einer gemischten Gruppe von Personen stattfand, darunter Manager, Studenten und bekannte Schauspieler:innen. Das wesentliche Ergebnis dabei war die Frage, was denn das Menschsein eigentlich ausmacht, und vor allem was ein gutes, sinnerfülltes Leben bedeutet. Das ist vielleicht nicht ganz überraschend, aber im Zusammenhang mit dem Digitalen Humanismus faszinierend, da es bedeutet, dass wir uns bewusst werden müssen, was das Digitale ist, bevor wir herausfinden können, was das Menschliche im Digitalen ist. Christopher Frauenberger: Und genau zu dieser Frage, was das Menschsein ausmacht, führt die Technologie uns immer mehr. Das, was wir jetzt erleben, speziell an technologischer Entwicklung, stellt genau die Frage nach dem, was wir als Menschen sind oder sein wollen, weil das Technikbild automatisch auch das Menschenbild verändert und diese Reflexion uns nicht erspart bleibt, wenn wir über Technologie nachdenken. Peter Reichl: Die Frage nach dem Menschsein war natürlich immer schon da. Was ich aber an diesem Ansatz interessant finde: Klöster denken in anderen zeitlichen Dimensionen, eher in Jahrhunderten, und die wesentliche Frage hat sich dabei offensichtlich kaum verändert. Ich weiß auch nicht, ob sie jetzt unbedingt drängender geworden ist durch die Technologie. Und wir sollten auch nicht vergessen, dass eigentlich die ganzen Antwortoptionen schon lange auf dem Tisch liegen und wir sie bloß gründlich vergessen haben. Vielleicht sollten heute Religion und

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Theologie tatsächlich wieder eine größere Rolle spielen, weil das Projekt der Moderne und der Rationalisierung ja versucht hat, beständig eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Menschsein zurückzudrängen, aber im spirituellen Bereich die Frage unverändert geblieben ist. Christopher Frauenberger: Die Zeit ist wohl vorbei. So wie Armin Nassehi argumentiert, dass es die Digitalisierung schon lange vor dem Computer gab und diese Idee der rationellen Verarbeitung von Daten und die Reduktion einer Lebenswelt auf Daten eigentlich in der Moderne begonnen hat, ist genau dort auch ein gewisses reflexives und durchaus spirituelles Bedürfnis der Menschen verloren gegangen, weil man sich in der Aufklärung bewusst davon befreien wollte. Dadurch ist ein sehr reduktives und technokratisches Menschenbild entstanden. Heute aber verlangen algorithmische Systeme oder künstliche Intelligenzen als Gegenüber, die das technokratische Menschenbild ja viel besser verkörpern als wir Menschen selbst, wieder mehr darüber nachzudenken, was wir als Menschen sein wollen. Peter Reichl: Diese Entwicklung hin zur Rationalität, nennen wir sie mal Humanismus, war natürlich schon berechtigt und notwendig, aber was wir heute sehen, schießt einfach oft über das Ziel hinaus. Nehmen wir zum Beispiel die radikale Individualisierung, die soziale Praktiken in herkömmlichen Öffentlichkeiten und sei es in Wirtshaus oder Bierzelt zu kurz kommen lässt. Christopher Frauenberger: Das bringt mich zu dem Punkt, wo der Begriff „Digitaler Humanismus“ auch Probleme aufwirft. Diese Wortschöpfung hat das Potenzial, durch die Agenda der modernen Aufklärung wieder den Menschen auf das Messbare zu reduzieren. Es kommt daher darauf an, wie man den Humanismus versteht.

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Georg Krause: Aber stellt nicht Humanismus per se die menschlichen Werte und den Nutzen für den Menschen ins Zentrum? Christopher Frauenberger: Ja, das stimmt. Und der Begriff ist natürlich nicht eindeutig besetzt. Es gibt einen Humanismus, der vor allem ein Bildungsideal meint, eine aufgeklärte Welt, und das hat schon, glaube ich, etwas mit Rationalität zu tun. Aber natürlich versteht man unter Humanismus auch eine positive Zuwendung zum Menschlichen hin. In jedem Fall finde ich es wichtig, dass der Digitale Humanismus sehr genau darauf schaut, welches Menschenbild er impliziert.

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Georg Krause: Ihr habt ja beide an dem „Manifest zum Digitalen Humanismus“ im Rahmen eines Workshops 2019 an der TU Wien mitgeschrieben. Wie wurde dort über das Menschenbild diskutiert? Peter Reichl: Die Grundintention dieses Workshops war eigentlich eine etwas andere, denke ich. Es ging vor allem darum, dass sich Informatiker:innen der Verantwortung für das, was sie entwickeln, bewusst werden und aus der Disziplin heraus verstärkt ihre Stimme erheben. Dementsprechend ist das Manifest auch relativ allgemein gehalten. Die Intention aber war absolut richtig und wichtig, und regt seither viele im Technologiebereich Tätigen zum kritischen Nachdenken an. Das ist auch wohl der Hauptverdienst dieses Begriffes „Digitaler Humanismus“, dass er so unglaublich greifbar ist, dass Menschen sich davon angesprochen fühlen und etwas dazu sagen, obwohl sie das lange Zeit nicht gemacht haben. Christopher Frauenberger: Ich glaube, das Manifest ist auch aus einem Unwohlsein heraus geboren worden, den die Informatik aktuell empfindet, wenn sie den Scherbenhaufen sieht, zu dem die Digitalisierung in weiten Teilen geworden ist. Lange Jahre gab es immer wieder die Position: Wir machen Technologie, und was damit dann in der Welt passiert, ist nicht mehr unsere Angelegenheit. Und ich glaube, dass diese Position nicht länger tragbar war. Das Manifest versucht genau das zum Ausdruck zu bringen: Wir in der Informatik können uns der Verantwortung nicht länger entziehen.

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Georg Krause: Wann war da so der Kipppunkt? Christopher Frauenberger: Das muss man historisch etwas differenzierter einordnen. Auf der einen Seite gibt es seit den 1960er und 70er Jahren in der Soziologie das Feld der Science and Technology Studies (STS), das analytisch zu begründen versucht, wie Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft miteinander verwoben sind. Dieses Forschungsfeld hat aber keinen gestalterischen Anspruch, man hat sich im Gegenteil darauf beschränkt, zu beschreiben was ist, wie etwa in der Technikfolgenabschätzung. Gestaltend zu wirken ist ungleich schwieriger. Wenn man aber die Interaktion zwischen Technologie und Gesellschaft einmal verstanden hat, muss man sich zwingend die nächste Frage stellen: Wie gestalten wir dann Technologie, damit wir zu einer Zukunft kommen, die wir wollen? Hierzu gab es gerade im deutschsprachigen Raum einige Gruppen, die sich sehr früh auch damit beschäftigt haben, z. B. in der Tradition sozio-technischer Systeme. Leider hat diese Arbeit seinerzeit in der Breite der Informatik nicht viel Gehör gefunden. Das ist jetzt anders geworden, und dazu trägt das Manifest sicher bei.

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Peter Reichl: Ja, und außerdem war für die Genese sicher auch entscheidend, dass zur Jahreswende 2017/18 in einer Ausgabe des Magazins „Wired“ Größen wie Vint Cerf, Tim Berners-Lee und andere, die in der Internetcommunity ja quasi als Götter verehrt werden, fett auf die Titelseite geschrieben haben: „The Internet is broken“1. Das hat die Diskussion innerhalb der Disziplin in Bewegung gebracht. Andererseits ging es aus meiner Sicht sofort auch wieder in die falsche Richtung, weil der Untertitel war: „Here is how to fix it“, und der hierbei inhärente Lösungsstatus ist problematisch. Aber die Feststellung selbst war wichtig.

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Georg Krause: Ein weiterer Treiber war dann sicherlich auch die immer stärkere Durchdringung im täglichen Leben, die die Auswirkungen stärker spürbar und sichtbar machte. Christopher Frauenberger: In der Tat gab es da ein paar öffentliche Skandale, durch welche die Wirkmacht der Digitalisierung in unserer Gesellschaft sehr deutlich sichtbar geworden ist. Hierzu gehören etwa die Enthüllungen von Edward Snowden, der die digitale Überwachung entlarvte und damit eine öffentliche Diskussion angestoßen hat. Und natürlich Shoshana Zuboff mit einem zentralen Buch zum „Überwachungs­ kapitalismus“. Sie arbeitet darin dessen Entstehung historisch hervorragend auf und zeigt, woher die Geschäftsidee des „Targeted Advertising“ kommt und wie sie dazu führt, dass Vorhersageprodukte verkauft werden, die durch eine massenhafte Überwachung von Verhaltensdaten möglich gemacht werden. Diese Idee hat sich als unglaublich vielseitig erwiesen, zuerst für die Werbung, in der Menschen dadurch genau das zu sehen bekamen, was sie sehen mussten, um etwas zu kaufen. In weiterer Folge entwickelte sich aber ein technologischer Instrumentalismus, der die gezielte Verhaltensmanipulation ganzer Gesellschaften zum Ziel hatte. Zuboff zieht hier Vergleiche zu totalitären Systemen, wie sie Hannah Arendt analysiert hat. Tatsächlich hat sich das in den großen Skandalen rund um Cambridge Analytica gezeigt, also bei der Manipulation von Wahlen in Amerika oder dem Brexit. Und ich glaube, diese Idee ist nach wie vor eines der prominentesten Geschäftsmodelle in der Digitalisierung. Ich erlebe das immer wieder, wenn ich eine Design-Vorlesung halte, wo wir gemeinsam mit Studierenden verschiedene digitale Lösungen bauen. Fast alle produzieren eine App, und auf die Frage, wie sich die denn finanziert, kommt fast immer die Antwort: mit Werbung. Das ist also eine Idee, die sich bereits bis zu den Studierenden hin als der Standard in der Digitalisierung verfestigt hat. Und das ist ein Riesenproblem.

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https://www.wired.co.uk/article/is-the-internet-broken-how-to-fix-it

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Georg Krause: War es also im Nachhinein betrachtet eine Fehlentwicklung, dass am Anfang alles Digitale gratis war? Christopher Frauenberger: Also ich würde sagen: Es war ja nie irgendetwas gratis. Wir haben alle dafür bezahlt. Wir haben mit unserer eigenen Privatsphäre, mit unserer eigenen Meinungsfreiheit dafür bezahlt, dass wir einfache Dienste wie Im-Internet-Suchen verwenden. Das ist eine Währung, die allerdings für die meisten nicht sichtbar war und ist. Peter Reichl: Wir hatten ein ähnliches Problem in den 1990er und 2000er Jahren in der Telefonie, da sind plötzlich Tarife für gute Sprachqualität weggefallen. Davor war man sich einig, dass Qualität eben Geld kostete, und das war einfach so. Dieser Qualitätsbegriff ist damals verloren gegangen, und heute regiert überall die Flat Rate. Insofern würde ich dem durchaus zustimmen, dass vieles anders gekommen wäre, wenn man tatsächlich den Wert eines digitalen Artefakts direkt finanzieren hätte müssen. Und übrigens würde man dann mit vielen Diensten und ihren Ressourcenanforderungen auch sehr viel bewusster umgehen.

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Georg Krause: Wie würde ein alternatives Geschäftsmodell im Bereich der Internetsuche aussehen, wenn es dem Prinzip des Digitalen Humanismus entsprechen würde? Wie könnte man es angehen, so etwas zu entwerfen? Christopher Frauenberger: Zu Beginn steht erst einmal die Erkenntnis, dass die Digitalisierung soziale Ordnungsmacht besitzt. Man kann nicht nur neutrale Werkzeuge bauen, sondern verschiebt damit immer Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft. Um das verantwortungsvoll zu gestalten, muss man sich also zunächst Gedanken machen, welche soziale Ordnung man denn anlegen will. Also, was sind die gesellschaftlichen Interessen? Wenn meine Interessen von einem sehr schmalen Verständnis vom Gemeinwohl getrieben sind, zum Beispiel meinem eigenen Profit folgen, dann ist der Überwachungskapitalismus die Antwort. Wenn man Gemeinwohl breiter sieht, im Sinne einer demokratischen Gesellschaft, die mit begrenzten Ressourcen auf diesem Planeten lebt, dann kommen da ganz andere Verantwortungen auf uns zu. Und damit wäre für mich das Geschäftsmodell des Überwachungskapitalismus per se nicht mit dem Digitalen Humanismus vereinbar. Eine konkrete Umgestaltung dieser Services im Sinne des Digitalen Humanismus könnte beispielsweise sein, dass Targeted Advertising nie eine kleinere Gruppe als – sagen wir einmal: zwei Millionen ansprechen darf. Das würde eine Atomisierung der Öffentlichkeit verhindern und damit die Möglichkeit gezielter

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Manipulation eindämmen. Bei den Wahlen 2016 in Amerika etwa bedeutete Targeted Advertising ja im Wesentlichen, dass niemand den gleichen Donald Trump gewählt hat. Jeder und jede hat einen anderen Präsidentschaftskandidaten erlebt und für diesen gestimmt. Eine alleinstehende Mutter hat Donald Trump gewählt, weil ihr ein Video gezeigt wurde, in dem er für Kinderbetreuung eintrat. Ein Waffennarr der NRA hat für ihn gestimmt, weil in seinem Video Donald Trump das erste Verfassungsrecht auf Waffen verteidigt hatte. In so einem System können Widersprüchlichkeiten nie ausgehandelt werden, weil es keine gemeinsame Öffentlichkeit dafür mehr gibt. Peter Reichl: Das geht natürlich noch weiter, letztlich mitten hinein in den Begriff von Wahrheit, der sich auflöst. Das wäre meine Antwort gewesen. Man müsste große Technologiefirmen zuerst einmal zur Transparenz verpflichten. Das beginnt zum Beispiel mit der Frage: Was kostet eine Suchanfrage? Und ist sie das dann auch wirklich wert? Unsere Generation ist ja noch mit Lexika wie dem Brockhaus aufgewachsen, die redigierte, faktenüberprüfte Antworten liefern. Dagegen ist das, was man heute aus den Weiten des Netzes zurückbekommt, oft schon sehr beliebig geworden. Und was wir mit KI erleben werden, wird nur eine Steigerung dessen sein, denn das ist schon vom Prinzip her ja erst einmal völlige Willkür, was da herauskommt. Christopher Frauenberger: Ja, die Frage der Intelligenz und des Wahrheitsanspruchs wird hier neu gestellt und auch gezielt manipuliert. Das ist übrigens auch ein gutes Beispiel, wo unser Verständnis einer verantwortungsvollen Gestaltung von Technologien verletzt wird. Das User Interface von ChatGPT beispielsweise ist so gemacht, dass das System seine Antworten langsam und Buchstabe für Buchstabe ausgibt. Man will damit den Eindruck erwecken, als würde die KI über etwas nachdenken und es dann nach und nach hinschreiben; es wird also bewusst anthropomorphisiert. Das ist natürlich technisch nicht notwendig, aber so gewollt, um auch auf diese Weise Intelligenz zu suggerieren.

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Georg Krause: Ihr habt einen sehr trainierten, analytischen Blick auf die ethischen Dimensionen der Digitalisierung. Wie aber können sich Führungskräfte von Unternehmen diese Art des Denkens zu Nutze machen? Wie nähert man sich dem Digitalen Humanismus aus Unternehmenssicht? Christopher Frauenberger: Als erstes müssen sich Unternehmen von der Vorstellung lösen, dass Digitalisierung neutrale Werkzeuge bedeutet. Sie ist nicht neutral. Digitalisierung schafft materielle oder immaterielle Umgebungen, die uns Menschen und unsere Ge-

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sellschaften verändern. Und ich glaube, von dieser Prämisse ausgehend kann man konkrete Handlungsstränge ableiten. Wenn man, jetzt im Kleinen, Abläufe in einer Firma digitalisiert, dann werden auch dort Machtgefüge verschoben, soziale Praktiken und ethische Normen geprägt. Man denke an die vielen Beispiele, wo die IT-Abteilung mächtiger ist als das Controlling, oder das digitale Bestellwesen Entwicklungsrichtungen bestimmt, weil es nur eine bestimmte Art von Material kennt. Und dann muss man sich die Frage stellen, welches Gefüge eine gesunde Firma haben sollte? Es gibt viele Mantras in der Digitalisierung, eines davon ist, dass alles disruptiv sein muss, und das andere, dass Digitalisierung alles effektiver macht. Beide würde ich per se in Frage stellen. Es sollte nicht alles disruptiv sein. Es gibt viele wichtige Praktiken und Normen, die wir als Menschen beibehalten möchten, etwa in Gasthäusern zu debattieren oder sich in Kaffeeräumen auszutauschen oder an der Uni in einem Seminar zu diskutieren. In einer Firma ist es immens wichtig, dass es eine gute Kaffeemaschine gibt, wo Leute zusammenkommen. Ich verwende oft das Beispiel von Humanyze2, einer amerikanischen Firma, die für Unternehmen smarte Badges für Mitarbeiter:innen entwickelt. Dem Management wird dann auf einem Dashboard dargestellt, wer mit wem wieviel interagiert, und daraus wird dann abgeleitet, ob das Unternehmen gut strukturiert ist oder nicht. Das geht natürlich einher mit einem massiven Eingriff in private Rechte und es ist auch ein massiver Eingriff in die sozialen Machtverhältnisse. Welches Verständnis von Arbeit hat Humanyze, und wie wird ein solches System das Selbstverständnis eines Unternehmens? Oder wird auch größer und gesamtgesellschaftlich gedacht: Ist ein Produkt, das meine Firma auf den Markt bringt, dazu angetan, die Gesellschaft zu einer zu machen, in der ich gerne leben würde? Das ist eine grundsätzliche Frage, die man sich ganz einfach stellen kann und die dann als Leitlinie dient. Natürlich haben Produkte auch möglicherweise ungewollte Konsequenzen, die vorher nicht absehbar waren. Aber ähnlich wie bei Mary Shelleys Frankenstein kommen Erfindungen nicht als Monster in diese Welt, sondern sie werden zu solchen, weil sie allein gelassen werden. Das heißt, es gibt eine bleibende Verantwortung, auch wenn die Technologie schon verkauft oder implementiert ist. Es gilt genau hinzuschauen, welche Veränderungen diese Technologien im Laufe der Zeit bewirken, und immer wieder zu fragen, ob es das ist, was wir wollen. Leider ist es in der digitalen Innovation ein weiteres Mantra, dass immer alles gemacht wird, was möglich ist, und nie etwas eingestellt wird. Wenn man diesem Mantra mit kritischer Reflexion begegnet, hat man schon einmal einen Kompass. Das hat vor allem auch etwas mit der Unternehmenskultur zu tun, in der man das verankern kann.

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https://humanyze.com

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Peter Reichl: Ich möchte hier drei Aspekte anschließen. Zum einen müssen wir dringend ein neues Verhältnis zu Zeit gewinnen. Greta Thunberg hat das einmal auf den Begriff des kathedralen Denkens gebracht, wo man also im Mittelalter den Bau eines Systems, eines großen Systems gewagt hat, und zwar im Wissen, dass man selbst zwar die Fertigstellung nie erleben wird, aber dennoch dieses Ende im Blick haben kann. Wir sollten viel öfter darüber nachdenken, wie unsere Welt in 200 Jahren aussieht, oder vielleicht sogar in 500. Dadurch verliert sehr viel von dem, was wir heute wichtig finden, seine vorgebliche Bedeutung. Ich glaube, wir haben das verlernt. Es geht schon damit los, dass wir uns mit dem Ende unseres Lebens, unserer eigenen Sterblichkeit, nicht mehr beschäftigen. Allein daran zu denken, dass das, was ich mache, noch Gültigkeit haben sollte, wenn ich nicht mehr da bin, verändert schon unseren Zugang. Zweitens sollten wir uns bewusst machen, dass es zunächst einmal für so gut wie alles, das man digital produziert, eine Rechtfertigung gibt, dass also tatsächlich auch die kleinste App meist irgendeinen gut argumentierbaren Wert hat. Dabei dürfen wir aber nie die Summe dieser kleinen Veränderungen aus dem Blick verlieren. Natürlich macht es total Sinn, wenn jemand in der kalifornischen Wüste kein Taxi bekommt und er dann Uber erfindet. Das ist lokal gesehen eine großartige Idee. Woran man dabei nicht gedacht hat, ist, dass zwei Jahre später dann irgendwo anders auf der Welt plötzlich jeder zweite Taxifahrer arbeitslos geworden ist. Es geht also darum, sich bewusst zu machen, dass diese kleinen „lokalen“ Rechtfertigungen niemanden davon befreien können, auch über das große globale Ganze nachzudenken. Drittens schließlich brauchen wir eine Kultur, in der man ehrlich Fehltritte benennt und auch über so etwas wie Moratorien nachdenken kann. Maja Göpel hat ersteres in einem Gespräch mit mir einmal „Diskurshygiene“ genannt – ein wunderbarer Ausdruck. Wenn also etwas nicht funktioniert, dann funktioniert es einfach nicht, dann ist das nicht ein Bug, mit dem man leben oder den man unbedingt fixen muss, nein, es ist einfach etwas, was nicht vertretbar ist. Christopher Frauenberger: Dazu passt vielleicht auch eine Perspektive, die sich „Slow Technology“ nennt und darauf drängt, analog zum Slow Food auch Veränderungen durch Technologien mehr Zeit zu geben. Konkret bedeutet das, nicht immer und überall auf jedes Problem reflexartig mit Digitalisierung zu antworten, sondern sich zunächst einmal darüber Gedanken zu machen, was Digitalisierung denn wirklich gut kann? Was weniger gut? Und wo sie einfach keinen Platz hat? Jenny Odell hat ein wunderbares Buch dazu geschrieben: „Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen“. Durch das erwähnte Targeted Advertising wird ja unsere Aufmerksamkeit zu einem Abbaugebiet für persönliche Daten, und das betrifft nicht nur uns, sondern wir sehen das vor allem auch

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an Kindern. Wir werden darin trainiert, immer mehr Daten zu generieren und immer mehr Verhalten irgendwo einzuspeisen, um das System profitabler zu machen. Dadurch wird unser Leben aber unglaublich schnell, und das Bedürfnis nach Langsamkeit, nach einer temporalen Einordnung von dem, wie wir leben, was wir tun, wird immer größer. Einen interessanten Trend in Social Media sehe ich zurzeit bei Apps wie BeReal, die es nur einmal pro Tag erlauben, etwas zu posten. Das ist ein interessanter Gegenentwurf, der im Moment auf viel Resonanz gerade auch bei den Jungen stößt.

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Georg Krause: Es geht also viel darum, einen inneren Kompass in die Entwicklungen von Technologie mitzubringen und sich immer wieder zu fragen, was Technik mit uns Menschen macht. Mir drängt sich da die Frage nach den Handlungsebenen auf. In unserem Gespräch mit Thomas Arnoldner hat dieser von vier solchen Ebenen gesprochen: Regulation, die Technologie selbst, dann die Selbstverpflichtung von Firmen, einen solchen inneren Kompass zu verwenden, und schließlich die Verantwortung der Konsumenten. Wie seht ihr das? Peter Reichl: Also was die technologische Ebene betrifft, also den Einsatz von Technologie, um technologische Entgleisungen zu beschränken, bin ich sehr pessimistisch. Nehmen wir einmal das her, was heute mit Bildern und Fotografien geschieht. Da hat die Menschheit tausende Jahre versucht, irgendwie die Wahrheit über das, was vor ihren Augen passiert, abzubilden. Könige haben vor ihrer Hochzeit die besten Maler zu ihrer Auserkorenen geschickt, um wenigstens eine Idee zu bekommen, auf wen sie sich da einlassen. Dann hat man die Fotografie erfunden, die Schallplatte, das Fernsehen, und das Problem schien gelöst. Natürlich ist keines dieser Medien neutral oder unverzerrt, aber spätestens mit Photoshop haben wir damit begonnen, jeden Realitätsanspruch kaputt zu machen, und wenn ich mir ansehe, was heute mit Deep Fake alles geht, gibt es wohl keinen Sinn mehr, in einigen Jahren Bildern oder Video überhaupt noch zu glauben. Wir werden in Zukunft einfach keine Bilder mehr anschauen dürfen, um etwas über die Welt zu lernen, da mehr oder weniger alles in den Bereich der Fiktion fällt. Anders ausgedrückt: Es wird die Frage gar nicht mehr geben, ob etwas gefälscht ist oder nicht, sie wird zu einer sinnlosen Frage, wenn jede menschliche Erfahrung überzeugend konstruiert werden kann. Und dagegen wird dann auch technisch nichts zu machen sein. Christopher Frauenberger: Es gibt diesen Begriff des postfaktischen Zeitalters, und ChatGPT wie alle anderen generativen KIs stellen uns jetzt vor das Problem, dass wir unseren Sinnen

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nicht mehr trauen können. Ein Stück weit war das immer schon so, aber das hat nun eine neue Qualität bekommen und es wäre fatal, sich wieder auf Technologie zu verlassen, dieses Problem für uns zu lösen. Peter Reichl: Das hängt auch mit dem Allgemeinheitsanspruch von Technologien zusammen. Es ist unbestritten eine großartige Sache, wenn man eine Bilderkennung bauen kann, die Hautkrebs erkennt, aber sie kann dann vielleicht auch Asylsuchende identifizieren, die gewisse politische Bestrebungen gerne an der Außengrenze abwehren möchten. Wir bekommen aber immer beides, und dieser Allgemeinanspruch des Computers, der einst von Alan Turing als „Universal Machine“ konzipiert wurde, ist das eigentliche Verhängnis. Wir haben das in unserer Wahrnehmung bereits so verinnerlicht, dass heutzutage alles, was ein Problem ist, automatisch ein digitales Problem wird. Und damit kann man, statt sich damit auseinanderzusetzen, bequem zu irgendeiner Outsourcing-Lösung greifen. Die Maschine kümmert sich schon darum, es wird dann schon stimmen und wir nehmen das dann so zur Kenntnis. Das aber kann es nicht sein.

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Georg Krause: Wo liegen dann die entscheidenden Handlungsebenen? Christopher Frauenberger: Wenn wir bei den vorhin erwähnten vier Säulen bleiben, dann glaube ich, es ist unbestritten, dass wir uns als Gesellschaft Regeln geben müssen. Das wird auf der einen Seite gesetzgeberisch passieren müssen, auf der anderen Seite aber auch ethisch normativ, also gesellschaftlicher Konsens sein. Problematisch dabei finde ich, dass in der Diskussion rund um diese Regeln oft Innovation gegen Verantwortung ausspielt, als ob man entweder innovativ sein oder verantwortlich handeln könne. Ich würde sagen, es gibt keine gute Innovation, die nicht auch verantwortungsvoll ist. Das hängt mit den Bewertungskriterien zusammen, und hier muss sich auch in der Wirtschaft etwas ändern. Es kann nicht sein, dass etwas als „erfolgreiche Innovation“ dargestellt wird, aber in Wirklichkeit massive negative Auswirkungen auf Gesellschaft oder Umwelt hat. Hier muss also Corporate Responsibility weiter gehen und vor allem auch in die Bewertung eines Unternehmens einfließen. Wenn wie jetzt gerade gegen die AI-Regulierung der EU lobbyiert wird, weil das innovationshemmend sei, dann sage ich: Gott sei Dank ist das innovationshemmend! Das ist ja genau der Punkt einer Regulierung, dass nicht alles gemacht werden kann, was man machen könnte. Wir müssen uns demokratisch darauf verständigen, was wir als Gesellschaft von Technologie erwarten.

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Georg Krause: Darf ich die Frage der Bewertungskriterien aufgreifen: Wie könnte man denn, im Sinne einer betrieblichen Steuerung in der wirtschaftlichen Praxis, eine Umsetzung des Digitalen Humanismus messbar machen? Christopher Frauenberger: Auch das ist ein Artefakt der Digitalisierung, und weitergehend eigentlich ein Relikt der Moderne, dass wir nichts mehr glauben zu wissen, wenn wir es nicht messen können. Kann ich eine bessere Gesellschaft oder ein gesünderes Unternehmen immer messen? Wahrscheinlich in Teilen und Aspekten, aber nicht im Ganzen. Trotzdem haben wir Menschen ein gutes Sensorium dafür, wir erkennen das Gute, auch wenn wir es manchmal nicht benennen können. Wenn ich zum Beispiel in einem Unternehmen Prozesse digitalisiere, kann ich die Effektivitätssteigerung messen, vielleicht noch die Zufriedenheit der Mitarbeiter:innen. Wie aber kann ich messen, wieviel das Unternehmen für seine Werte einsteht? Das Denken in numerischen KPIs befriedigt Computer, aber wir sollten uns nicht damit zufrieden geben. Erfolg ist mehr.

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Georg Krause: Ich sehe das ein wenig in Analogie zu den ESGs. Auch hier ist es ja intuitiv völlig klar, was eine bessere Umwelt ausmacht. Das würden wir auch alle erkennen. Trotzdem ging mit der europäischen ESRS-Direktive ein spürbarer Ruck durch die Unternehmen, weil sie jetzt wirklich auch messen und berichten müssen, was sie in diesem Bereich tun. Das ist der Logik der Wirtschaft verankert. Oder ein anderes Beispiel: Dinge wie Barrierefreiheit oder Inklusion kann man bei Ticketautomaten messbar machen und dadurch einfordern. Ohne diese Messbarkeit wird es viel schwieriger. Peter Reichl: Trotzdem: Humanismus, im Sinne eines Fokus auf Menschsein, ist ebenso wie Umweltschutz letztlich etwas zutiefst Analoges. Eine Messbarmachung ist deshalb immer eine Reduktion, die manchmal vielleicht ein brauchbares Modell liefert, so wie in diesem Beispiel, aber sie hat eben auch ihre Grenzen.

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Georg Krause: Aber man muss die Verantwortung eines Unternehmens oder einer Führungskraft breiter sehen. Es hat sich ja auch in den letzten Jahren schon sehr viel getan, etwa zum Thema Stakeholder, Umwelt oder Diversität etc. Aber trotzdem muss ich versuchen, das irgendwo festzumachen.

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Christopher Frauenberger: Es gibt verschiedenste Bemühungen, die in diese Richtung gehen, zum Beispiel im Bereich Value-Sensitive Design oder Value-Based Engineering, etwa mit dem IEEE-7000-Standard, in dem versucht wird, wertebasierte Technologieentwicklung in einer prozeduralen Form standardisiert in Unternehmen zu bringen. Was ich daran gut finde: Dieser Ansatz liefert Einstiegspunkte und macht Dinge greifbar, die man konkret umsetzen kann. Beispielsweise leitet er an, wie man sich am Anfang der Entwicklung eines technologischen Produkts mit Stakeholdern auseinandersetzt, um zu verstehen, was der reale Kontext ist und was die geplante Entwicklung dann mit diesem Kontext macht. Ich glaube, da gibt es viele solcher Bausteine, die man sich holen kann, und wenn man das ehrlich macht und in einer kritischen, selbstreflektierten Art und Weise umsetzt, dann ist das sehr wertvoll. Das Problem mit Zertifizierungen oder Standards ist aber, dass sie eine moralische Grundhaltung externalisieren. Anders ausgedrückt: Ich lagere Verantwortung aus, damit ich nicht selbst in moralische Verantwortung kommen muss. Im schlimmsten Fall wird das dann einfach zum Whitewashing. Und eine solche Distanz zur Moral wird erst durch den Standard ermöglicht, oder aber wenn man alle unangenehmen Fragen an ein Ethikboard o. ä. auslagert. Aber noch einmal: Solche Methoden, Prozesse und Standards sind schon hilfreich, aber wie wir alle wissen, braucht Veränderung das Drehen an vielen Rädern.

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Georg Krause: Jetzt haben wir viel darüber gesprochen, wie es nicht sein sollte, aber wie könnte es denn sein? Wie sollte es sein? Wie sollte ein Musterunternehmen im Sinne des Digitalen Humanismus an das Thema herangehen? Christopher Frauenberger: Im Zentrum steht in erster Linie immer die ehrliche Auseinandersetzung um die Gestaltung digitaler Zukünfte. Darauf muss man sich einlassen, dafür muss man Möglichkeiten und Räume schaffen. Und das kann schon auch anstrengend sein. Ein Beispiel aus meiner eigenen Forschungsarbeit: In einem Projekt, das vom FWF gefördert ist3, arbeiten wir mit der Caritas Wien, dem Technischen Museum Wien und Kollegen der TU Wien zum Thema Robotik in der Pflege. Die erste Frage, die wir uns in diesem Projekt gestellt haben, war nicht etwa, wie Roboter die Probleme in der Pflege lösen könnten, sondern: Was ist denn eigentlich gute Pflege? Und das ist schon einmal überraschend schwer zu beantworten. Was bedeutet Fürsorge? Wie schaut die soziale Praxis der Pflege aus? Wer sind die Menschen, die pflegen und warum machen sie das? Erst wenn das geklärt ist,

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kann man dann darauf schauen, welche Rollen wir uns für Roboter vorstellen wollen. Das ist dann auch eine gesellschaftliche Aushandlung und wird in Folge auch verändern, was wir unter Pflege und Pflegetätigkeit in Zukunft meinen. Es wird die Praxis verändern. Ich denke, das ist ein schönes Beispiel, wie man im Geiste des Digitalen Humanismus an solche Projekte herangehen kann: Gute erste Fragen stellen und in eine ernsthafte Aushandlung gehen, wie eine digitale Zukunft aussehen sollte. In dem Projekt haben wir zum Beispiel herausgefunden, wie zentral Beziehungsarbeit für gute Pflege ist und, dass es hier interessante Rollen für Roboter geben könnte, die Pflegende dabei unterstützen, mit den Biographien ihrer Klienten zu arbeiten. Der Grund ist simpel: Computer können sich einfach sehr gut alles merken. Peter Reichl: Noch einmal anders ausgedrückt: Hier wird also die technologische Fragestellung hintangestellt und zunächst ein Narrativ verhandelt, das auf etwas ganz zutiefst Menschliches, nämlich die Sorge abzielt. Das könnte nun als Blaupause dienen, insofern als man sich eben solcher hochgradig nicht-technischer Begriffe bedient, um das digitale Wirken von Unternehmen überhaupt einmal zu beschreiben. Wie lässt sich ausdrücken, dass eine App oder ein Roboter sich um mich sorgt, statt dass sie mir primär irgendetwas abnimmt oder irgendetwas leichter für mich macht?

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Georg Krause: Das Idealbild einer Firma oder eines Prozesses, der den Digitalen Humanismus umsetzt, fordert also eine sehr intensive, oft auch zeitaufwendige Auseinandersetzung mit der Wirkung von Digitalisierung ein? Christopher Frauenberger: Ja, aber es ist nicht nur der Aufwand entscheidend, sondern vielmehr, dass eine andere, eine neue Frage gestellt wird. Digitalisierung wird bislang ja sehr oft von der Lösung her gedacht, also: Ich habe da ein System, an das sich das Problem anpassen muss. Um mit Watzlawick zu sprechen: Wenn ich nur einen Hammer habe, schaut alles wie ein Nagel aus. Aber das ist falsch. Solche guten Fragen wären etwa: Was ist die Bedeutung von Arbeit? Was ist ein gutes Leben? Welche Rolle wollen wir Digitalisierung in diesen Bereichen geben, um ein erfülltes Leben zu leben, um noch einmal auf den Abt des Stifts Wilhering zurückzukommen? Welche Gesellschaft wollen wir sein, wie wollen wir zusammenleben? Das ist für mich der Kern des Digitalen Humanismus. In der Bearbeitung dieser Fragen gibt es viele Hebel: Regulierung, Standards, Methoden, Beratung, Werte, moralisches Selbstverständnis etc. Aber der Kern ist

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immer der gleiche: Wir müssen darauf achtgeben, welche Entwicklung uns zu den Menschen macht, die wir sein wollen – mit all der notwendigen politischen Aushandlung, die dieses Wir einfordert. Digitaler Humanismus ist also letztlich eine zutiefst philosophische Frage, um die wir nicht herumkommen. Peter Reichl: Und die wir uns alle, jeder für sich, selbst stellen müssen.

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Georg Krause: Danke für diesen schönen Schlusssatz.

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Wegweiser für das Management Methoden zur Umsetzung des Digitalen Humanismus in der eigenen Organisation Martin Giesswein, Digital-Humanist, Autor und Fakultätsmitglied der WU Executive Academy

Kurzfassung

In seinem Artikel beschreibt der Digital-Humanist Martin Giesswein Methoden zur Umsetzung des Digitalen Humanismus in der eigenen Organisation. Die „EEE“-Prinzipien Ehrlichkeit, Ethik und Experimentieren sieht er als wichtige Grundlage für die Umsetzung im Unternehmen. Er beschreibt dabei die Umsetzung auf den vier Ebenen eines Unternehmens, nämlich der normativen, der strategischen, der taktischen und der operativen. Für jede dieser Ebenen zeigt er geeignete Methoden und Vorgehensweisen, darunter die Nutzung der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, das Corporate Digital Responsibility Framework, den Management-Guide „Digitaler Humanismus“ und die standardisierte ethische Softwareentwicklung auf Basis des ISO/ IEC/IEEE 7000 Standards. Eine erfolgreiche Umsetzung erfordert eine gute Balance zwischen inhaltlicher Qualität, Motivation für Mitarbeitende und Kostenbewusstsein. Die vorgestellten Methoden sind auf Unternehmen verschiedener Größen und Branchen anwendbar.

© Der/die Autor(en), exklusiv lizensiert an Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2023 G. Krause (Hrsg.), Die Praxis des Digitalen Humanismus, ars digitalis, 303 https://doi.org/10.1007/978-3-658-42946-1_21

Fotocredit: msg Plaut

„Digitaler Humanismus braucht mutige Führungskräfte und mündige Konsument:innen.“ Martin Giesswein, Digital-Humanist, Autor und Fakultätsmitglied der WU Executive Academy

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Wordrap Digitaler Humanismus bedeutet für mich ganz persönlich … … meine Mission im Geschäftsleben, die laufende digitale Transformation gemeinsam mit Geschäftspartner:innen zu gestalten und nicht einfach die Entwicklungen laufen zu lassen. Mein schönstes Beispiel für die Umsetzung ethischer Prinzipien in der digitalen Welt ist … … die Diskussionen mit meinen Töchtern über TikTok und seine Effekte im Bereich der süchtig machenden Algorithmen, der Meinungsbeeinflussung und ob „alles wahr ist“, was dort gezeigt wird. Wenn ich einen Wunsch hätte, damit die Digitalisierung heute oder in Zukunft menschenzentriert wird bzw. bleibt, welcher wäre das? Dass wir Menschen nicht das tun, was technisch oder ökonomisch möglich ist, sondern was für Mensch, Gesellschaft und Umwelt sinnvoll ist. Welcher ist der eine, wichtigste Regulierungsbedarf durch die österreichische bzw. europäische Politik in dem Bereich? Neben dem kommenden AI-Act, der proaktiv, risikominimierend ist und somit immer die Gefahr der wirtschaftlichen Benachteiligung europäischer Firmen im Vergleich zu anderen Kontinenten hat, braucht es eine massive Förderwelle für humanistische KI-Modelle und Systeme in und aus Europa. Was ist die eine Sache, die einem Unternehmen am meisten helfen würde, die Ideen des Digitalen Humanismus besser umsetzen zu können? Dass alle Mitarbeitenden inklusive der Führungskräfte ein gemeinsames Bild des digitalen Impacts ihrer Organisation haben. Das ist die Basis für alle digitalhumanistischen Maßnahmen. Was ist der Tipp für Unternehmen, die gerade beginnen sich mit dem Thema zu beschäftigen aus eurer Erfahrung heraus? den vorliegenden Management-Guide „Digitaler Humanismus“ (www.humanism. digital) lesen und die für das Unternehmen sinnvollen Zugänge zum Digitalen Humanismus finden. Was ist Dein wichtigster Beitrag als Fakultätsmitglied und Sparringpartner, um die Umsetzung der ethischen Prinzipien in Unternehmen voranzutreiben? Viel zu publizieren in Buch-, Keynote-, Podcast- und Videoform, damit der Begriff „Digitaler Humanismus“ zum allseits bekannten Schlagwort für eine sinnvolle Digitalisierung wird.

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Nach den vorherigen Kapiteln des Buches stellt sich nun die Frage für das Management: Wie kann der Digitale Humanismus in der eigenen Organisation umgesetzt werden? Dieser Beitrag beleuchtet praxiserprobte Methoden und Vorgehensweisen, die es einer Organisation erlauben, sich dem Digitalen Humanismus zu nähern. Bestehende ökologische oder gesellschaftliche Initiativen der Organisation können um digitalhumanistische Inhalte erweitert werden. Neue digitalhumanistische Projekte können strukturiert und mit vertretbarem Aufwand umgesetzt werden.

Methoden und Vorgehensweisen im Überblick Behandelt, beschrieben und bewertet werden im Folgenden Vorgehensweisen aus den Bereichen Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen (SDG); Environmental, Social, Governance (ESG), Corporate Digital Responsibility (CDR); der ManagementGuide „Digitaler Humanismus“ und die standardisierte ethische Softwareprogrammierung (ISO/IEC/IEEE 7000).

Prinzipien für erfolgreiche Umsetzungen Die Umsetzungen brauchen eine gute Balance zwischen der inhaltlichen Qualität der Umsetzungen, der Motivation der Mitarbeitenden und dem Kostenbewusstsein, das jeder Organisation innewohnt. Aufbauend auf den Erfahrungen aus der Praxis kann man Erfolg versprechende Maxime für digitalhumanistische Umsetzungsarbeiten in den „EEE-Prinzipien“ (Ehrlichkeit, Ethik, Experimentieren) zusammenfassen: 1) Ehrlichkeit Bei ökologischen Initiativen in der Gesellschaft und in der Wirtschaft gilt es bekanntermaßen, das sogenannte „Greenwashing“ zu verhindern. Greenwashing ist die nach außen konzentrierte, marketingtechnische Darstellung einer Organisation als positiv wirksam für die Umwelt, aber ohne entsprechende reale Ergebnisse. Im Digitalen Humanismus sind gleichermaßen Scheinhandlungen und unsubstantiierter Aktivismus zu vermeiden. Man würde in diesem Fall von „Humanismwashing“ sprechen, das keiner Organisation in einer offenen und medialen Gesellschaft langfristig hilft. 2) Ethik Organisationen haben eine Vielzahl von Aufgaben. Dazu können die Servicierung der Bürger:innen, die Schaffung von Arbeitsplätzen und im Kommerziellen die Sicherstellung einer Kapitalrendite für die Investor:innen zählen. Diese und alle anderen Ziele sind nachhaltig nur dann erzielbar, wenn die Organisation auch ihren digitalen Impact auf Mensch, Gesellschaft und Umwelt kennt und unter Wahrung der Werte aller Stakeholder:innen positiv gestaltet. Kommerzieller Erfolg ist langfristig nur möglich, wenn man ethisch korrekt und wirtschaftlich wirkungsvoll handelt.

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3) Experimentieren Der Digitale Humanismus ist ein relativ neuer Begriff, jede Handlung in diese Richtung ist zurzeit freiwillig und selbstbestimmt. Jede Organisation braucht eine individuelle Herangehensweise, die zur Kultur passt, wenn sie ehrlich und ethisch effektiv sein soll. Daher ist ein Ausprobieren nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Im ersten Jahr der Beschäftigung der Organisation mit dem Digitalen Humanismus schon 100 % der Herausforderungen lösen zu wollen, ist unrealistisch. Kleine Schritte heute zu machen und morgen diese zu adaptieren ist besser, als zu groß und zu lang für die ferne Zukunft zu planen.

Anwendbarkeit der Vorgehensweisen Diese Methoden sind bei allen Arten von mittleren und größeren Organisationen verwendbar. Kleinstunternehmen und Ein-Personen-Unternehmen werden sicherlich Inspirationen in diesem Beitrag finden, alle vorgestellten Maßnahmen sind aber aus Erfahrungen mit Organisationen über 50 Mitarbeitenden abgeleitet. Die Vorgehensweisen können in allen Branchen verwendet werden. Der digitale Impact eines Industrieunternehmens wird ein anderer sein als der einer kommunalen Verwaltung. Daher werden andere digitalhumanistische Maßnahmen umgesetzt werden. Auf höheren Ebenen sind aber Zielsetzungen, Leitlinien und Maßnahmenrahmen branchenagnostisch. Die gegenständliche Betrachtung ist sowohl für kommerziell ausgerichtete Unternehmen, Non-Profit-Organisationen, Einheiten der öffentlichen Verwaltung, Vereine als auch andere Organisationsformen wie zum Beispiel Interessenvertretungen gedacht.

Umsetzung auf allen vier Organisationsebenen Um dem Management der Organisation eine weitere Hilfe beim Selektieren der richtigen Flughöhe zur Annäherung an den Digitalen Humanismus zu geben, betrachten wir die einschlägigen Methoden aufgeteilt auf vier Ebenen des Unternehmens: die normative, die strategische, die taktische und die operative Ebene. Der Einstieg einer Organisation in das Thema des Digitalen Humanismus ist über alle Ebenen möglich. Es ist naheliegend, die digitalhumanistischen Prinzipien auf der höchsten, der normativen Ebene zu verankern. Je höher die Ebene ist, desto umfassender, aber auch langwieriger wird letztendlich die Umsetzung des Digitalen Humanismus sein. Glücklicherweise übernehmen in unseren Breitengraden viele Unternehmen und Organisationen bereits heute in ihren normativen Ansätzen gesellschaftliche Verantwortung. Oft ist implizit auch die Verantwortung für den digitalen Impact, sprich: die Auswirkungen von Digitalsystemen und digitaler Geschäftstätigkeit, auch in strategischen Zielen berücksichtigt. Dies ermöglicht es uns jederzeit – auch unterjährig –, auf der taktischen Ebene erste Schritte zu setzen und in der Organisation ein digitalhumanistisches Leitbild zu generieren. Nach den organisationsinternen, eigenen Erfahrungen mit dem Leitbild können im nächsten Strategiezyklus sehr effektive Ziele auf höherer Ebenen definiert werden. Auch ein Einstieg auf der operativen Ebene kann sehr

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wirkungsvoll sein. Insbesondere Unternehmen, die im Kernbereich ihrer Geschäftstätigkeit die Entwicklung von Digitalsystemen haben, können einen bedeutenden Beitrag zur Förderung des Digitalen Humanismus leisten, indem sie bereits bei der operativen Planung, Erstellung und dem Betrieb dieser Systeme ethische Maßstäbe und digitale humanistische Prinzipien als Systemanforderungen definieren und technisch umsetzen.

1)  Die normative Ebene Die normative Ebene umfasst die grundlegenden Ausrichtungen der Organisation, die in der Regel bei der Gründung oder in der Neufassung des Unternehmenszweckes festgelegt werden. Ein Beispiel für Letzteres ist „Patagonia“, dessen Gründer Yvon Chouinard 2018 nach 50 Jahren Bestand seines internationalen Bekleidungsunternehmens festlegte[1]: „Wir sind im Geschäft, um unseren Heimatplaneten zu retten. Wir tun zwar unser Bestes, um die Umweltkrise zu bekämpfen, aber das reicht nicht aus. Wir müssen einen Weg finden, mehr Geld in die Bekämpfung der Umweltzerstörung zu stecken und gleichzeitig die Werte des Unternehmens zu bewahren.“ Solche grundlegenden normativen Ausrichtungen finden wir auch oft in Stiftungen oder auch konkret am Beispiel der österreichischen Erste und Sparkassengruppe, die bereits vor über 200 Jahren ihre Ausrichtung in der Gründungsurkunde festgelegt hat: „Kein Alter, kein Geschlecht, kein Stand, keine Nation ist von den Vorteilen ausgeschlossen, welche die Spar-Casse jedem Einlegenden anbietet.“ Damit war das Sparbuch als erster Schritt für mehr finanzielle Gesundheit in der Bevölkerung getan. Es folgten erste kleine Darlehen an Wirtschaftstreibende. In vielen Diskussionen wird diese normative Ebene oft mit dem Begriff „Purpose“ gleichgesetzt. In der Managementlehre spricht man von Vision und Mission, also von einer positiven Zukunftsannahme und dem Beitrag des Unternehmens zu dieser Zukunft. Im staatlichen Umfeld sind es die Verfassung und die Grundrechte, die für eine Verwaltungsorganisation die Normen des Handelns vorgeben, die das gesellschaftliche Leben steuern und auch dem Digitalen Humanismus eine Umsetzungsbasis bieten. Auch Digitalunternehmen geben sich Werte und Ausrichtungen auf der normativen Ebene. Microsoft formuliert es so: „Unsere Mission ist es, jede Person und jedes Unternehmen auf dem Planeten zu befähigen, mehr zu erreichen.“[2] Google ist bekannt geworden mit seinem kontroversen Slogan: „Don’t be evil“, der im Jahre 2018 abgelöst wurde von heute zehn Grundsätzen[3], wovon man folgende in einen direkten digitalhumanistischen Zusammenhang setzen kann: „Der Nutzer steht an erster Stelle, alles Weitere folgt von selbst“, „Geld verdienen, ohne jemandem damit zu schaden“ und „Informationen werden über alle Grenzen hinweg benötigt“. Wenn man solchen digitalhumanistischen Vorgaben einen Konkretisierungsrahmen auf normativer Ebene geben will, bietet sich die folgende Vorgehensweise an. Vorgehensweise: Corporate Digital Responsibility und Corporate Social Responsibility Digitalhumanistische Prinzipien auf normativer Ebene werden insbesondere in deutschen Organisationen stark unter dem Begriff und der Vorgehensweise Corporate Digital Responsibility (CDR) gefördert. CDR kann als Ergänzung und Weiterentwicklung des bekannten Corporate Social Responsibility (CSR) in digitalen Zeiten gesehen werden.

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Die Grundlagenstudie Corporate Digital Responsibility (CDR) des Berliner Instituts für ökologische Wirtschaftsforschung bietet ein umfassendes Konzept für die gesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen in der digitalen Ära. CDR ist branchenübergreifend anwendbar und integriert sechs spezifische Handlungsfelder der Unternehmensverantwortung, die durch die Digitalisierung beeinflusst werden. Die Handlungsfelder umfassen Unternehmensführung, Mitarbeiterverantwortung, ökologische Verantwortung, Produktverantwortung, Verantwortung in der Lieferkette und gesellschaftliche Verantwortung. Jedes Feld berücksichtigt spezifische Aspekte, wie digitale Ethik, Datensicherheit, Diskriminierungsfreiheit, digitale Arbeitswelten und globale Kontexte der Lieferketten. Die Studie untersucht, wie 62 deutsche Großunternehmen diese Aspekte in ihren Nachhaltigkeitsberichten behandeln, und identifiziert dabei Stärken, Schwächen und Entwicklungsmöglichkeiten. Sie betont die Notwendigkeit für Unternehmen, ihre Rolle als Verbraucher digitaler Dienste stärker zu reflektieren, die Verantwortungsprozesse gegenüber Stakeholder:innen zu digitalisieren und die Unterstützung durch politische Steuerung zu suchen. Corporate Digital Responsibility (CDR) beinhaltet die freiwilligen Aktivitäten von Unternehmen, die über das gesetzlich vorgeschriebene Maß hinausgehen, um die digitale Welt aktiv zugunsten der Gesellschaft zu gestalten. Die CDR-Initiative des deutschen Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, Sicherheit und Verbraucherschutz dient als Plattform für den Austausch von engagierten Unternehmen mit dem Ziel, die Übernahme von Verantwortung im digitalen Wandel zu einer Selbstverständlichkeit in allen Branchen zu machen. Die Mitglieder der CDR-Initiative bekennen sich durch den CDR-Kodex zu leitenden Prinzipien und verpflichten sich zur kontinuierlichen Verbesserung ihrer Maßnahmen und zur jährlichen Berichterstattung. In ihren Berichten legen sie dar, wie sie ihre Verantwortung im digitalen Raum wahrnehmen. Die ersten CDR-Berichte wurden am 5. Juli 2022 veröffentlicht und werden jährlich erneuert. Unternehmen, die zurzeit einen CDR-Bericht abgegeben haben, sind: Telefónica Deutschland, BARMER, Deutsche Telekom AG, ING Deutschland, Otto Group, Weleda AG, Zalando SE. Erstmalig wurde im Jahr 2023 ein Preis im DACH-Raum für herausragende Beiträge zur CDR vergeben, mit Kategorien wie „CDR und Verbraucherbelange“, „CDR und Mitarbeitende“ und „CDR und Neue Geschäftsmodelle“. Dabei wurde auch eine österreichische Organisation, nämlich fit4internet (eine Initiative zur Stärkung digitaler Kompetenzen der österreichischen Bevölkerung), mit dem dritten Platz in der Kategorie „CDR und Mitarbeitende“ prämiert. Die sogenannten CDR Building Bloxx, ein vom Bundesverband der Digitalwirtschaft in Deutschland entworfenes, praxisnahes Framework, sollen Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft bei der Formulierung eines gemeinsamen Verständnisses von Corporate Digital Responsibility unterstützen. Vorteile dieser Vorgehensweise: +  Umfassende Betrachtung der digitalhumanistischen Prinzipien +  Hoher Strukturgrad und politischer Rückhalt +  Viele Unternehmen, die CDR bereits verwenden und berichten

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Nachteile dieser Vorgehensweise: –  Hoher organisatorischer Aufwand –  Längere Vorlaufzeiten –  Eher für Großunternehmen mit bereits bestehenden Berichtspflichten

2)  Die strategische Ebene Die strategische Ebene bezieht sich auf das gesamte Unternehmen und formuliert hochrangige Ziele. Die Formulierung der Umsetzungsziele der digitalhumanistischen Prinzipien ist auf der strategischen Ebene auf mindestens zwölf Monate ausgerichtet. Die Stadt Wien erarbeitet auf dieser Ebene gerade die nächste Iteration der Digitalen Agenda [8]. Diese Digitalstrategie, die sich vollständig auf den Digitalen Humanismus ausrichtet, beinhaltet für mehrere Lebenssphären der Bürger:innen Handlungsfelder und strategische Ziele. Die stadtinternen Kräfte in den IT-Firmen und der Magistrat selbst sind der Adressat dieser Strategie. Eine der auf die Digitale Agenda einwirkende höherrangige Strategie ist die „Smart City Klima“-Strategie [9]. An diesem strategischen Kontext sieht man, wie sehr sich gesamtheitliche Nachhaltigkeitsvorgaben und Sustainable Goals für die Umsetzung von digitalhumanistischen Zielen eignen. Vorgehensweise: Sustainable Development Goals Wenn ein Unternehmen bereits einen Schwerpunkt auf die Beachtung und Förderung der Sustainable Development Goals (SDGs) [10] der Vereinten Nationen legt und entsprechende organisatorische Maßnahmen umgesetzt hat, empfiehlt sich eine digitale Vertiefung dieses Ansatzes. Der Blickwinkel des Digitalen Humanismus und der digitalen Ökonomie bietet eine ideale Grundlage, um diesen bestehenden Ansatz zu intensivieren und weiter zu stärken. Die folgenden SDGs stehen in einer engen Verbindung zum Digitalen Humanismus: Ziel 3: Gesundheit und Wohlbefinden – die Verwendung digitaler Technologien im Gesundheitswesen, bekannt als digitale Gesundheit oder eHealth, kann entscheidend zur Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens beitragen. Hierbei ist es von Bedeutung, diese Technologien so zu gestalten und zu nutzen, dass sie den Menschen respektieren und unterstützen, ihre persönlichen Daten schützen und ihre Autonomie fördern. Ziel 4: Hochwertige Bildung – digitale Technologien können genutzt werden, um den Zugang zu Bildung zu verbessern und personalisiertes Lernen zu ermöglichen. Ziel 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum – die faire Gestaltung digitaler Arbeitsplätze und die Berücksichtigung Interessen von Mitarbeitenden in der digitalen Wirtschaft sind Schlüsselaspekte des Digitalen Humanismus. Ziel 9: Industrie, Innovation und Infrastruktur – die Förderung von Innovationen und die Bereitstellung von Infrastrukturen, die einen gerechten Zugang zu digitalen Technologien ermöglichen, sind wichtige Themen im Digitalen Humanismus. Ziel 10: Weniger Ungleichheiten – digitale Technologien können dazu beitragen, Ungleichheiten zu verringern, wenn sie gerecht und inklusiv gestaltet und genutzt werden.

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Ziel 16: Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen – die Wahrung der Privatsphäre und der menschlichen Rechte in der digitalen Welt ist ein wichtiger Aspekt des Digitalen Humanismus. Ziel 17: Partnerschaften, um die Ziele zu erreichen, Umsetzungsinstrumente zu verstärken und die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung wiederzubeleben – gerade die Partnerschaft zwischen Politik/Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft ist ein Grundpfeiler für den Betrieb digitalhumanistischer Systeme für Bürger:innen und Kundinnen und Kunden. Die Auswirkungen des Digitalen Humanismus können jedoch je nach Kontext und Anwendung variieren, und es könnte auch Verbindungen zu anderen SDGs geben. Konkrete „DIGI 4 SDG“-Basisarbeit leistet der Verein respACT und zeigt auf, welchen Beitrag Unternehmen durch digitale Technologien zu den SDGs leisten können. Mit Unterstützung der Wirtschaftskammer Österreich und der Industriellenvereinigung entwickelt respACT gerade einen Leitfaden für Unternehmen zur Umsetzung der SDGs mithilfe digitaler Technologien. [11] Unter dem Suchbegriff „AI 4 SDG“ gibt es mehrere internationale Beispiele, wie der digitale Teilbereich Künstliche Intelligenz für digitalhumanistische Initiativen in Anwendung gebracht wird. [12] Vorteile dieser Vorgehensweise: +  Global akzeptierter Rahmen und Framework +  Internationale Anschlussfähigkeiten +  Hohe Vergleichbarkeit mit anderen Organisationen Nachteile dieser Vorgehensweise: –  Fokussierung auf einzelne SDG notwendig, um effektiv zu bleiben. –  Komplexitätsgrad der SDGs –  Zurzeit noch geringe Aufmerksamkeit für das SDG-Framework Vorgehensweise: Environmental, Social, Governance Arbeitet eine Organisation bereits mit Environmental Social Governance (ESG), also einer programmatischen Ausrichtung und Berichterstattung in den Feldern Umwelt, Soziales und Governance (Unternehmensführungsregeln), kann dieses strategische Vorgehen mit Prinzipien des Digitalen Humanismus erweitert werden. Digitales ist eine Querschnittsmaterie, die sich durch alle drei Bereiche zieht. Wir sprechen somit von den digitalen Aspekten des ESG unter der Abkürzung „dESG“. Typische Felder der dESG können folgende sein: • Nachhaltige Technologie: Organisation soll sich bei der Entwicklung und Implementierung von digitalen Systemen auf den Einsatz von erneuerbaren Energien, energieeffizienten Geräten und nachhaltigen Materialien für den Produktionsprozess konzentrieren. Organisationen können Lösungen wie künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen verwenden, um den Energieverbrauch zu optimieren und Abfall zu reduzieren. • Digitale Inklusion: Die Partizipation der Mitarbeitenden, Kund:innen und anderer Stakeholder:innen bei dem Design, der Erstellung und der Optimierung von digitalen

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Systemen kann in ESG-Programmen eingefordert und umgesetzt werden. Hier gilt es, ein zeitgemäßes Verständnis von Diversität und Inklusion an den Tag zu legen, der Stakeholder:innen mit allen Diversitätsformen (ethnische, geschlechtliche Diversität, sexuelle Orientierung, Alter, Religion und Glaube, sozioökonomischer Status, Behinderung, Neurodiversität, Bildungshintergrund) einschließt. • Transparente Echtzeit-Berichterstattung: Organisationen können digitale Systeme nutzen, um transparente und zuverlässige Berichte über ihre digitalhumanistische Performance zu erstellen. Diese Berichte können in Echtzeit aktualisiert werden und bieten einen umfassenden Überblick über den Fortschritt des Unternehmens in Bezug auf seine dESG-Ziele. Gesetzlich geforderte oder darüber hinausgehende Whistleblower-Systeme fördern die digitalhumanistischen Möglichkeiten der anonymen Inputs zum Aufdecken von dESG-Optimierungspotenzialen zu jedem Zeitpunkt. • Datenspenden: Data Donation und digitaler Humanismus sind eng miteinander verbunden, da beide den Nutzen individueller Daten für das Gemeinwohl betonen, wobei der Schutz persönlicher Rechte und die Einhaltung ethischer Standards im Mittelpunkt stehen. In einem dESG-Programm kann Data Donation umgesetzt werden, indem Organisationen transparente und freiwillige Prozesse zur Datensammlung einführen. Wichtig ist eine klare Kommunikation mit den Datenspender:innen über die Verwendung und den Nutzen ihrer Daten. • Digitale Bildung und Schulung: Organisationen können im Rahmen von dESG und HR-Programmen die Digitalkompetenzen der Mitarbeitenden stärken und so die im Digitalen Humanismus geforderte Partizipation optimieren. Das Verständnis von digitalen Möglichkeiten und Gesetzmäßigkeiten in der Belegschaft einer Organisation ist die Basis für digitalhumanistisches Handeln. Es können digitale Lernplattformen und -werkzeuge eingesetzt werden, um ihre Mitarbeiter in dESG-Themen zu schulen. Dies kann die Bildung zu Themen wie Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, ethischer Geschäftsführung und den Auswirkungen der digitalen Geschäftstätigkeit des Unternehmens auf die Stakeholder:innen umfassen. In den vielbeachteten „Briefen an die CEOs“, also einer strategischen Vorgabe der Investmentfirma BlackRock an seine Beteiligungsvorstände, schreibt im Jahr 2022 der BlackRock-Chef Larry Fink: „Als Verwalter des Kapitals unserer Kunden verlangen wir von den Unternehmen, dass sie nachweisen, wie sie ihrer Verantwortung gegenüber den Aktionär:innen gerecht werden, unter anderem durch solide Umwelt-, Sozial- und Unternehmensführungspraktiken und -richtlinien (ESG).“[13] A1 Group definiert die organisatorische Einordnung und digitalhumanistische Verantwortung stark in ihrem ESG-Programm[14]: „Durch die Aufnahme von ESG als Strategy Enabler in die Unternehmensstrategie sind diese klar im Unternehmen verankert und werden bei Entscheidungen berücksichtigt. Die A1 Group zielt hiermit auf effizientere, ressourcenschonende und somit nachhaltigere Arbeits- und Lebensweisen ab. Außerdem betrachtet sie die diesbezüglichen Initiativen als langfristige Werttreiber, die parallel zu ihrem ökologischen und sozialen Nutzen auch wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen.“

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Vorteile dieser Vorgehensweise: +  Oft in Organisationen bereits etabliert und akzeptiert +  Wichtiger Indikator für den Finanzmarkt und Teil des Shareholder-Willens +  „Non-financial“-Berichtswesen kann leicht erweitert werden Nachteile dieser Vorgehensweise: – ESG oft historisch auf „Environmental“ fokussiert digital-soziale Aspekte stehen in einer Aufmerksamkeitskonkurrenz –  Sehr breites Betrachtungsspektrum –  Eher für Großunternehmen mit bereits bestehenden Berichtspflichten

3)  Die taktische Ebene Die taktische Ebene umfasst Zeiträume bis zu zwölf Monate und liegt nahe an den einzelnen Maßnahmen oder Projektplänen. Sie steht im Einklang mit der Strategie und dient als Leitlinie und Klammer für operative Tätigkeiten (Projekte, Initiativen, Produktentwicklungen), um die digitalhumanistischen Prinzipien in der gesamten Organisation oder in einem Bereich davon umzusetzen. Die agile Taktik kann für jeden neuen Zyklus (nächster Durchlauf, nächstes Geschäftsjahr) angepasst und erneuert werden. Vorgehensweise: Taktischer Management-Guide „Digitale Humanismus“ Zur leichteren internen und externen Kommunikation bedient sich der Guide der drei Begriffe People, Planet und Profit, um den Digitalen Impact von Organisationen auf die betroffenen Gruppen von Menschen, auf die Umwelt und auf die damit eng verwobene Wirtschaftlichkeit einer Organisation zu analysieren und zu verbessern.[15] Der Guide führt das Management und ein aus allen relevanten Funktionen besetztes Kernteam durch den Prozess des Verstehens und der Anwendung von digitalhumanistischen Prinzipien. Ganz grob kann man mit einer Durchlaufzeit von ein bis zwei Monaten und mit circa fünf Workshopeinheiten rechnen, bis eine digitalhumanistische Leitlinie für die Organisation fertig sein kann. Des Weiteren kann das Kernteam in dieser Zeit eine Analyse des Digitalen Impacts, eine Stakeholder-Analyse und eine Priorisierung erster Maßnahmen zur Verbesserung des digitalen Impacts der Organisation schaffen. Der Guide schlägt ethische und betriebswirtschaftliche Gründe vor, die Maßnahmen zur Förderung des digitalen Humanismus erforderlich, begründbar und sinnvoll machen. Diese sind: • Vor allen anderen Gründen: Die persönliche, ethische Überzeugung der Entscheider:innen der Organisation • Attraktive:r Arbeitgeber:in, Purpose, Talentefindung und -bindung • Gewinn und Bestand auf lange Sicht: nachhaltiges Wirtschaften • Wettbewerbsvorteil durch höhere Kundennachfrage und höhere User:innen-Partizipation • Shareholderwillen in Bezug auf digitale Aspekte der ESG • Produkte als Lösungen für ökologische Herausforderungen, Return on Investment durch Innovationen mit digitalen Greentech-Produkten

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• Einsparungen bei Energie- und Ressourcenverbrauch für digitale Hardware • Vorbereitung auf Regularien der EU (Berichterstattungsvorgaben und kommender AIAct) sowie auf mögliche zukünftige ethische Vergaberegeln bei digitalen Beschaffungen Weiters werden im Guide positive Nebeneffekte für das Unternehmen durch das digitalhumanistische Vorgehen angeführt. Diese können sein: Ad-Hoc-Berichtsfähigkeit gegenüber Aufsichtsrat, Eigentümer:innen oder Behörden; Input für Jahresberichte oder Nachhaltigkeitsberichte; Zielvorgaben für motivatorische Systeme und variable Gehaltsbestandteile; Basis für Teilnahme an Awards; Verwendung im Recruiting; Beispiele für die interne Purpose- und Strategiekommunikation; maßvolle Marketing- und mediale Verwendung nach erbrachter materieller Leistung der Maßnahmen; Beispielwirkung für andere Organisationen. Der Guide leitet in sechs Schritten das Kernteam an und zeigt, wie die digitale humanistische Leitlinienerstellung und die Maßnahmendurchführung erfolgen können. Die Schritte sind: 1) Gemeinsames Verständnis über Digitalen Humanismus 2) Analyse des Digitalen Impacts und Stakeholdermap 3) Maßnahmendefinition 4) Priorisierung und Vermeidung von „Humanismwashing“ 5) Leitlinienformulierung 6) Review und laufende Vertiefung Im Anhang des Guides befinden sich strukturierte Inspirationsfragen, die die geforderte Partizipation der Mitarbeitenden der Organisation und weiterer Stakeholder:innen erleichtern soll. Die Erstellung des Guides wurde in den Jahren 2022 und 2023 durch die Wirtschaftsagentur Wien gefördert. Die Projektpartner:innen sind Goodshares Consulting, WU Executive Academy und Martin Giesswein. Goodshares und die WU Executive Academy haben den Prozess in realiter erprobt und arbeiten jetzt laufend an den Umsetzungen. Vorteile dieser Vorgehensweise: +  Bietet organisatorische Klammer, ohne gleich Strategien ändern zu müssen + Erlaubt auch Teilorganisationen und kleineren Firmen, mit digitalhumanistischen Maßnahmen zu starten +  Geringe Ressourcenbelastung Nachteile dieser Vorgehensweise: –  Gefahr der „schnellen Lösungen“ –  Bietet keine offiziellen Zertifizierungen –  Entfaltet keine strategische oder normative Kraft

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4)  Die operative Ebene Die operative Ebene bezieht sich auf konkrete Digitalsysteme, deren Konfiguration und Auswirkung auf die Stakeholder:innen sowie auf spezifische Produkte oder Dienstleistungen im digitalen Zusammenhang. Der Zeithorizont erstreckt sich in der Regel von der Erstellung bis zum Betrieb dieser Systeme. Vorgehensweise: Value Based Engineering gemäß ISO/IEC/IEEE 7000 Standard Mit der Vorgehensweise des Value Based Engineerings und dem Standard IEEE 7000 besteht für die Konfiguration konkreter (digitaler) Produkte, Services und Systeme (System of Interest oder abgekürzt SOI) ein internationaler Standard zur Berücksichtigung ethischer Aspekte. Jede Organisation kann bei der Planung neuer Systeme diesen Standard verfolgen und so dokumentiert die Werteeinwirkungen auf alle potenziell betroffenen Stakeholder berücksichtigen und positiv beeinflussen. Eine Zertifizierung des betroffenen SOI ist nicht zwingend erforderlich, aber jederzeit bei Stellen wie dem TÜV Süd in Deutschland möglich. Sowohl die ISO als auch die IEC haben den von der IEEE stammenden Standard übernommen. Somit ist er eine anerkannte Norm aller drei großen internationalen Institute. Value Based Engineering ist die hinter dem Standard stehende weitergehende Forschungsarbeit von Univ. Prof. Dr. Sarah Spiekermann der WU Wien. Im IEEE 7000 gibt es eine spezielle Adaption für Systeme mit Künstlicher-Intelligenz-Komponenten. Es ist davon auszugehen, dass bei späteren Kategorisierungen dieser Systeme gemäß des geplanten AIActs der Europäischen Union die hier aufgeführten Dokumentationen und Zertifizierungen eine wertvolle Basis bilden können. Der Standard gibt inhaltlich Schritt für Schritt die erforderlichen Arbeiten und Dokumentationen für eine eingehende Analyse aller Stakeholder:innen und deren durch das SOI berührten Werte vor. Diese Analyse führt zur Definition von sogenannten ethischen Systemanforderungen (Ethical Value Requirements oder EVR). Diese werden auf Augenhöhe mit den typischen technischen und rechtlichen Systemanforderungen Teil des Pflichtenheftes oder der User Stories, mit denen das SOI hergestellt wird. Beim Betrieb und bei allfälligen Änderungen des Systems werden die ethischen Auswirkungen auf die Stakeholder:innen weiterhin geprüft. Die Anwendung des IEEE 7000 ist eine ideale Maßnahme zur Sicherstellung der Förderung der digitalhumanistischen Prämissen auf operativer Produktebene. Dieser Standard lässt sich leichter in Organisationen einsetzen, die bereits auf einer der anderen Ebenen digitalhumanistische Vorbereitungsarbeiten geleistet haben, wie zum Beispiel: • Bereitschaft zur Einbeziehung einer breiten Gruppe von Interessengruppen in die Entwicklungsarbeit • Eine offene, transparente und integrative Projektkultur • Eine Verpflichtung zur Qualität • Ein Bekenntnis zu ethischen Werten seitens der Spitze der Organisation • Die Verpflichtung, ausreichend Zeit und Ressourcen für die Definition ethischer Anforderungen bereitzustellen

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IEEE 7000 ist am effektivsten, wenn die Unternehmensleitung und das Top-Management in die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen eingebunden sind und Verantwortung dafür übernehmen. Die notwendigen Rollen des umsetzenden Teams sind im Standard genau beschrieben und für projekterfahrene Organisationen leicht umzusetzen. Ein Einsatzbeispiel des Standards ist die YOMA Plattform der UNESCO für afrikanische Jugendliche. Die Wiener Stadtwerke Gruppe pilotierten im Jahre 2021 eine Zusammenarbeit mit IEEE, um die strengen Regeln des ECPAIS-Programms (Ethics Certification Program for Autonomous and Intelligent Systems) zu generieren, die die Zusammenarbeit von KI und Mensch zum Gegenstand haben. Die Austria Presse Agentur arbeitet mit ihrer KI-Richtlinie in Richtung Erfüllung des IEEE-7000-Standards.

Weitere Erfahrungswerte und Inputs für das digitalhumanistische Management Gleichgültig auf welcher Ebene und mit welcher Methode das Management einer Organisation an den Digitalen Humanismus herantritt, gelten einige generelle Betrachtungen:

1. Abschätzung des Digitalen Impacts und der digitalhumanistischen Verantwortung Alle Unternehmen und Organisationen entfalten einen Digitalen Impact durch die Erstellung und/oder den Einsatz digitaler Systeme in ihrer Geschäftstätigkeit. Digitaler Impact ist die positive oder negative Wirkung einer Organisation und deren digitaler Systeme auf Mensch, Gesellschaft und Umwelt. Alle Organisationen der digitalen Wertschöpfung sind in der Verantwortung und können Maßnahmen setzen. Am Anfang dieser Kette stehen die sogenannten Digitalprovider, wie beispielsweise SAP, Microsoft und Google, aber auch digitale Plattformanbieter wie Lieferando und Meta sowie lokale Programmierfirmen oder Start-ups, die mit digitalen Technologien neue Systeme schaffen. Diese Organisationen sind der Ursprung von Digitalsystemen, die in der Folge einen digitalen Impact auf Menschen, Gesellschaft und Umwelt in all ihren Facetten entfalten, insbesondere bei Anwendungsunternehmen aus allen Branchen und Endkund:innen. Dabei wird dieser Impact stark von den sogenannten Digitaldienstleistern, die oft zwischen Digitalprovidern und Anwender:innen stehen, beeinflusst. Die Dienstleister sind zum Beispiel IT-Systemhäuser, IKT-Dienstleister, Digitalagenturen und IT-Projektmanagement-Firmen, die vorhandene Systeme der Digitalprovider anpassen, konfigurieren, betreiben und weiterentwickeln – also beispielsweise Standardsoftware für die spezifischen Anwendungs- und Einsatzfelder von Unternehmen bereitstellen oder in Rechenzentren betreiben. Die Anwendungsunternehmen selbst entfalten ihren Stakeholder:innen gegenüber auch einen digitalen Impact. Stellen Sie sich zum Beispiel ein Unternehmen im Lebensmitteleinzelhandel, eine Verwaltungsorganisation wie eine Kommune oder ein Bundesministerium vor. Das sind alles Organisationen, die durch die Anwendung von digitalen Systemen auf

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ihrer Webseite, in ihren Kundenbindungsprogrammen oder bei der Erstellung digitaler Bescheide einen hohen digitalen Impact auf die beteiligten Personen wie Lieferant:innen, Kund:innen oder Bürger:innen ausüben. Damit wird klar, dass alle Teilnehmer der digitalen Wertschöpfungskette und nicht nur die Digitalprovider dazu angehalten sind, in ihren Geschäftstätigkeiten auf eine Steigerung der positiven Effekte der Digitalisierung und auf die Senkung der Risiken, die damit einhergehen, hinzuwirken. Der Grad der Verantwortung steigt mit der Größe des potenziellen Stakeholder-Kreises einer Organisation sowie der potenziellen Stärke ihres Digitalen Impacts auf Mensch, Gesellschaft und Umwelt.

2. Unverzichtbar: C-Level Commitment und Partizipation Ohne Commitment der obersten Ebene des Unternehmens sind digitalhumanistische Vorhaben einer Organisation kaum startbar. Es sind keine Beispiele bekannt, wo auf Initiative der Belegschaft oder einer Personalvertretung ein umfassender Digitaler-HumanismusProzess gestartet wurde. Umgekehrt bedarf der Digitale Humanismus aus seiner Natur heraus auch als organisatorische Top-Down-Initiative einer breiten Partizipation der Belegschaft und der anderen Stakeholder. Nur im Gemeinsamen können blinde Flecken, zu kurz gedachte Ansätze oder tradierte schnelle Lösungen verhindert werden. Partizipation ist Basis, Umsetzungs- und Qualitätsgarantin des Digitalen Humanismus. 3. Zusammenarbeit mit Externen und anderen digitalhumanistischen Organisationen Das interne Zusammenarbeiten der Partizipation wird in der Außenwelt gespiegelt durch die Zusammenarbeit mit einschlägigen Expert:innen, zum Beispiel in der digitalhumanistischen Ausbildung der Organisation oder der Begleitung in einem digitalhumanistischen Projekt. Besonders wertvoll ist der rege Austausch mit anderen Organisationen, die den gleichen Weg beschritten haben. Hier gilt wieder die Branchenagnostik: Organisationen unterschiedlicher Ausrichtung und Bereiche können voneinander lernen und sich unterstützen. 4. Förderungen beanspruchen Zunehmend werden Förderungen für digitalhumanistische Zwecke bereitgestellt. Vorreiter sind die Wiener Wirtschaftsagentur und der Wiener Wissenschafts- und Technologiefonds sowie Förderlinien der Arbeiterkammern. Auch wenn nicht alle Linien den Titel „Digitaler Humanismus“ tragen, sind oft die Ziele unter Synonymen wie „Tech4People“, „Digifonds“ oder „Arbeit.Menschen.Digital“ direkt förderbar.

Ausblick Vor 15 Jahren hätten die wenigsten von uns die heute hohe Präsenz von Umweltschutz, biologisch angebauten Lebensmitteln und Diversität & Inklusion als strategische Pfeiler unserer Organisationen und unseres privaten Lebens vorhergesehen. Aber Gesellschaften entwickeln sich weiter und versuchen, aus den Herausforderungen und Chancen das Beste

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zu machen. Bei dem hohen Grad an Verwobenheit unseres realen Lebens und Wirtschaftens mit dem Digitalen werden wir das auch beim Digitalen Humanismus erleben. Das Bewusstsein, welche Art der digitalen Transformation wir wollen und wie wir sie für uns bestmöglich gestalten können, wird mehr Platz einnehmen. Organisationen können heute beginnen, mit vertretbarem Einsatz ihren digitalen Impact vermehrt digitalhumanistisch auszurichten. Auch wenn dieser Buchbeitrag die wirtschaftlichen Vorteile eines solchen Vorgehens klarstellt, am Ende des Tages ist es eine persönliche und ethische Entscheidung von jeder und jedem Einzelnen.

Literatur 1. https://eu.patagonia.com/at/de/ownership/ 2. https://www.microsoft.com/de-de/about/values 3. https://about.google/philosophy/ 4. https://www.ioew.de/publikation/corporate_digital_responsibility 5. https://cdr-initiative.de/ 6. https://www.cdr-award.digital/ 7. https://www.cdr-building-bloxx.com/ 8. https://digitales.wien.gv.at/ 9. https://www.wien.gv.at/spezial/smartklimacitystrategie/ 10. https://sdgs.un.org/goals 11. https://www.respact.at/ 12. https://www.ai4sdgs.org/ 13. https://www.blackrock.com/corporate/investor-relations/larry-fink-ceo-letter 14. https://esg.a1.group/ 15. https://humanism.digital/ 16. https://www.wu.ac.at/value-based-engineering/why/ 17. https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20211115_OTS0071 18. https://apa.at/wp-content/uploads/2022/05/APA_KI_Leitlinie_BASIC_ES.pdf 19. https://wirtschaftsagentur.at/foerderungen/aktuelle-programme/tech4people-184/ 20. https://wien.arbeiterkammer.at/digifonds 21. https://ooe.arbeiterkammer.at/arbeitmenschendigital