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German Pages 180 Year 1953
S A M M L U N G
G Ö S C H E N
BAND
170
Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts von
Werner Oehlmann
W a l t e r
de
G r u y t e r
&
Co.
vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag,Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.
Berlin
1953
Alle Rechte, einschl. der Rechte der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, von der Verlagshandlung vorbehalten
Copyright 1953 by W A L T E R D E G R U Y T E R & CO vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung • Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp. Berlin W 35, Genthiner Str. 13
Archiv-Nr. 110 170 Druck von Buchdruckerei Oswald Schmidt GmbH.. Leipzig III/18/65 Printed in Germany 722/5/50
Inhaltsverzeichnis DAS J A H R H U N D E R T D E R R O M A N T I S C H E N MUSIK . . .
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D I E K L A S S I K ALS E U R O P Ä I S C H E S E R E I G N I S L u d w i g van Beethoven
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DIE F R Ü H R O M A N T I K IN D E U T S C H L A N D Wesen und Ursprünge der romantischen B e w e g u n g . . . Carl Maria v o n W e b e r und die deutsche romantische O p e r Franz Schubert Das Musikleben des bürgerlichen Deutschlands Die O p e r in der Nachfolge W e b e r s D i e R o m a n t i k der Schubert-Nachfolge DIE I T A L I E N I S C H E O P E R DER WEG DER FRANZÖSISCHEN MUSIK Die Metropole Paris Das Erbe der Klassik Die komische und die historische Oper Der Durchbruch zur Hochromantik
20 25 30 35 38 45 54 65 67 70 74
DIE H O C H R O M A N T I K Die Krise des romantischen Stils und die Programm-Musik 82 Franz Liszt 87 Das Gesamtkunstwerk Richard W a g n e r s 97 Die Vollendungderitalienisch.Operdurch Giuseppe V e r d i . 1 1 4 DIE D E U T S C H E M U S I K N E B E N UND NACH W A G N E R Das öffentliche Musikleben nach 1850 Oper, Instrumentalmusik und Lied Tanzmusik und Operette DIE N A T I O N A L E N M U S I K K U L T U R E N R o m a n t i k und Nationalismus Frankreich Die südlichen und nordischen Länder Die Musik des Ostens BRAHMS UND B R U C K N E R NAMENREGISTER
125 129 134 138 140 145 148 159 175
DAS J A H R H U N D E R T D E R ROMANTISCHEN MUSIK Das neunzehnte Jahrhundert ist das Jahrhundert der Musik. Nicht, als ob seine schöpferische Leistung an W e r t alles frühere überragte; die vielleicht größten Musiker, Bach u n d Mozart, fallen nicht mehr in seinen Bereich. Aber die Musik gewann eine früher ungekannte Kraft der Ausstrahlung und rückte in die Mitte des geistigen Lebens. W ä h r e n d die bildenden Künste, v o n der westlichen Spätblüte des malerischen Impressionismus abgesehen, mehr u n d mehr aus dem allgemeinen Bewußtsein zurücktraten u n d auch die Dichtung v o n ihrer klassischen H ö h e herabstieg, erlebte die Musik eine ungeheure Ausbreitung u n d Vertiefung ihres Lebensbereichs, die ganz neue u n d eigentümliche Kräfte in ihr auslöste. Die R o m a n t i k w u r d e ihr zum Schicksal. Sie steigerte ihre schöpferische Spannung, erhitzte ihre tönende Materie zu glühender Transparenz, w ä h r e n d sie zugleich ihre Kräfte verzehrte u n d ihre Mittel verbrauchte. Es war eine Epoche der Verschwendung, in der sich eine Entwicklung v o n J a h r h u n d e r ten vollendete. Das neunzehnte Jahrhundert ist aber nicht nur das J a h r h u n dert der Musik, sondern ebenso das der Wissenschaft, vor allem der Naturwissenschaft, die eine nicht weniger bedeutsame Entwicklung erlebte. Ihre Erkenntnisse führten zu einer neuen Bestimmung der elementaren Kraftquellen der natürlichen Welt, die praktische Auswertung dieser Erkenntnisse in der Technik zu deren Beherrschung. Die moderne Technik hat das allgemeine Leben auf gänzlich neue Grundlagen gestellt. Ihr Instrument, die Maschine, mechanisierte die Arbeit u n d faßte sie in den großen Sammelräumen der Fabriken zusammen. Zugleich mit der Industrialisierung erwuchsen die großen Städte. Die Verbesserung der Lebensbedingungen u n d die Erfahrung der medizinischen Wissenschaft bewirkten ein rapides Ansteigen der Volkszahl; die Masse w u r d e zum Faktor des öffentlichen Lebens. Nicht nur die Landschaft des
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Lebens änderte sich, auch sein Sinn. Die großartige E n t w i c k lung der natürlich-materiellen Belange nahm alle Kräfte gefangen u n d lenkte den Blick v o n den metaphysischen Bestimmungen des Lebens ab auf seine sinnlich-wirkliche E r scheinung. Zugleich mit jener musikalischen Verinnerlichung ging eine bis zum äußersten Materialismus fortschreitende A u f w e r t u n g der Realität. Die Ursprünge dieser Zwiespältigkeit, in der die Tragik der Epoche beruht, sind f r ü h anzusetzen. Die Renaissance hatte den Menschen aus den alten Bindungen der Gemeinschaft zum Bewußtsein seines Selbst gelöst. Dieses Bewußtsein war aber von Anfang an zerspalten. Descartes' „ C o g i t o , ergo s u m " setzte die Denkkraft als G r u n d des Seins. D a m i t w a r der R a t i o nalismus, die eingebildete Vorherrschaft der b e w u ß t e n Vern u n f t über die u n b e w u ß t e n Wesenskräfte des Menschen begründet. Die Geschichte nicht nur des Geistes, sondern auch der allgemeinen Lebensformen ist hinfort ein unablässiger Kampf der unterdrückten u n d aufbegehrenden u n b e w u ß t e n Lebenskräfte gegen das Diktat der Vernunft. Jede W i r k u n g der einen zieht n o t w e n d i g die G e g e n w i r k u n g der anderen nach sich. Die Gegensatzpaare lassen sich bald an klarer Scheidung, bald in unentwirrbarer Verquickung auf allen Gebieten des Lebens verfolgen. In der Politik erheben sich gegen dieDoktrin der französischen R e v o l u t i o n , die das Bürgertum begründete, u n d ihren in Napoleon verkörperten übernationalen H e r r schaftsanspruch die Volkskriege der Unterdrückten, aus denen der Nationalismus hervorging. Im Denken steht die skeptische Geistigkeit Voltaires neben der gefühlshaften Prophetie Rousseaus, welche dem Geiste die größere u n d u r s p r ü n g lichere Gewalt der N a t u r entgegensetzt. In der Kunst versinkt die Begrenzung rationalistischen Formdenkens in der Ü b e r flutung durch die gewaltsam ausbrechenden Gefühlskräfte des Sturmes u n d Dranges, der entscheidenden u n d eigentlich fruchtbaren B e w e g u n g der Epoche. Zeigt sich hier schon, auf welcher Seite die starken u n d bestimmenden Mächtestehen, so gilt insbesondere fürDeutschland der Vorrang der intuitiv-schöpferischen Kräfte vor den kritisch eindämmenden. Die Spannung zwischen ihnen bleibt freilich
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auch hier bestehen. Gegen die hemmungslose Befreiung des Individuums, die der Sturm und Drang predigte, trat sofort das 'eigentümlich deutsche Verlangen nach R e g e l und B i n dung auf den Plan, welches sich am Vorbild der von W i n c k e l mann erweckten und als Verkörperung des Einfach-Großen gedeuteten Antike ausrichtete. Das bedeutet aber ein Bekenntnis zum strengen Gesetz einer erhabenen, weit über die W i l l kür des bloßen Naturglaubens hinausragenden Idealität. Z u gleich gab Herder dem neuen B e g r i f f der Menschlichkeit eine fast religiöse W ü r d e ; der Satz, daß die R e l i g i o n die schönste Blüte der Humanität sei, hebt den Menschen aus aller naturhaften Notwendigkeit in die N ä h e des Göttlichen. Der A u s gleich dieser unablässig dauernden Spannung, der immer nur als seltener glücklicher Augenblick, in wenigen Persönlichkeiten und in wenigen W e r k e n Wirklichkeit w u r d e , ist die deutsche Klassik, die keine Stilperiode wie etwa die französische ist, sondern immer wieder besonders bedingtes Ereignis, einmalige, erkämpfte Leistung der genialen künstlerisch-ethischen Persönlichkeit. In der M u s i k vollends ist das Prädikat des Klassischen, des Harmonischen, Ausgeglichenen nur einer beschränkten Anzahl von Werken Haydns, Mozarts und B e e t hovens zu erteilen. Die Gesamtentwicklung verlief durchaus in der Richtung auf das Romantische, welches sich als G e g e n satz des Rationalen, Bewußten und Gebändigten als das Irrationale, U n b e w u ß t e , Tiefenverbundene, das Dunkle, traumhaft Unbestimmbare, über Grenze und Form Hinausflutende darstellte. So wurde die Musik mehr und mehr zum Sammelbecken der dunklen, instinkthaften K r ä f t e , die v o n der w a c h senden Bewußtseinshelle des Jahrhunderts verdrängt wurden. Was sonst, v o n der allmächtigen V e r n u n f t verleugnet, nur unterirdisch fortwirkte, brach in der Musik übermächtig herv o r . Musik trat als R o m a n t i k in einen entschiedenen G e g e n satz zum Leben. Sie w u r d e ein Traumreich, eine schöne W u n derwelt jenseits des Wirklichen, die letzte tröstende Zuflucht f ü r die hungernden Gefühls- und Glaubenskräfte der M e n schen. Damit wandelte sich auch ihre Einordnung in das soziale Leben. Sie w a r nicht mehr ursprüngliche Lebensäußerung, an der ein jeder singend und spielend teilnahm, w a r nicht
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mehr als Mitte Jdcr Feier und Repräsentation im praktischen Leben verhaftet. Sie wurde zum überwirklichen Erlebnis, das dem Laien von berufenen Mittlern geboten wurde. Es kam zur scharfen Trennung von Schaffenden und Aufnehmenden, von aktiver Ausübung und passivem Genuß; das Konzert mit der überragenden Stellung des reproduzierenden Virtuosen wurde zur typischen Institution des Jahrhunderts. M a g diese Lebensferne Gefahr, j a Verfall bedeutet haben, so zeigt sich doch gerade in ihr die prophetische Sendung der Musik, die erst v o m Blickpunkt der Gegenwart zu deuten ist. Die romantische Musik bewahrte in der sterilen Epoche der Intellektualisierung die Tiefenkräfte des ganzen und allgemeinen Lebens, die heute wieder bestimmend geworden sind. So w a r sie zugleich Verfall und A u f b a u , Ausklang und A n f a n g , so war sie die starke, in überwirkliche Traumhöhen gespannte Brücke zwischen zwei realen Welten: der vergangenen Gemeinschaftskultur des Barocks und der werdenden der Gegenwart. DIE KLASSIK ALS E U R O P Ä I S C H E S
EREIGNIS
Ludwig van Beethoven Im Jahre 1800 wurde Beethovens erste Sinfonie zum ersten Male aufgeführt. Damit war die musikalische Entwicklung des Jahrhunderts im wesentlichen vorgezeichnet. Der Künstler, der der Epoche den Stempel seines Geistes aufdrückte, Ludwig van Beethoven, war am 16. Dezember 1770 zu Bonn als Sohn einer flämischen Musikerfamilie geboren und nach anfänglichem Unterricht bei Christian Gottlob Neefe 1792 nach Wien gekommen, um seine Ausbildung bei Haydn, Schenk, Albrechtsberger und Salieri zu vervollkommnen. 1795 veröffentlichte er seine ersten Werke, drei Klaviertrios Werk 1 und drei Klaviersonaten Werk 2, die in dem geistig aufgeschlossenen Wien sogleich begeisterte Aufnahme fanden und den jungen Komponisten, der auch als Virtuose und Improvisator am Klavier seine Hörer bezauberte, zum Helden der adligen Salons machten. Hier knüpfte Beethoven die menschlichen B e ziehungen an, die für sein ganzes Leben entscheidend blieben; hier fand er in den Fürsten Lichnowsky, Esterhazy, den Grafen Apponyi, Brown, Brunswik, dem Erzherzog Rudolph, den Fürsten Lobkowitz und Kinsky Freunde und Gönner, die bald
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durch einen Ehrensold auch seine materielle Existenz sicherstellten. Bis etwa zum Jahre 1802 dauerte diese erste Schaffenszeit des Künstlers, eine glückliche Zeit der Lebensfreude und des kraftvollen jugendlichen Selbstbewußtseins. Ihr gehören die ersten fünfzehn Klaviersonaten an, die sechs Streichquartette W e r k 18, das Septett, die drei Klavierkonzerte in B - D u r , C Dur und c-Moll und die beiden ersten Sinfonien. Die Wendung seines Lebens brachte die beginnende T a u b heit, die ihm zum menschlichen und künstlerischen Schicksal wurde. Ihre ersten Anzeichen gehen bis vor 1800 zurück. Im Jahre 1802 bei einem Kuraufenthalt in Heiligenstadt wurde ihm die Gewißheit, daß die Krankheit unheilbar sei. Obgleich das Leiden nur langsam fortschritt (noch 1 8 1 3 dirigierte er seine Schlachtensinfonie „Wellingtons S i e g " und seine siebente Sinfonie), mußte er mehr und mehr nicht nur a u f s e i n öffentliches Wirken als ausübender Musiker, sondern auch auf den gesellschaftlichen Umgang mit Freunden verzichten; seit 1 8 1 9 konnte er sich, völlig taub, nur noch schriftlich verständigen. D i e W e r k e der ersten Krisenzeit, in deren vielen der Nachhall des grausamen Schicksals als tragischer Ton von bisher unerhörter Wucht widerklingt, sind die dritte (Eroica), vierte, fünfte (Schicksals-) und sechste Sinfonie, die erste Fassung der Oper „ L e o n o r e " , die Coriolanouvertüre, das vierte und fünfte K l a vierkonzert (G-Dur und Es-Dur), die Kreutzersonate für V i o line und Klavier, die Gellertlieder, die Klaviersonaten W e r k 53 und 57 (Waldstein und Appassionata). Dagegen bezeichnen die Klaviersonaten W e r k 77, 78, 82, die Streichquartette W e r k 59 (für den Fürsten Rasumowsky), 74, 95, das Klaviertrio W e r k 97, die Goethelieder, die Egmontmusik, die siebente und achte Sinfonie die heitere Beruhigung des ganz nach innen hörenden Musikers, der sich mit seiner Einsamkeit abgefunden hat. Nach einer Epoche geringerer Produktivität, die etwa von 1 8 1 2 bis 1 8 1 5 anhielt, setzte mit den fünf letzten Klaviersonaten ( 1 8 1 6 bis 1822) die letzte große Schaffenszeit ein, der weiterhin die Missa solemnis (1822), die neunte Sinfonie (1823) und die letzten Streichquartette (für den Grafen Galizin) W e r k 127, 1 3 0 , 1 3 1 , 1 3 2 , 1 3 3 (große Fuge), 1 3 5 angehören (1823 bis 1826). Das äußere Leben des Einsamen bietet wenig Bemerkenswertes. In das Jahr 1 8 1 2 fällt seine Begegnung mit dem von ihm hochverehrten Goethe bei einem Kuraufenthalt in Teplitz. Die Jahre 1 8 1 3 bis 1 8 1 5 mit dem Wiener Kongreß brachten ihm eine größten äußeren Konzerterfolge, die sich freilich auf aus-
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gesprochene Gelegenheitswerke, die Wellington-Sinfonie und die Siegeskantate „ D e r glorreiche Augenblick", gründeten. Seit 1 8 1 5 erfuhr sein Leben eine neue Belastung durch die Sorge für den hinterlassenen Sohn seines Bruders Kaspar, seinen Neffen Karl, den sein leichtfertiges Leben bis zum versuchten Selbstmord trieb. Schon immer auf nachlässige Bediente angewiesen, wuchs die Verwahrlosung von Beethovens häuslicher Lebensführung in den späteren Jahren erschreckend an. Im Jahre 1825 befiel ihn ein Leberleiden, im nächsten Jahre trat die Bauchwassersucht dazu. E r starb am Nachmittag des 26. März 1827 zu Wien während eines Frühjahrsgewitters, nachdem ihn ein Blitz zum letzten Male ins Bewußtsein zurückgerufen hatte. Sein Begräbnis war feierlich, sehr im Gegensatz zu Mozarts einsamem Ende.Tausende begleiteten den Sarg, darunter die ersten Künstler Wiens; der Dichter Grillparzer schrieb ihm die Grabrede. Dieses Leben und der Mensch, der es lebte, sind o f t und auf verschiedene Weis e gedeutet worden. Eine urkräftige Arbeitsfreude w a r das Glück und der Halt seines Lebens; w i r haben uns die langsame A u s f o r m u n g seiner Gedanken, die die Skizzenbücher bezeugen, g e w i ß nicht als ein müheund qualvolles R i n g e n , sondern als ein organisches A u s reifen und Vollenden vorzustellen. Im persönlichen U m gang w a r der Mensch Beethoven offen und natürlich, o f t zum Scherz aufgelegt; seine Fähigkeit zu warmer, überströmender Freundschaft, v o n der die B r i e f e an seinen J u g e n d f r e u n d Wegeler sprechen, seine Begeisterungsfähigkeit f ü r alles Große und Gute, seine tiefe Naturliebe, sind die hellen Seiten seines Wesens. Erst später entwickelte die Einsamkeit seine hypochondrischen N e i g u n g e n . N a c h seinem Verhältnis zu Frauen ist o f t geforscht und gefragt w o r d e n . W e n n er, wie es heißt, „nie ohne Liebe und meistens in hohem Grade v o n ihr erg r i f f e n " war, w e n n w i r Zeugnisse seiner ernsteren N e i g u n g zu seiner Schülerin Giulietta Guicciardi oder zu Therese B r u n s w i k besitzen, so bleibt doch unzweifelhaft, daß dieses alles nicht an den Kern seines Wesens rührte. W a s bedeutet der geheimnisvolle, unabgesandte oder zurückgegebene B r i e f an die „unsterbliche Geliebte", den man in seinem Nachlaß fand» W i r kennen die E m p f ä n g e r i n nicht. Sicher ist: Sein W e r k bedeutet uns mehr, sagt mehr von ihm aus.
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Eines freilich bleibt f ü r j e d e D e u t u n g bestehen: die T a u b heit war das besondere Schicksal dieses Musikerlebens. Sie war die Ursache seiner Vereinsamung u n d letzten Verinnerlichung. Sie war f ü r den in Klangvorstellungen lebenden Künstler eine fast übermenschliche Belastung, an der sich sein Menschentum bewähren u n d zu einmaliger Größe wachsen konnte. D u r c h sie gewann seine Gestalt eine nahezu mythische W ü r d e . Wagners Gegenüberstellung des blinden H o m e r u n d des tauben Beethoven besteht durchaus zu R e c h t ; wie dem einen das innere Auge, so w u r d e dem anderen das innere O h r geöffnet, um das Wesen der Dinge hinter der wesenlos gewordenen Erscheinung zu erlauschen. Das W e r k , ein Z e n t r u m der Musik wie das Bachs, verlangt v o n verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet zu werden. Die Form, die es umschließt, ist die Sonate, die Beethoven mit erstaunlicher Ausschließlichkeit gepflegt und zur beherrschenden Form der klassisch-romantischen Epoche, zum Gegenstück der barocken Fuge entwickelt hat. Der N a m e „ S o n a t e " findet sich schon im A n f a n g des siebzehnten Jahrhunderts als allgemeine Bezeichnung eines Instrumentalstücks im Gegensatz zur Kantate, dem Vokalstück. U m die Mitte des Jahrhunderts ging die Bezeichnung auf den ersten, sonst auch Sinfonia genannten Satz der Tanzsuite u n d damit bald auch auf die ganze Suite über, die in einer leichten, tänzerischen u n d einer ernsteren, kontrapunktisch gearbeiteten Form als Kammer- u n d Kirchensonate unterschieden w u r d e . Handelte es sich hier meist um die Solosonate f ü r Violine oder die Triosonate f ü r zwei Violinen u n d Baß, so verwendete J o h a n n Kuhnau, der Amtsvorgänger Bachs als Thomaskantor, den N a m e n zuerst f ü r ein mehrsätziges Klavierstück. Die großen Meister des achtzehnten Jahrhunderts, v o r allem Philipp Emanuel Bach, H a y d n u n d Mozart, verschmolzen die gegensätzlichen, aus Tanz- u n d Fugenform herkommenden Elemente u n d entwickelten die einfache zweiteilige Liedform der Sätze zur eigentlichen Sonatenform, welche der Aufstellung der Themen im ersten Abschnitt ihre D u r c h f ü h r u n g , das heißt Verarbeitung, in einem zweiten Abschnitt gegenüberstellt u n d durch die Wiederholung der Themenaufstellung
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abgerundet w i r d : eine Dreiteiligkeit, der j e d o c h ein Dualismus, der Gegensatz von Zusammenfassung u n d Aufspaltung, R u h e u n d B e w e g u n g zugrunde liegt. Was sich in dieser Form abzeichnet, ist das zwiespältige W e l t g e f ü h l der Epoche, die nicht anders als in Gegensatzpaaren leben, denken und bilden konnte. Hatte die Lebenseinheit des Barocks im Organismus der aus dem Keime eines einzigen Themas aufwachsenden Fuge ihren entsprechenden musikalischen Ausdruck g e f u n den, so erkannte sich die neue, durch den Zwiespalt v o n N a tur u n d Geist charakterisierte Epoche in der geistvoll b e w e g ten, auf das Prinzip des Gegensatzes gestellten Konstruktion der Sonate, der Form der größten und reichsten Varietät, die ihrem oben beschriebenen Hauptsatz nun wiederum einen leichteren, v o m Prinzip des Wechsels geformten Schlußsatz, das R o n d o , gegenüberstellte u n d zwischen beide Eckpfeiler die einfacheren Gestalten eines liedhaften langsamen Satzes u n d eines bewegten Tanzstückes, des Menuetts oder Scherzos, beides Erinnerungen an ihre schlichte suitenhafte Vergangenheit, einschloß. Es ist die Leistung Beethovens, den metaphysischen Sinn der Sonatenform am tiefsten erkannt und in voller Schärfe ausgeprägt zu haben. Die Satztypen bildeten sich ihm in ihrer Besonderheit u n d Bestimmung klar heraus. Das erste Allegro ist der Kampfplatz der Mächte, deren Streit meist schon hier zum Ende ausgetragen w i r d . Ihm tritt der langsame Satz als Verinnerlichung u n d Beruhigung gegenüber. Das M e n u e t t spitzt sich zu dem phantastisch oder auch humoristisch b e w e g ten Scherzo, das wiederum im T r i o seinen o f t beruhigenden Kontrast in sich trägt. Das Finale ist meist rondohaftes A u s schwingen, an Gewicht dem ersten Satz nicht gleichgeordnet; nur in der f ü n f t e n u n d neunten Sinfonie w i r d es zur Stätte der geistigen Entscheidung. In zwei W e r k g r u p p e n zeichnet sich der W e g Beethovens als eine ununterbrochene Linie ab, in der engsten u n d weitesten, der privatesten u n d öffentlichsten: in der Klaviersonate u n d der Sinfonie. Die Klaviersonate mag der unmittelbare Niederschlag seiner von den Zeitgenossen bewunderten schöpferischen Improvisa-
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tionen sein, die uns verloren sind — w a s keineswegs heißt, daß in ihr eine L o c k e r u n g der Form statthätte. Im Gegenteil: schon die drei Sonaten des W e r k e s 2 sind Muster an Prägnanz der E r f i n d u n g und Ö k o n o m i e des A u f b a u s , ein schlagend f o r m u liertes P r o g r a m m , in dem der F ü n f u n d z w a n z i g j ä h r i g e seinen Formwillen der W e l t kundtat. Ihre drei scharf ausgeprägten Charaktere ergänzen sich zum vollen G e s a m t k l a n g : die erste in f - M o l l leidenschaftlich erregt, v o l l drängender A u s d r u c k s spannung, die zweite im heiteren A - D u r musikantisch spielend, die dritte im klaren C - D u r z u virtuosem Glanz gesteigert. D i e A u f s p a l t u n g des Schaffens in z w e i nebeneinanderlaufende Kraftströme, einen gefiihlshaft und einen musikalisch-formal bestimmten, bleibt auch weiterhin bestehen. W e r k 13, v o n B e e t h o v e n selbst als Sonate pathétique bezeichnet, ist der D u r c h bruch der revolutionären Persönlichkeit. Im tragischen c - M o l l , v o n äußerster Primitivität der E r f i n d u n g und ungebrochener Einheit der formalen Linie, fährt diese M u s i k w i e ein N a t u r ereignis in die K u n s t w e l t des endenden Jahrhunderts und reißt alle Reste r o k o k o h a f t e r Spielerei h i n w e g . In der der Gräfin Julia Guicciardi g e w i d m e t e n cis-Moll-Sonate aus W e r k 27 w o l l e n Leidenschaft und träumerische E n t r ü c k u n g die musikalische Form überfluten, die sich zur Fantasie lockert. M i t W e r k 31 beginnen die Schöpfungen der männlichen R e i f e . V o n den drei Sonaten dieser W e r k z a h l ist besonders die mittlere, die phantastisch b e w e g t e , zwielichtig dämmernde d - M o l l - S o n a t e zu einem der meistgekannten W e r k e des romantischen Jahrhunderts g e w o r d e n . Sie w i r d an A u s m a ß und stürmischer D y n a m i k noch übertroffen v o n der virtuosen, dem Grafen Waldstein g e w i d m e t e n C - D u r - S o n a t e W e r k 53, einem formvollendeten W e r k v o n reiner Klassik, und der düsteren, v o n melodischer S c h w e r m u t und entfesselter Leidenschaft durchfluteten f - M o l l - S o n a t e W e r k 57, w e l c h e die Nachtseiten des Beethovenschen Wesens in gespenstischen Phantasien ausschwingen läßt. D i e dritte Gruppe steht f ü r sich: D i e f ü n f letzten Sonaten, zu denen sich noch die z w e i u n d d r e i ß i g Variationen über einen W a l z e r v o n Diabelli gesellen, sind Zeugnisse eines Spätstils v o n äußerster K ü h n h e i t und transzendenter Geistigkeit, w i e ihn die Kunstgeschichte kein zweitesmal verzeichnet. Hier erprobt B e e t h o v e n die Elastizität der Sonatenform bis an ihre äußersten Grenzen. W ä h r e n d er sie in der letzten Sonate W e r k m auf ihr einfachstes Schema, den Kontrast eines schnellen und eines langsamen Satzes zurückführt und die thematische A r b e i t durch
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das Mittel der Variation bestreitet, bereichert er in der großen B-Dur-Sonate W e r k 106, dem Kernstück dieser Gruppe, die Viersätzigkeit durch eine gewaltige Fuge, die dem Organismus der Form ganz neue Spannungen zuführt. Zeigt sich in dieser R ü c k w e n d u n g zur barocken Form ein großartiges Streben nach Bindung und Objektivierung, so drängen andererseits die gefühlsmäßigen Inhalte einem romantischen Subjektivismus entgegen. Dieses Auseinanderstreben der Kräfte, das die A u f lösung der klassischen Harmonie bedeutet, ist bezeichnend f ü r den späten Beethoven, der über das Stadium der Meisterschaft hinausgewachsen war. In diesen Sonaten lebt ein Wille zum U n endlichen, dem die Sinnlichkeit der künstlerischen Erscheinung nicht mehr g e n ü g t ' Erfindung, Form, Klavierklang sind nur noch Symbol, die Empfindung erhebt sich zu einer einsamen Höhe, wie sie nur diesem idealistischen Jahrhundert zugänglich war, das im Transzendieren über die Grenzen der Erscheinungswelt seine letzte Aufgabe sah. Neben den Klaviersonaten sind v o r allem die zehn Sonaten f ü r Violine und Klavier von Bedeutung, darunter die düster bewegte in c - M o l l , W e r k 30,2, und die glänzende, dem V i o linvirtuosen R o d o l p h e Kreutzer gewidmete A - d u r , W e r k 47, ferner die Sonaten f ü r Violoncello und Klavier, die Klavierund Streichtrios und das jugendfrische Septett W e r k 20. In der Mitte zwischen Solosonate und Sinfonie steht das Streichquartett. A u c h hier führt die E n t w i c k l u n g v o n den unbeschwerten, präzis formulierten Schöpfungen des W e r k e s 18 über die weiträumigeren des Werkes 59 zur H ö h e der f ü n f „letzten" Quartette. N o c h abstrakter konzipiert als die letzten Klaviersonaten, noch weniger gebunden an die Sinnlichkeit des Instrumentalklanges, noch freier und weiter in der kunstvoll abgewandelten, verschleierten und verschliffenen Form, wahren sie eine Intimität der Mitteilung, die sie als tiefsinnige Meditationen der letzten, weltentrückten Einsamkeit erscheinen läßt. Neben persönlich-erlebnishaften Z ü g e n w i e dem „ D a n k g e s a n g eines Genesenen an die Gottheit" im a - M o l l Quartett, der unmittelbar auf eine überstandene Krankheit zurückgeht, stehen Eingebungen v o n grenzenloser innerer Weite w i e der A d a g i o - G e s a n g des B-Dur-Quartetts und die ursprünglich diesem W e r k zugehörige „ G r o ß e F u g e " , steht die formale Universalität des phantastischen, aus Fugenstrenge
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u n d romantischer Formauflösung zusammengeschlossenen cis-Moll-Quartetts. Auch hier ist nicht A b r u n d u n g , Begrenzung das Letzte; die Türen bleiben geöffnet, um die Mächte des Irrationalen in die klare klassische Formenwelt einzulassen. Die Sinfonie ist die Form der großen Öffentlichkeit; ihr vertraute Beethoven die Inhalte an, die durch Jahrhunderte auf die Menschheit zu wirken bestimmt waren. Die ungeheure Erweiterung der Resonanz, die er der Musik verschaffte, w a r vielleicht seine größte Tat. Mit der Beethovenschen Sinfonie trat die Musik ins Volk, w u r d e eine Macht der Geschichte. Diese Erweiterung der Form war nicht sogleich eine Verstärk u n g der äußeren Mittel. Das Nebeneinander v o n O b o e u n d Klarinette ist zu A n f a n g die einzige Vergrößerung des O r chesters gegenüber dem Haydnschen; erst in der dritten Sinfonie k o m m t ein drittes H o r n , in der f ü n f t e n Posaunen u n d in der neunten ein Kontrafagott dazu. In der Anlage hält sich die erste, die C-Dur-Sinfonie, annähernd in Haydnschen Maßen. Freilich beginnt sie mit einer zu ihrer Zeit erregenden Kühnheit, dem Septakkord auf der Tonika. Aber die schärfere innere Spannung, die sich darin mit dem ersten Tone anzeigt, zerstört noch nicht ihre durchgehende, bald flämisch-kraftvolle, bald wienerisch-anmutige Heiterkeit, die nur selten von ahnungsvollen Mollepisoden der Bässe und von sehnsüchtigen Bläserstimmen verdunkelt wird. In der zweiten, der strahlenden D-Dur-Sinfonie, geschrieben zur Zeit des Heiligenstädter Testaments als Abschied des Künstlers von den Wünschen und Hoffnungen der Jugend, dehnt sich die Form zu freierer Weite, die Schönheit glüht in helleren Lichte, die Heiterkeit erhitzt sich zu dionysischer Lust. Die Dritte birgt die W e n d u n g seines Schicksals, das zum Schicksal der Musik wurde. Eroicaist der Titel des Werkes, das durch die gewaltige Persönlichkeit Napoleons eingegeben w a r ; aber der freiheitsliebende Künstler zerriß die W i d m u n g , als der Konsul der Republik sich zum Kaiser erklärt hatte. Leben und T o d stehen sich in den beiden ersten Sätzen als großartige Antithese gegenüber. Tat und Kampf, prometheische Seinsfreude ist der Inhalt des ersten Satzes, feierliche Totenklage der des zweiten, friedloses Ringen um die letzte Frage, ob Vernichtung oder Unsterblichkeit das Ziel sei. Auch die Form spannt sich zu mächtigen, bisher u n bekannten Proportionen. Die Dissonanz gewinnt eine uner-
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hörte Bedeutung; zum einzigen Male, erschreckt vielleicht durch die Tiefe des aufgerissenen Zwiespalts, versucht Beethoven im Anfangssatz dieses Werkes den Dualismus seiner Form durch ein ausgleichendes drittes Thema zu mildern. Ein beruhigtes Zwischenspiel, ein idyllisches Gemälde in satten, warmen Farben, verkörpert die vierte Sinfonie die andere, musikalisch spielende Tendenz in Beethovens Schaffen. In der fünften wird der Kampf wieder aufgenommen. Hier sind die Kräfte nicht wie in der Eroica gleichsam durch ein heldisches Zeremoniell gebändigt. Hier ist der Kampf noch näher, noch lebendiger erlebt; es ist Beethovens persönlicher Kampf mit dem Schicksal, dem er „in den Rachen zu greifen" gewillt war, und es ist zugleich der Kampf der Menschheit gegen die Mächte der Finsternis, der steile Aufstieg zum Licht. Hier ist das EsDur der Eroica zum c-Moll, der Schicksalstonart, verdunkelt; aber um so leuchtender ist der endliche Triumph des hellen C-Dur. Das Hauptthema ist eine aus vier kurzen Noten bestehende Formel, zu äußerster Einfachheit verdichtet, geladen mit hämmernder Energie. Die Spannung steigt unablässig in der Folge der vier Sätze, der Akzent verlagert sich auf die befreiende Lösung des Finales; die Sinfonie wird zum Drama. Wieder fordert das Gesetz des Gegensatzes, welches dieses Leben regiert, nach dem Kampf die Entspannung: in der sechsten, der Pastoralsinfonie, sucht die Seele Linderung in der Natur. W i e Rousseau der Dichtung, so hat Beethoven der Musik die N a t u r erobert. Er zieht sie gänzlich hinein in den Klang, mit murmelndem Bach, Vogelstimmen, Gewitter und Sturm, Bauerntanz und Hirtengesang. Aber sie ist ihm nicht Erde, Element allein, sie ist durchdrungen vom göttlichen Geiste. Mit heiligen Posaunen spricht die Stimme des Gottes im Sturm, und der D a n k gesang strömt wie ein frommer, jubelnder Hymnus. Das nächste Paar atmet die wiedergewonnene Heiterkeit der Lebenshöhe. Die siebente, die strahlende A-Dur-Sinfonie, ist ein einziger Festrausch des Tanzes, schwebend, schreitend und stürmend, unterbrochen nur von der mystischen Klage des Allegretto, die aus Dunkelheiten aufschwillt und in leere Unendlichkeit verhallt. Die achte, die des ernsten, langsamen Satzes entbehrt, ist von Anfang bis Ende lichte, heitere Schönheit, durchzuckt von Blitzen übermütigen Humors. Mit der neunten nahm Beethoven Abschied von der sinfonischen Form. Nicht, als ob er sich bewußt von ihr losgesagt hätte; die Skizzen einer zehnten Sinfonie sind erhalten. Aber sein Ausdrucksbedürfnis drängte hier aus den Grenzen der reinen Instrumentalmusik heraus. Der erste
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Satz, nicht in seiner persönlichen Schicksalstonart c-Moll, sondern in d-Moll, das bei Mozart und Bruckner in tragischer B e deutung wiederkehrt und das eine überpersönliche, urtümlichere Tragik zu bezeichnen scheint, ist ein lichtloses Gemälde faustischer Lebensverzweiflung. Das Scherzo ist ein wirbelnder Tanz der Sphären, das Adagio tiefe, erhabene R u h e . Auch der letzte Satz dieser letzten Sinfonie beginnt, wie der erste der ersten, mit einer Dissonanz: was dort Frage, Spannung war, ist jetzt Aufschrei, Empörung geworden. Aber den Ausgleich der Spannung bringt nicht mehr der T o n , sondern die menschliche Stimme, die das W o r t , das erlösende W o r t „ F r e u d e " wie einen erhellenden Blitz in den Sturm der Töne schleudert. Dieser Eintritt des Wortes im Finale, vorbereitet durch rezitativische Phrasen der Bässe, die wie ein R i n g e n der Instrumente um sprachlichen Ausdruck anmuten, ist einer der großen geschichtlichen Augenblicke der Musik, eine krisenhafte Berührung der Künste, in der Kraftströme aus verschiedenen Räumen zusammenfließen und sich zu neuen Gestalten vermischen. Der Chorhymnus über die Schillersche Freudenode, der hier aus dieser Berührung aufklingt, ist ein hinreißendes, lebensbejahendes Finale der klassischen Sinfonie— und zugleich Ankündigung neuer, romantischer Ausdruckskräfte, die die Grenzen zwischen den Künsten überfluten. Es bleiben die Klavierkonzerte, das jugendfrische in C - D u r , das tragisch-konzentrierte in c - M o l l , das barock-prächtige in E s - D u r , das heiter-gelöste in G - D u r und die als improvisatorisch freie Variationenreihe entwickelte Fantasie f ü r Klavier, C h o r und Orchester. E s bleiben die Ouvertüren, v o r allem die tragische zu Collins Trauerspiel „ C o r i o l a n " und die heldisch strahlende, welche die geistvolle Bühnenmusik zu Goethes „ E g m o n t " einleitet, packende dramatische Konzeptionen auf der Grenze zwischen Sonate und sinfonischer Dichtung. Es bleibt die Oper „ F i d e l i o " , die einzige des Meisters. Schon 1805 als „ L e o n o r e " nach einem T e x t b u c h entworfen, das der Theaterdirektor J o s e p h v o n Sonnleithner nach einem französischen Stück J . H . B o u i l l y s , des Librettisten des Cherubinischen „Wasserträgers", geschrieben hatte, bei der ersten A u f f ü h r u n g durch die politischen Ereignisse, die Besetzung Wiens durch die Franzosen, um den E r f o l g gebracht, w u r d e sie 1806 umgearbeitet und erhielt endlich 1 8 1 4 ihre endgültige Gestalt. 2 Oehlmann, Musik des 19. Jahrh.
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Ihrem Inhalt nach gehört die Oper „ F i d e l i o " wie ihr Vorbild, der „Wasserträger", zur Gattung der „ R e t t u n g s o p e r n " , in denen das Geschehen der Französischen Revolution nachklang. Die edle Leonore dringt in der Verkleidung eines Schließers in das Gefängnis, in dem ihr Gatte Florestan unschuldig leidet, und rettet ihn vor dem Dolch seines Feindes, des Gouverneurs: eine Handlung, deren klares und einfaches Ethos Beethoven anzog, ein Drama der Ideen und Gefühle. Die menschlichen Gestalten werden von der übermächtigen Ausdruckskraft der Musik idealisiert. Das Orchester, sinfonisch durchgearbeitet, voll sprechender Stimmen und hintergründiger Malereien, steht gleichberechtigt neben den Singstimmen, deren Unsangbarkeit lange Zeit verrufen war. Erschütternd sind das Leiden des K e r kers in den Gefangenenchören, die kalte Brutalität des G o u verneurs, die stille Ergebung des schuldlosen Florestan, die hoffende und kämpfende Liebe der Frau gezeichnet, hinreißend der Befreiungsjubel nach der Ankunft des rettenden Ministers, ein kantatenhaftes Chorfinale von stürmischem Aufschwung, das die Begrenzung des Theaters sprengt. In ihrer nackten, völlig unromantischen Wahrhaftigkeit, in ihrem Mut zum Düsteren und Schrecklichen ist die Oper eine Einmaligkeit, die fast beziehungslos zwischen Mozart und der. R o m a n t i k steht, ein Triumph des musikalischen Idealismus über die Sinnengewalt des Theaters; und es ist bezeichnend, daß Beethoven den Gehalt der Handlung in der bedeutendsten der vier zur Oper entworfenen Ouvertüren, der dritten Leonorenouvertüre, noch einmal unabhängig vom Szenischen mit rein musikalischen M i t teln gestaltet und damit zugleich den W e g zur sinfonischen Dichtung gewiesen hat. Endlich ein gewaltiges V o k a l w e r k , scheinbar abseits stehend und doch den ganzen Beethoven enthaltend: die Missa solemnis. 1 8 1 8 begonnen und in f ü n f j ä h r i g e r schwerer Arbeit v o l l endet, wuchs diese Komposition des Messetextes über alle liturgische Z w e c k b e s t i m m u n g hinaus. In ihr lebt die F r ö m migkeit des zur geistigen Selbständigkeit erwachten Menschen der A u f k l ä r u n g , die sich unmittelbar zu Gott drängt und sich mit den alten Glaubenswahrheiten in persönlichem R i n g e n auseinandersetzt. Der Instrumentalstil der letzten Sonaten und Quartette ist auf den Vokalsatz übertragen. D e r mächtige Fugenbau „ E t vitam venturi saeculi", das Bekenntnis des Ewigkeitsglaubens, ist wie die letzten Fugen Bachs ohne
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Rücksicht auf die klangsinnliche Wirkung geschaffen. Neben diesen spirituellen Ekstasen stehen Eingebungen hohen religiösen Gefühls wie die selige Violinmelodie des Benedictus und der beruhigende Abgesang „Dona nobis pacem", in den ferne Kriegstrompeten, Nachhall der napoleonischen Schlachten, drohend hereinklingen. Menschlichkeit und Geistesfülle sind die Kennzeichen der Klassizität, welche die Musik in den großen Werken Beethovens erreichte. Durch Beethoven war die Weltgeltung der deutschen Musik, die der im Raum der deutschkirchlichen Tradition stehende Bach noch nicht hatte verwirklichen können, begründet. An die Stelle der italienischen Oper, der Weltsprache des Herzens, trat die deutsche Sinfonie, die Weltsprache des Geistes. Daß diese Sprache schon zu Lebzeiten des Meisters nicht ungehört verhallte, stellt dem Verständnis der Mitwelt ein hohes Zeugnis aus. Die Menschheit, zu der Beethoven als zu einer imaginären Hörerschaft gesprochen hatte, schloß sich erst allmählich im Lauf der Jahrzehnte wirklich um sein Werk zusammen, das über die Grenzen der Völker hinaus seine gemeinschaftsbildende Kraft bewährte. Die immer wieder geforderte, mit festlicher Regelmäßigkeit dargebotene Wiederholung seiner Werke schuf die Institution des Konzerts mit seinem Apparat von Interpreten, Virtuosen, Dirigenten, Orchestern und der erlebnisbereiten Gemeinschaft der Hörer, diese für das neunzehnte Jahrhundert bezeichnende Form der öffentlichen Musikübung; an die Stelle der alten Gebrauchskunst war die Erlebniskunst des modernen Menschen getreten. Wie sehr dieser Wandel am Anfang als Befreiung, als Auslösung ungekannter Möglichkeiten wirkte, lassen die letzten Werke Beethovens erkennen. Man muß in den Höhenräumen dieses Spätstils geweilt haben, um die ungeheure musikalische Leistung des Jahrhunderts zu ermessen. Diese Kunst steht neben jeder größten, neben Bach, ja sie geht vielleicht über ihn hinaus, denn sie ist freier, kühner, einsamer; die Kunst des gänzlich auf sich selbst gestellten Menschen, der im Angesicht von Gott und Dämon das Recht seiner eigensten Existenz behauptet. 2*
20 DIE F R Ü H R O M A N T I K IN D E U T S C H L A N D Wesen und Ursprünge der romantischen Bewegung Die Klassik Beethovens war ein einmaliger, persönlich bedingter Höhepunkt, kein allgemeiner Zeitstil. Erst in der R o mantik fand das Jahrhundert sich selbst. Entwicklungsgeschichtlich betrachtet, ist die Klassik nur ein Augenblick der Festigung zwischen zwei Epochen unendlicher Bewegtheit, Barock und Romantik. Man hat das Romantische in seinem Verhältnis zum Klassischen betrachtet und hat es als das Auflösende, Tiefensüchtige, von unterbewußten Kräften Genährte dem Gefestigten, Hohen, Bewußtseinsklaren entgegengesetzt, wobei es notwendig eine abwertende Beurteilung erfuhr. Aber diese Gegenüberstellung wird dem Wesen des Romantischen nicht gerecht. Es enthüllt sich erst in der Beziehung auf das Barocke, dem es als eine Geistes- und Lebenshaltung von ähnlich umfassender Bedeutung, aber gleichsam als dessen U m kehrung gegenübersteht. Es ist ein Verhältnis wie Tag und Nacht, Wirklichkeit und Traum, Körper u n d Geist, Gestalt und Bedeutung. Ist Barock bei aller metaphysischen Bewegtheit doch vorerst diesseitig, irdisch gebunden, lebensgläubig, so erscheint Romantik wesentlich transzendent, jenseitsbezogen, weitabgewandt, dem Geheimnis des Todes nachforschend. Wie das klare u n d starke Lebensgefühl der romanischen W e l t um die W e n d e des zwölften Jahrhunderts sich in den schwärmerischen Seelendrang der Gotik verflüchtigt, so machte auch die vitale Sinnenhaftigkeit des Barocks im achtzehnten Jahrhundert eine Verwandlung durch, die sie in romantischer Vergeistigung wieder auftauchen und fortwirken ließ. So scheint vieles in der Zeit des Ubergangs in zwiefacher Richtung deutbar. Schon Bachs Gestaltfülle weist vorwärts in die romantische Unendlichkeit. Mozart ist der Meister der Grenze; die barocke Lebenskraft Don Giovannis vergeht in den romantischen Schauern des übermächtigen Todes. Die literarische Bewegung des Sturmes und Dranges stieß mit jugendlichem Überschwang in die Freiheit der romantischen Z u k u n f t vor. Die Gefühlshingabe eines Klinger und Lenz, die
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zwischen Phantastik und Kritik schillernde Geistigkeit des Dichter-Musikers Schubart, die Schwärmereien der „ N e u e n Heloise" und des Werther tragen romantische Z ü g e ; aber in allen diesen Gestalten klingt noch die primitive Lebenszugewandtheit des Barocks nach. Echte R o m a n t i k beginnt da, w o dieses barocke Lebensgefühl gebrochen ist, w o der Geist das Leben durchdringt und gleichsam transparent macht, w o er an Stelle der begrenzten, gegenwärtigen W i r k lichkeit ein unendliches, Leben und T o d , Vergangenheit und Z u k u n f t umfassendes Sein setzt. Der Mensch, f ü r die Klassik noch Maß aller Dinge, verliert in dieser Unendlichkeit an Gewicht und Bedeutung, stärkere, größere Mächte schalten sich ein: Gott, Dämon, Natur, V o l k . W a r Barock K u l t des Lebens; so ist R o m a n t i k Kult des T o d e s ; des Todes einerseits als Z u k u n f t , Ziel, jenseitiges, ewiges Sein begriffen und unter religiösem Aspekt erlebt, andererseits als Gewesenes, als V e r gangenheit, als Hinabsteigen zu verschütteten Quellen des Seins, als Versenkung in Überlieferung, Geschichte und M y thos. Darum geht Hand in Hand mit der erhöhenden, transzendenten, christlich-mystischen Tendenz der R o m a n t i k ihre vertiefende, irdisch verhaftete, völkisch mythische. Beide überkreuzen sich v o n A n f a n g an im romantischen Denken. Wilhelm Heinrich Wackenroder, der lebensfremde, f r ü h dem T o d e geweihte J ü n g l i n g begründete die romantische K u n s t anschauung; ebensosehr religiöser Schwärmer, der seine G e danken als „Herzensergießungen eines K l o s t e r b r u d e r s " der W e l t überlieferte, wie dem Glauben an die Vergangenheit, an die alten deutschen Meister verfallen. Novalis, auch er ein J ü n g l i n g , preist in den H y m n e n an die Nacht „ d e s T o d e s Entzückungen" und überträgt den Traum des christlichen Europa aus der Vergangenheit in die Z u k u n f t . In den B r ü dern Schlegel verkörpert sich das religiös-schwärmerische Element und das rückschauende, das hier als literarhistorische Bemühung Shakespeare und Calderon ins Leben zurückrief. E . T h . A . H o f f m a n n , der glühende Verkünder der romantischen Seele der Musik, schöpfte aus der alten Kirchenmusik der Italiener seine hohen Begeisterungen und schuf aus den dämonischen Tiefen seines Wesens seinen eigenen skurri-
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len M y t h o s , der den nüchternen Geschöpfen des Alltags eine phantastische, hintergründige Doppelexistenz verlieh. In Eichendorff, dem Dichter der rauschenden, dämmernden W ä l d e r , binden sich Geist und Natur, christlicher, weltentwachsender Jenseitsglaube mit der Erinnerung an die alten Götter, die als Marmorbilder und Zauberfrauen verwirrende nächtliche L o c k u n g ausströmen, zu unlöslichem romantischem Zusammenklang. W a s Musik dieser Zeit bedeutet, sagen ihre Dichter und Denker. Wackenroder verehrt „die tiefgegründete, u n w a n delbare Heiligkeit, die dieser K u n s t v o r allen anderen eigen ist", aber er weiß auch v o n dem „mächtigen Z a u b e r ihrer sinnlichen K r a f t " , der „die wunderbaren, wimmelnden Heerscharen der Phantasie e m p ö r t " , und er gibt sich über die romantische Doppeldeutigkeit der Tonkunst klare R e c h e n schaft: „ J a , jeden Augenblick schwankt unser Herz bei denselben Tönen, ob die tönende Seele kühn alle Eitelkeiten der W e l t verachtet und mit edlem Stolz zum Himmel hinaufstrebt oder ob sie alle Himmel und Götter verachtet und mit frohem Streben nur einer einzigen irdischen Seligkeit entgegendringt. U n d eben diese frevelhafte Unschuld, diese furchtbare orakelmäßig-zweideutige Dunkelheit, macht die T o n k u n s t recht eigentlich zu einer Gottheit f ü r menschliche Herzen." Für H o f f m a n n ist M u s i k „die romantischste der Künste, beinahe möchte man sagen, allein echt romantisch, denn nur das Unendliche ist ihr V o r w u r f " . A u c h er kennt ihre zwiefache B i n d u n g an Gott und Welt, aber f ü r ihn überw i e g t die hohe Eigenschaft ihrer göttlichen H e r k u n f t : „ I h r e m inneren, eigentümlichen W e s e n nach ist die M u s i k religiöser Kultus und ihr U r s p r u n g einzig und allein in der R e l i g i o n , in der Kirche zu suchen und zu finden. Immer reicher und mächtiger ins Leben tretend, schüttete sie ihre unerschöpflichen Schätze aus über die Menschen, und auch das Profane durfte sich dann, wie mit kindischer Lust, in den Glanz putzen, mit dem sie nun das Leben selbst in all seinen kleinen und kleinlichen irdischen Beziehungen durchstrahlte; aber selbst dieses Profane erschien in dem Schmuck w i e sich sehnend nach dem höheren göttlichen R e i c h und strebend, einzutre-
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ten in seine Erscheinungen." Schopenhauer endlich, der romantische Philosoph, setzt die Musik in eine besondere, nahe Beziehung zum W e s e n der W e l t , das ihm der Wille ist: „ D i e Musik ist keineswegs gleich den anderen Künsten, das A b b i l d der Ideen" (der platonischen Ideen, das heißt der geistigen U r f o r m e n der Dinge, die zwischen dem W e s e n und seiner Erscheinung stehen); „sondern A b b i l d des Willens selbst, dessen Objektivität auch die Ideen sind; deshalb eben ist die W i r k u n g der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher als die der anderen Künste, denn diese reden nur v o m Schatten, sie aber v o m Wesen . . . Das unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein so ganz vertrautes und doch e w i g fernes Paradies an uns vorüberzieht, so ganz verständlich und doch so unerklärlich ist, beruht darauf, daß sie alle R e g u n g e n ihres innersten Wesens wiedergibt, aber ganz ohne die Wirklichkeit und fern v o n ihrer Q u a l . " Diese mystisch-gefühlshafte A u f f a s s u n g der Tonkunst bewirkte auch eine Veränderung ihrer technischen Struktur. Die architektonischen Formkräfte, welche die plastische G e stalt des klassischen Musikwerks abgerundet hatten, traten zurück, die dynamischen, die Trieb- und Ausdruckskräfte erstarkten. Die Formen lockerten sich und verloren ihre bindende Gewalt. Die Sonate verlor ihre beherrschende Stellung, sie lockerte sich zur Phantasie oder w u r d e abgelöst v o n dem freien, nur durch seinen Stimmungsinhalt gebundenen M u s i k stück (meist in der einfachen dreiteiligen Liedform H a u p t satz — Seitensatz — Hauptsatz gehalten), das als Impromptu, M o m e n t musical, als Phantasiestück, Nachtstück (Nocturne), Intermezzo erschien. Die Sinfonie verengte sich zu einer ihrem W e s e n nicht entsprechenden Gefühlsintimität, da die großen formalen Impulse erlahmten und die gesellschaftlichöffentliche Tendenz des Musizierens v o n dem Z u g e nach individualistischer Vereinzelung untergraben w u r d e ; erst in der freien, aus der dramatischen Ouvertüre entstandenen Form der sinfonischen Dichtung erhob sich um die J a h r h u n dertmitte wieder ein echtes sinfonisches Pathos. A u c h im einzelnen trat überall das Dunkle, Verschleierte, Irrationale an die Stelle des Klaren und Einfachen; die Thematik löste sich
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aus der klassischen Symmetrie zu rhapsodischer Freiheit. Das Thema verdichtete sich zum Motiv, zur kurzen, charakteristischen Formel, oder spann sich weithin ohne gliedernde Zäsuren in der unendlichen Melodie; einerseits vereinfachte es sich zu schlichtem Volksliedklang, andererseits w u r d e es kompliziert durch die Reflexe einer reicheren Harmonik. Der R h y t h mus bevorzugte die unregelmäßigen, überraschenden W i r kungen. Synkopierungen u n d Betonungen leichter Taktteile w u r d e n nach dem Vorgang Beethovens zur Regel, das gleichzeitige Gegeneinanderausspielen zwei- u n d dreiteiliger R h y t h men, welches den festen rhythmischen Schritt in ein Schwanken u n d Schweben wandelt, w u r d e bei Schumann u n d Brahms zu einem echt romantischen Kunstmittel. Die Klangfarbe erhielt eine neue Bedeutung, sie w u r d e als selbständiges R e i z - und Stimmungsmittel erst von der R o m a n t i k entdeckt. Der Klaviersatz w u r d e vollgriffiger, akkordisch oder aufgelöst, die Melodie sank gern, v o n reichem Figurenwerk überspielt, in die Tenorlage der linken H a n d oder der beiden D a u men herab; die dunklen Instrumente, Violoncello und Horn, w u r d e n als Träger elegischer Melodien herangezogen. Die Kunst der Instrumentation erlebte eine unerhörte Verfeinerung. Die Ausdruckscharaktere der Instrumente w u r d e n erforscht und als Einzelklänge oder Gruppen gemischt u n d herausgehoben; die Schwarzweißzeichnung der klassischen Partitur wandelte sich in ein farbenprächtiges Gemälde, in dem der Grundton des Streichorchesters v o n den sanften Lichtern der Holzblasinstrumente, den glitzernden Flöten, den empfindsamen O b o e n u n d weichen Klarinetten überblendet u n d von samtdunklen Hörnern u n d ehernen Posaunen vertieft wird. Zur eigentlichen Triebkraft der romantischen Musik w u r d e aber die Harmonik, der mystische U r g r u n d des Klanges. Die Impulse wirkten nicht mehr aus der Horizontalen, der melodischen Linie, sondern aus der Vertikalen, der Akkordsäule. Die Spannungen der harmonischen Tiefe w u c h sen. Der klassische Dreiklang dehnte sich durch Alterierung zur Dissonanz. Der verminderte Septakkord u n d der übermäßige Dreiklang, die vieldeutigen, unbestimmbaren harmonischen Elemente, begannen ihre Rolle zu spielen. Statt der
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klaren Q u i n t v e r w a n d t s c h a f t e n suchte man den w e i c h e n , fließenden R e i z t e r z v e r w a n d t e r A k k o r d e . D i e Diatonik löste sich auf in das Gleiten u n d D r ä n g e n einer v e r f e i n e r t e n C h r o matik, die über die festen Grenzen des TonartbegrifFs hinaus in eine unendliche Freiheit des Gestaltens trieb. A u c h hier w u r d e der romantische R e i z der Verschleierung u n d V e r d u n k e l u n g ausgekostet. W e n n B e e t h o v e n am A n f a n g seiner ersten Sinfonie die T o n a r t durch die dem G r u n d d r e i k l a n g hinz u g e f ü g t e t o n a r t f r e m d e Sept spielerisch verschleierte, g i n g W a g n e r so w e i t , im Tristanvorspiel den G r u n d d r e i k l a n g überhaupt nicht mehr anzuschlagen. A n die Stelle der Sicherheit w a r auch im technischen B i l d e der M u s i k die F r a g e , an die Stelle der E r f ü l l u n g die Sehnsucht getreten. Das alles g i n g H a n d in H a n d mit dem B e s t r e b e n , die Grenzen der K ü n s t e zu v e r w i s c h e n u n d zu überschreiten. M u s i k d u r f t e sich u m die W i r k u n g e n der D i c h t u n g u n d Malerei bemühen. D e n n die K ü n s t e w a r e n j a eng v e r w a n d t e E r s c h e i n u n g s f o r m e n einer großen, allgemeinen K u n s t , die sich im G e s a m t k u n s t w e r k großartig v e r k ö r p e r n sollte. Die freie, w o r t b e s t i m m t e , poetisch-musikalische Z w i s c h e n f o r m des Liedes erlebte ihre B l ü t e , die O p e r , die alte, spannungsvolle Gemeinschaft der verschwisterten K ü n s t e , ging neuen, großen E r f ü l l u n g e n u n d W ü r d e n entgegen. Carl Maria von Weber und die deutsche romantische Oper D e r Meister, der der M u s i k das R ü s t z e u g des romantischen A u s d r u c k s s c h u f , w a r C a r l Maria v o n W e b e r . W e b e r w u r d e , wahrscheinlich am 19. N o v e m b e r , 1 7 8 6 zu Eutin geboren. Sein Vater, Franz A n t o n , alemannischer A b k u n f t , der ein abenteuerliches Leben als Soldat, Beamter, Theaterdirektor und Stadtmusikus führte, w a r der B r u d e r des Mannheimer Musikers Fridolin W e b e r , des Vaters v o n Mozarts Gattin Konstanze; Carl M a r i a w a r das K i n d der zweiten Ehe des Z w e i u n d f ü n f z i g j ä h r i g e n mit der achtzehnjährigenSchwäbin G e n o v e v a Brenner. Früh mit dem musikalischen und dem Theaterhandwerk vertraut, genoß er z w ö l f j ä h r i g in Salzburg den Unterricht Michael Haydns und später und gründlicher in W i e n den des Abbes G e o r g Joseph V o g l e r , eines zu seiner Zeit hochberühmten Theoretikers und zwischen Genialität und
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Scharlatanerie schwankenden Anregers der romantischen M u sik, der seinem Schüler den Sinn f ü r musikalische Farbe und Charakteristik vermittelte. 1804 übernahm der junge Weber auf zwei Jahre die Leitung der Breslauer Oper. V o r den "Wirren der napoleonischen Kriege fand er Zuflucht zuerst im schlesischen Schlosse Karlsruhe, darauf als Sekretär des Prinzen Ludw i g von Württemberg in Stuttgart. Hier erlebte er die bewegteste und dunkelste Zeit seiner unruhigen und von leichtsinnigen Episoden durchsetzten Jünglingsjahre. Sie endete i 8 i o m i t seiner Verhaftung, da ihm Unterschlagungen seines Vaters zur Last gelegt wurden. Nach weiteren wechselvollen Wanderjahren über Mannheim —wo er schon 1 8 1 0 in Apels Gespensterbuch die erste Anregung zum Freischütz fand —, Darmstadt, München, Berlin, wurde er 1 8 1 3 mit dem Wiederaufbau der Deutschen Oper in Prag beauftragt. Schon als Z w ö l f j ä h r i g e r hatte Weber seine erste Oper geschrieben, aber seinen Frühwerken — den Opern „Das stumme Waldmädchen" 1800, 1 8 1 0 umgearbeitet als „ S i l v a n a " , „ P e t e r S c h m o l l " 1803, „ R ü b e z a h l " (unvollendet), „ A b u H a s s a n " 1 8 1 1 , Klaviermusik, Liedern, Sinfonien und K o n zerten — fehlte es bei aller Leichtheit und Brillanz der Erfindung an Tiefe und innerem Gewicht. N u n entfaltete sich an der w ü r digen Aufgabe seine künstlerische Persönlichkeit. In Prag und in Dresden, wohin er 1 8 1 6 als Leiter der deutschen Oper und Gegenspieler des Italieners Morlacchi berufen wurde, hat er die besten Meister seiner Zeit, Cherubini, Mehul, Beethoven, Spohr, Marschner gepflegt. Z w a r scheiterte seine Berufung nach Berlin, aber er errang hier den größten künstlerischen Sieg seines Lebens. Hatte er sich schon 1 8 1 4 mit der Vertonung der Körnerschen Kriegsgesänge „Leier und S c h w e r t " zum Sprecher des neuen Nationalgefühls gemacht, so wurde er mit der B e r liner Erstaufführung des Freischütz (nach der Dichtung von Friedrich Kind) am 18. Juli 1 8 2 1 , der die Bühnenmusik zu „Preziosa" vorangegangen war, mit einem Schlage zum gefeiertsten Meister der deutschen Musik. Mit der „ E u r y a n t h e " , im Auftrag des italienischen Theaterdirektors Barbaja f ü r das W i e ner Kärntnertortheater geschrieben und 1823 aufgeführt, ging er vom Singspielstil des Freischütz zur großen Oper über. Sein letztes W e r k ist „ O b e r o n " , f ü r das Coventgardentheater in London komponiert und 1826 dort aufgeführt. Schon todkrank, übernahm Weber den Auftrag und leitete selbst, unter ungeheurem Enthusiasmus, die ersten zwölf Aufführungen. A m 5. Juni 1826 starb er, von unablässigen Anstrengungen aufgerieben, an der Schwindsucht, fern seiner Heimat und Familie (er lebte seit
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1 8 1 7 in glücklicher Ehe mit der Sängerin Karoline Brandt). Seine irdischen Reste wurden 1844, zum Teil auf Betreiben Richard Wagners, nach Deutschland überführt und in Dresden beigesetzt. Webers Bedeutung ist nur v o m Zentrum des Freischütz aus zu verstehen. Dabei sind auch die Frühwerke von hohem künstlerischem R e i z . In ihnen allen ist eine in der deutschen Musik seltene, mozartnahe Leichtheit, eine blühende Fülle gefälliger und zugleich edler M e l o d i k , eine Glätte und E l e ganz der Formen, die W e b e r als den Weltmann unter dendeutschen Musikern erscheinen lassen. In den Opern, deren klangsprühende Ouvertüren heute noch lebendig sind, fesselte die scharfe und witzige dramatische Charakteristik. In den beiden Sinfonien finden sich neben klassizistischer Glätte und Heiterkeit schwärmerische Vorklänge der R o m a n t i k . Die in ihrem W e r t e selten gewürdigte Klaviermusik läßt den Virtuosen W e b e r erkennen, dessen weitgriffiger und geistvoller Satz auf Liszt weist. Neben den rauschenden Polonaisen und der „ A u f f o r d e r u n g zum T a n z " , die den Walzer in die K u n s t musik einführt, sind die vier Sonaten v o n Bedeutung. Sie sind zwischen 1 8 1 2 und 1822, also z u r Z e i t des reifen Beethoven, entstanden. A b e r die Unabhängigkeit v o n der geistigen Ubermacht Beethovens ist ihre Stärke. Sie kommen aus einem elementaren Spieltrieb und sind v o l l frischer und starker G e sichte, prunkend, ritterlich glänzend im Allegro, von tiefem, edlem Ernst in den phantastisch dämmernden Mittelsätzen, in der As-Dur-Sonate klingen schon die Hörner, rauschen die Wälder, in der d-Moll-Sonate toben die Stürme der W o l f s schlucht. Dann aber erklang das W u n d e r des Freischütz; die neue und unbekannte W e l t , die früher nur leise anklang, tat sich vollends auf. Schon in den ersten vier Noten der Ouvertüre ist das dunkle, drohende Geheimnis der übermächtigen Natur enthalten, der die Seele des Menschen ihre bange Frage entgegensetzt. Hörner singen über raunenden, ruhenden Harmonien eine Urmelodie der Unschuld; aber unversehens trübt sich das reine Element, das Böse meldet sich an in zuckenden Schlägen der Bässe. D e r Gesang wird zur Klage, zu verzweiflungsvoller Raserei. Ein Pandämonion tut sich auf, Stürme brausen, aber in ungetrübter
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Harmonie, in reinem Es-Dur, das später bei Bruckner wiederkehrt, rauscht der ewige W a l d , und eine tröstende Stimme der Liebe mischt sich mit der beseelten Klarinette in den Sturm. N u n sind die guten Geister beschworen, sie nehmen den Kampf mit dem Dunkel auf und triumphieren im lichten C-Dur, das wie ein strahlender Morgen hereinbricht. U n d an das Tongedicht der Ouvertüre schließt sich, farbiger, strahlender noch, die Oper. Der Festjubel der Bauern, der derblustige Walzer, der am Abend aus der Schenke klingt, die hörnerschmetternden Chöre der Jäger, das anmutige Brautlied der Mädchen; das schwankende, geängstigte Jünglingsherz des Jägerburschen Max, das sich in der Versuchung der Freikugeln verstrickt; das reine Mädchentum des Försterkindes Agathe, dessen Sehnsucht Gebet wird, um das sich die stille Mondnacht emporwölbt wie ein hoher, wunderbarer D o m ; der Bösewicht Kaspar, der verkommene Troßknecht des Dreißigjährigen Krieges, der nach Beethovens Ausspruch „dasteht wie ein Haus", umgeistert von teuflischen Trillern der Pikkoloflöten und vom unheiligen T o n entweihter Posaunen; endlich der entfesselte Zauberspuk der Wolfsschlucht, ein Sabbat der dämonisierten N a t u r , ein romantisches Wagnis, das alle Taten des Jahrhunderts vorwegnimmt, eine unerhört kühne und freie Musik, formlos, ganz aufgehend in Bild und Traum, eine geniale Teufelei des Geistes, die ohne Vorgang in der Musikgeschichte ist — das sind die Bilder dieser schmalen Partitur, die immer wieder mit Staunen betrachtet und neu beschrieben werden, weil jede Generation sie neu und wie zum ersten Male erlebt. Der Widerhall, den das W e r k fand, beweist, wie sich das Volk in ihm erkannte; v o n der Begeisterung der J u g e n d bei der E r s t a u f f ü h r u n g bis zum Bekenntnis Richard W a g n e r s „ O , mein herrliches deutsches Vaterland, wie m u ß ich dich lieben, wie muß ich f ü r dich schwärmen, wäre es nur, weil auf deinem Boden der Freischütz erstand!" herrscht eine einzige Stimme. Das Deutsche aber, das hier musikalische Gestalt wurde, war nicht mehr das weltbürgerliche, in die W e i t e w i r kende Deutschtum der Klassik, sondern ein nach innen gewandtes, in die Tiefe gerichtetes, das durch Volkstum u n d Heimat, durch Traum, Märchen u n d M y t h o s zum Kern des eigenen Wesens strebte. Die Gestalten, in denen es sich verkörpert, sind der Mensch u n d seine Götterwelt, hier noch verborgen in der Zaubersphäre der dämonisierten N a t u r , die
Carl Maria von Weber und die deutsche romantische Oper
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abergläubische Entstellung und U m t e h r u n g alteingeborener Religionsvorstellungen ist: die Landschaft ist die weite, lebendige, wunderraunende Natur, eine andere als die göttlich reine der Beethovenschen Pastoralsinfonie, rätselhafter, dunkler, gefährlicher, aber zugleich-bestrickender, heimatlicher — es sind die ewigen Wälder, in denen die Seele Eichendorffs zu Hause war. A u c h innerhalb der Musik bewirkte der Freischütz eine E r neuerung. Das Malerische drängte sich v o r , die Farbe gewann selbständige Bedeutung. Die Harmonie erwachte zu eigenem Leben, w u r d e als charakteristischer Farbwert eingesetzt; die Beziehung etwa der Wolfsschluchtmusik auf die weitest entfernten Tonarten c - M o l l und fis-Moll löste neue Spannungen der tönenden Materie aus, die später zum Impressionismus führten. E r s t seit W e b e r gibt es auch eine eigentliche Kunst der Instrumentation. Gegen seine Partituren gehalten w i r k t Beethovens instrumentale Klarheit als Schwarz-Weiß-Zeichnung, Mozarts W o h l k l a n g als ein allgemeines sonniges Leuchten. Bei W e b e r werden die Instrume'ntalfarben zu charakteristischen Lichtern und Schatten. Hörner, Klarinetten, Fagotte, Bratschen offenbaren ihre Individualität. Ein alter Wunschtraum musikalischer Phantasten, den Schubart und H o f f m a n n träumten, findet E r f ü l l u n g . Hier v o r allem ist H o f f m a n n als unmittelbarer Anreger zu nennen, dessen genialische, aber noch unausgeglichen zwischen Mozartscher Klassizität und romantischer Z u k u n f t schwebende Komposition der Fouqueschen „ U n d i n e " das charakterisierende Element, v o r allem die schaurigen tiefen Klarinetten des Freischütz vorwegnimmt. In der „ E u r y a n t h e " wird die Linie des Freischütz in sicherer Steigerung fortgesetzt. Statt der Jäger und Bauern liefert hier das Rittertum den Stoff. Dem entspricht der Charakter der M u sik, die ritterlich, voll edler romantischer Poesie dahinstürmt. Hier wird der Schritt v o m Singspiel zur großen romantischen Opernform getan. Die Musikstücke greifen fast nahtlos ineinander, Duette und Finales schwingen weit aus, die Handlung wird in lebendigen, ausdruckserfüllten Rezitativen vorwärtsgetrieben, die überreich sind an Meisterzügen psychologischer Zeichnung. Auch hier gibt es großartige romantische Charak-
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D i e F r ü h r o m a n t i k in D e u t s c h l a n d
tere, w i e den verräterischen R i t t e r L y s i a r t , dessen v e r w o r f e n e L i e b e z u der reinen E u r y a n t h e in einem R a u s c h d u n k l e r L y r i k dahinströmt. M i t d e m „ O b e r o n " e n d l i c h w a r der j u n g e n R o m a n t i k eine f r ü h e V e r k l ä r u n g g e g ö n n t . D a s Z a u b e r h o r n des E l f e n k ö n i g s w u r d e z u m S y m b o l des m a g i s c h e n Z a u b e r s der M u s i k , w i e die Flöte T a m i n o s u n d das G l o c k e n s p i e l seines heiteren G e f ä h r t e n . E l f e n z a u b e r , strahlende R i t t e r h e r r l i c h k e i t u n d orientalische F a r b e n g l u t v e r b i n d e n sich i n der reinen S c h ö n heitssphäre dieser M u s i k , die der M e i s t e r an der G r e n z e des T o d e s seinem G e n i u s a b g e w a n n . Franz
Schubert
W e b e r , der W e l t v e r b u n d e n e , g e i s t i g L e b e n d i g e , F o r t s c h r i t t s f r e u d i g e , der D r a m a t i k e r v o n N a t u r , findet seine E r g ä n z u n g in d e m e l f Jahre j ü n g e r e n F r a n z S c h u b e r t , d e m w e l t f r e m d e n , g a n z in sein S c h a f f e n v e r s p o n n e n e n N u r - M u s i k e r und Lyriker. S c h u b e r t s L e b e n s g a n g ist arm an ä u ß e r e n Ereignissen. E r w u r d e am 31. Januar 1797 in der W i e n e r V o r s t a d t Lichtenthai als z w ö l f t e s v o n n e u n z e h n K i n d e r n eines Schullehrers g e b o r e n ; die H e r k u n f t seiner E l t e r n w e i s t nach Schlesien, w a s den d u n k l e t , traumhaften, keineswegs wienerisch-heiteren Untergrund seiner K u n s t erklärt. E l f j ä h r i g w u r d e der K n a b e , dessen m u s i kalische B e g a b u n g schon b e i m häuslichen M u s i z i e r e n der F a milie auffiel, in den K o n v i k t der W i e n e r S ä n g e r k n a b e n a u f g e n o m m e n . H i e r g e n o ß er d e n U n t e r r i c h t des O r g a n i s t e n R u c i c z k a u n d des italienischen H o f k a p e l l m e i s t e r s Salieri. H i e r b e g a n n auch schon sein unermüdliches, q u a n t i t a t i v u n b e g r e n z tes S c h a f f e n , das j e d e freie M i n u t e i n A n s p r u c h n a h m u n d seine K r ä f t e f r ü h v e r z e h r t e . M i t siebzehn Jahren trat er als S c h u l g e h i l f e in die väterliche S c h u l e i m H i m m e l p f o r t g r u n d z u W i e n , u n d es b e g i n n t der K a m p f des l e b e n s f r o h e n G e n i e s m i t d e m h a r t e n u n d n ü c h t e r n e n A l l t a g , der auch a n d a u e r t e , als der i m m e r sicherer seiner B e r u f u n g F o l g e n d e den L e h r e r b e r u f a u f g a b u n d , a n g e w i e s e n a u f die spärlichen H o n o r a r e seiner V e r l e g e r u n d die U n t e r s t ü t z u n g seiner F r e u n d e , seinem S c h a f f e n lebte. G l e i c h w o h l w a r e n diese Jahre die e i g e n t l i c h f r u c h t b a r e n u n d g e w i ß auch g l ü c k l i c h e n seines Lebens, das sich aufteilte in die t ä g l i c h e r n e u e r t e H o c h s p a n n u n g der s c h ö p f e r i s c h e n A r b e i t u n d in die o f t bis z u m Ü b e r m u t heitere E r h o l u n g in e i n e m g l e i c h g e s i n n t e n Kreise v o n F r e u n d e n , d e m der S ä n g e r M i c h a e l V o g l , der erste Interpret der S c h ü b e r t s c h e n Lieder, die M u s i k e r L a c h n e r , H ü t t e n -
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brenner, die Dichter Schober, Mayrhofer, Bauernfeld, Grillparzer, der Maler Schwind angehörten. N u r selten w a r Schubert außerhalb Wiens, als Hauslehrer der Töchter des Grafen Esterhazy in Zelesz, auf kurzen Reisen nach Steyr, Graz und Gmunden. Im März 1828 gab er sein einziges Konzert mit eigenen Kammermusikwerken und Liedern, das ihm einen späten E r f o l g einbrachte. Im Herbst dieses Jahres erkrankte er an Typhus. Schon todkrank, meldete er sich, Schöpfer einer unabsehbaren Reihe von Meisterwerken, bei dem Kontrapunktisten Simon Sechter als Schüler im strengen Satz — ein seltsames Beginnen am Ende seines Weges, Gegenstück zu dem langen Zaudern Bruckners, der sich noch als Fünfunddreißigjähriger von demselben Lehrer unterweisen ließ, ehe er sein Werk begann. A m 19. November 1828 starb Schubert, einunddreißigjährig, eineinhalbes Jahr später als Beethoven, den er bewundert hatte; er wurde in feierlichem Trauergeleit—Grillparzer sprach auch ihm die Grabrede — an der Seite Beethovens bestattet. Schwerer als bei irgendeinem anderen ist es bei Schubert, von Biographie und Persönlichkeit auf den. Künstler zu schließen. Der Mensch ist nur Medium, nur G e f ä ß einer übermächtigen, stürmisch aus ihm hervorbrechenden schöpferischen B e g a b u n g , die ihn verbrennt und aufzehrt. Diese B e g a bung ist nur der Mozarts vergleichbar, aber sie ist großartiger, gewaltiger, dunkler, naturhafter als die weltnahe Menschlichkeit des Salzburger Meisters. Sie gehorcht, bar jeder handwerklichen R o u t i n e , die Schubert nie erwarb, gänzlich ihrem eigenen inneren Gesetz, sie formt ohne Vorbereitung Meisterwerke aus einem Guß und versagt v o r gewöhnlichen A u f g a b e n des Handwerks. Das wienerische W e s e n seiner M u sik ist o f t und fast zu sehr betont worden. A b e r das Wienerische überkreuzt sich bei Schubert mit dem vielleicht wichtigeren schlesischen Seelenerbteil, das wie ein dunkler, ernster Hintergrund der Heiterkeit eine vertiefende Resonanz gibt. Alle diese Beziehungen führen nicht in das Innerste seiner Kunst. Dieses Innerste w a r einfach und unvermittelt da; früh auf dem Gebiete, w o er frei, ohne Tradition und Vorbild schuf: im Liede. Das Lied w a r bisher f ü r die großen Meister ein Nebengebiet geblieben, schon darum, weil es noch keine große Dichtung gab. Bei Mozart wuchs es erst allmählich aus den Kunstformen
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des Bühnengesangs heraus; erst mit seiner Vertonung von Goethes Veilchen, einer lyrischen Szene, die Empfindung, E r zählung und Handlung in sich schließt, w a r der echte Ton des deutschen Liedes getroffen. Einfacher sind die Oden-Kompositionen Glucks und Christian Gottlob Neefes, die Klopstocks und Herders Poesie in schlichte Melodie setzten. Johann R u d o l f Zumsteeg (1760—1802), bekannt als Vorgänger Schuberts, entwickelte die illustrativen Kräfte der Musik in der epischen Form der Ballade. Weit bedeutsamer, eine ganze, gerundete Liedwelt, sind die 66 Lieder Beethovens, die nicht nur die schwärmerische Gefühlslyrik der Vorklassik — Geliert, Matthisson, Tiedge — sondern auch Goethe (Mignonlieder, W o n n e der Wehmut) mit wundervoller Wahrheit und Höhe der Empfindung in Töne übersetzen und in dem Liederkreis „ A n die ferne Geliebte" die romantische Form der Liederzählung vorwegnehmen. Aber sie bezeichnen doch ein frühes, vorbereitendes Stadium vor der vollen R e i f e der Form. Mit Schubert ist die R e i f e erreicht. Schubert konnte in die unerschöpfliche Fülle der Dichtung greifen, die inzwischen herangewachsen war. E r hat in seinen über sechshundert Liedern Klopstock, H ö l t y , Schiller, R ü c k e r t , Platen, N o v a lis, Heine, Claudius und viele andere komponiert u n d sich mit einer wunderbaren Feinheit des Instinkts in die j e w e i l i g e Vorlage eingefühlt: A m nächsten verwandt w a r ihm Goethe, mit dem ihn die gleiche dunkle Dämonie der Naturempfindung, das gleiche R u h e n im A l l verband. Mit achtzehn Jahren w a r f er in einer glühenden Stunde den „ E r l k ö n i g " aufs Papier, ein Opus 1 , das zu den vollkommenen Meisterwerken der Musik zählt. V o n dem dröhnenden Hinstürmen d e s „ S c h w a g e r K r o n o s " und der deklamatorischen Gewalt des „ P r o m e t h e u s " bis zur Süße der Mignonlieder und der volksliedhaften Schlichtheit des „Heidenrösleins" hat er j e d e Stimmung der unendlich weiten Goetheschen Dichtungswelt in sich aufgesogen und tönend z u r ü c k g e w o r f e n ; und es ist eins der tragischen Mißverständnisse der Kunstgeschichte, daß der Dichter seinen kongenialen Vertoner nicht erkannte, daß Goethe die zweimalige Zusendung von Kompositionen unbeantwortet ließ. Das Lied ist eine eigentümliche Form des romantischen Jahrhunderts. Diese Form ist vielfältig, aber keineswegs regellos, sondern aus den Formelementen des Strophen-
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liedes, der Arie und der Kantate erwachsen. Sie dehnt sich über das Einzellied zum Z y k l u s . Es entstehen zusammenhängende, geschlossene Liederfolgen, gleichsam lyrische Spielarten der Oper, die eine Handlung oder eine seelische Situation in Einzelbildern ausschöpfen: die zwanzig Lieder der „ S c h ö n e n Müllerin" (1823), eine romantische Variante der Schäferpoesie, die in nahezu novellistischer Form v o n der Liebeshoffnung und dem Leid eines armen Müllerburschen singen, und die vierundzwanzig Gesänge der düsteren „ W i n terreise" (1827), in der Liebesenttäuschung, Resignation und Todessehnsucht w i e in einem erschütternden Selbstbekenntnis zusammenfließen. A u f einem Gebiete blieb dem Lyriker Schubert das Gelingen versagt, auf dem der Oper. V o n seinen vierzehn Bühnenwerken hat sich nur die melodische Schauspielmusik zu „ R o s a m u n d e " volkstümliche Geltung errungen. Seine Messen sind freiströmende Gesänge einer undogmatischen Religiosität; nur einmal kommt es in der As-Dur-Messe von 1 8 1 9 zu einer voll durchgeführten Fuge, aus seinem letzten Lebensjahr stammt die ernste, bedeutende Es-Dur-Messe. Die Kammermusik enthält W e r k e höchsten R a n g e s : das sonnige Klavierquintett mit den Variationen über das Lied „ D i e Forelle" (1819), das in unendlioher melodischer Schönheit hinströmende, an die althergebrachte Serenadenform anknüpfende Oktett f ü r Streicher und Bläser (1824), die drei letzten Streichquartette in a-Moll, d-Moll (mit den Variationen über „ D e r T o d und das Mädchen") und G - D u r (1824), das in lichter Harmonie ausschwingende Streichquintett in C - D u r (1827). A m deutlichsten ist sein R i n g e n um die eigene Form auf den Gebieten zu verfolgen, die im Mittelpunkt des Beethovenschen Schaffens gestanden hatten, in der Klaviersonate und der Sinfonie. Hier erweist sich auch am schärfsten der G e g e n satz der beiden künstlerischen Naturen. Die Sonate ist f ü r Schubert nicht eine Konstruktion aus thematischen K o n trasten, sie ist erfüllt von der zeitlosen Einheit eines Musizierens, das in sich ruht in Schönheit und stillem Glanz, wie ein geheimnistiefer See, v o n der Sonne vergoldet. A u f dieses Ziel hin klärt und weitet sich Schuberts Form in der Folge seiner zehn Klaviersonaten bis zu den drei letzten in c - M o l l , A - D u r 3 Ochlmann, Musik des 19. Jahrh.
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und B - D u r . N e b e n ihnen stehen gleichwertig die beiden K l a vierphantasien in C-(Wanderer-Phantasie) und G - D u r , die höchst bedeutsamen vierhändigen Sonaten und Phantasien, und die R e i h e der kleinen, jeweils aus dem Guß einer einzigen Eingebung gefertigten Stücke, der,,Moments musicaux" und Impromptus, die der R o m a n t i k die vielbeliebte Form des k u r zen Charakterstücks vorgezeichnet haben. A u c h der Sinfoniker Schubert stand v o r der A u f g a b e , die f ü r sein Jahrhundert bezeichnend w a r : eine fertige, zur V o l l kommenheit durchgebildete Form weiter zu entwickeln. W i e Beethoven hat er neun Sinfonien geschrieben, v o n denen eine, die vorletzte, nach dem Ort ihrer Entstehung „Gasteiner Sinf o n i e " benannt, verschollen ist. Die Frühwerke stehen im Schatten Beethovens, sei es, daß er in seinen drei ersten Sinfonien sich bewußt von dem überragenden Vorbild abwendet und an die serenadenhafte Musizierlaune der Frühklassik anknüpft, sei es, daß er in der „tragischen" vierten Sinfonie die Beetnovensche Antithese von c-Moll und C D u r , von Nacht und Licht kurzerhand übernimmt, die seiner einheitlichen, keineswegs in Gegensätzen lebenden Natur freilich nur zum dekorativen Kontrast werden kann. In der fünften Sinfonie in B - D u r (1816) und der sechsten, der kleinen C - D u r Sinfonie (1817), dringt er zum Grunde des schlichten volkshaften Melos. Aber erst in der Siebenten, der „Unvollendeten" in h-Moll, findet er seinen eigenen sinfonischen Stil. 1823, nach einer schweren Erkrankung geschaffen, ist sie die Antwort des Künstlers auf die erste Mahnung, die der T o d in sein Leben sandte, ganz aus einer einzigen, tiefen Eingebung geflossen, voll Schwermut und Süße, ein traumtiefes, todesseliges Bekenntnis der jungen Romantik wie die Hymnen des Novalis und die Gesänge Eichendorffs. So sicher folgt Schubert hier seinem eigenen Gesetz, daß er das ursprünglich viersätzig konzipierte W e r k (der Anfang des Scherzo ist erhalten) zweisätzig bestehen läßt, nicht unvollendet, sondern in sich abgeschlossen und vollkommen, eine romantische Einmaligkeit. U n d auch die andere, die große C-Dur-Sinfonie von 1827 hat die lyrische Einheit der Form. Hier ergießt sich der Fluß der Musik in vier vollkommen ausgeführte Sätze, deren „himmlische L ä n g e " Schumann als Zeichen der Fülle rühmte. Hier ist statt der Mollmelancholie des vorigen Werkes heUes, rauschendes C - D u r ; neben innigem Gesang und volkstümlicher Heiterkeit klingen selig ernste H y m -
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nen, stampfen titanische R h y t h m e n ; hier öffnet sich die ganze W e i t e der unendlichen Musik, deren R e i c h Erde und Himmel, T o d und Leben umgreift. So stehen diese z w e i Sinfonien neben den neun Beethovens gleichwertig, aber unvergleichbar, in ganz anderen R ä u m e n erwachsen. Die Zeitgenossen haben sie nicht gekannt: D i e C - D u r - S i n f o n i e w u r d e im Jahre 1839 v o n Schumann im N a c h l a ß Schuberts entdeckt, die h-Moll-Sinfonie, deren Manuskript A n s e l m Hüttenbrenner an sich g e n o m m e n u n d versteckt gehalten hatte, gar erst 1865. Sie haben das B i l d Schuberts spät abgerundet. Diese Sinfonien geben uns das R e c h t , das W e r k des Einunddreißigjährigen als abgeschlossen zu betrachten. Sie sind ein H ö h e p u n k t , über den nichts hinausführte; mehr z u sagen ist keinem Sterblichen erlaubt. D e r W u n s c h des Naturgenies, sich in die Schule des strengen Satzes zu begeben, w a r das Irrewerden des Sterbenden an seiner Sendung, w a r das Sich-Loslösen v o n seinem W e r k , das er als getan empfand. Ein Ganzes, kein Fragment, bleibt uns dieses W e r k zurück, die tiefste Quelle der romantischen M u sik. B e e t h o v e n , der Vollender der Klassik, der Prophet u n d Meister einer weltweiten Menschheitskunst, W e b e r , der R o mantiker, der Schöpfer des deutschen Menschen u n d seiner walddurchrauschten heimatlichen Landschaft, u n d Schubert, das Genie außerhalb der. Z e i t u n d des geschichtlichen R a u mes, der B o t e aus den geheimnisvollen, e w i g e n Gründen der M u s i k — das sind die drei g r o ß e n Gestalten, die der M u s i k des Jahrhunderts den G r u n d gelegt haben. Das Musikleben des bürgerlichen Deutschlands Die musikalische W e l t in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts w a r charakterisiert durch die Besonderheiten der N a t i o n u n d der Landschaft, durch politische E r e i g nisse u n d geistige Strömungen. Überall v o l l z o g sich der Ü b e r g a n g v o n der aufklärerischen D e n k w e i s e und dem W e l t b ü r gertum des achtzehnten zu den national gebundenen Lebensformen des neunzehnten Jahrhunderts, aber Form u n d Z e i t maß dieses V o r g a n g s waren verschieden. In Deutschland w a r W i e n , die Heimat u n d W a h l h e i m a t der klassischen Meister, 3*
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der geistige Mittelpunkt. In der lebendigen Bildungssphäre der Stadt ging die E n t w i c k l u n g reibungslos und unmerklich v o r sich; auch das Intermezzo der französischen Fremdherrschaft von 1809 bis 1 8 1 3 hinterließ keine tieferen Spuren. Neben den kunstliebenden aristokratischen Zirkeln, deren Mäzenatentum H a y d n , Mozart und Beethoven geistige und materielle H i l f e geleistet hatte, trat nach dem Sturz des Kaiserreichs auch das gebildete Bürgertum hervor, das f ü r das biedermeierliche Kunstleben tonangebend w u r d e und eine neue intime A r t v o n Hausmusik hervorrief, wie sie zuerst durch Schuberts Klaviermusik dargestellt wurde. Das Wiener Theater bewahrte weiterhin seine Eigenart als Stätte einer bodenständigen Volkskomödie, die von den Hanswurst-Spielern des achtzehnten Jahrhunderts, von Stranitzky, Prehauser, Kurz-Bernardon begründet war. Neben dem Theater am Kärntnertor und dem Burgtheater, an denen nach Gluck und Salieri Joseph Weigl (1766—1846, W e r k e : Die Schweizerfamilie, Das Waisenhaus) und Konradin Kreutzer, Komponist des „Nachtlagers in Granada", als Kapellmeister wirkten, waren die Bühnen in der Leopoldstadt, an der W i e n und in der Josephsstadt entstanden; Prinzipale wie Schikaneder, Marinelli und R a i m u n d pflegten die Wiener Lokalposse, die von Komponisten wie Wenzel Müller (1767—1837) und Konradin Kreutzer in ein schlichtes musikalisches Gewand gekleidet wurde. Dagegen w a r Berlin, das durch die Dichter E . Th. A . Hoffmann, Fouque, Chamisso, durch den Theologen Schleiermacher, durch die neuerwachte Geistigkeit seiner literarischen Salons, durch Frauen wie R a h e l Varnhagen von Ense zu einem Mittelpunkt der literarischen R o m a n t i k geworden war, als Musikstadt ein Hort der Klassik: Die von Karl Fasch gegründete Singakademie wurde unter Karl Friedrich Zelter (1758—1832), dem Freunde Goethes und Begründer der ersten Liedertafel, ein hervorragendes Instrument der B a c h pflege, von dem mit der Neuaufführung der Matthäuspassion im Jahre 1829 unter dem jungen Felix Mendelssohn die R e naissance des fast ein Jahrhundert lang vergessenen Großmeisters der Barockmusik ausging. Die Oper, die ihren künstlerischen Ehrgeiz in die Pflege der Werke Glucks setzte, wurde durch die Diktatur des Italieners Spontini und durch den genialen Bühnenbildner Friedrich Schinkel noch bis in die vierziger Jahre im Geiste eines szenisch prunkvollen Klassizismus
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geleitet, der in seiner Formenstrenge und dekorativen Haltung als künstlerische Repräsentation eines selbstbewußten, aber unter Friedrich Wilhelm III. allmählich zu geistigem Stillstand erstarrenden Preußentums zu verstehen ist. Auch andere Städte entwickelten ein reges musikalisches Leben. So besaß vor allem Leipzig in der seit 1 7 8 1 bestehenden Einrichtung seiner G e wandhauskonzerte, als deren Dirigenten auf Johann Adam Hiller, J . G. Schicht, J . P. C . Schulz und C . A . Pohlenz gefolgt waren, den festen Mittelpunkt einer städtischen Musikkultur. Auch die Thomasschule w a r unter ihren Kantoren A . E . Müller, Schicht und Chr. Th. Weinlig immer eine musikalische Macht geblieben, und 1843 trat noch die Neugründung des bald zu hohem Ansehen kommenden Konservatoriums unter Mendelssohn und Schumann dazu. In ähnlicherWeise w a r Frankfurt am Main durch seine Museumskonzerte, die über zweieinhalb J a h r zehnte von dem ausgezeichneten Kapellmeister Karl Wilhelm Ferdinand Guhr, einer impulsiven Dirigentennatur, geleitet wurden, ein Ort lebendiger bürgerlicher Musikkultur, während in den Residenzen München, Dresden, Kassel, Hannover, Braunschweig das höfische Operntheater mit seinem auch zu Konzertzwecken verwendeten Orchester im Mittelpunkt stand. Bis in kleine Städte hinab bildeten sich aus Dilettanten und Berufsmusikern gemischte Musiziervereinigungen; sie w i d meten sich vor allem dem W e r k e Haydns, das in seiner rationalen Klarheit und Gemessenheit geradezu als Keimzelle der bürgerlichen Musikpflege erscheint. Dazu kamen mit der v a terländischen B e w e g u n g des Jahrhunderts die Männerliedertafeln, deren Vorbild der Tübinger Musikdirektor Friedrich Silcher (1789—1860), ein gemütvoller Sammler und Schöpf e r schwäbischer Lieder, gab. A u c h das Konzert der reisenden Virtuosen f a n d in dieser U m g e b u n g immer stärkere R e s o nanz. Der Klavierspieler und Geiger, auch der Harfenist und Klarinettist konnten in vielen Orten d a r a u f r e c h n e n , ein O r chester zur Begleitung und ein musikalisch aufgeschlossenes Publikum anzutreffen. M a n gewöhnte sich, Musik als b e zahlte Produktion anzubieten und hinzunehmen. Es entstand ein Wettbewerb der Leistung, der das technische Können rasch in die Höhe trieb. D e r geniale musikalische Individualist, wie er sich faszinierend in Paganini, dem genuesischen Geiger, und in Liszt verkörperte, wurde zur bejubelten Sen-
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sation des Konzertsaales. Die M u s i k k r i t i k , w i e sie e t w a der schriftstellerisch rührige J o h . Friedr. Reichardt in Berlin schon v o r 1800 regelmäßig in „ K u n s t m a g a z i n " , „ W o c h e n b l a t t " u n d „ M o n a t s s c h r i f t " pflegte, w a r n o c h ü b e r w i e g e n d Fachkritik u n d drang nicht in die breite Öffentlichkeit. A u c h die „ A l l gemeine Musikalische Z e i t u n g " , die seit dem E n d e des achtzehnten Jahrhunderts v o n der Verlagsanstalt Breitk o p f u n d Härtel in Leipzig herausgegeben u n d v o n Johann Friedrich R o c h l i t z redigiert w u r d e , das Blatt, in dem E . T h . A . H o f f m a n n seine kritischen A u f s ä t z e veröffentlichte, w a r eine Zeitschrift f ü r Musiker u n d Liebhaber ohne den A n spruch u n d die Fähigkeit breiter publizistischer W i r k u n g . Die Musiknachrichten der Z e i t u n g e n beschränkten sich zumeist a u f empfehlende Hinweise u n d Berichte. N u r die Berliner „Vossische Z e i t u n g " pflegte eine regelmäßige, v o n geistiger V e r a n t w o r t u n g getragene M u s i k k r i t i k , die Friedrich R e l l stab ausübte; sein Sohn L u d w i g Rellstab (1799—1860), der erste Musikkritiker v o n großer öffentlicher R e s o n a n z , g a b ihr durch sein A u f t r e t e n g e g e n Spontinis Musikdespotie, das ihn ins Gefängnis brachte, aktuellen politischen A k z e n t . N o c h eins ist dem Bilde dieser Z e i t h i n z u z u f ü g e n : die g e drückte politische Situation, die sich aus der U n t e r d r ü c k u n g der gesamtdeutschen u n d demokratischen, aus der Begeisterung der Freiheitskriege entsprungenen Bestrebungen z u gunsten dynastischer Interessenpolitik ergab. N i c h t nur in dem geheimen Treiben der Burschenschaften u n d B ü n d e u n d in den literarischen Vorstößen des j u n g e n Deutschlands, auch in manchem Musikstück der R o m a n t i k w i r k t e n j e n e B e strebungen als verhaltene oder begeisterte K l ä n g e nach, bis sie sich g e g e n den wachsenden D r u c k in der R e v o l u t i o n des Jahres 1848 gewaltsam erhoben. Die Oper in der Nachfolge Webers Standen die drei G r o ß e n am A n f a n g des Jahrhunderts g ä n z lich oder mit dem besten T e i l ihres W e s e n s gleichsam außerhalb der Zeit, so sind die zahlreichen kleineren Meister in ihrer U m g e b u n g u n d N a c h f o l g e im Z u s a m m e n h a n g mit der W e l t zu sehen, aus der sie h e r v o r g i n g e n u n d f ü r die sie schu-
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fen. W e b e r , der Weltnächste jener drei, hat als Einziger eine wirkliche N a c h f o l g e gefunden, die seinen Stil zur Schule machte. N o c h nicht in diese N a c h f o l g e , aber in Webers Nähe gehört der um zwei Jahre ältere L u d w i g Spohr, mit dem ein Norddeutscher in den romantischen Kreis eintritt. Spohr wurde 1784 zu Braunschweig geboren, erhielt mit fünf Jahren Violinunterricht und trat schon zwanzigjährig als Virtuose hervor; er verkörperte gegenüber dem Romanen Paganini den T y p u s des deutschen Geigers, dessen Strich auf der ruhigen, innigen Kantilene aufbaut und die Kunststücke der Technik als leichten, zierlichen Schmuck hinzufügt. Seine K o n zertreisen führten ihn nach Italien, Frankreich und England. Nach vorübergehender Kapellmeistertätigkeit in W i e n und Frankfurt wurde er 1822 als Hofkapellmeister nach Kassel berufen; er bekleidete diese Stellung durch fünfundzwanzig Jahre, lange genug, um noch für Wagners Fliegenden Holländer eintreten zu können, und starb 1859, fünfundsiebzig Jahre alt; er war zweimal verheiratet. Spohrs Schaffen ist universal wie das Webers und umfaßt über 1 5 0 Werkzahlen. Es geht von der Geige aus; seine V i o linkonzerte, v o r allem das in italienischer Arienmanier ,,in Form einer Gesangsszene" geschriebene, sind noch lebendig. Seine zahlreichen Kammermusikwerke, v o n denen ein N o nett noch heute gespielt wird, und seine neun Sinfonien zeigen klassizistische Klarheit und Glätte, die o f t durch die N e i g u n g zu Molltonarten und Chromatik eingedunkelt wird, ohne doch schon in die volle T i e f e der romantischen Nacht hinabzutauchen. V o n seinen zehn Opern hatten ein auf die v o r goethesche Fassung der Sage zurückgehender Faust ( 1 8 1 6 ) und die in indischer Farbenglut leuchtende Jessonda (1823) nachhaltigen E r f o l g . A b e r seine v o r w i e g e n d lyrisch-elegische Empfindung erhebt sich nicht zu starken dramatischen W i r kungen, und der Mangel einer elementaren K r a f t und Tiefe beläßt seine edle und gefällige Kunst in der Vergänglichkeit; wie denn auch seine o f t berufene Chromatik trotz ihrer schweifenden Freiheit noch nicht wie die des Tristan romantische Spannung und Erhitzung, sondern eher A u f l ö s u n g klassischer Klarheit, milde, dämmernde T r ü b u n g Mozartschen Lichtes ist.
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Viel tiefer in der R o m a n t i k , in einem ihrer dunkelsten und unheimlichsten Bereiche steht der Sachse Heinrich A u g u s t Marschner, der als unmittelbarer Nachfahre Webers und als Mittler zwischen ihm und W a g n e r eine große geschichtliche Stellung inne hat. Marschner, 1795 zu Zittau geboren, ging in Leipzig vom Rechtsstudium zur Musik über, lebte als Musiklehrer in W i e n und Preßburg, w o er zwei Opern schrieb,.deren eine von W e ber in Dresden aufgeführt wurde. D a r a u f k a m er selbst als M u sikdirektor an die Dresdner Oper; nach Webers Tode ging er nach Leipzig, 1 8 3 1 als Hofkapellmeister und späterer Generalmusikdirektor nach Hannover. E r war viermal verheiratet und starb im Jahre 1 8 6 1 . W a s dem sonst epigonalen Musiker, dessen Kammer- und Klavierwerke überwiegend gefällig heiteren Charakters sind und dessen Männerchöre mit Glück die Schubertsche Tradition fortsetzen, tief eigenartige, geniale Z ü g e verleiht, ist seine Besessenheit von den Visionen des tiefsten romantischen Grauens. Z w e i von seinen dreizehn Opern tragen den Stempel dieser dämonischen Größe, der „ V a m p y r " (1828) und „Hans Heiling" (1833). Der Vampyr, eine Spukgestalt des schottischen Hochlandes, ist eine der düstersten Erfindungen der fabelnden Volksphantasie: ein ruheloser Geist, der in seine erkaltete irdische Hülle zurückkehrt und der verdammt ist, sein bleiches Leben vom Blute der Menschen zu nähren, die er bezaubert, derer vor allem, die ihm im Leben am liebsten waren. Es ist fast erschreckend, wie Marschners Musik, die sonst in leicht pedantischer Formelhaftigkeit verharrt, überall groß und dunkel auflodert, sobald sie in den Bann dieses GespenstischUrbösen gerät. Das Selbstbekenntnis der Arie, in der Lord R u t h w e n sein Vampyrschicksal enthüllt, ist ein Stück von wahrhaft höllischer Größe, das alle Schattierungen des Bösen v o m wollüstigen Genuß bis zum zerstörenden Rausch und zur höhnenden Selbstverachtung enthält,'und der W e g des Dämons wird über schauerliche und düster glühende Episoden bis zum Ende verfolgt, bis et, da seine Frist erfüllt ist, mit dem Mitternachtsschlage verzweifelnd zur Hölle hinabstürzt. Edler, größer und geläuterter ist „Hans Meiling", eine Sagcngestalt der schlesischen Berge, die der Schauspieler Eduard Devrient zur Hauptfigur eines fesselnden Opernbuches gemacht hat. Heiling ist der Geisterfürst, der sein Reich hingibt für die Liebe eines M e n schenmädchens, der am Ende, von dem Mädchen verraten, in das dunkle Reich seiner königlichen Mutter, in die schweigende
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Erde zurückkehrt. Hier ist eine Gestalt von romantischer Größe und Einsamkeit geschaffen, eine tief ausdrucksvolle Baritonpartie auf dem W e g e zwischen Mozart und Wagner. Hier ist auch das bäuerliche Leben in derben Trinkliedern und gemessen zierlichen Brauttänzen mit kraftvollen Farben gemalt, hier ist die Märchensphäre des Freischütz noch einmal rund und ganz beschworen. Das Wichtigste aber, das Marschner f ü r die romantische Musik vollbracht hat, ist die Lyrisierung des D ä monischen. Nun erst, nachdem die dämonische Existenz als Held des Dramas und als unmittelbarste Teilnahme fordernde musikalische Gestalt vor den Zuhörer hingetreten war, nachdem die Musik ihre dunkle Seele zum Schwingen gebracht hatte, konnte Wagner im Fliegenden Holländer ihre Vermenschlichung und Erlösung gelingen. Die R o m a n t i k lebt und fühlt in Gegensätzen, und so gehört auch der heitere, nüchterne Albert Lortzing in diesen Kreis der romantischen Oper. E r bezeichnet die W e n d u n g zu biedermeierlicher Behaglichkeit und Intimität, die romantische Gefühlstiefe w i r d zu gemütvoller Biederkeit, die Dämonie zur K o m i k . Lortzings Heimat ist Berlin; er wurde am 23. Oktober 1801 als Sohn eines Kaufmanns und späteren Schauspielers geboren, und es ist befremdlich, daß die Vorfahren dieses durch und durch liebenswürdigen Künstlers im siebzehnten Jahrhundert durch mehrere Generationen das Amt eines Scharfrichters ausübten, wodurch denn auch der Nachkomme zu einer Existenz außerhalb der Grenzen „ehrlicher" Bürgerlichkeit vorbestimmt gewesen sein mag. Als rechtes Theaterkind vielseitig begabt, zugleich Schauspieler, Sänger, Regisseur und Kapellmeister, dazu produktiv als Dichter und Komponist, begann der junge Lortzing seine Laufbahn in Köln und Detmold, w o er an der Uraufführung von Grabbes Tragödie „ D o n Juan und Faust" als Darsteller des großen Verführers und als Komponist einer Bühnenmusik beteiligt war. In Leipzig begann die Zeit seiner großen Erfolge. Hier folgten einander die komischen Opern „ D i e beiden Schützen" (1835), „ Z a r und Zimmermann" (1837), „Hans Sachs" (1840), „ D e r Wildschütz" (1842). In Magdeburg und Hamburg erklang 1845 die romantische „ U n d i n e " , in Wien, wohin Lortzing nach Kündigung seiner glücklichen Leipziger Stellung übergesiedelt war, 1846 der „ W a f f e n schmied". Aber seine norddeutsche Kunst fand hier kein Echo, und es begann der traurige Abstieg dieses Künstlerlebens. Mit
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dem Glauben an seinen E r f o l g schwand auch seine Schaffenskraft. Schon mit zweiundzwanzig Jahren glücklich verheiratet, Vater von elf Kindern, mußte er den Lebensunterhalt für seine Familie durch aufreibende Gastspielreisen als Schauspieler verdienen. 1850 nahm er eine Stellung als Dirigent von Gesangspossen am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater in seiner Heimatstadt Berlin an. Es ist traurig, wie er seine letzten Kräfte dazu verbrauchte, f ü r f ü n f Taler Urheberanteil die Musik zu Possen wie „ E i n e Berliner Grisette" zu schreiben. E r starb am 2 1 . Januar 1 8 5 1 . Lortzings Bedeutung ist die des Meisters der deutschen heiteren Oper. Ihre Geschichte ist nicht reich an großen E r eignissen. Z w a r gab es schon im achtzehnten Jahrhundert in den Werken Johann A d a m Hillers, G e o r g Bendas, Karl D i t tersdorfs, Wenzel Müllers eine Kultur des deutschen Singspiels, die einer heiteren Opernkunst zur Grundlage hätte w e r den können. A b e r ihrem Erstarken zu größeren Formen stand s o w o h l der Mangel an äußeren Mitteln, an Darstellern und Theatern, wie besonders ihr inneres Genügen an den Zielen primitiv volkstümlicher Unterhaltung entgegen. Mozarts strahlende „ E n t f ü h r u n g aus dem Serail" blieb eine Einmaligkeit — mit tiefem innerem R e c h t . Denn das Wesen der Musik ist romantisch, ist geheimnisvoll, dunkel und ernst; das Heitere kann immer nur auf ihrer Oberfläche seine Stätte haben, und gerade der große Künstler w i r d im L a u f e seiner E n t w i c k lung in tiefere Schichten des lyrischen Erlebens eindringen. Es ist Lortzings persönliche Tragik, daß er, v o m Mimischen her zur Musik k o m m e n d und lange bei ihrem spielerischen G e brauch zu komödiantischer V e r g n ü g u n g verharrend, seine K r ä f t e erschöpfte, ehe er weiter in ihr Inneres eindrang — daß er die Arbeit an der ernsten „ U n d i n e " als ein solches T i e f e r dringen empfand, bezeugen- seine B r i e f e —; diese T r a g i k ist aber zugleich ein geistiger Glücksfall, der uns inmitten der Dunkelheiten der R o m a n t i k ein musikalisches R e i c h der Heiterkeit, des Witzes und des Humors geschaffen hat. S o erkennen w i r auch in diesem durch seine Unzulänglichkeit ergreifenden Leben die Einheit der Entwicklung, die Linie, die v o m musikalischen Schwank zum gehobenen Ton der romantischen „ U n d i n e " und des altdeutschen „Waffenschmied" auf-
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steigt. Die romantische Eigenschaft dieser Undine sollte nicht unterschätzt werden. Z w a r ist sie nicht neben HofFmanns kühnphantastischer Komposition desselben Stoffes zu nennen, überhaupt nicht an Fouques geisterhaft schwermütiger Märchendichtung zu messen. Z u r Geistersphäre, die noch Marschner offenstand, besaß Lortzing keinen Z u g a n g ; das beweist der V e r gleich seines mild väterlichen Wasserfürsten Kühleborn mit dem grotesk-großartigen, in übermenschlich weiten Intervallen singenden Elementarwesen, das Hoffmann aus der Gestalt gemacht hat. Aber gerade die Vermenschlichung des Stoffes ist schon dem Textdichter Lortzing auf eine reine und liebenswürdige Weise gelungen, und die Musik besitzt in der Ouvertüre, in der Arie Undines und im nächtlichen Gesang der Wassergeister, der den dramatischen dritten A k t beschließt, Augenblicke von zartem und echtem romantischem Klang. Freilich: die Meisterschaft seines Schaffens liegt nicht am Ende, sondern in der Mitte von Lortzings Entwicklung; besser als die zarte Wasserfrau gelingen ihm seine holzschnittartig derben Komödienhelden, der törichte Bürgermeister van Bett und der pfiffige Schulmeister Baculus, ein naher Verwandter von Kleists Dorfrichter Adam, eine Gestalt von nahezu Molierescher Prägung. Hier zeigt sich der Abstand der romanischen B u f f o Oper von der deutschen Musikkomödie: jene arbeitet mit ein für allemal feststehenden Charaktertypen, mit Karikatur und Verzerrung, diese schließt sich um den Menschen zusammen, um das kauzige und närrische Individuum, das in jedem Falle neu zu erschaffen ist. Die K o m i k dieser Figuren ist dämonischer und darum musikalischer Natur. Ihre Vorfahren sind Leporello und Kaspar, in ihrem musikalischen Habitus klingt ihre A b kunft nach und hebt sie über allen bloßen Realismus hinaus. Sie stehen in einer biedermeierlich engen Komödienwelt, neben behäbigen Bürgern und Handwerkern, leichtsinnigen Grafen und Baronen, mutwilligen Mädchen und eitlen alten Jungfern. Die Stückeschreiber des Tages, voran der gewandte Kotzebue, haben das Szenarium geliefert. Aber Lortzings leichte Hand hat das alles mit einer an Spitzweg gemahnenden Meisterschaft übermalt und mit heiterer Menschlichkeit erfüllt. Die echt romantische Personaleinheit von Textbearbeiter und Musiker verbürgt die Geschlossenheit dieser kleinen Welt, die in ihrer Art so echt ist wie die R o k o k o w e l t Mozarts. Auch der Musiker Lortzing ist vom Geiste Mozarts berührt. V o m volkstümlichen, gefühlvollen Lied, v o m heiteren Couplet bis zum wirkungssicher aufgebauten, lebenssprühenden Buffofinale sind ihm alle
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Formen der dramatischen Musik geläufig. Seine melodische Erfindung ist von bezwingender Natürlichkeit und Schlagfertigkeit, sein Orchester von meisterlicher Klarheit und Ökonomie und reich an übermütigen instrumentalen Scherzen. Am höchsten steht der „Wildschütz", der auf das gefühlshafte Element, welches im „ Z a r und Zimmermann" und im „Waffenschmied" zuweilen mitspricht, verzichtet: eine echte Musikkomödie, ein bürgerlicher „Figaro" voll prickelnder Laune und treffsicherer Charakteristik; die Quintettszene, in der der Schulmeister Baculus das Billard- und Liebesspiel der Herren und Damen mit seinem täppisch dreinfahrenden Choral kontrapunktiert, zählt zu den glücklichsten Eingebungen, welche die Geschichte der musikalischen Komik aufweist. Noch einige Musiker geringeren Grades sind der romantischen Opernbühne zuzuordnen. Der schon 1780 in Baden geborene Konradin Kreutzer, der sein Leben als Kapellmeister in Stuttgart, Donaueschingen, Köln und Wien verbrachte und 1849 in Riga starb, fand mit dem „Nachtlager in Granada", welches Webersche Gefühlsinnigkeit und Naturpoesie ins Liebenswürdig-Kleinmeisterliche übersetzt, den Anschluß an die romantische Bewegung. Vielseitiger und bedeutender ist der früh an der Lungenschwindsucht verstorbene Ostpreuße Otto Nicolai (1810—1849). Von Zelter in Berlin und weiterhin in Italien gebildet, schrieb er jenseits der Alpen eine Reihe italienischer Opern, die die Einfühlung in den fremden Stil zu unglaubwürdiger Vollkommenheit treiben, erwarb sich darauf als Hofkapellmeister in Wien durch die Begründung der philharmonischen Konzerte und die Aufführung von Beethovens neunter Sinfonie ein bleibendes musikgeschichtliches Verdienst und wurde endlich 1847 als Dirigent des Domchors, für den er eine Reihe geistlicher Kompositionen schrieb, und Kapellmeister der Königlichen Oper nach Berlin berufen, ohne freilich seine schwindenden Kräfte in dieser Stellung noch voll entfalten zu können. Überraschend ist der unvermittelte Übergang von der glühenden Lyrik seiner italienischen Opern (am bedeutendsten: „II Proscritto") zu der feinen und leichten Komik seines Meisterwerkes „Die lustigen Weiber von Windsor" (1849, vier Wochen vor seinem Tode zu Berlin aufgeführt), das ihn als einen der erfindungsreichsten Melodiker der deutschen Oper bewährt. Als Melodiker ist auch der Mecklenburger Friedrich von
D i e R o m a n t i k der S c h u b e r t - N a c h f o l g e
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F l o t o w ( 1 8 1 2 — 1 8 8 3 ) z u n e n n e n , der d u r c h S c h u l e u n d l ä n g e r e s W i r k e n in Paris g ä n z l i c h u n t e r f r a n z ö s i s c h e n E i n fluß g e r i e t . S o m a n g e l t s e i n e n l e i c h t e n u n d e l e g a n t e n S c h ö p f u n g e n , v o n d e n e n „ A l e s s a n d r o S t r a d e l l a " (1844) u n d „ M a r t h a " (1847) n o c h h e u t e b e l i e b t s i n d , die E i n d e u t i g k e i t u n d E c h t h e i t der L o r t z i n g s c h e n O p e r . In d e m H i n e i n s p i e l e n s ü d l i c h e r u n d w e s t l i c h e r E i n f l ü s s e in das W e r k der b e i d e n l e t z t e n M e i s t e r z e i g t s i c h d e u t l i c h das E r l a h m e n der e i g e n e n K r ä f t e . D e r g r o ß e I m p u l s W e b e r s w a r v e r r a u s c h t , die E n e r g i e , die k ü h n in das r o m a n t i s c h e Z e n t r u m des M y t h o s v o r s t i e ß , w a r n a c h u n d n a c h a u f g e s o g e n v o n d e n L e b e n s f o r m e n der b ü r g e r l i c h e n W e l t . E s b e d u r f t e eines n e u e n u n d t i e f e r e n A n s a t z e s , u m w i e d e r z u m U n b e d i n g t e n der g r o ß e n K u n s t d u r c h z u d r i n g e n . Die
Romantik
der
Schubert-Nachfolge
S c h u b e r t , das z e i t l o s e G e n i e , hat, v o n K l e i n m e i s t e r n w i e Franz Lachner u n d A n s e l m Hüttenbrenner abgesehen, nicht w i e W e b e r eine S c h u l e hinterlassen, a b e r er hat d e n Sinn f ü r die r o m a n t i s c h e U n e n d l i c h k e i t der M u s i k m ä c h t i g g e s t ä r k t u n d die A u f m e r k s a m k e i t v o n der f e s t e n klassischen F o r m der S o n a t e a u f die f r e i e n u n d l o c k e r e n K l e i n f o r m e n des L i e d e s u n d des mehr improvisatorischen Instrumentalstücks gelenkt. So w i r k t a u c h sein E i n f l u ß in das J a h r h u n d e r t f o r t . N o c h n i c h t a u f die b r i l l a n t e n , an L a u f w e r k reichen K l a v i e r k o n z e r t e J o h a n n N e p o m u k H ü m m e l s ( 1 7 7 8 — 1 8 3 7 ) , der z e i t l e b e n s in A b h ä n g i g k e i t v o n s e i n e m L e h r e r M o z a r t v e r h a r r t e . A u c h n i c h t a u f die flüssige G l ä t t e u n d G e l ä u f i g k e i t des f r u c h t b a r e n , ü b e r t a u s e n d W e r k z a h l e n hinterlassenden K a r l C z e r n y ( 1 7 9 1 — 1 8 5 7 ) , des Schülers v o n B e e t h o v e n u n d L e h r e r s v o n F r a n z Liszt, der m i t der K l a v i e r e t ü d e eine der t y p i s c h e n F o r m e n des n e u n z e h n t e n Jahrhunderts pflegte, u n d a u f den gediegeneren u n d g e d r ä n g ten Stil seines p ä d a g o g i s c h e n G e i s t e s g e n o s s e n J o h a n n Baptist C r a m e r ( 1 7 7 1 — 1 8 5 8 ) , d e r die Klassizität C l e m e n t i s w e i t e r b i l d e t e . N ä h e r d e m r o m a n t i s c h e n W e s e n s t e h t der aus Irland s t a m m e n d e C l e m e n t i - S c h ü l e r J o h n Field ( 1 7 8 2 — 1 8 3 7 ) , der M e i s t e r eines n e u e n , p o e t i s c h e n K l a v i e r s t i l s , der w ä h r e n d l a n g e r in P e t e r s b u r g u n d M o s k a u v e r b r a c h t e r L e b e n s j a h r e v o n der M e l a n c h o l i e des O s t e n s e r g r i f f e n die u r r o m a n t i s c h e F o r m des
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Nocturnes (Nachtstücks) fand, die später durch Chopin zu bestimmender Geltung erhoben wurde. Das Schubertsche Lied fand durch Carl Loewe eine charakteristische Fortbildung und Spezialisierung auf die Ballade hin. Loewe wurde 1796 bei Halle geboren und wurde nach theologischen und musikalischen Studien im Jahre 1820 Kantor und Gymnasialmusiklehrer und im nächsten Jahre städtischer Musikdirektor zu Stettin, welche Stellung er sechsundvierzig Jahre lang bekleidete; er starb, anerkannt als Komponist und als Sänger seiner Lieder, 1869 zu Kiel. E r ist der Epiker des Liedes, ein Meister der farbigen Schilderung, dessen Klavierbegleitungen Kabinettstücke der Tonmalerei sind, dazu ein Melodiker von volkstümlicher Kraft, der den Vergangenheitsklang und die treuherzige Schlichtheit der Ballade in seine Weisen einzufangen weiß. Seine Welt reicht von der Naturlyrik des „ E r l königs" (der als vielversprechendes Opus 1 kurze Zeit nach dem Schubertschen erschien) und des „ N o c k " über den mythischen „ O l u f " , den ritterlichen „ T o m den R e i m e r " und den geschichtlichen „Archibald Douglas" bis zur geschwätzigen Heiterkeit des Goetheschen Hochzeitsliedes und Zauberlehrlings; er ist der spiel- und singfrohe Rhapsode, der jeden Stoff zur packenden Szene, zum rezitierten Drama verdichtet, der freilich das Lied' mehr um äußere Wirkungsmittel bereichert als vertieft und innerlich fortgebildet hat. Ohne Schubert ist auch Felix Mendelssohn-Bartholdy nicht denkbar, eine helle und freundliche Erscheinung unter den Romantikern, ohne Rätsel und Geheimnis; sein Name Felix, „Der Glückliche", steht als Signum über seinem Leben wie über seinem Werk. Felix Mendelssohn wurde am 3. Februar 1809 als Sohn eines Bankiers und Enkel des Philosophen Moses Mendelssohn zu Hamburg geboren, 1 8 1 1 siedelte seine Familie nach Berlin über. Das Haus Mendelssohn war ein Heim reicher, kultivierter Bürgerlichkeit, ein Mittelpunkt des geistigen Berlin. Der Sinn für Musik war in der Familie lebendig, Felix' ältere Schwester Fanny, später Gattin des Malers Hensel, war eine geschickte Klavierspielerin und Komponistin. Felix' Begabung zeigte sich früh und wurde von Zelter, Ludwig Berger und dem Geiger Eduard Rietz ausgebildet. Schon mit elf Jahren wurde der
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Knabe durch Zelter bei Goethe eingeführt, dem er als V o r spieler am Klavier ein Mittler musikalischer Eindrücke, auch Beethpvens, wurde. Mit siebzehn Jahren schuf er sein vollkommenstes W e r k , die Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum. Als Zweiundzwanzigjähriger hatte er seine K l a vierform, das „ L i e d ohne W o r t e " gefunden. 1829 leitete er die denkwürdige, von Zelter einstudierte A u f f ü h r u n g der B a c h schen Matthäuspassion durch die Berliner Singakademie, durch die der vergessene Meister wiederentdeckt und die Bachpflege des neunzehnten Jahrhunderts begründet wurde. Reisen führten ihn nach England und nach Italien. Z u den Werken dieser Zeit zählen die Hebriden-Ouvertüre, die Italienische Sinfonie in A - D u r und das Klavierkonzert in g-Moll. 1835 fand er nach vorübergehender Dirigententätigkeit in Düsseldorf seine Lebensstellung durch die Berufung zum Leiter der GewandhausKonzerte in Leipzig. Ein Jahr darauf gründete er seinen Hausstand; er heiratete Cécile Jeanrenaud, die Tochter eines reformierten Predigers in Frankfurt am Main. Z u den Taten seiner Leipziger Direktion zählt die erste A u f f ü h r u n g von Schuberts großer C-Dur-Sinfonie im Jahre 1837, deren Manuskript R o bert Schumann im Nachlaß des Wiener Meisters entdeckt hatte. Mendelssohns eigene Werke dieser Jahre sind das zweite K l a vierkonzert in d-Moll, das Oratorium „ P a u l u s " , das 1836 vollendet und bei einem Musikfest zu Düsseldorf aufgeführt wurde, die Schottische Sinfonie in a-Moll, früh auf einer Englandreise durch Landschaftseindrücke und die Gestalt der unglücklichen Königin Maria angeregt und nach langer Arbeitszeit 1842 vollendet, das Violinkonzert und das 1846 in Birmingham aufgeführte Oratorium „ E l i a s " . Aber früh begannen sich die Schatten der Ermüdung auf dieses angespannte Leben zu legen, das sich in leichtem und darum uferlos strömendem Schaffen und in rastloser Direktionstätigkeit auf deutschen und englischen Musikfesten, in Düsseldorf, Aachen, Lüttich, Birmingham, London verzehrte. Im M a i 1847 starb Mendelssohns Lieblingsschwester Fanny Hensel, die Vertraute seiner persönlichsten brieflichen Mitteilungen. Die Schwermut, die den zurückbleibenden Bruder befiel, w a r durch Erholung in der Schweiz nicht zu heilen. Im Oktober 1847 traf ihn in Leipzig ein Nervenschlag, am 4. N o vember ereilte ihn im achtunddreißigsten Lebensjahre der T o d . In Mendelssohn verkörpert sich ein Künstlertum, dessen Schaffen aus Geistesbildung und F o r m g e f ü h l entspringt; ein waches Bewußtsein begleitet und lenkt sein schöpferisches
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Die Frühromantik in Deutschland
T u n und scheidet alles Irrationale, Elementare v o n vornherein aus. Seine Fähigkeit der Nachahmung macht ihn zum Klassizisten, der sich leicht und frei in der Formenwelt der H a y d n Beethovenschen Epoche wie auch gelegentlich in der älteren Bachs und Händeis bewegt. Das Romantische erscheint bei ihm in hellem, heiterem Lichte, als Stimmungsreiz, als N e i gung zum Malerischen, das gern Landschaftseindrücke v e r arbeitet, als phantastisches Element, das sich mit Vorliebe in der heiteren T r a u m - und Elfensphäre bewegt, die W e b e r mit dem Oberon erschlossen hatte. Die Musik zu Shakespeares Sommernachtstraum, v o m siebzehnjährigen J ü n g l i n g b e g o n nen, fünfzehn Jahre später vollendet, ist das wesentlichste und echteste W e r k seines Lebens geworden. Die sonnige italienische Sinfonie in A - D u r , die schwermütig dämmernde in aM o l l , die w o g e n d e Hebridenouvertüre malen die Schönheit der Erde. E l f e n und Traumgeister weben in der Sommernachtstraummusik, in der Ouvertüre zur schönen Melusine, in den Klavierkonzerten, in zahllosen Stimmungsbildchen f ü r Klavier, die aus einer einzigen E i n g e b u n g empfangen und mit leichter H a n d festgehalten sind. A u c h darin ist Mendelssohn Romantiker, daß die kleine Form sein bevorzugtes Ausdrucksmittel ist. Das Lied ohne W o r t e , die Übertragung der romantischen Liedform in die Instrumentalmusik, auf das Klavier, ist seine eigenste Erfindung. U n d doch w a r in Mendelssohn ein Wille zur Größe, der ihn aus der R o m a n t i k heraustrug. Hier beginnt die künstlerische Tragik, die auch um diesen Glücklichen ist. N e b e n lieblichem E l f e n s p u k und empfindsamen Klavierpoesien sind es gewaltige biblische Visionen, die in ihm nach Gestaltung verlangen: Paulus, der Apostel, und Elias, der eifernde alttestamentarische Prophet, werden ihm zu Helden der alten Form des Oratoriums, das er aus dem B a r o c k in die R o m a n t i k hinübernimmt. N e b e n das V o r b i l d W e b e r treten unvermittelt und unvereinbar Händel und Bach. Sein Formsinn weiß auch in ihren Kreisen sich zu bew e g e n (wie ja auch die Fuge des Wohltemperierten Klaviers seine meisterlich geglätteten Klavierfugen glücklich inspiriert hat). Seine beiden Oratorien haben W ü r d e und echte Größe, sie retten mit feinem Takt vieles v o n der barocken
D i e R o m a n t i k der S c h u b e r t - N a c h f o l g e
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Sachlichkeit in die Subjektivität der romantischen Sprache, sie lassen in C h ö r e n , R e z i t a t i v e n u n d A r i e n Gestalten u n d W e l t der B i b e l erstehen. D e n n o c h sind gerade sie in höherem M a ß e als die romantische M u s i k Mendelssohns epigonal, w e i l die alte religiöse W e l t nicht mehr da w a r , aus der sie hervorgehen k o n n t e n . A u f Paulus u n d Elias sollte als dritte Gestalt Christus f o l g e n , eine Dreiheit, die als Glaubensbekenntnis bestehen sollte. Seine K r a f t reichte nicht aus, die Skizzen zum Christus, an der Grenze des T o d e s geschaffen, sind w e n i g b e d e u t e n d ; die A b r u n d u n g ins G r o ß e blieb seinem Schaffen versagt. K r a f t v o l l e r , tiefer u n d innerlicher v e r k ö r p e r t e sich das r o mantische Genie in R o b e r t Schumann. Schumanns J u g e n d in Z w i c k a u ist die freie und glückliche E n t w i c k l u n g eines wohlbehüteten Kindes. E r w u r d e am 8. J u n i 1 8 1 0 als jüngstes v o n f ü n f Geschwistern geboren; sein Vater, der früh starb, leitete einen angesehenen Verlag. Achtzehnjährig begann er in Leipzig juristische Studien, die v o n ernsthafter pianistischer Arbeit unter Anleitung des Pädagogen Friedrich W i e c k begleitet waren. Im romantischen Heidelberg brach seine Liebe zur M u s i k mächtig durch; nach einer Reise durch Oberitalien kehrte er nach Leipzig in die strenge Schule W i e c k s zurück. E i n e Fingerlähmung, durch übermäßiges Ü b e n zugezogen, verschloß ihm die L a u f b a h n des Virtuosen; so bildete er sich zum Komponisten, indem er seine noch ungezügelte B e gabung durch ernste, anfangs mit starker Selbstüberwindung betriebene Satzstudien unterbaute und seiner freischweifenden Intuition durch das Studium Bachs ein Gegengewicht gab. In das J a h r 1 8 3 1 fallen seine ersten Klavierkompositionen, zugleich setzte auch seine literarische Tätigkeit ein, der er 1 8 3 4 durch die Gründung der „ N e u e n Zeitschrift f ü r M u s i k " stärkere Stoßk r a f t gab. Bedeutsam f ü r seine E n t w i c k l u n g w a r die Liebe zu W i e c k s Tochter Clara, einer hochbegabten Pianistin, die v o m W u n d e r k i n d zur reifen Künstlerin heranwuchs. N a c h j a h r e langen K ä m p f e n mit ihrem widerstrebenden Vater konnte Schumann die Geliebte im Jahre 1840 als Frau heimführen. In die Z e i t dieser Liebe fallen seine leidenschaftlichsten und persönlichsten W e r k e , der Carneval, die C-Dur-Phantasie, die Phantasiestücke und die Davidsbündlertänze f ü r K l a v i e r und, nach der Vereinigung, die großen Liederkreise, die E i c h e n d o r f f lieder, „ M y r t h e n " , „Frauenliebe und L e b e n " , „ D i c h t e r l i e b e " . M i t seiner Verheiratung trat Schumann in das Stadium der 4 Oehlmann, Musik des 19. Jahrh.
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Die Flühromantik in Deutschland
Meisterschaft. E r dehnte sein Schaffen auf die Sinfonie, K a m mermusik und das Oratorium aus; rasch hintereinander entstanden die B-Dur-Sinfonie und die erste Fassung der d-MollSinfonie, die drei Streichquartette, das Klavierquartett und -quintett, endlich ein weltliches C h o r w e r k „ D a s Paradies und die Peri". Seine Lehrtätigkeit an der neugegründeten Leipziger Musikschule führte ihn wieder auf Bach zurück. In das Jahr 1844 fällt eine Konzertreise nach Moskau, die besonders Clara große Erfolge brachte. In demselben Jahre aber verdichteten sich die Depressionen, denen seine empfindsame Natur schon früher ausgesetzt war, zu einem ersten Anfall von Gemütskrankheit, die wie eine dunkle Mahnung in sein tätiges Leben griff. Die Übersiedlung nach Dresden brachte Ablenkung und neuen Auftrieb. Die Jahre 1845 bis 1850 waren eine fruchtbare Schaffenszeit, der die C-Dur-Sinfonie, das Klavierkonzert, die Oper „ G e n o v e v a " , die Musik zu Byrons „ M a n f r e d " und die Faustszenen angehören. A u f die Dauer von den engeren Dresdner Verhältnissen unbefriedigt, wandte er sich 1850 nach Düsseldorf, w o er als Dirigent der Orchester- und Chorkonzerte anregende Tätigkeit fand und seinen Werken noch die „rheinische" Es-Dur-Sinfonie, das Cellokonzert, das Oratorium „ D e r R o s e Pilgerfahrt" und die Umarbeitung der d-Moll-Sinfonie hinzufügte. Der Plan eines großen volkstümlichen LutherOratoriums blieb unausgeführt. Aber sein Leiden meldete sich wieder mit quälenden Gehörstäuschungen, die ihm die Ausübung seiner Tätigkeit unmöglich machten. Seine letzte literarische Tat w a r der Hinweis auf den jungen Johannes Brahms, in dem er das kommende Genie und den Vollender seines W e r kes erkannte. Im Februar 1854 stürzte er sich, von rätselhafter Schwermut geängstigt, in den R h e i n , wurde aber von Schiffern gerettet. Die letzten Jahre verbrachte er in äußerster Ermattung des Geistes in einer Irrenanstalt bei Bonn, in der er am 29. Juli 1856 starb. M a n muß dieses Leben v o n seinem dunklen E n d e her betrachten, um seine T i e f e und stete G e f ä h r d u n g zu ermessen. Dieser Künstler, scheinbar gänzlich befangen in den bürgerlichen Sicherheiten von B e r u f und E h e , w a r in Wahrheit ohne Halt und Heimat auf der Erde. A n f a n g und E n d e seiner L a u f bahn sind eins; die unergründlichen T i e f e n , aus denen die W e r k e des Jünglings aufklingen, öffnen sich am Ende, um den Ermüdeten aufzunehmen. Als echter R o m a n t i k e r stand
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Schumann zwischen den Künsten — äußerster Gegensatz zum barocken, durch kunsthandwerkliche Meisterschaft eindeutig bestimmten Typus. „ W a s ich eigentlich bin", schreibt der Fünfzehnjährige in sein Tagebuch, „weiß ich selbst noch nicht klar. O b ich Dichter bin — denn werden kann man es nie —, soll die Nachwelt entscheiden." Dichterische Versuche gingen den musikalischen voraus, und immer hielt die Leistung des Schriftstellers Schumann der des Komponisten die Waage; sein Wort hat dieselbe Ursprünglichkeit, dieselbe Erfülltheit von Phantasie und Vision, die den Zauber seiner musikalischen Erfindung ausmacht. Romantisch ist auch die Zerlegung seines überreichen Wesens in verschiedene erdichtete Persönlichkeiten, wie sie schon Hoffmann in seinen Serapionsbrüdern vorgenommen hatte; der feurige Florestan, der sanfte Eusebius und der weise Meister R a r o , die Davidsbündler, die gegen die Philister zu Felde ziehen, sind K o m p o nenten seines Wesens, die er mit wacher Selbstbeobachtung aus sich herausstellt. Es wäre falsch, in Schumann lediglich den weltfremden Träumer zu sehen. Er besaß ein lebendiges Verhältnis zur Außenwelt, die großen allgemeinen Fragen der Politik und Religion beschäftigten ihn aufs tiefste, er führte seine Zeitschrift als streitbarer Journalist. Aber zuletzt war die Welt doch nur die bewegende Kraft, die Saiten seines Inneren in Schwingung zu bringen. „ I m ganzen möchte etwas Unergründliches in mir liegen" — diese frühe Tagebuchautzeichnung bezeichnet seine Besonderheit und sein Schicksal, das ihn zum Bürger der romantischen Unendlichkeit, zum Genossen eines Novalis, Friedrich Schlegel, Jean Paul machte. „Etwas Unergründliches" liegt in den Werken des jungen Schumann, die zu dem Bezauberndsten gehören, das die Musikgeschichte aufweist. Sie stehen traditionslos da, von unerhörter Neuheit und Eigenart, ohne Vorbild gänzlich dem inneren Bilde des Künstlers nachgeschaffen. Das Klavier ist ihr Instrument, auf dem sie so frei von allem mechanischen Zwang des großen Apparates, so kapriziös beschwingt oder so traumverloren erklingen können, wie sie. ihrem Schöpfer eingegeben wurden. Sie sind zum Teil unmittelbar mit dem Leben des Künstlers verbunden, voll von persönlichen Beziehungen, die durch musikalische Symbole und Buchstabenspielereien mit4*
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geteilt werden, oder sie greifen in die Phantasiewelt des R o m a n tikers, lassen Florestan, Eusebius und die Davidsbündler mit den Gestalten Jean Pauls und Hoffmanns abwechseln. D i e beliebte Form der Ballszene wird in den duftigen, dem Maskenball in den „Flegeljahren" nachgebildeten „Papillons" benutzt, viel mehr ins Poetische gehoben als etwa in Webers musikantisch brillanter „ A u f f o r d e r u n g zum T a n z " . Ungleich bedeutender ist der geistvolle „ K a r n e v a l " , der Tummelplatz kapriziöser T o n spielereien und heiterer Symbolik. Schwärmerische, phantastische und humoristische Stimmungen klingen auf in den Phantasiestücken, den Nachtstücken und Novelletten. Die „Kreisleriana" sprechen mit leidenschaftlicher Beredsamkeit von dem Leiden und der Liebe des unglücklichen Hoffmannschen Kapellmeisters. Der Höhepunkt ist die Franz Liszt gewidmete C - D u r Phantasie, in der sich dieser Stil zur Größe erhebt. Ihre drei Sätze, in erster Fassung als „ R u i n e n , Triumphbogen, Sternenkranz" überschrieben, sind ein wundervoller Dreiklang romantischer Stimmungen; ruhelos schweifende Schwermut, getröstet von stillem Legendenton, gewaltig hinstürmender Siegesmarsch, am Ende Versinken in immer dunklere Traumtiefen, in denen jedes Sehnen erlischt, jedes Wollen entschläft — ein Bekenntniswerk des romantischen Geistes, das alle Kühnheiten eines radikalen Ausdrucksstils in sich birgt. Auch die Sonate wird noch gepflegt, meist aber begnügt sich der junge Schumann mit einfachen, locker gebauten Formtypen. Die Harmonik verfeinert und verschleiert sich durch Alterationen in der R i c h tung auf das hochromantische Klangideal, der Vorhalt beginnt seine R o l l e zu spielen. Der Rhythmus wird schwebend, die kapriziöse Synkope setzt sich gegen die starren geraden T a k t zeiten durch, der Klaviersatz wird zu bewegter Fülle bereichert, Melodiestimme und Begleitung werden auf geistvolle Weise verschränkt. Bei aller hohen Vergeistigung des Stils bleibt die Erfindung einfach, dem Volkston nahe. Das „unbeschreiblich Innige", das Schopenhauer in der Sprache der Töne fand, ist kaum irgendwo so deutlich spürbar wie in den Eingebungen des jungen Schumann, die uns berühren wie die Verse Eichendorffs, als hätten wir sie längst gekannt. A u c h die zweite W e r k g r u p p e , die der Lieder, zeigt noch diesen subjektivistischen Z u g , der sie durchaus v o n der L y r i k Schuberts unterscheidet. Schumann besitzt nicht mehr die allumfassende Objektivität seines Vorgängers; der Kreis der Stimmungen, die ihn ansprechen, ist enger, die Leier der
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Dichter, zu denen er sich hingezogen fühlt, klingt zarter, v e r haltener: Eichendorff, Heine, R ü c k e r t , Chamisso, Kerner, Platen, Lenau sind bevorzugte Namen. Naturpoesie, Liebeslyrik, Märchen, häusliches Glück die häufigsten Gegenstände, aber auch die vaterländische Sehnsucht der Zeit findet bewußten Widerhall. Schumann hat die Geltung des Liedes als musikalischer Kunstform weitergefestigt. E r vereinigt die volkstümlichen und intimen Z ü g e der norddeutschen Liedmeister mit dem Reichtum und der T i e f e Schuberts. Die B e deutung des Klavierparts w i r d noch gesteigert, er w i r d zum gleichberechtigten, j a o f t zum bevorrechteten Partner der Stimme. Ihm kommt die neue und verfeinerte Ausdrucksfähigkeit zugute, die sich der Klavierkomponist Schumann erworben hat, das Klavier spricht in bedeutsamen Z w i s c h e n und Nachspielen aus, was der Sänger verschweigt, und dringt deutend in die T i e f e der Dichtung; es bindet auch die Liederzyklen zum Ganzen, die nicht wie die Schubertschen handlungsmäßig fortschreitende „ N o v e l l e n " , sondern gereihte lyrische Stimmungen oder Entwicklungen eines Gefühls sind. Die W e r k e der späteren Periode, die sich der großen Formen der Sinfonie, des Oratoriums und der Oper bemächtigen, wachsen organisch aus denen der Frühzeit heraus. Ihr Stil ist ein anderer. Die glutflüssige Sprache hat sich gefestigt, ihre hintergründige S y m b o l i k w i r d zu einer Technik, die nach A r t der barocken Meister anschauliche Vorstellungen in tönende Zeichen übersetzt. Die innere Beziehung zu B a c h w i r d offenbar, die sich auch in dem intensiven Studium abzeichnet, mit dem Schumann das W e r k des Thomaskantors u m w a r b ; es ist die Beziehung der R o m a n t i k zum Barock, die beide Epochen über das Intermezzo der Klassik hinweg verbindet. S o wollen die vier Sinfonien betrachtet sein. Sie sind nicht Epigonen ihrer Beethovenschen Vorgängerinnen, gegen die ihr geistiges Blickfeld verengt erscheinen müßte. Sie schließen sich an Früheres an, sind Bilder des Lebens, des äußeren und inneren, mit fast barocker K r a f t und Freude der Anschauung gezeichnet. Die erste in B - D u r ist ein sonniges Frühlingslied, die zweite in C - D u r zeigt pathetische, kämpferische Züge. Die dritte, rheinische in Es-Dur steckt voller Sagenzauber und heiterem Trubel aus dem Volksleben. Die d-Moll-Sinfonie, der
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Konzeption nach die zweite, ist nur durch spätere Umarbeitung an die letzte Stelle gerückt. Sie ist die eigenartigste und innerlich bedeutendste, in ihrer balladesken Geschlossenheit, welche die vier Sätze zu pausenloser Einheit zusammenschließt, eine Ü b e r tragung der Phantasieform auf das Orchester, im geheimnisvollen Raunen panisch-naturhafter Stimmungen eine großartige Spiegelung romantischen Weltgefühls. Das Klavierkonzert in a-Moll, aus einem ursprünglichen Konzertallegro zur Dreisätzigkeit ergänzt, ist ein Muster seiner Gattung, welches das barocke Wechselspiel von Solo und Tutti durch romantische Farben vertieft. In den Oratorien verbindet sich die Lyrik des Liedmeisters mit der objektiven Lust an anschaulicher Schilderung. „Das Paradies und die Peri", „nicht f ü r den Betsaal, sondern f ü r heitere Menschen" bestimmt, verbrämt die romantische Erlösungsidee mit glühendem indischem Kolorit. Die Faustszenen reihen Momente der Goetheschen Dichtung lose aneinander, sie gipfeln in der Schlußszene, welche die Erlösung Fausts in schlichter und großer Weise Musik werden läßt. In der Musik zu Byrons „ M a n f r e d " , die als Schauspielmusik konzipiert ist, aber meist in oratorischer Form aufgeführt wurde, wird Schumann zum Dramatiker, vor allem in der herrlichen Ouvertüre, einem Seelengemälde von düsterster Farbe. D i e eigentliche dramatische Form aber blieb ihm, wie auch Schubert, verschlossen. Der Oper „ G e n o v e v a " , deren B u c h er selbst nach Hebbels Dichtung einrichtete, mangelt bei aller zarten und ergreifenden Zeichnung der leidenden weiblichen Hauptfigur der Widerstreit dramatischer Charaktere, der ihr Leben geben könnte. Erst die spätesten seiner bis zur Werkzahl 148 ansteigenden Schöpfungen lassen die E r m ü d u n g dieses Geistes erkennen, der w i e kein anderer in die unergründliche romantische T i e f e hinabgedrungen war. DIE ITALIENISCHE
OPER
In Italien konzentrierte sich das musikalische Leben seitdem Absterben der barocken Instrumentalmusik und der geistlichen Vokalmusik durchaus auf die Opernbühne. Hier w a r die Oper, seit sie in Venedig nur w e n i g e Jahrzehnte nach ihrer Geburt in die Mitte der breiten Öffentlichkeit getreten war, durch alle Wandlungen und R e f o r m e n eine Volkskunst g e blieben. Das Verhältnis von W e r k und Publikum w a r das denk-
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bar natürlichste. Die Oper w u r d e in unmittelbarem A u f t r a g des Theaterunternehmers f ü r ein bestimmtes Theater mit bestimmten Sängern komponiert, und das Publikum entschied sogleich mit südlicher Lebhaftigkeit über E r f o l g oder Niederlage. S o bestand der Spielplan der Opernhäuser überwiegend aus zeitgenössischen W e r k e n ; der B e d a r f an neuen K o m positionen riß nie ab, da f ü r j e d e der drei Spielzeiten im Jahr - die Carneval-, die Frühlings- und Herbststagione mindestens zwei neue W e r k e gebraucht wurden. Die Opern, die unter diesen Bedingungen, o f t in drängender Eile bei kurzterminierter Ablieferungsfrist entstanden, sind als f ü r den T a g bestimmte Gebrauchskunst zu betrachten. Das rechtfertigt den o f t lockeren A u f b a u und den Schematismus der Formen, das unabänderliche Gerüst der Rezitative, Arien und Finales; es ging nicht um die nachhaltige W i r k u n g , sondern um den Sieg des Augenblicks, der am sichersten durch das ursprüngliche und einfachste, gerade in Italien zu einer unwiderstehlichen Wirkungsmacht ausgebildete Zaubermittel der Musik, durch die gesungene Melodie, zu erringen w a r . Der schöne Gesang w a r durch die neapolitanische K o m p o nistenschule zum Grundpfeiler der Oper geworden. Der fruchtbare Alessandro Scarlatti (1659—1725) hatte sich in seinen 1 1 5 Opern v o m musikdramatischen Prinzip der Frühzeit abgewandt und das gefälligere Ideal der melodischen Schönheit gepflegt; er hatte die dramatischen Elemente, Chöre und Orchestersätze, zurückgedrängt und die Arie in den Mittelpunkt gerückt. Damit- wurde der Sänger zum Beherrscher der Opernbühne. Die große Zeit der barocken Gesangskunst, die Zeit der Kastraten und Primadonnen w a r vergangen. Das neunzehnte Jahrhundert entdeckte den Tenor als Träger einer neuen gesanglichen Bezauberung, den strahlenden und schmeichelnden Glanz der hohen Männerstimme, und verschmolz die blendende Koloratur der Primadonnen mit der seelenvollen Kantilene der romantischen Sängerin. Ein neues Geschlecht von Sängern wuchs heran, nicht weniger glänzend als die vergötterten Interpreten Scarlattis, Händeis und Hasses. V o r allem der große Tenor Giovanni Battista R u b i n i , ein Wunder an U m fang, Beweglichkeit und Ausdrucksfähigkeit der vollen und doch ganz leise verschleierten Stimme; neben ihm der Bariton Antonio Tamburini und der Bassist Luigi Lablache, ein „ K ö n i g
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der Scene", ein Meister des dramatischen Ausdrucks und genialer Schauspieler. In der Reihe der Frauen wirkten neben der technisch brillanten Angelica Catalani die dramatische Giuditta Pasta, die lieblichen Schwestern Giuditta und Giulia Grisi und die aus der spanischen Sängerfamilie der Garcia stammende Maria Malibran, die faszinierendste Gestalt unter den romantischen Primadonnen, deren triumphaler Laufbahn ein früher T o d das Ziel setzte. So groß die Bedeutung der Sänger und die Verehrung war, die ihnen gezollt wurde, so war die italienische Opernbühne doch keineswegs Stätte eines einseitigen Primadonnenkultes. Die barocke Kultur des schönen und prächtigen Bühnenbildes, die in den Architekturphantasien der Künstlerfamilie Bibbiena gipfelte, lag noch nicht lange zurück. Auch die Kunst der B ü h nenmalerei machte die Wandlung zum romantischen Stil durch, die im wesentlichen ein Heraustreten aus der begrenzten Symmetrie des Architekturbildes in die unendliche Freiheit der Landschaft war. In die überlieferten Motive, Hallen und Säle der Klassizisten Perego, Pozzetti, Cini, fielen die Anregungen, die Piranesis pittoreske Kerkergewölbe den Malern gaben; Pietro Gonzago zerlegte den sanften Zusammenklang der barocken Farben zum erregenden Kontrast von Licht und Dunkel, und Francesco Cochi, der Bühnenbildner des romantischen Theaters, schuf die Wälder, die Burgen, die Felsen und Seen, die nun zum stimmungzeugenden Schauplatz der Oper wurden. In der Kultur des Bühnenbildes blieb das Bewußtsein von der Eigenschaft der Oper als Gesamtkunstwerk auch zur Zeit ihrer äußersten Musikalisierung lebendig. Dieser Glanz leuchtete auf einem dunklen politischen H i n tergrunde. Die politische Lage Italiens war noch beengter als die Deutschlands. Das Land war zerrissen in eine Anzahl kleiner, zum Teil v o n fremden Herrschergeschlechtern regierter Königreiche, der N o r d e n stand unter österreichischer H e r r schaft. Das einzige Ventil, durch das sich das unterdrückte nationale Gefühl Ausdruck verschaffen konnte, war die Kunst. In der gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts einsetzenden Geistesbewegung des Risorgimento, die auf die U b e r w i n d u n g ausländischer, vor allem französischer Einflüsse gerichtet war, nahm das nationale Element zuerst geprägte Form an. Diese B e w e g u n g faßt die Kräfte, die im N o r d e n als klassische u n d romantische Geisteshaltung ge-
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trennt oder gegeneinander wirkten, in eins zusammen. Ihr g e hören ebenso die klassizistischen Tragödien Vittorio A l f l e n s , wie die wertherhaft schwärmerischen Episteln U g o Foscolos oder die schwermütigen, nachtdunklen Poesien Giacomo L e o pardis an. A u c h in der Musik stehen sich Klassik und R o m a n t i k nicht als deutlich abgegrenzte Landschaften gegenüber, sondern verbinden sich zu Schattierungen eines und desselben Gesamiklanges. A u c h sie, die später durch Verdi zur unmittelbaren Vorbereiterin der politischen Erhebung w u r d e , ist schon v o n A n f a n g des Jahrhunderts charakterisiert durch ein Erstarken der nationalen K r ä f t e , die sich als naive, überschäumende Lebensfreude, als lyrische Schwärmerei und als aufrüttelndes politisches Pathos v o n der Opernbühne her dem italienischen Volke und der W e l t mitteilten. Die der eigentlich klassischen Musikepoche entsprechende Zeitspanne weist in Italien keinerlei überragende K o m p o nistenerscheinungen auf mit Ausnahme von Luigi Cherubini, der aber an Frankreich verlorenging. Diese Zeit w a r mehr ein Ermüden nach der jahrhundertelangen Spannung, in der sich die schöpferische Vitalität der Barockoper gefallen hatte. D i e Meister des klassizistischen Kreises schreiben in j e n e m leichtflüssigen, die barocke Mehrstimmigkeit ablösenden „ g a l a n t e n " Stil, der, eine übernationale Sprache der Zeit, schon dem j u n g e n Mozart als Ausgangspunkt des Schaffens gedient hatte. Sie alle neigen nach Temperament und A u s drucksfähigkeit der Opera buffa zu oder kultivieren die sentimentale Opera semiseria; die Größe und der Ernst der seria gingen der Zeit verloren. Niccolo Piccini, der R i v a l e Glucks und Autor der empfindsamen ,,Buona Figliuola", w a r im J a h r 1800 gestorben. Giovanni Paesiello ( 1 7 4 1 bis 1 8 1 6 ) schrieb über hundert Opern, darunter einen f e i n komischen, höchst erfolgreichen „ B a r b i e r von Sevilla". V o n Domenico Cimarosa (1749—1801) w i r d noch heute die Oper „ D i e heimliche E h e " , ein Meisterwerk leichter BufFokunst, gespielt. Ferdinando Paer (1771—1839) komponierte neben zahlreichen komischen Opern auch den Fideliostoff. Der Sieg des Buffostils über die erstarrte Opera seria wurde endgültig entschieden durch Gioacchino Rossini, der den heiteren
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italienischen Musikgeist in großartiger Reinheit und Naivität verkörperte und den alten R u h m der italienischen Oper noch einmal in unwiderstehlichem Siegeszuge durch ganz Europa trug. Die Biographie des vergötterten, von den Zeitgenossen als „ S c h w a n von Pesaro" gefeierten Meisters ist umrankt von einer Fülle unverbürgter, immer wieder weitererzählter Anekdoten, aus denen sich nur schwer das B i l d des großen Künstlers und bedeutenden Menschen, als den ihn gewichtige Stimmen wie die Wagners bezeugen, herauslösen läßt. Gioacchino Rossini wurde am 29. Februar 1792 zu Pesaro in der R o m a g n a als Sohn eines Hornisten und einer Sängerin geboren. V o n K i n d heit an mit der Musik vertraut, wurde er fünfzehnjährig Schüler des Liceo filarmonico zu Bologna, ohne seine Studien weiter als bis zum einfachen Kontrapunkt zu treiben. M i t achtzehn Jahren schrieb er seine erste Oper f ü r Venedig, und es folgten nun fast zwei Jahrzehnte einer mühelos strömenden Produktivität, deren Ertrag achtunddreißig Opern und der Weltruhm ihres Schöpfers waren. Sein erster großer E r f o l g w a r „Tancred", sein zehntes Werk, wieder f ü r Venedig geschrieben. Es folgte die burleske „Italienerin in A l g i e r " , 1 8 1 6 in R o m der „Barbier von Sevilla", der bei der ersten A u f f ü h rung ausgepfiffen wurde, weil man dem Komponisten verübelte, daß er das Meisterwerk Paesiellos noch einmal vertont hatte. W a s sonst über diese Aufführung an grotesken Einzelheiten berichtet wird, etwa daß auf der Höhe des Skandals eine Katze über die Bühne gelaufen sei, gehört ins R e i c h der Fabel. Der Theaterdirektor Barbaja, ein echter Typus des bürgerlichmerkantilen Jahrhunderts, der sich in abenteuerlicher Laufbahn v o m Kellner über den Spielbankbesitzer zum Herrn der italienischen Opernbühnen von Mailand, Neapel und W i e n emporgearbeitet hatte, verpflichtete den erfolgreichen Meister, gegen ein festes Honorar jährlich zwei Opern zu liefern. In diese Zeit fallen „ O t h e l l o " (1816), w o zuerst das Seccorezitativ nach Glucks Vorgang durchweg durch das Accompagnato abgelöst war, „Aschenbrödel" (1817), „ D i e diebische Elster" (1817), „Moses in Ä g y p t e n " (1818, Neubearbeitung 1826), „Semiramis" (1823), das Meisterwerk auf dem Gebiet der ernsten Oper. 1823 ging Rossini nach vorübergehendem Aufenthalt in London nach Paris, und hier beginnt der zweite, längere Abschnitt seines Lebens. 1829 trat er in der Großen Oper mit einem neuen W e r k vor die Öffentlichkeit: mit dem „ W i l h e l m T e i l " , einer gänzlich
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neuartigen, alles Frühere an U m f a n g und Solidität der Arbeit übertreffenden Schöpfung, die den Typus der von Auber geschaffenen „Großen O p e r " aufgriff und den späteren Werken Meyerbeers zum Vorbild wurde. Mit diesem Werk, das eine neue, glänzende Schaffensphase zu eröffnen schien, endet unvermittelt Rossinis Laufbahn als Opernkomponist. Der bis dahin so fruchtbare Meister legte die Feder nieder; nur das herrliche, zart schwärmerische „Stabat M a t e r " , ein Muster südlich heiterer Kirchenmusik (in zwei Fassungen 1832 und 1841), bezeugt uns, daß es nicht völlige schöpferische Ermattung war, was ihn v e r stummen ließ. Dies beharrliche, über fast vier Jahrzehnte sich erstreckende Schweigen eines so leicht schaffenden Künstlers bleibt eines der großen Rätsel, welche die Kunstgeschichte dieses seltsamen Jahrhunderts dem Betrachter aufgibt. Sicher ist, daß das behagliche, der Kochkunst und einer geistreichen Geselligkeit gewidmete weitere Leben des Meisters eine tiefe innere Schwermut überdeckte. Rossini lebte zumeist in Paris, immer ein Mittelpunkt der Kunstwelt, ein großer, von allen verehrter Mensch, und starb sechsundsiebzigjährig, 1868, im Jahre der „Meistersinger", drei Jahre vor der „ A i d a " , in seinem Schaffen ein Nachfahr der heiteren Klassik, in seinem Schicksal vom rätselhaften Dunkel der Romantik überschattet. Betrachten w i r heute Rossinis Partituren, in denen E i n gebungen von höchster Schönheit neben Formelhaftem und Banalem stehen und die Spuren eiliger und oberflächlicher Arbeit überall ins A u g e fallen, so ist uns seine beispiellose W i r k u n g auf seine Zeitgenossen nicht mehr ganz verständlich. Nicht nur die große M e n g e vergötterte ihn und vergaß über seinen Weisen die Größe eines Beethoven und Schubert. Ihre Begeisterung w u r d e v o n Geistern wie Schopenhauer und Stendhal (der seine Biographie und das L o b seiner Kunst schrieb) geteilt, und noch Bizet stellte ihn gelegentlich über Mozart. R o s s i n i gab der W e l t die heiße, sonnige Schönheit des Südens, das Glück eines strahlenden, immerwährenden Dur, den Sinnenreiz einer unerschöpflich strömenden M e l o die, geschmückt mit den blitzenden Lichtern perlenden Z i e r gesangs. Was aber die eigentlich elektrisierende W i r k u n g seiner Kunst ausmacht, w a r das revolutionäre Element, das ihr innewohnte. Rossinis Musizieren kommt unmittelbar aus der sprühenden Musiklaune des italienischen Volkes. Es ist der
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volkstümlichen Sprache der Opera bujfa verbunden, aber es spricht diese Sprache mit einer Kraft u n d einer Verwegenheit, die vorher nicht da waren. Das ist nicht mehr die gemäßigte Heiterkeit eines Paesiello oder Cimarosa. Rossinis Melodik hat einen lockeren W u r f , sein W i t z ist schärfer, ü b e r mütiger, sein Gefühl stärker u n d heißblütiger; seine Koloratur glitzert u n d funkelt wie ein überreicher Schmuck, seine Instrumentation bevorzugt leuchtende Bläserfarben, der elementare Reiz seiner über primitiven Steigerungsformeln von großer Trommel, Becken u n d Triangel in aufpekschendem R h y t h m u s emporgetriebenen Crescendi w u r d e sprichwörtlich. Diese H i n w e n d u n g zum Elementaren u n d Primitiven bedeutete eine Popularisierung der Musik, die W a n d l u n g der Gesellschaftskunst zu einer Volkskunst, deren robustere M i t tel auf breitere Schichten, auf die sich bildenden Massen, w i r ken k o n n t e n ; es ist aber zugleich die erste A n k ü n d i g u n g eines a u f k o m m e n d e n musikalischen Materialismus, u n d in dieser Funktion weist Rossini weit in die spätere Entwicklung seines Jahrhunderts voraus. Die formalgeschichtliche Bedeutung Rossinis beruht aber darin, daß er mit der sieghaften Naivität des Naturgenies diese neuerstarkte Buffosprache auch auf die tragische O p e r übertrug u n d damit das Formschema der längst verblaßten Opera seria endgültig über den H a u f e n rannte. Es ist kein wesentlicher Unterschied zwischen der musikalischen Diktion etwa der „Italienerin in Algier" u n d der „Semiramis", dieselbe Ouvertüre diente ihm f ü r die tragische „Elisabeth" u n d den komischen „Barbier v o n Sevilla". Damit hat er der tragischen O p e r neues Blut u n d Leben zugeführt. Ihre Kantilene erhielt einen volkstümlichen Klang, der ihr von der schlicht-ergreifenden Cavatine Tancreds bis zum inbrünstigen Gebet des Moses und dem tragischen Pathos mancher Semiramis-Melodien eigentümlich blieb. Der unerschöpfliche Strom seiner Musik ergoß sich auch in die öden, dürren Strecken des R e z i tativs u n d ließ in ihnen Klang u n d E m p f i n d u n g a u f b l ü h e n . Damit w u r d e gerade dieser „absolute" Musiker zum W a h r e r der dramatischen Kräfte der Oper, er machte sie fähig, die neuen Aufgaben zu lösen, welche die R o m a n t i k ihr stellte.
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Der Vollstrecker des romantischen A u f t r a g s w u r d e V i n cenzo Bellini. Der blonde Sizilianer, der durch seine J ü n g lingsschönheit und den R e i z seiner Persönlichkeit jeden bezauberte, der ihm nahe kam, empfindsam, schwärmerisch und stets v o n Schwermut überschattet, verkörpert in voller Reinheit das W e s e n der j u n g e n R o m a n t i k , die als mächtige B e w e g u n g durch Europa ging und selbst im Süden, der Stätte klassischer Klarheit, ihre Vorkämpfer f a n d ; sein A u f stieg, fast noch triumphaler als der Rossinis, ist eine Legende des Künstlerglücks, der sein früher, grausamer T o d einen unheimlichen Abschluß gibt. Bellini wurde im Jahre 1801 zu Catania auf Sizilien geboren. A m Konservatorium zu Neapel vermittelte ihm Zingarelli die Tradition der neapolitanischen Oper. Die Reihe seiner Erfolge begann 1826 zu Mailand mit dem „ P i r a t e n " . Entscheidend für sein Schaffen wurde die Begegnung mit dem Dichter Feiice R o m a n i , dem Metastasio der Romantik, der durch seine geschmeidigen, klingenden Verse und durch seine Fähigkeit zu Aufschwung und Erhitzung des Gefühls die Phantasie des M u sikers mächtig beflügelte. A u f den düsteren „ P i r a t e n " folgte die sanft-melancholische „ F r e m d e " (La Straniera) und die schwärmerischen, nicht ganz gleichwertigen „ R o m e o und Julia". Die R e i f e bezeichnen die anmutige, zart gefühlshafte „ N a c h t w a n d lerin" (La Sonnambula, 1829) und die tragische „ N o r m a " (1830). Hatte schon die Dunkelheit und lyrische Intensität der Normamusik das Mailänder Publikum der ersten Aufführung befremdet, so stieß das blutige Renaissancedrama „Beatrice di T e n d a " zu Venedig auf offene Ablehnung. Der Mißerfolg veranlaßte den Künstler, dem Beispiel Rossinis folgend, nach Paris zu gehen, w o seine Erscheinung in der Gesellschaft und in der künstlerischen Welt faszinierend gewirkt haben muß. W i e Rossini mit dem „Wilhelm T e i l " , begann auch er mit den „Puritanern" hier einen neuen Schaffensabschnitt. W i e bei Rossini blieb es bei einem einzigen Versuch auf dieser Bahn einer französierten, der heimatlichen Tradition entfremdeten Schreibart; schon 1835 raffte ihn ein jäher, durch ein Darmleiden verursachter T o d hinweg, die düsteren Ahnungen bestätigend, die sein vom Zauber des Ruhmes und der Liebe vergoldetes Leben immer durchklungen hatten. Der persönliche Zauber einer reinen und poetischen Natur wirkt auch im W e r k dieses Lyrikers der Opernbühne. Es be-
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zeichnet den Augenblick des vollständigen Sieges der g e s a n g lichen Melodie, die, eine S c h ö p f u n g der R e n a i s s a n c e u n d ihrer letzten musikalischen A u s s t r a h l u n g , der M o n t e v e r d i schen O p e r , v o n den barocken Gesangsmeistern gepflegt und bereichert, bei R o s s i n i zu neuer Vitalität erstarkt, nun durch die B e r ü h r u n g mit den romantischen G e f ü h l s k r ä f t e n eine u n geheure Vertiefung und Steigerung ihrer A u s d r u c k s s p a n n u n g erfuhr. B e i Bellini ist alles Melodie, u n d diese M e l o d i e ist v o n hoher u n d reiner Qualität, sie ist stets voll lebendigen, heißen G e f ü h l s , das expressive Element dringt bis in die Koloratur, die zum A u s d r u c k leidenschaftlicher E r r e g u n g w i r d . Die Solostimme w i r d zum alleinigen Ausdrucksträger, das O r chester hat nur begleitende Funktion, das E n s e m b l e erscheint nur in primitiver Form, der C h o r gewinnt erst B e d e u t u n g , als auch er zur Einstimmigkeit vereinfacht ist. D i e Meisteropern Bellinis zählen zu den Kostbarkeiten romantischer Musik, die idyllische „ N a c h t w a n d l e r i n " , die ihren traumzarten R e i z aus der Berührung mit der geheimnisvollen Erscheinung des Somnambulismus zieht, und noch mehr die lyrische Tragödie der Druidenpriesterin N o r m a , die zum erstenmal in die Nähe nordisch- mythischer Vorstellungen und Tiefenkräfte hinabdringt, welche für das romantische M u s i k d r a m a von so ungeheurer Bedeutung werden sollten. D i e gallische Priesterin, die hin und her gerissen zwischen der Pflicht gegen ihren Gott und ihr Volk und der Liebe zum Feinde, dem römischen Prokonsul, mit dem sie gemeinsam in den T o d geht, ist eine Gestalt voll urtümlicher, tiefer Lyrik. Diese L y r i k schwingt im lebenswahren, ergreifend deklamierten Rezitativ, dessen W ä r m e und Natürlichkeit wieder einen starken Schritt über Rossini hinaus bedeutet, in der innigen, gefühlstrunkenen Kantilene und der glänzenden, leidenschaftlichen Koloraturarie. V o r z ü g lich aber hat der Schluß des Werkes, an dem zum ersten Male das romantische M o t i v des Liebestodes auftaucht, die tiefsten Kräfte des Komponisten ausgelöst. Der Augenblick, in dem N o r m a durch ihr Bekenntnis sich selbst dem Feuertode überliefert, ist schon von Schopenhauer in seiner tragischen Bedeutung erkannt worden, welcher bemerkt, daß hier „ d i e U m wandlung des Willens durch die plötzlich eintretende R u h e der Musik deutlich bezeichnet w i r d " . Die nachttrunkene Seele der R o m a n t i k , die in Novalis, in Schubert und Schumann lebte, triumphiert auch im Süden, und es ist aufschlußreich zu be-
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obachten, wie die Fäden von hier wieder nach dem Norden hin zurücklaufen: der Einfluß Bellinis nicht nur auf Chopin und Liszt, auch auf den jungen Wagner ist unmittelbar und tief; wie die ehernen Posaunensätze mancher Norma-Rezitative die Klangfarbe des Nibelungenringes vorwegnehmen, so weist der ekstatische Schlußsatz des Werkes schon in das „dunkel nächtige L a n d " , das sich im Tristan vollends eröffnet. Der dritte in dieser R e i h e ist Gaetano Donizetti, als Persönlichkeit nicht ganz v o n gleichem R a n g e , in der musikgeschichtlichen E n t w i c k l u n g als unmittelbarer Vorgänger V e r dis von größter Bedeutung. Donizetti wurde in Bergamo, der Heimat der italienischen Maskenkomödie, im Jahre 1791 geboren, vier Jahre vor Bellini, den er um dreizehn Jahre überlebte. E r war in seiner Heimatstadt Schüler des italianisierten Bayern Simon Mayr. Einundzwanzigjährig errang er seinen ersten Opernerfolg in Mailand, mit dem auch er in den aufreibenden Stagionebetrieb mit seiner eiligen Auftragsarbeit eintrat: O f t drei bis vier Opern jährlich schreibend, unter denen sich allerdings nicht selten Einakter befanden, brachte er es im ganzen auf nahezu siebzig. W i e die anderen teilte er seine Tätigkeit zwischen Italien und den großen Bühnen des Auslandes, vor allem Paris und W i e n ; nach dem frühen Tode Bellinis, in dessen Schatten er lange gestanden hatte, verwaltete er zu Paris das Erbe der italienischen Oper. Seine Hauptwerke sind die tragischen Opern „Lucrezia B o r g i a " (1833) und das Meisterwerk „Lucia di Lammermoor", 1835 im Wettstreit mit Bellinis „Puritanern" geschaffen, die lyrischen „ D i e Favoritin" und „Linda di C h a m o u n i x " (1843), sowie die Buffoopern „ D e r Liebestrank" (1832), „ D o n Pasquale" (1843) und die französische „Regimentstochter". Nachdem er 1844 in Neapel sein letztes W e r k „Catarina C o r n a r o " einstudiert, zeigten sich Spuren geistigen Verfalls, der in Paris rapide fortschritt und die Überführung des Kranken nach seiner Heimat Bergamo veranlaßte. Die letzten Jahre, in stumpfem, bewußtlosem Hindämmern verbracht, sind ein trauriger Epilog dieses arbeitsreichen Künstlerlebens, der auch diesen heiteren und scheinbar unbelasteten Charakter den tragischen Romantikern zuordnet; 1848 starb er, nicht wieder zum Bewußtsein gelangt, in Bergamo. Donizetti erscheint unter den Meistern der italienischen R o m a n t i k vor allem als der Mann des Theaters. Der Geist der Bergamasker Komödie stand in seinen W e r k e n auf und er-
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lebte seine romantische E r h ö h u n g u n d Verfeinerung. Als M e lodiker unerschöpflich voll anmutiger, sprühender, einschmeichelnder Einfälle, w e n n auch ohne die lyrische Tiefe Bellinis, w u ß t e er auch das Orchester mit unnachahmlicher Grazie u n d Zurückhaltung „wie eine große Laute" zu behandeln : Das blendende Klangfeuerwerk Rossinis ist bei ihm zu einem feinen Funkeln und Schillern geworden, lustiges Plappern der Holzbläser mischt sich mit treibenden PizzikatoR h y t h m e n der Streicher u n d keckem W i t z der T r o m p e t e n . Er besitzt in hohem Grade die romantische Fähigkeit scharfer u n d leichter Charakterisierung, die ihn zu einem Meister des dramatischen Kontrapunkts macht; die alte Freude der Buffooper am Aufeinanderprallen gegensätzlicher Charaktere im Ensemble u n d am lustig hinrollenden Finale lebt sich voll aus. Die Wendigkeit seiner Begabung ließ ihn auch den Schritt über die Grenzen der heimatlichen Tradition, der Rossini u n d Bellini verderblich wurde, unbeschadet überstehen; er vermochte den Einfluß Frankreichs ohne Stilbruch in sein W e r k zu verschmelzen. So sind seine komischen Hauptwerke verschiedenen Geistes, aber gleichen Wertes: der jugendlich gefühlvolle, ganz italienische „Liebestrank", das Spiel um den verliebten Bauernburschen Nemorino, dessen rührende Romanze „ U n a furtiva lagrima" ein Lieblingsstück aller Tenöre wurde, der reife, meisterliche „ D o n Pasquale", der das immer wiederkehrende Buffbmotiv von dem alten Liebhaber und der jungen kapriziösen Frau in einem Wirbel übermütiger Laune durchführt, und die vom Geiste der französischen komischen Oper geformte „ R e gimentstochter", die soldatische R h y t h m e n mit graziösen Liebesweisen mischt. Es spricht aber f ü r die romantische Tiefe von Donizettis Natur, daß der Meister des Komischen sehr wohl des tragischen Ernstes fähig war. So besteht auch die von tragischen Leidenschaften erfüllte „Lucia di Lammermoor", ein düsteres, in das schottische Hochland verlegte Gemälde von K a m p f u n d Eifersucht, von Gattenmord und Wahnsinn, in dessen Mittelpunkt eine liebreizende, vom Schicksal zertretene Frauengestalt echt romantischen Wesens steht, neben Bellinis „ N o r m a " als eins der bezeichnenden Werke dieser Epoche, dessen große melodische Eingebungen, das Sextett, Lucias Wahnsinnsarie und der Abschied des sterbenden Edgardo, unabgeschwächt
Die Metropole Paris
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nachklingen. Hier, auf dem W e g e der tragischen und der großen geschichtlichen Oper, den er gegen Ende seines Schaffens beschritt, wurde Donizetti zum unmittelbaren Vorgänger Verdis, der die Schlagkraft seiner dramatischen Melodie und die Technik des charakterisierenden Ensembles bei ihm vorbereitet fand. Unter den kleineren Meistern, welche die Bühne mit ihren f ü r den Tagesanspruch bestimmten Werken füllten, verdient v o r allem der ernste Saverio Mercadante (1795—1870) E r wähnung, ein interessanter, vielseitiger Künstlertypus, der neben sechzig Opern — sein Hauptwerk, 1 8 3 7 aufgeführt, ist „Ii Giuramento" — auch Kirchenmusik schrieb und w e g e n seiner N e i g u n g zu starken und auffallenden harmonischen W i r k u n g e n den Beinamen eines „italienischen B e e t h o v e n " erhielt, eine Charakterisierung, die weniger f ü r ihn bezeichnend ist als f ü r die verflachende, dem Verständnis des Großen mehr und mehr sich entfremdende Zeit, die sie gab. Die übrigen, wie der durch seine Gesangsschule berühmte Nicola Vaccai ( 1 7 9 0 — 1 8 4 8 ) und Giovanni Pacini ( 1 7 9 6 — 1 8 6 7 ) wirkten nicht über den T a g hinaus; anfangs v o m Genie der Frühromantiker Bellini und Donizetti überschattet, verblaßte ihr R u h m vollends, als der feurige Stern des jungen Giuseppe Verdi und mit ihm eine neue, größere und abschließende Zeit der italienischen Oper aufstieg. DER W E G D E R FRANZÖSISCHEN
MUSIK
Die Metropole Paris Paris w a r durch den Umsturz v o n 1 7 9 2 und durch seine literarischen Vorläufer zu einer geistigen Metropole von europäischer Bedeutung geworden, deren Aktivität, durch eine große politische R o l l e beflügelt, auch auf die dem französischen Wesen von Natur fernerstehende Musik übergriff. Die „ G r o ß e O p e r " , im Hause der Academie Royale de Musique von dem Italiener L u l l y um 1660 geschaffen, von dem Franzosen Jean Philippe R a m e a u zur Zeit des R o k o k o zu einem dekorativen, eigentümlich nationalen Stile entwickelt und von dem Deutschen G l u c k zu tragischer Höhe geführt, blieb als Vorbild klassischer Musikgesinnung lebendig, das die 5 Oehlmann, Musik des 19. Jahrh.
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B e g a b u n g e n v o r z ü g l i c h aus d e m romanischen Süden an sich z o g . D a n e b e n w u r d e das Conservatoire National de Musique, 1795 als E r w e i t e r u n g einer k ö n i g l i c h e n Sängerschule g e g r ü n d e t , ein M i t t e l p u n k t des M u s i k l e b e n s , d e m h e r v o r r a g e n d e K o m p o n i s t e n als Lehrer a n g e h ö r t e n . D i e K o n z e r t e des K o n s e r v a t o r i u m o r c h e s t e r s erhielten seit 1828 d u r c h den D i r i genten François A n t o i n e H a b e n e c k besondere B e d e u t u n g , einen Orchestererzieher v o n E n e r g i e u n d A u t o r i t ä t , der sich als erster in systematischer P r o b e n a r b e i t f ü r das W e r k B e e t hovens'einsetzte u n d die N e u n t e Sinfonie in Paris z u m E r e i g nis machte. G e g e n den k o n s e r v a t i v e n Geist der staatlichen M u s i k i n s t i tute e r h o b e n sich aber mit d e m f o r t s c h r e i t e n d e n Jahrhundert immer h e f t i g e r die v o r w ä r t s d r ä n g e n d e n romantischen R e g u n g e n , u n d aus der G e g e n s ä t z l i c h k e i t der K r ä f t e e r g a b sich eine geistige H o c h s p a n n u n g u n d vulkanische Erregtheit, die das V e r l o c k e n d e u n d Gefährliche des Pariser B o d e n s in dieser Z e i t ausmacht. Freilich zählte a u c h die A k t i v i t ä t der politischen K r ä f t e z u den U r s a c h e n dieser S p a n n u n g . Fand der kriegerische G l a n z des napoleonischen R e i c h e s , der d u r c h den malerischen Klassizismus des v o n der A n t i k e inspirierten D a v i d begleitet w a r , seine musikalische S p i e g e l u n g v o r allem in einer Spätblüte des d e k o r a t i v e n Stils der G r o ß e n O p e r , die durch den N a m e n Spontinis bezeichnet ist, so ließ der d e m o kratische Geist des B ü r g e r t u m s eine reichere V i e l f a l t u n d B e w e g l i c h k e i t der geistigen B e s t r e b u n g e n zu. Das Paris Louis' X V I I I . u n d Louis Philippes, des B ü r g e r k ö n i g s , diese u n ruhige, stets v o n R e v o l u t i o n e n b e d r o h t e H o c h b u r g des j u n gen Liberalismus, der hier seine K r ä f t e als Staats-, W i r t s c h a f t s u n d Geistesmacht in abenteuerlichen Spekulationen e r p r o b t e , hat der K u n s t u n d auch der M u s i k m ä c h t i g e , w e n n auch mehr äußerliche A n r e g u n g e n g e g e b e n . W i e der literarische G e i s t seine Freiheit bis z u m E x z e ß g e n o ß u n d mit g r a n d i o s e n K o n z e p t i o n e n v o n den mystisch-romantischen M e d i t a t i o n e n Chateaubriands u n d Lamartines bis zur „ M e n s c h l i c h e n K o m ö d i e " Balzacs auszufüllen strebte, die mit ihren rauschenden O r g i e n , mit ihren u n g e h e u e r l i c h e n K o n f l i k t e n u n d Z u s a m m e n b r ü c h e n , mit ihren E n g e l n u n d T e u f e l n , ihren edlen
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J ü n g l i n g e n und königlichen Verbrechern diese W e l t ins Überlebensgroße erhöhte, wie in der Malerei die farbige R e volution des Feuergeistes Delacroix neben der stillen Innerlichkeit des edlen Ingres herlief und der strotzende Materialismus des urkräftigen Courbet sich anmeldete — so w a r auch das musikalische Podium j e d e r Strömung offen, die sich mit Glanz und Geltungsanspruch einzuführen wußte. Den einheimischen Sängern der Großen Oper, unter ihnen der hervorragende Nourrit, wurde von ihren italienischen K o l l e g e n der R a n g streitig gemacht; der phänomenale Tenor R u b i n i und der gewaltige Bassist Lablache, die Primadonnen Pasta, Grisi, Malibran, Viardot-Garcia glänzten im Theatre des Italiens, das die unwiderstehlichen Zauberer Rossini, Bellini undDonizetti als R i v a l e n der bescheideneren einheimischen Meister herbeizog. Das Virtuosentum feierte in N i c o l o Paganini, dem Hexenmeister der Violine, unerhörte Triumphe, die der j u n g e Liszt, Chopin und Thalberg auf das Klavier übertrugen. Das Echte gedieh hier neben dem Unechten, die Sensation neben dem großen und aufrührenden Kunsterlebnis; wie dieses europäische Podium die K r ä f t e v o n überall anzog — noch der j u n g e W a g n e r glaubte den E r f o l g in Paris erkämpfen zu müssen —, so strahlte es seinen Glanz auf Europa zurück. Das Erbe der Klassik Die drei schöpferischen Künstler, in denen sich der klassizistische Geist dieser Epoche bezeugte, werden gewöhnlich unter dem Gesichtspunkt der G l u c k - N a c h f o l g e zusammengefaßt, womit ihre Leistung nur unvollkommen bezeichnet ist. A m meisten trifft diese Einordnung f ü r den Franzosen Etienne Nicolas Mehul zu (1763—1817). N o c h unmittelbar von Gluck gefördert, schrieb er von 1790 an eine längere Reihe Opern, von denen „Joseph in Ä g y p t e n " (1807) heute noch lebendig ist. Das W e r k zeigt flüssige Melodik und echt französischen Sinn f ü r klassizistisch klare Form; in seiner schlichten Ausdruckskraft ist es das Zeugnis eines reinen und ernsten Charakters, den Mehul auch im Leben bewährte. Weit bedeutender ist der Florentiner Luigi Cherubim, 1760 geboren, der al? Siebenundzwanzigjähriger nach Paris kam und 5*
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Der W e g der französischen Musik
seine künstlerischen Grundsätze im Geiste der noch lebendigen Gluckschen Doktrinen bildete. Durch das allgemeine Schicksal der Revolution, deren Schrecken er in ihrem Zentrum miterlebte, wurde er vollends zum Franzosen. V o n 1788 bis 1806 dauert seine erste Schaffenszeit, in der der größte Teil seines dramatischen Werkes entstand. V o n seinen Opern ist nur die erste „ D e m o p h o o n " in durchkomponierter Form f ü r die Große Oper geschrieben. Die übrigen, „ L o d o i s k a " , „ M e d e a " , „ A n a k r e o n " , die im kleinen Theatre de la Foire St. Germain gespielt wurden, sind Dialogopern. V o n Gluck stammt die „ E i n fachheit, Wahrheit und Natürlichkeit" des Ausdrucks, von Haydn der gänzlich unitalienische Reichtum und die Delikatesse des Orchestersatzes. Z u diesen Einflüssen aus der deutschklassischen Sphäre kommen aber, zum Teil durch die exzentrische Abenteuerlichkeit der Stoffe gefördert, düstere und schaurige, aber auch ländlich-liebliche Vorklänge einer französisch gefärbten Romantik. Italienisches Erbteil ist die milde, raffaelitische Schönheit und Kantabilität, die über allem liegt. Der „Wasserträger" (1800) zählt zum T y p der „ R e t t u n g s o p e r " , die vor dem Hintergrund der Französischen Revolution spielende Geschichte vom schlichten braven Mann, der einen Unschuldigen mit Mut und gesundem Mutterwitz vor seinen Verfolgern rettet. Das W e r k genoß bei den Zeitgenossen eine geradezu kanonische Verehrung, an der auch Goethe, Beethoven (der Cherubinis Werke „mehr als alle andere theatralische schätzte") und Weber teilnahmen. Aber der Meister hatte in seinen Opern noch nicht alles gesagt. Die Ungnade Napoleons, die er sich durch eine freimütige Äußerung gegen den Konsul zugezogen hatte („Sire, Sie lieben Musik, die Sie nicht hindert, an Staatsgeschäfte zu denken"), untergrub seine Erfolge und lähmte seine Schaffenslust. D a kam ihm 1808 in der Zurückgezogenheit eines Landaufenthalts, in Chimay, durch den A u f t r a g einer dörflichen Gemeinde veranlaßt, wie eine Erleuchtung der Plan seiner F-Dur-Messe, die eine Reihe kirchlicher Kompositionen einleitete. Die zweite Hälfte seines zweiundachtzigjährigen Lebens ist vor allem von Kirchenmusik ausgefüllt; nur noch wenige Opern ( „ D i e A b e n ceragen" 1 8 1 2 ) und seine einzige, 1 8 1 5 f ü r London geschriebene und an Haydn anknüpfende Sinfonie sind daneben zu nennen. Jetzt wurde Cherubini, gänzlich entgegen der extrem-monodischen Tendenz, welche die italienische Musik in diesem Jahrhundert verfolgte, zum Kontrapunktiker, der seine Erkenntnisse in einem berühmten ,,Cours de contrepoint et de laFugue" nieder-
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legte. Aber nicht nur der Geist Palestrinas, der die Studien seiner Jugend geleitet hatte,steht über diesenWerken, unter denen die beiden Requiem-Vertonungen f ü r Chor und Orchester in c und d-Moll hervorragen; in ihnen lebt auch die weltflüchtige, aus Resignation und Sehnsucht geborene Religiosität des neuen Jahrhunderts, die auch im literarischen W e r k Hoffmanns oder in der Dichtung Lamartines oft und stark aufklingt. Seit 1822 Direktor des Konservatoriums, starb Cherubini im Jahre 1842 vereinsamt und der Welt entwachsen. Uber den Werken seiner Spätzeit mag füglich das romantische W o r t seines Freundes, des Malers Ingres, stehen: „ Z u m Großen in der Kunst gelangt man nur durch Tränen." A n dieser durch und durch echten Erscheinung gemessen stellt der dritte, Gasparo Spontini (geb. 1774 zu Majolati bei R o m ) , eine seltsame Verbindung von Naivität und übersteigertem Selbstbewußtsein dar, hervorgerufen durch die der Zeit schon nicht mehr gemäße, zur Pose erstarrende Aufgabe der Klassik, eine brüchige Erscheinung, in der sich imponierende und bizarre Z ü g e mischen. Seine frühen Opern, für R o m , Florenz und Neapel geschrieben, zeigen einen flüssigen, anspruchslosen Stil nach der Art Cimarosas oder seines Lehrers Piccini. Erst in Paris, wohin er im Jahre 1803 übersiedelte, erwachte in ihm der Sinn für das Große, der von nun an seinen künstlerischen Charakter ausmachte. Jahrelang arbeitete er an der Partitur der „Vestalin", einer heroischen Römeroper, in der sich eine gewaltige Vertiefung und dramatische Zuspitzung seines Stils bezeugt. Ihr E r f o l g brachte ihm 1807 den von Napoleon ausgesetzten Opernpreis und machte ihn zum ersten Musiker des französischen Kaiserreiches. 1809 folgte „Ferdinand C o r t e z " , ein kriegerischer Stoff aus der spanischen Kolonialgeschichte, viel später, erst 1 8 1 9 , „ O l y m p i a " , mit der er wieder in die Antike, diesmal die griechische, zuriickgriff. Den Werken dieser heroischen Trilogie ist gemeinsam ein großes dekoratives Pathos, das als musikalische Entsprechung zum malerischen Klassizismus eines David erscheinen will. Märsche, Chöre und Aufzüge nehmen einen großen R a u m ein, Ensembles erheben sich zu packender Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, in großlinig geführten Accompagnato-Rezitativen zucken grelle instrumentale und harmonische Lichter auf, in denen sich auch bei diesem starr rückwärts gewandten Künstler daserregte Musikgefühl der R o mantik ankündigt. Aber bei allem äußeren Glanz und Leben bleibt eine innere Leere, ein Mangel an ursprünglicher P r o d u k tivität, der ein Weiterleben dieser Musik ausschließt. Als mit
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dem Beginn der Restaurationszeit Spontinis R u h m in Paris verblaßte, folgte er 1820 einem R u f Friedrich Wilhelms III. als Leiter der Berliner Oper. Hier war er, der erste Generalmusikdirektor der Operngeschichte, ein Fanatiker des Theaters, der in unzähligen Proben jede Nuance des Ausdrucks festlegte und mit einem Marschallstabe das Orchester anführte, wirklich derNachfahre Glucks, als der er sich fühlte. Sein diktatorisches Auftreten und sein völliges Unverständnis für die brennenden Fragen der deutschen Musik sind oft und mit Recht angefeindet worden; seine Leistung, die den hohen R a n g der Berliner Oper begründete, bleibt bestehen. 1841 durch einen Theaterskandal zum Rücktritt gezwungen, ging er wieder nach Paris, w o er, gänzlich abgeschlossen gegen den Fortschritt der Zeit, zum gespenstischen Monument vergangener Größe erstarrte, und starb 1851 in seiner Heimat. Wagner, der noch für den Gealterten bei einem Gastspiel in Dresden eine „grauenvolle Sympathie" gefaßt hatte, widmete ihm einen Nachruf als dem „letzten der dramatischen Tonsetzer, die mit ernster Begeisterung und edlem Wollen ihr Streben einer künstlerischen Idee zugewandt hatten; — mit ihm ist eine große, hochachtungswerte und edle Kunstperiode nun vollständig ersichtlich zu Grabe gegangen". Die komische und die historische Oper Leichter und glatter vollzog sich der Ubergang zur R o m a n tik im Schaffen der naiven Begabungen, in denen der echt französische Geist der leichten und heiteren Opéra comique, der melodische Esprit und die frische Natürlichkeit eines Grétry und Monsigny fortlebte. François Adrien Boieldieu (1775—1834) eröffnete diese Epoche der romantisch-komischen Oper, deren romantisches Element nicht in einer Vertief u n g und Verinnerlichung, sondern lediglich in einer V o r liebe für phantastische oder auch sensationelle Stoffe, in der V e r w e n d u n g volkstümlicher Liedformen und in einem leichten poetischen D u f t über der heiter hinsprudelnden Musik beruht; v o n seinen W e r k e n haben der „ K a l i f v o n B a g d a d " (1800), „Johann v o n Paris" (1812) und die „ W e i ß e D a m e " (1825) dauernden E r f o l g gehabt. Neben und nach ihm w i r k ten sein Rivale Niccolo Isouard (1775—1818), der mit „ A s c h e n brödel" (1810), sein Schüler Adolphe Adam (1803—1850), der 1836 mit dem „Postillon v o n Lonjumeau" seinen größten E r -
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f o l g errang, und der italianisierende Louis J o s e p h Ferdinand Hérold (1791—1833), dessen „ Z a m p a " größere Verbreitung fand. Der bedeutendste unter ihnen ist Daniel François Auber (1782—1871), der die stetige Arbeitskraft eines langen Lebens— er hat zwischen 1 8 1 1 und 1869 fünfundvierzig B ü h nenwerke geschrieben — dieser Operngattung widmete. „ M a u r e r und Schlosser" (1825), „ D e r schwarze D o m i n o " (1837), „ D e s Teufels A n t e i l " (1843) und vor allem die romantische, mit dem T o d des Helden ins Tragische umschlagende R ä u b e r k o m ö d i e „ F r a D i a v o l o " (1830) dürfen als Höhepunkte der französischen komischen Oper gelten. Einmal trat A u b e r mit einem großen W u r f aus diesem Kreise heraus, als er 1828 mit der „ S t u m m e n von Portici" der seit Spontinis „ O l y m p i a " brachliegenden großen Oper neuen, gewaltigen Antrieb gab. Der revolutionäre Stoff, in dessen Mittelpunkt der neapolitanische Volksheld Masaniellö steht, die in südlichen Farben glühende Musik, in der wiegende Barcarolen und feurige, scharf rhythmisierte K a m p f w e i s e n abwechseln, wirkten zusammen, dem W e r k eine zündende Aktualität zu sichern. Es schlug ein wie ein Blitzstrahl, der der Julirevolution von 1830 vorausleuchtete; in Brüssel führte seine A u f f ü h r u n g unmittelbar zum Ausbruch des Volksaufstandes. Mit diesem W e r k hatte die französische große Oper einen neuen Höhepunkt erklommen. Der B e g r i f f der historischen Oper w a r geprägt, in der die Geschichte nicht um ihrer selbst willen dargestellt, sondern als imposante Staffage theatralischer Leidenschaften und Konflikte verwendet wurde. Im Abstand v o n einem Jahre folgte Rossinis „ W i l h e l m T e i l " , in dem italienische Melodie und theatralisches Kolorit eine buntschillernde Verbindung eingingen. Ihre glänzendste Steigerung erfuhr diese Form durch einen aus Deutschland nach Paris zugewanderten Musiker, Giacomo Meyerbeer. Meyerbeer wurde als Sohn eines Bankiers am 5. September 1791 in Berlin geboren und genoß eine gründliche musikalische Ausbildung durch Muzio Clementi und Carl Friedrich Zelter, endlich durch den bizarren, als Anreger romantischen Musikgefühls bedeutsamen Abbé Vogler in Darmstadt, w o er Carl Maria von Webers Mitschüler war. Seine Frühwerke, darunter
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eine Oper , Jephtas Gelübde" von 1 8 1 3 , atmen den Geist dieser strengen und soliden Schulung, brachten es aber nicht zum E r folg. 1 8 1 6 ging er nach Venedig, w o er das schwere Rüstzeug der deutschen Ausbildung ablegte und mit sechs Opern leichten italienischen Stils in die Reihe der heimischen Tageskomponisten trat. Mit seiner Rückkehr nach Berlin setzte sein Schaffen f ü r sechs Jahre völlig aus; in diese Zeit fielen menschlich bewegende und ausfüllende Erlebnisse, seine Heirat, der T o d seines Vaters und zweier Kinder. Als er, fünfunddreißigjährig, nach Paris ging, das nun f ü r sechzehn Jahre sein Wohnsitz blieb, begann die entscheidende Phase seines Schaffens. 1 8 3 1 ging „ R o b e r t der T e u f e l " in der Großen Oper zu Paris in Szene und stellte durch seinen sensationellen E r f o l g seine V o r bilder, „Wilhelm T e i l " und die „Stumme von Portici", in den Schatten. Das Textbuch stammte von Eugene Scribe, einem Literaten von äußerster dramaturgischer Geschicklichkeit, der sich für Jahrzehnte zum Beherrscher des Pariser Theaterlebens aufschwang und die Herstellung von Dramen und Opernlibretti werkstattmäßig durch eine Schar spezialisierter M i t arbeiter industrialisierte. Der T e x t des „ R o b e r t " steigert die romantische Erregung des Paris von 1830 zum Exzeß. Die Handlung, die im mittelalterlichen Sizilien spielt, hat starkes Kolorit. Im Mittelpunkt steht das M e r l i n - M o t i v : R o b e r t , der glänzende und lasterhafte Held, ist der Sohn eines Dämons, der ihn in der Gestalt des finsteren Ritters Bertram begleitet. Scribe mischt das Phantastische mit dem Grausigen und dem Pikanten und erfindet Situationen v o n nervenaufreizender W i r k u n g ; die Szene, in der die Nonnen eines längst verfallenen sündigen Klosters, v o n Bertram beschworen, aus den Gräbern steigen, die Kutten abwerfen u n d als reizende Ballerinen über die Bühne wirbeln, w a r eine der großen theatralischen Sensationen des Jahrhunderts. Meyerbeers Musik hat Esprit, dekorative Größe und echtes romantisches Feuer. Ihre M e l o d i k ist italienisch, von Bellini inspiriert, ihre dramatische Deklamation und ihr R h y t h m u s französisch, Spontini und A u b e r verpflichtet, in ihrer Harmonik wirken die starken Triebkräfte der deutschen Romantiker. V o r allem mit der Baßfigur des höllischen Bertram gelingt Meyerbeer eine Musikgestalt von imponierender Dämonie aus der N a c h f o l g e des Weberschen
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Kaspar; die Kontrastierung seiner satanisch großartigen B e schwörungsmelodie mit dem lasziven Bacchanal der N o n n e n ist ein romantischer Kontrapunkt, der nur auf dem erhitzten B o d e n von Paris g e w a g t werden konnte. N a c h f ü n f Jahren, 1 8 3 6 , f o l g t e n „ D i e H u g e n o t t e n " , an U m f a n g wie an dramatischer Konzentration noch eine Steigerung. In der Erkenntnis, daß das romantische Feuer der Zeit erkaltete, w a r hier die Handlung ganz auf real-historische Grundlage gestellt. Sie baut sich auf um den geschichtlichen Kern der Bartholomäusnacht, die Ermordung der französischen Protestanten durch die katholische Hofpartei. Die M u s i k nimmt den Lutherchoral „ E i n feste B u r g " zum Leitmotiv, der in der Ouvertüre mit romantischer Satz- und Instrumentationskunst variiert wird. Wieder steht in dem starren, luthergläubigen Diener Marcel eine scharf profilierte, holzschnittartige Baßgestalt da. Mit dieser puritanischen Atmosphäre kontrastieren die höfische, durch Soprankoloraturen und graziöse Ballettrhythmen charakterisierte K l a n g w e l t um die Königin Margarete v o n Valois und der kriegerische Fanatismus der Edelleute und Mönche, der in dem gewaltigen Chorsatz der Schwerterweihe kulminiert. Die Oper brachte dem Komponisten einen R u f als Generalmusikdirektor und Nachfolger Spontinis nach Berlin, w o er eine Oper „Das Feldlager in Schlesien" schrieb, deren Musik er später für den Scribeschen Text ,,L'Etoile du Nord" verwendete, und eine wertvolle Bühnenmusik zu einem Drama „Struensee" seines Bruders Michael Beer. In Paris folgten 1849 „ D e r Prophet", in dem der Wiedertäufer Thomas Münzer als Operntenor erscheint, und 1859 die weniger bedeutende „ D i n o r a h " . Das erstarrende Schema der großen Oper wurde noch einmal lebendig durchglüht in der „ A f r i k a n e r i n " , der melodischen, schon aidanahen Liebesgeschichte des Seefahrers Vasco da Gama und einer afrikanischen Prinzessin, die, im wesentlichen schon 1842 vollendet, verschiedentlich umgearbeitet wurde und erst 1865 als posthumes W e r k auf die Bühne kam; am 2. M a i 1864 w a r der Komponist, bis zuletzt eine der großen, allmächtigen G e stalten der Pariser Kunstwelt, gestorben. Neben Meyerbeer ist der fest in der französischen Tradition stehende Jacques Fromental H a l e v y zu nennen, der, am
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27. Mai 1799 zu Paris geboren, aus dem Konservatorium und der Schule Cherubinis hervorging und dem Institut später als Lehrer einer ganzen französischen Komponistengeneration treu blieb; er starb am 17. März 1862 zu Nizza. V o n seinen über dreißig Opern haben nur zwei, die beide im Jahre 1835 geschaffen sind, geschichtliche Bedeutung: „ D i e Jüdin", deren herbe und krasse Dramatik sich neben Meyerbeer in der Form der großen Oper behauptete, und „ D e r Blitz", ein heiteres Meisterwerkchen, in dem noch einmal Geist und W i t z der Opéra comique auflebten. Der Durchbruch zur Hochromantik Der schicksalhafte Durchbruch der französischen Musik zur Hochromantik geschah, fern den ausgefahrenen Gleisen der Theatermusik, auf eigenen W e g e n . W i r erleben ihn im sinfonischen Schaffen des genial-exzentrischen Hector Berlioz, der zu den fesselndsten und eigenartigsten Geistern des romantischen Jahrhunderts zählt. Als Persönlichkeit ein extrem romantischer Charakter voller ungelöster Widersprüche, schwärmerisch, leidenschaftlich, begeisterungsfähig, getrieben v o n rastloser Tatkraft, und zugleich skeptisch bis zum tiefsten Pessimismus, stets aufgelegt zu Bitterkeit und Ironie, als Künstler und Geist vielseitig gebildet, v o n wacher Selbstbewußtheit, zugleich naiv und dem Z w a n g seiner Vision ausgeliefert, dem tätigen Betrieb des Tages ebenso zugewandt wie der schöpferischen Einsamkeit vertraut, in der Eingebungen von unerhörter Neuheit mit vulkanischer Gewalt aus ihm hervorbrachen, durchmaß er alle Tiefen und Höhen, alle Kämpfe und Triumphe, alle Erfüllungen und bitteren Enttäuschungen, die das Paris jener Jahrzehnte, das Paris Balzacs, für einen Feuerkopf seines Schlages bereithielt. 1803 zu Côte St. André, einem Städtchen des Departement Isère, als Sohn eines Arztes geboren, kam er neunzehnjährig zu medizinischen Studien nach Paris, entschloß sich aber nach einer Aufführung der Gluckschen „Iphigenie aufTauris", Musiker zu werden. Es folgten Werdejahre voll N o t und Kampf. Weber und Beethoven waren die großen Eindrücke seiner Studienzeit. Dazu kam, wieder ein Eindruck aus dem ger-
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manischen Kulturkreis, das aufrührende Erlebnis Shakespeares, der ihm in der Darstellung der englischen Schauspielerin Henriette Smithson entgegentrat. Aus der Begeisterung f ü r Julia und Ophelia erwuchs eine verzehrende Leidenschaft f ü r die Künstlerin, aus der sein Hauptwerk, die Phantastische Sinfonie, als ein glühendes Selbstbekenntnis hervorging. Erst als Siebenundzwanzigjähriger, der schon Großes und Eigenstes geschaffen, gewann er den Rompreis des Konservatoriums und ging auf einige Jahre nach Italien. Nach Paris zurückgekehrt, flammte seine Liebe zu Henriette Smithson neu auf. Seine Werbung w a r die großartigste, die ein Künstler einer Frau darbringen kann: das Bekenntniswerk der Phantastischen Sinfonie, voll dunkler und offener Andeutungen seiner Liebe, von einem großen Orchester unter dem Enthusiasmus des Publikums in ihrer Gegenwart gespielt, besiegte ihren Widerstand. Es gehört aber zum Wesen des romantischen Künstlers, daß die Erfüllung ihn enttäuschte; die wenig glückliche Ehe endete mit Trennung und dem Tode Henriettes. Berlioz' ferneres Leben verlief zum Teil in Paris, w o er als Komponist, Schriftsteller und Kritiker, als Organisator und Dirigent großartiger Konzerte wirkte, zum Teil auf höchst erfolgreichen Konzertreisen, bei denen er seine Werke in den Musikstädten Deutschlands und in Rußland bekanntmachte. Schon früh wurde er, da er für die neuartigen Aufgaben seiner W e r k e keine ausreichenden Interpreten v o r fand, zum Dirigenten, dessen neue, v o m Taktschläger alten Stiles grundverschiedene Funktion er begeistert-anschaulich geschildert hat. „ M i t welch wütender Freude gibt er sich dem Glück hin, Orchester zu spielen! W i e er das ungeheure, wilde Instrument hält, es umfängt, es bändigt: die Aufmerksamkeit kehrt ihm vervielfacht zurück; auf alles hat er ein A u g e ; mit dem Blick gibt er Singstimmen und Instrumenten ihre E i n sätze, oben, unten, rechts, links; mit seinem rechten Arm schleudert er furchtbare Akkorde, die gleichsam ferne platzen wie harmonische B o m b e n ; dann wieder, an den Schlüssen, hält er die ganze B e w e g u n g , die er mitgeteilt, an, entlastet jede A u f merksamkeit, gibt jedem Arme, jedem Atem die R u h e zurück, lauscht einen Augenblick dem Schweigen — und läßt dem W i r belwind, den er gezähmt, wilderen Lauf. U n d wie ist er in den großen Adagios glücklich, sich wohlig auf dem schönen See seiner Harmonien zu w i e g e n ! . . . Wenn sein Herz unter der B e rührung der melodischen Poesie erschauert, wenn er jene innige Wärme fühlt, die die Weißglut seiner Seele ankündigt, dann ist das Ziel erreicht, der Himmel der Kunst steht ihm offen, was
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liegt an der E r d e ! " Aber sein Erfolg in Paris hielt nicht an. E r brachte es nur zum Konservator und Bibliothekar am Konservatorium. Das Publikum vergaß seine Werke, als die Sensation ihrer Neuheit verrauscht w a r ; der Mißerfolg seiner Opern, vor allem der „ T r o j a n e r " , in denen er seine Jugendbegeisterung f ü r Virgil künstlerisch ausgewertet hatte, kränkte ihn tief. Seine letzten Lebensjahre waren verbittert. Seine Selbstbiographie, eines der faszinierendsten Bücher, die von Musikern geschrieben sind, schließt mit den Sätzen: „ I c h stehe in meinem einundsechzigsten Lebensjahre; ich habe weder Hoffnungen, noch Illusionen, noch weittragende Gedanken mehr; mein Sohn ist immer fern von mir; ich bin allein; meine Verachtung der Dummheit und Unredlichkeit der Menschen, mein Haß gegen ihre abscheuliche Roheit ist auf dem Gipfel; und jede Stunde sage ich zum T o d : W a n n du willst. W a s wartet er noch?" E r kam am 8. März 1869. So sehr Berlioz' Kunst im Gesamtbild der nationalen M u sikentwicklung als Ausnahme erscheint, so ist sie doch im Wesen echt französisch. Berlioz ist absoluter Musiker von unvergleichlicher K r a f t und Originalität der Erfindung. A b e r zur Musik gehört ihm, wie später dem Franzosen Debussy, als ursprünglicher, nicht nachträglich hinzugefügter Bestandteil der K l a n g , die instrumentale Farbe. Darin beruht das Geheimnis und die elementare K r a f t seines Kolorismus, der unmittelbar auf die Farbenkunst des Impressionismus hinweist. Farbe ist ihm nicht zusätzlicher Schmuck, sondern primäre Substanz; er gehört einem Volke und einem Jahrhundert an, aus dem nicht nur Debussy, sondern auch Delacroix, Manet und R e n o i r hervorgingen. Der zeichnerische Stil des klassischen Orchesters, der sich im wesentlichen auf das „ f a r b l o s e " Streichquintett stützte, w a r überwunden. Bläser, Harfen, j e d e Art v o n Schlagzeug wurden selbständige Farbwerte. Die besonderen Wirkungen der Instrumente, das Flageolet der Saiteninstrumente, die Flatterzungen der Flöten, die D ä m p f u n g der Blechbläser wurden ausgenutzt; Hörner und T r o m peten, durch die Erfindung der Ventile ungleich beweglicher und ausdrucksfähiger geworden als die alten Naturinstrumente, wurden zu gewichtigen Stimmen der tönenden G e meinschaft. N o c h ein anderes kam dazu: Musik w a r f ü r B e r -
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l i o z untrennbar v e r b u n d e n mit d e m Erlebnisanlaß, der sie h e r v o r r i e f , m o c h t e er ein G e f ü h l , ein B i l d , ein V o r g a n g sein. D a m i t , daß er den Erlebnisgehalt seiner M u s i k d e m H ö r e r d u r c h U b e r s c h r i f t e n oder literarische E i n f ü h r u n g e n mitteilte, w u r d e B e r l i o z z u m B e g r ü n d e r oder vielmehr Erneuerer der Prog r a m m u s i k , einer v i e l u m k ä m p f t e n G a t t u n g der romantischen M u s i k , a u f d e r e n B e s o n d e r h e i t n o c h n ä h e r einzugehensein w i r d . In allem b e z e u g t sich der U r r o m a n t i k e r . R o m a n t i s c h ist die A r t seines Schaffens, die j e d e s W e r k als eine E i n m a l i g k e i t hinstellt, eine u n w i e d e r h o l b a r e , w e i l aus d e m Erlebnis g e b o r e n e Individualität. R o m a n t i s c h ist die Stellung z w i s c h e n den K ü n s t e n , die h o h e E m p f ä n g l i c h k e i t f ü r E i n d r ü c k e der D i c h t u n g u n d der N a t u r , s o w i e die V e r m i s c h u n g u n d V e r s c h l e i f u n g der Formen u n d A u s d r u c k s m i t t e l , das Vermitteln z w i schen Sinfonie, O r a t o r i u m u n d O p e r . R o m a n t i s c h ist auch der g r o ß e A n l a u f , den dieses Schaffen nimmt, die eruptive P r o d u k t i v i t ä t der J u g e n d j a h r e , der kein W a c h s e n u n d e i g e n t liches V o l l e n d e n n a c h f o l g t . Es ist eine französische F o r m der R o m a n t i k , die nicht so sehr das Sinnige, Träumerische, als das Phantastische u n d Exaltierte, das D ü s t e r e , Grausige u n d Satanische sucht, die v o m m a ß v o l l e n klassischen Ideal d u r c h B e v o r z u g u n g scharfer u n d greller K o n t r a s t e , gewaltsamer U b e r s t e i g e r u n g abrückt u n d die, den ästhetischen T h e o r i e n eines V i c t o r H u g o entsprechend, auch das B ö s e u n d das N a t u r a l i stisch-Häßliche unter die G e g e n s t ä n d e der K u n s t einbezieht. U n t e r den W e r k e n steht die Phantastische Sinfonie an erster Stelle, in der der Sechsundzwanzigjährige mit der intuitiven Sicherheit des romantischen Genies sein ganzes menschliches und künstlerisches Selbst in eine g r o ß e Form gegossen hat. Formal w a h r t das W e r k den T y p u s der klassischen Sinfonie, durch V e r d o p p e l u n g des Scherzosatzes in W a l z e r und Marsch zur Fünfsätzigkeit entwickelt. A b e r es füllt die Form mit einem Gehalt v o n revolutionärer N e u h e i t und glühender S u b j e k t i v i tät, den der K o m p o n i s t durch ein ausführliches literarisches P r o g r a m m dem Hörer mitzuteilen f ü r nötig erachtet hat. In das Leben des Künstlers tritt, w i e ein Blitzschlag, der die Jünglingsträume zerreißt, die Liebe. D a s Bild der Geliebten verkörpert sich in einem schwärmerischen Hauptthema, der „idéefixe", die sich als inneres B a n d durch alle f ü n f Sätze schlingt. D e r
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erste Satz schildert die Stürme der unglücklichen Leidenschaft und verklingt in R e s i g n a t i o n und milder religiöser T r ö s t u n g ; das Treiben der W e l t malt der z w e i t e , ein sprühender W a l z e r , die R u h e der N a t u r der herrliche dritte, eine Pastoralmusik v o n Beethovenschem Geiste. D a n n w i r d das Geschehen zum T r a u m . D e r Künstler träumt, er w e r d e als M ö r d e r der Geliebten zum R i c h t p l a t z geführt. Ein Marsch geleitet ihn, in dessen grellen K l ä n g e n und w i l d e n R h y t h m e n das Grauen der R e v o l u t i o n , der Blutrausch des St.-Greve-Platzes nachklingt; das R i c h t b e i l schneidet, naturalistisch k r a ß dargestellt, den letzten Gedanken an die Geliebte ab. D e r Schluß malt die R a c h e des Künstlers an seinem Ideal, das sich ihm verschließt. E r zieht das hohe B i l d der angebeteten Frau in den Staub. D a s Liebesthema, karikiert, w i r d zum frechen R e f r a i n eines Hexensabbats. U n h e i l i g e , mystische Glocken, das Dies irae als T h e m a der schwarzen M e s s e — ein Inferno, w i e es die M u s i k vorher nicht kannte, die furchtbarste E m p ö r u n g des individualistischen, romantischen Gefühls gegen den alten heiligen Geist der M u s i k ; ein W e r k , dessen T r a g i k metaphysischer A r t ist, w e i l es den A u f r u h r des Menschen gegen die alten göttlichen B i n d u n g e n , die geistesgeschichtliche Schuld des neunzehnten Jahrhunderts, mit s c h o nungsloser W a h r h a f t i g k e i t enthüllt. D i e Phantastische Sinfonie ist eine der g r o ß e n , v o n d ä m o nischer N o t w e n d i g k e i t diktierten T a t e n der R o m a n t i k ; w a s B e r l i o z außerdem s c h u f , ist fesselnde, o f t erlesen s c h ö n e M u sik. D i e aus B y r o n s c h e n A n r e g u n g e n h e r v o r g e g a n g e n e Sinf o n i e „ H a r o l d in Italien", u r s p r ü n g l i c h als B r a t s c h e n k o n z e r t f ü r den g r o ß e n italienischen G e i g e r Paganini k o n z i p i e r t , v e r harrt mehr im Pittoresken.. Frucht der Shakespearebegeister u n g ist die dramatische Sinfonie „ R o m e o u n d J u l i a " , eine R e i h e f a r b e n g l ü h e n d e r Szenen u n d S t i m m u n g s b i l d e r f ü r Orchester, C h o r u n d Solisten; am bekanntesten sind die drei reinen Orchestersätze g e w o r d e n , das rauschende Fest bei C a pulet, die nächtlich-schwärmerische Liebesszene u n d das sprühende, k l a n g s c h i l l e r n d e S c h e r z o v o n der Fee M a b . G o e t h e h u l d i g t das O r a t o r i u m „ F a u s t s V e r d a m m u n g " (1846), das die Bilder der D i c h t u n g mit leuchtenden Farben übermalt u n d mit Fausts w i l d e m H ö l l e n r i t t in einen T r i u m p h des Satanischen ausklingt. Das R e q u i e m (1837), das f e r n j e d e r g o t t e s dienstlichen B e s t i m m u n g den kirchlichen T e x t a u f seinen B i l d -
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u n d Phantasiegehalt hin auswertet, ist b e r ü h m t g e w o r d e n d u r c h die T o n m a l e r e i des Dies irae, in dem vier a u f v e r s c h i e denen E m p o r e n aufgestellte Blasorchester die Schrecken des J ü n g s t e n Gerichts v e r k ü n d e n . Z u einer R e i h e ausdrucksstark e r O u v e r t ü r e n ( V e h m r i c h t e r , K ö n i g Lear, R ö m i s c h e r C a r neval) u n d Orchesterlieder (die A b n e i g u n g g e g e n das K l a vier f ü h r t e B e r l i o z zu dieser später v i e l g e p f l e g t e n G a t t u n g ) k o m m e n die O p e r n : das lebensprühende, v o n starkem R e naissancegeist erfüllte Künstlerdrama v o n „ B e n v e n u t o Cellini' ' (1838), das f e i n k o m i s c h e Spiel v o n „ B e a t r i c e u n d B e n e d i c t " , eine Variante v o n Shakespeares „ V i e l Lärm u m N i c h t s " (1862) u n d die u m eine späte Klassizität ringenden „ T r o j a n e r " , eine g r o ß angelegte, in z w e i A b e n d e geteilte D r a m a t i sierung der V e r g i l s c h e n A e n e i s , die in der K o n z e p t i o n als eine romanische E n t s p r e c h u n g z u m germanischen M y t h o s des W a g n e r s c h e n N i b e l u n g e n r i n g e s erscheinen w i l l , in der W i r k u n g aber an der Diskrepanz v o n g r o ß e r Idee u n d k o n v e n t i o neller A u s f ü h r u n g scheitert. D i e Phantasie des Sinfonikers Berlioz, in der Freiheit der absoluten M u s i k u n e r s c h ö p f l i c h an E r f i n d u n g , w a r in der Realität der B ü h n e n w e l t b e f a n g e n u n d g e f e s s e l t ; die G e b u r t des Dramas aus der sinfonischen M u s i k war Richard Wagner
vorbehalten.
• A n dieser Stelle, a u f d e m B o d e n des romantischen Paris, ist eine E r s c h e i n u n g einzuordnen, die z u den abseitigen, trotz aller oberflächlichen Vertrautheit u n d Popularität rätselhaftesten der M u s i k g e s c h i c h t e g e h ö r t : Frédéric C h o p i n . C h o p i n w a r der Sohn eines in Polen als Sprachlehrer lebenden Franzosen und einer aus verarmter Adelsfamilie stammenden Polin und w u r d e am 22. Februar 1810 in der N ä h e v o n W a r schau geboren. Seine Jugend w a r die einer genialen B e g a b u n g : Klavierunterricht im frühesten Kindesalter, öffentliches A u f treten im achten Lebensjahre. Ebenso früh regte sich der Improvisator und K o m p o n i s t ; er erfuhr eine gründliche dreijährige A u s b i l d u n g durch den deutschen Musiker Joseph Eisner. D i e S t i m m u n g der "Warschauer Jugendjahre legte den G r u n d klang seines Lebens fest: die Salons der Gesellschaft sind seine Heimat, Mäzene und Künstler, v o r allem Literaten, sein U m -
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gang, Frauen spielen früh mit hinein. Schon in diese frühe Warschauer Zeit fallen Kompositionen, die seinen R u h m in die Welt tragen; Schumann begrüßte sein W e r k 2, die Variationen über Mozarts „La ci darem la matte" mit den W o r t e n : „ H u t ab, ihr Herren, hier ist ein Genie". Zwanzigjährig verließ Chopin seine Geburtsland. Im Herbst 1 8 3 1 traf er in Parisein, das nun seine zweite Heimat wurde. B a l d stand er in der Reihe der großen Künstler, im U m g a n g mit Liszt, Berlioz, Bellini, Meyerbeer, mit Musset, Gautier, Dumas, Heine. Hier entfaltete sich der ganze Zauber seines Spiels, von dessen zartem und morbidem R e i z auch die Anspruchvollsten unter den Zeitgenossen mit Enthusiasmus berichten. Hier entstanden seine bedeutenden Werke, die Nocturnes, Impromptus, Balladen, die Fantasie, die Etüden, Polonäsen, Walzer und M a zurken, die Sonaten. Achtzehn Jahre dauerte der Aufenthalt in der Weltstadt, durch Reisen nach Deutschland, nach dem Süden, nach England, unterbrochen. Aber der dunkle Unterton dieser Jahre ist Krankheit ; ein Lungenleiden verzehrte langsam C h o pins Leben. In die Mitte dieser Zeit fällt seine Verbindung mit der Dichterin George Sand, die den Leidenden auf ihrem Landsitz Nohan pflegte. Ihre Berichte zeugen von der furchtbaren Überreizung und Exaltation, in die sich dieses Künstlerleben gegen sein Ende hineinsteigerte ; aus Ängsten und Halluzinationen, in denen sich ihm die Grenze von T o d und Leben verwischte, entstand das schwermütige Des-Dur-Präludium : „ E r sah sich in einem See ertrunken ; schwere, eisige Wassertropfen fielen ganz gleichmäßig auf seine Brust, und als ich ihn darauf aufmerksam machte, wie die Regentropfen gleichmäßig auf das Dach fielen, leugnete er, sie gehört zu haben." Die Kräfte seines Lebens nahmen ab. N u r noch ungern und selten spielte er öffentlich; nur in kleinem Kreise, unter Freunden und verstehenden Frauen, in der heimlichen und überreizten Stimmung der Mitternacht war er ganz er selbst. A m 17. Oktober 1849, noch nicht vierzigjährig, von einer Reise nach England zurückgekehrt, starb er in Paris. Eine Arie seines ihm längst vorangegangenen Freundes Bellini, welche die Gräfin Delphine Potocka an seinem Totenbette sang, war sein letzter musikalischer Eindruck; unter ungeheurer Beteiligung, wie ein Fürst, wurde er auf dem Friedhof von Père Lachaise an der Seite Bellinis begraben. Das ist die biographische Szenerie der Chopinschen Kunst. Vieles ist daraus erklärt, ihre Spannung v o n Ost und W e s t , v o n Glanz und T i e f e , ihre Stellung im Gesamtbereich der ro-
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mantischen Geisteswelt. Sie steht zwischen Schumann und Liszt, sie hat die Seelentiefe des Einen und das Weltmännische des Anderen, sie erschüttert durch Traum und Qual, aber sie liebt es, das Dunkle in ein glänzendes G e w a n d zu kleiden. Ihre Formenwelt grenzt an die Schuberts, Schumanns. Das einsätzige Charakterstück, in einfacher Liedform gehalten, überwiegt. Es heißt Impromptu, Berceuse, Barcarole; es verdunkelt sich zum Nachtstück, zum Nocturne — dieser Schöpf u n g der traumsüchtigen R o m a n t i k , die der Ire J o h n Field, nach Petersburg verschlagen, der Schwermut des Ostens abgewonnen hatte. Es weitet sich zur Phantasie, in die romantische, freigeformte Sonate. Gesellschaftlichen Geistes ist der Walzer, der v o n W e b e r in die Kunstmusik eingeführt war, der nun eine unerhörte Brillanz gewinnt. V o m Osten her klingen die klirrenden R h y t h m e n der ritterlichen Polonaise und der mutwillige Dreivierteltakt der Mazurka, beide auch in der westlichen Musik nicht neu, sondern von der barocken Suitenkunst bis zur vormärzlichen Generation der Moscheies, Kalkbrenner immer wieder auftauchend, von Beethoven und von W e b e r gepflegt. A u c h die harmonische Struktur der Chopinschen Kunst liegt auf der Linie der allgemeinen E n t wicklung. Die Chromatik ist ihr bevorzugtes Stilmittel. Sie spinnt ihre Fäden bis zu dem späten Mozart, in dessen zarten und schwermütigen Klavierdichtungen das Gleiten der Halbtöne eigenen Sinn gewann. Sie findet Stütze in der Terzklangharmonik Schuberts, die sich v o n der L o g i k der Dominantverhältnisse loslöst und die weichere, fließende Klangwelt der Medianten erschließt. Als geistige Gesamterscheinung steht Chopin fest im französisch-deutschen Kulturkreis, musikalisch gebildet von Bach, Mozart und den Wiener Nachklassikern, den literarischen Gärungen und Strömungen Frankreichs eng verbunden: der grüblerische, exzentrische Subjektivist der R o m a n t i k , er selbst in jeder N o t e seines Werkes, ein Genie des Ursprünglichen wie Schumann, am Klavier der unnachahmliche Interpret seiner Schöpfungen, die an den Z a u ber seines improvisatorisch-somnambulen Spiels gebunden schienen und doch, sich loslösend von ihrem Schöpfer, in die Zeitlosigkeit der großen Kunst eingingen. 6 Oehlmann, Musik des 19. Jahrh.
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Die H o c h r o m a n t i k
Das ist der C h o p i n der westlichen R o m a n t i k . A b e r bei allem Vertrauten bleibt ein R e s t des Geheimnisvollen in seinem W e r k , das o f t wie eine f r e m d e , v e r w o r r e n e , d u n k l e Sprache klingt, etwas Chaotisches, W i l d e s , U n g e f o r m t e s u n d U n f o r m b a r e s , das die M a ß e u n d Grenzen überflutet. D e n n dieser kultivierte Pariser w a r zugleich ein K i n d des O s t e n s , ein A b g e s a n d t e r eines anderen, f e r n e n Seelentums, das sich nicht in den Lebemkreis des W e s t e n s e i n f ü g t . Damit rückt C h o p i n in einen anderen Z u s a m m e n h a n g , in das W e r d e n der nationalen M u s i k k u l t u r e n , das auch zu den Ereignissen u n d W i r k u n g e n der R o m a n t i k g e h ö r t . E r w i r d zum V o r l ä u f e r einer E n t w i c k l u n g , die sich erst in der zweiten H ä l f t e des J a h r h u n d e r t s erfüllen sollte, zum V o r b o t e n der M u s i k des Ostens, deren gewaltiger Klang bald u n ü b e r h ö r b a r an der Grenze des alten E u r o p a erscholl. DIE H O C H R O M A N T I K Die Krise des romantischen Stils und die
Programm-Musik
In verschiedenen gleichlaufenden, aber v o n e i n a n d e r g e trennten S t r ö m u n g e n w a r der Impuls der j u n g e n R o m a n t i k d u r c h die europäischen Musikländer dahingebraust, seine T r ä g e r verzehrend u n d eine E r m a t t u n g der Geister z u r ü c k lassend. A b e r w ä h r e n d in der D i c h t u n g u n d Malerei das r o mantische Feuer nach d e m mächtigen A u f f l a m m e n in den ersten J a h r z e h n t e n des J a h r h u n d e r t s rasch erkaltete, w a r in der M u s i k seine S e n d u n g n o c h nicht erfüllt. Es zeugt f ü r die tiefere Beziehung, die zwischen der M u s i k u n d den geheimnisvollen K r ä f t e n romantischen Seelentums b e s t e h t , daß diese K r ä f t e nach dem Abklingen des ersten A u f b r u c h s sich zu neuer, größerer Darstellung sammelten, daß das romantische K u n s t w e r k sich in der M u s i k zu einer W e i t e u n d einem Grad der V o l l e n d u n g entwickelte, die in anderen K ü n s t e n , auch gemessen an Erscheinungen wie Kleist, wie Delacroix u n d Caspar D a v i d Friedrich o h n e Beispiel sind. K o n n t e man bisher mit Goethe das R o m a n t i s c h e f ü r das A u f l ö s e n d e , das A b seitige u n d Gefährliche erklären, so melden sich n u n die bindenden u n d a u f b a u e n d e n Kräfte, deren Stärke denen des
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Barocks und der Klassik zum mindesten ebenbürtig ist; bei Bruckner erhält das romantische Musikwerk, ohne seine innere Gespanntheit einzubüßen, eine Geschlossenheit und R u n d u n g , die der der Bachschen Fuge und der Beethovenschen Sinfonie in nichts nachsteht. Jene auflösenden Kräfte waren darum nicht erlahmt, ja ihr gärendes Drängen verstärkte sich noch, durchsetzte die klare Diatonik mit chromatischen Zwischenwerten, deren Fließen und Gleiten die B e ziehung auf ein tonales Zentrum immer mehr verschleierte; Tristan (1865) und Elektra (1909) sind weitere Stationen eines W e g e s , der bis zur Grenze der A u f l ö s u n g des Tonartbegriffs, des zentralen Ordnungsprinzips der Musik führte. A b e r mit ihnen wuchsen auch die Energien der Sammlung und K o n zentration. Der Verschleierungstechnik des Tristanvorspiels, das seinen Grunddreiklang nicht ein einziges Mal erklingen läßt, stehen die klaren und eindeutigen Satzschlüsse Bruckners gegenüber, die dem Hörer das Tonartgefühl nach den weiten Abschweifungen des Satzverlaufs durch langes, hartnäckiges Verweilen auf dem strahlenden Dur-Dreiklang der Grundtonart geradezu einhämmern. U n d es liegt in der V e r schärfung der Gegensätze, in der gesteigerten Gewalt der kämpfenden Energien begründet, daß der hochromantische Formwille sich imponierender, monumentaler auswirkt als der früherer Stile. Es entsteht eine neue A r t romantischer Meisterschaft, die immer darauf gerichtet ist, das Einmalige zu leisten, das Ungeheure zu bezwingen, und eine gewaltige Summe v o n Lebensenergie und Formkraft in ein einziges überdimensionales W e r k speichert. Sie ist der äußerste Gegensatz zur barocken Handwerksmeisterlichkeit, die mit Gelassenheit und nie versagender Fertigkeit W e r k auf W e r k formte. Sie ist auchjeweils nur den wenigen genialen Naturen erreichbar, in denen die ausnahmehaften Kräfte des Lebens und Bildens zusammenkamen; die Menge der Durchschnittskünstler unterlag der zur Unbändigkeit gewachsenen Eigenspannung des tönenden Materials, das unter ihren schwächeren Händen zu diffusen Formen auseinanderfloß. Damit aber nahm das Romantische einen anderen Sinn an. Es war nicht mehr das grenzenlos Verfließende, über eine skizzenhafte 6*
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Form hinaus ins Unendliche Weisende. Es gab eine romantische Vollendung, eine Abgrenzung in weitestem R a u m . Freilich war sie, deren ungeheure Maßstäbe sich zudem nur schwer dem Betrachter erschlossen, auf der anderen Seite erkauft durch eine immer deutlicher spürbare Unzulänglichkeit des Durchschnittsschaffens, die geeignet war, die romantische Kunst überhaupt in Verruf zu bringen. Noch eine andere, ästhetisch höchst bedeutsame Erscheinung gehört zum Bilde der Hochromantik; die Spaltung der Musik in zwei Richtungen, eine „absolute", in sich beruhende, und eine darstellende, die als „Programmusik" bezeichnet wurde, weil sie den Hörer durch ein dem W e r k beigegebenes literarisches Programm über die dargestellten Inhalte unterrichtete. Der Streit der beiden Richtungen, der mit größter Schärfe geführt wurde und Schaffende und Theoretiker in zwei feindlichen Lagern einander gegenüberstellte, wurde zur bewegenden künstlerischen Frage des Jahrhunderts. Dennoch ist die darstellende Musik, die so viel Staub aufwirbelte, keineswegs erst eine Erfindung der Romantik. Immer waren neben den lyrischen auch die plastischen und malerischen Tendenzen der Tonkunst gepflegt worden, immer hatte sie nicht nur dem Ausdruck inneren Erlebens, sondern auch der Schilderung von Bildern und Vorgängen gedient. Nicht nur die Sturm- und Gewittermusiken der Oper und der Instrumentalmusik, die murmelnden Bäche und Vogelstimmen der Arienbegleitungen sind hier zu nennen: die darstellende Symbolik durchdrang die gesamte barocke Tonkunst mit ihren Zeichen und charakteristischen Tonformen, die den Bildgehalt des Textes — auch, wie in Bachs Orgelchorälen, des nur vorgestellten — in eine entsprechende „anschauliche" Klanggestalt übersetzten. Der geistige Impuls der Klassik hatte diese naive Klangsinnlichkeit in Vergessenheit geraten lassen; aber schon in der Beethovenschen Instrumentalkunst tauchte sie, zu einer Symbolik der Ideen vertieft, wieder auf, und in der großartigen Musiklandschaft der Pastoralsinfonie erstarkte sie am Bilde der Natur, die für das neue Jahrhundert als verehrungswürdige, göttliche oder dämonische Allmacht fast an die Stelle der alten Glaubensbegriffe trat, zu neuer
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Existenz; der murmelnde Bach, die lieblichen Stimmen der Vögel, die im Tanze wirbelnden Landleute, das grollende, stürmende Gewitter, die erfrischte, sich im Abendlichte dehnende Landschaft — das alles w i r d mit fast niederländischer Wirklichkeitstreue geschildert. Was früher mehr beiläufig, einem zu versinnbildlichenden geistigen Zusammenhang u n tergeordnet oder in den kleineren Ausmaßen des Genrebildes erschien, w i r d nun Selbstzweck: das Musikstück w i r d zum Gemälde. Die malerischen Mittel der romantischen Musik, Harmonik u n d Instrumentalfarbe, werden breit u n d flächig eingesetzt, es beginnt der Prozeß einer Materialisierung des Klanges, der als Widerspruch u n d Ausgleich neben den vergeistigenden Tendenzen der R o m a n t i k herläuft u n d endlich aus ihr u n d über sie hinausführt. Nach W e b e r , der in seinen Ouvertüren Tongemälde v o n wundervoller Bild- u n d Stimmungskraft schuf, u n d Schumann, der seine Klavierpoesien mit einer mehr versteckten Symbolik durchsetzte, war es der französische Musikgeist, der mit radikalem Impuls die Frage der darstellenden Musik zur Krise zuspitzte. Von jeher überwogen in der französischen Musik die darstellenden u n d charakterisierenden T e n d e n zen; die Klaviermusik Couperins u n d Rameaus mit ihren zarten Stimmungsbildchen u n d scharfumrissenen Charakterstudien bezeugt das ebenso wie die dramatische Technik der französischen Oper mit ihrer Vorliebe f ü r Kolorit u n d Situationsschilderung. Bei Berlioz brachen diese nationalen Forminstinkte mit Vehemenz durch. Seine Musik ist durch u n d durch Bild, von malerischen u n d dichterischen Vorstellungen angeregt u n d gänzlich v o n ihnen durchtränkt. Der Klang wird als Träger der bildhaften Suggestion zu einem K u n s t mittel erster O r d n u n g ; er wird zur Farbe, die in allen Graden u n d T ö n u n g e n v o n leuchtender Glut bis zu schwärzestem Schatten aufgetragen wird. Der Instrumentalklang ist dieser Musik so wesentlich wie Melodie u n d H a r m o n i k ; man kann die Berliozschen Partituren nicht auf das Klavier übertragen, ohne sie zu entstellen. Eine unerschöpfliche Klangphantasie durchdringt das einfache Schema des klassischen Orchestersatzes mit seinen Gruppen der Streicher, Holz- und Blech-
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bläser und entwickelt es zu ungeahntem R e i c h t u m . Die Streicher werden durch vielfache Teilung aufgespalten u n d durch D ä m p f u n g u n d Flageolett in sich schattiert, der Klangraum der Holzbläser wird ausgeweitet, die Blechbläser werden durch die E r f i n d u n g der Ventile, die ihnen zu den N a t u r tönen auch alle chromatischen Zwischentöne anzublasen gestatten, zu Melodieinstrumenten, deren kräftiger Farbenreiz dem Satz glänzende Lichter aufsetzt; Harfen u n d vielfältiges Schlagzeug legen sich wie ein glitzernder Schmuck über das reine Klanggewand. Der Komponist greift Szenen, B i l d e r u n d Charaktere auf, die ihn ansprechen, u n d reiht sie als Impressionen in sinfonischem oder oratorienhaftem Zusammenhang nebeneinander. Aber da der Musik bei der Darstellung dramatischer Vorgänge u n d poetischer Bilder doch das Letzte an Deutlichkeit versagt ist, sieht er sich genötigt, der Phantasie des Hörers durch ein dem W e r k e beigegebenes literarisches Programm die R i c h t u n g zu weisen. Franz Liszt festigte die neue Kunst zum Stil. Er f a n d die Form der sinfonischen Dichtung, eine Weiterbildung der dramatischen Ouvertüre, die auch die Satztypen der klassischen Sinfonie, die Folge Allegro — Andante Scherzo — Finale in freier Verschleifung in sich aufnahm, aber in ihrem A u f b a u von dem jeweils zugrunde liegenden dichterischen Gedanken bestimmt war. Ging es ihm, wie der N a m e der Form sagt, unter den Gestalten eines Faust oder Tasso, eines Orpheus oder Prometheus vor allem um die Darstellung dichterischer, das heißt gedanklicher Inhalte, u n d näherte sich sein Musizieren wieder der Beethovenschen Ideenkunst an, so triumphierte mit Richard Strauß ein sinnenhafter Realismus, der die Musik gänzlich zur Malerei des Gegenständlichen machte, der die alpine Hochgebirgslandschaft ebenso bereitwillig zum Stoff nahm wie die häusliche W e l t der Kinderstube, u n d — in der Schilderung von Eulenspiegels oder D o n Quixotes Streichen — äußere Vorgänge mit einer Anschaulichkeit nachzeichnete, die den H ö r e r das „ P r o g r a m m " , auch w o es verschwiegen wird, unschwer aus den T ö n e n heraushören läßt. Zugleich banden sich die malerischen Kräfte der Musik in den hauchzarten, jedes musikalische Formgerüst
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auflösenden Klangphantasien des Franzosen Debussy in der Nachfolge Hector Berlioz' zu einem Stile, der als Impressionismus schon auf der Grenze der romantischen Kunst steht. Das geschichcliche Bild dieser eigenartigen Kunstrichtung, wie es sich heute im Zusammenhang darbietet, gibt uns nicht das R e c h t , die Programmusik als eine Kunst geringeren Grades abzutun. Sie ist vielmehr eine gesunde und starke R e a k tion auf die Vergeistigung der T o n k u n s t , welche die R o m a n tik bewirkt hatte. Die Berührung mit der „ W e l t " hat befruchtend auf die Klangphantasie gewirkt, die Durchdring u n g der tönenden Materie mit den Formen u n d Wesen der Erscheinungswelt hat eine plastische, von Lebensfülle strotzende Klangwelt geschaffen, die sich hell und strahlend neben der geheimnisvollen Unendlichkeit der transzendenten Musik behauptet. Dazu ist zu bedenken, daß auch die andere, die „absolute" Musik keineswegs Klang an sich ist, sondern dem Ausdruck seelischer Vorgänge dient, daß auch sie ihre reiche u n d deutliche Symbolik besitzt, die von der darstellenden nicht von G r u n d aus verschieden, sondern nur durch B e ziehung auf innere Gegenstände vertieft ist; auch sie kennt die tönenden Analogien f ü r B e w e g u n g u n d R u h e , Licht u n d Dunkel, Schwere u n d Leichtigkeit, aber sie malt mit ihnen das innere Bild der Seele. So erscheinen uns die beiden feindlichen Richtungen weniger als Gegensätze denn als zwei einander ergänzende Seiten derselben großen Musik, die eine der Sinnenwelt zugewandt, die andere auf eine Sphäre höheren geistigen Seins gerichtet, eine Bestätigung der Wackenroderschen Erkenntnis von der „orakelhaft-zweideutigen Dunkelheit" der Musik, die, schwankend zwischen Heiligkeit u n d Sinnenzauber, bald „in edlem Stolz zum Himmel hinaufstrebt", bald einer „irdischen Seligkeit entgegendrängt". Franz
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Damit diese neue, größere Phase der romantischen Musik anbrechen konnte, bedurfte es einer Zusammenfassung der in den verschiedenen Musikländern getrennt wirkenden Kräfte zu einer europäischen Einheit. Das war eine musikgeschichtliche Aufgabe, die nur ein Geist von größter Spannweite er-
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füllen konnte: Franz Liszt, der in U n g a r n geboren, in Paris erwachsen, von der Sonne Italiens berührt, in Deutschland sein W e r k vollendete. In ihm, der als Kind noch von B e e t hoven zum Künstler geweiht w a r und als Greis die Vollendung des Wagnerschen Schaffens überlebte, verkörpert sich wie in keinem anderen der Geist des Jahrhunderts; j e d e m Neuen und Großen aufgetan, sog er die fruchtbaren und v o r wärtsweisenden Tendenzen in sich auf und gab sie, Pädagoge aus geistiger und menschlicher Leidenschaft, an einen weiten Kreis v o n Schülern und J ü n g e r n weiter. So w u r d e er der große Anreger der musikalischen Hochromantik, dessen mittelbare geistige Ausstrahlung den unmittelbaren Eindruck seines Schaffens vielleicht noch überbot. Franz Liszt entstammt einer deutschen, niederösterreichischen Familie, die seit zwei Generationen in Ungarn ansässig war. Sein Vater Adam Liszt, Gutsverwalter im Dienste des Fürsten Esterhazy im Dorfe Raiding bei Eisenstadt, hatte schon unter Joseph Haydn im Orchester als Cellist gespielt, sein Großvater als Organist, Orchester- und Chorleiter der dörflichen Musikpflege vorgestanden. In der Nacht zum 22. Oktober 1 8 1 1 — die B i o graphien berichten, daß in ihr ein Komet sich zeigte — kam Franz Liszt zur Welt. Schon mit sechs Jahren w a r die musikalische Begabung des zarten Kindes nicht mehr zu unterdrücken. Hauskonzerte in Eisenstadt und Preßburg verschafften dem Knaben ein sechsjähriges Stipendium des Adels. N u n w i d mete der Vater, wie einst Leopold Mozart, sich ganz der Ausbildung seines genialen Sohnes. 1 8 2 1 zog die Familie nach Wien, w o Carl Czerny den jungen Pianisten unentgeltlich in der Technik seines Instruments weiterbildete und der alternde Antonio Salieri, der schon Beethoven unterrichtet hatte, seine Unterweisung in der Komposition übernahm. Der Abschluß des anderthalbjährigen Unterrichts waren zwei Konzerte, die dem Wunderkinde nicht nur den Enthusiasmus des Wiener Publikums, sondern auch die Anerkennung des sonst so zurückhaltenden Beethoven einbrachten, der den jungen Kunstgenossen auf dem Podium in seine Arme schloß. Die nächste Station war Paris, w o die Familie Liszt am Ende des Jahres 1823 eintraf. Das erste öffentliche Konzert im März 1824 in der italienischen Oper wurde zur Sensation. Die nächsten Jahre sind ausgefüllt mit Konzertreisen in Frankreich und England; auch die erste größere Komposition fällt in diese Zeit, seltsamer-
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weise eine Oper, die einzige, die Liszt geschrieben hat: der E i n akter „ D o n Sanche ou le Chäteau de l ' A m o u r " , eine unter der Aufsicht Paers angefertigte Schülerarbeit, die mit vorübergehendem E r f o l g 1825 in der Großen Oper aufgeführt wurde. Der frühe T o d seines Vaters (1827) und eine tiefe und erwiderte, aber am Widerstand einer standesbewußten Familie zerbrechende Liebe zu seiner jungen Schülerin Caroline de St. Cricq ließen die mystischen Neigungen, die von Kind auf seiner Natur zugehörten, in einer gefährlichen Krise hervorbrechen. Z w e i Ereignisse rissen ihn aus der Apathie. Das eine w a r die Julirevolution von 1830, die ihn vorübergehend in die Nähe der Saint Simonisten brachte. Das andere, ihn noch tiefer beeinflussende w a r das Auftreten des großen genuesischen Geigers Nicolo Paganini, der 1 8 3 1 zum erstenmal in Paris spielte. In diesem dämonischen Spielmann, der mit den Teufelskünsten seiner Technik und der dunklen Glut seiner Kantilene das Publikum fanatisierte, sah Liszt wie in einer Naturerscheinung den Typus des vollkommenen Virtuosen verkörpert, dem er selbst durch bewußte geistige Bemühung sich zu nähern bestrebt war. Es folgte eine Periode neuer pianistischer Arbeit, in der er sich die alles überbietende Technik schuf, die seinem maßlosen Ausdruckswillen genügen konnte. Die Literatur, an der sich diese neuartige Technik entfalten konnte, mußte er sich selbst schaffen; so beginnt in dieser Zeit mit der Übertragung von Paganinis Capricen f ü r Solovioline die Reihe seiner virtuosen Klavierkompositionen, die später, zum Teil nach tiefgreifenden Überarbeitungen, in den Sammlungen der Etüden, der „Wanderjahre" u. a. zusammengefaßt wurden. Als Liszt wieder auf dem Podium erschien, war er ein anderer geworden; das Gleichgewicht auf der schwindelnden Höhe eines unerhörten geistigen Wollens und eines unbegrenzten technischen Könnens war erreicht, der Dämon des Klaviers, der zu einer der legendarischen Größen des Jahrhunderts wurde, erschien in reiner Gestalt. Eine Wendung seines Lebens brachte die Verbindung mit der Gräfin Marie d'Agoult, einer geistvoll-lebendigen, als Schriftstellerin bekannten Frau, die, sechs Jahre älter als Liszt und Mutter dreier Kinder, ihren Gatten verließ und 1835 mit dem Geliebten nach Genf flüchtete. Der Verbindung entstammen die drei Kinder Liszts, Blandine, Cosima und der früh verstorbene Daniel. Im Jahre 1844 brachte eine wachsende Entfremdung die Trennung von der Gräfin. Bis 1848 dauerte die Zeit der großen, sich über ein Jahrzehnt erstreckenden Konzert-
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reisen, eine Epoche märchenhafter Triumphe, die den Künstler mit allen Großen seiner Zeit in Berührung brachten, deren materieller Ertrag zu einem beträchtlichen Teil der Wohltätigkeit, der Unterstützung Armer, durch Feuersbrunst und Überschwemmung Geschädigter und allgemeinnützigen Zwecken wie dem Bonner Beethovendenkmal diente. In Südrußland, nach Konzerten in Odessa und Elisabethgrad, brach Liszt sein Virtuosenleben unvermittelt ab. A u f das bewegte Jahrzehnt äußerer Wirksamkeit, das ihn zum Virtuosen von europäischem R a n g gemacht hatte, folgte ein Jahrzehnt selbstgewählter B e schränkung als Hofkapellmeister des Großherzogs Karl A l e x ander und seiner Gattin Maria Pawlowna in Weimar. Hier im engen Kreise entfaltete sich erst die ganze Weite seiner Persönlichkeit. Als Dirigent verhalf er, neben manchen anderen, Richard Wagner zum Erfolge; 1850 leitete Liszt die erste A u f führung des „ L o h e n g r i n " , dessen Partitur ihm der politisch Verfolgte anvertraut hatte. Als Komponist eroberte er sich den weiten Klangraum und die großen Formen des Orchesters; die Reihe der sinfonischen Dichtungen, die Faust- und Dantesinfonie entstanden. Als Schriftsteller trat er f ü r die Ideen der neuen Kunst und für die Werke seiner Freunde ein. Endlich begann seine Wirksamkeit als Lehrer, die eine Schule großer Pianisten bildete. Die Altenburg, sein Wohnsitz bei Weimar, wurde zu einem Treffpunkt des geistigen Deutschland, wie es früher das Haus Goethes gewesen war. Gefährtin dieser Jahre war die Fürstin Caroline von Sayn-Wittgenstein, die den Künstler noch während seiner Virtuosenfahrten auf ihren B e sitzungen bei Odessa kennengelernt hatte und ihm nach Weimar gefolgt w a r ; eine hochgebildete, geistig und seelisch bedeutende Frau, die als verstehende Partnerin sein Wirken und Leben begleitete. Liszts Weimarer Operndirektion endete mit einem Mißklang; seine Gegner benutzten im Jahre 1858 die erste A u f f ü h r u n g des von ihm befürworteten und einstudierten „Barbier von B a g dad" von Peter Cornelius zu einem Theaterskandal, worauf der Meister tiefgekränkt seine Entlassung forderte. Bis zum Jahre 1 8 6 1 , in dem der 1859 von ihm gegründete „Allgemeine Deutsche Musikverein" zum ersten Male zusammentrat, blieb er auf der Altenburg. I11 den folgenden Jahren lebte er in R o m — hier empfing er 1865 die niederen Priesterweihen—, in Budapest und seit 1869 wieder in Weimar, jetzt als Privatmann und Lehrer in den bescheidenen Räumen der Hofgärtnerei, w o sich ein weiter Schülerkreis um ihn versammelte; fast alle bedeutenden Piani-
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sten des endenden Jahrhunderts, August Stradal, Eugen d ' A l bert, Conrad Ansorge, Emil Sauer, Alexander Siloti, Frederic Lamond und viele andere genossen seine unmittelbare Unterweisung, die stets in zwanglosem Zusammensein eines größeren Kreises erteilt wurde. Auch diese späten Jahre, in denen der „ A b b é " Liszt ganz zum weisen, gütigen und überlegenen Meister, zum schlichten, dem Glanz der Weltlichkeit entwachsenen Menschen reifte, waren noch von weiten Kunstreisen bis nach Frankreich und England unterbrochen. Als er 1886, schon kränkelnd, als Gast seiner Tochter Cosima, der Gattin Richard Wagners, in Bayreuth weilte, befiel ihn eine Lungenentzündung. Nach einer Aufführung des Tristan, die er, schon fiebernd, bis zum Ende anhörte, legte er sich nieder; seine immer noch gewaltige Natur rang schwer mir demTode.derihn am 3 1 . Juli 1886 gegen Mitternacht überwältigte. E r wurde auf dem Friedhofe zu Bayreuth nach der Ordensregel der Franziskaner begraben. Liszt verkörpert den romantischen Geist des Jahrhunderts in umfassender Gestalt. Seinem nationalen Wesen nach ist er Europäer, wie es seit Beethoven niemand gewesen war, aber er ist es auf realistischere Weise, nicht aus dem Anspruch des völkerverbindenden Geistes, sondern aus tatsächlicher V e r bundenheit mit vielen Volkstümern; sein deutsches Wesen hatte von Frankreich und Italien tiefe Bildungseinflüsse empfangen, zu seinem Geburtsland U n g a r n wahrte er eine lebendige Sympathie. Seine künstlerische Persönlichkeit ist am besten v o n ihren Grundlagen aus, dem Spielmannstum, zu verstehen. E r begann als Virtuose, dem es darum zu tun w a r , durch die Künste der instrumentalen Technik und der Improvisation unmittelbar und augenblicklich auf sein Publik u m zu w i r k e n ; sein Verhältnis zur M u s i k w a r damit v o n vornherein ein ursprüngliches, untheoretisches. Liszts Schaff e n begann im Dienste eines emanzipierten Spielwillens; er beschwor die Geister der Musik nicht um ihrer selbst willen, sondern als Spielball seiner virtuosen Willkür, die die K l ä n g e und Gestalten mit wahrhaft teuflischer Lust zu funkelnden Phantasmagorien emporwirbelte. Die Größe dieser K u n s t ist nicht die erhabene Gott-Weltlichkeit der barocken Musikanten; sie bricht aus dunkleren T i e f e n empor, sie stürmt sich aus in rauschenden Klanggewittern, sie ist nicht ruhige K r a f t , sondern A u f r u h r und Wagnis, nicht Frömmigkeit, sondern
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Magie. Es ist bezeichnend, daß der j u n g e Liszt sein Publikum am meisten mit W i r k u n g e n satanischer Art faszinierte; die Stelle in seiner Phantasie über Meyerbeers „ R o b e r t der T e u fel", die den Höllenwalzer mit dem Beschwörungsthema des Dämons Bertram kombiniert, entzündete seine Hörer immer von neuem als ein B r e n n p u n k t der dunklen Flammen, die in seinem Spiel zu glühen schienen. Das Mephistophelische ist in dieser Epoche, die das kindlich-einfache Verhältnis früherer Zeiten zum Göttlichen verloren hatte, ein notwendiger Bestandteil großen u n d tiefen Menschentums. So ist auch Liszts Entwicklung, die v o m Dämonischen zum Göttlichen u n d zugleich v o m Virtuosentum zur Musik f ü h r t , als eine stete Läuterung zu verstehen. Das Religiöse, das in den W e r k e n seiner zweiten Lebenshälfte so überwiegt wie das Satanische in denen seiner Jugend, w i r d zum notwendigen Ausgleich des anderen; beides sind verschiedene Seiten derselben seelischen Substanz, Ausdrucksformen eines dem Transzendenten verbundenen Wesens, Erscheinungen der großen, sich in Gegensatzpaaren bezeugenden romantischen Antinomie. Das W e r k des Komponisten Liszt, der Ertrag eines f ü n f u n d siebzigjährigen Lebens und eines fanatischen Kunstfleißes, ist außerordentlich ausgedehnt. W i e bei allen fruchtbaren Schaffenden, wie auch bei Mozart und Schubert, ist es nicht gleichwertig in sich. Es ging hervor aus der Konzerttätigkeit des Virtuosen als Fixierung der blendenden und berauschenden Improvisationen, die dem Publikum ein neues und unerhörtes pianistisches Können demonstrieren wollten. So ist zuerst eine Werkgruppe zu betrachten, die man treffend als Spielmannsmusik bezeichnet hat. Sie umfaßt W e r k e eigener Erfindung und Bearbeitungen fremden Gutes, leichtgewichtige Virtuosen- und Salonmusik und Eingebungen von tiefem Ernst und hoher Schönheit. Unter den Bearbeitungen nehmen die Opernphantasien eine bedeutende Stelle ein. Sie entstanden aus dem Bestreben des Pianisten, die beliebtesten Melodien der italienischen und französischen Erfolgsopern seinem Publikum in klavieristisch glänzender Aufmachung darzubieten, aber sie wuchsen weit über diesen Zweck hinaus zu Tongemälden, deren Pathos und dramatische Schlagkraft die originale Fassung der Musik oft übertraf: die Phantasien über Bellinis N o r m a und N a c h t w a n d lerin, Donizettis Lucia und Lucrezia Borgia, Mozarts Don Juan
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sind großartige Charakterbilder, welche die dramatischen Grundkräfte der Opern in packender Gegenüberstellung und Verkettung der Themen musikalisch ausspielen und mit den Gluten romantischer Dämonie erhitzen In kleineren, gefälligen Formen halten sich die Bearbeitungen Rossinischer Melodien in den „Soirées italiennes" und die Paraphrasen Schubertscher Walzer in den ,,Soirées de Vienne", die wie die Klavierübertragungen zahlreicher Lieder von Liszts Vorliebe für den W i e ner Meister zeugen. Der Werbung dienten die durch eine erstaunliche Fülle des Klaviersatzes- ausgezeichneten Übertragungen Berliozscher Sinfonien, denen später die „ K l a v i e r partituren" dér neun Beethovenschen Sinfonien und die K l a vierfassungen Wagnerscher Orchestersätze wie der Tannhäuserouvertüre oder von Isoldes Liebestod folgten. Gänzlich der Entfaltung der pianistischen Technik dienen die Etüdenwerke, vor allem die Übertragung von Paganinis Capricen für Solovioline auf das Klavier, die unmittelbare Frucht der Begegnung mit dem genuesischen Hexenmeister, und die 1 2 ,,Etudes d'exécution transcendentale", die, auf ein frühes, skizzenhaftes Opus 1 zurückgehend und in zwei Fassungen, einer technisch überladenen von 1839 und einer geklärten von 1852, vorliegend, die von Clementi, Czerny, Cramer, Chopin gepflegte Form der Etüde zur Höhe entwickeln; sie stellen das Technische in den Dienst einer klanglichen Vision — Landschaft, Mazeppa, Irrlichter, Wilde Jagd, Schneegestöber— und weisen in dieser V e r feinerung und Verselbständigung des Klanglichen unmittelbar auf den Impressionismus voraus. Brillante Spielmusik ohne tieferen Gehalt sind endlich die Ungarischen Rhapsodien, in denen Liszt die Thematik und den improvisatorischen Vortrag der Zigeunermusik mit zündender Wirkung nachahmt. Demgegenüber steht eine Gruppe von Klavierschöpfungen, in denen das Wirkungshafte vor der Ausstrahlung des inneren Gehalts zurücktritt, die Technik zum dienenden Mittel des A u s drucks wird. Die zwei Bände der ,,Années de Pèlerinage" (Pilgerjahre), 1853 und 1858 veröffentlicht, gehen auf frühe Eindrücke in der Schweiz und Italien zurück, die in den Jahren 1835 bis 1837 skizziert und 1842 in der vorläufigen Fassung des „Album d'un voyageur" niedergelegt wurden. Hier finden sich Stücke wie die aufgewühlte, schwermütig-große Vision der ,,Vallée d'Oberman" (der Name bezeichnet keinen Landschaftseindruck, sondern nimmt bezug auf einen philosophischen R o m a n Chateaubriands), das ekstatische Klangbild des von Raffael inspirierten „Sposalizio", der Vermählung Mariae,
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der tiefernste, jedes technischen Schmuckes entbehrende „ P e n sieroso" (nach Michelangelos Jünglingsstatue), die ..Wasserspiele der Villa d'Esté", die ein sprühendes Klangspiel mit religiöser Symbolik durchsetzen, die edlen Sonette nach Petrarca und die mehr dekorative, in einem pianistischen a-fresco-Stil gehaltene Dantefantasie. N o c h einheitlicher im Geiste ist die Sammlung der ,,Harmonies poétiques et religieuses'', unter deren durchweg ernsten Stücken der düstere, von mystischen Glocken- und Posaunenklängen durchwehte Trauermarsch der „Funérailles", der das Andenken Chopins feiert, und die milde ekstatische Seligkeit der „Bénédiction de Dieu dans la solitude", der schönsten und tiefsten unter den Lisztschen Klavierimpressionen überhaupt, hervorragen. Die lange Reihe der übrigen Stücke, unter denen die schlicht-ernsten „Consolations" und die schwärmerischen Liebesträume besonders bekannt wurden, wird überragt von dem mächtigen Block der h-MollSonate, in der das Lisztsche Klavierschaffen gipfelt. Sie steht an Tiefe des romantischen Gehalts neben Schumanns C - D u r - F a n tasie, der sie durch ihre Widmung antwortet. Unabhängig von der klassischen Sonatenform ist sie aus einheitlichem Themenmaterial in einem einzigen, durch starke Stimmungskontraste gegliederten Satz entwickelt; zwischen den Polen einer pathetischen Größe und einer zarten, spirituellen Lyrik umschließt sie alle Wunder, alle Schauer und Herrlichkeiten der romantischen Seele. Die Wandlung des Klaviervirtuosen zum schöpferischen Sinfoniker geschah erst spät, zur gleichen Zeit, als Liszt die Laufbahn des reisenden Pianisten aufgab, um sich in Weimar der Leitung des Orchesters und der Oper zu widmen; auch hier besteht die unmittelbare Wechselwirkung von ausübender und schöpferischer Praxis fort. Als Übergang mögen die Klavierkonzerte gelten, das brillante, spielfrohe in Es-Dur, das lyrischverinnerlichte in A - D u t und der düstere, die Dies-Irae-Melodie variierende Totentanz. In Weimar entstand die Reihe der zwölf Sinfonischen Dichtungen, mit denen Liszt seinen Geltungsanspruch als Schaffender in großartiger Form anmeldete und eine neue, vielumstrittene Phase der durch Beethoven geheiligten Sinfonieform heraufführte. Alle diese W e r k e wollen entweder ein Stimmungsbild oder einen gedanklichen Gehalt musikalisch darstellen, wie die Bergsinfonie (nach Victor Hugos ,,Ce qu'on entend sur la montagne"), „Les Préludes" (nach Lamartine), die „Festklänge", „Heldenklage", die „Ideale" (nach Schillers Gedicht), oder sie stellen eine dichterische Ge-
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stalt vor das innere Auge des Hörers wie Orpheus, Tasso, Prometheus, Hamlet, Mazeppa; die „Hunnenschlacht" gibt den pathetischen Linienzug eines Kaulbachschen Gemäldes wieder. ,,Hungaria" ist eine rhapsodische Verherrlichung des ungarischen Geburtslandes. Die Form ist aus der Ouvertüre oder aus der Sinfonie entwickelt, deren Satztypen pausenlos ineinander übergehen. Der vorwiegend homophone Satz, der nur selten das Fugato als dramatisches Steigerungsmittel verwendet, erinnert noch an die Musizierweise des Solisten, der sich mit der dominierenden Melodie identifiziert. Die Melodie ist zugleich edel und einfach, von großem pathetischem Schwung oder von volkstümlicher Schönheit; wie die schwermütige Weise, welche die edle Dichtergestalt Tassos darstellt — sie ist venetianischen Gondelschiffern abgelauscht, die auf sie die ersten Verse des „Befreiten Jerusalem" sangen —, wandelt sich zum Menuett, um das Leben des Dichters am H o f e von Ferrara zu umspielen, und wird zum Triumphmarsch, den R u h m des gekrönten Dichters zu feiern. Die Harmonik ist charakterisiert durch Terzverwandtschaften, übermäßige Dreiklänge und zuweilen kunstvoll verflochtene Vorhalte. Die Instrumentation ist hell und glanzvoll, leuchtende hohe Violinen, silberne Trompeten, glitzernde, mit pianistischer Delikatesse geführte Harfen, raffiniert gesetztes Schlagzeug geben den Charakter; sie ist von einer Meisterschaft, die es kaum glaublich erscheinen läßt, daß Liszt sich noch im Tasso, dem zweiten W e r k dieser Reihe, fremder Hilfe bediente. Z w e i m a l hat Liszt die sinfonische Form zur Mehrsätzigkeit geweitet. Die Dantesinfonie stellt Inferno und Purgatorio in zwei großartig charakterisierten, von der Hoffnungslosigkeit der Verdammnis erfüllten Sätzen einander gegenüber; den geplanten dritten, die Freuden des Paradieses schildernden Satz hat Liszt auf den R a t Wagners, der die Tonsprache zum Ausdruck himmlischer Seligkeit für unzulänglich hielt, nicht ausgeführt ; ein zart entschwebender Frauenchor deutet mit dem T e x t des Magnifikat die Wendung zur Erlösung an. Die Faustsinfonie greift völlig auf die klassischen Satztypen zurück und deutet sie als musikalische Symbole dichterischer Charaktere. Im ersten Allegro tritt Faust, der friedlos Suchende, von Geisteseinsamkeit zu trügerischer Magie Gehetzte, vor uns hin. Der langsame Satz ist ein Seelenbild Gretchens, von einer Reinheit und blumenhaften Anmut, wie selten einem Künstler das Weibliche zu zeichnen vergönnt war. Das Scherzo gilt Mephistopheles. N o c h einmal lebt sich das Satanische in Liszts Wesen, jetzt gebändigt
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und in glasklare Form gefaßt, großartig aus. Dem Geist der Verneinung wird kein eigenes Thema zugestanden; er gefällt sich in der Zersetzung und höhnischen Pervertierung der Gedanken, die im ersten Satze Fausts hohes Streben bezeichneten; nur die keusche Melodie Gretchens schwebt, durch ihre R e i n heit gefeit, ungefährdet über dem höllischen Wirbel. Das Finale verdichtet sich zu einem kurzen Männerchorsatz, der zur Orgel und feierlichen Posaunen mit den Schlußworten von Goethes zweitem Faustteil das Ewig-Weibliche preist, das uns hinanzieht ; eine Lösung von großartiger Naivität, die das W e r k als einen Brennpunkt der romantischen Sinfonik neben Beethovens Neunte, den Höhepunkt der klassischen Sinfonie, rückt. A u f die zweite, sinfonische Schaffensperiode folgt die dritte und letzte, die überwiegend der geistlichen Musik gewidmet ist. Sie w a r erfüllt von Bemühungen um die R e i n i g u n g und Wiederbelebung der Kirchenmusik, die eine sakrale Gebrauchskunst schaffen wollten. A n dauernden großen Werken entstammen ihr die Graner Messe (1856 zur Einweihung des Domes in Gran aufgeführt), die den Messetext in sechs Sätzen in engem Anschluß an den gregorianischen Choral verarbeitet, ferner das dreiteilige, in den Jahren 1856 bis 1866 entstandene Christus-Oratorium, welches in liturgisch strengem, homophonem Chorsatz das Leben Christi von der Geburt bis zur Kreuzigung und Auferstehung abrollen läßt und seine Gestalt über alles Persönliche zur Höhe einer großen kirchlichen Idee hinaushebt; endlich die musikalisch blühendere Legende von der heiligen Elisabeth (1865), eine Szenenfolge aus dem Leben der Dulderin, die in ihrer Leuchtkraft und Bildfülle fast zum geistlichen Drama wird und f ü r religiöses Erleben volkstümlichen, unmittelbar ergreifenden Ausdruck findet. Das ist das W e r k dieses Künstlers, der seltsam zwiespältig zwischen Zeit und E w i g k e i t in der Mitte des romantischen Jahrhunderts steht. Sein Virtuosenruhm, sonst rasch v e r g ä n g lich, w u r d e zum M y t h o s , sein Menschentum steht leuchtend und unvergessen über der Zeit. Als ringender Geist u m g r i f f er seine E p o c h e ; die Gedanken der Philosophie, die Lehren der R e l i g i o n , die Gestalten der Bildner und Dichter gingen verwandelt und gedeutet in sein W e r k ein, Christus, Dante, Faust sind die großen Namen, die die Maße seines Wollens bezeichnen. Als Schaffender w u r d e er bedeutend, weil er M e n s c h liches groß und einfach zu sagen und zu formen w u ß t e ; die
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musikalischen Gestalten Tassos und Fausts stehen unvergänglich in der Geschichte der Kunst. Z u ihren Füßen öffnet sich der A b g r u n d , erfüllt von dunklen Flammen teuflischer D ä monie, über ihnen dehnt sich ein Himmel göttlich reiner, entschwebender Harmonien — ein romantischer, nach der T i e f e und Höhe transzendierender K o s m o s , ähnlich den Bildern frommer alter Meister, die Erde, Hölle und Himmel zu mystischer Dreiheit verketten. Das Gesamtkunstwerk Richard Wagners Unter den Vollendern der R o m a n t i k erscheint nun der Künstler, der weit über das Gebiet der Musik hinausgreifend zur beherrschenden Künstlerpersönlichkeit des Jahrhunderts überhaupt heranwächst: R i c h a r d W a g n e r . Als Dichter, D e n ker und Musiker ist er eine B e g a b u n g von seltener Universalität. A b e r da alle seine Bestrebungen, soweit sie auch auf das Gebiet der Philosophie, der Politik hinübergriffen, immer wieder auf einen einzigen Mittelpunkt, das theatralische Kunstwerk zurückführten, w a r es ihm gegeben, die romantische Idee des Gesamtkunstwerks, der Vereinigung der Künste zu gemeinsamem Ziel, zu verwirklichen. Da die M u sik in diesem Gesamtkunstwerk durch die neuen A u f g a b e n , die ihr zugemutet wurden, eine unerhörte Steigerung ihrer Ausdruckskräfte und eine bedeutsame Entwicklung ihrer technischen Mittel erfuhr, da das Drama nach Nietzsches D e finition geradezu aus dem Geist der Musik geboren wurde, hat der Dramatiker W a g n e r v o r allem seinen Platz in der G e schichte der Musik. Das Werden dieser Begabung ist über weite geistige U m wege und durch die Stürme und Widrigkeiten eines abenteuerlichen Künstlerlebens zu verfolgen. W i e Schumann fand auch der junge Wagner nicht unmittelbar zur Musik. Das musikaliche Erbe freilich w a r ihm mitgegeben; unter seinen Vorfahren sind sächsische Volksschullehrer, die zugleich Kantoren und Organisten waren. A m 22. M a i 1 8 1 3 wurde er als neuntes Kind des Polizeiaktuarius Karl Friedrich Wilhelm Wagner zu Leipzig geboren; die oft vertretene und wohl auch von Wagner selbst geglaubte Meinung, daß der vielseitig als Maler und Schriftsteller begabte Dresdner Hofschauspieler L u d w i g Geyer, der 7 Oehlmann, Musik des 1 9 . Jahrh.
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zweite Mann seiner Mutter, sein leiblicher Vater gewesen sei, ist nicht sicher zu widerlegen. Homer und Shakespeare waren die Dichtereindrücke des Knaben und Dresdener Kreuzschülers; nach der Begegnung mit Beethovens Egmontmusik, die er fünfzehnjährig zu Leipzig hörte, „beschloß er Musiker zu werden". Die Studienzeit bei dem Thomaskantor Theodor Weinlig wurde 1833 durch ein Engagement am Theater in Würzburg abgeschlossen. Hier vollendete er seine erste Oper „ D i e Feen", eine fünfaktige Dramatisierung eines Gozzischen Märchenstoffes in flüssigen, wortreichen Versen und der musikalischen Diktion der deutschen romantischen Oper. Die A b lehnung des Werkes durch die Bühnen machten den jungen Künstler zum Revolutionär gegen die heimische Tradition; von E . Th. A . Hoffmann wendete er sich zu Heinse, von Weber und Marschner zu Bellini und Auber. Das Ergebnis dieses radikalen Umschwungs w a r „ D a s Liebesverbot", eine lebensfrische und schlagkräftige Komposition von Shakespeares Lustspiel „ M a ß f ü r M a ß " , die 1836 in Magdeburg mit unzulänglichen Mitteln während des finanziellen Zusammenbruchs der Bühne erfolglos aufgeführt wurde. In diese Zeit fällt die Bindung des jungen Kapellmeisters an die Schauspielerin Minna Planer, womit eine der disharmonischsten Künstlerehen geschlossen wurde. Der W e g der Beiden führte nach Königsberg und R i g a , durch kleinliche Fronarbeit, N o t und Schulden, die Wagner endlich zu einer abenteuerlichen Flucht über London nach Paris zwangen; die Seefahrt durch die stürm'sche Ost- und Nordsee wurde ihm zum tiefen Erlebnis. In Paris, w o er 1840 eintraf, wurde die N o t f ü r den unbekannten deutschen Künstler nur noch größer. Dennoch entstanden in dieser traurigen Zeit außer der Faust Ouvertüre, dem Fragment einer geplanten Faustsinfonie, zwei große dramatische W e r k e : „ R i e n z i " , eine monströse Schöpfung des Ehrgeizes, darauf angelegt, den musikalischen Prunk und die dramatische Schlagkraft der historischen Oper Spontinis und Meyerbeers noch zu überbieten, und der schlichte, herbe'„Fliegende Holländer", mit dem der Musikdramatiker Wagner sich zu seinem eigensten W e g und Wesen durchrang. Als mit der Annahme des Rienzi in Dresden die Wendung kam, kehrte 1842 ein Gefestigter nach Deutschland zurück, der seinen W e g vor sich sah. Der durchschlagende E r f o l g des Rienzi in Dresden und der gedämpftere des Holländers verschafften Wagner die Stellung eines königlich-sächsischen Kapellmeisters. Eine Reihe vorzüg-
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licher Aufführungen, darunter die Neubearbeitung der Gluckschen Iphigenie in Aulis, die eigenen Schöpfungen Tannhäuser (184.5) und Lohengrin (1847) und ein Textentwurf der Meistersinger, ursprünglich als Satyrspiel zum Sängerkrieg auf der Wartburg gedacht, sind die Frucht dieser Jahre. Aber der Überdruß an dem alltäglichen Kunstbetrieb trieb ihn auf die Seite der politischen Revolutionäre. Durch die verunglückte E r hebung von 1849 verlor er sein Amt und mußte fliehen; sein W e g führte über Weimar, w o die Begegnung mit Liszt den Grund zu einer tiefen und dauernden Freundschaft legte, und über Paris in die Schweiz. Zürich wurde der Ort eines zehnjährigen Exils, das zuerst der inneren Klärung seiner Kunstanschauungen diente. In der Zurückgezogenheit entstanden die großen theoretischen Kunstschriften, vor allem „ D a s Kunstwerk der Z u k u n f t " und „ O p e r und D r a m a " . Als schöpferische Bewährung seiner Doktrin wuchsen Dichtung und Musik des Nibelungendramas, das sich aus der ursprünglich geplanten Tragödie „Siegfrieds T o d " zur Tetralogie mit dem Vorspiel „ D a s R h e i n g o l d " und den Abenden „ D i e W a l k ü r e " , „ S i e g f r i e d " und „Götterdämmerung" weitete. Z w e i Erlebnisse wirkten bestimmend auf seine innere Entwicklung ein: die Versenkung in die Philosophie Arthur Schopenhauers und die Begegnung mit der Gattin eines Züricher Kaufmanns, Mathilde Wesendonk, die reinste und am tiefsten aufwühlende Beziehung seines Lebens, die nach Qualen und Verwirrungen mit Entsagung und Flucht endete. Der künstlerische Niederschlag dieser Erlebnisse ist die Musikdichtung v o n , .Tristan und Isolde", das persönlichste, innerlichste und stilistisch kühnste seiner Werke, das in Zürich, Venedig und Luzern entworfen und vollendet wurde. Mit dem Jahre 1859 begann eine neue Wanderzeit, immer begleitet v o n N o t , drängenden Schulden und einem stets gesteigerten Bedürfnis nach Luxus. Eine verunglückte A u f f ü h r u n g des Tannhäuser zu Paris (1861) und ergebnislose Verhandlungen und Proben f ü r eine geplante Wiener Tristanaufführung sind die wichtigsten Ereignisse dieser, im ganzen gesehen, trostlosen Jahre. Da trat wieder eine W e n d u n g e i n ; König Ludwig II. von Bayern, 1864 achtzehnjährigzurRegierung gelangt, beriefdenKünstler.dessenWerkderbestimmende Eindruckseiner Jugend gewesen war, nach München. Die Freundschaft des einundfünfzigjährigen Künstlers zu dem jugendlich-idealistischen Fürsten muß trotz aller Trübungen und Spannungen, trotz aller Beimischung von Ehrgeiz und künstlerischem Eigennutz als ein echtes und fruchtbares mensch7*
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liches Verhältnis gewertet werden, das von W a g n e r mit tiefem Ernst und pädagogischer Leidenschaft gepflegt wurde. Das erste Ergebnis f ü r ihn w a r eine unerhörte Machtstellung in München. Der Höhepunkt der Münchener T a g e w a r die denkwürdige Erstaufführung des bisher als unaufführbar verschrienen Tristan, 1865, die einen großen Kreis von Freunden um das revolutionierende "Werk versammelte; der seit Jahren der Wagnerschen Sache gewonnene Hans von B ü l o w dirigierte, der ausdrucksmächtige Tenorist L u d w i g Schnorr von Carolsfeld sang den Tristan; man rechnete es den ungeheuren Anforderungen des umstrittenen Werkes zu, als der Sänger kurz nach der A u f führung plötzlich starb. N o c h in demselben Jahre, in dem sich auch seine Verbindung mit Cosima, der Tochter Liszts und der Gattin Hans von Bülows anspann, wurde W a g n e r gestürzt und mußte sich wieder in die Schweiz, dieses M a l nach Tribschen bei Luzern, zurückziehen, w o er die Arbeit an den Meistersingern aufnahm. Ihre Uraufführung im Jahre 1868 wurde wieder ein Höhepunkt seines Künstlerlebens. Dennoch wandten sich seine Blicke von München w e g . 1872 erfolgte die Übersiedlung nach Bayreuth, w o mit dem B a u eines Festspielhauses begonnen wurde, welches sein W e r k endgültig aus der U n zulänglichkeit des theatralischen Tagesbetriebs herausheben sollte. 1876 wurde hier vor einem begeisterten Kreise von Freunden der Wagnerschen Kunst aus aller Welt, in Anwesenheit des deutschen Kaisers, der „ R i n g des Nibelungen" aufgeführt und damit zum ersten Male ein wirklich erschöpfendes, Musik und Szene umfassendes Bild des Gesamtkunstwerkes gegeben. Die Jahre nach dieser großen, siegreichen Erfüllung seiner Lebensarbeit, die er an der Seite Cosimas (sie w a r nach dem Tode Minnas seine Gattin geworden) in seinem Hause Wahnfried verbrachte, gehörten der Arbeit an seinem letzten W e r k , dem Parsifal, das ausschließlich für die Bayreuther Bühne bestimmt war, w o es 1882 aufgeführt wurde. A m 1 3 . Februar 1883 erlag der Meister zu Venedig im Palazzo Vendramin einem Herzleiden; er wurde im Garten von Wahnfried bestattet. D e r Künstler W a g n e r ist nur zu verstehen in Verbindung mit dem universalen Denker. Sein geistiger R a d i u s erstreckte sich nicht nur über die Gesamtheit der Künste, sondern über das Leben mit seinen Formen der Politik, der R e l i g i o n , der Philosophie. Der Philosoph W a g n e r steht v o r dem Künstler und schafft die geistigen Grundlagen des W e r k e s . In einer R e i h e v o n Kunstschriften, deren bedeutendste dem Jahrzehnt
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der Schaffensruhe zwischen Lohengrin u n d Tristan angehören, vollzieht sich die Klärung der gärenden Kunstanschauungen des j u n g e n W a g n e r zu einem System von großartiger Geschlossenheit u n d geistiger Schlagkraft. Das Kunstwerk steht f ü r W a g n e r in der Mitte der menschlichen Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist das Volk, das W a g n e r im antiken Sinne als Gesamtheit aller durch Heimat u n d Schicksal Verbundenen über alle sozialen Unterschiede hinweg erfaßt. Die ursprüngliche u n d echteste Dichtung des Volkes ist der M y thos, in dem das Volk sich selbst in einfach wesenhaften Symbolgestalten darstellt. Der M y t h o s ist darum der Urquell aller Kunst. Er verlangt nach sinnlich erschöpfender Darstellung im Gesamtkunstwerk, das Dichtkunst, bildende Kunst, Musik, Tanz u n d mimische Kunst zu einheitlicher W i r k u n g zusammenfaßt. Alle Künste sind dem Hauptzweck, der Darstellung des Ursprünglich-Menschlichen, dienend untergeordnet. Der Gesang ist die natürliche, von unabgeschwächter Gefühlsfülle getragene Sprache des ursprünglichen Menschen. Das Melos entspringt aus dem W o r t . Der W o r t v e r s m u ß sich, u m eine sinnvolle Melodie zu ergeben, auf die Stammsilben der W o r t e stützen, wie es der deutsche Stabreim tut. Die Sprachmelodie w i r d getragen v o n der bewegten Harmonie des Orchesters. Das Orchester hat die Aufgabe des Chores der griechischen Tragödie: durch lyrische Meditation den allgemein-menschlichen Sinn der H a n d l u n g auszusprechen, den Hörer unmittelbar anzureden u n d zu leiten, indem es seine E r i n n e r u n g des Gewesenen und seine A h n u n g des Kommenden wachhält. U b e r die musikalische Symbolik der Leitmotive, die er zu diesem Z w e c k ausbildete, schweigt W a g n e r in seinen theoretischen Schriften. Der Kern seiner Kunstanschauungen, die im Musikalischen eine radikale Absage an die formale Tradition der Oper bedeuten, findet sich im dritten Teile v o n „ O p e r u n d D r a m a " . W a g n e r hat diese Grundgedanken durch eine Fülle kulturkritischer u n d musikalischer Schriften gestützt u n d erweitert u n d später, nach seiner Begegnung mit Schopenhauers Philosophie, fest unterbaut; in seiner Schrift zum hundertsten Geburtstag Beethovens hat er eine romantische Musikphilosophie von erschöpfender Tiefe gegeben.
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Wagners Frühwerke sind Stufen zu dem Ziel, das sich ihm selbst erst allmählich enthüllte. Die beiden ersten Opern sind nur von biographischem Interesse. Auch die dritte Oper, „ R i e n z i " , ist noch ein Versuch der Nachahmung. E r gilt der größten und anspruchsvollsten Form der Zeit, der großen historischen Oper Meyerbeers. Aber dieser Versuch ist geglückt. Das persönliche Genie Wagners hat sich eingeschaltet. Es steckt Ursprünglichkeit, Einmaligkeit in dieser Schöpfung aus konventionellen, von fremder Hand übernommenen Mitteln. „ R i e n z i " ist nicht irgendein W e r k aus der Nachfolge Meyerbeers, sondern eine wesentliche und vollwertige, wenn auch einem Frühstadium der Entwicklung angehörende Schöpfung Richard Wagners. Den Stoff entnahm W a g n e r , der schon hier das Drama von der Dichtung her ganz aus eigener Eingebung aufbaute, einem historischen R o m a n des vielgelesenen englischen Schriftstellers Bulwer, und es w a r ebensosehr die Gestalt des mittelalterlichen, auf den Spuren antiken Römertums wandelnden Volkstribunen wie der dekorative Rahmen der E w i g e n Stadt mit dem opernhaften Glanz ihrer Feste und Bräuche, was seine Phantasie zur Vertonung reizte. Rienzis Partner ist das Volk, das sich in kraftvollen, weitausschwingenden Chorsätzen äußert; die einstimmig aufsteigende und sich akkordisch breit entfaltende K a m p f h y m n e „Santo spirito Caualiere" ist eine Eingebung von bezwingender Wucht und Größe. Der echteste T o n der Partitur ist das politische Freiheitspathos des Helden, das in Rezitativen von rhetorischem Glanz ausschwingt. Wagners eigener W e g begann mit d e m , , Fliegenden Holländ e r " , der die zweite W e r k g r u p p e eröffnet. Hier rückt zum erstenmal die Volkssage in den Gesichtskreis seines Schaffens, noch in einer späten Form, der einer Matrosensage des siebzehnten oder achtzehnten Jahrhunderts. Der gespenstische Seemann, den W a g n e r durch ein beiläufiges Zitat Heinrich Heines kennenlernte und aus den verschwommenen Umrissen der Sagengestalt zur dramatischen Figur entwickelte, ähnelt noch den Vorbildern der romantischen Oper, dem V a m p y r und Heiling Marschners. A b e r er geht an warmer, ergreifender Menschlichkeit seines Wesens ebensoweit über diese Vorbilder hinaus, wie er sie durch die unheimliche Geistergröße, die phosphoreszierende Transparenz seiner m y thischen Erscheinung überragt. Eigenste Leistung W a g n e r s ist aber, daß das M o t i v der Erlösung durch die Treue einer
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Frau, das in der Sage nur anklingt, zum Angelpunkt des D r a mas gemacht w i r d ; das Mädchen Senta löst durch seinen O p f e r t o d den Fluch, der auf dem Umhergetriebenen ruht. Die M u s i k ist die Genietat eines jugendlichen Revolutionärs. W i e aus einem Guß ist die Partitur aufgebaut, wie eine düstere Ballade rauscht das Drama vorüber. Wagners Technik, die dramatischen Grundkräfte mittels scharfgeprägter, durch das ganze W e r k beibehaltener musikalische Formeln zu symbolisieren, nimmt hier ihren A n f a n g . Der Motivgruppe des Holländers, aus der ein einfaches, v o m Grundton zur Quint aufsteigendes Thema als persönliches Symbol des Helden hervorragt, steht Sentas milde, in sanften Holzbläserfarben leuchtende Erlösungsmelodie entgegen; eine dritte Themengruppe malt in herb-frischen Tönen und scharfkantigen Melodien die Umwelt, das rauschende Meer und die derbe Lustigkeit der Seeleute. Der Sprechgesang gewinnt an R a u m und Profilierung. Andererseits erstarkt das Orchester überall zu sinfonischer Selbständigkeit. Die bezeichnenden Klangfarben der Wagnerschen Palette, die zarten Holzbläserchöre, die warmen Horner und die düsteren, starren Posaunen treten schon deutlich hervor. Dabei bleiben dia satztechnischen Mitte! noch einfach; die Sturmchromatik bedingt eine größere harmonische Freizügigkeit, der vieldeutige verminderte Septakkord herrscht vor; in der Ausdehnung und Verschleifung der einzelnen Nummern, im Übergreifen des dramatischen Pathos von der Einzelszene auf die große Linie des Aktes und des ganzen Werkes kündigt sich die neue, größere dramatische Form an. Der Formtypus, der hiermit geschaffen war, konnte W a g ner f ü r seine nächsten W e r k e genügen. Im Studium der mittelalterlichen Sagenkreise f a n d der Dramatiker den S t o f f b e reich, dem er von nun an immer verbunden blieb. Die erste Frucht dieser Vertiefung ist der „Tannhäuser", in dem zwei Helden, Tannhäuser und Heinrich von Ofterdingen, u n d zwei Sagen, die v o m Hörselberg und die v o m Sängerkrieg auf der W a r t b u r g , zu einem dramatischen Ganzen verschmolzen sind. Der Held steht, von inbrünstig-leidenschaftlichem G e f ü h l hin und her gerissen, zwischen dem Sinnenreich der Venus und dem R e i c h des Mitleids und der Gnade, das sich in Elisabeth verkörpert, die wiederum als jungfräuliche Dulderin und
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Gegenspielerin der heidnischen Venus W a g n e r s eigenste Schöpfung ist. Die Antithese von Sinnen u n d Geist, Heidentum und Christentum, Sünde u n d Gnade, geht durch das ganze W e r k und bestimmt die dramatischen Gewichte. Die Ouvertüre stellt beide Welten klar geschieden einander gegenüber. Sie beginnt mit der Weise der büßenden Pilger, einem Choral von romantisch verschleierter Harmonik in dunklen Bläserfarben, der als ein vorüberziehender Wallfahrtsgesang auf- und abschwillt, von treibenden Violinfiguren wie vom Aufflammen ekstatischer Frömmigkeit begleitet. Unmittelbar in sein Verklingen tönen die unheiligen Stimmen einer anderen Welt, der Zauber des Hörseiberges leuchtet auf in dem glühenden Oszillieren brodelnder Themen und Klänge, welche das Zucken der Begierde und den Taumel der Lust mit einer Farbenglut malen, die in der Musikgeschichte ohne Beispiel ist. Eine Fülle kleiner, elastischer, energiegeladener Themen sprüht wie ein Feuerwerk auf, vibrierende und lockend singende Violinen mischen sich mit sprudelnden Klarinetten und jauchzenden Flöten, Becken, Tambourin und Triangel treiben den Rausch zur Raserei, aus dem wilden Chor löst sich im sanften und hoheitsvollen Gesänge der Klarinette die Stimme der Göttin, der Tannhäuseis kraftvoll jubelndes Venuslied im Streichorchester antwortet. Von der Höhe eines bacchantischen Orgelpunkts versinkt der Spuk vor dem wiederkehrenden Choral, der zum Hymnus gesteigert das Vorspiel beschließt. Der R e i c h t u m u n d Kontrast der Stimmungen und Landschaften macht den,,Tannhäuser'' zur dramatischschlagkräftigsten der Wagnerschen Schöpfungen; Ritterstolz steht gegen Büßerdemut, Zauberspuk gegen Seelenreinheit, Frühlingsjubel gegen Herbstesschwermut, ein echtes, lebendiges Bild deutschen Mittelalters, von der Sehnsucht der R o m a n t i k beschworen, — ein T r i u m p h des dramatischen Musikers, der f ü r jede Stimmung aus der Fülle reicher, quellender Mittel oder mit der Kargheit skizzenhafter Linien, im breitflächigen, farbigen Gemälde oder im leicht hingetupften Aufleuchten und Verdunkeln des Augenblicks Stimmen u n d Klang findet. Geheimnisvoller, räselhafter als dieses klarlinige, farbenstarke W e r k des großen Theatralikers erscheint,,Lohengrin". Hier ist der Held selbst das W u n d e r , das in die Wirklichkeit eintritt: der Ritter, der, mit göttlichen Kräften ausgestattet, aus der
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heiligen Gralsgemeinschaft zu den Menschen herabkommt, um die verfolgte Unschuld zu schützen. Er darf seine göttliche Natur nicht enthüllen, wenn er unter den Menschen leben soll; aber die Frau, die ihn liebt, muß ihm das Geheimnis seiner Herkunft entreißen, um ihn ganz zu eigen zu haben, und verliert ihn im Augenblick der Enthüllung; sie stirbt am Zusammenbruch ihres Glücks, während er in seine göttliche Einsamkeit zurückkehrt. Hier erscheint das Romantische, welches sonst zumeist als das Dunkle, Dämonische, Verführende auftritt, als das Reine, Göttliche, gleichsam mit positivem Vorzeichen; Liszt hat diese besondere Natur Lohengrins als erster erkannt und ihn als neuen, tief musikgemäßen Typus begriffen. Diese wunderbare Natur des Helden hat das Wunder der Lohengrinmusik gezeitigt. Alles, was den Helden und seine Sphäre bezeichnet, stürzt wie eine Lichtvision aus überirdischen Höhen auf den Hörer herab; es ist erstaunlich, wie demselben Künstler in so kurzem Abstand die Magie des Sinnlich-Dämonischen und des Heilig-Reinen gelingen konnte. Das Vorspiel, welches das Herabschweben des Grales, des heiligen, mit dem Blut Christi gefüllten Opfergefäßes, auf die Erde darstellt, fließt wie ein einziger Lichtstrom dahin. In der höchsten Höhe der Soloviolinen und Flöten in leuchtendem A-Dur beginnend, schwebt die weich geschlungene Melodie langsam durch die Instrumentengruppen der Holzbläser und Horner abwärts, bis sie sich im feierlichen Metallglanz der Posaunen der Erde vermählt. Hier zum ersten Male wendet sich Wagner von der hergebrachten zweiteiligen Ouvertürenform ab; das Allegro, welches dem langsamen Satz folgen sollte, blieb ungeschrieben. Diese Musik, um ein strahlendes Heldenthema bereichert, begleitet den Gralsritter wie ein ätherischer Lichtleib durch das ganze Werk. Dieser Seite des Werkes, die den Revolutionär Wagner im Banne der Inspiration weit über alles früher Geschaffene hinausgehend zeigt, steht die andere gegenüber, die in festgefügten Formeln den Klang der Vergangenheit beschwört: die Schilderung des Rittertums und seines Zeremoniells. In die musikalische Gestalt des Werkes tritt damit ein Zwiespalt, der es hinter der Geschlossenheit der vorhergehenden zurückstehen läßt. Mit dem,,Lohengrin" war für Wagner eine fruchtbare, noch in hohem Grade naive Schaffensphase abgeschlossen; es folgte
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eine Periode der gedanklichen Klärung, die den Denker endgültig von der Rücksicht a u f s e i n reales Publikum u n d v o n der konventionellen O p e r n f o r m zum idealen Volkskunstw e r k des musikalischen Dramas, den Dichter von den mittelalterlichen Epen zum Urquell des Mythos, den Musiker zum freien Wortmelos u n d zur unendlichen, aus der Verkettung von Leitmotiven entstehenden Orchestermelodie führte. Der W e g , der sich im W e r d e n der Dichtung u n d eines großen Teiles der Vertonung des Nibelungenrings abzeichnet, war erst nach der späten Vollendung dieses W e r k e s zu übersehen; als erste Frucht der Reife, überraschend und befremdend durch unerhörte, mit Früherem nicht vergleichbare Neuheit, erklang der W e l t das Musikdrama „Tristan und Isolde". Der alten Tristandichtung Gottfrieds von Straßburg hat W a g n e r nur die Essenz des Geschehens, die Fabel einer übermächtigen, Leben u n d T o d überwindenden Liebe e n t n o m men. Jeder epische Schmuck fällt weg, es geht nicht mehr um ein reiches, farbiges Bild der Vergangenheit. A u f der Szene stehen nur wenige, unmittelbar in die H a n d l u n g verstrickte Personen; die U m w e l t , die noch im Lohengrin so breiten R a u m einnahm, wird nur in wenigen Augenblicken an der Peripherie sichtbar; sie wird als feindliche „Tageswelt" aus der inneren H a n d l u n g ausgeschieden. Diese innere H a n d l u n g ist durchtränkt von Leben u n d Blut der R o m a n t i k , ein H y m nus auf die Nacht u n d den T o d . Novalis hat die Sprache inspiriert, die reimlos, nicht mehr in gemessenen Versen, nur noch in gedrängten Kernworten u n d ekstatischen Ausrufen hinfließt. Der Geist Schopenhauers w e h t durch das Drama. Die W e r t e sind verschoben: das Leben, der T a g , die W e l t sind f r a g w ü r d i g geworden, der T o d , die Nacht, das Nichts sind Ziel u n d Glück des Seins; nicht im Sinne bitterer pessimistischer Weltverachtung, sondern in romantischer Verschwendung u n d Hingabe an den dunklen Schoß des Seins, in gläubigem Uberspringen der letzten Grenze, in einer Fülle des Gefühls, das im Nichts das All findet. Alle äußere H a n d lung ist in die Vorgeschichte verlegt. In großen, weitgespannten Szenen w i r d das innere Geschehen mit einer an Ibsen gemahnenden Deutlichkeit u n d Genauigkeit entwickelt:
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die Liebe des Helden Tristan zu der Irenfürstiri Isolde, die er dem alternden K ö n i g Marke von C o r n w a l l als Braut g e w o r ben; der Verrat der Liebenden und ihr gemeinsamer W e g in das R e i c h des Dunkels, w o ihrer Sehnsucht E r f ü l l u n g wird. Das Leben und Blut dieses Seelendramas ist die Musik, die das Geschehen bis in unergründliche Tiefen des romantischen Gefühls unterbaut und die dramatischen Spannungen zu gewaltigen sinfonischen Entladungen intensiviert. Der W e r k klang liegt mit den ersten Tönen des Vorspiels fest: ein schwermütig abwärts sinkender Verhalt des Violoncellos, ein zarter A k k o r d der Holzbläser, durch den Vorhalt der großen Sext vor der Sept dem Ohr zum R ä t s e l verschleiert, in eine neue Dissonanz wie in eine unlösbare Frage ausklingend — das ist das romantische Signum des W e r k e s , eine Formel, die zu den einmaligen unverwechselbaren Klängen der Musikgeschichte zählt. V o n derselben suggestiven Neuheit sind alle Klangeingebungen des Werkes: die Impression nachtverwehter, mit fernen Jagdhörnern vermischter Stimmen, aus denen der Zwiegesang des zweiten Aktes aufsteigt, die ergreifende, von der schwermütigen Baßklarinette getragene Klage des K ö n i g s Marke, die traurige Hirtenweise, die in die Fieberträume des sterbenden Tristan hineinklingt. Eine unerhört verfeinerte Kunst der motivischen Verarbeitung spinnt den tönenden Faden a u f w e i t e Strecken f o r t ; sie ist das Geheimnis der inneren Einheit, die dieses W e r k v o r allen anderen W a g n e r s auszeichnet. Nicht mehr zu W e b e r und Marschner laufen die Beziehungen, sondern zu dem späten Beethoven, dessen Kunst der Motivdurcharbeitung und Zergliederung hier noch eine bedeutende Steigerung erfährt. Die deutsche sinfonische Tradition mündet in die Oper ein und verändert ihre musikalische Struktur von Grund auf. Das Orchester wird zum zentralen Ausdrucksträger, die Formen sind aus sinfonischem, nicht mehr aus vokalem Geiste geschaffen; aus gewaltigen Kraftstauungen und Auslösungen erwachsen die Großformen der Akte, jeder in sich ununterbrochene, „unendliche" M e l o die. Zugleich mit der Satztechnik hat sich die Instrumentation verfeinert. Die Kunst der Farbmischung ist aufs Subtilste durchgebildet, der Klang leuchtet und verschleiert sich auf
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magische Weise, aber das Raffinement der Klangfärbung w i r d nie zum Selbstzweck; die schlichten, ausdrucksvollen Streichinstrumente haben durch das ganze W e r k das erste u n d letzte W o r t . Dazu k o m m t das freie Schalten mit der H a r m o nik, die Ausweitung des tonalen R a u m e s durch eine unerhört spannungsreiche Chromatik, welche den ununterbrochenen musikalischen Fluß erst möglich macht. Gerade hier hat W a g n e r die geheimsten Tendenzen des romantischen Musikgefühls verwirklicht u n d bis zur Krise emporgetrieben; seit dem Tristan tritt die Gefahr der A u f h e b u n g der Tonalität u n d damit des zentralen harmonischen Ordnungsprinzips in das Blickfeld des musikalischen Denkens u n d Schaffens. Das folgende W e r k erscheint als Korrektur der imTristan mit einseitiger Konsequenz verfolgten Tendenzen, als ein Gegengewicht gegen die dunklen u n d auflösenden Kräfte, die das Spiel mit der Tiefe beschworen hatte. „Die Meistersinger von N ü r n b e r g " wuchsen aus der Bedingtheit eines satirischen Intermezzo zur menschlichen Fülle eines großen, selbständigen Werkes. Es ist ein starker u n d tiefer Gehalt an Wirklichkeit in dieser Oper, geschichtliche Wirklichkeit, deutsche Vergangenheit, mit klarem, realistischem Blick gesehen. Die erhabene mythische Landschaft verengt sich zur Stadt, zum winkligen N ü r n b e r g des sechzehnten Jahrhunderts, die Helden sind die Meistersinger, die bürgerlichen Nachfahren der ritterlichen Minnesänger, denen die freie Kunst zu einer trockenen, in pedantisches R e g e l w e r k gezwängten Kunstfertigkeit geworden ist. In ihrer Mitte Hans Sachs, der schlichte u n d weise Dichter des Volkes, dessen Bild W a g n e r mit romantischen Z ü g e n zum resignierenden, das Leben überwindenden Meister vertieft; das bewegende Prinzip ist der jugendlichritterliche Sänger, Walther v o n Stolzing, der mit genialischem Überschwang in diesen Kreis geistiger Selbstgenügsamkeit eindringt u n d an der B e g e g n u n g selbst zum'Meister reift. Aus diesen Kräften formt sich eine Lustspielhandlung, deren Komik sich in der skurril überhöhten Figur des Merkers Beckmesser konzentriert. Die Sprache fließt in wortreichen, mit altertümlichen Wendungen und Fachbezeichnungen durchsetzten Versen, reich an Humor, Menschlichkeit und Künstler-
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Weisheit, der R e i m gelangt noch einmal zu seinem Recht. Wieder ist die Musik das Blut und Leben der dramatischen Konzeption. Die Ausdrucksspannungen des Tristan sind einem heiteren inner ren Gleichgewicht gewichen, eine spielende, abgeklärte Meisterschaft formt die Partitur. Statt der drängenden Chromatik herrscht eine ruhige, klare Diatonik, C - D u r ist die strahlende Grundtonart des Werkes. Die Themen sind überwiegend fest und fein umrissen und lustspielhaft bewegt. Eine subtile sinfonische Technik verspinnt alle Fäden zu einem kunstvollen Gewebe, zu einer unendlichen, kontrapunktisch aufgespaltenen Orchestermelodie, aus der sich die großen lyrischen Momente, die Monologe Sachsens, das W e r b e - und Preislied Walthers abheben. Der instrumentale A u f w a n d ist gering, das Partiturbild von meisterlicher Durchsichtigkeit. Dennoch steigern sich die Chorwirkungen der Schlußszene zu festlicher Großartigkeit. A u f dieses Werkpaar, das durch sein Hervortreten persönlich-bekenntnishafter Z ü g e bezeichnet ist, f o l g t eine letzte Gruppe, die das Vermächtnis des Künstlers W a g n e r , die A u s prägung seines Meistertums darstellt. Sie hebt sich schon äußerlich dadurch ab, daß sie f ü r das Bayreuther Festspielhaus bestimmt ist; nicht mehr „ O p e r " auf dem Theater der Zeit, nicht mehr „ H a n d l u n g " auf einer imaginären Szene, verkörpert sie als „ B ü h n e n f e s t s p i e l " und „ B ü h n e n w e i h f e s t spiel" die Idee eines umfassenden Volkskunstwerks mit v o l ler Realität und Klarheit auf der eigens f ü r sie geschaffenen Bühne. „ D e r R i n g des N i b e l u n g e n " ist in diesem Sinne der Mittelpunkt des Wagnerschen Schaffens, als dichterische E r neuerung des Mythos ebenso wie in seiner mehrteiligen z y k lischen Form ein modernes Gegenstück zur antiken Tragödie. Siegfried, die zentrale Gestalt des deutschen Mythos, ist der Held. Über die späte Fassung des Nibelungenliedes drang W a g ner zur nordischen U r f o r m der Sage vor, die den Zusammenhang der Heroenwelt mit der alten heidnischen Göttersphäre wahrt und damit den völkisch-religiösen Sinngehalt der Sage aufdeckt. Die Siegfried-Tragödie, ist der K e i m ; die Dichtung ,,SiegfriedsTod",diemitderspäteren,,Götterdämmerung"nahezu identisch ist, wurde zuerst ausgeführt. Aus dem Wunsche, der Tragödie ein heiter-märchenhaftes Vorspiel vorauszuschicken, entstand der „ S i e g f r i e d " . Endlich drängte die ganze Vorgeschichte aus der epischen zur realen dramatischen Gestalt;
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die Liebe des Wälsungenpaares, die Siegfried das Leben gab, Brünnhildes göttliche Natur, j a die ersten Anfänge der Verstrickung bis zur Urschuld der Götter, die den Frieden des Elementarreiches zerreißt, das alles verlangte mit gleicher Ausführlichkeit dargestellt zu werden; mit der „ W a l k ü r e " und dem Vorabend „Das R h e i n g o l d " weitete sich die Konzeption zur Tetralogie. N u n wurde die Siegfried-Tragödie zur W e l t tragödie, der Gott W o t a n wurde zum eigentlichen Helden. Elementarwesen, Menschen und Götter sind in das Weltschicksal verstrickt, die dunkle Erdentiefe, Wasser, Luft und Feuer sind die Räume und Mächte; Menschen, auch Götter, sind nur Träger ihrer Bestimmung, Vollstrecker einer Idee. Der geistige Reiz der Konzeption beruht vor allem in der Verquickung u r ältester Vorstellungen mit der Gedankenwelt des neunzehnten Jahrhunderts. Die Frage der Macht wird mit der Skepsis modernen Denkens behandelt. W o t a n , der mächtsüchtige und machtlose, leidende Gott, ist ebenso wie die Erlöserin Brünnhild eine romantische Gestalt, tragisch gebrochen und zum Untergang bestimmt. Bei aller geistigen Tiefe und Vieldeutigkeit fehlt jedoch die letzte Klarheit der Lösung. Das Ziel der Erlösungstat Brünnhildes bleibt verhüllt; der Akzent liegt auf dem Vergehen, auf dem Untergang des Alten, nicht wie in den übrigen Wagnerschen Erlösungsdramen auf der Befreiung zu höherem Sein. In dem Mangel an innerer Einheit spiegelt sich der Bedeutungswandel, den der Stoff f ü r W a g n e r während der langen Bearbeitungszeit durchmachte. Der Anhänger Feuerbachs hatte alles Licht auf die strahlende, lebensbejahende Gestalt Siegfrieds geworfen; das Erlebnis Schopenhauers verwandelte sein Weltbild von Giund aus. Die W e r t e der Welt trüben sich unter dem Anhauch eines Pessimismus, dem auch die erlösende Liebe nur Quietiv des irrenden Willens, nicht Uberwinderin ist; das „ R u h e , du G o t t " bleibt die letzte Lösung, die der Dichter bereithält. Gerade in dieser ausweglosen, durch keinen Schein eines christlichen Erlösungsgedankens aufgehellten Tragik beruht aber die dunkle, mythische Größe des W e r kes, die es dem Geist der antiken Tragödie annähert. Die Musik des Nibelungenringes stützt sich auf die G r u n d prinzipien desWagnerschen Meisterstils, die deklamatorische, vom Stabreim getragene Wortmelodie u n d das orchestrale Leitmotiv. Die thematischen Bausteine dieses tönenden W e l t baues sind eine Reihe meist einfacher, höchst prägnanter Eingebungen von zwingender Kraft des Ausdrucks oder der
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Schilderung. Die Naturmotive des „ R h e i n g o l d " bilden die Grundlage: die w o g e n d e n , wasserklaren Klänge der R h e i n tiefe, die strahlende Fanfare des Goldes, das chromatische Gleiten u n d Flackern des Feuers, das zackige Schmettern des Blitzes, der dröhnende Schritt der Riesen u n d das emsige Hämmern der schmiedenden Zwerge. Beherrschend erklingen die Symbole der Göttermacht, der akkordische Prunkbau Walhalls, der aufstrebende Dreiklangruf des Schwertes u n d der absteigende Baßgang des Speeres, die den K a m p f u n d das R e c h t bezeichnen. In der „ W a l k ü r e " treten die menschlichen T ö n e dazu: die von dunkler W e h m u t überschatteten Motive des Wälsungengeschlechts, die zarten und inbrünstigen W e i sen von Siegmunds u n d Sieglindens Liebe; auf der anderen Seite erschallen die jauchzenden K a m p f r u f e der Walküren, u n d am Ende klingt wie eine f r o h e Verheißung das H e l d e n thema Siegfrieds auf. Das Märchenspiel des j u n g e n Siegfried ist wieder durchzogen von den Naturklängen des Waldes, den Stimmen der Vögel; in der „ G ö t t e r d ä m m e r u n g " mischen sich die Klänge der W e l t , die Themen der Gibichungen hinein. Allen diesen Themen haftet ein geheimnisvoller Vergangenheitsklang an, eine urtümliche Naturfrische oder eine hehre Größe und Feierlichkeit, der Zauber einer mythischen Welt. Sie sind wie magische R u n e n , welche Taten und Bilder aus versunkener Vorzeit zu neuem Leben beschwören. Sie werden mit einer Kunst verarbeitet, die alle Möglichkeiten m u sikalischer Technik in den Dienst des dramatischen Gedankens stellt; V e r k n ü p f u n g , Verschränkung, Verwandlung der Motive dienen dazu, verborgene dramatische Zusammenhänge aufzuhellen, Beziehungen zwischen entfernten Ereignissen und Gestalten zu schaffen, den tieferen Sinn des Geschehens evident zu machen. Die Partitur macht den Eindruck eines Mosaiks, das die gleichen Bausteine zu immer neuen Figuren zusammensetzt; sie erfüllt die Rolle eines philosophischen Kommentars, der dem Hörer tiefe u n d ergreif e n d e Einblicke in weite geistige Zusammenhänge vermittelt, ihn aber nicht eigentlich durch musikalische Logik u n d Schönheit fesseln will. Die formale Einheit des Riesenwerkes wird durch die H o -
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mogenität des thematischen Materials gewahrt. Der Satz w i r d mit dem Fortschreiten des Dramas reicher u n d voller; w ä h rend der langen Arbeitszeit reifte das K ö n n e n W a g n e r s v o m Stand des „ L o h e n g r i n " bis zur letzten Meisterschaft. A u f die naive Bilderbogentechnik des „ R h e i n g o l d " f o l g t der menschlich durchglühte Ausdrucksstil der „ W a l k ü r e " u n d die schon fast impressionistisch verfeinerte Malerei des „Siegfried". Der stärkste Einschnitt liegt zwischen dem zweiten u n d dritten A u f z u g des „Siegfried"; zwischen ihnen liegen „Tristan" u n d die „Meistersinger", die den Stil W a g n e r s mit Riesenschritten vorwärtstrieben. Mit der Erdaszene des dritten Siegfriedaktes setzt der Spätstil des Meisters ein. Die Farben sind mit pastoserem Strien gesetzt, das sinfonische Gewebe ist fest u n d dicht und ohne Fehlstellen. Es gibt nichts Skizziertes mehr, j e d e Einzelheit ist ausgeschöpft u n d ausgearbeitet. Der O r chestersatz ist zu größter Fülle geweitet. Z u den gewohnten Grundfarben treten beherrschend die feierlichen u n d düsteren T ö n e der tiefen Blechinstrumente; Posaunen, Baßtrompete,das Quartett der T e n o r - u n d Baßtuben u n d die gewaltige Kontrabaßtuba sind die charakteristischen Stimmen des Nibelungenorchesters, die den vergangenheitsschweren, heroisch-mythischen Gesamtklang der Partitur unverwechselbar bestimmen. Der Epilog ist das Alterswerk „Parsifal". Den Stoff gibt W o l f r a m s breit ausgeführtes Epos, die Verdichtung u n d Vertiefung ist wiederum gänzlich das W e r k W a g n e r s . N o c h einmal rückt die Gralssage in den Gesichtskreis dieses Schaffens. Aber der reife Meister wagt es, das W u n d e r , v o n dem er im „ L o h e n g r i n " als „im fernen Land, unnahbar euren Schritt e n " berichtete, in voller Realität auf die B ü h n e zu stellen. W i e in den „Meistersingern" steht eine Gemeinschaft im M i t telpunkt, der B u n d der Gralsritter, der die Symbole des Heils hütet: den Gral, die Schale, in die das Blut Christi vom Kreuze geflossen, u n d den Speer, der den Heiland v e r w u n dete. Amfortas, der Gralskönig, ist der V e r f ü h r u n g dämonischer Mächte erlegen, die sich im üppigen Zaubergarten Klingsors verkörpern. Der Jüngling Parsifal, der „reine T o r " , wächst durch Irrtum u n d Irrfahrt zur R e i f e u n d gewinnt den heiligen Speer zurück, mit dem er die W u n d e des Amfortas,
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das Zeichen der Schuld, schließt. Das ist die letzte Variante des Erlösungsgedankens, die W a g n e r gefunden hat. Nicht mehr die opfernde Liebe des Weibes, sondern reine und starke Männlichkeit ist die erlösende K r a f t . Die zweideutige M a g i e des E r o s , die Wagners W e r k durchzog, ist gebrochen: das Ethos des Mitleidens ist zur Reinheit geklärt. In der unmittelbaren Beziehung auf die Heilandsgestalt zeigt sich der Wille, zur christlichen Gedankenwelt durchzustoßen, der f ü r W a g ner, den Verkünder des germanischen M y t h o s , einen entscheidenden und abschließenden Schritt bedeutet. Diese Willensrichtung offenbart sich noch stärker in der dramaturgischen und musikalischen Form des Werkes. Das Drama wird gänzlich zum Mysterienspiel. A u f Spannung und szenische Aktualität ist verzichtet, die Aktion wird, etwa in der Fußwaschung, zur symbolischen Handlung, ritterlich-religiöser Ritus und sakrale Feier nehmen breiten R a u m ein. In der Musik prägt sich der Wagnersche Altersstil rein aus. Sie verzichtet auf technische Neuerungen; gegen den Tristan und R i n g ist eher eine Vereinfachung eingetreten. Die Gralsthemen bilden die Grundsubstanz der Partitur, in ihren reinen Dreiklangsfolgen an frühe Tannhäuserklänge gemahnend. W i e im „ L o h e n g r i n " schildert ein einsätziges Vorspiel das Gralswunder, aber es naht nicht mehr als romantische Lichtvision. Im warmen, satten As-Dur-Klang tiefer Violinen steigt die Gralsmelodie wie ein beseelter Gesang des Mitleids empor, von Holzbläserarpeggien wie von Weihrauchwolken umspielt; feierliche Bläserchöre rufen dagegen, die mystische Stimme der singenden Trompete entzündet sich zu inbrünstiger Glut. In den Gralsfeiern des ersten und dritten Aufzugs verbinden sich diese Themengruppen zu chorischen Sätzen von großartigem Ausmaß: Männer-, Frauen- und Knabenchöre, in verschiedener Höhe des Theaters aufgestellt, vereinigen sich zu heiliger Feier, als neue Farbe der Wagnerschen Palette tritt das Geläut tiefer Glocken dazu. Der religiöse Grundton greift auch in die Naturschilderung hinüber; das Naturbild des dritten Aufzugs, der Karfreitagszauber, strahlt in milden und lichten Farben, deren Mischung erst dem greisen Meister gelang. Damit rundet sich ein Lebenswerk, in dem sich der vielschichtige Geist des neunzehnten Jahrhunderts erschöpfend wie in keinem anderen verkörpert. Zugleich naiv und von höchster ^ Oehlmann, M u s i k des 19. Jahrh.
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B e w u ß t h e i t , b i l d f r o h u n d b e d e u t u n g s t i e f , s i n n e n h a f t u n d geistgeladen, vergangenheitsgebunden u n d v o n e x t r e m e r M o d e r n i tät, ins Formlose ü b e r s t r ö m e n d u n d k o n s t r u k t i v g e b u n d e n , a u f lösend u n d a u f b a u e n d f a ß t es die schärfsten Gegensätze des J a h r h u n d e r t s zusammen. W a s die f r ü h e R o m a n t i k anregte, entwickelt es mit äußerster K o n s e q u e n z zur E n d g ü l t i g k e i t ; der W e g v o m M ä r c h e n zum M y t h o s , v o m Freischütz zum N i b e l u n g e n r i n g , zeigt die N o t w e n d i g k e i t g r o ß e r k u n s t g e schichtlicher E n t w i c k l u n g e n . Für die M u s i k b e d e u t e t es das Heraustreten aus den strengen klassischen M a ß e n in eine Freiheit, deren A u s w e r t u n g n e u e m Genie v o r b e h a l t e n w a r ; in der K o m p l i z i e r u n g der Mittel u n d der u n ü b e r b i e t b a r e n Steiger u n g der W i r k u n g e n . Scheinbar Spätwerk u n d E n d e einer E n t w i c k l u n g , birgt es in sich doch g e n u g revolutionäre Gär u n g u n d Keime späterer Formen. Im geistesgeschichtlichen Gesamtbilde des J a h r h u n d e r t s bezeichnet es m e h r eine Vermischung als eine E n t w i c k l u n g u n d K l ä r u n g der vielfältigen K r ä f t e , welche die E p o c h e b e w e g t e n . W i e der Dichter, der Musiker u n d D e n k e r W a g n e r stets im Dienste des Theatralikers b e f a n g e n blieb, so bleibt sein W e r k ein gewaltiges u n d faszinierendes Schauspiel, das die S p a n n u n g e n der Zeit zu tragischer E r h i t z u n g gegeneinandertreibt, o h n e sie eigentlich einer L ä u t e r u n g u n d L ö s u n g z u z u f ü h r e n . Die Vollendung der italienischen Oper durch Giuseppe
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Es zeugt v o n der Einheitlichkeit der E n t w i c k l u n g e n dieses J a h r h u n d e r t s , daß zu derselben Zeit, als das deutsche M u s i k drama sich im G e s a m t k u n s t w e r k R i c h a r d W a g n e r s v o l l endete, auch die italienische O p e r auf einen H ö h e p u n k t ihres W e g e s gelangte. D e r germanischen, sinfonisch b e s t i m m t e n , philosophisch-hintergründigen F o r m der O p e r trat die r o m a nische, vokal bestimmte, realistisch geschlossene g e g e n ü b e r . Beide Formen entwickelten sich a u f nationaler G r u n d l a g e ; bei der italienischen O p e r w i r d diese B e z i e h u n g d u r c h das unmittelbare E i n w i r k e n der politischen Situation auf die E n t w i c k l u n g besonders deutlich. Beide w u c h s e n aber über die nationale Bedingtheit hinaus zu einer W e l t g e l t u n g , die den Begriff des R o m a n t i s c h e n über sich selbst hinaus erweiterte.
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Giuseppe Verdi, der diese Entwicklung der italienischen Oper bewirkte, wurde am 10. Oktober 1 8 1 3 in dem Dorfe Le R o n cole bei Busseto, einem norditalienischen Landstädtchen in der Nähe von Parma, als Sohn eines Gastwirts geboren. Mit zehn Jahren bezog der junge Verdi auf den R a t des Kaufmanns Antonio Barezzi, seines Freundes und Beschützers, das G y m nasium zu Busseto. Fast ein Jahrzehnt verbrachte der Heranwachsende in der Kleinstadt, verrichtete Organistendienste und komponierte f ü r das Laienorchester der Stadt. Achtzehnjährig ging er mit einem Stipendium zur weiteren Ausbildung nach Mailand zu Vincenzo Lavigna, einem Neapolitaner aus der Schule Paisiellos, der zugleich ein Meister der Opernpraxis und des strengen Satzes war. Nach einem Zwischenspiel in Busseto, das dem jungen Musiker die Tochter seines Gönners Barezzi, Margherita, als Gattin zuführte, kehrte Verdi mit der Partitur einer ersten vollendeten Oper nach Mailand zurück. Im N o vember 1839 ging „ O b e r t o " in der Scalain Szene. In den A u f stieg des zäh ringenden Künstlers trafen schwere Schicksalsschläge; im Lauf von zwei Jahren starben Verdis zwei Kinder und seine Frau Margherita. Eine komische Oper ,,Un giorno di regno" wurde unter diesen düsteren Lebensumständen ein Mißerfolg, die Schaffenskraft des Vereinsamten schien gebrochen. Aber der Impresario Merelli, der an ihn glaubte, gab ihm ein Textbuch Soleras, eines Dichters der italienischen Freiheitsbewegung, in die Hand; am 9. März 1842 erklang in der Scala zum ersten Male „ N a b u c c o " , und die gewaltig schreitenden Chöre der gefangenen Israeliten, von den Hörern als B e kenntnis zur eigenen nationalen N o t verstanden, verschafften dem W e r k stürmischen Erfolg. V o n diesem Abend an w a r Verdi zum Musiker der italienischen Freiheitsbewegung gestempelt, die noch mehr als fünfundzwanzig Jahre brauchte, um ihr Ziel, die Einheit des unabhängigen Königreichs, zu erreichen. Die politische Situation Italiens war nach dem Sturz N a p o leons noch gedrückter geworden. Das Land war zerrissen und in verschiedene Einflußsphären aufgeteilt. Im Königreich Lombardei-Venetien, in Toscana und Modena herrschte Österreich, in Parma, Piacenza und dem Königreich Neapel und Sizilien regierten die Bourbonen, nur das Königreich Sardinien unterstand dem einheimischen Fürsten Carl Albert, auf den sich die Hoffnungen der Patrioten gründeten. Aber erst sein Sohn Victor Emanuel II. konnte, emporgetragen durch die kriegerische, mit dem dritten Napoleon gegen Österreich paktierende Politik des Grafen Cavour, 1861 den Titel eines Königs 8*
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von Italien annehmen, und erst 1870 wurde R o m die Hauptstadt des geeinigten Königreiches. Die Entwicklung, die danin führte, w a r von einer literarischen B e w e g u n g getragen, in der der Idealismus des jungen Italien sich auslebte. Daß auch Verdis kraftgeladene, aus der nationalen Tradition erwachsene Kunst spontan f ü r die B e w e g u n g in Anspruch genommen, daß die Person des Meisters den Führern des Freiheitskampfes zugezählt und noch der reife, dieser aktivistischen Sphäre längst entwachsene Verdi in den sechziger Jahren als Abgeordneter in das erste italienische Parlament gewählt wurde, ist ein Zeichen f ü r die Verbundenheit der romantischen Kunst mit den nationalen Kräften, die überall in Europa sich regten. Die Werke dieser Periode, in denen nur zum geringeren Teil der nationale T o n direkt anklingt, während die meisten über der Zeit stehen und schon die Auseinandersetzung Verdis mit der großen europäischen Literatur, mit Victor H u g o , Schiller, Shakespeare anbahnen, sind: ILombardi alla prima Crociata 1843, Ernani 1844, Idue Foscari 1844, Giovatinad Arco 1845, Alzira 1845, Attila 1846, Macbeth 1847, I Masnadieri (Die Räuber) 1847, II Corsaro 1848, La battaglia di Legnano 1849, Luisa Miller 1849, Stiffelio 1850. Die Zeit der rastlosen Tagesarbeit, die Verdi später seine „Galeerenjahre" nannte, endete mit der Bindung des Meisters an die Sängerin Giuseppina Strepponi, die sich einst als gefeierte Primadonna f ü r seine Jugendopern eingesetzt hatte. Der Bund erhielt zehn Jahre später, während der Wirren des kriegerischen Jahres 1859, seine kirchliche Bestätigung. 1849 erwarb Verdi das Besitztum, das die Stätte seines Lebens wurde, das Gut Sant° Agata nahe bei Busseto in der norditalienischen Ebene. Mit der Seßhaftigkeit w a r auch die künstlerische R e i f e da. Sie zeichnet sich ab im „Rigoletto" von 1 8 5 1 , und den beiden Opern des Jahres 1853, „II Trovatore" und „La Trauiata", die bei der Uraufführung in Venedig durchfiel. Auch „Les Vepres Siciliennes" (1855 in Paris) und ,,Simone Boccanegra" (1857), der erst 1881 seine endgültige Gestalt erhielt, hatten nicht den entscheidenden Erfolg, der dem wirkungsvolleren „Un ballo in Maschera" 1859 in R o m zufiel. Verdis R u h m drang immer mehr in die Weite. 1862 führte er in Petersburg „Laforza del destino" auf, 1865 wurde „ M a c b e t h " f ü r Paris umgearbeitet, 1867 folgte ebendort „ D o n Carlos". Mit der „ A i d a " , die im Auftrag des Vizekönigs von Ä g y p t e n f ü r ein Honorar von 100000 Francs zur Eröffnung des Suezkanals geschrieben wurde und 1 8 7 1 in Kairo zur A u f f ü h r u n g kam, schließt diese Periode der mittleren Schaffensreife ab.
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Eine sechzehnjährige Schaffenspause wurde nur 1873 von dem Streichquartett in e-Moll und 1874 von dem R e q u i e m unterbrochen, das auf den T o d Rossinis begonnen und auf den T o d des Dichters Manzoni vollendet war. 1887 überraschte der Dreiundsiebzigjährige die Welt mit einem Meisterwerk ganz neuen Stils, der Komposition von Shakespeares „ O t h e l l o " , deren textliche Fassung von dem Dichter-Musiker Arrigo B o i t o besorgt war. Wieder f ü n f Jahre später, 1892, folgte „ F a l s t a f f " , der heitere Epilog des Dramatikers. Die letzten Werke des greisen Meisters waren geistlicher A r t : vier ,,Pezzi sacri", nämlich Ave Maria, Laudi alla Vergine Maria, Stabat mater und Te Deum. A m 27. Januar 1901 schloß Verdi, längst vereinsamt und seiner Zeit entwachsen, zu Mailand die Augen. Es liegt nahe, die Persönlichkeiten des italienischen und des deutschen Meisters, Verdis und Wagners, zu vergleichen. Beiden war, im gleichen Jahre geboren, die Entwicklung eines langen Lebens und die R e i f e des Alters vergönnt. Beide griffen durch die K r a f t ihrer Persönlichkeit in die reale Sphäre des allgemein Menschlichen und Politischen hinein. A b e r während W a g n e r s expansive Natur diese W i r kung begierig suchte, trachtete Verdi, ganz in sich selbst zurückgezogen, sich ihren Verpflichtungen mehr und mehr zu entziehen. Schon hier zeigt sich der Gegensatz der Charaktere. D e m beweglichen, geistig erregten, tief komplizierten, unermüdlich lebens- und wirkungsdurstigen Sachsen steht die einfache, starke Natur des Norditalieners entgegen, die sich langsam und stetig zu einer großen und tiefen Menschlichkeit entwickelt. Immer ist das Bäuerische in Verdis W e s e n als bezeichnend angemerkt worden, die herbe, gleichsam holzgeschnitzte Eigenart seiner Persönlichkeit, die schlichte, selbstverständliche Liebe zum V o l k und B o d e n seiner Heimat; es w a r die mächtige, gesunde Lebenskraft, die seiner tief f ü h l samen, leidenden, tragisch gespannten Seele das Widerspiel hielt. M a n kann diese Spannung seines Wesens nicht als Harmonie bezeichnen; immer wieder bricht in den Äußerungen noch des alten Meisters ein unheilbarer Pessimismus durch, der dem W e l t g e f ü h l Schopenhauers an Dunkelheit nicht nachsteht; der Ausruf ,, Triste, triste", der in seinen Briefen so o f t wiederkehrt, möchte als K e n n w o r t seiner Lebensauf-
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fassung gelten. Dennoch wirkt diese Persönlichkeit ruhig, groß und geschlossen durch ihre klare, bis ins Tiefste durchschaubare Einfachheit u n d die Kraft, mit der sie die inneren Spannungen beherrschte, ein Einklang v o n N a t u r u n d M e n schentum, der zu den reinsten Eindrücken des vielgestaltigen Jahrhunderts gehört. Demgemäß ist auch das W e r k Verdis mit anderen, einfacheren Maßstäben zu messen als das W a g n e r s . Es bedarf nicht des vielschichtigen geistigen Unterbaus, es wächst u n mittelbar aus der offenen, ungebrochenen Wesensart seines Volkes u n d seines Schöpfers heraus. Es steht darum an Bedeutung u n d Gehalt nicht hinter dem Wagnerschen zurück; es ist dem Leben näher, s o w o h l seinen elementaren wie seinen menschlich-gefühlshaften Kräften, es spricht deutlicher u n d unmittelbar v o n der Gewalt der Triebe u n d den Geheimnissen des Herzens; es ist die Vollendung und K r ö n u n g jenes v o n der Renaissance geborenen Bestrebens, das zu Florenz u n d durch Monteverdi um die W e n d e des sechzehnten Jahrhunderts einsetzte, die E r f ü l l u n g der Humanität in der Musik. So bedient dieses W e r k sich auch des menschlichsten der musikalischen Ausdrucksmittel, der Gesangsmelodie. Von jeher war die Menschenstimme, aus der B i n d u n g des Chors zur Individualität befreit, das Hauptinstrument der italienischen Oper gewesen. In den Rezitativen Peris u n d Caccinis hatte sie sich selbst gefunden, in der melodischen M o n o die Monteverdis hatte sie sich gegen die Ausdruckskraft des neuerstandenen Orchesters behauptet. W a r die Kantilene der neapolitanischen Oper v o n Scarlatti bis zu Rossini hin in wechselndem Maße v o n instrumentalen Melismen durchsetzt worden, so w u r d e sie von Bellini auf ihre lyrische U r gestalt zurückgeführt. Hier war es, w o Verdi unmittelbar ank n ü p f e n konnte. Die lyrische Glut dieser romantisierten M e lodie entzündete sich bei ihm zur verzehrenden Flamme, die menschliche Stimme w u r d e ihm, dem geborenen Dramatiker, zur Individualität,' zum dramatischen Charakter. In der Schärfe der Charakterisierung durch Gattung, Farbe u n d Nuance der Gesangstimme beruht die ungeheure u n d primitive Ausdrucksgewalt der Verdischen O p e r ; die dunkle
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Glut des Baritons f ü r den Haß und die Leidenschaft Lunas, der tenorale Glanz der Helden Radames und Othello, der beschattete Mezzoklang f ü r die leidende Amelia sind Ausdrucksfarben von eindeutiger K r a f t und Ursprünglichkeit. Dazu kommt eine Kunst der Verflechtung und Kontrastierung der Stimmencharaktere, eine neue vokale Architektur. Die scharflinige Charakterisierungskunst des Donizettischen E n s e m bles, aus dem heiteren Spiel der B u f f o o p e r geboren, w i r d bei dem Tragiker Verdi zum brandenden Zusammenprall k ä m p fender Affekte. Die Energie, mit der widerstreitende Leidenschaften und Charaktere unter den gemeinsamen B o g e n eines musikalischen Satzes gezwungen werden, ist ohne Beispiel; der Zusammenklang von lachendem Leichtsinn und taumelnder V e r z w e i f l u n g im Quartett des „ R i g o l e t t o " , v o n stammelndem Entzücken und loderndem Haß im Finale des zweiten Troubadouraktes sind W ü r f e eines Dramatikers von urtümlicher K r a f t . In diesem Drama der gesungenen A f f e k t e muß das instrumentale Element dienend und stützend bleiben. Dennoch wächst auch das Orchester weit über den Glanz und die Schlagkraft des Rossinischen hinaus. Die elementare W u c h t seiner R h y t h m e n , die Stärke der hart und klar a u f getragenen, überwiegend dunklen Farben, sind bezeichnend f ü r den Tragiker; andererseits zeugt die Linienführung der singenden Begleitstimmen in den Arien, v o r allem der seelenvollen Holzbläser, v o n einer Zartheit des Gefühls und einer Diskretion des musikalischen Ausdrucks, die nur mit Mozart zu vergleichen sind. W a s zuerst aus Verdis W e r k die Zeitgenossen ansprach, war die elementare Kraft seiner Tonsprache, die nach der Verfeinerung der Frühromantik als ein volkhaft-revolutionäres Element wirkte. Die Chöre des „ N a b u c c o " machten ihn zum Sänger der nationalen Bewegung. Die Werke dieser Zeit stehen völlig in der heimatlichen Tradition, sind Zeitkunst von heißer und packender Aktualität. Die Form der historischen Oper rückt in eine neue Erlebnisnähe, wenn sie Stoffe aus der vaterländischen Geschichte wählt. Die „Schlacht von Legnano" ist ein prächtiges Gemälde politischer Leidenschaft, aus dem die Figur B a r barossas, hier naturgemäß als feindlicher Tyrann gesehen, in imponierenden Zügen hervorragt.
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Langsam und allmählich, an der Hand der großen Dichter, wuchs der Menschheitsdramatiker aus dem Tageskomponisten heraus. Der entscheidende Durchbruch geschah mit dem R i g o letto, der die Werkreife der mittleren Schaffenszeit eröffnet. Die treibende Kraft dieses Durchbruchs war ein radikaler Wille zur Wahrhaftigkeit, ein Herandrängen an die Natur, wie es auf der Opernbühne ohne Beispiel war. Der Opernheld wird von seinem Kothurn herab genommen. Er ist nicht mehr schönsingende Statue, wie in der Barockoper; er wird Mensch in seiner Schwäche und Unzulänglichkeit. Der bucklige Narr steht im Mittelpunkt, boshaft und leidend, gefährlich und kläglich. Ihm gegenüber der Herzog, schön und blendend, verderbt und gewissenlos; die reine, liebende Jungfrau wird sein Opfer, und nur die Rücksicht auf die Zensur kann Verdi davon abhalten, die Verführung im Schlafzimmer des Herzogs selbst auf die Bühne zu bringen. Die Musik dringt in alle Poren dieses nackten Menschentums ein, sie ist von einer neuen Nervigkeit und Elastizität, sie jubelt und schreit, taumelt und tanzt. Jede Nuance des Gefühls wird empfindsam ausmusiziert, das Leise und Zarte, das Rasche und Flüchtige findet seine treue Spiegelung. Die alten Formen, Arie, Ensemble, Chor, bleiben voll in Geltung, aber sie verschränken sich inniger, die Nahtstellen werden ausgefüllt und überdeckt von lebendigen, ariosen R e z i tativen, denen eine Fülle psychischer Substanz anvertraut ist. Aber die Form verfällt nicht der Gefahr naturalistischer A u f lösung; der Melodiker breitet über das Krasse und Häßliche den glänzenden Schleier seiner Kantilene, aus Leid und Unheil steigt die alte, ewige Melodie der Oper: die schillernde Koloraturarie Gildas, die leichtfertigen Weisen des Herzogs, der Strom edler und rührender Melodie, mit dem sich Rigoletto über sein niedriges und grausames Schicksal erhebt. Der gleiche Wirklichkeitsfanatismus hat das Schwesterwerk „LaTraviata" geschaffen. Nach dem Romantiker Victor H u g o ist nun der Realist A l e xandre Dumas sein Dichter; Schauplatz ist der mondäne Salon, Heldin die „Dame aux Camelias", die Kokotte, die nach einem Leben des Leichtsinns und der Liebe der Schwindsucht zum Opfer fällt. A n den Gefahren des Stoffes bewährt sich die Diskretion des Meisters, die gerade hier eine Partitur von wunderbarer Zartheit und Reinheit schafft. V o r allem offenbart sich Verdi hier in seiner vielleicht eigensten Funktion als der Musiker des Todes. W i e er diese Gestalt aus dem Rausch und Taumel des Lebens zum Tode hin läutert, wie er sie mit immer leiseren, immer transparenteren Weisen um-
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gibt, bis sie mit schwebenden, baßlosen Sphärenklängen in ein Lichtreich hinübergeht, das gehört zu den Wundern der romantischen Musik. Zwischen den beiden Ausnahmeschöpfungen, zwischen den Extremen des Krassen und des Intimen steht der große und einfache Normalfall der Oper, „II Trovatore". Dieses Schauerdrama des spanischen Dichters Gutierrez, das die Grundtypen menschlichen Gefühls, Liebe, Eifersucht, Muttergefühl wie in einem Schulbeispiel verkettet, diente Verdi zum Vorwurf für eine starke, großlinige, unerschöpflich melodiöse Musik, die mit Recht seine volkstümlichste wurde. Sehnsüchtige Romanzen, jubelnde Koloraturarien, strahlende tenorale Eruptionen, balladeske Altszenen, Ensembles, welche die Stimmen wie Ströme glutflüssigen Erzes gegeneinandertreiben — hier bewährt sich Verdi als der Zauberer, der die alten, berauschenden Mittel der Oper verschwenderisch auszustreuen weiß, als der Verwalter der romanischen Tradition, dessen Genie fest im Vergangenen wurzelt. An diese Werkdreiheit schließt sich der glänzende ,,Maskenball", eine echt opernhafte Dramatisierung des tragischen Endes König Gustavs III. von Schweden, der auf einem Balle dem Attentat des verschworenen Adels zum Opfer fiel (die Verlegung der Handlung in das amerikanische Kolonialmilieu, eine Konzession an die Zensur, ist eine Entstellung des "Werkes). Das Rokokokolorit durchdringt die Musik, die heiter, fast zierlich hinfließt; charakteristisch für den gesellschaftlichen Geist des Werkes ist der Reichtum an prächtigen, kunstvoll gebauten Ensemblesätzen. Dunkler, reicher, tiefer ist die „Macht des Schicksals". In der verworrenen Dramaturgie des Textes verbirgt sich eine Weltschau von shakespearescher Objektivität. Ein zufällig losgehender Schuß löst das Schicksal aus und führt eine Reihe verketteter Menschen in den Untergang: das war ein Motiv, welches den düsteren Fatalisten Verdi tief ansprechen mußte. Aber angesichts der Unvollkommenheit der Welt besinnt er sich auf die Macht, die über dem Schicksal steht: der diesseitsgläubige Realist wird zum tiefen, inbrünstig fühlenden religiösen Musiker. Die ernste Hoheit der Klostergesänge, die Seelengewalt des Paters, der die verirrte Frau zum Frieden geleitet, die Gnade, die das dunkle Ende der Liebenden himmlisch überglänzt — das sind neue Klänge in der Verdischen Tonwelt, eine neue, mildere Lösung auch der Frage nach dem Sinn und Wesen des Todes, die den alternden Meister unablässig beschäftigt. Und es ist ein feiner und tiefer Zug, daß hier, angesichts des Ernstesten, zum einzigen Male das komische
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Element in Verdis Schaffen sich regt, in der Figur des närrischen Mönches Melitone, der die geistliche Würde derb irdisch persiffliert; ein Ausgleich, dessen der Realist Verdi zur Erhaltung des ästhetischen Gleichgewichts bedurfte. Auch die geschichtliche Oper bleibt im Blickfeld des reifen Meisters. Bedeutender als die glänzend musizierte, französisch beeinflußte „Sizilianische Vesper" ist das politische Drama „ S i mone Boccanegra", wohl die eigenste und gewaltigste Tat Verdis überhaupt. Hier, begeistert v o m Pathos der vaterländischen Geschichte und von der dichterisch erhöhten Renaissance gestalt des genuesischen Dogen und Friedensherrschers, der dem G i f t seiner Feinde zum Opfer fällt, erhebt sich der Musikdramatiker zu wahrhaft shakespearischer Größe. In zwei Anläufen entsteht die endgültige Fassung der Partitur, die den freien, von langen und bedeutenden Rezitativen durchsetzten A u f b a u der Spätwerke aufzeigt. Ergreifend sind die stillen, dunklen Momente, die in den herben, tragischen Gesamtklang eingeflochten sind; wunderbar der Augenblick, da der D o g e , schon vom Tode gezeichnet, sich auf den Klang des rauschenden Meeres besinnt, der seine Jugend begleitete, wunderbar sein Sterben, gemischt aus düster Feierlichkeit, zehrendem Herzweh und Ahnungen ewigen Lichts. U n d inmitten der freizügigen Seelenschilderung ein geschlossenes Musikstück von hinreißender Gewalt: der Chorsatz, der der Friedensrede des Dogen im R a t e folgt, der die streitenden Parteien unter der milden Führung der Frauenstimme zur Einheit zusammenzwingt— ein Triumph des liebenden Geistes der Musik, ein Bekenntnis des Politikers Verdi, der weit über das kämpferische Pathos seiner Jugend hinausgewachsen war. Endlich nach diesem Bekenntniswerk von glühender Aktualität eine schönheitsselige Schöpfung des Künstlers, der Abschied des Opernmeisters von der Opernbühne: „ A i d a " , die Erfüllung der Opernform überhaupt, rückschauend wie der „ T r o u b a d o u r " . Das Spiel von Heldentum, Liebe und Eifersucht, aus äußerem Anlaß in altägyptisches Kostüm gekleidet, wird in ein Prunkgewand unerschöpflicher Melodie gehüllt; Licht und Farben sind verschwenderisch gesetzt, die klingende Pracht schmetternder Aufzüge und Chöre wechselt mit der Leidenschaft kantabler Ausbrüche und der Süße schmeichelnder Kantilenen. Die Formen sind frei und fließend gehalten, das Orchester, leuchtend v o m Sonnenglanz hoher Violinen, hat am melodischen Überfluß teil. A m Ende eine der höchsten Sublimierungen des Todeserlebnisses, die die Musik vollbracht hat; das „ O terra, addio", der Zwiegesang der
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lebendig Begrabenen, die Erfüllung des Grabes mit dem überirdischen Lichte selig mitschwebender Melodie. Neben dem Vollender der italienischen Operntradition ist der Interpret der großen Dichter, Schillers und Shakespeares, gesondert zu betrachten. Bei Schiller ist es ein spürbarer Gleichklang der Temperamente, der Dichter und Musiker verbindet ; was in der Vorlage verhaltene Musik ist, bricht in der Komposition stark und voll aus. Nach der noch befangenen „Johanna d ' A r c " weht in den „ R ä u b e r n " der Sturm des schwarzen Pathos, den Schiller in das gläserne Gefäß des Wortes verschloß. In der „Luisa Miller" wird die innere Musik des V o r wurfs klingende Lyrik. Der Gegenspieler W u r m äußert seine schleichende Bosheit schon in der schneidenden Kälte des R e z i tativs, das später die ungeheure Gestalt Jagos so scharf umreißt. Auch in dem späten, kurz vor der Aida geschriebenen „ D o n Carlos" weht der Atem der idealistischen Schillerschen Lyrik. Die strenge Würde des spanischen Zeremoniells bestimmt den dunklen Klang der gepanzert einherschreitenden Partitur, die das Blech wie keine andere beteiligt. Über allem steht beherrschend die Königsgestalt Philipps,tragisch gebrochenindüstererMajestät und unnahbarer Einsamkeit; seine Arie zählt zu den dunkelsten und erschütterndsten Seelengemälden, die Verdi geschaffen hat. Viel weiter von der Opernkonvention entfernt sich Verdi in seinen Shakespearevertonungen. Es zeugt von der K r a f t seines Wollens, daß er aus der Fülle der Gestalten die großartigsten und abgründigsten, Macbeth, Lear (der unausgeführt blieb) und Othello wählte. Schon der früh konzipierte, in späterer Ü b e r arbeitung zur R e i f e gediehene „ M a c b e t h " ist ein revolutionäres W e r k . Die blutige Gestalt des Königsmörders steht in gewaltigem, von Gewittern des Gefühls durchzuckten und von Finsternissen überschatteten Rezitativen auf, die in den heroischen Aufschwung weitgespannter Baritonkantilenen einmünden. Über den Helden hinaus wächst, kalt und gleißend, die Figur der Lady Macbeth. Treibende Rhythmen, glitzernde Koloraturen, die den Mezzosopranklang der Partie in der Höhe überblenden, bezeichnen ihren ehrgeizigen Willen. Daneben steht unvermittelt die Nachtseite ihres Wesens; die Qual des Gewissens entlädt sich in der großartigen Nachtwandelszene, welche die zarten Traumklänge der Bellinischen „ S o n n a m b u l a " ins Grausig-Tragische übersetzt. W i e sehr es Verdi hier um Schärfe des Ausdrucks zu tun war, geht daraus hervor, daß er seine Sänger anwies, weite Strecken nicht zu singen, sondern mit heiserer Stimme zu deklamieren — eine Absage an den
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Belcantogeist der italienischen Oper, die den Musiker gänzlich der Faszination des nordischen Dramatikers verfallen zeigt. „ M a c b e t h " ist die einzige Shakespearevertonung, die in die reguläre Schaffenszeit des Opernkomponisten Verdi fällt. D i e beiden übrigen liegen zeitlich weit hinter der „ A i d a " , mit der der Künstler sein T a g e w e r k f ü r die Welt abschloß. Sie sind gleichsam private Studien und Versuche des alten Meisters, der den Kreis seiner Kunst erschöpft hatte. Grenzüberschreitungen in eine Sphäre der absoluten Dramatik, die keine Bindung an das reale Theater mehr kannte; das Experimentelle, das sonst am Anfang einer Künstlerlaufbahn zu stehen pflegt, wurde hier dem Siebzigjährigen zum Reiz. S o zeigt der „ O t h e l l o " , der fünfzehn Jahre nach der „ A i d a " vollendet wurde, einen ganz neuen Verdi, der mit jugendlicher Kühnheit zu neuen E n t deckungen vorstößt. Die dramaturgische Fassung, die A r r i g o B o i t o besorgte, läßt die zwei ersten Akte Shakespeares entfallen, die Oper setzt ein mit dem Seesturm auf Cypern w i e mit einem vollen Akkord. Z w e i bedeutsame Einfügungen verlangt der Musiker: die nächtliche Liebesszene zwischen Othello und Desdemona und das gewaltige, teuflische Credo, in dem Jaj*o seine verderbte Natur lyrisch offenbart. Im übrigen ist die Figur dieses abgründigen Bösewichts, dem die Melodie nicht beikommen kann, gänzlich von phantastisch bewegtem Rezitativ wie mit scharfem Zeichenstift umrissen Aber auch Othellos Qualen fordern diese Behandlung. N u r noch selten bricht der Glanz tenoraler Lyrik durch, am schönsten am Ende, als der T o d dem Irrenden die Vereinigung mit der lieblichen Desdemona wie ein spätes Glück beschert. Die neue dramatische Technik fordert auch eine stärkere Beteiligung des Orchesters. Die romantischen Instrumentalfarben sind mit einer Ökonomie gesetzt, die ihnen einen frischen, unverbrauchten Glanz verleiht. Die Harmonien um Desdemona sind von einer Feinhörigkeit, die den Dreiklang wieder als Urerlebnis begreift. Die Affekte sind mit sicherer Hand aus dem Grunde des Unbewußten herausgelöst und ans Licht gezogen. Das Dunkle, Untergründige der Tragödie, das der Dichter verschweigt, tritt mit erschreckender Deutlichkeit ins Bewußtsein. Gewiß ist der Einfluß W a g ners in diesem Stilwandel spürbar; aber auch in dieser A n gleichung wahrt der italienische Meister seine volle Individualität. S o bleibt er auch in der letzten Verwandlung er selbst: als Schöpfer einer musikalischen Komödie. N a c h den Helden und großen Verbrechern, denen er früher den Atem seiner Melodie lieh, wählt er nun den Narren, den gefräßigen, trunksüchtigen,
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ganz der Pflege seines Leibes hingegebenen K a u z : Falstaff. Die Lyrik ist nun versiegt; alle Empfindung preßt sich in wenige, durch Konzentration ungeheuer eindringliche Formeln zusammen. Aber der Geist wirkt weiter. E r bedient sich der leichtfüßigen Rhythmen, der rasch versprühenden Figuren der Buffooper, doch er gibt ihnen einen einmaligen und abschließenden Sinn. Dies ist nicht mehr der überschäumende Frohsinn eines heiteren Volkes, der sich in Rossini verkörperte, es ist das einsame Lachen des Weisen, der die Welt und das Leben hinter sich gebracht hat. „Alles ist Spaß", verkündet die Schlußfuge des Werkes— das letzte Bekenntnis des Tragikers, der das Schaffen seines Lebens den Qualen und Abgründen des menschlichen Herzens gewidmet hatte. Daß dieses Lachen rein und hell und ohne Bitterkeit ist, macht diese Altersschöpfung so kostbar: ihre Heiterkeit ist erlösend wie der Mitleidsglaube, durch den der Bayreuther Meister die Welt überwand. DIE DEUTSCHE MUSIK N E B E N NACH WAGNER
UND
Das öffentliche Musikleben nach 1850 Das öffentliche Musikleben machte in Deutschland und den Ländern der europäischen Mitte in der zweiten Jahrhunderthälfte eine W a n d l u n g durch, die v o r allem durch das W a c h sen des materiellen und des geistigen A u f w a n d e s charakterisiert ist. Die Bevölkerungszahlen begannen anzuschwellen, die Städte dehnten sich aus, die Proportionen des öffentlichen Lebens weiteten sich; die Technik steigerte den Lebenskomfort, die Ansprüche an künstlerischen Luxus jeder Artstiegen. Die Musik kam diesen Bedürfnissen ihrerseits entgegen. Schaffende Musiker wie Meyerbeer, Berlioz, W a g n e r hatten das Klangvolumen des musikalischen Kunstwerks beträchtlich vergrößert. Die Oper arbeitete mit Massenwirkungen, das Orchester wuchs über die Ausmaße der klassischen Zeit hinaus. A u c h die Qualität der Darbietungen steigerte sich. D i e technischen Anforderungen der Partituren an die Spieler wuchsen; zur Zeit Wagners mußte jeder Orchestermusiker Schwierigkeiten überwinden, die man früher nur Virtuosen zugemutet hätte. Die Dilettantenorchester, die am A n f a n g des
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Jahrhunderts noch eine bedeutende R o l l e spielten, waren dieser Entwicklung nicht gewachsen; die Führung ging ganz auf die großen, technisch durchgeschulten Berufsorchester über, die in vielen größeren Städten gehalten und gut oder leidlich besoldet wurden. N u r in den überall florierenden, stark besetzten Chorvereinigungen blieb dem Laien noch eine M ö g lichkeit, bei öffentlichen Konzertproduktionen mitzuwirken. Diese Entwicklung des Orchesters gab der R o l l e des Dirigenten neue Bedeutung. Der ältere Kapellmeistertypus, der die Probenarbeit leitete und den A b l a u f der A u f f ü h r u n g mit dem Taktstock leicht lenkend überwachte, wie ihn noch W e b e r , Spohr, Mendelssohn dargestellt hatten, vermochte die neuen, größeren Klangkörper nicht mehr in romantischem Sinne zu beherrschen. Wieder waren es die schaffenden Musiker, B e r lioz und W a g n e r , die einen neuen T y p u s vorzeichneten, einen T y p u s , dein es um romantische Ausdrucksdurchdringung zu tun war, der aber dieses Ziel nur auf der Grundlage gründlicher und genauer technischer Kleinarbeit erreichen konnte. D e r Dirigent w u r d e eine Macht des öffentlichen Musiklebens. E r trug die Verantwortung f ü r das geistige Gesicht der musikalischen Produktion. Die Dirigenten, die aus der Schule B a y reuths hervorgingen, Hans Richter, A n t o n Seidl, Felix M o t t l , wirkten durch persönliche Autorität, am meisten Hans von B ü l o w ( l 8 3 0 — 1 8 9 4 ) , der, aus dem Wagnerkreise herkommend und sich zur Selbständigkeit durchringend, sich zum G e schmacksdiktator im Konzertsaal des endenden Jahrhunderts entwickelte. A u c h die R o l l e des Virtuosen w u r d e eine andere. Einerseits w a r die Durchschnittsebene der allgemeinen Leistung so gestiegen, daß der Virtuose kaum mehr Ausnahme war. Andererseits gaben die Verbreiterung und Industrialisierung des Konzertbetriebes, das Anwachsen der Hörermassen und die Stärkung der K a u f k r a f t auch dieser vervielfachten Z a h l R a u m zu öffentlicher W i r k u n g und materieller E x i stenz. Die konzertierenden Pianisten und Violinisten dieser Jahrzehnte waren aber, so sehr auch sie gefeiert, verehrt und belohnt wurden, nicht mehr Herolde ihres eigenen R u h m e s , sondern „Interpreten", Mittler großer, nun schon durch Uberlieferung gefestigter Kunstwerke. Das alte Virtuosen-
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programm mit seiner losen Aneinanderreihung brillanter Kleinigkeiten wandelte sich zur Sinnvollen Folge ernster Meisterwerke, die durch ihren Gehalt auf den Hörer wirken sollten. A u c h der Sänger machte eine ähnliche W a n d l u n g seiner Stellung durch. Nicht nur, daß seine physische Erscheinung und seine technische Fähigkeit sich v o n Grund aus veränderten, daß der lyrische, hochkultivierte Schönsänger der Frühromantik von dem stimmkräftigen, mit naturalistischen W i r kungen arbeitenden Wagnersänger abgelöst wurde. A u c h er verlor einen Teil seines Virtuosennimbus. E r schrieb nicht mehr den Komponisten den Stil ihrer Arien vor, sondern bemühte sich, den Forderungen des allmächtigen Musikdramatikers, mochte er W a g n e r oder Verdi heißen, gerecht zu werden. Auch die Protagonisten des Wagnertheaters, J o s e p h Tichatschek, L u d w i g Schnorr v o n Carolsfeld, Albert N i e mann wurden gefeiert, ja sie erregten einen neuen Kultus des Heldentenors, aber sie blendeten weniger durch das W u n d e r eigener Kunst, als durch den stärkeren und geheimnisvolleren Zauber der Gestalten, die sie verkörperten. Eine andere wichtige Erscheinung w a r die Literarisierung des Musiklebens. Musik w a r nicht mehr Gegenstand naiven Genusses, sondern der bewußten Betrachtung, der ästhetischen W e r t u n g und der wissenschaftlichen Erkenntnis. Neben den schaffenden und reproduzierenden Künstler trat als dritte entwicklungsbestimmende und gleichberechtigte Macht der Kritiker. Wieder ging die Entwicklung v o m schaffenden Künstler selbst aus. Dem romantischen Musiker w a r die literarische Äußerung gleichsam als zweite Natur eigentümlich; W e b e r und Schumann, Berlioz und Liszt hatten sich des W o r tes in belehrender und polemischer Absicht gern und reichlich bedient, und Wagners an U m f a n g und Gehalt monströses schriftstellerisches W e r k forderte gebieterisch zu denkerischer Auseinandersetzung mit musikalischen Tatbeständen auf. Die Zuspitzung der geistigen Situation, die scharfe Trennung v o n Tradition und Fortschritt taten um die Jahrhundertmitte ein Übriges, die Geister zur Besinnung und Scheidung aufzurufen. Z w e i Lager standen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. A u f der einen Seite stand die Fort-
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schrittspartei, die unter dem Namen der neudeutschen Schule sich um das Werk und die Theorie Wagners und Liszts scharte. Ihr publizistisches Organ wurde die „ N e u e Zeitschrift für Musik", die aus den Händen Schumanns an den Musikschriftsteller Franz Brendel übergegangen war und die Federn der Zukunftsgläubigen in ihren Spalten vereinte. Freilich brachte diese Richtung, auch in ihrem entschiedensten Vertreter Friedrich von Hausegger, niemanden hervor, der sich an schriftstellerischer Bedeutung mit Wagner selbst hätte messen können. A u f der anderen Seite stand die konservative Richtung, die den Anschluß an die Romantiker Mendelssohn und Schumann aufrechterhielt und später Brahms auf den Schild erhob. Sie fand in dem Wiener Kritiker Eduard Hanslick (1825—1904), dem erbitterten Gegner Wagners, der ihn in der Figur des Beckmesser karikierte, einen Vertreter von geschichtlicher Bedeutung. Hanslick, der das deutsche Musikleben jahrzehntelang von Wien aus überwachte, erwarb sich durch die Schärfe und Klarheit seines Urteils eine ungeheure geistige Macht; seine kleine Schrift „ V o m MusikalischSchönen", ein Versuch der ästhetischen Bestimmung der Musik als „tönend bewegter Form", hat auf viele Ausschweifungen und Verschwommenheiten romantischer Ästhetik korrigierend eingewirkt. Bedeutsamer als der Aufstieg des Musikjournalismus ist eine andere Wirkung der Literarisierung der Musik: die B e gründung der Musikwissenschaft, die zwar nicht im Lichte der breiten Öffentlichkeit vor sich ging, aber von um so tieferer und nachhaltigerer Wirkung war. Schon 1826 wurde Carl Friedrich Breidenstein Privatdozent für Musik an der Universität Bonn, vier Jahre späterbegannAdolphBernhard Marx, der Biograph Glucks und Beethovens, in Berlin zu lesen. Von 1835 an erschien das umfassende achtbändige Lexikon des belgischen Musikgelehrten François Joseph Fétis,,.Biographie universelle des Musiciens". 1858 kam Friedrich Chrysanders „Händel" heraus, 1880 war Philipp Spittas „ B a c h " vollendet, zwei grundlegende Meisterwerke biographischer Forschung. Die Namen August Wilhelm Ambros (1816—1876), Hermann Kretzschmar (1848—1924) und Hugo Riemann (1849—1919)
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bezeichnen das Anlaufen einer Entwicklung, die nicht nur eine neue Wissenschaft schuf, sondern auf das allgemeine Musikgefühl nachdrücklich einwirkte; aus dem historischen Sinn der R o m a n t i k geboren, führte sie durch eine ungeahnte E r w e i t e rung des Gesichtskreises und die daraus folgende Objektivierung derMusikauffassungentschiedenausderRomantikheraus. Oper, Instrumentalmusik und Lied Die überragende Erscheinung R i c h a r d Wagners hat auf die zeitgenössische Musikentwicklung eher verwirrend und hemmend als befruchtend gewirkt. Die unbefangene Entfaltung einer B e g a b u n g w a r in seiner Nähe kaum mehr möglich; sein Herrscherwille zwang jeden zur Entscheidung f ü r oder gegen seine Kunst. Z u den wenigen Musikern, die sich in unmittelbarer Nähe R i c h a r d Wagners ihre künstlerische Selbständigkeit bewahrten, gehört der zarte, lyrisch veranlagte Peter Cornelius. W i e W a g n e r stellt er den seltenen Fall einer ursprünglichen Doppelbegabung dar. Als Sohn eines Schauspielers (und Neffe des gleichnamigen Malers) am 24. Dezember 1824 zu Mainz geboren, v e r brachte er seine Werdejahre in Berlin als Schüler Siegfried Dehns. Den Durchbruch zum Persönlichkeitsstil vollbrachte er in einer Liederfolge, mit der der Lyriker in W o r t und T o n fertig dastand. Mit Cornelius erklingt ein neuer Ton in der Entwicklung des deutschen Liedes. Seine Lyrik ist zart, verhalten, von leiser Wehmut überschattet; sie entbehrt des stürmischen Aufschwungs, aber sie erwärmt durch Innigkeit und Reinheit des Gefühls. Die reicheren Mittel des musikalischen Fortschritts sind überall zur Einfachheit gebändigt. A n Bedeutung obenan stehen der Liederzyklus „Trauer und T r o s t " und die naivpoetischen Weihnachtslieder, eine der ganz wenigen künstlerisch hochstehenden Gestaltungen des Weihnachtsereignisses, die das religionsferne neunzehnte Jahrhundert vollbracht hat. Den entscheidenden Schaffensanstoß empfing der junge C o r nelius durch Franz Liszt, in dessen Kreis er mit seiner Übersiedlung nach Weimar eintrat Es entspricht aber seiner feinen, ängstlich auf die Wahrung ihrer Eigenart bedachten Natur, daß er in dieser Atmosphäre des pathetischen Musizierens eine musikalische Komödie mit orientalisch-märchenhaftem Stoff schaffen konnte. Der „Barbier von B a g d a d " wurde eines 9 Oehlmann, Musik des 19. Jahrh.
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D i e deutsche M u s i k neben u n d nach W a g n e r
der Meisterwerke der deutschen komischen O p e r , grundeigenartig in W o r t und T o n , eine einmalige M i s c h u n g v o n skurrilem, kauzigem H u m o r und empfindsamer L y r i k M i t dem greisen, geschwätzigen und selbstbewußten Barbier A b u Hassan A l i Eben Bekar, einem täppischen V e r w a n d t e n des vielgeschäftigen Figaro, ist eine groteske K o m ö d i e n f i g u r gelungen. D i e M u s i k ist in der E p o c h e des hochromantischen Ausdruckspathos ein W u n d e r an lustspielhafter Objektivität und musikantischer Spielfreude. Sie verbindet tändelnde Leichtheit mit strenger Solidität des Satzes. Jede Einzelheit ist fein ziseliert, die Partitur ist v o l l blitzender Kostbarkeiten und sprühender musikalischer Scherze. D a s Lied, nicht die A r i e , ist die G r u n d f o r m , aus der die lyrischen Gesänge entwickelt sind. T r o t z der Leichtigkeit des musikalischen Plaudertons w a h r t die Form ihr R e c h t ; die E n sembles geben sich humoristisch als K a n o n oder Fuge und helfen den graziösen, wirklichkeitsfernen Spielcharakter wahren. D i e Bühnengeschichte des kostbaren W e r k e s ist nicht g l ü c k lich. Liszt, der das anfängliche Befremden des Pathetikers gegen diese humoristische Kunst schnell ü b e r w a n d , führte es 1858 in W e i m a r auf. Seine Gegner benutzten den A b e n d zu einer öffentlichen A b l e h n u n g , die b e w i r k t e , daß es zu keiner weiteren A u f f ü h r u n g zu Lebzeiten des K o m p o n i s t e n kam. Cornelius, der bald darauf nach W i e n übersiedelte, unternahm noch zweimal das W a g n i s eines g r o ß e n dramatischen W e r k e s ; auf den Barbier folgten 1865 „ D e r C i d " , eine lyrisch-heroische O p e r nach Corneille, der das rechte dramatische Leben versagt blieb, und die nordisch-mythische „ G u n l ö d " , die nicht vollendet w u r d e . N e b e n seinem musikalischen Schaffen entfaltete Cornelius, der siebenSprachenbeherrschte,eineregeTätigkeitalsÜbersetzer,u.a. Berliozscher und Lisztscher W e r k e und Schriften und der G l u c k schen „Iphigenie a u f T a u r i s " . Er starb, seit längerer Z e i t g l ü c k lich verheiratet, am 26. N o v e m b e r 1874 in seiner Heimatstadt. W e i t e r h i n blieben die komische O p e r und die Spieloper das bevorzugte Schaffensziel der B e g a b u n g e n , die durch die W a g nersche Schule gegangen w a r e n und nun versuchten, sich dem übermächtigen Einfluß seines tragischen Ausdrucksstils zu entziehen. Z u ihnen gehört der Ostpreuße Hermann G o e t z , der am 7. D e z e m b e r 1840 in K ö n i g s b e r g geboren w u r d e und schon am 3. D e z e m b e r 1876 in Z ü r i c h an der Schwindsucht starb. A l s M u s i k e r stand er Brahms näher als den Neudeutschen. Sein H a u p t w e r k , z w e i Jahre v o r seinem T o d e vollendet, ist eine V e r t o n u n g des Shakespearischen Lustspiels „ D e r Widerspenstigen Z ä h m u n g " , die der m u t w i l l i g e n T u r b u l e n z des Stoffes mit k r ä f -
Oper, Instrumentalmusik und Lied
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tigen musikalischen Farben gerecht wird. Eine durchaus echte Erscheinung ist auch der Rheinländer Engelbert Humperdinck, der meisterlichste unter den unmittelbaren Nachfolgern des Bayreuthers, dessen Sohn Siegfried sein Schüler war. A m 1 September 1854 m Siegburg geboren, wirkte er nach längeren Reisen, die ihn nach Italien und Spanien führten, als Lehrer in Frankfurt am Main und Berlin; er starb am 27 September 1921 in Neustrelitz. Seine Märchenoper „Hansel und Gretel" von 1893 wurde einer der wenigen dauernden Bühnenerfolge, die das endende Jahrhundert in Deutschland noch aufzuweisen hatte. Hier greift die Kunstmusik auf den melodischen Quell des Volks- und Kinderliedes zurück. Die Verschmelzung des schlichten thematischen Materials mit der hochentwickelten spätromantischen Satzkunst ist Leistung eines Meisters. Die größer angelegten, aus einer vorbereitenden Melodramfassung hervorgegangenen „ K ö n i g s k i n d e r " fallen schon in das zwanzigste Jahrhundert Der aus Ungarn nach Wien zugewanderte Karl Goldmark (1830—1915), dessen mehr von Meyerbeer beeinflußte Oper „ D i e Königin von Saba" wie seine Ouvertüre „Sakuntala" zu den Lieblingsstücken des bürgerlichen Fin du siecle gehörten, war dagegen eine vergänglichere Erscheinung A u c h in der Instrumentalmusik blieb der Einfluß der neudeutschen Schule wirksam. Fand die programmatisch-tonmalerische Form der Sinfonischen Dichtung auch erst gegen das Jahrhundertende durch die Generation R i c h a r d Strauß' verbreiterte Nachahmung, so konnten sich den neuen musikalischen Mitteln, der erweiterten Harmonik, der Steigerung der Orchesterfarbe auch die konservativen Musiker nicht verschließen, zumal diese Mittel einen Ersatz f ü r den fortschreitenden Verfall der thematischen und architektonischen Strenge der Klassik zu bieten schienen. Z u den Ältesten dieser mit verschiedener persönlicher Nuance zwischen Mendelssohn—Schumann und Liszt-Wagner vermittelnden Generation gehört der in Prag, Wien und Pest als Lehrer wirkende Sachse Friedrich R o b e r t Volkmann ( 1 8 1 5 bis 1883), Autor von zwei Sinfonien, zwei Ouvertüren, darunter einer zu Shakespeares „ R i c h a r d I I I . " , die aus der Verwendung altenglischer Soldatenlieder Farbe und Stimmung zieht, und mehrerer Orchesterserenaden, von denen eine in d-Moll mir obligatem Violoncellozum festen Bestand spätbürgerlicher Konzertprogramme gehörte. Entschiedener auf der Seite der Neu9*
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deutschen steht der außerordentlich fruchtbare Joachim R a f f (1822—1882); v o n seiner K a m m e r m u s i k ist eine empfindsame Violinkavatine, v o n seinen elf Sinfonien eine programmatische, „ D e r H e r b s t " überschriebene, bekannt geblieben. Charakteristischer, ernster und w u c h t i g e r ist die Handschrift Felix Draesekes, des Sohnes einer protestantischen Predigerfamilie aus K o b u r g (1835—1913), v o n dessen vier Sinfonien eine Sitifonia tragica in c - M o l l v o n der K l a n g w e l t der G ö t t e r dämmerung inspiriert ist. D i e nachhaltigste W i r k u n g g i n g aber v o m Schaffen M a x Bruchs aus, dessen glücklich unbelastete Musizierbegabung v o n W a g n e r die flutende H a r m o n i k und die flächige W e i t e und v o n Mendelssohn die glatte,- faßliche Form übernahm. D a s Schaffen seines langen Lebens erstreckte sich auf mannigfache Gebiete. E r w u r d e am 6. Januar 1838 in K ö l n geboren, teilte sein W i r k e n zwischen verschiedenen rheinischen Städten, Sondershausen, Breslau, L i v e r p o o l und Berlin, w o er am 2. O k t o b e r 1920 starb. V o n seinen zahlreichen C h o r w e r k e n hatte v o r allem „ F r i t h j o f " , ein M ä n n e r c h o r - O r a t o r i u m , E r f o l g . Seine O p e r „ L o r e l e i " v o n 1863 hat feine romantische R e i z e . Seine Fähigkeit zu natürlich ansprechender Instrumentalmelodik lebt sich in seinen drei V i o l i n k o n z e r t e n W e r k 26 in g - M o l l , W e r k 44 und 58 in d - M o l l aus, v o n denen das erste j a h r zehntelang zu den meistgespielten W e r k e n seiner G a t t u n g zählte. D i e romantische T r a d i t i o n des Liedes w u r d e v o n d e m H a l lenser Universitätsmusikdirektor R o b e r t Franz (1815 bis 1892) aufrechterhalten; unter seinen e t w a 280 Liedern halten nicht w e n i g e d u r c h M e l o d i k , klavieristisches K o l o r i t u n d p o e tischen S c h w u n g den V e r g l e i c h mit S c h u m a n n aus. Schlichter ist die Sprache des O s t p r e u ß e n A d o l f Jensen (1837—1879), Schülers v o n G a d e u n d Liszt, Theaterkapellmeisters u n d L e h rers in Posen, K ö n i g s b e r g , Berlin u n d G r a z , v o n dessen vielseitigem Schaffen nur K l e i n f o r m e n , K l a v i e r s t ü c k e u n d L i e der D a u e r hatten. W ä h r e n d die traditionelle L i e d f o r m S c h u bert-Schumannscher H e r k u n f t d u r c h Johannes B r a h m s ihre letzte F e s t i g u n g erfuhr, w u r d e ihr am E n d e des Jahrhunderts n o c h eine revolutionäre W a n d l u n g zuteil d u r c h einen K ü n s t ler, dessen durch u n d d u r c h genialische Persönlichkeit sich aus der M e n g e der epigonalen B e g a b u n g e n dieser ermattenden Z e i t a b h e b t : durch den Österreicher H u g o W o l f , der die v o n W a g n e r entfesselten T r i e b k r ä f t e der H a r m o n i k u n d des
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Kolorits in das Lied einführte und die schlichte Form mit dem gesteigerten Ausdruckswillen der Hochromantik durchdrang. N o c h einmal erfüllt sich in H u g o W o l f ein romantisches Schicksal. In steter Überspannung, wechselnd zwischen schöpferischer Hochstimmung und tödlicher Niedergeschlagenheit, gehetzt von Lebensangst und drohender Krankheit, eilt dieses Künstlerleben dahin; an seinem Ende lauert der Wahnsinn. H u g o W o l f wurde am 1 3 . März 1860 in Windischgrätz als Sohn eines Kürschners geboren. SeinDrang zur Musik führte ihn früh nach W i e n ; bildungshungrig und großen Eindrücken geöffnet, verfiel er gänzlich dem Zauber der neuen Kunst, Wagner und Berlioz wurden die Pole seiner künstlerischen Welt. Mit dem Fanatismus seines hitzigen Temperaments verfocht er seine Überzeugung als Musikkritiker des Wiener Salonblatts. Seine geistschillernden Berichte, voll Enthusiasmus für Wagner, Liszt und den von der Welt noch unentdeckten Bruckner, voll ironischer Bosheit andererseits gegen den ihm infolge einer Kränkung verhaßten Brahms, sind prächtige Dokumente seiner kämpferischen Einseitigkeit. Sein Schaffen entsprang jeweils der Versenkung in eine Dichterwelt, die er als Ganzes in sich aufnahm und in zusammenhängenden Liederzyklen zurückspiegelte, und die E m p findlichkeit, mit der der Musiker auf den besonderen T o n des Dichters reagierte, ist das Charakteristische seiner rezeptiven Begabung. So ist das Lied H u g o W o l f s nicht mehr ein lyrisches Ich-Bekenntnis wie das Schumannsche; es ist ein kleines, v o m Ich des Künstlers abgesetztes Kunstwerk, ein B i l d eines von außen empfangenen Eindrucks, mehr aus Anschauung als aus Empfindung geboren. Darum spielt das Malerische in dieser Kunst eine so große R o l l e , die Leuchtkraft der Harmonik, die in funkelnden und gedämpften Brechungen aufgefangen wird, das R e i z h a f t e , Farbige des Klanges, alles Schildernde, die Vorstellungskraft des Hörers Anregende. Es ist eine Kunst der Phantasie, weniger des Herzens, ein echtes, glänzendes Fest der R o m a n t i k , die v o n jeher die Phantastik des Klanges beschwor. Damit hängt auch das Wirkungshafte zusammen, das der W o l f s c h e n K u n s t w i e aller spätromantischen Musik.in hohem Grade anhaftet. Dieses Lied ist nicht mehr Hausmusik, es bedarf des Konzertpodiums, um sich voll
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zu entfalten; das Akzentuiert-Deklaraatorische der Gesangsstimme ebenso wie das Koloristische des Klavierparts sind, weit entfernt von der Schlichtheit, die dem Liedbegriff ursprünglich eignet, Kunstmusik in äußerster Verfeinerung. Goethe, Eichendorff und vor allem M ö r i k e sind die Dichter, die W o l f im Zusammenhang größerer Liedfolgen vertontq; der erste ist mit einundfünfzig, der andere mit zwanzig, der dritte mit dreiundfünfzig Stücken vertreten. Dazu kommen Keller, Heyse und Geibel mit den tändelnden und leidenschaftlichen Gesängen des italienischen und spanischen Liederbuchs. Dieses feinnervige Künstlertum war auf dem W e g e , auch größere Formen zu bewältigen. Über Kammermusik (Italienische Serenade), sinfonische Dichtung (Penthesilea, schon 1883) und Chorballade (Mörikes „Feuerreiter"), gelangte W o l f zur Oper. „ D e r Corregidor" (1895), eine Musikkomödie nach einer Novelle des Alarcón, selbständige Fortbildung des Meistersingerstils, besticht durch seine musikalische Fülle und den Geist und die Tiefe seines Humors; gleich Cornelius' „Barbier von B a g d a d " den Perlen der deutschen komischen Oper zuzuzählen, mangelt dem W e r k zur Volkstümlichkeit nur die leichte, bühnengemäße Form. Aber die K r a f t dieses Lebens w a r v e r zehrt. Die Depressionen, die mit den Schaffenserregungen abwechselten, verdichteten sich bei dem Siebenunddreißigjährigen zu schwermütigem Wahnsinn, aus dem ihn am 22. Februar 1903 der Tod befreite. Tanzmusik und Operette Neben der „ h o h e n " Kunst der Bühne und des K o n z e i t saals w a r aus frühen A n f ä n g e n eine andere, anspruchslosere Kunst erwachsen, die als die eigentliche Volksmusik der J a h r hundertmitte und seiner zweiten Hälfte zu betrachten ist. Ihre Heimat ist W i e n ; ihre Keime reichen bis in die klassische Zeit zurück. Aus den beschwingten Tanzsätzchen im Dreivierteltakt, die sich als deutsche oder ländlerische Tänze schon bei Mozart und Beethoven finden und die bei Schubert ihre schönste Ausprägung erfahren, entwickelte die bürgerliche G e selligkeit desBiedermeier den Walzer, der, anfangs wegen seiner „ W i l d h e i t " heftig befehdet, zur beherrschenden T a n z f o r m des Jahrhunderts wurde. Seine musikalische Gestalt entfaltete sich in einer Komponistenschule, die durch die N a m e n Lan-
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ner und Strauß bezeichnet ist. Die Stätte dieser Kunst sind die Konzert- und Tanzgärten Wiens. Sie erklang in Musikpavillons, welche die tanzenden Paare u m w o g t e n , in linden, v o n bunten Lampen erhellten Sommernächten, gespielt v o n K a pellen, welche die Violine des Komponisten anführte —eine lebensprühende Gebrauchskunst, genährt v o n der G e n u ß freude und überschäumenden Lebenslust eines glücklich v e r anlagten Volkes, eine Volkskunst der Großstadt, in soziologischem Betracht eine der eigentümlichsten und echtesten E r scheinungen des Jahrhunderts. Diese Kunst verbindet die E i n fachheit des Volkstümlichen mit dem R a f f i n e m e n t der K u l tur. Sie mußte schlicht und sinnfällig in der Erfindung sein, um das Ohr der M e n g e anzusprechen; aber sie bedurfte starker Reizmittel, um zu berauschen, mitzureißen, im schnelllebigen Taumel durchspielter und durchtanzter Nächte immer wieder sich selbst zu überbieten. Die Melodie ist blühend, geschmeidig, vielgestaltig, elegant und gefällig zwischen graziöser Sentimentalität und sprühender Heiterkeit wechselnd. Der R h y t h m u s ist trotz der Bindung an den durchgehenden Dreivierteltakt elastisch, spritzig, voll witziger Überraschungen. Die Form bleibt einfach; auf die spannungerregende E i n leitung f o l g t eine R e i h e thematisch kontrastierender Walzer, streng im Schema achttaktiger Periodik gehalten, eine Coda schließt ab. In die Harmonik strömen allmählich die E i n flüsse der Kunstmusik, sie beginnt in romantischen Farben zu schillern, spielt mit den zarten Schleiern chromatischer R ü k kungen und den Glanzlichtern überraschender, tonartfremder Dreiklänge. In der Instrumentation kommt am stärksten das Wirkungshafte, Berauschende dieser Kunst zum Ausdruck; zur melodischen Sentimentalität der in Terzen singenden Geigen treten die starken Reizmittel des Orchesters, die beweglichen Klarinetten, die vorlauten Trompeten, die kräftige, baßverstärkende Posaune, die große und kleine Trommel, die rasselnd und wirbelnd den R h y t h m u s mit feinen und scharfen Pikanterien durchsetzen. A m A n f a n g steht der schlichte, lyrische J o s e p h Lanner (1801 bis 1843), dessen noch im gemächlichen Ländlercharakter verharrende Walzermelodik Schubertsche Einfachheit und N a i -
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vität atmet. Mit Johann Strauß dem Älteren, dem Vater der berühmten Musikerfamilie (1804—1849), tritt das Reizhafte und Berauschende in diese Kunst ein. Den unsteten, von einem jähen Temperament beherrschten Mann, der in unglücklicher Ehe und in Unfrieden mit seinen eigenen Kindern lebte, führten Ehrgeiz und rastloser Schaffenszwang aus der Enge seiner A n f ä n g e als Wirtshausmusikant zu europäischer Berühmtheit; von W i e n reiste er mit seiner Kapelle, unermüdlich komponierend und dirigierend, überall einen Tanzrausch entfesselnd, nach Paris, w o ihn Berlioz bewunderte, und nach London. Seine Zeitgenossen nannten ihn einen Dämon des Tanzes. Seine Kunst ist gewaltsam, unwiderstehlich, aber ohne Weichheit; sein berühmtestes Stück ist der feurige Radetzkymarsch. Strauß brach früh unter den Anstrengungen seines übersteigerten Lebens zusammen. Sein ältester Sohn J o h a n n Strauß der Jüngere (25. Oktober 1825 bis 3. J u n i 1899) ist die stärkste B e g a b u n g der Familie. Ihm eignet im höchsten Maße das Liebenswürdige, Einschmeichelnde der Erfindung, die lächelnde wienerische Sentimentalität, die Grazie und zwanglose Eleganz, die sich spielend in das Herz des Hörers singt. Nachdem er sich rasch gegen seinen eigenen Vater durchgesetzt, blieb er der in der alten und neuen W e l t anerkannte Repräsentant des musikalischen Wienertums, seinen R u h m durch eine nicht abreißende Kette blühender Walzerschöpfungen ( „ A n der schönen blauen D o n a u " , „ R o s e n aus dem S ü d e n " , „Geschichten aus dem W i e ner W a l d " , Kaiserwalzer) immer vergrößernd. Schon im fünften Lebensjahrzehnt stehend, w a g t e er den Schritt zur Bühne und wurde damit Vollender einerschon v o n demefifektsicheren R h y t h m i k e r Franz v o n S u p p d ( i 8 i 9 — 1 8 9 5 ) in einer langen Werkreihe — „ F l o t t e B u r s c h e " , „ P i q u e - D a m e " , „ D i e schöne Galathee", „ B o c c a c c i o " — gepflegten Kunstgattung: der Wiener Operette. Die Wiener Operette kann nicht als aus der Tradition des alten Wiener Singspiels hervorgegangen betrachtet werden. Sie unterscheidet sich von diesem, das gern mit Märchenelementen spielte und oft vollends zur „romantischen" Zauberposse wurde, durch einen illusionslosen, heiteren Wirklichkeitssinn in der Textwahl und durch den ungleich größeren Anteil der Musik.
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Viel eher darf sie als eine deutsche Parallele zur ebenfalls keck realistischen Urform der italienischen Opera buffa gelten. Die Operette in ihrer klassischen Gestalt ist ein leichthingeworfenes, witzig verzerrtes, völlig unsentimentales Abbild des wirklichen Lebens, wie es eine leichtlebige, genußfrohe Zeit darbot. Ihr Schauplatz ist der Ballsaal, die elegante Bürgerwohnung, das Boudoir der Dame; ihre Rollentypen sind der stets zu Seitensprüngen geneigte und ebensooft selbst betrogene Ehemann, die mit allen Künsten der Verführung spielende Frau, die kokette Zofe, der trottelhafte Alte, der närrische Diener. Ihre Morallosigkeit wird ästhetisch möglich durch den Ausschluß jeder Gefühlshaftigkeit, der das Ganze als ein tolles, bei aller Wirklichkeitsfiähe unwirkliches Narrenspiel erscheinen läßt. Das ist das ästhetische Bild der „Fledermaus", der klassischen Wiener Operette, mit der der Walzerkomponist Strauß 1874 endgültig — „Indigo" und der „Karneval in R o m " waren vorausgegangen — die Bühne eroberte. Seine Musik ist in erstaunlichem Maße bühnengewandt; niemals verlegen um den zündenden, situationsgerechten Einfall, weiß sie zu charakterisieren und zu karikieren, zu spotten, zu lachen und zu schmachten, wirbelt sie die Menschen auf der Bühne in tänzerischer Laune durcheinander und bindet sie in den Organismus leichtflüssiger, feingeformter Ensemblesätze, welche die großen Formen der Oper in eleganter und anmutiger Verkleinerung nachahmen. Unter den übrigen Bühnenwerken des Walzermeisters („Eine Nacht in Venedig", „Das Spitzentuch der Königin") besitzen der durch seine zündenden ungarischen Rhythmen und seine pikante Mollmelancholie charakterisierte „Zigeunerbaron" (1885) und die mit südslawischem Melos gespeiste „Jabuka" (1894) die stärkste musikalische Bedeutung; mit ihnen greift die Operette schon auf das Gebiet der romantisch-komischen Oper hinüber. Die Straußsche Operette wurde das Vorbild einer Schule, die aus heiterem Realismus, Karikatur und romantischem Einschlag ihre volkstümliche Bühnenform entwickelte und bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein ihren künstlerischen Rang wahrte. Die bedeutendsten Nachfolger des Walzermeisters — seine Brüder Joseph (1827—1870) und Eduard (1835—1916) beschränkten sich auf Tanzmusik — sind der volkstümlich einfache, durch formale Solidität ausgezeichnete Karl Millöcker (1842—1899) mit dem „Bettelstudenten", „Gasparone" und dem „Armen Jonathan", ferner kleinere Begabungen wie Karl Zeller (1844—1898), Carl Michael Ziehrer (1843—1922), Richard Heuberger (1850—1914) mit seinem „Opernball" (1898) und
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Die nationalen Musikkulturen
Richard Genee (1823—1895). Erst im neuen Jahrhundert erlag diese heitere Kunst, durch die ehrgeizige Annäherung an die Oper verführt, der Gefahr der Sentimentalisierung, die ihre Naivität verfälschte und ihre Wahrhaftigkeit untergrub.
DIE NATIONALEN Romantik und
MUSIKKULTUREN Nationalismus
Während die alten religiösen Bindungen sich lösten, w ä h rend das Menschheitspathos der Französischen R e v o l u t i o n verebbte, bildete sich ein neuer Glaube an die politische G e meinschaft der Nation. Es ist bezeichnend, daß Herder, der die R e l i g i o n humanisierte, als er Christus f ü r den vollkommenen Menschen und das Christentum f ü r vollkommene Humanität erklärte, zugleich auch in seiner W e r t u n g und Deutung des Volksliedes das Nationale als eine Spielart des Menschlichen entdeckte, welches letzte in so allgemeiner Form nur eine Abstraktion und gar nicht wirklich vorhanden ist. Blieb ihm und seinen Zeitgenossen bis in die frühe R o mantik das Nationale aber nur eine untergeordnete Bestimmung des Menschlichen, so w u r d e es der fortschreitenden, immer mehr realistisch und materialistisch bestimmten Zeit bald ein absoluter Wert, der sich v o r das verschwimmende Idealbild des Allgemeinmenschlichen schob und schlechtw e g mit den Eigenschaften des R e c h t e n und Guten belegt, ja mit mythisch-metaphysischer W ü r d e bekleidet wurde. D a mit w u r d e es bald zur alleinigen T r i e b k r a f t der politischen Entwicklung. Die deutschen Freiheitskriege, die sich gegen Napoleon richteten, den Vertreter des übernationalen Geistes der Französischen R e v o l u t i o n , waren die erste politische Tat dieser nationalen K r a f t . Sie w a r getragen v o n einer ideellen Begeisterung, die in der Philosophie Fichtes, in der Dichtung Kleists, in der Musik Webers widerklang. Die italienische Freiheitsbewegung, die sich über ein halbes Jahrhundert erstreckte, w a r aus ähnlichen Quellen gespeist und in ähnlicher Weise geistig unterbaut; von ihr w u r d e der j u n g e Verdi zum E r f o l g emporgetragen. Überall waren es naturgemäß zuvor-
Romantik und Nationalismus
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derst die politisch unterdrückten Völker, die Polen, Böhmen, Ungarn, bei denen der nationale Gedanke Wurzeln schlug. Aber auch die großen, staatlich gesicherten Nationen, wie Frankreich oder R u ß l a n d , griffen ihn auf und gewannen aus ihm ein neues, schärferes politisches und kulturelles Pathos — eine Entwicklung, die geschichtlich notwendig war, die aber den alten Einheitsbegriff des Abendlandes zu zersprengen drohte. Das nationale Element, als Einfärbung des AllgemeinMenschlichen in der Musik von jeher vorhanden, gewann damit auch in der Musik eine neue, selbständige Bedeutung. Das Deutsche im „Freischütz" war nicht mehr identisch mit dem Deutschen der Beethovenschen Sinfonie. Es war nicht mehr weltbürgerlich in die W e i t e gerichtet, sondern nach innen, in die Tiefe gewandt, es drang durch Märchen u n d M y t h o s zum Kern des eigenen Wesens. W a s sich hier und in der gleichzeitigen Dichtung und Malerei, bei Joseph von EichendorfFund Caspar David Friedrich, still und bescheiden anspann, w u r d e in Richard W a g n e r zu einer geistigen Macht, die mit impetuosem Herrschaftsanspruch über Europa hinging. Auch W a g n e r hat, wie Beethoven, die W e l t erobert. Aber er hat es nicht als Weltbürger getan, der Allgemeinmenschliches zu sagen hatte, sondern als Verkünder einer deutsch-romantischen Geistigkeit, die er durch die Kraft seines ungeheuren Willens der Fremde suggerierte. Die Gewaltsamkeit dieser W i r k u n g weckte Widerstand. Viele europäische Musiker der Wagnerschen und der nächstfolgenden Generation sind durch das Erlebnis W a g n e r s hindurchgegangen, um dann in der Ablehnung um so sicherer das eigene nationale W e s e n zu finden. So spaltet sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die allgemeine europäische, im wesentlichen aus deutschen u n d italienischen Stilelementen gebildete Musik in eine Reihe nationaler Kulturen. Keineswegs war W a g n e r der alleinige Anlaß dieser Entwicklung. Die Keime wuchsen an allen Orten zugleich auf. Aber das Schaffen u n d das kunstphilosophische Denken des Bayreuther Meisters klärten das Bewußtsein f ü r die Situation und brachten die Entwicklung zu allgemeinem u n d entschiedenem Ausbruch.
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Die nationalen Musikkulturen Frankreich
Am engsten war die Wechselbeziehung zwischen Deutschland und Frankreich. Die Einwirkung Beethovens und Schumanns, die R ü c k w i r k u n g der Berliozschen Kunst und die zwischen den Kulturen stehende Meyerbeersche Oper hatten eine breite Brücke gegenseitigen Verstehens geschaffen. Die Tradition der französischen Oper hatte durch die Romantik eine zunehmende Lyrisierung und Sentimentalisierung erfahren. Sie ist zu spüren in den Werken Ambroisc Thomas', dessen graziöse Melodik mit bedenklichen Ausweichungen ins Gefühlshafte durchsetzt ist. Der Lebensgang dieses am 5. August 1 8 1 1 zu Metz geborenen Musikers ist der nun schon fast gewöhnliche des französischen Komponisten: Studium am Pariser Konservatorium, Rompreis und Italienaufenthalt, nach der Rückkehr regelmäßige Opernproduktion, Aufstieg zum Direktor des Konservatoriums, A k a demie und Ehrenlegion. E r starb am 12. Februar 1896. Von seinen über zwanzig Opern sind zwei berühmt geworden : „ M i g n o n " , eine bedenkenlose, aber ansprechende Übertragung des Goetheschen Wilhelm Meister auf die Bretter der Opéra Comique, und der pathetischere „Hamlet". Bedeutender ist der am 17. Juni 1 8 1 8 zu Paris geborene Charles Gounod. Seine Frühentwicklung steht unter dem Zeichen geistlicher Neigungen. Die Begegnung mit der Musik Schumanns und Berlioz' gewann ihn f ü r den weltlichen Geist der Romantik. Sein Schaffen galt nun überwiegend dem Theater. Aber erst „Faust" (Margarethe) setzte sich 1859 durch. Man wird Gounods Faustoper gerecht, wenn man sie nicht als Auseinandersetzung mit Goethes Dichtung, sondern als Anpassung eines dankbaren Stoffes an die Bühnenkonvention betrachtet, als romantische Oper, die aus der Nachfolge Meyerbeers in gefälligere Bezirke des Lyrischen und Phantastischen einlenkt. Gounod starb am 18. Oktober 1893 zu Paris. Der Einfluß Wagners, der bei Gounod erst leise spürbar ist, wirkt bei dem über zwei Jahrzehnte jüngeren Camille SaintSaëns schon stilbestimmend. Saint-Saëns, der am 9. Oktober 1835 zu Paris geboren wurde und weit bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein lebte (er starb am 16. Dezember 1 9 2 1 in Algier), stand noch fester als Gounod in der Tradition der geistlichen Musik. Aber er begann seine kompositorische Laufbahn mit einer Reihe sinfonischer Dichtungen von aufreizender ro-
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mantischer Modernität; die bekannteste, „La danse macabre", ist noch heute populär. Den Ausgleich seines Stiles fand er als Klassizist, der die harmonischen Erweiterungen der H o c h romantik mit einbezog und durch den Rationalismus der geschlossenen Form bändigte. Von seinen zwölf Opern ist eine lebendig geblieben: „Samson und Dalila", die 1877 in Weimar zuerst aufgeführt wurde. Sie enthält beide Seiten seines Wesens: die Kontrapunktik des Klassizisten, die den Chören der Israeliten eine alttestamentarische Herbheit verleiht, und die üppige, von starken harmonischen Reizmitteln getragene Melodik, welche die Arie Dalilas und das Duett der Liebesnacht in die Reihe der großen Eingebungen derOpernliteratur stellt. Leichter wiegt die Begabung von LéoDelibes (1836—1891), der sich von der Operettenbühne der ,,Bouffes parisiens" zum Autor der großen Oper entwickelte und vor allem durch das Ballett „ C o p p é l i a " (1870) und die Oper „ L a k m é " (1883) bekannt wurde. Der Gounod-Nachfolger Jules Massenet (1842—1912) schrieb eine lange Reihe von Opern, von denen , , M a n o n " (1884) und „ W e r t h e r " den Tageserfolg überdauerten. In den Opern und den auf R a v e l vorausweisenden Instrumentalwerken Emmanuel Chabriers (1841—1894) setzte sich der Geist gallischer Heiterkeit gegen das Erlebnis Wagners durch. Die entscheidende Auseinandersetzung mit W a g n e r konnte nur einem Künstler ersten R a n g e s gelingen. Es ist die Leistung Georges Bizets, W a g n e r in sich aufgenommen und sich und die französische Musik wieder von seinem Einfluß befreit zu haben. Bizets musikalische Entwicklung begann früh. A m 25. Oktober 1838 zu Park geboren, bezog er schon neunjährig das Konservatorium, das er nach zehnjähriger Studienzeit mit dem Rompreis verließ; er w a r Schüler H a l é v y s , dessen Tochter Geneviève später seine Frau wurde. Der A u f e n t halt in Italien weckte seine N e i g u n g zu der Natur und der Kunst des Südens; seine Vorliebe f ü r Rossini, den er gelegentlich über Mozart stellte, bezeugt seinen Sinn f ü r die heitere, blühende Schönheit der mediterranen Musik. Nach der R ü c k kehr nach Paris begann die Arbeit, die bewußt auf eine neue Leichtheit des Stils abzielte. In der C - D u r - S i n f o n i e spricht der Klassizist, der fest in der französisch-akademischen Tradition steht. In klangbeschwerten Klaviervariationen über die chromatische Tonleiter experimentiert der Harmoniker, dem
Die nationalen Musikkulturen die Spannungen und R ü c k u n g e n des Tristanstils vertraut sind. In reizvollen, v o n Schumann inspirierten Liedern bildet sich der neue, intime und natürliche T y p u s v o n Bizets Opernarie vor. Die Opern dieser Zeit, die „ P e r l e n fischer" von 1863 und der Einakter „ D j a m i l e h " von 1872, sind noch unausgeglichen. Erst in der später zu einer zweiteiligen Orchestersuite erweiterten Bühnenmusik zu A l phonse Daudets realistischem Volksstück „ D i e Arlesierin" findet sich der R h y t h m i k e r , der Meister prägnanter melodischer Formen. N o c h immer ist er befangen im Erlebnis W a g ners; in einem B r i e f aus dem Jahre 1 8 7 1 heißt es: „ D e r R e i z der Wagnerschen Musik ist unsagbar, unbeschreiblich. Hier ist W o l l u s t , Zärtlichkeit, Liebe. W e n n ich sie Ihnen acht T a g e lang vorspielte, würden Sie gleich mir davon berauscht sein. Der deutsche Geist des neunzehnten Jahrhunderts ist in diesem Manne verkörpert." U n d weiter: „ E s ist selbstverständlich, daß ich, wenn ich glaubte W a g n e r nachzuahmen, trotz meiner Bewunderung f ü r ihn keine N o t e mehr zu Papier brächte." Die Distanzierung, die sich in diesem Satz andeutet, gelang in seinem Meisterwerk „ C a r m e n . " Der Stoff, einer Novelle des zeitgenössischen Erzählers Prosper Mérimée nachgeformt, wurde dem Komponisten zum künstlerischen Schicksal. Eine Zigeunerin, ein Triebwesen, Verkörperung einer neuen, kalten und grausamen Form des Eros, ein Soldat, der verkommt und zum M ö r d e r wird, Schmuggler und Stierkämpfer — eine reale Welt primitiver Figuren, welche die Musik zu klarer, gerader Aussage zwingt. A b e r es ist das B e sondere dieser Musik, daß sie nicht in niederem Realismus steckenbleibt. Die lockende Laszivität Carmens, das treuherzige Gefühl Josés, das sieghafte Selbstbewußtsein des Stierkämpfers Escamillo — das alles äußert sich in Melodien von naturhafter, sinnfälliger Schönheit, wie sie das Jahrhundert längst nicht mehr kannte. N o c h einmal triumphiert die geschlossene musikalische Form der französischen komischen Oper, das Chanson, die Arie, das feingebaute Ensemble. Das Schweben zwischen dramatischem Realismus und musikalischer Stilisierung ist der R e i z des Werkes, das zu den Meisterwerken der musikalischen Weltliteratur und zu den reinsten
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Bekundungen des französischen Geistes zählt. Das Publikum desTheatreLyrique begegnetedem neuartigen Erlebnis im Jahre 1 8 7 5 mit Befremden. Bizet starb am 3. J u n i 1875 in B o u g i v a l bei Paris, ohne den W e l t e r f o l g seines Werkes erlebt zu haben. W i e das Satyrspiel die Tragödie ergänzt, so begleitete das Schaffen Jacques Öffenbachs diese Entwicklung und spiegelte sie im Geiste der Parodie. In Offenbach sammelten sich noch einmal der Witz und der Esprit der Opéra Comique, ohne ihre gefühlshaften T ö n e , welche die Romantiker um G o u n o d ausschließlich und im Ubermaß angeschlagen hatten; so wurde er der Schöpfer einer neuen, heiteren und des sentimentalen Einschlags gänzlich entbehrenden Spielart der O p e r : der Operette. Der B o d e n dieser Kunst w a r das Paris des zweiten Kaiserreichs, eine von materialistischen Interessen erfüllte und v o n merkantilem Geiste regierte Welt, in der die heroische Größe des ersten Kaiserreiches und das Pathos der Revolutionäre von i83olängsterstorben waren. IhrLebensgef ü h l w a r derZynismus,die Selbstverspottung der eigenen, durch geschäftliche und politische Hausse emporgetragenen Existenz. Jacques Offenbach, als Sohn eines jüdischen Kantors am 20. Juli 1 8 1 9 zu Köln geboren, wurde der Musiker dieser Gesellschaft. Früh nach Paris verpflanzt, arbeitete er sich vom Cellisten eines Opernorchesters zum Direktor der „ B o u f f e s parisiens" empor, einer Boulevardbühne, die er mit seinen leicht und witzig hinmusizierten Singspielen versorgte. Mit „Orpheus in der U n t e r w e l t " von 1858 erweiterte er diesen T y p u s zur großen, dreiaktigen Form. Dieser Orpheus ist die Parodie eines Urthemas der Oper, das Monteverdi und Gluck bearbeitet hatten. Der mythische Sänger wird zum reisenden Violinvirtuosen, dessen üppiger Walzer sich mit dem dämonischen Cancan der Hadesgötter mischt. V o n glühender Sinnlichkeit ist die Melodik, elektrisierend der Rhythmus, die K o m i k von einer schneidenden Schärfe, die weit über den temperierten Esprit der Auberzeit hinausgeht. 1864 folgte „ D i e schöne Helena", in den folgenden Jahren noch „Blaubart", „Pariser Leben" und „ D i e Großherzogin von Gerolstein". Damit w a r die Entwicklung Öffenbachs nicht erschöpft. Der Satiriker überraschte am Ende die Welt durch eine Opernschöpfung aus echt romantischem Geist und enthüllte erst damit die Spann-
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weite seiner künstlerischen Natur. Seinem Spätwerk, „HofFmanns Erzählungen", das erst ein Jahr nach seinem am 4. O k tober 1880 zu Paris erfolgten Tode von fremder Hand instrumentiert auf die Bühne kam, liegt ein dramatisch wirkungsvolles Textbuch zugrunde, das den romantischen Novellisten zum lyrischen Helden seiner eigenen Dichtungen macht. Die Musik wächst von operettennaher Groteske über betörenden Sinnenzauber zu schauriger Todesphantastik und erreicht in der Darstellung des bösen • Prinzips eine satanische Größe. Geschlossene Formen verschmelzen mit einem virtuos psychologisierenden Rezitativ zu dramatischer Einheit. D u r c h die Katastrophe seiner Wiener Uraufführung, bei der das O p e r n haus niederbrannte, anfänglich an seiner Verbreitung gehindert, bewährte das W e r k später seine Lebenskraft als seltsame, schillernde Spätblüte der romantischen Oper. Ganz für sich steht ein Musiker dieser Zeit, dem man die Rolle eines französischen Brahms zusprechen möchte, w e n n sein W i r k e n nicht entschiedener in die Z u k u n f t ausstrahlte. César Franck, der am 10. Dezember 1822 in Lüttich geboren wurde, ist von deutscher A b s t a m m u n g ; das erklärt das Einsame, in sich Versponnene seiner Erscheinung u n d seiner Kunst, die ohne Beziehung zum Schaffen des zeitgenössischen Paris ist u n d doch durch ihre Eigenart Vorbild einer neuen, jungfranzösischen Schule wurde. Am Pariser Konservatorium gebildet, verbrachte er sein Leben in der Hauptstadt als Organist im Dienst der Kirche, ein weltfremder, kindlich f r o m m e r Meister, stets in die Enge seiner kleinbürgerlichen H e r k u n f t gebannt. E r s t a r b am 9. N o v e m b e r 1890. Seine B e deutung beruht darin, daß er eine Synthese deutscher Kontrapunktik u n d romanischer Harmonik f a n d ; er ging auf die beiden Urheber der klassisch-romantischen Kunst, auf Bach u n d R a m e a u zurück, u n d gab der verfließenden romantischen Musik in ihrem Endstadium noch einmal Festigkeit und Form. Sein Verhältnis zu Bach w u r d e zur A n r e g u n g der f r a n zösischen Bach-Renaissance, als deren H a u p t Charles Marie W i d o r eine neue, w e n n auch klassizistisch-epigonale Blütezeit der Orgelmusik heraufführte. Z u Francks W e r k e n zählen die Oratorien „ R u t h " , „La Rédemption", „Les Béatitudes" (die Seligpreisungen der Bergpredigt), die ihn ein Jahrzehnt lang
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beschäftigten und die er für sein Hauptwerk hielt, die sinfonischen Dichtungen „Les Eolides" und „Le Chasseur maudit", die ihn auf den Spuren der Lisztschen Programmusik zeigen. Sein orchestrales Hauptwerk ist die dreisätzige d-MollSinfonie von 1889. Berühmt sind die Symphonischen Variationen für Klavier und Orchester und die orgelhaft angelegten Klavierwerke Präludium, Choral und Fuge und Präludium, Aria und Finale. Zwei Opern, Orgelwerke, Chor- und Kammermusik, darunter ein Streichquartett und eine Sonate für Violine und Klavier, runden das Bild einer Kunst, die unmittelbar an der Grenze des Impressionismus noch einmal aus der heiligen Stille der Dome hervorging, in denen zur Zeit der gotischen Meister von Notre Dame die abendländische mehrstimmige Musik geboren worden war. Der Geist dieser Kunst wirkte weiter. Francks Schüler Vincent d'Indy (1851—1931) gründete im Jahre 1896 in Paris die Schola Cantorum, eine Ausbildungsstätte, deren künstlerischer und wissenschaftlicher Ernst in Gegensatz zu der praktischen Unterrichtsmethode des Conseruatoire trat. Die Lieder, die antikisierenden Bühnenwerke und das Requiem Gabriel Faurés (1845—1924) sind in ihrer lyrischen Schlichtheit der Nachfolge César Francks zuzuordnen. Die südlichen und nordischen Länder Die Entwicklung der nationalen Musikkulturen verlief nicht überall mit der gleichen Schnelligkeit und Energie. Im Süden wirkte der Vorrang der italienischen, seit Jahrhunderten weltgültigen Musik hemmend auf die Nachbarländer. In Spanien kam eine bodenständige, aus den charakteristischen Formen derVolksmusik entwickelte Tonkunst erst im zwanzigsten Jahrhundert zur Reife. Ansätze zeigten sich bei Felipe Pedrell (1841—1922) und stärker bei Isaac Albeniz (x 861 bis 1909), zwei vor allem auf dramatischem Gebiet tätigen Komponisten, bei denen zum ersten Male seit der spanischen Musikzeit des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts wieder nationale Töne durchklangen. Auch die Balkanländer und Ungarn, dem Franz Erkel (1819—1893) mit „Hunyády László" 1844 eine Nationaloper zu schaffen bemüht war, be10 Oehlmann, Musik des 19. Jahrh.
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durften des späteren Anstoßes durch den französischen Impressionismus, um zu sich selbst zu finden. Die englische Musik des neunzehnten Jahrhunderts blieb unter dem Einfluß der Leipziger, durch Mendelssohn und Schumann vertretenen R o m a n t i k . W e d e r William Sterndale Bennet ( 1 8 1 6 - 1 8 7 5 ) noch der j ü n g e r e E d w a r d William E l g a r ( 1 8 5 7 - 1 9 3 4 ) , A u t o r eines umfängreichen sinfonischen Schaffens, konnten der englischen Musik Selbständigkeit v e r schaffen. Der Schotte Alexander Campbell Mackenzie (1847 bis 1935), Komponist eines großen Oeuvres von Instrumentalund Vokalmusik, und der Ire Charles Villiers Stanford ( 1 8 5 2 bis 1924), v o r allem C h o r - und Liedkomponist, waren v o n mehr örtlicher Bedeutung. Arthur Sullivan ( 1 8 4 2 - 1 9 0 0 ) , Schöpfer volkstümlicher Orchester- und C h o r w e r k e und melodienreicher Operetten, sprach in seinem „ M i k a d o " die Weltsprache der heiteren Musik. Die Belgier Peter Benoit ( 1 8 3 4 - 1 9 0 1 ) und E d g a r Tinel ( 1 8 5 7 - 1 9 1 2 ) , beide vielseitig auf den Gebieten der Oper, der Kirchen- und Instrumentalmusik tätig, verarbeiteten französische und deutsche Einflüsse. In Dänemark gab es von jeher eine lebendige, von Deutschland beeinflußte Musikpflege. Heinrich Schütz und Reinhart Keiser hatten in Kopenhagen gewirkt, im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert waren ihnen Friedrich L u d w i g Ämilius Kunzen ( 1 7 6 1 - 1 8 1 7 ) , Komponist einer Oper „ H o l ger D a n s k e " , Friedrich K u h l a u ( 1 7 8 6 - 1 8 1 2 ) und Christoph Ernst Friedrich W e y s e ( 1 7 7 4 - 1 8 4 2 ) gefolgt. Mit dem K o p e n hagener Johann Peter Emil Hartmann ( 1 8 0 5 - 1 9 0 0 ) trat zum ersten Male ein dänischer Komponist in die Musikgeschichte ein. Seine W e r k e bereiten den Stil einer nordischen R o m a n t i k v o r , der v o n seinem Schwiegersohn Niels Wilhelm Gade weiterentwickelt wurde. Gade, der am 22. Februar 1 8 1 7 in Kopenhagen geboren w u r d e und am 2 1 . Dezember 1890 ebendort starb, begann als Autodidakt, empfing aber entscheidende Eindrücke in Leipzig, w o er v o n 1843 bis 1848 in Vertretung und N a c h f o l g e Mendelssohns als Gewandhauskapellmeister wirkte. So blieb er in seiner Harmonik und seinem romantischen Formgefühl Mendelssohn und Schumann verpflichtet, aber in seinen acht Sinfonien, seinen O u -
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vertüren, C h o r - und Kammermusikwerken klingt das N o r dische als Stimmungselement, als weiche Gefühlsschwere und nebelhaft dämmernde T ö n u n g deutlich an. Vitaler und phantastischer kam es Jahrzehnte später in N o r w e g e n zum Durchbruch, w o es durch E d v a r d Grieg eine Ausprägung erfuhr, die stilbildend auf die Weltmusik zurückwirkte. In Grieg, der am 1 5 . J u n i 1843 in Bergen geboren w u r d e und am 4. September 1907 in seiner Heimatstadt starb, lebte ein kraftvolles Musikertum von spielmännischer Naivität, das die starken verschütteten Quellen der Volkskunst erschloß und ihr lebendiges Wasser in die verzweigten Kanäle der romantischen Harmonik leitete. Auch Grieg studierte als Fünfzehnjähriger am Leipziger K o n servatorium und stand als Zwanzigjähriger in Kopenhagen unter dem Einfluß Gades. In seine Heimat zurückgekehrt, lehnte er sich, angeregt durch die Ideen eines Freundes, des frühverstorbenen Rikard Nordraak, gegen die ausländischen und vermittelnden Einflüsse auf. Aus der unverbrauchten Substanz, die sich hier am Rande der europäischen Kultur in Liedern und Tanzweisen der norwegischen Bauern und Seeleute erhalten hatte, entwickelte er eine Musik von leuchtendem Kolorit, von kraftstrotzender Harmonik, deren mehr statisch aneinandergereihte als ineinander verfließende Klänge auf den Impressionismus hindeuten. E r erfüllte diese Musik mit der Phantastik der nordischen Sagenwelt, mit glitzerndem Elfenzauber und derbem, täppischem Spuk der Trolle. Als Mensch und Künstler blieb er stets im Lebenskreis der spätbürgerlichen Kultur, die Tragik des Revolutionärs und Kritikers, die die Haltung seines großen Landsmannes Henrik Ibsen bestimmte, war ihm fremd. E r blieb Meister der lyrischen Improvisation, der am Klavier entwickelten, zwischen Romantik und Impressionismus vermittelnden Kleinform, die er in „lyrischen Stücken" und Liedern der bürgerlichen Gebrauchsmusik annäherte. A n größeren Werken sind die aus nordischem Sagenstoff geschöpfte Chorszene „Landerkennung" von Bedeutung, das farbige, aus folkloristischer Thematik locker gefügte Klavierkonzert, das Streichquartett in g-Moll, drei Sonaten für Violine und Klavier in F-Dur, G-Dur und c-Moll, die auch f ü r Klavier gesetzte Streichersuite „ A u s Holbergs Z e i t " , in der ein kraftvolles nordisches Barock aufsteht, und die Musik zu Ibsens „Peer G y n t " , eine Reihe von Stimmungsbildern, die durch koloristische 10*
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Reize fesseln, ohne tiefer in die dunkle und bizarre Landschaft dieser nordischen Faustdichtung einzudringen. Schweden brachte es im neunzehnten Jahrhundert nicht zu einer eigenen musikalischen Sprache. In der N a c h f o l g e des als Theoretiker u n d Kirchenmusiker interessanten Johann Helmich R o m a n ( 1 6 9 4 - 1 7 5 8 ) schrieben Franz B e r w a l d (1796 bis 1868) Instrumentalmusik und der Zelterschüler A d o l f Fredrik Lindblad ( 1 8 0 1 - 1 8 7 8 ) Lieder, die durch seine Schülerin, die Sängerin J e n n y Lind, in ganz Europa bekannt w u r d e n . A u c h in Finnland, w o die Deutschen Friedrich Pacius (1809 bis 1891) u n d R i c h a r d Faltin ( 1 8 3 5 - 1 9 1 8 ) w i r k t e n , blieb die E n t w i c k l u n g mehr vorbereitend, um erst im z w a n z i g sten Jahrhundert durch Jean Sibelius zum A b s c h l u ß zu kommen. Die Musik des Ostens Die tschechische M u s i k steht zwischen der europäischen Mitte u n d dem O s t e n ; deutsch-europäisch sind ihre musikalische Grammatik u n d ihr Formbewußtsein, östlich ihre melodische Linie u n d die primitive K r a f t ihres R h y t h m u s . A b e r sie kennt nicht die Dunkelheit u n d die K r a f t f ü l l e der R u s s e n . Sie bleibt hell u n d heiter, ohne T r a g i k u n d T i e f e : Sie klingt im e n g e n Geviert ihrer lieblichen Heimat, W e i t e u n d G r ö ß e sind ihr versagt. Diese naturhaft anmutende K u n s t ist aber S c h ö p f u n g eines b e w u ß t e n , geistigen Künstlertums. Friedrich Smetana ist der T y p u s des romantisch-intellektuellen G e nies aus der N a c h f o l g e eines W e b e r oder Berlioz. Sein Leben ist ein romantisches Schicksal. A m 2. M ä r z 1824 wurde er zu Leitomischl als Sohn eines Brauers geboren. W ä h rend er, fast noch Gymnasiast, kleine Polkas und Furiants erfand, nahm er sich schon v o r , „ i n der Mechanik ein Liszt, im Komponieren ein Mozart zu w e r d e n " . Ein Darlehensgesuch an Franz Liszt führte den jungen böhmischen Musiker in den Kreis auf der Altenburg und in die Gedankenwelt der neudeutschen Schule ein. Wanderjahre brachten ihn nach G ö t e b o r g in S c h w e den, ein rauhes Exil, das ihm seine zarte und kränkelnde Frau nahm. Unvermittelt ergriff den Fünfunddreißigjährigen eine Leidenschaft für ein viel jüngeres Mädchen, das seine zweite Frau wurde. A l s er 1861 in die Heimat zurückkehrte, trug ihn die W e l l e der nationalen B e w e g u n g auf die Höhe des Erfolges.
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Acht Jahre lang leitete er die Nationaloper zu Prag, seine großen Werke entstanden. Den Fünfzigjährigen traf die Katastrophe seines Lebens: das Beethovenschicksal der Taubheit trieb ihn aus der Öffentlichkeit in die Einsamkeit. Sein Schaffen floß weiter. Aber die Taubheit w a r nur der erste Schlag einer zerstörenden Krankheit. 1882 verfiel er in geistige Umnachtung, am 12. M a i 1884 befreite ihn der T o d . M a n muß Smetanas Schaffen auf dem bewegten und dunklen Hintergrund dieses Lebens betrachten, um es als echte Frucht eines romantisch gebrochenen Lebensgefühls zu begreifen. Der J ü n g l i n g , der mit sicherem Instinkt f ü r die A u f gabe seiner Generation bei der einfachen volkstümlichen G e brauchsmusik ansetzte und ganze Reihen frischer Polkas und Furiants hinwarf, las und verarbeitete zugleich R i c h a r d Wagners Kunstschriften, das Programm einer extrem romantischen Geistigkeit. Damit w a r die Spannung seines L e bens vorgezeichnet. „ D i e verkaufte B r a u t " , das zweite seiner neun Bühnenwerke (1866), eine Bauernoper von mozartnaher Heiterkeit, ein einziger Melodiestrom von der sprühenden Fugatoouvertüre bis zum Schlußgesang, verkörpert wie die noch intimere Spieloper „ D e r K u ß " von 1876 nur eine Seite seines Wesens. Die andere lebt sich in der Sagenoper „ D a l i b o r " von 1868 und dem Festspiel ,,Libussa"von 1 8 8 1 aus, in denen das musikdramatische Pathos der neudeutschen Schule in die tschechische Melodiesprache übertragen wird. Den Ausgleich fand Smetana in dem sechsteiligen sinfonischen Z y k l u s „ M e i n V a t e r l a n d " (Vyschrad, die M o l d a u , Sarka, aus Böhmens Hain und Flur, T a b o r , Blanik), der f o r mal der Lisztnachfolge angehört, aber gerade durch v o l k s tümliche Natur und Naivität, durch Leuchtkraft der Farbe und Fülle der Bilder erfreut. Die R e i f e des Musikers bezeichnet das Streichquartett „ A u s meinem L e b e n " , ein Kunstw e r k von klassischer Schönheit und zugleich ein biographisches Dokument v o n bestürzender Subjektivität; der schneidende T o n der Violine, der grell das Nahen der Taubheit ankündigt, haftet im O h r eines jeden Musikers, so lange es Musik gibt. Smetana zählt zu den dauernden Erscheinungen des Jahrhunderts, weil es ihm gelang, in einer W e l t
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wachsender Komplizierung das Einfache überzeugend zu sagen. Die Einfachheit, die Smetana sich errang, war dem fast zwei Jahrzehnte jüngeren Anton Dvorak von Natur gegeben. Dvoraks Leben verlief ohne menschliche Erschütterungen im Räume der Musik, ein geradliniger Aufstieg aus kleinsten Anfängen. Am 8. September 1841 wurde er als Sohn eines Gastwirts in Nelahozeves bei Kralup geboren. Sechzehnjährig zog er als Wanderbursche nach Prag, w o er in einer Organistenschule seine Ausbildung erhielt und sich vom Geiger in einer Unterhaltungskapelle zum Bratschisten am Nationaltheater emporarbeitete. Mit zweiunddreißig Jahren brachte ihm sein erster Kompositionserfolg ein Stipendium. War Smetana von Liszt unterstützt, so erhielt Dvorak von der Gegenpartei, von Brahms und Hans von Bülow freundschaftliche Förderung. Lehramt am Prager Konservatorium und Doktortitel waren die weiteren Stufen. 1892 wurde er als Leiter des Nationalkonservatoriums nach N e wYork berufen; nach dreijährigem Aufenthalt in Amerika, der ihn in Berührung mit der indianischen Volksmusik brachte, kehrte er nach Prag zurück, w o e r a m 1. MaiijKH starb. Dvorak ist der Typus des naiven, aus der Fülle nie versiegender Eingebung schöpfenden Musikanten, der in stetiger Arbeit ein reiches Lebenswerk von hoher und gleichmäßiger Qualität anhäufte. Der Reichtum seiner Empfindung ist nur mit Schubert zu vergleichen, mit dem er das Blühende der Melodik, das Weiche, Farbige der Harmonik, das Flächige, Weite der Form gemein hat. Von seinen fünf Sinfonien (zwei weitere ungedruckte enthielt der Nachlaß) sind vier trotz hoher musikalischer Schönheit wenig bekannt: die erste, Werk 60 in D-Dur, die zweite, Werk 70 in d-Moll, die dritte, Werk 76 in F-Dur, die vierte, Werk 88 in G-Dur. Um so berühmter wurde die fünfte, Werk 95, in e-Moll, „Aus der neuen Welt". Sie ist die Frucht seines amerikanischen Aufenthalts und ein seltsames D o kument der Berührung zweier gänzlich verschiedener musikalischer Kulturen. Mit den vertrauten böhmischen Klängen mischen sich indianische Melodien, was dem Werk einen unbestimmbaren, schillernden Zauber verleiht. Fünf sinfonische Dichtungen und ebenso viele Ouvertüren, drei Konzerte (Werk 33 für Klavier, Werk 53 für Violine, Werk 104 für Violoncello) und prächtige, in Klavier- und Orchesterfassung erschienene Slawische Tänze runden das orchestrale Werk ab. Die Kammermusik umfaßt acht Streichquartette, ein Streichsex-
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tett, drei Streichquintette, ein Klavierquintett, zwei Klavierquartette, das Dumky-Klaviertrio. O b w o h l D v o r a k kein D r a matiker war, ergoß sich der breite Strom seines Schaffens auch in die Oper; unter seinen neun Bühnenwerken stehen der lyrischkomische „ J a k o b i n e r " von 1889 und die romantische „ R u s a l k a " , eine Variation des Undine-Motivs, obenan. Seine Kirchenmusik — Stabat Mater, Messe, R e q u i e m — h a t die Schönheit und die stilistische Unbefangenheit der Schubertschen. Das Gesamtwerk zeugt von einem der großen Musiker des Jahrhunderts. Polen hatte durch Frédéric Chopin einen frühen und entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der musikalischen N a tionalstile gegeben. Neben dieser großen europäischen K ü n s t lererscheinung besaß der in Warschau als Opernkapellmeister und Konservatoriumsleiter wirkende Stanislaus Moniuszko (1820—1872), dessen volkstümliche, auf Liedern und Tänzen aufbauende Oper „ H a l k a " ein Gegenstück zu des R u s s e n Glinka Volksoper „ D a s Leben f ü r den Z a r e n " bildet, nur binnenländische Bedeutung. Als neue Großmacht trat R u ß l a n d in die Geschichte der Musik ein. Schon am Ende des achtzehnten Jahrhunderts klingt bei Dimitri Stepanowitsch Bortnianski (1751—1825), dem in Italien gebildeten und mitOpern in Venedig debütierenden Galuppischüler und Dirigenten der Petersburger H o f sängerkapelle, die Beziehung zum heimischen Volkslied durch, den Satz beschwerend und verdunkelnd. Neben Bortnianski ist der Lyriker Alexander Alabieff ( 1 7 8 7 - 1 8 5 1 ) zu nennen, Komponist v o n Opern und Liedern, von denen die „ N a c h t i g a l l " noch heute gesungen wird. Als Begründer dei nationalrussischen M u s i k gilt Michael Iwanowitsch Glinka A m 20. M a i 1804 zu Nowospaskoje im Gouvernement Smolensk geboren, w a r er in Petersburg Schüler des nach Rußlanc verschlagenen John Field und bildete sich weiter in Italien Aber er fand erst zu sich selbst, als ihn der Berliner Theoretike Siegfried WilhelmDehn auf die nationalrussische Eigenart seine Begabung aufmerksam machte. Die Frucht dieser Besinnunj war die Oper „ D a s Leben f ü r den Z a r e n " , die bei ihrer erstei A u f f ü h r u n g im Jahre 1836 in Petersburg einen triumphalen E r folg errang und fortan als Urbild der russischen Nationalope gefeiert wurde. Der Volksliedklang spielt eine große R o l l e ii 5er einfachen, singspielhaften Partitur, deren folkloristische
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Kolorit durch eine farbige, lebhafte Instrumentation gesteigert wird. Freilich war die Wirkung des Werkes wenigstens in Rußland auch stofflich-politischer Art. Das patriotische Motiv der Aufopferung des schlichten Mannes Iwan Sussanin für den Herrscher und der schon hier, wie später bei Mussorgski, ausgespielte Gegensatz des Russischen und Polnischen, lagen im Zuge der Zeit. 1842 folgte die Puschkinoper „Ruslan und Ludmilla", 1844 ging Glinka wieder ins Ausland. In Paris trat Berlioz mit begeisterten Aufsätzen im Journal des Débats für ihn ein. In Madrid ließ er sich von der spanischen Volksmusik beeinflussen und legte seine Eindrücke in spanischen Ouvertüren nieder. Diese Fähigkeit, sich auch in einer fremden Sprache musikalisch auszudrücken, zeigt, daß es ihm doch noch mehr um das Kolorit überhaupt, um ein Spiel mit pittoresken Wirkungen ging als um einen schicksalhaften Durchbruch der eigenen Nationalität. Dem entspricht auch, daß sein nach der Rückkehr nach Petersburg unternommener Versuch, altrussische Kirchengesänge zu harmonisieren, das heißt, den harmonischen Organismus einer autochthon russischen Musik von innen her aufzubauen, fehlschlug. 1857 endete zu Berlin das Leben dieses Vorbereiters der großen russischen Musik, in dem sich Nationalität und Kosmopolitentum widerspruchsvoll vermischen. Nicht so sehr durch eigenes Schaffen, sondern mehr als Anreger und Lehrer sind die Brüder Rubinstein von Bedeutung. Der ältere, Anton Rubinstein, wurde am 28. November 1829 bei Balta in Podolien geboren. Als Pianist allerersten Ranges früh berühmt, studierte er 1844 bei Siegfried Dehn in Berlin Komposition und entfaltete ein fruchtbares Schaffen auf allen Gebieten der Musik. Sein fester Wohnsitz, von dem ihn Konzertreisen durch Europa und nach Amerika führten, war Petersburg, w o er die Kaiserliche Musikgesellschaft und das Konservatorium gründete. Er starb am 20. November 1894. Sein jüngerer Bruder Nikolai, geboren am 2. Juni 1835 zu Moskau, gestorben am 23. März 1881 zu Paris, nahm in Moskau als Gründer der Musikgesellschaft und des Konservatoriums eine entsprechende Stellung ein; er vor allem, seßhafter und mehr der regelmäßigen Lehrtätigkeit hingegeben, wurde zum Erzieher der russischen Musiker, von denen ein großer Teil durch seine Schule ging. Auch Glinkas größerer Nachfolger steht noch zwischen den Kulturen. Peter Iljitsch Tschaikowsky entstammt dem russischen Adel mit seinen gesellschaftlichen Bindungen an
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den mondänen europäischen Westen, und die Spuren dieser Herkunft hat sein Werk bis zuletzt bewahrt. Am 7. Mai 1840 wurde Tschaikowsky in Wotkinsk im Gouvernement Wjatka geboren. Als Sohn eines Hüttendirektors, der 1858 die Leitung des Technologischen Instituts in Petersburg übernahm, wuchs der „gläserne Knabe" in der behüteten Atmosphäre eines reichen Hauses auf, still, scheu, von Anfang an zurückhaltend in seinen menschlichen Beziehungen, in einen Mantel früher Einsamkeit gehüllt; sein erstes Schönheitserlebnis war Mozart, dessen apollinische Kunst zeitlebens sein höchstes Vorbild blieb. Trotz früh hervortretender Begabung kam es spät zu einer regelrechten Ausbildung. Erst 1863 wurde er, vorher Beamter im Finanzministerium, Schüler des von Anton Rubinstein neugegründeten Petersburger Konservatoriums. 1868 schrieb er seine erste Sinfonie, ein Jahr darauf errang er mit der Ouvertüre „ R o m e o und Julia" seinen frühesten großen Erfolg. 1866 war er als Theorielehrer an das Konservatorium Nikolai Rubinsteins nach Moskau übergesiedelt. In den Sommer 1877 fällt die seltsame Episode seiner kurzen Ehe. Der sensible, reizbare Individualist ertrug das Zusammenleben mit Antonina Iwanowna Miljukowa, einer ihn anbetenden Klavierschülerin des Moskauer Konservatoriums, nur wenige Wochen; dann floh er, gejagt von Lebensangst, in die Ferne, in die Einsamkeit des Genfer Sees und weiter nach Italien; die Ehe wurde gelöst. Ebenso rätselhaft ist die Beziehung zu einer anderen Frau, die in sein Leben eingriff, Natascha von Meck. Tschaikowsky hat diese verständnisvolle und hilfreiche Freundin, deren Freigebigkeit ihm viele Jahre unabhängigen Schaffens schenkte, niemals von Angesicht gesehen; die Beziehung erschöpfte sich in einem Briefwechsel, der das Leben und das Schaffen des Komponisten mit hingebender Einfühlung begleitete. In schmerzhaftem Gegensatz zu dieser inneren Einsamkeit stehen die Unrast und Weitläufigkeit, die Tschaikowskys äußeres Leben auszeichnen. Die Jahre seiner Unabhängigkeit verbrachte er auf den Gütern der Frau von Meck, in den russischen Hauptstädten, in der Schweiz und in Italien; in den letzten Jahren führte er ein ruheloses,immer wieder seinen inneren Widerständen abgerungenes Wanderleben als gefeierter Konzertdirigent, das ihn nach Deutschland, Frankreich, Belgien und England führte. Sein letztes Konzert dirigierte er neun Tage vor seinem Tode in Petersburg; es enthielt die Erstaufführung seiner sechsten Sinfonie. Er starb am 6. November 1893 zu Petersburg an der Cholera.
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Tschaikowskys Musik ist russisch in ihren rhythmischen, harmonischen und melodischen Elementen. A b e r das B i l dungsbedürfnis seiner außerordentlichen Formbegabung ließ ihn die übernationale Weltsprache der M u s i k , die der Westen ausgebildet hatte, mit der ganzen Fülle ihrer A u s drucksmittel gründlich erlernen. Darum fließt das Nationale bei ihm in europäische Form ein, Urtümlich-Russisches verbindet sich mit romantischer Konvention. Seine Erfindung rührt an das Elementare, seine Themen sind o f t w i e massige Blöcke, von unerlösten Volkskräften geballt, oder wie Blüten einer naturfrischen Volkspoesie. A b e r sie vermischen sich mit den blasseren, künstlicheren Erzeugnissen eines hochgezüchteten Kulturbewußtseins und werden abgeschliffen und geglättet v o n einer satztechnischen Virtuosität, der es um rationale Maße und elegante Proportionen zu tun ist. Mittelpunkt seines Werkes ist die Sinfonie. Die erste Gruppe der Sinfonien (Werk 13 g-Moll, „Winterträume", W e r k 17, c-Moll, W e r k 29 D-Dur) ist trotz reicher Schönheiten mehr vorbereitenden Charakters. Die zweite Gruppe gehört der sinfonischen Weltliteratur an. In der vierten Sinfonie in f - M o l l , W e r k 36, vollendet 1877, ist der ganze Tschaikowsky mit der Vielfalt seiner Anlagen enthalten. Sie hat den tragischen Klang eines „Schicksalmotives", das ihr als starres M o t t o vorangestellt und im letzten Satz wieder aufgenommen ist. Sie hat das Schwebende, Blütenhafte volksliedartiger Seitenthemen, hat den mitreißenden Aufschwung weitausholender Steigerungen. U n d sie hat die huschende Klangphantastik eines prickelnden Pizzikatoscherzo, das von grellfarbenen Bläserchören wie von bäuerischen Jahrmarktmusiken unterbrochen wird. Einheitlicher in der Stimmung ist die fünfte Sinfonie in e-Moll, W e r k 64, 1888 geschrieben. Hier liegt alles Gewicht auf einem von müder Schwermut zu lastender Wucht gesteigerten Bläserhymnus, der wie der düstere Gesang eines leidenden Volkes durch alle vier Sätze klingt. Die sechste Sinfonie in h-Moll, 1893 als W e r k 74 vollendet, ist dagegen rein subjektiven C h a rakters. In ihr, der „Pathetischen", singt sich die persönliche Tragik des Künstlers mit großartiger romantischer Ubersteigerung aus. Hier stehen so einmalige Eingebungen w i e das weltmännische Allegro con gracia im Fünfvierteltakt, welches die Stelle des Scherzo einnimmt. Das W e r k verklingt in dunklet
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Resignation mit einem ausdruckgeladenen Adagio, einem der großen Abschiedsgesänge der Musikgeschichte. Z u den Sinfonien kommen sechs Orchestersuiten, die vielgespielte Streicherserenade, W e r k 48, Ouvertüren zu R o m e o und Julia, Hamlet und die Ouvertüre , , 1 8 1 2 " , geschrieben zur E i n weihung der Erlöserkirche in Moskau im Jahre 1880, sowie die Orchesterfantasien „ D e r Sturm", „Francesca da R i m i n i " , und das Italienische Capriccio. Von den drei Klavierkonzerten, Werk 23 in b-Moll, W e r k 44 in G - D u r und W e r k 75 in Es-Dur, ist das erste mit der kompakten Akkordik seines Klaviersatzes am bekanntesten geworden. Das Violinkonzert in D - D u r , W e r k 35, bleibt mehr an der Oberfläche. B e deutender als die drei Streichquartette und das Streichsextett ist das Klaviertrio in a-Moll, W e r k 50, ,,A la Mémoire d'un grand Artiste", auf den T o d Nikolai Rubinsteins geschrieben. Die romantischen Kleinformen der Klaviermusik und des Liedes sind mit Erfindungsreichtum gepflegt. Tschaikowskys musikalische Universalität schloß auch die dramatische Musik ein, mochte ihm auch der ursprüngliche Instinkt des Dramatikers abgehen. In den Balletten „ D e r Schwanensee", „Dornröschen" und „ D e r Nußknacker" (der auch als Orchestersuite bearbeitet wurde), leben sich farbige Klangphantasie und elegante Leichtheit der Erfindung aus; sie sind Musik der zaristischen, westlich beeinflußten Gesellschaft. In seinen zehn Opern istTschaikowsky Russe. Die russische Dichtung lieferte ihm die Stoffe. „ W a k u l a der Schmied" fußt auf Gogols oft dramatisierter Erzählung, die beiden Hauptwerke „ E u g e n O n e g i n " (1877) und „Pique D a m e " (1890) schließen sich an Puschkin an, das eine von Tschaikowsky selbst, das andere von seinem Bruder Modeste textlich bearbeitet. Die schwermütigen Lyrismen der Oneginszenen, melodische Bekenntnisse einsamer, sich um das Glück des Zueinanderfindens betrügender Menschen, sind neben der Orchesterklage der Pathetischen Sinfonie das Erfüllteste und Menschlichste, das Tschaikowsky geschaffen hat. Den endgültigen Durchbruch zur russischen Musik und zugleich zu einer neuen, die Grenzen der R o m a n t i k sprengenden Stilepoche vollbrachte ein Altersgenosse Tschaikowskys, der zu diesem nach B e g a b u n g und Charakter einen scharfen Gegensatz bildet: Modest Petrowitsch Mussorgski. Ein J a h r älter als Tschaikowsky, am 2 1 , März 1 8 3 9 zu K a r e w o im G o u -
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vernement Pskow geboren, stößt er mit seinem Schaffen doch unvergleichlich weiter in die Zukunft vor. Mussorgski ging im bürgerlichen Leben den Weg, der seiner Gesellschaftsklasse gewöhnlich war: Militärschule, Dienst bei der Garde, dann Zivildienst im Ingenieur- und Forstwesen, dem er sein Leben lang treu blieb. Aber während seine äußere E x i stenz in Trunk und Unordnung versank, ging er als Schaffender, nur anfänglich mit der Gemeinschaft der „ F ü n f " , der fortschrittlichen Vertreter der neurussischen Schule enger verbunden, einen einsamen W e g seiner Zeit voraus. Viele seiner kühnen Entwürfe blieben Skizze oder Fragment. Sein Hauptwerk, das Volksdrama „Boris Godunow", brachte ihm 1874 im Marientheater zu Petersburg seinen einzigen großen öffentlichen Erfolg. Erstarb, zweiundvierzigjährig, am 28. März 1881 zu Petersburg. Mussorgski besaß, was seinen Vorgängern abging: R a d i kalität. Er begriff seine Aufgabe in ihrer ganzen revolutionären Bedeutung. „Die Urkraft der Erde will sich nicht eher erschließen, als bis sie von Grund aus aufgewühlt sein wird", heißt es in einem Briefe zur Zeit der Arbeit am „Boris Godun o w " . „Nicht zum erstenmal wird die Schwarzerde durchgeackert, aber ich will kein gedüngtes Land beackern, sondern ich lechze nach Neuland." So wagte er den entscheidenden Schritt aus der Konvention heraus: er lehnte die europäische Schulung ab. Als Autodidakt erarbeitete er sich seine eigene Harmonik, Rhythmik und Melodik: eine Harmonik der harten, ungelösten, irrationalen Klänge, gänzlich verschieden von der flüssigen, leittonverbundenen Funktionstechnik des Westens; eine Rhythmik, die das enge Schema der Zwei- und Dreitakte durchbrach, eine Melodik, die aus dem Tonfall der russischen Sprache, aus der Urmelodie des Volkes abgeleitet war (in einem seiner frühesten Versuche, der komischen Oper „Die Heirat", komponierte er die unveränderte Gogolsche Prosa). So wuchs in seiner einsamen Werkstatt, aus den Schauern kühner Intuition und ermattender Verzweiflung, eine Musik, für die es die rationale Klarheit der deutschen und italienischen Klassik nicht gegeben hatte, eine Musik, die dem „Neuland", dem Geiste eines kommenden Jahrhunderts abgerungen war. Es war eine M u sik, die die Stimmen des Volkes einfing, die Schwermut der
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bäuerlichen Lieder, die U r k r a f t der Tänze, den J u b e l der Jahrmärkte, die blutige Größe der Geschichte. Sie hatte in sich die Vision der Landschaft, die starre, eisige Steppe, und die unergründliche Seele des russischen Menschen, mit ihren Dunkelheiten, Müdigkeiten, ihren selbstquälerischen Z w e i feln und ihrer gläubigen Größe. Von den Werken blieb die „ H e i r a t " , eine virtuose Studie des realistischen Dramatikers, unvollendet. Die Arbeitskraft seiner besten Jahre widmete Mussorgski seinem Hauptwerk, dem geschichtlichen Drama „ B o r i s G o d u n o w " . Den Text bearbeitete er selbst nach Puschkin, eine epische Reihe von Szenen, die zusammen eher ein flüchtiges Gemälde als eine konzentrierte dramatische Form ergeben. Der Held ist der Z a r Boris, der durch M o r d an dem letzten Erben der alten Rurik-Dynastie auf den Thron gelangt und die Schuld mit den Gewissensqualen der geopferten Seele bezahlt: ein russischer Charakter von gewaltiger Vitalität und leidender, belasteter Menschlichkeit, dazu eine große politische Figur. U m ihn ist das leidende Volk, als aufständische Masse und in realistisch packenden Einzelgestalten wie der des Narren, der im Schneegestöber das lallende Lied des Wahnsinns singt, um ihn sind Bojaren und Mönche, Pracht und Askese, Fülle und N o t . Kontrast ist der kriegerische, in Polonaisenrhythmen tändelnde Hochmut der feindlichen Polen, die zum Feldzug für den falschen Dimitri rüsten. Das alles lebt in einer Musik von krassem, farbigem Realismus. Elementare Chormelodien wechseln mit Stellen von äußerster psychischer Intimität, das Derb-Wirkliche steht neben Visionärem, die große historische Dekoration der Krönungsfeier neben dem Menschlich-Unergründlichen der düsteren Todesszene. Die spröde, asketische Klangform des Originals wurde später von Rimskij-Korssakoff einer glättenden Überarbeitung unterzogen, die heute als Entstellung abgelehnt wird. Z w e i weitere Opern blieben unvollendet. „ D i e Chowanschtschina" wurde von R i m skij-KorssakofFergänzt und 1886 in Petersburg aufgeführt. „ D e r Jahrmarkt von Sarotschinsk" kam ebendort erst 1 9 1 7 in einer Bearbeitung César Cuis auf die Bühne. Unter den Orchesterwerken steht „ E i n e Nacht auf dem kahlen B e r g e " an erster Stelle, eine sinfonische Dichtung von schlagender Primitivität und infernaler Phantastik, musikalisches Gegenstück zu den Gespenstergeschichten Gogols. Von höchstem R e i z sind M u s sorgskis Lieder, jedes eine geschlossene Szene von packender Realität: der Zyklus,.Ohne Sonne" und die „Lieder und Tänze
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desTodes" von 1875, in denen d e r T o d wie kaum anderswo in der Musikgeschichte imponierende Gestalt wird, endlich die Skizzenblättchen der „Kinderstube", subtile musikalische Prosa auf impressionistisch schillerndem Klanggrund. Z u m Impressionismusneigt auchdas bedeutendste Klavierwerk Mussorgskis, die,, Bilder einer Ausstellung", eine Reihe tönender Paraphrasen über malerische Eindrücke,die sichamEnde mit dem akkordisch getürmten „ T o r von K i e w " zu einer Apotheose des Russischen steigern. Gegen Mussorgski können die anderen Mitglieder der „ F ü n f " oder, wie sie sich selbst nannten, des „mächtigen H ä u f leins", an Bedeutung nicht ankommen. M i l y Alexejewitsch B a lakirew war ihr Anführer und Inspirator. E r war am 2. Januar 1837 zu Nischni N o w g o r o d geboren und starb am 28. M a i 1 9 1 0 zu Petersburg. Von Haus aus Naturwissenschaftler, w a r er doch durchgebildeter Musiker und hatte früh als Pianist Erfolge. Sein Haus war der Treffpunkt der jungrussischen Musiker. Sein Schaffen ist stark romantisch beeinflußt. E r schrieb sinfonische Dichtungen, darunter „ R u s s i a " (zur Tausendjahrfeier Rußlands im Jahre 1862), zwei Sinfonien, Lieder und Klavierwerke, von denen die virtuose und klangkoloristische Fantasie „ I s l a m y " seinen Namen am berühmtesten gemacht hat. Alexander Porphyrie witsch Borodin stellt denTypus des genialenDilettanten dar, der f ü r diesen Kreis bezeichnend ist. E r lebte vom 12. November 1833 bis zum 27. November 1887 zu Petersburg, galt als natürlicher Sohn eines Fürsten Gedianow, studierte Medizin und Chemie, war Arzt, Professor und Staatsrat, reiste viel und verfügte übergroße gesellschaftliche Beziehungen.Seine Werke sind die Oper „Fürst I g o r " , aus der die prächtigen Polowetzer Tänze berühmt wurden, zwei Sinfonien, die sinfonische Dichtung „Steppenskizze aus Mittelasien" und zwei Streichquartette. César Antonowitsch Cui, geboren am 18. Januar 1835 zu Wilna und am 24. März 1 9 1 8 ebendort gestorben, w a r Heeresingenieur, rückte bis zum Generalleutnant auf und schriebein Lehrbuch über Feldbefestigungen. Als Musiker w a r er Schüler von Moniuszko und Balakirew, schrieb vier Opern, darunter „ D e r Gefangene im Kaukasus" und,,DerSohn des Mandarins" und zweihundert Lieder. E r war als Kritiker von unerschöpflicher Bosheit. Mit Nikolai Andrejewitsch Rimskij-Korssakoff greift noch einmal ein wirklicher Meister in die Entwicklung ein. Auch Rimskij-Korssakoff, der am 18. März 1844 zu Tichwin bei N o w g o r o d geboren wurde, kam erst allmählich zur Musik. Er gehörte als junger Mann der russischen Marine an, in deren
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Dienst er eine Weltumseglung machte. Später verließ er den aktiven Dienst und blieb nur noch Inspektor der Militärorchester der russischen Flotte. Daneben lehrte er Instrumentation und Komposition am Petersburger Konservatorium. Am 21. Juni 1908 starb er zu Lubensk bei Petersburg. Rimskij-Korssakoffist vor allem Kolorist, als Begabung Berlioz verwandt. Seine Stärke liegt in der Harmonik und in der Instrumentation, die thematische Erfindung tritt dagegen zurück. Man spürt die zeitliche Nähe des Impressionismus, der die Farben in östlicher Kraft und Tiefe aufglühen läßt und die thematischen Konturen verwischt. Seine neun Opern, in denen epische und malerische Elemente dominieren, behandeln russisch-volkstümliche Themen. Die bekannteren unter ihnen sind „Schneeflöckchen" (1882), „Die Weihnacht" (nach Gogols Erzählung, 1895), „Sadko" (1897), „DieZarenbraut" (1899), „Die Sage von der unsichtbaren Stadt Kitesch" (1907) und „Der goldene Hahn" (1908). Drei Sinfonien, Orchesterfantasien, Kammermusik, Lieder und geistliche Werke ergänzen sein Schaffen, dem eine lebhafte Tätigkeit als Bearbeiter und Instrumentator fremder Werke parallel läuft. Von den Zeitgenossen erlangten Anatoly Konstantinowitsch Ljadow (1855 bis 1914), ein Meister kleinerer Formen, Anton Stepanowitsch Arensky (1861 bis 1906), ein noch romantisch gerichteter Musiker, und Sergei Iwanowitsch Tanejew (1856 bis 1915) geringere Bedeutung. Die Entwicklung führt von R i m skij-Korssakoff, dem Jüngsten der „ F ü n f " , unmittelbar zu seinem großen Schüler Igor Strawinsky und damit in die Gegenwart. BRAHMS UND B R U C K N E R Noch einmal stieg die Linie der romantischen Musik zur Höhe; die Kräfte, die in der Weltlichkeit des Kunstbetriebs zu zersplittern drohten, sammelten sich in der Stille zu gewaltiger, dauernder Wirkung. Zwei große Persönlichkeiten stehen am Ende der Entwicklung, Bürger verschiedener Reiche, im Kampf der Tagesmeinungen feindlich gegeneinander ausgespielt, und doch durch eine feste und notwendige Beziehung verbunden als Vertreter der beharrenden und der vorwärtsdrängenden Kräfte des Jahrhunderts. JohannesBrahms, der Erbe SchumannschenGeistesundNachfahre der Klassik, zählt zu den wenigen Norddeutschen, die auf die Geschichte der Musik schöpferischen Einfluß geübt haben.
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Er stammt aus einem hannoverschen, zuletzt in Holstein heimischen Handwerkergeschlecht. Sein Vater hatte es zum Kontrabassisten. im Orchester des Hamburger Stadttheaters gebracht. Die Begabung und der Ernst des am 7. Mai 1833 geborenen Knaben fanden Pflege und Ausbildung durch den Hamburger Pianisten Eduard Marxsen. Zwanzigjährig, „ein schlanker Jüngling mit langem, blondem Haar und einem wahren Johanniskopf, dem Energie und Geist aus den Augen blitzten", machte er mit dem ungarischen Geiger Remenyi eine Konzertreise durch Norddeutschland. Die entscheidende Beziehung seines Lebens knüpfte sich in Düsseldorf zu Robert und Clara Schumann. Der Aufsatz, mit dem Schumann in der Neuen Zeitschrift für Musik den jungen Freund gleichsam als seinen Nachfolger ankündigte, ist oft zitiert worden: „Ich dachte, es würde und müsse einmal plötzlich einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre. Einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert, aus dem Haupte des Kronion spränge. Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms." An Kompositionen lägen damals fertig vor die Klaviersonaten in C-Dur Werk 1 und fis-Moll Werk 2 (die f-MollSonate Werk 5 folgte bald darauf), das es-Moll-Scherzo für Klavier Werk 4, die Liederhefte Werk 3 und 7, das H-DurKlaviertrio Werk 8. Bis zu Schumanns Tode blieb Brahms in der Nähe von dessen Familie in Düsseldorf und Baden-Baden, um nach vorübergehender Tätigkeit als Hofmusiklehrer in Detmold wieder nach Hamburg zurückzukehren. 1859 spielte er im Leipziger Gewandhaus sein erstes Klavierkonzert in d-Moll; die bis zu Hugo Wolfs berühmten Wiener Kritiken immer wieder erhobenen Vorwürfe gegen die „trostlose Öde und Dürre" der Brahmsschen Musik wurden hier zum ersten Male ausgesprochen. 1862 wurde Brahms zum Leiter der Singakademie nach Wien berufen, das vom Jahre 1869 an, nach vorübergehenden Aufenthalten in Hamburg, Baden-Baden und Zürich, sein dauernder Wohnsitz wurde. In der heiteren, aufgeschlossenen Atmosphäre der Stadt, von dem einflußreichen Kritiker Eduard Hanslick entscheidend gestützt und gegen Wagner und Bruckner ausgespielt, fand der Norddeutsche Verständnis für seine Kunst und Ergänzung seines Wesens. In seiner späteren Zeit erhielt Brahms einen energischen Vorkämpfer in dem genialen Dirigenten Hans von Bülow, der sich nach seiner Abkehr
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von Wagner dem Hamburger Meister als Vertreter der klassischen Tradition zuwandte und ihn in W o r t und Tat — in den Programmen seiner Gastreisen mit der Meininger Hofkapelle — zum Nachfolger Beethovens ausrief. 1868 erklang das „Deutsche R e q u i e m " . In die Wiener Zeit fallen die großen Orchesterwerke, die Variationen über ein Thema von Joseph Haydn W e r k 56a (1874), die erste Sinfonie in c-Moll W e r k 68 (1877), die zweite in D - D u r W e r k 73 (1878), die dritte in F-Dur W e r k 90 (1884) und die vierte in e-Moll W e r k 98 (1886). In das Jahr 1881 gehören die Akademische Festouvertüre und die T r a gische Ouvertüre W e r k 8 1 . 1 8 7 9 erschien das Violinkonzert Werk 77 in D - D u r , dem violinistischen Berater Joseph Joachim zugeeignet, der im Leipziger Gewandhaus die Uraufführung spielte, 1882 das zweite Klavierkonzert W e r k 83 in B - D u r , i888dasDoppelkonzert f ü r Violine und Violoncello W e r k 102. Unter den Kammermusikwerken sind zu nennen die drei Sonaten f ü r V i o line und Klavier W e r k 78, 100 und 108, drei Streichquartette cM o l l und a-Moll W e r k 5 1 , B - D u r W e r k 67, zwei Streichquintette W e r k 8 8 und i n , z w e i Sextette W e r k 18 und 36, drei K l a viertrios W e r k 8, 87 und 1 0 1 , das Klavierquintett W e r k 34 und das Klarinettenquintett W e r k 1 1 5 . Das reiche Liedschaffen — allein für Einzelstimmen umfaßt es fast 200 Gesänge — erstreckt sich über die gesamte Lebenszeit des Komponisten bis zu seinem letzten W e r k , den vier Ernsten Gesängen nach biblischen Texten W e r k 1 2 1 . Brahms starb am 3. April 1897 in Wien. Im soziologischen Bilde des Jahrhunderts erscheint die Brahmssche Kunst als die beste und echteste Repräsentation der Bürgerlichkeit, mit deren Entfaltung sie zeitlich zusammenfällt. Sie setzt eine beruhigte und gesicherte W e l t voraus. ¡Sie entwickelt sich stetig und langsam, ganz den inneren Werten des Lebens zugewandt, unerschüttert von den Stürmen der äußeren Welt. Sie ist darum keineswegs nur friedlichen, idyllischen Charakters. A b e r ihre Stürme toben auf der inneren Bühne des Herzens oder scheinen wie P r o phetie ferner, gewaltiger Ereignisse, die sich dunkel am Horizont abzeichnen. Damit hängt auch das Ungelöste zusammen, das ihren Spannungen fast durchweg anhaftet. Dieser K ü n s t ler schafft sich nicht sein freies, transzendentes R e i c h , in dem er nach dem Gesetz seines Wesens schaltet. E r bleibt der E r d e verhaftet und ihren Mächten, den Bedingungen der W e l t 1 1 Oehlmann, Musik des 19. Jahrh.
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unterworfen; er kämpft und leidet, aber er überwindet nicht. Dennoch ist er groß durch die Tiefe seines Gemüts und die Wärme seines Herzens, die das Dunkel der Welt durchstrahlt, ein guter und zuverlässiger Tröster derer, die wie er die Stürme und das Dunkel kennen. Das Herbe, Verschlossene, Schmucklose seiner Kunst ist norddeutsches Erbteil; die gedämpften, grauen, gleichmäßigen Farben sind wie die N e bel, die über den weiten Ebenen seiner Heimat lagern. Wie bei Beethoven bedurfte es der erwärmenden Berührung des Südens, um seine Kunst reifen zu lassen. Alles Blühende, Strömende, Lichte, das mehr und mehr seine Herbheit lösend durchdringt, erwächst aus der milderen Lebensluft seiner Wahlheimat Wien; das warme, helle Dur des Violinkonzertes, die glückliche Leichtheit der zweiten Sinfonie sind Zeugnisse einer deutschen Klassizität, die aus der Synthese von Nord und Süd erwachsen ist. Der klassische Zug, der die Brahmssche Kunst trotz ihrer inneren Nähe zu Schumann von aller Romantik abhebt, entsteht aus einer neuen, höheren Bewertung der Form. Das Schaffen von Brahms ist eineRestaurationderklassischen Form, keine Fortentwicklung. Die auflösenden Kräfte der Romantik werden nicht eingegliedert, sondern ausgeschlossen. Dem Vorwärtsdrängen der Wagnerschen Chromatik steht eine Archaisierung der Harmonik gegenüber, die durch Verwendung von Terzverwandtschaften und Mollnebendominanten herbe Schlichtheit mit flutender Bewegtheit verbindet. Die Verstärkung der Melodie durch Sexten ist ein bevorzugtes, ausdrucksteigerndes Kunstmittel, ebenso die Gleichzeitigkeit zwei- und dreiteiliger Rhythmen, die der Bewegung etwas unbestimmt Schwankendes verleiht. Die Architektonik der klassischen Sonate wird als gegeben übernommen und bei aller Kunst der Verschleierung und Abwandlung respektiert. Daneben taucht die Variation als zukunftsvoller Formtypus wieder auf, seltener die Fuge in der wirkungshaften Händeischen Prägung. Im einzelnen wächst und dehnt sich das Werk von der Intimität der Klaviermusik bis zur sinfonischen Weite. Die Klaviersonate ist wie bei Beethoven der Ausgangspunkt. Von den drei Sonaten sind die frische, klare in C-Dur und die in fis-Moll
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jugendlichen Geistes; hochbedeutend ist die tragische in f - M o l l , die zentrale Schöpfung des Klaviermeisters Brahms überhaupt. W i e in der C-Dur-Sonate geht hier das Volkslied in die Thematik des Werkes ein. Der Klaviersatz steigert sich von stimmungsvoller Schlichtheit zu virtuoser Vollgriffigkeit, er bleibt dabei naturhafter, einfacher als die geistvolle Artistik des Lisztschen, er spielt mehr mit geschlossenen Akkordmassen, die er mit elastischer Leichtigkeit bewegt. Die Variationenform wird gepflegt in den 32 Variationen über ein Thema von Händel, die in eine satztechnisch und pianistisch gleich großartige Fuge auslaufen. In seiner späteren Zeit hat Brahms das Klavier nur noch mit kleinen Formen bedacht; die Reihe der Intermezzi und C a pricci ist besinnliche Kleinkunst, in der der Geist Schumanns nachwirkt. Die Kammermusik wurde das eigenste Gebiet, auf dem sich die Brahmssche Meisterlichkeit, die Kunst des ruhigen, bedächtigen Formens auswirken konnte. V o n den drei Sonaten für Violine und Klavier sind die in G - und A - D u r sonnige Musik von blühender Kantabilität, herb und ernst ist die in d-Moll. Gegensätzlichen Charakters sind auch die drei Klaviertrios; auf das jugendlich-überschwängliche, in Sextenparallelen schwelgende in H - D u r folgen das klassizistisch-glatte in C Dur und das beethovenhaft-düstere in c-Moll. Die klassische Form des Streichquartetts ist durch zwei ernstschöne Schwesterwerke in c-Moll und a-Moll und das kompositorisch noch reichere B-Dur-Quartett vertreten. Streichsextette und -quintette, Werke f ü r besondere Besetzungen wie die romantische Hornsonate oder das späte, mozartisch leuchtende Klarinettenquintett runden ein Gebiet ab, das in seiner formalen Zucht, mit dem tiefen Ernst und der Echtheit seiner Inhalte wie ein später Abglanz der großen Meisterzeit um 1800 berührt. Auch das Lied gehört zuinnerst zur Brahmsschen Welt. Es ist die Ausdrucksform, in der die hervorragenden Wesenszüge des Künstlers, Schlichtheit und Herzlichkeit, sich am deutlichsten mitteilen. Die Dichtung ist mehr nur Anlaß und Unterlage eines selbständigen musikalischen Kunstwerks. Brahms hat mit Ausnahme vonTiecks Mageloneliedern keine Dichterzyklen vertont; jedes Lied steht f ü r sich, ein Klang der Schwermut, der Sehnsucht, des stillen innigen Glückes, der Erhebung des Herzens. Das Brahmssche Lied hat nicht die farbige Leuchtkraft des Wolfschen; es bevorzugt die gedämpften, verschwimmenden Farben, die auch f ü r die Instrumentalmusik bezeichnend waren, entsprechend der W a h l der dichterischen Stimmungen, die oft dunkler, schwermütiger und verhaltener Art sind. Als schönes 1 2 Oehlmann, Musik des 1 9 , Jahrh.
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Beispiel religiöser Lyrik stehen die vier Ernsten Gesänge am Ende des Brahmsschen Lebenswerkes, Übersetzungen von Psalm-und Episteltexten in die schlicht-herbe Sprache des Sololiedes. Der Sinfonik hat sich Brahms erst spät genähert. Stationen auf dem Wege zur Sinfonie sind die Konzerte. Die beiden Klavierkonzerte in d-Moll und B-Dur gehören zu den großartigsten Aufgaben, die den Pianisten gestellt sind. Vor allem das viersätzige, durch die dunklen romantischen Klangfarben von Horn und Violoncello charakterisierte B-Dur-Konzert verquickt den anspruchsvollen Klaviersatz so fest mit dem feinen Instrumentalgewebe, daß ein neuartiges, kammermusikalisch ausgewogenes Klangbild entsteht. Das Violinkonzert ist eine der blühendsten Brahmsschen Schöpfungen. Der kantable Geist des Instruments bestimmt die Thematik, das lichte D-Dur, die Grundtonart der Violine, legt den Charakter fest. Das sprödere Doppelkonzert für Violine und Violoncello (a-Moll) steht neben diesen Schöpfungen im Schatten. Eine bedeutende Gruppe sind die Chorwerke mit Orchester; die Schillersche Nänie, die AltRhapsodie (Goethes „Harzreise im W i n t e r " ) und vor allem das Deutsche Requiem, das im Zentrum des Brahmsschen Schaffens steht. Der Text ist aus Bibelworten zusammengestellt, der musikalische Ausdruck vermeidet kirchliche Formen und A r chaismen, das schlichte, menschliche Gefühl bleibt überall bestimmend. Darum ist das W e r k noch nicht eigentlich religiöse Musik. Der Ausblick ins Transzendente fehlt. A m großartigsten ist der in ostinater Melodik hinschreitende Hymnus der Vergänglichkeit, „Denn alles Fleisch vergeht wie Gras", ein Totentanz von schwerer und feierlicher W ü r d e des Gefühls. Der Variationenmeister erweist sich in den phantasiereichen O r chestervariationen über ein Choralthema Joseph Haydns. Die Sinfonien wiederholen die Schumannsche Vierzahl. In der ersten, der von Stürmen und Spannungen erfüllten c-MolI-Sinfonie, wird der kontemplative Musiker zum Dramatiker. Das Ringen des ersten Satzes, das mit einer über einen Orgelpunkt chromatisch aufwärtssteigenden Harmoniefolge wie mit einem langgedehnten Aufschrei losbricht, findet tröstliche Antwort im schlichten, von Volksliederklängen durchsetzten Gesang des zweiten. Aber erst das Finale bringt den Durchbruch zur erlösenden Melodie. W i e ein wärmender Hauch des Südens klingt sie in Horn und Flöte in die erstarrende Seelenlandschaft, gefolgt von einem Freudenhymnus voll Beethovenschen Geistes, der alle Widerstände überwindet; der evangelische Choral, im harten Bläserklang wie ein trotziges Siegeszeichen aufgereckt,
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macht den Beschluß. Nach diesem schwerblütigen Bekenntniswerk zeigt sich Brahms in der zweiten, der leichtflüssigen D Dur-Sinfonie als Meister klassizistischer Anmut. Verhaltener ist der F-Dur-Klang der dritten Sinfonie, deren langsamer Satz zu den bezeichnendsten Äußerungen Brahmsscher Lyrik zählt. Erst in der vierten, der e-Moll-Sinfonie, erhebt sich der Meister wieder zu eigenster Größe. W i e eine nebelverhangene Geisterlandschaft breitet sich in wogendem Streicherklang der erste Satz, ohne Kontraste und dramatische Zuspitzungen, v o m ersten bis zum letzten Ton eine schwermütige Einheit des Gefühls. Z u herber Größe erhebt sich das Finale, in dem Brahms als prophetischer Mittler zwischen Vergangenheit und Zukunft auf die alte Form der Chaconne zurückgreift. Eine achttaktige Akkordfolge, der die Melodie nur wie eine zufällige Oberstimme aufliegt, wird in strenger Variantenfolge durchgeführt. W i e schon in Beethovens Eroica, aber härter und konsequenter, bewährt sich die formbauende Kraft des Variationenfinales. W i e ein geheimnisvoller Schicksalsreigen, ein Aufzug gemessen schreitender, an die Fessel eines strengen Muß geschmiedeter Geistergestalten, steht dieses Finale am Ende der Brahmsschen Sinfonik, aus tragischen Lebenstiefen aufsteigend und nach unermüdlichem, gewaltigem Kreisen ungelöst in sie zurücksinkend. Einsamer, geheimnisvoller, gewaltiger steht der Andere in der bewegten W e l t des endenden Jahrhunderts, der Österreicher Anton Bruckner. Die Mitwelt hat den Maßstab f ü r seine Größe nicht gefunden. E r hat es ihr schwergemacht; schärfer als bei anderen Künstlern, unüberbrückbar, klafft bei ihm die Diskrepanz zwischen äußerer Erscheinung und innerem Wesen, zwischen weltläufiger Geltung und wahrem W e r t . Selten hat sich das Große hinter einer sonderbareren, j a lächerlicheren Maske versteckt; der bäurisch unbeholfene, überbescheidene, stets zu Devotion und Unterordnung bereite Mann, der keinen Schritt über den Horizont seines musikalischen Fachgebietes hinaussah und auch hier seine E r f a h r u n g höchstens durch ein beiläufiges, seltsam treffsicheres W i t z w o r t kundtat, der nichtsdestoweniger, gleichsam mit verlegenem Lächeln, eine R e i h e sinfonischer Kolosse von bisher unerhörten Ausmaßen in die W e l t setzte, f ü r die er w e d e r als Dirigent, noch mit der Feder einzutreten fähig war, mußte seiner U m w e l t notwendig ein Rätsel, mußte einer k a m p f 12»
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lustigen, intellektualistischen Fachkritik ein willkommener Gegenstand des Spottes werden. So verbrachte er sein langes Leben bis ins Greisenalter unverstanden von der W e l t ; A u f führungen seiner W e r k e blieben bis zuletzt Seltenheit, manche von ihnen hat er niemals gehört. N u r einem kleinen Kreise v o n Musikern, Schülern und Freunden ging eine Ahnung seiner Größe auf; im wesentlichen blieb er unerkannt, sein gewaltiges W e r k ein Vermächtnis f ü r die Z u k u n f t . Anton Bruckner wurde am 4. September 1824 zu Ansfelden in Oberösterreich als Sohn eines Lehrers geboren. Sein W e g führte über die Stufen des Schullehrers und des Organisten zu St. Florian nach Linz, w o er 1856 eine ehrenvolle Anstellung als Domorganist erhielt. Bezeichnend f ü r die ersten J a h r zehnte seiner Entwicklung ist ein fanatischer, unersättlicher Trieb zu lernen, ein geduldiges, unermüdliches Aufnehmen und Verarbeiten, dem noch keine entsprechende produktive Äußerung gegenübersteht. Mit einer mittelalterlichen Versunkenheit und R u h e baute sich Bruckner seine Meisterschaft; mit einer von außen pedantisch anmutenden G e wissenhaftigkeit erarbeitete er sich langsam und stufenweise die Herrschaft über das Tonreich, die sein Genie ihm erst spät bestätigen sollte. Bis zum vierzigsten Lebensjahr blieb er Schüler, von Lehrer zu Lehrer, von Disziplin zu Disziplin rastlos wechselnd und immer wieder die erworbenen Kenntnisse durch Prüfungen und Zeugnisse sich bestätigen lassend; v o m strengen Fugensatz, den er an der Orgel in fünfstimmiger Improvisation beherrschte, bis zur Farbenglut der hochromantischen Harmonik und Instrumentation eignete er sich nach und nach das g e samte technische Rüstzeug der alten und neuen Musik an; zu seinen Lehrern zählten der Kontrapunktiker Simon Sechter, bei dem schon Schubert am Ende seines Lebens Erweiterung seines Könnens gesucht hatte, und der Theaterkapellmeister Otto Kitzler, der ihn in den Stil des Wagnerschen Orchesters einführte. Von der Bekanntschaft mit dem „Tannhäuser" datierte Bruckners unbegrenzte Verehrung f ü r W a g n e r , die ihn später in den engeren Kreis um den Meister führte; 1865 w a r er unter den Gästen der Münchner Tristanaufführung, bei der E r ö f f nung der Bayreuther Festspiele widmete er W a g n e r seine dritte Sinfonie. Mit dem Jahre 1864 endete die Zeit der Schülerarbeiten und der wieder verworfenen Versuche, zu denen eine vollständige Sinfonie in f - M o l l zählte, als erstes vollgültiges W e r k
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entstand die d-Moll-Messe f ü r Chor und Orchester. Es folgte der Schritt zur Sinfonie; 1866 war die erste vollendet, die in Linz ohne tiefere Wirkung aufgeführt wurde. Die Messen in e-Moll und f-Moll waren die nächsten Früchte. Im Jahre 1868 folgte Bruckner einem R u f nach "Wien und übernahm als N a c h folger Sechters die Lehrstelle f ü r Kontrapunkt und Orgelspiel am Konservatorium. Damit hatte seine äußere Existenz einen R u h e punkt gefunden. 1869 unternahmereine Konzertreise als Organist nach Nancy und Paris, zwei Jahre später nach London. Das sinfonische W e r k rundete sich zur Neunzahl. In die ersten Wiener Jahre fallen die zweite und dritte Sinfonie. 1874 w a r die vierte, „romantische" Sinfonie vollendet, 1878 der gewaltige kontrapunktische B a u der fünften. Bruckner hat dieses Meisterwerk, das erst 1894 zu Graz seine erste Aufführung erlebte, selbst niemals gehört. 1881 folgte die sechste, 1883 die strahlende siebente, deren Uraufführung im Leipziger Gewandhaus unter Arthur Nikisch im folgenden Janr dem Meister einen seiner seltenen großen Erfolge brachte. 1890 wurde nach sechsjähriger Arbeit die achte Sinfonie abgeschlossen, die neunte beschäftigte ihn bis zu seinem Tode. Dazu kommen das Streichquintett von 1879, das einzige Kammermusikwerk, dasTedeum (1884), der 150. Psalm (1892) und eine Reihe geistlicher und weltlicher Chorwerke. Das Alter brachte Bruckner, dessen W e r k in W i e n gegen den Widerstand des Kritikers Hanslick mehr und mehr in den Vordergrund des Interesses rückte, manche Ehrungen, von denen die Verleihung des Doktordiploms der Wiener Universität ihm die liebste war. A m Nachmittag des 1 1 . Oktober 1896, nachdem er vormittags noch am Finale seiner neunten Sinfonie gearbeitet, verschied er. Der R a u m , in dem Bruckners Kunst fest und tief verankert w a r , ist die Kirche. Damit steht seine Kunst v o n vornherein fest in der großen Tradition der heiligen Musik. Sie lebt angesichts der höchsten verpflichtenden A u f g a b e : des Dienstes am Göttlichen, der v o n jeher die stärksten Lebenskräfte der M u sik ausgelöst hat. Das ist der G r u n d der unvergleichlichen Reinheit und Qualität, die jeden Takt Brucknerscher M u s i k weit aus der Musik des Jahrhunderts heraushebt: ihre transzendente Echtheit, die den Klang bis zum Grunde läuternd durchdringt und alles Unklare und Unwesentliche ausglüht und auslöscht. Bruckners Musik ist nicht mehr A h n u n g und Verheißung, sondern Wirklichkeit des Transzendenten: sie
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ist die realste Erscheinung des Göttlichen, die der W e l t durch die Kunst gegönnt wurde. Der klingende Leib der M u sik erscheint in ihr entmaterialisiert, vergeistigt nicht im Sinne asketischer Schwäche und Blässe, sondern gewandelt in strahlendes, wärmendes Licht— ein Licht, lauter und ätherrein wie jenes, welches geheimnisvoll aus den alten, heiligen W o r t e n der Evangelien bricht. So ist die Brucknersche Kirchenmusik ihrem Wesen nach eindeutig bestimmt. Sie bedient sich gern des klingenden Prunks feierlicher Bläserstimmen, wie sie auch das Erbe der Polyphonie mit Ernst und Strenge verwaltet. Sie durchblutet das alles mit der Lebensfülle der romantischen Harmonik, mit der Potenz einer unerschöpflich aus reinen Tiefen quellenden Erfindung und mit der Urkraft eines festgegründeten religiösen Gefühls. In der d-Moll-Messe, in der sich Bruckner zuerst zu sich selbst findet, überwiegen die zarten, innigen Töne; die Partitur ist in ein warmes Halbdunkel getaucht, das von milden, reinen Lichtern überspielt wird. Ernster, größer konzipiert ist die f-Moll-Messe, das bedeutendste der Brucknerschen Kirchenwerke. Gänzlich für sich steht die Vertonung des Messetextes in e-Moll, ein streng liturgisches achtstimmiges Chorwerk mit Begleitung von Blasinstrumenten. Eine andere Gruppe sind der ganz auf den Ton geistlichen Jubels gestellte 150. Psalm und der gewaltige Dankgesang des Tedeum, der im a-fresco-Rahmen einstimmiger neugregorianischer Chöre M o mente inbrünstig zarter Lyrik und fugierte Entwicklungen von majestätisch hinrauschendem Fluß birgt. Aber die Sendung Bruckners erschöpfte sich nicht auf dem umfriedeten Bezirk der kirchlichen Musik; ihr größerer und gewichtigerer Anteil liegt auf dem Gebiet der Sinfonie. Es ist kein Z w e i f e l , daß Bruckner den Ubergang zur Sinfonie als ein Hinaustreten in d i e , , W e l t " empfand. Erst in der Sinfonie tritt der K a m p f in seine Kunst ein; erst in der Sinfonie breiten sich die Dunkelheiten, lasten die Gewichte der Erdenschwere, tönen die Stimmen der Widersacher, die bis späthin in das gewaltige kosmische Konzert der Achten ihren aufrührerischen K l a n g behalten. Der Sinfoniker Bruckner faßt das Erbe Bachs und Beethovens, den Kunstgeist des Barock und der Klassik, mit gewaltiger Hand zusammen. Bachisch, barock ist das Eigen-
Brahms und Bruckner leben des Einzelnen, die blühende, vegetative Fülle der E r findung, der ruhevolle, natürlich gewachsene Linienzug der Thematik, der sich geschmeidig in kunstvolle polyphone Verschlingung einfügt. Bachisch ist der ungeheure Anteil, den die Technik der Fuge an der Brucknerschen Form hat, das Spiel der U m k e h r u n g e n , welche die Themen wie ihr Spiegelbild begleiten, der Vergrößerungen, der kanonischen Verkettungen, die ganze steigernde u n d ballende Energie der f u gierten Entwicklungen, aus denen Bruckner seine Formhöhepunkte auftürmt. Beethovenschen Geistes aber ist die Formgesinnung, die diesen ganzen Reichtum des Einzelnen unter das übergreifende Gesetz der Sonate zwingt. Bruckners sinfonische Form ist trotz des starken Einschlags der Fugentechnik die Sonate. Nicht mehr in der o f t abstrakten, zur Idee des thematischen Dualismus zugespitzten Form Beethovens, sondern in geweiteter, gewachsener Gestalt, die das von der Klassik verleugnete Erbe des breithinströmenden barocken Musizierens in sich aufnimmt. Die Spannung von H a u p t - u n d Seitenthema bleibt gewahrt; dazu gewinnt die Schlußgruppe als drittes Thema selbständige Bedeutung. Die Stellenwiederholung entfällt. Die D u r c h f ü h r u n g erhält, da die T h e m e n schon bei ihrem ersten Erscheinen im Hauptteil durchg e f ü h r t werden, weniger den Charakter technischer Verarbeitung als den kombinatorischer Entwicklung. Die Reprise behält ihren bestätigenden Sinn, die Coda greift mit V o r liebe in triumphaler Entfaltung auf das Hauptthema zurück. Der langsame Satz bedient sich meist des Prinzips der variierten W i e d e r h o l u n g des Hauptthemas, zwischen die sich das Seitenthema einschiebt. Das Scherzo, im bewegten Dreivierteltakt, v o n dem ruhigeren T r i o unterbrochen, zieht aus der oberösterreichischen Volksmusik kräftige rhythmische u n d melodische Impulse. Das Finale, als innere Lösung des Ganzen von weit größerer Bedeutung als das R o n d o - F i n a l e der klassischen Sinfonie, greift wieder auf die Sonatenform zurück, die o f t in hohem Maße von Fugenelementen durchsetzt w i r d ; es zielt in allen späteren Fällen auf den D u r c h b r u c h des Kopfthemas aiis dem ersten Satz. Hier ist auf die seltsame Tatsache hinzuweisen, daß die
Brahms und Bruckner Brucknerschen Sinfonien in zum Teil sehr einschneidenden B e arbeitungen auf uns gekommen und ein halbes Jahrhundert lang in dieser Form unbeanstandet aufgeführt und analysiert worden sind. Erst um 1930 hat die Musikwissenschaft erkannt, daß die Partituren der Erstdrucke von Bruckners Schülern in der w o h l meinenden Absicht, sie dem Zeitgeschmack anzupassen und damit ihre Verbreitung zu fördern, überarbeitet worden sind. Die Änderungen betreffen einmal die Instrumentation, welche der Wagnerischen stark angenähert ist. Auch dieses romantisierte Klanggewand ist prächtig und einer großen Kunst w ü r dig. Aber der Klang der Urfassungen ist ein anderer. E r ist einfacher, klarer, mehr von der thematischen Logik als von R ü c k sichten der Farbe bestimmt. D i e Instrumentengruppen vermischen sich nicht, sondern sind als deutlich abgesetzte C h a raktere einander gegenübergestellt. Die Dynamik ist wesentlich primitiver; die Bindung des Brucknerschen Klanggefühls an die Orgel mit ihrer Registergruppierung und ihrer terrassenförmig ansteigenden Dynamik wird offenbar. Damit wird B r u c k ners Kunst um ein beträchtliches aus der R o m a n t i k heraus und der Gegenwart nähergerückt. W a s vor allem gegen die Bearbeitungen spricht, ist die Sorglosigkeit, mit der der strenge f o r male A u f b a u der Originale, der dem freien, an der sinfonischen Dichtung geschulten Formgefühl der Hochromantik als überalterte Pedanterie erschien, durch Kürzungen verwischt ist. Ihrem Inhalt nach ist die Brucknersche Kunst M y s t i k , Weltschau eines religiösen Geistes. Das ist ihre K r a f t und ihr Geheimnis. So gerundet ihr formales B i l d , so stark und klar die L o g i k ihres A u f b a u s ist, so sehr sie als reines K u n s t w e r k in sich beruht, so bleibt ihr dennoch ein R e s t von Geheimnis. Die ungeheure R o l l e , welche die Pause, das Verstummen des Klanges in der Brucknerschen K u n s t spielt, ist bezeichnend f ü r ihre übersinnliche E i g e n s c h a f t ; das Schweigen birgt nicht weniger Gehalt als der lebendige K l a n g . Dieser mystische G e halt der Brucknerschen Kunst ist v o m Kunstverstand nicht zu erfassen; er teilt sich dem Hörer unmittelbar mit als tönende Vision. Die Fülle der Lichteindrücke, die das innere A u g e überflutete, die Durchblicke in weite, zur Unendlichkeit geöffnete Landschaften voll unbestimmbar schwebender Formen und Gestalten, die leisen oder gewaltsamen Erschütterungen, der geheimnisvolle und doch vertraute K l a n g der
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Themen, die den Hörer wie alte, heilige U r w o r t e voll e w i g e r Glaubenskraft ansprechen — das ist das eigentliche, ergreifende und beglückende Wesen dieser Kunst, die Ursache ihrer zwar späten, aber um so sichereren und nachhaltigereren, der Beethovenschen an Weite der Ausstrahlung zumindest gleichkommenden W i r k u n g . S o gleichartig die neun Brucknerschen Sinfonien ihrem f o r malen A u f bau nach wirken, so ist doch ihrem Inhalt nachjede eine einmalige Schöpfung, die unwiederholbare Station einer weitgespannten inneren Entwicklung. Die erste, in c-Moll, ist ganz K a m p f u n d Spannung. Die Thematik hat noch nicht die vollgeprägte Brucknersche Individualität. Der dichten, vielfach überlagerten Kontrapunktik fehlt noch die Gelöstheit, die später den ruhigen Fluß des Brucknerschen Satzes ausmacht. Alles ist hart und herb, von einer gewaltigen, unverbrauchten K r a f t geformt. Trotz der gleichen c-Moll-Tonart ist die zweite Sinfonie entgegengesetzten Wesensart. In ihr kündigt sich der Lyriker Bruckner an. Erst im Finale verdüstert sich die Stimmung; mit einem mächtig aufgereckten Unisonothema beginnt hier der K a m p f , in dessen Höhepunkt besänftigend und schlichtend, wie eine Stimme aus einer anderen Welt die lichte BenedictusMelodie der f-Moll-Messe hereinklingt: noch steht der Künstler ringend zwischen Erde und Himmel, aus dem Sturme flüchtet er in die heilige R u h e der geistlichen Sphäre. Waren die beiden ersten Sinfonien, ähnlich den zwei ersten Beethovens, mehr vorbereitenden Charakters, so steht mit der dritten der Sinfoniker in seiner vollen Größe da. Seine „ E r o i c a " ist ein strahlender Triumphgesang der hellen, heiligen Mächte, der sich liebend mit den dunklen und den fröhlichen Stimmen der Erde vermischt. W i e einen feierlichen A u f r u f stellt die Trompete ihr kantiges Quintenthema in den dunklen d - M o l l Grund des Streichorchesters, ein Gefäß voll gedrängter melodischer Energie, die sich mächtig über das ganze W e r k ausbreitet ; im strahlenden D - D u r , im Goldglanz der Blechinstrumente erfüllt sich am Schluß des Finales der triumphale Sinn des wiederkehrenden Themas, das nun wie ein Siegel göttlicher Allmacht über Erde und Himmel hinstrahlt. In der vierten Sinfonie gewinnt die Natur Sprache und Klang. W i e im „Freischütz" rauscht im heimlichen, schattigen Es-Dur der Wald. Aber der Gesang der Horner, der sich aus dem leisen Raunen loslöst, schwebt wie auf weitgespannten Engelsflügeln über den W i p feln dahin. In zyklopischen Bildungen, als rüttelten Stürme an
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Felsen, regen sich die Kräfte der Erde. A m Ende der Durchführung ereignet sich das W u n d e r : der Waldgesang der Horner verwandelt sich, offenbart seine wahre Natur als heiliger, im Lichtglanz der hellen Blechinstrumente erstrahlender Choral. Der zweite Satz, eine der melodischsten Eingebungen des M e i sters, ist immer unter dem Bilde eines Trauermarsches aufgefaßt worden. Ein Wunder an melodischer Schönheit ist das Seitenthema, ein langgesponnenes Melos von einer lyrischen Tiefe, die nur mit Bach vergleichbar ist, schwebend zwischen M o l l und Dur, von den warmen Altstimmen der Bratschen zu leichten Pizzikatostützen der Streicher gesungen. Nach diesem N a turhymnus erhebt sich die fünfte, die B-Dur-Sinfonie, wieder in die Höhe der geistlichen Sphäre. W i e zu einem Dombau türmt der Meister die tönenden Massen, den die schwingende Konstruktion einer Doppelfuge wie ein Gewölbe schwebender Bogen überspannt. Z u m einzigen Male läßt er dem ersten Allegrosatz eine langsame Einleitung vorausgehen; das Anheben, die R e g u n g der musikalischen Kräfte wird bis in den Urgrund der tiefsten R u h e zurückverfolgt. Der langsame Satz ist weniger lyrischer Fluß als strenge kontrapunktische Konstruktion. Das Finale ist der großartigste Tonbau, den jemals die konstruktive Phantasie eines Musikers ersonnen. Als schemenhafte R e miniszenzen tauchen wie in Beethovens Neunter die Themen der früheren Sätze aus der Dämmerung der Einleitung auf. Mit kraftvollen Oktavenschlägen zerreißt das Hauptthema die N e bel, welches sogleich eine ausführliche fugenhafte D u r c h f ü h rung erfährt. Ein gesangvolles Seitenthema stellt den Sonatencharakter des Satzes wieder her, der nach der Kiaftentfaltung seiner Steigerungen in der Stille verklingt. In das Schweigen tönt, eine Verkündigung aus anderer Sphäre, in feierlichem Bläserklang, der Choral. Seine Oberstimme verbindet sich mit dem Hauptthema als zweites Subjekt einer Doppelfuge, welche die Durchführung vertritt. Die Reprise führt zur abschließenden kontrapunktischen Kombination, welche auch die Thematik des ersten Satzes mit einbezieht; als letzte gewaltigste Steigerung schichten sich über ihr die ehernen Bläserharmonien des Chorals. Über die geistige Höhe, die Bruckner als Künstler und Bekenner mit diesem Riesenwerk erstiegen hatte, führte kein W e g hinaus. Mit der sechsten Sinfonie setzt eine neue Entwicklung ein. Die kämpferische Anspannung legt sich, die ungeheure geistige Konzentration löst sich, die Quellen der Musik fließen freier, aus reicherer Fülle, die Melodik blüht weicher, glückhafter, der Klang hellt sich auf. Nicht mehr der Willensmusiker
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Beethoven, das unbewußt strömende Schöpfertum Schuberts scheint inspirierend hinter dieser Musik zu stehen. Die sechste ist die erdenfernste unter den Brucknerschen Sinfonien. Ihre Sprache ist beruhigt, leidenschaftslos, wie verklärt, ihr fehlt durchaus das menschliche Espressivo; wie ein zarter und mächtiger Engelsgesang rauscht sie in leuchtendem A-Dur dahin. Die reichste an klingender Schönheit ist die siebente, die strahlende E-Dur-Sinfonie, eine große, bruchlose lyrische Einheit, ein wogendes Meer makellosen Lichts. Wunderbar spannt sich der geschwungene Linienzug der Themen bis zum Ende, w o Tuben, Horner und Trompeten mit Cherubstimmen den Hymnus eines höheren, seligen Seins singen. Der Tod ist der Gegenstand des zweiten Satzes. Richard Wagners Tod hat dem Meister dieses Adagio eingegeben, die verklärteste Trauermusik, die je geschrieben wurde. Zweimal steigt das Hauptthema in breitgelagerten Sequenzketten wie auf gewaltigen Treppenstufen zur Höhe auf, zuerst im warmen G-Dur, darauf im reinen, blendenden Lichtglanz eines C-Dur, das im brausenden Klangrausch des ganzen Orchesters immer wieder festgehalten wird. Tod ist Leben geworden, reineres, stärkeres Sein. Noch einmal war es dem Meister, der diesen Hymnus der Seligkeit gesungen, bestimmt zu kämpfen. Die achte Sinfonie, die an Ausdehnung größte, die dunkelste und geheimnisvollste unter allen, ist ein Kampfplatz mystischer Gewalten, eine Landschaft von wilder Größe, die Hölle, Erde und Himmel umfaßt. Die Grundstimmung verdunkelt sich zum ernsten c-Moll. Die Stimmen der Widersacher tönen stärker und drohender als jemals vorher. Im Adagio, einem ruhevoll strömenden Des-DurGesang von sakraler Feierlichkeit, sammeln sich die Kräfte der Höhe. Das Thema ist ein einziger, über stockenden, von Dur nach Moll verfärbten Synkopen schwebender Ton, nur von der oberen und unteren Nachbarnote umspielt, die einfachste, ursprünglichste Formel tönenden Gefühls. Zweimal erhebt es sich in langsamem Aufstieg zu hohem religiösem Pathos im Erzklang der Trompeten und im heiligen Rauschen der Harfen, die hier zum einzigen Male in Bruckners Werk erklingen. In gewaltig aufstrebenden Bögen spannt sich der Satz zur Höhe und sinkt zum Endpunkt tiefster, innerster Beruhigung zurück, ein Gebet, das in mächtigem Anruf an die Pforten des Himmels dringt und, voll des Glückes der Erhörung, zur Erde zurückkehrt. Mit dieser Tat der Sammlung ist der Kampf des Werkes und damit der Kampf dieses Musikerlebens entschieden. Die neunte Sinfonie ist Epilog, Rückblick von einsamer
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Höhe auf das überwundene Erdenleben und Ausblick in jenseitige Weiten. Die d-Moll-Tonart und die Vorherrschaft der leeren Quint zeigen Beziehung auf Beethoven. Langsam, im ruhigen Atem geheimnisvoller Schöpferkraft, bildet sich aus dem formlosen Urgrund des Klanges die melodische Gestalt. Ein Ereignis neuer Art ist das dritte Thema des ersten Satzes: in der gläsernen Transparenz seines Quintenzaubers, einem Vorklang des Impressionismus, entschläft alle Bewegung, gerinnt zu stehendem Klang. Die Spannungen der Durchführung bestätigen den meditativen Charakter des Satzes, sie sind geistiger Art, Fragen der ringenden Erkenntnis, nicht mehr unmittelbar erlittenes Leben. Daraus folgt auch der neue spekulative Zug, der der Kontrapunktik eignet. Sie ist nicht mehr Bewährung der alten erprobten Meisterschaft, sondern Vorstoß in eine unbekannte Freiheit, ein tastendes, träumerisches Verspinnen der Linien, ein Erproben neuer, spröder und unabgeschliffener Führungen. Sie ist weniger Technik als Geist, weniger Können als Intuition, Ankündigung einer neuen, freieren Phase der Musik. Im Scherzo ist die Synthese von Kraft und Leichtheit erreicht, die Bruckner in dieser Form anstrebte. Es ist ein Tanzstück von dionysischem Schwung, dem entsprechenden Beethovenschen Satze ebenbürtig. Mit dem Adagio klingt das Werk, klingt das Schaffen dieses Lebens aus. Noch einmal beschwört der Meister die ganze erlösende Kraft seiner lyrischen Seele, noch einmal erschließt er die tiefsten Quellen seiner unerschöpflichen Melodie. Sein stilles Herz breitet über den Abschiedsgesang den Glanz des reinen E-Dur. Noch einmal bewährt die Variation ihre steigernde Kraft, sie entfaltet die lyrischen Energien zum letzten, gewaltig tönenden Bekenntnis. Dann senkt sich die Ruhe des Epilogs herab. Die Stimmen entwirren sich, die Klänge klären sich zu makelloser Reinheit, wie leise, liebe R e miniszenzen mischen sich frühere Gedanken, Themen der siebenten und achten Sinfonie in den entschwebenden Klang, der im warmen, klaren, wie endlos gehaltenen E-Dur-Dreiklang der Tuben und Hörner in die Ewigkeit hinüberklingt. Bruckner hielt diese Musik für würdig, sie dem lieben Gott zu widmen. Die Musik der Romantik hatte nach den Krisen und Wirrungen des Gefühls, nach den Abenteuern der Phantasie, nach den Versuchungen des Geistes und dem Versinken in irdische Dämonie zur göttlichen Reinheit ihres Ursprungs zurückgefunden.
Namenregister A d a m , Adolphe 70 d'Agoult, Marie 89 Alabieff, Alexander 1 5 1 Alarcón, Pedro Antonio de 1 3 4 Albeniz, Isaac 145 d'Albert, Eugen 91 Albrechtsberger, Johann Georg 8 Alfieri, Vittorio 57 Ambros, August Wilhelm 128 Ansorge, Conrad 91 Apel, Johann August 26 Arensky, Anton Stepanowitsch 159 Auber, Daniel François Esprit 59, 7 1 , 72, 98, 143 B a c h , Johann Sebastian 5, 1 1 , 1 8 , 1 9 , 20,47,48,49, 50,53, 8 1 , 83, 84,144, 1 6 8 , 1 7 2 Bach, Philipp Emanuel 1 1 Balakirew.MilyAlexeje witsch 158 Balzac, Honoré de 66, 74 Barbaja, Domenico 26, 58 Barezzi, Margherita 1 1 5 Bauernfeld, Eduard von 31 Beer, Michael 73 Beethoven, Ludwig van 7, 8—19, 20, 24, 25, 26, 27, 28, 29,31,32,33,34,35,36,44, 45,47,48,53,59,65,66,68, 74, 78, 81, 83, 84, 86, 88, 90, 9 1 , 93, 94, 96, 98, 1 0 1 , 107, 128,134,139,140,149, 161, 162,163,165,.168,169, 171, 172,173, 174' Beethoven, Karl van 10 Beethoven, Kaspar van 1 0 Bellini, Vincenzo 61-63,64,65, 67, 72, 80, 92, 98, 1 1 8 , 123
Benda, Georg 42 Bennet,William Sterndale 146 Benoit, Peter 146 Berger, Ludwig 46 Berlioz, Hector 74—79, 80, 85, 87, 93, 125, 126, 127, 130, 1 3 3 , 1 3 6 , 1 4 0 , 148, 1 5 2 , 159 Berwald, Franz 148 Bibbiena, Giuseppe u. a. 56 Bizet, Georges 59,'141, 143 Boieldieu, François Adrien 70 Boito, Arrigo 1 1 7 , 124 Borodin, Alexander Porphyrie witsch 158 Bortnianski, Dimitri Stepanowitsch 1 5 1 Bouilly, Jean Nicolas 1 7 Brahms, Johannes 24, 50, 128, 130, 1 3 2 , 1 3 3 , 144, 1 5 0 , 1 5 9 bis 165 Brandt, Caroline 27 [128 Breidenstein, Carl Friedrich Breitkopf und Härtel 38 Brendel, Franz 128 Brenner, Genoveva 25 Bruch, M a x 1 3 2 Bruckner, Anton 17, 28, 3 1 , 83, 1 3 3 , 1 5 9 , 1 6 0 , 1 6 5 - 1 7 4 Brunswik, Therese 10 [160 B ü l o w , Hans von 100,126, x 50, Bulwer, E d w a r d George 102 B y r o n , George Gordon N o e l 50, 54, 7.8 Caccini, Giulio 1 1 8 Calderon de la Barca, Pedro 2 1 Catalani, Angelica 56 Chabrier, Emmanuel 1 4 1 Chamisso, Adelbert von 36,53 Chateaubriand, François R e né 66, 93
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Namenregister
Cherubini, Luigi 17, 26, 57, 67-69, 74 Chopin, Frédéric 46, 63, 67, 79-82, 93,94, 151 Chrysander, Friedrich 128 Cimarosa, Doménico 57, 60, 69 Claudius, Matthias 32 Clementi, Muzio 45, 7 1 , 93 Cochi, Francesco 56 Collin, Friedrich 17 Corneille, Pierre 130 Cornelius, Peter 90, 129, 130 Couperin, François 85 [134 Courbet, Gustave 67 Cramer, Johann Baptist 45,93 Cui, César Antonowitsch 157. 158 Czemy, Karl 45, 88, 93 Daudet, Alphonse 142 David, Jacques Louis 66, 69 Debussy, Claude 76, 87 Dehn, Siegfried Wilhelm 129, 151 Delacroix, Eugène 67, 76, 82 Delibes, Léo 141 Descartes, R e n é 6 Devrient, Eduard 40 Diabelli, Anton 13 Dittersdorf, Karl Ditters v. 42 Donizetti, Gaetano 63—65, 67, 92, 1 1 9 Draeseke, Felix 132 Dumas, Alexandre 80, 120 Dvoïâk, Anton 1.50, 1 5 1 EichendorfF, Joseph von 22, 29, 34,49, 52, 53, 134, 139 Elgar, Edward William 146 Eisner, Joseph 79 Erkel, Franz 145 Faltin, Richard 148 Fasch, Karl Friedrich Christian 36
Fauré, Gabriel 145 Fétis, François Joseph 128 Fichte, Gottlieb 138 Field, John 45, 81, 1 5 1 Flotovv, Friedrich von 44, 45 Foscolo, U g o 57 Fouqué, Friedrich de la M o t t e 29, 36, 43 Franck, César 145 Franz, R o b e r t 132 Friedrich, Caspar David 82, 139 Gade, Niels Wilhelm 1 3 2 , 1 4 7 Galuppi, Baldassare 1 5 1 Gautier, Théophile 80 Geibel, Emanuel 134 Geliert, Christian Fürchtegott 32 Genée, Richard 138 Geyer, Ludwig 97 Glinka, Michael Iwanowitsch 151,152 Gluck, Christoph Willibald 32,36,57,58,65,67,68,70, 74,99,128,130,143 Goethe, Johann W o l f g a n g von 9,17, 3 2 , 3 6 , 3 9 , 4 6 , 4 7 , 54, 68, 78, 82, 90, 96, 134, 140, 164 Goetz, Hermann 130 Gogol, Nicolaus 155, 157, 159 Goldmark, Karl 131 Gonzago, Pietro 56 Gounod, Charles 140, 143 Gozzi, Carlo 98 Grabbe, Christian Dietrich 41 Grétry, André Ernest M o deste 70 Grieg, Edvard 147, 148 Grillparzer, Franz 10, 31 Grisi, Giuditta 56, 67 Grisi, Giulia 56, 67
Namenregister Guhr, Karl Wilhelm Ferdinand 37 Guicciardi, Giulietta, Grafin 10 Gutierrez, Antonio 1 2 1 Habeneck, François Antoine 66 Halévy, Jacques Fromental 73, 74, 1 4 1 Händel, Georg Friedrich 48, 55, 163 Hanslick, Eduard 1 2 8 , 1 6 0 , 1 6 7 Hartmann, Peter Emil 146 Hasse, Johann Adolf 55 Hausegger, Friedrich von 128 Haydn, Joseph 7, 8, 1 1 , 1 5 , 36, 37, 48, 68, 88, 1 6 1 , 164 Haydn, Michael 25 Hebbel, Friedrich 54 Heine,Heinrich 3 2 , 4 3 , 8 0 , 1 0 2 Heinse, Wilhelm 98 Hensel, Wilhelm 46, Herder, Johann Gottfried 7, 32, 138 Hérold, Louis Joseph Ferdinand 71 Heuberger, Richard 1 3 7 Heyse, Paul 134 Hiller, Johann Adam 37, 42 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 2 1 , 22, 29, 36, 38, 43, 5 1 , 52, 69, 98 Hölty, Friedrich 32 Homer 1 1 , 98 Hugo, Victor 77, 94, 1 1 6 , 120 Hummel, Johann Nepomuk45 Humperdinck, Engelbert 1 3 1 Hüttenbrenner,Anselm 30,35, 45 Ibsen, Henrik 106, 147 Indy, Vincent d' 145 Ingres, Jean Auguste Dominique 67, 69 Isouard, Niccolo 70
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Jeanrenaud, Cécile 47 Jensen, Adolf 1 3 2 Joachim, Joseph 1 6 1 Kalkbrenner, Friedrich W i l helm Michael 81 Kaulbach, Wilhelm 95 Keiser, Reinhart 140 Keller, Gottfried 134 Kerner, Justinus 53 Kind, Friedrich 26 Kitzler, Otto 166 [138 Kleist, Heinrich von 43, 82, Klinger, Friedrich M a x i milian 20 Klopstock, Friedrich Gottlieb Körner, Theodor 26 [32 Kotzebue, August von 43 Kretzschmar, Hermann 128 Kreutzer, Konradin 36, 44 Kreutzer, Rodolphe 14 Kuhlau, Friedrich 146 Kuhnau, Johann 1 1 Kunzen, Ludwig Ämilius 146 Lablache, Luigi 55, 67 Lachner, Franz 30, 45 Lamartine, Alphonse de 66, 69, 94 Lamond, Frederic 91 Lanner, Joseph 134, 1 3 5 Lavigna, Vincenzo 1 1 5 Lenau, Nicolaus 53 Lenz, J a k o b 20 Leopardi, Giacomo 57 Lind, Jenny 148 Lindblad, Adolf Frederik 148 Liszt, Adam 88 Liszt, Franz 27, 37, 45, 52, 63, 67, 80, 81, 86, 8 7 - 9 7 , 99, 100,105,127,128, 129,130, 1 3 1 , 1 3 2 , 1 3 3 , 1 4 5 , 1 4 8 , 149, 150,163 Ljadow, Anatoly Konstantinowitsch 159
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Namenregister
Loewe, Carl 46 Lortzing, Albert 41—44, 45 Lully, Jean-Baptiste 65 Mackenzie, Alexander Campbell 146 Malibran, Maria 56, 67 Manet, Edouard 76 Manzoni, Alessandro 1 1 7 Marschner, Heinrich August 26, 40, 4 1 , 43, 98, 102, 107 M a r x , Adolph Bernhard 128 Marxsen, Eduard 160 Massenet, Jules Emile Frédéric 1 4 1 Matthisson, Friedrich von 32 M a y r , Simon 63 Mayrhofer, Johann 31 Meek, Nataschavon 153 Méhul, Étienne Henri 26, 67 Mendelssohn, Fanny 46, 47 Mendelssohn, Moses 46 Mendelssohn-Bartoldy, Felix 36, 37, 46—49, 126, 128, 1 3 1 , 1 3 2 , 146 Mercadante, Saverio 65 Merelli, Bartolomeo 1 1 5 Mérimée, Prosper 142 Meyerbeer, Giacomo 59, 7 1 bis 73, 74, 80, 92, 98, 102, 1 2 5 , 1 3 1 , 140 Miljukowa, Antonia I w a nowna 153 Millocker, Karl 1 3 7 Molière, Jean Baptiste P o quelin, genannt 43 Moniuszko, Stanislaus 1 5 1 , 158 Monsigny, Pierre Alexandre 70 Monteverdi, Claudio 62, 1 1 8 , 143 Môrike, Eduard 134 Morlacchi, Francesco 26
Moscheies, Ignaz 81 Motti, Felix 126 Mozart, Leopold 88 Mozart, W o l f g a n g Amadeus 5, 7, 10, 1 1 , 17, 18, 20, 27, 29,31,36,39,41,42,43,45, 57, 59, 80, 81, 92, 1 1 9 , 134, 1 4 1 , 149, 153 Müller, August Eberhard 37 Müller, Wenzel 36, 42 Musset, Alfred de 80 Mussorgski, Modest Petrowitsch 152, 155—158 Neefe, Christian Gottlob 8, 32 Nicolai, Otto 44 Niemann, Albert 1 2 7 Nietzsche, Friedrich 97 Nikisch, Arthur 167 Nordraak, R i k a r d 147 Nourrit, Adolphe 67 Novalis, Friedrich von Hardenberg, genannt 2 1 , 32, 34, 51, 62, 106 Oflfenbach, Jacques 143—144 Pacini, Giovanni 65 Pacius, Friedrich 148 Paer, Fernando 57, 89 Paesiello, Giovanni 57, 58, 60, "5 Paganini, Niccolò 37, 39, 67, 78, 89, 93 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 69 Pasta, Giuditta 56, 67 Paul, Jean 5 1 , 52 Pedrell, Felipe 145 Peri, Jacopo 1 1 8 Petrarca, Francesco 94 Piccini, Niccolò 57, 69 Piranesi, Giambattista 56 Planer, Minna 98, 100 Platen, August Graf von 32,53 Pohlenz, Christian August 37
Namenregister Potocka, Delphine 80 Prehauser, Gottfried 36 Puschkin, Alexander Sergejewitsch 152, 155, 157 Raff, Jos. Joachim 132 Raimund, Ferdinand 36 Rameau, Jean Philippe 65, 85, Ravel, Maurice 141 [144 Reichardt, Joh. Friedrich 38 Reilstab, Joh. Friedrich 38 Rellstab, Ludwig 38 Remenyi, Eduard 160 Renoir, Pierre Auguste 76 Richter, Hans 126 Riemann, Hugo 128 Rietz, Eduard 46 Rimskij-KorssakofF, Nicolai Andrejewitsch 157, 159 Rochlitz, Johann Friedrich 38 Roman, Johann Helmich 148 Romani, Feiice 61 Rossini, Gioacchino 57—60, 61, 62, 64, 67, 7 1 , 93, 1 1 7 , 118, 1 1 9 , 125, 141 Rousseau, Jean Jacques 6, 16 Rubini, Giovanni Battista 55, 67 Rubinstein, Anton 152, 153 Rubinstein, Nicolai 152, 153, 155 Ruciczka, Wenzel 30 Rückert, Friedrich 32, 53 Sachs, Hans 108,109 Saint Cricq, Caroline de 89 Saint-Saens, Camille 140, 141 Salieri, Antonio 8, 30, 36, 88 Sand, George 80 Sauer, Emil 91 Scarlatti, Alessandro 5 5 , 1 1 8 Schenck, Johann 8 Schicht, Johann Gottfried 37 Schiller, Friedrich von 17, 32, 94, 116, 123, 164
179
Schikaneder, Emanuel Johann Schinkel, Friedrich 36 [36 Schlegel, August Wilhelm 21 Schlegel, Friedrich 21, 51 Schleiermacher, Friedrich 36 Schnorr von Carolsfeld, Ludwig 100, 127 Schober, Franz von 31 Schopenhauer, Arthur 23, 52, 59, 62, 99,101,106, n o , 1 1 7 Schubart, Christian Friedrich Daniel 20, 29 Schubert, Franz 30—35, 36, 40, 45,46, 47, 52,53,54, 59, 62,81,92,93,132,134,135, 150,151,166,173 Schulz, Johann Philipp Christian 37 Schumann, Robert 24, 34, 35, 37, 47, 49-54, 62, 80, 81, 85, 94, 97, 127, 128, 1 3 1 , 132,133,140,141,146,159, 160,162,164 Schütz, Heinrich 146 Schwind, Moritz von 31 Scribe, Eugène 72, 73 Sechter, Simon 31, 166, 167 Seidl, Anton 126 Shakespeare, William 2 1 , 47, 48, 75, 78, 79, 98, i i ö , 1 1 7 , 1 2 1 , 122, 123, 124, 130, 1 3 1 Sibelius, Jean 148 Silcher, Friedrich 37 Siloti, Alexander 91 Smetana, Friedrich 149, 150 Smithson, Henriette 75 Solera, Temistocle 1 1 5 Sonnleithner, Joseph von 17 Spitta, Philipp 128 Spitzweg, Karl 43 Spohr, Ludwig 26, 39, 126 Spontini, Gasparo 36, 38, 66, 69, 70, 71, 72, 73, 98
i8o
Namenregister
Stanford, Charles Villiers 146 Stendhal, Marie Henri Beyle genannt 59 Stradal, August 91 Stranitzky, Josef Anton 36 Strauß, Eduard 137 Strauß, Johann (Vater) 135, 136 Strauß, Johann (Sohn) 135, 136, 137 Strauß, Joseph 135, 137 Strauß, Richard 86, 1 3 1 Strawinsky, Igor Feodorowitsch 159 Strepponi, Giuseppina 1 1 6 Sullivan, Arthur 146 Suppe, Franz von 136 Tamburini, Antonio 55 Tanejew, Sergei Iwanowitsch 159 Thalberg, Sigismund 67 Thomas, Ambroise 140 Tichatschek, Joseph 127 Tiedge, Christoph August 32 Tinel, Edgar 146 Tschaikowsky, Modeste 15s Tschaikowsky, Peter Iljitsch 152-155 Uhland, Ludwig 32 Vaccai, Nicola 65 Varnhagen von Ense, Rahel 36 Verdi, Giuseppe 57, 63, 65, 1 1 5 - 1 2 5 , 127, 138 Viardot-Garcia, Pauline 67 Vogl, Michael 30 Vogler, Georg Joseph 25, 71
Volkmann, Friedrich Robert 131 Voltaire,Francois Marie Arouet de 6 Wackenroder, Wilhelm Heinrich a i , 22, 87 Wagner, Cosima 91, 100 Wagner, Richard 1 1 , 25, 27, 28,39.40,41,58,63,67,70, 79, 88, 90, 91, 93, 95, 97, 100—114,117,118,124,125, 126,127,128,129,130,131, 132,133,139,140,141,142, 149,160,161,166,170,173 Weber, Carl Maria 25—30, 35,39,40,44,45,48,52,68, 71, 72, 74, 81, 85, 98, 107, 126,127, 138,148 Weber, Franz Anton 25 Weber, Fridolin 25 Weber, Konstanze 25 Weigl, Joseph 36 Weinlig, Christoph Theodor 37, 98 Wesendonk, Mathilde 99 Weyse, Ernst Friedrich 146 Widor, Charles Marie 144,145 Wieck, Clara 49, 50, 160 Wieck, Friedrich 49 Winckelmann, Johann Joachim 7 Wolf, Hugo 132—134,160,163 Zeller, Karl 137 Zelter, Carl Friedrich 36, 44, 46, 47, 71 Ziehrer, Carl Michael 137 Zingarelli, Niccolò 61 Zumsteeg, Johann Rudolf 32