Die Geschichtsphilosophie Lorenz von Steins: Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts 9783486764468, 9783486764451


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German Pages 145 [148] Year 1932

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INHALT
EINLEITUNG: PROBLEMSTELLUNG UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER WICHTIGSTEN LITERATUR ÜBER LORENZ VON STEIN
I. TEIL.
1 . KAPITEL. GESCHICHTSLOGIK
2. KAPITEL. MATERIALE GESCHICHTSPHILOSOPHIE
II. TEIL
3. KAPITEL. LORENZ VON STEIN UND DIE GEISTESGESCHICHTE DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS
LITERATURVERZEICHNIS.
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Die Geschichtsphilosophie Lorenz von Steins: Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts
 9783486764468, 9783486764451

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DIE GESCHICHTSPHILOSOPHIE LORENZ VON STEINS EIN BEITRAG ZUR GEISTESGESCHICHTE DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS VON

HEINZ NITZSCHKE

M Ü N C H E N UND BERLIN Î932 VERLAG VON R. OLDENBOURG

B E I H E F T a6 D E R H I S T O R I S C H E N

ZEITSCHRIFT

Alle R e c h t e , e i n s c h l i e ß l i c h des Ü b e r s e t z u n g s r e c h t e s , v o r b e h a l t e n D R U C K VON R. O L D E N B O U R G , M Ü N C H E N UND B E R L I N

Die folgende Untersuchung wurde im Juli 1931 der Philosophischen Fakultät an der Leipziger Universität als Dissertation eingereicht und nur mit einigen geringfügigen Änderungen in Druck gegeben. Herrn Geheimrat Meinecke danke ich herzlich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der Beihefte der Historischen Zeitschrift. Ich hoffe, daß gerade dieser Weg der Publikation der in den letzten Jahren zunehmenden Beschäftigung mit Lorenz von Stein einen neuen Anstoß gibt. Uber die Problemstellung der vorliegenden Untersuchung unterrichtet die folgende Einleitung. L e i p z i g , im Juni 1932. HEINZ NITZSCHKE.

INHALT Seite

E i n l e i t u n g : Problemstellung unter besonderer Berücksichtigung der wichtigsten Literatur über Lorenz von Stein I. T e i l . 1. K a p i t e l : G e s c h i c h t s l o g i k . 1. Wissenschaftslehre 2. Theorie der Geschichtswissenschaft 3. Geschichtsmethodologie 2. K a p i t e l : M a t e r i a l e G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e . 1. Philosophische Anthropologie 2. Philosophie der Arbeit 3. Der Sinn der Geschichte 4. Die historischen Triebkräfte 5. Die Gesetze der Geschichte 6. Geschichte und Gesellschaft 7. Geschichte und Staat 8. Staat und Gesellschaft 9. Das Ziel der Geschichte und das Problem seiner Realisierung 10. Die Trichotomie der Geschichte 11. Darstellung der Universalgeschichte II. T e i l . 3. K a p i t e l : L o r e n z v o n S t e i n u n d d i e G e i s t e s g e s c h i c h t e d e s 19. J a h r h u n d e r t s . 1. Lorenz von Stein und seine Zeit 2. Versuch einer geistesgeschichtlichen Biographie a) Zwischen Hegel und der Historischen Schule (1835 — 1840) b) Stein und die französische Gesellschaftswissenschaft (1841 bis 1851) c) Stein als Vermittler zwischen dem deutschen Idealismus und dem Positivismus der zweiten Jahrhunderthälfte (1852—1868) 3. Zusammenfassung Literatur

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EINLEITUNG:

PROBLEMSTELLUNG UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DER WICHTIGSTEN LITERATUR ÜBER LORENZ VON S T E I N .

Es ist für die Auffassung der Soziologie in den wissenschaftstheoretischen Untersuchungen der modernen Soziologie (Freyer, Landshut) 1 ) charakteristisch, daß man alle bloße Formalsoziologie ablehnt, eine „historisch gesättigte" Soziologie fordert und sich dabei auf die Anfänge der soziologischen Forschimg, auf St. Simon, Comte, Karl Marx, Lorenz von Stein beruft, deren Soziologie einen sehr umfassenden geschichtsphilosophischen Aspekt ein^ schloß. Verschieden allerdings ist ein Teilresultat dieser modernen soziologischen Wissenschaftstheorien. Während Freyer eine scharfe Trennung zwischen Soziologie und Geschichtswissenschaft vornimmt, nicht im Gegenstandsbereich ihrer Forschung, wohl aber in ihrer Methode, behauptet Landshut, die Soziologie sei Geschichtswissenschaft „unter einem spezifischen Gesichtspunkt", er löst also das Problem des Verhältnisses zwischen Soziologie und Geschichte sehr rasch, ohne der spezifischen logischen Struktur beider Wissenschaften gerecht zu werden.2) Eine exakte Abgrenzung beider Wissenschaften und ihrer verschiedenen Forschungsmethoden und die Klärung ihrer logi*) Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft; Geschichte und Soziologie. Landshut, Kritik der Soziologie. *) Das Sachgebiet der soziologischen Forschung ist für Landshut geschichtlich. ,,Eine spezielle Abgrenzung aber der .eigentlichen' Geschichte gegenober erübrigt sich. Es ist u. E. überhaupt sinnlos, von einer Wissenschaft zu sprechen, die die Geschichte, das heißt die Vergangenheit als solche zum Thema haben könnte, es sei denn eine ontologische Untersuchung über den Sinn der Geschichtlichkeit. Eine spezielle Wissenschaft aber hat gar keinen anderen Zugang zur Vergangenheit als den am Leitfaden einer konkreten Sachproblematik, unter einem spezifischen Gesichtspunkt." (Landshut, Kritik d. Soziologie, S. 30.) ,,Deshalb bleibt jede .Geschichte' als besondere Wissenschaft für sich ein Phantom, und eine besondere Abgrenzung soziologischer von historischer Problematik erübrigt sich" (S. 34). — Vgl. auch Paul Barth, Philosophie der Geschichte als Soziologie.

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sehen Verwandtschaft müssen die Aufgaben der gegenwärtigen und zukünftigen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Forschungen sein. Freyers System der Soziologie gibt uns bereits von soziologischer Seite einen wesentlichen Ansatz zu einer Konstituierung der Soziologie als einer Wissenschaft, die um ihre „logische Nähe" zur Historie, aber auch um ihre Eigenart und ihr Eigenrecht weiß. Dazu ist aber vor allen Dingen auch eine neue Klärung der Wissenschaftstheorie der Geschichte notwendig, trotz der Ansätze bei Rickert, Simmel, Dilthey, Troeltsch, Spranger, Litt und in der jüngsten Vergangenheit bei Masur. Indem die vorliegende Arbeit versucht, die Geschichtsphilosophie eines Soziologen, der als der Vertreter einer g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h e n Soziologie unser Interesse herausfordert, darzustellen, will sie zugleich ein indirekter Beitrag zu dem Problemkreis: Soziologie und Geschichte sein. Für Stein sind Soziologie und Geschichtswissenschaft identisch; er kennt noch nicht die spezifische Methode und Struktur der Soziologie im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft, ja er lehnt jede Geschichtswissenschaft im bisherigen, spezifisch geschichtlichen Sinne (man könnte sie in der Terminologie der Windelbandschule die idiographische Reihe nennen) ab, läßt sie höchstens als Ergänzung, als Tatsachenreihe gelten. Seine Gesellschaftslehre ist für ihn die Geschichtswissenschaft. Stein weiß noch nichts von dem scharf bestimmbaren Winkel, „um den sich der Erkenntniswille dreht, wenn er die gesellschaftliche Wirklichkeit erst als Geschehen und Entscheidung, dann als Strukturgesetz denkt". 1 ) Seine Gesellschaftswissenschaft ist eine Geschichtsphilosophie oder besser: sie enthält immanent eine Geschichtsphilosophie. Er bleibt nicht bei der Aufstellung soziologischer Strukturbegriffe und ihrer Analyse stehen, sondern der Sinn und das Ziel des geschichtlichen Werdens, die Triebkräfte des historischen Geschehens, die Gesetze der Geschichte, der Verlauf der Universalgeschichte sind gleichzeitig Probleme seiner Gesellschaftslehre. Zwar ist von den bisherigen Bearbeitern der Steinschen Gesellschaftswissenschaft (Ernst G r ü n f e l d , P a u l Vogel) 2 ) die geschichtsphilosophische Seite seines Denkens gesehen, bis jetzt aber sehr unzureichend dargestellt worden. Die Geschichtsphilosophie verschwindet hinter dem System der Gesellschaft. >) Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, S. 197. *) Ernst Grünfeld, Lorenz v. Stein und die Gesellschaftslehre; Paul Vogel, Lorenz v. Steins Gesellschaftsbegriff.

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Zwar wild auch unsere Arbeit, obwohl sie sich die Darstellung der Geschichtsphilosophie als Aufgabe gesetzt hat, durch das für Stein so charakteristische Ineinander von Gesellschaftswissenschaft und Geschichtsphilosophie gezwungen werden, weitgehend auf sozial- und staatsphilosophische Problemstellungen einzugehen. Aber auch hier wird immer die geschichtsphilosophische Seite im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Stein ist also alles andere als der Vertreter einer Formalsoziologie. Soziologie ist für ihn eine Universalwissenschaft von der menschlichen Gesellschaft und ihrer Geschichte. J a , er ist zu sehr Philosoph, zu sehr universal orientiert, um nicht zu einer Geschichtsmetaphysik vorzudringen. Er philosophiert über Gott, Welt, Natur, Mensch und Leben. Seine Gesellschaftslehre dringt bis zur Totalität des Lebens, bis zur Schau des Kosmischen vor; sie wird ganz im Stile Hegels zur Achse einer Weltanschauungslehre, wie es vordem Hegels Philosophie des absoluten Geistes war. Er sieht die Welt als Universalphilosoph, nur mit anderen Augen und von einer anderen Warte als Hegel. Damit ist eine Ebene der Betrachtung erreicht, die die metaphysisch-philosophischen Voraussetzungen Steins deutlich werden lassen und uns zu seiner Lebensauffassung und Weltanschauung führen wird. Erst von hier wird eine Darstellung der verschiedenen Schichten seines Wesens, seines geistesgeschichtlichen Standortes und seiner inneren Entwicklung möglich sein, die wir uns als die zweite Aufgabe dieser Arbeit gestellt haben; denn die Bedeutung Steins als Begründer der deutschen Soziologie und Vertreter einer echten soziologischen Fragestellung verpflichtet die geistesgeschichtliche Forschung auch zur Lösung dieser Aufgabe. Damit soll die Arbeit gleichzeitig ein Beitrag zu einer bis jetzt noch nicht geschriebenen Biographie Lorenz von Steins sein, bei der allerdings nur die Zeit von 1835 bis 1868 (Herausgabe des letzten Bandes seiner Verwaltungslehre) berücksichtigt werden soll. Schon jetzt sei als vorläufige Behauptung hingestellt, daß wir drei Epochen seiner inneren Entwicklung unterscheiden. Die ersten beiden sind durch das Jahr 1841 geschieden: Stein, der bis dahin unter dem Einfluß Hegels, der Historischen Schule, des Junghegelianismus und des vorhegelischen deutschen Idealismus gestanden hatte, nähert sich dem positivistischen Westen. Der zweite Wendepunkt ist das Jahr 1851: er gerät unter romantischkonservativen Einfluß, der nicht ohne Wirkung auf seine Gesellschaftsauffassung geblieben ist. Fast alle, die sich über Stein geäußert haben, zeigen ihn uns als den Hegelianer, der durch die Schule der französischen Sozia-

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listen zum Realisten erzogen wird, so I n a m a - S t e r n e g g , K o i gen, J e l l i n e k 1 ) . Ganz ähnlich deutet ihn Vogel: er stellt ihn zwischen Hegel und Marx, wobei er den Hegeischen Einfluß sehr hoch einschätzt, allerdings auch auf Fichte und dessen Wirkung auf Stein hinweist. Noch einseitiger ordnet ihn Panajotis K a n e l l o poulos 8 ) in die Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts ein: er nennt sein Denken eine Synthese zwischen Hegel und der Romantik, wobei er Steins Beziehungen zum Westen fast vollständig unterschlägt und nur „bei speziellen Problemen" eine geringe Einwirkimg Frankreichs gelten läßt. Einer wahren geistesgeschichtlichen Würdigung Steins kommt Grünfeld am nächsten, der den Einfluß des französischen Sozialismus auf den Hegelianer Stein stark betont, vor allem aber als erster auf die Annäherung an Fichte hinweist. Von einer inneren Entwicklung Steins ist fast nirgends die Rede, weder bei Vogel noch bei Kanellopoulos; bei Grünfeld sind Andeutungen vorhanden. Um so bemerkenswerter ist es, daß Zeitgenossen eine in den fünfziger Jahren vollzogene geistige Wendung Steins feststellen: sowohl T r e i t s c h k e als Gustav Marchet sprechen davon.3) Diese einleitenden Bemerkungen fordern von der Arbeit zweierlei: erstens eine systematische Darstellung der Geschichtsphilosophie Steins und zweitens eine Darstellung seiner geistesgeschichtlichen Stellung und geistigen Entwicklung. Bereits die Darstellung der Geschichtsphilosophie in ihren einzelnen Teilproblemen verlangt eine Berücksichtigung der einzelnen Epochen im Denken Steins, so daß der zweite Teil weitgehend eine Zusammenfassung des im systematischen Teil Gesagten unter einem biographischen Aspekt sein wird. Die Unterteilung des systematischen Teiles in formale Geschichtslogik und materielle Geschichtsphilosophie ist — der heutigen Geschichtsphilosophie entnommen4) — mehr eine Konzession an den Wunsch einer systematischen Vollständigkeit der Untersuchimg als an eine tatsächliche Problemstellung Steins. Die methodologischen und wissenschaftstheoretischen Unter*) Inama-Sternegg, Lorenz v. Stein (in: Staatsw. Abhandl.); Koigen, Zur Vorgeschichte des modernen philosophischen Sozialismus in Deutschland; Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., S. 88 Anm. 2 ) Kanellopoulos, Die Grundrichtungen der Gesellschaftslehre Lorenz v. Steins. 3 ) Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft, S. 75 f.; Gustav Marchet, Über die Bedeutung Lorenz v. Steins in der Wissenschaft, S. 229. 4 ) Vgl. Troeltsch, Historismus.

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suchungen spielen bei ihm keine allzugroße Rolle. So wird auch das Hauptgewicht unserer Arbeit auf der Darstellung der materialen Geschichtsphilosophie hegen müssen. Um die Analyse der Steinschen Denkhaltung, die Klärung seiner weltanschaulichen Voraussetzungen und die Würdigung seiner geistesgeschichtlichen Stellung und Entwicklung nicht allein auf einzelne Standardwerke bauen zu müssen, wird alles sonstige erreichbare, zum Teil noch unbearbeitete Material herangezogen: seine Aufsätze und Artikel, seine Rezensionen, besonders auch seine Briefe an Echtermeyer und Rüge aus den Jahren 1839 bis 1842 1 ), für deren Überlassung ich der Preußischen Staatsbibliothek zu Dank verpflichtet bin. Vor allem aber gilt mein Dank meinen verehrten Lehrern, Herrn Prof. Dr. Freyer und Herrn Prof. Dr. Wach, deren Vorlesungen und Seminarübungen mir wertvolle Anregungen für diese Arbeit gaben, und die mich auch bei der Abfassung jederzeit durch Ratschläge unterstützten. l ) Außer diesen Briefen an Echtermeyer und Rüge (Pr. Staatsbibl. Berlin) fand ich trotz eifrigen Suchens nur noch einige aus späteren Jahren in der Wiener Stadtbibliothek und der Wiener Nationalbibliothek, die aber for unsere Arbeit belanglos sind: 1. Brief vom 4. März 1856 an Konstantin Hoefler; 2. Brief vom 1. Juli 1882 an Rudolf v. Eitelberger (beide Wiener Stadtbibl.); 3. Zwei Briefe an Miklosich vom 19. Mai 1863 und 3. August 1863 (beide Wiener Nationalbibl.). Nach Abschluß der Arbeit machte mich Dr. Felix Gilbert, Berlin auf 2 Briefe Steins an D r o y s e n aufmerksam. Beide Briefe sind aus dem Jahr 1848 und in Paris geschrieben. Sie beleuchten die Situation Frankreichs nach dem Juniaufstand, suchen eine Übersicht Aber die französischen Parteiverhältnisse zu geben und untersuchen, was Deutschland von der französischen Außenpolitik zu erwarten hat: 1. Brief vom 16. Juli 1848; 2. Brief vom 8. August 1848 (beide liegen im Preußischen Geheimen StaatsArchiv, Berlin-Dahlem).

I. TEIL. i. K A P I T E L .

GESCHICHTSLOGIK.

i. WISSENSCHAFTSLEHRE. Lorenz von Stein fühlt sich, um die Problematik seiner Zeit wissend, als Pionier einer neuen Wissenschaft und verlegt sehr bald den Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit von den philosophischen und rechtshistorischen Studien auf gesellschaftswissenschaftliche Untersuchungen und auf die Konstituierung einer Gesellschaftswissenschaft, die zwar ihre Herkunft aus der deutschen Rechtsphilosophie und den französisch-positivistischen Gesellschaftslehren nicht verleugnet, die aber auch von der Eigenart ihrer neuen Aufgabe, ihrer neuen Blickrichtung und ihres neuen Inhaltes überzeugt ist. Sie wird das Zentrum seines Denkens und bleibt es bis zum Ende seiner Forschungsarbeit, wenn auch der Inhalt des Gesellschaftsbegriffes Wandlungen unterworfen ist. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhange, daß Stein die späte Entstehung der Gesellschaftswissenschaft nicht nur als eine Gegebenheit hinstellt, sondern mit der historisch-gesellschaftlichen Situation seiner Zeit in Verbindung bringt, sie aus einer bestimmten historischen Stunde herauswachsen läßt. 1 ) Diese Historisierung der Wissenschaft bedeutet aber für ihn keine Relativierung. Die neugefundene Gesellschaftswissenschaft ist nämlich nicht — in der Terminologie des modernen Perspektivismus gesprochen — ein neugefundener Aspekt unter anderen Aspekten, ein neues subjektives Geschichtserlebnis, sondern — gut hegelisch — eine neue u n d endgültige Stufe der Wissenschaft vom menschlichen Leben, ein „beispielloser Fortschritt", durch den „die mensch') „ E s ist nämlich der Gesellschaftslehre ergangen wie auch wohl anderen Teilen der menschlichen Erkenntnis. Man hat das Dasein einer selbständigen Gesellschaft zunächst a u s d e n S t ö r u n g e n erkannt, welche in derselben vorkommen. . . " (Stein, System II, S. 23). — „Der Gang der Dinge hat es nämlich mit sich gebracht, daß die selbständige Existenz einer menschlichen Gesellschaft zwischen Güterleben und Staat erst an den Störungen erkannt worden ist, welchen die Gesellschaft selbst unterworfen ward" (Stein, System II, S. 268).

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liehe Erkenntnis . . . bei einer von jenen Entdeckungen angelangt ist, die uns gleichsam h i n t e r der b i s h e r b e k a n n t e n W e l t und ihrer Ordnung einen anderen noch großartigeren Organismus von Kräften und Elementen erkennen lassen." 1 ) Ihr ist es als Gesetzeswissenschaft möglich, das Leben der Menschen in einem Griff zusammenzufassen (wie sich Stein mit Vorliebe auszudrücken pflegt) und mit den gefundenen Lebensgesetzen kritisierend und gestaltend an das gegenwärtige Leben heranzugehen. Dieses Suchen nach exakten Gesetzen und festen Prinzipien, nach Stein Kriterium jeder echten und wahren Wissenschaft, wird auch zum Kriterium dieser neuen Gesellschaftswissenschaft. Damit trennt er sie von aller Art von Utopien, die „fast alle mehr das Resultat einer menschenfreundlichen, gutmeinenden Gesinnung"2) sind, trennt sich aber — und das ist für eine geistesgeschichtliche Einordnung Steins nicht unwichtig — nicht gänzlich von den Gesellschaftslehren des französischen Sozialismus und Kommunismus. Er sieht in ihnen die Anfänge der Gesellschaftswissenschaft überhaupt. Sie sind nicht bei bloßen Wünschen und Hoffnungen stehen geblieben, sondern haben begonnen, auf den Menschen und seine Bestimmung zu reflektieren, und damit auch auf eine menschliche Ordnung, in der die Idee der vollendeten Persönlichkeit realisiert werden soll. Dabei kommt allerdings der Kommunismus nach Steins Meinung der Utopie am nächsten. Er bleibt bei einer wesentlich negativen Kritik stehen, er will das Bestehende stürzen, er klagt an und hofft auf die Verwirklichung seiner Idee durch die Gewalt der Masse und das Blutbad der Revolution. Anders der Sozialismus.3) Er „will nicht bloß eine Organisation der Industrie, er denkt nicht allein darauf, das Los des Proletariers zu verbessern, sondern er ist selbst eine W i s s e n s c h a f t " . 4 ) Er ist im Gegensatz zum Kommunismus positiv, er will nicht stürzen sondern gestalten, und das will er nicht durch die Gewalt revolutionärer Massen, sondern durch die Gewalt seiner wissenschaftlichen Wahrheiten. Ihm verdanken wir die ersten gesellschaftswissenschaftlichen Erkenntnisse über das Phänomen der Arbeit, der freien Persönlichkeit und der gesellschaftlichen Machtkämpfe. Darum ist für Stein der französische Sozialismus Vorläufer, Ansatz, ja sogar „ein Teil der Wissenschaft der Gesellschaft, die bisher 1)

Stein, Gesch. d. soz. Bew., i . Bd., S. n . (Sperrdruck von mir.) Stein, Soz. u. Kom., i. Aufl., S. 140. 3) Zu dieser Gegenüberstellung von Sozialismus und Kommunismus vgl. Stein, Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 129 ff. 4) Stein, Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 129. 2)

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selber noch keinen Platz gefunden hat". 1 ) Stein will diesen Platz finden, er will den Teil zu einem Ganzen erweitern, aus einem Ansatz ein fertiges System machen, aus dem französischen Sozialismus einen deutschen Sozialismus2), aus der unexakten französischen die bis zum Letzten vordringende, utopiefreie deutsche Gesellschaftswissenschaft. Er fühlt sich also einerseits den Ansätzen der französischen Forschung verpflichtet, anderseits scheut er sich nicht, ihre Mängel mit aller Schärfe herauszustellen. Die französischen Gesellschaftswissenschaftler bleiben ihm — trotz aller in eine andere Richtimg weisenden Ansätze — zu sehr bei abstrakten Ideen hängen, ohne sich an das wirkliche Leben in seiner Konkretheit zu wenden; ihre eudämonistischen Tendenzen bringen sie allzusehr in die Nähe der Utopisten, ja gerade dieser Zug macht den französischen Sozialismus weitgehend zu einer — in der Sprache moderner Soziologie — Ideologie der proletarischen Bewegung. Steins Absicht ist, aus der Ideologie einer Klasse, deren Blickrichtung notwendigerweise einseitig sei, die wahre Gesellschaftswissenschaft zu machen, d. h. die Wissenschaft von der Reorganisation der Gesellschaft als Ganzem.3) Es ist aber nicht seine Absicht, diese Klassenideologie zu vernichten, sondern sie weiter zu entwickeln, sie aufzuheben in einem neuen System der Gesellschaftswissenschaft, das deutsches und französisches Denken zu verbinden weiß. 4 ) ') Stein, Gesch. d. soz. Bew., 2. Bd., S. 125. — Wichtig ist, daß Stein in der Frage, wie weit der französische Sozialismus Gesellschaftswissenschaft sei, sich vor allem für Fourier einsetzt. Fourier hat es, so meint Stein, als erster zu einem systematischen Ganzen der Wissenschaft, aufgebaut auf das Prinzip der freien Persönlichkeit, gebracht. Er ist in dieser seiner systematischen Tendenz für die Wissenschaft wichtiger als St. Simon (vgl. Stein, Gesch. d. soz. Bew., 2. Bd., S. 235). 2) „ E s ist keine Frage, daß sich in unserer Zeit eine ganz neue Gestalt, ein eigentümlich deutscher Sozialismus, wenn man ihn so nennen will, Bahn bricht" (Stein, Soz. i. Deutschi. 1852, S. 520). 3) „ . . . aber während die Franzosen bei dieser Klasse und ihrer Betrachtung stehen bleiben und von ihr und ihren Bedürfnissen aus, Staat und Gesellschaft begreifen und ordnen wollen, haben die Deutschen begonnen, die g a n z e Gesellschaft zur Grundlage ihrer Untersuchung zu machen" (Stein, Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 586). 4) Dieser Kampf gegen den französischen Sozialismus und Kommunismus, der im Hegeischen Sinne kein Wegstreichen, sondern Aufheben sein soll, gehört in das Gedankengut des Junghegelianismus: „Man erschrickt davor, d a ß der Pöbel philosophiert, und noch mehr davor, w i e er philosophiert. Hebt ihn also auf, oder besser überlegt euch, wie er aufgehoben werden kann" (Rüge, Eine Selbstkritik des Liberalismus, S. 11).

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Dieser Gedanke einer zu schaffenden deutschen Gesellschaftswissenschaft taucht bereits sehr klar gesehen in der ersten Auflage seines „Sozialismus und Kommunismus d. heut. Frankr." (1842) auf, führt dann dazu, daß er in der 3. Auflage (Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich, 1850) den ersten Band der Untersuchung des Gesellschaftsbegriffes widmet, bis das „System der Staatswissenschaft" (1852) die Gesellschaftswissenschaft philosophisch-systematisch begründet und in das System der Wissenschaften einordnet. Das Steinsche System der Wissenschaften ist seiner ganzen Intention nach hegelisch. Er versucht ganz im Sinne des universalen Systematikers das gesamte Geschehen: Natur, Mensch, Geist zu Bausteinen seines Systems zu machen. Aber der Bau, den er mit ihnen aufrichtet, sieht anders als der Hegeische aus. Aus dem System des absoluten Geistes wird ein hierarchisches System von Wissenschaften, die in der Wissenschaft vom Menschen und seiner Geschichte den Abschluß und die Krönung finden. Die Grundwissenschaften sind die Wissenschaften vom natürlichen Dasein und die Wissenschaften vom rein persönlich-abstrakten Dasein, die ihre Synthese in der Wissenschaft vom Leben der Menschen finden. Das natürliche Dasein ist die Natur mit ihren eigenen Gesetzen und ihrem eigenen Werden. Sie ist endlich und bewegt sich „unverändert in gleichem Kreise" ihrer Gesetze. „Die Gesamtheit der Wissenschaften nun, welche dieses endliche Wesen des Natürlichen in seinen Elementen, seinen Kräften, seiner Gestalt, seinem Organismus und seiner Bewegung darstellen, heißt die Naturwissenschaft." 1 ) Dem natürlichen Dasein, der Natur gegenüber steht mit eigenen Gesetzen und eigenem Sinn das Dasein des Persönlichen. Es ist das Reich des Geistes mit seiner unendlichen Bestimmung.2) „Die Gesamtheit der Wissenschaften, welche dieses unendliche Wesen des Persönlichen in seinen abstrakten Kräften, Organen und Erscheinungen zu erkennen suchen, bildet die Wissenschaft des Persönlichen, die in der Religion das an sich unendliche Gottesbewußtsein, in der Psychologie das Dasein des Persönlichen in seinen bestimmten Zuständen und in der Gedankenlehre oder Logik die Gesetze der Bewegung des abstrakt-persön*) Stein, System I, S. 5. ) Es ist bezeichnend, daß Stein selbst, abrückend von der spiritualistischen Metaphysik Hegels, den Terminus Geist vermeidet und dafür von dem „Persönlichen" spricht, das der Natur gegenüber steht. (Wenn ich im folgenden von Geisteswissenschaften rede, so sind die Wissenschaften des Persönlichen gemeint.) 2

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liehen Daseins oder Denkens enthält." 1 ) Aus diesen beiden Seinskomplexen (natürliches und geistig-persönliches Sein) resultiert das Leben des Menschen. Wichtig ist, daß man erst jetzt nach Steins Meinung von L e b e n sprechen kann. Menschliches Leben ist nicht mehr Sein, sondern Bewegung, Tat, Tätigsein. Dieses tätige Werden menschlichen Lebens entsteht durch die gegenseitige Bestimmung zweier „Seienden, die ihrem Wesen nach absolut verschieden sind".2) Es entsteht dadurch, daß das persönliche Sein mit seiner unendlichen Bestimmung auf das natürliche Sein einwirkt, es seinem Zwecke unterwirft und umgestaltet. Von ihm handelt das dritte Wissenschaftsgebiet, die Wissenschaft vom Leben der Menschheit in seiner Betätigung. Darunter versteht Stein nicht nur die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem „Einzelnen mit all seinen tätigen Bedürfnissen, Genüssen, Anstrengungen und Erfolgen, nicht bloß die Umgestaltung der Natur, wie sie aus dieser Arbeit hervorgeht, sondern auch die Beziehungen der Einzelnen zueinander und die Gemeinschaft derselben in einheitlichem Wollen und Tun". 3 ) Diese Wissenschaft vom menschlichen Leben ist für Stein wahre Synthese, Krönung des Wissenschaftssystems, Natur- und Geisteswissenschaften sind notwendige Voraussetzungen.4) Eine solche Wertimg der einzelnen Wissenschaftsgebiete zugunsten der Wissenschaft vom Menschen zeigt deutlich die Abwendung von Hegels Geistphilosophie und die Hinwendung zur Anthropologie junghegelianischer Observanz, bedeutet aber noch nicht eine Ordnung der Wissenschaften im Sinne des Comteschen Positivismus. Im Gegensatz zu Comte, dessen Wissenschaftssystem sich als eine fortlaufende Reihe von der einfachen zur komplizierten Wissenschaft, von der Mathematik über die Physik, Chemie und Biologie zur Geschichte und Soziologie darstellt, Stein, a. a. O., S. 6. — In dieser Auffassung der Wissenschaft vom Geiste zeigt sich deutlich die junghegelianisch-anthropologische Wendung Steins. Es ist nicht vom Geiste schlechthin oder gar auch vom absoluten Geiste Hegels die Rede, sondern von den psychischen Phänomenen •des menschlichen Geistes, dem G o t t e s b e w u ß t s e i n und den Gesetzen der menschlichen Logik. 2) Stein, a. a. O., S. 3. s ) Stein, a . a . O . , S. 1. 4) Als Zwischenwissenschaften, die die Verbindung zwischen den Natur- bzw. Geisteswissenschaften und der Wissenschaft vom menschlichen Leben herstellen, gelten die „Lehren von den Tatsachen", die Statistik im weiteren Sinne und die Lehre von den Personen, die Populationistik, im weiteren Sinne (vgl. Stein, System I, S. 17 ff.).

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deessen Wissenschaft vom Menschen und seinem Zusammenleben nkchts anderes sein will als eine Naturwissenschaft mit einem sehr diffferenzierten, schwer faßbaren Gegenstand, sind für Stein Natur umd Menschenleben verschiedene Wirklichkeiten. In beiden herrschen zwar Gesetze, deren Auffindung die Aufgabe der Wissenschaft ist, nur handelt es sich in beiden Seinsbereichen um versclhiedene Gesetzmäßigkeiten. Finden wir im Naturleben eine gejgensatzlose, in sich geschlossene Entwicklung, so offenbart sich iim Menschenleben eine spannungsreiche, unendliche Kampfemtwicklung, eine Unterscheidung, die sehr an die Hegeische zwischen Natur und Geist erinnert. Diese von jeder bloßen Naturwissenschaft klar geschiedene W/issenschaft vom menschlichen Leben soll die neu aufzubauende Geesellschaftswissenschaft sein. Erst sie wird als neue Universalwiissenschaft allen anderen Forschungsrichtungen ihren Sinn und „ilhren höchsten gemeinschaftlichen Gesichtspunkt" geben, so der Lehre vom Güterwesen, der Rechtswissenschaft, der Staatswiissenschaft und der Geschichte.1) Dabei ist aber die nicht unwiichtige Frage der Bezeichnimg dieses Wissenschaftskomplexes noch etwas näher ins Auge zu fassen. Stein bezeichnet ihn oft — so) vor allem in seinem „System der Staatswissenschaft" (I. Bd. 18552) —als Staatswissenschaft (in einem sehr umfassenden Sinne), deir Güter- und Gesellschaftslehre eingegliedert werden. Dieses Schwanken im Terminus ist letztlich eine Frage der Akzentverla^gerung. Verschiebt sich das Interesse Steins auf den Staat und seiine Aufgabe, so empfängt die Wissenschaft vom menschlichen Leeben „von ihrem höchsten Gebiete den Namen der Staatswissenscihaft" 2 ), und rückt die Gesellschaft in ihrem Werden, ihren Machtkämpfen und ihrer Aufgabe in den Mittelpunkt des Blickfelldes, so wird die Gesellschaftswissenschaft die Achse der Wissenschaft vom Leben.3) *) Vgl. Stein, Soz. u. K o m . , 1. Aufl., S. V und Gesch. d. soz. Bew., t. Bd., S. 29. — Außerdem Stein, System II, S. 269: „ E b e n dadurch aber hait sie (die Gesellschaftswissenschaft) sich nicht bloß mit ihrem Inhalt n e b e n die bisherige Wissenschaft hinzustellen.. . Unter den übrigen Gebiteten der Wissenschaft sind es besonders drei, von denen die Lehre von de;r Gesellschaft große, bisher mit jenen verschmolzene Teile als die ihrigen in Anspruch nehmen wird. Das sind die alte Volkswirtschaftslehre, die bisherige Rechtsgeschichte und die Geschichte im weiteren Sinne." 2

) Stein, System I, S. 10. ) Dieses Problem der Akzentverlagerung v o m Gesellschaftsbegriff auif den Staatsbegriff und umgekehrt wird uns später noch eingehend besclhäftigen. — Hier sei nur noch darauf hingewiesen, daß das „ S y s t e m der 3

Beiheft d. H. Z. 26.

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Mehr noch als diese terminologische Frage interessiert uns aber die Einordnung und die Struktur der Geschichtswissenschaft in Steins Wissenschaftssystem. 1 ) Die Geschichte gehört, wie eben erwähnt wurde, zu jenen Wissenschaften, die von der Gesellschaftswissenschaft einen neuen Sinn bekommen sollen. Ja, die Geschichte hört auf, eine selbständige Wissenschaft zu sein; sie wird zu einem Teile der Gesellschaftswissenschaft und rückt — hier zeigt sich Stein als echter Sohn des Historismus, Hegels und der Historischen Schule — an die Spitze des gesellschaftswissenschaftlichen Denkens. Sie wird „zur machtvollsten und tiefsten aller Wissenschaften vom wirklichen Leben". 2 ) Dieser Einbau der Geschichte in die Gesellschaftswissenschaft und deren damit verbundene Historisierung begründet die oft anklingende Tendenz, Geschichtswissenschaft und Gesellschaftswissenschaft identisch werden zu lassen. Die Gesellschaftswissenschaft wird zur eigentlichen Geschichtswissenschaft, die auf die Frage nach den Grundgesetzen geschichtlichen Werdens eine Antwort zu geben vermag. Und erst eine solche Gesetzes- und Prinzipienwissenschaft ist „wahre Geschichtsschreibung". Stein grenzt diese jetzt erst entstehende wahre Geschichtsforschung von aller früheren ab, wenn er an einer sehr charakteristischen Stelle sagt: er behaupte ohne Bedenken, daß die Geschichtsschreibung bisher auf einer niederen Stufe gestanden habe, und daß nur wenige ehrenvolle Ausnahmen einen Schritt tiefer in das Wesen der Ereignisse eingedrungen seien. Die Geschichtsschreibung sei bisher nur eine Beschreibung der Geschichte, nur eine Darstellung der Tatsachen gewesen und habe nicht nach dem Verständnis der bewegenden Elemente gestrebt.3) Den geStaatswissenschaft" Fragment geblieben ist, der Staat, „das höchste Gebiet", überhaupt nicht behandelt worden ist und das Werk im wesentlichen eine, wenn auch nicht ganz zu Ende geführte, Gesellschaftslehre darstellt. Daß Stein stets nur von Geschichtswissenschaft, Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung spricht, nicht aber von Geschichtsphilosophie, ist symptomatisch für seine ametaphysische Denkhaltung. Philosophie ist für Stein eine abstrakte Wissenschaft, die Wissenschaft von einer Sache an sich. So die Staatsphilosophie die Wissenschaft vom Staate an sich, die Hechtsphilosophie die Wissenschaft von der Rechtsordnung, die rein auf die Natur der Persönlichkeit an sich gebaut ist (vgl. Stein, System II, S. 55). So ist es bezeichnend, daß er an einer Stelle von einer sozialistischen G e s c h i c h t s p h i l o s o p h i e spricht, ist doch für ihn auch der Sozialismus bisher allzusehr eine abstrakte Wissenschaft vom menschlichen Leben gewesen. 2 ) Stein, System I, S. 84. 3) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 33.

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schichtlichen Verlauf kann man nicht aus äußeren Ereignissen zusammenstellen. Geschichte „ist ein inneres L e b e n und will als solches erkannt sein". 1 ) Damit trennt sich für ihn die wahre Geschichtsforschung von jeder bloßen Chronologie, die eifrig „Data sammelt" und nicht als Gesetzeswissenschaft die innere Triebkraft des Geschehens erforscht. Selbst Schlözer mit seiner Definition der Geschichte als einer fortlaufenden Statistik zählt er zu jener Zeit, in der sich die wahre Geschichte noch nicht aus der Chronologie emporgearbeitet hatte. 2 ) Auf gleiche Ebene wie die bloß sammelnde Chronologie gehört nach Stein die politische Geschichtsschreibung, die es nicht fertig bringt, „den eigentlichen Hintergrund der wechselnden Tageserscheinungen" zu zeigen3), die bei der Geschichte der Staatsherrscher, der Kriege und Nationen stehen bleibt, ohne die eigentlichen Grundkräfte und historischen Mächte zu sehen, die im wesentlichen gesellschaftlicher Natur sind.4) Auch Louis Blanc ist nach Steins Meinung in seiner „Histoire des dix ans" bei den wechselnden Tageserscheinungen stehengeblieben. „Die Geschichte des Peuple verschwindet unter der Geschichte der Ministerwechsel und der äußeren Politik, und wer ') Stein, Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 73 (Sperrdruck von mir). — Mit dieser Definition der Geschichtswissenschaft kommt Stein der Hegeischen Definition der Geschichtsphilosophie sehr nahe: Philosophische Geschichtsschreibung ist nach Hegel „das Verlangen nach vernünftiger Einsicht, nach Erkenntnis, nicht bloß nach einer Sammlung von Kenntnissen" (Hegel, Geschichtsphilosophie, S. 43). 2 ) Stein, System I, S. 83 — Die ersten, die ,,in die Tiefe des Lebens der Geschichte" hinabsteigen, sind für Stein Herder und Lessing. „ W e r k e , wie Lessings Erziehung der Menschheit, Herders Ideen, haben einen ganz anderen Boden wie alle frühere Geschichtsschreibung" (Stein, Soz. u. Kom. i. Deutschi. 1844, S. 27). 3 ) Stein, Soz. u. Kom., i . A u f l . , S. 99. *) D a ß Steins Geschichtswissenschaft, alle politische Geschichtsschreibung verneinend oder sie höchstens als Ergänzung betrachtend, im Grunde Gesellschaftsgeschichte ist, zeigt sein Aus Wahlprinzip. Krieg interessiert, insofern er Wirtschafts- oder Gesellschaftskrieg ist. Der Krieg Europas gegen Frankreich zur Zeit der französischen Revolution ist der Kampf der feudalen Gesellschaft gegen die neuentstehende bürgerliche Gesellschaftsordnung. Der Kampf zwischen Sparta und Athen ist der gesellschaftliche Kampf zweier Klassen (vgl. Stein, Demokratie und Aristokratie, S. 317). Neben der Entstehung neuer sozialer Bewegungen wie die des englischen Arbeiterstandes erscheinen alle anderen Ereignisse nebensächlich: Englands Siege und Niederlagen, seine Kolonien, seine Flotten usw. (vgl. Stein, Soz. i. England, S. 468).

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aus ihr das Wesen des gesellschaftlichen Widerspruchs im heutigen Frankreich kennen lernen will, wird statt dessen nur die äußeren Symptome erfahren." 1 ) Das gilt für Louis Blanc und die meisten Geschichtsforscher bis auf die Gegenwart. Nur in St. Simon und Fourier sieht er Ansätze, der wahren Geschichtswissenschaft näher zu kommen. Erst die inneren Gesetze des gesellschaftlichen Lebens erschließen uns die Gesetze des weltgeschichtlichen Werdens. So wird also bei Stein die die Geschichtswissenschaft in sich aufnehmende Gesellschaftswissenschaft oder die zur Gesellschaftswissenschaft sich vertiefende Geschichtswissenschaft zum Mittelpunkt der Wissenschaft vom Leben. Die Weltgeschichte ist das Objekt der Forschung. Sie, die in Hegels Geistphilosophie nur sekundär, nur eine abgeleitete Kategorie war, wird ähnlich wie in der Historischen Schule, die eigentliche Welt, der sich das wissenschaftliche Interesse zuwendet. 2. THEORIE D E R

GESCHICHTSWISSENSCHAFT.

Neben der bisherigen Feststellung: die Geschichtswissenschaft ist eine sozialhistorische Wissenschaft, die die Gesetze und den Sinn des weltgeschichtlichen Geschehens untersucht, ist aber noch eine eingehendere wissenschaftstheoretische Analyse dieser Geschichtswissenschaft notwendig. Ein für das Wissenschaftsethos Steins wichtiges Charakteristikum ist, daß die Geschichtswissenschaft um die Spannung zwischen Theorie und Praxis weiß und sie zu überwinden versucht. Mit diesem Motto: Überwindimg der Spannung zwischen Theorie und Praxis, das in seinen rechtsphilosophischen Rezensionen in den Hallischen Jahrbüchern als grundlegendes Problem auftaucht und implicite auch in den späteren staats- und gesellschaftsphilosophischen Untersuchungen lebendig ist, nimmt Stein die Lieblingsidee des aktivistischen Junghegelianismus auf und wird zu seinem Repräsentanten. Eine Folge der Entmetaphysierung der Hegeischen Sittlichkeit durch den Junghegelianismus ist die Auflösung der voreiligen Identität von Sollen und Sein, Theorie und Praxis. Man wirft dem Hegeischen Denken vor, daß es sich in die tote Weisheit abstrakter Theorie zurückgezogen und in seiner Indolenz vergessen habe, die Theorie der konkreten Welt gegenüberzustellen, an ihr zu messen und „die zurückgebliebene Praxis auf die Höhe der Theorie emporzuheben" (Rüge). Eine realistischere und ernüchterte Denkhaltung stellt sich dem Identitätssystem Hegels entgegen, der sich und seine Zeit als Abschluß und Vollendung *) Stein, Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 477 Anm.

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der Weltgeschichte empfindet und von diesem Standort der hereinbrechenden Dämmerung, in der die Eule der Minerva ihren Flug beginnt, den inhaltschweren Satz aufstellen kann, daß alles Vernünftige wirklich sei und alles Wirkliche vernünftig. Im Gegensatz dazu wird im Junghegelianismus aus der Existenz einer Identität von Vernunft und Wirklichkeit eine Norm. Er erhebt die Forderung, daß das Vernünftige wirklich werden s o l l , und das Wirkliche vernünftig. Mit dem Auftauchen dieses Normbegriffes wird die Struktur der Geschichtswissenschaft insofern anders, als sie erstens die Zukunft in den Rahmen ihres Denkbereiches einschließen und zweitens ein ausgesprochen aktivistisches Gepräge erhalten muß. Beides, Einschluß der Zukunft und der Aktivismus, ist dem Hegeischen Denken fremd. Vielmehr zeichnet sich die Hegeische Grundhaltung — dasselbe gibt aber auch für die Historische Schule — durch einen kontemplativen Quietismus aus, der gegen jede Herausgestaltung der Zukunft ist. 1 ) Es fehlt für Hegel in diesem Reifestadium der Gegenwart „überhaupt jede Umgestaltung der Selbsterkenntnis in Selbstgestaltung, weil sie nicht mehr nötig ist". 2 ) Aus dieser selbstzufriedenen „halkyonischen" Ruhe treibt es den Junghegelianismus zu dem Willen, die Welt zu verändern. Er will nicht nur verstehen und begreifen, sondern handeln. Mit dieser engen Verknüpfung von Erkenntnis und Handeln, Geschichte und Ethik rückt die nachhegelische Geschichtsphilosophie in die Nähe des vorhegelischen Dualismus, der die Spannimg zwischen empirischer und intelligibler Welt aufreißt und ihre Überwindung als Ziel der Geschichte hinstellt. Fichte wird mit seiner ethisch orientierten Tatphilosophie zu einem der wesentlichsten Führer der neuen Generation. Auch die Verbindung zum französischen Sozialismus, der die feste Verknüpfimg „des sozialen Wissens mit dem sozialen Wollen" verlangt8), wird dem Junghegelianismus durch seinen Aktivismus erleichtert. *) Diese hier vorgenommene Zusammenfassung Hegels und der Historischen Schule unter dem Begriff des kontemplativen Quietismus ist nur annähernd richtig. Wenn sie auch von einer späteren, aktivistischen Generation aus gesehen diesen gemeinsamen Zug haben, so darf doch nicht übersehen werden, daß die Opposition gegen eine Zukunftsgestaltung bei Hegel ihren Grund in der rationalen Uberzeugung hat, am Ende des historischen Geschehens zu stehen, während es bei der Historischen Schule auf einen irrational bedingten Respekt vor dem Geschehen überhaupt zurückzuführen ist. 2) Ernst Troeltsch, Über den Begriff der historischen Dialektik, S. 414. (In: Hist. Zeitschr. 119. Bd.) 3) Barth, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, 2. Aufl., S. 155.

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Einer, der am schärfsten und deutlichsten gegen Hegels NurTheorie vorgeht, ist Arnold Rüge. Er sei hier erwähnt, da Stein am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn mit ihm zusammen arbeitete1) und er sicher nicht ohne Einfluß auf Stein geblieben ist. Mit scharfen Worten geißelt er die abstrakte Philosophie, die „ein jenseitiges Wesen und Weben des Gedankens" bleibt, die als blasiertes Bewußtsein" theoretischer Geist ist, der „seine Arbeit vollbracht hat und nun nicht weiß, was er mit sich anfangen soll. Er ist der Zustand des Satten und des Müßiggängers, der sich selber nicht loswerden kann . . ," 2 ) Ebenso ist Hegels Philosophie ein „System der Vernunft und der Freiheit mitten in der Unvernunft und Unfreiheit". 3 ) Er verlangt eine wahre Verbindung des Begriffs und der Wirklichkeit, aber diese Verbindung ist keine „Apotheose der Existenz zum Begriff, sondern Inkarnierung des göttlichen Begriffs zur Existenz". 4 ) Weniger aggressiv, dafür von einer mehr wissenschaftstheoretischen Ebene kommend, ist der Angriff eines anderen Junghegelianers, des polnischen Philosophen Cieszkowski. Seine „Prolegomena zur Historiosophie" sind vermutlich nicht ohne Einfluß auf das geschichtsphilosophische Denken der junghegelianischen Epoche gewesen.5) Seine erste und charakteristischste Forderung an die moderne Geschichtsphilosophie ist, „die Erkenntnis des Wesens der Z u k u n f t für die Spekulation zu vindizieren". Er ist der Uberzeugung, „daß ohne die E r k e n n b a r k e i t der Z u k u n f t , ohne die Zukunft als einen integrierenden Bestandteil der Geschichte, welche die Realisation der Bestimmung der Menschheit darstellt, unmöglich zum Erkennen der organischen und ideellen Totalität sowie des apodiktischen Prozesses der WeltVgl. Kapitel 3, Abschnitt II dieser Arbeit. Rüge, Eine Selbstkritik des Liberalismus, S. 10. 3) Rüge, Die Hegeische Philosophie und die Politik unserer Zeit, S. 7594) Rüge, a. a. O., S. 763 £. 6) Vgl. Barth, Die Geschichtsphilosophie Hegels und die Hegelianer, S. 29; besonders aber Speier, Die Geschichtsphilosophie Lassalles, ein Aufsatz, dem ich manche Anregung zur Erkenntnis des Junghegelianismus zu verdanken habe. — Daß Cieszkowskis Kritik und Weiterentwicklung Hegeischen Denkens vom Junghegelianismus weitgehend akzeptiert wurde, zeigt die Besprechung der Prolegomena von Frauenstädt in den Hall. Jahrb.: „Wir müssen dem Verfasser das Geltendmachen der Erkennbarkeit der Zukunft ihrem W e s e n nach . . . als ein Verdienst anrechnen, wodurch er einen wesentlichen Fortschritt über Hegels philosophische Geschichtsbetrachtung hinaus gemacht hat" (Frauenstädt, CieszkowskiRezension, S. 478). 2)

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geschichte zu gelangen ist". ) Dieses Offensein des geschichtlichen Prozesses nach vom, dem Zukünftigen, bedeutet auch für ihn Überwindung der Spannung zwischen Theorie und Praxis und Realisierung des Erkannten. Philosophie des Wissens muß Philosophie der Tat werden. Mit diesem Begriff der Tatphilosophie trifft man den Geist einer neuen Zeit, zu dem sich der gesamte Junghegelianismus bis hin zum wahren Sozialismus bekennt. Auch Stein schlägt in dieselbe Kerbe. Er stellt sich auf die Seite der „Jahrbücher" und tritt für eine Überwindung Hegelschen Denkens ein, indem er behauptet, daß das Recht der Persönlichkeit in der w i r k l i c h e n Welt wenig dem Recht der Persönlichkeit ihrer Idee nach entsprach, und daß die negierende Anschauung der „Jahrbücher" eine geschichtliche notwendige war.2) Wenn auch Stein die vorwiegend negative Kritik dieser Junghegelianer ablehnt und auch inhaltlich anders steht, so hat er doch in seinem Wissenschaftsethos vieles mit ihnen gemeinsam. Bereits in seinen ersten rechtsphilosophischen Rezensionen und Aufsätzen trennt sich sein Aktivismus von der quietistischen Offenbarungsmystik der Historischen Schule. Der bewußte Geist hat „ d a s unendliche R e c h t . . . mit seinem festen und klaren Willen die veralteten Zustände einer geistig vergangenen Zeit aufzuheben, und das, was er w i l l , an die S t e l l e dessen zu setzen, was v o r h a n d e n ist" 3 ), denn die Wissenschaft ist eine Wissenschaft der Tat 4 ); sie reflektiert und gestaltet mit Hilfe ihres Wissens. Sie ist um der Zukunft willen da. „Nicht, was jetzt da ist, was einzelne getan und gedacht, sondern was sein wird, wollen wir wissen; an die Zukunft denken wir, wenn wir von dieser Gegenwart reden, und es ist umsonst, es sich zu verhehlen — wenn davon geredet werden soll, so wird eben um jener Zukunft willen davon geredet."5) Damit wird die um ihre Aufgabe wissende Wissenschaft zu einer Wissenschaft der P r a x i s . Stein betont nicht nur einmal die praktische Bedeutung der abstrakten wissenschaftlichen Erkenntnis. Ebenso wie für die Menschen die Zukunft wichtiger sei als Vergangenheit und Gegenwart, ebenso kröne eine praktische Lehre der sozialen Reform die Bemühungen gesellschaftlich-historischer Cieszkowski, Prolegomena, S. 8 f. (Sperrdruck von mir). ) Vgl. Stein, Soz. u. Kom. in Deutschi. 1844, S. 36 ff. 3 ) Stein, corpus I, S. 187. *) „. . . aber es ist ja eben das Wesen des Fortschritts, überlieferte Übelstände durch die kräftige Tat der Wissenschaft aufzuheben" (Stein, Savigny-Rezension, S. 383). s ) Stein, Soz. u. Kom. in Deutschi. 1844, S. 4. 2

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Forschungsarbeit.1) Wissenschaft hat Dienst am Leben zu sein. Hier klingt ein Ethos wissenschaftlicher Verantwortung hindurch, das ganz an Fichteschen Geist erinnert, auch unserer modernen Anschauung vom Wesen der Wissenschaft entspricht2), in seiner Grundhaltung aber der gegen jede Zweckhaftigkeit der Wissenschaft gerichteten Anschauung sowohl der Historischen Schule als auch Hegels gegenübersteht. . . Zweck der Theorie ist Praxis der Theorie", so fordert Rüge im Geiste einer neuen Zeit, die Denken in Wollen, theoretische Einsicht in tatkräftige Handlung, blasse Gedanken in leidenschaftlichen Willen umsetzen will3), die aber auch einerseits über Fichte an die Tradition deutschen Denkens anknüpft und anderseits mit dem aufklärerisch-rationalistischen Denken des Westens manches gemeinsam hat. Denn ist die geschichtsphilosophische These Fichtes, daß in der letzten Epoche des weltgeschichtlichen Verlaufs die Vernunftwissenschaft in Vernunftkunst übergehe, etwas anderes als die Forderung einer Umsetzung des Wissens in ein Handeln? Und ist die Antwort, die die französischen Gesellschaftstheoretiker auf die Frage nach dem Wert der historischen Erkenntnis geben, nämlich die Wissenschaft solle zu einer Technik der Gesellschaft werden, etwas anderes als die Forderung nach einer Wissenschaft der Praxis? Dabei ist nicht unwichtig zu betonen, daß es sich nicht um eine Praxis schlechthin handelt, sondern um eine bewußte Praxis. Es sind nicht nur Taten, die gefordert werden, sondern Taten aus Erkenntnis. Die Tat hat — wie Cieszkowski definiert — eine nachtheoretische Praxis zu sein. Auch Stein ist der Überzeugung, daß die Herrschaft über das gesellschaftlich-historische Sein und seine Gestaltung nur mit der Erkenntnis seiner Gesetze möglich *) Stein, Gesch. d. soz. Bew., i. Bd., S. 138. Es sei hier an ein Wort Troeltschs erinnert: „ D a s ist die einzig mögliche philosophische Bewältigung des Historismus und steht im Hinklang mit der sich überall durchsetzenden Einsicht von der in letzter Linie praktischen Bedingtheit und Abzweckung aller Erkenntnis, die allem Endlichen gegenüber niemals Erkenntnis bloß an sich, sondern zugleich Auslese und Gestaltung des Endlichen in dem Dienste der Entfaltung und Steigerung des Geistes ist" (Historismus, S. 113). 2)

3) Rüge, Eine Selbstkritik des Liberalismus, S. 10. Vgl. auch Cieszkowski, der die „Philosophie der Praxis" fordert: ,,— deren konkreteste Einwirkung auf das Leben und die sozialen Verhältnisse, die Entwicklung der Wahrheit in der konkreten Tätigkeit — dies ist das künftige Los der Philosophie überhaupt" (Prolegomena, S. 129). — „Ihr nächstes Schicksal ist, sich zu popularisieren, ihren esoterischen Charakter in einen exoterischen zu verwandeln, m. a. W. . . . sie muß sich in die Tiefe verflachen" (Prolegomena, S. 131).

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ist. Diese Wissenschaftsgläubigkeit erhält dadurch ihren besonderen Akzent, daß ihre Vertreter letzlich noch in der Luft Hegelschen Geistes atmen. Man ist der Uberzeugung, daß die Theorie ihre Vollendung erreicht hat. Man hat das prometheische Gefühl, daß sich zwar der weltgeschichtliche Kosmos noch nicht schließt, daß aber — ein Rest Hegelscher Bewußtseinsphilosophie —• die Theorie ihr Ende, das Denken seine entscheidendste Stufe erreicht hat, auf die die Verwirklichung des Gedachten zu folgen hat. Wenn auch Stein in diesem Selbstbewußtsein, am Ende der historischen Erkenntnis zu stehen, oft von dem Gefühl gehemmt wird, „eine Reihe von Fragen und Gesichtspunkten . . . übersprungen" zu haben, so ist seine Vorsicht zwar unhegelisch und zeigt Konzessionen an nachhegelisches Denken, er ist aber trotzdem in seiner Grundstimmung von der Überzeugung beherrscht, Glied einer zu endgültigen, unumstößlichen Wahrheiten kommenden Forschung zu sein. , , . . . . Alles zu sagen und zu tun, ist niemals einem gegeben. Die Wahrheit. . . liegt nicht darin, daß es nicht noch andere neben ihm gebe, sondern darin, daß kein anderer ihn aufhebt." 1 ) Und daß die Forschung, in die er sich eingereiht wissen will, der Anbruch einer neuen „gewaltigen Zeit" ist, das klingt durch alle seine Zeilen hindurch. Die Wissenschaft betritt „das Licht eines neuen Tages". „Lange ist der Satz gesagt und geglaubt worden, daß der menschliche Geist die Dinge durch Erkenntnis derselben beherrsche; von jeher hat in diesem Glauben ein gewisser Mythus gelegen, uns nun will es scheinen, als ob gerade jetzt jene erhabene Idee sich recht zu verwirklichen beginne. Auf allen Punkten fängt das menschliche Wissen an, eine neue, machtvollere Gestalt anzunehmen." Die Wissenschaft kommt zum Bewußtsein der Gesetze des historisch-gesellschaftlichen Seins und wird durch diese Erkenntnis fähig, das menschliche Leben zu beherrschen und zu gestalten. Dadurch ist nach Steins Meinung die Gegenwart zu gewaltig; sie hat „kein höheres Besitztum als dieses Erkennen". 2 ) In diesem Zusammenhange ist Steins Stellung zu Hegel sehr aufschlußreich. Er sieht in ihm den Denker, in dem die Selbstgewißheit des Wissens einen entscheidenden Schritt vorwärts tat. Darin sieht er seine Bedeutung, nicht so sehr in seinem System. Von allen seinen Werken habe seine Rechtsphilosophie am wenigsten Überzeugungen gefesselt.3) Mit dieser Überzeugung, die Wissenschaft habe nun endgültig die Gesetze der menschlichen Geschichte entdeckt, ist nun ') Stein, Die Munizipalverfassung Frankreichs, S. 8. ) Stein, Soz. u. Kom., i. Aufl., S. 22. 3 ) Stein, Soz. u. Kom. in Deutschi. 1844, S. 36. 2

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auch gleichzeitig bei Stein neben einer ökonomisch-gesellschaftlichen eine Art intellektualistischer Geschichtsphilosophie angelegt.1) War die bisherige Geschichte ein Werden, in dem die Menschheit von historischen Gesetzen unbewußt getragen wurde, die Gesetze höchstens ahnte, so ist in der Gegenwart die Ahnung zur Bewußtheit geworden. Wir haben jetzt das Gesetz des Geschehens, der Geschichte und der menschlichen Gesellschaft gefunden. Diese Erkenntnis wird eine neue und entscheidende Epoche des bewußten Gestaltens einleiten. 3. GESCHICHTSMETHODOLOGIE. Haben wir bis jetzt festgestellt, daß Steins Geschichtswissenschaft eine sozialhistorische Wissenschaft ist, die als Wissenschaft vom menschlichen Leben den Sinn, die Gesetze und das Werden dieses Lebens untersucht und als Wissenschaft der Praxis nach der endgültigen Erkenntnis der historisch-gesellschaftlichen Gesetze das zukünftige Leben zu gestalten versucht, so soll dieser Abschnitt auf die Steinsche Ansicht über die Methoden dieser Wissenschaft eingehen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Andeutungen einer Theorie des historischen Erkennens ähnlich wie in der gesamten geschichtsphilosophischen Literatur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur sehr verstreut vorhanden sind. Die ersten Versuche einer bewußten und systematisch angelegten Geschichtslogik finden wir bei Droysen und Gervinus, wenn wir von der zu einer metaphysischen Logik transponierten Logik Hegels und den Ansätzen einer Verstehenslehre in der Historischen Schule absehen; aber die eigentlich geschichtslogischen und geschichtsmethodologischen Untersuchungen setzen erst in der zweiten Jahrhunderthälfte ein, die sich ja überhaupt durch eine ausgesprochen erkenntnistheoretische Wendung auszeichnet, und sie werden durchgängig zum alleinigen Inhalt der Geschichtsphilosophie (Dilthey, Windelband, Rickert, Simmel u. a. m.). Versucht man hier, die logische Andersartigkeit der naturwissenschaftlichen gegenüber der historischen Methode aufzuzeigen, indem man auf die Sonderheit des historischen Gegen*) Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß diese zwei Arten von Geschichtsphilosophien kein zusammenhangloses Nebeneinander darstellen. Die Auffindung der historischen Gesetze ist kein plötzliches Einschlagen eines Blitzes der Vernunft, sondern ist hervorgerufen durch die gesellschaftliche Konstellation der Gegenwart, die zur Erforschung der gesellschaftlichen Zusammenhänge drängt.

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standes, das Maßstab- und Wertproblem, die historische Zeit, die spezifische Korrelation zwischen dem historischen Forscher und seinem Gegenstand reflektiert, so liegt dieser Methodendualismus der Problemstellung sowohl Steins als auch Hegels und der Historischen Schule in ihrem Methodenstreit fern. Die methodische Verschiedenheit zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist noch nicht ins Bewußtsein getreten. Der geisteswissenschaftliche Raum, in dem man sich mit Selbstverständlichkeit bewegt, ist der wissenschaftliche Raum schlechthin, und der Methodenstreit, in dem sich die Geister scheiden, ist ein Streit um die wissenschaftliche Betrachtung als solche. In diesem Streite steht Stein anfangs zwischen Hegel und der Historischen Schule, versucht beide Seiten fortzuentwickeln und zu einer eigenen Stellungnahme zu kommen.1) Es ist — schlagwortartig zusammengefaßt — der methodologische Streit zwischen konstruktiver und verstehender Forschung, zwischen Begriff und Anschauung, zwischen Idealismus und Empirismus, zwischen Hegel auf der einen Seite und der Historischen Schule auf der anderen. Obwohl die Methode der Historischen Schule nur mit Vorsicht eine empirische genannt werden darf, so wird sie doch durch ihre Opposition gegen die rationalistisch-logizistische Spekulation Hegels zu einer realistischeren Denkhaltung gedrängt, die einem Empirismus sehr nahekommt. Ja, sie bildet zweifellos mit ihrer Tendenz zur Kleinarbeit und Skepsis gegenüber den konstruktiven Schemen des rationalistischen Idealismus eine Brücke zu dem ernüchterten positivistischen Denken der nachhegelischen Zeit. Diese Wendimg zur empirischen Methode macht Stein teilweise mit, indem er sich, in manchen Äußerungen weitgehend, auf die Seite der Historischen Schule stellt. Die Vorsicht gegenüber jeder anmaßenden Spekulation wird bereits deutlich in seiner ersten Rezension über Christiansens „Wiss. d. röm. Rechtsgeschichte"2), in der er mit aller Schärfe die Gefahr einer oberflächlichen „Konstruktion" der Geschichte aufzeigt und ihm „das gänzliche Absehen von allen genauen Zeitbestimmungen" (!) vorwirft. Er konstruiere, rekonstruiere, werfe mit halbverstandenen Ausdrücken und Gesetzen um sich, finde das Allgemeine und verdenke es jedem, der nicht zugleich auch das Besondere darin findet, er stelle allgemeine Gesetze auf, mit Sehr aufschlußreich für die methodologischen Ansichten Steins sind vorwiegend seine Briefe an Echtermeyer und Rüge und seine ersten rechtsphilosophischen Rezensionen und Aufsätze. 2 ) Stein, Christiansen-Rezension.

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denen weder die Menschheit noch die Wissenschaft das Geringste gewonnen hätten.1) Ein ähnlicher Vorwurf gilt noch in den 50 er Jahren Louis Blancs Geschichtsphilosophie. Die Zeit der Geschichtskonstruktion, die mit Begriffen die Welt a priori regiere, möge auch für Frankreich noch ihren Wert haben als Durchgangspunkt, für Deutschland habe sie sich überlebt.2) Ganz im Sinne eines induktiven Empirismus fordert er, die Quellen genau und eifrig zu studieren, „das Kleine neben dem Großen zu würdigen", jede einzelne Stelle genau zu überlegen, zu prüfen und abzuwägen.3) Nicht uninteressant ist, daß er in der oben erwähnten ChristiansenRezension einige Male Niebuhr und Savigny lobend erwähnt und sich auf sie beruft. Das alles zeigt nur, daß Stein die Gefahr eines einseitigen deduktiven Apriorismus sieht und in seiner „Andacht zum Unbedeutenden" die Tendenz zur schlichten Empirie deutlich werden läßt. Auch dem Begriff des Verstehens und der Einfühlung, diesen beiden methodischen Grundprinzipien der Historischen Schule, steht er nicht allzufem. Auch er kennt das Eindringen in die Geschichte, die lebendige Teilnahme an den Gegebenheiten als eine wichtige Methode historischer Erkenntnis, so wenn er fordert, uns der Macht historischer Phänomene hinzugeben und sie „in uns wieder zu erzeugen", um sie verstehen und begreifen zu können. Diesem Empirismus soll nun, zunächst in aller Schärfe des polaren Gegensatzes, Steins hegelisch-konstruktive Seite seiner methodologischen Anschauung gegenübergestellt werden. Ein Wissenschaftsethos, das, wie wir im vorigen Abschnitt feststellten, die Aufgabe wissenschaftlicher Forschung darin sieht, allgemeingültige Formeln zu finden, das menschliche Leben und seine Geschichte mit einem Griff zu fassen, muß mit dieser makroskopischen Tendenz in den Gegensatz zur Einfühlungs- und Verstehenslehre der Historischen Schule treten. So wundert es uns auch nicht, wenn es Stein mehr daran gelegen ist — wie er es nicht nur einmal *) Stein, a. a. O., S. 1618 ff. — Interessant ist der Einwurf Steins auf Christiansens Deduktion der Unmöglichkeit der Sklaverei in den Anfängen der römischen Geschichte: „Haben denn dem Verfasser nicht die uralten Mauern und Werke, die man nach dreitausend Jahrend findet, erzählt, daß, wo es solche Zwingburgen gab, es auch Sklaven geben konnte ? " (a. a. O., S. 1629). 2 ) Vgl. Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 269. Auch die Geschichtsphilosophie Fouriers verfalle „in den Fehler aller K o n s t r u k t i o n der Geschichte . . ., nur das auszufahren, was sie gebrauchen kann" (Stein, Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 261). 3 ) Vgl. Stein, Christiansen-Kezension, S. 1623.

- 29 sehr deutlich werden läßt — , das mannigfaltige Geschehen auf ein allgemeingültiges Prinzip zurückzuführen, als bei der Fülle des Mannigfaltigen mit der Ehrfurcht der Historischen Schule stehen zu bleiben. Ihm geht es im Grunde darum, die Vielheit der Tatsachen „in der Einheit eines Begriffes" 1 ) zusammenzufassen. „Der Begriff ist es, der uns hier wiedergeben soll, was die Tatsache des Einzellebens nur zu oft zu verlieren scheint". 2 ) Eine begriffliche Auffassung des menschlichen Lebens und seiner Geschichte wird gefordert, die das Einzelne erst geschichtlich relevant macht. Ja, er geht so weit, daß das wirkliche Leben in seiner Besonderheit und individuellen Mannigfaltigkeit zum „Beispiel" oder „Probierstein" der abstrakt-begrifflichen Deduktion wird. Jetzt läßt uns auch „die höhere Natur der. . . Dinge. . . mit Sicherheit schließen, daß dem auch so gewesen sein muß, wohin die geschichtlichen Urkunden nicht reichen".3) Das heißt aber nichts anderes, als daß Geschichte zum System wird, und daß für Stein oft beides, Geschichte und logisch-begriffliches System, zusammenfallen, ist nicht schwer nachzuweisen.4) Von dieser hier aufgezeigten Doppelstellung — Stein als Vertreter eines Positivismus konkreter Empirie und eines Apriorismus spekulativen Denkens — ist er kaum zu einer e i g e n e n , eindeutigen Stellungnahme in methodischen Fragen gekommen. Wenn er auch interessante Ansätze zu einer geschlossenen Theorie des historischen Erkennens zeigt, so z. B. wenn er fordert, das Erkennen habe auszugehen von der Anschauung des historisch Einzelnen, von dem entstehenden farbenreichen Bild aus habe es dann der Arbeit des Werdens zuzuschauen, von der Anschauung zum Verständnis und Begreifen des Allgemeinen emporzusteigen und von dort zur lebendigen Mannigfaltigkeit zurückzukehren5), so verschwindet dieser Ansatz (ganz abgesehen davon, daß er die geistige Ver') Stein, Gesch. d. soz. Bew., i . Bd., S. 12. l ) Stein, Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 15. 3) Stein, System I, S. 468. 4) Vgl. folgende Beispiele: „Somit ist denn das, was wir eben als das Prinzip der Gesellschaft bezeichneten, seinem Inhalte nach dargelegt. Es ist ein S y s t e m und eine G e s c h i c h t e " (Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 66; Sperrdruck von mir). — „Die Verwirklichung jener Gemeinsamkeit tritt daher g e s c h i c h t l i c h a u f d e m s e l b e n P u n k t e ein, auf dem es im System eintritt" (Stein, System I, S. 428). — „ E s liegt demnach in diesem seinem Wesen, daß es (das erhaltende Prinzip) in der G e s c h i c h t e der Völker denselben Standpunkt einnimmt, den es im S y s t e m hat" (Stein, System II, S. 136; Sperrdruck von mir). 6) Vgl. Stein .Gesch. d. fz. Strafrechts, S. 2 f.

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wandtschaft mit der Historischen Schule nicht verleugnet) hinter den Kompromißlösungen, die seit seinen ersten Rezensionen sein methodologisches Denken beherrschen und noch in dem „System edr Staatswissenschaften" (1856) zu der Äußerung führen, die Methode sei „weder eine strenge dialektische noch eine streng historische".1) Was bedeutet nun aber diese nicht zur wirklichen Synthese kommende Doppelstellung Steins ? Es soll versucht werden, dies aus der Gesamtkonzeption Steinschen Denkens zu erklären. Im Grunde ist und bleibt er der Vertreter eines zentralistischen Denkens im Hegeischen Sinne2), einer Wissenschaftsgesinnung, die den Anspruch erhebt, das gesamte Weltgeschehen zu umfassen, es auf einzelne einfache Formeln zu bringen, „die ewigen Gesetze der Bewegung menschlicher Verhältnisse" aufzudecken, ohne sich an die ganze Fülle des Lebendigen zu verlieren. Seine Wissenschaft ist und bleibt Deutungswissenschaft, ohne je recht eigentlich Verstehenswissenschaft zu sein.3) Schon die Tatsache, daß seine Geschichtsphilosophie eine stark zukunftsgerichtete ist, schließt das Verstehen mit seiner Ehrfurcht vor dem Geschehenden als methodisches Prinzip aus. Wie kommt es aber nun, daß er sich trotzdem in manchen methodologischen Äußerungen der Historischen Schule nähert ? Wir glauben, daß seine Affinität zur Historischen Schule und ihrem Empirismus nichts mehr und nichts weniger bedeutet als eine ametaphysische, besser antimetaphysische Wendung. Er trennt sich vom Hegeischen Denken, da er um die Gefahr geistreicher Deduktionen weiß, und tritt zum Teil für eine methodische Haltung wie die der Historischen Schule ein, nicht weil er sich zu ihr bekennt, sondern weil er ihre realistischen Züge schätzt. Sie ist für ihn Brücke zu einem realistischeren und positivistischeren Denken. Von hier aus ist zu verstehen, daß er — charakteristischerweise 1856, also nach einem Jahrzehnt französischem Einflusses und nach einer Wiederannäherung an das idealistisch-romantische Denken — den Vorwurf des Logizismus zurückweist: „In der Tat, nicht logische Systeme sind es, um die es sich hier handelt, sondern es ist der lebendige Organismus des wirklichen Geistes der Menschheit, den wir zu erfassen suchen."4) Und als er behauptet, die wissenschaftliche Erkenntnis >) Stein, System II, S. 1. ) Vgl. die Gegenüberstellung von zentralistischem und dezentralistischem Denken bei der Charakterisierung der Gegensätze zwischen Hegel und der Historischen Schule in der Schrift Simons, ,Ranke und Hegel'. 3 ) Wach, Das Verstehen, 2. Teil, S. 9 ff. 4 ) Stein, System II, S. 141. 2

- 31 eines jeden Lebendigen sei nur in einem bestimmten und bewußten System möglich, fügt er hinzu, diesen Satz spreche er allerdings nicht ohne Zögern aus.1) Er verlangt, die historisch-gesellschaftlichen Phänomene zwar „in möglichst scharfer wissenschaftlicher Bestimmtheit darzulegen, ohne ihnen (aber) die lebendige Wärme ihres tatsächlichen Lebens zu nehmen".2) Und nicht zuletzt begrüßt er die Verteilung der geistigen Arbeit, bei der sich die einen „mehr dem Suchen. . . nach der Erkenntnis des Ganzen, andere mehr dem scharfen Eindringen in das Einzelne hingeben". 3 ) Dieses Ineinander und Nebeneinander von Deduktion und Empirie ist nicht nur für Stein methodologische Gedankengänge bezeichnend, sondern ebenso charakteristisch für seine faktisch von ihm angewendete Methode, auf die noch kurz eingegangen werden soll. Wohl am auffallendsten ist für den Leser seiner Werke sein Drang zum System und zur abstrakt-logischen Ableitung seiner Prinzipien. Hier steht er noch durchaus im Banne eines idealistisch-hegelischen Wissenschaftsbegriffs. „Er war ein spekulativer und konstruktiver Denker mit einer scharf ausgeprägten Neigung zur Systematik", so urteilt Inama-Sternegg in einem Nekrolog. Und doch ist es wichtig, daß die dialektische Methode zwar sehr häufig, aber doch meist sehr formal — wie in der gesamten nachhegelischen Generation — verwendet wird ohne jene philosophische Schwere, die ihr Hegel gegeben hatte. Es ist bezeichnend, daß, wenn Stein von dem Begriff der Dialektik der Geschichte spricht, er ihn mit aller Vorsicht und in einer Bedeutung gebraucht, die nicht viel mehr sagt als inneres Gesetz der Geschichte in einem sehr allgemeinen Sinne.4) Wichtiger aber noch als dieser abgeschwächte Gebrauch der Dialektik als eines logischen Prinzips ist die Historisierung seiner Systeme. Fast immer ist der systematische Begriff ein historischer Begriff mit einer historisch-materialen Bestimmtheit. Das äußert sich u. a. darin, daß jeder systematischen Ableitung eine historische Darstellung folgt, die das System konkretisiert. Selbst seine Verwaltungslehre ist kein abstrakt normatives System, sondern stark historisch unterbaut, ja, unter einem geschichtsphilosophischen ') Stein, a. a. O., S. 13. Stein, a. a. O., S. 327. 3) Stein, a. a. O., S. 14. ') Vgl. eine Verwendung des Begriffes der historischen Dialektik im Jahre 1846: Die Geschichtsschreibung soll" — m a n e r l a u b e u n s d a s W o r t — die Dialektik der Geschichte verfolgend, in der Aufgabe des inneren Lebens die Einheit der Zeitabschnitte setzen" (Stein, Gesch. d. fz. Strafrechts, S. 420; Sperrdruck von mir). s)

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Gesichtspunkt gesehen. So ist es charakteristisch, daß Carl Menger, ein Zeitgenosse Steins, in einem Aufsatz über ihn ihm die zum Teil verwendeten geschichtsphilosophischen Forschungsmethoden als nachteilig, das System störend vorwirft. 1 ) Noch interessanter ist aber ein Urteil, das Stein selbst in einem Aufsatz im Jahre 1 8 5 2 über sein zwei Jahre vorher erschienenes Buch „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich" fällt: „ E s lag in der Natur der Sache, daß in dieser Arbeit die g e s c h i c h t l i c h e Seite der Gesellschaft auf allen Punkten mit dem r e i n w i s s e n s c h a f t l i c h e n Begriffe derselben durchwoben ward; aber diese Natur der Sache war im Grunde kein Vorteil für das Werk selbst, das dadurch ein Mittelding zwischen einer G e s c h i c h t e und einer s y s t e m a t i s c h e n Auffassung des Gesellschaftsbegriffes werden mußte.'* 2 ) Auffallend und für die Historisierung seines Denkens bezeichnend ist seine Annäherung — besonders in den fünfziger und sechziger Jahren — an eine vergleichend-historische Methode, wahrscheinlich ein Erbe sowohl des französischen Positivismus als auch der romantischen Wissenschaft mit ihrem Organismusbegriff, der zur Analogiebildung drängt, und der auch bei Stein, wie wir später noch sehen werden, in den Vordergrund rückt. 3 ) ') Carl Menger, Lorenz v. Stein, S. 200. ) Stein, Soz. in Deutschi. 1852, S. 561 (Sperrdruck von mir). — Sehr eingehend setzt sich bereits 1867 Gustav Schmoller mit der Steinschen Methode auseinander. Er stellt Steins Denkhaltung als eine versuchte Synthese zwischen Deduktion und Empirie hin: ,,Er konstruiert wie dieser (Hegel), aber mit unendlich reicherer Detailkenntnis, und darum viel zuverlässiger. Ja, man könnte sagen, daß er in seinen späteren Werken die beiden erwähnten wissenschaftlichen Methoden (Schmoller spricht von der teleologischen und kausalen Methode) zur Versöhnung bringt. Er bequemt sich wenigstens, das positive Material darzustellen und seine Reflexionen, die ihm freilich die Hauptsache bleiben, an dasselbe anzuknüpfen, seine Betrachtungen durch die Geschichte zu beweisen" (Gustav Schmoller, Lorenz Stein, S. 269). s ) Miaskowski sieht in der vergleichend-historischen Methode Steins eine Folge der Anregungen Comtes und der Historischen Schule, „ohne daß wir ihn deshalb schlechtweg zu den Comtisten oder zur Historischen Schule rechnen dürfen" (Miaskowski, Lorenz v. Stein, S. 456). — Ergänzend sei hier noch auf eine ablehende Äußerung Steins über die Analogie als Gesetz des Erkennens hingewiesen, trotzdem er an einer anderen Stelle von dem gewaltigen Gedanken der Analogie spricht. „Diese Analogie ist mithin das Gesetz des Erkennens bei Fourier. . . Sie hat viel Anziehendes im allgemeinen, im einzelnen oft etwas sehr Überraschendes; allein sie ist weder bei Fourier noch sonst ein philosophischer Begriff (!). Denn in der Tat ist sie 2

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Jedenfalls ist Stein — und das wird das nächste Kapitel zeigen — kein Denker, der sich mit der Aufstellung abstrakter Kategorien begnügt. Er „denkt" nicht nur, sondern schöpft aus dem Erlebnis der politischen und sozialen Revolutionen der letzten Jahrzehnte. Und wenn auch seine historischen Kategorien, wie ihm der schon oben erwähnte Inama-Stemegg, der Vertreter einer historischen Nationalökonomie vorwirft 1 ), vor der Analyse quellenmäßiger Kritik nicht standhalten, so besagt das noch nicht viel über die Bedeutung Steins auch als historischer Forscher. doch nur die geahnte (!) Einheit in den Dingen" (Stein, Gesch. d. soz. Bew., 2. Bd., S. 278). ') Inama-Sternegg, Lorenz v. Stein, S. 43 f. (In: Staatswiss. Abhandl.)

Beiheft d. H . 2 . 26.

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2. K A P I T E L .

MATERIALE GESCHICHTSPHILOSOPHIE.

i . PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE. Die im vorigen Kapitel mit Deutlichkeit hervortretende Grundintention Steinschen Denkens war nicht zuletzt eine Uberwindung Hegels. An die Stelle des Systems des absoluten Geistes trat ein hierarchisches System von Wissenschaften, das die Wissenschaft vom Menschen und seiner Geschichte krönte. In seiner Wissenschaftstheorie wurde aus einer kontemplativen Haltung der Aktivismus eines Denkers, der nicht nur begreifen, sondern handeln will, der die Gestaltung der Welt mit Hilfe der Wissenschaft als das Postulat eines neuen Wissenschaftsethos hinstellt. Und schließlich zeigte sein Abrücken von der abstrakten Deduktion zur lebensnäheren Empirie seine ahegelische Wendung. Diese wird noch deutlicher, wenn wir jetzt die Frage nach dem historischen Gegenstand in der gesellschaftswissenschaftlich-historischen Forschung Steins zu beantworten versuchen. Es ist — schlagwortartig vorweggenommen — die Wendung vom metaphysischen Spiritualismus zu einer anthropozentrischen Anschauung. Sowohl bei Hegel als auch in der Historischen Schule bilden übermenschliche Wesenheiten den historischen Gegenstand, bei Hegel der Weltgeist, bei der Historischen Schule der Volksgeist. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, daß der Volksgeistbegriff der Historischen Schule ein Doppelgesicht trägt. Auf der einen Seite sieht er zu Hegel (vom Volksgeistbegriff ist der Schritt zum Begriff der absoluten Vernunft nicht allzugroß), auf der anderen Seite sieht er einem Realismus entgegen, der ihm den Charakter einer transzendenten Vernunftwesenheit nimmt. Dem Volksgeist der Historischen Schule fehlt die metaphysische Umkleidung des Hegeischen Weltgeistbegriffes. Diese realistische Seite wird sehr deutlich bei einem Historiker und Geschichtsphilosophen wie Ranke. Läßt bereits seine dualistische Auffassung die Ideen zu einem Geschichtsimmanenten werden, während Gott als etwas Außergeschichtliches ins Transzendente rückt, so wird bei ihm — wie Simon nachweist, der sehr feinsinnig die

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Biographien Rankes analysiert hat ) — eine beinahe anthropologische Wendung bemerkbar. Der Mensch bekommt als Geschichtssubjekt einen Eigenwert. Gott regiert zwar die Geschichte, doch der Mensch ist nicht nur Mittel. Oft steht er in Übereinstimmung mit Gott, oft im Gegensatz zu ihm. Das verlangt von Ranke eine beinahe psychologische Beweisführung. Wenn auch diese anthropologische Tendenz Rankes letztlich darin begründet ist, daß er, gegen Hegel protestierend, den Selbstwert der Einzelpersönlichkeit in den Vordergrund rücken und damit dem Spontanen in der Geschichte ein Tor öffnen will, wenn auch damit eine Haltung der Geschichte gegenüber deutlich wird, die der Geschichtswissenschaft den Charakter einer Gesetzeswissenschaft nimmt, aus der Geschichte notwendiger Gesetzesabläufe eine Heldengeschichte macht, so ist doch sein erneutes Interesse am Menschen Symptom einer neuen ametaphysischen Epoche. Zu einer wirklich antimetaphysischen Opposition kommt es aber erst im Junghegelianismus, der sich durch einen eindeutigen Anthropologismus auszeichnet. Der Mensch rückt in den Mittelpunkt des Denkens und wird zum eigentlichen Geschichtssubjekt. In diesen Prozeß, der die Wendung vom Weltgeist zum Menschen als dem historischen Subjekt vornimmt, gehört Stein hinein. Auch bei ihm wird immer mehr der Mensch, und zwar der tätige Mensch, zur letzten Instanz, nicht mehr der Weltgeist, der Volksgeist, die Vernunft oder Gott. Gerade darin, daß man — was bisher vernachlässigt worden sei — auf den Menschen reflektiert, sieht er die Bedeutung des Kommunismus und des Sozialismus und in Deutschland den Wert der Hallischen Jahrbücher. Und auch bei ihm wird das Nachdenken über den Menschen, sein Wesen und seine Bestimmung stets implicite der Ausgangspunkt seiner Reflexionen. Das ist allerdings am Anfang seiner wissenschaftlichen Forschungen weniger deutlich. Hier steht er noch im Banne des Hegeischen Weltgeistes und der Weltvernunft und des Volksgeists der Historischen Schule. Diese Ansätze sind noch spürbar in der 1842 erschienenen „Geschichte des Sozialismus und Kommunismus d. heut. Frankr.". Aber gerade seine gesellschaftswissenschaftlichen Forschungen führen ihn zu einer anthropologischen Besinnung, bis er, bereits in der „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich" (1850) andeutend2), 1852 zu Simon, Ranke und Hegel. ) Interessant ist auch ein Vergleich zwischen der 1 . und 2. Auflage des Soz. u. Kom. (1842 und 1848). Die 2. Auflage weiß bereits viel deutlichere Analysen der Bestimmung des Menschen zu geben als die erste. l

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- 36 einer eigenen, systematisch und klar durchdachten Auffassung vom Wesen und Sinn des Menschen kommt, die zwar über Hegel und die Historische Schule hinausführt, aber die Anlehnung an philosophische Anschauungen des Fichteschen und Kantschen Idealismus und an die anthropologischen Untersuchungen des französischen Sozialismus nicht verleugnet. Eine anthropologische Einleitung wird Ausgangspunkt eines Systems der Gesellschaftsund Staatswissenschaften.1) Dieser anthropologische Ausgangspunkt, der übrigens bei Stein durchaus philosophisch angelegt ist und bis zu einer metaphysischen Ebene vordrängt, ist, wie mir scheint, symptomatisch für die geistige Struktur zweier sich ablösender Zeitalter. Während der philosophische Idealismus v o r Stein vor allem erkenntnistheoretisch orientiert ist, ist Stein ein ausgesprochen gesellschaftswissenschaftlich-politisches Interesse eigen. Oder anders formuliert : während der Ausgangspunkt der Transzendentalphilosophie die Genesis des Bewußtseins ist, ist es in Steins historischer Gesellschaftslehre die Genesis des handelnden, historisch tätigen Menschen.2) Der Mensch steht seiner ganzen inneren Struktur nach zwischen Natur und Geist, zwischen Endlichem und Unendüchem, zwischen zwei Seienden als unendliche Bewegung, als Leben.3) Der Geist oder, wie Stein sagt, das rein Persönliche4) hat für sich kein Leben. Er ist nur ein Dasein; er ist das Unendliche und hat die Wirklichkeit seiner Bestimmung außer sich. Ihm gegenüber steht die Natur als das andere Seiende. Auch sie hat „für sich kein Leben, sondern nur ihr natürliches Dasein, das unverändert in gleichem Kreise seiner Gesetze sich bewegt". 5 ) Sie ist das ') Stein, System I, S. i — 26. Auch hier ist wieder zu berücksichtigen, daß bereits der Historischen Schule — schon ihrem ganzen Sachgebiet nach — ein erkenntnistheoretisches Interesse fehlt. Ihr Gegenstand ist die Geschichte und damit auch, trotz aller metaphysischen Wendungen, der Mensch als Geschichte tragendes Subjekt. Diese Brücke der Historischen Schule, wohl noch wichtiger die der Romantik, zu einem realistischen Anthropologismus ist nicht zu unterschätzen. Es ist die Wendung von der Vernunft zum Menschen (Freyer), die die Romantik und die Historische Schule vornimmt. 3) Vgl. dazu Feuerbach. — „ E r (Feuerbach) gelangt zum Subjekt, das mitten zwischen der Natur und dem Weltgeist s t e h t . . (Koigen, Zur Vorgeschichte, S. 156). 4) Es ist für Steins Realismus bezeichnend, daß er den Terminus Geist vermeidet und dafür von dem Persönlichen, dem rein Persönlichen oder der Persönlichkeit spricht (vgl. S. 15 Anm. 2). 6) Stein, System I, S. 6. 2)

- 37 Endliche und hat keine Bestimmung außer sich. Das menschliche Leben nun ist die Berührung dieser zwei Elemente, des persönlichen und des natürlichen, ist der Ort, „wo die ihrem Begriffe nach unendliche Persönlichkeit auf die G r e n z e trifft, welche die ihrem Begriffe nach endliche Natur ihr vorschreibt. Die Aufhebung des begrenzten natürlichen Daseins durch die unendliche persönliche Bewegung erzeugt das U n e n d l i c h e in der N a t u r und zugleich das E n d l i c h e in der P e r s ö n l i c h k e i t . Durch den Menschen erst empfängt die Natur ihre Bestimmung außer sich; durch die Natur erst nimmt der Mensch das Dasein der Begrenzung und der Gewalt in sich auf." 1 ) Damit ist menschliches Leben kein neues, drittes Dasein, neben dem rein persönlichen und rein natürlichen, sondern ist Bewegung, Leben, lebendiger und tätiger Gegensatz. Menschliches Leben trägt in sich diesen Gegensatz aus und ist somit primär Tat, Tathandlung. Ganz im Fichteschen Sinne ist der Mensch nichts außer der Tathandlung; er existiert in ihr. Sein innerstes Wesen ist Drang nach Tätigkeit, das aber nicht beim Streben halt macht, sondern ein Tätigsein involviert. Drang nach Tätigkeit und Tätigsein sind ihrem Wesen nach identisch. Dieses Tätigsein heißt Überwindung eines dem Menschen entgegenstehenden Stoffes und dessen Gestaltung und Formung. Es ist die Bestimmung des Menschen2), „die ganze Welt der natürlichen Dinge sich, seiner Bestimmung, seiner Freiheit zu unterwerfen". 3 ) So wird jetzt die Natur, von der Tathandlung des Menschen aus gesehen, zur Bedingung des Tätigseins, zum Stoff und Mittel der Tathandlung, zum Material der Pflicht.4) Ihre Bedeutung erschöpft sich in der Aufgabe, Voraussetzung des Handelns zu sein. Mit dieser Naturauffassung nähert sich Stein, wie oben bereits bei der Auffassung des menschlichen Lebens als einer Tathandlung, dem Fichteschen Denken und steht im Gegensatz zu Hegel, der Romantik und der Historischen Schule. Wenn auch Hegel sehr wohl das Naturgeschehen als ein fortschrittloses, eigengesetzliches Geschehen von menschlicher Geschichte trennt, so rückt er aber doch unter dem Aspekt Fichtescher und Steinscher Tatphilosophie mit der romantischen Identitätsphilosophie (Schelling) und der Historischen Schule zusammen. Natur ist für sie Stein, a. a. O., S. 6. Steins häufiger Gebrauch des Begriffes „Bestimmung des Menschen" ist wohl nicht zufällig eine Angleichung an Fichtesche Terminologie. 3) Stein, Soz. u. Korn., 2. Aufl., S. 17. 4) Vgl. Cieszkowskis Naturauffassung: „Ihr (der Natur) Sein ist ein fremdes, darum ist sie Mittel . . ." (Prolegomena, S. 117). 2)

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weniger ein Material der Pflicht als ein geistiges Prinzip auf einer Stufe seiner Entwicklung; sie ist für sie weniger zu überwindende Hemmung, an dem sich ein tätiges Subjekt bewähren soll, als vielmehr eine Vorstufe, die als solche eine Konfrontierung von Natur und menschlich-geschichtlichem Sein verbietet. Steins Natur ist wesentlich Objekt für ein Subjekt, das diesem Objekt „seine rein natürliche Bestimmung raubt und ihm dafür eine Bestimmung (einen Zweck) für das persönliche Leben gibt". 1 ) Aber dieses Objekt, vom Menschen, „der Persönlichkeit", erfaßt, hat ein doppeltes Leben. Es dient und gehorcht und „bewegt sich wiederum auch nach seinen eigenen Gesetzen. Wo der Wille der Persönlichkeit auftritt, unterwirft es sich; wo er ruht, sucht es seine eigene Bewegung wiederzugewinnen. Das ist der Fall mit dem der Persönlichkeit unterworfenen Natürlichen, dem Grund und Boden, dem Tiere, dem Metalle, mit jedem Dinge; aufgegeben vom Menschen, kehren sie in ihren Naturzustand zurück. Durch dieses Element der Selbständigkeit, welches dem Objekt bleibt, bildet es einen beständigen Gegensatz gegen das Subjekt, die Persönlichkeit. Um ihre Herrschaft zu erhalten, muß sie mit ihrem Willen jenes immer aufs neue unterwerfen." 2 ) Aber außer der Erhaltung des Abgerungenen und vom Menschen Geschaffenen versucht der Mensch als geistiges Subjekt über das Erreichte hinaus zu neuer Gestaltung vorzudringen.3) Somit ist menschliches Leben eine stete Auseinandersetzung zwischen natürlichem Sein und geistiger Bestimmung, die der Mensch in sich trägt. Menschliches Leben bedeutet Unterwerfung der Natur, Erhaltung des Geschaffenen und gestaltende Erzeugung eines Neuen. Die T a t ist das Urphänomen menschlichen Lebens. „Sie kann nicht aus Prämissen entwickelt werden."4) Das innerste Wesen des Menschen ist sein Tätigsein, das nicht unendliches Sehnen bleibt, sondern „durch die endliche Natur in Raum und Zeit auf ein Maß" beschränkt, das natürliche Ding zur „ G e s t a l t " formt, indem es das Unendliche in das natürliche Leben hineinträgt. Diese Gestalt werdung zeichnet das menschliche Leben aus und ist Kriterium jeder wirklichen Tat. Weder die Natur noch der Geist besitzt Gestalt, da sie keine Tat kennen.5) 1)

S t e i n , S y s t e m I, S. 15.

2)

Stein, Gesch. d. soz. B e w . , 1. B d . , S. 16; ähnlich S y s t e m I, S. 15.

3)

V g l . Stein, S y s t e m I, S. 15.

l)

Stein, Verwaltungslehre,

1. Teil,

S. 7.

') V g l . Stein, S y s t e m I, S. 6 f f . — Interessant ist, d a ß S t e i n in seiner Verwaltungslehre H e g e l das Fehlen einer Lehre, die sich mit d e m Begriff

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Gerade dieser Akzent auf den Gestaltbegriff läßt noch einen wichtigen Hinweis als notwendig erscheinen. Im Gegensatz zu Fichte, der der Tätigkeit den Wert einer gestaltenden Formung nimmt, indem er als den Zweck der Handlung nicht eine schöpferische Gestaltung eines Objekts gelten, sondern das Tätigsein unter Verzicht auf alle äußeren Zwecke Selbstzweck sein läßt, ist bei Stein das Problem eher so gelagert, daß das Tätigsein eine Handlung darstellt, der es vor allem auf die schöpferische Gestaltung von Gütern ankommt. Die von Menschen geschaffene Welt wird zu einer „zweiten Schöpfung". 1 ) Damit ist sie aber auch zugleich als eine von der natürlichen Welt gesonderte gekennzeichnet. Sie ist „nicht eine bloß organische Fortsetzung desselben, was sich in dem Natürlichen zeigt; (sie) ist vielmehr eine zweite Welt in der ersten. . .". Allein das Leben der Menschheit „ist dennoch von der ersten natürlichen Schöpfung nicht geschieden. Es ist mitten in sie hineingestellt; es ist mit tausend Beziehungen an sie gebunden; es muß sich an sie wenden mit all seinen Bedürfnissen, es muß seine eigenen Schöpfungen ihr aufprägen, es muß sie mit sich fortreißen und sie zum Träger und Ausdruck seiner eigenen Bewegung machen." 8 ) Es hieße aber, sich das Problem des Verhältnisses zwischen Fichte und Stein zu leicht machen, wollte man nicht auf einen sehr wesentlichen, grundlegenden Unterschied zwischen beiden Denkern eingehen. Daß Stein der Fichteschen Tatphilosophie sehr nahesteht, wird wohl nirgends deutlicher als bei einer Darstellung der Anthropologie Steins. Mit diesem Begriff der Anthropologie wird aber auch schon auf den Unterschied zwischen Fichte und Stein hingewiesen. Zwar philosophiert Stein über Tat und Natur, Handlung und Stoff ganz im Fichteschen Sinne, b l e i b t aber bei einer Anthropologie. Ihm fehlt der gesamte metaphysische Überbau der Fichteschen Bewußtseinsphilosophie, ihm fehlt der Begriff des absoluten Ich, das sich in Ich und Nicht-Ich spaltet, ihm fehlt die eigentlich metaphysisch-philosophische Konzeption. Die der Tat beschäftigt, vorwirft: „Die Identitätsphilosophie hat sie (die Tat) dialektisch aufgehoben; merkwürdig genug, daß selbst Hegel nicht zu der Frage kam, ob neben dem, was wirklich ist, auch das, was wirklich w i r d , vernünftig ist" (Verwaltungslehre, i . Teil, S. 7). ') Allerdings klingt auch bei Stein oft der Fichtesche Gedanke an, daß der Wert der Tat nicht im Geschaffenen liegt, an dem sich der Mensch freuen soll, sondern im Handeln und Schaffen selbst. Stein ist eben nicht der Denker, der auf eine einheitliche, klare Linie zu bringen ist, wie wir bereits gesehen haben und oft noch sehen werden. *) Stein, System I, S. 1 f.

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Natur ist nicht mehr die Scheinwelt eines metaphysisch-absoluten Ich, sondern Wirklichkeit. Der Natur steht die geistige Welt des Persönlichen gegenüber, die beide als korrelative Wirklichkeiten den Ausgangspunkt seiner Anthropologie bilden, ohne daß er den metaphysischen Hintergrund der beiden Seienden aufzudecken versucht. Sein Aktivismus treibt ihn zu Fichte, aber sein Realismus nur zu einer Philosophie des tätigen Menschen, nicht zu einer Philosophie des absoluten Ich. 2. PHILOSOPHIE D E R ARBEIT. Mit dem folgenden Abschnitt über die Steinsche Philosophie der Arbeit betreten wir zwar einen neuen Begriffsraum, bleiben aber, von der Sache aus gesehen, bei der Lehre vom Wesen des Menschen. Es ist eine Transposition des Problems aus einer ontologisch-philosophischen in einer psychologisch-philosophische und darüber hinaus gesellschaftswissenschaftlich-historische Ebene. Daß Stein im Grunde dieser psychologisch orientierten Schau des Menschen und seiner Bestimmung sehr nahesteht, indem er lieber das Wesen des Menschen mit der psychologischen Kategorie des Arbeitstriebes als mit der philosophischen Kategorie der Tat zu fassen versucht, zeigt wieder den Realismus in der Intention seines Denkens. Vor allem seine Kritik der Fourierschen Trieblehre läßt es uns deutlich werden, daß er dem Psychologismus der französischen Sozialisten nicht allzufern steht. Zwar steht er Fourier letztlich ablehnend gegenüber, aber er weiß doch seine Bedeutung zu würdigen. Ganz abgesehen davon, daß er teilweise zu einer versteckten Anerkennung kommt, sieht er in ihm, wie es uns ja schon oft bei seiner Stellung zum französischen Sozialismus klar wurde, einen Ansatz, den die deutsche Philosophie —• in der Logik mehr geschult! — fortzusetzen hat. Stein wirft ihm vor, daß er zu abstrakt von den einzelnen Arten der Triebe ausgegangen sei, ohne zunächst auf „den Trieb überhaupt, den Begriff desselben" zu reflektieren, denn die Arten seien doch Bestimmungen dieses Begriffs. Aber dazu sei er freilich nicht Logiker genug gewesen. „Hätte er das vermocht (so sagt Stein weiter), so hätte er eben jene Unterscheidung des den Trieb bestimmenden Äußeren und des Triebes selbst finden müssen, und hier erst wäre seine Philosophie der Arbeit zu einer wahren Wissenschaft geworden, wozu sie so nur ein Versuch ist". 1 ) Das heißt aber nichts anderes, als J ) Stein, Soz. u. Kom., i. Aufl., S. 2 5 3 f. — In der Gesch. d. soz. Bew. steht er allerdings Fourier noch bedeutend bejahender gegenüber. E r sieht

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daß für Stein dieser „Trieb überhaupt", dieser Grundtrieb menschlichen Lebens der Arbeitstrieb ist. Der Zweck und der Sinn dieses Arbeitstriebes ist die Befriedigung eines Bedürfnisses (!), und dieses Bedürfnis ist „die noch unentwickelte, in der inhaltlosen Gestalt des Gefühls vorhandene Idee der Persönlichkeit, das unklare Bewußtsein ihrer Bestimmung, die Natur sich zu unterwerfen". „Dem Bedürfnis entgegen tritt nun die konkrete Natur. In dieser lebt alles nach eigenem Gesetz, gestaltet sich nach eigenen Bestimmungen, und die D i n g e , die Formen, in welchen die Natur zur Erscheinung kommt, haben das sie Bestimmende, das sie zu Dingen machende in sich selber. Sie sind daher f ü r sich da, gleichgültig gegen das Bedürfnis der Persönlichkeit."1) In diesem ewigen Kampfe des Menschen mit der äußeren, selbständigen, sich immer wieder ablösenden Welt versucht die Arbeit, für die nach Steins Meinung Ordnung und Planimg wichtige Kriterien sind, die äußere Welt zu fassen, um das Bedürfnis zu befriedigen. In der Bedürfnisbefriedigung liegt der Genuß (!). „Das Erarbeitete, indem es durch die Arbeit fähig gemacht ist, dem Bedürfnisse und dem Genüsse zu dienen, ist das Gut. Das Leben jedes einzelnen besteht daher in der Erarbeitung der Güter." 2 ) Aber trotz dieser sich anscheinend nur im Bereich des Psychologischen bewegenden Begriffsbildung ist sein Arbeitsbegriff so weit philosophisch gesättigt, daß er dem im vorigen Kapitel behandelten Tat begriff sehr nahekommt. Die Arbeit resultiert aus dem ewigen Widerspruch zwischen der inneren unendlichen Bestimmung und der Begrenzung durch die äußere Welt und ist „die bewußte Betätigung dieser unendlichen Natur der Persönlichkeit, durch welche dieselbe sich den Inhalt der äußeren Welt zu eigen macht. . ." 3 ) Das äußere Dasein wird durch die Arbeit bewältigt und der unendlichen Bestimmung des Menschen unterworfen. Bei einer tiefergehenden Analyse des Steinschen Arbeitsbegriffes tritt also das Ineinander und Nebeneinander der psychologischen und philosophischen Ebene hervor, deren innere Verflechtung für ihn symptomatisch ist. Er kennt nicht den rein psychologischen Begriff des Triebes. Arbeit ist Trieb und unin ihm den Philosophen der Arbeit, der zuerst versucht hat, „die Arbeit an und für sich als eine Bestimmung der menschlichen Neigung, als ein Ziel der menschlichen Vollendung zu erfassen". ') Stein, Der Begriff der Arbeit, S. 270. — Hier wird noch einmal der Stoffcharakter der Natur als eines objektiv Existierenden deutlich. 2 ) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 17. — Vgl. auch Stein, Der Begriff der Arbeit, S. 268 ff. und System I, S. 138. 3 ) Stein, System II, S. 99.

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endliche, göttliche Bestimmung zugleich. Auch dem Genuß nimmt er seinen rein psychologischen Charakter. Er ist, wie er hervorhebt, kein „bloßes Genießen" im eudämonistischen Sinne, sondern die erfüllte Herrschaft über das äußere Dasein. Er ist der Genuß der Arbeit, nicht der Genuß des Verbrauches. Und diente das erarbeitete Gut — in die Sprache der Psychologie gefaßt — „dem Bedürfnisse und dem Genüsse", so bekommt diese psychologische Begriffsbildung dadurch ihren philosophischen Akzent, daß das Gut als ein „Teil der eigenen inneren Welt", als ein Teil des Ich, als konkret gewordene Persönlichkeit definiert wird. Arbeit ist nicht eine festzustellende Tatsache neben anderen Tatsachen, sondern das Urphänomen des Lebens; sie ist „der Quell aller Entwicklung der Menschheit. . . Sie ist unendlich reich und mannigfaltig, weil sie das ganze Dasein der Natur durch das ganze innere Leben der Persönlichkeit zu umfassen lehrt. Sie ist das wirkliche Werden der Freiheit der Menschen."1) Arbeitsbegriff und Freiheitsbegriff gehören für Stein eng zusammen. Nur der arbeitende Mensch ist frei, denn Arbeit ist „ihrem innersten Wesen nach die Betätigung der Freiheit". Daraus folgt nun aber auch die für Steins Gesellschaftsauffassung so wichtige These, daß nur dort von wirklicher Arbeit gesprochen werden kann, wo die Arbeit frei, wo sie Selbstbestimmung der Persönlichkeit ist, „denn die erzwungene, unfreie Arbeit ist ein absoluter Widerspruch".2) Aber nicht nur die unfreie Arbeit, auch die Arbeitslosigkeit stehen mit dem innersten Wesen des Menschen im Widerspruch. „Jeder Mensch kann und soll arbeiten." Das ist der kategorische Imperativ Steins. Charakteristischerweise fügt er hinzu, das sei ein Prinzip der Sittenlehre, das bisher keineswegs genau untersucht worden sei.3) Damit aber hebt er den Arbeitsbegriff aus der ökonomischen in die sittliche Sphäre und kommt auch hier wieder Fichte sehr nahe. Jedenfalls grenzt er sich mit aller Entschiedenheit gegen die bisherige Nationalökonomie ab, „die der Idee der Würde der Arbeit am meisten Abbruch getan; denn durch sie ist der Begriff der Arbeit aus einem selbständigen Begriffe der praktischen Philosophie zu einem bloßen Medium der Gütererzeugung herabgesunken".4) Arbeit aber ist mehr als ein bloßes Mittel der Erzeugung und muß als solche „auf die ihr gebührende Stufe" gehoben werden. Es ist für die geistesgeschichtStein, System I, S. 138. ) Stein, Gesch. d. Arbeit, S. 358. s ) Vgl. Stein, System II, S. 101. 4 ) Stein, Der Begriff der Arbeit, S. 268. 2

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liehe Stellung Steins nicht ohne Bedeutung, daß er in Adam Smith und vor allem in den französischen Sozialisten seine Vorläufer sieht. „Adam Smith zeigte zum ersten Male, und das ist der historische Kern seines Werkes, daß der Reichtum auf der Arbeit beruhe; der Sozialismus hat in einer zum Teil großartigen Weise (!) den Satz aufgestellt, daß die g e s e l l s c h a f t l i c h e E h r e und S t e l l u n g des einzelnen aus der A r b e i t dieses einzelnen hervorgehen müsse. Er hat dadurch den Ausgangspunkt für die Zeit gegeben, in der die A r b e i t a l s solche zu ihrer rechten Ehre kommt; und dieses Resultat ist wichtiger als es manchem scheinen möchte." 1 ) Und Stein versucht nun, wie wir gesehen haben, den Arbeitsbegriff in seiner ganzen Tiefe und Breite zu erfassen. Die Arbeit ist für ihn als geistige und materielle Arbeit das letztlich metaphysische Bewegungsprinzip des menschlich-geschichtlichen Lebens. Nur dort, wo die Würde der Arbeit heilig gehalten wird, wird Geschichte gelebt. Alle Völker und Zeiten ohne Arbeit und Arbeitswürde müssen untergehen.2) Die Völker des Orients, diese Völker der Fronde, scheiden aus der Geschichte aus, da bei ihnen die Arbeit nie freie Arbeit wurde. Aber auch Griechen und Römer gehen zugrunde, weil sie die Ehre der Arbeit verraten. „Der erste Schritt zur Unfreiheit war der vom Pfluge zum schönrednerischen Forum . . . Als die Patrizier lernten, ihre possessiones von Sklaven bauen und sich von Sklaven bedienen zu lassen, da lernten sie selber als Diener gehorchen." Die Führung der Geschichte geht über an die germanische Welt. Germanentum und Christentum machen die Arbeit wieder frei. Wenn es auch in der germanischen Welt Epochen gibt, wo der Versuch gemacht wird, die Arbeit zu entrechten und zu versklaven, so hat sie sich bis jetzt immer wieder befreien können. Der letzte Versuch ist der des Proletariats. Interessant ist noch seine vom Arbeitsbegriff her gesehene geschichtsphilosophische Interpretation des Christentums. Für ihn hat das Christentum u. a. die Bedeutung, die Arbeit geheiligt zu haben. „Selig sind die Armen, das heißt selig sind die Arbeitenden." Aber er sieht auch, daß für das Christentum die Arbeit eine Schuld der Erbsünde ist; sie ist ein Fluch. „Der Mensch ist Stein, Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 214. — Aus dieser versteckten Sympathiekundgebung wird wiederum deutlich, daß die französischen Sozialisten nicht ohne Einfluß auf Steins Philosophie der Arbeit geblieben sind. 2) Vgl. zu folgendem den Aufsatz über die Geschichte der Arbeit (1849).

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nicht zur Arbeit berufen, sondern zu ihr verurteilt." Obgleich Stein diese christliche Arbeitsgesinnung nie wertet, steht er ihr doch im Grunde ablehnend gegenüber. Sie ist ihm zu negativ. Sie sei n u r — wie er meint — auf das natürlichste Bedürfnis gerichtet und sei n i c h t mehr. Aus diesem „nicht mehr" spricht ein Ethos, das um die Größe aller Arbeit und alles Schaffens weiß und in ihr nicht nur ein notwendiges Übel sieht. Von diesem versittlichten, metaphysisch gefaßten Arbeitsbegriff kommt Stein zu einer Rechtfertigung des Privatbesitzes, die uns jetzt beschäftigen soll. Das Erarbeitete, der Besitz ist die in der Sachwelt Gestalt gewordene persönliche Bestimmung des Menschen, ist das im äußeren Dasein selbständig gewordene Menschenleben, ist — wie er sagt — der zweite Körper der Persönlichkeit. Dabei ist der Besitz stets ein sehr komplexes Gebilde. Abgesehen davon, daß er sowohl materieller als auch geistiger Besitz ist, gehören auch die im Menschen gelagerten persönlichen Fähigkeiten, wie Arbeitsfähigkeit, Geschicklichkeit und Erfahrung zum Begriff des Besitzes. Außerdem muß der Besitz, durch Arbeit erworben, durch Arbeit erhalten und neu erworben werden, so daß die Arbeit ein absolut notwendiges Element des Besitzes ist. Aber gerade diese Ausweitung des Besitzbegriffes zeigt nur die innere Verbindung von arbeitendem Subjekt und erarbeitetem Objekt. Das erarbeitete Gut ist ein Teil des Ich, ist mit ihm identisch, ist konkretes Ich. Hier liegt — so argumentiert er — die Unverletzlichkeit des Besitzes begründet. Aus dem erarbeiteten Gut wird durch Recht unaufhebbares Privateigentum. „Wer . . . Recht und Eigentum aufhebt, hebt die Persönlichkeit selber auf." 1 ) Denn nur eigener Besitz macht den Menschen zur Persönlichkeit.2) Eine solche überhistorische Ableitung des Eigentumsbegriffes muß sich mit aller Heftigkeit gegen jede Historisierung wenden. Privateigentum ist für Stein keine historische Kategorie, sondern absolut-gültiger Tatbestand und ewige Forderung, im Wesen des Menschen begründet (wie überhaupt seine Anthropologie manche naturrechtlichen Reste seines Denkens erklärt und eine konsequente Historisierung hemmt). Mit aller Schärfe trennt er sich von den das Privateigentum verneinenden kommunistischen und sozialistischen Bewegungen. Hier bricht die Leidenschaftlichkeit seines Denkens am heftigsten ') Stein, Gesch. d. soz. Bew., i . Bd., S. 18. 2) Vgl. Cieszkowski, Prolegomena, S. 142: „Erst als Eigentümer ist der Mensch eigener und eigentlicher Mensch, und dies ist die unmittelbarste Stufe seiner Konkretheit (!)".

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hervor. Proudhons Behauptung einer Identität von Eigentum und Diebstahl weist er nicht nur als falsch zurück, sondern bezeichnet sie als eine Roheit, die ihm schon Blanqui mit Recht vorwerfe. 1 ) Sein eigentlicher Angriff gilt dem Radikalismus des Kommunismus. Dieser erkläre das persönliche Eigentum „von vornherein für absolut falsch, und ohne die große Frage, die er berührt, ganz zu begreifen, zerhaut er Knoten" 2 ). Anders steht er schon zum Sozialismus. Obwohl auch er das Privateigentum verneint, will er doch weder eine plötzliche Verteilung des Vermögens noch die Verwirklichung der abstrakten Gleichheit, sondern will die Arbeit zum ordnenden Prinzip der Gesellschaft machen.3) Dieser bis jetzt entwickelte Steinsche Arbeitsbegriff, der bereits mit der Rechtfertigung des Privateigentums die gesellschaftswissenschaftliche Ebene betrat, wird aber erst dadurch zu dem gesellschaftswissenschaftlichen Zentralbegriff, daß von ihm das Phänomen der Gesellschaft abgeleitet wird. Das menschliche Zusammenleben hat seinen logischen Ausgangspunkt in dem Widerspruch zwischen der unendlichen Bestimmung des einzelnen und seiner endlichen, in Raum und Zeit beschränkten Kraft. Dieser Widerspruch drängt zu seiner Lösung. „Der einzelne a l s einzelner, auf sich selber allein angewiesen, b l e i b t ewig beschränkt; seine einzelne Kraft reicht kaum für das Nächste, geschweige denn für das Höhere aus. Es ist kein Zweifel, daß erst in der G e m e i n s c h a f t m i t a n d e r e n jeder einzelne seinen höchsten Zweck erreichen kann." 4 ) Diese notwendige Arbeitsgemeinschaft ist aber „mehr als ein bloßes Nebeneinanderstehen". Sie ist ein Organismus, der die Gemeinschaft durch Arbeitsteilung zur Einheit formt, den einzelnen als Glied in die Arbeitsfront einordnet und ihm eine bestimmte Arbeit übergibt, für die er sich mit seiner ganzen Persönlichkeit einzusetzen hat. „Die geteilten Arbeiten fangen daher an, ineinanderzugreifen; es entsteht der Grundsatz, daß einer nicht so sehr für den Genuß als für die A r b e i t des anderen arbeitet ; und so ergibt sich die Ordnung der menschlichen Arbeit." 5 ) Aber wie jede Ordnung, so schließt auch die Arbeitsordnung eine Gliederung, eine Schichtung, eine Ober- und'Unterordnung, eine Herrschaft der einen über die anderen ein. Diese kommt dadurch *) Stein, Stein, 3) Stein, *) Stein, 6) Stein,

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Soz. u. Kotn., i. Aufl., S. 323. a . a . O . , S. 68. Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 117 f. Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 442. a. a. O., S. 19.

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zustande, daß jede Arbeitsordnung zu einer „Verteilung der Güter" und diese wieder zu einer „Ordnung der Geltung" führt. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß durch diese notwendig entstehende Herrschaftsspannung aus der Gemeinschaft eine Gesellschaft wird.1) Für Stein ist diese Gesellschaft stets eine Klassengesellschaft. Da es, wie er meint, stets eine Arbeitsordnung, eine Schichtung und Einordnung geben wird, so wird auch immer die Gesellschaft in Klassen aufgeteilt sein. Für ihn ist die Tatsache der Gesellschaftsklasse sittlich gerechtfertigt. Aber — und das ist nun für seine historische und gesellschaftswissenschaftliche Anschauung von eminenter Bedeutung — es ist der Fehler der bisherigen Geschichte gewesen, daß die Klassengesellschaft bis jetzt fast immer innerlich nicht beweglich genug war. Von jeder gesunden Klassengesellschaft aber verlangt er, daß es dem einzelnen durch seine Arbeitskraft und seine Leistungsfähigkeit möglich ist, sich Eigentum und Geltung zu erwerben und in eine neue, höhere Klasse aufzusteigen. Diese Beweglichkeit erstarrt, wenn die besitzende Klasse mit ihrer Macht, die jedem Eigentum eigen ist, sich rechtlich von der anderen Klasse abriegelt, der Arbeit die Aussicht auf Besitzerwerb nimmt und die Aufstiegsmöglichkeit unterbindet. Die Folge ist, daß „die Arbeit ihren Adel in den Augen auch des Besseren" verliert und untergeht. Die Klasse wird, wie sich Stein gern auszudrücken pflegt, zum Stand und darüber hinaus zur Kaste; sie verfestigt sich, sie erstarrt.2) Es entstehen arbeitslose Klassen, die verzehren, aber nicht arbeiten, und abhängige, besitzlose, ausgebeutete Klassen, deren Arbeitskraft es nicht mehr möglich ist, sich Besitz zu schaffen. Diese starr gewordene, unbewegliche Ständegesellschaft ist das Ende aller Geschichte und aller J) ,,. . . der Besitz der in der G e m e i n s c h a f t Unterschiede setzt und also aus der G e m e i n s c h a f t erst eine G e s e l l s c h a f t machen soll" (Stein, Gesch. d. soz. Bew., i . Bd., S. 237). (Sperrdruck von mir.) Vgl. auch a. a. O., S. 42. 2 ) Diese Definition des Standes als einer verfestigten Klasse, in der die Geburt und nicht mehr die Leistung das dominierende Moment ist, finden wir in Steins gesellschaftswissenschaftlichem Denken bis etwa 1852. Von da ab (es ist die Zeit romantisch-konservativen Einflusses auf Stein) tritt der Standesbegriff in einer berufsständischen Bedeutung auf: Es ist die Rede von einem Lehrstand, einem Nährstand, einem Wehrstand usw. Anderseits wird der Standesbegriff zu einer historischen Kategorie. Die Ständegesellschaft ist nicht mehr die erstarrte Klassengesellschaft, sondern eine F o r m der Gesellschaft, vor allem die abendländisch-mittelalterliche, die sich von anderen Gesellschaftsformen abgrenzt.

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lebendigen Gesellschaft, die Arbeitsteilung und Schichtung, nicht aber absolute Herrschaft und Knechtschaft verlangt. Erst in einer „harmonischen Klassengesellschaft", die Arbeit zu Eigentum werden läßt und den Eigentümer zur Arbeit nötigt, in der an die Stelle eines unüberbrückbaren Klassenantagonismus eine Klassengemeinschaft und Klassenordnung tritt, wird die Gesellschaft die Funktion erfüllen, die ihr zukommt: „Der einzelne wird durch die Gesamtarbeit des Menschengeschlechts zur Herrschaft und zum Genüsse über den Stoff in einem Grade zugelassen, den er selber niemals erreichen würde; und wiederum arbeitet er mit seiner Fähigkeit und seiner Kraft nicht mehr für sich allein, sondern für alle. Er verschwindet als einzelner in dem organischen Erwerb des Ganzen, und dennoch fällt ihm als einzelnen in der Verteilung des Erworbenen mehr zu, als seine Arbeit für ihn selber je wert sein würde." 1 ) Eine solche Betonung des Kollektivs läßt es verständlich erscheinen, wenn Stein ein Gegner jedes einseitigen Individualismus ist. Er bekämpft ihn, da er jeden einzelnen auf sich selber anweist, nichts Höheres als das Individuum anerkennt und das Ganze dem einzelnen opfert. Mit aller Schärfe verurteilt er die Haltung Max Stirners und dessen „halb frivole, halb selbstgefällige Neigung, etwas Ungewöhnliches zu sagen . . " 2 ). Stirner macht das Ich zum „allein souveränen Herrscher, der, als Mittelpunkt alles Daseienden betrachtet, sowohl prinzipiell wie tatsächlich alle Dinge rein auf sich bezieht, an sich abmißt, nur für sich selber gelten läßt". Demgegenüber behauptet Stein, „daß der Mensch alles, was er ist und vermag, eben durch die E i n h e i t mit anderen ist und vermag". 3 ) Diese Einheit ist absolut notwendig, selbständig, über jede bloße Willkür erhaben. Die absolut freie Persönlichkeit ist eine bloße Abstraktion, als solche unwahr und unmöglich als Grund- und Schlußstein einer Philosophie. Über diese Ablehnung des Individualismus darf man aber doch nicht die Kompliziertheit des Problem: Individualismus — Universalismus bei Stein übersehen. Othmar Spann hat durchaus nicht unrecht, wenn er Steins Denken individualistisch nennt. Denn obwohl er nicht beim Individuum stehen bleibt, sondern zu überindividuellen Einheiten kommt, ist es doch richtig, daß das Individuum und seine Bestimmung der Ausgangspunkt seines Denkens ist und die Gemeinschaft dadurch, daß sie durch die Stein, Gesch. d. soz. Bew., i . Bd., S. 466. Über seine Stellung zu Stirner vgl. Soz. in Deutschi. 1852, S. 552. 3) Stein, Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 189. 2)

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„Unzulänglichkeit des Einzeldaseins gegenüber seiner Aufgabe" entsteht, zu einer vom Individuum abgeleiteten Größe wird.1) Für ihn ist der einzelne und seine Vollendung das innere Ziel der Geschichte; immer wieder betont er, „daß die freie Persönlichkeit das edelste Gut der Welt ist". Zwar ist sie nicht ohne Gemeinschaft möglich, zwar erreicht sie erst in ihr und durch sie ihr Ziel — und doch ist und bleibt das Individuum und seine Freiheit der Punkt, um den sein Denken kreist. Von der Staats- und Gesellschaftswissenschaft verlangt er, daß sie sich am Individuum und seiner Bestimmung orientiere, ihren Forschungswillen auf die individuelle Persönlichkeit ausrichte. Hier kann — so meint er — die deutsche Wissenschaft vom französischen Sozialismus und Kommunismus lernen.2) Dieses individualistische Denken kann aber nur mit aller Vorsicht Individualismus genannt werden. Für Stein ist die Einheit der Menschen keine Summe von Elementen, keine künstliche, durch Vertrag zustande gekommene Gemeinschaft, sondern ist als Gemeinschaft etwas qualitativ Neues: ein Organismus, eine selbständige Form des Lebens.3) „Kein Mensch, und wäre er noch so gewaltig oder noch so gleichgültig, hat jemals jenen Schwingungen des Lebens der Gemeinschaft widerstehen, sich ihnen entziehen können, denn in der Tat ist das Leben dieser Gemeinschaft Licht, Luft und Erde für das Leben jedes einzelnen."4) Sie lebt x

) Vgl. Spann, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 95 (Dresden 1907). ) Interessant ist in diesem Zusammenhang die Ansicht Steins über die Entwicklung der Nationalökonomie. Hat sie zunächst über den Nutzen des S t a a t e s und seinen Reichtum und seine Bedürfnisse nachgedacht und dann bei Adam Smith die Idee des Volksvermögens, des Commonwealth, in den Mittelpunkt ihres Blickfeldes gerückt, so ist es für die neueinsetzende Epoche der gesellschaftswissenschaftlichen Nationalökonomie charakteristisch, daß sie auf den e i n z e l n e n und seine materielle Wohlfahrt reflektiert (vgl. Stein, Der Begriff der Arbeit, S. 235 ff.). ®) Es ist notwendig, hier auf den Begriff des Organismus andeutungsweise einzugehen. Wie sich die Vorstellungen über das Wesen des Organismus sehr gewandelt haben, obwohl der Begriff derselbe geblieben ist (vgl. Erich Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jahrhunderts), so ist auch Steins Organismusbegriff nicht eindeutig. Bis zu seiner romantisch-konservativen Wendung spricht er vom Organismus in der Bedeutung geschichtete Ordnung, Organisation; später gibt er ihm eine organologische Färbung. Er spricht vom „gesunden" und „kranken" Organismus, bewegt sich also jetzt in der Begriffswelt der romantischen Organologie, ohne allerdings in einen Biologismus zu verfallen, der ja auch der Romantik und der Historischen Schule durchaus noch fernliegt. *) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 30. 2

- 49 neben dem einzelnen, unabhängig von dessen Willkür, ein selbständiges und absolut notwendiges Leben. J a , bereits mit dem B e g r i f f der Bestimmung des einzelnen setze ich die Notwendigkeit und das Wesen menschlicher Gemeinschaft. Aus dieser Gegenüberstellung seines individualistischen und seines kollektivistischen Poles ist wohl deutlich geworden, daß er zwischen beiden steht und mit beiden ringt. Damit wird er zum typischen Repräsentanten des 19. Jahrhunderts. Kant, Fichte, selbst Hegel und die Historische Schule ringen mit beiden. Aus der Opposition gegen die einseitig individualistische Aufklärung wächst ein Kollektivismus, der in Hegel seine Krönung findet, aber auch noch bei ihm versucht, den Individualismus aufzuheben, ihn nicht einfach beiseite zu schieben. Man versucht, zwischen Individualismus und Kollektivismus zu vermitteln. Dasselbe gilt auch noch für die nachhegelischen Generationen. Und doch kann man wohl, aus einer größeren Distanz sehend, sagen, daß der Schwerpunkt zu verschiedenen Zeiten verschieden gelegen hat. Noch Fichtes Denken ist trotz aller inneren Wandlungen stark individualistisch eingestellt. Aber die Betonung des Individuellen schwindet immer mehr, bis Hegels Panlogismus die überindividuellen Ganzheiten zum letzten Wertmaßstab macht. Von da ab setzen erneute individualistische Tendenzen ein, die vor allem im Junghegelianismus ihren Ausdruck finden. Fichte und sein humanistisches Prinzip der freien Einzelpersönlichkeit werden von einer neuen Generation gefeiert, zu der auch Stein gehört. Auch er gehört in jene Rückbewegung zum Individualismus hinein. Schon seine Neigungen zur psychologischen Analyse mußten ihn zu einer mehr oder weniger individualistischen Auffassung des menschlichen Lebens führen. Wenn er auch in hegelischenWendungen von den transpersonalen Wesenheiten schwärmt, so darf doch sein Unterschied zu Hegel, der bereits in seinem Ansatz begründet ist, nicht übersehen werden: Hegels objektiver Geist ist eine Stufe der geistigen Idee, die Inkarnation metaphysischer Substanz; Steins „objektiver Geist" ist das Ergebnis der Notwendigkeit einer A r b e i t s t e i l u n g und eines gemeinsamen S c h a f f e n s . Beiden gemeinsam ist, daß erst in der objektiven Ganzheit der einzelne geschichtlich relevant wird. Steins Arbeitsbegriff, der uns bis jetzt zur Frage des Privateigentums, zur Ableitung des Gesellschaftsbegriffes und zum Problem des Individualismus führte, nötigt uns aber gerade wegen seiner Zentralstellung in seinem Denken zu einer einschränkenden Schlußbemerkung. Beiheft d. H . Z. 36.

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Es ist die Bestimmung des Menschen — so behauptet Stein —, vollendete Persönlichkeit zu werden. Dazu ist Arbeit nötig. In der Arbeit, in der Gestaltung und Formung der Dingwelt kommt er zur Vollendung. Im Schaffen und Tätigsein wächst er seiner Bestimmung entgegen. Diese Bedeutung des Arbeitens und Schaffens wird aber abgeschwächt durch das Auftauchen anderer Gedankengänge. Das Geschaffene wird zur B a s i s der Vervollkommnung. Das Erarbeitete wird äußeres Mittel, das notwendig ist, um sich, arbeitsfrei, bilden zu können. Besitz wird Voraussetzung der Bildung. Diese Akzentverlagerung von Arbeit auf Bildung hängt zusammen mit einer inneren Wandlung seiner Gesellschaftsauffassung. Die Gesellschaft wird aus einer Arbeitsgemeinschaft zu einer vorwiegend geistig-sittlichen Gemeinschaft. Der Akzent verlagert sich vom arbeitenden Menschen, der bis zum Einbruch romantisch-konservativen Denkens (um 1851) der Zentralbegriff seiner Gesellschaftswissenschaft gewesen war, auf den nach Geltung und Ehre in einer geistig-sittlichen Ordnung strebenden Menschen. Das Streben nach Ehre und Macht wird der „Sporn zur Arbeit". Diese nicht leicht faßbare innere Verlagerung wird noch einmal durchsichtig, wenn wir das Problem des arbeitslosen Einkommens aufwerfen, mit dem wir die Untersuchung des Steinschen Arbeitsbegriffes abschließen wollen. Nachdem zunächst Stein mit aller Leidenschaftlichkeit jedes arbeitslose Einkommen als unsittlich, die Gesellschaft zerstörend, die Arbeit als wichtiges Element des Besitzes hingestellt hat, erscheint 1852 ein wichtiger Aufsatz über das arbeitslose Einkommen und seine Berechtigung für eine herrschende und führende Schicht. Diese neue Einstellung zum Arbeitsbegriff zeigt, daß der ursprüngliche Arbeitsbegriff, den wir der unter französischen Einfluß stehenden realistischen Epoche Steinschen Denkens zu verdanken haben, durch eine romantische Wendung aufgelockert und damit auch seine Schau der Gesellschaft eine andere wird. Diese Akzentverlagerung bedeutet aber keinesfalls eine Ausschaltung des Arbeitsbegriffes. Die Arbeit bleibt eines der wichtigsten Momente seiner Gesellschaftsphilosophie. Auch jene ein arbeitsloses Einkommen beziehende Schicht darf nicht untätig sein. Ihre Aufgabe ist die des sozialen Ausgleiches, die Stein einige Jahre später gesellschaftliche Arbeit nennt. Der Arbeitsbegriff wird also erweitert, vergeistigt. Und diese Wandlung, die die Bedeutung der Arbeit in seinem Denken durchmacht, gilt es zu sehen.

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3. DER SINN D E R GESCHICHTE. Mit der Frage nach dem Sinn der Geschichte stoßen wir nicht nur auf die logisch höchste Frage jeder Geschichtsphilosophie, sondern berühren auch eine im Irrationalen fundierte Schicht des Steinschen Denkens. Für ihn ist der Sinn der Geschichte die Überwindung eines ungerechten Gesellschaftszustandes, der den seinem Wesen nach freien Menschen unfrei macht, und die Herbeiführung einer neuen Gesellschaftsordnung, die die Freiheit des Menschen ermöglicht und garantiert. F r e i h e i t ist der Sinn der G e s c h i c h t e : das ist der Grundton, der alle Saiten seines geschichtsphilosophischen Denkens zum Mitschwingen bringt, ihn aber auch zum Teilhaber an einem Gedankengut werden läßt, das weit über ihn und seine Generation hinausgreift. Freiheit ist der Sinn der Geschichte: das ist das Grundthema, das das gesamte Geistesleben der Zeit in seinen Bann schlägt, sowohl die deutsche Philosophie und Dichtung als auch die französische, positivistisch gerichtete Gesellschaftswissenschaft, sowohl das aufklärerische als auch das romantische und transzendental-philosophische Denken, sowohl den Aktivismus des französischen Sozialismus und des deutschen Junghegelianismus als auch den Quietismus Hegels und der Historischen Schule. Bei dieser Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit des Freiheitsbegriffes ist es notwendig, den Steins näher zu umreißen, indem wir seinen Freiheitsbegriff von dem der wichtigsten Vertreter einer geschichtsphilosophischen Freiheitslehre abgrenzen. Von Hegel trennt ihn seine anthropologisch-realistische Wendung. Freiheit ist nicht mehr die Freiheit der zu sich selbst kommenden Weltvemunft, die Freiheit des sich erkennenden, selbstbewußten Weltgeistes, sondern die Freiheit der einzelnen konkreten Persönlichkeit. Ein Schlaglicht auf dieses Problem wirft eine kurze, aber klare Auseinandersetzung mit Hegel in einem Aufsatze über den Sozialismus in Deutschland im Jahre 1844.1) Er sagt an einer Stelle: „Die Hegeische Philosophie hat keinen Begriff der einzelnen Persönlichkeit, sondern nur den der Persönlichkeit überhaupt..." Diesen Satz ergänzt er durch eine Anmerkung, die seine Kritik noch mehr verdeutlicht: „Nur so werden Sätze möglich, wie die Hegels in seiner Staatsphilosophie: ,daß alle Menschen ein Auskommen für ihre Bedürfnisse haben, ist nur ein moralischer, nichts Objektives seiender Wunsch' (§ 49) — was am deutlichsten zeigt, wie unbestimmt ihm der ') Stein, Soz. u. Kom. in Deutschi. 1844, S. 59 f.



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Gedanke der W i r k l i c h k e i t seines Begriffs der Persönlichkeit geblieben ist." Ein solcher realistischer, auf den Menschen und seine konkrete Situation bezogener Freiheitsbegriff1) mußte zu einer Haltung führen, die einer naturrechtlich-individualistischen Auffassung des Freiheitsproblems nicht allzu fern steht. Auch er ist — wie Marx, Heß, Grün und andere — der Auffassung (die immer wieder durch seine Werke und Aufsätze hindurchklingt), daß die freie Entwicklung des einzelnen das Maß und die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Trotz dieser individualistischen Färbung grenzt er aber, inhaltlich gesehen, seinen aus dem Geiste des deutschen Idealismus und der Romantik geborenen Freiheitsbegriff sehr klar und nicht ohne leidenschaftliche Polemik gegen den französischpositivistisch-naturrechtlichen Individualismus ab. Sein Freiheitsbegriff ist seinem inneren Halt und seiner inneren Struktur nach weniger ein naturrechtlicher als ein spinozistischer, oder, in der Terminologie jener Zeit ausgedrückt, seine Freiheit ist weniger eine „abstrakte" als eine „konkrete" Freiheit.2) Von dieser seiner deutschen Sicht des Freiheitsproblems aus kommt er zu einer scharfen Ablehnung des französischen Sozialismus, vor allem aber des Kommunismus und ihres naturrechtlich-aufklärerischen Freiheitsbegriffes.3) Er wirft ihnen vor, ihre Freiheit sei nur eine abstrakte Freiheit, da sie vom B e g r i f f des Menschen, nicht aber von einem Menschen aus Fleisch und Blut abgeleitet sei. Das begriffliche Dasein des Menschen sei nicht sein wirkliches Dasein, sondern „nur ein Moment". Jeder Mensch sei mehr als sein Begriff. Diese ') Dieser anthropologisch-realistische Freiheitsbegriff ist ebenso dem Junghegelianismus eigen. Vgl. den Freiheitsbegriff bei Rüge: E s gibt ,,. . . keine reellere Frage der Freiheit als die, alle Menschen zur Würde des Menschen zu erheben, und die Welt hat sich mit ihr zu beschäftigen, bis sie gelöst ist". 2

) Nicht nur Stein, auch andere Junghegelianer gebrauchen die besonders vom Konservativismus gern gebrauchten Termini: konkrete und abstrakte Freiheit. — ,,Wie die k o n k r e t e Freiheit das h ö c h s t e G u t ist, so ist also die abstrakte Freiheit das höchste Übel, die wirkliche soziale Erbsünde . . . " (Cieszkowski, Prolegomena, S. 151). 3 ) Bereits diese oppositionelle Haltung Steins gegenüber dem Freiheitsbegriff der Franzosen und seine Unterscheidung von konkreter und abstrakter Freiheit läßt einen allzu engen Zusammenhang der Steinschen Freiheitsidee mit der naturrechtlichen Interpretation der Gesellschaft nicht ohne weiteres zu, wie es Landshut tut (Kritik der Soz., S. 1 1 6 ff.).

- 53 abstrakte Freiheit, die er auch „ a l t e " Freiheit nennt 1 ), sei identisch mit der französischen „liberté", die das Recht jeder Gemeinschaft verneine. Ihre Verwirklichung sei ein absolutes Unding; sie treibe zu Chaos und Anarchie. Sie sei für Götter bestimmt, nicht aber für Menschen, wie es — so frohlockt er — bereits Rousseau zugestanden habe.2) Aus diesem Grunde bekämpft er den Kommunismus, der mit seiner Freiheitsforderung jede Gemeinschaft und damit jede w i r k l i c h e Freiheit aufhebt. Er bekämpft aus demselben Grunde den Republikanismus, der der staatlich-politische Ausdruck der abstrakten Freiheit ist und als solcher stets dem Kommunismus vorangeht. Und er bekämpft aufs schärfste den nach seiner Meinung extrem-kommunistischen Freiheitsbegriff Weitlings. „Nur die klägliche Geistesverwirrung eines Weitling und Genossen kann von dem Rechte eines stehlenden Proletariats sprechen". Eine solche Idee ist „eine Gemeinheit", der man nur mit dem Gefühl des Widerwillens gegenüberstehen kann.3) Dieser Kampf bedeutet aber für ihn als Hegelianer nicht ein Ausstreichen des Gegners als einer bloß hemmenden, vollkommen unproduktiven Existenz. Abgesehen davon, daß er in Weitling und seinen Forderungen eine solche, mit Hegel gesprochen „faule Existenz" sieht, ist der Freiheitsbegriff des theoretischen Kommunismus zwar negativ, aber als etwas Negatives Vorstufe des Positiven. Er ist Verneinung, Ablehnung, ohne jede Gestaltungskraft, aber er ist auch Vorstoß, Anregimg, überspitzte Forderung, die eine philosophische Durcharbeitung und Klärung verlangt. Aber trotz aller versuchten Rechtfertigung des Kommunismus als zwar negative, aber anregende Stufe in der Entwicklung des Freiheitsbegriffes ist Stein ein fanatischer Gegner dieser abstrakten Freiheit, da sie, im Proletariat als revolutionäre Forderung lebend, auf ihre Verwirklichung drängt. Das aber bedeutet für ihn nichts anderes als die Herbeiführung eines chaotischen Zustandes „des reinen Nebeneinanderstehens, des Nichtgehorchens, der Unterwerfung aller Ordnung unter die Willkür der einzelnen".4) Freiheit aber ist nicht abstrakte und negative Freiheit, Freiheit v o n etwas, sondern konkrete und positive Freiheit, Freiheit für etwas. *) Stein, Stein, 3) Stein, ') Stein, 2)

Soz. u. Kom., Soz. u. Kom., Gesch. d. soz. Soz. u. Kom.,

i. Aufl., 2. Aufl., Bew., 1. 2. Aufl.,

S. 117. S. 445. Bd., S. 116. S. 188.

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Der Mensch ist frei, wenn er — ganz im Sinne des deutschen Idealismus — seinem Wesen, seiner Idee nach handelt, wenn er seine Bestimmung als Mensch erfüllt. Die Bestimmung des Menschen ist, wie wir feststellten, die Arbeit, wir können jetzt sagen: die f r e i e Arbeit. Und freie Arbeit ist nur dort, wo die Arbeit durch Erwerb zu Besitz kommen kann; unfreie Arbeit dagegen dort, wo die Arbeit von einer herrschenden Klasse beherrscht, geknechtet, ausgebeutet wird. ,,. . . die Voraussetzung aller Freiheit (ist) die Harmonie von Arbeit, Erwerb und Besitz.." 1 ) Aber Steins Freiheit ist noch mehr. Die Arbeit ist, wie wir früher auch sahen, nicht die Arbeit eines isolierten Individuums, sondern ist notwendig eingegliedert in den Rahmen einer Gemeinschaft von Menschen. Unter diesem Aspekt wird Steins konkrete Freiheit zu einer F r e i h e i t der E i n o r d n u n g , zu einer Freiheit des „bewußten Gehorsams".2) Erst wenn der Mensch sich als Glied fühlt, um seine Beschränktheit und seine Abhängigkeit weiß und sich einordnet, ist er frei; erst wenn er die Uberordnung der Gemeinschaft anerkennt, ist seine Freiheit wirkliche Freiheit. Dann wird Pflicht als gewollte Pflicht zur Freiheit.3) Diese Freiheit der freiwilligen Einordnung ist nur möglich in einem Zustande der Bewußtheit. Von jener abstrakten, negativen Freiheit sagt Stein bezeichnenderweise, sie sei ,,die Freiheit . . . des Kindes, die nicht das Vermögen hat, auch noch in dem Bestimmtsein frei zu bleiben." 4 ) Und daß die von ihm geforderte konkrete Freiheit ein gereiftes Bewußtsein voraussetzt, also den engen Zusammenhang von Freiheit und Bewußtsein betont, zeigt, wie sehr er in dem geistigen Räume des deutschen Idealismus lebt. Besonders bei Hegel wird es deutlich, wie Freiheit und Bewußtsein, die beiden Kategorien des Geistes, eng zusammengehören. Auch für Stein ist unter einer geschichtsphilosophischen Sicht die bewußte Freiheit der Sinn und das letzte Stadium der Geschichte. Es ist — beide Momente der Freiheit noch einmal zusammengefaßt — das Stadium, in dem, vom Individuum aus gesehen, die Möglichkeit des freien Schaffens und des freien Erwerbs gegeben ist, und in dem, von der Gesellschaft aus betrachtet, der einzelne zur gewollten Einordnung und Anerkennung der übergeordneten Einheit kommt. *) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 155. Stein, Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 121. 3) Neben Hegels Freiheitsbegriff ist hier der des späten Fichte wichtig, für den der Mensch erst innerhalb der Gemeinschaft frei ist. 4) Stein, Soz. u. Kom. in Deutschi. 1844, S. 22. 2)

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Freiheit des Menschen als Sinn der Geschichte heißt also nicht Herbeiführung des absolut freien Zustandes ohne jede Herrschaft, ohne jeden Dienst, ohne jeden Gehorsam, ohne jede Schichtung in Arme und Reiche, heißt nicht Aufhebung der Klassengesellschaft (!), heißt überhaupt nicht Herbeiführung eines Endz u s t a n d e s der absoluten Ruhe und des Glückes. Geschichte hört nicht auf. Sie bleibt Bewegung, unendlicher Prozeß. Hier zeigt sich Steins der Romantik und der Historischen Schule nahestehendes dynamisches Denken, das sowohl zum Optimismus des aufklärerischen und utopischen Sozialismus als auch zu Hegel im Gegensatz steht; denn auch dessen Endzustand der Weltgeschichte ist eine geschichtslose und damit zeitlose Ewigkeit. Geschichte ist für Hegel zu Ende. Die Epoche des zu sich selbst gekommenen Weltgeistes ist ein Endzustand, dem jede echte Zeitlichkeit fehlt. Anders Stein. Die Überwindung der Epoche der Unfreiheit soll eine Epoche einleiten, die nicht Ruhe, nicht Zustand, sondern Bewegung ist. „Es gibt für menschliche Erkenntnis keinen absolut richtigen und damit l e t z t e n Zustand der gesellschaftlichen Harmonie. Der Mensch kann nicht das Letzte und absolut Gute denken, weil er selber nicht absolut gut ist; er s o l l es nicht, damit er im Werden des Besseren nicht die Liebe zum Guten, das auch in dem Mindervollkommenen liegt, verliere. Das wahre Wesen aller Harmonie der Gesellschaft liegt vielmehr darin, daß nicht der Zustand, sondern daß die B e w e g u n g der G e s e l l s c h a f t eine harmonische sei. Die Harmonie der Gesellschaft ist daher die H a r m o n i e der K r ä f t e , welche die Entwicklung der Gesellschaft bestimmen." 1 ) Diese Harmonie der Kräfte aber bedeutet nichts anderes als die Harmonie der Klassen. Die neue Epoche soll sich dadurch auszeichnen, daß die Klassen um ihre gegenseitige Abhängigkeit und das Aufeinanderangewiesensein wissen, daß es für jeden einzelnen möglich sein muß, durch seine Leistung in eine höhere Klasse überzugehen.8) Erst wenn diese Chance des Aufstiegs, die sich in der augenblicklichen geschichtlich-gesell*) Stein, System II, S. 235. 2) Ähnlich wie Stein fordert aber auch schon Hegel in seiner Gesellschaftsphilosophie die innere Beweglichkeit des Gesellschaftslebens: Die Zugehörigkeit zu den einzelnen Ständen muß das Werk des freien Willens sein. Hier liegt für ihn auch der Unterschied zwischen dem politischen Leben der antiken und dem der modernen Welt. Eine Unterbindung der inneren Beweglichkeit führt entweder zum Chaos (griechischer Staat und römische Republik) oder zur „inneren Verdorbenheit und vollkommenen Degradation" (Lakedämonier und Inder). (Vgl. Hegel, Rechtsphilosophie § 206.)

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schaftlichen Situation zu der Möglichkeit des Kapitalerwerbs für den besitzlosen Proletarier konkretisiert, erfüllt ist, können wir von einer Harmonie der Bewegung, von wirklicher Freiheit sprechen. Aber wenn auch die Geschichte, wie wir eben gesehen haben, für Stein nicht zu Ende geht, nicht einen Zustand der absoluten Ruhe erreicht, sondern Bewegung bleibt, so fehlt ihr doch nicht das chiliastische Moment. Mit der Epoche der Harmonie der Bewegung wird zwar nicht ein Zustand des absoluten Glücks, wohl aber der Sinn der Geschichte, die Verwirklichung der Freiheit erreicht sein, und damit eine letzte und höchste Stufe, auf der „die ewige Harmonie der Bewegung die Verkünderin der Nähe der Gottheit ist". 1 ) Diese letzte Stufe ist nicht eine Zeit des Genießens, des Fertigseins, sondern des Schaffens, ja mit ihr wird erst die Epoche der Arbeit, der gemeinsamen Arbeit, der freien Arbeit einsetzen. 4. DIE HISTORISCHEN T R I E B K R Ä F T E . Die geistesgeschichtliche Stellung Steins und die Schichtung und Vieldeutigkeit seines Denkens wird am deutlichsten, wenn man nach dem Agens der Geschichte fragt. Stein wächst im Banne eines Lebensgefühls auf, für das metaphysisch-transpersonale Kräfte das Geschehen bestimmen, die vordergründige historische Welt beherrschen. Hegel ist sein wesentlichster Repräsentant. Für ihn ist der Weltgeist die unendliche Substanz und die gewaltige Triebkraft der Geschichte. Der absolute Geist hat in sich den Trieb zur Selbstbewegung und Selbstentfaltung. Er realisiert sich, indem er die einzelnen Stufen der Geschichte durchläuft. Die in der empirischen Welt feststellbaren physischen und psychischen Fakta, die Tätigkeiten, Bedürfnisse und Leidenschaften der Menschen sind nur ein Mittel der absoluten Vernunft, die diese physischen und psychischen Triebkräfte mit Hilfe einer „List" auf den absoluten Zweck ausrichtet. Der Mensch, auch der große Einzelne, wird zur Marionette, zum Werkzeug des Weltgeistes, des Hegeischen Gottes. Das ganze geschichtsphilosophische System ist im Grunde Religionsphilosophie.2) Der Weltprozeß ist die Realisation Gottes. Eine solche theologisch-metaphysische Ausdeutung des weltgeschichtlichen Werdens ist nicht nur das Eigentum Hegels, Stein, a. a. O., S. 250. ) Vgl. Nie. Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, 2. Teil, S. 23 f. ä

- 57 sondern das des gesamten geschichtsphilosophischen Denkens der Zeit und noch in Ranke lebendig. Auch Stein steht zweifellos unter dem Einfluß dieser metaphysischen Geschichtsphilosophie. Er kennt, besonders am Anfang seiner gesellschaftswissenschaftlichen Untersuchungen (1842), aber auch noch in den fünfziger Jahren ein allgemeines metaphysisches Prinzip, das die Geschichte leitet. Er nennt es Geist, Prinzip, allgemeiner Gedanke, allgemeine Idee, allgemeines Gesetz, das Allgemeine, B e g r i f f der Zivilisation. Er spricht von der Idee, die den einzelnen rücksichtslos erfaßt und über ihn hinwegschreitet ihrer Vollendung entgegen. „Ob er es vermag, ihre Last zu tragen oder nicht, ob er leidet, ob er siegt, ob er untergeht, sie achtet es nicht; denn sie muß sich erfüllen." 1 ) Er spricht von dem allgemeinen Gedanken, der die Welt bewegt und „in der engen Werkstatt der einzelnen Menschenbrust" arbeitet. Hier schafft er, was er will.2) Und doch ist es schon nicht mehr der Weltgeist im streng Hegeischen Sinne. Es fehlt dem allgemeinen Gedanken, der allgemeinen Idee, dem die Geschichte tragenden Prinzip die Autorität eines theologischen Begriffs, die der Hegeische Weltgeistbegriff noch hatte; sie verlieren ihr metaphysisches Attribut, denn sie sind von Stein trotz aller hegelisch klingenden Formulierungen realistischer, menschlicher gemeint als Hegels unendliche Weltsubstanz, die sich in der Geschichte entfaltet. Wir spüren bereits hier trotz aller Affinität zu Hegel eine anthropologisch-psychologische Wendung, die ja nicht nur für Stein, sondern für die gesamte nachhegelische geschichtsphilosophische Reflexion charakteristisch ist. Bereits in Humboldts und später in Rankes Ideenlehre finden wir das Ineinander und Nebeneinander metaphysisch und psychologisch faßbarer Grundkräfte der geschichtlichen Entwicklung.3) Diese Wendung und innere Umstellung Steins von einem universalteleologischen zu einem individualteleologischen Aspekt des Problems der historischen Triebkraft tritt noch klarer hervor, je mehr er von Hegels Metaphysik abrückt. Bei seiner schon oft deutlich gewordenen realistischen Einstellung zur Welt, zur Geschichte, zum Menschen ist es verständlich, wenn er zu einer für ihn wesentlicheren Sicht des Problems kommt, indem er dem Weltgeist seine umfassende, alles beherrschende Rolle nimmt und *) Stein, Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 1 5 5 . 2 ) Stein, a. a. O., S. 124. Ähnlich: Gesch. d. soz. Bew., 2. Bd., S. 1 1 3 . 3 ) Vgl. E d . Spranger, Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. — Aus dieser Untersuchung Sprangers übernehme ich auch das Begriffspaar Universalteleologie und Individualteleologie.

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den Menschen zur eigentlichen causa movens des Geschehens macht. Wir berühren damit eine Schicht seines Denkens, die den die Idee der Freiheit, der freien Persönlichkeit tragenden Menschen in den Mittelpunkt des Interesses rückt. Jetzt treibt das Individuum als Träger dieser Idee die Geschichte vorwärts, und die Idee selbst wird mehr oder weniger zu einem psychologischen Phänomen. Das Individuum ist nicht mehr das überlistete Individuum Hegels. Der Akzent hat sich von der allgemeinen historischen Substanz auf das konkrete historische Individuum verlagert. Die Idee ist vorwiegend Willensmotiv und vorwärtstreibender Gedanke. Solange jedoch Stein von der im Menschen wirksamen Freiheitsidee als der historischen Triebkraft spricht, ist sie zwar schon psychologisches Faktum, hat aber als ideelle Kraft immer die Tendenz, sich zu hypostasieren und sich den Nimbus eines metaphysisch-objektiven Prinzips zu geben. Zu einer weitgehend immanent psychologischen und damit wirklich ametaphysischen Auffassung kommt er erst durch die Einführung seines I n t e r e s s e n begriffes als des Prinzips der historischen Bewegung. Vor allem ist seine „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich" (1850) für seine interessen-psychologische Wendung wichtig. Die Geschichte ist eine „Bewegung der Interessen". „Das I n t e r e s s e , indem es den Mittelpunkt der Lebenstätigkeit jedes einzelnen in Beziehung auf jeden anderen, mithin der ganzen gesellschaftlichen Bewegung abgibt, ist daher das P r i n z i p der G e s e l l s c h a f t " . 1 ) Es ist das herrschende Element des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins. Es ist das Interesse an Gütern, an der Befriedigung eines „unabänderlichen Bedürfnisses nach Herrschaft über den Stoff und nach dem Genüsse, welcher in dieser Herrschaft liegt", das das Geschehen vorwärts treibt. Die Klassen, die sich auf Grund dieses Interesses formieren, sind Interessenklassen, ihre Kämpfe Interessenkämpfe. Mit der Einführung dieses Interessenbegriffs ist also ein sehr realer Faktor das die Geschichte vorwärtspeitschende Motiv geworden. Und doch wäre auch hier eine Verallgemeinerung eine Vergewaltigung des Steinschen Denkens. Darum ist, wie oft, eine Einschränkung notwendig. Es taucht immer wieder neben der realen Kraft, dem Interessenbegriff, eine ideale Kraft, die Idee der freien Persönlichkeit, als Agens der Geschichte auf, ganz abgesehen davon, daß oft das Interesse selbst (besonders das Interesse *) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 43.

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der aufstrebenden Klasse) die Idee der Freiheit involviert und damit Interesse und Idee identisch werden läßt. Daß aber Stein — trotz dieser Einschränkung — bereits mit der Einführung des Interessenbegriffs eine ganz neue, jedem einseitigen Idealismus fernliegende Denkebene erreicht, kann, gerade wenn es um eine geistesgeschichtliche Einordnung Steins geht, nicht genug hervorgehoben werden. Es ist der wenn auch vorsichtige Schritt von dem geheimnisvollen Wirken eines Weltgeistes und den Ideen als geistigen Triebkräften zu realen Bedürfnissen und Trieben, von einer metaphysischen zu einer psychologischen Notwendigkeit, von dem Begriff der Idee zum Begriff des Triebes, vom Idealismus zum Positivismus, unter dem wir hier, auf einige knappe Formeln gebracht, die Bewegung verstehen wollen, die das Allgemeingültige nicht mehr in Nonnen, sondern in Naturgesetzen sucht, die nicht auf den Zweck, sondern die Ursache reflektiert, für die nicht mehr eine teleologische, sondern eine kausale Beweisführung gültig ist. Daß Stein bereits seinen Zeitgenossen als Positivist erschien, zeigt eine Auseinandersetzung Karl Grüns mit der ersten Auflage seines Buches über den „Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs". 1 ) Er wirft ihm vor, daß er die proletarische Bewegung auf einen Kampf der Arbeitskraft mit dem Kapital zurückführe und damit entmündige. Er habe die edlen Triebe des Menschen ignoriert und die „plumpe Sache" (!) höher gehalten „als lebendigen Geist". Stein ist, wie auch hier wieder deutlich wird, einer derjenigen Junghegelianer, die am meisten unter dem Einfluß des positivistischen Sozialismus der Franzosen stehen. Bereits 1842 setzt er sich mit der Trieblehre Fouriers auseinander, die, trotzdem er ihr sehr kritisch und letztlich auch ablehnend gegenübersteht2), Eindruck auf ihn gemacht und sicher manches zu seiner anthropologisch-psychologischen Besinnung beigetragen hat. Ähnliches gilt für seine Auseinandersetzimg mit der Interessenpsychologie der Aufklärung, mit Diderot und Helvetius.3) Er opponiert, aber er opponiert als einer, der dem Spiritualismus der Hegelzeit schon sehr fern, einem realistischen Weltgefühl aber ') Karl Grün, Der Soz. u. Kom. des heutigen Frankreichs, S. 262 f. Vgl. auch Koigen, Zur Vorgeschichte, S. 222 f. und Peter v. Struve, Studien und Bemerkungen zur Entwicklungsgeschichte des wissenschaftlichen Sozialismus. (In: Neue Zeit, 15. Jahrg., 2. Bd., S. 228—235 und 269—275.) *) Vgl. 2. Kapitel, I. Abschnitt dieser Arbeit. 3 ) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 2. Bd., S. 128 f. — Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Terminus Interesse seinen Vorläufer im intérêt personel der Franzosen, nicht im Hegeischen Interessenbegriff hat.

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sehr nahe steht. Nicht ohne innere Verpflichtung fühlt er sich als Verwalter und Fortsetzer des französischen Erbes. Wenn er auch versucht, es innerlich umzugestalten und zu vertiefen, die Triebund Interessenlehren zu vergeistigen, aus dem bloß egoistischen Besitzinteresse ein Interesse an der Arbeit und Gestaltung der Dingwelt, aus dem Genießen ein höheres Genießen zu machen, so bleibt er doch bei einer anthropologisch-psychologischen Deutung der geschichtlichen Kräfte. Diese psychologische Deutung der historischen Triebkräfte ist aber noch insofern einer Wandlung unterworfen, als der Interessenbegriff allmählich durch den Begriff des G e l t u n g s strebens verdrängt wird. Das Streben nach Geltung im gesellschaftlichen Räume wird die innere Triebkraft des Geschehens. Obwohl der Geltungsbegriff bereits sehr früh im Denken Steins auftritt, so drängt er sich erst dann stärker in den Vordergrund, nachdem Steins Gesellschaftsauffassung die innere Wandlung von der Wirtschaftsgesellschaft zum geistig-sittlichen Organismus der Gesellschaft durchgemacht hat. Diese historischen Kräfte: zunächst das Freiheitsstreben, dann das Interesse und schließlich das Geltungsstreben, die bei Stein durchaus nicht klar zu scheiden sind, sind die Kräfte des bisherigen Geschichtsverlaufs gewesen. Sind sie aber nun auch fähig, die Geschichte zu ihrer letzten und höchsten Stufe, zur Stufe der harmonischen Bewegung emporzuführen? Widerspricht nicht jedes Interesse, jedes egoistische Macht- und Geltungsstreben einem harmonischen Geschichtsverlauf ? Steins Optimismus geht nicht so weit, von einem absolut freien Spiel der gegeneinander streitenden Interessen und Kräfte ein harmonisches Ende zu erwarten. Er glaubt nicht mehr an jene List der Vernunft, die den Antagonismus gelten läßt und doch alles zum besten wendet. Die bisherigen Geschichtskräfte haben zwei Kulturräume (Griechenland und Rom) zum Niedergange und jetzt auch das Abendland in ein Stadium geführt, das es vor die letzte Entscheidung stellt. Diese Entscheidung heißt: Einsicht oder Untergang. Zwar soll das Interesse weiterhin die geschichtliche Triebkraft bleiben, jetzt aber nicht mehr das Interesse schlechthin, sondern das einsichtige, das wahre Interesse. Er unterscheidet zwei Interessen: das „unedle" und „edle" Interesse, die „Herrschsucht", „Selbstsucht", den „Egoismus", das „gesellschaftliche Laster" auf der einen und das mit der sittlichen Ordnung vereinbare, ja notwendige Interesse auf der anderen Seite. 1 ) Dieses Stein, System II, S. 120 ff.

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von ihm geforderte, allem einseitigen Egoismus fernstehende Interesse soll aus der Einsicht folgen, daß es im Interesse jedes einzelnen liegt, nicht seinem selbstsüchtigen Interesse zu leben, sondern um seines eigenen Interesses willen zu Opfern bereit zu sein. Nicht mehr das egoistische, sondern das altruistische Interesse soll Geschichtsprinzip sein und die Geschichte zu ihrer endgültigen Stufe der harmonischen Bewegung emporführen. In dieser Forderung des Fortschritts vom egoistischen zum einsichtigen Interesse wird wieder die enge Beziehung zwischen Stein und dem vorhegelischen Idealismus deutlich. Ist hier nicht der Kantische und Fichtesche Dualismus zwischen Naturanlage und Sittengesetz, zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit, zwischen Neigung und Pflicht spürbar, den der Fortschritt der Geschichte überwinden soll? Noch klarer tritt dieser Dualismus hervor, wenn Stein 1853, vor allem aber in seiner Gesellschaftslehre (1856), weniger an die rationale Einsicht als vielmehr an die sittliche Pflicht jedes einzelnen und der Klassen appelliert. Solange er dem egoistischen Interesse ein rational einsichtiges Interesse als Forderung gegenüberstellt, fehlt der Forderung die eigentlich sittliche Kraft. Dies wird anders, als er die Frage nach den historischen Triebkräften, die die jetzige aus egoistischen Machtkämpfen bestehende und deswegen erstarrte Geschichtsepoche überwinden und die Harmonie der gesellschaftlichen Bewegung herbeiführen sollen, umbiegt in eine Frage der christlichen Ethik. Nicht mehr das aus rationaler Einsicht, sondern das aus der Kraft der christlichen Tugenden, der Entsagung, des Opfers und der Liebe, geläuterte Interesse soll der treibende Geschichtsfaktor werden und den Untergang des Abendlandes verhindern. Mit dieser religiös-christlichen Wendung taucht nun abermals die Frage des Göttlichen in der Geschichte auf. Der Gedanke, daß die Geschichte der Gang Gottes sei (ein Gedanke, der dem gesamten deutschen Idealismus und der Romantik eigen ist), ist zwar bei Stein angelegt, steht aber durchaus nicht im Mittelpunkt seiner Geschichtsauffassung. Weder der Herdersche und Hegeische Immanenzgedanke noch der Rankesche Transzendenzgedanke des Göttlichen ist bei Stein wirklich lebendig. Wenn ihm auch die Anschauung nicht fernliegt, daß „die höhere Leitung der Dinge" durch das Christentum in die Geschichte eintritt oder auch daß im Staat, wie wir später sehen werden, eine Art übermenschlicher Kraft in die Geschichte eingreift, so ist doch die Geschichte für ihn wesentlich Geschichte des Menschen und seines Willens. Das Freiheitsstreben, das Interesse, das Geltungsstreben sind ihre

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Triebkräfte. Sie sind mit dem Wesen des Menschen verbunden, denn sie sind nichts anderes als der aus einer philosophischpsychologischen in eine gesellschaftswissenschaftlich-historischpsychologische Ebene transponierte Begriff der Tat und des Arbeitstriebes. 5. D I E GESETZE D E R GESCHICHTE. Wohl kein Begriff zeigt den Wissenschaftsoptimismus Steins, die Überzeugung, nun endlich die Grundlemente menschlichen Lebens und ihre Dynamik entdeckt zu haben, deutlicher als der Gesetzesbegriff. Wohl kein Begriff spielt in der Grundlegung seiner Wissenschaft eine zentralere Rolle. Sein Kampf gilt vor allem der Utopie, deren Wesen darin besteht, „daß dieselbe eine Gestalt des menschlichen Lebens bedeutet, in welcher die einzelnen Verhältnisse nicht als durch die Natur der Dinge und durch die Gesetze des menschlichen Daseins, sondern als bloß durch das unmittelbare Gefühl und Bedürfnis menschlichen Glücks bedingt erscheinen."1) Eine solche Wissenschaft ist keine Wissenschaft; jede wahre Wissenschaft ist Gesetzeswissenschaft, deren Ergebnisse „nicht der Ausfluß eines warmen Gefühls", sondern „eine notwendige und geschlossene Berechnung der Gewalten, welche menschliche Dinge leiten", sind.2) Darum ist die Geschichtswissenschaft keine bloße Darstellung von Gegebenheiten, sondern ist „als eine Berechnung aufzufassen". Es ist ihre Aufgabe, Gesetze des gesellschaftlichhistorischen Lebens, die die Qualität mathematischer Wahrheiten haben, aufzusuchen.3) Denn auch das menschliche Leben hat wie die Sternenwelt und der kleinste Organismus seine inneren Gesetzmäßigkeiten. „Wenn... die ganze Natur, wenn die Sonnensysteme wie das kleinste Korn in seinem Wachsen, ja wenn der Zufall selber seine berechenbaren Gesetze hat, wie sollte denn das Höchste, was die Erde trägt, die lebendige Gemeinschaft der Menschen in ihren Gestaltungen, Wandlungen und Fortschritten keine Gesetze haben? Und hat sie diese, so sind es diese Gesetze, so sind es diese Elemente, diese irdischen Notwendigkeiten, die allein die Grundlage für die wahre Erkenntnis der menschStein, Gesch. d. soz. Bew., 2. Bd., S. 442. ) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 40. 8 ) Immer wieder betont Stein die Notwendigkeit der Aufstellung exakter, allgemeingültiger Gesetze, indem er von ihnen die Qualität mathematischer Gesetzmäßigkeit verlangt (vgl. Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 14, S. 46 und S. 67). 2

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liehen Dinge geben werden." ) In diesem Glauben an die Gesetzmäßigkeit menschlichen Lebens und in der Überzeugung, dem Auffinden dieser Gesetze nicht mehr sehr fern zu stehen, zeigt sich uns seine positivistisch-aufklärerische Wissenschaftsgläubigkeit. „Der Zufall und das Wunderbare" — so schreibt er im Vorwort seines Systems der Staatswissenschaft (S. VIII) —, „diese beiden herrschenden Gottheiten in der Kindheit aller Wissenschaft, versinken vor dem Lichte eines neuen Tages." Aber so wichtig der Begriff des Gesetzes bei Stein ist, so vieldeutig ist er auch. Es geht nicht an, von dem organologischen Gesetzesbegriff Lorenz von Steins zu sprechen, wie es Kanellopoulos tut. Ich unterscheide bei ihm vier Gesetzesbegriffe, die sich teils zeitlich folgen, teils nebeneinander herlaufen, teils ineinander übergehen: den logischen, den psychologischen, den organologischen und den ökonomischen Gesetzesbegriff. Noch 1842 zeigt sich Stein auch im Gesetzesbegriff als Hegelianer. Das Gesetz der Geschichte ist ein logisches Gesetz: die Geschichte ist die Auswicklung des Begriffes Zivilisation.2) Ein sich entwickelnder Begriff — so philosophiert Stein von einem logizistischen Standort aus, für den das Logische die selbständige Sphäre eines idealen Seins, unabhängig vom physischen und psychischen Sein, ja die eigentliche Seinssphäre ist — macht die Bewegung, die die Geschichte ihm „nachzeichnet" (!). Und Stein versucht nun, den Gang der Weltgeschichte, in einer rein logischbegrifflichen Ebene bleibend, zu entwickeln, indem er die einzelnen im Begriff der Zivilisation ruhenden Momente in dialektischer Folge sich entfalten läßt. Die Stände, das Proletariat sind Erscheinungen dieses Begriffs. Das, was außerhalb des logischen Entwicklungsgesetzes existiert, ist nicht existent in einem höheren Sinne, sondern bloßer „Irrtum". Jeder Punkt der Geschichte muß — so fordert Stein gut hegelisch — einzeln überwunden und gut aufgelöst daliegen. So ist also Geschichte vorwiegend ein logisches Gedankengebäude, wenn er auch oft betont, daß dieser logische Bau, der über die Geschichte gelegt wird, nicht genügt, sondern konkretisiert werden muß, daß die Brücke vom Reich des abstrakten Gedankens zur lebendigen Welt notwendig ist. In dieser letzten Forderung der Konkretisierung zeigt sich bereits ein sich allmählich immer deutlicher abzeichnender reali*) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 141 f. 2 ) Diesen Gedanken: Geschichte als Auswicklung des Begriffes Zivilisation übernimmt Stein von Guizot, der wohl zu den Franzosen gehört, die Stein am meisten beeinflußt haben (vgl. Stein, Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 19 ff.).

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stischer Zug. Und ist nicht auch schon der Begriff der Zivilisation, der sich in der Geschichte auswickelt, wirklichkeitsnäher, realistischer, menschlicher gesehen als die absolute Vernunft Hegels ? Entscheidender aber ist die Konstituierung psychologischer Gesetze, die den Geschichtsverlauf bestimmen. Wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, daß aus dem in der Geschichte wirkenden Allgemeinen ein Mensch mit bestimmten Willensmotiven wird, so wird jetzt aus dem logischen Gesetz der Geschichte ein psychologisches. Verschiedene im Verlauf des Steinschen Denkens nicht gleichmäßig akzentuierte psychologische Faktoren: Freiheitsstreben, Interesse, Geltungsstreben führen zur Bildung von Klassen. Vor allem zwei Klassen stehen sich gegenüber: die besitzende, herrschende und die nichtbesitzende, abhängige Klasse, von denen die besitzende das konservative, erhaltende Prinzip der Geschichte, die nichtbesitzende das revolutionäre Bewegungsprinzip darstellt. Das heißt: die herrschende Klasse versucht, das Bestehende zu erhalten, und darüber hinaus, Besitz und Herrschaft zu erweitern und die abhängige Klasse in noch größere Abhängigkeit zu bringen. Die nichtbesitzende Klasse versucht dagegen, die auferlegten Fesseln zu sprengen und sich die Herrschaftsmittel anzueignen. Der gesamte Geschichtsverlauf ist eine Geschichte von Klassenkämpfen, ein ewiger Interessen- und Geltungskampf. Gesellschaftliche Machtkämpfe also füllen die Geschichte aus. Damit ist die B e d e u t u n g des einzelnen in der Geschichte auf ein Mindestmaß beschränkt. Der Einzelne und sein Wollen und Tun wird in die notwendigen Gesetzmäßigkeiten des historischen Geschehens eingegliedert. Seine Initiative, mit der er Geschichte gestalten will, ist mehr die seiner Klasse als seine eigene. Er selbst ist machtlos, er gehorcht dem Gesetz und der Bewegung der Geschichte. „Wie gering erscheint neben jenem Gesetz die Macht derjenigen, welche mit der Macht ihres individuellen Gedankens das Leben der Zeit beschleunigen, mit der Macht der Waffen es aufhalten und lenken wollen. Rufe du den Sturm herbei über das Meer, wenn du es vermagst, oder halte die Flut auf, wenn sie von ihrem göttlichen Gesetze gerufen, daherbraust."1) Hier taucht die Frage der historischen Eminenz auf. Auch der große Einzelne — das ist Steins Uberzeugung — ist ein Glied großer gesellschaftlicher Bewegungen. Schon 1842 schreibt er, man dürfe sich nicht hinter große Persönlichkeiten flüchten, um die Hebel der Geschichte zu suchen, so groß auch die Klugheit *) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 63.

- 65 der Führer ist, nie werden sie mit ihrem Willen die Bewegungen und Kämpfe lenken. „Die strenge Gesetzmäßigkeit der sich selbst entfaltenden Geschichte läßt auch die größten Männer aller Jahrhunderte nicht ununterworfen." 1 ) Nirgends wird das Problem: der große Einzelne und die Geschichte deutlicher als in seiner Napoleon-Auffassung. Napoleon ist durch die Gesellschaft zu dem gemacht worden, der er war. „Das Bedürfnis nach einer festen Staatsgewalt war in ihm verkörpert; er hielt es für das seinige, während es doch nur das Bedürfnis seines Volkes war. Wunderbare Gewalt der Gesetze der menschlichen Entwicklung auch über die mächtigsten Geister." 2 ) Er und seine Macht sind nichts anderes als die Folge einer bestimmten Klassenkampflage. Diese Mediatisierung der großen Persönlichkeit erinnert an Hegel; und doch ist Steins Haltung auch in dieser Frage positivistischer als die seines großen Lehrers. Sind bei diesem die großen Persönlichkeiten die Geschäftsführer des Weltgeistes in dem ehernen Gang der Geschichte, so sind sie bei Stein repräsentativer Wille einer Klasse. Stehen sie bei Hegel als große Einzelne der Masse gegenüber, so sind sie bei Stein in die kämpfenden Klassen eingeordnet. Napoleon ist jetzt weniger die Weltseele zu Pferde als der Exponent einer Klasse. Stein nimmt ihm den metaphysischen Nimbus. Der Schwerpunkt verlagert sich vom großen Individuum, das auch bei Hegel trotz aller Mittelfunktion Träger des geschichtlichen Wollens ist, auf das Kollektivindividuum, Geschichte ist primär der Interessenkampf der beiden sich gegenüberstehenden Klassen. Der Kampf drängt — das ist das Gesetz der geschichtlichen Bewegung — zum Sieg einer der beiden Seiten. Immer in der Geschichte hat die herrschende Klasse versucht, die abhängige Klasse in immer größere Abhängigkeit und schließlich in eine absolute Unterwerfung zu bringen. Siegt sie in diesem Kampfe, dann endet die Geschichte in Erstarrung und Tod. Daß dies trotz aller Kämpfe in der Geschichtsepoche, in der wir leben, bis jetzt noch nicht eingetreten ist, verdankt das germanische Abendland dem Dasein eines bewußten und nach Freiheit und Geltung strebenden Proletariats. Siegt aber die andere Seite, die nichtbesitzende, abhängige Klasse, so ist auch das Ende der Geschichte da, jetzt zwar nicht Erstarrung und Tod, aber Chaos und Auflösung. Stein glaubt nicht an den fruchtbaren Sieg einer der beiden Klassen. Das gibt seiner Geschichtsphilosophie einen pessimiStein, a. a. O., S. 402. 2)

Stein, a. a. O., S. 413. — Vgl. vor allem den A b s c h n i t t : Napoleon

(S. 3 9 6 « . ) . Beiheft d. H. Z. 26.

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stischen Zug. Er glaubt nicht an die eigengesetzliche Entwicklung der Geschichte zur harmonischen Endepoche. Seine Geschichtsphilosophie hat — mit Hegel verglichen — einen undialektischen Charakter, eher den einer Polaritätsphilosophie. Es fehlt ihm die Hoffnung auf den „Umschlag" und die Herbeiführung eines neuen harmonischen Zeitalters durch den Sieg des revolutionären Proletariats, ein Gedanke, der bei allen Sozialisten Hegelscher Deszendenz sowohl den Vertretern des Wahren Sozialismus (Heß, Grün), als auch den des Marxismus selbstverständlich ist. Ihm fehlt das Zutrauen zu dieser Eigengesetzlichkeit, die den Umschlag und damit das wahre Ziel der Geschichte herbeiführen soll.1) Geschichte ist ein ewiger Stoß und Gegenstoß; sie wird nur dann die endgültige und wahre Stufe erreichen, wenn aus dem Determinismus ein ethisches Sollen wird. Die Wissenschaft kennt jetzt das Gesetz der Geschichte, sie kennt ihr Wesen und ihren bisherigen Verlauf, der auf kurze Formeln gebracht vor ihr liegt. Ihre Aufgabe ist es nun, an die Einsicht der Menschen zu appellieren. Denn die Menschheit ist jetzt vor ein Entweder — Oder gestellt. Entweder sie verharrt im Kampf der egoistischen Interessen und reibt sich auf; oder sie opfert ihren Egoismus und schafft aus christlicher Gesinnung und in ihrem eigenen Interesse die neue Geschichtsepoche der harmonischen Bewegung. Da Steins Geschichtsphilosophie an diesem aus der Kenntnis der historischen Gesetze zu schaffenden Ziel der Geschichte vor allem interessiert ist, so steht seine Betrachtung des Geschichtsverlaufs notwendig unter dem Gesichtspunkt des F o r t s c h r i t t s . Das universalgeschichtliche Geschehen wird als eine Einheit des Werdens aufgefaßt, die sich auf ein Ziel der Geschichte ausrichtet. Auch seinen Zeitgenossen erschien Stein als der pessimistische Geschichtsphilosoph, der nicht an die zum harmonischen Ende kommende Eigengesetzlichkeit der Geschichte glaubt. Vgl. eine Äußerung von Moses Heß über Stein: „Die Zukunft e r l e i c h t e r t ihn daher auch nicht, sondern sie e r s c h r e c k t ihn nur" (Soz. u. Kom., S. 82). Allerdings ist auch hiereine Einschränkung notwendig. Noch 1842 spricht er — unter Hegelschem Einfluß — oft von der eigengesetzlichen Entstehung eines Keimes und dem dämmernden Beginn einer neuen Epoche auf dem Gipfel der inneren Zerrissenheit alles Lebens. Der Kommunismus wird als ein solcher Keim aufgefaßt: „ . . . schon der Ausdruck .Gemeinschaft' bezeichnet die erste dämmernde Idee einer anderen Gestalt des menschlichen Lebens . . ." (Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 121). Dieser Gedanke, auf den Instinkt der aufstrebenden Klasse zu bauen, tritt auch noch später auf, verschwindet aber immer mehr hinter Skepsis und ethischen Forderungen, die bereits in der 2. Auflage (1848) deutlicher werden.

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Die gesamte welthistorische Entwicklung ist um dieses Zieles willen da, sie ist Dienst für die kommenden Geschlechter. „ . . . und was die Vergangenheit in ihr hat leiden müssen, das wird der Segen der Zukunft ersetzen." 1 ) Diese aufklärerisch-naturrechtliche Sicht des historischen Werdens erinnert an die Geschichtsauffassung Fichtes, überhaupt an die vorhegelische und vorromantische Geschichtsphilosophie. Aber wie Fichte nicht nur das Endziel des Geschehens, sondern auch seine Dynamik, nicht nur die Zielstrebigkeit der Geschichte, sondern auch ihr Werden im Auge hat 2 ), so steht Steins Geschichtsbetrachtung nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Fortschritts, sondern auch unter dem der E n t w i c k l u n g . Oft hat es den Anschein, als ob sein Interesse vor allem auf der historischen Bewegtheit als solcher und nicht auf der Erreichung eines Endzieles ruhe. Aber davon abgesehen versucht er doch, Fortschritts- und Entwicklungsbegriff zu verbinden. Die bisherigen Geschichtsepochen sind zur Erreichung des Geschichtszieles notwendig, und diese Notwendigkeit gibt ihnen einen Eigenwert. Der universale Geschichtsverlauf ist ein Ausreifungsprozeß, der sich allmählich entwickelt und die bisherige Geschichte trotz aller scheinbaren Negativität sinnvoll macht. Hier zeigt sich Stein als ein Sohn des hegelischen und romantischen Denkens. Seinem historischen Sinn widerspricht jede Auffassung der Geschichte als eines eruptiven Geschehens. Immer wieder betont er, daß historische Ereignisse nicht wie „eine gewappnete Minerva aus dem Haupte der Geschichte" entspringen.3) Neben dieser tauchen noch andere Wendungen auf, die in ihrer Intention dem Historismus Hegels und der Historischen Schule ähneln: Die Geschichte geht nie „zwei Schritte zugleich vorwärts". Das Gegenwärtige und das Vergangene, das Vergangene und das Kommende sind innerlich verbunden und gegenseitig bedingt. „Das Neue kann ein anderes sein als das Alte, es kann mehr sein als dasselbe, aber nie und nirgends ist es ohne dasselbe."4) Und da das Neue nicht ohne das Alte sein kann, so ist es auch nicht möglich, „französische Geschichte auf deutschen Boden (zu) verpflanzen". 8 ) Das Leben der Gesellschaft geht „seinen großartigen, stillen Gang mit Tausenden von kleinen, Stein, Soz. u. Kom., i. Aufl., S. 115 f. 2)

Vgl. Troeltsch, Historismus, S. 252 u. 337.

3) Vgl. Stein, Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 66; Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 307; Demokratie und Aristokratie, S. 328.

') Stein, Der Begriff der Arbeit, S. 234. 5)

Stein, Soz. u. Kom. in Deutschi. 1844, S. 34.

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unermüdlich wiederholten Versuchen, Gestaltungen, Wiederholungen, Nüancen . . .". 1 ) Mit diesem Entwicklungsbegriff, der oft den Charakter des naturwissenschaftlichen Evolutionsbegriffes annimmt, kommt nun Stein zu einem neuen Begriff des Gesetzes: zum o r g a n o l o g i schen G e s e t z der Entwicklung. Besonders nach seiner romantisch-konservativen Schwenkung in den 50 er Jahren taucht sehr häufig der Begriff des lebendigen Organismus auf, und es häufen sich die Bilder aus dem organischen Leben, die auf das gesellschaftlich-historische Sein angewendet werden. Wir müssen uns, so fordert Stein, den Organismus des menschlichen Lebens und der menschlichen Geschichte zum Bewußtsein bringen, um seine inneren Wachstumsgesetze und seine „Krankheiten" zu erkennen. Es erscheint jetzt der Begriff: „Pathologie der Gesellschaft, die Lehre von der Natur der gesellschaftlichen Krankheiten" als Bezeichnung für die Gesellschaftswissenschaft.2) Geschichte ist jetzt nicht mehr ein logisches System, auch weniger eine Geschichte von psychologisch erfaßbaren Klassenkämpfen, als vielmehr ein lebendiger Organismus, der wächst, sich ausformt, indem er verschiedene Gesellschaftsformen entwickelt, der „erkrankt" und, wenn ihm nicht Hilfe gebracht wird, „stirbt". 3 ) Neben dem logischen, psychologischen und organologischen Gesetzesbegriff kennt Stein noch einen ö k o n o m i s c h e n . Es ist das Gesetz der Akkumulation des Kapitals oder, wie er es nennt, das „Größengesetz der Kapitalien", „die vernichtende zentrifugale Agglomeration um die großen Geldmassen". Seine Wirkung ist die Herrschaft des großen Kapitals über das kleinere, die Vernichtung der kleinen Existenzen und die Proletarisierung der Massen. Dieses Gesetz hat zwei Eigenschaften: einerseits ist es vor allem in der gewerblich-industriellen Gesellschaft wirksam, treibt also besonders das Geschehen der jüngsten Geschichtsepoche vorwärts (das Wachsen und Abnehmen des Bodenbesitzes hat — so argumentiert er — seine Grenzen); anderseits ist es kaum mehr von dem Willen und Wünschen des Menschen abhängig; es ist nicht mehr psychologisches Gesetz, sondern das Gesetz einer Sache, des Kapitals, „das von jeder Willkür unabhängige Gesetz" der Verteilung des Besitzes.4) Man kann es nicht Personen zur Last legen und sie mit „Haß und Neid verantwortlich" machen; J)

Stein, Stein, 3) Stein, 4) Stein,

2)

Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 63. System II, S. 253. a. a. O., S. 143. Gesch. d. soz. Bew., 2. Bd., S. 17.

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es ist nicht mehr „von dem freien Willen des Menschen, sondern von den Gesetzen . . . (der) eigenen Bewegung abhängig." 1 ) Diese Personifikation des Kapitals zeigt, wie klar Stein das Dämonische der eigengesetzlich gewordenen kapitalistischen Wirtschaft durchschaut. Er sieht, daß ein Mittelsystem, objektiv und selbständig geworden, die Menschen beherrscht und die Geschichte bestimmt. Das Kapital „verlangt, soll es anders gedeihen, den ganzen Menschen für sich; es wird, indem es die Individualität der Persönlichkeit absorbiert, selbst zu einer Individualität. Wie jedes Lebendige (!) aber hat es zugleich den richtigen Instinkt (1) der Unterscheidung zwischen dem, was seine absolute Voraussetzung ist, und dem, was ihm bloße Vorteile und Nachteile bietet. Der Mensch, dies scheinbar so freie Wesen, wird mehr von diesem seinen Eigentum beherrscht, als er es seinerseits beherrschen kann; wer da sehen will, muß zugestehen, daß es noch mehr Gewalt über den Geist hat, als selbst das nächste, der Körper." 2 ) Und Stein verbirgt uns nicht, wie schwer es ihm oft scheint, einem solchen Geschichtsgesetz mit der ethischen Forderung nach einsichtigem Interesse oder christlicher Liebe entgegenzutreten. 6. GESCHICHTE UND GESELLSCHAFT. Auf die Gesellschaft als ein eigenes, vom Staat getrenntes Gebilde zu reflektieren, ist eine Aufgabe, die sich die europäische Wissenschaft schon lange vor Stein gestellt hat, und die aus der Spannung zwischen dem emporkommenden Bürgertum und dem in der Hand des Adels oder eines absoluten Königtums liegenden Staates herauswächst. Bereits der Gedanke des pactum subjectionis in den älteren Naturrechtslehren kennt den Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft, daran anschließend die jüngeren Naturrechtslehren, der „soziale Naturalismus" Englands, die Physiokraten, vor allem jedoch die italienische Literatur des 18. Jahrhunderts (Genovesi, Pietro Verri, Martineiii, Galanti).3) Aber erst das 19. Jh., vor einer neuen Problematik der sozialen Frage stehend, kommt zu einer vertieften, weniger konstruktiven Stein, System II, S. 173. ) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 396. — Vgl. auch Gesch. d. soz. Bew., 2. Bd., S. 31 f. s ) Vgl. Adalbert v. Unruh, Dogmenhistorische Untersuchungen über den Gegensatz von Staat und Gesellschaft vor Hegel. — Unruh läßt den Gegensatz zwischen dem Staats- und dem Gesellschaftsbegriff bereits in Augustins Unterscheidung zwischen civitas Dei und civitas terrena, zwischen dem Reich der amor Dei und dem der amor sui entstehen, was mir allerdings etwas zu weit gegangen erscheint. 2

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Gesellschaftsauffassung. Von hier aus gesehen ist auch Hegels bürgerliche Gesellschaft noch Vorstufe, von der Stein zwar angeregt wird, die er aber, bei der westlichen, sozialistischen Gesellschaftswissenschaft in die Schule gehend, weiter entwickelt; ja, erst unter ihrem Einfluß geht ihm das eigentliche Wesen der Gesellschaft auf. Seine Gesellschaft ist nicht mehr eine bloß logisch-metaphysische Abstraktion, eine bloß logische Stufe des sich als objektiver Geist äußerlich manifestierenden absoluten Geistes. Sie steht auch nicht mehr — wie bei Hegel — im Schatten des Staates. Der Schwerpunkt des Interesses rückt vielmehr vom Staat auf die Gesellschaft. Sie wird jetzt der Träger des geschichtlichen Werdens. War bei Hegel die Geschichte primär der zu sich kommende Weltgeist und sekundär als Weltgeschichte, die ihren systematisch-logischen Ort zwischen der Darstellung des objektiven und des absoluten Geistes erhält, Staatengeschichte, so ist sie bei Stein Gesellschaftsgeschichte. Aber abgesehen davon, daß nun die Gesellschaft stark in den Vordergrund der Betrachtung rückt, indem sie aus einer Stufe in einem logischen System zu dem Gegenstand der Geschichtswissenschaft wird, ist sie jetzt auch i n h a l t l i c h anders strukturiert. Bei Hegel ist sie wesentlich das System der Bedürfnisse, ein atomisiertes Zusammenleben von Interessenten und als ein solches „das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit". 1 ) Dieser Ansatz ist zweifellos auch bei Stein vorhanden. Aber bei ihm ist von vornherein dieses System der Interessen mit lebendiger Geschichte gesättigt. Es ist nicht mehr ein mehr oder weniger summenhaftes Gebilde ohne bemerkenswerte Entwicklung, sondern der Kampfplatz der Klassen, Stände und Kasten, der Ort, wo Staat und Klassen sich befehden, wo sich Gesellschaftsformen *) Hegel, Rechtsphilosophie § 184. — Es darf allerdings, besonders wenn man die F o r t w i r k u n g Hegels im Auge hat, nicht übersehen werden, daß seine bürgerliche Gesellschaft n i c h t n u r ein System isolierter Interessenten ist. Die Gesellschaftsglieder sind voneinander abhängig. Diese Abhängigkeit vergrößert sich durch steigende Arbeitsteilung. Außerdem enthält sie bereits Momente wie die Rechtspflege, die Polizei, die Korporation, die aus der Atomisierung zur Bindung, zum Allgemeinen zurückführen. Hegel gliedert die Gesellschaft in Stände und sieht die Gefahr einer erstarrten Gesellschaftsordnung. Er deutet die sich allmählich entwickelnde Konzentration des Reichtums auf der einen und die drohende Verarmung auf der anderen Seite an und spricht von einer Dialektik, die die bürgerliche Gesellschaft über sich hinaustreibt, indem sie zum Imperialismus als Mittel greift. Das alles aber bleibt nur Andeutung und wird nich zu Ende gedacht. Die Gesellschaft ist noch ohne eine eigentliche Bewegung Die Stände sind noch ein kampfloses Nebeneinander.

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ablösen, wo Geschichte gelebt und gelitten wird. Diese Historisierung, Ausweitung und Vertiefung des Gesellschaftsbegriffes verdankt Stein seinem intensiven Studium der französischen und deutschen Revolutionen, den Einflüssen der französischen Sozialisten und einer in späteren Jahren einsetzenden Beschäftigung mit romantisch orientierten Wirtschafts- und Gesellschaftsauffassungen. Das Phänomen der Gesellschaft wird vom Individuum und dessen Bestimmung her entwickelt. In der Seinsstruktur des Menschen liegt der innere Widerspruch zwischen seinem inneren Drang, die äußere Welt seinem Willen zu unterwerfen und zu gestalten, und der Wirklichkeit begründet. Er kann als einzelner seine Aufgabe nicht erfüllen und muß sich deshalb mit anderen zur Einheit, zur Gemeinschaft zusammenschließen. Soll die Gemeinschaft diese ihre Aufgabe erfüllen, so muß sie ein Organismus sein und wie jeder Organismus „seinem selbstbedingten Wesen nach eine Ober- und Unterordnung der einzelnen Organe" verlangen. Diese Schichtung und Gliederung erfolgt auf Grund der Güterverteilung. Die menschliche Gemeinschaft spaltet sich in verschiedene Besitzklassen und drängt zu einer Scheidung in Besitzende und Nichtbesitzende, Herrscher und Beherrschte, Unabhängige und Abhängige. Das Interesse der Besitzenden versucht mit allen Mitteln, das Besitztum zu vergrößern, um die gesellschaftliche Macht zu steigern, denn der Besitzordnung entspricht eine Ordnung der gesellschaftlichen Geltung. Dieses Machtstreben der besitzenden Klasse gibt der Gesellschaft eine notwendige Richtung ihrer Entwicklung. Aus der noch beweglichen Klassengesellschaft wird eine erstarrende Ständegesellschaft und aus ihr eine absterbende Kastenordnung. Die herrschende Klasse sichert sich ihre gesellschaftliche Herrschaft, indem sie sich gesellschaftliche Rechte, Privilegien schafft (etwa die der Unveräußerlichkeit und Unteilbarkeit des Besitzes), indem sie die Anerkennung eines S t a n d e s r e c h t s erzwingt (die Geburt, „mithin das von aller Persönlichkeit und gegen alle Persönlichkeit absolut Zufällige", scheidet die sich jetzt vollständig voneinander abriegelnden Klassen. Die Familie wird ein wesentliches Moment der gesellschaftlichen Entwicklung, die Klasse wird zum Stand), und indem sie schließlich das Standesrecht zu einem g ö t t l i c h e n R e c h t werden läßt (die herrschende Klasse erklärt die gesellschaftliche Scheidung für heilig, unverletzlich, göttlich. Aus dem Stand wird die Kaste). Zusammenfassend kann Stein die Gesellschaft definieren als eine „organische Einheit des menschlichen Lebens, durch die Ver-

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teilung der Güter bedingt, durch den Organismus der Arbeit geregelt, durch das System der Bedürfnisse in Bewegung gesetzt und durch die Familie und ihr Recht an bestimmte Geschlechter dauernd gebunden".1) Mit diesem Begriff der menschlichen Gesellschaft versucht er den weltgeschichtlichen Lauf zu deuten. Uns soll vorläufig nur die Interpretation der abendländisch-germanischen Gesellschaftsentwicklung beschäftigen. Die zunächst auf dem Grundbesitz basierte Gesellschaft schafft eine Klasse von Grundbesitzern, die die gesellschaftliche Herrschaft ausüben, die Gesellschaftsordnung zu einer Ständeordnung erstarren lassen, vermöge ihrer an die Geburt geknüpften gesellschaftlichen Vorrechte den Willen der Gemeinschaft bestimmen und es dem anderen Gesellschaftsgliede unmöglich machen, „sich über die ihm durch Besitz und Geburt einmal gegebene Sphäre zu erheben". Dieses Herrschaftsverhältnis wird zerstört durch das Hochkommen einer anderen „Art des Besitzes", des gewerblichen Kapitals. Die Privilegien des Grundbesitzes werden aufgehoben und der freie Erwerb ermöglicht. Es beginnt das Stadium der volkswirtschaftlichen Gesellschaft. Aber trotz dieser Freiheit des Wettbewerbs setzt eine neue Ordnung, Schichtung und Herrschaft ein, eine neue Spaltung der Gesellschaft in Besitzende und Nichtbesitzende und diesmal eine Abhängigkeit „in ihrer unerträglichsten, härtesten Gestalt". Aus der volkswirtschaftlichen wird die industrielle Gesellschaft, deren Hauptprinzip zwar die absolute Erwerbsfreiheit, deren Haupttatsache aber die Entstehung des großen Kapitals und seine Herrschaft über die kapitallose Arbeitskraft ist.2) Es setzt die Epoche der Despotie des Kapitals über die Arbeit ein, die an das alte, überwundene Ständeverhältnis erinnert. Den Nichtbesitzenden ist wiederum die Möglichkeit des Aufstiegs genommen, unüberwindbare Schranken werden ihm entgegengestellt. J a , die Klasse wird auch in der Gegenwart zu einer Art Kaste, die die Gesellschaft zur Erstarrung und zum Tode treibt.3) Diese ausbeutende Herrschaft des Kapitals besteht dem Kleinbesitzer gegenüber in der Vernichtung seines Privatbesitzes und der bloßen Arbeitskraft gegenüber in der weitestgehenden Beschränkung des Arbeitslohnes, und wenn irgend möglich in der J

) Stein, Gesch. d. soz. Bew., i. Bd., S. 29. ) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 166. 3 ) „. . . und die Unmöglichkeit, aus dem Arbeiterstande zum Stande der Kapitalisten überzugehen, schuf aufs neue zwei Klassen, die fast Kasten zu nennen waren" (vgl. Stein, Soz. Bew. d. Gegenwart, S. 87). 2

- 73 Anwendung des Track- und Cottagesystems. Darüber hinaus aber versucht das Kapital sich ein Recht zu setzen, „welches die Verhältnisse von Kapital und Arbeit so ordnet, daß die Arbeiter zur Arbeit in den Unternehmungen genötigt bleiben, daß sie der Spekulation, welche sich unausbleiblich an die Höhe oder Niedrigkeit des Arbeitslohnes anschließt, nicht einen entschiedenen Widerstand entgegensetzen, und daß sie bei der Arbeit unter der so wenig als möglich kontrollierten Herrschaft der Arbeitgeber stehen. Das geschieht durch Untersagung von Arbeiterverbindungen, durch Verbot der Arbeitsniederlegung, durch Einführung von Arbeitsbüchern, Fabrikreglements und Fabrikgerichten." 1 ) Das entscheidende Charakteristikum der ausgebeuteten Arbeiterklasse, des Proletariats, ist erstens seine Besitzlosigkeit. Es verarbeitet mit seiner Arbeitskraft einen Stoff, der nicht sein, sondern der besitzenden Klasse Eigentum ist; zweitens aber vermag diese Arbeitskraft nicht, sich einen Besitz zu schaffen. Der Lohn bleibt der niedrigste, die Lebenslage die umsicherste. Die Arbeit wird durch die Maschine „rein mechanische Arbeit", und die Arbeitsteilung nimmt dem Blick die Ubersicht über das Ganze der Tätigkeit. Wichtig für die geistige Haltung Steins ist aber nun, daß diese Analyse der industriellen Gesellschaft bei ihm nicht zum ewigen Moralisieren führt. Das Schicksal des Proletariats ist viel zu sehr notwendige Stufe auf dem Wege zum Ziele der Geschichte und die Konsequenz eines alles umfassenden historisch-sozialen Gesetzes, als daß es von der Willkür einzelner Menschen abhängig sein könnte. „Es ist Unverstand und zum Teil Torheit, diese Konsequenz der gegebenen gesellschaftlichen Grundlagen einzelnen zum Vorwurf zu machen; sie liegt in dem unabänderlichen Gange der gesellschaftlichen Entwicklung." 2 ) Deutlich wird diese Haltung in der Frage des Arbeitslohnes, auf die wir allerdings nur andeutend eingehen können. Immer wieder betont Stein, daß die Lage des Lohnarbeiters und die Höhe seines Lohnes ihre Gründe nicht in der Ausbeutungslust des Unternehmers, sondern im System haben. Teils sieht er in der freien, hemmungslosen Konkurrenz, die die besitzlose Arbeitskraft zu einer bloßen Ware erniedrigt und den Preis dieser Ware (den Arbeitslohn) durch die Grundsätze des Angebots und der Nachfrage bestimmen läßt, den Grund des niedrigen Lohnes3), teils leitet er (in einem für ihn sehr charakteriStein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 61. Stein, Gesch. d. soz. Bew., 2. Bd., S. 34. 3) Stein, Soz. Bew. d. Gegenwart, S. 85. 2)

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stischen Aufsatz „Der Begriff der Arbeit und die Prinzipien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältnis zum Sozialismus und Kommunismus", 1846) den Sinn und die Notwendigkeit des niedrigen Proletarierlohnes vom Wesen der Arbeit ab. Vor allem der W e r t einer Arbeit bestimmt die Höhe des Arbeitslohnes. Es gibt eine „mechanische" und eine „freie" Arbeit. Die mechanische, ungeistige Arbeit, die Arbeit an der Maschine, bedingt einen mechanischen oder natürlichen, d. h. einen nur zur natürlichen Bedürfnisbefriedigung ausreichenden Arbeitslohn, wobei man allerdings zunächst von allen äußerlichen Bedingungen, der Konkurrenz und dem „im Wesen des Kapitals liegenden Streben, den möglichst geringen Lohn zu geben", absehe. Daß der Sozialismus nur diese äußerlichen Bedingungen als Grund des niedrigen Lohnes kennt, macht er ihm zu Vorwurf. Seine Forderung, „dem Maschinenarbeiter einen höheren Lohn als den zur Befriedigung seiner gemeinmenschlichen Bedürfnisse notwendigen zu geben, steht nicht bloß mit dem faktischen Zustand der Dinge, sondern auch mit dem Wesen der Arbeit und des Wertes selber im Widerspruch." Auf diesen Zustand einer mechanischen Arbeit, eines mechanischen Arbeitslohnes, der Besitzlosigkeit, Unsicherheit und Aussichtslosigkeit antwortet das Proletariat mit einem Kampfe der Arbeit gegen das Kapital, dem aber auch Stein, trotzdem er seine Berechtigung und innere Notwendigkeit sieht, sehr kritisch gegenübersteht ; denn für ihn gibt es auch eine Ausbeutung des Kapitals durch die Arbeit, die nicht weniger verderblich ist als eine Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital. Eine planmäßige Ausbeutung des Kapitals liegt dort vor, wo die Arbeiter, „das Arbeitsbedürfnis des industriellen Kapitals benützend, die Fortsetzung ihrer Arbeit von der Erhöhung ihres Lohnes abhängig machen. Dies geschieht durch die N i e d e r l e g u n g der A r b e i t , die strikes und turn-outs der englischen Arbeiter". 1 ) Das sind zu verurteilende Versuche des Proletariats, seine Abhängigkeit vom Kapital aufzuheben, ganz abgesehen von seinem Fernziel: Beseitigimg der Klassen, Verteilung der Kapitalien und Herbeiführung einer Besitzgleichheit. Damit ist nun zwar die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung in ihren Hauptzügen durchgeführt. Und doch werden die schon vorhandenen Spannungen noch dadurch potenziert, daß ja nicht nur die Spaltung in Besitzende und Nichtbesitzende den gesellschaftlichen Kampf ausfüllt. Auch die verStein, System I, S. 349. Vgl. auch S. 395.

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schiedenen Arten des Besitzes befinden sich im gesellschaftlichen Interessenkampfe. Der Grundbesitz steht dem Kapitalbesitze kämpfend gegenüber. Auch die einzelnen Besitzesgrößen, im Kampfe gegen das Proletariat eine Einheit, spalten sich in Interessengruppen. Die ganze Gesellschaft ist nichts anderes als ein umfassendes, spannungsreiches, Geschichte tragendes System wirtschaftlicher Interessen. In diesem Zusammenhange ist jetzt auch die Frage berechtigt, wie weit Steins Gesellschaftsbegriff der Begriff einer reinen Wirtschaftsgesellschaft, wie weit seine Geschichtsauffassung eine ökonomisch-materialistische ist. Die Antwort kann — und das ist wohl bereits nach der bisherigen Analyse seines Denkens verständlich — nicht eindeutig sein. Zweifellos rückt die Wirtschaft und der wirtschaftende Mensch in den Vordergrund seines Interesses. Damit weist er in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts; denn daß die Wirtschaft der Gegenstand ist, auf den sich die Wissenschaften vom menschlichen Leben ausrichten, daß sie als der Raum aufgefaßt wird, in dem das gesellschaftlich-historische Leben abläuft, ist nicht nur für ihn, sondern für einen Realismus bezeichnend, der den deutschen Idealismus ablöst und der zweiten Jahrhunderthälfte ihr charakteristisches Gepräge gibt. Wenn er 1846 von den ersten Anfängen einer „wahrhaft bedeutenden Richtung der Geschichtsforschung" spricht, „welche dazu bestimmt ist, der Volkswirtschaftslehre den Platz zu geben, den bis jetzt die Rechtswissenschaft in der Erforschung vergangener Zeit innegehabt hat" 1 ), so zeigt dieser Satz überzeugend und programmatisch die ökonomisch orientierte Geschichtsauffassung Steins. Die Wirtschaftswissenschaft wird für ihn die Schlüsselwissenschaft, die allen gesellschaftswissenschaftlich-historischen Untersuchungen zugrunde liegen muß. Denn für ihn ist, wie er oft betont, das wirtschaftliche Güterleben die Grundlage der menschlichen Gesellschaft, ihrer inneren Spannungen und ihrer Entwicklung. Der Mensch ist vor allen wirtschaftendes Subjekt und „mit einer . . . elementaren Gewalt an seine wirtschaftliche Lebenssphäre gebunden". Sein individuelles Verhalten ist „nicht aus seiner Individualität, sondern aus der Eigentümlichkeit des Gutes entsprungen, dessen wirtschaftlicher Verwaltung sein Leben gewidmet ist". 2 ) Sein Hauptmerkmal ist das Interesse, sich Besitz zu schaffen, ihn zu erhalten und zu erweitern. 1

) Stein, Gesch. d. fz. Strafrechts, S. 17. ) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 20 f.

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Würden wir mit diesem Ergebnis die Frage, wie weit Steins Geschichtsauffassung eine ökonomisch-materialistische ist, beantwortet sein lassen, so hätten wir allerdings eine wichtige und tatsächlich vorhandene Seite seiner Geschichtsauffassung getroffen. Das Interesse des Menschen ist jedoch nicht nur ein rein wirtschaftliches, materielles Interesse. Wie er bereits 1842 die Volkswirtschaftslehre vom Sozialismus abgrenzt, indem er ihr vorwirft, daß sie sich nur mit dem abstrakten Begriff des Menschen, nicht aber mit der wirklichen, blutvollen Persönlichkeit, die Hoffnungen hat und Ansprüche stellt, beschäftigt 1 ), so bedeutet für ihn der Mensch auch späterhin mehr als ein bloßes Rad in einem Wirtschaftsmechanismus. Der Mensch ist für ihn nicht nur der homo oeconomicus, also ein Wesen, das in erster Linie nach der Befriedigung materieller Bedürfnisse strebt; denn Steins psychologisch-anthropologische Besinnung geht, wie wir schon oft feststellen konnten, über die Aufklärung und den westlichen Positivismus hinaus, sie wird vertieft und nicht zuletzt durch Fichtesche Anregungen ins Metaphysisch-Philosophische gebogen: Im Menschen lebt weniger das Streben nach materieller Bedürfnisbefriedingung als „der Drang nach einer vollendeten Herrschaft über das äußere Dasein, nach dem höchsten Besitz aller geistigen und sachlichen Güter". Wir spüren, daß hier Traditionen des deutschen Idealismus durchbrechen, die den Wirtschaftsbegriff und den Arbeitsbegriff vergeistigen und ihnen damit das rein ökonomische Moment nehmen. „Das Wesen der Persönlichkeit. .., die volle und wahre Herrschaft auch über das Materielle fordernd, will eben die materielle Arbeit zur g e i s t i g e n , die äußere Befriedigung zugleich zur inneren erheben. Erst die Durchdringung beider ist die ganze Erfüllung der Idee der Arbeit" 2 ). Und da nicht nur der Sinn der Arbeit letztlich ein geistiger, sondern die Arbeit selbst eine Unterwerfung der Natur durch g e i s t i g e Kräfte ist, so sind von hier aus Sätze verständlich wie die, daß Bildung zu Besitz treibe, daß Bildung „die notwendige Bedingung des Erwerbes des materiellen Gutes" sei, daß eine Wechselwirkung zwischen Besitzund Bildimgsstreben bestehe. Zusammenfassend können wir sagen: Das Besitzstreben ist für Stein die beherrschende Lebensaufgabe des Menschen, und doch ist „die Erhaltung und höchste Steigerung des Besitzes... n i c h t bloß das I n t e r e s s e des m a t e r i e l l e n Menschen, sondern sie ist geboten durch das Wesen der Persönlichkeit selber. Sie ist daher anscheinend 2

Stein, Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 139 f. ) Stein, Der Begriff der Arbeit, S. 276 (Sperrdruck von mir).

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nur ein materielles, im Grunde dennoch ein persönliches (lies: geistiges) Interesse".1) Das Interesse des Menschen ist wirtschaftliches Interesse, aber als solches wird es vertieft und vergeistigt, ja, vor allem bei der aufstrebenden Klasse, teilweise zu einem sittlichen Freiheitsstreben gesteigert. Eine noch idealistischere Richtung in der Auffassung des Gesellschaftsbegriffes setzt sich bei Stein in den 50 er Jahren durch. Wenn man die gesamte Entwicklung seines Denkens übersieht, ist es nicht viel mehr als eine Verstärkung des idealistischen Untertones, der stets in seiner Denkhaltung mitschwingt; aber von ihm selbst aus gesehen, ist es eine Wendung seines Geisteslebens, hervorgerufen durch den Einfluß romantisch-organologischer Strömungen im gesellschaftswissenschaftlichen Denken. Die Wirtschaft wird aus ihrer bis jetzt trotz aller Einschränkung noch dominierenden Stellung im gesellschaftlichen Geschehen verdrängt. Die Gesellschaft wird zu einer geistig-sittlichen Ordnung und die Wirtschaft zu einem, wenn auch wesentlichen Moment dieser Ordnung, zu einer Schale, die einem primär geistigen Geschehen die äußere faßbare Gestalt gibt. Wirtschaft ist der Organismus, der „das individuelle Streben nach Gütern in der großartigen Gestalt der Gesamtarbeit zeigt". 2 ) Und Gesellschaft ist der Organismus, „dessen sittliche Aufgabe und Idee die höchste g e i s t i g e Entwicklung des Individuums ist", und die Ordnung, „in welcher die Menschen durch die Verteilung der g e i s t i g e n Güter und Aufgaben untereinander stehen". 3 ) Drei Funktionen hat dieser geistige Organismus zu erfüllen: Waffendienst, Gericht und Gottesdienst. Diese setzen Führende voraus: das sind die „Höheren", mit „höheren geistigen" und mit gesellschaftlichen Gütern: mit Ehre, Macht und Einfluß versehen. Das Ziel aller menschlichen Interessen und Bestrebungen ist es, gesellschaftliche Güter zu erwerben und zu erhalten. Dabei ist das Bestreben der Höheren, die bestehende Verteilung zu sichern und die Niederen vom Erwerb gesellschaftlicher Güter auszuschließen, während die Niederen auf eine neue Verteilung drängen. Von dieser Schau der Gesellschaft aus bekommt nun auch die Wirtschaft eine neue, spezifische Bedeutung. Die Gesellschaft braucht eine materielle Basis, um wirklich zu sein. Die Seele Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 135 (Sperrdruck von mir). — Ähnlich 1. Bd., S. 42: „Denn es ist damit diese s c h e i n b a r r e i n ä u ß e r l i c h e Stellung (in der Gesellschaft) für ihn notwendig der Grad seiner eigenen persönlichen Vollendung" (Sperrdruck von mir). 2) 3)

Stein, Gemeindewesen, 29 f. Stein System II, S. 29 u. 16 (Sperrdruck von mir).

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braucht — so analogisiert Stein — einen Körper, die Wirtschaft wird äußere Gestalt dieses geistig-sittlichen Organismus. Aber als dieser äußere Rahmen ist sie notwendig und aus dem gesellschaftlichen Leben nicht wegzudenken. Stein spricht von der organischen Wechselwirkung, „in der sich die rein geistige oder sittliche Welt mit der Welt des Besitzes begegnet". 1 ) Eine solche Auffassung des Besitzes als Basis geistigen Lebens mußte auch dem Besitzstreben jeden sittlichen Tadel nehmen. „. . . nur das gänzliche Mißverstehen des geistigen Inhalts des Besitzes hat das Streben nach dem letzteren unbedingt verurteilen oder es mit Ausartungen verwechseln können." 2 ) Diese organische Wechselwirkung oder, wie er auch sagt, die Verschmelzung von geistigem und wirtschaftlichem Sein findet ihren Ausdruck im gesellschaftlichen Leben darin, daß die Verteilung des Besitzes die Verteilung von Ehre und Macht und diese wieder die Teilnahme an den geistigen Funktionen einschließt. Wenn aber der Besitz die Bedingung der höheren und niederen gesellschaftlichen Stellung des einzelnen ist, so ist auch die Erreichung des größeren Besitzes der Gegenstand des individuellen Strebens und das Prinzip der Klassenbewegung. Wir sehen also, bei einer Analyse auch des späteren Gesellschaftsbegriffes das Ineinander ökonomischen und geistig-gesellschaftlichen Geschehens; wir sehen, wie sich die Wirtschaft in das gesellschaftliche Leben hineinschiebt, wie Stein versucht, auch bei einer vorwiegend idealistischen Sicht der Gesellschaft und der Geschichte die reale Bedeutung der Wirtschaft zu würdigen und sie zu einem wesentlichen Moment des gesellschaftlichen Lebens zu machen. Diese versuchte, nicht ganz gelungene Lösung der Spannung zwischen Gesellschaft und Wirtschaft, zwischen geistiger und materieller Wirklichkeit des gesellschaftlichen Lebens bekommt noch eine spezifische Version durch eine Ausweitung des Gesellschaftsbegriffes. Diese ist in Ansätzen bereits vor 1852 festzustellen, wird aber erst unter romantisch-organologischem Einfluß von ihm klarer empfunden und zur näheren Bestimmung seines Gesellschaftsbegriffes verwendet. Es handelt sich darum, daß er nicht nur Gesellschaftsklassen, sondern auch Gesellschaftsformen unterscheidet. Drei Gesellschaftsformen läßt er nacheinander folgen: Die Geschlechterordnung, in der der Grundbesitz das herrschende Element ist, die Ständeordnung, in der vorwiegend 2

Stein, a. a. O., S. 148. ) Stein, a. a. O., S. 1 5 1 .

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das geistige Gut herrscht, die gewerblich-industrielle Gesellschaftsordnung, in der das gewerbliche Kapital die Ordnung bestimmt.1) Wichtig aber ist nun, daß diese Unterscheidung verschiedener Gesellschaftsformen nicht nur dem Steinschen Gesellschaftsbegriff einen geschichtsphilosophischen Gehalt gibt, sondern auch der Wirtschaft den einzelnen Gesellschaftsformen gegenüber eine verschiedene Bedeutung zukommen läßt. Es ist überraschend, wie er aufzeigt, daß die industrielle Gesellschaft nur eine Form unter anderen ist, und zwar diejenige, in die die „rein wirtschaftlichen Grundsätze am bestimmtesten" hineingreifen. „Da in der gewerblichen Ordnung das Geschlecht und die geistige Tätigkeit keinen Halt mehr bieten, so muß der Besitz mit seinem Maße ganz allein ausreichen, um das Leben der Gesellschaft zu bestimmen. Dadurch geschieht es, daß die Gesetze, welche über die wirtschaftliche Welt herrschen, zugleich zu den herrschenden Gesetzen in der g e s e l l s c h a f t l i c h e n Welt werden." 2 ) E r sieht die Gefahr der Überbewertung des wirtschaftlichen Lebens in der industriellen Gesellschaft, die Gefahr des „Materialismus", und verlangt deshalb von der neuen, geforderten Gesellschaftsordnung, deren Bau die Aufgabe der abendländischen Gesellschaft sein wird, daß sie die drei durchlaufenen Gesellschaftsformen (die übrigens ähnlich wie die einzelnen Klassen im gesellschaftlichen Kampfe miteinander ringen)3) synthetisch vereinigt. Damit sind wir am Ende der Untersuchung des Steinschen Gesellschaftsbegriffes. Ebenso wie die Wirtschaft in dem Geistesleben des 19. Jahrhunderts zentrale Bedeutung erlangt (denn dort liegen die Entscheidungen der Zeit), so beherrscht sie auch sein Denken. Wir haben das enge Ineinander von Gesellschaft und Wirtschaft festgestellt und die Fortdauer des deutschen Idealismus in der Bewertung des wirtschaftlichen Lebens gespürt. Wenn wir von einem Wandel in seiner geistigen Entwicklung in bezug auf diesen Problemkreis sprechen wollen, dann müssen wir zweiEpochen unterscheiden: die Zeit, wo die Gesellschaft wesentlich von der Wirtschaft her gedacht wird, und seine späteren Jahre, wo die Wirtschaft als eine Seite eines geistig-sittlichen Organismus fungiert. Jedenfalls ist für ihn die Gesellschaft nie eine bloße Wirtschaftsgesellschaft, die Geschichte nie ein bloß ökonomisches Geschehen.4) ') Vgl. Stein, System II, S. 424 ff.; Verw.-Lehre, 2. Teil, S. 185. ) Stein, System II, S. 426. 3 ) Noch in der Verwaltungslehre spricht er von dem „doppelten K a m p f " im gesellschaftlichen Leben (Verwaltungslehre, 2. Teil, S. 185). l ) Hoffentlich hat die Analyse des Steinschen Gesellschaftsbegriffes gezeigt, daß es nicht möglich ist, ihm eine einseitig ökonomisch-materiali2

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Gesellschaft ist — so können wir zusammenfassend sagen — ein geistig-sittlich-ökonomisches Sozialgebilde und als solches der Ort der Geschichte. Geschichte wird ausgefüllt durch den Kampf der Klassen, der noch ergänzt wird durch den Kampf der Gesellschaftsformen. Geschichte ist Gesellschaftsgeschichte, die alle anderen Kulturmomente in sich aufnimmt und funktionalisiert. Wir kommen damit — in marxistischer Terminologie ausgedrückt — auf das U b e r b a u p r o b l e m zu sprechen, dem, da es bei Stein eine nicht unwichtige Rolle spielt und seinen sozialen Realismus noch von einer anderen Seite her verdeutlicht, der Schluß dieses Abschnittes gewidmet werden soll. Eine der zentralen Fragen in seinem Denken ist das R e c h t und seine Geschichte; ging doch auch seine wissenschaftliche Arbeit von der Rechtsgeschichte und Rechtsphilosophie aus. Ähnlich wie die Historische Schule von dem Wachsen des Rechts neben den anderen kulturellen Teilgebieten spricht, so ist auch für Stein das Recht zunächst eine sich entfaltende Rechtsidee, die vom Volksgeist geprägt, eine bestimmte Gestalt annimmt. Diese der Historischen Schule und Hegel ähnelnden Gedanken sind noch bis 1845 lebendig. J e mehr er sich aber dem gesellschaftswissenschaftlichen Denken nähert, desto mehr wird das Recht funktionalisiert.1) Während es zunächst eine Funktion der Idee der freien Persönlichkeit ist, die sich in der Geschichte verwirklicht (besonders 1845, 1846), wird es sehr bald Uberbau des gesellschaftlich-ökonomischen Lebens. Geschichte des Rechts ist nichts anderes „als die bloße Form, in der die gesellschaftliche Bewegung zu ihrer festen Gestaltung kommt".2) Recht ist jetzt nicht mehr denkbar außerhalb des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lebens, und so kommt er zu der These, daß der Besitz der Hauptfaktor der ganzen inneren Entwicklung des Rechts sei. Das Lehnswesen, die Leibeigenschaft sind keine selbständigen stische Auffassung der sozialen Wirklichkeit vorzuwerfen, wie es gemeinhin geschieht. Auch Spann und Gumplowicz kommen diesem Vorwurf sehr nahe (vgl. L . Gumplowicz, Grundriß der Soziologie, 2. Aufl., 1905, S. 62 und Allgem. Staatsrecht 1897, S. 182 ff.; Othmar Spann, Wirtschaft und Gesellschaft, Dresden 1907, S. 96). *) In diesem Punkte zeigt sich auch der Gegensatz Steins zu dem späteren Staatssozialismus (Rodbertus, Lassalle und Adolpt Wagner) deutlich. Stein denkt „materialistischer" als jene, die in ihrjr Rechtsauffassung die enge Beziehung zu Savigny nicht aufgeben (/gl. Thier, Rodbertus, Lassalle, Adolph Wagner, S. 38 ff.). 2 ) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 4 1 8 .

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Rechtsordnungen, sondern der „rechtliche Ausdruck einer volkswirtschaftlichen Erscheinung" 1 ), wie jede große Rechtsgesetzgebung „der Ausdruck einer neuen Stufe der Gesellschaftsgeschichte ist". 2 ) Aber das Ideologieproblem ist bei ihm bereits in einem viel umfassenderen Sinne angelegt und geht über die Einordnimg der Rechtsgeschichte in das gesellschaftliche Geschehen hinaus. (Unter Ideologie verstehen wir die Bewußtseinslage des Menschen, die auf eine bestimmte gesellschaftliche Seinslage bezogen wird.)3) Gesellschaftlich-wirtschaftliche Verhältnisse bedingen nicht nur das seelische und geistige Leben des einzelnen („dieselben Menschen werden, je nachdem sie viel oder wenig besitzen, anderes tun, anderes lernen, anderes erstreben, anderes lieben und hassen")4), sondern auch die Ideen der Klassen, „die, indem sie nach einem außer ihnen liegenden Ziele zu ringen s c h e i n e n , in der Tat nur ihre eigene Natur erfüllen". 5 ) So sind auch die sozialistischen und kommunistischen Lehren nichts anderes als Ideologie des Proletariats, mit und aus dem Proletariat entstanden oder, wie Stein sagt, der höhere theoretische Ausdruck einer gesellschaftlichen Lage. Aus den proletarischen Bewegungen m u ß t e der Sozialismus entstehen, aber damit ist er noch nicht wissenschaftlicher Sozialismus, sondern noch Ideologie, noch einseitig, abstrakt, noch falsches Bewußtsein, obwohl man berücksichtigen muß, daß für Stein die sozialistischen Lehren auch oft mehr als bloßer Überbau sind: der Weltgedanke, die Weltvernunft, die in ihnen arbeitet. Auch den Liberalismus entlarvt er wie neben ihm Stirner, Heß und Grün6) als Ideologie einer Besitzbürgerschaft: ein Zeichen für den Realismus seines soziologischen Denkens. Die sogenannte „liberale" Bewegung vertritt — so ist seine Meinung — mit ihren Forderungen der Volksvertretung, der Verantwortlichkeit der Minister, der Steuerbewilligung, der verbrieften Verfassung und des Wahlzensus nicht „die Gesamtheit des Volkes, sondern einen ganz bestimmten Teil seiner Gesellschaft", „die Idee der Herrschaft der industriellen Gesellschaft". 7 ) Am interessantesten aber ist die Frage nach dem Steinschen Ideologieproblem bei seiner Stellung zu Religion, Kirche, Wissen*) 2) 3) *) s) 8) ')

Stein, System I, S. 479. Stein, System II, S. 230. Vgl. Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 2. Aufl. Stein, Verwaltungslehre, 2. Bd., S. 184. Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 56 (Sperrdruck von mir). Vgl. Koigen, Zur Vorgeschichte, S. 132 f., S. 191. Stein, Soz. in Deutschi. 1852, S. 526.

Beiheft d. H . Z. 26.

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schaft. Auch hier finden wir Ansätze zum Ideologiebegriff. Während noch Hegel die Geistesmacht Kirche kaum anzutasten wagte, und als wesentliches Moment in sein rationalistisches System hineinzwang, bringt es Stein, durch die junghegelianische Ernüchterung hindurchgegangen, fertig, die Kirche und den Glauben als die Spitze des Gottesbewußtseins der interessengebundenen reaktionären Klasse hinzustellen, während die Religion und die Liebe der Geist der zwar herrschenden, konservativen, erhaltenden, aber nicht ausbeutenden Klasse ist. Zur vorwärtstreibenden, revolutionären Klasse aber gehört das Wissen, die Erkenntnis, die Wissenschaft als der geistige Überbau. 1 ) Das gesellschaftlich-ökonomische Leben dominiert: das zeigen wohl nicht zuletzt seine Ansätze zu einer Ideologielehre. Aber auch der nächste Abschnitt, der sich mit dem Steinschen Staatsbegriff beschäftigen wird, wird uns die alles beherrschende Rolle des gesellschaftlichen Lebens verdeutlichen. Denn Stein kennt nicht nur eine Funktionalisierung des Rechts und der Ideen der vergesellschafteten Menschen, sondern auch eine teilweise Funktionalisierung des Staates. 7. GESCHICHTE UND STAAT. Es scheint verwunderlich, daß wir erst jetzt in die Behandlung des Staatsproblems eintreten (wird doch Stein gemeinhin als der Philosoph des sozialen Königtums oder gar auch als Staatssozialist bezeichnet). Das aber wird uns verständlich werden, wenn wir tiefer in seine Staatsauffassung eindringen, die durchaus nicht klar und eindeutig ist, sondern uns in ihrer Mehrdeutigkeit und Mehrschichtigkeit zeigen wird, wie sein Standort ein typischer Zwischenstandort ist, wie er — und diese kurze Formel ist vor allem bei seiner Lehre vom Staat möglich — zwischen Hegel und Marx steht. Vgl. Stein, System II, S. 134 ff.; vgl. auch S. 262 f f . : Der Geist der Gesellschaft spaltet sich in Glaube und Erkenntnis; das entspricht der Spaltung der Gesellschaft in Besitzende und Nichtbesitzende. — Neben der Auffassung der Kirche als einer gesellschaftlichen Institution, als eines ideologischen Überbaues einer Gesellschaftsklasse kennt Stein die Kirche auch als eine Gemeinschaftsform a u ß e r h a l b von Staat und Gesellschaft (vgl. Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 444), die sogar Träger der Freiheitsidee genannt wird: ,,. . . die Kirche . . ., die überhaupt dazu bestimmt war, die Freiheit da zu vertreten, wo die ganze übrige Gesellschaft sie aufgegeben, während sie sie stets da bekämpfte, wo die letztere sie forderte" (Verwaltungslehre, 5. Teil, S. 26 f.).

- 83 Von der junghegelianischen, revolutionär und aktivistisch orientierten Unterscheidung zwischen dem B e g r i f f des Staates und dem wirklichen Staat geht auch Stein in seiner Staatsauffassung aus, kommt aber durch sein ausgesprochen gesellschaftwissenschaftliches Interesse zu einer Ausweitung und gleichzeitig zu einer Vertiefung des Problems. Der Staat als B e g r i f f ist „die zur selbständigen und selbsttätigen Persönlichkeit erhobene Einheit der Menschen".1) Er ist absolut notwendig, hat ein eigenes Leben und ist vom Interesse und vom Willen der Individuen unabhängig. Er steht über allen, auch über der Gesellschaft als höchste und selbständige Macht. E r wirkt aus sich selbst heraus und ist sich selbst verantwortlich. E r kommt mit eigenem Willen zur eigenen Tat. E r ist das Ich, das Wir der Gemeinschaft, und dieses Ich erscheint im Staate „als das S t a a t s o b e r h a u p t , das im Königtum seine vollendetste Form empfängt" 2 ), denn der Begriff des Staates fordert die Kristallisation des Wollens und des Tuns in einem persönlichen, individuellen Willen. Sein Prinzip ist, „daß das Maß der Entwicklung aller einzelnen zum Maße der Entwicklung des Staates selber wird". 3 ) Vor dem reinen Begriff des Staates sind die Individuen gleich und frei. Darum liegt es in seiner Natur, sich um die Entwicklung jedes einzelnen zu bemühen, ihm zu seiner vollsten Freiheit zu verhelfen. Das ist sein eigenes Interesse, denn indem er für alle sorgt, sorgt er für sich selbst. — So sieht Stein das Wesen des Staates. Und wie begründet er ihn ? Hier haben wir bereits verschiedene Möglichkeiten der Auslegung. Eindeutig und konstant allerdings ist seine scharfe Polemik gegen alle Theorien, die den Staat als die Konsequenz eines Vertrages auffassen. Ebenso wie Hegel gegen die Rousseausche Vertragstheorie vorgeht, weil sie den Staat nur als das aus einzelnen Willen hervorgehende Gemeinschaftliche definiere4), so polemisiert Stein gegen die „kindliche Vorstellung vom Staatsvertrage, wie sie bei Pufendorf und Wolff bestand".6) Der Staat ist kein „Ergebnis der Willkür, (k)ein zufälliges Ding", wie es jeder Vertrag mit sich bringt, sondern ist notwendig und unvermeidbar. Diese Kampfansage gegen alle positivistisch-individualistischen Ableitungen des Staates ist dem ganzen deutschen Idealismus und der Romantik gemein und reiht Stein in diese Front. 2

) ') *) ')

Stein, Stein, Stein, Hegel, Stein,

System II, S. 32. Verwaltungslehre, 1. Teil, S. 4. Gesch. d. soz. Bew., i . B d . , S. 35. Rechtsphilosophie § 258. Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 90 f.

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Gehen wir aber über diese Steinsche Begründung des Staates, die doch vorläufig nur negativ ist, indem er aufzeigt, was der Staat nicht sein kann, hinaus, so stoßen wir bei der Frage nach einer positiven Begründung des Staates auf verschiedene Versuche, die die Beweglichkeit und die verschiedenen Ansatzpunkte seines Denkens zeigen. Einerseits sind Ansätze vorhanden, die, einem Individualismus sehr nahestehend, den Staat vom Individuum her denken, ohne allerdings zu einer rationalistischen Vertragstheorie zu kommen.1) Das Individuum und seine Bestimmung ist der Ausgangspunkt. Aus seiner Begrenztheit folgt notwendig die Gemeinschaft der Menschen, und der Staat ist das zur selbständigen und selbsttätigen Persönlichkeit gewordene Ich dieser Gemeinschaft. Er bekommt damit — etwas überspitzt ausgedrückt — den Charakter eines sozialpsychischen Phänomens. Anderseits betont er mit großem Nachdruck, daß dieses Ich in seiner Notwendigkeit und Selbständigkeit nicht von dem Wollen und Nichtwollen der Individuen abhängt, sondern seinen Grund in sich hat. Der Staat hat ein persönliches Leben. Er ist — so klingt es bei ihm oft an — der Mensch im Großen mit Willen und Tathandlung, das große Individuum, die große Persönlichkeit, das große Subjekt, der große selbständige Organismus. Diese Unbestimmtheit der Definitionen, dieses Ineinander von individualistisch orientierter und universalistisch-organologischer Begründung zeigt jedenfalls, daß ihm jede spekulativ-metaphysische Ableitung im Stile Hegels ferngerückt ist, für den der Staat, panlogistisch gesehen, der sichtbar gewordene Gott, der Weltgeist auf einer Stufe seiner Realisation, die „sich als Wille verwirklichende Vernunft", „die selbstbewußte sittliche Substanz" ist. Dieser Substanzcharakter widerspricht dem realistischen Denken Steins. Er schaut den Staat nicht mehr in der hegelisch-metaphysischen Umkleidung. Der Staat wird als Tatsache hingenommen, die man nicht beweisen und nicht begründen kann. Es ist bezeichnend, daß er sich in seiner in den 60 er Jahren erscheinenden Verwaltungslehre gegen jede Ableitung des Staates sträubt: „Der Staat ist weder eine Anstalt, noch eine Rechtsforderung, noch eine ethische Gestaltung, noch ein logischer Begriff so wenig wie das Ich des Menschen. Der Staat ist eine — die höchste materielle ') In diesem Individualismus der Steinschen Staatsauffassung macht sich der Einfluß sowohl des westlichen als auch des Kantischen und Fichteschen Denkens bemerkbar. Es hieße aber, Steins Geisteshaltung vergewaltigen, wollte man seine Staatsauffassung — wie Spann es tut — individualistisch nennen. Stein steht zu sehr zwischen den Zeiten, als daß er so beurteilt werden könnte.

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-— F o r m der P e r s ö n l i c h k e i t . Es ist sein Wesen, den Grund in sich selbst zu haben. Er kann so wenig bewiesen werden und so wenig .begründet' werden als das Ich. Er ist er selber. Ich kann ihn, wie das Ich, nicht aus einem anderen entwickeln. E r ist d i e g e w a l t i g e T a t s a c h e (!), daß die Gemeinschaft der Menschen außerhalb und über dem Willen der Gemeinschaft selbst ein eigenes, selbständiges und selbsttätiges Dasein hat." 1 ) Es wird hier die Auffassung einer Zeit deutlich, die, in ihrem ametaphysischen Realismus an die Romantik erinnernd, gegen jede rationalistische Begründung des Staates opponiert, sowohl gegen die aufklärerisch-individualistische als auch gegen die hegelischspekulative. So läßt sich zusammenfassend sagen, daß Stein in seiner Bestimmung des Staatsbegriffes von Hegel trotz mancher hegelisch klingenden Formulierungen (so wenn er von dem Staat als der „Wirklichkeit der sittlichen Idee" spricht2)) abrückt. Und doch ist der Staat seinem Wesen nach mehr als eine vom Individuum her zu begründende Institution. Er ist die selbständige, über alle Willkür erhabene, über der Gesellschaft und dem einzelnen stehende Persönlichkeit und wie jede Persönlichkeit durch sich selbst vorhanden und sich selbst bestimmend. Er ist hegelisch und zugleich ahegelisch gesehen. Aber diese Differenz zwischen Hegel und Stein in der Begriffsbestimmung des Staates erscheint gering, wenn wir den viel entscheidenderen über Hegel hinausführenden Schritt der Steinschen Staatsauffassung ins Auge fassen: Die Unterscheidung zwischen dem B e g r i f f des Staates und seiner W i r k l i c h k e i t . Der Staat, wie wir ihn oben darstellten, ist zunächst nur ein „reiner Begriff" und existiert nicht in der Geschichte. „Sein Dasein ist daher ein abstraktes." 3 ) Wiederum aber ist er nicht nur ein regulatives Apriori im Sinne des vorhegelischen Idealismus. Er lebt in der Geschichte, zwar nicht in der Reinheit der Idee, aber als w i r k l i c h e r Staat. 4 ) ') Stein, Verwaltungslehre, i . Teil, S. 6. Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 46. 3) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 50. *) Bei der Erkenntnis des wirklichen Staates scheint für Stein der Staatsbegriff der französischen Gesellschaftswissenschaft nicht ohne Bedeutung gewesen zu sein. Es ist nicht unwichtig, daß er anfangs sehr gern den Begriff des gouvernement als Staatsbegriff verwendet (vgl. Stein, Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 74, 75, 89). Anderseits ist er sich aber durchaus bewußt, daß der Begriff des gouvernement, „der einseitige Begriff der Regierung", für die wirkliche Erkenntnis des Staatlichen nicht genügt (vgl. Stein, Soz. u. Kom., 1. Aufl., S. 32). 2)

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Dieser wirkliche Staat ist ein ganz neues Phänomen und nur bedingt mit dem begrifflichen Staate in Verbindung zu bringen. Er ist nichts Simplexes, sondern ein zusammengesetztes Gebilde, dessen Koordinaten Gesellschaftsordnung und Staatsidee heißen. Die Gesellschaft, der eigentliche Ort menschlichen Geschehens, wird auch für den Staat entscheidend. Er wird wirklicher Staat, indem er „mit seinem Staatskörper, der Gesellschaft" 1 ) in Berührung tritt. Notwendig und unvermeidlich — so charakterisiert er den wirklichen Staat weiter2) — wird das gesellschaftliche Leben in das Leben des Staates hineingetragen. „Und so ergibt sich, daß die Staatsidee im wirklichen Staat eben darum niemals rein erscheint, weil der ganze Geist, das ganze Leben des letzteren mit den sozialen Elementen von vornherein durchdrungen ist." So innig sind Staat und Gesellschaft verflochten, daß es dem Staate nicht möglich ist, außerhalb der Gesellschaft zu existieren, ja er wird von der Gesellschaft her so weit bestimmt, daß er sich ihr kaum widersetzen kann. Und um den Unterschied zwischen Idee und Wirklichkeit noch eindringlicher zu zeigen, kommt er zu der überscharfen Formulierimg: „Seinem Begriff nach der Herrschende ist er in der Wirklichkeit der Gehorchende." Diesem Ineinander von Staat und Gesellschaft steht das Gegeneinander beider gegenüber. Der wirkliche Staat hat, auch wenn er noch so sehr in der Gesellschaft aufzugehen droht, immer noch sein spezifisch staatliches Moment in sich, das ihn zum Feind der Gesellschaft macht und ihn dazu treibt, eigenmächtig zu werden. Er versucht, sich der Allgewalt des gesellschaftlichen Lebens zu entziehen, um seinem eigentlichen Prinzip zu leben. Diese Auffassung des wirklichen Staates, der, mit dem gesellschaftlichen Leben verflochten, Gesellschaftsinstitution ist und doch über sie hinaus drängt, der Nicht-mehr-Staat und doch Staat ist, wollen wir, obwohl wir sie in ihren Grundzügen schon dargestellt haben, noch etwas näher ins Auge fassen. Wenn Stein behauptet, daß der Staat seinem reinen Begriffe nach nicht existieren kann, so ist dies der Ausdruck der Überzeugung, daß jede bloße Idee ohnmächtig ist. Auch die Ohnmacht der reinen Staatsidee ist „die Ohnmacht alles Abstrakten und Idealen". Von dieser Ebene aus polemisiert er gegen die demokratisch-republikanischen Bewegungen, die mit dem Begriff der freien Persönlichkeit, dem Begriff des freien Staates, der Idee der freien Staatsverfassung argumentieren. Aber diese angestrebte s)

Stein, Gesch. d. soz. Bew., i. Bd., S. 67. Vgl. Stein, a. a. O., S. 51 f.

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demokratische Verfassung ist, weil nur von einer Idee her konzipiert, „eine rein p r i n z i p i e l l e V e r f a s s u n g . Sie ist ihrer Natur nach unter allen Verfassungen diejenige, die stets nur aus dem Gedanken hervorgeht; sie setzt als tatsächlich, was prinzipiell notwendig i s t . . . Sie ist eine Abstraktion von der wirklichen Menschheit, der wirklichen Gesellschaft...; mit Recht nennen sie die Franzosen eine I d e o l o g i e . . . ; eine Tat des Gedankens, gilt sie nur im Reiche der Gedanken." Eine solche Verfassung ist nur „eine Verfassung auf dem Papiere". 1 ) Denn die demokratische Bewegung verkennt das Wesen und die Macht der Gesellschaft.2) Demgegenüber betont Stein, daß man nicht durch abstrakte Überlegungen eine Verfassung konstruieren kann, denn jede Verfassung ist der Ausdruck einer Gesellschaftsordnung. Es herrscht im gesellschaftlich-historischen Leben das Gesetz, daß sich jede Gesellschaftsordnung ihren Staat zu schaffen versucht. Das heißt aber nichts anderes, als daß der Staat in den Klassenkampf der Gesellschaft hineingezogen wird. Jede Klasse, sowohl die besitzende als auch die nichtbesitzende, kämpft um den Besitz der Staatsgewalt. Die herrschende Klasse versucht sich des Staates zu bemächtigen, um die Staatsgewalt als Mittel für ihre gesellschaftlichen Zwecke zu gebrauchen: um den Besitz zu erhalten, um ihn zu vermehren und um jede Oppositionsbewegung zu unterdrücken. Es liegt zunächst in ihrer Absicht, die Verfassung in ihrem Sinne zu gestalten; die abhängige Klasse wird, etwa durch ein Zensuswahlrecht, von der Bildung des Staatswillens ausgeschlossen. Darüber hinaus versucht sie, die Staatsverwaltung in ihre Hand zu bekommen. Sie setzt eine positive Rechtsordnung und strebt *) Stein, Gesch. d. soz. Bew., i. Bd., S. 290 f. — Stein nennt die französische Verfassung von 1793 eine Verfassung auf dem Papiere, die mit ihrer Forderung nach absoluter Gleichheit mit der bestehenden Gesellschaftsordnung im Widerspruch steht. — Nicht unwichtig ist, daß der Begriff der papierenen Verfassung später wieder bei Lassalle auftaucht! 2) Interessant ist, daß Stein in den bibliographischen Anmerkungen des Soz. u. Kom. von einer neuen Richtung der republikanischen Bewegung spricht, die „den Kampf um eine n e u e V e r f a s s u n g und die Opposition gegen die vorübergehenden Ministerien in den Hintergrund treten läßt gegen die stets wachsende Forderung an die Staatsgewalt, daß sie sich mit ihren Mitteln d e r a r b e i t e n d e n u n d d i e n e n d e n K l a s s e a n n e h m e n s o l l e " (Stein, Soz. u. Kom. 2. Aufl., S. 582; Sperrdruck von mir). Stein denkt hier wohl vor allem an den späteren Rüge, der in einem Aufsatze in den Deutschen Jahrbüchern die Auflösung des n u r t h e o r e t i s c h e n Liberalismus in Demokratismus verlangt (vgl. Rüge, Eine Selbstkritik des Liberalismus).

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nach Beherrschung der staatlichen Ämter. Ein solches Vorgehen der herrschenden Klasse nennt Stein Reaktion und deren Verfassungsform Oligarchie. Der Staat wird zu einem Instrument der herrschenden Klasse, zum Klassenstaat. Entsprechend versucht nun auch die beherrschte Klasse der herrschenden die Staatsmacht zu entreißen. Stein unterscheidet dabei zwei Möglichkeiten: die politische und die soziale Revolution. Wenn es der bisher gesellschaftlich beherrschten Klasse gelingt, materielle und geistige gesellschaftliche Güter zu schaffen, so verlangt diese neue Gesellschaftsordnung auch eine Neuordnung des staatlichen Lebens. Weigert sich aber die herrschende Klasse, den nachhinkenden staatlichen und rechtlichen Überbau zu reformieren (politische Reform), um ihn mit der neuen Gesellschaftsordnung in Einklang zu bringen, so setzt die p o l i t i s c h e Revolution oder Staatsumwälzung ein. Wenn aber für die beherrschte Klasse keine Möglichkeit des Besitzerwerbes besteht, so bricht die s o z i a l e Revolution aus, die den gewaltsamen Versuch der Nichtbesitzenden darstellt, die Staatsgewalt in ihre Hände zu bekommen, um sie in ihrem Sinne: zur Herstellung einer neuen Gesellschaftsordnung zu verwenden. Siegt die ausgebeutete Masse in diesem Verzweiflungskampfe um den Staat und seine Macht, so herrscht die „Diktatur" des Proletariats 1 ), die Demagogie der Masse, deren politisch-staatliche Gestalt die Ochlokratie oder, wie er auch sagt, die „rote Republik" ist. Auch hier folgt wieder notwendig, daß der Staat untergeht, zum Instrument einer Klasse, zum Klassenstaat wird. Aber dieses Gesetz der Souveränität der Gesellschaft über den Staat herrscht, wie wir schon feststellten, nicht als das einzige; es herrscht nicht „ohne Gegengewicht". Denn der Staat versucht immer wieder, sich von der Herrschaft der Gesellschaft zu befreien. Steins wirklicher Staat ist eben mehr als eine bloße rechtliche Ausgestaltung einer Gesellschaftsordnung, mehr als ein bloßer Überbau. Er besitzt neben seinem existentialen Sein als Gesellschaftsinstitution ein potentiales Sein als ein transgesellschaftliches Phänomen. Er hat immer die Möglichkeit, sich auf sein Wesen und seine daraus folgenden Aufgaben zu besinnen und zu handeln. Ja, ohne es oft selbst zu wissen, arbeitet er an der Verwirklichung seines Prinzips, das Gesamtinteresse über die Sonderinteressen zu stellen. Voraussetzung dafür ist, daß er sich ü b e r den streitenden Parteien erhält. Um das zu können, muß die Staatsidee eine persönliche Vertretung in einem starken König>) Stein, Gesch. d. soz. Bew., i. Bd., S. 131.

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tum finden. Dieses Königtum ist als persönlich gewordener Staatswille „kein Artikel der Verfassung, kein Mandatar des Volkes, keine Einrichtung; es ist vielmehr die u n m i t t e l b a r e und unbedingte Voraussetzung aller Verfassung".1) Dieser Staat als Gegenspieler der Gesellschaft hat einen eigenen Willen, und das Organ dieses Willens ist die gesetzgebende Gewalt ; und neben seinem Willen steht seine Tat, deren Organe die Vollziehung und die Verwaltung sind.2) Sichtbar wird dieser wollende und tätige Staatskörper in dem Beamtentum und dem Heere, die das Königtum an sich zu fesseln versucht, wenn auch die Gesellschaft nicht aufhört, sie zu unterhöhlen und danach zu trachten, sie für gesellschaftliche Sonderinteressen zu verwenden. Diese aufgezeigte gegenseitige Einwirkung von Staat und Gesellschaft definiert er als die Gesetze der Verfassungs- und Verwaltungsbildung im sozialhistorischen Leben. Das Gesetz der Verfassungsbildung besteht darin, daß die herrschenden Interessen versuchen, sich der Staatsgewalt zu bemächtigen, das Gesetz der Verwaltungsbildung darin, daß die Staatsgewalt die Herrschaft der Interessen durch ihre tätige Verwaltung zu brechen sucht. Beide Gesetze wirken gegeneinander und nebeneinander. Aber der Sieg eines der beiden Gesetze führt das menschlich-geschichtliche Leben zu Tod und Erstarrung: sowohl der Sieg der Gesellschaft als auch der Sieg der Staatsidee.3) Siegt die Gesellschaft über den Staat, dann wird er zum Klassenstaat, dann geht „das einzige Moment verloren, das seinen höchsten sittlichen Beruf... darin hatte, die Gemeinschaft und Harmonie dieser Interessen zu vertreten, und die Folge ist dann notwendig und unausbleiblich die Auflösung der Gemeinschaft in dem end- und gestaltlosen Kampf der gesellschaftlichen Interessen" bis zur Vernichtung.4) Siegt aber die Staatsidee, indem sie als absolute Gewaltherrschaft die Klassen gegeneinander ausspielt, die Gunst der besitzlosen Klasse durch Spiel und Unterhaltung zu gewinnen und die besitzende Klasse durch ein in sie hineinreichendes Bestechungssystem zu schwächen sucht, so wird die Bildung des gesellschaftlichen Lebens zerstört. Das menschliche Leben erstarrt. Jedoch der lebendige Gegensatz zwischen Staat und Gesellschaft gibt der geschichtlichen Bewegung ihre Dynamik, indem sich beide, Staat und Gesellschaft, gegenseitig zu unterwerfen drohen. *) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 49. Stein, Verwaltungslehre, I.Teil, S. 5. 3) Vgl. Stein, Gesch. d. soz. Bew., Bd. j, S. 31 f. 4) Stein, System II, S. 57.

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Damit aber scheint Geschichte ein ewiger Stoß und Gegenstoß zu sein, der das historische Leben ausfüllt und „ d a s L e b e n s p r i n z i p der inneren G e s c h i c h t e ü b e r h a u p t " ist. 1 ) 8. STAAT UND GESELLSCHAFT. Die Geschichte scheint ein ewiger Stoß und Gegenstoß zwischen Staat und Gesellschaft zu sein: mit dieser Definition der Geschichte schloß der vorhergehende Abschnitt. Aber dieser Satz läßt sofort zwei Fragen auftauchen. Erstens: ist für Stein tatsächlich der Kampf zwischen Staat und Gesellschaft der Inhalt der Geschichte ? Widerspricht diese Behauptung nicht der sonst als gültig hingestellten Formel: die Geschichte sei die Geschichte von Klassenkämpfen ? — Und zweitens: ist der Geschichtsverlauf wirklich von Stein als ein unendlicher Stoß und Gegenstoß gedacht worden, als eine — hier richtig zu verstehende — schlechte Unendlichkeit ? Die erste Frage ist leicht zu beantworten. Der Staat kämpft nämlich nicht, indem er seiner Bestimmung folgt, gegen die Gesellschaft als solche, sondern gegen die herrschende, ausbeutende Klasse in ihr. Dann aber ist und bleibt der Klassenkampf der „eigentlichste und tiefste Inhalt der menschlichen Geschichte", die Gesellschaft der Boden des historischen Prozesses. Denn, indem der Staat als Beschützer der unfreien und beherrschten Klasse das gesellschaftlich-historische Leben zu bestimmen und die herrschende Klasse aus ihrer Vormachtstellung zu verdrängen sucht, steht er mitten im Klassenkampf, allerdings nicht als eine Klasse neben anderen Klassen, sondern als eine — so scheint es oft — metaphysische Kraft, als eine außermenschliche Hilfe, die in die im übrigen von sehr realen Machtkämpfen getragene Geschichte eingreift. Erst wenn wir berücksichtigen, daß von Stein die Geschichte auch unter diesem „staatlichen Aspekt" gesehen wird, ist die Definition der Geschichte als ein Kampf zwischen Staat und Gesellschaft gerechtfertigt. Weit komplizierter und von Stein nie eindeutig beantwortet ist die zweite Frage: läuft die Geschichte in eine schlechte Unendlichkeit aus? Wird sie für immer eine Geschichte der Unfreiheit bleiben, nie zur Synthese kommen ? Wir müssen zugeben, wollen wir nicht Steins Denkhaltung vergewaltigen, daß oft eine Skepsis anklingt, die diese Fragen bejaht. Und doch ist er im Grunde zu optimistisch, um einen solchen Pessimismus überhandnehmen zu lassen, zu sehr um die „soziale Zukunft Europas" besorgt, um !) Stein, System II, S. 33.

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nicht an der Lösung der Krise mit seinem ganzen Herzen und seinem ganzen Verstand zu arbeiten, zu sehr aktivistisch, um quietistisch in der Haltung romantischer Sehnsucht und in bloßen Feststellungen steckenzubleiben, und zu sehr Hegelianer, um nicht doch dem staatlichen Prinzip zu einem, wenn auch nicht hegelischen Siege zu verhelfen. 1 ) Stein weiß sich an einem Wendepunkt der Geschichte, an dem eine neue Epoche des gesellschaftlichen Lebens einsetzt. Die Gesellschaft bleibt nicht eine Gesellschaft der Unfreiheit, sondern wird, nein, sie soll in eine Harmonie der Interessen verwandelt werden, sie soll aus einem System rivalisierender Egoismen zu einem System allgemeiner Abhängigkeit werden. Ober besser: diese Abhängigkeit, die schon immer als dialektische Notwendigkeit vorhanden war, nie aber fruchtbar werden konnte, soll jetzt zu einer bewußten und gewollten werden. Aus dem Interesse, in dem sich die Freiheit bislang erschöpfte, soll die Freiheit des bewußten Gehorsams und die Einsicht in die gegenseitige A b hängigkeit werden. Damit und durch nichts anderes wird die soziale Frage und Krise gelöst. Zwar ist dieser dialektische Umschlag aus der Vielheit der Interessen in die allseitige Abhängigkeit schon in Hegels Gesellschaftslehre klar gesehen worden; aber wie vieles bei ihm bleibt auch diese Dialektik eine rein logische.2) Steins neue Gesellschaft 1 ) Anders interpretiert in diesem Punkte Erich Thier Lorenz v. Stein: Er bleibe in seiner Polaritätsphilosophie von Stoß und Gegenstoß befangen. Immer wieder demonstriere er die Unlösbarkeit des Gegensatzes zwischen Staat und Gesellschaft. Die Synthese bleibe ganz im Fichteschen Sinne das unendliche, ewige, ideale Ziel (Thier, Rodbertus, Lassalle, Adolph Wagner, S. 12 ff.). Demgegenüber stehe ich auf dem Standpunkte, daß er letztlich, obwohl auch zeitweise diese Haltung in Erscheinung tritt, an die Realisierbarkeit einer neuen, synthetischen Epoche glaubt; steht er doch auch dem Fichte nach 1800 näher als dem vor der Jahrhundertwende. 2) „Der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung, so durch die Allgemeinheit bedingt, begründet ein System allseitiger Abhängigkeit, daß die Subsistenz und das Wohl des einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Subsistenz, das Wohl und das Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhange wirklich und gesichert ist" (Hegel, Rechtsphilosophie § 183). — „ I n dieser Abhängigkeit und Gegenseitigkeit der Arbeit und der Befriedigung der Bedürfnisse schlägt die s u b j e k t i v e S e l b s t s u c h t in den B e i t r a g z u r B e f r i e d i g u n g d e r B e d ü r f n i s s e a l l e r a n d e r e n um, — in die Vermittlung des Besonderen durch das Allgemeine als dialektische Bewegung, so daß, indem jeder für sich erwirbt, produziert und genießt, er eben damit für den Genuß der übrigen produziert und erwirbt" (Hegel, Rechtsphilosophie § 199).

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der gewollten gegenseitigen Abhängigkeit dagegen hat etwas Normatives. Es ist die Aufgabe der Geschichte, sie erst zu schaffen, zu formen und zu gestalten. Sie ist kein Sein, sondern ein Sollen. Sie ist ein Ziel, aber kein unendliches, sondern eines, an dessen Realisierung noch heute gearbeitet werden muß, und das sich morgen verwirklichen wird. Wichtig aber ist nun, daß diese geforderte Gesellschaft der Harmonie der Interessen nur bedingt Gesellschaft im ursprünglichen Sinne genannt werden kann, ist sie doch eine sowohl logisch als auch sittlich höhere Stufe. Sie ist, weil das Sonderinteresse, wenn auch aus Einsicht, zum Altruismus wird, eben nicht mehr das bellum omnium contra omnes, sondern ein neues synthetisches Gebilde, ich möchte sagen: eine d u r c h s t a a t l i c h t e Gesells c h a f t . Durchstaatlicht soll hier heißen, daß die Gesellschaft zu einem Wir, zu einer gewollten Einheit kommt (ein sozialpsychischer Zug, der ein wesentliches Charakteristikum des Staatlichen ausmacht). Aber diese Durchstaatlichung, dieses gewollte gegenseitige Bedingtsein, dieses Füreinanderwirken lebendiger Glieder schließt ein gesellschaftliches Gegeneinander nicht aus. Die durchstaatlichte Gesellschaft ist noch Gesellschaft. Die geforderte harmonische Gesellschaftsordnung ist also — so können wir zusammenfassend sagen — ein eigenartiges Ineinander von Staat und Gesellschaft, ja sie muß ein solches synthetisches Gebilde sein, da zur Vollendung der einzelnen Persönlichkeit beide Seiten notwendig sind: die staatliche, durch Zusammenfassung der einzelnen zur Einheit, die gesellschaftliche durch Unterordnung der einzelnen unter die einzelnen. Damit ist die zweite Frage, die wir uns gestellt hatten, beantwortet. Die Geschichte wird nicht für immer eine Geschichte der Unfreiheit bleiben. Es wird zu einer Neuordnung des menschlichen Zusammenlebens kommen, in der der einzelne seiner Bestimmung leben kann, in der nicht mehr der egoistische Machthunger einer ausbeutenden Klasse das Leben der anderen beherrscht, in der aber auch nicht die reine Staatsidee verwirklicht ist, denn das wäre — so stellten wir früher schon fest — der Tod alles menschlichen Lebens. Es wird die Aufgabe des nächsten Abschnittes sein, diese neue Gesellschaftsordnung in ihrer Konkretheit darzustellen. Aber wenn wir auch spüren, daß für Stein diese neue angestrebte Form des Zusammenlebens wenig gemein hat mit dem alten Gesellschaftsbegriff, so ist es doch für ihn weniger der Staat (wie noch bei Hegel)* als vor allem die Gesellschaft selbst, die, sich freilich innerlich wandelnd, die menschliche Gemein-

- 93 schaftsentwicklung bestimmt. Diese zentrale Bedeutung der Gesellschaft tritt besonders dann hervor, wenn wir nach der Rolle des Staates bei der Verwirklichung des neuen Gesellschaftszustandes fragen. Die Antwort auf diese Frage verdeutlicht uns noch einmal schlaglichtartig Steins Staatsauffassung. Sie soll deshalb den Schluß dieses Abschnittes bilden. Stein kennt zwei Einschätzungen des Staates, je nachdem, ob ihm der Staat mehr als die Funktion eines Gesellschaftszustandes, als bloßer Klassenstaat erscheint oder ob er in ihm mehr ein außergesellschaftliches, seiner eigenen Bestimmung folgendes Phänomen sieht, je nachdem, ob er mehr ahegelisch oder hegelisch Geschichte erlebt. Im ersten Falle schwindet die Bedeutung des Staates fast gänzlich, er glaubt an die Gesellschaft, die von sich aus zur Gesundung kommt; im zweiten Falle sieht er im Staat ein Mittel, einen „Vermittler", der auf die Entwicklung des menschlichen Gemeinschaftslebens einwirkt, und hofft auf ihn. So werden Äußerungen laut wie die, daß es unsinnig sei, auf den Staat zu hoffen, da er unfähig sei, die gesellschaftliche Krise zu lösen, oder wenigstens, daß er allein nicht fähig sei, die Gesellschaft zu ändern. Dagegen sei die Gesellschaft die wahre Quelle aller Freiheit und Unfreiheit.1) Bei dieser Forderung einer immanenten Lösimg des Gesellschaftsproblems baut er auf die innere Reife des Menschen, auf seine „höhere Natur", die, in „instinktartigen Ansätzen" sich schon zeigend, ihm selber den Weg weist.2) Es ist einerseits die wachsende Einsicht des Menschen, daß er ein organisches Glied des Ganzen ist und deshalb um seines eigenen Interesses willen seinen einseitigen, aus „Unverstand'^!) herrschenden Egoismus aufgeben und zu Opfern bereit sein muß; es ist anderseits die christliche Gesinnung, die tätige Liebe, die das gesellschaftliche Leben bestimmen soll und wird, da ohne sie keine gesunde Gesellschaft leben kann. Jedenfalls ist es, gleichgültig ob er auf die ratio oder die neue christliche Gesinnung hofft, immer der einzelne als Gesellschaftsglied, jeder einzelne, auf dem die Verantwortung für die Neugestaltung des menschlichen Zusammenlebens ruht. So kann Stein sagen: „In uns, in den tiefsten Inhalt des eigenen Lebens der Persönlichkeit hinab g e h t . . . die Richtung der Weltgeschichte."3) Die andere, viel wichtigere und für Stein charakteristischere Sicht dieses Fragenkomplexes ist die, die der Gesellschaft nicht *) Stein, Gesch. d. soz. Bew., i. Bd., S. 52. ) Stein, System I, S. 434. ) Stein, Soz. u. Kom. in Deutschi. 1844, S. 61.

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zutraut, daß sie allein diesen Zustand des einsichtigen Füreinander und der brüderlichen Liebe erreichen wird. Jetzt sieht er eine Aufgabe des Staates, und zwar die, daß er als höher entwickelte Wesenheit, um die Notwendigkeit einer Zusammenfassung der Einzelegoismen zur Einheit wissend, auf die Gesellschaft einzuwirken versucht. Das bedeutet aber nichts anderes, als daß er den Staat vor allem als Mittel sieht, die neue Gesellschaftsordnung zu formen, als eine Erscheinung, die eine hohe und göttliche „Mission" zu erfüllen hat 1 ), als einen Erzieher, der die Menschen für einen vernünftigen und gesunden Gesellschaftszustand fähig macht.2) In der harten Zucht des Staates soll der einzelne lernen, seine Selbsucht in Selbstzucht umzusetzen. Mit dieser Herausstellung der Erziehungsfunktion des Staates treffen wir wohl den zentralsten Punkt der Steinschen Staatsauffassung. Der Staat soll die Gesellschaft erziehen, ihr das staatliche Moment geben, nicht aber als Ziel der Geschichte die Gesellschaft ablösen. Wohl kein Begriff zeigt — das können wir jetzt zusammenfassend sagen — die Zwischenstellung Steins, sein Schwanken zwischen Realismus und Idealismus, den Akzentwechsel zwischen Gesellschaftswissenschaft und Staatsphilosophie deutlicher als sein Staatsbegriff. Abgesehen davon, daß der Staat einerseits Klassenstaat, Gesellschaftsinstitution, anderseits ein außergesellschaftliches Phänomen ist, wird er auch geschichtsphilosophisch verschieden gesehen und bewertet. Besonders am Anfang seines gesellschaftswissenschaftlichen Denkens spielt, noch stark unter Hegelschem Einfluß, der Staat die zentrale Rolle. In einer Polemik gegen Proudhon setzt er den S t a a t als das Ziel der sich in einem Dreischritt vollziehenden Geschichte.3) Dieser löst die beiden vorhergehenden, antithetisch gegenüberstehenden Zeitalter der Gütergemeinschaft und der Gesellschaft ab und vereinigt sie synthetisch. Noch 1848 und 1850 ist dieser Gedanke lebendig.4) *) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 38. ) Wie weit der Staat von Stein als Mittel empfunden wird, zeigt folgende Stellung zum Königtum: „Das erbliche Königtum erscheint als ein absolutes Moment des Staates und wird es sein, so lange, bis einmal die Sonderinteressen in der Welt sich freiwillig und allgemein dem Gesamtinteresse unterordnen" (Stein, Verwaltungslehre, X.Teil, S. 286; ähnlich bereits Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 68) — ein Satz, den Hegel, für den sich das Königtum nie mit einer geschichtlichen Aufgabe erledigen könnte, sondern logisch, d. h. absolut notwendig ist, nie hätte aussprechen können. *) Stein, Soz. u. Kom., i . A u f l . , S. 327 f. 4 ) Stein, Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 415 ff.; Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 361 f. 2

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Daneben läuft eine andere, für Stein viel wesentlichere Gedankenreihe, die im Laufe seines Denkens an Bedeutung zunimmt: Ziel der Geschichte ist ein neuer, durchstaatlichter G e s e l l s c h a f t s zustand, der aus der bisherigen Gesellschaft zum Teil aus eigener Kraft, zum überwiegenden Teile aber mit Hilfe des Staates als des wesentlichsten Erziehungsfaktors herauswächst. Der nächste Abschnitt wird dieses nicht leicht faßbare Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft noch einmal in konkreterer Sicht darzustellen haben. 9. DAS Z I E L D E R GESCHICHTE UND DAS PROBLEM SEINER REALISIERUNG. Wenn Stein — so stellten wir fest — die neue, endgültige Gesellschaftsepoche aus einer inneren Umstellung des sie tragenden Menschen, teils aus seiner zunehmenden Einsicht und teils aus seiner aufbrechenden religiösen Gesinnung herauswachsen läßt, so ist damit eine eindeutige und klare Entscheidung für eine unrevolutionäre Haltung der sozialen Frage gegenüber gefallen, für einen Reformismus, der nicht Sachzusammenhänge, Institutionen zerstören und neu gestalten, sondern den Verstand des Menschen überzeugen und sein Herz aufrütteln will. Die herrschende Gesellschaftsordnung soll sich nicht umstülpen, sondern zu einer harmonischen Arbeitsordnung ausbauen. Nicht die Struktur, sondern das Ethos der Gesellschaft soll und wird sich wandeln. Obwohl wir bereits diese geforderte, neue Gesinnung kurz umrissen haben, so soll doch noch einmal näher auf sie eingegangen werden, um vor allem auch auf die innere Wandlung Steins hinzuweisen. In einer doppelten Beleuchtung erscheint uns dieser neue Mensch und seine das zukünftige Leben tragende Gesinnung: einerseits erscheint er als der reflektierende Mensch mit einem rational begründeten, einsichtigen Interesse und andererseits als der religiös-sittliche Mensch mit einem irrational fundierten Glauben an das Evangelium der brüderlichen Liebe. Einerseits ist Stein der Überzeugung, daß es notwendig ist, den Gegensatz der Interessen, der das Zusammenleben gefährdet, auf dem B o d e n der I n t e r e s s e n selber zu lösen. Erst wenn der vergesellschaftete Mensch einsieht, daß das Wohlergehen des einen durch das des anderen bedingt ist, daß Sonderinteresse und allgemeines Interesse nur scheinbar getrennt sind, daß es im „größeren Interesse" des einzelnen liegt, auf die gesellschaftliche Umwelt

- 96 Rücksicht zu nehmen, als seinem engen egoistischen Interesse zu folgen, erst wenn das Kapital einsieht, daß eine Verarmung der arbeitenden Schichten mit seinem eigenen Interesse im Widerspruch steht und die arbeitenden Schichten einsehen lernen, daß es in ihrem Interesse liegt, das Kapital nicht zu zerstören und aufzuheben, dann beginnt „eine neue Ordnung der Dinge", die Harmonie der Interessen. An die Vernunft, an die Einsicht, an das Interesse wird appelliert. „Was darüber hinausgeht, ist Traumgebilde, denn die Erde, auf der wir leben, ist der Stern des persönlichen Interesses."1) „Es gehört ein vollständiges Verkennen dieses Interesses dazu, um zu glauben, daß das, was wir L i e b e nennen, jemals mächtiger oder auch nur ebenso mächtig sein könne, als das Interesse."8) Deswegen ist auch jedes Opfer, das der einzelne bringen soll, ein Opfer aus Interesse, eine Versicherungsprämie, sonst nichts. — Wir spüren bei dieser Auffassung eine aufklärerische Kälte und Nüchternheit, die die neue Gesellschaftsordnung einem Reich vernünftiger Wesen ähneln läßt. Aus radikal egoistischen, unvernünftigen werden verhandlungswillige, vernünftige Interessen. Anderseits aber ist Stein der Überzeugung, daß weniger das vernünftige Interesse als vielmehr eine neue Gesittung die Substanz des die zukünftige Gesellschaftsepoche tragenden Menschen konstituieren wird. Jetzt ist „diejenige Gesittung . . ., in welcher die gegenseitige Anerkennung auf dem Bewußtsein der gegenseitigen Interessen und Gefahren beruht", nur eine „materielle Gesittung''.3) Über ihr steht als die wesentlichere die c h r i s t l i c h e Gesittung, die tätige Liebe, die in der gegenseitigen Achtung der Gesellschaftsglieder und Gesellschaftsklassen besteht. Nur sie wird — so behauptet Stein — die gesellschaftliche Krise und soziale Frage lösen, denn „die Waffen der Liebe sind allein imstande, dem Verderben, das das Interesse bereitet, zu begegnen".4) Nur die Gesellschaftsordnung, die auf der christlichen Liebe erbaut ist, wird der Vernichtung entgehen. Ähnlich wie im französischen Sozialismus wird also die säkularisierte Liebesethik des Christentums zur Basis der Zukunftsgesellschaft. Und doch fehlt bei Stein der Kult der Diesseitsreligion, in den sich der St. Simonismus hineinsteigerte. Stein bleibt nüchterner, puritanischer als die 1)

Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 194. Stein, Gesch. d. soz. Bew, 1. Bd., S. 137. 3) Stein, System XI, S. 108. 4) Stein, a . a . O . , S. 251. — Vgl. vor allem S. 248 ff. Ähnlich auch schon Stein, Gemeindewesen, S. 82. 2)

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Franzosen, wenn an Stelle des rationalen Interesses die Karitas als das die Gesellschaft konstituierende Moment tritt. Wichtig ist nun, daß diese zwei verschiedenen Aspekte zeitlich einander folgen. Bis 1852 appelliert er an das Interesse und fordert Aufklärung des vergesellschafteten Menschen; mit 1852, dem Jahre der neuen, romantischen Orientierung Steins, die wir schon oft erwähnt haben, setzt das sittliche Gebot der Nächstenliebe ein. Aber wenn wir auch jetzt eine kaum überbrückbare Kluft zwischen diesen zwei Haltungen aufgerissen haben, so sei doch noch erwähnt, daß über beiden, letztlich auch über der anscheinend christlichen, eine Haltung steht, die zwischen den Zeilen spürbar wird und vielleicht Stein am meisten entspricht. Ich möchte sie die Goethesche Haltung der Entsagung nennen: die Haltung der Einordnung und Bescheidenheit1), denn warum spricht er — um nur ein Beispiel zu nennen — so oft, auch in der Zeit bis 1852, von dem notwendigen Opfer, das zu bringen ist, wenn der einzelne nur seinem einsichtigen Interesse folgen soll? Aus alledem ergeben sich nun praktische Folgerungen, auf die wir allerdings nur andeutend eingehen können. Beim Proletariat kommt es darauf an, daß es „die geistige Fähigkeit hat, auf das Erreichbare sich zu beschränken".2) Es muß „auf ruhigem und vernünftigem Wege" die Situation erkennen und mit dem Unternehmer gemeinschaftlich an der Lösung arbeiten. Denn nie wird das Proletariat imstande sein, sich selbst zu helfen.3) Dagegen liegt die Verantwortung für die soziale Reform fast ausschließlich bei der höheren, besitzenden Klasse. Ihre Aufgabe liegt nun etwa nicht darin, der niederen Klasse staatliche Freiheit zu geben, ohne sie gesellschaftlich zu befreien, sie liegt aber ebensowenig darin, gesellschaftliche Unterschiede aufzuheben, auch nicht darin, mit Armenunterstützung zu helfen, denn gönnerhafte Gaben bauen keine Ordnung. (Mit scharfer Polemik wendet er sich aus diesem Grunde gegen den 1845 gegründeten „Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen", gegen das vom preußischen König gestiftete Institut des Schwanenordens und gegen die geStein, Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 55 f. 2)

Stein, Soz. u. Kom. in Frankreich, S. 315; ähnlich Stein, Soz. Bew. d. Gegenwart, S. 89. 3) Hier wird der Unterschied zwischen Stein, dem Reformisten und Marx, dem Revolutionär deutlich, für den sich das Proletariat nur selbst befreien kann und muß.

B e i h e f t d . H . Z . 26.

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- 98 samte Berliner soziale Publizistik.1) Es ist vielmehr ihre Aufgabe, die besitzlose Klasse nicht mehr auszubeuten, sie nicht mehr als Mittel zu verwenden, sich nicht mehr von ihr abzuriegeln, sondern die Würde der Arbeit durch angemessene Lohnhöhe anzuerkennen, den hemmungslosen Konkurrenzkampf einzuschränken und durch sozialpolitische Maßnahmen, durch Schaffung von Krankenkassen, Pensionskassen, Versicherungen und Alterskassen der arbeitenden Bevölkerung eine Mindestsicherung zu geben.2) Aber über diese Aufgabe eines sozialpolitischen Schutzes geht Stein hinaus und stellt die für ihn charakteristische Forderung, daß der besitzlosen Klasse die Möglichkeit gegeben werde, in eine höhere aufzusteigen, denn erst die innere Beweglichkeit der Gesellschaft ist das Zeichen ihrer wirklichen Gesundheit.3) Dazu ist einerseits notwendig, daß den Besitzlosen geistige Güter vermittelt werden, und anderseits ist dazu notwendig, daß ihnen die Möglichkeit des Besitzerwerbes gegeben wird. Abgesehen davon, daß bereits durch die Sparkassen — wie Stein meint — der Arbeiter im kleinsten Maße zum Kapitalunternehmer wird, ist die besitzende Klasse verpflichtet, einen Teil ihres wirtschaftlichen Gewinnes zur Hebung der kapitalarmen und kapitallosen Klasse zu verwenden4), und zwar indem sie erstens durch Banken und Kreditanstalten Kredit zu kleinem Zins verleiht5) und zweitens durch Erziehung und gewerblichen Unterricht die Arbeitsfähigkeit steigert. Eine wichtige Rolle wird in dem Aufstiegsprozeß der Besitzlosen die Mittelklasse spielen, deren Struktur und Aufgaben er erst in den 50er Jahren näher untersucht hat. Sie ist die „natürliche Basis" in der gesellschaftlichen Bewegung, in dem Übergange von der niederen zur höheren Klasse. Sie ist unbedingt notwendig, denn erst, wenn es eine Mittelklasse gibt, wird die Gesellschaft gesunden. (Es war die Tragik der alten Welt, daß sie eine Mittel') Stein, Soz. in Deutschi. 1852, S. 546 ff. Vgl. Hegel: „ . . . so (mit Spenden für den verarmten Pöbel) würde die Subsistenz der Bedürftigen gesichert, ohne durch die Arbeit vermittelt zu sein, was gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre wäre . . (Rechtsphilosophie § 245). 2 ) Stein, System I, S. 406 f. s ) Bezeichnenderweise gilt für Stein England als das Musterland einer unstarren Gesellschaftsordnung, jedenfalls zur Zeit des aufsteigenden Bürgertums. Der Adel brachte es fertig, die tüchtigsten Glieder des Gewerbestandes in sich aufzunehmen. Darüber bei Stein, Soz. in England, S. 466 f. *) Vgl. Stein, System I, S. 4 3 1 ff. und System II, S. 341 ff. £ ) Vgl. Steins Aufsatz über die Errichtung einer deutschen Bank.

- 99 klasse zu bilden nicht fähig war.) Ihre Aufgabe ist es zu vermitteln, der Arbeit die gesellschaftliche Achtung zu sichern. Darüber hinaus ist sie aber für ihn noch mehr als ein bloßer Vermittler; ihr gilt seine ganze Sympathie. Denn diejenigen sind erst „eigentliche" Unternehmer, die beides: Kapital und eigene Arbeitskraft zum Erwerbe verwenden. Diese Neigung zu vorkapitalistischen Betriebsformen findet ihren deutlichen Ausdruck in einer fast restlosen Bejahung von Owen's New Lanark. 1 ) Er nennt es „in jeder Beziehung ausgezeichnet". „Denn hier war gegenseitige Liebe und Vertrauen, Wohlstand der Arbeiter und Reichtum der Unternehmer zugleich gegeben." Es zeigt „die Möglichkeit der Realisierung einer besseren Lage der Arbeiter, verbunden mit dem eigenen Vorteile der Unternehmer". Ist es nicht für seine Rückschau auf vorkapitalistische Zustände charakteristisch, wenn er von „der Anwendung des Patriarchalprinzips auf die Fabrik" spricht, oder an einer anderen Stelle das kleine Kapital in seinem Verhältnis zum Großkapital mit einem Gesellen vergleicht, der auf einen tüchtigen Meister angewiesen ist ? Und doch wäre Steins Gesellschaftsideal zu einseitig gesehen, bekäme es nur das Attribut: rückschrittlich. Daß in dem neuen Gesellschaftszustande die ungeistige und damit immenschliche Maschinenarbeit beseitigt werden muß, steht für ihn fest. Der einzelne muß wieder zu einer schöpferischen, gestaltenden, formenden, zu einer freien Arbeit kommen. Aber hier, beim Problem der Maschine, wird es ihm, der auch im Hegeischen Geiste Geschichte erlebt, klar, daß wir das Rad der Geschichte nicht rückwärts drehen können. Im Gegenteil: er fordert, daß das Maschinenwesen auf die höchste Stufe der Vollendung zu bringen ist, damit dem Menschen die mechanische Arbeit abgenommen wird und der Lohnarbeiter wieder zur freien Arbeit greifen kann.2) Aber trotz der romantischen Rückschau zu primitiven Betriebsformen, trotz des optimistischen Glaubens an eine segensreiche Verwendung der Maschine: die Struktur der neuen Gesellschaftsordnung bleibt die der bisherigen. Neu wird das Ethos des Vgl. Stein, Soz. in England, S. 475 ff. Stein, Der Begriff der Arbeit, S. 289. — Dieses Nebeneinander von rückschrittlichen Tendenzen zu vorkapitalistischen Zuständen und dem. fortschrittlichen Wunsche, die Welt der Maschine in den neuen Gesellschaftszustand einzubauen und für den Menschen nutzbar zu machen, ist nicht nur für Stein, sondern auch für den französischen Sozialismus gültig (vgl. Freyer, Die Bewertung der Wirtschaft, S. 78 f.). Ähnliches gilt, wenn auch in einem beschränkteren Sinne, für Hegels bürgerliche Gesellschaft (vgl. Rechtsphilosophie § 198). 2)

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wirtschaftenden Menschen. Ihre neue Wirtschaftsform ist daher — so können wir sagen — nichts anderes als ein durch eine neue Gesinnung gehemmter Kapitalismus. 1 ) Es bleibt das Privateigentum, das aber um seine Bedingtheit und damit um seine Verantwortung wissen soll. Es bleibt die freie Konkurrenz, die aber — so theorisiert Stein — nicht mehr „ausbeutende", sondern als vernünftiger Wettbewerb „natürliche" Konkurrenz sein soll. Es bleibt das Interesse, das aber als „wahres Interesse" vom „Sonderinteresse" zu trennen ist. Es bleibt die Klassenbildung, die Schichtung und Unterordnung, die aber nicht den einzelnen zur absoluten Hingabe zwingt, sondern ihm die Möglichkeit des Aufstiegs in der Ordnung gewährt. Es bleibt eine verschiedene Verteilung des Besitzes, die dann eine „wahre" ist, wenn alle Arten und Maße des Besitzes vorhanden sind. „Der Grundbesitz gibt, was der gewerbliche nie geben kann, die vollkommene Gleichmäßigkeit, Ruhe und Stetigkeit des ganzen inneren Lebens; dieser, was jenem mangelt, die wagende, des Neuen bedürfende, Kunst und Wissenschaft hervorrufende Spannkraft des Geistes; der große Besitz gibt die Freiheit von der Furcht und dem Interesse, der mittlere die Sicherung vor der Trägheit und der Vernachlässigung der nächstliegenden Bedingungen, der kleine die körperliche Frische und die frohe und gesunde Genügsamkeit." 2 ) Das Ganze ist getragen von dem Gefühl der gegenseitigen Abhängigkeit, von der Harmonie der Interessen. Aber diese Gemeinschaft der Interessen kann nicht grenzenlos sein. Sie muß einen festen Körper haben. Dieser Körper ist das Volk. Stein fordert — hier ganz unter dem Einfluß von List — eine organische, geschlossene, wenn auch nicht abgeschlossene Volkswirtschaft, deren Aufgabe es ist, sich ihren eigenen Markt zu sichern, durch Herstellung der Zolleinheit die Handelsfreiheit und durch Schaffung eines nationalen Transportsystems die Verkehrsfreiheit zu garantieren und durch Schutzzoll die Grenzen zu schließen, wenn es die g e s a m t e Wirtschaft verlangt. Nie darf der Schutzzoll eine natürliche Konkurrenz auf längere Zeit ausschalten.3) Eine „vernünftige" Industrie *) Interessant ist, daß zwar 1842 bei Stein der Gedanke einer „zweiten Generation der Innungen" auftaucht (wahrscheinlich unter Hegelschem Einfluß; vgl. Rechtsphilosophie §249), daß er aber 1849 in einer Polemik gegen Chr. F. Grieb eine Wiedereinführung mittelalterlicher Innungen und Zünfte als unmöglich ablehnt (Stein, Gesch. d. Arbeit, S. 371 f.). 2) Stein, System II, S. 177 f. ') Vgl. Stein, System I, S. 430 ff., besonders aber Freihandel. — Vgl. auch Ernst Baasch, Lorenz v. Stein und die Frage der deutschen wirtschaftlichen Einigung.

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muß einsehen, daß sie nur so lange Schutz verlangen kann, als es dem volkswirtschaftlichen Ganzen dienlich ist. Ein vernünftiger Handel muß einsehen, daß er von der Industrie abhängig ist und darum seine Forderung nach absolutem Freihandel ein Nonsens ist. Für Deutschland sieht Stein eine Lösung im Zollverein und in der Gründung eines deutschen Handelsparlaments, das aus Deutschland „eine feste, verständige, machtvolle Einheit seines Güterlebens schaffen" wird. Hier wird man sich — so erwartet Stein in einem liberalen Glauben an die Vernunft der Gesellschaftsglieder — „einigen und verständigen".1) Dieser letzte Satz, aber nicht nur er, sondern alles, was wir über Steins geforderte Gesellschaftsordnung aussagen konnten, zeigt uns, welche Bedeutung dem gesellschaftlichen, nichtstaatlichen Leben in Steins Geschichtsphilosophie zukommt, sowohl in bezug auf das Ziel der Geschichte als auch auf den Weg seiner Verwirklichung; zeigt uns, daß er von einer Hegeischen Staatsvergottung bereits sehr weit abgerückt ist. Wir müssen annehmen, daß es vor allem der positivistische Gesellschaftsbegriff und der romantischkonservative Begriff des völkischen Organismus ist, auf die wir diese Entfremdung zurückführen müssen. So kann Stein sagen, daß sich „ V e r n u n f t und G e f ü h l mit gleicher Kraft" gegen den Despotismus der reinen Staatsidee empören. Obwohl er schon 1846 den Absolutismus als das volklose Königtum geißelt und zwei Jahre später von der unmöglichen, weil lebenstötenden Despotie der Staatsidee spricht, so setzt besonders 1852 (es ist die Zeit romantisch-konservativen Einflusses auf Stein) eine äußerst scharfe Polemik gegen den Zentralismus einer absolutistischen Staatsauffassung ein.2) Romantisch-föderalistische Gedanken wenden sich gegen die „Despotie des Allgemeinen über das Einzelne". Denn „die Folge davon ist, daß die Herrschaft des Staates über die Gesellschaft die Fülle des Lebens, die in der Vielheit der individuellen Auffassung und Tätigkeit liegt, verschlingt. Die Bewegung erstarrt. An die Stelle der freien Wissenschaft tritt das orthodoxe, vom Staate vorgeschriebene Lehrbuch; der Richter ist nichts als der Mund des gedruckten Gesetzbuches, und der soldatische Gehorsam gewinnt den Rang über die begeisterte Tapferkeit." 3 ) Die Gesellschaftslosigkeit (!) Rußlands wird als warnendes Beispiel hingestellt. In dieser astaatlichen, ja, wir können beinahe sagen antistaatlichen Haltung ist nicht zuletzt Stein, Freihandel, S. 3 5 5 ff. ) Vgl. besonders Stein, Arbeitsloses Einkommen; Stein, Gemeindewesen. 3 ) Stein, Arbeitsloses Einkommen, S. 177. 2

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die Forderung nach einer konstitutionellen Monarchie, einer Volksvertretung1), vor allem aber einer weitgehenden Selbstverwaltung begründet. Hier fühlt er sich als Verfechter der Gedanken des Freiherm vom Stein. Noch in der Verwaltungslehre spielt die Selbstverwaltung neben der eigentlichen Staatsverwaltung eine nicht unwichtige Rolle2), abgesehen davon, daß er 1853 die Gemeinde, also einen gesellschaftlichen Selbstverwaltungskörper, als den Raum hinstellt, von dem aus die soziale Frage gelöst werden muß. Neben der Hoffnung auf die Gesellschaft und ihre Einsicht steht — wie wir schon im vorigen Abschnitt behaupteten — die Skepsis, daß die Gesellschaft nicht von sich aus zur Lösung der Krise kommen wird. Sie braucht eine Hilfe: den S t a a t , das Königtum der sozialen Reform. Daß Stein den Staat vor allem als einen solchen H e l f e r , als einen solchen Mittler sieht, wird sofort klar, wenn wir nach dem Aufgabenbereich dieses Staates fragen. Er ist aktiver Schlichter und nicht mehr.3) Auch der Staat seiner Verwaltungslehre hat diesen Charakter. Er ist Helfer, Organisator, er vermag „nur Leitung und Anstoß zu geben", ohne durch die Wucht seiner ihm innewohnenden Staatsidee das gesellschaftliche Leben zu erdrücken. Dieser Staat hat, wie Stein selbst spürt4), wenig gemein mit dem autoritativen Staatsbegriff der deutschen, besonders Hegeischen Staatsphilosophie. Seine Befugnisse gehen nicht weit. So kann Stein, hier in seiner Grundintention ganz liberal, von den Gefahren eines Wohlfahrtsstaates sprechen, der nichts weiter sei als „eine Zwangsanstalt für das Glück der Völker". Das Grundprinzip der Staatsverwaltung soll vielmehr sein, „die B e d i n g u n g e n der selbsttätigen Entwicklung des einzelnen . . . so weit her (zu) stellen, als der einzelne sich dieselben als solcher nicht zu bereiten vermag". 5 ) So darf auch der Staat das wirtschaftliche Leben nicht beherrschen. „Die Volkswirtschafttspflege soll. . . nie G ü t e r geben, sondern nur die Bedingungen des Erwerbs derselben. Sie soll sie nie verteilen, son*) Vgl. Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage. 2 ) Vgl. Stein, Verwaltungslehre, 7. Teil, S. 63; hier spricht er von der „von Jahr zu Jahr zunehmenden Bedeutung" der Selbstverwaltung, die die eigentliche Regierung immer mehr zurücktreten läßt. *) So sympathisiert er z. B. mit Louis Blancs „commission du Luxembourg", die „eine heilsame Tätigkeit entwickelt, indem sie . . . Vereinbarungen veranlaßt", während er dessen „gouvernementalen Sozialismus", der den Staat zum Unternehmer werden läßt, ablehnt. *) Verwaltungslehre, 2. Teil, S. 25 ff. Stein, a. a. O., S. 63 (Sperrdruck von mir).

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dem die Verteilung der freien Arbeit unterordnen. Sie soll den Erwerb nie begrenzen, sondern nur beschützen" (I).1) An diesem Punkte setzt eine überaus wichtige Polemik Steins gegen Adam Müllers „Elemente der Staatskunst" und gegen Fichtes „Geschlossenen Handelsstaat" an, denen er vorwirft, daß sie „ohne viel dialektische Zweifel über Wesen und Wert der Nationalökonomie geradezu dem Staate auf Grundlage ihrer Anschauung von der wirtschaftlichen Wohlfahrt die Aufgabe vindiziert (en), die ganze Nationalökonomie direkt durch Staatsgesetze und Tätigkeit zu regeln".2) Steins Staat ist ein Institut der Hilfe. Ist es nicht bezeichnend, wenn er von der Verwaltung sagt, daß das Kreditwesen mehr und mehr eine der größten Aufgaben der Verwaltung wird? Wohl am besten trifft man den Charakter des Steinschen Staates, wenn man ihn Erziehungsstaat nennt. Er soll überzeugen, leiten, beweisen: kein Wunder, wenn das Bildimgswesen die zentralste Rolle in seiner Verwaltungslehre spielt3), und wenn vor allen Dingen dessen sozialpädagogische Funktion in den Vordergrund gerückt wird. Das Bildungswesen des Staates hat das „gegenseitige Bedingtsein aller durch jeden und jedes durch alle zum Bewußtsein" zu bringen. Das ist die Aufgabe sowohl des Elementarunterrichts, den er ein wichtiges „Element der Ausgleichung der Klassengegensätze" nennt, als auch des ausgedehnten differenzierten Berufsschulwesens, das nicht nur dem wirtschaftenden Menschen Kenntnisse vermitteln, sondern auch den Blick des einzelnen über seine berufliche Sphäre hinausheben, die ethische Idee der Arbeit und des öffentlichen Berufes lebendig machen und die innere Verbundenheit der Berufe und wirtschaftenden Schichten aufzeigen soll. Diese Aufgabe hat aber noch in einem besonderen Maße die allgemeine Bildung, die Erwachsenenbildung zu leisten, die nichts mit den circenses für den Pöbel zu tun hat, sondern in einem viel tieferen Sinne wahre Volksbildung ist, indem sie die innere organische Einheit des Volkes der Gesellschaft zum Bewußtsein bringt. Das Bildungswesen — so kann Stein sagen — ist „der große Faktor des sozialen Fortschritts". Die soziale Frage ist zu einem großen Teile eine Bildungsfrage. Damit rückt Stein dem Erziehungsgedanken einerseits des deutschen Idealismus, der besonders auf pädagogische Lösungen 1)

Stein, Verwaltungslehre, 7. Teil, S . u . Stein, a. a. O., S. 43 f. s ) So ist es auch nicht überraschend, wenn neben dem 3. Teil der Verwaltungslehre (Gesundheitswesen) der 6. (Bildungswesen) 1884 als gänzlich neu bearbeitete 2. Aufl. in 3 Bänden neu erscheint. 2)

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drängte, und anderseits dem des aufklärerischen französischen Sozialismus nahe, vor allem aber dem pädagogischen Staat des späteren Fichte. Hätte nicht auch Stein wie Fichte sagen können, daß dem lebendigen Staat kein anderer Wirkungskreis als der der Erziehung gelassen ist? 1 ) Sagt nicht auch Stein wie Fichte, daß Lernen und wirtschaftliches Arbeiten unter einem höheren sittlichen Gesichtspunkt in der neuen Nationalerziehung vereinigt sein müssen, wenn auch aus dem Landerziehungsheim, der pädagogischen Provinz im Sinne des Goetheschen Wilhelm Meister, das differenzierte Fachschulsystem der entwickelten Großstadt und des Maschinenzeitalters geworden ist? 2 ) Der Staat ist also für Stein, der in seiner Grundintention einem wirklichen Staatssozialismus fernsteht, nicht das Ziel der Geschichte. Gesellschaft wird nicht Staat. Der Staat ist Hilfe, Notinstitut im besten Sinne des Wortes. Ziel der Geschichte ist vielmehr eine „neue vierte Gesellschaftsordnung", die auf der „der Gottheit entstammenden Erkenntnis" beruht, „daß die erste Bedingung alles irdischen Glücks und aller menschlichen Vollendung des einzelnen das Glück und die Vollendung des anderen sei". 3 ) Es ist die Aufgabe der abendländischen Gesellschaft, sie zu verwirklichen. Keine Zeit hat eine größere Aufgabe gehabt. Wir sind der Anbruch einer neuen „glücklichen", „großartigen" Zeit, der Anbruch der „kommenden Herrlichkeit". Dieses Pathos chiliastischer Hoffnung durchweht seine gesamte Geschichts- und Sozialphilosophie. 10. DIE TRICHOTOMIE D E R GESCHICHTE. Stein ist überzeugt, daß die Verwirklichung des Zieles der Geschichte nicht allzu fern ist; er sieht sich am Ausgang einer scheidenden Epoche, „wo auf allen Punkten die Knospen und Blüten einer großartigen Zeit emporbrechen . . .", und weiß, daß die Geschichte ihre größte Aufgabe noch zu leisten hat. Diese Uberzeugung, daß die Geschichte nach vorn nicht geschlossen ist, daß die Zukunft in die geschichtsphilosophischen Erwägungen einzubeziehen und durch die Tat zu realisieren ist, bringt Stein in eine gemeinsame, gegen die Geschichtsphilosophie Hegels polemisierende Front mit dem Junghegelianismus. Aber nicht nur die Vernachlässigung des zukünftigen Geschehens wird als Mangel hingestellt; noch schlimmer sei — so meint man —, daß ') Vgl. Fichte, Reden an die deutsche Nation, n . Rede. ) Vgl. Fichte, a. a. O., 10. Rede. ') Stein, Verwaltungslehre, 2. Teil, S. V I I .

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Hegel dem Grundprinzip seines philosophischen Denkens, der trichotomischen Gliederung in Thesis, Antithesis, Synthesis untreu geworden ist. Repräsentant für diesen Angriff ist wiederum Cieszkowski.1) Er verlangt, daß „die Totalität der Weltgeschichte . . . durchaus und absolut unter die spekulative Trichotomie zu fassen" ist, teilt sie in eine thetische, antithetische und synthetische Periode ein und stellt die für die junghegelianische Sicht des Geschichtsprozesses wichtige These auf, „daß der Weltgeist sich gegenwärtig am Eingange der dritten, synthetischen Periode befindet". Die Schärfe, mit der dieser Junghegelianer und noch andere neben ihm diesen Vorwurf einer fehlenden Trichotomie erheben, läßt den Anschein erwecken, als ob der Junghegelianismus den Gedanken eines Dreischritts der Geschichte für sich beanspruchen könnte. Tatsache aber ist, daß die Konzeption des Dreistadiengesetzes so alt wie die Geschichtsphilosophie selbst ist, und daß der Junghegelianismus, indem er den dialektischen Dreischritt des Geschichtsprozesses klar und deutlich herausstellt, sich — so paradox es auch klingt — dem vorhegelischen Idealismus: Kant und noch mehr Fichte anschließt. Das Dreistadiengesetz tritt mit der christlichen Geschichtsphilosophie in das geschichtsphilosophische Denken ein. Bossuet ist sein letzter christlicher Interpret. Die Aufklärung, in vielem so auch hier säkularisiertes Christentum, nimmt es auf. Turgot ist sein erster weltlicher Verkünder. Von dort wirkt es nun weiter in den zwei Armen des abendländischen Denkens: im aufklärerischpositivistischen Denken des Westens (selbst Comte, für den die Geschichte von einem ungeordneten zu einem geordneten menschlichen Dasein aufsteigt, kennt den dialektischen Dreischritt des weltgeschichtlichen Prozesses)2) und im idealistischen und romantischen Denken Deutschlands. Es ist der gewaltige Dreischritt von einem gesunden Zustand über die antithetische Periode des Abfalls zu einem geordneten Endzustand. Bei Fichte und ähnlich bei Kant ist es der Schritt von der Unschuld über die Sünde zur Vernunft, bei Schelling und ähnlich bei Friedrich Schlegel der Schritt vom naturhaften Zustand des Unbewußten über den des Bewußtseins zur künstlerischen Harmonie des Endzustandes. 1

) Vgl. Cieszkowski, Prolegomena. — Die schon früher erwähnte Rezension von Frauenstädt in den Hallischen Jahrbüchern bezeichnet die von C. geforderte trichotomische Gliederung des Geschichtsverlaufs als „einen wesentlichen Fortschritt über Hegels philosophische Geschichtsbetrachtung hinaus" (Frauenstädt, Cieszkowski-Rezension, S. 478). 2 ) Vgl. Troeltsch, Historismus, S. 402.

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Selbst die Historische Schule, der ihrer ganzen Grundhaltung nach eine spekulativ-trichotomische Gliederung fernliegt, deren Blick von vornherein auf einzelne Entwicklungskreise gerichtet ist, schwächt ihre Toleranz durch den Nonnbegriff des Gesunden, Ursprünglichen, Naturgemäßen1) und zeigt in vielen ihrer Äußerungen, daß sie die Gegenwart als Abfall, besser als Krankheit eines Lebendigen empfindet und um die Notwendigkeit einer Neuordnung aus der Besinnung auf das Ursprüngliche weiß. Auch bei Hegel darf in dieser Problemstellung, will man ihm gerecht werden, das „Janusgesicht" nicht übersehen werden. Obwohl seine Geschichtsphilosophie von den vier Perioden der Weltgeschichte spricht, den Geschichtsprozeß nicht durch eine Antithese hindurchgehen, sondern vom Knabenalter über das Jünglings- und Mannesalter zum Greisenalter sich allmählich potenzieren läßt, kennt Hegel daneben sehr wohl Ansätze zu einem dialektischen Dreischritt der Universalgeschichte (die Periode des Römerreiches ist für ihn weitgehend eine negative Stufe)2). Und doch muß ihm, der als rückschauender Philosoph die Geschichte vollendet sieht, die Härte einer wirklichen Dialektik des Weltprozesses fehlen. Sehr deutlich spürt das der junghegelianische Aktivismus, der deshalb auch nicht mit Vorwürfen zurückhält und, indem er die Gegenwart als die große Antithese, als den Zustand der vollendeten Sündhaftigkeit und eines chaotischen Übergangszeitalters empfindet, ein Stück vorhegelischen Idealismus neu entstehen läßt. Auch Stein gehört in diese Front. Auch er kennt die harte Dialektik eines weltgeschichtlichen Dreischrittes: die thetische Periode des Urzustandes, die antithetische Periode der gesellschaftlichen Machtkämpfe und die synthetische, noch zu verwirklichende Periode der Harmonie der Interessen. Von der dritten Periode, dem Ziel der Geschichte, haben wir im vorigen Abschnitt ausführlich berichtet. Aber auch die antithetische Periode ist uns nichts Unbekanntes mehr. Es ist die Epoche des menschlichen Zusammenlebens, die mit der Spaltung in Besitzende und Nichtbesitzende, Mächtige und Ohnmächtige, Ausbeutende und Ausgebeutete entsteht, in der sich die menschliche Gemeinschaft in ein System von Interessen und Egoismen auflöst und deren letztes Stadium durch unsere gegenwärtige ') Vgl. Rothacker, Einleitung. ) Deutlicher als in Hegels Geschichtsphilosophie ist das Dreistadiengesetz in seiner Phänomenologie durchgeführt. Ich denke hier besonders an den Dreischritt innerhalb der Stufe des Geistes: vom wahren über den sich entfremdeten zu dem seiner selbst gewissen Geist. 2

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Situation gekennzeichnet ist: Atomisierung des Gemeinschaftslebens, Fehlen jeglicher Bindung, Schwinden der Moral, Krieg aller gegen alle. Wenn nun Stein die Antithese einen Abfall, ein Verlassen der natürlichen Harmonie nennt, so ist diese Negativität seiner antithetischen Periode bezeichnend für seine Annäherung an Fichte und sein Abrücken von Hegel, für den es — wie wir schon oben behaupteten — keinen wirklichen Abfall im Geschichtsprozeß gibt, da die Geschichte als werdende Vernunft das Unvollkommene nicht als vernunftwidrig empfindet und empfinden kann. Und doch ist auch für Stein, wie schon bei Fichte, dieser Abfall notwendig. Er ist wirkliche Antithese, d. h, er ist Abfall in bezug auf die Thesis, Vorstufe und notwendig aber in bezug auf die Synthesis und auf das Ganze des Prozesses. Besonders in der ersten Auflage seines „Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreich" (1842) betont er immer wieder die Notwendigkeit des Negativen. Die Widersprüche des menschlichen Lebens müssen sich erst ganz ausleben, und die Menschheit muß durch diese Irrtümer hindurch, um das Ziel der Geschichte zu erreichen. Sozialismus und Kommunismus sind trotz ihrer Negativität notwendige Erscheinungen, sie mußten kommen. Selbst die Schrekkensherrschaft in Frankreich, der krasse Materialismus und Individualismus unserer gegenwärtigen Zeitlage haben ihre hohe Bedeutung; auch sie sind notwendig in einem tieferen Sinne des Wortes: sie sind um der Notwende willen da. Charakteristisch für Steins innere Umstellung ist, daß er später nicht mehr von dem notwendigen Abfall, sondern von „Störungen und Krankheiten" im Geschichtsprozeß spricht. E r spricht davon, daß man „wiederherstellen" müsse, „was da verloren ist", daß man wieder zurückkehren müsse zur natürlichen Harmonie. Aber auch die Krankheit wird von ihm positiv geweitet. Sie sei Vorstufe der Heilung, sie lasse den Menschen überhaupt erst an Heilung denken. J a , er akzeptiert sogar den christlichen Gedanken einer Läuterung durch irdische Leiden. Es hege eine große Mächtigkeit in der christlichen Betrachtung des menschlichen Schmerzes.1) Aber dieses Zurück bedeutet für ihn nicht Rückkehr in einen Naturzustand. Die zukünftige synthetische Epoche wird mehr als ein bloßes natürliches Zusammenleben der Menschen sein. Sie *) Stein, Soz. in Deutschi. 1852, S. 554. — Es handelt sich um eine Auseinandersetzung mit Hirscher, Die sozialen Zustände der Gegenwart und die Kirche.

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wird die Antithesis in sich aufgenommen haben; sie wird Harmonie sein, aber nicht mehr die Harmonie eines gestaltlosen Anfangs. Denn für Stein ist der Urzustand der Menschheit die Zeit und der Raum, „wo der einzelne die Gemeinschaft mit allen ihren notwendigen Konsequenzen e i n f a c h h i n n i m m t , ohne an ihrer B e r e c h t i g u n g zu z w e i f e l n " . 1 ) Er konstituiert kein wirkliches Gemeinschaftsleben; es ist der Zustand der Vereinzelung und der zusammenhangslosen Homogenität: Niemand herrscht. Niemand besitzt. Die Arbeit wird nicht zur Produktion von Gütern, sondern zur bloßen Konsumtion von Naturerzeugnissen verwendet, und der wirtschaftlichen Armut entspricht eine geistige. Wir spüren, wie sich Stein, übrigens hier ganz im Sinne Hegels, der den Naturzustand als barbarisch abtut, gegen jede romantische Apotheose des Naturzustandes sträubt. Diese Gemeinschaft des Naturzustandes dauert nicht lange; sie treibt notwendig über sich hinaus zu individuellem Besitz und einer daraus folgenden Herrschaftsspannung. Die Gesellschaft mit ihrer Not und ihrem Segen beginnt. Das ist der eigentliche Anfang der Geschichte, denn alles vorgesellschaftliche ist vorgeschichtliches Leben, wie auch bei Hegel alles vorstaatliche Leben vorgeschichtlich war. Der Urzustand ist weit zurückverlegt und das Mittelstück der geschichtsphilosophischen Trichotomie, die Antithese, ist der eigentliche Boden der Weltgeschichte. Geschichte ist die Bildung dieser Antithese und der Versuch ihrer Überwindung. I i . DARSTELLUNG D E R UNIVERSALGESCHICHTE. Es sei vorausgeschickt, daß Stein keine Universalgeschichte geschrieben hat, obwohl er im Vorwort zu seiner Gesellschaftslehre (1856) eine allgemeine Gesellschaftsgeschichte ankündigt.2) Und doch soll versucht werden, die Universalgeschichte, die implicite vorhanden ist, darzustellen. Wir können uns dabei auf Ansätze einer gesellschaftswissenschaftlichen Geschichtsschreibung und die verstreuten Ergebnisse historischer Forschungsarbeit stützen. Vor allem kommt seine „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich" in Frage. Sie ist ein sehr umfassendes Geschichtswerk, das neben systematischen Untersuchungen eine sehr ausführliche und bewundernswert durchgestaltete und gründliche Geschichte der Zeit von 1789 bis 1848 gibt. Daneben finden wir eine Fülle von geschichtsphilosophischen, universalgeschichtlichen und kon*) Stein, Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 442. ) Vgl. Stein, System II, S. VI.

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kret historischen Exkursen in fast jedem seiner Werke, von denen man wirklich sagen kann, daß sie historisch gesättigt sind, wie es ja auch von einem Forscher, der aus Hegel, der Historischen Schule und einem revolutionären Positivismus herauswächst, nicht anders zu erwarten ist. Auf Grund dieses Materials soll Steins Aspekt einer Universalgeschichte in einigen großen Strichen, die das Wesentlichste hervortreten lassen, skizziert werden. Die Weltgeschichte ist für Stein ein einmaliges, einheitliches, ununterbrochenes Werden. Ihr Fortschritt ist der Fortschritt der Gesamtmenschheit von den gesellschaftlichen Anfängen bis hin zu der erst von der Zukunft zu formenden harmonischen Gesellschaftsordnung. Diese These von der Einheit der weltgeschichtlichen Entwicklung, ihrer ganzen Intention nach nachwirkendes 18. Jahrhunderts, bringt ihn der Hegeischen Universalhistorie sehr nahe, verrät seine versteckte Neigung zur Aufklärung, grenzt ihn aber auch von der Historischen Schule und der Romantik ab, die eine Abneigung gegenüber jeder Universalgeschichte hatten. Sie ist ihnen zu geradlinig, zu konstruktiv, zu unlebendig; lieber bleiben sie bei einer „kaleidoskopartigen Betrachtung" (Troeltsch) stehen, schauen die Weltgeschichte als einen Baum mit einzelnen Ästen und Zweigen und nähern sich verstehend den partikularen Entwicklungskreisen, ohne sie universal zu verknüpfen. Und doch ist diese individualisierende, organologische Betrachtungsweise nicht ohne Einfluß auf die deutsche Universalhistorie geblieben. Bereits Hegel kennt einzelne Kulturkreise, die, durch einen individuellen Volksgeist bestimmt, ihr eigenes Leben und Sterben haben; allerdings schreitet die Weltgeschichte durch sie hindurch, indem jedes Volk, für eine bestimmte Mission des Menschheitsfortschrittes begabt, als Führervolk seine Teilaufgabe übernimmt, löst und dem folgenden welthistorischen Volke die Leitung der Geschichte übergibt. Ganz ähnlich Stein. Auch er läßt, nachdem der Urzustand der Menschheit beendet, die menschliche Gesellschaft mit Schichtung und Herrschaft entstanden ist und die eigentliche Weltgeschichte begonnen hat, vier qualitativ verschiedene Kulturkreise einander folgen: die orientalische, die griechische, die römische und die christlich-germanische Welt. Er spricht von einer „Bewegung der Völker und Stämme aus dem inneren Asien nach Westen — eine(r) Bewegung, die in neuester Zeit sogar über Amerika hinausgeht und in Asien selbst wieder anlangen will. Diese Bewegung hat nun auf allen Punkten, nach denen unsere Geschichtskunde hinreicht, eine sich stets wiederholende Erscheinung hervorgerufen. Jeder nachfolgende Stamm scheint nämlich edler, begabter urkräftiger gewesen zu sein als der erste; manche

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Andeutungen weisen darauf hin, daß er auch in körperlicher Hinsicht ein schönerer gewesen." 1 ) Diese Feststellung einer Rangordnung der Völker ist nicht unwichtig, denn jede dieser Völkergruppen, die aus einem Urzustand herauswächst, unfreie Gesellschaft wird und als solche die Aufgabe hat, den Zustand der gesellschaftlichen Freiheit zu schaffen, hat diese Aufgabe zu lösen versucht. Bis jetzt ist es noch nicht gelungen. Auch der griechischen und römischen Welt, die qualitativ über der orientalischen stehen, fehlte die „tiefe, sittliche K r a f t " ; sie sind erstarrt und gestorben. Wird es dem christlich-germanischen Abendland ebenso gehen ? Zwar ist es schon oft dem Untergange nahe gewesen, zwar hat es sich schon oft dem Kastenwesen des Orients genähert, aber immer wieder ist die Freiheit hindurchgebrochen. Stein hofft auf Europa und glaubt an Europa. Es wird auch die gegenwärtige, die schwerste und letzte Krise lösen und damit die Weltgeschichte zum Ziele führen.2) Diese Hoffnung und dieser Glaube stützen sich auf vier historische Phänomene, die die germanische Welt dem geschichtlichen Fortschritt geschenkt hat: es ist vor allem das germanische Königtum, das „wie die germanischen Völker selbst aus dem unerklärten Dunkel der Urgeschichte" entstanden ist und als germanische Institution (andere Völker kennen nur Häuptlinge, Despoten und Beamte) die Gesellschaft vor dem Zustand der absoluten Unfreiheit bewahrt hat.3) Es ist zweitens die Würde der Arbeit, die die alte Welt nicht kannte. Erst im germanisch-christlichen Abendland setzt sich die Arbeit als sittliche Verpflichtung durch. Es ist drittens — damit zusammenhängend — „die innerste Eigentümlichkeit des germanischen Städtelebens". Und es ist schließlich das abendländische Proletariat, das nichts mit dem verarmten, nichtstuenden Pöbel der Alten zu tun hat, sondern eine selbständige, sich als Einheit fühlende Ganzheit ist, e i n e n Willen hat und auf eine gemeinschaftliche Tat sinnt. Aber diese „wunderbare" europäische Welt, diese „edelste unter den Völkergeschlechtern" zeichnet sich noch durch den Reichtum ihrer individuellen Glieder aus. Sie spaltet sich in >) Stein, Demokratie und Aristokratie,

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Diese europazentrische Geschichtsauffassung entspricht ganz der Hegeischen, die auch alle anderen Kulturräume als Vorstufe abtat. 8) Vgl. Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 258 f., 3. Bd., S. 12 f. und Soz. u. Kom., 2. Aufl., S. 67 f., vor allem aber auch die Sybel-Rezension. Stein wirft Sybel vor, daß er ganz einseitig das germanische Königtum als „ein Erbteil des römischen Kaisertums", das von der germanischen Welt über-

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mehrere Völker gemäß der einzelnen Volksgeister.1) Seine eine Aufgabe spaltet sich in die Aufgabe der einzelnen völkischen Individuen. Frankreich ist das Volk der raschen Energie und leidenschaftlichen Tat. Deutschlands individuelle Sendung ist es, erst gedanklich das zu vollenden, was Europa in die Tat umzusetzen hat. Und weil hier — so ist Steins Meinung — die entscheidende Aufgabe der Gegenwart liegt, so muß Deutschland die Führung des europäischen Geschehens übernehmen. Die Zukunft Deutschlands ist die Zukunft Europas. Deutschland ist „der Herbst in der Geschichte der germanischen Welt"; es hat die Geschichte zu vollenden.2) Mit wenigen, seinem gesellschaftswissenschaftlischen Denken entnommenen Begriffen: Freiheit des Menschen, Arbeit, Klasse, Gesellschaft, Staat weiß Stein den gewaltigen Prozeß der Weltgeschichte zu fassen. Es ist weniger ein durch eine göttliche Vorsehung sich abwickelnder Geschichtsprozeß als der vierfache Vorstoß der aus dem Naturzustande aufgebrochenen Menschheit, einen Zustand zu schaffen, der der Würde und Bestimmung des Menschen entspricht. Im naturhaften Zustande vegetiert der Mensch. Die Natur herrscht über ihn, über die seinem Wesen nach freie, selbstbestimmte Persönlichkeit. Er verzehrt nur, schafft aber nicht. Er sammelt nur, arbeitet aber nicht. Doch „die Natur will nicht, daß der Mensch bloß von ihr lebe". 3 ) Er wird ansässig und bearbeitet in hartem Mühen Grund und Boden. Jetzt entsteht Eigentum. Der Mensch wird aus einem natürlichen zu einem gesellschaftlichen nommen worden sei, auffasse. Dagegen behauptet er, daß d a s Königtum aus der K r a f t des germanischen Lebens geboren sei. D a s Römertum habe nur noch einige neue Momente hinzugebracht. 1 ) Daß ein Begriff wie der des Volksgeistes bei Stein, der von der Historischen Schule und Hegel herkommt, eine nicht unwichtige Rolle spielt, war von vornherein anzunehmen. Jedoch ist es charakteristisch, daß er schon stark entmetaphysiert auftritt. E r ist nicht mehr das unerklärliche, schöpferische Volksprinzip, sondern wird einerseits psychologisiert (Stein spricht selten von Volksgeist, meist dagegen von Volkstümlichkeit, Volksbewußtsein) und anderseits positivistisch ausgelegt (der Volkscharakter wird oft, ähnlich wie der Esprit der Geschichtsphilosophie Montesquieus, aus natürlichen Umständen, meist aus geographischen Gegebenheiten abgeleitet). 2 ) Der Gedanke, daß Deutschland als Führervolk zur Vollendung der Geschichte berufen ist, ist dem gesamten deutschen Idealismus bis hin zum Wahren Sozialismus eigen. Vgl. Moses Heß (Koigen, Zur Vorgeschichte, S. 199). 3 ) Stein, System I, S. 469.

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Wesen. Durch verschiedene Faktoren: durch Erbrecht, Tüchtigkeit des einzelnen, besonders aber durch Eroberung entwickeln sich Besitzesunterschiede. Klassen scheiden sich, die Gesellschaft konstituiert sich. In der Welt des Orients schafft sich die Weltgeschichte ihre erste Gesellschaftsordnung, die aber sehr rasch zum Untergange bestimmt ist, da sie zu einer engen Kastenordnung erstarrt. Der Staat wird Klasseninstrument, die Arbeit unfrei. Aber trotz dieser Fronde kennt die ausgebeutete Arbeitskraft kein Freiheitsstreben. Es lastet noch etwas von der Passivität und der Unbeweglichkeit des Naturzustandes auf den Ländern des Nils und des Ganges. Immer noch nimmt die Natur den Menschen weitgehend in ihren Kreislauf auf; sie versorgt ihn, sie schenkt ihm Reichtümer, und der „Überfluß unbeschäftigter, aber seinem innersten Wesen nach dennoch zur wirklichen Betätigung bestimmter Arbeitskraft" verwendet die herrschende Kaste zu großen Arbeiten des Staates. Es entsteht „die monumentale Baukunst, Pyramiden, Städte mit ungeheuren Mauern, Schlösser der Fürsten und Herren". 1 ) Mit dem Siege der Griechen über die Perser ist eine alte Welt abgeschlossen, eine neue beginnt: das Griechentum. Aus dem Naturzustande wächst es auf, kommt zu einer Gesellschaftsordnung, bringt aber auch neue Lebensprinzipien: die freie Persönlichkeit, Gewerbefleiß, Kunstsinn und Lebensfrische. Die Weltgeschichte macht einen gewaltigen Schritt vorwärts, ja, es scheint, als ob bereits jetzt die „Stammvölker aller Freiheit" in die Geschichte eingetreten sind. Aber die Zeit des freien Griechen, der ehrenvollen Arbeit hört bald auf. Die Zeit der Sklaverei beginnt. Die Ehre der Arbeit und die Pflicht zur Arbeit gehen verloren. Die Gesellschaftsordnung erstarrt. Es entstehen gesellschaftliche Machtkämpfe, in deren Folge die untere Klasse über die obere siegt. Das Chaos ist der Ausgang und Untergang der griechischen Epoche. Ein ähnliches Schicksal erleidet das Römertum. Auch in der römischen Welt wird der ursprünglich freie Römer, die einstmals freie Arbeit unfrei. Es entstehen Machtkämpfe zwischen ausbeutenden und ausgebeuteten Klassen. Hier siegt schließlich, im Gegensatz zum Griechentum, das Patriziat über die niedere Klasse.2) Die Staatsgewalt geht endgültig in die Hände der großen Besitzer über, deren Diktatur die römische Epoche beschließt. Dem römischen Pöbel fehlt der revolutionäre Schwung; er ist eine „An») Stein, a. a. O., S. 469. 2) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 3. Bd., S. 12 f.

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häufung von Taugenichtsen", die beim Zirkusspiel die Not ihrer Lage vergessen sollen und vergessen. Mit einer ungebrochenen, frischen Lebenskraft setzt der Vorstoß der germanischen Welt ein. Aus einem Zustand der natürlichen Harmonie und natürlichen Freiheit herauswachsend, überschwemmt sie das Römerreich. Aber diese Zeit der Völkerwanderungen bringt ihr gleichzeitig die gesellschaftliche Unfreiheit. Durch Eroberungen entstehen große Besitzungen. Der Stand der besitzenden, aber nichtarbeitenden Krieger steht einem abhängigen, arbeitenden, aber allmählich verarmenden Bauernstand gegenüber. Die alte Gauverfassung der freien Germanen verwandelt sich in ein „durchgreifendes Benefizialsystem, an dessen Spitze die Grafen und Herren standen". 1 ) Zwar versucht — und das ist für die Geschichte des germanischen Abendlandes von eminenter Bedeutung — der Staat sich bereits im Königtum der Karolinger gegen die unfreie und erstarrende Gesellschaft durchzusetzen.2) Doch vergebens. Die feudale Gesellschaftsordnung siegt. Verschmelzung der staatlichen Rechte mit dem ausbeutenden Großgrundbesitz: das ist der Charakter des Mittelalters, dessen Nimbus der soziologische Realismus Steins vollständig zerstört. „Im Anfang des zweiten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung ist das Los der Arbeit ziemlich allenthalben entschieden. Die Kaste herrscht. Die Fron, der Hand- und Spanndienst lebt auf, ungeheure Bauten entstehen, der Orient und seine Geschichte sind in das Abendland herübergetreten."3) Vergeblich versuchen die verarmten Hintersassen in den deutschen Bauernkriegen und der französischen Jacquerie das Joch der Leibeigenschaft abzuschütteln. Die Privilegienherrschaft des Adels bleibt. Es fehlt den Aufsässigen der geschlossene revolutionäre Wille des modernen Proletariats. Jedoch die auf dem Grundbesitz basierende Gesellschaftsordnung wird gezwungen, einer neuen Ordnung Platz zu machen. Das Germanentum hat die Kraft, dem erstarrenden, sterbenden Gesellschaftskörper neues Leben einzuhauchen. Es ist einerseits das Freiheitsstreben und die Werkfreude des abendländischen Menschen, die das Gewerbe entstehen lassen, Städte aufbauen und die freie, Eigentum schaffende Arbeit ermöglichen; es ist anderseits das Königtum, das abermals versucht, den Staat aus der Herrschaft der grundbesitzenden Klasse zu entreißen und eine ') Stein, Gesch. d. frz. Strafrechts u. Proz., S. 26. Stein, a. a. O., S. 35 f. 3) Stein, Gesch. der Arbeit, S. 366. 2)

Beiheft d. H. Z. 26.

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selbständige Staatsgewalt aufzurichten. Mit den Städten und ihrem Gewerbe fängt eine neue Zeit in Europa an. Die besitzlose Arbeit wendet sich dem Gewerbe zu, das durch strenge Zucht, Sparsamkeit und Tüchtigkeit eine ansehnliche gesellschaftliche Macht wird. Die Folge ist ein erbittertes Ringen zwischen Grundbesitz und gewerblichem Kapital. Die Städte „bauen sich Mauern und Türme, und ihre Hand verteidigt mit dem Schwert, was sie mit Meißel, Hammer, Webschiff und Feile erworben haben" 1 ), unterstützt vom Königtum, das gegen die Herrschaft des Lehnsadels kämpft, indem es die Krone mit einer zuverlässigen Beamtenschaft umgibt und die Klasse der Gewerbetreibenden zu sich heranzieht. Die Folge ist, daß die freie, gewerbliche Arbeit in ihrer Bedeutung anerkannt werden muß und als selbständiger Gewerbestand dem Grundbesitz gegenübersteht. Aus der Lehnsherrschaft ist eine Ständegesellschaft geworden. Aber aus dem früheren Verhältnis wird jetzt ein Verhältnis des gegenseitigen Hasses der beiden Stände, eines scharfen und unüberbrückbaren Gegensatzes. Seit dem 15. Jahrhundert werden die Städte in zäher Arbeit immer mächtiger, die Grundherren immer unsicherer. Der Sieg des Gewerbes über den Grundbesitz rückt heran. Dieser Situation ist das absolute Königtum nicht gewachsen. Es ist als volkloses Königtum auf Staatsautorität bedacht, ohne sich um die wahre Ordnung der Gesellschaft zu kümmern. Es will „nur die staatliche Herrlichkeit für sich". 2 ) Darum läßt es dem grundbesitzenden Adel, als er sich der Krone unterwirft, die Privilegien aus lehnsrechtlicher Zeit. Es bleiben die alten Rechts- und Eigentumsverhältnisse des Lehnssystems bestehen, solange sie nicht der königlichen Souveränität widersprechen. Aus dem ehemaligen Feind des Thrones wird seine Stütze und sein Glanz. Das Königtum wird immer mehr Adelskönigtum, es fällt immer mehr in die Hände der herrschenden Adelsklasse, abgesehen von einzelnen Reformversuchen Josefs II., Maria Theresias, Friedrichs d. Gr., Turgots und Malesherbes'. Auf diesen Zustand der Entrechtung antwortet die gewerbliche Klasse mit der französischen Revolution von 1789, die alle Privilegien vernichtet und die erwerbende Arbeit als Kriterium gesellschaftlicher Geltung proklamiert. Es setzt die volkswirtschaftliche Gesellschaft und mit ihr die Blütezeit des gewerblichen Kapitals ein. Wie eine entfesselte Flut — so sieht Stein dit neue Zeit — stürzt die Arbeit mit unerhörter Schnelligkeit über das ') Stein, System I, S. 475. 2 ) Stein, Gesch. d. frz. Strafrechts u. Proz., S. 590.

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feste Land Europas. Im Kaisertum Napoleons sieht er nichts anderes als den äußeren, geduldeten Schutz der sich ausformenden gewerblichen Gesellschaft. „Ein solcher Zustand trug nicht die Fähigkeit langer Dauer in sich . . der Augenblick mußte kommen, wo das System Napoleons zusammenbrach."1) Aber die neue Gesellschaft ist noch nicht gesichert. Erst nach Jahren gegenrevolutionärer Bewegungen beendet die Julirevolution endgültig die alte, feudale Gesellschaftsordnung. Entscheidender aber als der Abschluß einer Epoche ist für die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts die Entstehung neuer, furchtbarer Spannungen innerhalb der gewerblichen Gesellschaftsordnung selbst. Hatte der jugendfrische Frükapitalismus den Nichtbesitzenden zum Besitzenden aufsteigen, „den Widerspruch und seinen Schmerz, der auf dem Boden schlummert, noch nicht ahnen" lassen, so tritt jetzt immer stärker die Spaltung in Besitz und Arbeit hervor. Die Epoche der industriellen Gesellschaft setzt ein, mit Massenreichtum und Massenarmut, mit dem Egoismus einer besitzenden, ausbeutenden Schicht und dem revolutionären Ethos eines abendländischen Proletariats, das im Bewußtsein der freien Persönlichkeit aufsteht und die erstarrende Gesellschaftsordnung zu beseitigen versucht. Diesen letzten und schwersten Gegensatz zwischen Besitz und Arbeit zu überwinden: das ist die große weltgeschichtliche Aufgabe Europas, aber nicht nur die des Proletariats, sondern der gesamten Gesellschaft und des Staates. Bringt es das Abendland nicht fertig, die Harmonie der Interessen aufzurichten, dann muß es wie andere Völker vom Schauplatz der Weltgeschichte abtreten. i) Stein, Gesch. d. soz. Bew., 1. Bd., S. 425.

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II. TEIL. 3. K A P I T E L .

LORENZ VON STEIN UND DIE GEISTESGESCHICHTE DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS. 1. LORENZ VON STEIN UND S E I N E ZEIT. Der geistesgeschichtliche Standpunkt, die mannigfache Schichtung und der Verlauf des Steinschen Denkens sind schon in der systematischen Untersuchung seiner Geschichtsphilosophie, an manchen Stellen sehr klar und deutlich, hervorgetreten. Jetzt gilt es, diese sporadischen Feststellungen zusammenzufassen und in eine biographische Entwicklung einzuordnen.1) Zunächst aber soll uns eine kurze Skizze der geistigen Atmosphäre der Zeit beschäftigen.2) Die Generation Steins, im 1. und 2. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts geboren, wächst im Banne des deutschen Idealismus, sowohl der idealistischen Philosophie als auch der Historischen Schule und der Romantik auf, ringt sich aber dann, zum Teil durch die empiristisch-realistischen Züge der Historischen Schule angeregt, zum Teil von den sozialen und politischen Ereignissen der Zeit beeindruckt, zum Teil aber auch durch den westlichen, ametaphysischen Positivismus beeinflußt, zu einem Realismus durch, der zwar mit einem idealistischen Restgut durchsetzt ist, aber auch ein ganzes Stück Aufklärung auf einer höheren Ebene wiederholt. Dieser weite geistige Raum, den dieser Realismus umspannt, sei kurz dargestellt. Im 18. Jahrhundert setzt mit der Aufklärung ein ausgesprochen historisches Bewußtsein ein. Ein sich von aller Tradition *) Die wichtigsten Lebensdaten sind entnommen: Grünfeld, Lorenz v. Stein und die Gcsellschaftslehre; Salomon, Vorwort zu: Lorenz v. Stein, Geschichte d. soz. Bew.; Carl Menger, Lorenz v. Stein; Inama-Sternegg, Lorenz v. Stein (in: A. D. B.); Lorenz v. Stein (in: Staatsw. Abhandl.); Lorenz v.Stein (in: Statist. Monatsschr.); Almanach d. Kaiserl. Akad. d. Wiss., 41. Jahrg., S. 215 ff. 2 ) Vgl. besonders Troeltsch, Historismus; Rothacker, Einleitung. — Daneben u. a. auch: Freyer, Die Bewertung der Wirtschaft; Fueter, Geschichte der neueren Historiographie; Koigen, Zur Vorgeschichte; Simon, Ranke und Hegel; Speier, Die Geschichtsphilosophie Lassalles.

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emanzipierendes Jahrhundert schafft sich in einer für die nächste Zeit fruchtbaren Geschichtsphilosophie Klarheit über seine Situation, seinen Ort im Geschichtsprozeß und seine Aufgabe für die Zukunft. Man dringt auf Einsicht, um aus Einsicht zu handeln. Man fragt nach Einheit, Sinn und Ziel der Geschichte und antwortet mit einer universalen Darstellung der Menschheitsgeschichte, indem man, von der Gegenwart her wertend ein Fortschrittsprinzip als Norm an die Geschichte anlegt und die Geschichte als Entwicklung des Menschengeschlechts zur größeren Vernünftigkeit, zur Perfektibilität der Gattimg auffaßt. Dieser geschichtsphilosophische Aspekt der Aufklärung wirkt im deutschen Idealismus fort: in Ranke und Fichte, die u. a. den dialektischen Gedanken der Trichotomie der Geschichte ergänzend hinzufügen, und schließlich in Hegels Rationalismus, der allerdings nur eine Seite seines geschichtsphilosophischen Denkens einnimmt. Die andere ist ein Erbe Herders, dessen geschichtsphilosophisches Denken und universalhistorische Schau die Ansicht über Geschichte, ihren Verlauf und ihr Werden revolutioniert. Obwohl er noch mit dem normativen Begriff der Humanität sympathisiert, liegt der Akzent jetzt weniger auf dem Endziel der Geschichte als auf der Betonung des Eigenwertes jeder historischen Epoche. An die Stelle einer rein apriorischen Konstruktion des Geschichtsprozesses tritt die Besinnung auf die Konkretheit historischen Werdens, an Stelle der lebensfremden Deduktion die lebendige Anschauung. Dieses Erbe tritt voll und ganz die Historische Schule an. In ihr und Hegel erreicht das historische Bewußtsein einen Höhepunkt, der den geistigen Gesamtcharakter derZeit prägt. Trotz ihrer „bösen Nachbarschaft" (Ranke) erscheinen sie uns beide: die historische und die hegelisch-philosophische Schule als ein fester, geschlossener Block, der sich nach rückwärts gegen den westeuropäischen ametaphysischen Dualismus, Sensualismus und Materialismus, ja auch gegen den deutschen Rationalismus der vorhegelischen Epoche abgrenzt, nach vorn sich von dem einsetzenden Realismus und Positivismus im Junghegelianismus und der politischen Historie distanziert und noch geschlossener erscheint durch seine polemisierende Haltung gegen die Romantik (besonders die subjektivistische Frühromantik) und die Orthodoxie der protestantischen Theologie. Die tragenden und durchgehenden Grundprinzipien beider Schulen sind einerseits ihr Historismus und andererseits ihr Kollektivismus: ihr Historismus involviert eine spezifische Haltung dem geschichtlichen Leben gegenüber. Diese zeichnet sich aus durch einen Hang zur Kontemplation und zu einer fast quietistischen Lebensstimmung. Man will begreifen

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und verstehen, nicht handeln, nicht die Zukunft vorwegschauen und sie gestaltend beeinflussen. Ihr Kollektivismus entwertet das Individuum und verankert es in räumlich und zeitlich über das Einzeldasein hinausgreifenden Kollektivmächten. Aber es gibt auch eine Seite der Historischen Schule, die schwerlich mit Hegel in eine Front zu rücken ist und bereits ein neues Zeitalter ankündigt: ich meine ihre heftige Polemik gegen den konstruktiven Logizismus und monistischen Spiritualismus Hegels und ihre Ansätze zu einem realistischen Denkstil. Die wahre Überwindung Hegels, die konsequente Entmetaphysierung der historischen Welt ist aber erst eine Aufgabe der folgenden Generationen, deren geschichtliches Denken außerdem eine ausgesprochen aktivistische Wendung nimmt. Ich möchte drei Bewegungen unterscheiden: die politische Historie, den Junghegelianismus und den soziologischen Realismus Marxens und Lorenz von Steins. Für alle drei gilt trotz aller Verschiedenheit, daß ein neuer Realismus und ein neuer Aktivismus zur Grundintention ihres historischen Denkens wird. Die politische Historie ist ein typisches Produkt dieser inneren Umstellung des historischen Bewußtseins. Droysen ist ihr wichtigster Repräsentant. Neben ihm stehen Gervinus und Sybel. Es ist die Generation der zwischen 1805 und 1821 Geborenen. (Steins Geburtsjahr ist 1815.) Von Hegel und der Historischen Schule herkommend, opponieren sie bald gegen alle „Hegelei", gegen alles Spekulative in der historischen Forschung. Ein neuer aufklärerischer Zug bricht durch. Schlosser ist der Verbindungsmann. Man unternimmt eine klare und deutliche Schwenkung zur Empirie. Die Frage nach den historischen Triebkräften mündet im Anthropologischen. Fichtes Aktivismus wird in dieser neuen Generation, die Gesinnung, Tat und Handeln fordert, wieder lebendig. Dasselbe gilt, vielleicht in einem noch ausgeprägteren Sinne, für den Junghegelianismus. Auch für ihn ist seine aufklärerischrealistische und seine aktivistische Wendung das Neue und Entscheidende gegenüber seinem Lehrer. Der Mensch rückt in den Mittelpunkt der Reflexion. Das gilt für Strauß, Bauer, Feuerbach, Rüge und den Wahren Sozialismus.1) Fichtes Tatphilosophie wird „als gewichtige und tiefe Andeutung" empfunden und ihre Wichtigkeit betont hervorgehoben.2) *) Wie weit man sich als Nachfolger der Aufklärung fühlt, zeigt ein Ausspruch Grüns: Der neue Sozialismus habe das Werk der Enzyklopädistik ergänzend zu vollenden (vgl. Koigen, Zur Vorgeschichte, S. 227). 2 ) Vgl. Cieszkowski, Prolegomena, S. 14. — Besonders aber auch Moses Heß, Philosophie der Tat (!) S. 321 und Sozialismus und Kommunis-

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Auch Stein überwindet sehr bald Hegel, Romantik, Historische Schule und nähert sich einer realistischen und aktivistischen Geschichtsphilosophie. Zweifellos haben auch bei ihm Aufklärung und der vorhegelische deutsche Idealismus Pate gestanden. Viel entscheidender aber ist für ihn der Einfluß des positivistischen Westens. Wie er sich von Hegel und der Historischen Schule löst, wie ihn französisches Denken revolutioniert und wie das deutsche, idealistische Erbe in ihm doch nicht ganz verschwindet, im Gegenteil, neu hindurchbricht: das soll uns der nächste Abschnitt zeigen. 2. VERSUCH E I N E R GEISTESGESCHICHTLICHEN BIOGRAPHIE. a) Zwischen Hegel und der Historischen Schule

(1835—1840).

Steins geistesgeschichtliche Stellung und sein Denktypus verraten sich gleich am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn in interessanten, sehr aufschlußreichen Briefen an die Herausgeber der Hallischen Jahrbücher: zwei Briefe sind aus dem Jahre 1839, an Echtermeyer gerichtet, die übrigen fünf sind aus den Jahren 1840—1842, Rüge ist ihr Empfänger. 1 ) Der Briefwechsel zwischen ihm und den beiden Junghegelianern setzte ein, nachdem er sein Studium im wesentlichen beendet hatte (er studierte 1835 und 1836 in Kiel, 1837 und 1838 in Jena), nachdem er kurze Zeit an der schleswig-holsteinischen Kanzlei in Kopenhagen tätig gewesen war und in Kiel wieder wissenschaftliche Studien aufgenommen hatte. Hier promovierte er noch 1840 und hielt sich dann vom Frühjahr bis zum Herbst 1841 in Berlin auf 2 ), vermutlich mit Hilfe eines Stipendiums. Noch im Oktober verließ er Deutschland. Es folgte der für ihn so entscheidende Aufenthalt in Paris. Zunächst aber soll uns der Stein jener Kieler, Jenenser und Berliner Zeit beschäftigen. mus, wo er sich sehr oft auf Fichtesche Traditionen beruft. — Auch Rüge behauptet von sich, daß Fichtesches Blut in ihm fließe (vgl. Koigen, Zur Vorgeschichte, S. 293). 1 ) Obwohl die Namen der Adressaten unleserlich gemacht worden sind, lassen sie sich aber aus dem Inhalt der Briefe leicht feststellen: es sind Briefe an die Herausgeber der Hallischen Jahrbücher. Die ersten beiden Briefe mit der Anrede: Herr Professor sind vermutlich an Echtermeyer, die anderen mit der Anrede: Herr Doktor an Rüge gerichtet. Erich Stenger, der Leiter der Dokumentensammlung Darmstaedter, kommt, wie er mir schrieb, zu derselben Vermutung. 2 ) Daß Stein sich vom Juni bis Oktober 1841 in Berlin aufhielt, bestätigen drei Briefe aus diesen Monaten.

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Die Steinschen Briefe bitten um Aufnahme einiger, teils aus finanzieller Bedrängnis1), teils aus wissenschaftlichem Oppositionseifer geschriebener Rezensionen in die Hallischen Jahrbücher und geben uns einen nicht zu unterschätzenden Einblick in seine geistige Verfassung. Er zeigt sich als ein Rechtshistoriker und Rechtsphilosoph, der um die Problematik seiner wissenschaftlichen Position weiß und auf ihre Lösung drängt. E r habe sich — so schreibt er — viel mit Philosophie, mehr aber noch mit Rechtsgeschichte beschäftigt und sei der Überzeugung, daß die augenblicklichen Auseinandersetzungen in der Jurisprudenz, in die er sich hineingestellt sieht, entscheidender sind als in allen anderen Wissenschaften. Aber als ihn Rüge auffordert, über die Berliner Juristenfakultät in den Jahrbüchern zu berichten, fühlt er sich dieser Aufgabe nicht gewachsen, obwohl er ihre Wichtigkeit einsieht. Seine „zunächstliegende" und ihn „drängende Aufgabe" sei die, sich von den Schulen frei zu machen (zweifellos sind hier die Hegeische und die Historische Schule gemeint) und sich ein eigenes System zu bilden (!). Er weiß, daß seine Zeit und seine Generation, wie er in einer der Rezensionen schreibt, über den Anfang des Jahrhunderts hinaus sind, nicht bloß der Jahreszahl nach. Ganz überraschend ist seine bereits in einem Briefe vom September 1841 ausgesprochene klare und eindeutige Abgrenzung gegenüber Hegel: „ . . . es ist ganz unmöglich, die Wissenschaft des Rechts und des Staats von Hegels Standpunkt aus zur Vollendung zu bringen; und doch bin ich noch nicht imstande, den wahren zu finden. Das erste, was geschehen muß, ist eine Kritik der bisherigen Theorie der Doktrin der Jurisprudenz überhaupt." Der Historischen Schule gegenüber ist er aber ebenso kritisch eingestellt, obwohl sein Studium wahrscheinlich ganz unter ihrem Eindruck gestanden hat. Diese Tatsache darf nicht übersehen werden, denn sie läßt seine ahegelische Einstellung, die sich dann Es sei hier eine Stelle aus dem ersten Brief an Echtermeyer (4. Juni 1839) veröffentlicht, die uns einen interessanten biographischen Beitrag liefert: „Ich habe gehört, daß man für einen angenommenen Aufsatz ein bestimmtes Honorar erhalt. Nun hat Sr. Majestät, der König von Dänemark, mich aus einem Waisenhause hervorgezogen und auch studieren lassen. Jetzt, da ich damit fertig bin, hört die Unterstützung auf — und ich, der ich weder Vater noch Mutter noch Familie oder Vermögen habe. Und bei der wirklichen Überfüllung aller Stellen vorläufig auch keine Aussichten, sehe mich in die dringendste Verlegenheit gesetzt, durch die Gnade Sr. Majestät, die vorläufig nur eine halbe ist. Ich muß nun irgendwie versuchen, das Meinige zu tun, und da habe ich versucht, es vor mir selber zu rechtfertigen, wenn ich, obgleich noch nicht reif, öffentlich auftrete."

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später in einem historischen Realismus fortsetzt, bereits in seiner Studentenzeit beginnen. Kiel war zu Zeit seines Studiums ein Hort der Historischen Schule. Nikolaus Falck führte als Anhänger Savignys die juristische Fakultät. Michelsen, der Nachfolger Dahlmanns in Kiel, der enge Beziehungen zur Historischen Schule pflegte und sich durch eine gründliche rechtshistorische Bildung und als Kenner der germanistischen Jurisprudenz auszeichnete, hielt in jenen Semestern historische Vorlesungen. Und schließlich ergänzte der allerdings nicht sehr bedeutende, eklektizistische Philosoph Heinrich Ritter als Antipode Hegels und Freund Rankes den Einfluß der Historischen Schule.1) In Jena fehlte zu jener Zeit, so tadelt Rüge, überhaupt jeder rechtsphilosophische Zug, abgesehen von Asverus, der Neigung zur Rechtstheorie Savignys hatte2), so daß wahrscheinlich besonders Kiel und Berlin Steins rechtsphilosophische Anschauungen geprägt haben. Trotz eines zweifellosen Einflusses der Historischen Schule auf Stein sieht er ihre Grenzen: als Repräsentant einer neuen, aktivistischen Generation opponiert er gegen ihren quietistischkontemplativen Geist. Daß er hier unter dem Eindruck der Jahrbücher steht und sich selbst zu ihnen rechnet, zeigt uns wiederum der Briefwechsel recht deutlich. Es ist mehr als eine bloß konventionelle Phrase, wenn er an Rüge schreibt: „Die Hälfte aller Fortschritte, die ich mache, verdanke ich dem Bewußtsein, daß ich vorwärts komme; und könnte ich Ihnen mein Inneres darlegen, so würden Sie sehen, welchen Anteil Sie an dieser Überzeugung haben"; oder wenn er in einem Briefe seinen Besuch in Dresden ankündigt oder auch, wenn er behauptet, daß seine Rezension, die er ihm schicke, sich durchaus dem Inhalt nach für die Jahrbücher eigne.3) Dabei muß aber berücksichtigt werden, daß dieses neue Wissenschaftsethos, das der Kritik Steins an der Historischen Schule zugrunde liegt, wahrscheinlich nicht nur auf junghegelianische Einflüsse, sondern auch auf eine Wiederannäherung Steins an den vorhegelischen Idealismus, besonders an Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse der Jahre 1835 und 1836, abgedruckt im Kieler Korrespondenzblatt, 1835, Nr. 29 und 78 und 1836, Nr. 31 und 91. 2 ) Vgl. Rüge, Die Universität Jena, Spalte 831 f. 3 ) Auch später bezieht sich Stein oftmals auf Rüge und seine Jahrbücher. Dabei muß allerdings betont werden, daß sie weniger durch ihre staatsphilosophischen, liberal-demokratischen Reformideen als durch die allgemeine antihegelisch-realistisch-aktivistische Tendenz auf Stein gewirkt haben.



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Fichte, zurückzuführen ist. Es liegt die Vermutung nahe, daß Fichte, der, wie wir bei der Darstellung der Geschichtsphilosophie gesehen haben, im Denken Steins während seines ganzen Lebens eine eminent wichtige Rolle spielte, bereits während seiner Studienzeit sein wissenschaftliches Denken mit geformt hat. Und es hegt weiterhin die Vermutung nahe, daß hier seine Jenenser Studienzeit nicht ohne Einfluß geblieben ist. In Jena wirkte nämlich zu seiner Zeit der Historiker Luden, von dem Rüge begeistert sagt, daß er als „Schüler Fichtes, dessen zweite, mehr praktische Wendung vornehmlich auf ihn eingewirkt zu haben scheint", einer der bedeutendsten Philosophen des damaligen Jena gewesen sei, daß seine historischen Vorträge die Studenten gewaltig angeregt und die ganze Universität zu seinen Füßen versammelt habe.1) Aus dieser Überzeugung Steins, weder der Hegeischen noch der Historischen Schule verschrieben zu sein, aus dem Gefühl, einer neuen, aktivistischen Generation anzugehören, sind nun auch seine rechtsphilosophischen Rezensionen entstanden, die wir kurz interpretieren wollen. Uns interessieren vor allem die Feuerbachund die Savigny-Rezension.2) Kodifikation eines gemeinen deutschen Rechts: das ist die Forderung, unter deren Aspekt Steins Kritik an diesen Rechtsphilosophen steht. Er wiederholt damit den Thibaut-SavignyStreit, der im zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts die Gemüter heftig erregt hatte, und ist sich dieser Wiederholung durchaus bewußt. Er tritt offen für Thibaut ein und polemisiert heftig gegen den Quietismus der Historischen Schule.3) Indem er schon Feuer*) Vgl. Rüge, Die Universität Jena, Spalte 820 f. — Luden hielt im SS. 1837, WS. 1837/38, im SS. 1838, und im WS. 1838/39 Vorlesungen (vgl. Intelligenzblatt d. Jenenser Allgem. Literatur-Ztg. Jahrg. 1837 u n d 1838). 2) Die Feuerbach-Rezension ist 1840 verfaßt worden, 1842 in den Hall. Jahrb. erschienen, die Savigny-Rezension ist 1841 geschrieben, 1841 in den Hall. Jahrb. veröffentlicht worden. — Wie gründlich und intensiv sich Stein besonders mit Savigny beschäftigt hat, zeigt folgende Briefstelle: „Der Inhalt der Rezension über Savigny gehört zu dem Resultat einer Arbeit, die ich seit dem Beginn dieses Jahres täglich und stündlich unter Händen und in Gedanken gehabt habe; es ist ein Teil meiner geistigen und juristischen Existenz; jeder Schritt darin ist mit langer und nicht leichter Mühseligkeit erstritten worden" (Brief vom 23. September 1841 aus Berlin an Rüge). 3) Neben den Rezensionen sind noch zwei Aufsätze wichtig, die ¿11erdings erst um 1845 geschrieben worden und in der Dtsch. Vierteljahrsschr. erschienen sind: „Das corpus iuris und die Historische Schule in ihrem Ver-

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bach, der nicht zur Historischen Schule gerechnet werden kann, tadelt, da er an der Carolina, einer lebensfremden, überholten Rechtstheorie festhalte und sich nicht an dem gegenwärtigen Rechtsbewußtsein des Volkes orientiere, und indem er Savigny vorwirft, daß sein Sich-Einsetzen für das römische Recht nur „leere Theorie" sei, die „gar keinen Boden in der Wirklichkeit" habe und „durch die kräftige Tat der Wissenschaft" aufgehoben werden müsse, — indem er seine Kritik so anlegt, schlägt er das Thema: Theorie und Praxis, das zentrale Thema des Junghegelianismus an. „Die Furcht vor dem Denken und vor der Besinnung über die Forderungen der Gegenwart hat — so polemisiert Stein gegen Savigny — die .Theorie' entseelt, sie schwebt wie ein irrender Schatten um die Grube des Odysseus, sie muß erst Blut und Leben aus dem Denken und aus der Gegenwart trinken, um hören zu können, was sie soll, und um zu reden, was man von ihr hören will." Spricht aus Ruges Kritik an der Hegeischen Rechtsphilosophie nicht eine ganz ähnliche Haltung, wenn er sagt: „Das Buch hat etwas Nebelhaftes, einen Charakter wie die Wolkengebilde, die man nicht fassen und halten kann." 1 ) ? Wenn auch der Vorwurf einmal dem Historiker gilt, der an „überlieferten Übelständen" hängen bleibt, und das andere Mal dem Logizisten, der seine Theorie nicht an der Praxis mißt, so gilt doch beiden der Vorwurf, daß ihre Theorien nicht lebensnah sind, das pulsierende Leben nicht zum Ausgang und Maßstab ihrer Forschung gemacht haben. Stand im Mittelpunkt der Savignyschen Rechtstheorie das in einer organologisch-historisch-kontemplativen Haltung begründete, „unerschütterliche Festhalten an der Würde des geltenden Rechts" 2 ), so fordert Stein, indem er der Historischen Schule die Verteidigung eines Rechts vorwirft, welches kein System (!), sondern nur eine Sammlung von Rechtsaussprüchen sei und nicht hältnis zur deutschen Rechtsentwicklung" und „Das corpus iuris und die Idee des gemeinen deutschen Rechts". Vermutlich hängt die Wiederaufnahme des Kodifikationsproblems in einer Zeit, in der Steins rechtsphilosophische Interessen zugunsten gesellschaftswissenschaftlicher abnahmen, mit dem 1843—44 auftauchenden Beseler-Puchta-Streit zwischen germanistischer und romanistischer Richtung innerhalb der Historischen Schule zusammen. 1843 erschien Georg Beselers Schrift „Volksrecht und Juristenrecht". E r war Schüler Falckes, Freund Thibauts und Jakob Grimms (vgl. A. D. B. Bd. 46, S. 445 ff.). 1 ) Rüge, Die Hegeische Rechtsphilosophie und die Politik unserer Zeit, S. 763. Vgl. auch Rüge, Eine Selbstkritik des Liberalismus. 2 ) Rothacker, Einleitung, S. 53.

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unserer Bewußtseinsstufe entspreche, im Gegenteil, ein volkstümlich deutsches Rechtsleben negiere — daß man den nurhistorischen Standpunkt, das „Prinzip der Offenbarung" aufgebe und an die Schaffung eines deutschen Rechts herangehe. Aus diesem Grunde rechnet er sich zur philosophischen Schule, die eine Gesetzgebung will, „weil sie den seinem Begriffe nach freien Geist nicht von den ihm gegenüber rechtlosen Fesseln altgeschichtlicher Zustände will beherrschen lassen; die Philosophie und die ihr zuströmende Jugend will zunächst eben nur das Prinzip, d a ß einmal der Mensch diese Gewalt habe; sie will die Freiheit des Geistes auch auf diesem Gebiete. Was aber heißt es, wenn ich sage, daß das Recht nur unmittelbar, unbewußt, unbestimmbar entstehen kann und entsteht, anders, als daß hier, in der unmittelbaren Nähe der freien Persönlichkeit, etwas entsteht und herrscht, über welches dieser freie persönliche Geist seinem Wesen nach keine Herrschaft haben könne P"1) Aber auch wenn sich Stein auf die Seite der philosophischen Schule stellt, so heißt das nicht, daß er mit einer rein deduktiven, naturrechtlichen Konstruktion des geforderten neuen deutschen Rechts sympathisiert. Er fordert, daß das neue Rechtsleben aus der Eigentümlichkeit des deutschen Volkes und aus der gegenwärtigen historisch-gesellschaftlichen Situation herauswachse2), daß es alle früheren Stufen der Rechtsgeschichte in sich vereine. Deshalb verlangt er von der Jurisprudenz, daß sie sich an der Geschichte orientiere, daß sich juristische Wissenschaft und Geschichte durchdringen. Stein steht zwischen Philosophischer und Historischer Schule. Und nicht allein. Er ist auch hier nur typischer Repräsentant einer neuen Generation. Zu ihr gehört Seeger, der die wissenschaftlich-philosophische Erforschung des geltenden Rechtsbewußtseins und die Herstellung eines nicht konstruierten, sondern Stein, corpus iuris I, S. 187. 2)

Hier hat zweifellos auch die germanistische Jurisprudenz der Zeit eingewirkt. Falck, der Lehrer Steins in Kiel, mit dem später Stein und 6 andere Dozenten der Kieler Universität die bekannte Denkschrift, das Erbfolgerecht im Herzogtum Schleswig betreffend, publizierte, war einer der führenden Germanisten in Deutschland. — Noch bemerkenswerter aber ist — hat man die ganze Entwicklung Steins im Auge — , daß er über eine Begründung des geforderten neuen Rechts im Volksgeist hinausgeht und bereits ein adäquates Verhältnis zwischen dem Recht und der g e s e l l s c h a f t l i c h - h i s t o r i s c h e n Struktur der Gegenwart verlangt. (So versucht er z. B. die Verteidigung des römischen Rechts durch einen Hinweis auf die veränderten gesellschaftlichen Zustände zu entkräften.)

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mit der Geschichte verbundenen neuen Rechts fordert. 1 ) Zu ihr gehört Droysen, der in seiner Rechtsanschauung die „bemerkenswerte Synthese hegelischen und .historischen' Geistes" versucht.2) Zu ihr gehören Kierulff, zur Zeit des Steinschen Studiums Dozent in Kiel, und Warnkönig, der später mit Stein zusammen die Geschichte des französischen Strafrechts bearbeitete. Beide fordern Ausgleich zwischen den philosophischen und historischen Rechtstheorien.3) Das ist der Gedankenkomplex, in dem sich Steins wissenschaftliche Forschungsarbeit bis zum Jahre 1841 ausschließlich bewegt. Das neue Jahrzehnt bringt eine neue Epoche. b) Stein und die französische Gesellschaftswissenschaft

(1841—1851).

Mit dem Jahre 1841 beginnt ein neuer Abschnitt im Leben Steins. Nicht nur in seiner ganzen Denkhaltung und seinem Denkstil entfernt er sich um ein weiteres Stück vom idealistischen Denken: darüber hinaus gewinnt er Interesse für ein ganz neues Wissenschaftsgebiet, für die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft. Aus dem Rechtshistoriker und Rechtsphilosophen wird ein Gesellschaftswissenschaftler. Man kann den Grund dieses Umschwungs in „der Sicherheit des Genies" suchen, welches begreift, „daß im 19. Jahrhundert die gesellschaftlichen an die Stelle der politisch-rechtlichen Probleme traten".4) Gewiß, Stein hat eine solche Sicherheit des Blicks. Aber wäre dieser Umschwung eingetreten, wenn ihm nicht ein Stipendium für eine Reise nach Paris gewährt worden wäre? Warum sträuben wir uns, eine Laune des Schicksals in den Lebenslauf eines Menschen eingreifen zu lassen? Stein wird durch seine Frankreichreise ein anderer. Im Oktober 1841 fährt er nach Paris, wo er sich bis 1842 aufhält. Neue und ganz andere Gedanken und Menschen treten ihm dort entgegen. Er begegnet Considérant, Reybaud, Blanc, Cabet. Im Januar 1842 schreibt er an Rüge : „Dann aber möchte ich . . . Ihren gütigen Händen einen Plan übergeben, der fast die ganze Zeit und die ganze Kraft meines hiesigen Aufenthalts in Anspruch nimmt. Ich habe mich schon von meiner Ankunft an auf die Grundverhältnisse des hiesigen sozialen Zustandes und *) Seeger, Die deutsche Rechtswissenschaft in ihrem Verhältnis zu unserer Zeit. a ) Vgl. Rothacker, Einleitung, S. 175. 3 ) Vgl. die anonymen Besprechungen von: A. Warnkönig, Rechtsphilosophie als Naturlehre des Rechts, und Kierulff, Theorie des gemeinen Zivilrechts in den Hall. Jahrb. 1841, S. 391 ff. *) Vgl. Salomon, Vorwort zu Steins: Geschichte der soz. Bew. S. X I

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ihre Entwicklung eingelassen und die Theorien von St. Simon, Fourier und den hier sehr mächtigen Kommunismus eifrigst studiert." Er gesteht ihm, daß er darüber ein Buch zu schreiben plant, und bittet ihn, sich bei Wigand für die Verlegung einzusetzen. 1842 erscheint es unter dem Titel: „Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs" und leitet ein Jahrzehnt ein, das ganz unter dem Einfluß französischen Denkens steht. Stein verlebt es in Kiel, wo er sich 1843 habilitiert und 1846 ao. Professor wird. 1848 unterbricht er seine Kieler Zeit durch eine zweite Frankreichreise, die er als Delegierter der provisorischen Regierung Schleswig-Holsteins in der Sache der Herzogtümer unternimmt. In demselben Jahre erscheint eine zweite Auflage seines Buches. Und schon zwei Jahre später veröffentlicht er eine dritte, vollständig umgearbeitete Auflage unter dem Titel: „Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage", ein Buch, das ein Jahrzehnt reichster Erfahrung und innerer Ausweitung abschließt. Dieses Jahrzehnt im Leben Steins, umrahmt von zwei Frankreichreisen, dürfen wir nicht unterschätzen. Gewöhnlich wird er ja als Hegelianer hingestellt, der Hegels Gesellschaftslehre fortentwickelt hat. Zweifellos, er hat sie fortentwickelt und ist von ihr beeinflußt worden. Aber erst in Frankreich ist er mit der Wissenschaft von der Gesellschaft als einer eigenen Wissenschaft wirklich vertraut gemacht worden. Andeutungen in seinem 1842 erschienenen Buche lassen erkennen, daß ihm erst jetzt das Phänomen der Gesellschaft bewußt wird. Erst jetzt macht er den Schritt vom Recht zur Gesellschaft, von der idealistischen Philosophie zur Wissenschaft vom wirklichen Leben, vom Idealismus zum Realismus. Wenn Feuerbach von sich sagen konnte: „Logik lernte ich auf einer deutschen Universität; aber Optik, die Kunst zu sehen, lernte ich auf einem deutschen Dorfe" 1 ), so hätte Stein von sich behaupten können, daß er zum denkenden Menschen in Deutschland erzogen wurde, zum sehenden aber in Frankreich. Wiederum aber darf der Einfluß Frankreichs nicht überschätzt werden. Obwohl Stein erst durch französische Einflüsse zum Gesellschaftswissenschaftler wird, wird er nicht allein durch den Positivismus des Westens zu einem Realisten, der den spekulativen Idealismus überwindet. Er bringt aus Deutschland eine antimetaphysische Einstellung mit, die seit seiner Studentenzeit *) Zit. bei Glockner, Krisen und Wandlungen in der Geschichte des Hegelianismus.

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in ihm lebendig ist und ihm eine Annäherung an das französische gesellschaftswissenschaftliche Denken erleichtert. Zunächst darf man den psychologisch-anthropologischen Einfluß der kantischen Schule auf Stein nicht übersehen. Wenn er kurz vor seinem Tode bekennt, daß er „die Geschichte der deutschen Philosophie mit durchlebend, seinen Ausgang bei Kant genommen hat" 1 ), so wird er hier vor allem an seine Jenenser Zeit gedacht haben, wo Fries, alle spekultative Philosophie ablehnend, Kant im Geiste einer ernüchterten, realistischen, empiristischen Zeit interpretierte und dessen Philosophie vom Psychologisch-Anthropologischen her unterbaute.2) Eine zweite Wurzel seines Realismus ist seine, trotz aller Kritik eingehende Beschäftigung mit der Historischen Schule, die ihn von der spiritualistischen Metaphysik Hegels femgehalten hat. Seine erste Rezension über Christiansens Wissenschaft der römischen Rechtsgeschichte in den Hallischen Jahrbüchern (1839 erschienen) zeigt seine Ablehnung jeder einseitig rationalistischlogizistischen Spekulation, jeder abstrakten Deduktion, seine Neigung zu einem historischen Realismus und sein Eintreten für eine lebensnahe Empirie. Nicht unwichtig ist, daß er in diesem Aufsatze einige Male Niebuhr und Savigny lobend erwähnt und sich auf sie beruft. Es ist nicht zweifelhaft: die Historische Schule mit ihrer Richtung auf einen Realismus, auf eine Versachlichung des Denkens hat auch auf Stein eingewirkt und seine Annäherung an den positivistischen Westen erleichtert, wie ja überhaupt der Schritt von der Historischen Schule zu einer positivistischen Denkhaltung nicht sehr groß ist.3) So hat sich — um nur ein Beispiel zu nennen — der Volksgeistbegriff teils schon so weit einem soziologischen Realismus genähert, daß er nur seine metaphysische Umhüllung abzulegen brauchte, um zum Gesellschaftsbegriff zu werden. Noch entscheidender scheint mir der Einfluß des Junghegelianismus und dessen Anthropologismus auf Steins Realismus gewesen zu sein. Feuerbach, der seit 1837 bei den Jahrbüchern mitarbeitete und dort in vielen kritischen Aufsätzen die jung>) Vgl. Grünfeld, Lorenz v. Stein und die Gesellschaftslehre, S. 206. 2 ) Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse des Jahres 1838, abgedruckt im Intelligenzblatt d. Jenenser Allgem. Lit.-Ztg. (Jahrg. 1838); vgl. außerdem Rüge, Die Universität Jena und Kuno Fischer, Akad. Reden I I : Die beiden kantischen Schulen in Jena. 3 ) Vgl. Troeltsch, Historismus. — Die Verbindung zwischen Romantik und Positivismus betont Benedetto Croce, Zur Theorie und Geschichte der Historiographie.

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hegelianische Interpretation der Hegeischen Philosophie entwickelte, konnte auf Stein, der ein eifriger Leser und auch Mitarbeiter war, nicht ohne Einfluß bleiben. Feuerbach wandelt Philosophie in Anthropologie, die mit vorwiegend psychologischen Fragestellungen, wie Feuerbach selbst von seiner Wissenschaftsmethode aussagt 1 ), versucht den Menschen und sein Wesen zu erfassen. Aber die Tatsache, daß Stein hier nicht stehen bleibt, nicht nur auf dem Wesen, sondern auch auf die gesellschaftlichhistorische Bedingtheit des Menschen reflektiert, nicht vom Gattungsmenschen, sondern von dem konkreten, in die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit eingegliederten Menschen spricht, zeigt seine Überwindung dieses deutschen Realismus.2) Er wandelt unter französischem Einfluß die psychologisch-ontologische in eine soziologische Anthropologie. Etwas ganz Ähnliches gilt für Ruges Staatsphilosophie und ihren Einfluß auf Stein. Von ihr lernt er, einer einseitig idealistischen Staatsvergottung fernzubleiben, sie abzuschwächen. Aber erst durch den Einfluß der französischen Gesellschaftswissenschaft rückt der Steinsche Staatsbegriff in eine neue realistische Beleuchtung. Rüge sieht die Tatsache Gesellschaft und ihr Gewicht noch nicht. Er ist noch weit mehr Hegelianer als Stein. Aus alldem wird deutlich geworden sein, daß Stein, einer neuen, ernüchterten Generation angehörend, bereits in Deutschland zum Realisten wird. Frankreich macht ihn aber erst zum Soziologen. Hier wird er vor allem von der „kühnen und kräftigen Haltung" Fouriers angezogen, die ihn zu einem psychologisch-anthropologischen Denken drängt. Die deutsche Philosophie „weiß nicht, was die Arbeit selber ist, nur was sie hervorbringt.. . Hier ist ') „Schon war mein Standpunkt nicht der rein logische oder metaphysische, sondern der mehr psychologische" (zit. bei Koigen, Zur Vorgeschichte, S. 92). 2) Daß Stein sich dieses Unterschiedes bewußt war, zeigt eine Kritik an dem Buche eines Feuerbachianers (Fröbel, System der sozialen Politik, 1847). Er wirft der Feuerbachschen Schule und ihrem „Humanismus" („seine Unklarheit schon in seinem Namen andeutend") vor, daß sie es sich sehr leicht mache, „ein philosophisches System des .freien' menschlichen Lebens aufzustellen, in welchem das .Wesen' und der .Begriff aller wirklichen Verhältnisse, des Eigentums, des Rechts, des Verkehrs usw. in der Beleuchtung gegeben sind. Aber was schwerer zu begreifen ist, das ist, wie eigentlich Männer, die für andere und nicht für sich selbst schreiben, sich in praktischen Dingen mit einer abstrakten Theorie begnügen mögen, die dem Wirklichen, für welches dieselben eben gelten soll, so ungemein wenig entspricht" (Stein, Soz. in Deutschi. 1852, S. 551).

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mithin ein reiches, noch unbetretenes Gebiet; ja das wahrhaft praktische Leben des Wissens. Der Punkt nun, von welchem aus wir dasselbe vor uns erscheinen sehen, ist der Trieb, oder — wie die Franzosen es nennen — la passion, die Leidenschaft. Mit Kant wendet sich eigentlich das Erkennen von der Welt der Triebe hinweg und geht in Deutschland, alle anderen Fragen fallen lassend geraden Weges auf die Logik zu, diesem Gesetze des Gedankens". 1 ) — Auf St. Simon geht seine dynamische Auffassung des gesellschaftlichen Seins zurück. Die Geschichte wird auch für Stein eine Geschichte von Klassenkämpfen. Auch das Problem des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft wird jetzt viel realistischer gesehen. Obwohl schon bei Hegel eine klare Unterscheidung zwischen dem universalistischen Staatsbegriff und dem individualistischen Gesellschaftsbegriff vorhanden war, so hatte er doch noch keine Beziehung zwischen beiden aufgedeckt. Von St. Simon lernt Stein, daß der jeweilige Gesellschaftszustand sich seinen ihm entsprechenden Staat zu schaffen versucht, „daß die Geschichte des Staatsrechts genau zusammenhängt mit der Geschichte der Volkswirtschaft oder, wie wir jetzt sagen können, mit der des Besitzes" 2 ), daß überhaupt die Geschichte der Staatsverfassungen sekundär, das ökonomisch-gesellschaftliche Geschehen jedoch primär ist. Es ist weiterhin anzunehmen, daß Steins Gedanken über ein Christentum der Nächstenliebe und der gemeinsamen Arbeit auf St. Simon zurückgehen und wahrscheinlich auch Louis Blanc auf seine staatssozialistischen Ansätze nicht ohne Einfluß geblieben ist. Daß aber Stein am Anfang seines Frankreichjahrzehnts noch stark am deutschen Denken orientiert und erst allmählich im Laufe der zehn Jahre immer mehr unter positivistischen Einfluß geraten ist, zeigt die Vergleichung der drei Auflagen. Die erste Auflage ist noch weitgehend logizistisch, deterministisch, unethisch eingestellt. Die Geschichte ist noch die Entwicklung einer Idee, die Auswicklung eines Begriffs; sie hat noch den Charakter eines außermenschlichen Werdens, das den Menschen um der Geschichte willen da sein läßt, wenn auch psychologisch-realistische Züge vorhanden sind. Diese treten in der zweiten Auflage bedeutend stärker in den Vordergrund. Jetzt spielt die Begriffsbestimmung des Menschen, seiner Arbeit, seiner Bedürfnisse und Interessen, die Begriffsbestimmung der Gesellschaft, die Forderung einer neuen sittlichen Haltung, die Opfer und Entsagung *) Stein, Soz. u. Kom., i. Aufl., S. 220. 2 ) Stein, a. a. O., S. 170. B e i h e f t d . H . Z. 26.

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verlangt, eine viel größere Rolle, bis schließlich in der dritten Auflage die interessenpsychologischen Tendenzen einen Höhepunkt erreichen. Das Interesse, oft das rein ökonomische, wird das Prinzip des gesellschaftlichen und geschichtlichen Lebens. Die Geschichte ist im Wesen des Menschen begründet und um des Menschen willen da. Diese Steinschen Analysen der menschlichen Bedürfnisse und Triebe erinnern an Fouriers Trieblehre, dem er jetzt auch bejahender gegenübersteht als 1842, obwohl er schon damals von „dem tiefen und wahren Kern" dieser Lehre geschrieben hatte, der „erscheint, wenn man das Bedeutungslose zur Seite zu schieben weiß". 1 ) Und dieser Wille zur Distanz gegenüber dem französischen Denken, den dieser einschränkende Zusatz zeigt, ist ihm nie verloren gegangen, auch wenn er ihm noch so nahe zu stehen scheint. c) Stein als Vermittler zwischen dem deutschen Idealismus und dem Positivismus der zweiten Jahrhunderthälfte (1852—1868).

Wenn sich auch Stein nicht vollständig während dieses Frankreichjahrzehnts zwischen 1841 und 1851 an die französische Gesellschaftswissenschaft angleicht, wenn auch weiterhin Einflüsse des deutschen Idealismus, besonders staatsphilosophische hegelischer Abstammung wirksam sind, so ist doch für diese Jahre ein weitgehendes Abrücken vom deutschen Denken bezeichnend, das um so deutlicher spürbar wird, je schärfer man die folgenden Jahre ins Auge faßt. Denn um das Jahr 1852 setzt eine neue Wendung, besser Rückwendung seines gesellschaftswissenschaftlichen Denkens ein: er entfernt sich vom westlichen Positivismus und nähert sich einer romantisch-konservativen Denkhaltung. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese geistige Wendung mit einer Änderung seiner äußeren Lebensumstände im Zusammenhang steht. Um 1851 verliert er aus politischen Gründen seinen Lehrstuhl, lebt noch einige Zeit in größter Zurückgezogenheit auf dem Lande bei Kiel, verläßt tun das Jahr 1854 (vielleicht auch schon früher) Norddeutschland und setzt sich auf kurze Zeit in München fest, wo er der Nachfolger Kolbs, des Chefredakteurs der „Allgemeinen Zeitung", werden soll. Er gibt aber seinen wissenschaftlichen Beruf noch nicht auf. Nach einer fehlgegangenen Berufung nach Würzburg siedelt er nach Wien über und wird dort 1855 Professor der Nationalökonomie. In den für Stein so kritischen Jahren 1852 und 1853, in denen er aller Wahrscheinlichkeit nach schon innere, vielleicht auch äußere Beziehungen nach Süddeutschland J)

Stein, a.a.O., S. 291.

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knüpft ), erscheinen zwei für eine geistesgeschichtliche Analyse des Steinschen Denkens eminent wichtige Aufsätze in der Deutschen Vierteljahrsschrift : „Das Wesen des arbeitslosen Einkommens' und sein besonderes Verhältnis zu Amt und Adel" und „Das Gemeindewesen der neueren Zeit". Das Charakteristische dieser beiden Aufsätze ist, daß sie eine Werthaltung widerspiegeln, die eindeutig an die der Romantik und der Historischen Schule erinnert. Zunächst fallen uns die stimmungsmäßigen Anklänge an ein romantisches Denken auf. Es liegt eine Stimmung des Heimwehs über den Zeilen. Stein will zurück zu „naturgemäßen" Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens, zu sozialen Urformen. Er will krankgewordenes Leben gesund machen, „wiederherstellen, was da verloren ist". Die mittelalterliche Gesellschaftsordnung erscheint als ein verschwundenes Ideal, an dem man sich wieder orientieren soll. Ein zweites Charakteristikum der Aufsätze ist ihre ausgesprochen antistaatliche Haltung. Die Omnipotenz des Staates wird als eine Gefahr hingestellt, die die Fülle des Lebens verschlingt und verschlungen hat. Aber diese Ablehnung der „Despotie des Allgemeinen über das Einzelne" entspricht der Verschiebung des Interesses vom Staat auf Volk und Nation bei der Romantik und der Historischen Schule, bedeutet also nicht Hinwendung zum Individualismus, sondern immer noch Bejahung überindividueller Ganzheiten. Vom Inhaltlichen her gesehen, wirft der erste der genannten Aufsätze das Problem des Adels auf. Die „Bildung einer würdigen und hochgeachteten Aristokratie" wird als die „große Frage unserer Gegenwart" hingestellt, die die Gesellschaft zu beantworten hat. Denn in jeder gesunden Gesellschaft ist eine Adelsschicht notwendig, die außerhalb des wirtschaftlichen Lebens steht und ein arbeitsloses Einkommen erhält, das keine wirtschaftliche Tätigkeit zur Voraussetzung hat, „damit diese wirtschaftliche Tätigkeit nicht die höhere, rein geistige absorbiere". Denn es ist die Aufgabe des Adels, den geistigen Lebenskreis der Gesellschaft zu tragen, Kunst, Wissenschaft, Bildung und Gesittung zu fördern. Dieser Adel verliert sein wahres Wesen, wenn er sein arbeitsloses Einkommen genießt, ohne seiner höheren Aufgabe nachzukommen, x ) Bemerkenswert ist, daß er in einem Aufsatze über den Sozialismus in Deutschland (1852) die wissenschaftlich-soziale Richtung in Soddeutschland bejaht und begrüßt (u. a. betont er die gesunde Richtung der Allgemeinen Zeitung), die sozialen Tendenzen in Norddeutschland und die sozialistisch-agitatorische Richtung in Westdeutschland jedoch aufs schärfste ablehnt.

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vor allem aber, wenn der Staat das gesellschaftliche Leben erstickt, aus der gesellschaftlichen Aufgabe des Adels ein Amt macht und ihm damit die gesellschaftliche Würde und Achtung nimmt. Im zweiten Aufsatz schwärmt Stein von der mittelalterlichen, „naturgemäßen" Form des Zusammenlebens der Menschen: von der auf das Heimatgefühl, „auf Liebe und Stolz", „auf das Gemüt und seine Macht" aufgebauten Gemeinde, von der „Innerlichkeit jener Zeiten", die noch die lebendige Verwurzelung des einzelnen in der Gemeinde trotz aller Schichtung und Einordnung kannten. Im 15. und 16. Jahrhundert — so meint er — verschwand die wahre Gemeinde, einmal durch die entstehende Schichtung in Ausbeutende und Ausgebeutete, vor allem aber durch die Gewalt des alleinherrlichen Staates, der durch seine Bürokratie die „alte, starke, glänzende, lebensmutige Gemeinde" zerstörte. Und sie blieb bis heute zerstört, trotz aller Ansätze in der Gemeindegesetzgebung des Ministers vom Stein; sie wurde trotz dieses gutgemeinten Versuches nur zu einem rein administrativen und polizeilichen Körper, in dem der Beamte herrscht und nicht das Herz und die Liebe des Gemeindebürgers. Sie wurde ein „konstitutioneller Mechanismus" und nicht mehr. Eine neue Gemeinde zu schaffen, nicht durch Gemeindegesetzgebung, sondern durch Hingabe des einzelnen: das ist die Aufgabe der Gegenwart. Sie wird auch die soziale Frage lösen. Schon diese kurzen Inhaltsangaben genügen, um zu zeigen, daß ein ganz neuer Denkstil im geistigen Leben Steins einbricht. Und doch ist — auf die Weiterentwicklung seines Denkens gesehen — weniger die allzu romantische Stimmung entscheidend, denn die macht bald einer wieder etwas nüchterneren Einstellung Platz, ist weniger die antistaatliche Haltung entscheidend, denn die wird sehr bald wieder abgeschwächt, ist weniger seine Stellung zum Adel und zur Gemeinde entscheidend, denn auch diese bleibt nicht so bestehen — entscheidend ist vielmehr seine neue, umgestülpte Gesellschaftsauffassung, die beiden Aufsätzen zugrunde liegt und sowohl seine Gesellschaftslehre von 1856 als auch seine Verwaltungslehre bestimmt. Die Gesellschaft ist jetzt nicht mehr ein vorwiegend ökonomisches Gebildes, sondern ein vielschichtigeres, von teils irrationalen Gemeinschaftskräften getragenes, vorwiegend geistig-sittliches Phänomen. Daß Stein sich dieser neuen Schau durchaus bewußt war, zeigt eine Stelle in einem der Aufsätze, die, weil sie von entscheidender Bedeutung ist, sehr ausführlich wiedergegeben werden soll: „Die ganze Wissenschaft von der Gesellschaft hat bekanntlich ihren Ausgangspunkt genommen von der Betrachtung des wirt-

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schaftlichen Gegensatzes, in den namentlich durch Ausbeutung und Mitwerbung der vierte Stand oder die kapitallose Arbeit gegenüber dem Kapitalbesitzer gelangt ist. Es hat sich daran eine Konsequenz geschlossen, die, so natürlich sie auch sein mochte, dennoch für die tiefere Begründung dieser Wissenschaft sehr bedenklich werden mußte. Der Verfasser dieser Zeilen selbst hat, wie er sich nicht verhehlen darf, dazu einiges beigetragen, daß diese Konsequenz zur Geltung gekommen ist. Er nahm nämüch an, daß, da die g e g e n w ä r t i g e Gestalt wesentlich durch die wirtschaftlichen Verhältnisse bedingt sei, die gesellschaftliche Ordnung überhaupt nichts anderes sein könne, als gleichsam der Abdruck der wirtschaftlichen, durch die Familie dauernd erhaltenen und durch das Recht geschützten Ordnung der Menschen untereinander. Aus dieser Meinung folgte dann die weitere, daß auch die ganze Bewegung der Gesellschaft ausschließlich denjenigen Gesetzen unterworfen sei, welche über das wirtschaftliche Leben entscheiden, so daß im Grunde die ganze Gesellschaftswissenschaft sich auf einen bloßen Reflex der wirtschaftlichen Gesetze und Entwicklungen reduziert hätte." 1 ) Aber um gleichzeitig zu zeigen, daß er seinen bisherigen Realismus nicht ganz aufgeben will, setzt er auf der nächsten Seite folgenden vermittelnden Satz hinzu: „. . . in der Tat ist die Verbindung zwischen den Elementen und Gesetzen der Wirtschaft und denen der Gesellschaft eine so innige und beständige und die Abhängigkeit sozialer Gestaltungen und Fortschritte von den wirtschaftlichen eine so große, daß man sich immerhin hüten muß, in dem Streben nach dem höheren, geistigen Wesen der Gesellschaft nicht den praktischen Boden des materiallen Lebens unter den Füßen zu verlieren". Dieser Aufsatz vom Jahre 1852 ist aber nicht nur insofern wichtig, als er uns verrät, daß Stein sich vom westlichen Positivismus wegentwickelt und ganz bewußt seine Gesellschaftsauffassung wandelt, sondern auch insofern, als er drei Namen nennt, auf die er sich ausdrücklich beruft: Mohl, Eisenhart und Riehl.2) *) Stein, Arbeitsloses Einkommen, S. 145. — Eine ähnliche Abgrenzung gegenüber einer früheren Meinung bringt er in einem anderen Aufsatz aus dem Jahre 1852, wo er zu seinem früheren Gesetzesbegriff Stellung nimmt: „Man wird nicht fordern, daß wir auf diese Gesetze weiter eingehen, um so weniger, als der Verfasser des Werkes, der mit großer, vielleicht zu bestimmt ausgesprochener Entschiedenheit die Anerkennung jenes allgemeinen Prinzips der Gesetzmäßigkeit in der Entwicklungsgeschichte der Freiheit fordert, gewiß am wenigsten jeden einzelnen Punkt verteidigen wird" (Stein, Soz. in Deutschi. 1852, S. 562). 2

) Stein, Arbeitsloses Einkommen, S. 145 f.

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Robert v o n M o h l gehört zu denjenigen Süddeutschen, deren sozialwissenschaftliche Anschauung Stein weitgehend teilt. Mohl schätzt er besonders deswegen so hoch, weil er als einer der ersten neben ihm die Scheidung zwischen Staats- und Gesellschaftswissenschaft vornimmt. So nimmt es uns auch nicht wunder, wenn Steins neuer Gesellschaftsbegriff von Mohl beeinflußt wird. Mohl habe mit Recht darauf hingewiesen, „daß man die Gesellschaftswissenschaft nicht in der Wirtschaftslehre gänzlich aufgehen lassen möge, daß die Gesellschaft der Menschen einen tieferen Inhalt habe als das Güterleben, daß man ihr auf dem Wege, auf welchem man das letztere gefunden und geordnet, ihren wahren Inhalt nicht geben könne". 1 ) Auch für Hugo E i s e n h a r t ist die Gesellschaft mehr als ein wirtschaftliches Gebilde. Aus diesem Grunde lehnt er die Hegeische bürgerliche Gesellschaft ab. Sie ist ein System der Bedürfnisse, Interessen und Egoismen. Die wahre Gesellschaft aber ist eine religiös-sittliche Ordnung, ein wachsender, sich entfaltender Organismus. Hugo Eisenhart ist ein konservativer Romantiker und veröffentlichte 1 8 4 3 eine „Philosophie des Staats oder allgemeine Sozialtheorie", deren Aufgabe es sein sollte, eine „Sozial1

) Stein, a. a. O., S. 146. — Es ist nicht ausgeschlossen, daß zwischen Mohl und Stein sehr enge geistige Beziehungen bestanden haben. Bereits 1843 schreibt Mohl einen Artikel Ober Sozialismus und Kommunismus in der Allgemeinen Zeitung mit besonderer Berücksichtigung des 1842 erschienenen Steinschen Buches. Abgesehen davon, daß die wissenschaftstheoretische Unterscheidung zwischen Staats- und Gesellschaftswissenschaft wahrscheinlich von beiden selbständig gefunden wurde (vgl. Spann, Wirtschaft und Gesellschaft, 1907, S. 97 f.) oder, wie man auch annimmt, Mohl die Unterscheidung von Stein übernommen hat, ist eine Beeinflussung Steins durch Mohl auf anderen Gebieten nicht unwahrscheinlich. Es sei andeutungsweise auf die folgenden Tatsachen hingewiesen: Mohl erweitert die Polizeiwissenschaft zu einer ausgedehnten Theorie der inneren Verwaltung (vgl. „Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats"), seine sozialpolitischen Anschauungen, in wichtigen Aufsätzen 1838 und 1840 veröffentlicht, decken sich fast vollständig mit den Anschauungen Steins (Mohl fordert nicht nur Lohnerhöhung für den Besitzlosen, sondern auch Erleichterung der Möglichkeit des eigenen Erwerbs für den tüchtigen Arbeiter durch Schaffung von Bildungseinrichtungen und durch Subventionen!). Ferner verdankt Stein, wie er selbst zugibt, den Gedanken, daß Verfassung und Verwaltung zwei selbständige Gebiete des Staatslebens sind, dem Mohlschen Württembergschen Staatsrecht. — Über Robert v. Mohl vgl. Ernst Meier, Robert v. Mohl (in: Zeitschr. f. d. ges. Staatswissenschaft X X X I V , 1878, S. 431 ff.); Handwörterbuch- d. Staatswissenschaften, 4. Aufl., 6. Bd., S. 6141.; A . D . B . , Bd. 22, S. 745 ff.

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Wissenschaft von deutscher Art und Kunst" als Grundlegung aller Rechts- und Staatswissenschaft zu sein. 1 ) Als dritten nennt Stein Wilhelm Heinrich R i e h l , dessen konservative Gesellschaftsauffassung ihn aller Wahrscheinlichkeit nach stark beeindruckt hat. 2 ) 1 8 5 1 (es ist das Jahr, in dem Riehl auf Wunsch Cottas in die Redaktion der Allgemeinen Zeitung aufgenommen wurde!) erschienen einige sehr wichtige Aufsätze in der Deutschen Vierteljahrsschrift, u. a. auch ein Artikel über die Aristokratie und ihren sozialen Beruf, der seinem Inhalt und seiner Haltung nach sehr dem 1 8 5 2 erschienenen Steinschen Aufsatz ähnelt. Durch diese Aufsätze scheint Stein auf Riehl aufmerksam gemacht worden zu sein. Daß er sich aber ihm gegenüber sehr wohl abzugrenzen weiß, selbst merkt, daß dem berufsständisch gegliederten, statisch aufgefaßten Gesellschaftsorganismus Riehls seine dynamische Gesellschaft, die der Ort des Kampfes und der Auseinandersetzungen von Gruppen und Klassen ist, gegenübersteht 3 ), zeigt seinen Willen zu einer eigenen Formung des Gesellschaftsbegriffes. Die Gesellschaftslehre von 1 8 5 6 ist der Versuch, den aktualistischen und realistischen Gesellschaftsbegriff des Westens mit dem substantialistischen und idealistischen der deutschen SozialWissenschaftler zu vereinen. E s ist ihm nie richtig gelungen.4) *) Stein nennt nur den Namen Eisenhart, ohne andere Anhaltspunkte zu geben. Dem ganzen Zusammenhange nach aber muB es Hugo Eisenhart sein, den er meint. 2 ) Über W. H. Riehl vgl.: A. D. B. 53. Bd., S. 362 ff.; Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, S. 567 ff. — Wenn auch Stein nur Mohl, Eisenhart und Riehl nennt, auf die sich seine neue Gesellschaftsauffassung beruft, so sind aber sicher Friedrich List und Hildebrand, der Vater der historischen Nationalökonomie, die er beide oft an anderen Stellen lobend hervorhebt, nicht ohne Einfluß auf seine idealistisch-romantische Wendung gewesen. 3 ) „Bedeutend und in seinem Ziele selbständig zeigt sich das Buch von Riehl: .Die bürgerliche Gesellschaft' (Stuttgart 1851), der die schwere Arbeit unternommen, den Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft in ihrem innersten Geiste nicht zu deduzieren, auch nicht in seinen Gesetzen zu begreifen, sondern als Tatsache darzustellen. Nur daß er dabei die zweite Hauptsache, das Verhältnis der einzelnen Gesellschaftklassen zu- und gegeneinander nicht gehörig berücksichtigt hat" (Stein, Soz. in Deutschi. 1852, S. 562 f.). 4 ) E x k u r s über die B e z i e h u n g zwischen L o r e n z v. Stein und Marx: Das Verhältnis zwischen Marx und Stein ist trotz der vielen, oft scharf gegeneinander stehenden Meinungen vorläufig noch sehr ungeklärt, obwohl es zweifellos eines der reizvollsten Probleme der Geistesgeschichte

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3. Z U S A M M E N F A S S U N G . Steins Gesamtpersönlichkeit wird geprägt durch die für ihn entscheidenden sozialen Erlebnisse. Die soziale Frage ist der Mittelpunkt seines Denkens und Handelns. Alles andere ist nur Vorstufe und Ansatz oder Folgerung und Ausweitung dieses Problemkreises. E r macht den Alltag und seine Not zum Gegenstand seiner Wissenschaft, die als Wissenschaft vom Menschen, seinem des 19. Jahrhunderts ist. Ich möchte mit zwei Bemerkungen zur Lösung dieser Frage beitragen: Es ist zunächst bemerkenswert, daß Stein an keiner Stelle seiner Werke ein Interesse für Marx zeigt, obwohl er sich, besonders 1852 in einem Aufsatz über den Sozialismus in Deutschland, sehr ausführlich mit der gesamten sozialen Literatur seiner Zeit auseinandersetzt. (Nur in der 2. Auflage seines „Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs" (1848) erwähnt er im bibliographischen Anhang (S. 585) Marxens „Misère de la philosophie", ohne näher darauf einzugehen.) Es scheint sich also Stein kaum jemals ernstlich mit Marx auseinandergesetzt zu haben, wenn wir nicht annehmen wollen, daß er Marx bewußt nicht genannt hat. Anders ist das Verhältnis Marxens zu Stein. Ob Marx direkt durch Stein beeinflußt worden ist, ist fraglich. Fest aber steht, daß Marx in den 40er Jahren in einem gegen Karl Grün gerichteten Aufsatz in dem Lüningschen Westphälischen Dampfboot ein sehr günstiges Urteil über Stein fällt (vgl. Peter v. Struve, Zwei bisher unbekannte Aufsätze von Karl Marx aus den 40er Jahren, S. 49/50 in: Die Neue Zeit, 14. Jahrg., 2. Bd.), ein Urteil, das auch durch eine spätere scharfe Ablehnung Steins durch Marx nicht abgeschwächt wird (vgl. den Brief Marxens vom 8. Januar ]868 an Engels in: Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx, hrsg. von Bebel und Bernstein, 1921). Im Gegenteil: wenn wir die innere Entwicklung Steins berücksichtigen, werden uns die verschiedenen Urteile Marxens über Stein sehr verständlich. Marx mußte zu dem Stein der 40er Jahre ein anderes Verhältnis haben als zu dem der 50er und 60er Jahre. Zu dem Problem des Verhältnisses zwischen Stein und Marx vgl. den Streit zwischen Peter v. Struve und Franz Mehring in: Die Neue Zeit (Struve: XIV, 2, S. 4—11 u. S. 48—55; Mehring: XV, 1, S. 449—455; Struve: XV, 2, S. 228—235 und S. 269—275; Mehring: XV, 2, S. 379 bis 382). — Max Adler, Staatsauffassung des Marxismus. Wien 1922, S. 44 ff. — Béla Földes, Bemerkungen zu dem Problem Lorenz v. Stein — Karl Marx (nähere Angaben im Literaturverzeichnis). — Hans Freyer, Bewertung der Wirtschaft, S. 89. — E. Grünfeld, Lorenz v. Stein und die Gesellschaftslehre, S. 242. — S. Landshut, Kritik der Soziologie, S. 97. — Franz Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. 1, 1. Halbband, Jena 1922, S. 38 ff. — E. Rothacker, Einleitung, S. 16 Anm. — Plenge, Marx und Hegel, S. 65 ff. — G. Salomon, Vorwort, S. X X X I I . — H. Speier, Die Geschichtsphilosophie Lassalles, S. m Anm. — K.Vorländer, Karl Marx, Leipzig 1929, S. 1 1 0 und 120;

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gesellschaftlichen Leben und seiner Geschichte die Krönung aller wissenschaftlichen Tätigkeit sein soll, und macht die Wissenschaft dem Alltag und seiner Not dienstbar, um mit ihrer Hilfe das menschliche Zusammenleben neuzugestalten. Stein ist kein Politiker, aber ein politischer Mensch, wenn politischer Mensch sein heißt, sich als öffentlicher Mensch dem sozialen Ganzen verantwortlich fühlen. Er fühlt sich verantwortlich, auch wenn er politische Aktionen geringschätzt, denn für ihn wird die soziale Frage nicht durch Verfassungsänderungen, sondern durch die Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens gelöst, ja auch die Reichsidee hängt — wie er hervorhebt — mit der sozialen Idee eng zusammen; beide können nur gemeinsam verwirklicht werden. Zu ihrer Verwirklichung ruft er auf, aber nicht als der Revolutionär, der den Massen vorangeht, sondern als der Gelehrte, für den die deutsche Form der sozialen Bewegung die wissenschaftliche ist. Steins Größe liegt trotz seiner Leistung als erster deutscher Soziologe, die wir durchaus nicht verkennen wollen, nicht in dieser seiner Wissenschaft, sondern in seiner Gesinnung. Als erlebender Mensch steht er wie kaum ein anderer in seiner Zeit und sieht ihr Schicksal, als theoretisierender Denker aber ist er weitgehend Epigone, der zwar ein gewaltiges Stück vom Realismus seiner Generation mitgerissen wird und als solcher Dinge zu sagen weiß, die neu und groß sind, sich aber doch letztlich zum Idealismus seiner Väter hingezogen fühlt, ohne zu einem wirklichen Ausgleich, zu einer eigenen, starken und die Zeit beherrschenden wissenschaftlichen Haltung zu kommen. Er wächst aus dem deutschen Idealismus heraus, entfernt sich vorübergehend von ihm, indem er beim französischen Positivismus in die Lehre geht, nähert sich ihm aber wieder als der Bewahrer einer idealistischen Tradition. Er will vermitteln: damit treffen wir sicher am besten den Grundzug seines Wesens. Er will vermitteln zwischen philosophischer und historischer Schule auf rechtsphilosophischem Gebiet, zwischen deutschem und französischem Denken, zwischen Freihändlern und Schutzzöllnem, zwischen Konservativismus und Liberalismus, zwischen Kollektivismus und Individualismus, zwischen Idealismus und Realismus. Er steht zwischen den Zeiten, am Wendepunkt der geistigen Kurve des 19. Jahrhunderts. Ist er aber ein wirklicher Mittler ? Hat er die Spannungen durch eine Synthese überwölben können ? Schwerlich! Stein ist trotz seines scheinbaren Aktivismus eine rezeptive Natur, die in der Auseinandersetzung mit ihren

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Gegnern wächst und von ihnen lernt, ohne das Aufgenommene zur Synthese zu einen. Die Zeit drängt ihn, und er läßt sich von ihr drängen. „Die geistige Bewegung der Wissenschaft hat ihre Pendelschwingungen. Wunderbar allerdings, wie der einzelne das weiß, wie er die Rückkehr des zu hoch gehobenen Pendels vorhersagt und fühlt, wie er sogar die Zeit berechnet, in der dieser Umschlag eintreten wird, und dennoch als widerstandsloses Atom sich mit dem gewaltigen Zuge fortreißen läßt, ohne ihm einen ernstlichen Widerstand entgegenzusetzen. Fühlt er, daß er nutzlos antizipiert, was ohne ihn sich doch allgewaltig vorbereitet ? Fühlt er, daß das, was gegenwärtig ist und sich entwickeln will, berechtigt ist, selbst in seiner Einseitigkeit ? Oder fühlt er und weiß er beides? Vielleicht. Gewiß ist nur, daß der Strom des Denkens der Menschheit oft ein anderer ist als der des einzelnen, daß er aber den einzelnen unwiderstehlich fortreißt." Auch Stein hat sich von dem Strome des Denkens mit fortreißen lassen. Im Grunde seines Herzens aber fühlt er sich als Verwalter eines idealistischen und romantischen Erbes. Das spürte er nie deutlicher als zu der Zeit, in der sich der Realismus zu einem naturwissenschaftlichmaterialistischen Positivmus steigerte. In der Einleitung eines Aufsatzes 1 ), dem die schon zitierten Sätze entnommen sind, polemisiert er mit der Glut eines Idealisten, der an eine letztlich geistige Weltsubstanz glaubt, aber auch mit der bitteren Ironie eines Menschen, der sich einer vergangenen Zeit verbunden fühlt, gegen die Wissenschaft „mit Lupe und Reagenz". Er wartet auf die Rückkehr des zu hoch gehobenen Pendels. „Der Pendel hat in der Richtung der Tatsachen noch seine Höhe nicht erreicht; aber er wird sie erreichen, und mit um so größerer Gewalt dann wieder nach der idealen Seite hin schwingen. Ehe zwei Menschenleben vorüber sind, wird das geschehen. An uns ist es, womöglich jetzt schon die Vermittlung aufrechtzuerhalten." *) Stein, Zur Physiologie der Städtebildung, S. 57 ff.

LITERATURVERZEICHNIS.

1. W e r k e L o r e n z von S t e i n s , die der Arbeit zugrunde liegen. Ein annähernd vollständiges Verzeichnis der Steinschen Werke gibt Grünfeld (Lorenz v. Stein und die Gesellschaftslehre, Jena 1910, S. 19 ff.). Die in der folgenden Zusammenstellung mit einem * bezeichneten sind in das Grünfeldsche Verzeichnis noch nicht aufgenommen. •Briefe an Echtermeyer und Rüge aus den Jahren 1839—1842 (Preuß. Staatsbibliothek, Berlin). •Rezension über: Christiansen, Die Wissenschaft der römischen Rechtsgeschichte im Grundriß. (In: Hallische Jahrbücher, Jahrg. 1839, Nr. 201 ff.) [Zit. Christiansen-Rezension.] •Rezension über: Carl von Savigny, System des heutigen röm. Rechts. (In: Dtsch. Jahrb. 1841, Nr. 92ff.) [Zit. Savigny-Rezension.] •Rezension über: Anselm von Feuerbach, Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts. (In: Dtsch. Jahrb., Jahrg. 1842, Nr. 70ff.) [Zit. Feuerbach-Rezension.] Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte. Leipzig 1842. [Zit. Soz. u. Kom., 1. Aufl.] Die Munizipalverfassung Frankreichs. Leipzig 1843. Blicke auf den Sozialismus und Kommunismus in Deutschland und ihre Zukunft. (In: Deutsche Vierteljahrsschrift. Stuttgart 1844.) [Zit. Soz. u. Kom. i. Deutschi. 1844.] •Rezension über: Sybel, Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte. (In: Allg. Lit.-Zeitg. Halle 1845, S. 8o9ff.) [Zit. Sybel-Rezension.] Das corpus'iuris und die Historische Schule in ihrem Verhältnis zur deutschen Rechtsentwicklung. (In: Dtsch. Vierteljahrsschrift. Stuttgart 1845.) [Zit. corpus iuris I.] Das corpus iuris und die Idee des gemeinen deutschen Rechts. (In: Dtsch. Vierteljahrsschrift. Stuttgart 1845.) [Zit. corpus iuris II.] Geschichte des französischen Strafrechts und Prozesses (mit Warnkönig). Basel 1846. [Zit. Gesch. d. fz. Strafrechts.] Der Begriff der Arbeit und die Prinzipien des Arbeitslohnes in ihrem Verhältnis zum Sozialismus und Kommunismus. (In: Zeitschr. f. d. ges. Staatswiss. Tüb. 1846.) [Zit. Der Begriff der Arbeit.] Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs. 2. umgearbeitete und sehr vermehrte Aufl. Leipzig 1848. [Zit. Soz. u. Kom., 2. Aufl.]

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