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German Pages 226 Year 2018
Gero Bauer, Regina Ammicht Quinn, Ingrid Hotz-Davies (Hg.) Die Naturalisierung des Geschlechts
Gender Studies
Gero Bauer, Regina Ammicht Quinn, Ingrid Hotz-Davies (Hg.)
Die Naturalisierung des Geschlechts Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit
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Inhalt Einleitung: Geschlechter und Sexualitäten in Theorie und Empirie Gero Bauer / Regina Ammicht Quinn / Ingrid Hotz-Davies | 7
G eschlecht und W issen ( schaft ) stheorie ( n ) Schon in der Steinzeit...: Über die ›Natürlichkeit‹ menschlicher Geschlechterrollen aus urgeschichtlich-paläoanthropologischer Sicht Miriam Noël Haidle | 15
Warum Diskriminierung kein Problem ist, das man ›lösen‹ kann: Über den Zusammenhang von Alltag und Ausgrenzung Tobias Matzner | 31
Wie Gender (auch) im Labor konstruiert und naturalisiert wird: Ein Fallbeispiel Laura F. Mega | 43
G eschlecht trans * historisch / trans * zendent ? Als Mann und Frau geschaffen? Die Bibel und ihre Leser*innen Ruth Scoralick | 61
Trans*zendenz: Überlegungen zu Genderfragen im Christentum Regina Ammicht Quinn | 79
Genderkonstruktivismus in Advice to a Daughter (1688) von George Savile, Marquess of Halifax Ingrid Hotz-Davies | 97
G eschlecht ( lichkeiten ) in aktuellen K onfliktfeldern Die Re- und De-Naturalisierung der Geschlechterdichotomie: Intersexualität zwischen Medizin und Menschenrechten Angelika von Wahl | 115
Die (De-)Naturalisierung von Homophobie Gero Bauer | 135
»Die fassen sich da an«: Aggressiv-spaßige Kommunikation mit Referenzen auf Homosexualität in einer Gruppe junger Männer mit Migrationshintergrund Halyna Leontiy | 153
Von Haaren, Hormonen und anderen Körperzellen: Zur Konstruktion der Unvergleichbarkeit der Geschlechter im Sport Marion Müller | 181
»Wir behandeln alle gleich«: Herausfordernde Wechselwirkungen zwischen Konstruktion und Dekonstruktion. Überlegungen zu Fallstricken in Gleichstellungspolitik und Praxisforschung Maria Bitzan / Gerrit Kaschuba / Barbara Stauber | 201
Autor*innen | 221
Einleitung Geschlechter und Sexualitäten in Theorie und Empirie Gero Bauer / Regina Ammicht Quinn / Ingrid Hotz-Davies
Den Impuls für diesen Sammelband gab unser Erstaunen; das Erstaunen darüber, wie beharrlich die Vorstellung ist, es gäbe genau zwei und nur zwei Geschlechter und wir könnten wissen, was deren Eigenschaften seien. Dieses Erstaunen mag auf den ersten Blick sehr akademisch anmuten. Es speist sich in der Tat zu einem Teil aus über Jahrzehnte hinweg generiertem Wissen und produktiv ausgetragenen Debatten der Gender und Queer Studies. Es speist sich aber auch aus der Erfahrung der seit ähnlich langer Zeit in verschiedensten Kontexten aktiven und immer noch und wieder aktiv werdenden feministischen, queeren, trans* und inter* Emanzipationsbewegungen sowie aus der individuellen Alltagswahrnehmung einer schier überbordenden Fülle an geschlechtlichen Ausdrucksformen, die intuitiv einer simplen Verbannung der Geschlechter auf Mars respektive Venus zuwider zu laufen scheinen. In kulturellen, sozialen und ökonomischen Kontexten, in denen der Spielraum dessen, was Frauen* und Männer* tun können und dürfen, welche körperlichen und sozialen Ausdrucksformen ihnen zur Verfügung stehen, einem offenkundigen kontinuierlichen Wandel unterliegt, mutet der neo-biedermeierliche Rückbezug auf patriarchale Phantasien der heterosexuellen, hierarchisch-sphärengetrennten Kleinfamilie geradezu empirisch unsinnig an. Wie kann es sein, dass die Heraufbeschwörung konservativ-binärer Vorstellungen von Geschlecht, Sexualität, Partnerschaft und Familie gerade jetzt in verschiedenen Registern des politischen, sozialen und ökonomischen Diskurses (wieder) angerufen werden? Wie kann es sein, dass ›die Wissenschaft‹ als Begründungsinstanz mit der Unterstellung geradezu heilsbringender Vergewisserung für die immer wieder perpetuierte ›Normalität‹ der Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität herhalten muss (und dies teilweise auch bereitwillig tut), während genau diese (Natur-, Sozial- und Geistes-)›Wissenschaft‹ regelmäßig und produktiv den Blick auf ›das Geschlecht‹ verkompliziert – sieben Jahrzehnte nach Simone de Beauvoirs Le Deuxième Sexe und fünf Jahrzehnte nach Stonewall?
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Im Zuge der aktuellen Debatten um eine politische Rückabwicklung emanzipatorischer Errungenschaften in verschiedenen politisch-konservativen Kontexten (siehe zum Beispiel die Re-Legalisierung häuslicher Gewalt in Russland, die Angriffe auf ›Planned Parenthood‹ und die Ehe für homosexuelle Paare durch die US-Regierung unter Donald Trump, die Debatte um eine Verankerung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt im baden-württembergischen Bildungsplan oder die Ablehnung einer Beschäftigung mit ›Gender‹-Themen durch breite Teile des rechtskonservativen Spektrums) ist die Frage nach Gründen für das Festhalten an rein binär gedachter Geschlechtlichkeit und traditionell-heterosexuellen Rollenbildern hoch aktuell. Diese Auseinandersetzungen müssen im Kontext einer gleichzeitig ablaufenden Komplexitätsanreicherung in den (Natur-)Wissenschaften und in gesellschaftlichen Bewegungen gesehen werden, die eine vorsoziale Zweigeschlechtlichkeit sowohl im wissenschaftlichen Kontext als auch in der Lebenserfahrung von Menschen in Frage stellen. Bereits 1977 stellte Erving Goffman fest: »[F]or these very slight biological differences [between men and women] – compared to all other differences – to be identified as the grounds for the kind of social consequences felt to follow understandably from them requires a vast integrated body of social beliefs and practices, sufficiently cohesive and all-embracing to warrant for its analysis the resurrection of unfashionable functional paradigms. […] Gender, not religion, is the opiate of the masses.« (Goffman 1977: 302, 315)
Man musste also nicht auf Judith Butlers häufig und kontrovers rezipiertes Werk Gender Trouble (1990) warten, um das Geschlecht als soziale Konvention, und zwar nur als soziale Konvention begreifen zu können. Frühere historische Perspektiven, so zeigen einige Beiträge in dieser Sammlung auf, sind, was die zwei komplementär und binär gedachten biologischen Geschlechter betrifft, sowieso eher skeptisch und sehen keinen Grund, am Konstruktcharakter des Geschlechts und an der Fluidität von Geschlechtsgrenzen zu zweifeln. Dennoch werden gerade im aktuellen Diskurs klassische Rollenbilder mit einer scheinbar neuen Dringlichkeit vehement verteidigt, auch von Seiten einiger Vertreter*innen der Evolutionsbiologie und Evolutionspsychologie (vgl. unter anderem Meyer 2015; Janicke et al. 2016). Gleichzeitig schreiben andere Forscher*innen aus den Natur- und Lebenswissenschaften gegen diese Art von Perpetuierung einer vermeintlichen ›Natürlichkeit‹ der Geschlechterbinarität an (vgl. unter anderem Roughgarden 2004; Fine 2017). Vielfältige Diskurse in den (Natur-)Wissenschaften stellen eine klare Zweigeschlechtlichkeit sowohl im wissenschaftlichen Kontext als auch in der Lebenserfahrung von Menschen in Frage, zum Beispiel im Bereich der feministischen Neurowissenschaften (vgl. unter anderem Jordan-Young 2010) und den ›feminist science, technology and society studies‹ (vgl. unter anderem Schmitz 2014; Palm 2011). Dennoch erweist sich die Vorstellung einer nicht ›nur‹ biologischen, sondern alle Lebensbereiche umfassenden Binarität des Geschlechts als erstaunlich beständig: Weder wissenschaftliche Evidenz noch gelebte Andersartigkeit scheinen den
Einleitung: Geschlechter und Sexualitäten in Theorie und Empirie
Glauben an die Zweigeschlechtlichkeit und die Vorannahme der Heteronormativität nachhaltig zu erschüttern. Hinzu kommt, dass der zurzeit medial stark präsente gesellschaftliche Diskurs um das Thema ›Gender‹ eine neue Härte erreicht hat. Neben anonymen Gewaltandrohungen gegenüber Genderforschenden und diversen ›Shitstorms‹ auf Onlineplattformen bleiben auch moderatere Diskussionen und Äußerungen zu ›Gender‹ in unterschiedlichen medialen Kontexten oft auf der Ebene der Polemik. ›Die Gender Studies‹ an den Universitäten werden auch in seriösen Medienformaten zum Feindbild stilisiert und verlacht. Eine echte Auseinandersetzung mit der ex trem diversen Forschungsrealität findet nicht statt und faktische soziale Missstände und gesellschaftliche Fragestellungen werden ausgeblendet. Sabine Hark und Paula-Irene Villa setzten mit ihrem 2015 erschienenen Band zum Anti-Genderismus einen wichtigen Impuls zur wissenschaftlichen Reflexion dieses Phänomens. In ihrem eigenen Beitrag zeigen Hark und Villa auch die komplexe Position von ›Natürlichkeits‹-Diskursen im Kontext des ›Anti-Genderismus‹ auf. Polemiken gegen die Gender Studies als ›unwissenschaftlich‹ behaupten, so Hark und Villa, ein naiv-positivistisches Verständnis von Wissenschaft als »objektive Überprüfung von an-sich-so-seienden (gerne: natürlichen) Tatsachen« (Hark/Villa 2015: 20f.). Dem entgegen setzen sie eine Erinnerung an historische Wissenschaftskritik, die unter anderem zeigt, wie erst die im 19. Jahrhundert entstehenden Naturwissenschaften eine völlig neue »Biologisierung von Weiblichkeit« (ebd.: 25) betrieben, die bis heute fortwirkt. Die ›Natürlichkeit‹ des Geschlechts ist also eine vergleichsweise neue Formation, die erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts nach und nach entsteht. Hark und Villa stellen fest, dass gerade in einer Zeit und in Kontexten, in denen eben die Selbstverständlichkeit der Differenz von Geschlecht im Sinne politischer Ungleichheit und Diskriminierung konzeptuell verunsichert wird, »die naturwissenschaftliche Betonung von wie auch immer ›natürlichen‹ Geschlechterdifferenzen wieder relevant (gemacht)[…], das Arsenal biologisch fundierter Wahrheiten geöffnet und die Unhintergehbarkeit der Zweigeschlechtlichkeit bekräftigt« (ebd.: 27) wird. Der hier vorliegende Band will die Diskussionen des Bandes von Hark und Villa nicht verdoppeln oder vertiefen, sondern einen Schritt zurücktreten und anhand von einigen konkreten Beispielen auffächern, wie die ›Natur‹ je nach Kontext ins Geschlecht kommt oder auch nicht und was die Implikationen der jeweiligen Entwürfe sind. Das heißt, dieser Band will die tatsächliche Vielfalt von Geschlechterentwürfen und die Techniken und Rhetoriken der Naturalisierung (oder ihres Ausbleibens) auch in ihrer Breite an synchronen und diachronen Manifestationen entfalten, um zu zeigen, wie die in den Anti-Genderismus-Debatten regelmäßig behauptete ›Natürlichkeit‹ der Geschlechter in verschiedenen Kontexten hergestellt wird und wie diese Automatismen hinterfragt werden können.
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In zwei vom Tübinger Zentrum für Gender- und Diversitätsforschung organisierten Ringvorlesungen setzten sich Forscher*innen verschiedener Disziplinen mit der Frage nach der vermeintlichen ›Natürlichkeit‹ von Differenzkategorien sowie mit dem Phänomen der Aufregung um die Analysekategorie ›Gender‹ auseinander. Es wurde erörtert, wie Unterscheidungen nach Kriterien wie Sexualität oder Geschlecht mit dem Glauben an Naturhaftigkeit versehen werden. Ein kritischer Blick auf die (Natur-)Wissenschaftsgeschichte und -theorie zeigte dabei, dass sich ›Natur‹ nicht ohne die Brille der ›Kultur‹ erschließen lässt, dass sogar ›Kultur‹ selbst häufig als naturalisierte Vorgabe erscheint. Differenzierungen, die eigentlich sozialen und kulturellen Ordnungsregeln folgen, prägen unseren Blick auf Natur und können wiederum selbst zur ›Natur‹ werden. Dieser Band ist eine Synthese und Erweiterung beider Ringvorlesungen und setzt hierbei besonders auf interdisziplinäre Breite und Tiefe, die nicht darauf ausgerichtet ist, eine weitere ›Wahrheit‹ von Geschlecht und Sexualität festzuschreiben, sondern, im Gegenteil, die Konstruktion ihrer scheinbaren Gegebenheit jeweils in verschiedenen Diskurszusammenhängen zu zeigen. Im Austausch mit den Autor*innen entstand so eine Sammlung, deren Beiträge die Frage der vermeintlichen ›Natürlichkeit‹ von Differenz auf die Kategorie ›Gender‹ zuspitzen: Wie kommt die ›Naturalisierung‹ des Geschlechts zustande? Wie, wann und unter welchen Bedingungen wird Geschlecht zu ›Natur‹ oder auch nicht? Wie wird das Konstrukt gegen gegenläufige Evidenzen aus der Empirie abgesichert? Unter welchen Bedingungen erscheint das Geschlecht nicht einfach selbstverständlich (und wie werden daraus wieder zwei Geschlechter)? Die Beiträge des Bandes sind in einem Dreischritt gegliedert. Der erste Teil, »Geschlecht und Wissen(schaft)stheorie(n)«, umfasst drei Texte, die sich mit der Frage nach den institutionellen, fachwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der ›Naturalisierung‹ von Geschlecht und Diskriminierung auseinandersetzen. Miriam Haidle eröffnet den Band mit einem Beitrag, in dem sie aus paläoanthropologischer Perspektive einen kritischen Blick auf das – auch forschungsfeldintern machtvolle – Klischee von ›Jägern und Sammler*innen‹ wirft und dieses dekonstruiert, indem sie diskutiert, inwiefern die Evidenzen und Befunde der Disziplin selbst zum Objekt einer von der Gegenwart her motivierten Naturalisierung von Zweigeschlechtlichkeit werden, so dass wir am Ende zu wissen glauben, wer nun wer gewesen sein muss in der Binarität von Jäger*innen und Sammler*innen. Tobias Matzner setzt sich mit den erkenntnistheoretischen Grundlagen vermeintlicher Gewissheiten um ›das Geschlecht‹ auseinander und deckt Diskriminierung als in Alltagspraxen verankertes soziales Wissen auf, zu dem sowohl Identitätspolitiken als auch intersektionales Denken und Handeln in konfliktreichem Verhältnis stehen. Laura F. Mega schließlich zeigt auf, wie die Struktur experimenteller Settings in den empirisch arbeitenden Natur- und Lebenswissenschaften bestimmte Konzepte von Geschlecht und Sexualität perpe-
Einleitung: Geschlechter und Sexualitäten in Theorie und Empirie
tuieren kann und wie man diesen Prozessen durch ein kritisch reflektiertes Forschungsdesign entgegenwirken kann. Im zweiten Abschnitt des Bandes, »Geschlecht trans*historisch/trans*zendent«, stehen drei Beiträge, die historisch und theologisch erörtern, welcher Stellenwert ›Geschlecht‹ zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kontexten einnahm und welche durchaus überraschenden Vorstellungen und Modelle sich heutigen Leser*innen in historischen Texten in Bezug auf Gender-Fragen erschließen können. Ruth Scoralicks Exegese des Buch Genesis setzt sich kritisch mit den biblischtheologischen Voraussetzungen der Annahme der Zweigeschlechtlichkeit auseinander und betont die Relevanz von Mehrdeutigkeit und Ambivalenz im biblischen Text im Gegensatz zu der in der privilegierten Traditionslinie der Bibelrezeption verhärteten Normalisierung und Vereindeutigung von Zweigeschlechtlichkeit. Regina Ammicht Quinn schließt hier an mit ihrer Analyse sowohl ›naturalisierender‹ Bibellektüre- und -übersetzungstraditionen als auch mit dem Verweis auf die Vielfalt unorthodoxer und quer zur vermeintlich ›natürlichen Ordnung‹ stehender Bild- und Frömmigkeitstraditionen innerhalb des Christentums. Den Abschluss dieser Sektion bildet Ingrid Hotz-Davies‘ Analyse eines frühneuzeitlichen Textes, dessen Ratschläge an die Tochter des Autoren deutlich machen, wie im durchaus kanonischen Verständnis des 17. Jahrhunderts das Geschlecht als eine eben nicht ›natürliche‹, sondern instabile soziale Gegebenheit verhandelt wurde. »Geschlecht(lichkeiten) in aktuellen Konfliktfeldern«, das letzte Unterkapitel des Bandes, versammelt fünf Aufsätze, die an verschiedenen Knotenpunkten aktueller gesellschaftlicher und politischer Debatten um Geschlecht und Sexualität ansetzen. Angelika von Wahl analysiert im Kontext der Änderung des deutschen Personenstandsgesetztes das Spannungsverhältnis zwischen den Gruppen, die sich für die Rechte intersexueller Menschen einsetzen, und den vorhandenen rechtlichen und institutionellen Hürden, die von ihnen mit viel politischer Energie und Kreativität zu überwinden waren. Diese Untersuchung ist vor allem in Hinblick auf das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur Einsetzung der Kategorie eines ›dritten Geschlechts‹ im November 2017 von höchster Aktualität. Gero Bauer plädiert für eine differenzierte, historisch informierte Auseinandersetzung mit dem Komplex dessen, was als ›Homophobie‹ gefasst wird, und argumentiert für eine Einbettung dieser Facette von Diskriminierung in größere, intersektional theoretisierte Zusammenhänge. Ebenfalls mit einem Fokus auf Sexualität berichtet Halyna Leontiy aus ihrer ethnographischen Arbeit im Kontext junger Männer mit Migrationshintergrund und analysiert kommunikatives Datenmaterial in Hinblick auf humoristische und abgrenzende Funktionen der Rede vom Schwulsein. Marion Müllers Beitrag bietet einen Überblick über die Geschichte und aktuellen Debatten um die historische Kontingenz und Gewachsensein der inzwischen fest verankerten ›Unvergleichbarkeit‹ der biologisch gedachten Geschlechter im Sport und weist insbesondere auf die ausgrenzenden und sich wandelnden Kategorisierungsmeachnismen der entsprechenden Verbände hin. Maria
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Bitzan, Gerrit Kaschuba und Barbara Stauber schließen den Band ab mit dem Feld der Gleichstellungspolitik und ihrer empirischen Erforschung und bewegen sich so in einen Bereich, der besonders ins Fadenkreuz der politischen Agitation des ›Anti-Genderismus‹ geraten ist. Sie reflektieren dabei aktuelle Konfliktfelder in der Gleichstellungspolitik zwischen Essentialisierung und Individualisierung, und zwar im konkreten Kontext einer empirischen Forschung, die sich diesen Herausforderungen und auch Parodoxien immer wieder neu stellen muss, um den auch sehr verdeckt und verschleiert wirkenden Mechanismen der Ungleichheit auf die Spur zu kommen. Wir hoffen, dass der vorliegende Band in seiner Vielfalt der methodischen und interdisziplinären Zugänge zur Frage nach der ›Naturalisierung des Geschlechts‹ einen Beitrag zur forschenden Auseinandersetzung mit einer (gesellschaftlich wie wissenschaftlich) nach wie vor umstrittenen Problematik leisten kann.
L iteratur Butler, Judith (1990): Gender Trouble, New York: Routledge. Fine, Cordelia (2017): Testosterone Rex: Unmaking the Myths of Our Gendered Minds, London: Icon Books. Goffman, Erving (1977): »The Arrangement between the Sexes«, in: Theory and Society 4 (3), S. 301-331. Hark, Sabine/Villa, Paula-Irene (Hg.) (2015): Anti-Genderismus: Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld: transcript. Janicke, Tim/Haederer, Ines K./Lajeunesse, Marc J./Anthes, Nils (2016): »Darwinian Sex Roles Confirmed Across the Animal Kingdom«, in: Science Advances 2 (2), e1500983. Jordan-Young, Rebecca (2010): Brain Storm: The Flaws in the Science of Sex Differences, Cambridge, MA: Harvard University Press. Meyer, Axel (2015): Adams Apfel und Evas Erben: Wie Gene unser Leben bestimmen und warum Frauen anders sind als Männer, München: Bertelsmann. Palm, Kerstin (2011): »Nature-Nurture-Debatte und Konstruktivismus-Realismus-Streit: Fachspezifische Schauplätze um emanzipative Körpertheorien«, in: Tanja Bogusz/Estrid Sørensen (Hg.), Naturalismus/Konstruktivismus: Zur Produktivität einer Dichotomie, Berlin: Panama-Verlag, S. 22-32. Roughgarden, Joan (2004): Evolution’s Rainbow: Diversity, Gender and Sexuality in Nature and People, Los Angeles: University of California Press. Schmitz, Sigrid (2014): »Feminist Approaches to Neuroculture«, in: Charles Wolfe (Hg.), BrainTheory: Essays in Critical Neurophilosophy, New York: Palgrave Macmillan, S. 195-216.
Geschlecht und Wissen(schaft)stheorie(n)
Schon in der Steinzeit...
Über die ›Natürlichkeit‹ menschlicher Geschlechterrollen aus urgeschichtlich-paläoanthropologischer Sicht Miriam Noël Haidle
E inleitung Es könnte ganz einfach sein… Die Ableitung von Geschlecht nimmt ihren Ausgang in der sexuellen Fortpflanzung, bei der – im Unterschied zur ungeschlechtlichen Fortpflanzung – eine Rekombination von Erbanlagen zweier Elternteile stattfindet. In der zweigeschlechtlichen Mehrheit besitzen die Elternteile komplementäre Fortpflanzungsapparate, wobei die Eizellen produzierenden als weiblich, die Samenzellen produzierenden als männlich bezeichnet werden. Doch es gibt auch verschiedene weitere Fortpflanzungsarten (vgl. Ebeling 2006). Es gibt Tierarten, wie Schnecken, die männlich und weiblich zugleich sind. Es gibt Tierarten, wie verschiedene Knochenfische, bei denen ein Individuum unter bestimmten Bedingungen sein Geschlecht ändern kann (vgl. Mitcheson/Liu 2008). Es gibt Tierarten, wie Ameisen, bei denen große Teile der Population in der genetischen Anlage zwar weiblich, in der Entwicklung aber nicht fortpflanzungsfähig ausgebildet sind und andere Funktionen innerhalb einer Population einnehmen als die fortpflanzungsfähigen weiblichen und männlichen – eine Art drittes Geschlecht. Bei Primaten, und dazu gehören auch wir Menschen, bilden die Individuen in der Regel genetisch und hormonell bedingt männliche oder weibliche Geschlechtsmerkmale aus und werden entsprechend kategorisiert. Seltener gibt es aber auch biologisch nicht in dieses Schema passende Individuen (vgl. Dreger 1998). Eine binäre Kategorisierung von Geschlecht greift also auch biologisch zu kurz, beschreibt jedoch weite Teile unserer Erfahrungswelt. Einfach ist es aber nicht… Aufgrund der Gestalt der äußeren Geschlechtsmerkmale wird ein menschliches Kind bei der Geburt durch seine Mitmenschen als weiblich oder männlich eingeordnet. Diese Einordnung ist ein kulturell geprägter Akt und geschieht normalerweise unabhängig vom Chromosomenstatus, der künftigen hormonalen Entwicklung sowie dem Empfinden des heranwachsen-
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den Individuums in einer Kultur mit bestimmten Geschlechterrollen. Verbunden mit der binären Einordnung, sei es als männliche und weibliche Ausprägung eines Geschlechts oder als distinkte Kategorien zweier Geschlechter (vgl. Meissner 2008: 5), werden auch soziale geschlechtertypische Rollenverläufe im individuellen Leben zugewiesen. Diese Rollen sind kulturell konstruiert und können sehr unterschiedlich sein. Sie können je nach kultureller Prägung in verschiedenen Lebensphasen (z.B. Säuglingsphase, frühe Kindheit, hohes Alter) nicht und nur in der Fortpflanzungsphase in wenigen Bereichen, insbesondere bei tatsächlicher Reproduktion, geschlechterspezifisch getrennt sein. Oder sie können bereits früh und dann während des ganzen Lebens als nicht überlappende Kategorien weite Teile des sozialen Miteinanders bestimmen. Je nach kulturellem Hintergrund können Individuen ab einem bestimmten Alter und unter bestimmten Voraussetzungen ein drittes Geschlecht und damit verbundene spezifische Rollen einnehmen. Diese dritten Geschlechter beziehungsweise (auch nur zeitweilig) alternative Geschlechterrollen werden in der Regel von einem ursprünglichen Geschlecht abgeleitet. So waren die Sworn Virgins der Balkanregion (vgl. Dickemann 1997; Young 1998; Tarifa 2007) oder die Manly-hearted Women Nordamerikas (vgl. Lewis 1941; Blackwood 1984) zuvor als weiblich eingeordnet, während samoanische Transvestiten (vgl. Mageo 1992), südasiatische Hijras (vgl. Nanda 1986; Hossain 2017), mexikanische Hombres mujeres/Muxes (vgl. Mirandé 2016) und nordamerikanische Berdaches (vgl. Roscoe 2000) ursprünglich als männlich betrachtet wurden. Diese dritten Geschlechter sind ebenfalls mit spezifischen Verhaltensattributen assoziierte Kategorien, die das soziale Gefüge einer Kultur ergänzen und konsolidieren. Und um es noch komplizierter zu machen: Die in einer Kultur entwickelten Geschlechterkategorien und entsprechenden Rollenbilder sind nicht deckungsgleich mit sexuellen Ausrichtungen. Es gibt nicht die natürlichen Geschlechterrollen – sie wandeln sich im Laufe des individuellen Lebens, sie unterscheiden sich zwischen verschiedenen kulturellen Gruppen, sie wandeln sich im Laufe der Jahrhunderte (vgl. Nestvogel 2002).
D er urgeschichtliche B lick Unsere durch Traditionen geprägte Erfahrungswelt gaukelt uns allerdings klare Geschlechterrollen vor, die, wird nicht ihre Gottgegebenheit angenommen, nach wissenschaftlichen Erklärungen suchen. Einen Ansatz dafür bieten entwicklungsgeschichtliche Herleitungen. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts entfaltete sich in Europa ein Zeitalter großer Theorienbildung, ökonomischer Betrachtungen und naturwissenschaftlich geprägter Erklärungsansätze. Große Werke dieser Zeit wie Malthus’ Bevölkerungsgesetz (1798), Cuviers Betrachtungen über den erdgeschichtlichen Wandel im Tierreich (1825) und Lyells Geologische Prinzipien (1830-33), Darwins Evolutionstheorie zur natürlichen und
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geschlechtlichen Selektion (1859; 1871) und Freuds Totem und Tabu (1913) wirken bis heute nach. Teile daraus haben Eingang in unseren allgemeinen, westlich geprägten Wissenskanon gefunden: Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswachstum und Wohlstand, die Veränderlichkeit der Erde und ihrer Bewohner, das Überleben der Bestangepassten (survival of the fittest), stammesgeschichtliche Erklärungsversuche heutiger psychologischer Phänomene: Sie werden oft nicht im Detail reflektiert beziehungsweise zeitgeschichtlich in ihrem damaligen Wissenszusammenhängen interpretiert, sondern als zeitlose Allgemeinplätze angenommen. Die Erforschung der frühen Menschheitsgeschichte in der Urgeschichte und Paläoanthropologie hat sich aus geologisch-paläontologischen Ansätzen parallel zu und in Wechselwirkung mit diesen Werken beziehungsweise dahinter stehenden Strömungen herausgebildet. Aufgrund ihrer primären Quellen – Skelette und materielle Hinterlassenschaften wie Werkzeuge – und deren Erhaltung im Boden ist sie teilweise naturwissenschaftlich geprägt: Die Erschließung der Quellen und zum Teil auch ihre Einordnung (zum Beispiel zeitlich, den Kontext betreffend) sind aus der Geologie entlehnt, viele der Methoden und Untersuchungsansätze sind technisch. Durch die eher naturwissenschaftliche Etikettierung drängt sich die menschliche Urgeschichte als Erklärungsansatz einer Naturalisierung von Geschlechterrollen nahezu auf. Die kulturellen und sozialen Interpretationen sind jedoch stark beeinflusst von den jeweiligen gesellschaftlichen Strömungen der Zeiten, denen sie entstammen. Die Ausdehnung der zeitlichen Untersuchungstiefe in vorgeschichtliche bis geologische Zeitalter sowie die Suche nach Ursprüngen heutiger körperlicher und materieller Erscheinungen und Universalien ließ schon früh auch Fragen nach den Ursprüngen sozialer menschlicher Phänomene auftauchen. Auch wenn die Archäologie und Paläoanthropologie zu vielen Aspekten des urgeschichtlichmenschlichen Miteinanders keine fundierten Aussagen machen kann, ist die Faszination tiefer Verwurzelung doch bis heute ungebrochen. So nutzte Freud seine Vorstellung von Erfahrungen in einer Urhorde zur Erklärung von Inzesttabus, und so werden heute in der Soziobiologie moderne Verhaltensweisen von postulierten entwicklungsgeschichtlichen Anpassungsvorteilen abgeleitet. Doch wie sieht eigentlich, bei genauem Hinschauen, die wissenschaftliche Basis aus? Die primären Daten der Ur- und Frühgeschichte und Paläoanthropologie sind zum einen materielle Hinterlassenschaften der Handlungen früherer Menschen, zum anderen körperliche Überreste, zumeist in Form von Knochen und Zähnen. Nur ein kleiner Bruchteil der menschlichen Lebensäußerungen kann durch die Funde erschlossen werden; um heute analysiert werden zu können, müssen sie in irgendeiner Form materialisiert gewesen, eingebettet worden, erhalten geblieben, wieder freigelegt worden und den Findenden aufgefallen sein. Die materiellen Hinterlassenschaften von Handlungen, seien es Geräte, Waffen und Gefäße, Strukturen wie Feuerstellen und Gruben oder Kunstgegenstände und Schmuck,
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besitzen kein ihnen anhaftendes Geschlechterlabel, sondern müssen dahingehend aus verschiedenen Fundkontexten heraus interpretiert werden. Die Untersuchung von Geschlecht und Geschlechterrollen ist in zwei verschiedenen Bereichen angesiedelt. Mit der Bestimmung des biologischen Geschlechts von Skeletten beschäftigt sich die physische Anthropologie. In gut erhaltenen Skelettserien können ca. 80 Prozent sicher oder wahrscheinlich einer Kategorie zugewiesen werden; die restlichen sind aufgrund ihrer Erhaltung oder unklarer Merkmale als unbestimmt ausgewiesen. Die Ur- und Frühgeschichte befasst sich mit der Bestimmung des Geschlechts anhand von Grabbeigaben. Eigentlich handelt es sich hierbei um die Erfassung des sozialen Geschlechts, doch wurde die Unterscheidung erst allmählich im letzten des Viertel des 20. Jahrhunderts unter dem Einfluss feministischer Ansätze angenommen (vgl. z.B. Conkey/Spector 1984); zuvor galt: Geschlecht = biologisches Geschlecht. Für die Geschlechtsbestimmung wurden je nach Kulturgruppe geschlechtstypische Beigabensets und Bestattungsmerkmale identifiziert und neue Funde entsprechend klassifiziert. In der Mehrzahl der Fälle funktioniert das gut, stimmen die Ergebnisse der physischanthropologischen und archäologischen Geschlechtsbestimmung überein. Doch gibt es auch immer wieder unklare Befunde. In diesen Fällen war es lange Zeit Usus, der archäologischen Bestimmung den Vorrang vor der physisch-anthropologischen Bestimmung zu geben. In den letzten Jahrzehnten wurde es zunehmend zur Regel, die Ergebnisse beider Untersuchungsansätze offen miteinander zu vergleichen. Doch erst mit der zunehmenden Akzeptanz einer Vorstellung von sozialen Geschlechtern, die sich von den biologischen Geschlechtern unterscheiden können, können in der urgeschichtlichen Forschung binäre Vorannahmen aufgebrochen und weitere Kategorien sichtbar werden (vgl. Arnold 2016; Jordan 2016; Stratton 2016). Gräber mit möglicherweise geschlechtstypischen Beigaben sind allerdings eine menschheitsgeschichtlich sehr späte Entwicklung. Die Beigaben sind Grabattribute; inwieweit sie Einblicke in die ehemalige(n) Rolle(n) des bestatteten Individuums und seine geschlechtliche Zuordnung gewähren können, muss von Fall zu Fall diskutiert werden. Das durch echte oder vermeintliche Erkenntnisse erschlossene frühmenschliche Verhalten galt (und gilt auch heute noch) oft als ursprünglich und natürlich. Durch die naturwissenschaftliche Anlehnung der Paläoanthropologie wurden und werden Aussagen über die Ursprünge menschlichen Verhaltens möglicherweise auch noch eine größere Objektivität zugesprochen. Die Annahme einer ›Natürlichkeit‹ von binären Geschlechterkategorien und Geschlechterrollen konnte sich so, gestützt durch weite Teile der alltäglichen, kulturell geprägten Erfahrung, verfestigen. Vermeintliche Wurzeln in steinzeitlichen Urzuständen und damit ›natürliche‹ Erklärungen von als gewöhnlich postulierten Verhaltensmustern von Männern und Frauen, wie sie moderne Geschlechterratgeber bieten (vgl. zum Beispiel Pease/Pease 2003), sind populäres Allgemeingut geworden.
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G ibt es den U rzustand? Vor ca. 3,3 Millionen Jahren begannen Menschenartige, schneidende Werkzeuge herzustellen, indem sie mit einem Hammerstein Abschläge von einem größeren Stein abtrennten. Nun besitzen auch unsere nächsten lebenden Verwandten, Schimpansen und Orang-Utans, Sets aus Traditionen und damit eine beschränkte Basiskultur, und Ähnliches ist daher auch für unsere gemeinsamen Vorfahren anzunehmen. Doch erst mit einer zunehmenden Entkopplung von Grundbedürfnis und Befriedigung und der möglichen Aneinanderreihung verschiedener Verhaltensmodule zu neuen Handlungen begann sich die typisch menschliche Diversität im Verhalten zu entfalten. Wie zuvor schon entwickelten sich die Menschenartigen und Menschen auch seit dieser Zeit langsam fort: körperlich, geistig und im Verhalten in Wechselwirkung mit ihrer spezifischen Umwelt. Die Entwicklung geschieht in drei Dimensionen (vgl. Haidle et al. 2015). In der evolutionär-biologischen werden unter anderem durch Mutation und Selektion grundlegende Strukturen und Abläufe herausgebildet, wie die Anatomie, generelle Stoffwechselabläufe oder der Ablauf der Lebensphasen. Individuell-ontogenetisch können diese prinzipiell ähnlichen Muster aber unterschiedlich ausgeformt werden, je nach Lebensweg mit bestimmten Erfahrungen. Der historisch-soziale Kontext bietet einen überindividuellen, aber gruppenspezifischen Entwicklungsrahmen: Erfahrungen und Gewohnheiten verschiedener Individuen bieten ein erweitertes Lernumfeld bei gleichzeitiger Risikoverringerung. Durch Annahme von Traditionen kann ein Individuum Lernprozesse abkürzen und Dinge lernen, zu denen es selbst keine Erfahrungen gesammelt hat. Und wenn ein Individuum etwas in der gleichen Weise wie erfahrenere macht, ist bei gleichbleibender Umwelt ein ähnliches Ergebnis zu erwarten, so dass das Individuum nicht schlechter als die anderen gestellt ist. Im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte gewinnt die historischsoziale Dimension und damit die kulturelle Einbindung immer größere Bedeutung. Die stammesgeschichtliche Entwicklung lässt sich allerdings nicht linear nachzeichnen, sondern gleicht einem Busch mit vielen Verzweigungen, von denen immer noch neue entdeckt werden. Unsere Art, der Homo sapiens, ist eine dieser Verzweigungen, die sich in den letzten 300.000 Jahren allmählich zuerst in Afrika, ab ca. 100.000 Jahren zunehmend über die ganze Welt verteilt herausgebildet hat, inklusive gelegentlicher Vermischungen mit Vetreter*innen verschiedener anderer Menschenformen. Im Laufe dieser Entwicklungsgeschichte bildeten sich neue Performanzfelder heraus, wie Herstellung und Gebrauch von Steingeräten, Holzgeräten, Feuer, Kleidung, Gefäßen (Netze, Körbe, Keramik), Schmuck und Kunst, entsprechende Rohmaterialversorgung, Nahrungsversorgung und -zubereitung, Lederbe- und -verarbeitung, Stoffherstellung, Landwirtschaft/Viehzucht etc. (vgl. Haidle 2015). Aufgrund der Quellenlage sind vor allem materielle Entwicklungen nachvollziehbar, doch haben sich soziale Aspekte in ähnlicher Weise entfaltet.
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Die enorme körperliche, geistige, soziale und kulturelle Entwicklung in den letzten 3,3 Millionen Jahren brachte eine Vielzahl neuer Performanzen hervor, die weitgehend nicht primär geschlechtsgebunden sind. Primär geschlechtsgebundene Performanzen sind mit den geschlechtlich unterschiedlichen Fortpflanzungsapparaten und deren hormoneller Regulation verbunden; bei Menstruation, Schwangerschaft, Geburt, Laktation gibt es keine Überlappung mit dem anderen Geschlecht, außer durch moderne kulturelle Ersatzleistungen. Sekundär geschlechtsgebundene Performanzen sind an die biologischen Geschlechter beziehungsweise die Zuweisungen zu diesen gekoppelt und werden damit auch oft begründet; Beobachtungen innerhalb und zwischen Kulturen weisen aber große Überlappungsbereiche zwischen den Geschlechtern auf. So wird zum Beispiel der Bewegungsapparat und mit ihm mögliche Handlungen zwar durch unterschiedlichen Körperbau und Hormone beeinflusst, doch weibliche Gewichtheberinnen und männliche Balletttänzer zeigen, dass mit entsprechendem Training Performanzen möglich sind, die vielleicht einem anderen biologischen Geschlecht leichter fallen, aber auch da nicht gewöhnlich sind. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl an geschlechtsneutralen Performanzen, die gleichermaßen bei allen Individuen einer Gruppe auftreten können. Die primär geschlechtsgebundenen Performanzen sind mit der biologischen Unterscheidung in der Fortpflanzungsfunktion verknüpft; ihrer kulturellen Interpretation sind engere Grenzen gesetzt. Inwieweit Performanzen beziehungsweise Performanzfelder wie Herstellung und Gebrauch von Steingeräten, Holzgeräten, Feuer, Kleidung, Gefäßen (Netze, Körbe, Keramik), Schmuck und Kunst, entsprechende Rohmaterialversorgung, Nahrungsversorgung und -zubereitung, Lederbe- und -verarbeitung, Stoffherstellung, Landwirtschaft/Viehzucht etc. sekundär geschlechtsgebunden oder geschlechtsneutral gesehen werden, wird hingegen weitgehend im historisch-sozialen Kontext verhandelt. Bei allen Performanzen, seien sie primär oder sekundär geschlechtsgebunden oder geschlechtsneutral, ist es essentiell, sie als bestimmte Stadien in Entwicklungsprozessen zu betrachten. Im Umkehrschluss heißt das: Es gibt für die einzelnen Performanzen keinen Urzustand. Und erst recht gibt es nicht den Urzustand, der alle geschlechtsgebundenen Performanzen zusammenfasst, die sich in verschiedenen Prozessen, gruppenübergreifend oder gruppenspezifisch und zeitlich unterschiedlich herausgebildet haben (und weiter verändern). Heutige jagende und sammelnde Gruppen sind auch nicht ursprünglicher als westliche Industriegesellschaften, sie haben sich ebenso kontinuierlich entwickelt. Typische sekundär geschlechtsbedingte Performanzen zeigen das Fehlen eines Urzustandes beispielhaft. Die Rolle der Großmutter zum Beispiel wurde im Laufe der Menschheitsgeschichte durch zunehmende Langlebigkeit über die eigene Reproduktionsphase hinaus ermöglicht, eine Veränderung der generellen Life history (vgl. Kachel et al. 2011), die sich durch evolutionär-biologische Mechanismen, aber auch historisch-soziale Faktoren herausgebildet hat. Wie diese zusätzli-
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che Lebenszeit tatsächlich genutzt wurde und wird, ist eine Frage der kulturellen und individuellen Interpretation. Das sogenannte Alloparenting, die Unterstützung der Eltern durch andere Gruppenmitglieder beim Großziehen der Kinder, tritt auch bei verschiedenen Tierarten auf (vgl. Bădescu/Watts/Katzenberg 2016). Bei heutigen Menschen kann es sehr unterschiedlich ausgestaltet sein, wobei mit dem Kind verwandte und nicht verwandte Individuen egal welchen Geschlechts in unterschiedlichen Maßen daran beteiligt sein können. Dadurch verändern diese nicht nur ihre eigene Rolle, sondern beeinflussen auch die Mutter- und Vaterrollen stark (vgl. Kramer 2015). Beobachtungen bei den Efe im zentralafrikanischen Ituri-Wald weisen in Hinsicht auf das Alloparenting in unseren Augen eine sehr fortschrittliche Performanz auf, im Kontext einer Menschengruppe, deren Kultur aus der europäischen Perspektive oft als einfach angesehenen wird (vgl. Ivey 2000). Überblicksstudien zeigen den kulturellen Wandel des Alloparenting in entwicklungsgeschichtlich jüngster Zeit (vgl. Bentley/Mace 2009). Die Voraussetzung für die Zuschreibung bestimmter Rollen ist das Bilden von Kategorien. Bei Primaten und frühen Vorfahren heutiger Menschen herrsch(t)en biologisch bedingte Performanzen vor, die individuell variiert werden konnten. Traditionen können sich im Einzelfall zwar auch eher über eine männliche oder eine weibliche Linie verbreiten, doch bleiben diese Praxen auf der Ebene der gesamten Gruppe. Jedes Individuum kann alles, was für sein individuelles Leben notwendig ist. Die Gruppe bietet zwar ein Umfeld sich ergänzender Individuen, doch ist die Menge an Wissen und Fertigkeiten noch gering. Die Diversifizierung ist wenig fortgeschritten und die Gruppen sind nicht auf ein bestimmtes Expert*innenwissen angewiesen. Mit zunehmender kultureller Entfaltung konnten sich einzelne Individuen immer weniger Elemente aus der gesamten Bandbreite des Bestands von Wissen und Fertigkeiten einer Gruppe aneignen. Das Aufeinander-Angewiesen-Sein verstärkte sich: von einer anfänglichen Bündelung gleichartiger Kräfte und einem Lern- und Schutzumfeld hin zu einer gegenseitigen Abhängigkeit von verschiedenartigen erlernten Fähigkeiten. Spezialisierung und Arbeitsteilung entwickelten sich, unterschiedliche Funktionen entstanden und mit ihnen Kategorien für Funktionsträger. Eine prinzipielle Kategorisierung anhand von biologischem Geschlecht und Abschnitten im Lebensalter ist – abgeleitet von der allgemeinen Erfahrungswelt – naheliegend; ihre Ausgestaltung ist jedoch weitgehend offen. Ist einmal eine solche Kategorisierung getroffen, wird sie durch Rollenzuweisungen und sich dadurch verfestigende Erfahrungswelten selbstverstärkend. Dass solche Kategorisierungen und Rollenzuweisungen aber kulturell geprägt und veränderlich sind, zeigt zum Beispiel der Wandel, den die Betrachtung von Kindheit (vgl. Kränzl-Nagel/Mierendorff 2007) im Europa der letzten Jahrhunderte erfahren hat. In der Entwicklungsgeschichte der Menschheit sind Spezialisierung und zunehmende Arbeitsteilung relativ späte Entwicklungen, die erst für Homo sapiens in den letzten 100.000 Jahren angenommen werden (vgl. Soffer/Adovasio/Hyland 2000; Balme/Bowdler 2006; Kuhn/Stiner 2006). Inwie-
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weit diese Rollenzuweisungen auf bestimmte Performanzfelder festgelegt sind, steht auf einem anderen Blatt. Ein Feld, das besonders häufig im Hinblick auf eine ›natürliche‹ Geschlechtertrennung und tiefe Wurzeln in der Menschheitsgeschichte diskutiert wird, ist die menschliche Jagd.
F rühe G eschlechterrollen: J äger und S ammlerinnen? Da die Disziplin Urgeschichte Schwierigkeiten hat, anhand der ihr zur Verfügung stehenden archäologischen Daten Aussagen zur Ausgestaltung früher steinzeitlicher Rollenverteilungen zu machen, greifen ihre Vertreter*innen gerne auf Analogien aus ethnographischen Beschreibungen von jagenden und sammelnden Gruppen zurück. Verknüpft mit der Annahme der ›Natürlichkeit‹ solcher heutiger Rollenverteilungen wurden auf ihnen retrospektiv unterschiedliche Modelle zur Menschheitsentwicklung aufgebaut (vgl. Fedigan 1986; Schmitz 2006). Insbesondere der Topos des jagenden Mannes und der sammelnden Frau wird regelmäßig wiederholt und stellt ein gewisses ›Allgemeingut‹ dar, das wenig hinterfragt wird. Beim »Man, the hunter«-Modell aus den 1960er-Jahren stand männliches Jagdverhalten als Ursprung zahlloser kultureller Errungenschaften im Mittelpunkt; beim »Woman, the gatherer«-Modell aus den 1970er-Jahren wurden sammelnde Frauen als zivilisatorische Kräfte in den Vordergrund gestellt. Anfang der 1980er-Jahre wurde dann im »Male provisioning«-Modell in einer naturwissenschaftlichen Argumentation die Kernfamilie mit männlichem Versorger als natürliche Adaption dargestellt (vgl. Lovejoy 1981; vgl. auch Mattison 2017). Dieses Modell hat das gängige Beziehungsschema dieser Zeit in westlichen Gesellschaften unreflektiert in den Mittelpunkt gestellt – »the unique sexual and reproductive behavior of man may be the sine qua non of human origin« (Lovejoy 1981: 341) – und hat so bis heute dazu beigetragen, dass dieses für eine unbestimmte Vergangenheit angenommene Schema prospektiv auch heute als das ›natürliche‹ gilt. Selbst in Publikationen, die die Geschlechterrollen weitläufig jagender Männer und kleinräumig sammelnder Frauen als ehemalige soziale Konstrukte anerkennen, werden adaptive Vorteile zum Beispiel bei der ersten Besiedlung Australiens postuliert (vgl. Balme/Bowdler 2006). Diese Geschlechterrollen werden dadurch und durch das Nichterkennen ihrer heutigen wissenschaftlichen Konstruktion naturalisiert. Die Quellenlage der häufig herangezogenen Analogien bei Schimpansen einerseits (vgl. zum Beispiel Stanford 1996) und subrezenten menschlichen jagenden und sammelnden Gruppen andererseits ist allerdings so eindeutig nicht. Bei einer Gruppe Schimpansen im Taï-Wald der Elfenbeinküste zeigten Isotopenuntersuchungen bei einigen männlichen Individuen einen deutlich erhöhten Anteil an tierischem Protein in der Ernährung (vgl. Fahy et al. 2013). Es gibt in dieser und anderen Gruppen besonders begabte Jäger, deren spezielle Fähigkeiten nicht unbedingt mit einem hohen sozialen Rang verknüpft sind, die sie aber, wenn sie
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die Beute auch mit weiblichen Individuen teilen, als Sexualpartner attraktiver machen. Eine andere Schimpansengruppe aus Fongoli im Senegal zeigt zwar auch ein männliches Übergewicht im Jagdverhalten mit 70 Prozent der Fänge, doch immerhin ungefähr ein Drittel der erfolgreichen Jagden im Untersuchungszeitraum gehen auf das Konto von weiblichen Individuen. Insbesondere das werkzeugunterstützte Jagen ist bei den weiblichen Schimpansen dieser Gruppe weit verbreitet (vgl. Pruetz/Bertolani 2007; Pruetz et al. 2015). Erklärungen für die Unterschiede zwischen den Gruppen werden in ihrer Sozialstruktur, Umweltbedingungen, aber auch Untersuchungsbedingungen gesucht: »However, West African chimpanzees in general and those at Fongoli specifically are more cohesive in their ranging and grouping behaviour than elsewhere, so that data on female hunting are lacking for another reason (e.g. females are not studied as extensively as males).« (Pruetz et al. 2015: 9) Auch bei den Schimpansen der Mahale-Berge in Tanzania wurde eine weibliche Jagdquote von ungefähr 30 Prozent beobachtet, doch »such data receive less attention relative to male hunting behaviour« (ebd.: 10). Bei der Erforschung menschlicher Gruppen ist die Datengrundlage nicht einfacher zu bewerten. Neben der Möglichkeit der eingeschränkten Beobachtung und Dokumentation sowie voreingenommenen Interpretationen verschiedener Geschlechterrollen durch die Beobachtenden (vgl. Lajimodiere 2013), die nicht immer wissenschaftlich ausgebildet sind, treten Einschränkungen durch die beobachteten Gruppen beziehungsweise Individuen auf, die ein bestimmtes Bild von sich vermitteln oder durch vermeintlich ›richtige‹ Antworten den fragenden Gästen sogar entgegen kommen möchten. Der soziale Kontakt zum anderen Geschlecht unterliegt oft bestimmten Einschränkungen, insbesondere, wenn es sich um Nichtgruppenmitglieder handelt, wozu in der Regel auch die Forschenden zählen. Megan Biesele beschreibt beispielhaft die glücklichen Umstände, die es ihr erlaubten, die enge Zusammenarbeit von Männern und Frauen bei der Jagd bei den Ju/’hoan in Namibia zu dokumentieren. Die Anwesenheit ihres ebenfalls als Spurenleser ausgebildeten Mannes machten Bieseles Teilnahme bei der Verfolgung eines Beutetiers möglich, und aufgrund ihrer eigenen Hilfsbedürftigkeit wegen einer Beinverletzung bot die Frau des angesprochenen Jägers an, sie zu begleiten. Die zufällige Beobachtungskonstellation veränderte die Sicht: »I kept thinking that it was as if they had been doing this together all their lives. In fact, these middle-aged people told us later that they HAD been doing it most of their married lives.« (Biesele/Barclay 2001: 68) Die neue Perspektive sowohl der Beobachtenden als auch der Beobachteten erlaubte in der Folge eine Ausweitung der Beobachtung als nicht nur individuelles, sondern gruppentypisches Phänomen. Wie entscheidend für eine Aussage oder Beobachtung es ist, wer welche Fragen stellt, ist in der Ethnographie hinlänglich bekannt: Nicht nur nehmen die Fragenden damit eine bestimmte Perspektive ein, sie geben einen Bereich an Antworten/ Beobachtungen vor und legen eine gewisse Bandbreite von Interpretationen nahe. Darüber hinaus beeinflussen diese Parameter auch die Antwortenden beziehungs-
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weise Beobachteten, die ihre Aussagen beziehungsweise Handlungen entsprechend dem Maß des Verständnisses des von ihnen Verlangten, des Willens etwas preiszugeben und des Wunsches in einem bestimmten Licht gesehen zu werden modulieren. Das Beispiel verschiedener Jagdpraktiken bei zentralafrikanischen Gruppen und der weibliche Anteil daran zeigt dies. Bei den Mbuti-Pygmäen nehmen beide Geschlechter an Netzjagden teil, wobei Männer über das Netz wachen und Tiere fangen und Frauen das Wild aufscheuchen und ins Netz treiben (vgl. Bailey/Aunger 1989). Bei den BaAka-Pygmäen gehen ebenfalls meist gemischte Gruppen auf Netzjagd, wobei der Frauenanteil oft überwiegt und sich gelegentlich auch reine Frauengruppen auf den Weg machen. Die Rollenverteilung bei gemischten Jagden ist weniger festgelegt als bei den Mbuti: Häufiger suchen Männer das Innere des Netzes ab und scheuchen Tiere auf, während Frauen an der Peripherie nach flüchtenden Tieren Ausschau halten und diese zurück ins Netz treiben beziehungsweise ergreifen. Reine Männergruppen werden wohl nur für Tourist*innen auf die Jagd geschickt (vgl. Noss 1997; Noss/Hewlett 2001). Diese Beschreibungen muten objektiv an, doch sind sie für die Bewertung der weiblichen Rollen in den Gruppen selbst und durch die Forschenden unzureichend. Gelten die unterschiedlichen Handlungen vor und hinter dem Netz gleichermaßen als Jagd, oder wird eine Handlung als eigentliche Jagd, die andere als nur die Jagd unterstützend gesehen? Inwieweit trägt der Besitz des Jagdgeräts zur Bewertung der jeweiligen Besitzenden als Jagende bei? Netze sind bei den BaAka zu 26 Prozent im Besitz von Frauen, die aber oft auch die Netze ihrer männlichen Partner leihen (vgl. Noss/Hewlett 2001: 1028). Bei den BaKola/BaGuyeli und Baka nutzen Frauen die Speere, die zum Besitz ihrer Männer, Brüder oder Väter gehören, um Klein- bis Großwild zu erlegen (vgl. ebd.: 1027). Inwieweit gilt nur das aktive Töten mit bestimmten eigenen Waffen als Schlusspunkt einer Hetzjagd als Jagd oder zum Beispiel auch das Erbeuten von Tieren in Fallen? Zu einer Bewertung der Geschlechterrollen bei menschlichen Gruppen gehört es, nicht nur die Beteiligung der verschiedenen Geschlechter bei der Nahrungssuche und ihre Effizienz möglichst objektiv festzustellen, wie dies verhaltensökologische Forschung tut (vgl. Bailey/Aunger 1989), sondern auch die indigene und die wissenschaftliche Deutung der verschiedenen beteiligten Handlungen und Statuszuweisungen und die dazu gehörenden Begründungen zu erfassen. Brightman (1996: 703f.) macht deutlich, wie sehr auch nichtwestliche Gesellschaften eine Naturalisierung von Geschlecht und Geschlechterrollen vollziehen und diese über bestimmte Handlungsbeschränkungen und traditionelle Begründungen festigen. Diese Naturalisierungen gehen je nach kultureller Prägung der Forschenden in die wissenschaftliche Deutung über. Selten werden emische, also aus der Gemeinschaft selbst heraus artikulierte, Bewertungen der Performanzen eines Geschlechts im wissenschaftlichen Diskurs so explizit benannt wie bei der Jagd bei den Matses im peruvianischen Amazonasregenwald. Dort nehmen Frauen an ungefähr der Hälfte der Tagesjagdtrips ihrer
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Männer teil. (Oder gehen in der Hälfte der Tagesjagdtrips Frauen und Männer gemeinsam auf die Jagd?) Steven Romanoff beschreibt die Rolle der Frauen dabei so: »There is a social aspect to their participation, and they often gather fruits or other forest products during hunts. Yet they do take an active role in the hunt, and data show that a hunting couple, under normal conditions, brings in more meat than does a husband hunting alone. On hunts with their husbands, adult women spot game, take part in the chase, retrieve arrows, bring water to flood armadillo holes, encourage dogs, strike animals with sticks or machetes, participate in orienting the party, and carry meat home.« (Romanoff 1983: 339f.)
Es bleibt unklar, was Frauen bei der Jagd tatsächlich nicht oder anders als die Männer machen, doch herrschen auch bei dieser Gruppe viele Vorurteile über weibliche Jagdbeteiligung. Romanoff (vgl. ebd.: 342) berichtet über einen Jagdtrip, bei dem der Mann sich bei ihm beklagte, dass zu viele Frauen eine Jagd verderben könnten, ausschweifender Geschlechtsverkehr die Fähigkeiten eines Mannes beeinträchtigen könnten, die Anwesenheit einer Frau an einer Tapirfalle einen Geruch zurück ließe, der den Tapir anwiderte, Frauen nur langsam vorwärts kämen und rein männliche Jagdgesellschaften weiter ausschweifen konnten. Während sich der Mann noch beschwerte, machte seine Frau, die ein Baby auf der Hüfte tragend etwas zurück gefallen war, ein Paka aus. Gemeinsam verfolgten sie das Tier, bis die Frau es mit der Machete erlegte. Das Beispiel der Matses zeigt, dass es keine körperlichen Einschränkungen gibt, die das Jagdverhalten von Frauen generell beeinflussen müssen. Auch Schwangerschaften und Kinder stellen kein Handicap dar, wenn die Kinder zeitweilig abgegeben werden können, wie es neben den Matses auch für philippinische Agta-Gruppen (vgl. Goodman et al. 1985) und zentralafrikanische BaAka-Pygmäen (vgl. Noss 1997) dokumentiert ist. Doch die Bewertung auch in der eigenen Gruppe muss sich nicht mit dem tatsächlichen Verhalten decken.
D as D ilemma des sich selbst stabilisierenden Systems : E ine Z usammenfassung Unser heutiger, westlich-gesellschaftlicher und urgeschichtlich-wissenschaftlicher Blick auf Geschlechterrollen leitet sich von bürgerlich-ökonomischen Gesellschaftsentwürfen und Rollenbildern aus dem Europa des 19. Jahrhunderts ab, die im Rückblick auf die Steinzeit übertragen ein Idealbild formen: Männer jagen und begegnen Fremden, Frauen hüten das Heim und sorgen für gute Stimmung. Die Grundlage bilden aus unserer alltäglichen Erfahrungswelt entlehnte biologische Kategorien, die mit kulturellen Geschlechterrollen ausstaffiert sind. Die Rollenbilder sind Teil eines traditionellen Wertesystems, bei dem die frühe Menschheitsgeschichte als Ursprungsmythos dient. In Ablösung der Religion werden heute nicht
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mehr Adam und Eva im Paradies, sondern nicht genauer zeitlich-räumlich verortete Frühmenschen als Repräsentant*innen eines Urzustandes betrachtet. Die urgeschichtliche Forschung ist Teil unseres westlichen kulturellen Kanons, der sich mit der frühen Entwicklung kultureller Performanzen beschäftigt. Während bei technischen oder die Subsistenz betreffenden Aspekten offensichtlich ist, dass sich die Verhältnisse in den letzten drei Millionen Jahren stark verändert haben, werden soziale Kategorien mit biologischen Anteilen wie Geschlecht, Alter oder Hautfarbe eher naturalisiert. Einige Modelle in der Urgeschichtsforschung versuchen, bestimmte Rollen aus der frühen Menschheitsgeschichte herzuleiten. Da diese Rollenbilder jedoch aus unserer heutigen Zeit stammen, müssen die Herleitungen in das heute gültige Schema passen. Die Man-the-hunter-Hypothese stellt den jagenden Mann als zivilisatorische Kraft in den Mittelpunkt; Womanthe-gatherer streicht im Gegensatz dazu die Bedeutung der sammelnden Frau heraus; die Male-provisioning-Hypothese rückt die männliche Versorgerrolle in der Kernfamilie in den Vordergrund; doch alle bleiben im angestammten Schema ihres modern-westlichen Rollensystems ›jagender Mann vs. sammelnde Frau‹ und der dadurch gefilterten Erfahrungswelt. Durch ihren wissenschaftlichen Kontext tragen diese Modelle dazu bei, das traditionelle Rollenverständnis zu festigen und fortzuschreiben. Besinnt sich die urgeschichtlich-paläoanthropologische Forschung allerdings auf die Quellenkritik einerseits und ihre Erkenntnisse zur kulturellen Entwicklung andererseits, kann sie Grundsätzliches zur Diskussion der Naturalisierung von Geschlechterrollen beitragen. Zum einen sind ihre Quellen nur sehr beschränkt tauglich, um eventuelle Geschlechterrollen in frühmenschlichen Gruppen zu rekonstruieren. Sie ist für die Interpretation stark angewiesen auf Analogien aus der Primatologie und Ethnographie, die eigene Probleme der zum Teil mehrfachen kulturellen Prägung ihrer Ergebnisse haben. Zum anderen gibt es keine Urzustände kultureller Performanzen wie zum Beispiel Geschlechterkategorien und Rollenbildern. Sie sind nicht ›natürlich‹ im Sinne von ›von einer nicht menschlichen Instanz gegeben‹, sondern entwickelten und entwickeln sich in drei Dimensionen in Wechselwirkung mit der spezifischen Umwelt. Der sich daraus ergebende Entwicklungsraum für Performanzen ist bei Menschen stark kulturell durch die historisch-soziale Dimension geprägt. Das Beharren auf bestimmten Schemata und Bewertungen, auch wenn die eigene Erfahrungswelt Gegenbeispiele liefert, ist ein weit verbreitetes Charakteristikum menschlicher Kultur. Es betrifft nicht nur Geschlechterrollen, sondern auch andere Kategorisierungen, wie altersgemäße Rollen und mit Hautfarben verknüpfte Verhaltensweisen, und es ist nicht nur typisch für unsere modern-westliche Kultur, sondern auch in anderen Kulturen häufig anzutreffen. Es sind Ideologien, die dem Erhalt von sozialen Gefügen dienen. Auch wenn sich das Set der verschiedenen Performanzen einer kulturellen Gruppe (und dazu gehören auch die Wertesysteme) sich kontinuierlich entwickeln, verharren immer auch einzelne Elemente
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für eine bestimmte Zeit, um die Gruppe zu konstituieren, insbesondere, wenn viele andere Elemente aufgebrochen werden. Geschlechterrollen erfahren Menschen schon von frühester Kindheit an, in Interaktion mit der sozialen Umwelt am eigenen Leib und durch bestimmte Rollen einnehmende andere. Wir üben sie ein, um dazu zu gehören. Je nach Ausgestaltung des Schemas passen einige Individuen nicht hinein; für sie werden gesonderte Kategorien gefunden, die das gängige Schema zu stabilisieren helfen. Vater, Mutter, Kind… und die verschrobene Tante, die vieles etwas anders macht… schon in der Steinzeit war das so…
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Warum Diskriminierung kein Problem ist, das man ›lösen‹ kann Über den Zusammenhang von Alltag und Ausgrenzung Tobias Matzner
W issen und G ewissheit Kommt ein Mann zum Arzt. Im Sprechzimmer schaut der Arzt ihn etwas überrascht und ratlos an und sagt dann: »Sie haben hier auf dem Formular bei Geschlecht ›weiblich‹ angekreuzt. Aber Sie sind doch ein Mann.« Sagt der Mann: »Ja kann sein, ich war zu faul nachzusehen.« Diese Situation erscheint merkwürdig. Wir können uns irgendwie gar nicht vorstellen, was der Mann getan hätte, wenn er nicht zu faul gewesen wäre, sein Geschlecht zu überprüfen. Wenn sich jemand so verhält wie der Mann in dieser Situation und sein Geschlecht als etwas behandelt, das man überprüfen oder nachsehen muss, eventuell sogar mit wissenschaftlicher Expertise, wirkt das seltsam. Natürlich kennen wir diverse Methoden, Geschlechter zu überprüfen, wir kennen auch Fälle, in denen Geschlecht nichts Eindeutiges ist. Dennoch scheint der Alltag vieler Menschen davon unberührt. Diesem Zusammenhang widmet sich Linda Zerilli (1998) in ihrem Aufsatz »Doing Without Knowing«. Zerilli zitiert dazu die (frühen) Forschungsresultate von Anne Fausto-Sterling (1993), die fordert, man müsse von fünf statt zwei Geschlechtern ausgehen. Inzwischen gab es weitere naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Debatten, zum Beispiel um die Definition von Geschlecht im Hochleistungssport. Wir kennen also, sehr vereinfacht gesagt, eine Ebene der Chromosomen. Diese veranlassen die Produktion bestimmter Hormone. Nun kann es aber sein, dass diese Hormone beim Embryo nicht wirken, so dass es zum Beispiel möglich ist, dass es Menschen gibt mit XY-Chromosomen und einer Vagina. Dann gibt es den Körper mit einer Vielzahl von Erscheinungsformen. Es gibt Menschen, die ihren Körper als falsches Geschlecht wahrnehmen; und wegen beeindruckender Fortschritte in Medizin und Biologie ist es inzwischen möglich, körperliche Geschlechter zu verändern. Es gibt aber auch Menschen, deren Körper
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in Bezug auf die zweigeschlechtliche Trennung in Frau und Mann nicht eindeutig ist und die sich dagegen wehren, ihren Körper als ›eindeutig‹ umoperieren zu lassen. Dennoch bleibt zu konstatieren, was auch Zerilli feststellt: Solche Resultate und Entwicklungen aus der Medizin und den Naturwissenschaften, welche die Zweigeschlechtlichkeit infrage stellen, rütteln an der Alltäglichkeit der zwei Geschlechter nicht viel. Zerilli fragt sich also, warum das so ist, und findet in Ludwig Wittgensteins Buch Über Gewißheit die Passage, auf die ich zu Beginn angespielt habe. Dort lautet sie etwas nüchterner: »Daß ich ein Mann und keine Frau bin, kann verifiziert werden, aber wenn ich sagte, ich sei eine Frau, und den Irrtum damit erklären wollte, dass ich die Aussage nicht geprüft habe, würde man die Erklärung nicht gelten lassen.« (Wittgenstein 1984: §79) Wittgenstein betont, dass in einem solchen Fall von ›Irrtum‹ die normale Reaktion nicht wäre: Da hat jemand nicht genau hingeschaut, oder da fehlt Wissen, oder das muss nochmal überprüft werden. Wenn sich hier jemand ›irrt‹, wäre unklar, was es überhaupt bedeuten könnte, die Aussage zu überprüfen oder zu beweisen. Zerilli folgert also mit Wittgenstein, dass es Überzeugungen gibt, die überhaupt in dem Sinn keine Frage von Wissen sind, dass sie etwas sind, das erkannt, überprüft, erforscht werden könnte. Sie sind keine Fragen von Wissen, sondern von Gewissheit. Und zu diesen Überzeugungen gehört nach Zerilli auch, dass es Frauen und Männer gibt und nichts dazwischen oder jenseits davon. Was bedeutet das, wenn etwas eine Frage von Gewissheit und nicht Wissen ist? Gegen die Überzeugung, dass es Männer und Frauen gibt und sonst nichts, kann man jede Menge Wissen anführen, wie ich schon beschrieben habe. Man kann von Chromosomen sprechen, von Hormonen, Geschlechtsteilen, Operationen usw. Aber solches Wissen bedeutet nicht unbedingt Gewissheit. Jemand, der sich gewiss ist, dass es Männer und Frauen gibt, braucht dafür normalerweise kein Wissen über Hormone und Chromosomen. Für wen wäre die Gewissheit, dass es ein Gen namens Yp 11.3 gibt, das eine bedeutende Rolle für die Ausprägung von Geschlechtsmerkmalen spielt, größer als die Gewissheit, dass es Männer und Frauen gibt? Im Gegenteil muss man schon sicher sein, dass es Männer und Frauen gibt, um dann feststellen zu können, dass dieses Gen einer der Faktoren ist, die zur Ausbildung dieser Differenz beitragen. Umgekehrt würde jemand, der daran zweifelt, dass es Männer und Frauen gibt, oder der sich verhält wie in dem Beispiel von Wittgenstein, für gewöhnlich nicht zum Arzt geschickt oder zu einem Biologen, damit sich sein Irrtum aufklärt, sondern das Verhalten wäre einfach sehr seltsam. Ich habe gerade geschrieben: »für gewöhnlich«. Für gewöhnlich braucht die Gewissheit kein solches Wissen. Normalerweise zweifelt man daran schlicht nicht. Und das ist ein wichtiger Punkt. Wittgenstein betont, dass für all die grundlegenden Überzeugungen unseres Alltags, an denen wir für gewöhnlich nicht zweifeln, Ausnahmen möglich sind. Aber ihre Gewissheit bedeutet eben genau, dass das Ausnahmen sind.
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Es handelt sich hier also nicht um unverrückbare, universal gültige Tatsachen, wie sie oft unter dem Begriff ›Wissen‹ verstanden werden. Wenn Geschlecht also keine Frage von Wissen ist, sondern von Gewissheit, dann entsteht diese Gewissheit durch Alltäglichkeit. Unser tägliches Sprechen und Handeln, die Kleidung, die uns angeboten wird, Filme und Bücher, die Art und Weise, wie wir manchmal von bestimmten Menschen auf der Straße angeschaut werden, Ernährungsgewohnheiten, Sport, Werbung, lustige Online-Videos, das Sexualleben, Kosmetikprodukte, Tanzkurse und natürlich auch Arztbesuche und Biologieunterricht und Tausende von anderen Dingen sind von Geschlecht strukturiert und stabilisieren gleichzeitig damit verbundene Überzeugungen, was für die Gewissheit sorgt. Es geht bei der Rede von Gewissheit also nicht um eine Grundlage, auf der alle diese Handlungsweisen aufbauen, auch wenn Sätze wie »Es gibt Männer und Frauen« wie etwas ganz Grundlegendes klingen. Vielmehr sorgt die Übereinstimmung vieler Praktiken unseres Alltags für die Stabilität der Überzeugungen. Wittgenstein schreibt dazu: »Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt.« (Wittgenstein 1984: §79) Denn es ist tatsächlich der Boden in dem Sinn, dass wir keine wirklichen weiteren Argumente mehr liefern können. Wie gesagt, setzen all die wissenschaftlichen Erkenntnisse eigentlich schon voraus, dass es Männer und Frauen gibt. Und jemanden, der das nicht glaubt, würden sie auch nicht überzeugen. Aber Wittgenstein (Ebd.: §248) setzt diese Passage fort: »Ich bin auf dem Boden meiner Überzeugungen angelangt. Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen, sie werde vom ganzen Haus getragen.« Es ist also nicht so, dass solche Gewissheiten die Grundlage für andere wären, sondern die Gewissheiten stützen sich gegenseitig. Das ist aber keine methodische oder bewusste Konstruktion, die uns so aufgrund von Kohärenz Gewissheit verleiht. Die Gewissheit entsteht nicht dadurch, dass wir an solchen Überzeugungen prinzipiell nicht zweifeln können, dass wir Zweifel irgendwie ausgeschlossen hätten. Sie entsteht dadurch, dass wir sie für gewöhnlich einfach nicht bezweifeln: »›Jedes einzelne dieser Fakten können wir bezweifeln, aber alle können wir nicht bezweifeln.‹ Wäre es nicht richtiger zu sagen: ›alle bezweifeln wir nicht.‹ Daß wir sie nicht alle bezweifeln, ist eben die Art und Weise wie wir urteilen, also handeln.« (Ebd.: §232) Deshalb auch der Titel von Zerillis (1998) Text: »Doing without knowing«. Denn im Alltag spielt eine Überzeugung wie »Es gibt Männer und Frauen« gar keine Rolle – etwa als Grundlage, aus der wir unser Handeln ableiten oder rechtfertigen würden. Wie sehr unser Handeln dadurch geprägt ist, fällt erst auf, wenn wir etwas erleben, das damit nicht in Einklang zu bringen ist. Wittgenstein drückt das in folgendem Bild aus: »Die Sätze, die für mich feststehen, lerne ich nicht ausdrücklich. Ich kann sie nachträglich finden wie die Rotationsachsen eines sich drehenden Körpers. Diese Achse steht nicht fest in dem Sinne, daß sie festgehalten wird, aber die Bewegung um sie herum bestimmt sie als unbewegt.« (Wittgenstein 1984: §152) Wir können solche Überzeugungen also bemerken, wenn wir über unser Handeln nachdenken, so wie die Achsen, wenn wir über die Bewegung eines Körpers
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nachdenken. Aber es gibt keine Achsen, die man unabhängig von der Bewegung des Körpers sehen oder untersuchen könnte oder die da sind, bevor der Körper rotiert. Geschlecht ist nur eines von vielen Beispielen für solche grundlegenden Überzeugungen, die Wittgenstein anführt. Ein anderes Beispiel aus Wittgensteins Text, der in den frühen 1950er-Jahren entstand, ist, dass niemand je auf dem Mond war. Es ist also durchaus möglich, dass sich solche Überzeugungen ändern. Aber Wittgenstein schreibt eben zu seiner Zeit, dass wir eine Person, die behauptet, auf dem Mond gewesen zu sein, nicht fragen würden, ob sie sich da vielleicht irrt, oder wie sie das denn geschafft habe (vgl. ebd.: §108). Sondern wir würden uns eher fragen, ob jemand versucht, uns auf den Arm zu nehmen oder noch ganz bei Trost ist. Diese Gewissheiten, die uns unser Alltag liefert, zeichnen sich also dadurch aus, dass wir für gewöhnlich Zweifel an ihnen zurückweisen anstatt zu versuchen, sie auszuräumen. Das liegt auch daran, dass uns in solchen Fällen nicht klar ist, was überhaupt noch ein Argument sein könnte, das gewisser ist, als das, was hier bezweifelt wird. Eben weil sie uns nicht als Argument bezüglich einer umstrittenen Frage vorkommen, sondern weil sie unseren selbstverständlichen Alltag infrage stellen, akzeptieren wir die Zweifel nicht als Einwand, der durch Argumente belegt werden könnte. Wir liefern nicht weitere Argumente, sondern wir fragen, wie jemand zu solch einer seltsamen Überzeugung kommen kann, ob diese Person das ernst meint, oder suchen sonst eine Erklärung. Der Zweifel wird also nicht ausgeräumt, sondern zurückgewiesen. Und es ist auch vollkommen in Ordnung, unverständliche Infragestellungen zurückzuweisen. Aber gleichzeitig kann diese Situation auf mehreren Ebenen Ausgrenzung und Diskriminierung erzeugen. Denn in solchen Situationen wird ein Urteil über etwas, das ein Mensch sagt oder tut, zu einem Urteil über den Menschen selbst. Dieser ist dann in einer Form ausgeschlossen: inkompetent, ungebildet, nicht in Kontrolle über sich selbst, krank, auf Drogen, etc.
D iskriminierung und soziales W issen Solche Diskriminierungseffekte finden sich bereits auf der Ebene von Wissen, nicht erst von Gewissheiten. Das hängt damit zusammen, dass auch Wissen in unserem Alltag und der Gesellschaft verankert ist. Die meisten Dinge, welche wir wissen, wissen wir nicht, weil wir sie selbst empirisch überprüft haben. Wir wissen sie von anderen. Wir bekommen sie von unseren Eltern beigebracht, von unserem sozialen Umfeld, wir lernen sie in der Schule, in Ausbildung und Universität, wir lesen sie im Internet oder in der Zeitung. Dazu gehören auch so elementare Dinge wie wo wir geboren wurden und wer unsere Eltern sind. Niemand hat das persönlich verifiziert. Aber für gewöhnlich gibt es keinen Grund daran zu zweifeln, dass die Menschen, die in unserem Leben die Rolle von Eltern spielen, auch unsere Eltern sind. Aber wenn wir einmal daran zweifeln, müssen wir großen Aufwand betreiben, um herauszufinden, ob dieser Zweifel gerechtfertigt ist.
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Das heißt nun nicht, dass mit unserem Wissen etwas nicht in Ordnung wäre, weil wir es nicht selbst überprüft haben. Im Gegenteil hätten wir dafür oft weder die Kompetenzen noch die Möglichkeiten. Aber das Beispiel der Eltern zeigt bereits, dass auch dieses soziale Wissen von einer Trennung in gewöhnliche Fälle und Ausnahmefälle abhängt. Ich habe in Bezug auf die Generierung von Wissen auch Schulen und Universitäten angesprochen. Das ist ein wichtiger Faktor in der hier thematisierten Debatte um Geschlecht, weil das Institutionen sind, die eine zunehmend umstrittene Autorität darüber haben, was als Wissen weitergegeben wird und was nicht. Aus Platzgründen werde ich mich hier aber auf den Alltag konzentrieren. Miranda Fricker greift in ihrem Buch Epistemic Injustice (2007) den Umstand auf, dass der Großteil unseres Wissens soziales Wissen ist. Aber nicht alle Menschen in unserem Umfeld gelten in gleicher Weise als akzeptierte Beitragende zu diesem sozialen Wissen. Das ist natürlich in vielen Fällen legitim; es gibt für bestimmte Formen und Bereiche von Wissen mehr oder weniger geeignete Gesprächspartner*innen und Quellen. Aus diesem Grund gibt es auch allerhand formale Qualifikationen, die einen Menschen als Quelle bestimmter Formen von Wissen auszeichnen. Fricker zeigt aber, dass daraus eine ganz bestimmte Form von Ungerechtigkeit entstehen kann; nämlich die, dass Menschen ungerechtfertigterweise als Beitragende zum sozialen Wissen ausgeschlossen werden. Aber es gibt auch den umgekehrten Fall, dass jemandem zu viel Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Das hängt natürlich mit Vorurteilen zusammen. Aber Fricker zeigt, dass die Abläufe komplexer sind, als dass einfach bestimmten Menschen nicht geglaubt wird. Sie nutzt eine zentrale Passage aus Harper Lees To Kill a Mockingbird, um das zu illustrieren (vgl. Fricker 2007: 94f.). Der Roman spielt in den 1930er-Jahren in den Südstaaten der USA. Der schwarze Farmarbeiter Tim Robinson ist angeklagt, eine weiße Frau vergewaltigt zu haben. Wer den Roman liest, weiß zu diesem Zeitpunkt des Textes, dass das nicht wahr ist. Was Robinson vor Gericht nun Probleme macht, ist seine Antwort auf die Frage, warum er überhaupt im Haus der Frau war. Er sagt, er habe Mitleid mit ihr gehabt und wollte ihr bei ihrer Arbeit helfen. Dass aber ein Schwarzer behauptet, Mitleid mit einer weißen Frau zu haben, untergräbt seine Glaubwürdigkeit im Rest des Prozesses. Es handelt sich hier um sehr lokales Wissen. (Wer ist schuldig?) Aber es zeigt, dass es um mehr geht als Vorurteile, welche direkt die Glaubwürdigkeit oder Kompetenz von Menschen betreffen, also in diesem Beispiel, dass man Schwarzen generell nichts glauben kann. Hier wird die Glaubwürdigkeit dagegen erst in dem Moment untergraben, in dem jemand etwas tut, was nicht zu den üblichen Vorstellungen passt, wer diese Person ist und was eine übliche und was eine außergewöhnliche Handlung für sie ist – wie eben für jemanden, der von ehemaligen Sklaven abstammt, mit einer weißen Frau Mitleid zu haben.
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Ein wichtiger Umstand, den Fricker nur kurz erwähnt, ist, dass Menschen, die von solchen Vorannahmen betroffen sind, oft auch sozial und ökonomisch benachteiligt sind. Insbesondere betrifft das auch den Zugang zu Ressourcen von Wissen. Zu diesen Ressourcen gehören auch die Zeit und das Geld, die nötig sind, um bestimmte Sprech- und Auftrittsweisen zu erwerben, die wiederum nötig sind, um als kompetente Wissende zu gelten, ein sozial durchlässiges Bildungssystem und vieles mehr. Die aktuellen Debatten um Geschlecht sind auch ein Kampf um Deutungsmuster in den Medien. Gerade das Internet und soziale Medien sind eine Ressource, in der auch Personen eine Stimme finden können, welche von der Öffentlichkeit, die durch die etablierten Medien hergestellt wird, ausgeschlossen sind. Gleichzeitig tobt hier die Auseinandersetzung um Geschlecht und verwandte Themen in aller Härte. Die neuen Medien erlauben nicht nur eine Vielzahl an Stimmen, sondern auch relativ direkte und persönliche Kommunikationssituationen (oder die Illusion davon), so dass auch immer wieder aggressive und persönliche Angriffe stattfinden. Hier wird dann teilweise sehr brutal mitverhandelt, wer in dem jeweiligen Kontext als kompetent gilt mitzureden und Wissen beizutragen. Dass persönliche und aggressive Angriffe ein Problem sind, versteht sich von selbst. Wichtig ist aber Frickers Feststellung, dass es bereits eine moralisch verwerfliche Tat in sich ist, Menschen ungerechtfertigterweise abzusprechen, dass sie Wissen beitragen könnten (vgl. ebd.: 145). Solche epistemische Ungerechtigkeit hat auch Auswirkungen auf die Praktiken des Alltags: Wenn bestimmte Menschen regelmäßig weniger zum Alltagswissen beitragen können, führt das dazu, dass bestimmte Phänomene oder Handlungen in diesem Wissen gar nicht oder in diskriminierender Weise vorkommen. Fricker zitiert eine lange Passage aus Susan Brownmillers In Our Time: Memoir of a Revolution (1999), einem autobiographischen Text der feministischen Aktivistin aus den USA. (Vgl. ebd.: 148ff.). Dort beschreibt sie, wie in den 1960er-Jahren an der Cornell University der Begriff »sexual harassment« entstanden ist. Sie berichtet, wie eine Reihe weiblicher Angestellter der Universität von ihren männlichen Vorgesetzen belästigt wurden. Selbst als eine von ihnen deshalb kündigte, fiel es aber schwer, das zur Sprache zu bringen. Die zu dieser Zeit etablierte Sicht auf männlich-heterosexuelle Verhaltensweisen betrachtete derartige Verhaltensweisen als ›Flirt‹. Die Perspektive der Frauen, die die körperlichen Belästigungen und blöden Sprüche nicht als Flirt sehen wollten, wurde nicht als legitime andere Sicht auf die Dinge anerkannt. Das Perfide daran ist, dass sich zu wehren in dieser Auffassung von ›Flirt‹ als die geschlechterrollenkonforme Verhaltensweise für Frauen gesehen wurde. Widerstand konnte als implizite Bestätigung des männlichen Verhaltens ausgelegt werden. Sowohl Mitmachen als auch Ablehnung konnte also nahtlos in die bestehende Auffassung integriert werden. Für eine Sicht, welche dem Erleben der Betroffenen gerecht wurde, gab es sozusagen keinen Platz, noch nicht einmal einen Begriff. Fricker (2007: 155) nennt das »hermeneutische Ungerechtigkeit«.
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Im geschilderten Fall versuchte die Betroffene deshalb, solchen Situationen aus dem Weg zu gehen, und schwieg darüber. Aus diesen und ähnlichen Gründen wurden solche Vorfälle nicht publik bis bei einem Treffen viele weibliche Angestellte feststellten, dass sie dasselbe Problem hatten, und einen neuen Begriff, »sexual harassment«, fanden, mit dem sie das Problem thematisieren konnten. Das Entstehen dieser neuen Sicht der männlichen Verhaltensweisen, so Fricker, war vorher unmöglich, weil die Frauen als Beiträgerinnen zu sozialem Wissen marginalisiert waren. Die darauf basierenden Praktiken, all die geschilderten Belästigungen als Flirt abzutun, verstärkten und stabilisierten diese Marginalisierung. Das heißt, es gibt Zusammenhänge zwischen den Praktiken und dem Alltagswissen einerseits und den Personen, welche als kompetente Beiträger*innen zu diesem Wissen gelten, andererseits. Und zwar in alle Richtungen. Fricker erhebt aber den Anspruch, dass dieses Problem durchaus hätte auffallen müssen, weil die Ungleichheit von Männern und Frauen auch damals bereits thematisiert wurde. Generell sind die von ihr diskutierten Probleme solche, die eine bereits fest etablierte soziale Identität betreffen. Mit der hermeneutischen Ungerechtigkeit befinden wir uns gewissermaßen im Übergangsbereich zu dem, was Wittgenstein und Zerilli als Gewissheit thematisieren. Denn hier geht es nicht mehr um eine alternative Position zu einer Frage von Wissen, die abgewertet wird, sondern um Handlungen, die aus der Sicht des Alltags keinen wirklichen Sinn mehr ergeben oder für den keine adäquaten Begriffe bereitstehen.
D iskriminierung zwischen P erson und W eltsicht In solch extremen Fällen, in denen das etablierte Wissen nicht ausreicht, um zu fassen, was geschieht, fallen das Handeln einer Person und die Sicht auf die Welt auseinander. Meistens betrifft das die Sicht anderer, die das Handeln wahrnehmen. Wie das Beispiel von Brownmiller zeigt, kann das aber auch die Möglichkeit einer Person betreffen, sich ihre eigene Situation in der Gesellschaft verständlich zu machen. In beiden Fällen geschieht etwas, das aus der alltäglichen Sicht nicht sinnvoll ist. Es gibt dann zwei Möglichkeiten: Entweder es findet sich eine andere Erklärung für die Handlung der Person, oder unsere etablierten Praktiken und das damit verbundene Weltbild müssen sich ändern, so dass das Handeln dieses Menschen damit verständlich wird. Eine andere Erklärung für das Verhalten der Person zu finden heißt, wenn wir bei dem Beispiel von To Kill a Mockingbird bleiben, dass ein Sohn von Sklaven nicht wirklich Mitleid gehabt haben kann, also wohl lügt. Diese Rückführung auf bekannte soziale Identitäten, etwa bezüglich Hautfarbe und Geschlecht, die Fricker in den Vordergrund stellt, sind jedoch nur eine mögliche Form solcher Erklärungen. Andere Möglichkeiten sind, dass die Person, deren Handlung nicht zur Alltagsgewissheit passt, nur einen Witz macht, dass sie sehr ungebildet ist und
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wirklich gar keine Ahnung hat, worum es geht, oder dass sie eben nicht zurechnungsfähig ist. Wittgenstein schreibt sehr oft, wenn er entsprechende Beispiele bringt: Wir würden so jemanden für geisteskrank halten (vgl. zum Beispiel Wittgenstein 1984: §155, §467, §642, §674). All diesen Erklärungen ist gemeinsam, dass das Urteil von der Handlung oder der Aussage der Person auf diese Person selbst übergeht. Die Handlung oder die Aussage selbst sind für das bestehende Weltbild Unsinn; wir wissen nicht, wie wir damit umgehen können. Also muss der Grund für die Herausforderung der Alltagsgewissheit in der Person liegen, die für diese Herausforderung verantwortlich ist. Das ist eine besonders problematische Form der Ausgrenzung. Es geht nicht nur um Vorurteile im klassischen Sinn, wie sie Fricker beschreibt, wo man sozusagen schon vorher weiß, wie ›die‹ – wer auch immer das gerade ist – so sind, woraus dann folgt, dass ›deren‹ Sicht auf die Dinge nicht ernst genommen wird. Stattdessen werden Menschen für den Versuch ausgegrenzt, etwas zu sein, was es aus der Sicht des bestehenden Weltbildes sozusagen gar nicht gibt. Um das erklären zu können, müssen sie eben etwas anderes sein, das es gibt: verrückt, verblendet, dumm, krank. Wenn das Handeln einer Person dafür sorgt, dass ihre Handlung und die allgemeine Weltsicht auseinanderfallen, ist also die erste Möglichkeit, durch eine veränderte Sicht auf diese Person diese wieder in die Weltsicht zu integrieren. Die andere Möglichkeit ist, dass sich tatsächlich etwas an der Weltsicht ändert, was dann die bisher unbemerkte und ungedachte Handlung erlaubt. Aber dazu muss jemand erst einmal etwas tun, das im Widerspruch zu einer ganzen Reihe etablierter Praktiken und Überzeugungen steht. Das kann durchaus aufgrund wissenschaftlicher Entwicklungen motiviert sein, wenn es gelingt, diese aus dem Labor in den Alltag zur übersetzen; aber auch, weil das Leben für manche Menschen schwer erträglich ist und es ihnen gelingt, dafür Aufmerksamkeit bei anderen zu bekommen. Wie eingangs beschrieben, erlaubt im Extremfall eine spezifische Sicht auf die Welt keine weiteren Argumente. Soll sich in solch einer Situation also etwas ändern, kann das nach Wittgenstein keine Frage von Wissen und Argumenten mehr sein, sondern ist eher mit einer religiösen Bekehrung zu vergleichen (vgl. Wittgenstein 1984: §192, §612). Meine bisherige Darstellung ist sicher idealtypisch. Sie dient dazu, einen Aspekt der Ausgrenzung hervorzuheben, der durch die Praktiken des Alltags entsteht. Diese Praktiken sind aber keine monolithischen Blöcke, welche anderen Menschen und Handlungsweisen unvereinbar gegenüberstehen. Gerade weil die Alltäglichkeit, welche die Gewissheit ausmacht, aus all den vielfältigen Dingen besteht, die wir tagtäglich eben tun, gibt es jede Menge Ansatzpunkte, an denen Spannungen entstehen können, an denen auffallen könnte, dass es hier andere gibt, deren (zumeist schlechte) Position nicht wahrgenommen wird. Und genau deshalb ist die oft vertretene Überzeugung, dass es doch genug sei, dass wir doch jetzt einen guten, gerechten, oder zumindest akzeptablen Zustand
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hätten, so gefährlich. Denn die Überzeugung, das eigene Handeln, das eigene Wissen, die eigene Gewissheit sei (zumindest im Großen und Ganzen) richtig, verhindert die Sensibilität, die man braucht, um zu erkennen, dass genau diese Gewissheit dazu führen kann, andere auszugrenzen. Denn dieses Problem hat noch eine subtilere Variante, die bisher noch nicht thematisiert wurde. Ich habe von Handlungen gesprochen, welche irritieren, welche dazu führen, dass zumindest temporär die eigene Gewissheit und das Handeln von Menschen auseinanderfallen. Aber Exklusionsmechanismen können nicht nur dadurch entstehen, dass in einer solch irritierten Situation ein Urteil von der Handlung auf den Menschen übergeht, welcher dann auf eine gewisse fundamentale Weise nicht dazugehört, krank, fremd, anders ist. Sie können auch dadurch zustande kommen, dass die Irritation gar nicht erst entsteht. Die Professoren im Beispiel der sexuellen Belästigung sind zum Beispiel nicht irritiert. Sie merken gar nicht, dass ihr Gegenüber die Situation ganz anders wahrnimmt. Fricker schreibt dazu, sie hätten aber allen Grund gehabt, es zu merken, weil die vielfältigen sozialen Unterschiede zwischen Männer und Frauen allen hätten auffallen müssen, die dazu bereit waren (vgl. Fricker 2007: 170-174). Weil Fricker sich also mit Problemen abgibt, die etablierte soziale Identitäten betreffen, kann sie auch eine Forderung nach einer in ihren Worten »epistemischen Tugend« (ebd.: 92) entwickeln, die nicht nur berücksichtigt, was geschieht und gesagt wird, sondern wer es tut und sagt, insbesondere wenn diese Person in vielfältiger Weise in asymmetrischen Verhältnissen von Macht, Ressourcen etc. steht. Das funktioniert nicht so einfach, wenn es keine etablierte soziale Identität gibt. Dann können Handlungen auch einfach in das bestehende Gewöhnliche einsortiert werden, ohne dass überhaupt eine Irritation entsteht – so wie für viele Menschen immer noch Heterosexualität die gewöhnliche Annahme ist. Lisa Nakamura (2010) hat für die Onlinekommunikation, wo oft das Aussehen der Interaktionspartner*innen nicht sichtbar ist, eine ganz ähnlich strukturierte »default whiteness« aufgezeigt. Ohne Hinweise auf die Hautfarbe wird diese also nicht irrelevant. Die meisten Menschen nehmen einfach an, ihr Gegenüber sei weiß (vgl. ebd.). Solch ein Einsortieren in das Gewöhnliche geschieht auch, wenn Menschen aus Oldenburg oder Schwäbisch Hall aufgrund ihres Aussehens gefragt werden, wo sie ›eigentlich‹ herkommen. Was ich gerade so harmlos mit »in das bestehende Gewöhnliche einsortiert« werden beschrieben habe, kann aber auch bedeuten, dass intersexuelle Menschen schon als Säuglinge operiert werden, mit dem Ziel, ein normales Aussehen herzustellen. Es wurde lange propagiert, dass es am besten sei, wenn die Betroffenen selbst davon nichts wüssten, dass also nicht einmal für sie selbst eine »Irritation« entstehen sollte (vgl. Angelika von Wahls Beitrag in diesem Band). Gegen diese Praktik haben sich verschiedene Initiativen in den letzten Jahren relativ erfolgreich gewehrt, was auch zur Empfehlung des Ethikrats des Bundestags geführt hat, ein drittes Geschlecht anzuerkennen (vgl. Deutscher Ethikrat 2012). Dass dieses
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dritte Geschlecht nun ausgerechnet »anders« heißen soll und dass es ein drittes sein muss und nicht einfach auf eine Festlegung verzichtet wird, zeigt, dass die Normalität immer noch wirkt. Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die sagen, dass diese Sichtbarkeit als ›anders‹ und auch die Festlegung als zugehörig zu einer sozialen Identität wichtig sei, weil in deren Namen politische Forderungen vertreten werden könnten. Deshalb zielen viele emanzipatorische Bewegungen auch darauf ab, als soziale Identität anerkannt zu werden, sichtbar zu werden, also gewissermaßen politisch zu beginnen zu existieren.
I dentitätspolitik und die ›L ösung ‹ von D iskriminierung Hier zeigt sich das bekannte Dilemma der Identitätspolitik. Auf der allgemeinen Ebene, auf der ich das Problem von Alltag und Ausgrenzung dargestellt habe, können Ausgrenzungseffekte sowohl bei der Forderung nach Anerkennung für bestimmte Identitäten auftreten, als auch bei Versuchen, diese zu überwinden. Das ist insbesondere deshalb wichtig, weil das Problem von Unsichtbarkeit nicht nur durch unmoralische, vorurteilsbehaftete Menschen entsteht, sondern in der Selbstverständlichkeit von Alltagsgewissheiten begründet ist. Unter dem Stichwort der ›Intersektionalität‹ wurde thematisiert, dass verschiedene politische Initiativen entgegen ihren Absichten exkludierende Wirkung entfaltet haben. So hat zum Beispiel eine zu universell gedachte Vorstellung von Feminismus in der Vergangenheit übersehen, dass die Situation von Frauen, die nicht weiß oder nicht heterosexuell sind, in den politischen Zielen feministischer Bewegungen nicht berücksichtig wurden oder diese nachteilig für sie waren (vgl. Crenshaw 1995). Auch der eingangs von mir zitierte Text von Zerilli stammt aus dieser Debatte: Sie sieht ein Problem in dem Ziel, einen Begriff von ›Frau‹ oder ›Geschlecht‹ zu finden, welcher nicht ausschließt. Dass so etwas überhaupt möglich sein könnte, hält sie für eine gefährliche Illusion, weil man sich damit in die Situation manövriert, potentiell beliebig viele Menschen auszuschließen, deren Leben von dem universellen Begriff ›Frau‹ nicht gefasst wird, aber sich gleichzeitig die Möglichkeit nimmt, diesen Ausschluss auch zu bemerken. Deshalb ist der Versuch, eine Lösung zu finden, also Exklusionseffekte auf jeden Fall zu vermeiden, problematisch. Stattdessen müsse eine Form der Politik gefunden werden, welche die Möglichkeit, dass Exklusionseffekte geschehen, immer mit einbezieht (vgl. Zerilli 1998: 454). Die Debatte um Intersektionalität hat das für verschiedene Formen der Identitätspolitik deutlich gemacht. Eine weitere andere Form dieser Unsichtbarkeit durch Alltäglichkeit betrifft die grundsätzlich richtige Überzeugung, dass alle Menschen gleich sind und deshalb Merkmalen wie Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft, sexueller Orientierung et cetera keine Bedeutung mehr beigemessen werden sollte. Das ist deshalb wichtig, weil ein Teil der Gender-Debatte in nicht-akademischen Kontexten auch darin besteht, dass
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Menschen mit guten Absichten und einer aufgeklärt-universalistischen Moral der Gleichberechtigung sich mit Vorwürfen der Diskriminierung konfrontiert sehen – ganz entgegen ihrer Absicht, die häufig mit den Worten formuliert wird: Mir ist egal, wer du bist, was zählt ist, was du tust. Deshalb ist wichtig zu betonen, dass die hier thematisierten Exklusionsformen nicht nur im Ausschluss von Menschen mit bestimmten (vorurteilsbehafteten) Identitäten bestehen. Sie können immer dann auftreten, wenn eine Person etwas tut, das Welt und Handlung auseinanderfallen lässt. Nun, so habe ich weiter gezeigt, kann es aber auch sein, dass diese Irritation ausbleibt, weil die Handlung einfach in die bestehende Gewissheit integriert wird. Deshalb ist das ›Mich-interessiert-nur-was-Du-tust‹ komplizierter als es klingt. Das bedeutet nicht, dass Bestrebungen, Diskriminierungen durch Vorurteile zu vermeiden, falsch wären. Worum es hier geht, ist die Vorstellung, dass mit solchen Maßnahmen das Problem der Diskriminierung gelöst sei; oder ganz allgemein, dass dieses Problem überhaupt irgendwann gelöst werden könnte, dass es nicht trotz allem zu Ausschluss und Unsichtbarkeit von bestimmten Menschen kommen kann. Was ich hier vorstelle, ist eine unangenehme Situation. Wir wissen, dass unsere Praktiken, unser Alltag, unser gewöhnliches Handeln diskriminieren können, aber wir haben keinen garantierten Weg, diesen Ausschluss auch zu bemerken. Und wenn wir ihn bemerkt haben, wenn schließlich eine neue Handlungsweise etabliert wird, die solchen Formen der Diskriminierung begegnet, dann ist das wieder eine neue Alltäglichkeit, welche potentiell wieder dasselbe Problem hat. Nun können wir nicht ohne solche Alltäglichkeit leben. Niemandem sollte zugemutet werden, als permanente Ausnahme, als permanente Irritation leben zu müssen (Vgl. Matzner 2013: 185ff.). Und ganz allgemein, so kann mit den eingangs angeführten Überlegungen Wittgensteins gezeigt werden, setzt jede Handlung, jedes Sprechen etwas voraus, das in diesem Moment als gewiss gilt, vor jeder Nachfrage, Überprüfung, Forschung, Empirie (vgl. ebd. Kap.1). Das gilt für Naturwissenschaft und Gender Studies genauso wie für politische Bewegungen. Das ist sozusagen der philosophische Grund für die Aussage, dass es für das Problem der Ausgrenzung keine Lösung geben kann, weil jede Gewissheit in diesem Sinn potentiell exkludierend ist. Das darf nun aber nicht als Entschuldigung dienen. Denn daraus folgt keinesfalls Ausweglosigkeit. Zu allererst kann man Positionen ablehnen, die meinen, eine solche Garantie zu haben, die meinen das Problem gelöst zu haben oder lösen zu können; Positionen, welche das Problem von sich weisen, weil sie mit einer vermeintlich universellen Moral agieren und deshalb ja kein Problem mit Ausgrenzung haben können. Zweitens kann man diese Erkenntnis in politisches Handeln integrieren. Zerilli schließt ihren Aufsatz mit der Bemerkung: »Politics consists precisely in the making of claims, which, being claims, are inevitably partial and thus exclusive. Acting politically is about testing the limits of every claim to community; it is about positing
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Tobias Matzner agreement and discovering what happens when that agreement breaks down or simply fails to materialize in the first place. […] Politics is to speak for someone and to speak to someone.« (Zerilli 1998: 454f.)
Das heißt, es geht um eine Sensibilität für potentielle Irritationen durch Unausgesprochenes, aber Bemerkbares, wie sie auch Miranda Fricker fordert. Und es geht um Aufmerksamkeit für »someone«, die konkreten Menschen, für die und zu denen man spricht. Auf grundsätzlicher Ebene muss die Prämisse verabschiedet werden, Politik und Ethik seien nur dann möglich, wenn man die anderen vollständig ›verstanden‹ hätte – und sei es in ihrer fundamentalen Andersheit –, weil man dann irgendwelche objektive Kriterien anlegen könne. Es geht um eine Politik und Ethik, der es immer auch darum geht, dass die anderen – oder ›die Gleichen‹ – noch ganz anders sein können als sie das bisher für uns waren. Das bedeutet schließlich, dass Politik nicht durch individuelle oder institutionelle Urteile, und seien sie noch so gut gemeint, zu ersetzen ist. Stattdessen steht Politik vor der Herausforderung, möglichst alle von einer Situation tangierten Personen zu bemerken und dann in Interaktion mit diesen einen Weg zu suchen. So besteht die Möglichkeit, dass nötige Irritationen entstehen, aber auch ein Weg, welcher letztlich zu einer neuen ›community‹ führen kann, in der Menschen nicht mehr als Ausnahme leben müssen – eine Gemeinschaft, die aber auf immer neue Auseinandersetzungen mit neuen ›claims to community‹ angewiesen ist.
L iteratur Crenshaw, Kimberlé Williams (1995): »Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color«, in: Kimberlé Crenshaw/Neil Gotanda/Gary Peller/Kendall Thomas (Hg.), Critical Race Theory: The Key Writings that Formed the Movement, New York: The New Press, S. 357-383. Deutscher Ethikrat (2012): Intersexualität. Stellungnahme, Berlin: Deutscher Ethikrat, http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-intersexualitaet.pdf vom 29.9.2017. Fausto-Sterling, Anne (1993): »The Five Sexes«, in: The Sciences 33 (2), S. 20-24. Fricker, Miranda (2007): Epistemic Injustice: Power and the Ethics of Knowing, Oxford und New York: Oxford University Press. Matzner, Tobias (2013): Vita variabilis: Handelnde und ihre Welt nach Hannah Arendt und Ludwig Wittgenstein, Würzburg: Königshausen & Neumann. Nakamura, Lisa (2010): »Race and Identity in Digital Media«, in: James Curran (Hg.), Mass Media and Society, London u.a.: Edward Arnold, S. 336-347. Wittgenstein, Ludwig (1984): Über Gewißheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Zerilli, Linda M. G. (1998): »Doing Without Knowing: Feminism’s Politics of the Ordinary«, in: Political Theory 26 (4), S. 435-458.
Wie Gender (auch) im Labor konstruiert und naturalisiert wird: Ein Fallbeispiel Laura F. Mega
Die Vorstellung, dass die Geschlechtszugehörigkeit von Personen einer naturgegebenen, unumstößlichen Tatsache entspricht, gehört zu den fraglos hingenommenen Bestandteilen des Alltagswissens der meisten Menschen (vgl. Wetterer 2004). Dabei ist die scheinbar simple Verkettung von Körper, Sexualität, Fortpflanzung und Zweigeschlechtlichkeit bei näherer Betrachtung voraussetzungsvoll. Die soziale Konstruktion dieses scheinbar natürlichen Zusammenhangs wird als ›Naturalisierung‹ bezeichnet (vgl. Gildemeister/Hericks: 2012). Obwohl bereits Ende der 1980er-Jahre das ›doing gender‹-Konzept die Perspektive der sozialen Konstruktion von Geschlecht eröffnete (vgl. West/Zimmerman: 1987), hält sich die Idee der ›natürlichen‹ Unterscheidung der Geschlechter hartnäckig. ›Doing gender‹ wurde in programmatischer Abgrenzung zur vorherrschenden Unterscheidung zwischen (biologischem) ›Sex‹ und (sozialem) ›Gender‹ entwickelt. Es stellt Geschlechtszughörigkeit als Ausgangspunkt von Unterscheidungen im menschlichen Handeln sowie in der Ausprägung körperlicher Unterschiede dar. Worauf die Hartnäckigkeit des Festhaltens an einer Idee der natürlichen Geschlechterunterscheidung zurückzuführen ist, wurde bereits viel diskutiert und wird auch in dem vorliegenden Sammelband aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Mit dem vorliegenden Beitrag möchte ich dem Diskurs zu sex/gender in der Biologie (vgl. zum Beispiel Fine 2012; Joel/Fausto-Sterling 2016; Jordan-Young/ Rumiati 2012; Springer/Mager Stellman/Jordan-Young 2012) eine kognitionswissenschaftliche Perspektive auf die Frage der Persistenz des Naturalisierungsansatzes hinzufügen.1 Denn die Unterscheidung von Menschen anhand sogenannter 1 | Die Begriffe ›Sex‹ und ›Gender‹ werden häufig als Basis/Superstruktur-Modell verstanden. Dabei beschreibt ›Sex‹ den materiellen Körper und ›Gender‹ die sozialen- und kulturellen Zuschreibungen desselben. Aber »sex is not a pure bodily and material fact, but is deeply interwoven with social and
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Geschlechtsmerkmale ist nicht nur Alltagspraxis, sondern findet auch in kognitionswissenschaftlichen Studien immer wieder Anwendung und erfährt durch eben diese Forschung weitere Bestätigung. Ich möchte im Folgenden deshalb fragen: • Wie können kognitionswissenschaftliche Erkenntnisse zur intuitiven Kategorisierung von Personen dazu beitragen, die Naturalisierung von ›Gender‹ besser zu verstehen? • Wie können empirische Untersuchungen von sex/gender auf eine Weise gestaltet werden, die sich der existierenden Vorannahmen bewusst sind? Zur Beleuchtung dieser Fragen dienen zum einen verschiedene Arbeiten aus der Erforschung intuitiver Urteilsprozesse. Zum anderen werde ich anhand eines Fallbeispiels darstellen, wie ein selbstreflexiver Ansatz der Erforschung von Fragen des sex/gender-Komplexes aussehen kann. Dabei werde ich sowohl auf die Überlegungen zur Veränderung der gängigen Praxis sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten und verbleibenden, weiterhin kritisch zu beleuchtenden Reduktionen eingehen. Zentrales Anliegen, sowohl des theoretischen Ansatzes als auch der empirischen Veränderungen, ist zum einen die Wirkmacht von Wissenschaft ernst zu nehmen und zum anderen die eigene Positionierung als Wissensschaffende im Prozess des Forschens kritisch reflektierend mitzudenken. Denn die Positionierung von Forschung als System der ›objektiven‹ und ›externen‹ Beobachtung stößt an ihre Grenzen: »Die soziale Wirklichkeit ist zweigeschlechtlich strukturiert, die Differenz immer schon in die soziale Welt eingeschrieben und unsere Wahrnehmung darauf ausgerichtet, in jeder Situation Frauen und Männer zu unterscheiden. Im jeweiligen Untersuchungsfeld sind Forscher und Beforschte als Männer und Frauen erkennbar und als solche in den forschungsbezogenen Interpretationen und Auswertungen präsent.« (Gildemeister 2010: 141)
Die Begriffe ›Gender‹ und ›Geschlecht‹ haben in unterschiedlichen wissenschaftlichen Fachrichtungen verschiedene Bedeutungen (vgl. Kuria 2012). Vor allem aber gibt es große Verständnisunterschiede zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs und dem Alltagsdiskurs. Das Wort ›Frau‹ beispielsweise könnte als Begriff verstanden werden, durch den Menschen beschrieben werden, die eine Gebärmutter, Ovarien, Brüste und eine Vagina haben – eine durch biologische Merkmale becultural constructions of gender« (Kaiser et al. 2009: 50). Das heißt, gegenderte Lebenserfahrungen werden verkörpert. Um auf diese Verschränkungen des Sozialen mit dem Biologischen (vgl. Springer/ Mager Stellman/Jordan-Young 2012; Dussuage/Kaiser 2012) aufmerksam zu machen und in Abgrenzung zu der Idee von ›Sex‹ und ›Gender‹ als zwei getrennte natürliche Klassen folge ich Kaiser und Kolleginnen (2009) in der Nutzung des Begriffs sex/gender.
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dingte Definition. Schon diese (scheinbar) biologische Definition allerdings enthält eine Vielzahl von problematischen Herausforderungen. Woher wissen wir, ob die als ›Frau‹ beschriebene Person tatsächlich alle eben aufgezählten körperlichen Merkmale besitzt? Die Überprüfung dieser Kriterien ist ein nichttriviales Unterfangen. Selbst ein unbekleideter Körper könnte ohne die Hilfe von technischen Hilfsmitteln (wie beispielsweise einem Ultraschallgerät) nicht alle erforderlichen Informationen preisgeben. Wie hilfreich ist eine Definition für unser Verständnis, wenn wir technische Hilfsmittel benötigen, um sie mit Sicherheit für die Kategorisierung einer Person anwenden zu können? Darüber hinaus schließen sich eine Fülle von ethisch relevanten Fragen an die Nutzung dieser vermeintlichen biologischen Merkmale zur Definition der Kategorie ›Frau‹ an. So wird beispielsweise die Frage aufgeworfen, ob eine Person ihre Zugehörigkeit zu dieser Kategorie verliert, nachdem ihr die Gebärmutter entfernt oder die Brust amputiert wurde. Die oben erwähnten Beispiele zeigen exemplarisch die Fragilität einer biologischen Definition von Gender-Kategorien als Wissensbasis. Ein anderer Ansatz wäre die Zuschreibung einer Geschlechtsidentität auf Grund sozialer Normen oder verhaltensbasierter Faktoren. Ein auf diesen Faktoren basierender Definitionsansatz wäre also beispielsweise: Ein Mann ist ein Mensch, der sich auf eine Weise verhält, die als ›männlich‹ charakterisierbar ist. Aber auch dieser Definitionsansatz kommt schnell an seine Grenzen, denn der Ausdruck geschlechtlich beschriebener Verhaltensweisen ist abhängig von Veränderungen in kulturellen Normen auf der Gruppenebene (vgl. Twenge 2001) und auf der persönlichen Ebene flexibel an sozialen Kontext und Erfahrung anpassbar (vgl. Rippon et al. 2014). Die basale, binäre Geschlechterkategorisierung in Frau/Mann und weiblich/ männlich scheint also selbst unter den moderaten Prüfungen, welchen ich sie bislang unterzogen habe, weder intuitiv noch unproblematisch zu funktionieren. Dennoch werden diese Kategorien im Alltag sowie in der Wissenschaftspraxis häufig und unhinterfragt eingesetzt. Einen Erklärungsansatz hierfür bietet der psychologische Essentialismus. Im Folgenden werde ich kurz auf die Essentialisierung von Geschlechterkategorien eingehen.
P sychological E ssentialism Die Überzeugung, dass die Mitglieder sozialer Kategorien tiefliegende, essentielle Ähnlichkeiten teilen, welche die wahrnehmbaren Merkmale dieser Kategorien erklären, wird ›psychological essentialism‹ genannt (vgl. Haslam/Whelan 2008). Eine essentialistische Denkweise kann eine systematisierende und hierarchisierende Funktion erfüllen, wodurch existierende Statusunterschiede wie Privilegierung/Diskriminierung natürlich und unveränderbar erscheinen: »[P]eople commonly believe social categories to be natural kinds, and […] this belief is a
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dangerous misapprehension that overlooks the shaping of human kinds by social, historical, and cultural forces.« (Haslam/Whelan 2008: 1298; vgl. auch Rothbart/ Taylor 1992). Das heißt, Essentialismus kann (zumindest gegenüber einem selbst) als Legitimationsgrundlage beispielsweise für die Bevorzugung der eigenen sozialen Gruppe oder die Ausgrenzung der ›Anderen‹ dienen (vgl. Rothbart/Taylor 1992) und soziale Arrangements dadurch als unveränderlich darstellen. Darüber hinaus scheinen essentialisierte Repräsentationen mit einem Element des Ungewissen behaftet zu sein: »Indeed, key features of essentialized categories are typically unknown – and even unknowable – to the ordinary person. The essence of the category is one such feature. Often people know what the essence is, technically speaking, but not much about what it means, how it works, or what it causes. For example, people may consider a Y chromosome the essence of the category male, but have no idea what role a Y chromosome plays in producing male characteristics.« (Prentice/Miller 2007: 203)
Im Beispiel der Naturalisierung des Geschlechts dient die essentialistische Überzeugung also zur Legitimation einer Gesellschaftsstruktur. Mit anderen Worten: ›Geschlecht‹ stellt ein »in hohem Maße komplexitätsreduzierendes Klassifikationsschema dar, mit dem wir die Welt ordnen und unser Gegenüber einordnen« (Gildemeister 2010: 138). Tatsächlich scheinen sich Menschen mit einer Minimaldefinition von Geschlechterkategorien zufrieden zu geben. Wenn es um die Einschätzung des Geschlechts einer anderen Person geht, werden zumeist genderstereotype Merkmale für die (intuitive) Kategorisierung einer Person herangezogen. Für die Einordnung eines Gesichtes in die Kategorie ›männlich‹ scheint es beispielsweise auszureichen, dass Gesichtsbehaarung vorhanden ist (vgl. Mega/Lao/Volz, im Erscheinen). Rule und Kollegen haben in mehreren, vergleichbaren Experimenten festgestellt, dass die Frisur von Personen ihre Geschlechtskategorisierung maßgeblich beeinflusst (vgl. Rule et al. 2008). Konkret führten beispielsweise kurze Haare bei Bildern von Frauen dazu, dass sie entweder als lesbisch oder als männlich eingeschätzt wurden. Hinzu kommt, dass diese soziale Kategorisierung in Sekundenbruchteilen abläuft. Todorov und Kollegen konnten beispielsweise zeigen, dass Menschen innerhalb von 70 Millisekunden das Geschlecht einer Person anhand ihres Gesichtes ablesen können (vgl. Willis/Todorov 2006). Aber können wir das wirklich? Oder meinen wir nur, genau das zu tun?
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K ognitive G rundlagen intuitiven U rteilens Die soziale Einordnung von Individuen in (essenzialisierte) Kategorien findet bereits auf einer frühen Ebene des kognitiven Systems statt. Schnelligkeit und automatischer Ablauf sind inhärente Merkmale intuitiver Beurteilungsprozesse (vgl. Betsch 2008; Gaissmaier/Gigerenzer 2006; Mega/Volz 2014). Deshalb fehlt in den meisten sozialen Interaktionen schlichtweg die Zeit, um länger über Merkmale nachzudenken, bevor die automatische Kategorisierung bereits abgeschlossen ist. Der Zusammenhang zwischen visueller Wahrnehmung und den soziokulturellen Praktiken, welche diese visuellen Prozesse beeinflussen, ist dynamisch und bidirektional (vgl. Mega/Lao/Volz, im Erscheinen). Wir wissen heute, dass die Wahrnehmung anderer Personen ein intuitiver Prozess ist (vgl. Ambady 2010; Rule/Ambady 2008; Rule/Ambady/Hallett 2009). Das heißt, der Prozess mit dem wir Charakteristika anderer Personen wahrnehmen läuft schnell, automatisch und unbewusst ab und wird begleitet von einer Art (metakognitivem) Bauchgefühl (vgl. Mega/Gigerenzer/Volz 2015; Mega/Volz 2017). Allerdings wird die Intuition anhand von Variablen trainiert, welche im Laufe des Lebens erlernt werden (vgl. Betsch 2008; Hodgkinson/Langan-Fox/Sadler-Smith 2008; Hogarth 2001).2 Wenn das System darauf trainiert ist, ›weiches Gesicht‹ und ›lange Haare‹ als weiblich zu erkennen, dann wird es dies zunächst tun. Nicht, weil die Merkmale (weiches Gesicht, lange Haare) in einem unumstößlichen genetischen Code als weiblich gespeichert sind. Vielmehr wurden die Merkmale über viele visuelle Erfahrungen hinweg mit der Kategorie ›weiblich‹ in Verbindung gebracht. Die Kategorisierung ist also (a) erfahrungsbasiert und damit auch (b) (motivationsabhängig) veränderbar. Die vermeintliche Unausweichlichkeit der Kategorisierung kann also sowohl auf individueller als auch auf politischer Ebene beeinflusst werden, indem aktiv auf die eben beschriebene Wissens-/Erfahrungsbasis von intuitiven Prozessen eingewirkt wird. Die Tatsache, dass die Formierung von visuellen Eindrücken stark auf vorangegangen Wahrnehmungen basiert und Präferenzen der Wahrnehmenden hin zu prototypischen Kategorie-Exemplaren verzerrt sind (vgl. Johnson/Lick/ Carpinella 2015; Lick/Johnson 2014), unterstreicht die Wichtigkeit einer Vielfalt potentiell wahrnehmbarer Stimuli. Vielfältigsten Körperformen ausgesetzt zu sein kann so beispielsweise die scheinbar automatische, stereotype Kategorisierung anhand von Körpernormen beeinflussen. Hierin liegt also die Chance der Änderung in der Herangehensweise von naturwissenschaftlichen Experimenten: eine breitere Vielfalt von Erfahrungen abzufragen und somit im Ergebnis darzustellen. Die Beeinflussbarkeit der Einschätzungen unterstreicht, dass Gesichtsmerkmale stereotypisiertes Wissen über sex/gender-Normen aktivieren statt einer unum2 | Dies wird oft als ›tacit knowledge base‹ bezeichnet, also als Wissen, welches Verhalten hervorbringt, aber nicht bewusst zugänglich ist.
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stößlichen ›Wahrheit‹ zu entsprechen, dass also beispielsweise Gesichtsbehaarung ein maskulines Merkmal ist und ein Gesicht mit Behaarung deshalb zwangsläufig männlich sein muss. Die Entstehung von sex/gender-Wahrnehmungen basiert auf einer groben Einschätzung dessen, was als ›Femininität‹ oder ›Maskulinität‹ bezeichnet wird. Verstöße gegen eine (kulturspezifische) Gender-Norm haben direkte Konsequenzen für die Beurteilung von Geschlechtsidentiät und sexueller Orientierung. Tatsächlich bedingt die Übereinstimmung mit (geschlechts-)stereotypen Merkmalen eines Gesichtsphänotypus direkt die Einschätzung der sexuellen Orientierung der Person: ›Maskuline‹ Frauen und ›feminine‹ Männer werden häufiger als homosexuell eingeschätzt, während ›feminine‹ Frauen und ›maskuline‹ Männer eher als heterosexuell gesehen werden (vgl. Freeman et al. 2010). Dieser Effekt wird häufig als ›gender inversion effect‹ bezeichnet und gilt gleichermaßen für die Einschätzung von Gesichtern wie auch von Körpern (vgl. Freeman et al. 2012; Lick/Johnson 2015). Allerdings basieren die Forschungen zum ›gender inversion effect‹ meist auf der Nutzung binärer Geschlechterkategorien, welche eine bipolare Einteilung von sex/gender voraussetzen. Ziel der im Folgenden beschriebenen Fallstudie war es deshalb, die oben beschriebenen Befunde durch die Nutzung nicht-binärer Klassifikationen zu erweitern und verschiedene Gesichtsmerkmale direkt zu manipulieren. Eine der methodologischen Kritiken des feministischen Diskurses ist, dass Vorannahmen zur Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung von Personen auch innerhalb der Wissenschaft eine wesentliche Rolle spielen (vgl. AG 2013; Dussauge/Kaiser 2012; Kaiser/Dussauge 2015). Insbesondere will diese Kritik aufzeigen, dass auch Wissensschaffende nicht immun gegenüber impliziten Vorurteilen sind und deshalb eine kritische Reflektion dessen dringend notwendig ist, wie die Positionen und Werte von Forschenden die eigene Forschung beeinflussen. Ein konkreter Versuch der methodologischen Veränderung besteht deshalb in der kritischen Reflektion und Einarbeitung bestehender Vorannahmen zu sex/gender sowie der Integration neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse in das Forschungsdesign selbst. Im Folgenden werde ich ein Studiendesign beispielhaft vorstellen, in welchem meine Kollaborationspartner*innen und ich in einer ersten Annäherung versuchten, eben dies zu tun: sowohl auf Ebene der Studienteilnehmenden (1) als auch auf Ebene des Stimulusmaterials (2) und der Antwortmöglichkeiten (3). Nachfolgend werde ich genauer auf diese Ebenen eingehen. Zunächst einmal folgt eine kurze Einführung in die Studie selbst.
Fallbeispiel Welche Strategie zur Informationsaquise für die Beurteilung sozialer ›Stimuli‹ genutzt werden, hängt von einem komplexen Zusammenspiel aus Charakteristika der wahrnehmenden Person (zum Beispiel kultureller Hintergrund oder kognitive
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Strategie) und dem Stimulus selbst ab. Gegenwärtige Konzeptionen des intuitiven Urteilens betonen die Wichtigkeit der (Lebens-)Erfahrung des Individuums für die Ausprägung des intuitiven Urteilsprozesses. Das ›social vision‹-Framework (vgl. Adams et al. 2011; Albohn/Adams, 2016)) ergänzt diese Konzeption durch die Skizzierung der Wichtigkeit individueller sowie sozialer Faktoren für die Ausprägung perzeptueller Erfahrungen. Basierend auf diesem Framework gingen wir in diesem Experiment der Frage nach, ob die sexuelle Orientierung einer wahrnehmenden Person sich auf ihre kognitive Strategie für die Einschätzung der Gender-Identität und sexuellen Orientierung von Gesichts-Stimuli auswirkt. Des Weiteren testeten wir, ob das Vertrauen auf sogenannte ›gender inversion cues‹3 für die Beurteilung von GenderIdentität und sexueller Orientierung abhängig von der sexuellen Orientierung der wahrnehmenden Person ist. Hierfür baten wir die Teilnehmenden unserer Studie zunächst, ihre eigene Gender-Identität und sexuelle Orientierung auf multiplen, nicht-binären Skalen anzugeben. Diese Selbsteinschätzung stellt die erste der oben erwähnten Ebenen dar.
Die Teilnehmenden Die Abfrage des ›Geschlechts‹ ist eine Standardfrage in demographischen Fragebögen, welche vor psychologischen Untersuchungen ausgefüllt werden. Dabei wird zumeist davon ausgegangen, dass die Teilnehmenden wissen, was mit ›Geschlecht‹ gemeint ist (und dass alle dasselbe Verständnis von Geschlecht haben). Allerdings beschränken sich die Antwortmöglichkeiten häufig auf das Ankreuzen von Kästchen für ›männlich‹ und ›weiblich‹. Um die Komplexität der Gender-Frage besser abbilden zu können, entschieden wir uns für mehrere Veränderungen. Erstens spezifizierten wir in unserer Selbsteinschätzung, dass Teilnehmende ihre Geschlechtsidentität (nicht das bei Geburt zugewiesene Geschlecht oder ›gender expression‹, also die gelebte Praxis) angeben sollen sowie die Geschlechtsidentität der Person(en), zu denen sie sich sexuell hingezogen fühlen. Um größtmögliches Verständnis herzustellen und Verwirrung zu vermeiden, wurden diese Begriffe basierend auf einer Übersetzung des GenderUnicorn ausführlich erklärt, welches von der Trans Student Educational Ressources Association als eine visuelle Hilfestellung für die Erklärung von gender-Merkmalen
3 | Als ›gender inversion cues‹ werden stereotype Merkmale bezeichnet, wie beispielsweise Gesichtsbehaarung bei femininen Gesichtern oder Make-up bei maskulinen Gesichtern. Wie bereits oben erwähnt, bezeichnet der ›gender inversion effect‹ die Tatsache, dass ›maskuline‹ Frauen und ›feminine‹ Männer häufiger als homosexuell eingeschätzt, während ›feminine‹ Frauen und ›maskuline‹ Männer eher als heterosexuell gesehen werden (vgl. Freeman et al. 2010). Dieser Effekt gilt gleichermaßen für die Einschätzung von Gesichtern wie auch von Körpern (vgl. Freeman et al. 2012; Lick/Johnson 2015).
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Abb. 1
Quelle: Eigene Darstellung
zur Verfügung gestellt wird.4 Weiterhin hatten Teilnehmende die Möglichkeit, ihre Selbstidentifikation auf siebenstufigen Skalen (vgl. Abb. 1) anzugeben. Jede Person konnte selbst entscheiden, auf wie vielen der Skalen und in welcher Zahlenkombination sie ihre Geschlechtsidentität und sexuelle Präferenz angibt. Einige Kombinationen, die sich dabei beispielsweise ergaben, sind in der folgenden Tabelle aufgeführt:
Person
Geschlechtsidentität
Sexuelle Präferenz
1 F(5) F(7) 2 M(7) F(7) 3 F(2.5), A(2.5) F(6.5), M(3.5), A(6.5) Die Komplexität dieser Selbstidentifikation birgt neue Herausforderungen in sich. Zum einen ergeben sich praktische Einschränkungen bezüglich der Auswert- und Interpretierbarkeit der Daten. Aufgrund des übergeordneten Designs der Studie entschlossen wir uns deshalb im vorliegenden Fall dazu, die Komplexität der Selbstidentifikation mit der Einordnung in zwei grobe Hauptkategorien (heterosexuell und 4 | Vgl. http://www.transstudent.org/gender.
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nicht-heterosexuell) zu reduzieren. Obwohl dies eine gängige Praxis in psychologischen Studien darstellt, geht dadurch natürlich ein Teil der vorhandenen Variabilität und statistischen Validität verloren. In Studien, deren Hauptaugenmerk auf die Identifikation der Studienteilnehmenden gerichtet ist, sollte diese Komplexität aufrechterhalten werden. Zum anderen sorgt die Konfrontation der Studienteilnehmenden mit einer Selbstidentifikationsabfrage dieser Komplexität zum Teil für Irritationen, durch das infragestellen von Selbstverständlichkeiten, die eventuell noch nie hinterfragt wurden. Wie bereits von Regine Gildemeister beschrieben: »Nicht ›der Unterschied‹ konstituiert die Bedeutung, sondern die Bedeutung die Differenz. Dieser ›Zirkel der Selbstbezüglichkeit‹ funktioniert eben dadurch, dass wir diese Klassifikation in der ›Natur‹ oder der Biologie verankern (›naturalisieren‹). Der Vorgang der sozialen Konstruktion wird damit unsichtbar und tritt uns im Ergebnis als so hochgradig selbstverständlich entgegen, dass schon die Frage nach dem Herstellungsmodus i.d.R. Irritationen auslöst.« (Gildemeister 2010: 137)
Des Weiteren bleibt auch die Selbstidentifikation, in der Art wie wir sie implementiert haben, nur der Versuch einer Annäherung, welcher ganz klar reduktionistisch ist. So ist beispielsweise fraglich, inwiefern Personen, welche sich als ›genderfluid‹, das heißt dynamisch zwischen Geschlechtsidentitäten wechselnd, identifizieren, sich auf festgelegten, siebenstufigen Skalen wiederfinden.
Das Stimulusmaterial Wie oben erwähnt, gibt es bestimmte Merkmale, die immer wieder zur stereotypen Beurteilung von Personen herangezogen werden. Eines der hierfür am häufigsten genutzten Merkmale ist die Frisur (vgl. Martin/Macrae 2007; Rule et al. 2008). Um dieses automatische Kategorisierungsmuster zu umgehen, entschieden wir uns für die Erstellung von Gesichtsstimuli ohne Haupthaar, mittels einer für ComputerspieleDesigner entwickelten Software (FaceGen 3.5, Singular Inversion Inc.). Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass jene Merkmale, welche für die Forschungsfrage(n) von speziellem Interesse sind, gezielt und kontrolliert variiert werden können. Im Falle der hier diskutierten Studie entschieden wir uns für zwei Basiskategorien: Make-Up und Gesichtsbehaarung. Ziel der Auswahl dieser Kategorien war die Manipulation des ›gender inversion‹-Effektes. Innerhalb dieser Kategorien wurden unterschiedliche Gesichtsidentitäten generiert, welche entweder gefärbte Wimpern und/oder Lippen (Kategorie 1) oder buschige Augenbrauen und/oder Bartwuchs (Kategorie 2; vgl. Abb. 2) hatten. Des Weiteren wurden die im oben beschriebenen Verfahren generierten Gesichter auf einer vierstufigen Skala gemorpht. Eine Schwierigkeit und große Einschränkung dieses Verfahrens ist die Nutzung der im Programm vordefinierten, gegenderten Kategorien ›very feminine‹, ›feminine‹, ›very masculine‹ und ›masculine‹. Wenngleich die physiognomischen
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Abb. 2
Quelle: Eigene Darstellung Merkmale, auf denen diese Morphing-Kategorien basieren, durch die Analysen zahlreicher Gesichtsscans zustande kamen, bedient diese grobe Einteilung natürlich weiterhin die essentialisierten Kategorien. Es bleibt also zu evaluieren, inwiefern gesichtsmorphologische Merkmale systematisch verändert werden könnten um sie zu testen, ohne dabei bestehende Geschlechterstereotype zu reifizieren.
Die Antwortmöglichkeiten Die Studie ist in zwei Aufgabenblöcke unterteilt: die Einschätzung der Geschlechts identität sowie der sexuellen Präferenz der gezeigten Stimuli. Hierfür wurden den Teilnehmenden folgende Antwortmöglichkeiten zur Verfügung gestellt:
Block 1: Welche Geschlechtsidentität hat diese Person? Weiblich Männlich Andere(s) Geschlecht(er)
Block 2: Zu welcher Art von Person fühlt sich diese Person sexuell hingezogen? Weiblich Männlich Andere(s) Geschlecht(er)
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Auch wenn diese Antwortmöglichkeiten durch das Hinzufügen einer dritten Option eine Weiterentwicklung der gängigen Abfragepraxis darstellen, ist auch hier die Komplexität zwischen der Selbstidentifikation und den Antwortoptionen bereits reduziert. Der Grund hierfür war die Überlegung, die Komplexität der Antwortmöglichkeiten so weit reduziert zu halten, dass nicht bereits eine analytische Strategie implizit über die Komplexität der Aufgabe geprimt wird (und somit unsere Forschungsfrage/Hypothese nicht mehr getestet werden konnte). Gleichzeitig besteht die Gefahr der Überforderung der Teilnehmenden durch die Konfrontation mit dieser Komplexität der Antwortmöglichkeiten bei jedem gezeigten Gesicht. Darüber hinaus lag unser Hauptaugenmerk bei dieser Studie auf den Blickbewegungen der Teilnehmenden während des Experimentes. Diese hätten wegen der eben genannten höheren Anforderungen an die kognitive Leistungsfähigkeit an Aussagekraft für unsere Forschungsfrage verloren.
Exemplarische Ergebnisse Die Ergebnisse der Fallstudie zeigten, dass heterosexuelle und queere Personen ähnliche kognitive Prozesse zur Einschätzung der Geschlechtsidentität nutzen. Für die Einschätzung der sexuellen Orientierung allerdings fanden wir Unterschiede zwischen Personen der beiden Gruppen, sowohl im kognitiven Prozess als auch im Antwortverhalten. Wir konnten zeigen, dass Make-up und Gesichtsbehaarung von der Mehrheit der Teilnehmer*innen, unabhängig von deren sexueller Identität als Hinweise für die Kategorisierung von Gesichtern genutzt werden. Vor allem das Vorhandensein von Gesichtsbehaarung hatte signifikante Auswirkungen für die Beurteilung von Gesichtern: Heterosexuelle Personen schätzen Gesichter mit hyperfemininer Morphologie (morph level ›very female‹) und Gesichtsbehaarung als männlich und als sexuell zu weiblichen Personen hingezogen ein. Queere Personen hingegen schätzen Gesichter in dieser Kategorie mehrheitlich als XX und als sexuell zu ›anderen Geschlechtern‹ hingezogen ein. Zusätzlich zeigt dieses Ergebnis der Option ›andere(s) Geschlecht(er)‹ als signifikant häufigste Auswahl, dass die ›Normkategorien‹ männlich und weiblich in diesem Fall nicht ausgereicht hätten, um die Urteile dieser Personengruppe zu beschreiben. Ungeachtet der erwähnten Unterschiede in kognitivem Wahrnehmungsprozess und Antwortverhalten von heterosexuellen und queeren Personen blieben heterosexuelles Begehren und männliche Identität die Prototypen der Kategorien sexuelle Orientierung, respektive Gender-Identität.
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Fazit Verschiedene psychologische und gesellschaftliche Prozesse tragen immer wieder zur Essentialisierung von (sozialen) Kategorien wie sex/gender bei. Die Wissenschaft, mit der ihr zugeschriebenen Objektivität und Praxis, unterstützt diesen Trend zur Naturalisierung/Essentialisierung. Ein Austausch innerhalb der Wissenschaft und zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ist deshalb unerlässlich für einen kritische Reflektions- und eventuell sogar Veränderungsprozess. Die hier beschriebene Fallstudie stellt ein Beispiel für den Versuch dar, empirische Untersuchungen von sex/gender auf eine Weise zu gestalten, welche sich der existierenden Vorannahmen bewusst ist. Gleichzeitig zeigt dieser Versuch auch neue Problematiken auf, welche sich aus der Änderung der gängigen Forschungspraxis ergeben. Entgegen der Überzeugung von West/Zimmerman (1987) eröffnet der Blick auf die Erfahrungsbasiertheit intuitiver Urteils- und Wahrnehmungsprozesse meiner Ansicht nach die Perspektive, dass soziale Wahrnehmung (und damit auch Konstruktion) veränderbar ist. Der vermeintliche Imperativ des ›doing gender‹, welcher das Alltagswissen als ›natürlich‹ voraussetzt, verliert dadurch seine unbedingte Wirkmacht. Es liegt also in der wissenschaftlichen Verantwortung, essentialistische Ansätze aufzubrechen. Gleichzeitig liegt auch Verantwortung bei den Rezipient*innen von Forschungsergebnissen sowie bei denjenigen, die wissenschaftliche Erkenntnisse medial aufbereiten und der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen.
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Geschlecht trans*historisch / trans*zendent?
Als Mann und Frau geschaffen? Die Bibel und ihre Leser*innen Ruth Scoralick
E inleitung »Als Mann und Frau schuf er [sc. Gott] sie [sc. die Menschen].« Dieser eine Satz aus dem ersten Kapitel des ersten Buches der Bibel, dem Buch Genesis (= Gen 1,27) spielt in Diskussionen zum Thema Gender mit großer Regelmäßigkeit eine wichtige Rolle. Der Satz soll in vielen Fällen die Entgegensetzung von pauschal gern so genanntem ›Genderismus‹ oder einer ›Genderideologie‹ und einem christlichen (wahlweise einfach nur ›vernünftigen‹ oder ›natürlichen‹) Menschenbild belegen, denn mit ihm werde in der Bibel die Existenz zweier und nur zweier Geschlechter als schöpfungs- und naturgemäß sowie gottgewollt postuliert. Ob der Satz diese Argumentationslast tragen kann, ist eine der Fragen dieses Artikels. Auch das katholische Lehramt hat sich in die Genderdiskussion eingeschaltet. Mit dem Schreiben der Glaubenskongregation »Über die Zusammenarbeit von Mann und Frau in der Kirche und in der Welt« von 2004 wurde dabei die undifferenzierte und polemische Rede von einer ›Genderideologie‹ in die kirchenamtliche Sprache eingeführt. Zur Begründung einer Gegenposition werden unter anderem die ersten Kapitel des Buches Genesis (Gen 1-3) angeführt. Der Umgang mit den Bibeltexten bleibt dabei leider weit hinter prinzipiell schon erreichten lehramtlichen Einsichten und Zielen für den Umgang mit der Bibel zurück. Das Beispiel machte jedoch unter beiden Rücksichten Schule. Inzwischen zeichnen nicht nur einzelne Bischöfe, sondern europaweit ganze Bischofskonferenzen ein pauschales Bild von ›der Gendertheorie‹ (meist im Singular) als gefährlichem Gegensatz zum christlichen Menschenbild und berufen sich in undifferenzierter Weise auf Bibeltexte (vgl. Anic 2017). Mein Artikel behandelt nun einerseits grundlegende Fragen des verantwortlichen Umgangs mit biblischen Texten, wie sie im allgemeinen Diskurs immer wieder angeschnitten werden, und betrachtet andererseits den eingangs zitierten Satz im Kontext der Eingangskapitel der Bibel. Ich lasse die darüber hinaus nötigen
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Klärungen zur Vielfalt und den Differenzierungen gendertheoretischer Ansätze außen vor und verweise dazu nur auf die Literatur (vgl. Eckolt 2017; Laubach 2017; Wendel 2015). Mit pauschalen Urteilen und gegenseitigen Ideologievorwürfen ist niemandem gedient, so viel sei immerhin festgehalten. Wenn Exegetinnen und Exegeten die Analysekategorie Gender für ihre Arbeit aufgreifen, so folgen sie (zumindest: auch) dem Auftrag, den Papst Leo XIII. den Mitgliedern der Bibelkommission gab: »Sie sollen nichts als ihrem Fachgebiet fremd betrachten, was die emsige Forschung der modernen Zeiten Neues gefunden hat; ganz im Gegenteil sollen sie einen Geist der Wachheit pflegen, um unverzüglich das zu übernehmen, was jede Stunde der Bibelexegese an Nützlichem bietet.«1 Die Kategorie Gender, in den Humanwissenschaften inzwischen mit großer Selbstverständlichkeit gebraucht, gehört zu den Zeichen der Zeit, die es zu lesen und zu deuten gilt (vgl. Gaudium et Spes 42). Analysen von Bibeltexten mit Hilfe dieser Kategorie haben sich zudem schon seit Jahrzehnten als nützlich und weiterführend erwiesen. Auch der kritische Blick auf die Übersetzung und Auslegung von Texten bezüglich eines sogenannten gender bias der Auslegenden, das heißt geschlechtsbezogener Vorurteile, ist ausgesprochen hilfreich und gerade auch im Blick auf die Texte der Genesis produktiv (vgl. Fischer 2004). Im Folgenden konzentriert sich das Interesse auf die ersten Kapitel des Buches Genesis, die in der Diskussion immer wieder herangezogen werden. Schreiben diese ersten Kapitel der Bibel, Gen 1-3, die Zweigeschlechtlichkeit der Menschen als göttlich gesetzte Schöpfungsordnung vor? Informieren sie als Wort Gottes über einen überzeitlichen Tatbestand? Ein kurzer Blick richtet sich zunächst auf die Grundlagen des Verstehens biblischer Texte im christlichen Kontext Punkt 2., bevor es um die Texte selbst in ihrer Vielfalt und mit ihrem Spiel von Mehrdeutigkeit und Ambivalenzen gehen kann Punkt 3.3
1 | Apostolisches Schreiben »Vigilantiae studiique« vom 30. Okt. 1902, ASS 35 (1902/03) 236, hier zitiert nach der Ansprache von Johannes Paul II. zum Dokument der Päpstlichen Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche, 23. April 1993, hg. Deutsche Bischofskonferenz (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 115), 13. Bis zu ihrer Neustrukturierung 1971 war die Bibelkommission allerdings in ihrer Arbeit primär ein Kontrollorgan. 2 | »Gaudium et Spes«, Freude und Hoffnung, heißt ein zentrales Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils der katholischen Kirche (1962-65). 3 | Der Beitrag ist aus einem Vortrag in einer Studium Generale-Reihe der Universität Tübingen erwachsen. Das Ziel möglichst allgemeiner Verständlichkeit ist beibehalten.
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B ibel lesen – grundlegende F ragen Die Bibel wörtlich nehmen Der Rückgriff auf Gen 1,27 wird gern mit dem Hinweis verbunden, da stehe es doch ganz eindeutig, man solle es doch bitte ›wörtlich‹ (oder: ›buchstäblich‹) nehmen und nicht theologisch oder ›wissenschaftlich‹ verdrehen.4 Der Sinn liege doch unmittelbar zutage. Erstaunlicherweise gehen die gleichen Personen mit Sätzen aus dem näheren Umfeld von Gen 1,27 ganz anders um. In Gen 1,6-8 heißt es beispielsweise: 6 Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser. 7 Gott machte also das Gewölbe und schied das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es, 8 und Gott nannte das Gewölbe Himmel. Die Welt ist nach dieser Vorstellung von Wasser umgeben. Dort hinein schafft Gott ein Himmelsgewölbe. Im Normalfall gilt diese Vorstellung nun nicht als ›wörtlich‹ zu nehmende Glaubensaussage, sondern als Ausdruck eines ›überholten‹ oder zumindest anderen Weltbilds. Wichtig sei nicht diese Vorstellung, sondern die Aussage, dass die Welt geschaffen sei. Die kulturell und geschichtlich bedingte Aussageweise wird vom Inhalt oder Sinn der Aussage unterschieden. Der Weg zu dieser heute so allgemein geläufigen Differenzierung führte über heftige Kämpfe. Die zumindest in Europa (noch?) verbreitete Gelassenheit im Blick auf diese Unterscheidung gibt es noch nicht lange.5 Man könnte nun einwenden, dass es der Bibel um das Heil der Menschen gehe und darum, dass Aussagen über Menschen anders zu behandeln seien als Weltbildvorstellungen. Das Beispiel wäre also nicht passend. Dies einmal angenommen (obwohl man natürlich streiten könnte), lässt sich Analoges auch für menschenbezogene Rede festhalten. Als Beispiel kann der noch vor einer Theologengeneration heiß umstrittene sogenannte Monogenismus genannt werden, die Annahme also, dass alle Menschen von einem ersten Menschenpaar abstammen. Theologische Brisanz gewann die Frage durch ihre Verknüpfung mit der Rede von der ›Erbsünde‹ (vgl. die päpstliche Enzyklika Humani generis von 1950, bes. 575f/DH 3897; Rahner 1954). Im Blick auf die Bibel ließe sich auch hier wieder fragen: Steht das denn nicht offenkundig und eindeutig in den ersten Kapiteln der Bibel und gerät dann in Widerspruch zu Erkenntnissen der Paläontologie? Auch hier halfen die Unterscheidung von kulturbedingtem Verstehensmodell (genealogischem Darstellungsschema) und Sinn ebenso weiter wie der Verweis auf die Gattung der 4 | Es geht im Folgenden nicht um die traditionelle Rede von einem sensus litteralis und ihre Entwicklung in der Geschichte, sondern um ein landläufiges Verständnis von ›wörtlich/buchstäblich‹. 5 | Der ›Kreationismus‹ wie auch das Konzept des intelligent design haben ihren Schwerpunkt (noch?) eher im US-amerikanischen Raum. Ich lasse diese Fragen hier einmal außen vor. Zur Diskussion vgl. Janowski/Schweitzer/Schwöbel 2010.
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Texte in Gen 1-11, deren Wirklichkeitsbezug sich von modernen wissenschaftlichen Rekonstruktionen der menschlichen Frühgeschichte unterscheidet. Die Aufregung über diese Frage ist heute kaum noch nachzuvollziehen. Wenn nun Erkenntnisse aus Biologie und Ethnologie – um nur zwei zu nennen – Anfragen an das gängige Verständnis von ›Mann‹ und ›Frau‹ (oder besser: ›männlich‹ und ›weiblich‹, dazu siehe unten) in Gen 1,27 richten lassen – was unterscheidet diesen Fall grundsätzlich von den soeben genannten? Es waren auch in den oben genannten Fällen Anstöße von außerhalb der Theologie, die nach kritischer Reflexion zum besseren Verständnis der Texte führten. Die Texte im eingangs genannten Sinn ›wörtlich‹ nehmen heißt sie missverstehen. Tatsächlich wörtlich werden die Texte genommen, wenn ihr Sinn verstanden wird. Oder, um es mit Karl Rahner zu sagen: »Wer Gott die Welt in sechsmal 24 Stunden schaffen läßt, hat Gen 1 nicht eigentlich ›wörtlicher‹ genommen, sondern dessen Sinn mißverstanden.« (Rahner 1954: 280, Anm. 2)
Die Bibel und das Wort Gottes Die Texte der Genesis sind vor mehr als zwei Jahrtausenden entstanden, sie entstammen einem geographisch und geschichtlich fernen kulturellen Horizont, sind auf Hebräisch geschrieben und ins Griechische und Lateinische übersetzt, wobei – zumindest katholischerseits – auch diese weiteren Fassungen verbindliche Gültigkeit haben (vgl. Schenker 2014). Woher kommt angesichts dessen die Vorstellung, die Texte seien unmittelbar verständlich? Hier dürfte die christliche Auffassung eine Rolle spielen, dass diese Texte als Offenbarung zu verstehen sind und das Wort Gottes bezeugen. Hebt sie das aus der Zeit heraus und gibt ihnen eine überzeitliche Dimension? Gibt es darum einen von der Vernunft abgekoppelten Zugang zu ihrem Sinn, ›Glauben‹ genannt? Offenbarung hat sich in der Neuzeit zu einem Grundbegriff christlicher Theologie entwickelt. Im Übergang zur Neuzeit und dann zugespitzt im 19. Jahrhundert in der sogenannten neuscholastischen Theologie war dabei zunächst ein verkürztes Verständnis verbreitet. Vergröbernd gesagt, verstand man Offenbarung als übernatürliche Mitteilung zu glaubender (= für wahr zu haltender) Wahrheiten (sogenanntes instruktionstheoretisches Offenbarungsverständnis). Die aufklärerische Ideologie- und Erkenntniskritik gab dann entscheidende Anstöße, um das Offenbarungsverständnis in der weiteren Entwicklung zu vertiefen und neu zu fassen. Demnach geht es nicht eigentlich um die Mitteilung von etwas, von einzelnen Wahrheiten, sondern um die Selbstmitteilung Gottes zur Ermöglichung der Gemeinschaft der Menschen untereinander und mit Gott. Offenbarung wird damit zu einem Wort für das Grundgeschehen christlichen Glaubens. Dieses Verständnis wurde entscheidend auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil formuliert und festgehalten.
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In den modernen Versuchen, mehr oder weniger biblizistisch an einem ›wörtlichen‹ Verständnis der Texte festzuhalten und sich gegen Reflexion zu immunisieren, klingt das instruktionstheoretische Offenbarungsverständnis ebenso nach wie ein missverstandenes sola scriptura. Das Verständnis der Bibel im Horizont der jüngeren Offenbarungstheologie wird häufig auf die Kurzformel gebracht: »Gotteswort in Menschenwort (oder: Menschenwörtern).«6 Das Wort Gottes ist nur in und durch die Menschenwörter zu haben. Diese Wörter haben alle Eigenheiten von Menschenwörtern – sie sind beispielsweise im Fall der Bibel abhängig von der textlichen Überlieferung mit ihren Gefahren und Zufällen. Ihr Verständnis ist abhängig von dem Wissen um die biblischen Sprachen und Ausdrucksweisen sowie die kulturellen Hintergründe. Welche Lücken hier noch klaffen, wissen Bibelwissenschaftler*innen nur zu gut. Es gibt viel zu tun.
Kanon Die Bibel ist also als Literatur zu behandeln. Sie ist allerdings nach christlich-theologischem Verständnis nicht einfach nur eine Sammlung altorientalischer Schriften, sondern ist ›heilige Schrift‹, sie ist – in jeweils (beispielsweise nach den christlichen Konfessionen) verschiedener Gestalt – ›kanonisch‹. Selbstverständlich kann man die Texte ausschließlich als antike Literatur lesen und untersuchen oder sie einzig auf ihre religionsgeschichtlichen und kulturellen Hintergründe und Horizonte befragen. Theologisch wird der Umgang mit den Texten jedoch erst, wenn sie in ihrer Beziehung zu einer Gemeinschaft gesehen und gelesen werden, die sich ihre Identität von ihnen vorgeben lässt und sich an den Ansprüchen der Texte immer wieder neu messen lassen will. Dieser Aspekt kommt über den Kanonbegriff ins Spiel. In diesem Zusammenhang sind die Texte nicht nur Zeugnisse vergangener Geschichte und vergangenen Denkens. »Der Kanonidee zufolge kommen der Endgestalt des Kanons die Momente der immerwährenden Fortdauer, der jederzeitlichen Sagkraft und der lebensmächtigen Unmittelbarkeit des ›lógos émbiblos‹ zu – eines verfallsresistent festgeschriebenen Wortes, das, obwohl geschichtlich verortet, ›den heutigen immer heutig‹ sein kann und will, indem es für jede Gegenwart Gleichzeitigkeit schafft.« (Seckler 2001: 174f. mit Zitaten aus Assmann/Assmann 1987) 6 | Sinngemäß schreibt so schon Augustinus: »Gott spricht zu uns durch Menschen nach Menschenart, weil er, so redend, uns sucht.« (De civitate Dei XVII 6,2: CSEL 40, 2, 228) Augustinus wird im Dokument des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Offenbarung, »Dei Verbum« (Wort Gottes), in DV 12 zitiert. »Dei Verbum« zieht ausdrücklich eine Parallele zur Inkarnation: »Denn Gottes Worte, durch Menschenzungen ausgedrückt, sind menschlicher Rede ähnlich geworden, wie einst des Ewigen Vaters Wort durch die Annahme des Fleisches menschlicher Schwachheit den Menschen ähnlich geworden ist.« (»Dei Verbum« 13)
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Der Sinn der Texte zeigt sich hier in einem vielschichtigen und wechselseitigen Geschehen zwischen der Gemeinschaft, die ihre Existenz und Identität den Texten verdankt, und den Texten, die auf diese Gemeinschaft bezogen sind. In dieser vielgestaltigen Beziehung gibt es bei aller Kontinuität auch Sackgassen, Abbrüche und Neuansätze. Ein frappierendes Beispiel bietet gerade die Auslegungsgeschichte der Genesistexte. Über Jahrhunderte hin wurden die Texte in Gen 1-3 christlicherseits in frauenfeindlicher Weise ausgelegt und zum Beleg der Minderwertigkeit und Unterordnung (Subordination) von Frauen herangezogen.7 Eine solche Deutung setzt schon innerbiblisch an (vgl. 1 Kor 11,7-11; Sir 25,24) und entwickelte eine lange und bis heute unheilvoll wirksame Geschichte. Was dabei kulturprägend wirksam wurde und heute noch als kultureller Code in Versatzstücken der Werbeindustrie nachklingt, stellt dabei die Sinnlinien, die in den Texten zu finden sind, auf den Kopf.8 Nicht Unterordnung und Minderwertigkeit von Frauen ist das Aussageziel in Gen 2, sondern gerade das ›ebenbürtige‹, gleichwertige Gegenüber. Das ist eine inzwischen auch in kirchlichen Dokumenten aufgenommene Deutung (vgl. das apostolische Schreiben »Mulieris Dignitatem« von 1988). Hier gibt es also einen Abbruch und eine Umkehr im Verständnis der Texte. Das Beispiel der frauenfeindlichen Auslegungstradition zeigt, dass auch die Verankerung eines Textverständnisses in der Auslegungspraxis der Gemeinschaft sie nicht automatisch vor Fehldeutungen schützt. Das Zweite Vatikanische Konzil sieht hier eine Aufgabe für die Bibelwissenschaft dahingehend, dass durch sie das »Urteil der Kirche reift« (»Dei Verbum« 12), – was eben gerade nicht heißen kann, dass lehramtliche Aussagen immer nur nachgesprochen und bestätigt werden. 7 | Das ist nicht nur ein Phänomen ferner Vergangenheit. Der Dogmatiker Matthias Scheeben (18351888) spricht in seinem einflussreichen Handbuch der katholischen Dogmatik (1888, in 3., kommentierter Auflage 1961 erschienen) davon, dass der Mann »der Mensch schlechthin ist« und »dass dagegen das Weib, weil ihm die menschliche Natur erst sekundär und mittelbar, vermittelst des Mannes und um seinetwillen mitgeteilt wird […] nicht in dem vollen Sinne Bild Gottes ist wie der Mann« und die Frau/das Weib »obgleich es als Mensch ebenfalls Bild Gottes ist, doch als Weib in seinem positiven Verhältnisse zum Manne, welches in einem Empfangen und Beherrschtwerden besteht und daher ein passives und unterwürfiges ist, gar nicht Bild Gottes, sondern eher umgekehrt Typus der Kreatur im Verhältnis zu Gott ist« (zitiert in Faber 2007: 122). Scheeben ist noch nicht einmal der letzte Dogmatiker, der so denkt und schreibt (vgl. Faber 2007). 8 | Zugleich sind Elemente, die nach heutigem Allgemeinwissen für die Erzählungen zentral sind, schon bei einfacher Bibellektüre als Eintragungen zu erkennen: Weder ist die ›Frucht‹, um die es in der Erzählung geht, plausibel als Apfel zu deuten, noch ist die Schlange für den Genesistext glaubhaft als Verkörperung des Teufels/Satans zu verstehen, selbst wenn eine solche Deutung schon innerbiblisch ansetzt (in der deuterokanonischen Schrift Weisheit Salomos 2,23 sowie in der neutestamentlichen Offenbarung des Johannes 12,9; 20,2). Lektüre ist ein produktiver und kreativer Vorgang, vergangene Lektüren prägen (und verstellen eventuell) den Blick auf die Texte.
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G en 1,27 im K ontext der biblischen U rgeschichte »Männlich und weiblich schuf er sie« (Gen 1,27) Die eingangs dieses Artikels zitierte Übersetzung des hebräischen Textes von Gen 1,27 stammt aus der sogenannten Einheitsübersetzung (1980). Zugleich ist diese Wiedergabe auch von der Lutherübersetzung her im Ohr. Luther selbst übersetzte in der Ausgabe von 1545 »und schuff sie ein Menlin vnd Frewlin«. Die Revision der Lutherbibel von 2017 gibt den Text – ähnlich den vorangegangenen Revisionen – als »und schuf sie als Mann und Frau« wieder.9 Im Jahr 2016 erschien eine Revision der Einheitsübersetzung. Nun lautet Gen 1,27: »Männlich und weiblich erschuf er sie.« Das klingt von der deutschen Alltagssprache her ungewöhnlich, ist jedoch näher am hebräischen Text. Schon die frühe Übersetzung ins Griechische, die Septuaginta, und auch die lateinische Fassung des Hieronymus (Vulgata) aus dem 4. Jahrhundert gaben den Text mit äquivalenten Ausdrücken wieder. Die traditionelle Formulierung in den gängigen deutschen Bibelausgaben »als Mann und Frau« legt in der Kombination mit der Fortsetzung des Textes in Genesis 2f. nahe, es gehe um die beiden ersten Exemplare der Gattung Mensch, einen Mann und eine Frau, die in Gen 1 geschaffen werden und die sich dann im weiteren Textverlauf als Adam und Eva entpuppen. Der direkte Kontext und die Ausdrucksweise lassen jedoch in Gen 1 an die Erschaffung der Menschen als Art denken, so wie auch zuvor nicht einzelne Pflanzen und Tiere, sondern Gattungen im Blick waren (»alle Arten von« Gen 1.11f.; 1,21; 1,24f.). Die Bibel ernst nehmen heißt nun nicht nur, die sprachliche Eigenheit des Textes beachten (hier: die genaue Formulierung berücksichtigen), sondern auch den engeren und weiteren Kontext wahrnehmen. Dass Sätze ihren Sinn im Kontext gewinnen, ist eine Binsenweisheit. Diese Binsenweisheit wird jedoch gerade beim Umgang mit der Bibel immer wieder eklatant missachtet.
Die biblische Urgeschichte in Gen 1-9 als Kontext Die Bibel beginnt mit einem Erzählzusammenhang und einem Spannungsbogen, der von der Schöpfung bis zur Flut mit dem direkt daran anschließenden Neubeginn reicht und die Kapitel 1-9 umfasst (vgl. Scoralick 2006). Das lässt sich leicht und gut an literarischen Indizien zeigen: So entsprechen sich beispielsweise die Schöpfung in Gen 1,1-2,3 und die Flut in Gen 6,5-9,17 fast wie These und Antithese, ablesbar unter anderem am Kontrast der Formulierungen in Gen 1,31: »Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut«, und in Gen 6,12: »Gott sah sich die Erde an und siehe, sie war verdorben; denn alle Wesen 9 | Die 2007 revidierte Zürcher Bibel lautet »als Mann und Frau schuf er sie«, wobei ihre Grundlage, die Froschauer Bibel von 1531, übersetzt: »mann und weyb schuoff er sy.«
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aus Fleisch auf der Erde lebten verdorben.« Der Gabe von Pflanzen als Nahrung für Menschen und Tiere in Gen 1,29f.10 entspricht nach der Flut die (keineswegs uneingeschränkte) Freigabe der Tiere zum Verzehr (Gen 9,3f.). Die Beispiele lassen sich leicht vermehren. Es verzerrt und verkürzt die Zusammenhänge, wenn man – wie christlicherseits traditionell geübt – das Interesse nahezu ausschließlich auf Gen 1-3 konzentriert. Die Kapitel 1-9 bilden einen Kompositionszusammenhang, in dem sich Text elemente vielfach aufeinander beziehen und Themen weitergeführt werden, keineswegs nur harmonisch, sondern auch mit Spannungen und Brechungen. Die Erschaffung der Menschen und ihre geschlechtliche Differenzierung sind nicht nur in Gen 1,26-28 Thema, sondern auch in Gen 2 sowie in Gen 5,1f. Dabei springen die Unterschiede von Gen 1,26-28 und Gen 2 ins Auge. Spricht Gen 1,26f. unanschaulich (Gott »schuf«), so vermittelt Gen 2,7 die plastische Vorstellung vom Erde knetenden und das Produkt anhauchenden Gott. In den Anfängen der modernen Bibelwissenschaft richtete sich seit dem 18. Jahrhundert das Augenmerk auf die Doppelungen und Spannungen zwischen den Texten, um sie für die Entstehungsgeschichte der Texte auszuwerten. In den Texten war demnach nicht ein einziger Autor am Werk, sondern mehrere vorliegende ›Urkunden‹ oder ›Quellen‹ sind nachträglich verbunden worden (vgl. Zenger/Frevel 2012; Gertz 2006; Dietrich 2014). Vom ausgehenden 19. Jahrhundert an dominierte dabei eine von dem Alttestamentler Julius Wellhausen entwickelte Hypothese für etwa 100 Jahre die Forschungslandschaft: die sogenannte Vier-Quellen-Theorie (oder auch: Neuere Urkundenhypothese). In Gen 1-9 lagen nach dieser Hypothese die Anfänge zweier Geschichtswerke (der »Priesterschrift« und des »Jahwisten«), die einerseits in Gen 1,1-2,4a (P) und Gen 2,4b-3,24 (J) hintereinandergestellt waren, in der Fluterzählung jedoch ineinandergeschoben und miteinander verwoben wurden. Dabei war die jüngere Priesterschrift (aus der Zeit des babylonischen Exils, 6. Jahrhundert vor Christus) dem älteren Geschichtswerk (aus der frühen Königszeit, 10./9. Jahrhundert vor Christus) vorangestellt worden. Diese Grundannahme dominierte (in Variationen) die Forschung für etwa 100 Jahre und wird teilweise auch heute noch (oder: wieder) vertreten (vgl. Schmid 2014). Der langlebige Forschungskonsens löste sich erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf. Nur die Beobachtungen zur Priesterschrift gelten weiterhin als Indizien eines charakteristischen Erzählzusammenhangs und auch die Datierung in die Zeit des babylonischen Exils oder in frühnachexilische Zeit wird für diese Texte weiterhin vertreten. Angesichts in alle Richtungen auseinanderstrebender Annahmen zu den anderen Textelementen in
10 | Pflanzen gelten im Horizont dieser Texte nicht als Lebewesen. So folgt die Nahrungszuteilung in Gen 1 dem Prinzip, dass kein Leben auf Kosten von anderem Leben leben soll. Gen 1 stellt einen utopischen Entwurf der Schöpfung vor Augen, erst in Gen 9 wird die vorfindliche Welt eingerichtet.
Als Mann und Frau geschaffen?
Gen 1-9 unterscheidet man in der Literatur nun hie und da (vorläufig?) nur noch zwischen Priesterschriftlichen und ›nicht-priesterlichen‹ Textteilen. Bei all den Bemühungen, die Entstehungszusammenhänge der Texte aufzuhellen und sie dann im Horizont der jeweiligen Geschichtswerke weit über Gen 1-9 hinaus zu verstehen, geriet die Auslegung des Bibelanfangs in der Reihenfolge und mit dem Aufbau, der im überlieferten hebräischen Text vorliegt, weitgehend aus dem Blick. Dieser Text mit seinen Spannungen und Wiederholungen ist jedoch der kanonische Text. Umbrüche und Veränderungen in der bibelwissenschaftlichen Forschungslandschaft lassen gegenwärtig aus verschiedenen hermeneutischen Perspektiven heraus (›kanonisch‹ wie auch ›historisch-kritisch‹) den vorliegenden Text aufmerksamer wahrnehmen. Er wird nicht mehr so schnell zugunsten hypothetisch rekonstruierter Vorstufen verdrängt. Die Wahrnehmung des überlieferten Textes zeigt in aller Deutlichkeit, dass Vielfalt bis hin zum Unvereinbaren programmatisch in den Bibelanfang eingeschrieben ist. Darin liegen eine Leseanleitung und ein Verständnisprinzip für die Bibel als heilige Schrift. Die Bibel zielt nicht auf eine systematisch-theologische Aussage, sie ist kein Lehrbuch. Vielstimmigkeit und Multiperspektivität sowie Ambiguität sind Grundprinzipien der Texte, – ohne dass darum der Sinn beliebig würde.11 Vielmehr entfaltet die Polyphonie der Texte das Sinnpotential der Aussagen und bietet zugleich Anschlussmöglichkeiten für aktuelle Lektüren.
Gen 1,27 in seinem direkten Kontext: Gen 1,1-2,3 In einem ersten Schritt wird Gen 1,27 jetzt in seinem direkten Kontext, Gen 1,1-2,3 betrachtet. Gen 1,1-2,3 erzählt literarisch kunstvoll von der Erschaffung der Welt in sieben Tagen. Als Erzählung von einem Ursprungsgeschehen, das gegenwärtige Wirklichkeit erschließt, hat der Text mythische Qualität. Er hat jedoch zugleich auch Züge, die ihn mit den frühen ›wissenschaftlichen‹ Erkenntnisbemühungen seiner Zeit verbinden. Wir haben hier – um es mit Konrad Schmid zu sagen – den »state of the art« altorientalischer und griechischer Kosmologie der Zeit (vgl. Schmid 2015). Eine allzu schlicht verstandene Unterscheidung und Trennung von Glaubenswahrheit und (Natur-)Wissenschaft empfiehlt sich angesichts dessen nicht. Am sechsten Tag entstehen die Lebewesen, die das Land bevölkern. Dazu zählen auch die Menschen. Ihre Erschaffung wird als letztes Schöpfungswerk vor der Heiligung des siebten Tages erzählt und somit hervorgehoben. Auch die feierlich-poetische Sprache unterstreicht diese Stelle. Dreifach ist in Gen 1,26-28 vom »Schaffen« Gottes die Rede mit dem für Gottes Tätigkeit reservierten, unan11 | Für das Neue Testament lässt sich als Paradebeispiel für dieses Prinzip auf die Vierzahl der Evangelien verweisen. Sie sind mit all ihren Spannungen untereinander überliefert und nicht in eine Evangelienharmonie gebracht worden.
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schaulichen hebräischen Wort bara, das in der ersten Schöpfungserzählung in Gen 1,1-2,3 insgesamt (nur) sechs Mal verwendet wird. Mit Vers 26 wird erstmals in Gen 1 Einblick in das Innere Gottes gewährt, indem eine Absicht formuliert wird: »Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, unseresgleichen, damit sie herrschen über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die über die Erde kriechen.« Die Verbindung von Singular und Plural (»Gott sprach: ›Lasst uns…als unser Bild…‹«) ist auffällig und bis heute nicht überzeugend erklärt (vgl. auch Gen 3,22). Sie entspricht offenkundig dem Spiel von Singular und Plural auf Seiten der Menschen in Vers 27: »Und Gott schuf den Menschen [singular] als sein Bild; als Gottesbild schuf er ihn [singular], männlich und weiblich schuf er sie [plural].«12 Die Gottesbildlichkeit, die im hebräischen und griechischen Text charakteristisch unterschiedlich aufgefasst wird, hat in nachbiblischer Zeit eine enorme Wirkungsgeschichte entfaltet (vgl. Frevel 2009). Sie zielt im hebräischen Text nicht auf einzelne Aspekte am Menschen, die dem Göttlichen ähnlich wären (etwa den Geist oder die Vernunft oder Ähnliches). Vielmehr geht es bei der Rede vom ›Bild‹ um Repräsentanz, wie sie im damaligen Kontext einer Kultstatue zukam. Der Sinn liegt nicht in einer Ähnlichkeit, sondern in der Vergegenwärtigung. Hinter der Gottesbildlichkeit der Menschen in Gen 1 stehen Vorstellungen aus der altorientalischen Königsideologie, nach denen der König/die Königin die Gottheit repräsentiert wie eine (lebendige) Kultstatue. Im Genesistext sind es nun jedoch alle Menschen, auf die diese Vorstellung bezogen wird. Der Text bekommt damit in seinem Zeithorizont eine deutlich herrschaftskritische Spitze. Heutige theologische Anthropologie sieht in der Gottesbildlichkeit gern einen biblischen Anknüpfungspunkt für das moderne Konzept der Menschenwürde. Der nächste Satz (»männlich und weiblich schuf er sie«) macht deutlich, dass Menschen im Bereich der Geschlechtlichkeit differenziert sind, dass aber darüber hinaus keine anderen Unterschiede in der Schöpfung grundgelegt sind. Gott hat die Menschen nicht »nach all ihren Arten« geschaffen wie die Pflanzen und Tiere: Es gibt keine ursprüngliche Unterscheidung nach Rassen, Klassen oder Ethnien. Das ist eine keineswegs selbstverständliche Perspektive für eine Ursprungserzählung. Der Satz wehrt zudem das Missverständnis ab, mit ›Menschen‹ seien primär die männlichen Menschen als die eigentlich maßgebenden gemeint.13 Spricht Gen 1,27 eindeutig von einer binären Geschlechterdifferenz und erhebt sie zur Schöpfungsordnung? Oder wird der Satz mit einem solchen Verständ12 | Von den Kirchenvätern bis zu Karl Barth (und darüber hinaus) erstrecken sich die hier anschließenden Überlegungen christlicher Theologie zur möglichen Vor-Andeutung des (trinitarischen) Gegenübers in Gott, das sich in der Relationalität der Menschen abbildet. 13 | Auf Umwegen lässt sich Gen 1,27 dann doch wieder in diesem Sinn lesen. Das zeigt die Rezeption der Texte bei Paulus in 1 Kor 11 und bei Augustinus (vgl. Wacker 2017) ebenso wie die oben zitierte Dogmatik von Matthias Scheeben, um nur einige Beispiele zu nennen.
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nis überdehnt? Müsste man vielleicht nur festhalten, dass Menschsein immer im Horizont von Konstruktionen von Gender gelebt wird? Die konkrete biblische Formulierung und Vorstellung ist dann mit dem Entstehungshorizont der Texte verbunden, so dass ihr Bezug zur Gegenwart kritisch reflektiert werden muss, so, wie man es auch bei anderen Bibeltexten tut. Das Gespräch mit den Ansätzen zu einer gendersensiblen Theologie knüpft hier mühelos an (vgl. Ammicht Quinn 2017; Wendel 2015). Die Genesistexte selbst bieten deutliche Hinweise, dass um die Fragen von Geschlecht, von Mann- und Frausein gerungen werden muss bis in die Struktur der Sprache hinein und dass auf diesem Feld Spannungen und Brüche zu finden sind. Vor allen Dingen stellen die Texte vor Augen, dass Elemente von Herrschaft dieses Verhältnis sozusagen von der ersten Minute an verzerren und stören. Liest man Gen 1,27 nicht isoliert, wird es zum Bezugspunkt eines solchen Ringens und wird dabei selbst deutlich mehrdeutig (»mehrdeutlich« würde der Alttestamentler Jürgen Ebach sagen). Eine in dieser Weise ›gendersensible‹ Seite von Ursprungserzählungen ist im Horizont der Entstehungszusammenhänge der Texte meines Wissens eine erstaunliche Ausnahmeerscheinung. Die katastrophale Rezeptionsund Wirkungsgeschichte der Texte wird man nicht ihnen allein anlasten können. Im nächsten Schritt geht es um einen Blick auf die anschließenden Texte Gen 2f. als weiteren Kontext von Gen 1,27. Die traditionell so genannten Erzählungen von ›Paradies‹ und ›Sündenfall‹ in Gen 2f. beleuchten offenkundig das Thema der geschlechtlichen Differenzierung der Menschen noch weiter.
Der weitere Kontext von Gen 1,27: Gen 2f. Gen 2f. erzählt in einem neuen Anlauf von der Erschaffung der Menschen. Nun wird jedoch anschaulich erzählt: Gott ›knetet‹ den Menschen aus Erde, setzt ihn in einen Garten und bemerkt dann, dass dem Werk etwas ganz entscheidend fehlt: ein ebenbürtiges Gegenüber (vgl. Gen 2,18). Die daraufhin geschaffenen Lebewesen können diesen Mangel nicht beheben. Die aus einer Seite (traditionell: Rippe) des Menschenwesens erschaffene Frau lässt das Menschenwesen zu Mann und Frau werden und hebt damit die Einsamkeit auf. Männer und Frauen sind gleichwertig – darauf zielt diese Erzählung, entgegen allen misogynen Lesarten, die sich im Laufe der Geschichte hier angelagert haben. Menschen sind auf die Beziehung zu Menschen hin angelegt und angewiesen – das führt der Text vor Augen. Schon im Bibeltext selbst werden die Vorgänge dabei aus mehreren Perspektiven gesehen. Nach gängiger Auslegung in der gegenwärtigen Bibelwissenschaft ist der ›Erdling‹, den Gott aus Erde knetet,14 ein geschlechtlich undifferenziertes Wesen. 14 | Die Bezeichnung ›Erdling‹, der aus ›Erde‹ gemacht wird, soll einen Anklang an das hebräische Wortspiel liefern. Dort entsprechen sich adam/Mensch und adamah/Ackerboden, Erde. Vgl. dazu das Wortspiel in Gen 2,23 und die Erläuterungen zu adam weiter unten.
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Erst mit der Entstehung der Frau wird dieses Wesen zum Mann. Kaum macht der erste Mann den Mund auf, so konstruiert er die Dinge jedoch anders. Er sieht sich in ungebrochener Kontinuität zum Menschenwesen des Anfangs und versteht die Frau als abgeleitet. Er untermauert das mit einem sprachlichen Argument. »Frau soll sie genannt werden; denn vom Mann ist sie genommen.« (Gen 2,23) Im Deutschen erschließt sich der Sinn dieser Begründung (»denn«) nicht. Im Hebräischen wirkt hier ein Wortspiel: Dem Wort für Mann, isch, wird das Wort für Frau, ischah, als abgeleitete Wortbildung zugeordnet. Mit Jürgen Ebach kann man sagen: Hier steht die Logik der Grammatik (der Ableitung des Wortes ischah/Frau als Femininform von isch/Mann) gegen die Logik der Erzählung, die gerade keine solche Ableitung enthält (vgl. Ebach 1986). Dass die moderne Hebraistik obendrein davon ausgeht, dass der Mann sich täuscht und die klanglich so plausible ›Ableitung‹ etymologisch falsch ist, stellt eine ganz eigene Pointe dar. Vielleicht ist eine kleine sprachtheoretische Bemerkung dazu angebracht. Sprache bildet Wirklichkeit nicht ab, sondern konstruiert sie. Wenn die erste menschliche Äußerung in der Bibel in einen Widerstreit zum zuvor Erzählten gerät, gerade im Blick auf Genderfragen, lässt sich das auch als implizite Aufforderung zur Sprachkritik lesen. Der kritische Blick auf Sprache kann sich dann auch gleich noch einem prominenten Phänomen in den Genesistexten zuwenden. Sprache spielt hier noch in einer weiteren Hinsicht eine wichtige (und verunsichernde) Rolle. Das hebräische Wort für Mensch lautet adam. Das Wort bezeichnet Menschen generell. Deutlich wird das in Gen 5,2, der Stelle, an der Gen 1,27 ausdrücklich aufgenommen wird: »Männlich und weiblich schuf er [Gott] sie [die Menschen], er segnete sie und gab ihnen den Namen Mensch [adam].« Gerade die in Gen 5 anhebende Genealogie kennt jedoch auch »Adam« als den Eigennamen der männlichen Erzählfigur. Gen 5,3 lautet: »Adam war hundertdreißig Jahre alt, da zeugte er einen Sohn…« Der Eigenname scheint in Gen 1-3 gleichwohl selten gebraucht zu sein. Vielmehr finden sich immer wieder im heutigen Lektürehorizont anstößige Formulierungen wie »der Mensch und seine Frau« in Gen 2,25 und öfter. Der vom hebräischen Text abweichende Sachverhalt in der griechischen und der lateinischen Übersetzung dürfte für die Wirkungsgeschichte sehr wichtig geworden sein. Die Septuagintafassung (griechisch) bezeichnet das Menschenwesen schon von 2,16 an, also noch vor der Differenzierung in Mann und Frau, mit dem Eigennamen »Adam«, die Vulgata (lateinisch) von 2,19 an.15 Beide Übersetzungen legen damit nahe, dass die erste Rede des ersten Mannes zutrifft: Die Frau wurde vom Mann (namens »Adam«) genommen. Eine bis in jüngste Zeit weit verbreitete Lesart der Texte Gen 1-3 versteht Gen 1,27 nun von Gen 2 her. Die allgemeine Aussage von der Erschaffung von Adam und Eva (Gen 1,27) würde dann in Gen 2 konkreter und detaillierter erzählt. Dabei 15 | Die Vulgata kommt für Gen 5,2 zu der merkwürdigen Übersetzung: »et benedixit illis et vocavit nomen eorum Adam« (und segnete sie und nannte ihren Namen Adam).
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stellt sich heraus, dass Eva die Abgeleitete, nachträglich Geschaffene ist. Das sei sie implizit dann auch schon in Gen 1,27. So lässt sich die Subordination der Frau mit Gen 1,27 verbinden. Werfen wir noch einen kurzen Blick auf Gen 3, den Text vom sogenannten Sündenfall im Paradies, dessen Auslegung sich sehr viele bis heute wirksame Geschlechterstereotypen verdanken. Gen 3 wird in heutiger Exegese kaum noch als Sündenfallerzählung im traditionellen Sinn verstanden. Meist wird im Gefolge der Deutungen aus der Zeit der Aufklärung (insbesondere von Immanuel Kant und Friedrich Schiller) der Griff nach der Frucht, mit deren Genuss die Erkenntnis von Gut und Böse verbunden ist, als Schritt in die Autonomie und damit auch zur Menschwerdung gedeutet. Im Zuge dessen wird dann ›Ambivalenz‹ zu einem Kernbegriff: Sowohl der Zustand vor dem ›Fall‹ in die Autonomie als auch der Zustand danach sind ambivalent, nicht nur positiv (vgl. Schmid 2002; Spieckermann 2000). Diese Lesart macht es nun einfacher, im Text die Schilderung der Handlungen der Frau positiv wahrzunehmen. Gegen das schier unausrottbare Stereotyp von der zur Sünde verführten und verführenden schwachen Frau schreibt Jürgen Ebach: »Ich lese da eher, wie die Frau eine geradezu sprachphilosophische Disputation mit dem Schlangenwesen führt, sich dann zum eigenen Tun entschließt, während ›er‹ daneben steht und ohne jede Nachfrage, gedankenlos-treuherzig isst, was sie ihm gibt. Sind das die vorgeblich ›typische‹ bauchgesteuerte Frau und der vorgeblich ›typische‹ kopfgesteuerte Mann?.« (Ebach 2005: 128)
Die sprachphilosophische Disputation ist im Kern eine theologische, sie betrifft das Wort Gottes: »Hat Gott wirklich gesagt […]?« (Gen 3,1). Am Ende der Erzählung werden Verhältnisse geschildert, wie sie die historische Realität kennzeichnen. Ackerarbeit und Kindergebären sind mühevoll, das Verhältnis von Männern und Frauen ist von Herrschaft bestimmt und damit gestört. Dass an dieser Stelle die Herrschaft von Männern über Frauen als eine Zerrüttung der Verhältnisse charakterisiert wird, ermöglicht einen kritischen Blick auf Texte und Verhältnisse. Die ›Natürlichkeit‹ der bestehenden Verhältnisse ist so natürlich nicht, sie ist Folge einer Störung. Dass der Text – wie so viele Bibelstellen – ohne Rücksicht auf seine konkrete Gestalt präskriptiv als Vorschrift Gottes gelesen wurde (und wird), also als: »Er (der Mann) soll über dich (die Frau) herrschen«, ist deprimierend, lädt aber eben auch zur Auseinandersetzung über die Deutung der Texte ein (»Hat Gott wirklich gesagt […]?«).
Rückkehr zu Gen 1,27 Vor einem Resümee, das Gen 1,27 noch einmal öffnet, sei noch eine weitere Lesart erwähnt. Sie versteht das »und« in »männlich und weiblich« verbindend im Sinne eines ›sowohl als auch‹, bezieht die Wendung also auf einen sowohl männlichen als auch weiblichen Menschen. Es gibt eine Reihe solcher Deutungsansätze
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in rabbinischer Literatur und auch der Kirchenvater Augustinus setzte sich damit auseinander (vgl. Karle 2006: 226f.; Wacker 2017). Zu Verbreitung und Plausibilität dieser Auffassung könnte der Kunst-Mythos beigetragen haben, den Platon im Symposion (189D-193D) den Komödiendichter Aristophanes erzählen lässt. Demnach waren die Menschen ursprünglich kugelgestaltig mit jeweils doppelten Körperteilen. Sie waren dabei nicht nur männlich oder weiblich, sondern teilweise auch sowohl männlich als auch weiblich (androgyn). Zur Strafe für Übermut wurden die Kugeln geteilt, und nur unter dem Antrieb des Eros können die Hälften (in verschiedenen Konstellationen) für kurze Zeit wieder die ursprüngliche Einheit erlangen. Vor einem solchen Hintergrund lassen sich Gen 1,27 und der Erdling aus Gen 2 zusammensehen. Auch in Gen 2 erfolgt eine Art von Teilung, allerdings nicht zur Strafe. Die zwei Teile sind dann ein Mann und eine Frau. Die Bewertung des ›geteilten‹ Menschen ist im biblischen Text jedoch anders: Das Gegenüber, die Beziehung, ist gut und menschlich. Der ursprüngliche, einsame Erdling ist gerade nicht ideal und vollkommen. Der Genesistext zielt auf Menschen als soziale Wesen, nicht in erster Linie auf das sexuelle Begehren, wie der platonische Mythos. Liest man Gen 1,27 und Gen 2 in dieser Weise aufeinander bezogen, so wird man sich mit der Aussage in Gen 1,31, dass alles sehr gut sei, sowie dem Gegenteil in Gen 2,18, dass es nicht gut sei, dass das Menschenwesen alleine sei, auseinandersetzen müssen. Es sei denn, man wählt eine Hermeneutik, die nur einzelne Sätze der Bibel miteinander ins Gespräch bringt. Dann wäre über Voraussetzungen und Folgen einer solchen Hermeneutik zu sprechen. Gen 1,27 ließ sich in seinem engeren Kontext plausibel auf die Erschaffung der Menschen als Gattung beziehen. Die Charakterisierung als männlich und weiblich ist dann offen auf viele Weisen der Verwirklichung. Vom weiteren Kontext Gen 2f. her ergab sich die Möglichkeit, Gen 1,27 von Gen 2 her zu lesen, indem Gen 2 als konkrete Entfaltung des in Gen 1 nur abstrakt Formulierten verstanden wird. Dann bezieht man Gen 1,27 auf einen Mann und eine Frau, näherhin auf die beiden ›Ersterschaffenen‹, Adam und Eva. So las beispielsweise Paulus (vgl. 1 Kor 11; Wacker 2017). Die Spannungen zwischen den Texten bleiben interpretationsbedürftig, die Eintragung der Unterordnung von Frauen in Gen 1 hinein lässt sich im modernen Kontext nicht mehr rechtfertigen. Sie lässt sich aber auch schon biblisch über die impliziten Hinweise zur Sprachkritik und die Anleitung zur Herrschaftskritik in Gen 3,16 auf ihre Angemessenheit befragen. Akzeptiert man die Vielstimmigkeit der Texte und versucht nicht, sie in eine eng verstandene Harmonie zu bringen oder in ein System zu zwängen, so lässt sich Gen 1,27 auch als spannende Leerstelle lesen. Warum sollte die Formulierung nicht im Sinne eines Merismus verstanden werden, also die Nennung der Pole dazu dienen, eine dazwischenliegende Ganzheit zu umschreiben? Ein Beispiel für einen Merismus ist das im Text zuvor genannte »Himmel und Erde«, das sich auf das Ganze der Welt bezieht. Mit der Bezeichnung der Pole wäre das Kontinuum
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dazwischen mitgemeint (vgl. Karle 2006: 227). Gen 1,27 hätte insofern ein semantisches Potential, das in der Urgeschichte nicht ausgeschöpft wird.16 Der in Gen 1 und auch 2f. deutliche und starke herrschaftskritische Impetus der Bibeltexte stimmt mit der modernen Analysekategorie Gender völlig überein in dem Anliegen, die Verhältnisse, wie sie vorliegen und ›natürlich‹ scheinen, kritisch zu befragen.
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16 | Noch lange nicht umfassend erarbeitet sind zudem die Perspektiven, die sich mit der Analyse der Körperkonzeptionen der biblischen Texte im Sinne einer historischen Anthropologie ergeben.
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Trans*zendenz Überlegungen zu Genderfragen im Christentum Regina Ammicht Quinn
Geschlechterfragen im Christentum sind, so könnte man meinen, eher Geschlechterantworten – eindeutige Antworten auf die zeitgenössische Verunsicherung der Geschlechter. Diese Antworten gibt es, verbunden mit einer emphatischen Abwehr jeder Verunsicherung. Zugleich aber gibt es mehr als diese Antworten. Denn ›das Christentum‹ war nie ein monolithischer (Glaubens- oder Herrschafts-)Block. Der folgende Text wird zunächst den Translationen (1) des Tertullian folgen, der Geschlechterfragen aus seinem biblischen Verständnis heraus in moralisierende Natürlichkeiten übersetzt. Unterschiedliche Transitionen (2) zeigt der Text an drei Beispielen von ›unsettled identities‹ im Neuen Testament: Junia/s, Maria aus Magdala und Maria, die ›Gottesmutter‹ der christlichen Tradition. Transphobien (3) als Angst vor jeglicher Verunsicherung bestehender Geschlechterkategorien werden im Kontext der Schöpfungsordnung diskutiert. Transzendenz, das ÜberSchreiten, ist ein Grundbegriff (westlicher) Religion. Wenn zum einen nicht ›über‹, sondern ›mit‹ Trans* gedacht wird, Trans* also kein Thema, sondern ein Tool ist; und wenn zum anderen auch die immer wieder anstößige, bilderreiche christliche Frömmigkeitsgeschichte als eigenständiger und unordentlicher Ausdruck religiöser Verfasstheit gesehen wird, dann könnte Transzendenz zur Trans*zendenz (4) werden, in einer ganz und gar christlichen Hochschätzung unterschiedlichster Arten der Überschreitung von Ordnungskategorien.
Translationen der R eligion Tertullian, Sohn eines römischen Offiziers, geboren in Karthago um 150 nach Christus, war der erste der Kirchenväter, der in Latein schrieb. Er war damit ein außerordentlicher Übersetzer, nicht nur von Sprachen, sondern auch von kulturellen und religiösen Vorstellungswelten. Er gilt als Vater des Kirchenlateins
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und hat eine Bandbreite intellektueller Entwicklungen innerhalb des Christentums geprägt. Auch die Mode der Frauen seiner Zeit hat er genau beobachtet: De cultu feminarum (vgl. Tertullian [205/206] 1912) ist nicht nur eine theologische frühchristliche Schrift, sondern auch eine kulturanthropologische Quelle über Schmuck- und Schminkgewohnheiten in der Antike. In einer Zeit, in der der Märtyrertod für Christ*innen drohen konnte, hat er, wenig überraschend, nicht viel übrig für Oberflächlichkeiten wie Schmuck und Make-up; interessanter als sein Mode-Urteil aber ist seine theologische Rhetorik, in die dieses Mode-Urteil eingebettet ist. Denn für Tertullian ist jede Frau zwei: sie selbst und eine trauernde und büßende Eva: »Und du wolltest nicht wissen, daß du eine Eva bist? [...] Du bist es, die dem Teufel Eingang verschafft hat, du hast das Siegel jenes Baumes gebrochen, du hast zuerst das göttliche Gesetz im Stich gelassen, du bist es auch, die denjenigen betört hat, dem der Teufel nicht zu nahen vermochte. So leicht hast du den Mann, das Ebenbild Gottes, zu Boden geworfen. Wegen deiner Schuld, d.h. um des Todes willen, mußte auch der Sohn Gottes sterben, und da kommt es dir noch in den Sinn, über deinen Rock von Fellen Schmucksachen anzulegen!?« (Tertullian [205/206] 1912: I,1; vgl. Ammicht Quinn 2012)
Tertullian – und er ist ein Beispiel unter vielen – treibt Geschlechtertheologie; und diese Geschlechtertheologie hat zwei Perspektiven: Auf der einen Seite wird ein theologisches Grund-Bild, ein Interpretament – der Sündenfall – mit Hilfe von Geschlechterkategorien rekonstruiert und aktualisiert. Auf der anderen Seite entwickeln der theologische Diskurs und das religiöse Denken dabei eine »Grammatik« der Geschlechter (Hof 1995). Eine solche Grammatik ist ein strukturgebendes Element, das in unterschiedlich normativen Weisen Sprache, Denken und Leben steuert. Auch wenn Tertullian historisch prägend war, gibt es immer dominante und weniger dominante, orthodoxe und abweichende Grammatiken. Diese Grammatiken der Geschlechter, die in Jahrhunderten der Theologiegeschichte etabliert wurden, hatten und haben einen erheblichen Einfluss auf Sprache, Denken und Handeln. ›Gender‹, ursprünglich ein grammatikalischer Begriff, untersucht diese ›Grammatik‹ der in soziale und auch religiöse Zusammenhänge eingeschriebenen Geschlechterverhältnisse (vgl. Hof 1995). Gender ist damit eine Analysekategorie, die mit diesen Grammatiken der Geschlechter befasst ist. Über weite Strecken ist eine solche Grammatik in einem Bereich verortet, der von Talcott Parsons mit »Latenz« beschrieben wird (Parsons 1951) – dem Bereich, in dem die Voraussetzungen gesellschaftlichen Lebens implizit bleiben. Diese Latenz der kulturellen Muster gewährleistet die Stabilität eines kulturellen Systems, sie sind eine Art »Begleitschutz« (Hondrich 1997: 298-308; 302), der nicht permanent reflektiert werden muss. Die Art und Weise, wie Probleme aus der Latenz ins Manifeste treten und damit zum einen Unsicherheiten, zum anderen kritische Reflexionen hervorbringen, ist entscheidend für Geschlechterfragen.
Trans*zendenz
Die traditionell-religiösen Grammatiken der Geschlechterverhältnisse setzen – wie auch die bürgerlich-aufklärerischen Grammatiken – in der Regel am Körper an; sie setzen voraus, dass Körper (wie die Geschlechtsorgane aussehen), Geschlechtsidentität (wie sich ein Mensch im Spektrum der Geschlechter verortet), Begehren (welche Geschlechtsorgane der Mensch hat, den er oder sie begehrt), Geschlechterrolle und der zugeschriebene Ort in der Welt alle zueinander passen müssen. Die dominanten Grammatiken der Geschlechter innerhalb des Christentums sind relativ schlicht, obwohl der Katechismus dick ist. Es ist eine einfache, binäre Grammatik des ›Passens‹ und damit der binären Grenzziehung, die, wie bei Tertullian, in der Regel latent bleibt; oder bislang latent blieb. Sie wird ergänzt von einer (manifesten) Vielzahl von Regeln der Grenzkontrolle, etwa durch Verhaltensnormen, rechtliche Regelungen, Bildungskanons, medizinische Gesundheitsentwürfe oder moralische Vorschriften. Tertullian, der große Übersetzer, ist zugleich ein frühchristlicher Spezialist und Konstrukteur einer Grammatik der Geschlechter. Er hat auch Schriften hinterlassen, die sich, wie in der Bibliothek der Kirchenväter angemerkt wird, »auf seine Person beziehen« (Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 7: 1012). Zwei dieser Texte, die nicht im heutigen Sinn im ›Subjektiven‹ oder ›Privaten‹, sondern in der Seelsorge zu verorten sind, sind die zwei »Bücher an seine Frau« (Tertullian um 207). Tertullian zeigt sich hier beunruhigt darüber, was passieren könnte, sollte er vor seiner Frau sterben: Sie könnte noch einmal heiraten. Mit einer Fülle eloquenter Argumente erklärt er ihr, dass sie dies nicht tun sollte – und zwar nicht, weil es ihn verletzen könne oder weil es im Paradies Probleme wegen mehrerer Ehemänner geben könne: »Ich schreibe Dir also vor, nach meinem Hinscheiden mit aller Enthaltsamkeit, deren Du fähig bist, jeder ehelichen Verbindung zu entsagen.« (Ebd.: I,1) Der Grund dafür: Man könne »mit Leichtigkeit« erkennen, »daß uns die Erlaubnis des Heiratens nur notgedrungen gewährt sei« – wegen sexueller Nöte, die er »Brunst« nennt (ebd.: I,3). »Was aber die Not gewährt, das entwertet sie auch.« Seine Schlussfolgerung, mit einem persuasiven »wir« formuliert: »Darum wollen wir die Gelegenheit zur Enthaltsamkeit, sobald sie sich darbietet, nach Kräften lieben und uns damit befreunden, so daß wir, was wir in der Ehe nicht vermocht haben, in der Witwenschaft erreichen. Man muß die Gelegenheit ergreifen, welche uns dessen entledigt, was die Notwendigkeit uns auferlegt hatte.« (Ebd.: I,7)
Der Sündenfall und der prospektive Todesfall rücken die Frauen in den Mittelpunkt. Dabei entsteht ein Vexierbild ›der Frau‹: Sie ist Eva, die Schuld ist an der Schuld, und sie ist zugleich die eigene Frau, die die Enthaltsamkeit nach dem Tod des enhaltsamkeitsunfähigen Ehemanns annehmen und versprechen soll, damit andere enthaltsamkeitsunfähige Männer nicht potenziell durch sie geschädigt werden. Beides sind theologische Aussagen, die zwei der Schlüsselereignisse christlichen Denkens, den Sündenfall und den Kreuzestod Jesu, (un)heilsgeschichtlich
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verbinden. Da die eigene zukünftige Witwe zugleich eine Eva ist, haben Tertullians Briefe an seine Frau nicht nur eine Schutzfunktion für deren eigenes Seelenheil, sondern eine weitaus dringlichere Schutzfunktion für diejenigen, die hier nicht genannt werden: die Männer. Sie sind es, die (natürlich) dieser Verführung nicht widerstehen können und damit der eigenen Keuschheit durch ›die Frau‹ verlustig gehen. Diese Grammatik der Geschlechter ist zunächst ein Moralisierungsmechanismus. Frauen haben eine zentrale und aktive Rolle inne für den Lebenswandel der Männer. Die Männer stehen eher passiv an den Seitenlinien und sind besser in der Lage, Sexualität in moralische Begriffe zu fassen als ihre eigene Sexualität zu kontrollieren. Dem liegt ein Naturalisierungsmechanismus zugrunde, denn der Rückgriff auf Eva und den Sündenfall offenbart das ›Wesen‹ der Frau. Moralisierung und Naturalisierung sind eng verknüpft, weil ›der Frau‹ trotz ihrer Natur Verantwortung zugeschrieben wird und es damit einen wie auch immer gearteten Spielraum für Handlungen ›wider die Natur‹, ihre Natur, geben muss. Dies ist eine relativ schlichte zweigeschlechtliche Grammatik und ein relativ schlichtes Bild, das die folgenden Überlegungen aufbrechen sollen.
Transitionen und » unsettled identities « (B rubaker ) Auch wenn Tertullians Theologie über Frauen schon merkwürdige Zwiespältigkeiten enthält, so ist doch seine Geschlechtergrammatik relativ klar. Demgegenüber zeigen sich, zumindest beim genauen Hinsehen, Frauengestalten in der christlichen (Frömmigkeits-)Geschichte, die irritierende Wandlungsprozesse vollziehen. Drei dieser »unsettled identities« (Brubaker 2016) sollen hier exemplarisch genannt werden: Junia/Junias; Maria Magdalena; Maria, die Mutter Jesu. Da gibt es beispielsweise Junia(s). »Grüßt Andronikus und Junias [...], sie sind angesehene Apostel und haben sich schon vor mir zu Christus bekannt« (Röm 16,7) – so schreibt Paulus im Römerbrief. Nein: So übersetzt die übliche »Einheitsübersetzung« den Römerbrief. Ende des 4. Jahrhunderts lesen wir im Römerbriefkommentar des Johannes Chrysostomos (344/54-407): »›Grüße Andronicus und Junia, die unter den Aposteln hervorragend waren‹. Ein Apostel zu sein ist etwas Großes. Aber hervorragend unter den Aposteln – bedenke, welch wunderbares Loblied das ist. Sie waren hervorragend aufgrund ihrer Arbeit und ihrer rechtschaffenen Taten. Wie groß muß doch die Weisheit dieser Frau gewesen sein, daß sie für den Titel Apostel für würdig befunden wurde.« (Chrysostomos 1957-66: 669f.)
Diese Geschlechtsverwirrung hat ihre eigene Geschichte (vgl. Brooten 1978). Römerbriefkommentare vom 2. bis zum 12. Jahrhundert hielten den Namen und die Person neben Andronikus für weiblich. Im 13. Jahrhundert bezeichnet Aegidius von Rom dann die beiden Personen als »diese ehrenwerten Männer« (vgl. Brooten
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1978: 149). Diese Deutung wird in der Reformationszeit aufgenommen und verfestigt. Trotz durchgängiger abweichender Traditionen erscheint heute in allen großen Bibelübersetzungen Junias, der Mann. Bernadette Brooten hat nachgewiesen, dass der philologische Befund eindeutig den weiblichen Namen »Junia« priorisiert, der in der griechischen und lateinischen Literatur häufig ist – im Gegensatz zu dem nichtexistenten Namen »Junias«. Auf die Frage, warum dieser Geschlechterwechsel vollzogen wurde, erwidert Brooten: »Die Antwort ist einfach: Eine Frau kann kein Apostel gewesen sein. Und weil eine Frau kein Apostel gewesen sein kann, kann die Frau, die hier Apostel genannt wird, keine Frau gewesen sein.« (Brooten 1978: 150; vgl. Brooten 1982) Da gibt es Maria Magdalena (zur Forschung vgl. zum Beispiel Mohrl 2000; Petersen 1999; King 2003), die zum festen Bestand der christlich geprägten abendländischen Kultur gehört. In den neutestamentlichen Schriften ist sie unter den zahlreichen Marien diejenige, die aus Magdala stammt und zu den Begleiterinnen Jesu gehört. Gemeinsam mit anderen Frauen ist sie bei der Kreuzigung Jesu anwesend, im Markus-, Matthäus- und Johannesevangelium wird sie namentlich genannt. Sie zeigt sich damit öffentlich als Anhängerin eines von den Römern gekreuzigten Unruhestifters und riskiert, wie Jesus gefangen, gefoltert und getötet zu werden. In derselben Gefährdung ist Maria von Magdala bei der Grablegung Jesu dabei, und genauso gefährlich war es, das Grab am Ostermorgen zu besuchen, um den Leichnam mit Duftölen zu beträufeln und ihn so zu ehren. Es ist auch Maria von Magdala, der (im ältesten Evangelium, dem Markusevangelium) der auferstandene Jesus erscheint. Als die Frauen von ihren Erfahrungen berichten, heißt es lapidar: »Die Apostel hielten das alles für Geschwätz und glaubten ihnen nicht.« (Lk 24,11) Wie Petrus bei den sogenannten Jüngerlisten an erster Stelle erscheint, wird Maria von Magdala bei den Frauenlisten als erste genannt. Sie hat damit innerhalb der Frauengruppe eine dem Petrus vergleichbare Stellung. In den Ostererzählungen aber ist sie eindeutig bedeutender als Petrus: Sie, nicht er, ist Zeugin der Kreuzigung und der Grablegung, sie, nicht er, ist Erstzeugin der Auferstehung, und ihr Zeugnis ist unbelastet von Verrat. In der Frömmigkeitsgeschichte nun geschieht Erstaunliches mit dieser biblischen Maria von Magdala. Ausgangspunkt dieser Verwandlungsgeschichte ist die Bemerkung im Lukasevangelium, Jesus habe Maria von Magdala von Dämonen geheilt – für antike Kontexte eine üblich genannte Krankheitsursache, auch für körperliche Leiden. Beginnend mit dem 4. nachchristlichen Jahrhundert werden die ›Dämonen‹ als sexuell konnotierte Besessenheit gedeutet. Dazuhin gibt es im Lukasevangelium direkt vor der Erwähnung der geheilten Maria aus Magdala, die nun Jesus nachfolgt und ihn unterstützt (vgl. Lk 8,1-3), die Geschichte von der Begegnung Jesu mit einer ›Sünderin‹. Diese als Prostituierte vorgestellte Frau benetzt
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Jesu Füße mit ihren Tränen, trocknet sie mit ihren Haaren, küsst und salbt sie.1 Diese beiden Frauengestalten – und eine weitere salbende Frau, Maria von Bethanien (vgl. Joh 12) – werden nun allmählich miteinander vermischt, die namenlose Prostituierte bekommt den Namen der Maria von Magdala. Während lateinische Kirchenväter Maria von Magdala noch apostola apostolorum nennen – die Apostolin aller Apostel –, geht diese Tradition verloren, obwohl die Evangelientexte eine deutliche Sprache reden. Aus der Apostolin wird eine Hure. Vom Hochmittelalter bis in die Neuzeit wird Maria Magdalena als ›Sünderheilige‹ zum moralischen Exemplum, als aufreizend schöne Büßerin auch die Figur der Verkörperung und gleichzeitigen Verurteilung von Eros und Sexualität. Das starke Subjekt ist zum Objekt geworden, zum Objekt sexueller Begierde. Ungezählte Bilder der Kunstgeschichte zeigen sie als büßende Sünderin, zugleich fromm und leicht bekleidet, als heiligmäßige Frau, deren früherer verruchter Lebenswandel ihr noch anhaftet und die – bis hin zur Gründung von ›Magdalenenheimen‹ für gefallene Mädchen im 19. Jahrhundert – (fromme) Frauen geprägt hat. Und da gibt es, am prominentesten unter den drei, Maria, die Mutter Jesu (zur Forschung vgl. grundlegend Gössmann/Bauer 1989; Stuart 1996; Petersen 2011). Im Neuen Testament wird sie gezeigt als junges Mädchen, das schwanger wird, als Mutter, die, durchaus nicht konfliktfrei, zur Anhängerschar ihres Sohnes gehört, als Mutter, die bei der Hinrichtung und der Beerdigung ihres Sohnes anwesend ist, und als die Frau, die in der frühen Gemeinde eine Rolle spielt. Das prophetischvisionäre Befreiungslied der schwangeren Maria (vgl. Lk 1,46-55, »Magnificat« nach seinem Beginn in lateinischer Übersetzung) zeigt Maria als Prophetin der Gerechtigkeit. Aus dieser biblischen Gestalt erwächst etwa seit dem 12. Jahrhundert eine intensive Marienfrömmigkeit, und zwar gleichermaßen für Männer wie für Frauen. Übrig bleiben dabei die sexualitätsfrei empfangende und gebärende Frau und die leidende Mutter. Für Männer – und hier vor allem für die professionellen Männer der Kirche – hängt der Kult der reinen Mutter eng zusammen mit dem sich zu dieser Zeit durchsetzenden Zölibat. Für Frauen ist Maria zunächst das weibliche Gesicht innerhalb der männerdominierten Religion; dieses weibliche Gesicht ist aber das Gesicht einer sexualitätsfreien Gestalt, die als Mutter und vor allem als leidende Mutter dargestellt wird. In der Pietà oder der Frau, deren Herz von sieben Schwertern durchbohrt ist, wird sie zur Identifikationsfigur für Frauen durch die Jahrhunderte. In der Entwicklung der (katholischen) Mariologie, die die jungfräuliche Empfängnis Jesu, ihre Gottesmutterschaft, die erbsündenfreie Empfängnis Marias selbst und ihre leibliche Aufnahme in den Himmel entfaltet (vgl. Gössmann 1990), tritt 1 | Zur Gestalt der salbenden Frau als Zentralfigur des Gedächtnisses und deren Vergessen schon in den biblischen Schriften vgl. Schüssler 1988: 12f.
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die biblische Gestalt der Maria in den Hintergrund. An deren Stelle erscheint in der Marienfrömmigkeit ein doppeltes Weiblichkeitsideal: das Ideal der JungfrauMutter-Königin, die einen machtvollen weiblichen Ort der Zuflucht schafft und dabei – spirituelle – Intimität gewährt, und das Ideal der demütigen, selbstlosen und vor allem sexualitätsfreien Dienerin, die durch ihren Vorsprung der unbefleckten Empfängnis von ›normalen‹ Frauen nie ganz einzuholen ist, der aber in Selbstverleugnung dennoch nachzueifern ist. All diese Identitäten sind ›unsettled‹. Da gibt es, bei Junia, den Geschlechterwechsel, um die Autorität aufrecht zu erhalten; da gibt es, bei Maria aus Magdala, den Rollenwechsel, um die gefährliche Autorität einzudämmen und näherliegende Bedürfnisse zu befriedigen; und da gibt es, bei Maria, die Multiplikation der Identitäten, um auf beiden Seiten der Geschlechtergrenze funktionieren zu können und um zugleich ein Vorbild in Leid und Demut und Objekt der (Mutter-Königin-) Verehrung sein zu können. Diese verunsicherten Identitäten verweisen innerhalb der christlichen Geschichte auf Spuren des Ungeordneten, Uneinpassbaren. Letztendlich aber lassen sie sich (wieder) in die Ordnung der dominanten Geschlechter-Grammatik einfügen und können sie bestätigen. Damit aber diese Bestätigung funktioniert, kostet es einiges an (theologischen) Anstrengungen und moralischen Dehnübungen, sodass sich trotz allen Eingepasstseins um die Latenz der Ordnung Risse bilden und die Latenz ins Manifeste umschlagen kann.
Transphobien und S chöpfungsordnung Diese unterschiedlich großen Risse um latente Ordnungen scheinen prägend für die Gegenwart zu sein. Wir leben, wie Marjorie Garber schon vor gut 20 Jahren feststellte, in einer Zeit, in der nicht allein die Krise der klar abgrenzbaren Kategorien von ›Mann‹ und ›Frau‹ auf die Tagesordnung gesetzt wird, sondern die Krise von Kategorien selbst (vgl. Garber 1992: 17). Dies gilt auch für die Kategorien, die im christlichen Kontext lange durch eine Mischung von Moralisierungen und Naturalisierungen stabilisiert wurden. Dort, wo in zeitgenössischen Weltwahrnehmungen und Lebensformen in vieler Hinsicht aus ›Schicksal‹ ›Wahl‹ wird (oder diese Wahl unterstellt wird), scheint das binäre Geschlecht die letzte Bastion der Verteidigung des ›Schicksals‹ zu sein. Darauf konzentrieren sich auch diejenigen Ängste, die in populistischen ›AntiGenderismus‹ umgewandelt werden. Alles, was die klare Wahrnehmung ›Mann‹ und ›Frau‹ stört, kann zu Bedrohungs- und Untergangsszenarien ausgebaut werden. Dies gilt umso mehr, wenn massive Verunsicherungen der klar geordneten Binarität fast alltäglich sichtbar werden. Die Verunsicherung der Geschlechterordnungen zeigt sich auch als Streit der Sprachen. Es ist der Streit zwischen den Sprachen des Gegebenen, der Essenz, des
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Natürlichen und den Sprachen des Gewählten, der Selbstgestaltung, der Autonomie (vgl. Brubaker 2016: 41). Dieser Sprachenstreit selbst aber ist nicht so eindeutig, wie er auf den ersten Blick aussieht: Weder ist das ›Autonomie‹-Narrativ aktuell und das ›Natürlichkeits‹-Narrativ altmodisch, noch hat die Sprache der Autonomie und Selbstgestaltung die Sprache des Gegebenen und Natürlichen abgelöst. Vielmehr können die Sprachen des Natürlichen auch dazu benutzt werden, um immer wieder neue Ausdrucksweisen der Autonomie und Selbstgestaltung (etwa öffentlich diskutierte Geschlechtsangleichungen) zu legitimieren. Diese neuen Ausdrucksweisen »are reinscribed in the domain of nature in a way that underscores the objectivity and givenness – and therefore the legitimacy – of unorthodox identities” (Brubaker 2016: 67). Wenn eine ›abweichende‹ geschlechtliche Orientierung als ›genetisch bedingt‹ aufgefasst wird, wenn ein ›weibliches Gehirn‹ als Teil eines ›männlichen Körpers‹ konstatiert und damit ›Trans‹ biomedizinisch-autoritativ begründet wird (vgl. zum Beispiel Swaab/Castellanos-Cruz/Bao 2016; Diamond 2016), dann entstehen Legitimations- und Entlastungsstrategien. Unorthodoxe Identitäten müssen sich nicht für eine Wahl oder einen bestimmten Gebrauch von Freiheit rechtfertigen, sondern können, bei Bedarf, auf ›Natur‹ zurückgreifen. In Kontexten, die Normbrüche moralisieren, diskriminieren oder bestrafen, sind solche Entlastungsstrategien nicht zu unterschätzen. Sie ermöglichen einen »Kampf um Anerkennung« (Honneth 1994), ohne dass die Anerkennungsordnung sich je neu konstituieren muss. In einer solchen möglicherweise starren Anerkennungsordnung unterschiedlicher Identitätspolitiken aber liegt die Gefahr dieser neo-essentialistischen Strömungen. Sie können in ihrer individuellen Entlastung zugleich zum Baustein für politische – und religiöse – Rückschläge sein, die einen menschenrechtlich basierten und umfassenden Veränderungsprozess blockieren. Für Religion in ihrer christlichen Ausprägung ist dieser Streit der Sprachen und Weltdeutungen in besonderer Weise aufgeladen, denn die Schöpfungsordnung gilt als Grundordnung aller etablierten, angegriffenen und re-etablierten Ordnungen. Auf diese Schöpfungsordnung gibt es zwei aktuell widerstreitende Perspektiven, die hier nicht akademisch-analytisch, sondern in naiver Direktheit präsentiert werden sollen: In einer ersten Perspektive will und muss man vermeiden, dass Unordnung in eine bestehende, als klare und als intelligibel gedeutete Schöpfungsordnung einbricht. Eine Geschlechterunordnung, die mit dem Durchbrechen traditioneller Rollenzuweisungen und dem Zurückweisen geschlechtsspezifischer Tugenden beginnt und mit uneindeutiger Geschlechtlichkeit noch nicht endet, ist ein gewaltiger Einbruch. Dieser Einbruch stellt nicht nur eine, sondern alle Facetten der gut gepflegten hierarchisch-geschlechterbinären Ordnung in Frage. In einer direkten und unvermittelten theologischen Sprache könnte man diese Perspektive des Hereinbrechens der Unordnung in die Ordnung so beschreiben:
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Wenn Männer nicht Männer und Frauen nicht Frauen sein wollen, dann hieße es ja, dass Gott sich geirrt hat. Und da sich Gott nicht irren kann, kann es dies alles nicht geben. Jede Geschlechterunordnung ist eine »Kampfansage an die bisherige Schöpfungsordnung« (Potzel 2013). Im Versuch, die Ordnung aufrechtzuerhalten, wird das bloße Dasein von Menschen, die nicht in eine normative Zweigeschlechtlichkeit passen, zur Blasphemie. Was getan werden muss: reinigen, säubern, Grenzen ziehen, Mauern bauen, ausweisen. Eine zweite Perspektive geht davon aus, dass ›Geschlecht‹ kompliziert ist – wie das Atmen oder die Schwerkraft. Wir tun, leben und erleben ›Geschlecht‹ konstant; wenn wir beginnen, darüber nachzudenken, wird es schwierig. Kulturwissenschaftliche Forschungen zur Vielheit von Geschlechterordnungen werden hier zum Beispiel von der Evolutionsbiologin Joan Roughgarden ergänzt. Sie beschreibt die komplexe, faszinierende und vielschichtige Unordnung der Natur – wo es nichts gibt, was es nicht gibt, und wo diese Vielfalt atemberaubend und wundervoll ist (vgl. zum Beispiel Rougharden 2004; Fine 2017) und sich die Frage stellt, »how much difference the difference makes” (Wilchins [2004] 2014). Damit entsteht eine zweite Möglichkeit, neu anzusetzen und, immer noch in einer direkten und unvermittelten theologischen Sprache, nicht vom Hereinbrechen der Unordnung in die Ordnung, sondern vom Hereinbrechen der Ordnung in die Unordnung zu sprechen: Warum verstört es uns so sehr, wenn Gott sich nicht an die von Menschen gemachten Gesetze hält? Auch in dieser zweiten Perspektive werden unorthodoxe Identitäten in einer bestimmten Weise durch ihre Eingliederung in eine spirituell-theologische Matrix ›renaturalisiert‹. Zugleich aber wird die Blickrichtung geändert: Nicht-passende Identitäten müssen nicht passend gemacht werden; vielmehr wird die nicht-passende Ordnung auf ihre Legitimität hin befragt und so konzeptualisiert, dass sie als ›Schöpfungsunordnung‹ wahrgenommen werden kann. Dieser Denkvorgang hat seinen Wert. Je nach Radikalität dieses Zugangs wird entweder die »natürliche« Ordnung um weitere Kategorien ergänzt (»Mann«, »Frau« und auch noch »Trans*«) und damit komplexer als vorher; oder es wird eine (Un-)Ordnung imaginiert, in der alles existiert und existieren darf. In beiden Fällen werden Entlastungen geboten, die gerade im religiösen Kontext wichtig sind. Im Aufrechterhalten der Ordnung durch Ergänzung von Kategorien muss sich die Ordnung selbst nicht ändern. Vielleicht werden aber auch hier Bruchstellen der Ordnung sichtbar, sodass die Latenz der Grammatik der Geschlechter ins Manifeste dringt und zu einer Auseinandersetzung zwingt.
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Trans * zendenz Ordnungen, so der Soziologe Heinrich Popitz, haben einen eigenen »Ordnungswert« (Popitz 1976). Dies ist die Basislegitimität, die Ordnungen in sich tragen. Sie ermöglichen Erwartbarkeit und Handlungssicherheit, denn man weiß, »woran man ist« (ebd.: 35). Ein solcher Ordnungswert, den Ordnungen unabhängig von ihrer jeweiligen Ausgestaltung und ihrer Gerechtigkeit haben und der sie stabilisiert, kann sich auch in einem despotischen System entwickeln; der »Ordnungswert der Ordnung« ist, so Popitz, »mit Unterdrückung ausgezeichnet vereinbar« (ebd.: 35). Riki Wilchins, Transgender-Theoretiker und Aktivist, beschreibt traditionelle Geschlechterordnungen als eine Ordnung der Käfige: »(1) there are only two cages; (2) everyone must be in a cage; (3) there is no mid-ground; (4) no one can change; (5) no one chooses their cage.« (Wilchins 1997: 56; vgl. Brubaker 2016: 131) Wilchins benutzt nicht umsonst die Metapher des Eingesperrtseins: Geschlechterordnungen als Freiheitsstrafe. Die nötige und logisch folgende Befreiung aus den Käfigen aber bringt eine von vielen als bedrohlich wahrgenommene Problematik mit sich: der Verlust der Sicherheit und Stabilität einer Ordnung. Dieser Verlust kann auch als Verlust der Latenz einer Grammatik beschrieben werden; denn wenn die Muttersprachler*innen nach den Komplexitäten der eigenen Grammatik gefragt werden, dann stockt die Sprache, manchmal der Atem. Es ist dieser Wert des Stockens der Sprache und des Atems, mit dem der Ordnungswert der Ordnung konkurriert. Trans*, lange Zeit als skurrile Form der Abweichung betrachtet, moralisiert und kriminalisiert, ist – insbesondere auch in popkulturellen Kontexten 2 – zunehmend öffentlich geworden. Damit aber wird Trans* zugleich zum Krisenpunkt der Geschlechterordnungen. Im Kontext des zeitgenössischen Streits um Kategorien schlägt Brubaker vor, Trans* nicht als Thema, sondern als Tool, als Denkwerkzeug zu benutzen (vgl. Brubaker3 2016: 72). Trans*-Erfahrungen, so Brubaker, können als analytische Linse dienen, um Kategorien insgesamt neu zu denken. Dabei unterscheidet Brubaker drei Konzepte von Trans*: Trans* erscheint als »Migration«, wenn ein Mensch von einer Kategorie in eine andere wechselt; Trans* erscheint als »Dazwischen«, wenn ein Mensch sich in Bezug zu etablierten Kategorien positioniert, aber keiner völlig angehört, sondern oszillierend dazwischensteht; und Trans* erscheint als »beyond«, wenn ein Mensch sich jenseits und außerhalb etablierter Kategorien verortet (vgl. Brubaker 2016: 72f.). Alle drei ins Analytische gewendeten Erfahrungsformen, die in der Praxis nicht scharf voneinander zu trennen sind, können als heuristische Konzepte dienen. 2 | Exemplarisch hierfür steht die vielfach prämierte Fernsehserie Transparent, produziert von Jill Soloway, seit 2014. 3 | Ich danke Marion Müller für diesen Hinweis.
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Brubaker (ebd.: 73) verdeutlicht dies am Beispiel der Sprache: Der Wechsel von einer Sprache in eine andere wäre ein Trans*-Vorgang der Migration; Zweisprachigkeit ein Trans*-Vorgang des Dazwischen; und die Entwicklung einer neuen Sprache, die nicht aus den anderen Sprachen hervorgeht – zum Beispiel Gebärdensprache –, wäre ein Trans*-Vorgang des »beyond«. Ein zweites Beispiel ist für ihn Religion: Eine Konversion von einer in eine andere Religion gilt dann als Migration; Synkretismus mit seiner Vermischung unterschiedlicher religiöser Elemente wäre ein Trans*-Vorgang des »Dazwischen« und Atheismus ein Transvorgang des »beyond« (vgl. ebd.). Brubakers Nebengedanken über Religion sind illustrativ und scheinen zunächst einleuchtend zu sein. Wendet man sie allerdings ins Analytische, dann sind sie unterkomplex: Weder Trans*-Erfahrungen noch Sprachen lehnen die Grundintention einer Grundsituation, die in den herkömmlichen Grammatiken bearbeitet wird, völlig ab: Im Geschlechterkontext bedeutet Trans* als »beyond« in der Regel den Versuch, ›Geschlecht‹ jenseits dominanter Grammatiken so zu leben, wie es richtig und gerecht erscheint – und nicht, ›Geschlecht‹ hinter sich zu lassen. Im Kontext von Sprache geht es darum, neu, anders und angemessener zu kommunizieren, nicht Sprache aufzugeben. Atheismus als ›Lösung‹ für religiöse problematische Grammatiken erscheint so als eine unter anderen Möglichkeiten. Genauso aber können Atheismus und Agnostizismus eine Haltung des ›Zwischen‹ sein, insbesondere dann, wenn diese Haltung sich kontinuierlich an den religiösen Ordnungsversuchen abarbeitet. Oder Atheismus und Agnostizismus können Teil von Religion werden – für das Christentum beispielsweise in den Theologien ›nach Auschwitz‹, den negativen Theologien oder in Reflexionen über »Atheismus im Christentum« (Bloch 1968). Also lohnt es sich, noch einmal neu anzusetzen und die religiösen Geschlechterordnungen in der Konfrontation mit der eigenen vielstimmigen Geschichte des Christentums neu zu verorten. In dieser vielstimmigen Geschichte erscheinen schon die Gestalten der Junia, Maria Magdalena und Maria, der Mutter Jesu als kanonisch eingefangene ›unordentliche‹ Gestalten und damit Botinnen eines nötigen Um- und Andersdenkens. In der Theologiegeschichte des Christentums waren es die Wörter, die den Ton angaben; es gibt aber auch eine Geschichte der Bilder, die die Geschlechtergrammatik der Hochsprache in Dialekte vervielfältigt. Dazu ein Beispiel, das weitgehend vergessen und übersehenes ist (vgl. dazu auch Ammicht Quinn 2016): Der gekreuzigte Christus, dessen Tod und Sterben mit Heil verknüpft wird, ist das ›Herz‹ des Christentums. In der Frömmigkeitsgeschichte zeigt sich eine große ikonografische Breite und Buntheit, die das Herz Jesu in seiner Heilsbedeutung thematisiert. Die Herz-Jesu-Verehrung setzt schon in der christlichen Spätantike ein, wurde in der Mystik des Hoch- und Spätmittelalters entwickelt und durch Gestalten wie Margarète Marie Alacoque (1647-1690) zu spirituellen und liturgischen Mustern geformt, die in der Tradition Alacoques oft als Leidens-, Demuts-
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und (Selbst-)Demütigungsmuster geformt werden. Vieles, was als religiöser Kitsch heute schlichtweg peinlich erscheint, hat für individuelle Frömmigkeiten durch Jahrhunderte eine große Rolle gespielt – insbesondere der Christus, der ein strahlendes Herz außen am Körper oder in seiner Hand trägt. Es gibt aber auch andere Traditionen: Hier stellen die Bilder-Geschichten des Christentums häufig die Seitenwunde Jesu dar, die im Bild und für die Betrachter*innen dann mit dem Herz identifiziert wird. Biblischer Bezugspunkt ist die neutestamentliche Passionsgeschichte, insbesondere eine Episode aus dem Johannesevangelium: »Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht, sondern einer der Soldaten stieß mit der Lanze in seine Seite, und sogleich floss Blut und Wasser heraus.« (Joh 19, 31-34). Dieses Öffnen der Seite mit der Lanze – nach Jesu Tod, also ohne dass ein besonderes Leiden angesprochen wird – bekommt schon bald heilseröffnende Bedeutung. Die geöffnete Seite wird in religiösen Vorstellungswelten zum von der Lanze durchbohrten Herzen Jesu. Dass es ikonografisch fast immer die rechte Seite Jesu ist, die geöffnet wird, obwohl das Herz links schlägt, war nicht weiter störend. Die Seitenwunde zeigt sich als ganzes Universum, und für den spätmodernen, aufgeklärten Blick ist es ein irritierendes Universum. Aus der Seitenwunde/dem Herz strömt das Blut in einen Kelch und wird damit in einem komplexen Natur-Kultur-Zusammenhang unmittelbar ritualisiert (vgl. »Effusio Sanguinis« um 1410). Aus der Seitenwunde/dem Herz entnimmt Christus eine Hostie und gibt sie an eine kniende Nonne weiter, sodass aus dem Herzen (spirituelle) Nahrung kommt (vgl. »Der Erlöser« zwischen 1460 und 1478). Die Seitenwunde/das Herz ist auch die Brust, an der die Heilige Katharina gestillt wird (vgl. »Saint Catherine Drinking from the Side Wound of Christ« vor 1667). Aus der Seitenwunde/dem Herz füllt sich ein ›Blutbad‹, in dem Menschen baden, weil das Bad im Blut Christi nicht Tod, sondern Reinheit und Leben verheißt (vgl. »Mystic Bath of Souls« 1505-10 oder 1526). Und die Seitenwunde/das Herz ist ein Geburtsort, denn daraus wird wie ein Kind die Kirche geboren (vgl. »Bible moralisée« um 1240). Im 14. Jahrhundert beginnt man, die Seitenwunde als vom Körper getrennten Teil darzustellen, oft gemeinsam mit den sogenannten »Arma Christi«, den Leidenswerkzeugen Christi (vgl. »Arma Christi« ca. 1340), sodass neben Dornenkrone, Geißeln, dem mit Essig getränkten Schwamm und dem Kreuz auch die mandelförmige, blutrote Wunde Jesu dargestellt wird (vgl. Abb. 1). Folgerichtig bekommt die Seitenwunde dann die Umrisse einer stilisierten Vagina, die, übergroß, im »Psalter and Hours of Bonne of Luxembourg, Duchess of Normandy« des 14. Jahrhunderts zwischen Kreuz und Geißelsäule steht, die Mitte des Bildes einnimmt und zentraler, farbiger, größer und wichtiger ist als die Werkzeuge von Folter und Tod (vgl. »Holy Wound« 14. Jahrhundert, Abb. 2). Das Vergessen und Über-Sehen dieser Bilder der Frömmigkeitsgeschichte, eine manifeste Form der Unterdrückung, ist durchaus folgerichtig: Ohne den be-
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Abb. 1 Livre d’heures du Maréchal de Boucicaut (Les instruments de la Passion) [15. Jh.]. Quelle: [https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:Heures_de_Mar%C3%A9chal_ de_Boucicaut_-_Arma_Christi.jpg#/ media/File:Heures_de_Mar%C3%A9chal_ de_Boucicaut_-_Arma_Christi.jpg]
Abb. 2 Jean Le Noir (vermutl.), The Prayer Book of Bonne of Luxembourg, Duchess of Normandy [14. Jh.], 331r (»Holy Wound«), The Metropolitan Museum of Art, New York City Quelle: [www.metmuseum.org]
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sänftigenden, weichzeichnenden historischen Abstand wären diese Bilder für viele höchst anstößig. Kirchen mit einer überlebensgroßen Wunde/Vagina neben dem Kreuz oder mit einem gebärenden und stillenden Jesus in der Apsis sind schwer vorstellbar. Diese irritierenden Bilder können zunächst im Sinne von Trans* als »Dazwischen« verstanden werden: Körperbilder und Handlungen, die zwischen dem Männerkörper und dem Frauenkörper oszillieren. Zugleich ist aber auch eine Lesart des »beyond« möglich: Dann wird das Erlösungsgeschehen als Grenzüberschreitung und Entgrenzung verstanden, das gerade nicht an einem normativ(männlich-)geschlechtlichen Körper festgemacht werden kann. Junia, Maria Magdalena und auch Maria zeigen Trans*-Geschichten der Migration: Die Irritationen können – zumindest für eine bestimmte Zeit – wieder in eine Mainstream-Ordnung eingefangen werden. Die Bildergeschichten des Herzens Jesu/der Seitenwunde/Vagina sind in hohem Maß und uneinholbar ordnungsfern. Diese Ordnungsferne ist nicht so leicht als abartiger Seitenstrang der Geschichte abzutun, denn die Ordnungsferne bezieht sich zugleich auf die heilsgeschichtliche Basis des Christentums. Die Bilder rücken den Ordnungswert und mit ihm die Ordnung ins Zwielicht, und Zusammenhänge zwischen dem Ordnungswert der Ordnung und Unterdrückung können deutlich werden. Dass eine als ›natürlich‹ verstandene Binarität der Geschlechter herhalten muss, um die herkömmliche Ordnung des Glaubens zu stabilisieren, mag auf dem Hintergrund der Bilder-Geschichten auf die Labilität der traditionellen Stabilität hindeuten. Tertullians stabilisierende Vexierbilder ›der Frau‹ sind tief in der Religions-, Theologie- und Kulturgeschichte verankert; Paulus, der im Galaterbrief davon spricht, dass es in Christus »nicht mehr Juden noch Griechen, nicht mehr Sklaven noch Freien, nicht mehr Mann und Frau« gebe (Galater 3, 28), wird schnell als ein Phänomen des Übergangs oder auch als ein Phänomen der Freiheit von Sexualität verstanden. Und die Anstrengung, diese Ordnung aufrechtzuerhalten, hat die christliche Geschichte geprägt. Diese Anstrengung aber mag auch dadurch motiviert sein, dass die Unordnung der eigenen Geschichte bewältigt, verdeckt und eingegliedert werden muss. Moralisierungen und Naturalisierungen sind dabei die bewährten Mittel, mit denen festgestellt wird, dass alles, was ›wider die Natur‹ ist, zugleich eine ›Kampfansage an die Schöpfungsordnung‹ ist. Die Abwehr von gleichgeschlechtlicher Sexualität durch die Geschichte hindurch und von Trans* im gegenwärtigen Diskurs sind deutliche Beispiele dafür. Und zugleich lässt sich das Christentum nicht ohne Trans*-Erfahrung denken. Transzendenz als Grenzüberschreitung ist ein ureigenes Thema der Religion. In unterschiedlicher Weise geht es in jeder Religion um Transzendenz, das Getrenntsein des Menschen von Transzendenz und mögliche Formen der Grenzüberschreitungen von Menschen in den Bereich der Transzendenz hinein. Das Thema der christlichen Religion, die Inkarnation, bietet die Chance, im Denken die Richtung zu wechseln und Inkarnation als Grenzüberschreitung Gottes zu le-
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sen, und in dieser Grenzüberschreitung die Auflösung der Grenzen. Dabei kann – bei allen existierenden Versuchen einer religiösen Festschreibung des geordneten Geschlechts – eine ganz und gar christliche Hochschätzung unterschiedlichster Arten der Überschreitung und Negierung von Ordnungskategorien gefunden und erfunden werden, sodass Denken und Erfahrung von Transzendenz immer wieder auch zum Denken und Erfahren von Trans*zendenz wird.
L iteratur »Arma Christi«. From an ivory devotional booklet, Germany, ca. 1340, in: Louisa Young (2002): The Book of the Heart, London: Flamingo, S. 172. »Bible moralisée«. Detail. MS 270b, fol Gr., Bodleian Library, um 1240. Abgedr. in: Walker-Bynum, Caroline (2002): Fragmentierung und Erlösung: Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 78. »Der Erlöser«, Quirizio von Murano (1460-1478). https://en.wikipedia.org/wiki/ File:Savior_-_Quirizio_da_Murano.jpg vom 28.06.2016. »Effusio Sanguinis«. Lippo D’Andrea(1370/71-vor 1451), Museo di San Casciano. https://it.wikipedia.org/wiki/Museo_di_San_Casciano#/media/File:Effusio,_ lippo_d%27andrea.jpg vom 28.06.2017. »Holy Wound«. Psalter and Hours of Bonne of Luxembourg, Duchess of Normandy. Attributed to Jean Le Noir, 14. Jhdt. URL: https://s-media-cache-ak0.pinimg.com/736x/2f/e7/af/2fe7afa2fd6535d8a0a50665ec028542.jpg vom 28.6.2017. »Mystic Bath of Souls« (Detail), Jean Bellegambe (1470-1535), Musée des BeauxArts, Lille, France. https://fr.pinterest.com/pin/426997608398488537/ vom 28.04.2017. »Saint Catherine Drinking from the Side Wound of Christ«, Louis Cousin (16061667/8). Oil on lapislazuli, private collection. Abgedr. in: Bradburne, James M. (2002): Blood, Art, Power, Politics and Pathology, München u.a.: Prestel, S. 81. Ammicht Quinn, Regina (2012): »Gefährliches Denken: Gender und Theologie«, in: Lisa Sowle Cahill/Diego Irraràzaval/Elaine Wainwright (Hg.): Gender in Theologie, Spiritualität und Praxis, Concilium 4, S. 362-373. – (2016): »(Un)Ordnungen und Konversionen: Trans*, Gender, Religion und Moral«, in: Gerhard Schreiber (Hg.): Transsexualität in Theologie und Neurowissenschaften: Ergebnisse, Kontroversen, Perspektive, Berlin und Boston: de Gruyter, S. 441-459. Bibliothek der Kirchenväter (1912), hg. v. Otto Bardenhewer, Theodor Schermann und Carl Weyman, Bd. 7, Kempten: Kösel. Bloch, Ernst (1968): Atheismus im Christentum, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Brooten, Bernadette (1982): Women Leaders in the Ancient Synagogue: Inscriptional Evidence and background Issues, London: Cico/Scholar’s Press.
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Genderkonstruktivismus in Advice to a Daughter (1688) von George Savile, Marquess of Halifax Ingrid Hotz-Davies
Während die universitäre Gender-Forschung zumeist kein Problem damit hat, das Geschlecht als ein soziales Konstrukt zu denken (im Gegenteil ist es hier tendenziell die Anschuldigung, jemand würde irgendwie ›essentialistisch‹ argumentieren, die die große Herausforderung stellt)1, ist jenseits der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung ein beharrliches Festhalten an binär gedachten, essentialistischen Vorstellungen von Geschlecht festzustellen. Viel von dieser Kritik, die der Wissenschaft vorwirft, sie würde die Natürlichkeit des Geschlechts, der angenommenen Geschlechtseigenschaften und der binären Geschlechterordnung, innerhalb derer Frauen Frauen und Männer Männer sind, in leichtfertiger und ungerechtfertigter Weise ›dekonstruieren‹, sieht vor allem in der als radikal empfundenen Denaturalisierung von Geschlecht in den Arbeiten von Judith Butler und jenen, die auf ihre Arbeiten aufbauen, eine geradezu destruktive Infragestel-
1 | Eve Kosofsky Sedgwick greift die Annahme, ein automatisierter Anti-Essentialismus und AntiNaturalismus (ein »reflexive antibiologism«) sei per se irgendwie befreiend im Kontext von Silvan Tomkins’ Arbeiten zu den Affekten explizit an. Die Problematik ist für sie eher, was als biologisch oder natürlich herausgegriffen wird, auf welcher Basis und versehen mit welchem semantischen Gehalt. Für die Affekte gilt, dass gerade die körperliche Basis von Affekt dafür sorgt, dass der Affekt niemals für eine binäre Opposition taugt (vgl. Segdwick 1995: 16-18). Auf der Basis der heute zur Verfügung stehenden Forschung in den Lebenswissenschaften und der Medizin kann man sagen, dass dies auch für die biologische Basis von Geschlecht zutrifft. So erschien 2015 in Nature (also in einem Publikationsorgan, das sicher nicht der feministischen Agitation bezichtigt werden kann) ein Artikel, der die Komplexität und letztendlich die Unhaltbarkeit der Annahme eines stabilen, binären biologischen Geschlechts aus Sicht der Forschung zusammenfasst (vgl. Ainsworth 2015; deutsche Zusammenfassung und Kommentierung vgl. Rauch 2016).
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lung der Natürlichkeit des Geschlechts, ja des Menschen.2 Dass ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ vollständig ›performativ‹ seien, ist in dieser Kritik eine Position von nie dagewesener Radikalität. In einer historischen Perspektive jedoch, die vor das 18. Jahrhundert zurück reicht, erscheint die Vorstellung davon, dass ›Weiblichkeit‹ und ›Männlichkeit‹ eine Frage der Performanz seien, dass man sie lernen muss und dass sie keine binären Essenzen sind, weder neu noch per se radikal. Ich will die Gelegenheit hier nutzen, um diesen zumeist nicht mitreflektierten Rahmen anzudeuten, und zwar anhand von Advice to a Daughter (1688) des Marquess of Halifax, eine Publikation, die aus dem Kernbestand dessen kommt, was man als die Gattung der normativen Geschlechterfestschreibung sehen kann: »conduct books«, also Benimm-Bücher für Frauen, Handreichungen, die sicher nicht dazu geeignet sind, tatsächliches Verhalten zu vermessen, die aber besonders gut darüber Bescheid wissen, was zu einer spezifischen Zeit die dominante Geschlechternorm ist (vgl. Bryson: 5; 11f.). The Lady’s New-Year’s-Gift: Or, Advice to a Daughter des einflussreichen Politikers und Staatsmanns der englischen Restorationszeit George Saville, Marquess of Halifax (1633-1695) ist einer der Standardratgeber des 17. Jahrhunderts für das Verhalten von Frauen (vgl. Armstrong/Tennenhaus 1987: 3f.; vgl. Jones 1987 zur allgemeinen Einführung in das Genre und Kirchhofer 1995 zu Advice to a Daughter). In dieser Schrift adressiert er 1688 seine Tochter Elizabeth, die zum Zeitpunkt der Publikation etwa elf Jahre alt war. Es geht um nichts weniger als den Versuch, die Tochter – aber auch die Frauen generell, da der Text ja publiziert wurde – für ein Überleben in einer zutiefst feindseligen und wenig auf die Bedürfnisse der Menschen ausgerichteten Welt fit zu machen: »Whilst you are playing full of Innocence, the spitefull World will bite, except you are guarded by your Caution.« (Halifax 1688:1) Halifax versteht also seine Handreichung nicht als ein Dokument der Zurichtung, sondern als Überlebenshilfe in dem, was er für Frauen als deren Schicksal erachtet. Und dieses Schicksal ist vorherbestimmt: Sie werden auf jeden Fall heiraten. Das ist ihre Bestimmung, ihre ›Arbeit‹, ihr Daseinszweck. Halifax spiegelt hierbei nichts weiter als die gängige juristische Lehrmeinung der Zeit, so wie sie etwa von »T. E.« in seiner Handreichung The Law’s Resolution of Women’s Rights (1632) in einer berühmt gewordenen Formulierung auf den Punkt gebracht wurde: »[W]omen have no voice in parliament. They make no laws, consent to none, they abrogate none. All of them are understood either married or to be mar2 | Hierzu zählen, und zwar aus sehr verschiedenen politischen Richtungen kommend, jene, die aus feministischer Sicht eine ›Dekonstruktion‹ der natürlichen Gegebenheit der ›Frau‹ mit Sorge beobachten (für eine differenzierte Auseinandersetzung mit beiden Seiten vgl. Landweer 1993 und Villa 2010), jene, die aus natur- und lebenswissenschaftlicher Sicht denken, dass sie das Biologische am Geschlecht ausgemacht haben (für eine kritische Auseinandersetzung vgl. Fine 2011 und 2017), aber auch jene, die unter dem Banner eines Anti-Genderismus eine geschlechtsfundamentalistische Sicht vertreten (vgl. Hark/Villa 2015).
Genderkonstruktivismus in Advice to a Daughter (1688)
ried, and their desires are subject to their husband.«(T. E. in Aughterson 1995: 153)3 In dieser Arena, der »spitefull World«, die zunächst einmal für alle schwer zu navigieren ist, haben die Frauen also den Nachteil, dass sie als Frauen für dieses Spiel nicht die besten Karten bekommen haben. Der Eheschwur verpflichtet sie zum Gehorsam und überhaupt müssen sie lernen, sich als bestenfalls zweitranging in der Gesellschaft und in ihrer Ehe zu verstehen. Dass sie das können, kann man einerseits nicht der ›Natur‹ anvertrauen, sondern das muss man lernen: »Few things are well learnt, but by early Precepts: Those well infus’d, make them Natural.« (Halifax 1688: 2) Gleichzeitig denkt Halifax aber, dass die soziale Stellung der Frau sich schon auf die ›Natur‹ zurückführen lässt, allerdings in einer Weise, die die Annahme einer Sondernatur der Frau sehr erschwert. Es lohnt sich, dieses Argument in einigem Detail zu betrachten: »You must first lay it down for a Foundation in general, That there is Inequality in the Sexes, and that for the better Oeconomy of the World, the Men, who were to be the Law-givers, had the larger share of Reason bestow’d upon them; by which means your Sex is the better prepar’d for the Compliance that is necessary for the better performance of those Duties which seem to be most properly assign’d to it. This looks a little uncourtly at the first appearance; but upon Examination it will be found, that Nature is so far from being unjust to you, that she is partial on your side. […] You have it in your power not only to free your selves, but to subdue your Masters, and without violence throw both their Natural and Legal Authority at your Feet. We are made of differing Tempers, that our Defects may the better be mutually supplied: Your Sex wanteth our Reason for your Conduct, and our Strength for your Protection: Ours wanteth your Gentleness to soften, and to entertain us. […] It is true, that the Laws of Marriage, run in a harsher stile towards your Sex. Obey is an ungenteel word, and less easie to be digested, by making such an unkind distinction in the Words of the Contract […] Besides, the universality of the Rule seemeth to be a Grievance , and it appeareth reasonable, that there might be an Exemption for extraordinary Women, from ordinary Rules, to take away the just Exception that lieth against the false measure of general Equality. […] And in such instances where Nature is so kind, as to raise them above the level of their own Sex, they might have Relief, and obtain a Mitigation in their own particular, of a Sentence which was given generally against Woman kind. […] But the Answer to it, in short is, That the Institution of Marriage is too sacred to admit a Liberty of objecting to it; That the supposition of yours being the weaker Sex, having without doubt a good Foundation, maketh it reasonable to subject it to the Masculine Dominion; That no Rule can be so perfect, as not to admit some Exceptions ; But the Law presumeth there would be so few found in this Case, who would have a sufficient Right to such a Privilege, that it is safer some Injustice should be conniv’d at in a very few Instances, than to break into an Establishment, upon which the Order of Humane Society doth so much depend. 3 | Im Lichte der Position, die Halifax einnimmt, ist es interessant, dass T. E. wie Halifax auch eine deutliche Trennung vornimmt zwischen dem, wozu Frauen tatsächlich fähig sind, und dem, was die rechtliche Norm vorsieht: »I know no remedy, though some women can shift it well enough.« (T. E. in Aughterson 1995: 153)
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Ingrid Hotz-Davies You are therefore to make your best of what is settled by Law and Custom, and not vainly imagine, that it will be changed for your sake. But that you may not be discouraged, as if you lay under the weight of an incurable Grievance, you are to know, that by a wise and dexterous Conduct, it will be in your power to relieve your self from any thing that looketh like a disadvantage in it.« (Halifax 1688: 8-10)
Halifax beginnt sein Argument mit der Feststellung, dass die Geschlechterungleichheit den Zweck hat, eine »better Oeconomy of the World« zu gewährleisten, also mit einem angenommenen sozialen und politischen Vorteil, ein Argument, das er im Weiteren dahingehend vertiefen wird, dass die Institution der Ehe ein derart hohes soziales Gut ist, ja dass sie so »heilig« sei, dass man dafür auch die durchaus berechtigten Interessen einzelner Frauen, die die Natur liebenswürdiger Weise über die Beschränkungen ihres Geschlechts erhoben hat (»where Nature is so kind, as to raise them above the level of their own Sex«) opfern sollte. Solche Frauen seien jedoch nur Ausnahmefälle, ein Gedanke, den Halifax gleich dreimal hervorhebt: Das seien »some exceptions«, »so few«, »a very few instances«. Ansonsten habe die Natur dafür gesorgt, dass die Folgsamkeit (compliance) Frauen besonders leicht falle, weil sie Männer mit mehr Verstand, »the larger share of Reason«, ausgestattet habe. Daraus ergebe sich so etwas wie eine Komplementarität der »differing Tempers«, die alles zum Besten eingerichtet habe: »Your Sex wanteth our Reason for your Conduct, and our Strength for your Protection: Ours wanteth your Gentleness to soften, and to entertain us.« Man hat es also, obwohl Halifax von einer sozialen Notwendigkeit ausgeht, sehr wohl mit so etwas zu tun wie einer essentialistischen Beschreibung des Geschlechts, jedenfalls auf den ersten Blick. Tatsächlich aber ist sein Modell von Männern und Frauen eben nicht als binäre Struktur angelegt, sondern als graduelle: Es ist nicht so, dass Männer den Verstand haben und Frauen das Gegenstück dazu, das Gefühl zum Beispiel. Vielmehr bekommen Männer auf einer graduierten Skala mehr Verstand zugesprochen, während die Folge davon, eine Tendenz zur compliance bei Frauen, nicht einer Sondernatur entspricht, sondern sich für Halifax selbstverständlich aus der rationalen Überlegenheit der »law givers« ergeben sollte. Frauen sind also nicht andere Wesen, sondern sie sind weniger rational, also weniger männlich als Männer (oder genauer: als ein Idealfall von ›Mann‹, der, wie wir sehen werden, hier sehr problematisch absolut gesetzt ist). Auch der Gegensatz von Milde und Stärke ist so zu verstehen: dass nämlich die Milde der Frauen ein Mangel an männlicher Stärke ist (vgl. Schabert 1997: 24f.). Hiermit befinden wir uns im Herzen des von Thomas Laqueur detailliert ausgearbeiteten one-sex model der Frühen Neuzeit (vgl. Laqueur 1990; Schabert 1997). Dieses Modell geht davon aus, dass es nur ein Menschengeschlecht gibt, dessen perfekteste Ausformulierung der erwachsene, ›vollwertige‹ Mann ist. Die Frau, aber auch der Knabe, der ›verweiblichte‹ Mann, der Mann, der nicht Herr seiner Triebe und Affekte ist etc., sind demnach auf einer Skala von mehr oder weniger Männlichkeit weniger weit oben platzierte Menschen. Laqueur leitet dieses Modell aus der
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antiken Medizin und dem frühneuzeitlichen und antiken Analogiedenken her, das weibliche Körper in Analogie und nicht im Gegensatz zu männlichen denkt, und das in der Humoralpathologie den Grund für die verschiedenen Ausformulierungen des mehr oder weniger Männlichen sieht: Demnach hätten Frauen eine »feuchtere« und »kältere« humorale Grundbefindlichkeit, die verhindert, dass die volle Männlichkeit sich etablieren kann. Hierzu bräuchte es die »heißere« und »trockenere« humorale Befindlichkeit, die den Mann ausmacht (vgl. Laqueur 1990: 98-108; 122-126; zusammenfassend vgl. Schabert 1997; ausgreifend auf Sexualität vgl. Jones 2011). Das verbirgt sich auch hinter Halifax’ Idee, dass Männer und Frauen »differing Tempers« hätten, also unterschiedliche aus der Humoralpathologie abgeleitete »Temperamente«, nicht etwa »differing natures«.4 Die Implikationen dieses Modells liegen nicht so sehr in der Frage, wie ausschließlich das one-sex model ›tatsächlich‹ war und wann oder wie komplett es später abgelöst wurde, ob also in der Frühen Neuzeit Alternativen existierten für die Konzeption von Männer- und Frauenkörpern und Männern und Frauen (vgl. Voß 2010; Park/Nye 1991). Die Auswirkungen dieses Modells sind hinreichend häufig zu beobachten, wie hier im Fall von Halifax, und wir sehen, dass solche Texte eine ernsthafte Herausforderung darstellen für jene Geschlechtermodelle, die sich bis heute beobachten lassen, die sich tatsächlich aber erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts durchsetzen und die eine Sonderanthropologie der Geschlechter annehmen (vgl. Honegger 1991; Laqueur 1990). Die wirklich spannenden Implikationen des one-sex model liegen also darin, wie ohne stabilen Rekurs auf die ›Naturgegebenheit‹ des Geschlechts das soziale Geschlecht der Frau zu rechtfertigen war. Wie Laqueur feststellt, ist das Problem, »that in these pre-Enlightenment texts, and even in some later ones, sex, or the body, must be understood as the epiphenomenon, while gender, what we would take to be a cultural category, was primary or ›real‹« (Laqueur 1990: 8). Die Geschlechtervorstellungen der Frühen Neuzeit bereiten also für die Vorstellung einer Natur der Frau im Gegensatz zur Natur des Mannes einige Schwierigkeiten. Einerseits ist dies natürlich kein frauenfreundliches Modell, da es die Frau als im Gegensatz zum Mann defizitäres Wesen begreift. Andererseits sorgt aber die graduelle, nicht-binäre Ausrichtung des Modells, die lediglich je nach Mischung der Körpersäfte, aber auch je nach Erziehung, Talent, Lebenswandel, individuellen Eigenschaften etc. eine Tendenz feststellen kann, also ein Mehr oder Weniger an Männlichkeit, dafür, dass es zu jenen Sonderfällen kommen kann, die 4 | An anderer Stelle, in seinem Rat zur richtigen religiösen Orientierung seiner Tochter, geht er selbstverständlich davon aus, dass alle »Temperamente«, die aus der Humoralpathologie bekannt sind, auch bei ihr vorkommen könnten, inklusive des cholerischen Temperaments, und dass sie sich daher gegen die Extreme verwahren solle: »Our Devotion too often breaketh out into that Shape which most agreeth with our particular Temper. The Cholerick grow into a hardned Severity against all who dissent from them. […] The Melancholy and the Sullen are apt to place a great part of their Religion in dejected or ill-humour’d Looks, putting on an unsociable Face.« (Halifax 1699: 4)
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Halifax so viel Sorge bereiten, dass er einen erheblichen argumentativen Aufwand um sie herum betreibt. Frauen also, die auf der Skala der Männlichkeit weiter oben stehen, und die Tatsache, dass sie das tun – und das sei ausdrücklich gesagt – sind der ›Natur‹ geschuldet. Solche Frauen sind nicht Monstren oder Aberrationen der Natur, sondern sind im Gegenteil von der Natur privilegiert: »where Nature is so kind«. Hinzu kommt noch, dass die Humoralpathologie eine zutiefst partikularisierende Pathologie ist. In ihr hat nicht nur jeder einzelne Mensch seine eigene Mischung der Körpersäfte, sondern diese Mischung ist auch noch in hohem Maß abhängig von kontingenten Faktoren wie Nahrungsaufnahme, Flüssigkeitsausscheidung, Alter, Lebenswandel, etc.5 Man kann sich also nicht nur Menschen denken, die mehr oder weniger männlich sein können, sondern auch solche, bei denen sich das Mischungsverhältnis der Körpersäfte ändern kann, die also zu verschiedenen Zeiten in ihrem Leben, vielleicht sogar innerhalb eines Tages, ein Mehr oder ein Weniger einer bestimmten Eigenschaft aufweisen. Gegen Ende seiner Einlassung über die ›Natur‹ des Geschlechterarrangements ist Halifax jedenfalls viel vorsichtiger in der Formulierung dessen, was nun als Annahme (»supposition«) erscheint, als zwar sehr wahrscheinlich insgesamt richtige Annahme, aber eben nur als Annahme: »That the supposition of yours being the weaker Sex, having without doubt a good Foundation, maketh it reasonable to subject it to the Masculine Domination«. Wenn es bei Halifax keine stabile ›Natur‹ der Frau gibt, so ist klar, dass ihr ganzes Leben damit verbracht werden muss, sich in der sozialen Kategorie ›Frau‹ einzurichten, und zwar unabhängig davon, ob ihre individuelle ›Natur‹ als Mensch sie dafür prädestiniert oder nicht. In anderen Worten: Es ist durchaus anzunehmen, dass eine individuelle Frau ihrem Ehemann an ›Männlichkeit‹ überlegen sein kann, aber das wird sie nicht davon befreien, ihre Position als Frau auszufüllen. Und dabei geht Halifax davon aus, dass es sehr wohl Grundbefindlichkeiten gibt, die einer Natur des Menschen entsprechen. Hierzu gehört für ihn ganz zentral ein Bedürfnis nach Macht und Eigenständigkeit und damit die Freiheitsliebe, was ihn in der Vorrede zu seiner Schrift um die Reaktion seiner Tochter bangen lässt: »There may be some bitterness in meer Obedience: The natural Love of Liberty may help to make the Commands of a Parent harder to go down: Some inward resistance there will be, where Power and not Choice maketh us move.« (Halifax 1688: 2) Deshalb bemüht er sich auch darum, seiner Tochter zu versichern, dass ihre untertänige Position mitnichten das Ende ihrer Hoffnung auf Macht sein muss, sofern sie lernt, ihre Intelligenz einzusetzen und ihre Ziele strategisch und geschickt zu verfolgen, einen »wise and dexterous Conduct« zu entwickeln. Dass er denkt, dass seine Tochter, die ja eigentlich mit weniger Verstand ausgestattet sein sollte als ihr Mann – und wie kann sie ihn dann überlisten? –, diese Herausforderung sehr wohl meistern könnte, zeigt bereits, dass er nicht tatsächlich davon ausgeht, dass sie eine 5 | Für Implikationen im Bereich Theater und Literatur vgl. Paster 1993, 1998 und 2004.
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Sondernatur als Frau hat. Sie hat einen spezifischen und zunächst benachteiligten sozialen Status, den es zu überwinden gilt, beziehungsweise innerhalb dessen sie lernen muss, sich so viel Eigenbestimmung und Macht zu erhalten wie möglich. Daher nennt er auch gleich nach der richtigen Religion, der seine Tochter folgen soll, die wichtigste nächste Herausforderung: »That which challengeth the next place [to Religion] in your Thoughts, is how to live with a Husband.« (Ebd.: 7) Tatsächlich ist es in wichtigem Umfang das »how to live with a Husband«, wofür seine Schrift ihr die entsprechenden Werkzeuge in die Hand geben will. Sie muss dabei damit rechnen, dass sie bei der Wahl des Ehemanns wenig Einfluss haben wird, und überhaupt, dass man sich das Temperament der Ehemänner nicht wird aussuchen können. Denn tatsächlich – und ganz im Gegensatz zu der hehren Annahme des männlichen Verstandesvorsprungs – geht Halifax so sehr vom worst case scenario aus, dass man das schon wieder als ein one case scenario bezeichnen muss: dass nämlich der Ehemann sehr zu wünschen übrig lassen wird. Die Männer, auf die sie sich vorbereiten muss, sind bei Halifax die folgenden: Fremdgeher, Alkoholiker, Choleriker und eventuell sogar Schläger, Geizkrägen und nicht zuletzt jene, die er »Idiots« (Ebd. 1688: 17) nennt. An keiner Stelle versucht er dabei, seine Tochter dazu zu verpflichten, dass sie ihren Mann lieben müsse. Was sie tun muss, ist dies: gescheit sein, strategisch denken, ihre Chancen wahrnehmen, ihre Interessen erkennen und verteidigen, Macht sichern. Sie muss also eine Politik entwickeln und eine Performanz. Es ist kein Zufall, dass Halifax die Analogie herstellt zu einem Minister, der sich mit einem absoluten Herrscher herumschlagen muss: »In short, the surest and the most approved method will be to do like a wise Minister to an easie Prince; first give him the Orders you afterwards receive from him.« (Ebd.) Wenn Halifax seiner Tochter rät, sie solle die Belange des Haushalts nicht aus der Hand geben (und hier muss man an einen größeren aristokratischen Haushalt denken), dann nicht, weil die Häuslichkeit in ihrer Natur läge, sondern weil sie dort ihre Machtbasis hat. Wenn sie diese Macht aufgibt, riskiert sie die Bedeutungslosigkeit, »the Penalties that belong to those who are willfully Insignificant« (ebd.: 22). Den double standard, der sexuelle Abenteuer bei Männern entschuldigt, aber Frauen verbietet, muss sie hinnehmen, nicht etwa weil ihre eigene keusche weibliche Natur dem Abenteuer grundsätzlich abgeneigt wäre, sondern weil die dynastischen Interessen der patriarchalen Ordnung die Vaterschaft der Kinder garantiert wissen müssen, eine Konvention, die allerdings nur so lange ihre Gültigkeit behalten wird, wie die ›Ehre‹ der Familie in dieser Weise gesichert werden soll: »[O]ur Sex seemeth to play the Tyrant in the distinguishing partially for our selves, by making that in the utmost decree Criminal in the Woman, which in a Man passeth under a much gentler Censure. The Root and Excuse of this Injustice is the Preservation of Families from any Mixture which may bring a Blemish to them: and whilst the Point of Honour continues to be so plac’d, it seems unavoidable to give your Sex, the greater share of the Penalty.« (Ebd.: 10)
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Die nächste Kategorie von Ehemännern, den Trunkenbold, den soll sie nicht so ernst nehmen, das hätten schon viele überlebt: »So that in the first place, it will be no new thing if you should have a Dunkard for your Husband; and there is by too frequent Examples evidence enough, that such a thing may happen, and yet a Wife may live too without being miserable.« (Ebd.: 11) Tatsächlich hat so ein Ehemann auch seine Vorteile, weil er nicht in der Lage ist, sich immer verlässlich seine Macht zu sichern: »Consider, that where the Man will give such frequent Intermissions of the use of his Reason, the Wife insensibly getteth a Right of Governing in the Vacancy, and that raiseth her Character and Credit in the Family, to a higher pitch than perhaps could be done under a sober Husband, who never putteth himself into an Incapacity of holding the Reigns.« (Ebd. 1688: 13)
Gewalttätige Ehemänner verlangen sicher die höchste Kunst der Ehefrau, weil sie gefährlich sind, aber auch gegen sie kann man angehen, sofern man dies vorsichtig tut. An dieser Stelle kann man vielleicht am besten sehen, dass Halifax der Frau die Finesse und diplomatische Geschicklichkeit und Intelligenz zutraut, die ein Staatsmann im Umgang mit einem unberechenbaren König benötigt: »Instead of being struck down by his Thunder, you shall direct it where and upon whom you shall think it best applied. Thus are the strongest Poisons turn’d to the best Remedies ; but then there must be Art in it, and a skilful Hand, else the least bungling maketh it mortal. There is a great deal of nice Care requisite to deal with a Man of this Complexion. […] You are dextrously to yield every thing till he beginneth to cool, and then by slow degrees you may rise and gain upon him.« (Ebd.: 13f.)
Ein Ehemann, der nicht alle Tassen im Schrank hat, ist auch kein Problem, eher im Gegenteil: der ist fast so gut wie ein toter Ehemann, vorausgesetzt, man kann sich den Vorteil durch umsichtiges Manövrieren sichern: »[Y]ou are first to bring to your Observation, That a Wife very often maketh the better Figure, for her Husband’s making no great one […] His Unseasonable Weakness may no doubt sometimes grieve you, but then set against this, that it giveth you the Dominion, if you will make the right use of it. It is next to his being dead, in which Case the Wife hath right to Administer; therefore, be sure, if you have such an Idiot, that none, except your self, may have the benefit of the forfeiture. Such a Fool is a dangerous Beast, if others have the keeping of him; and you must be very undexterous if when your Husband shall resolve to be an Ass, you do not take care that he may be your Ass.« (Ebd.: 17)
Der für Halifax schlimmste Fall ist, vielleicht etwas überraschend, nicht der gewalttätige Säufer oder der mental Überforderte, sondern der geizige Ehemann. Das liegt zum einen daran, dass die Macht der Frau im Haushalt die Macht über das Geld ist, zum anderen aber auch daran, dass Halifax einer aristokratischen largesse offensichtlich den Vorzug gibt vor einer bürgerlichen Sparsamkeit:
Genderkonstruktivismus in Advice to a Daughter (1688) »But to admit the worst, and that your Husband is really a Close - handed Wretch, you must in this, as in other Cases, endeavor to make it less afflicting to you; and first you must observe seasonable hours of speaking. […A] Dose of Wine will work upon this tough humor, and for the time dissolve it. Your business must be, if this Case happeneth, to watch these critical moments , and not let one of them slip without making your advantage of it; and a Wife may be said to want skill, if by these means she is not able to secure her self in a good measure against the Inconveniencies this scurvy quality in a Husband might bring upon her, except he should be such an incurable Monster, as I hope will never fall to your share.« (Ebd.: 15f.)
Es ist deutlich geworden, dass Halifax in der Praxis eher nicht davon ausgeht, dass die Männer, mit denen man es als Frau zu tun haben wird, sie allzu sehr von ihrer überlegenen Intelligenz überzeugen werden, dass also die Skala der Männlichkeit für die meisten Männer nach ›unten‹ hin genau so offen steht wie sie für Frauen nach ›oben‹ hin Möglichkeiten eröffnet. Und in der Tat, für die Ehefrau ist ein Ehemann, der die höchste Stufe der Perfektion und damit der Männlichkeit erreicht hat, eher ein Hindernis als eine Hilfe, denn nur dieser ist wirklich in der Lage, sich gegen die Intelligenz seiner Untertanin zur Wehr zu setzen: »I am tempted to say (if the Irregularity of the Expression could in strictness be justified) That a Wife is to thank God her Husband hath Faults. Mark the seeming Paradox my Dear, for your own Instruction, it being intended no further. A Husband without Faults is a dangerous Observer; he hath an Eye so piercing, and seeth everything so plain, that it is expos’d to his full Censure. […] The Faults and Passions of Husbands bring them down to you, and make them content to live upon less unequal Terms.« (Ebd. 1688: 12)
Halifax markiert hier seine Einsichten mit dem Hinweis auf eine gewisse Gefahr, die von ihnen ausgehen könnte, wären sie generell verfügbar oder jenseits des privaten Gebrauchs ausgelegt (»the seeming Paradox, my Dear, for your own Instruction, it being intended no further«); auch scheint ihm seine eigene Äußerung potentiell anstößig, etwas, das vielleicht »in strictness« nicht zu rechtfertigen wäre. Doch was verursacht gerade hier die sprachlichen Einschränkungen, eine Einschränkung, die allerdings zur Schau gestellt ist, denn der Text wurde ja publiziert? Einmal sicher der moralisch für den angedachten Ehemann wenig wohlmeinende Wunsch, er sollte eher mehr als weniger der Sünde und dem Fehlverhalten verfallen sein. Aber daneben ist es die Enthüllung eines (offenen?) Geheimnisses: dass nämlich das Machtverhältnis selbst umkehrbar sein könnte, nicht etwa weil die Frau als Gegenstück zur Macht des Mannes über Möglichkeiten des Einflusses verfügt, die aus ihrer Sanftmut erwachsen, ein Trost, den Halifax zunächst für seine Tochter bereit gehalten hatte, sondern weil auf einer Skala der Männlichkeit gar nicht gesagt ist, dass der Mann in einem realen Fall tatsächlich seiner Frau überlegen sein muss. Das heißt, im Herzen des patriarchalischen Ideals schlummert ein wohl gehütetes Geheimnis, dass nämlich das Modell nur funktioniert, wenn man
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einen »husband without faults« annimmt; in der Realität ist davon auszugehen, dass der konkrete Ehemann, mit dem man es zu tun hat, diesen Anspruch nicht wird erfüllen können, dass also das Machtgefälle, das auf einer Verstandesüberlegenheit des Mannes beruht, nicht zu rechtfertigen ist und von der Frau (vorsichtig) nivelliert werden kann. Dass dieser Text dies offen legt, reiht ihn ein in eine pragmatisch demystifizierende Tradition der Frühen Neuzeit, wie sie etwa von Niccolo Machiavelli oder Francis Bacon praktiziert wurde. Man könnte sagen, dass Halifax eine Art Gender-Machiavellismus ›von unten‹ betreibt. Interessanterweise wurde dies gerne als Zynismus gescholten (Halifax hätte also seiner Tochter moralisch haltbarere Ratschläge auf den Weg geben sollen) oder gar völlig verkannt, als hätte Halifax seiner Tochter tatsächlich ihre Unterwerfung nahe gelegt (vgl. Kirchhofer 1995: 66f., der die strategisch-›Baconische‹ Auslegung im Detail ausbreitet: 63-71). Möglich gemacht wird diese Entmystifizierung des Geschlechterverhältnisses durch die Tatsache, dass es eine stabile ›Natur‹ der Frau (oder des Mannes) eben nicht gibt; es gibt nur die Geschlechterkonventionen der Zeit, die zwar außerordentlich mächtig sind, die aber letztlich für den Einzelfall nicht in der Natur begründet werden können.6 Alba Floreale (2004) hat sehr überzeugend herausgearbeitet, wie frühneuzeitliche Benimmbücher von Francis Bacons amoralischem Pragmatismus beeinflusst sind, insbesondere von seinem Essay »Of Simulation and Dissimulation«, in dem er losgelöst von moralischen Bedenken das Für und Wider der Lüge im sozialen Umgang zwischen Menschen erläutert. Sein Fazit ist, dass ein Mensch die Kunst der Verstellung sehr wohl beherrschen muss, weil er ohne sie im politischen und sozialen Leben keine Chancen hat, sich durchzusetzen, im Extremfall sogar sein Überleben in Gefahr sein kann. Im Lichte von »Of Simulation and Dissimulation« nimmt dann auch der Rat, die beste Verhaltensstrategie für eine Frau sei die der Reserviertheit, closeness, eine besondere Färbung an: »A close behaviour is the fittest to receive Vertue for its constant Guest, because there, and there only, can it be secure. […] The advantages of being reserved are too many to set down, I will only say, that it is a Guard to a good Woman, and a Disguise to an ill one.« (Halifax 1688: 28; 33) Nun gehört die ›Bedecktheit‹ zum Standardrepertoire der normativen Vorschriften, wie Frauen sich zu präsentieren haben, häufig zusammengefasst unter der Triade chaste, silent, and obedient (vgl. Hull 1982), doch hier befinden wir uns eher im Umfeld Bacons, der von allen Formen des Informationsmanagements eindeutig der closeness oder secrecy (und zwar bis hin zu einem wachsamen Monitoring des eigenen Gesichtsausdrucks) den Vorrang gibt: »Therefore set it down, that an habit of secrecy is both politic and moral. And in this part, it is good that a man’s face give his tongue leave to speak. For the
6 | Es ist hier von zentraler Bedeutung, dass Halifax ein völlig säkulares Argument führt, also auf die Heranziehung der biblischen Vorgaben, die ansonsten von Adam und Eva angefangen die Untertänigkeit der Frau begründen, verzichtet.
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discovery of a man’s self by the tracts of his countenance is a great weakness and betraying.« (Bacon 1999: 13f) Halifax sieht also die Position der Frau analog zu anderen asymmetrischen Machtverhältnissen, insbesondere jenem, mit dem er als einflussreicher Restaurationspolitiker aufs Engste vertraut war, dem zwischen einem Ratgeber und seinem absolut regierenden Fürsten. In einer derartigen Konstellation wäre eine naive Offenheit nicht nur ungeschickt, sondern geradezu unintelligent. Und dass er davon ausgeht, dass durchschnittliche Frauen im Rennen um mehr oder weniger Verstand durchaus die Nase vorne haben können (ich denke nicht, dass er annimmt, seine Tochter könnte in die Klasse der maskulinen Ausnahmefrauen gehören), zeigt, dass letztlich auch eine ontologische Trennung der Geschlechter nicht haltbar ist. Dieser Gedanke wird erst möglich mit der Annahme einer genuin als natürlich gegeben gedachten Zweigeschlechtlichkeit, wie wir sie zum Beispiel sehen, wenn wir von Halifax aus nicht ganz hundert Jahre in die Zukunft reisen zu der sehr einflussreichen Schrift des Mediziners John Gregory, der sich in A Father’s Legacy to His Daughters (1775) ebenfalls an seine Töchter wendet. Als Mitglied des sogenannten Bluestocking Circle kann man Gregory durchaus als fortschrittlich beschreiben, und zwar insofern als er für die Frau zum Beispiel sehr wohl die Option der Ehelosigkeit vorsieht, sofern jemand (wie er selbst) für sie finanziell Vorsorge getroffen hat. Gleichzeitig jedoch ist er in einem sehr hohen Maße von einer Natur der Frau überzeugt, die er bereits in der Vorrede mehrmals beschwört und von der er sogar annimmt, dass er als männlicher Ratgeber nicht den vollen Zugriff haben kann: »You must expect that the advices which I shall give you will be very imperfect, as there are many nameless delicacies, in female manners, of which none but a woman can judge. […] You will see […] in what an honourable point of view I have considered your sex; not as domestic drudges, or the slaves of our pleasures, but as our companions and equals; as designed to soften our hearts and polish our manners. […F]rom the view I have given of your natural character and place in society, there arises a certain propriety of conduct peculiar to your sex.« (Gregory 1775: 7f)
Wie Halifax beginnt auch Gregory zuerst mit dem religiösen Leben, das man von einer Frau verlangen kann. Aber während Halifax das religiöse Empfinden der Frauen in den Rahmen einer generellen menschlichen humoralen Befindlichkeit stellt (»Our Devotion too often breaketh out into that Shape which most agreeth with our particular Temper« [Halifax 1688: 4]), steht bei Gregory nichts weniger als die Natur der Frau und des Mannes als unüberbrückbar anders aufgestellte Kreaturen auf dem Spiel: »Though the duties of religion, strictly speaking, are equally binding on both sexes, yet certain differences in their natural character and education, render some vices in your sex particularly odious. The natural hardness of our hearts, and strength of our passions, inflamed by the uncontrouled license
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Ingrid Hotz-Davies we are too often indulged with in our youth, are apt to render our manners more dissolute, and make us less susceptible of the finer feelings of the heart. Your superior delicacy, your modesty, and the usual severity of your education, preserve you, in a great measure, from any temptation to those vices to which we are most subjected. The natural softness and sensibility of your dispositions particularly fit you for the practice of those duties where the heart is chiefly concerned. And this, along with the natural warmth of your imaginations, renders you peculiarly susceptible of the feelings of devotion.« (Gregory 1775: 9; Hervorhebungen hinzugefügt)
Zwar sieht Gregory einen Teil des unterschiedlichen Geschlechtscharakters als durch die Erziehung verstärkt, doch kann die Erziehung nur das verstärken, was bereits naturgegeben vorhanden ist, und diese Eigenschaften sind nun binär distribuiert: Die Frau hat eine natürliche Empfindsamkeit und »softness«, die den Männern fehlt, während jene ein natürliches Triebleben haben (»our passions«), das den Frauen abgeht. Während sich bei Halifax ein Spannungsfeld auftut, das dadurch entsteht, dass zwar die Performativität des Geschlechts angenommen ist, aber dessen Rechtfertigung aus der Natur nicht sehr stabil ist, steht man bei Gregory vor einem genau gegenläufigen Befund: dass nämlich, im Angesicht der Natürlichkeit des Geschlechtscharakters, jegliche weitere Anweisung eigentlich hinfällig sein müsste; dass also die Performativität des Geschlechts zum Skandal wird. Gregory selbst scheint mit genau diesem Widerspruch zu kämpfen, wenn er der Frau zum Beispiel befehlen will, was sie natürlicherweise sein sollte: »I do not wish you to affect delicacy; I wish you to possess it.« (Gregory 1775: 20) In weniger als einem Jahrhundert, so scheint es, hat die Diskussion einen Großteil der performativ-strategischen Vorstellung vom Geschlecht, die bei Halifax vorherrscht, verloren und an ihre Stelle eine binäre Geschlechternatur gesetzt, die bei Gregory dazu führt, dass er in einer kurzen Passage wie der soeben zitierten das Geschlecht nicht weniger als viermal als »natural« fixieren muss. ›Maskuline‹ Frauen, so wie sie in der Frühen Neuzeit denkbar waren, verschwinden aus dem Gender-Repertoire, wie Ina Schabert an einem viel späteren Beispiel, einer angesehenen Literaturgeschichte aus den 1940er-Jahren, amüsant deutlich gemacht hat: »So nimmt selbst der gelehrte und gewissenhafte Douglas Bush in seiner Übersicht über das 17. Jahrhundert (innerhalb der Oxford History of English Literature) eine zeitgenössische Aussage über Lady Elizabeth Cary, in der sie als a › lady of a most masculine character ‹ gepriesen wird, in seine moderne Sprache auf (›a devoutly Catholic mother of literary, masculine, eccentric character ‹), ohne sich dessen bewusst zu werden, dass er damit das Renaissancelob für eine große Frau in bürgerlichen Spott über eine etwas zu männliche Dame umgemünzt hat.« (Schabert 1997: 21).
Auch diese › Ontologisierung‹ des Geschlechts ist bekannt und gut erforscht und wird von Laqueur unter dem Begriff des two-sex model gefasst (vgl. auch Honegger 1991). Es ist diese Vorstellung, die etwa von der Feministin Mary Wollstone-
Genderkonstruktivismus in Advice to a Daughter (1688)
craft bereits in ihrem Entstehen aufgegriffen und bekämpft wird7, und es ist diese Vorstellung, die sich bis heute in verschiedenen Begründungszusammenhängen tradiert8, während Halifax’ Annahmen eher in der heute gängigen sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion verständlich erscheinen. Könnte man nämlich den Marquess of Halifax mit unserer Forschungslandschaft heute bekannt machen, würde er sich wahrscheinlich in der Soziologie etwa eines Erving Goffman oder Pierre Bourdieu ohne weiteres zurecht finden. Auch die Argumentation einer Judith Butler könnte er in ihrer Grundannahme, dass nämlich das Geschlecht die Performanz eines sozialen Skripts ist, nachvollziehen, auch wenn er deren umstürzlerische Agenda (und Hoffnung) sicher nicht teilen würde. Was ihn aber mit höchster Verwunderung erfüllen würde, wäre die Vorstellung, Männer seien, in John Grays berühmt gewordener Formulierung, vom Mars und Frauen von der Venus (vgl. Gray 1992).
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7 | Neben Rousseau bildet daher auch Gregory den Hauptangriffspunkt ihrer Kritik. Vgl. zum Beispiel Wollstonecraft 1994: 87, 94 f., 98, 171-175. 8 | Vgl. Darby 2000 zur Kontinuität der Positionen in Benimmbüchern des späten 18. und des späten 20. Jahrhunderts.
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Geschlecht(lichkeiten) in aktuellen Konfliktfeldern
Die Re- und De-Naturalisierung der Geschlechterdichotomie Intersexualität zwischen Medizin und Menschenrechten Angelika von Wahl
»This belief in two distinct sexes is an example of a concept so patently obvious and ›natural‹ to most people that pointing to its historicity, and thus to its inherent unnaturalness, proves confounding, even incomprehensible to many.« (Karzakis 2008: 31)
E inleitung Was meinen wir, wenn wir über die Naturalisierung der Geschlechterbinarität sprechen? Dekonstruktivistische Denkansätze implizieren, dass das Geschlecht Ergebnis sozialer und kultureller Prozesse ist. Soziale Prozesse und nicht biologische Eindeutigkeit erlauben es uns, eine zweigeschlechtliche Unterscheidung zwischen Männern und Frauen zu postulieren. Diese sozial konstruierte Binarität wird kulturell, politisch und ökonomisch in alle Lebensbereiche eingeschrieben und vergesellschaftet. Solche dichotomen Ordnungsprozesse werden extrem deutlich, wenn man den Umgang der Medizin und Politik mit intersexuellen Menschen analysiert. Im Folgenden geht es um gesellschaftliche Prozesse der medizinischen und politischen Re- und De-Naturalisierung intergeschlechtlicher Körper, die in einem System der Zweigeschlechtlichkeit stattfinden. Die Inhalte und Grenzen der Zweigeschlechtlichkeit werden durch eine Analyse der widerstreitenden Positionen zur Bedeutung, Verortung und Konsequenz von Intersexualität verständlich. Gegenstand dieses Kapitels ist der gesellschaftliche Aushandlungsprozess der Kategorisierung eines als medizinisch uneindeutig angesehenen biologischen Geschlechts. Traditionelle Annahmen zur Zweigeschlechtlichkeit sehen in etwa so aus: • Es gibt zwei und nur zwei Geschlechter. • Das Geschlecht einer Person bleibt immer das gleiche.
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• Genitalien sind das essentielle Zeichen des Geschlechts. • Ausnahmen zur Zweigeschlechtlichkeit kann man nicht ernst nehmen. • Jeder muss Mitglied entweder der männlichen oder weiblichen Kategorie sein. • Die weiblich/männliche Dichotomie ist eine natürliche. • Zweigeschlechtlichkeit basiert auf normaler Sexualität, das heißt Heterosexualität. (Beispiele vgl. Preves 2003: 17; Hark/Villa 2015: 36) Generationen von Wissenschaftler*innen haben sich an der Festlegung des biologischen Geschlechts abgearbeitet und unterschiedliche Indikatoren als ausschlaggebend für die Zuschreibung des weiblichen oder männlichen Geschlechts angesehen. Über die Jahrhunderte haben medizinische Theoreme folgende unterschiedliche Indikatoren als primär und ausschlaggebend für die Geschlechtsausprägung angesehen: Keimdrüsen/Gonaden (19. Jahrhundert), Hormone (19. und 20. Jahrhundert), Gene (20. Jahrhundert), äußere Geschlechtsmerkmale (frühe Neuzeit und 1950er-Jahre für inter*) und Botenstoffe, die Gene aktivieren (20./21. Jahrhundert) (vgl. dazu im Einzelnen Klöppel 2010; Gregor 2015). Intersexuelle (oder intergeschlechtliche) Menschen selbst haben keinen Einfluss auf die Taxonomie ihrer eigenen Körper nehmen können. Dies ist besonders problematisch, weil die westliche Medizin in den 1950er-Jahren die Praxis entwickelte, als ›uneindeutig‹ markierte hermaphroditische Charakteristika durch operative Eingriffe schnellst möglich aus der Welt zu schaffen. Diese ›Korrekturen‹ an intergeschlechtlichen Neugeborenen und Kindern werden seitdem in vielen Industriestaaten routinemäßig vorgenommen. Die Ausübung der operativen ›Vereindeutigung‹, die an der Johns Hopkins Universität in Baltimore entwickelt wurde, basiert auf dem Gedanken, dass jedwede geschlechtliche Ambivalenz durch genitale und hormonelle Anpassung des kindlichen intersexuellen Körpers an die Zweigeschlechtlichkeit vermieden werden kann und muss (siehe unten). Mit dieser klinischen Praxis begann die quasi-zwanghafte medizinische Re-Naturalisierungen intergeschlechtlicher Körper, die wie alle Körper einer Doktrin der sexuellen Differenz unterworfen sind, aber als pathologische Abweichung von der Norm interpretiert werden. Dieses klinische Paradigma interpretiere ich hier als eine Form der zwangsweisen ›Re-Naturalisierung‹, das heißt als eine Strategie der Anpassung des intergeschlechtlichen Körpers an eine sozial konstruierte Norm des Naturzustandes, definiert als ›natürlich‹ aussehende Geschlechtsmerkmale. Dieses Kapitel leitet die Idee der Re- und De-Naturalisierung des Geschlechts von der diskursiven und substantiellen Konstruktion der Intersexualität ab. Wie kommt es, dass ein natürlich auftretendes Phänomen, nämlich die Tatsache, dass manche Neugeborene mit uneindeutigen Geschlechtsorganen zur Welt kommen, als unnatürlich angesehen wird und mehr noch als notwendigerweise veränderungswürdig? Welche Diskurse und Techniken liegen der Praxis der präventiven
Die Re- und De-Naturalisierung der Geschlechterdichotomie
›Vereindeutigung‹ in der Genitalchirurgie zugrunde? Wie haben intersexuelle Menschen in den letzten Jahrzehnten auf diesen medizinisch dominierten Diskurs und die damit einhergehenden Eingriffe politisch reagiert? Welche akteurs-zentrierten und institutionellen Veränderungsmöglichkeiten durch lokale, nationale und transnationale Vernetzung haben sich in diesem politischen Prozess aufgetan? Das folgende Kapitel will aufzeigen, wie die Basis der Geschlechterbinarität, hier verstanden als körperlich-biologische Differenz zwischen Männern und Frauen, im Fall intersexueller Menschen durch medizinisch-soziale Diskurse und Eingriffe hergestellt (re-naturalisiert) und mittlerweile von intergeschlechtlichen Aktivist*innen aktiv und kritisch dekonstruiert (de-naturalisiert) wurde. Die politisch wirksame Infragestellung der laufenden Behandlungspraxis durch intergeschlechtliche Akteur*innen zeugt von dem wachsenden Zweifel an einer klaren biologischen Geschlechterdichotomie. Dieser Trend ist bemerkenswert, da rechtliche und politische Debatten zur Einordnung trans- und intersexueller Menschen in das Paradigma einer biologischen Unmissverständlichkeit unserem Verständnis von Natürlichkeit widersprechen und erst seit Kurzem öffentlich geführt werden. Ich stelle zunächst die Genese des medizinischen Diskurses zur Intersexualität dar und dann den sich in den letzten zwei Jahrzehnten formierenden Gegendiskurs gegen den Normalisierungsanspruch der Medizin. Dann wird skizziert, wie intersexuelle Akteur*innen das medizinische Paradigma der Zweigeschlechtlichkeit in Deutschland zum ersten Mal erfolgreich in Frage gestellt haben. Hier ist theoretisch und politisch interessant, welche Mittel und Wege sie gefunden haben, um ihr Anliegen zu politisieren, denn sie sind nicht nur innenpolitisch aktiv, sondern nutzten dabei strategisch und kreativ die Nischen und Zugänge im Mehrebenen-System globaler Institutionen wie der UN und internationale Verträge, die sich mit zentralen Menschen- und Körperrechten befassen. Insbesondere haben intersexuelle Akteur*innen den tief verankerten Menschenrechtsdiskurs der körperlichen Selbstbestimmung als Gegendiskurs zum medizinischen Paradigma der Normalisierung und Korrektur erkannt und weiterentwickelt. Dieser Gegendiskurs problematisiert und politisiert weit verbreitete pathologisierende Sichtweisen, Ausschließungen und Behandlungspraxen und setzt dagegen auf den Schutz und die Natürlichkeit intergeschlechtlicher Körper. Wie ich an anderer Stelle zeige, rekurriert dieser normative Gegendiskurs aktiv auf internationale Menschen- und Körperrechte und zeigt ihre Wirkung im deutschen Recht und in deutscher Politik durch den sogenannten Bumerang Effekt (vgl. von Wahl 2017). Die Anwendung des internationalen Menschenrechtsdiskurses auf die Situation intergeschlechtlicher Menschen nutzt neben dem Mehrebenen-System akteurszentrierte Mechanismen, wie das von Keck und Sikkink beschriebene »boomerang pattern« (vgl. Keck/Sikkink 1998). Als Bumerang-Effekt wird die Strategie von sozialen Bewegungen und NGOs bezeichnet, in internationalen Beziehungen durch das Mehrebenen-System Druck von außen und oben auf andere Staaten auszuüben. Dies kann aber hier nur funktionieren, wenn die sozialen Akteur*innen vor-
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her einen Weg finden, das dominante Framing eines Themas effektiv zu kritisieren (vgl. Snow/Benford 1988; Kriesi 1996). In Deutschland öffnete die Mobilisierung intersexueller Menschen institutionelle Möglichkeitsstrukturen und ebnete dem 2013 unter der CDU/FDP-Regierung überraschend und einstimmig reformierten Personenstandsrecht den Weg. Dort wurde zum ersten Mal das Offenlassen des Geschlechtseintrags bei intersexuellen Neugeborenen erlaubt und damit der herrschende medizinische Diskurs durch rechtliche Regelungen in Frage gestellt. Seitdem gibt es neben dem Eintrag männlich oder weiblich eine weitere Option: Sie besteht in der Vorgabe, bei intergeschlechtlichen Kindern den Eintrag offen zu lassen also weder weiblich noch männlich einzutragen. Paragraph 22, Absatz 3 des Personenstandsrechts lautet nun: »Kann das Kind weder dem weiblichen noch männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.« (Personenstandsrecht 2013) Mit dieser Reform ist eine weitere Option und geschlechtliche Variation entstanden, nämlich das Offenlassen bisheriger verpflichtender Geschlechterkategorien. Diese Reform spiegelt die spezifischen politischen Möglichkeitsstrukturen für eine Einführung von Geschlechtervarianz in Deutschland wider. Innerhalb dieser Strukturen haben sich intersexuelle Menschen und zivilgesellschaftliche Akteur*innen sowie politische Parteien mobilisiert. Wie diese rechtliche Veränderung für Macht- und Politisierungsprozesse einzuordnen ist und inwiefern sie die traditionelle Geschlechterdichotomie mit einem Projekt der Geschlechtervarianz unterläuft, wird im Fazit dargestellt. Meines Erachtens wirft die Reform einerseits neue Fragen auf und erlaubt gleichzeitig die mögliche Entstehung neuer geschlechtsrelevanter Subjekte, Identitäten und Positionen, die in Zukunft politische Relevanz erlangen können.
O hne G ewähr : G rundbegriffe und D aten zur I ntergeschlechtlichkeit Neugeborene und Kinder, die nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden können, werden als »intersexuell« kategorisiert. In der Vergangenheit wurden Begriffe wie Hermaphrodit oder Zwitter verwendet, heute intersexuell, intersex, intergeschlechtlich, inter* oder DSD (Disorder of Sex Development oder Difference of Sex Development). Intersex oder DSD sind ungenaue Sammelbegriffe, die weder eine sexuelle Orientierung noch eine spezielles Symptom bezeichnen, sondern breit gefächerte medizinische Syndrome. Intergeschlechtlichkeit kann sich durch verschiedene Kombinationsmöglichkeiten von Hormonen, Gonaden, Chromosomen, äußeren Geschlechtsmerkmalen sowie verschiedenen sexuellen wie auch mentalen Geschlechtsidentitäten ausdrücken: Menschen mit einem äußerlich weiblich erscheinenden Körper aber mit einem XY-Chromosomensatz – im Fall von Androgen Insensitivity Syndrome (AIS) – oder Personen mit XXY-Chromosomen
Die Re- und De-Naturalisierung der Geschlechterdichotomie
(Klinefelter-Syndrom), Turner-Syndrom (nur ein X) und so weiter. Selbst ein erhöhter Testosteronspiegel bei Frauen kann in der Medizin als zu behandelnde Störung angesehen werden, was aber stark umstritten ist. Viele Menschen, die eine intergeschlechtliche Variation haben, wissen selbst als Erwachsene nichts davon. Von allen Fällen stellt nur das klassische CAH (Congenital Adrenal Hyperplasia, Überproduktion von Androgen und kein Kortisol) einen sofort zu behandelnden Notfall dar. Wie viele intergeschlechtliche Menschen gibt es in Deutschland? Dies ist eine offene Frage, da man sich erstens über die Definitionen von inter* uneins ist und zweitens alle Neugeborenen weder diagnostiziert noch behandelt werden. Im deutschen Bundestag sprach man 2013 von etwa 150 bis 340 Säuglingen im Jahr, die mit nicht eindeutigen äußeren Geschlechtsmerkmalen geboren werden. Andere argumentieren, dass zwischen 1,7 und 2 Prozent aller Kinder intersexuell sind und etwa 0,1 und 0,2 Prozent (in den USA) Genitaloperationen unterzogen werden (vgl. Blackless et al. 2000). Möglicherweise leben in Deutschland zwischen 80.000 und 120.000 als intergeschlechtlich klassifizierte Menschen (vgl. Intersexuelle Menschen e.V. 2008). Bei einer Fachtagung 2015 verglich die Parlamentarische Staatssekretärin des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen, und Jugend, Caren Marks, die Häufigkeit der Erscheinung sogar mit dem Auftreten von natürlicher Rothaarigkeit (vgl. BFSFJ 2015: 6). Es ist aber theoretisch nicht relevant, ob es sich um 1/2000 oder 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung handelt, sondern es geht um die Tatsache, dass es diese Gruppe in der klinischen Realität gibt, sie aber theoretisch und rechtlich in einem System der Zweigeschlechtlichkeit nicht denkbar ist und daher nicht existieren kann und darf. Mit der Reform des Personenstandsrechts ist nun Bewegung in die staatlich verordnete Geschlechterbinarität und die lange unbestrittene Vormachtstellung des medizinischen Diskurses gekommen.
Theoretische Ü berlegungen – P olitische Verschiebungen Wie hat sich die politische Theorie zum Thema Intergeschlechtlichkeit geäußert? Wie wird dort die Naturalisierung des Geschlechts verhandelt, insbesondere die Re-Naturalisierung intersexueller Menschen durch die Medizin und sich formierende Gegendiskurse der De-Naturalisierung? Und was kann die Beschäftigung mit dem Phänomen der Intersexualität zu unserem breiteren Verständnis der Großkategorie Geschlecht beitragen? Seit Mitte des 20. Jahrhunderts haben die Geschlechterstudien das Soziale, das heißt das inhärent Unnatürliche der Geschlechterdichotomie thematisiert. Schon Simone de Beauvoir stellte 1949 fest: »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.« (de Beauvoir 1949/1980) Aufbauend auf dieser Idee, dass Geschlecht eine zeitlich, räumlich und sozial variable Kategorie ist, hat es sich der Feminismus gegen alle Widerstände herausgenommen, naturalisierte Oppositionen von Män-
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nern und Frauen zu dekonstruieren, ihre Hierarchisierung zu kritisieren und verschiedene Gegenvisionen einer geschlechtergerechten Gesellschaft zu entwerfen. Der US-amerikanische Begriff ›Gender‹, der Ende der 1980er-Jahre Einzug in die Sozialwissenschaften fand, hat den breiten Gebrauch von sozialem Geschlecht als Analysekategorie inspiriert (vgl. Scott 1986). In Judith Butlers Klassiker Gender Trouble ist dann nicht nur das soziale, sondern auch das biologische Geschlecht (›sex‹) kulturell überformt und sozial konstruiert (vgl. Butler 1990). Sie prägte die Konzepte der ›heterosexuellen Matrix‹ und des ›doing gender‹. Ihr Verständnis von ›Gender‹ propagiert eine Absage an ein »kollektives ›Frauen-Wir‹« (von Braun/Stephan 2000: 64) und argumentiert, dass die »Relation zwischen sex und gender keine ontologische, sondern eine diskursive ist« (ebd.: 66). In ihrem Werk Undoing Gender (2004) befasst sich Butler auch tiefergehend mit der Intersexualität. Sie legt dar, dass damit das Undenkbare und Unlesbare markiert wird, weil es jenseits der paradigmatischen Binarität der Geschlechter existiert und außerhalb der menschlichen Form steht (vgl. Butler 2004). Wird das Menschsein durch die Zweigeschlechtlichkeit definiert, ist die Wirkung für intergeschlechtliche Menschen Ausschluss und Verwerfung. Gibt es in diesem Diskurs dann überhaupt Handlungsspielräume für intersexuelle Menschen und wenn ja welche? Antke Engel argumentiert, dass intergeschlechtliche Menschen im »Toleranzpluralismus« westlicher Gesellschaften in der Lage sein können sollten, einen »Subjektstatus [zu] reklamieren« (Engel 2002: 54). Solche politischen Widerstände können laut Butler aber nur innerhalb der heterosexuellen Matrix und von ihren Rändern her stattfinden: Das heißt, sie sind die Folge eines »disruptive return of the excluded from within the very logic of the heterosexual symbolic« (Butler 1993: 12). Intersexuelle Menschen können also demnach von den Rändern der heterosexuellen Matrix her versuchen Einfluss zu nehmen; und wie ich hier zeige, repräsentiert die Reform des deutschen Personenstandsrechts von 2013 solch einen Fall. Foucault hat in seinen vielen Arbeiten gezeigt, dass Diskurse die Realität nicht abbilden, sondern hervorbringen (vgl. Foucault 1990, 2003, 2004). Dabei ist der diskursive Körper der Schnittpunkt von Wissen, Macht und Sprache, wo Denkmuster und Vorstellungen des Natürlichen und des Menschseins hergestellt werden. Die gesellschaftlichen Gruppen, die ihre Definition des normalen Körpers durchsetzen, bestimmen den Rahmen gesellschaftlicher Interpretationen und damit auch die Grenze zu dem, was als nicht normal angesehen wird. Welche Institutionen besitzen die Definitionsmacht, intergeschlechtliche Körper als normal/unnormal und natürlich/unnatürlich zu kategorisieren? Dies ist seit der Aufklärung die Domäne der Medizin, denn sie benennt, vermisst, verortet und kategorisiert den intergeschlechtlichen Körper. Nach Foucault schritt die Ermächtigung der Medizin zu einer angesehenen Kernwissenschaft parallel zu wissenschaftlichen Fortschritten, technischer Machbarkeit und staatlichem Regulationswillen immer weiter voran. Sie expandierte Diagnosen und Behandlungsmethoden, so dass aus intergeschlechtlichen Personen Patienten wurden. In einem modernen Diskurs der
Die Re- und De-Naturalisierung der Geschlechterdichotomie
Zweigeschlechtlichkeit produzierte die Medizin als Binnenlogik einen internen Zugzwang, intergeschlechtliche Menschen ›zurück‹ in die Geschlechterdichotomie zu holen, das heißt sie intelligibel und damit gesellschaftsfähig zu machen. Allerdings sind diese medizinischen Diskurse selbst nicht ganz kohärent und es gibt historische Brüche, wissenschaftliche Widersprüche und mittlerweile auch politische Gegendiskurse, die Handlungsmöglichkeiten innerhalb bestimmter Grenzen erlauben. So wird das medizinische Machbarkeitsdenken seit etwa zwei Jahrzehnten von intersexuellen Menschen und ihren Selbsthilfegruppen, die begonnen haben, sich gegen ihr subjektives Grenz- und Nichtdasein zu wehren, heftig kritisiert. Im Fall der Intersexualität, wo es bei Neugeborenen um die konkrete operative Umgestaltung ihres menschlichen Körpers geht, also einer zwangsweisen Re-Naturalisierung, muss die substantielle oder materielle Dimension mitgedacht werden. Das konstruktivistische Mantra, dass alle Erklärungsmodi sich allein auf Sprache und Abstraktionen zu beziehen haben, stößt deshalb bei intersexuellen Menschen mit ihren klinischen Erfahrungen am lebendigen Leibe auf Unverständnis, Misstrauen und Ablehnung. Man kann empirisch nachverfolgen, wie sich in Deutschland und den USA soziale Bewegungen der routinemäßigen ›Korrektur‹ nicht eindeutiger Geschlechtskörper entgegen gestellt haben (vgl. Karzakis 2008; Zehnder 2010; von Wahl 2017). Aber Widerständigkeit ist sehr mühsam in einem derart auf Ein- und Ausschluss ausgerichteten Diskurs. Nur ein gewichtiger Gegendiskurs kann die hier auf Binarität basierende medizinische Definitionsund Regulationsmacht überhaupt herausfordern.
D as historische Verschwinden des uneindeutigen G eschlechts Die Geschlechterdichotomie ist in Europa in unterschiedlicher und weitreichender Form als rechtliche, religiöse und soziale Kategorie verwurzelt. Ulrike Klöppel zeigt, dass sich über die Jahrhunderte das Verständnis der Intersexualität dramatisch veränderte und sich nicht von anderen sozialen, epistemologischen und politischen Prozessen trennen lässt (vgl. Klöppel 2010: 231). Die Definition, symbolische Bedeutung und der Inhalt der Zweigeschlechtlichkeit haben immer wieder stark variiert. Bezogen auf unser Erkenntnisinteresse frage ich in diesem Abschnitt nach dem Ursprung und der Wirkung eines diskursiven Verdrängungsprozesses, der der heutigen medizinischen Behandlungspraxis des chirurgischen und medikamentösen Eingriffs den Weg ebnete. Dies kann hier allerdings nur in aller Kürze skizziert werden. Trotz positiver Konnotationen von Hermaphroditen in der griechischen Antike hat die Forschung überwältigend dargelegt, dass Intersexualität generell negativ besetzt war (vgl. Foucault 2003; Klöppel 2010; Reis 2009). Im europäischen Mittelalter waren Tötungen von intersexuellen Menschen keine Seltenheit, da sichtbare körperliche Abweichungen von der Norm als Folge schwerer Sündenfälle gedeutet
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wurden: »[F]rom the Middle Ages to the sixteenth century, and until at least the start of the seventeenth century, hermaphrodites were considered monsters and were executed, burnt at the stake and their ashes thrown to the winds.« (Foucault 1975/2003: 67) Zu Beginn der Aufklärung war man sich nicht sicher, ob »ein Zwitter eine Abweichung von den gewöhnlichen Regeln, oder ein Spielwerk der Natur... sey wie andere Leute auch« (Burghart zitiert und kursiv in Klöppel: 218). Um dieser Frage nachzugehen, stellte sich die Medizin als neuer Diskurs in unterschiedlicher Weise zur Verfügung. Das Heranziehen der Medizin zur Feststellung des Geschlechts, der Ehetüchtigkeit und besonders des Erbrechts öffnete neue Wege, ein nicht eindeutiges Geschlecht jenseits von religiösen Sündenfällen und Strafen zu verstehen (vgl. Klöppel 2010: 232f.). Mit der Aufklärung erstarkte die Vorstellung, dass die Welt empirisch zu erforschen sei. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts befasste sich die Medizin daher vermehrt mit der Klassifikation tatsächlicher Fälle. Das sich formierende Paradigma zur Intergeschlechtlichkeit bestand darin, das Vorkommen sogenannter ›echter‹ Hermaphroditen abzulehnen. Es wurde nun angenommen, dass selbst Menschen mit einem äußerlich uneindeutigen Geschlecht tatsächlich entweder dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeordnet werden könnten (vgl. Klöppel 2010: 163ff.). Das Modell der strikten Geschlechterdichotomie wurde so zum Naturgesetz erklärt. Allerdings waren die wissenschaftlichen Möglichkeiten der Medizin sehr begrenzt, so dass individuelle und damit subjektive ›Neigungen‹ zu einem bestimmten Geschlecht Berücksichtigung bei den Ärzten erfuhren. Dementsprechend zeigt ein historischer Überblick, dass sich eine ausschließliche Zweigeschlechtlichkeit im Recht sogar erst im späten 19. Jahrhundert in Deutschland entwickelte. Im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 gab es dagegen sogenannte ›Zwitterparagraphen‹, die etwa 100 Jahre lang existierten.1 Mit dem 1871 neu gegründeten Nationalstaat wurden auch biopolitische Ziele verfolgt und 1875 ein einheitliches deutsches Personenstandsrecht eingeführt. Mit diesem nationalen Gesetz begann die zentralisierte Registrierung und Kategorisierung aller Einwohner durch Angaben zum Geburtsdatum, Geschlecht, Ehestand, Tod usw., so dass die ältere Rechtsform der Geschlechtsvariationen, die sich in den ›Zwitterparagraphen‹ niedergeschlagen hatte, verdrängt wurde. Anders als der preußische Vorläufer kannte das erste nationalstaatliche Gesetz des Deutschen 1 | Dort wurde folgendes festgestellt: »§. 19. Wenn Zwitter geboren werden, so bestimmen die Aeltern, zu welchem Geschlechte sie erzogen werden sollen. §. 20. Jedoch steht einem solchen Menschen, nach zurückgelegtem achtzehnten Jahre, die Wahl frey, zu welchem Geschlecht er sich halten wolle. §. 21. Nach dieser Wahl werden seine Rechte künftig beurtheilt. §. 22. Sind aber Rechte eines Dritten von dem Geschlecht eines vermeintlichen Zwitters abhängig, so kann ersterer auf Untersuchung durch Sachverständige antragen. §. 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet, auch gegen die Wahl des Zwitters, und seiner Aeltern.« (Allgemeines Landrecht für Preussiche Staaten, Neue Ausgabe (1804): Erster Teil, Erster Band. Hg. Gottfried Carl Nauck)
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Reiches und später das BGB (1900) keine Ausnahmen oder Variationen mehr, sondern nur noch zwei Geschlechter: männlich und weiblich. Im 19. Jahrhundert schritt die Verwissenschaftlichung und Ausdifferenzierung der Medizin rasant voran. Mit ihr wuchs ihre gesellschaftliche Autorität und Vormachtstellung als letztendliche Entscheidungsinstanz in Sachen Geschlechterklassifikationen. Das 19. Jahrhundert wird in der wissenschaftlichen Literatur auch als ›Zeitalter der Gonaden‹ beschrieben, das heißt als eine Ära, in der die Medizin die Frage nach der richtigen Methode zur Feststellung des Geschlechts durch das Vorhandensein von Keimdrüsen beantwortete (vgl. Dreger 1998). Konnten Eierstöcke identifiziert werden, handelte es sich um eine Frau, während Hoden das männliche Geschlecht auswiesen. Der Nachteil dieser Sichtweise in empirischer Hinsicht lag darin, dass die Medizin oft nur nach dem Ableben und durch Obduktion erkennen konnte, wie intergeschlechtliche Keimdrüsen tatsächlich beschaffen waren. Im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden aber jenseits der Dichotomie von männlich und weiblich auch immer wieder Vorschläge für weitere Geschlechtsvariationen vorgenommen, zum Beispiel in Form von Additionen, Skalen, Typologien usw. Allerdings waren sie nie Teil des Rechtssystems, sondern eher akademische Thesen und Provokationen. Geführt wurden auch intensive Diskussionen unter Psychologen, der ersten Generation der Sexualwissenschaftler und frühen Aktivist*innen der Homosexuellenbewegung über ein sogenanntes ›drittes Geschlecht‹ (vgl. Ulrichs 1865; Hirschfeld 1904/1991). Dieses dritte Geschlecht wurde unterschiedlich konzeptualisiert: Es konnte zwischen weiblich und männlich liegen oder beides gleichzeitig oder aber neutral sein. Die Begriffe ›sexuelle Zwischenstufen‹ und ›Geschlechtsübergänge‹ tauchten ebenfalls im späten 19. Jahrhundert auf, sind aber keine exakten Vorläufer der Intersexualität. Es handelt sich dabei eher um Beschreibungen für sexuelle Orientierungen oder Verhaltensformen von Trans- und Homosexuellen, die auch als ›drittes Geschlecht‹ bezeichnet wurden (vgl. Whisnant 2016: 28). Deutlich wird durch die Lektüre, dass diese Varianzen und Pathologien zeitgleich durch die noch neuen Sexualwissenschaften konstruiert wurden und daher Kategorien und Begrifflichkeiten sehr im Fluss bzw. widersprüchlich waren. Nichtsdestotrotz wird deutlich, dass zwar an der Natürlichkeit der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit gerüttelt, die Debatte aber immer in diesem diskursiven Rahmen ausgetragen wurde.
R e -N aturalisierung des intersexuellen K örpers Der Begriff ›Intersexualität‹ wurde 1915 von dem deutschen Biologen und Genetiker Richard Goldschmidt geprägt und ähnelt der Idee der Zwischenstufen bei Hirschfeld (vgl. Goldschmidt 1915; auf Englisch 1917: 433). Der Begriff der Intersexualität war bis 2005 in der Pädiatrie gebräuchlich und wurde danach durch den Terminus DSD abgelöst (siehe oben). Im 20. Jahrhundert begannen Ärzte,
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die physisch-materielle Anpassung menschlicher Körper an die Zweigeschlechtlichkeit in der Praxis zu erforschen. Frühe Techniken der Geschlechtsanpassung an Erwachsenen wurden zunächst an sogenannten Transvestiten unternommen. Die erste Operation fand 1922 statt, eine weitere 1931 an Dora Richter und ebenso mehrere Operationen in den 1930er-Jahren an der Dänin Lili Elbe (vorher Einar Magnus Andreas Wegener). Lili Elbes Lebensgeschichte wurde durch den Film The Danish Girl (2016) einem großen Publikum bekannt. Diese Operationen wurden von progressiven Anführer*innen der modernen Sexualbewegung, wie etwa Magnus Hirschfeld, unter der Ägide eines toleranten Menschenbildes ausgeführt. Ich erwähne diese frühen Eingriffe an sogenannten Transvestiten aus zwei Gründen: Erstens verdeutlichen sie die Macht eines Diskurses, in dem körperliche und psychologische Ausprägungen zwingend identisch sein mussten, das heißt in einem männlichen Körper musste auch der Identität nach ein Mann stecken. Zweitens, wenn sich dieses Diktum nicht erfüllte, waren zu diesem Zeitpunkt schon einige Spezialisten willens, wenn auch nicht unbedingt fähig, den Körper durch Operationen an die psychisch-soziale Identität anzupassen. Eingriffe dieser Art wurden auch an intersexuellen Menschen vorgenommen, allerdings nicht an Neugeborenen oder Kindern (vgl. Klöppel 2010: 281f.). Ein breites Umdenken in der Behandlung begann in den 1950er-Jahren in den USA: Es verbreitete sich in einigen Forschungsinstitutionen die Vorstellung, dass es unabhängig vom biologischen Geschlecht ein formbares soziales Geschlecht gäbe. Darauf berufend entwickelte sich eine positive Bewertung operativer Eingriffe an intersexuellen Neugeborenen und Kindern. Diese radikale Verschiebung begründete sich auf mehreren Annahmen, die auf der Forschung des Psychologen John Money beruhten. Money prägte das moderne Konzept der gender role und den Begriff gender identity und unterstrich in seinen hunderten von Publikationen die Unterscheidung von Biologie und Kultur, die nach Erachten der Mediziner durch Genetik, Embryologie, Endokrinologie, Psychologie und Anthropologie ermöglicht wurde. Während die Medizin im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Gonaden, also Hoden und Eierstöcke, als ausschlaggebend für die Geschlechtszugehörigkeit angesehen hatten, entwickelten Ärzte an der Johns Hopkins Universität in Baltimore unter der Führung von Money eine neue Theorie, die besagte, dass das äußerlich sichtbare Geschlecht aufgrund der Relevanz der gender role ausschlaggebend für die Zuweisung eines intersexuellen Kindes sein sollte (vgl. Karkazis 2008). Das äußerlich sichtbare Genital müsse mit dem sozialen Geschlecht übereinstimmen, weil Kinder sonst schwer unter ihrer Uneindeutigkeit zu leiden haben würden, sei es in der Familie, auf dem Schulhof oder in späteren Liebesbeziehungen. Intersexuelle Körper sollten schon früh und ausgehend von medizinisch-technischen Innovationen wie Genitaloperationen ›korrigiert‹ werden. Die Medizin sah sich zum ersten Mal in der Lage, dem vermuteten Stigma der Intergeschlechtlichkeit gleich nach der Geburt präventiv abzuhelfen. Das heißt, intergeschlechtliche Menschen sollten durch medizinische Interventionen schon
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vor dem Auftauchen möglicher Diskriminierungen in das dominante System der Zweigeschlechtlichkeit hineingepasst werden. Alles Weitere würde dann das System der gender roles regulieren. Dies sollte durch einen Prozess der sogenannten ›Vereindeutigung‹ passieren, und zwar schon kurz nach der Geburt, da man nun glaubte, dass das soziale Geschlecht zwischen der Geburt und dem zweiten Lebensjahr fast nach Belieben bestimmt werden könne (die sogenannte Time-Window-Theorie) (vgl. Veith et al. 2010: 15). Frühe Eingriffe wurden daher als beste Antwort auf die geschlechtliche Ambivalenz und die mögliche Stigmatisierung des heranwachsenden Kindes angesehen. Seit den 1950er-Jahren wurde damit das biologische Geschlecht vermehrt nicht nur sozial hergestellt und kulturell ins Leben gerufen, sondern durch medizinische Eingriffe in seiner Materialität verändert. Diese grundsätzliche Verschiebung in Forschung und Lehre entwickelte eine diskursive und substiantielle Praxis der ›optimalen Behandlung‹ von intergeschlechtlichen Neugeborenen und Kindern, die sich von den USA aus international verbreitete. Es entwickelten sich eine Vielzahl von Standards und Behandlungsmethoden, um diese Vereindeutigung des biologischen Geschlechts zu erreichen. Dazu mussten Standards des ›normalen‹ weiblichen oder männlichen Körpers erstellt werden. Die nach dem Direktor des Züricher Kinderspitals Prof. Andrea Prader benannte Prader Skala besagte zum Beispiel, dass der Penis eines Neugeborenen als zu klein angesehen wurde, wenn er kürzer als 2,5 cm war. Dann wurde unter Umständen gefragt, ob dieser ganz entfernt werden solle (vgl. zum Beispiel Dreger 1999: 12). Das männlich geborene Kind sollte nach dieser Lehre lieber als Mädchen aufgezogen werden. Hoden, die im Bauchraum blieben, wurden entfernt, weil man Krebsgefahr vermutete, und eine künstliche Vagina wurde angelegt. Mädchen mit einer ›vergrößerten‹ Klitoris sollte diese entfernt werden. Entscheidend war operativ die Zweigeschlechtlichkeit mit dem Ziel, heterosexuellen Geschlechtsverkehr ausführen zu können. Viele andere Formen von Operationen und Hormonbehandlungen wurden entwickelt um innerhalb einer zweigeschlechtlichen Logik ein möglichst ›normales‹ körperliches Erscheinungsbild des Kindes zu garantieren. Diesen Eingriffen unterlag die früh-konstruktivistische These, dass das Geschlecht eine ›soziale Rolle‹ ist, die unabhängig vom biologischen Geschlecht existiert und erlernt werden kann. Die bahnbrechende Vorstellung eines erlernten, das heißt sozialen Geschlechts, die im Feminismus so eine zentrale Bedeutung errungen hat, wurde erstaunlicherweise die Voraussetzung für chirurgische Eingriffe zur Normalisierung des Genitals bei intersexuellen Neugeborenen und so in den Dienst des Machbarkeitsdenkens der Medizin gestellt. Das Behandlungskonzept aus Baltimore besagte darauf aufbauend, dass Eltern ihre Kinder streng in das neue Geschlecht hinein sozialisieren sollten, damit sie sich dort eindeutig heimisch fühlen konnten. Damit dies gelänge, wurden Vornamen, Wohnorte und Schulen geändert; wenn möglich waren Eltern aufgefordert die Tatsache der Operationen vor ihren Kindern geheim zu halten. Sicherlich muss man annehmen, dass die be-
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teiligten Ärzte davon ausgingen, das ethisch Richtige zu tun (vgl. Dreger 1999): Sie wollten dem Kind das Stigma der Intersexualität ersparen, aber zu welchem Preis? In Zahlen schlägt sich die Wirkung dieser Vereindeutigungs-Lehre der Re-Naturalisierung so nieder: Obwohl nur etwa 5 Prozent der Neugeborenen eine Operation aus nicht-kosmetischen Gründen benötigen, wurden bis 2011 in Deutschland 87 Prozent aller intersexuellen Kinder (bis zum 12. Lebensjahr) weiterhin operiert und zwangszugewiesen (vgl. Deutscher Ethikrat 2012). Viele inter* Menschen sind zeitlebens aufgrund eben dieser nicht zwingend notwendigen Eingriffe, wie Sterilisierung und Kastrationen, von Hormonbehandlungen abhängig. Intersexuelle Erwachsene sind oft schwerbehindert, können keiner Arbeit nachkommen und leiden unter sozialer Isolation, Traumata, Depressionen und Suizidgedanken (vgl. Veith et al. 2008).
M enschenrechte und die M obilisierung des G egendiskurses In den letzten zwanzig Jahren haben sich mit dem Erwachsenwerden der ersten Patient*innengeneration und Verbreitung des Internet Selbsthilfegruppen von intergeschlechtlichen Betroffenen und Angehörigen gegründet, die sich entweder als Vereine für und von Patient*innen bestimmter intergeschlechtlicher Ausprägungen oder als politische Gruppen entwickelt haben. Diese geben Rundbriefe heraus, schreiben Blogs, organisieren lokale, nationale und transnationale Treffen im deutschsprachigen Raum und informieren sich untereinander über politische, soziale, juristische und medizinische Entwicklungen. Obwohl die Gruppen eine große Bandbreite an Forderungen und unterschiedlichen Identitäten repräsentieren, gilt als gemeinsames und oberstes Ziel die Beendigung routinemäßiger operativer Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern. Viele Organisationen, wie XY-Frauen, Intersexuelle Menschen e.V. oder Zwischengeschlecht.org, sind auch am Zugang zu selbstbestimmter medizinischer Versorgung sowie rechtlicher und sozialer Anerkennung interessiert. Um politisch gehört zu werden, müssen diese Vereine und Gruppen aber den bisherigen dominanten ›Frame‹ der notwendigen medizinischen Korrektur von intersexuellen Körpern, die per se als ›krank‹ angesehen werden, überzeugend ändern. Dies impliziert, der Medizin die absolute Definitionsmacht über die Bestimmung des Geschlechts streitig zu machen – ein Anliegen, das einer Davidgegen-Goliath-Situation gleichkommt. Eine erfolgreiche soziale Bewegung muss weiterhin Zugang zu politischen Entscheidungsträger*innen und Institutionen erlangen, um ihr Anliegen umzusetzen. Wie ich im Folgenden skizzieren werde, hat diskursiv der Frauen- und Menschenrechtsdiskurs als eine Basis für dieses ›Re-Framing‹ gedient und institutionell eine ausgeklügelte und beachtenswerte Mehrebenenstrategie den Zugang zu politischen Möglichkeitsstrukturen (political opportunity structures) erlaubt.
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Die Bundesrepublik ist global sehr eng ins internationale Vertragsnetz eingebunden und unter anderem Mitglied von verschiedenen Menschenrechtsverträgen wie CEDAW, CAT, CRC, ICCPR, ICESCR, wobei ich mich hier nur auf den ersten Vertrag konzentriere. Die UN-Konvention CEDAW (Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination Against Women) trat 1981 in Kraft und hat 189 Unterzeichnerstaaten. CEDAW eröffnet sozialen Bewegungen, die an Frauenund Menschenrechten interessiert sind, eine Reihe von Zugangs- und Einflussmöglichkeiten, denn Unterzeichnerstaaten sind dazu verpflichtet, in regelmäßigen Abständen Bericht zu erstatten und die Lage in ihren Ländern offiziell darzulegen. Zeitgleich und unabhängig vom Staat können auch zivilgesellschaftliche Organisationen Berichte einreichen. Obwohl es für kleine NGOs und Vereine in der Praxis schwierig ist, bei internationalen Institutionen ihr Anliegen vorzutragen, ist CEDAW inhaltlich für intersexuelle Themen als Anlaufpunkt denkbar, weil es sich ganz explizit internationalen Frauen- und Geschlechterfragen verschrieben hat. Weiterhin ist seit den 1990er-Jahren ein Zusammenwachsen des Diskurses zu Frauen- und Menschenrechten zu verzeichnen (vgl. Bunch 1990; Joachim 2007). So lief die erfolgreiche Frauenkonferenz 1995 in Beijing unter dem mittlerweile bekannten Motto »Women’s Rights Are Human Rights«. Seitdem sind auch umgekehrt internationale Menschenrechtsverträge vermehrt ein Schirm für die Verhandlung globaler Frauen- und Geschlechterfragen geworden, so dass Konzepte wie ›sex‹ und ›gender‹ auch in anderen internationalen Institutionen routinemäßig zur Sprache kommen und Anwendung finden. Von zentraler Bedeutung für den Erfolg eines Anliegens, das so außerhalb der rechtlichen und politischen Wahrnehmung steht, wie die Forderungen intergeschlechtlicher Menschen, ist die Konstruktion eines Gegendiskurses, der eine neue kognitive Einbettung der Anliegen der Betroffenen ermöglicht. Wie ich unten zeige, ist das Ziel der Akteur*innen, die Inhalte und Diffusion der Konzepte ›sex‹ und ›gender‹ im internationalen Recht für intergeschlechtliche Anliegen auszulegen. Ich habe die Reform des Paragraphen 22, Absatz 3 im Personenstandsrecht zurückverfolgt zu dem bei CEDAW eingereichten zivilgesellschaftlichen Alternativbeitrag des kleinen Vereins Intersexuelle Menschen e.V. und der Hamburger Gruppe XY-Frauen. Natürlich sind später im politischen Umsetzungsprozess noch andere Akteur*innen involviert, aber im folgenden Abschnitt geht es nur um die Phase der De-Naturalisierung, nämlich um die erfolgreiche Umdefinition des Diskurses zu Intergeschlechtlichkeit im internationalen Mehrebenensystem. Nach längerer Diskussion und Koordinierung mit dem Deutschen Frauenrat, der großen Schirmorganisation deutscher Frauengruppen, wurde Intersexuelle Menschen e.V. am 2. Juli 2008 einen eigenständigen Alternativbericht als Teil der deutschen Delegation beim Frauenausschuss der UN (CEDAW) einzugreichen (vgl. Intersexuelle Menschen e.V./XY-Frauen 2008). Dieser professionell erstellte und ausführliche Bericht ist so ausgelegt, dass alle Paragraphen des CEDAW-Vertrags zum ersten Mal auch auf ihre Relevanz für intergeschlechtliche Menschen
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geprüft wurden. Diese Vorgehensweise stellte eine effektive Form der accountability politics gegenüber der Bundesregierung dar, wie sie Margaret Keck und Kathryn Sikkink beschrieben haben (vgl. Keck/Sikkink 1998). Der Inhalt des Alternativberichts kann hier aus Platzgründen nur skizziert werden. So stellte er die in den Paragraphen 1-5 festgehaltenen grundlegenden Prinzipien von CEDAW dar, wie das Recht auf Gleichbehandlung und Nicht-Diskriminierung und die Pflichten von Unterzeichnerstaaten. Im Alternativbericht wurde dann von Intersexuelle Menschen e.V. die Anwendung genau dieser Prinzipien und Rechte auf ihr spezifisches, das heißt intersexuelles Geschlecht gefordert (vgl. ebd.: 9). Im Paragraph 12 von CEDAW geht es um das Recht auf Gesundheit. Bei diesem Thema gibt es besonders viele Anknüpfungspunkte, um Rechte für intergeschlechtliche Menschen einzufordern. Hier wurden die Hauptanliegen vorgebracht, die zwar nicht direkt im UN-Vertrag stehen, aber nach Ansicht des Vereins verboten sein sollten: nämlich unnötige, das heißt nicht lebenserhaltende Genitaloperationen, medizinische Experimente, genitale Amputationen, Sterilisationen und Kastrationen. Unter dem Recht auf Gesundheit wurde eine bessere Diagnostik und Behandlung sowie der Zugang zu Gesundheitsversorgung und Hormontherapie (wenn notwendig) für intersexuelle Menschen verlangt (vgl. ebd.: 11-16). Ein weiteres Thema, bei dem sich Intersexuelle Menschen e.V. einklinken konnte, ist Paragraph 16 mit dem Recht auf Ehe und Familie. Hier tritt die wichtige Frage auf, welche Art der Verpartnerung und/oder Verehelichung für intergeschlechtliche Menschen zugänglich ist? Kann und darf ein intersexueller Mensch einen Mann oder eine Frau heiraten oder beide? Oder nur eine Lebenspartnerschaft eingehen? Oder dürfen sie weder heiraten noch sich verpartnern? Dazu muss aktuell gesagt werden, dass die Frage der Verehelichung von intersexuellen Menschen auch nach dem Beschluss des Gesetzes zur sogenannten ›Ehe für alle‹ im Juni 2017 im deutschen Bundestag weiterhin ungelöst ist. Es marginalisiert intersexuelle Menschen sogar noch weiter. Denn welche Rechte werden Erwachsene unter dem »Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts« in Zukunft haben, wenn sie als Kinder als weder weiblich noch männlich registriert wurden? Die ›Ehe für alle‹ hat also noch Lücken und es steht dem deutschen Gesetzgeber weitere Arbeit ins Haus. Davon abgesehen muss festgehalten werden, dass die Vorgehensweise der Aktivist*innen im UN-Alternativbericht effektiv war, denn hier wurde eine reformerische Vorgehensweise mit radikalen Inhalten kombiniert. Die Organisation nutzte die existierenden political opportunity structures für zivilgesellschaftliche Gruppen, um ihre Anliegen als dringende Reform vorzubringen. Dass CEDAW gleichzeitig ein internationaler Vertrag ist, der sich gezielt für die Rechte von Frauen (Women) einsetzt, hat XY-Frauen und Intersexuelle Menschen e.V. nicht davon abgehalten, ihn breiter zu definieren und auch auf sich zu beziehen. Es konnte also eine Gruppe, die weder bei CEDAW noch in einem System der Zweigeschlechtlichkeit existiert, durch ihr ›Framing‹ der Rechte von Frauen auf sich und ihre
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Leidenserfahrungen aufmerksam machen. Dieses Unterfangen funktioniert, weil Frauenrechte mittlerweile im Sinne einer Geschlechterkategorie verstanden werden, das heißt analytisch aus ›women‹ ›gender‹ geworden ist. Aber es gehört eine radikale und kreative Expansion und ein ›Reframing‹ des Geschlechterbegriffs dazu, CEDAW auf inter*Personen auszuweiten. Dieses neue Framing hat davon profitiert, dass seit Beijing Frauenrechte als Menschenrechte (und umgekehrt) verstanden werden und nicht mehr begrenzt sind auf ein kleines abgetrenntes Feld spezifischer Gesetze nur für Frauen. So konstruierten die Akteur*innen gezielt eine kognitive Einbettung und Brücke in das bestehende internationale Recht: Denn intersexuelle Personen haben ein Geschlecht und sind Menschen. Die Kritik des Vereins unterstrich außerdem die fundamentalen Grundprinzipien der körperlichen Unversehrtheit und Integrität (Recht auf Freiheit wie Schutz vor Folter, Schutz vor Festnahmen und Exekution, seelische und körperliche Misshandlung etc.), die eine lange Tradition haben und im internationalen und nationalen Recht als zu schützende Kernwerte angesehen werden. Forderungen nach Umsetzung des internationalen Vertrags im Unterzeichnerstaat Deutschland können auch beschrieben werden als ein Ruf nach Integration von inter* in bestehende Anti-Diskriminierungsgesetze. Darüber hinaus kann inter* gedacht werden als ein Geschlecht neben anderen: als eine Geschlechtsvariation, so wie sie schon einmal während der Aufklärung vermutet wurde (siehe oben: Spielart der Natur) bzw. in der preußischen Rechtgebung bereits existierte. Die Forderungen nach Inklusion und Menschenrechten im Alternativbericht hinterließen bei der UN Eindruck, denn kurz darauf mahnte CEDAW in der offiziellen Evaluation die Bundesrepublik an, sich mit den Betroffenenorganisationen von trans- und intergeschlechtlichen Menschen zu treffen und einen Dialog zu beginnen. Es ist als großer Erfolg der Betroffenenorganisation zu werten, dass die UN die Bundesrepublik öffentlich für die medizinische Behandlung von Intersexuellen kritisierte und bemängelte, dass ihre Anliegen ignoriert würden. Die Bundesrepublik wurde also aufgefordert, die Menschenrechte intergeschlechtlicher Personen zu schützen. Damit hat die UN das ›Framing‹ der sozialen Bewegung von Intersexualität als politisches Problem aufgenommen und dem medizinischen Diskurs einen Dämpfer versetzt. Die UN-Kritik löste einen Bumerang-Effekt aus, so dass die Bundesregierung die Deutsche Ethikkommission des Bundestages anrief, um sich der Thematik anzunehmen. Auf nationaler Ebene setzte das viel beachtete Gutachten der Ethikkommission die Reform des Paragraphen 22 des Personenstandsgesetzes in Gang.
Fazit : G eschlechtervarianz als Z eitenwende Dieses Kapitel zeigt auf, wie die Geschlechterbinarität im Fall von intersexuellen Menschen durch medizinisch-soziale Diskurse und Eingriffe hergestellt (re-natu-
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ralisiert) und mittlerweile infrage gestellt (de-naturalisiert) wurde. Historisch hatte die Medizin die alleinige Definitionsmacht in der Kategorisierung von Geschlechtszugehörigkeit errungen, die ihr nun streitig gemacht wird. Jüngste Proteste intersexueller Menschen stellen der medizinischen Pathologisierung und Ausgrenzung einen integrativen und schützenden Menschenrechtsdiskurs entgegen. Dieser Menschrechtsdiskurs nutzt lokale, nationale und globale Diskurse und Institutionen, um Formen der Intelligibilität ohne zwanghafte Zuordnung innerhalb der Geschlechterdichotomie herzustellen. Der neue Diskurs vermenschlicht die Akteur*innen, die im Diskurs der naturalisierten Zweigeschlechtlichkeit »außerhalb der menschlichen Form« existierten (siehe oben Butler). Diese kritischen sozialen Bewegungen haben wichtige Impulse für die Problematisierung des Natürlichkeit-durch-Technik-Gedankens losgetreten, durch den die Medizin im 20. Jahrhundert ihre Autorität zum Eingriff in den intersexuellen Körper erlangt hatte. Als politisches Ergebnis ist das neue Personenstandsrecht ein Reformkompromiss, und die Reaktionen von Betroffenen reichen von großer Enttäuschung bis hin zu Optimismus. Es ist zwar etwas in Gang gekommen in Deutschland, aber das wichtigste Anliegen der Betroffenen – die nicht notwendigen medizinischen Eingriffe an Kindern zu unterbinden – ist noch nicht erreicht. Doch in der klinischen Behandlung hat sich etwas durch die Politisierung des Themas bewegt: Dort spricht man nicht mehr nur pathologisierend von disorders of sex development, sondern mittlerweile auch von difference of sex development. Es macht sich also auch hier eine veränderte Sichtweise bemerkbar, die sich weg von einer deutlich abgegrenzten Zweigeschlechtlichkeit und einem medizinischen Handlungszwang hin zu einer breiter definierten Idee der natürlichen Geschlechtervarianz bewegt, was von allen Seiten zu begrüßen wäre. Wie ist diese Veränderung für Macht- und Politisierungsprozesse einzuordnen? Sind wir Zeug*innen eines Paradigmenwechsels in der Kategorisierung des biologischen Geschlechts? Stehen wir an der Zeitenwende zur Geschlechtervarianz? Die Zweigeschlechtlichkeit und der medizinische Diskurs sind immer noch die Paradigmen der Gegenwart. Doch gegen sie wenden sich seit Jahrzehnten verschiedene Richtungen im Feminismus, die Queer Theory sowie LGBTQ-Bewegungen. Nun sind intersex-Forderungen dazu gekommen. Allerdings darf man die Anliegen von inter* nicht mit denen der LGBTQBewegungen gleichsetzen. So richtete sich der Menschenrechtsdiskurs der intergeschlechtlichen Bewegung bei CEDAW – und dies ist wichtig – nicht primär und ausschließlich gegen die Zweigeschlechtlichkeit, sondern am direktesten und vehementesten gegen die Idee der totalen Formbarkeit von Geschlecht. Denn die radikale Formbarkeit des Geschlechts wird von inter*Personen als problematische ›Wegkonstruktion‹ ihrer ›uneindeutigen‹ aber natürlich auftretenden Körper verstanden. Dekonstruktivistische Argumente, wie von Butler, rufen bei Vielen unangenehme Assoziationen von Machbarkeitsphantasien und Herabwürdigung hervor. Aktivist*innen sehen die Beendigung medizinischer Eingriffe als dring-
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lichstes Anliegen, aber diese beruhen diskursiv auf der ihnen vorgelagerten Konstruktion der Geschlechterdichotomie. Deshalb findet die Idee der Geschlechtervarianz mittlerweile auch bei inter*Personen Zulauf. Es ergeben sich also auch erhebliche Widersprüchlichkeiten und politische Reibungen, denn die Aktivist*innen unterstellen nicht nur dem Baltimorer Behandlungsschema, sondern auch dem queer-feministischen Konstruktivismus die ›Wegkonstruktion‹ der direkten Leibeserfahrung. Inter*Personen stehen dem Monismus von postnaturalistischen Argumenten im Konstruktivismus, der eine totale kulturelle Überformung des Körpers als Tatsache ansieht, kritisch gegenüber. Zu sehr haben sie erlebt, wie ihre eigenen Körper als interessante ›Fallstudien‹ von verschiedener Seite konstruiert und objektiviert wurden. Gleichzeitig erscheint die Geschlechtervarianz vielen Feminist*innen, LGBTQ-Gruppen und inter*Personen als logischer und diskursiver Ausweg aus der geschlechtsspezifischen Zwangsjacke. Dieser Trend zur Varianz und sogar zu einer Individualisierung des Geschlechts könnte neue politische Identitäten und Subjekte ins Leben rufen und unsere sozialen Erwartungen nachhaltig ins Wanken bringen.
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In seinem 2016 erstmals in deutscher Übersetzung erschienenen autobiographischen Roman Das Ende von Eddy beschreibt Édouard Louis seine Erinnerungen an das Aufwachsen in der französischen Provinz – als Kind einer Arbeiterfamilie und als Homosexueller. In klarem Bezug auf Didier Eribons eindrückliche soziologisch-autobiographische Schrift Rückkehr nach Reims veranschaulicht Louis’ Roman die vielfältigen Verschränkungen von homophoben Anfeindungen, einem sexistisch-patriarchalen Umfeld und den prekären Lebensverhältnissen einer Klasse, deren Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben erst in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs verstärkt sichtbar wird. Die große Scham beider Autoren ist nicht primär ihre Homosexualität, sondern ihre soziale Herkunft, von der sie sich letztlich genauso wenig ›lossagen‹ können wie von ihrem Begehren: »Das, wovon man losgerissen wurde oder sich losreißen wollte, bleibt ein Bauteil dessen, was man ist. […] Es war mir leichter gefallen über sexuelle Scham zu schreiben als über soziale.« (Eribon 2017: 11, 19) Louis beschreibt eine Welt, in der er von frühester Jugend an als sexuell ›anders‹ stigmatisiert wurde: »Bist du der Schwule? […A]n das Schmähwort gewöhnt man sich nie. […] Niemand mochte mit mir reden: Das Stigma war ansteckend, keiner wollte als Freund des Schwulen gelten.« (Louis 2017: 13, 33) In diesem Kontext dominiert eine Männlichkeit das soziale Gefüge, die geprägt ist von Brutalität und der Ablehnung institutionalisierter Bildung: »Die echten Kerle verkörperten all die im Dorf so geachteten männlichen Werte, sie verweigerten sich der schulischen Disziplin. […] Für einen Mann war Brutalität etwas Selbstverständliches, Natürliches.« (Ebd.: 21f., 38) Louis schildert Momente des Selbsthasses – »[I]ch widerte mich selbst an.« (Ebd.: 25) –, aber auch die Ambivalenz eines Milieus, in dem auf den ersten Blick zwar Machismo und Homophobie an der Tagesordnung sind, in dem aber teilweise auch stereotype Weiblichkeit, mit bedingt durch handfeste ökonomische Realitäten, durch die Mobilisierung von ›Männlichkeit‹ als Überlebensstrategie ausgesetzt wird: »In ihrer Welt galt Männlichkeit derart unangefochten als das Größte, dass sogar meine Mutter von sich selber sagte Ich lass mir
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nichts gefallen, ich hab schließlich Eier in der Hose.« (Ebd.: 27) Die vorherrschende, brutal-homophobe Männlichkeit ihrerseits ist bereits gebrochen vom emotionalen Scheitern an sich selbst: »[Eddys Vater:] Und Junge, ich will dir auch was sagen, ich hab dich lieb und du bist mein Sohn, trotz allem, du bist mein Großer. Anders als man meinen könnte, fand ich das nicht schön und rührend. Sein Ich hab dich lieb stieß mich ab, die Worte hatten für mich etwas Inzestuöses.« (Ebd.: 53)
Beide, Eribon und Louis, entkommen den sozialen Verhältnissen ihrer Kindheit und Jugend, werden zu ›sozialen Aufsteigern‹ und gehen in die Großstadt, wo sie endlich auch ihre Sexualität offen leben können. Das Beispiel dieser beiden in vielfacher Hinsicht miteinander verschränkten Texte und die Tatsache, dass sie im öffentlichen Diskurs in den letzten Jahren für relativ großes Aufsehen gesorgt haben, führt mich im Kontext dieses Bandes zu der Frage, wie Homophobie im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext gedacht und theoretisiert werden muss. Oder vielmehr deutet sich bereits eine klare Richtung an: Wenn es darum gehen soll, Homophobie nicht einfach als gegeben hinzunehmen, gleichsam als ›normales‹ Element sozialer Differenzierungsprozesse zu naturalisieren und damit jegliche Diskussion und intellektuelle Auseinandersetzung auf die Ebene der Resignation oder maximal des Bedauerns zu verlagern, dann kann Homophobie nicht als isoliertes Phänomen angesehen werden. In Zeiten, in denen in Europa neue rechte Bewegungen sexistische und homophobe Diskurse wieder salonfähig machen und Homosexuelle sich innerhalb mancher dieser Bewegungen verorten, obwohl deren Programmatik sie stigmatisiert 1, muss die Ablehnung gegenüber nicht-heterosexuellen Lebensentwürfen und gelebten Sexualitäten im Kontext von und in der Verschränkung mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen und Dynamiken gedacht werden. Die politischen und sozialen Entwicklungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Annahme einer automatischen Entwicklung hin zu mehr Gleichberechtigung und mehr Toleranz naiv ist. Zwar erleben wir in Deutschland und großen Teilen der sogenannten ›westlichen Welt‹ eine Entwicklung hin zu größerer Sichtbarkeit und Toleranz, andererseits »geht auch in liberalen Gesellschaften die wachsende Akzeptanz und Sichtbarkeit von Schwulen, Lesben oder Transsexuellen einher mit wachsender Gewalt gegen sie« (Heins 2016: 77). Um also der ›Naturalisierung‹ von Homophobie als isoliertem, marginalem oder hinzunehmendem sozialem Phänomen zu begegnen, soll 1 | Ein prominentes Beispiel hierfür ist Milo Yiannopoulos, der von 2015 bis 2017 für die rechtsextreme Nachrichtenseite Breitbart News arbeitete, die Präsidentschaftskandidatur Donald Trumps aktiv unterstützte und mit der politischen ›Alt-Right‹ in den Vereinigten Staaten assoziiert wird. Yiannopoulos bezeichnet sich selbst als ›faggot‹ und präsentiert sich bei vielen seiner Auftritte – unter anderem seiner Dangerous Faggot Tour – in Drag (vgl. Penny 2017).
Die (De-)Naturalisierung von Homophobie
hier der Versuch unternommen werden, Diskurse aus verschiedenen Forschungsbereichen zusammenzutragen und aufzuzeigen, aus welchen Perspektiven Homophobie als analysierbares Phänomen greifbar gemacht werden kann. Was ist ›Homophobie‹? Der Begriff selbst ist nicht unumstritten. Homophobie kann aus zwei Perspektiven als Konstrukt gedacht werden. Homophobe Einstellungen und Handlungen projizieren bestimmte Vorstellungen von verallgemeinerten, vermeintlich gruppenspezifischen Eigenschaften auf andere Individuen und Gruppen von Menschen, unabhängig davon, welche Zuschreibungen und Lebensrealitäten diese Individuen und Gruppen für sich selbst in Anspruch nehmen; und umgekehrt erfahren betroffene Menschen Homophobie in dem Maß, wie sie sich aufgrund des Zusammenspiels bestimmter Eigen- und Fremdzuschreibungen diskriminiert fühlen. Ähnliches gilt für andere Formen gruppenspezifischer Diskriminierungen. Daher wird im aktuellen Forschungsdiskurs auch oft von Homophobie als einer Facette »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« (vgl. zum Beispiel Küpper/Zick 2015) gesprochen. Dabei verallgemeinert der homophobe Diskurs und konstruiert diffuse Feindbilder einer vermeintlich homogenen Gruppe von Menschen. Für Beate Küpper und Andreas Zick geht es bei Homophobie im Kern darum, »dass Menschen aufgrund der tatsächlichen oder vermeintlichen Abweichung ihrer sexuellen Identität bzw. Orientierung von dem, was als ›normal‹ angesehen wird, abgewertet, diffamiert und ausgegrenzt werden« (ebd.: 5). Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeiten verletzen grundsätzlich die Prinzipien der Menschenwürde. Darüber hinaus aber finden in solchen Diskursen immer mehr oder weniger latent und fast immer unhinterfragt bestimmte Assoziationen statt, die in ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit höchst problematisch sind. Wo es vermeintlich ›nur‹ um die individuelle Wahl von Sexualpartner*innen geht, wird zwar in vielen homophoben Diskursen die soziale Dimension von Sexualität erkannt, aber in oft pathologisierender Weise artikuliert. So werden, auch noch in aktuellen Debatten, Schreckgespenster des pädophilen und kranken Schwulen, der Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft und des pervers und krank gemachten Kindes heraufbeschworen. Was unter diesen homophoben Tiraden sichtbar wird, impliziert viel mehr als ›nur‹ das individuelle Sexualverhalten. Hier geht es um die Verteilung von Ressourcen, um Reproduktion und um die Aufrechterhaltung eines geschlechtlichen Status Quo. Der homophobe Diskurs reproduziert »die Kategorisierung von Homosexuellen als Fremdgruppe« (Simon 2016: 95). Dies ist auch ein Grund dafür, warum der Begriff ›Homophobie‹ von vielen Forscher*innen und sozialen Akteur*innen kritisiert wird, suggeriert er doch eine geradezu körperliche Reaktion auf die Begegnung mit dem sexuell ›Anderen‹ statt auf die soziale Bedingtheit von Ablehnung, Diskriminierung und Hass hinzuweisen. »Es gibt diese Angst nicht. Es gibt sie nicht als genuines Körpergefühl, das auftauchen würde im Einzelnen beim Anblick offen homosexueller Personen.« (Theweleit 2016: 85) Tatsächlich aber ent-
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stand der Begriff ›Homophobie‹ in den 1970er-Jahren im psychologischen Diskurs und beschrieb anfangs eine irrationale Angst vor engem Kontakt mit Homosexuellen (vgl. zum Beispiel Mason 2002: 6). Dieser Fokus auf der affektiven, scheinbar unkontrollierbaren Ablehnung des sexuell Anderen greift jedoch zu kurz und verschleiert die überindividuellen, sozialen Implikationen von Homophobie (vgl. Möller 2015: 16). Viele Akteur*innen bevorzugen den Begriff ›Heterosexismus‹: »[Der Begriff ›Heterosexismus‹] begreift antihomosexuelle Haltungen als Sonderform von Sexismus, mithin als Ablehnung, Diskriminierung und Gewaltakzeptanz aufgrund des (zugeschriebenen) Geschlechts und der sexuellen Orientierung. Er macht solche Haltungen als Auswüchse einer zu Grunde liegenden Heteronormativität kenntlich, mithin als Ausdruck der Setzung von Heterosexualität als gesellschaftlicher Norm.« (Ebd.: 16)
Trotz aller Kritik hält sich der Begriff ›Homophobie‹ sowohl im wissenschaftlichen als auch im populären Diskurs und ist fester Bestandteil wichtiger Debatten, die auf Diskriminierung aufmerksam machen. Im Folgenden wird der Begriff ebenfalls weiter verwendet, wobei seine historische Verortung und die verschiedenen Implikationen immer mitgedacht werden sollen. Um verschiedenen Möglichkeiten der Theoretisierung von Homophobie aufzuzeigen, sollen hier beispielhaft drei Perspektiven diskutiert werden: eine historische Auseinandersetzung mit ›struktureller Homophobie‹ auf der Ebene von Staat und Gesetz, eine soziologische Erforschung der Lebensrealitäten nicht-heterosexueller Jugendlicher und die in manchen Teilen homosexueller ›Szenen‹ virulente ›internalisierte Homophobie‹ und damit einhergehende Dynamiken von Sexismus und Rassismus. Die Geschichte des Paragraphen 175 Strafgesetzbuch in Deutschland verdeutlicht eine Ebene struktureller Diskriminierung, die oft im historischen Diskurs nicht mitgedacht oder problematisiert wird. Dadurch bleibt eine Kritik an historischen Ausschlüssen aus, wodurch Homophobie durch historische Auslassung quasi staatlich und gesellschaftlich legitimiert und ›naturalisiert‹ wird. »Repression, Verfolgung und die von den Nazis begangenen Verbrechen an homosexuellen Menschen werden auch heute noch tabuisiert.« (Wolter 2015: 31) Bisher gibt es nur einige wenige historische Studien, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen; Regionalstudien und differenzierte Einzeluntersuchungen fehlen bisher komplett (vgl. ebd.: 31). Dennoch lässt sich zeigen, dass es rechtliche Kontinuitätslinien gibt, die über das ›Dritte Reich‹ hinaus reichen und sich an der Entwicklung des Paragraphen 175 Strafgesetzbuch ablesen lassen. Der bereits in den 1850er-Jahren im Preußischen Strafgesetzbuch bestehende Paragraph, der ›widernatürliche Unzucht‹ zwischen Männern und zwischen Menschen und Tieren unter Strafe stellte, wurde 1872 in das neue Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches übernommen – wodurch die strafrechtliche Verfolgung gleich-
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geschlechtlichen Geschlechtsverkehrs in einigen nun dem Deutschen Reich zugehörigen Gebieten ›Deutschlands‹ (zum Beispiel in Bayern), wo ›Homosexualität‹ bisher straffrei war, erst eingeführt wurde. Noch während des Kaiserreichs und in der Weimarer Republik gab es wiederholt Bestrebungen, den Paragraphen abzuschaffen, hierfür gab es aber nie eine ausreichende Parlamentsmehrheit. Gleichzeitig rückte Homosexualität als ›gesellschaftliches Problem‹ immer stärker in den Fokus der Öffentlichkeit: »In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden in Deutschland die Grenzen zwischen homosozialen und homosexuellen Männerbindungen zu einem Bereich, der die Aufmerksamkeit von breiter Öffentlichkeit und Obrigkeit stark in Anspruch nahm und als eminent politisches Problem eingestuft wurde.« (zur Nieden 2005: 7)
Bis ins 19. Jahrhundert hinein war gleichgeschlechtliches Begehren wenig scharf definiert und oft unausgesprochen geblieben. Mit der Etablierung immer neuer medizinischer und politischer Diskurse, vor allem zur männlich-gleichgeschlechtlichen Homosexualität, fand nun die Entwicklung hin zu einer politisch motivierten homophoben Haltung statt. Diese war bedingt durch die Vorstellung, »der Staat könne in seinen verborgenen Bewegungsgesetzen durch mannmännliche Homosexualität geprägt und durch die Wirkkraft homosexueller Bindungen in seiner Existenz bedroht werden« (ebd.: 7). Ähnlich benennt Klaus Theweleit die grundlegende Funktion von Homophobie im Staatsgefüge: »Das Verbot der Homosexualität stützte die verordnete Ehenorm, diese wurde vom Staat – und wird weiterhin von einigen Gruppen – als Hauptstütze staatlicher Macht angesehen.« (Theweleit 2016: 77) Mehrere große politische Skandale um die vermeintliche Homosexualität führender Politiker und Militärs machten Homosexualität zur politischen und öffentlichen Waffe, mit der Männer im öffentlichen Leben erpresst und ruiniert werden konnten. Besonders die immer größer und einflussreicher werdende Boulevardpresse trug zu einer Hysterisierung der publik gewordenen ›Fälle‹ bei. Die Öffentlichkeit forderte immer stärker das vermeintliche Recht ein, über das sexuelle Privatleben öffentlicher Personen Bescheid zu wissen: »Mit sexuellen Denunziationen[…] konnten stärkste politische Gegner vernichtet werden. Dies wurde sogar als Demokratisierungsschub verstanden. Eine Folge war, dass die Öffentlichkeit die vollzogenen Grenzverwischungen zwischen privater und politischer Sphäre akzeptierte und bei Denunziationen das Recht beanspruchte, im Detail aufgeklärt und beteiligt zu werden. […] Erfolgreiche sexuelle Denunziationen schienen […] eine im demokratischen Sinne emanzipatorische und partizipatorische Wirkung zu besitzen.« (Domeier 2015: 26)
1935 verschärften die Nationalsozialisten den Paragraphen 175, der nun nicht nur – und dies war ein entscheidender Schritt – tatsächliche Handlungen unter Strafe
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stellte, sondern auch schon einen Straftatbestand sah, »wenn objektiv das allgemeine Schamgefühl verletzt und subjektiv die wollüstige Absicht vorhanden war, die Sinneslust eines der beiden Männer oder eines Dritten [zu] erregen« (RGSt 73, 80-81). Die Verschärfung des Gesetzes ist auch im Kontext des sogenannten Röhm-Putsches zu lesen, bei dem im Auftrag Hitlers einflussreiche NS-Funktionäre ermordet wurden. Die Homosexualität des SA-Chefs Ernst Röhm war Hitler schon lange bekannte gewesen, wurde aber zum Problem, als es politisch opportun schien, eine vermeintliche ›homosexuelle Verschwörung‹ als politisches Feindbild heraufzubeschwören. Interessant ist, wie Norman Domeier zeigt, dass die Schaffung eines Mythos des homosexuellen Mannes als Staatsfeind sowohl den Nationalsozialisten selbst als auch ihren politischen Gegnern als Waffe diente und somit die Stigmatisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität doppelt zementierte: »Die Röhm-Affäre konnte eine fatale Langzeitwirkung entfalten, da die linke Presse Europas nun endgültig das Stereotyp des ›homosexuellen Nazis‹ etablierte, der vom Idealtyp des Arbeiters als treusorgendem Familienvater scharf unterschieden wurde.« (Domeier 2015: 27)
Gleichzeitig wurden homosexuelle Männer immer konsequenter verfolgt. Insgesamt wurden unter den Nationalsozialisten etwa 50.000 Männer aufgrund des Paragraphen 175 zu Freiheitsstrafen verurteilt. Nach Gefängnis oder Zuchthaus konnte die Polizei sogenannte ›Vorbeugehaft‹ anordnen, was für die Betroffenen die Inhaftierung in einem Konzentrationslager bedeutete. Erst in den letzten Jahren haben Historiker*innen begonnen, auch die Frage nach der Verfolgung lesbischer Frauen zu stellen. Weibliche Homosexualität war im ›Dritten Reich‹ kein Straftatbestand, der Paragraph 175 bezog sich immer nur auf männlich-gleichgeschlechtliche Sexualität. Dennoch, so betont die Historikerin Insa Eschebach in ihrem 2012 erschienenen Band zu weiblicher und männlicher Homosexualität im Nationalsozialismus, »sind Frauen aufgrund von sexuell und sozial deviantem Verhalten verfolgt worden. Als ›Volksschädlinge‹, ›Asoziale‹ und ›Prostituierte‹, wegen ›staatsabträglichen Verhaltens‹, ›Wehrkraftzersetzung‹, ›Kuppelei‹, ›Rassenschande‹, ›Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit‹ oder wegen Verstößen gegen das ›gesunde Volksempfinden‹, das ›Heimtückegesetz‹ oder gegen die ›Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft‹ wurden zahllose Frauen verurteilt und inhaftiert.« (Eschebach 2012: 11)
Die asymmetrische Wahrnehmung und Verfolgung weiblicher und männlicher Homosexualität, die sich auch in der historischen Untersuchung des Themas widerspiegelt, verdeutlicht einen sexistischen Blick auf weibliche Sexualität insgesamt. Männliche Homosexualität – und ›Homosexualität‹ war in den Augen der Nationalsozialisten immer männlich – war staatszersetzend, weibliche Sexualität insgesamt dagegen war »relevant einzig in Hinblick auf die Gebärfähigkeit« (ebd.: 13), was auch am Namen der 1936 gegründeten »Reichszentrale zur Bekämp-
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fung der Homosexualität und der Abtreibung« erkennbar ist. Liebesbeziehungen zwischen Frauen waren in vielen Schichten der Gesellschaft mehr oder weniger unsichtbar und wurden oft nicht sexuell, sondern freundschaftlich oder als aus wirtschaftlicher Not geborene Gemeinschaften gelesen. Medizinische Studien zur weiblichen Homosexualität gab es zwar, diese fokussierten aber hauptsächlich auf Fallbeispiele sogenannter ›gefallener Mädchen‹, was Insa Eschebach als möglichen Erklärungsansatz dafür sieht, »warum homophobe Konstruktionen so konsequent weibliche Homosexualität mit Asozialität, Promiskuität und Prostitution assoziieren« (ebd.: 14). Die Schicksale homosexueller KZ-Häftlinge sind auch vor dem Hintergrund der Homosexuellenverfolgung in der Nachkriegszeit relevant. Ralf Bogen verweist auf die »unsägliche Traditionslinie« (Bogen 2015: 36) der staatlichen Verfolgung Homosexueller unter den Nationalsozialisten und in den Nachkriegsjahren. Wiederum lässt sich diese Geschichte gut an der Entwicklung des Paragraphen 175 ablesen. Dieser wurde in der von den Nationalsozialisten verschärften Version in das Strafgesetzbuch der Bundesrepublik übernommen und bis 1969 in dieser Form angewendet. Besonders frappierend ist, dass ehemals wegen ihrer Homosexualität inhaftierte KZ-Insassen nach dem Krieg nicht etwa mit Entschuldigungen zu rechnen hatten, sondern, im Gegenteil, ihre vorherige Verurteilung als strafverschärfend gewertet werden konnte (vgl. ebd.: 37f.). Die weiterhin vehemente Verfolgung Homosexueller in der Bundesrepublik zeigt, dass auch in den Nachkriegsjahren zunächst kein Umdenken stattfand. Die wenn auch vereinzelten, aber durchaus vorhandenen Liberalisierungsbestrebungen der Weimarer Zeit schienen komplett vergessen und das Bild des Homosexuellen als Staatsfeind, das im ›Dritten Reich‹ geprägt wurde, bestand weiter. Geschlechterbilder, vor allem die Vorstellung einer martialisch-patriarchalen Männlichkeit, wie sie im Kaiserreich und unter den Nationalsozialisten geprägt wurden, wirkten unhinterfragt fort, was sich unter anderem im Festhalten am Paragraphen 175 und der entsprechenden staatlichen Homosexuellenverfolgung zeigt. Dieses Beispiel macht bewusst, dass die Vorstellung von einer Entwicklung hin zu einer immer stärkeren Liberalisierung ein geschichtsvergessener Mythos ist. In Bezug auf die Entwicklung speziell im deutschen Südwesten resümiert Ralf Bogen: »Die Geschichte der homosexuellen Emanzipationsbewegung in Württemberg vor 1933 zeigt, dass Rückschläge möglich sind[…]. Längst überwunden geglaubte Vorurteile und Diskriminierungen wie das NS-Stereotyp homosexueller Männer als ›Kinderschänder‹ und ›Jugendverführer‹ kamen beispielsweise bei Demonstrationen der Bildungsplangegner im Jahr 2014 wieder ans Tageslicht. […] Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, an das Unrecht der NS- und Nachkriegsverfolgung homosexueller Männer zu erinnern.« (Ebd.: 41)
1969 wurde der Paragraph 175 reformiert und stellte nur noch bestimmte Fälle unter Strafe und ab 1973 wurde, auch unter dem Einfluss der bundesrepublika-
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nischen Schwulenbewegung, ›nur‹ noch der männlich-gleichgeschlechtliche Sex mit Minderjährigen verfolgt. Erst 1994 wurde der Paragraph aufgehoben und schließlich 1998 gestrichen. Eine Rehabilitierung der Opfer der deutschen Homosexuellenverfolgung ließ lange auf sich warten. 2002 beschloss der Bundestag die Aufhebung nationalsozialistischer Verurteilungen wegen Homosexualität. Im Oktober 2014 entschuldigte sich der Landtag von Baden-Württemberg in einem gemeinsamen Fraktionsantrag von Grünen, SPD und FDP über die »Entschließung zur Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer« symbolisch bei den Opfern der bundesrepublikanischen Verfolgung. Erst 2017 wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Rehabilitierung und Entschädigung aller nach Paragraph 175 verurteilten Männer und die Aufhebung der Urteile bewirkte. Der Abbau der in staatlichen und gesetzlichen Strukturen verankerten Homophobie als weiterhin dringliches gesellschaftliches Ziel ist nicht zuletzt deshalb zentral, da »es einen kausalen Zusammenhang gibt zwischen progressiver Gesetzgebung und Rechtsprechung und dem Abbau von gruppenbezogenen Vorurteilen« (Heins 2016: 76). Sowohl als Forderung nach der Gleichstellung aller Menschen vor dem Gesetz als auch als Impuls für einen Wandel im gesamtgesellschaftlichen Diskurs ist eine historisch informierte Kritik am gesetzlichen Status Quo ein unabdingbarer Teil einer Bewegung hin zur ›Denaturalisierung‹ von Homophobie. Neben der historischen Aufarbeitung und Kontextualisierung von Homophobie spielt die soziologische und ethnologische Erforschung von individuellen Erfahrungen und gruppendynamischen Tendenzen eine entscheidende Rolle, um aufzudecken, welche Mechanismen und Strukturen zu einer ›Normalisierung‹ und Kontinuität von Homophobie in der Gesellschaft beitragen. 2015 veröffentlichte das Deutsche Jugendinstitut erste Ergebnisse der vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geförderten Studie »Coming-out – und dann…?!«, in der über 5.000 lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Jugendliche in einer Online-Befragung und in einzelnen Interviews zu ihren Erfahrungen in Bezug auf ihr ›Coming-out‹ und erlebte Diskriminierung befragt wurden. Das Forschungsprojekt ist die erste Studie, die eine derartige Erhebung auf Bundesebene durchgeführt hat. Gleich zu Anfang stellen die Autor*innen fest: »Lesbisch, schwul, bisexuell oder trans* zu sein, ist in unserer Gesellschaft noch immer nicht selbstverständlich.« (Krell/Oldemeier/Müller 2015: 4) Die Studie betont, dass das Erleben Heranwachsender, die sich selbst als nicht-cis-geschlechtlich oder nichtheteronormativ definieren, von zusätzlichen Herausforderungen geprägt ist, und attestiert diesen Jugendlichen eine »vulnerable Lebenssituation« (Ebd.: 6). Diese sei vor allem dadurch begründet, dass die Jugendlichen ihr geschlechtliches und sexuelles Empfinden zunächst als ›unnormal‹ empfinden, sowohl durch das schlichte Fehlen von Wissen um nicht-heteronormative Lebensentwürfe als auch durch diskursiv kolportierte Negativassoziationen und rigide Geschlechternormen, beispielsweise im schulischen oder familiären Kontext. Dabei spielen inter-
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nalisierte Ablehnungsängste eine mindestens genauso große Rolle wie tatsächlich erlebte Diskriminierung. So gaben etwa 70 Prozent der Befragten an, vor ihrem Coming-out Angst vor Ablehnung durch Familienmitglieder gehabt zu haben, wobei die meisten Eltern das Coming-out ihres Kindes mit der Zeit zu akzeptieren scheinen (vgl. ebd.: 19). Dennoch gibt fast die Hälfte der Jugendlichen an, in der engeren Familie aufgrund der eigenen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität diskriminiert worden zu sein, wobei die am häufigsten genannten empfundenen Diskriminierungen dann stattfinden, wenn die sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität nicht ernst genommen, ignoriert oder nicht mitgedacht wird (vgl. ebd.: 20). Schulen, Hochschulen oder Ausbildungsstätten zeigen sich in der Studie als ambivalente Orte. Einerseits verbringen die Jugendlichen hier einen großen Teil ihrer Zeit, haben hier oft ihre wichtigsten sozialen Kontakte und sind auf ein ›erfolgreiches‹ Durchlaufen der jeweiligen Situation angewiesen. Andererseits erleben viele der befragten Jugendlichen die Schule als unsicheren Ort in Bezug auf ihr Coming-out. Die Verwendung des Wortes ›schwul‹ als Schimpfwort, der Mangel an entsprechenden Themen im Unterricht und das daraus resultierende Fehlen positiver Beispiele führt dazu, dass viele Jugendliche ihr Coming-out während der Schulzeit vermeiden (vgl. ebd.: 21). Mehr als die Hälfte der Befragten äußerte die Sorge, im Bildungs- oder Arbeitsbereich diskriminiert zu werden, und fast die Hälfte gab an, in diesem Kontext bereits aufgrund der eigenen sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität diskriminiert worden zu sein. Problematisch hierbei ist nicht zuletzt, dass, wie auch die Studie feststellt, viele Jugendliche negative Erfahrungen und Diskriminierungen verarbeiten, indem sie sie »über verschiedene Deutungsstrategien (zum Beispiel Relativierung, Idealisierung oder Legitimierung)« (ebd.: 27) internalisieren. Somit wird ein gesellschaftliches Problem auf die individuell-psychologische Ebene der Jugendlichen ›abgeschoben‹. Insofern zeigt die Studie des DJI, wie wichtig es ist, gerade im schulischen Kontext mit den Themen Sexualität und geschlechtliche Identität offen umzugehen, denn »[v]iele Jugendliche sind in der Lage, Schwierigkeiten im Coming-out-Prozess zu überwinden. Zentral ist, dass sie ihr sexuelles und geschlechtliches Erleben für sich verstehen und so auch anderen erklären können. Die Kompetenz, sich Informationen zu beschaffen sowie sich mit anderen Personen zu vernetzen bzw. in Kontakt zu treten, ist somit eine wichtige, förderliche Bedingung dafür, dass ein Coming-out im Sinne der Jugendlichen positiv verlaufen kann.« (Ebd.: 28)
Das Coming-out als biographisch einschneidendes Erlebnis ist in vielerlei Hinsicht nicht unproblematisch. Das aktive Bekenntnis zu einer ganz bestimmten ›Sexualität‹ oder einer als nicht ›normal‹ wahrgenommenen Geschlechtsidentität reduziert einerseits die mögliche Komplexität sexuellen Begehrens und geschlechtlicher Identifizierung auf ein Minimum und vervielfältigt gleichzeitig die ›Lesbarkeit‹ des sich ›outenden‹ Menschen in Hinblick auf Diskurse, die um bestimmte Ka-
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tegorien kreisen. Wer sich als ›schwul‹ outet, kauft sich aufgrund der komplexen Kultur- und Diskursgeschichte dieses Begriffs und des Konzepts ›Homosexualität‹ unter Umständen viel mehr ein als nur ein Bekenntnis zu seinem nicht-heteronormativen Begehren. Assoziationen von Lebensstil und Kleidung über Körperlichkeiten und Geschlechtlichkeit bis hin zu pathologisierenden Verbindungen zu Pädophilie oder Krankheit rücken durch das ›Coming-out‹ in die Nähe des sich ›outenden‹ Individuums. Trotz dieser Schwierigkeiten spielt das ›Coming-out‹ für die Lebensrealität der Jugendlichen eine entscheidende Rolle. Einerseits ermöglicht es den einzelnen Personen, ihr eigenes Erleben besser einordnen zu können und mit anderen zu teilen, andererseits wird es auch als Strategie der Handlungsermächtigung wahrgenommen: »Häufig wird gefragt, ob ein äußeres Coming-out (heute noch) notwendig ist. Ein Coming-out erleichtert LSBT* Jugendlichen eine offene und selbstbestimmte Lebensführung. Damit ist ein Coming-out einerseits eine Strategie der Emanzipation. Andererseits kann ein Coming-out auch als normativer Bekenntniszwang verstanden und gefordert werden. Dieses Dilemma, etwas zutiefst Persönliches – die eigene sexuelle oder geschlechtliche Lebensweise – öffentlich zu machen, muss jede_r Jugendliche für sich selbst aushandeln.« (Ebd.: 6)
Neben der Erforschung der Lebensrealität von LSBTTIQ-Jugendlichen ist ein weiteres Desiderat, dem sich einige neue Studien widmen, die Suche nach den Ursachen für homophobe Haltungen des Umfelds. In Hinblick auf die Allgegenwärtigkeit der abwertenden Verwendung des Wortes ›schwul‹ unter Jugendlichen formuliert der Soziologe Kurt Möller das Forschungsziel wie folgt: »[I]n jedem Fall ist erklärungsbedürftig, wie es zu solcher Rede und den sich darin ausdrückenden Handlungen kommen kann. Und es ist aufzuklären, inwieweit und unter welchen Bedingungen entsprechende Orientierungen, also etwa Einstellungen, Mentalitäten und Ressentiments gegenüber gleichgeschlechtlich Liebenden, mit Diskriminierungen und Gewalthandeln verbunden werden.« (Möller 2015: 14)
Trotz aller Probleme stellt Möller in seiner Studie auch fest, dass einige Jugendliche es schaffen, sich im Laufe ihrer Entwicklung von homophoben Haltungen zu distanzieren, zum Beispiel bei grundlegenden Veränderungen der Lebensgestaltung und neuen Sozialisierungserfahrungen, etwa im Kontakt mit anderen homosexuellen Jugendlichen. Entscheidend, so bilanziert Möller, ist die Hinterfragung der »männlich-hegemonialen Geschlechterordnung« (ebd.: 22), also derjenigen, scheinbar ›naturalisierten‹ Ordnung, die eine bestimmte Form von Männlichkeit im patriarchalen Machtgefüge privilegiert und andere Formen abwertet.2
2 | Zum Begriff der ›hegemonialen Männlichkeit‹ vgl. Connell 1995.
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Homophobie ist also kein isoliertes Phänomen und betrifft insofern mitnichten ›nur‹ eine gesellschaftliche Minderheit. Vielmehr muss sie unter anderem als eines von vielen Symptomen einer problematischen und unhinterfragt ›naturalisierten‹ Geschlechterordnung gelesen werden. Möller plädiert daher für ein grundsätzliches Umdenken anstatt für eine Behebung der Symptome: »Für [die männlich-hegemoniale Geschlechterordnung] tragen nicht die Jugendlichen die Verantwortung, sondern Erwachsene. Eine Reduktion antihomosexueller bzw. heterosexistischer Haltungen im biografischen Verlauf (der Jugendphase) ist möglich. Ein Abbau von Homophobie und Heterosexismus ist aber nachhaltig ohne einen strukturellen Abbau der männlich-hegemonialen Geschlechterordnung bzw. ihrer Normativität nicht erzielbar.« (Ebd.: 23)
Zuletzt soll hier eine weitere Ebene von Homophobie diskutiert werden, die als ›internalisierte Homophobie‹ gefasst werden kann. Darunter fallen grob zwei Aspekte: einerseits eine so starke Verinnerlichung heteronormativer Werte und Ideologien, dass das eigene Erleben und Empfinden als falsch, schlecht oder krankhaft wahrgenommen wird und zu selbstzerstörerischen Einstellungen oder selbstzerstörerischem Verhalten führt; und andererseits die partielle Verinnerlichung heteronormativer Ausgrenzungsmechanismen, die, oft aufgrund eigener Ausgrenzungserfahrungen, sozusagen ›weitergereicht‹ werden.3 Diskriminierung richtet sich dann entweder gegen die eigene Person oder gegen andere, die aber dem diskriminierenden Subjekt in ihrem Begehren ähnlich sind. Für viele Menschen gerät das eigene geschlechtliche und sexuelle Erleben in Konflikt mit normativ-sexuellen und -geschlechtlichen Wertestrukturen, die gerade deshalb so schwer zu überwinden sind, weil sie für die Betroffenen einen wesentlichen Identifikationsfaktor darstellen. Schwere Konflikte in der persönlichen Biographie sind geradezu vorprogrammiert. In manchen streng religiösen Kontexten hoffen die Menschen auf ›Heilung‹ und versuchen mit aller Macht, sich den heterosexistischen Strukturen ihres Umfeldes anzupassen. Die Soziologin Bernadette Barton veröffentlichte 2012 ihre ethnographische Studie Pray the Gay Away: The Extraordinary Lives of Bible Belt Gays. In Interviews mit Schwulen und Lesben aus dem sogenannten ›Bible Belt‹, dem evangelikal geprägten Südosten und Süden der USA, versucht sie, deren Lebensrealität zu erfassen. Gleich zu Anfang stellt sie den zentralen Konflikt vieler der von ihr Interviewten heraus: »Because most Christian churches in the Bible Belt (including Baptist, Methodist, Pentecostal, Roman Catholic, and nondenominational megachurches) construct homosexuality as sinful, lesbians and gay men from the region must choose between staying in what I call the ›toxic closet‹ or risk rejection and 3 | Der Begriff ›internalisierte Homophobie‹ stammt aus der Psychologie, beschreibt dort aber meist lediglich den ersten der zwei von mir genannten Aspekte, also die Bewertung der eigenen Sexualität als ›schlecht‹ oder ›unnormal‹ (vgl. zum Beispiel Frost/Meyer 2009).
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Gero Bauer ostracism from the people who are supposed to care for them the most – their families, friends, and neighbors. […] No matter how hard they tried, and close to 60 percent of the Bible Belt gays I interviewed tried really hard, some weeping at the altar in front of their congregations week after week, they still could not pray the gay away.” (Barton 2012: 5)
Wie, wann und aus welchen Gründen Menschen diese Art von Konflikt lösen, ist noch wenig erforscht. Manche akzeptieren die von außen auferlegten Normen zugunsten eines Verbleibs in der jeweiligen Wertegemeinschaft, verdrängen ihre Bedürfnisse oder suchen aktiv nach Veränderung und Heilung, oft mit – ebenfalls wenig erforschten – schwerwiegenden psychologischen Folgen. Andere lösen sich von den ihnen angetragenen Werten, die sie zu verachtenswerten Menschen machen würden, und führen, oft auch geographisch distanziert, ein neues Leben. Glücklicherweise gibt es viele, auch religiöse, Wertegemeinschaften und noch mehr Familien, die LSBTTIQ-Menschen nicht als sünd- oder mangelhaft stigmatisieren. Der zweite Aspekt internalisierter Homophobie betrifft die Weitergabe heterosexistischer Diskriminierungen innerhalb der queeren ›Szene‹ selbst. Ein Beispiel hierfür ist der Sexismus und Rassismus innerhalb mancher Teile männlich-homosexueller ›Communities‹. Obwohl große Teile derer, die sich mit der inzwischen erfreulich inklusiv ausgerichteten LSBTTIQ-Bewegung identifizieren, ein ausgeprägtes Bewusstsein für Sexismus, Homophobie und verwandte Arten der Diskriminierung haben, finden sich in manchem einschlägigen Online-Forum Aussagen wie »Bitte nur heterolike.«, »Keine Tunten oder Handtaschenträger.«, »Bin 100% Top.«, »Nur aktiv.« Selbstverständlich findet sich in den gleichen Foren eine Vielzahl unterschiedlicher Vorlieben und Identifikationen. Trotzdem ist zu beobachten, dass manche Männer, die sich als ›schwul‹ identifizieren, dies nur in Abgrenzung von vermeintlich effeminierenden Assoziationen tun. Offenbar resultieren diese Aussagen aus einem Bedürfnis, durch die dezidierte Ablehnung sexueller Passivität männliche Virilität zu bestätigen: Ich bin zwar schwul, aber doch ein echter Kerl. Ähnlich steht es mit dem verbreiteten Begriff ›heterolike‹: Gesucht werden Männer, die zwar andere Männer sexuell begehren, in Habitus und Auftreten aber dem heteronormativen Ideal von Männlichkeit entsprechen. All diesen Aussagen gemein ist ihr impliziter Sexismus, der an der vermeintlichen körperlichen und gesellschaftlichen Überlegenheit ›männlicher‹ Männer festhält und alles ›Verweiblichte‹ zu verbannen versucht. Noch frappierender ist die gelegentliche Verschränkung dieser sexistischen Einstellungen mit Rassismus. In einigen Teilen der Schwulenszene erleben besonders Asiaten und dunkelhäutige Menschen Ausgrenzung. Oder aber – und nicht weniger rassistisch – das Ideal des ›Orientalen‹ wird zum Fetisch überhöht und explizit gesucht. Entscheidend ist, dass einige derjenigen Männer, die Ausgrenzung durch homophobe Aberkennung ihres Status als ›Mann‹ fürchten, diese Furcht durch explizite Abgrenzung von allem ›anderen‹ Weiblichen und ›Fremden‹ kompensieren. Die Berliner Geschlechterforscherin
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und selbsternannte ›Polit-Tunte‹ Patsy l’Amour laLove bringt es in ihrem Artikel »Die ungeliebte Tunte« für den Tagesspiegel im Juli 2015 auf den Punkt: »Hier geht es darum, diejenigen Anteile, die man an sich selbst nicht haben will, stellvertretend am Anderen zu hassen. […] In der Ablehnung des eigenen Schwulseins, die sich an dem Verhalten untereinander deutlich macht, steckt die Homosexuellenfeindlichkeit der Gesellschaft. Diese Feindseligkeit wird wie im vorauseilenden Gehorsam übernommen und am Anderen ausgelebt. Das heißt: Schwule identifizieren sich mit dem Aggressor, mit dem heterosexuellen Maßstab der Gesellschaft. […] Das bedeutet auch, dass man sich den Aggressor nicht als ›den heterosexuellen Mann‹ vorstellen sollte. […] Schwulenfeindlichkeit und schwuler Selbsthass haben […] weniger mit ›dem‹ heterosexuellen Mann zu tun als vielmehr mit der Fantasie einer echten heterosexuellen Männlichkeit.« (l’Amour laLove 2015)
Wiederum geht es um die Verschränkung von Homophobie und Sexismus, Rassismus und anderen Ausgrenzungserscheinungen. Homophobie muss also intersektional betrachtet werden. Ausgehend vor allem von Kimberlé Crenshaws (1989) Überlegungen zur Intersektionalität und zu potentiellen ›blind spots‹ im Diskriminierungsdenken hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten in den Gender und Queer Studies ein verstärktes Interesse an Gemeinsamkeiten und Verschränkungen verschiedener Diskriminierungen und Minderheitenpositionen entwickelt. Erlebt ein türkischer, schwuler Professor in Deutschland die gleiche Diskriminierung wie eine asiatische, transsexuelle Fabrikarbeiterin? Welche Hürden hat ein körperlich behinderter Mann in den Strukturen einer Universität im Vergleich zu einer Frau aus einer sogenannten ›bildungsfernen‹ Familie zu überwinden? Welche Identifizierungen nehmen die betreffenden Personen selbst vor und welche werden ihnen von ihrer Umwelt angetragen? Die denkbaren und relevanten Verschränkungen lassen sich ins beinahe Unendliche multiplizieren und alle wären es wert, von einer institutionellen und gesamtgesellschaftlichen Politik berücksichtigt zu werden. Die positive Herausforderung intersektionaler Ansätze besteht darin, der Gefahr zu begegnen, dass Diskriminierungen gegeneinander ausgespielt und hierarchisiert werden, eine Tendenz, die vor allem im Bereich der institutionellen Diversitätspolitik aus sehr praktischen Gründen verbreitet ist. Beispielsweise stellt sich die Frage, ob universitäre Gleichstellungsbüros neben der Förderung von Frauen auch die Gleichstellung sexueller Minderheiten als ihre Aufgabe ansehen sollten. Wie viel Geld muss in die Förderung behindertengerechter Infrastruktur gesteckt werden? Sollte eine Einrichtung intersex-gerechte Toiletten haben? Wenn es um die Verteilung von Ressourcen geht, wird oft mit Kategorien gearbeitet, die ganz bestimmte Gruppen von Menschen ansprechen, die gegen Diskriminierung und für Anerkennung im Alltag kämpfen müssen. Für intersektionale Ansätze ist oft kein Platz. Dennoch lohnt es sich, ein intersektionales Denken sowohl in der Wissenschaft als auch in der politischen Praxis einzufordern.
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Für ein differenziertes Verständnis der Mechanismen von Homophobie ist es daher zentral, die Erscheinungsformen dieser spezifischen Art von Diskriminierung und Ausgrenzung immer im Kontext von und in der Gleichzeitigkeit mit anderen Identitätsebenen und Angriffsflächen zu lesen. Hierzu gibt es in der Forschung auch erste Ansätze. Der Soziologe Zülfukar Çetin veröffentlichte 2012 seine Studie Homophobie und Islamophobie, in der er Mehrfachdiskriminierungen auf den Grund gehen will. Basierend auf Interviews mit binationalen schwulen Paaren aus Berlin, bei denen ein Partner als ›deutsch‹ und der andere als ›migrantisch‹ gelesen wird, versucht Çetin, die spezifischen Ausgrenzungserfahrungen schwuler Männer mit Migrationshintergrund zu erfassen. Ein Ziel seiner Studie ist, gegen die kulturdeterministische Annahme islamischer Kulturen als per se homophob zu argumentieren. Stattdessen postuliert er, dass »Homophobie, der eine Mehrzahl von Berliner Schwulen ausgesetzt ist, auch im toleranten, freien und demokratischen Europa stattfindet[… und] dass die Heteronormativität bzw. Homophobie mit christlicher Moral in einem engen Zusammenhang steht. So vertrete ich hier die Auffassung, dass das Christentum bezüglich der Homophobie einen starken Einfluss auf die islamische Welt genommen hat und immer noch nimmt.« (Çetin 2012: 10, 12)
Diese provokante dekoloniale Perspektive ist höchst aktuell in Zeiten, in denen immer mehr Menschen nach Deutschland fliehen. Um Vorurteilen vorzubeugen und ein besseres Verständnis auch für sexuelle Fragestellungen in Migrationssituationen zu erlangen, müssen wir uns immer wieder die komplexen Verhältnisse der kolonialen Vergangenheit von sexuellen Identitätspolitiken und der verschiedenen Kulturtraditionen bewusst machen. Das heißt nicht, die teilweise brutale und menschenverachtende Verfolgung Homosexueller in zu vielen Ländern der Welt zu verharmlosen oder zu ignorieren und solchen Kontexten nicht mit Kritik zu begegnen, in denen »offene Homophobie zum Ausweis nationaler und kultureller Ehre geworden ist« (Heins 2016: 77). Dennoch ist eine einfach stigmatisierende Verbindung von Islam und Homophobie ebenso fatal und ahistorisch. Georg Klauda drückt die Problematik in seiner historischen Studie Die Vertreibung aus dem Serail: Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt so aus: »Homophobie wird […] einer überwunden geglaubten Vormoderne überantwortet, von der man meint, sie in Form türkisch-arabischer Migrant_innen wiederkehren zu sehen. […] Eine Sodomiterverfolgung, gar in den Dimensionen, wie sie in der europäischen Neuzeit stattfand, hat es im islamischen Herrschaftsbereich […] nie gegeben. Gleichwohl kann man heute von einer Schwulenverfolgung in verschiedenen islamischen Ländern sprechen, die sich als Überschneidung zweier Machtformen interpretieren lässt: der Unterscheidung islamischer Juristen zwischen erlaubten und verbotenen Handlungen sowie der modernen, aus dem westlichen Pathologie-Diskurs übernommenen Sortierung zwischen ›normalen‹ und ›anormalen‹ Subjekten.« (Klauda 2008: 9)
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Ein gesellschaftlich und politisch produktiver Diskurs darf sich nicht in kulturhistorischen Vereinfachungen und ›Normalisierungen‹ beziehungsweise ›Naturalisierungen‹ verlieren, die dazu führen, mit dem Finger auf die vermeintlich schuldigen ›anderen‹ zu zeigen. Stattdessen sollte das einzige und zentrale Ziel sein, Diskriminierung und Verfolgung zu verhindern und abzubauen. Hierfür ist, gerade jetzt, ein differenzierter Dialog notwendig, der sich mit der komplexen, kulturübergreifenden Geschichte von Homophobie auseinandersetzt, »eine soziale Kritik, die das Bewusstsein der Gefahr des Ethnozentrismus als Korrektiv bewahrt, die Missachtung anderer Gruppen vermeidet und doch nicht vor (zumutbaren) Zumutungen für alle zurückschreckt« (Simon 2016: 99). Der Abbau von (›externer‹ und ›internalisierter‹) Homophobie durch Bildung, historisch bewusste Politik und Aufklärung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Obwohl klar ist, »dass Vorurteile sich durch bloßen Wissenszuwachs und umfassendere Informationsverbreitung nicht entscheidend verändern lassen« (ebd.: 97), kann – neben dem weiterhin unabdingbaren aktivistischen Einsatz für Gleichberechtigung und Anerkennung – eine differenzierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Mechanismen, der Geschichte und den intersektionalen Verflechtungen von Homophobie einen Beitrag leisten zu »Veränderungen im […] kollektiven Selbst-Verständnis […und zur] Änderung der Verkoppelung von Vorurteil und kollektivem Selbst-Verständnis« (ebd.: 97). Die eingangs diskutierten Texte von Louis und Eribon machen deutlich, dass die Forderung nach einem intersektionalen Blick auf Homophobie notwendigerweise im Zusammenhang mit der Produktion problematischer Männlichkeiten im immer noch machtvollen Klassengefüge verschiedener Gesellschaften stehen muss. Nur durch die Anerkennung der Komplexität des Systems von Geschlechterordnungen, sozialen, rassistischen und anderen Kategorisierungen und dem machtvollen Affekt der Scham kann vielleicht ein besseres Verständnis dessen, was wir als ›Homophobie‹ bezeichnen, erlangt werden. Das oben skizzierte Wissen um Politik, Geschichte und soziale Dynamiken ist hierfür unabdingbar und muss mit kritischem Blick auf die Geschichte homophober Ausgrenzung, der Kriminalisierung und versuchten Vernichtung homosexueller Menschen, mit kritischem Blick auf konkrete soziale Wirklichkeiten und der Frage, welche Rolle Homophobie für Repräsentation und Sprachfähigkeit vielfältiger Entwürfe von Homosexualitäten spielt, und mit kritischem Blick auf ›internalisierte Homophobie‹ verschränkt bleiben.
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L iteratur Barton, Bernadette (2012): Pray the Gay Away: The Extraordinary Lives of Bible Belt Gays, New York und London: New York University Press. Bogen, Ralf (2015): »Ausgrenzung und Verfolgung homosexueller Männer in Württemberg«, in: Der Bürger im Staat 1, S. 36-43. Çetin, Zülfukar (2012): Homophobie und Islamophobie: Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin, Bielefeld: transcript. Connell, Raewyn W. (1995): Masculinities, Cambridge: Polity Press. Crenshaw, Kimberlé (1989): »Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics«, in: University of Chicago Legal Forum, S. 139-67. Domeier, Norman (2015): »Die sexuelle Denunziation in der deutschen Politik seit dem frühen 20. Jahrhundert«, in: Der Bürger im Staat 1, S. 24-30. Eschebach, Insa (2012): »Einleitung«, in: Insa Eschbach (Hg.), Homophobie und Devianz: Weibliche und Männliche Homosexualität im Nationalsozialismus, Berlin: Metropol, S. 11-20. Eribon, Didier (2017): Rückkehr nach Reims, Berlin: Suhrkamp. Frost, David M./Meyer, Ilan H. (2009): »Internalized Homophobia and Relationship Quality among Lesbians, Gay Men, and Bisexuals«, in: Journal of Counseling Psychology 56 (1), S. 97-109. Heins, Volker M. (2016): »Stichwort: Die Gegenwart der Homophobie«, in: WestEnd: Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2, S. 75-81. Klauda, Georg (2008): Die Vertreibung aus dem Serail: Europa und die Heteronormalisierung der islamischen Welt, Hamburg: Männerschwarm Verlag. Krell, Claudia/Oldemeier, Kerstin/Müller, Sebastian (2015): Coming-out – und dann…?! Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebenssituation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und jungen Erwachsenen, München: Deutsches Jugendinstitut e.V. Küpper, Beate/Zick, Andreas (2015): »Homophobie: Zur Abwertung nicht-heterosexueller Menschen«, in: Der Bürger im Staat 1, S. 4-13. l’Amour laLove, Patsy (2015): »Die ungeliebte Tunte«, in: Der Tagesspiegel online vom 08.07.2015. Louis, Édouard (2017): Das Ende von Eddy, Frankfurt a.M.: Fischer. Mason, Gail (2002): The Spectacle of Violence: Homophobia, Gender, and Knowledge, London und New York: Routledge. Möller, Kurt (2015): »Heterosexismus bei Jugendlichen: Erscheinungsweisen und ihre Begünstigungs- sowie Distanz(ierungs)faktoren«, in: Der Bürger im Staat 1, S. 14-23. Penny, Daniel. (2017): »#Milosexual and the Aesthetics of Fascism«, in: Boston Review: A Political and Literary Forum, 24 January 2017.
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Simon, Bernd (2016): »Ablehnung von Homosexualität: Vorurteil, Respekt, Politisierung«, in: WestEnd: Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2, S. 95-105. Theweleit, Klaus (2016): »›Homophobie‹: Keine Ahnung, was das ist«, in: WestEnd: Neue Zeitschrift für Sozialforschung 2, S. 83-93. Wolter, Stefanie (2015): »Lebenssituationen und Repressionen von LSBTI im Nationalsozialismus: Desiderate und Perspektiven der Forschung«, in: Der Bürger im Staat 1, S. 31-35. zur Nieden, Susanne (2005): »Einleitung«, in: Susanne zur Nieden (Hg.), Homosexualität und Staatsräson: Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900-1945, Frankfurt und New York: Campus, S. 7-14.
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»Die fassen sich da an« Aggressiv-spaßige Kommunikation mit Referenzen auf Homosexualität in einer Gruppe junger Männer mit Migrationshintergrund Halyna Leontiy
Der vorliegende Beitrag geht zurück auf das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte und zwischen 2012 und 2016 am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen durchgeführte Forschungsprojekt zum Thema »Migration und Komik – Soziale Funktionen und konversationelle Potentiale von Komik und Satire in den interethnischen Beziehungen Deutschlands«, genauer gesagt auf die Teilstudie »Ethnographie der Alltagskomik«. Hierbei fragte die Teilstudie nach Selbst- und Fremdkonstruktionen sowie In- und Out-Group-Effekten unter türkischen Migrant*innen und Spätaussiedler*innen sowie der zweiten und dritten Generation ihrer Nachkommen. Ausgewählt wurde dabei die Perspektive der Komik im weitesten Sinne einer pragmatischen Definition: als ernst Unernstes beziehungsweise unernst Ernstes. Komik wird dabei als Oberbegriff für alle komischen (sowohl inkludierenden als auch exkludierenden) Ausprägungen verwendet und als ein pragmatisches Konzept, also als ein Bündel von verschiedenen Faktoren: Komik ist abhängig von den Beteiligten und ihrer sozialen Beziehungskonstellation sowie von der Motivation und der jeweiligen Situation beziehungsweise dem Kontext des Ereignisses1. Bei der Analyse des Datenmaterials (der Gruppengespräche) einer männlichen Jugendgruppe mit muslimischer Religionsangehörigkeit und (mehrheitlich) deutsch-türkischem Migrationshintergrund weisen Episoden der das Poker- oder Playstationspiel begleitenden Gruppenkommunikation eine Auffälligkeit auf: Dort finden kontinuierlich wechselseitige spielerische kommunikative Angriffe mit Referenz auf Homosexualität statt. Genau diesen Episoden widmet sich der vorliegende Beitrag mit der Frage nach ihrer Funktion für die Kommunizierenden. Die Frage ist, inwiefern diese Referenzen Bausteine der kommunikativen Konstruk1 | Zur ausführlichen Darstellung der Konzeption des Forschungsprojekts vgl. Leontiy 2013, 2014 und 2016/2017.
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tion des Geschlechts – stereotyper heterosexueller Männlichkeitsbilder – auf der einen Seite und die Verhandlung von ›Männlichkeit‹ zwischen zur Schau gestellter Homophobie und Intimität auf der anderen Seite darstellen. Ausgehend vom Homosexualitätsdiskurs in Migrantenmilieus Deutschlands wird auf den Stand der Männlichkeits- und Homophobieforschung insbesondere im Islam eingegangen. Im nächsten Schritt werden die zentralen Sequenzen aus dem Audio- beziehungsweise Videodatenmaterial zur Jugendgruppe vorgestellt und interpretiert 2 .
E instellungen zu H omosexualität in M igrant * innenmilieus Während der Deutsche Bundestag am 30. Juni 2017 für die Öffnung der Ehe für schwule und lesbische Paare (sogenannte »Ehe für alle«) gestimmt hat, was eine Reaktion auf einen gesellschaftlichen Wandel darstellt, bleibt Homosexualität in bestimmten sozialen sowie staatlichen Institutionen, wie zum Beispiel den Familien und den Schulen, nach wie vor ein schwieriges Thema, was zahlreiche Studien belegen3. So wurden in einer Studie, die im Kontext des Projekts »Migrationsfamilien« des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) durchgeführt wurde, Homosexuelle mit und ohne Migrationshintergrund nach erlebter Gewalt aufgrund der sexuellen Orientierung befragt (vgl. LSVD 2010). Die Studie ergab, dass die Lebenssituation von Lesben und Schwulen mit Migrationshintergrund als Gesamtgruppe in vielen Aspekten und vor allem in außerfamiliären Bereichen große Ähnlichkeiten zu der von Lesben und Schwulen ohne Migrationshintergrund aufweist, zum Beispiel in Bezug auf gleich häufige Diskriminierungserfahrungen wie Bedrohungen und körperliche Gewalt (vgl. Steffens/Bergert/Heinecke 2010: 102). Dennoch ergeben sich Unterschiede zwischen den Stichproben hinsichtlich folgender Merkmale: »Bei insgesamt schwacher Ausprägung in beiden Gruppen ist die Religiosität in der Gruppe mit Migrationshintergrund etwas höher ausgeprägt; während in beiden Teilstichproben die große Mehrheit anderen Personen von ihrer sexuellen Orientierung erzählt hat, gibt es in der Gruppe mit Migrationshintergrund mehr Personen ohne Coming-out (die Hinderungsgründe beim Coming-out scheinen aber unabhängig von einem Migrationshintergrund); Eltern der Vergleichsgruppe reagieren durchschnittlich positiver auf die Homosexualität der Kinder als Eltern mit Migrationshintergrund, bei denen die Verletzung von moralischen und religiösen Werten häufiger als Gründe für negative Reaktionen angeführt werden. Dieser Unterschied ist zurückzuführen auf die Subgruppe, deren Eltern aus einem Land mit größeren Repressalien gegenüber Homosexuellen stammen, die einen geringen Schulabschluss 2 | Ich bedanke mich bei Frau Dr. Julia Uhlik von der Donau-Universität Krems sowie den Herausgeber*innen des Bandes für die konstruktive Kritik an meinem Beitrag. 3 | Vgl. http://www.schule-der-vielfalt.de/homophobie_zahlen.htm; vgl. auch die von Sielert/Timmermanns (2011) dargestellten empirischen Studien.
»Die fassen sich da an« und keine gute berufliche Position haben. Den größten Erklärungswert für negative Reaktionen hat bei in Deutschland lebenden Eltern der Mangel an sozialen Kontakten zu Deutschen ohne Migrationshintergrund.« (Ebd.)
Zu ergänzen ist zum letzten Satz dieses Zitats allerdings, dass sich soziale Kontakte zu autochthon Deutschen nur dann toleranzfördernd auswirken, wenn es sich um Deutsche mit liberaler Gesinnung und nicht um einen konservativ-homophoben Teil der deutschen Bevölkerung handelt. Da familiale Bindungen insbesondere für Menschen mit Migrationshintergrund oft von existenzieller, identitätstangierender Bedeutung sind, stehen Betroffene nicht selten vor der Wahl, entweder die eigene Homosexualität zu verbergen und ein Doppelleben zu führen, oder sich dazu zu bekennen und gegebenenfalls mit ernsthaften Konsequenzen bis hin zu Gewalterfahrungen und Ausschluss aus der Familie zu rechnen. Eine Umfrage, die unter 1000 Schüler*innen in Berliner Gesamtschulen und Gymnasien durch ein Team von Sozialpsycholog*innen der Universität Kiel im Sommer 2006 durchgeführt wurde, ergab, dass Homophobie vor allem bei russischund türkischstämmigen Schüler*innen ausgeprägt ist und mit dem Grad der Religiosität und eigenen Diskriminierungserfahrungen verbunden ist. Mit steigender Integration nehme die Homophobie ab, genauso wie mit dem steigendem Alter bei den türkischstämmigen Jungen (vgl. Simon 2008). Allerdings sollte vermieden werden, das Problem der Homophobie zu ethnisieren; es kommt vielmehr auf die Herkunftsgesellschaft der Migrant*innen an. Die von Sielert und Timmermanns durchgeführte Expertise der aktuellen Studien zur Lebenssituation schwuler und lesbischer Jugendlicher in Deutschland4 hat zwar keine eindeutigen Belege dafür gefunden, »ob in der Gesamtbevölkerung eine homophobe Gewaltneigung zu- oder abnimmt bzw. bei welchen Gruppen eine besondere Gewaltneigung diagnostiziert werden kann« (Sielert/Timmermann 2011: 32). Allerdings vermuten die Autor*innen eine gewisse »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« (ebd.), die in Verbindung mit diversen Migrationsbewegungen entsteht: »Für homosexuellenfeindliche Einstellungen wurden aus sozialpsychologischer Perspektive bisher drei prominente psychologische Korrelate identifiziert: Religiosität, traditionelle Männlichkeitsnormen und Häufigkeit von Kontakten (zur autochthonen deutschen Bevölkerung) (vgl. Simon 2008). Es ist dringend notwendig, die Forschung zu intensivieren und auszudifferenzieren. Das Korrelat ›Religiosität‹ zum Beispiel ist viel zu grob gewählt, als dass es als hinreichende Variable für homosexuelle Einstellungen herhalten könnte«. (Sielert/Timmermann 2011: 32.)
4 | Vgl. https://www.sozialpaedagogik.uni-kiel.de/de/professur/downloads/expertise-zum-themahomos exuelle-jugendliche.
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Zusammenfassend erscheinen folgende Faktoren für die Entstehung von Homophobie relevant: Alter, Bildungs-, Religiositäts- und Integrationsgrad sowie Männlichkeitsvorstellungen. Im Folgenden soll lediglich auf die beiden für die diesem Beitrag zugrundeliegende Datenanalyse relevanten zentralen Faktoren – Religiosität und traditionelle Männlichkeitsnormen – eingegangen werden. Während die jungen Männer unterschiedliche Bildungsgrade aufweisen, sind Alter, Religion und die familiäre Herkunft aus traditionellen Gesellschaften verbindende Kategorien.
M ännlichkeitsforschung Seit den 1990er-Jahren widmet sich die interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung Fragen des sozialen Geschlechts. Vor allem ethnographische und individualgeschichtliche Methoden als zentrale Forschungstechniken führten »zu einer Explosion von Untersuchungen über die soziale Konstruktion von Männlichkeit in den verschiedensten Epochen und an den unterschiedlichsten Orten« (Connell 2000: 20). Connell nennt dies »das ›ethnographische Stadium‹ in der Männlichkeitsforschung« (ebd.: 20f.). Aus diesen Arbeiten sind differenzierte Erkenntnisse hervorgegangen, wie zum Beispiel über die Existenz einer Vielzahl von Männlichkeitsmustern, denn »[u]nterschiedliche Kulturen und geschichtliche Epochen konstruieren soziales Geschlecht in unterschiedlicher Weise« (ebd.: 21). Dabei muss stets ins Bewusstsein gebracht werden, dass eine Kulturkonstruktion immer ein dynamischer Prozess ist; wie sich eine Kultur konstituiert, wie viele Kulturen es in einer Gesellschaft gibt und welche Männlichkeitsvorstellungen dort jeweils vorherrschen, bleibt den Kulturträger*innen oft unbewusst. Zudem bestünden laut Connell zwischen verschiedenen Männlichkeiten »klar umrissene soziale Beziehungen« (ebd.), die zuallererst hierarchische seien. Connell spricht von einer Dominanz sogenannten »hegemonialer« Form der Männlichkeit: »diejenige, die am anerkanntesten oder begehrtesten ist. Dies braucht nicht unbedingt die geläufigste, geschweige denn die bequemste Form der Männlichkeit zu sein. Tatsächlich leben viele Männer in einem Spannungsverhältnis oder auf Distanz zur hegemonialen Männlichkeit«. (Ebd.: 21f.; vgl. auch Connell 1990). Dabei ist die Konstruktion von Männlichkeiten ein kollektiver, kulturabhängiger und von Institutionen gestützter Prozess (vgl. Connell 2000: 22.). Seit Connell befasst sich die Forschung mit Themen wie konkurrierenden Männlichkeiten, Männlichkeiten im Wandel, aber auch zunehmend mit der Analyse um den Themenkomplex Klasse, ‚Rasse‘, Ethnizität, soziale Schicht in Verbindung mit Machtfragen, wie die Komplexität einer postmodernen vielkul-
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turellen Gesellschaft dies erfordert (vgl. zum Beispiel Baur/Luedtke 2008; Döge/ Meuser 2001; Bosse/King 2000 5). Männliche Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund standen seit Beginn des Diskurses über die Integration der Gastarbeiter und ihrer Kinder im Fokus sowohl der Politik als auch der sozialwissenschaftlichen Forschung. Thematisiert wurden vorwiegend: Normabweichungen verschiedenster Art (Kriminalität, Drogenkonsum, Gewalttätigkeit; vgl. beispielsweise Tertilt 1996, Nohl 1996, Baier/ Pfeiffer/Windzio 2006, Baier/Pfeiffer 2008), Desintegration (vgl. Heitmeyer 1994, Heitmeyer/Dollase/Backes 1998), Religion und patriarchal-männlicher Habitus (vgl. Schiffauer 1983, Heitmeyer/Müller/Schröder 1997), Konflikte mit konkurrierenden Migrantengruppen (vgl. Babka von Gostomski 2003 und 2005), archaische Gendervorstellungen und Praktiken wie der Ehrenkodex und die Kontrolle der weiblichen Sexualität (vgl. Schiffauer 1983, Toprak 2005) und viele andere. Vor allem die archaischen Gendervorstellungen und Vorstellungen vom »richtigen Mann« (der Begriff stammt aus dem Datenmaterial von Bohnsack 2001) dominierten den Diskurs (wobei der Fokus von der Täterschaft auf die Wechselwirkung zwischen dem Täterund Opfersein ausgeweitet wurde; vgl. zum Beispiel Spies 2010, Baier/Pfeiffer/Windzio 2006). Inzwischen hat sich der Fokus von Forschungen zu deutsch-türkischen Männlichkeiten den Thematiken im Bereich der Männlichkeitsforschung angeglichen. Auch bei jungen Männern mit Migrationshintergrund wird die Komplexität sozialer Wirklichkeit fokussiert, was zur Folge hat, dass eine Diversität der Männlichkeitsvorstellungen und Praktiken gesehen wird.
H omosexualität und I slam Themen wie ›Homophobie im Islam‹, ›schwule Ehrenmorde‹, aber auch die Kompatibilität von muslimischer Religionszugehörigkeit und Homosexualität wurden in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sowohl in den Medien aus verschiedenen Perspektiven (sowohl der Betroffenen als auch der Expert*innen) diskutiert. Die Häufigkeit der Beiträge und die Brisanz der Themen weisen auf ein aktuelles Problem in der vielkulturellen deutschen Gesellschaft hin. Muslime, die Homosexualität ablehnen, berufen sich dabei auf die Heilige Schrift des Koran. Islamwissenschaftler*innen wie Thomas Bauer erklären allerdings, dass der Koran im frühen Stadium der Religion keine expliziten Vorschriften zum Verbot der gleichgeschlechtlichen Beziehungen aufweist; diese Vorschriften wurden zwar unter dem Einfluss der anderen Religionen später eingeführt, für ihre Durchsetzung 5 | Vgl. dazu auch die Tagung des Arbeitskreises für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung, die vom 01.06.2017 bis zum 03.06.2017 in Stuttgart stattfand und sich der Analyse der Konstruktion von Männlichkeit zwischen verschiedenen Kulturen widmete (vgl. H-Soz-Kult, 30.06.2017, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7226).
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aber zugleich starke juristische Hindernisse geschaffen. Detailliertere Auseinandersetzungen mit Koranstellen, die als Homosexualitätsverbot ausgelegt werden, weisen entweder ein Übersetzungs- oder Deutungsproblem auf (vgl. Bauer 2015: 74ff.). Dagegen schlussfolgert Bauer, »dass männliche Schönheit im Koran viel eindeutiger thematisiert wird als ein Verbot von gleichgeschlechtlichem Sex« (ebd.: 75). Für die aktuelle – im Vergleich zur homoerotischen Kultur des 8. Jahrhunderts (vgl. ebd.: 81) – Problematisierung der gleichgeschlechtlichen Beziehungen in den meisten islamischen Gesellschaften nennt Bauer 1) westliche Einflüsse aus dem 19. Jahrhundert (Übernahme der viktorianischen Moral), 2) die Übernahme der ebenfalls westlichen Hetero-Homo-Binarität seit Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts sowie 3) den Drang in kapitalistischen Konsumgesellschaften nach der Herausbildung einer eigenen Identität, was auch Bereiche erfasst, die früher nicht identitär besetzt waren, wie den Sex. An die Stelle von Praktiken (Sex haben) sind heute Identitäten (Sexualität) getreten. In der Konkurrenz der Identitätskonzepte ›Nationalität‹ und ›Religiosität‹ wurde die Sexualität durch die jeweiligen Moralvorstellungen (früher waren es die westlichen, nun sind es die der islamischen Rechtsgelehrten) eingeschränkt (vgl. ebd.: 86-89). Abseits der historisch-kritischen Auslegung des Korans durch Islam wissenschaftler*innen oder liberale Muslim*innen weisen sowohl zahl-reiche TVReportagen, Meinungsumfragen in der Diaspora, als auch Wissenschaftler*innen auf einen hohen Grad an Homophobie innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland hin. Thematisiert werden vor allem von Homophobie betroffene Männer, die in zahlreichen Reportagen zu Wort kommen. Homosexuellen männlichen Familienangehörigen wird eine Verletzung der kulturellen und religiösen Traditionen vorgehalten. Für die Familien seien sie ›Haram‹ (Schande), für solche Familienmitglieder werde sogar eine Therapie (gegebenenfalls im Ausland) gefordert6. Je nach kultureller Tradition und aktueller Staatsregierung werden in verschiedenen Ländern der Welt Homosexualität und ihr Stellenwert im Islam unterschiedlich gedeutet. Einige Männer sind aus ihren Herkunftsländern Iran, Irak, Sudan, wo Homosexualität unter Todesstrafe steht, geflohen; seit 2013 gilt Homosexualität in Deutschland als Asylgrund. Eine liberale Deutung des Islams praktiziert die Rechtsanwältin und Autorin Seyran Ateș, die am 16. Juni 2017 die erste liberale Moschee in Berlin-Moabit eröffnete, in der eine Imamin das Gebet leitet, wo Frauen und Männer nebeneinander beten, wo jede Person willkommen ist, ungeachtet ihrer Herkunft, 6 | Hier sind nur einige Beispiele: Eine Reportage zur Homophobie unter türkischen, deutsch-türkischen u.a. Moslems erschien nach dem Ehrenmord von Ahmet Yildiz 2009: https://www.youtube.com/ watch?v=tfGx0ndLZYY (letzter Zugriff am 10.09.2017), gefolgt von zahlreichen Presseartikeln wie z.B.: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/ehrenmord-ahmets-schaendlicher-tod-1811930. html (letzter Zugriff am 10.09.2017); eine weitere Reportage auf ZDF vom 6.3.2017: https://www.zdf.de/ verbraucher/volle-kanne/volle-kanne---service-taeglich-clip-6-274.html (letzter Zugriff am 10.09.2017).
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ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung. Seitdem ist sie massiven Beleidigungen und Todesdrohungen sowohl aus der Türkei als auch seitens der in Deutschland lebenden radikalen Muslime ausgesetzt und steht aufgrund der akuten Lebensgefahr unter Personenschutz des Berliner Landeskriminalamts7. In ihrem 2011 erschienenen Buch, das genau auf die oben beschriebenen negativen Erscheinungen (Bedrohungen homosexueller Muslime) antwortet, fordert sie eine sexuelle Revolution im Islam: »Genau wie die Frauen und Männer in westlichen Ländern, die in den 60er Jahren erfolgreich für ihre sexuelle Selbstbestimmung gekämpft haben, müssen sich auch die Musliminnen und Muslime ihre Rechte erstreiten. Nur so können Freiheit und Menschenwürde in der islamischen Welt wirklich gelebt werden.« 8
In Deutschland gibt es inzwischen Foren und Vereine zum Schutz der Rechte von homosexuellen Moslems, wie die Projekte »Baraka« und »Rubikon« in Köln9 oder »Miles« in Berlin10. Trotz gestiegener gesellschaftlichen Toleranz gegenüber Homosexuellen in Deutschland bleibt Homosexualität vielerorts, vor allem in Familien, ein Tabu-Thema, das einer Aufklärung bedarf. Diese Aufklärung könnte zum Beispiel von liberal(er) eingestellten Geschwistern in einer deutsch-türkischen Familie kommen, was zum Schluss dieses Beitrags thematisiert wird. Wie dieses Tabu-Thema in der Kommunikation einer Männergruppe aufgegriffen wird und welche Rolle die Kommunikation mit homosexuellen Referenzen in dieser Gruppe junger Männer mit muslimischem und vorwiegend deutsch-türkischem Migrationshintergrund für ihre Männlichkeitskonstruktionen spielt, soll der vorliegende Beitrag zeigen.
M ethoden und D atenmaterial : G enealogie einer männlichen J ugendgruppe und ihrer K ommunikationsformen Im Fokus dieses Beitrags stehen Alltagskommunikationen einer Jugendgruppe in Nordrhein-Westfalen, deren Treffen im Rahmen des DFG-Forschungsprojektes »Migration und Komik« zwischen Dezember 2013 und Dezember 2014 von einer internen Person11 ethnographisch begleitet und dabei ›live‹ Gespräche mit einem digi7 | Vgl. http://www.berliner-zeitung.de/berlin/liberale-moschee-seyran-ates-ist-zielscheibe-des-fana tischen-hasses-27846170. 8 | Aus der Buchbeschreibung, vgl. http://www.ullsteinbuchverlage.de/nc/buch/details/der-islambraucht-eine-sexuelle-revolution-9783548373713.html. 9 | Vgl. http://www.baraka-online.info/; http://www.rubicon-koeln.de/Home.473.0.html. 10 | Vgl. http://berlin.lsvd.de/projekte/miles/. 11 | Die Ethnographin und teilnehmende Beobachterin ist Angehörige des Verwandtschaftskreises eines der Jugendlichen und zugleich studentische Mitarbeiterin des Forschungsprojekts. Nur auf diese
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talen Gerät aufgenommen wurden (vgl. Leontiy/Yilmaz 2016/2017). Es handelt sich um eine Jugendgruppe von ca. 20 jungen Männern (gruppiert um zehn Kernmitglieder) im Alter von 24 bis 27 Jahren mit vorwiegend deutsch-türkischer Herkunft (darunter zwei Mitglieder mit persischem und einem mit pakistanischem Hintergrund). Trotz verschiedener schulischer und beruflicher Werdegänge stellt die Gruppe eine zeitlich dauerhaft angelegte (über 25 Jahre), auf gemeinsamer kultureller und geschlechtlicher Sozialisation basierte Gemeinschaft mit gleicher räumlichen Nähe, aber unterschiedlichen sozialen Nähegraden dar (mehr dazu vgl. Leontiy/Yilmaz 2016/2017: 255ff.). Enge Dyaden und Triaden (nach Simmel) werden über Verwandtschaft (Brüder und Cousins) oder gemeinsame Sozialisation (Aufwachsen im gleichen Ort, Mitgliedschaft in Vereinen, Schulbesuch) gebildet. Die Eltern einiger junger Männer verbindet eine gemeinsame Abstammung aus demselben Ort in der Türkei sowie eine enge Freundschaft. Andere Gruppenmitglieder wiederum wurden von Einzelnen zu einem späteren Zeitpunkt in die Gruppe gebracht. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung befanden sich die jungen Männer in einer Umbruchsphase zwischen ihrer Jugend im elterlichen Haus und dem Erwachsensein, das üblicherweise mit der beruflichen Selbständigkeit und Familiengründung einsetzt, so dass sie die äußere Grenze der Jugend markiert12. Die Kontinuität der Treffen variierte und veränderte sich zunehmend durch Eheschließung und Familiengründung der zentralen Gruppenmitglieder und kann als ›stetige Spontaneität‹ (Begriff der Autorin) charakterisiert werden. Neben dem geselligen Zeitvertreib und gemeinsamer Sportbetätigung gehörten praktische Hilfeleistungen im Alltag (wie zum Beispiel Umzüge) zu den weiteren Gründen der Zusammenkünfte. Das Datenmaterial wurde während der Freizeittreffen erhoben, die zumeist darin bestanden, nach dem gemeinsamen Essen in Privaträumen Poker zu spielen und sich dabei zu unterhalten. Vier solcher Treffen wurden als Audio beziehungsweise Video aufgezeichnet; das gesamte Datenmaterial wurde transkribiert. Zusätzlich dazu fertigte die Ethnographin beobachtende Memos an. Gemeinsame Interpretationssitzungen zum Datenmaterial wurden ebenfalls als Audio aufgezeichnet, da sie wichtige kontextualisierende Informationen seitens der Ethnographin in der Rolle der Co-Interpretin beinhalteten (mehr dazu vgl. Leontiy/Yilmaz 2016/2017: 251f.). Sowohl theoretisch als auch methodisch wird im Projekt die Perspektive hermeneutischer Wissenssoziologie (vgl. Hitzler/Reichertz/Schröer 1999; Soeffner 2004) herangezogen, die ein rekonstruktives Vorgehen bei der Erforschung sozialer Wirklichkeit ermöglicht. Die Analyse der Forschungsdaten erfolgte im Sinne der hermeWeise waren die Datenerhebung sowie die Rekonstruktion des Kontextes der Gesprächsdaten überhaupt möglich. Die folgenden Analysen sowie das Verfassen des Beitrags erfolgten jedoch ohne die Beteiligung der Ethnographin. 12 | Wie Heinz (2007) feststellt, ist das Ende der Jugendphase seit den 1980er Jahren »offener, also auch biographisch individueller geworden«, so dass »Berufseinstieg und Familiengründung zu zeitlich offenen Statuspassagen geworden« (ebd.: 173) sind.
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neutisch-interaktionistischen Interpretation (analog zur Studie von Keppler 1994) und zielt auf die Rekonstruktion der in der Audio-/Videoaufnahme eingefangenen, im Transkript ›eingefrorenen‹ sozialen Interaktion und Kommunikation. Wie Connell (2000) argumentiert, sind Männlichkeiten »weder in unsere Gene einprogrammiert noch sind sie durch soziale Strukturen bestimmt. Sie entstehen im Handeln der Menschen. Sie werden aktiv erzeugt, indem man sich der in einem bestimmten sozialen Kontext verfügbaren Mittel und Strategien bedient.« (Ebd.: 22f.) Hierzu gehört auch das kommunikative Handeln. Die Erforschung der Alltagskommunikation hat seit den 1970er-Jahren (im Zuge des ›communicative turn‹ in der Sprachwissenschaft und in der Soziologie) zunehmend Aufmerksamkeit erhalten. So hat Keppler (1994) mit der Analyse familiärer Tischgespräche gezeigt, dass dadurch »allgemeine sprachliche Formen und Mechanismen« analysiert werden können, »die bei der Ausbildung des sozialen Milieus der Familie eine tragende Rolle spielen« (ebd.: 9). Es geht dabei um den sozialen Prozess der Identitätsbildung und um die soziale Orientierung der Beteiligten, die in einem interaktiven Rahmen geschehen, den es zu rekonstruieren gilt. So knüpft auch der vorliegende Beitrag theoretisch an die Erforschung der Alltagskommunikation an, also der Lebenswelt des Alltags, die die Mitglieder der Jugendgruppe während der gemeinsamen Freizeit zeitlich, räumlich und sozial teilen und die einen Interaktionsraum darstellt. Auch wenn unsere Daten nicht speziell mit dem Fokus der Geschlechterforschung oder Men’s Studies erhoben und analysiert wurden, bieten sie – unverhofft – einen ersten Einblick in die soziokulturelle Konstruktion von Männlichkeit in dieser Männergemeinschaft. Generell wurde eine offene Herangehensweise an die Datenerhebung und Analyse bevorzugt, welche uns ermöglichte, Relevanzen über die Fragestellung des Forschungsprojektes hinaus zu finden, die aus dem Forschungsfeld selbst hervorgebracht wurden. Ausgewählt wurden Sequenzen, die im Sinne von Bohnsack (2001) als »Orientierungsfiguren« bezeichnet werden können, nämlich diejenigen, »die durch den gesamten Diskurs hindurch, d.h. an unterschiedlichen Themen (also in unterschiedlichen Passagen) in homologer Weise immer wieder beobachtbar sind« (ebd.: 54; Herv. i. Orig.).
Z ur K omik als K ommunikationsform Da das Forschungsprojekt, aus dem die Gesprächsdaten stammen, Komik als ein spezifisches Mittel der Verarbeitung eines Ereignisses zum Thema hatte, soll zudem auf die Rolle der Komik für die vergeschlechtlichte Selbst- und Fremdkonstruktion eingegangen werden. Unter den Komik-Gattungen in unserem Datenmaterial dominieren ›Frotzeln‹ und ›Dissen‹, wobei deren Unterscheidung nicht immer eindeutig ist. Dennoch wird bei einem Frotzelangriff meist ein Verhalten,
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eine Handlung oder eine Charaktereigenschaft einer anwesenden Person spielerisch-provokativ als abweichend vorgeführt (vgl. Günthner 2006: 81ff.). Beim ›Dissen‹ dagegen geht es um nicht ernst gerahmte Angriffe rüder und direkter Art, die einer inhaltlichen Grundlage entbehren und neben vergemeinschaftenden Effekten (wie das Frotzeln auch) vor allem das Einüben von Schlagfertigkeit zum Ziel haben. ›Dissen‹ bemisst sich eher an performativen als an inhaltlich-argumentativen Kriterien; es geht hier also um ein ›Battle‹ (vgl. Neumann-Braun/Deppermann/Schmidt 2002: 246f.). Im Unterschied zur institutionalisierten Komik auf der Bühne in Form von Comedy/Kabarett dient Komik in den Alltagsinteraktionen nicht zwangsläufig als Ventil für gesellschaftlichen Unmut oder zur Entlastung von problematischen Erlebnissen; es geht dabei auch nicht um narrative Witzformate. Vielmehr geht es um eine spontane, situativ bedingte, interaktiv und kollektiv hergestellte und lebensweltlich verankerte Komik, die für ihre Analyse Kontextwissen voraussetzt13. Komik spielt in dieser (wie wahrscheinlich in fast jeder) Jugendgruppe zuallererst eine vergemeinschaftende und unterhaltende Rolle (vgl. Deppermann/Schmidt 2001; NeumannBraum 2003 und viele andere.). Zugleich finden im Modus des Spaßes, des Angriffs und der Abwehr Identitätsaushandlungen sowie die Aushandlung von Werten und Normen statt, weswegen die Untersuchung von Komik-Kommunikation soziologisch relevant ist (vgl. Neumann-Braun/Deppermann/Schmidt 2002). Die Kommunikation der jungen Männer zeichnet sich durch eine dynamische Interaktionsstruktur mit aggressiven Komponenten und einer ausgeprägten Überbietungslogik aus, die für die Jugendsprache und eine vom Hip-Hop beeinflusste Jugendkultur typisch sind und sich nicht auf die Beschreibung der Alltagskomik dieser Communities beschränken lassen. Es ist zunächst nicht verwunderlich, dass der Kommunikation eine Themenzentrierung fehlt, weil das Spiel und die ›Battle‹ im Fokus stehen. Der gesamte Kommunikationsstil kann im Sinne von Neumann-Braun/ Deppermann/Schmidt (2002: 256) als »durchgehend kompetitiver Interaktionsstil« bezeichnet werden. Das Lachen ist zumeist nicht dem Witz geschuldet, sondern der körperlich eingestimmten gemeinschaftlich hergestellten Komik-Kommunikation14. Im Folgenden werden Sequenzen aus dem Datenmaterial vorgestellt, in denen das Thema Homosexualität implizit oder explizit in die Kommunikation eingebaut und dadurch die wechselseitige Geschlechtlichkeit verhandelt wird. In diesem Datenmaterial beteiligen sich folgende Gruppenmitglieder: MA, TG und SY sind Deutsch-Türken; AB und OB sind Deutsch-Pakistani und Brüder; SE ist DeutschIraner. BT ist die Schwester von SY, die diese Gespräche aufgenommen hat.
13 | Zur Kontrastierung zwischen Bühnenkomik und Alltagskomik vgl. Leontiy 2016/2017b: 6f. 14 | Mehr zur Komik-Kultur dieser Jugendgruppe vgl.. Leontiy/Yilmaz 2016/2017.
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K omik mit (homo) sexueller R eferenz Die untersuchte Jugendgruppe weist nicht nur kulturelle Ähnlichkeiten auf, sondern ist auch geschlechtlich homogen. »In geschlechtshomogenen Freundschaften werden kollektive Standards für die Herausbildung der geschlechtlichen Identität entwickelt und erprobt. Zusammengefasst geht es in diesen Freundschaften um die interaktive Erarbeitung, praktische Einübung und bildhafte Darstellung und Inszenierung von Orientierungen und Praktiken, die eine Selbstpräsentation ermöglichen, die von Anderen als gelungen, als alters- und geschlechtsangemessen wahrgenommen und bestätigt wird.« (Jösting 2008: 45)
Deswegen sind solche Freundesgruppen wichtige Sozialisationsinstanzen, wie Bohnsack (2001) anhand der Zugehörigkeit zum selben »geschlechtsspezifischen Erfahrungsraum« (ebd.: 51ff) erläutert. Die geschlechtliche Sozialisation geschieht auch auf kommunikativer Ebene. Im kreativ-spaßigen, für die Freizeit der jungen Männer typischen kommunikativen Prozess werden (bewusst oder unbewusst) auch Männlichkeitsvorstellungen und damit auch eigene Gender-Identitäten laufend konstruiert, verhandelt, kritisiert und an die gemeinschaftlichen Vorstellungen angepasst. Auffallend ist, dass diese Konstruktionen häufig in Abgrenzung zur Homosexualität stattfinden. Es geht dabei aber um mehr als nur um eine bloße grob-aggressive Komik zum Zweck der Abgrenzung zur Homosexualität; es geht (auch) um die ästhetische Ausgestaltung einer gemeinsamen In-Group und die Konstruktion, Bestätigung und eventuelle Korrektur der eigenen Geschlechtsidentität beziehungsweise des als eine Richtnorm betrachteten Männlichkeitstypus. Auf Basis des vorhandenen Datenmaterials soll gezeigt werden, wie, in welchen kommunikativen Situationen sowie thematischen Kontexten, in welchem Modus (des Ernsten beziehungsweise des Unernsten) und mit welchem kommunikativen situativen Ziel Referenzen auf Homosexualität auftauchen. Generell werden (homo-)sexuelle Referenzen im Unterschied zu den allgemein körperfokussierten Sequenzen wie Rülpsen und Furzen einer strengeren kommunikativen Regelung unterworfen. Diese Referenzen werden vorwiegend im homogen-männlichen Kreis gemacht, wie dies beim Treffen der Jugendgruppe am 28. April 2015 in Abwesenheit von BT erfolgte. Das Gesprächsobjekt an diesem Abend war zum Beispiel eine ›Blondine‹, Trainerin im Fitnessstudio, das von zwei Männern besucht wird. Alle anderen Daten, die in Anwesenheit von BT erhoben wurden, zeigen eine starke Zurückhaltung hinsichtlich sexualisierter Ausdrücke. Überschreitungen dieser Regel werden markiert, wie die nachfolgende Sequenz zeigt. Dabei ist die Anwesenheit einer Frau, dazu einer Verwandten, in einer Männergruppe nicht als ein methodisches Problem zu werten, sondern als eine Art Krisenexperiment nach Garfinkel (1996), das dazu dient, durch die Störung der selbstverständlichen Basisannahmen einer sozialen Ordnung die unbewussten Basisregeln (und ihre Grenzen, die in dem folgenden Beispiel beim Geschlecht angesiedelt sind) aufzudecken.
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Fall 1: »Du hättest den gefickt Mann.« Transk_DT_JG_Pokerabend_DUS_08.12.2013, Min.26:26-26:5715 SY:
Musi #00:26:26-8#
MA:
Muss ich kurz lesen #00:26:27-8#
SY:
>>Du kannst doch gar nicht lesen>(?der kann sich nur an die Karten erinnern?)>Pass auf wie du redest>du bist schwul>Text