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German Pages 434 [440] Year 1900
Die Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Vierter Sand.
Die Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts in
ihren Kauptströmungen dargestellt
Georg Grandes. Vierter Band.
Der Naturalismus in England.
Leipzig, Verlag von Veit & Comp. 1900.
Das Recht der Herausgabe von Übersetzungen Vorbehalten.
Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.
Inhalt. Einleitung.............................................................................................................. 3 Gemeinsame Züge des Zeitalters...................................................................... 5 Gemeinsame Züge des Bolkscharakters................................................................. 11 Der politische Hintergrund........................................................................................ 22 Ankündigung des Naturalisinus.............................................................................43 Die Tiefe und Wahrheit des Naturalismus............................................................50 Landleben und Schilderungen vom Lande............................................................ 65 Naturalistische Romantik.............................................................................................. 90 Der Freiheitsbegriff der Seeschule...........................................................................106 Die orientalische Romantik der Seeschule......................................................... 112 Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus........................................ 126 Allseitiger Sensualismus............................................................................................ 158 Irische Oppositionspoesie............................................................................................ 182 Erotische Lyrik............................................................................................................. 222 Britischer Freisinn....................................................................................................... 230 Republikanischer Humanismus'................................................................................ 236 Radikaler Naturalismus . . . '.....................................................................251 Byron. Die individuelle Leidenschaftlichkeit................................................... 300 Die individuelle Leidenschaftlichkeit.......................................................................... 319 Die Vertiefung des Ichs in sich selbst............................................................... 349 Der revolutionäre Geist............................................................................................ 359 Komischer und tragischer Realismus.................................................................... 381 Kulmination des Naturalismus ............. 408
Der Naturalismus in England.
Braides, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
1
I am as a spirit who has dwelt Witlün his heart of hearts; and I have feit. His feelings, and liavc thought his tboughts, and known The inmost converse of his soul, tlie tone Unheard but in the silence of his blood Wlien all the pulses in their multitudc Image the trembling calm of summet seas I have unlocked the golden melodies Of his deep soul as with a master-key And looseucd thoni, and bathed mysolf thercin. Shelley: Fragment L.
Es ist meine Absicht, in der englischen Poesie der ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts jene starte, tiefbegründete und folgenreiche Strömung in dem englischen Geistesleben zu ver folgen, die, von den klassischen Formen und Gepflogenheiten be einen
freit,
die
hervorruft,
vom
Empörung
gegen
beherrschenden Naturalismus
ganze Litteratur
Naturalismus die
zum
Radikalismus,
von
der
überkommene litterarische Konvenienz zu
mächtiger Revolte gegen religiöse und politische Reaktion führt
und die Keime all der freiheitlichen Ideen, all der befreienden Thaten
in
sich
trägt,
welche
die
europäische
Kultur
seither
gezeitigt hat. Die Periode der schönen Litteratur, welche ich schildern will, ist eine Zeit hoher Blüte mit höchst verschiedenartigen, bald ein»
1*
4
Einleitung.
ander fremden, bald einander feindlichen Geistern und Schulen,
deren wechselseitiger Zusammenhang sich nicht unmittelbar aufdrängt, sondern erst dem kritischen Blicke wahrnehmbar wird.
Dennoch hat diese Periode ihre Einheit, und das Bild, das sie darbietet, ist von der Geschichte selbst unauflösbar komponiert, so bunt und
bewegt es auch ist.
I.
Zuvörderst weist diese Gruppe der englischen Litteratur gewisse Charaktermerkmale auf, welche der ganzen europäischen Geistes
richtung des Zeitalters gemeinsam sind, weil sie von der näm
Napoleon bedrohte Europa mit
lichen Ursache erzeugt werden.
einer Weltherrschaft.
Teils
instinftiv,
teils
mit
vollem
Be
wußtsein kehrten alle die gefährdeten Volksgeister, um der Ver
gewaltigung zu entgehen, zu ihren eigenen Lebensquellen zurück.
Das Nationalitätsgefühl erwacht und wird in Deutschland während der Freiheitskriege immer lebendiger; in Rußland lodert es mit der
alten Hauptstadt des Landes auf; in England begeistert es sich für
einen Wellington
und Nelson
und behauptet in blutigen
Schlachten vom Nil bis Waterloo die alte englische Herrschaft über das Meer; in Dänemark erweckt der Donner der Kanonen in der Schlacht auf der Rhede einen neuen Volksgeist und eine neue Poesie.
Es ist das Nationalitätsgefühl, das allenthalben die Völker dazu führt, sich in die eigene Geschichte und Sitten, in ihre Sagen-
und Märchenkreise zu vertiefen. führt zu dem Studium und
sogenannten
„Volkes",
der
Die Liebe zu dem Volkstum
der Darstellung
unteren
des
Volksschichten,
eigentlichen
ein
Feld,
das von der Poesie des achtzehnten Jahrhunderts noch nicht be arbeitet worden war.
Ja, die Reattion gegen eine Weltsprache
bringt sogar die Dialekte zu Ehren. In Deutschland führte, wie wir früher gesehen habens die 1 Siehe die romantische Schule in Deutschland S. 358.
Nationalitätsschwärmerei zum Enthusiasmus für die Vergangenheit Deutschlands, das Mittelalter, seinen Glauben, seinen Aberglauben
und seine Gesellschaftsordnung. In Italien findet mit den Hymnen Manzoni's eine scheinbare Rückkehr zum Katholizismus statt. dogmatische und asketische Religion macht sich
und Moral
geltend;
künstlerischen Mottve.
Die
hier als Poesie
einem Glauben wird sie zu einem
aus
Manzoni's religiöse Begeisterung ist die
selbe Schwärmerei, welche den Papst nach Rom zurückführte und
Kaiser Alexander die Idee der heiligen Allianz eingab. reich,
das
Napoleon
großgezogen
hatte,
betrat,
Frank
vom Zeit
geiste gezwungen, eine ähnliche Bahn wie Deutschland; die littera rische Bewegung kehrte sich hier gegen die Akademie, gegen die so
genannte klassische, d. h. abstrakt weltbürgerliche Litteratur, und man griff, Ludwig XIV. Zeitalter überspringend, auf die Dichter
des sechzehnten Jahrhunderts, auf Du Bellay und Ronsard, ja auf jene armen grotesken Poeten, die Boileau verhöhnt und ver drängt hatte, zurück.
litterarhistorische tesques.“)
(V. Hugo's Polemik, Sainte-Beuve's erste
Schriften,
Theophile
Gautter's
„Les
gro-
In Dänemark folgten die Geister zu Anfang des
Jahrhunderts in der Hauptsache der deutschen Sttömung. kehrte sich wider die französische Kultur.
Man
Öhlenschlägers Gedicht
„Die Büste" in der „Reise nach Langeland" deutet den Charakter
der neuen Bewegung an.
Der Dichter hält anfangs die Büste,
die er in dem fremden Gemach findet, für diejenige Voltaire's, und
nun folgen die Verse: Wir zwei sind nicht von gleicher Schule. Die Stube muß der eine räumen.
Da entdeckt er, daß er vor der Büste Johannes Ewald's steht, und macht seiner begeisterten Dankbarkeit gegen den Dichter Luft. Eine sorgsame Analyse der „Hamadryade" Hauch's führt zu dem
nämlichen Resultate; eS war die französische Geistesrichtung, ins-
besondere, wie sich sie durch deutsche Brillen gesehen ausnahm, welcher die neue Schule zu Leibe wollte.
Steffens brachte überdies die
deutsche Kulturströmung mit nach Dänemark herüber. Allein in dem zweiten, nicht minder bedeutungsvollen Stadium der Bewegung kehrt diese, statt wie bisher gegen Frankreich allein, sich polemisch gegen das
Fremde überhaupt, zumal gegen Deutschland, welches in Dänemark so lange die Rolle des Unterdrückers gespielt hatte, und vermöge
einer eigentümlichen und doch natürlichen Konsequenz
trägt eben
jenes Zurückstreben zum Volkstümlichen, dem man sich nach dem Beispiele Deutschlands hingegeben, immer mehr zur Entfremdung
(Die Hinneigung zum Altnordischen durch
von Deutschland bei.
Grundtvig.)
Man findet in England dieselben Grundzüge wieder, welche die Bewegung in allen anderen Ländern kennzeichnen. Man schüttelte
die
französische Bildung,
im achtzehnten Jahrhundert die
die
höheren Gesellschaftsschichten
beherrscht
hatte,
Der
ab.
letzte
Dichter der klassischen Richtung, Pope, sollte dem jungen Geschlechte
bald nicht mehr als Meister gelten. Perücke
des
Man zerzauste die zierliche
kleinen Mannes und trat in die wohlgeordneten
Beete seines Gartens.
Und nun zeigte es sich so recht, welch
mächtigen Rückhalt der britische Volksgeist in den frischeren, von der Kultur nicht erschöpften Königreichen besaß, die abseits von Irland, das im
dem Mittelpunkte des politischen Lebens lagen.
achtzehnten Jahrhundert einen Denker wie Swift und einen Schrift
steller wie Goldsmith hervorgebracht hatte, verfügte über einen Schatz von herrlichen Melodien, die, sobald ein großer lyrischer
Dichter
Worte
ihnen
Europa schallten.
sie
lieh,
von
allen
singenden
Lippen
in
Die Walliser sammelten ihre alten Dichtungen Schottland,
dessen, untere
Volksschichten noch nicht in die gedrückte Lage
des englischen
und
gaben
Fabrikarbeiters Vergangenheit
heraus,
geraten und
und
waren,
in
und
wo
das
auf
seine
sein Heimatland so stolze Volk an seinen
Gemeinsame lügt de« Zeitalter«.
8
Volksliedern, seinem Aberglauben und seinem politischen Sonder
geist festhielt, tauchte am Schlüsse des achtzehnten Jahrhunderts Macpherson's Ossian als ein Protest gegen alle verstandeskalte, regelrechte Kunstdichtung - auf.
Der Einfluß desselben war ein
gleich mächtiger auf Alfieri und Foscolo in Italien, wie auf Herder und Goethe in Deutschland und Chateaubriand in Frank
Nun folgte
reich.
in England Percy's Sammlung der eng
lischen Volkslieder, in Schottland Walter Scott's Sammlung alter
schottischer Balladen. Zwischen diesen beiden aber liegt eine jener hin und her
litterarischen
flutenden
Hauptaugenmerk
tritt.
bildet,
Strömungen, und
welche
die
zu
verfolgen auffällig
hier
unser hervor
In Göttingen lebte zur Zeit des Erscheinens von Percy's
Sammlung
in
drückenden
Verhältnisien,
in
einer
trostlosen,
demoralisierenden Doppelehe mit zwei Schwestern, ein armer Ge richtsbeamter, in dessen Haus jenes Buch eines Tages hinein
geschneit kam. Es macht einen derartigen Eindruck auf Bürger, daß
sein Gemüt in hellen Aufruhr versetzt wird, und ihn die Lust packt, etwas zu schreibens das lange aus aller guten Kunstdichtung ver
bannt gewesen, das er jedoch Baggesen (f. dessen „Labyrinth") gegen
über als die eigentliche Poesie bezeichnete: eine Ballade. So geht
er denn an seine berühmte „Leonore", sie durch Wochen lang
sam ausarbeitend; er ist von der Bedeutung des Schrittes, den er unternimmt, so tief durchdrungen, daß die Briefe an seine Freunde von stolzestem Selbstbewußtsein überströmen.
Diese Ballade er
scheint und macht bald die Runde durch ganz Europa.
Im Jahre
1795 macht eine junge Dame in Edingburgh einen andere Ge
richtsbeamten damit bekannt, und dieser junge Jurist, Walter Scott mit Namen, in dem gleichfalls ein Dichter, und zwar ein weit größerer steckte, trat zum ersten Male in poetischer Form mit einer Übersetzung der Leonore, wie auch einer zweiten Ballade vom „Wilden
Jäger"
auf.
Da die Übersetzungen mit Beifall ausgenommen
Gemeinsame Züge des Zeitalters. wurden, begann er, sich für einen Dichter zu halten. Grundlage dieser Übersetzungen und der des
lichingen",
Auf der
„Götz von Ber-
die Scott 1799 herausgab, erhob sich die national
schottische Romantik seiner Poesien.
Diese Litteratur durchweht also ursprünglich ein Hauch der
gemeinsamen europäischen Reaktion gegen das achtzehnte Jahrhundert. Wir finden das lebendige Nationalgefühl, welches die Weltbürger stimmung ablöst, in England bei Wordsworth in Gestalt eines
poetisch beschreibenden Patriotismus, bei Southey als ganz- und halboffizielle Verherrlichung
des
Königshauses und der natio
nalen Großthaten, bei dem in Schottland gebürtigen Campbell in
stürmischen Freiheits-
und Kriegsliedern,
während Scott
und
Moore als förmliche dichterische Personifizierungen Schottlands und Irlands erscheinen.
Das allgemeine Zurückstreben zum Volkstümlichen wird zu
vörderst und vor allem durch Wordsworth, der vorzugsweise das
Leben der unteren und untersten Klassen schildert, repräsentiert, die Vorliebe für das Mittelalter in erster Linie durch Scott, der
das Interesse des Antiquars für die Denkmale der Vergangenheit mit dem Hange des Torypolitikers verbindet, das Ererbte in der anziehendsten Beleuchtung darzustellen.
Die eigentliche Romantik
des Aberglaubens findet ihren Dichter in Coleridge, dessen ab sichtliche Naivetät
und Schlichtheit zu der Tieckschen in naher
Verwandtschaft steht, wie es denn auch Coleridge ist, der als Ver treter der damaligen deutschen Philosophie einen abstrakt wissenschaft
lichen Protest gegen das Aufklärungszeitalter erhebt.
Seine Lehre
ist ganz unenglisch, rein apriorisch, im Gegensatze zu dem empi
rischen Charakter der englischen Wissenschaft; sie ist konservativ,
religiös und historisch, weil die frühere Philosophie radikal, un
gläubig
und
metaphysisch
war;
es ist ein Schellingianismus,
der ursprünglich so viel als möglich von
den Resultaten des
vorigen Jahrhunderts zu bewahren sucht, doch immer hartnäckiger
und bornierter von demjenigen Extrem, woran der vorige Zeit abschnitt gescheitert war, zu einem anderen, ihm entgegengesetzten, eilt.
Als Repräsentant
der
wirr phantastischen Richtung der
Romantik erscheint Southey mit feinen morgenländischen Epopöen,
und was endlich die zerrissenen, leidenschaftlichen Helden Chateaubriand's und der Romantik betrifft, so treten sie in wilderer und
männlicherer Gestalt bei Byron auf, während Shelley's Geister
glaube und seine Auflösung aller festen Formen in ätherische Musik an die Innigkeit und Unbestimmtheit von Novalis gemahnt.
II. Allein diese gemeinsamen, breitesten Grundzüge des Zeit alters werden sichtlich durch eine Reihe besonderer englischer Züge modifiziert, die, ohne anderwärts vorzukommen, sich bei den im
übrigen einander unähnlichsten Geistern, welche diese Periode der
englischen Litteratur aufzuweisen hat, wiederfinden. Diese Züge lassen sich sämtlich auf einen Grundzug zurück führen: den kräftigen Naturalismus.
Wie wir sahen, besteht
die erste Bewegung darin, daß die Schriftsteller national werden.
Allein national werden, hieß in England so viel wie Naturalist werden, wie es in Deutschland Romantiker, in Dänemark alt nordisch werden bedeutete.
samt die Natur.
Sie studieren, verehren, anbeten alle
Wordsworth, der seine Passionen als Ideen zur
Schau zu tragen liebt, fiaggt förmlich mit dem Worte Natur und
stellt in großartigen Bildern, doch mit kleinlicher Sorgfalt, Nord
englands Berge, Seen und Flüsse, Bauern und Leute aus dem Volke
dar.
Scott's Naturschilderungen sind auf Grund zahlreicher, an
Ort und Stelle gemachter Aufzeichnungen ausgeführt und so treu,
daß ein Botaniker die Pflanzenwelt der Gegend durch sie kennen lernen könnte.
Keats ist, bei all seiner Schwärmerei für die Antike
und die griechische Mythologie, ein mit den schärfsten Sinnen und der feinsten allseitigen Sinnlichkeit ausgestatteter Sensualist, der alles sieht, hört, fühlt, schmeckt und einatmet, was die Natur an
Abarten von Farbenpracht und Vogelsang und Seidenweichheit
und Traubensast und Blumenduft nur birgt.
Moore ist lauter
12
Gemeinsame Züge des Volkscharakiers.
vergeistigte Sinnlichkeit. Der verwöhnte und verwöhnende Dichter scheint von all den schönsten, erlesensten Eigentümlichkeiten der
Natur umringt zu leben. Er blendet unsern Geist mit Sonnenglanz,
lullt ihn mit Nachtigallenmelodien ein, ertränkt ihn mit Süßigkeit. Wir leben mit ihm in einer steten Phantasmagorie von Fittigen, Blüten, Regenbogen, von holdem Lächeln, Erröten, Erglühen, von
Thränen, Küssen und wieder Küssen. eigentliche
Naturalismus, das ist die
Grundtendenz von Werken
und Shelley's „The Cenci“.
wie Byron's Don Juan
Mit anderen Worten,
auf eng
lischem Boden ist der Naturalismus so stark, daß er Coleridge's
romantischen Hang zum Übernatürlichen nicht weniger durchdringt, als den Offenbarungsglauben eines Wordsworth, den atheistischen
Geisterglauben Shelley's, den revolutionären Freisinn Byron's und
das historische Interesse Scott's.
Bei allen Dichtern beherrscht
er ihren persönlichen Glauben und ihre poetische Richtung.
Dieser Üppigsaite, kräftige Wirklichkeitssinn beruht auf ver
schiedenen, tief wurzelnden englischen Eigenschaften. der Liebe zum Lande und zur See.
Erstens auf
Fast alle in diesem Zeitraume
auftretenden Dichter sind entweder Landbewohner oder Seeleute. Die englische Muse war von altersher eine Freundin von Herrensitzen
und Pachthöfen.
Wordsworth's echt englische Poesie entspricht
genau den weltbekannten Bildern und Stichen, die das englische Landleben mit einem Ausdruck von Gesundheit und ruhigem Gleich
gewicht schildern,
hie und da auch die Szene mit einem evan
gelischen Hauch umgeben, wenn das väterliche Walten des Dorf geistlichen oder der erbauliche Charakter der häuslichen Andacht dargestellt wird.
Burns, der Sänger hinter dem Pfluge, Schott
lands größter Dichtergenius, weihte die schottische Dichtung frühe dem Landleben, und es liegt Wahrheit in dem beißenden Worte
Emerson's,
daß
Scott in
allen seinen Epopöen nur
reimtes Reisehandbuch über Schottland schrieb.
ein ge
Daß schon die
Zeitgenossen diesen Eindruck empfingen, läßt sich aus Moore's saty-
Gemeinsame Züge des Volkscharakter«.
13
rischem Scherze, wie Scott in seinen Gedichten den einen Herren sitz nach dem andern „abthue", ersehen?
Und welche Rolle spielen
nicht diese Herrensitze in der Existenz zweier einander so polar ent
gegengesetzter Dichternaturen, wie die Byron's und Scott's.
Der
Name Newstead wird untrennbar mit dem Byron's, wie der von
Abbotsford mit jenem Walter Scott's verbunden sein.
Die alte Abtei
mit
ihrer
mittelalterlichen,
phantastischen
Architektur ist Byron die notwendige Folie für seinen Pairstitel
und das Unterpfand seines Heimatsrechtes in England.
Er ver
äußert sie erst, nachdem er seinem Vaterlande für immer Lebe wohl gesagt.
Das Gut Walter Scott's ist zwar nicht so alt und
ehrwürdig; doch er kauft sich Abbotsford, als der Wunsch nach Landbesitz, der sich stets mächtig in ihm geregt hatte, unwider
stehlich wird, und in dem glücklichen Abschnitte seines Lebens, den
er hier verbringt, richtet er sich derart ein, als wäre ihm von der Wiege an nichts anderes vorgesungen worden, als die könig
liche Gastlichkeit eines alten schottischen Landedelmannes zu üben, und dessen kühnes Leben in der freien Natur zu führen.
Seine größte
Lust ist das halsbrecherische Vergnügen, durch reißende Ströme zu
waten, selbst wenn er fünfzig Schritte weiter über eine Brücke hätte gehen können, oder ein so WildesPferd zu reiten, daß niemand es zu
tummeln vermag als er, oder bei Fackelschein mit dem Speer Jagd
1 Should you feel any touch of poetical glow We ’we a Scheine to suggest — Mr. Scott, yon must know Having quitted the Borders, to seek new renown Is coming, by long Quarto stages to Town; And beginning with Rokeby (the job’s eure to pay) Means to do all the Gentlemen's Seats on the way. Now the Scheine is (though none of our hackneys can beat him) To start a fresh Poet through Highgate to meet him; Who, by means of quick proofs — no revises — long coaches May do a few Villas, before Scott approaches.
Moore: Intercepted letters, Brief 7.
auf Lachse zu machen, bald vom Regen durchnäßt, bald erstarrt vom Nachtfrost.
Wer, der Byron's Leben kennt, erinnerte sich
nicht an seine Borliebe für wilde Ritte und waghalsige Schwimm versuche! Nichtsdestoweniger
herrscht
in
dem Verhältnis der beiden
Dichter zu ihrem Grundbesitz ein Gegensatz, der die Verschiedenheit ihrer Natur kennzeichnet.
Byron's Liebe zu Newstead hatte ihren
Grund in seinen aristokrattschen Neigungen, die Scott's für Abbots
ford in seinen historischen Jnstintten. Wie Walter Scott's Herrensitz beit Ettrickwald zum Hintergründe hatte, so bei Byron Newstead den
durch Robin Hood und seine lustigen Gesellen berühmten Sherwood wald. Gleichwohl haben diese Erinnerungen keinen irgendwie merk
lichen Einfluß auf Byron's Poesie geübt, so vorttefflich er auch jene Abtei im 13. Gesang des „Don Juan" schildert.
Die Erinne
rungen an den Ettrickwald hingegen durchziehen gleich einem Kehr reim die ganze Dichtung Scott's, ja er ist es, und nicht Byron,
der (in Jvanhoes Leben und Poesie des Sherwoodwaldes von den
Toten auferstehen läßt.
Eine weitere englische Vorbedingung des Naturalismus ist die Liebe der Dichter zu den höheren Tieren, wie ihr stetes Verhält
nis zur Tierwelt.
Sie besaßen jene Zuneigung zu den Haus
tieren, die eine Folge des englischen Sinns für die Heimstätte ist.
mit.
Sie schleppen die Heimstatt und die Tiere auf ihren Reisen
Beinahe alle diese Schriftsteller sind Sportsmen, vor allem
leidenschaftliche Reiter.
Man muß diesen Zug beachten, um nicht,
wie nur allzu oft geschieht, eine persönliche Bizarrerie in Zügen zu erblicken, welche rein volkspsychologische Bestimmungen sind.
Nicht umsonst stammt diese Raffe von zwei mythischen Helden mit den Pferdenamen Hengist und Horsa ab.
Wir finden auch Byron's
Liebe zu Pferden, Hunden und allerlei wilden Tieren, die so oft
als eine bezeichnende Eigentümlichkeit des menschenscheuen Verbann
ten hervorgehoben wird, in eben dem Maße bei dem in blühendem
häuslichem Glücke lebenden Walter Scott ausgeprägt.
Mathew's
bekannter Brief über das Leben auf Newstead zeigt uns Byron
als Jüngling von einer Menagerie umgeben, darunter ein Bär und
ein
Wolf,
Medwin's
Mitteilungen
über
sein Leben
in
Italien schildern uns seinen Aufbruch von Ravenna im Jahre 1821
„mit 7 Dienern, 5 Wagen, 9 Pferden, einem Affen, einer Bull dogge, einer Dogge, 2 Katzen, 3 Perlhühnern und andern Vögeln."
So etwas kann als eine rein persönliche Eigenheit erscheinen.
Doch
man lese vergleichshalber nur die in Walter Scott's Biographie
vorkommende
Beschreibung
seines
Umzugs
nach
Abbotsford.
Der ganze Unterschied besteht darin, daß die Trödelbude des Sammlers sich hier drollig mit der Menagerie vermischt:
„Der
Zug glich einer Karawane, die Wagen waren mit alten Schwer
tern, Bogen, Schilden und Lanzen angefüllt, die Hühner hatte man in alten Helmen einquartiert, und selbst die Kühe mußten in dieser Prozession alte Fahnen, Standarten und Musketen tragen.
Neben
dem Zuge
lief ein Dutzend Bauernkinder einher,
mit
Fischergeräten, Netzen, Lachsspießen beladen und alle möglichen
Spielarten von Hunden an der Leine führend." — Man findet
ein Zeichen der Melancholie des schwermütigen Byron in seiner Liebe zu dem Hunde Boatswain, und der feierlichen Inschrift, die er auf das Grab seines Lieblingshundes setzen ließ.
Um
diesen Zug zu verstehen, muß man bedenken, daß der lebens lustige Scott, als sein Lieblingshund Camp starb, ihn feierlich in
seinem Garten beisetzen ließ, wobei die ganze Familie das Grab umstand und weinte.
Doch noch charakteristischer als die Liebe zum Grundbesitz, zu Pferdm und Hunden, als die Denkmale, die sie in der englischen Poesie sich setzt, ist die Leidenschaft des Engländers für das Meer.
Der Engländer ist ein Amphibium.
Eine bedeutende Gruppe der
Natnrschilderung dieser ganzen Periode bildet die Marinemalerei. Es war eine alte, zu jener Zeit sich neuerdings glorreich bewährende
Überlieferung, daß England die Königin des Meeres sei; die eng
lische Dichtung war und blieb der vorzüglichste Schilderer und
Dolmetsch der See.
Ein Hauch der Frische und Freiheit des
Meeres durchweht die beste Poesie dieses Landes.
Das Meer selbst
erschien seinen Dichtern als das große Freiheitssymbol, gleichwie
zu allen Zeiten den freien Bewohnern der Schweiz die Alpen als solches gegolten.
Mit Recht tust Wordsworth (Sonnets dedicated
to Liberty I, 12) aus:
Two voices are there; one is of the Sea, One of the Mountains; each a migthy Voice: In both from age to age Thou didst rejoice, They were thy chosen Music, Liberty! Deshalb taucht auch in diesem Zeitabschnitt bei den vor
züglichsten Dichtern des Landes, in denen die englische Poesie dieses Jahrhunderts kulminiert zu haben scheint, der längst be
grabene Geist der Wikingerzeit aufs neue auf.
Coleridge's Ge
dicht „Der alte Seemann" erschöpft den Schrecken und allen Graus
des Meeres, Campbell's Ode „The mariners of England“ ist eine hinreißend melodiöse und mannhafte Verherrlichung des Helden mutes und des Herrschergefühls englischer Seeleute, Byron's Wi kingerfahrten spiegeln sich direkt in Childe Harold und Don Juan ab,
Shelley's
lebt und
atmet
seiner Gesänge,
Leidenschaft
für
die
See
in dem Wellenschläge
und
seiner
das
Seefahren
Rhythmen,
wie
die Wind und Wellen verherrlichen, vor allem
in seinem Meisterwerke, in der „Ode an den Westwind." Auf das soziale Gebiet übertragen, wird der Naturalismus, wie
schon bei Rousseau, revolutionär, und
hinter jener Liebe zum
ländlichen Grundbesitz und dieser Lust, sich den Launen des Meeres
auszusetzen und es zu beherrschen, den tiefliegenden Ursachen des Naturalismus,
liegt beim Engländer das noch tiefere nationale
Selbständigkeitsgefühl, das unter den bestimmten historischen Ver hältnissen dieses Zeitabschnittes die besten Geister so naturgemäß zum
Gemeinsame Züge des Volkscharakter«. Radikalismus führen mußte.
17
Keine Nation ist in solchem Grade
diesem Selbstgefühl durchdrungen.
wie die englische von
Man
beobachtet dies am besten, wenn der Engländer im Auslande
unter Fremden auftritt:
Der Titel Engländer klingt „wie eine
Diese Selbständigkeit geht auf die englische Litte
Fanfare". ratur über,
deren Kunst sie im entscheidenden Augenblicke zur
Charakterkunst macht;
sie ist es auch, die
in dem Zeitraume,
den wir
vor Augen haben, den Ausschlag giebt und den Um
schwung
in
der
litterarischen
Bewegung
Europas herbeiführt.
Es bedurfte eines Engländers wie Byron, um den Strom zu
stauen, der aus der heiligen Allianz sich ergoß — eines Eng
länders, weil erstens nur ein englischer Dichter das Temperament hierzu besaß, und zweitens weil zur damaligen Zeit nur Englands
Dichter jenen ausgeprägten politischen Hang, jenen scharfen poli tischen Sinn
besaßen, der diese erste, ja vielleicht einzige par
lamentarische Nation stets auszeichnete.
Es bedurfte ferner eines
Engländers, um mit solch wilder Energie dem eigenen Volke den
Handschuh hinzuwerfen. Nur in dem nationalstolzesten Volke konnte es große Geister geben, die stolz genug waren, der Nation zu trotzen.
Diese persönliche Selbständigkeit der hervorragenden Dichter geister des Volkes wird von einer echt englischen Eigentümlichkeit
bedingt.
Die Dichter haben so gut wie keine Theorie, selten
eine ästhetische, niemals eine philosophische.
Während z. B. die
Deutschen Lessing, Goethe und Schiller sich samt und sonders die bedeutendsten Verdienste um die Wissenschaft erwerben, ist unter den
englischen Dichtern kein einziger Mann der Wissenschaft zu finden. Ja, was das merkwürdigste ist, diese Schriftsteller beraten sich nicht
einmal mit einander.
Goethe und Schiller korrespondieren in das
Unendliche über die Natur der verschiedenen Stoffe und ihre richtige
Behandlung, ja erörtern oft recht weitschweifig die Notwendig keit einer Strophe mehr oder weniger. Brande», Litteratur de» 19. Jahrh. IV.
Heiberg und seine Schule 2
folgen in Dänemark bestimmten ästhetischen Prinzipien, über welche
sie sich geeinigt haben, und sind beinahe ebenso kritisch als pro
duktiv.
Scott, Byron und Moore hingegen, die doch eine herzliche
Freundschaft verbindet, führen ihre poetischen Werke vollständig isoliert aus, ohne sich einen Wink, einen Rat zu geben, oder auch nur zu wünschen, sich in ein Gespräch mit dem Bruderdichter über die begonnene Arbeit einzulasien. Selbst wenn ausnahmsweise eine Ein
wirkung stattfindet, wie von Wordsworth und besonders von Shelley
auf Byron, vollzieht sie sich sozusagen heimlich, völlig unbewußt und derart, daß sie von dem Betreffenden nicht erwähnt oder doch nicht
eingestanden
wird.
Ein
amerikanischer Schriftsteller
Eigenschaft der Rasse treffend
hat diese
mit den Wortm charakterisiert:
„Jeder dieser Inselbewohner ist selbst eine Insel."
Wir berührten den politischen Sinn, das politische Jntereffe.
Wie es unter diesen Dichtern nicht einen Mann der Wissen schaft
giebt»
so giebt
es kaum einen unter ihnen,
der nicht
Politiker wäre. Der Hang zur Politik ist eine Folge des nationalen Wirklichkeitssinnes.
Abweichende
Überzeugungen
mögen
diese
Dichter politisch scheiden, aber Partei ergreifen sie alle, Scott als
Tory, Wordsworth als Royalist, Southey und Coleridge erst für,
dann gegen die Freiheitsprinzipien der neuen Zeit, Moore für die Irländer, Landor, Campbell, Byron und Shelley als Radikale für die Unterdrückten bei allen Völkern, wie für die unterdrückten
Nationen selbst.
Muß man einen einzelnen Dichter wie Keats,
der die Kunst fast nur um der Kunst willen pflegte, ausnehmen, so darf man auch nicht vergessen, daß er im Alter von 25 Jahren starb.
Auf diesem Jntereffe für die Wirklichkeit beruht es, daß die
rein
litterarischen
Fragen (Klassizismus oder Romantik z. B.)
in ihrem geringen Bezug auf das Leben hier nie die überttiebene
Bedeutung gewinnen konnten, welche man dazumal sowohl in der
deutschen, der dänischen, wie selbst der französischen Litteratur rein
litterarischen Streitigkeiten
beilegte.
Nur
ist
es
ergötzlich zu
sehen, wie bei diesen Dichtern sich der Drang des Engländers zu
thatkräftigem Eingreifen mit dem phantastischen Hang des Poeten paart.
Scott trieb seinen Widerwillen gegen die Revolution bis zur
reinen Don Quichotterie.
So kam er mit einem seiner Freunde,
einem Herzog, überein, falls die Franzosen in England ihre Truppen
landen sollten, in die Wälder hinauszuziehen und dort wie Robin
und seine Mannen zu leben.
Hood
Zur selben Zeit ungefähr
thaten ihrerseits Southey und Coleridge in der ersten jakobinischen Hitze der Jugend ihren Bekannten den Entschluß kund, nach einer
einsamen Gegend in Amerika auszuwandern. Die Ufer des Susque-
hanna wurden ausersehen, weil der Name dieses Flusses den jungen Leuten besonders hübsch und melodisch (pretty and melodical) er
schien.
Dort wollten sie eine Gemeinde Pantisokracy bilden,
wo alles Eigentum gemeinsam und alle Menschen im Natur
zustände gleich sein sollten.
Landor, der übrigens keineswegs da
vor zurückbebte, als Soldat in Spanien sein Leben ernstlich für seine Ideen einzusetzen,
wollte als Jüngling daheim in War-
wickshire die Zeit der arkadischen Idyllen erneuen; er entspricht als Dichter ziemlich genau dem Sozialisten Owen.
Shelley be
saß in der Politik eine so feine Empfänglichkeit, daß man beständig
des von ihm in „Julian und Maddolo" gethanen Ausspruchs ge denken muß: Me, who am as a nerve,o’er which do creep The eise unfeit oppressions of the earth.
So manche politische Umwälzung ahnte er vorher.
Doch der
nämliche Shelley, der 50 Jahre vor Durchführung der Parlaments
reform in einer politischen Flugschrift genau den Plan derselben entwarf, und in dem Drama „Hellas" den glücklichen Ausgang
des griechischen Aufstandes zu einer Zeit weissagte, wo er den Staatsmännern aussichtslos erschien, wird ein reiner Phantast, so
bald er auf das Kapitel von dem bevorstehenden goldenen Zeit2*
Gemeinsame Ijjge des Volkscharakter».
20
alter des Menschengeschlechts zn sprechen kommt.
Man lese die
Schilderung, die er als Jüngling in Queen Mab davon giebt: Das Eis des Nordpols schmilzt, die Wüste hat sich zu Ackerland
verwandelt, der Basilisk leckt des Kindes Fuß, die Winde werden
melodisch, die Früchte sind immer reif, die Blumen immer schön, der Löwe spielt mit dem Zicklein, der Mensch tötet weder noch
ißt er ein Tier,
die Vögel fliehen nicht
mehr den
Menschen.
Kein Schrecknis giebt es mehr. — Muß man da nicht an einige der
ausschweifendsten
Utopien
des
zeitgenössischen
französischen
Sozialismus denken: die Einführung der Phalansteres nach dem von Fourier entworfenen Plane würde derart auf die Ökonomie der ganzen Erde einwirken, daß schließlich sogar die Naturverhältnisse sich radikal verwandelten — ein Nordlicht-Kronleuchter, am Nordpole
befestigt, würde Sibirien Andalusiens Wärme schenken, der Mensch dem Meere das Salz entziehen, um ihm dafür einen Limonade
geschmack zu verleihen, die Meeresungeheuer würden sich als Sxepferde vor unsere Schiffe spannen lassen. die
Dampfmaschine
kurz
darauf
diesen
Glücklicherweise machte
Vorspann
überflüssig.
Selbst Byron, der ohne Frage praktischste von diesen Dichtern, ist doch auch Dichter in seiner Politik.
Es unterliegt kaum einem
Zweifel, daß die Königskrone Griechenlands ihm als das Ziel seiner Anstrengungen vorgeschwebt hat.
Fern sei es uns, einen Schleier darüber breiten zu wollen,
daß auch den englischen Dichtern es nicht an Phantasterei in praktischer Beziehung gebricht.
Nichtsdestoweniger geht doch durch
ihre Moral, ihre Lebensbetrachtung, ein wirklichkeitsliebender Zug,
der sich bei keinem anderen Volke so ausgeprägt vorfindet.
Es
sind mehr Gran gesunden Menschenverstandes in ihrer Poesie auf
gelöst, als in der anderer Dichter. Gerechtigkeitsdrang aus.
Sie alle zeichnet ein lebendiger
Wordsworth erbt ihn von Milton,
Campbell, Byron und Shelley fühlen ihn so ursprünglich, als könnten
sie ihn
wider
eine Welt
geltend machen.
Er spielt
Gemeinsame Züge des Volkscharakters. weder bei Byron's großem deutschen Vorgänger Goethe, noch bei seinem reichbegabten französischen Nachfolger Müsset eine Rolle. Keiner von beiden hat jemals wie dieser Fürsten und Regierungen
vor den Richterstuhl der Gerechtigkeit geladen.
Ganz spezifisch
englisch aber ist es, daß diese Gerechtigkeit, von welcher die Eng
länder träumen, nicht wie jene, die z. B. Schiller anbetet, eine im voraus geliebte Idee, sondern das Kind des Nutzens ist.
Man
wähle, um sich dessen klar bewußt zu werden, einen so ätherischen, so idealistischen Dichter wie Shelley, und man wird sich überzeugen,
daß seine Moral eine ebenso ausgeprägte Nützlichkeitsphilosophie ist, wie die Bentham's und Stuart Mill's.
Es kommt in Bezug
auf diesen Punkt ein merkwürdiger Abschnitt in einem seiner Essays
vor.
Er sagt im zweiten Kapitel der „Speculations on Morals“:
„Wenn Jemand auf der Frage besteht, weshalb er das Glück
der Menschheit fördern soll, so verlangt er einen mathematischen oder übersinnlichen Grund für eine moralische Handlung.
Der
Aberwitz dieser Zweifelsucht ist minder offenbar, doch nicht minder
wirklich als der, einen moralischen Grund für eine mathematische oder übersinnliche Thatsache zu fordern."
In der Theorie, das
höchste Glück für die größtmögliche Anzahl, sowie in dem tiefen, praktischen Gerechtigkeitsdrang, der ihr seelischer Ursprung ist, liegt
in Wahrheit der Ausgangspunkt für den Radikalismus der eng lischen Poesie während der großen europäischen Reaktion.
III. Die Engländer sind gleichzeitig das ausdauerndste und das
unternehmendste Volk, die Nation, die am meisten an der Heimat hängt und am reiselustigsten ist, sich am schwersten zu Veränderungen entschließt und politisch freisinniger ist,
als alle anderen.
Die
Geister in diesem Lande spalten sich also naturgemäß in zwei große politische Gruppen, von welchen die eine das konservative Fest halten, die andere der wagemutige Freisinn kennzeichnet.
Die
Parteiteilung hat hier keine Ähnlichkeit mit der Frankreichs.
Ist
es auch eine Übertreibung, mit Taine zu sagen, daß Frankreich nur zwei Parteien habe, die der Zwanzig- und die der Vierzig jährigen, so ist doch diese Einteilung
wesentlich
den historischen Parteinamen näher bestimmte.
nur die von
In England ist
die Spaltung in dem Volkscharakter selbst begründet, und wir
finden in dieser bewegten Epoche der Poesie des Landes Wordsworth als Vertreter der einen Gruppe von Eigenschaften, Byron
als Typus der anderen.
Noch tiefer jedoch wurde in den ersten Tagen des Jahrhunderts die Spaltung durch die doppelseitige Natur der Hauptbegebm-
heit jener Zeit begründet.
gegen Frankreich.
Diese Hauptbegebenheit war der Krieg
Schon von dem deutschen Freiheitskriege ge
brauchte ich den Ausdruck, daß er zwar ein Aufftand gegen eine
furchtbare Tyrannei war, doch gegen eine solche, welche Ideen der Revolution vertrat, daß er zwar ein Kampf für Haus und Herd
war, doch- auf Geheiß der alten reaktionären Königshäuser. Konnte dies aber mit Recht von dem Kampfe Deutschlands gesagt werden,
Bet politische Hintergrund.
23
um wie viel mehr gilt es nicht von England, dessen Unabhängig keit keine Anfechtung erduldete, dessen Interessen aber in hohem
Grade
bedroht
waren,
und
das
während
der
ganzen lang
wierigen Kriegszeit und noch lange nachher nicht wie Deutschland
freiheitsliebende Männer an der Spitze der Bewegung stehen,
sondern die höchste Macht in die Hände der starrsten, eingefleisch testen reaktionären Toryregierung gelegt sah, welche die Geschichte
Englands je gekannt.
Daher kommt es, daß der Hintergrund dieser ganzen Periode der schönen Litteratur ein so düsterer ist. bilden, sind schwer und schwarz,
sie genannt haben.
Die Wolken, die ihn
sunbeamproof würde Shelley
England nimmt sich als Hintergrund des
Bildes, das ich entrollen will, wie eine Landschaft bei Nachtbeleuch tung aus.
Die großen Eigenschaften des Volkes waren irre
geleitet, seine seltene Standhaftigkeit wurde zur Bekämpfung des
Freiheitsdranges bei einem anderen Volke verwandt, seine edle Frei
heitsliebe ward zuerst zur Niederwerfung der Napoleonischen Despotie gebraucht,
um sodann dazu mißbraucht zu werden,
die alten
morschen Throne wieder aufzurichten, die man, von dem Pulverrauch von Waterloo gedeckt, mit einer Hast zurechtzimmerte, wie sonst
nur Galgen.
Die neutralen Eigenschaften des Volkes wurden zu
schlechten herangezüchtet; die Selbstliebe und Festigkeit wurden zu Adelshartherzigkeit und Kaufmannsegoismus, wie sie bei Reaktionen wuchern, großgezogen, das Unterthanengefühl gegenüber dem Königs hause bis zum Knechtssinn erhitzt, und das Selbstgefühl des Volkes
zum Nationalhaß, wie ihn lange Kriege ausbrüten, aufgestachelt.
Die schlechten Eigenschaften des Volkes brachte man zu üppiger Entfaltung.
Die Liebe zum äußeren Anstand um jeden Preis,
diese Schattenseite der moralischen Triebe, wurde zur Heuchelei auf dem sittlichen Gebiete ausgebildet, und das Festhalten an der ein mal aufgestellten Religion, das der unliebsamste Begleiter einer praktischen, den Dingen nicht auf den Grund gehenden Geistes-
Der politische Hintergrund.
richtung ist, wurde teils zur religiösen Heuchelei, teils zur Ber-
folgungssucht der Intoleranz entflammt.
Keine Zeit war der
Entwicklung der Heuchelei und des Fanatismus günstiger als diese, in welcher das Volk von seinen Führern direkt aufgemuntert wurde,
dem freigeistigen Frankreich gegenüber auf seine Religiosität zu pochen. Am
allermeisten
leiden
die
großen
Dichter des
Landes
darunter. Es ist heutzutage abgebraucht, von dem cant zu sprechen,
der Byron aus seiner Heimat vertrieb, und mancher verfeinerte Geist ist geneigt, für ehrliche, wenn auch bornierte Überzeugung zu
erklären, was man früher kurzweg als Heuchelei bezeichnete.
Allein
man kann sich dieser Auffassung unmöglich anschließen.
Eine
Religiosität, die sich auf eine Weise, wie es in England Byron und Shelley gegenüber geschah, geltend macht, ist nicht Dummheit allein, es ist eine, von großer Beschränktheit getragene, höchst wider
liche Heuchelei. Die Ansichten des ausgezeichneten amerikanischen Be obachters Ralph Waldo Emerson über diesen Punkt sind von großem
Wert, weil Emerson als der hervorragendste Kritiker Amerikas und als der größte Bewunderer der Engländer, sowie als richtiger Beur
teiler seiner eigenen Rasse allen Anspruch auf Vertrauen hat.
Er
sagt: „Die Stumpfheit des starken englischen Verstandes hinsichtlich
der Religion beweist, wie viel Vernunft und Unvernunft in einem
Gehirne vereint sein kann.
Die Religion der Engländer besteht in
Citaten, ihre Kirche ist eine Puppe, und jede Kritik wird mit einem Geheul des Entsetzens zurückgewiesen.
Ihr erwartet, die gute
Gesellschaft werde über den Fanatismus des Pöbels lachen, doch nein, sie thut es nicht, sie ist selbst der Pöbel.... Die Engländer, die in allen Dingen Veränderungen hassen und sie vor allem in
religiösen Angelegenheiten verabscheuen, halten an dem letzten Fetzen
des Kirchlichen fest und heucheln in greulicher Weise.
Die Eng
länder — und ich wollte, es beschränkte sich auf sie, allein es ist
ein häßlicher Hang, der auf beiden Hemisphären im angelsächsischen Blute liegt — thun es an Heuchelei allen anderen Völkern zuvor.
Die Franzosen überlassen ihnen ganz und gar diese Industrie.
Was ist widerlicher als die höflichen Bücklinge, die man vor Gott in unsern Büchern und Zeitungen macht!
Die populäre Presse
ist schändlich in ihrem genauen Maß von heiliger Haltung, und
die Religion des Tages ist ein Sinai, dessen Donnerkeile von den Reichen geschmiedet werden. ... Die Kirche ist in diesem Augen blicke sehr zu bedauern.
Wenn ein Bischof mit einem intelligenten
Gentleman zusammentrifft, bleibt ihm kein anderer Ausweg, als mit ihm Wein zu trinken?"
Diese Schilderung gilt der Zeit um
1830; man kann sich also vorstellen, wie der Zustand zwanzig
Jahre früher war. Bor allem jedoch wurde das
beklagenswerteste Laster des
Volkes, der Hang zur Unterdrückung, in ein förmliches System
gebracht.
Von keinen Zeitraum gilt wie von diesem, was man
als den Krebsschaden Britanniens bezeichnet hat: England, Schott
land und Irland unterdrückm im Verein die fernen Kolonien,
England und Schottland machen gemeinsame Sache, um Irland
zu unterdrücken, die irische Kirche zu knebeln und den irischen Gewerbfleiß und Handel niederzuhalten, England rafft sich auf, um
Schottland zurückzudrängen, und in England selbst unterdrückt der
Reiche den Armen und die herrschende Kaste alle anderen.
Von
30 Millionen Menschen war in diesem Zeitraum nur eine Million
politisch stimmberechttgt, und man braucht nur die Ausfälle gegen die
Gutsbesitzer Englands in Byron's „Ehernem Zeitalter" zu lesen, um zu sehen, wie schamlos sie sich während des Krieges auf Kosten der andern Klassen bereicherten und wie rücksichtslos ihre ganze Politik
darauf ausging, dies ungestört fortsetzen zu können. Dieser Zustand übt nun einen teils verderblichen,
teils in
entgegensetzter Beziehung begeisternden, anspornenden Einfluß auf die Schriftsteller des Landes.
Bei jenen, in welchen das heilige
1 Emerson: English traits 222—30.
Feuer schwach brennt, erlischt es bald, und sie bilden reaktionäre Stützen des herrschenden Zustandes.
Die aber, deren wetter
schwangere Geister danach veranlagt warm, gegen dm Wind zu streben, erreichen unter dem Drucke dieser Verhältnisse ein Frei heitspathos, das die politische Atmosphäre in bebende Schwingung
versetzt.
Diesen Dichtern erscheint England als „ein Gibraltar
des Herkommens", und sie verlassen es, um ihre Heimat mit allen Projektilen
des Spottes
und
der Entrüstung anzugreifen,
zu
stürmen, zu bombardieren. Es ist nötig, inbetreff der politischen Verhältnisse ihrer Heimat etwas mehr ins Detail zu gehen, um das Erdreich, aus dem die
Litteratur emporkeimt, recht kennen zu lernen und die nicht littera rischen (politischen, sozialen und religiösen) Prinzipien zu verstehen,
welche die Dichter in einander entgegengesetzte Gruppen spalten. Auf dem Throne Englands saß zu Beginn des Jahrhunderts (schon seit 1760) Georg III.
Bon seiner Kindheit an hatte ihm
seine Mutter die übertriebenen Vorstellungen von der Bedeutung
der Souveränität, wie sie im Gegensatz zu England auf dem Festlande
herrschend waren, beizubringen gestrebt, ein Bemühen, welches in dem Grade glückte, daß die hohen Lords, die zu Hofmeistern des
Prinzen berufen worden, einer nach dem andern sich dieses Amtes entschlugen, weil ihrem Einflüsse entgegmgearbeitet wurde.
Einer
derselben, Lord Waldegrave, der nicht bloß ein scharfsinniger Be
obachter, sondern auch ein ergebener Anhänger des Hauses Hannover war, hat ein Charakterbild seines Zöglings entworfen, das nichts
wmiger als einnehmend ist.
Er schildert ihn als leidlich begabt,
doch ohne allen Fleiß; als streng rechtschaffen, doch ohne die Offenheit und den Freimut, der die Rechtschaffenheit liebenswürdig
macht; als aufrichtig fromm, doch beständig auf die Fehltritte und Sünden seines Nächsten aufmerksam; als entschlossen, aber hals
starrig und vorurteilsvoll.
Er schildert, wie Erbitterung und Zorn
sich nie bei ihm Luft machten, sondern sich sofort nach innen kehrten
Der politische Hintergrund.
und
den Augenblick
für
27
nur Verschlossenheit und Verstellung
erzeugten, um sich später mit um so größerer Heftigkeit zu äußern; wie ferner dieser selbe König, der ein so zähes Gedächtnis für
jedes ihm zugefügte Unrecht hatte, eine mehr als königliche Ver geßlichkeit für die Dienste besaß, die ihm erwiesen worden.
Die
vollständige Verknöcherung seines Geistes in Vorurteilen war indes
vielleicht sein größter Fehler als öffentliche Persönlichkeit und als
Regent.
In seinem Privatleben war er schlicht, ehrlich, zuverlässig,
und flößte seinen Unterthanen große Achtung ein, obgleich die
Mängel seiner Erziehung nie wieder gut zu machen waren.
Als
er ans Ruder kam, besaß er wenig oder gar keine Kenntnis von Menschen oder Büchern, und sein ganzes Leben war und blieb er
in Bezug auf Litteratur und Kunst vollständig unwissend.
Allein
der ihn umgebende eigennützige Hof brachte ihm bald eine nicht ge ringe Menschenkenntnis bei, und er, dem Alle, Große und Kleine, wo
hin er blickte, die Hand entgegenstreckten, lernte bald jedermanns
Preis kennen und den Nutzen berechnen, den er von ihm zu haben vermochte.
Sein von Natur guter Verstand wurde weder durch
Studien noch Reisen oder Gespräche geschärft, doch mit allen jenen Detailfragen, die keinerlei feinere Bildung des Gemütes und
Geistes erheischten, wußte er sich vertraut zu machen und sie mit der Tüchtigkeit zu behandeln, die unerläßlich für einen Regenten
ist, der sich höchst ungern darauf beschränkt haben würde, nur dem Namen «ach König zu sein.1
Georg III. war Englands Friedrich VI.
Er war in der
That ein patriarchalischer Regent und fühlte sich selbst als Vater seines Volkes.
Das Land verlor unter ihm die nordamerikanischen
Kolonien, wie Dänemark unter Friedrich VI. Norwegen verlor,
ohne daß dieser Verlust oder die unvernünftige Politik, die ihn
herbeigeführt hatte, der Volksgunst, deren sich der Fürst erfreute,
1 Massey: History of England.
VoL I pag. 59.
28
Der politische Hintergrund.
irgendwelchen Eintrag that.
Die Haushaltung des Königs Georg
war das Muster häuslichen Lebens eines englischen Gentleman.
Frühmorgens auf! war oberster Grundsatz.
Dies Leben war be
scheiden, ordentlich, sparsam, in jeder Beziehung echt bürgerlich
eingerichtet,
doch
in
einem Grade
langweilig,
daß es seinen
Historiographen Thackeray „schaudert", nur daran zu denken.
Wenn
der
und seine Pagen
König
einmal
selbst geweckt
recht
zeitig
aufgestanden
war
hatte, plauderte er auf seinem
Morgenspaziergange mit jedem, der ihm in den Weg kam, ging
unerkannt in so manches Haus und manche Hütte und schenkte bald einem Kinde einen Schilling, bald einer armen Frau ein Huhn.
Eines Tages trafen er und die Königin einen kleinen
Knaben, mit dem sie sich in ein Gespräch einließen, bis endlich
der König zu ihm sagte: „Kniee nieder, es ist Ihre Majestät die Königin, mit der Du sprichst!"
Da aber der Kleine, in pflicht
schuldiger Rücksicht auf seine neue Hose, hartnäckig sich dagegen
sträubte, rührte dieser frühzeitige ökonomische Sinn den alten Georg so sehr, daß er den Knaben an sein Herz drückte.
Die Tage verstrichen am Hofe mit einer schleppenden Ein
förmigkeit, welche die jungen Prinzen so weit als möglich vom
Hause verscheuchte, und es zum guten Teil mitverschuldete, daß sie so aus der Art schlugen.
Abends spielte der König entweder seine
Toccatille oder hatte sein Konzert, bei welchem er regelmäßig ein nickte, während die Pagen im Vorgemach sich zu Tode gähnten.
.Die täglichen Spaziergänge fanden en famille auf dem Walle
von Windsor statt, während das Volk, gemütlich um sie geschaart, zusah, und die Etoner Knaben die rotwangigen Gesichter zwischen
den Ellbogen des Haufens hervorschoben. Die Musik spielte, und wenn das Konzert int Freien zu Ende war, unterließ der König
niemals, seinen dreieckigen Hut abzunehmen und den Musikanten
ein „Ich danke Ihnen, Gentlemen" zu sagen. Welcher Däne muß bei diesen Szenen nicht unwillkürlich an
die Spaziergänge Friedrich VI. und seine Segelfahrten als Groß admiral im Garten von Frederiksberg denken!
Wie er, .so gewann
Georg III. die Herzen durch sein bürgerliches Auftreten und seinen fadenscheinigen Rock.
Auch von König Georg gilt, was
Orla Lehmann von Friedrich VI. sagt, daß man „in der Einfach
heit des Königs (der des Verstandes wie des Auftretens), in seiner
gutmütigen Teilnahme an dem Wohl und Wehe der Individuen
einen Ersatz für die Gebrechen des Staatsmannes und Regenten erblickte,"
— und wie viele
diese letzteren?
hatten überhaupt ein Auge für
Für die große Mehrzahl der Bewohner Englands
war der alte Georg ein gewaltig scharfsinniger Staatsmann und ein machtvoller Souverän.
Es existiert von ihm ein seiner Zeit
berühmt gewesener Stich (von Gilray), auf welchem er — mit
einer alten Perücke, in einer engen, alten, häßlichen WindsorUniform — als König von Rrobdingnag, einen kleinen Gulliver
auf der einen, einen Operngucker, durch welchen er das Männchen
betrachtet, in der andern Hand, abgebildet ist. ist der kleine Gulliver?
Wer, glaubt man,
Er trägt einen dreieckigen Hut und den
kurzen grauen Marengo-Rock. Mancher Leser wird sich vielleicht eines alten dänischen Bildes erinnern, dessen photographische Wiedergabe vor einigen Jahren viel
Glück machte. Es trug die Unterschrift „Die geliebte hohe Familie" und stellte Friedrich VI. mit seiner Frau und allen Kindern, vom größten bis herab zum kleinsten, auf einem Spaziergange dar.
Ist das folgende kleine Familiengemälde, eine bei Miß Burney
vorkommende Beschreibung einer Nachmittagspromenade in Windsor,
nicht genau das Seitenstück hinzu? niedliche Prozession.
„Es war wirklich eine recht
Die kleine Prinzeß Amelia, die eben drei
Jahre alt geworden war, ging in einem feinen neuen Musselin kleidchen, einen hübschen geschlossenen Hut auf, mit weißen Hand
schuhen und Fächer allein voraus, ganz entzückt über die Parade und fortwährend den Kopf zur Seite drehend, um jeden, an dem
denn alle Spaziergänger drückten sich,
sie vorbeikam, zu sehen;
sowie die königliche Familie erschien, an die Häuser, um ihr freie Passage zu lassen.
Nun folgten der König und die Königin, über
das Vergnügen ihres kleinen Lieblings ebenfalls höchst vergnügt.
Der Kronprinz hatte Lady Waldegrave den Arm geboten.
Hierauf
kamen die Prinzessin Augusta, Arm in Arm mit der Herzogin
von Ancaster, General Bude,
der Herzog von Montagne und
Major Price, der als Stallmeister den Zug schloß."
Welch
schönes Bild! ruft Thackeray aus: Während die Prozession lang spielt das Musikkorps seine alten Weisen, und
sam vorbeizieht,
das Sonnenlicht fällt auf die alten Festungswerke, die königliche Standarte, die von dem hohen Turme herniederwallt, die mächtigen Ulmenbäume und die Schaar der königstreuen Zuschauer beleuchtend,
welche das holde Kind mit seinem unschuldigen Lächeln liebkost. Das
Gegenstück
dieses
leidenschaftliche Bestreben
häuslichen
des Königs,
Idylls
bildete
Nordamerika
zu
das unter
drücken, die französische Revolutton zu bekämpfen, die irische Kirche
zu vernichten und den Negerhandel mit allen seinen Schrecken
fortbestehen zu lassen.
Doch selbst das häusliche Idyll währte
nicht bis an das Ende des Jahrhunderts.
Im Jahre 1788 hatte
der König seinen ersten Jrrsinnsanfall, und schon damals wurde im
Parlament mit unerhörter Leidenschaftlichkeit über die Regentschaft
des Prinzen von Wales debattiert, die im Jahre 1811 endgültig
beschlossen wurde.
Die Opposition meinte, das Toryregiment für
lange Zeiten gestürzt zu haben, falls der Prinz zum Regenten er nannt würde.
Sein Charakter und seine Sitten waren indessen
bei der großen Mehrzahl des Volkes so übel berüchttgt, daß man
seiner Thronbesteigung mit Angst entgegensah.
Allein gerade als
ein dahin zielender Gesetzesvorschlag eingebracht werden sollte, sah sich
Pitt in der Lage, ein ärztliches Bnllettn über die unmittelbar be vorstehende Genesung Seiner Majestät vorzulegen, wodurch die Gefahr für diesmal beschworen wurde.
Die Enttäuschung des
Der politische Hintergrund.
31
Prinzen war groß, und er vermochte dieselbe um so weniger zu verbergen, als er während der Krankheit des Königs eine nichts
weniger als kindliche Gesinnung an den Tag gelegt hatte. Er besaß ein gewisses Talent Gebärden und Stimmen nachzuahmen, und
in der Krankheit seines Vaters war es eine seiner Hauptunter haltungen,
schweifenden
zum Ergötzen Männer
der guten Köpfe,
und Frauen,
die
der lustigen aus
seinen steten Umgang
bildeten, Mienen und Handlungen seines irrsinnigen Vaters nach
zuäffen.
In diesem einen Zuge hat man seinen Charakter,
den
Charakter des Mannes, der so lange eines gewissen Anstandes
und Schliffes willen
den Namen eines
„ersten Gentleman von
Europa" trug.
Man muß die Gewandtheit bewundern, womit dieser Mann,
sei es auch nur vorübergehend, die erlesensten Geister der Zeit zu gewinnen verstand.
Burke, Fox und Sheridan gehörten zu seinem
vertrauten Umgang. Ohne Zweifel dürfte es ihnen kaum um seine Ansichten über
Verfaffungsfragen oder die Lage der Irländer zu thun gewesen
sein — seine Ansichten über derlei!
Doch er plauderte mit Fox
über Würfel und mit Sheridan über Wein. Punkte, wo die
Interessen des Narren und der Genies sich begegneten, und der
Freund und Rivale Brummels galt unter den Dandys der Zeit als Autorität in Fragen wie die, welche Knöpfe zu einer gewissen
Art Weste paßten und welche Brühe mit einer gewissen
Pastete harmonierte.
Art
Wir sehen ihn für einen kurzen Augenblick
selbst Moore gewinnen.
Man merkt es dessen Brief an seine
Mutter vom Juni 1811 (Memoirs I. p. 225) deutlich an, daß
er sich von dem „herzlich vertraulichen Tone" des Prinzregenten geschmeichelt fühlt.
Und dasselbe gilt einen Moment von Byron;
sein Bersöhnungsbrief an Walter Scott zeigt, wie wenig unempfind lich er gegen die Schmeicheleien des Regenten über Childe Harold
war.
Und nun Scott! In seiner Eigenschaft als starrer Tory blieb
er stets, so edel und brav er auch war, der Getreue des Prinz regenten.
Als Georg IV. als König nach Schottland kam, wo
er in der Tracht eines Clanhäuptlings, die fetten Waden ent
blößt,
einen
schottischen Schurz
auftrat — Byron
um seinen
spottet am Schlüsse
ungeheuren Wanst,
seines „Ehernen Zeit
alters" darüber — kam Walter Scott an Bord der Jacht des
Königs, um ihn zu bewillkommnen; er ergriff ein Glas, woraus Seine Majestät soeben getarnten hatte, erbat sich die Gnade es
behalten zu dürfen, versprach, daß es sich in seiner Familie auf ewig forterben solle, ging heim, traf dort einen unerwarteten
Besuch, warf sich in einen Stuhl und — setzte sich auf die Hinter tasche seines Rockes,
königliche
um allzu frühe und schmerzlich
Erinnerungszeichen
gemahnt
zu
werden.
an das Er
blieb
Georg IV. auch dann noch treu, als Moore ihn längst mit den Pfeilen seines Witzes gespickt, Byron ihn längst mit seinen bitteren
Epigrammen verhöhnt und selbst Brummel auf einem Spazier gange im Hyde Park ihn wie einen Fremden durch die Lorgnette
fixiert und den Begleiter des Prinzen gefragt hatte: „Wer ist Ihr fetter Freund?"
Der einnehmende Thronfolger war nämlich nachgerade ge-
walttg umfangreich geworden.
Das schwelgerische Leben, das er
führte, hatte ihm eine solche körperliche Fülle verliehen, daß er nicht mehr gehen mochte.
Wenn er ausfahren wollte, wurde ein
Brett aus dem Fenster gelegt, auf dem er sich in den Wagen
hinabgleiten ließ.
Während die Weber in Glasgow und Lanea-
shire im Hunger zum Himmel schrieen, veranstaltete er riesige Fest lichkeiten mit unerhörter Pracht und empfing den landstüchtigen
Bourbon als Ludwig XVIII. sagt Wordsworth.
Der Knabe ist des Mannes Baler,
Georg IV. bezeichnete seinen Eintritt in das
Hofleben mit einer seines Lebens würdigen Großthat. eine neue Schuhschnalle.
breit.
Er erfand
Sie war einen Zoll lang und fünf Zoll
„Sie bedeckte", wie seine Zeitgenossen erzählen, „den ganzen
Der politische Hintergrund.
33
Von
Spann und reichte zu beiden Seiten bis auf die Sohle hinab."
seinem ersten Auftreten auf einem Hofballe lesen wir, daß sein
Wams aus rosenfarbener Seide mit weißen Aufschlägen, seine Weste aus weißer Seide, bordiert mit buntschillerndem Glanzstoff, mit einer
Unmasse unechter Edelsteine besäet war. Reihen
Stahlperlen,
fünftausend
an
Sein Hut war mit zwei der Zahl,
einem
Knopf
und einer Schnur von gleichem Metall verziert und hatte einen schwungvollen kriegerischen Schnitt.
Wie westlich stand er dem Kopfe
Ein kriegerischer Schnitt!
Dieser Kopf war damals, als besten Be
an, der den Hut trug!
sitzer in Carlton House, seinem prachtvollen neuen Palaste, Hof zu halten begann, voll unbestimmter Pläne, Litteratur, Wissenschaft
und Künste zu ermuntern, und wohl mochte es einen Augenblick ernst
damit
zu
scheinen,
sein
Prinzregenten Walter Scott,
wenn
man an der Tafel
den besten
Erzähler
des
jener Zeit,
mit der Ergebenheit des Unterthanen und echter Liebenswürdig
keit seinen unerschöpflichen Vorrat amüsanter launiger Geschichten
zum Besten geben hörte, wenn Moore in diesem Kreise einige seiner süßen anakreontischen Lieder sang, oder Grattan, der stolze
Führer der Irländer, mit dem Feuer seiner phantasiereichen, gefühl
Doch wie bald
vollen Beredsamsamkeit zur Unterhaltung beitrug.
machten diese
weit
Prinzen Tänzern,
Männer besser
einer
paßte:
Gesellschaft ftanzösischen
Zeit,
ließen.
die
die
für
den
ftanzösischen
Jockeys, Hofnarren, Kupplern, Schneidern,
Juwelieren und Fechtmeistern. die
Platz, Köchen,
Boxern,
Mit solchen Leuten verbrachte er
seine Liebschaften
und
Trinkgelage
ihm
übrig
Er legte seinen künstlerischen Sinn und Geschmack dadurch
an den Tag, daß er um hohen Preis ganze Fuhren chinesischer Schnurrpfeifereien zusammenkauste.
Kaum war dann auch der
Schöngeist Regent geworden, als er mit den guten Köpfen unter
den Whigs brach, deren Gesellschaft er gesucht hatte. um und wurde plötzlich Tory. Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
3
Er schlug
Ner politische Hintergrund.
34
Es giebt vier europäische Rezente« i« der ersten Hälfte des neun
zehnten Jahrhunderts, die in einem auffallenden Verwandtschafts verhältnisse zu einander stehen: Ludwig I. von Bayern, Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Christian VIII. von Dänemark und dieser
englische Prinzregent.
Das sind die vier reaktionären Schöngeister
auf dem Throne. In England wie in Dänemark tritt in der Königs
familie der Dilettantismus nach der patriarchalischen Einfalt ans.
Allerdings war er dort mit de» abscheulichsten Sitten und einer fast unbegreiflichen Trägheit gepaart.
Im Jahre 1816 saßen in
Newgate 58 zum Tode Verurteilte, der Stunde harrend, wo die
Vergnügungen und Zerstreuungen des Prinzregenten ihm Zeit gönnen würden, das Todesurteil zu bestätigen oder Gnade ein-
tteten zu lasten, und Manche hatten also harrend vom Dezember bis März gesessen.
Vergebens erscholl im Parlamente Brougham's
furchtbarer Ausfall auf jene, „die, während die Gefängnisse mit Un glücklichen überfüllt sind,
feinen Augenblick ihre gedankenlosen
Vergnügungen aufschieben können, um diesem traurigen Schweben zwischen Leben und Tod ein Ende zu machen."
Man schlage in
dieser Hinsicht Moore's Satyren des „Twopenny Post-bag“ nach. Hier zeigt es sich, daß der liebenswürdige irische Singvogel Schnabel und Klauen hatte.
Man ersieht aus Scott's Biographie (III, 342),
mit welch ruhigem Lächeln der Regent 1815 über Moore's Verse scherzt, die seinen Tisch als auf der einen Seite von Modejournalen,
auf der andern von ununterfertigten Todesurteilen bedeckt schildern!
Diese Verse waren nur allzu gerecht, halfen aber nur allzu wenig. Schon im April 1812 hatte, in einer Parlamentsrede, Castlereagh ge äußert: „Es ist Seiner Königlichen Hoheit unmöglich, seine Person von den erdrückenden Stößen von Papieren, die sich auf seinem
Tische häufen, zu befreien." In Moore's Satire „The insnrrection of the papers“ heißt es: On one aide lay unrcad petitions On th’other Hints from five Physicians,
Here tradesmen’s bills, — official papers, Notes from my lady, drams for vapours, The re plans of saddles, tea and toast, Death-warrants and the Morning Post.
Und trotzdem läßt vier Jahre später der Regent 58 Todes
urteile sich ansammeln! Wir sahen, daß er, kaum mit dem Abzeichen der Herrscher
würde bekleidet, mit seinen einstigen Freunden brach und Tory wurde. bildet,
Das
große,
langlebige
wurde
Toryministerium
mit Liverpool an der Spitze,
einem zähen,
ge
aber gut
mütig lässigen Reaktionär, von dem sich alle Erbitterung stets
Er war als Premierminister eine
auf seine Kollegen überwälzte.
Art König mit beschränkter Gewalt, redlichen Absichten und be scheidenen Fähigkeiten.
Er genoß, gleich seinem Kollegen Lord
Sidmouth, das Privilegium, weder seiner Charakterstärke wegen gefürchtet, noch seiner Talente halber beneidet zu werden.
Die
markanteste, am stärksten hervortretende Persönlichkeit des Ministe riums war Lord Castlereagh,
ein mittelmäßig
begabter,
aber
energischer Mann, dem Wilberforce einmal die Definition „ein
Fisch an Kaltblütigkeit" gab.
Er hatte ein schönes Antlitz und eine
gebieterische Stimme, und seine äußere Erscheinung trug größere
Ehrenzeichen zur Schau als irgend einem Mitgliede des Unter hauses seit den Tagen Robert Walpole's verliehen worden. war „der edle Lord mit dem blauen Bande".
absolutistisch gesinnt
lichen Regenten
Er
Von vornherein
hatte sein Verkehr mit dem unverantwort
des Festlandes
noch
mehr
dazu
beigetragen,
die für einen konstitutionellen Minister bedenklichsten Grundsätze bei ihm zu entwickeln.
Das Bewußtsein der Beschränktheit seines
Verstandes oder der Mängel seiner Erziehung hielt ihn nicht ab,
sich in einem Schwall von unförmlichen Sätzen und unstichhaltigen
Beweisgründen zu ergehen.
Seine Schulbildung war so gering,
daß er nicht zwei Sätze richtig zu verbinden vermochte, und seine
Suade erregte nur allzu ost das Gelächter des Hauses.
3*
Allein er
Der PdUtische Hintergrund.
36
hielt allen Angriffen mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit Stand,
und kein Argwohn, kein Groll, der gegen ihn laut wurde, schien ihn auch nur um Haaresbreite von dem eingeschlagenen Wege
abzubringen. gegenüber
Immer und immer wieder schlug er dem Parlamente
das alte „Wir allein wissen" des Absolutismus an.
Byron, Shelley und Moore geißeln ihn, einer wie der andere,
in ihren Gedichten.
Es erübrigt nur noch des Kanzlers Lord
Eldon zu erwähnen, der verkörperten Doktrin der Torypartei, der Tag und Nacht nichts anderes sann und dachte, als die „Verfassung aufrechtzuerhalten", wie er zu sagen pflegte.
Wer
irgend ein altes Sonderrecht, irgend welche Beeinträchtigungen
und Beschränkungen der Freiheit oder etwa gar ein altes, grau sames Strafgesetz abschaffen wollte, tastete seiner Ansicht nach die
Verfassung
an.
Nichtsdestoweniger
war er selbst immer und
immer wieder der erste, fein, eigenes Bollwerk, das Gesetz, sobald dasselbe ihm im Wege stand, zeitweilig aufzuheben.
Die Habeas-
Corpus-Akte eine Zeit lang außer Kraft zu setzen, die Presse zu knebeln rc — dergleichen heilsame Amputationen waren seinem
Dafürhalten nach Leben für die Verfassung; ihr frisches Blut ein zuflößen, war ihr Tod.
Dies war das Ministerium, das 1814 Alexander von Rußland
durch seinen Eifer, die von der Revolution erschütterten Prinzipien
wiederherzustellen, in Erstaunen setzte.
Der russische Kaiser ver
höhnte das englische Ministerium, indem er dessen reaktionäre
Neigungen beklagte und in London mit den Führern der Opposition
in Verkehr zu treten suchte.
Der erste Eindruck der französischen
Revolution auf Volk und Regierung in England pathischer gewesen.
war ein sym
Die Gegner Pitt und Fox begrüßten sie ver
eint als eine der größten, herrlichsten Begebenheiten in der Ge schichte der Menschheit.
Doch kaum war jenseits des Kanals Blut
vergossen worden, als die große Masse der Bevölkerung, ja selbst die Mehrzahl der Opposition, alle ihre Traditionm, das König-
tum, die Religion, das Eigentumsrecht, in Gefahr sah und eine
Burke war unter den
ungeheure Partei der Ordnung bildete.
Whigs der erste, der mit ungestümer Heftigkeit die Revolution
verurteilte
unb
namentlich
seinen
Freund
und
Parteigenossen
Fox wegen dessen Verteidigung ihres Geistes scharf kritisierte. alten Whigs schlossen sich Burke an.
Die
Pitt, der eine Reihe not
wendiger Reformen geplant hatte, getraute sich nicht einmal gegen
das verderbliche Wahlsystem Englands einzuschreiten und gestand auf eine an ihn gerichtete Anfrage, daß ihm die Zeit, so tief er
von der Notwendigkeit einer Parlamentsreform überzeugt sei, für
ein so gewagtes Experiment
nicht
günstig erscheine.
In jeder
freisinnigen Regung, selbst der unschuldigsten und berechtigsten, begann
man
den gefürchteten Jakobinismus zu wittern.
Als
Wilberforce seine Agitation gegen den Sklavenhandel einleitete, sah er sich gleichzeitig von Regierung und Opposition unterstützt. Nur der König, die Rheder und die Aristokraten des Oberhauses
waren damals dagegen. Als er jedoch 1791 zum zweiten Mal an das
Parlament appellierte, da war die Stimmung derart nmgeschlagen,
daß man die Abolitionisten als förmliche Jakobiner betrachtete, und daß
das Gesetz
über die Aufhebung des Sklavenhandels mit
163 Stimmen gegen 88 verworfen wurde. Hiezu kam der Schrecken, welchen der Eindruck, den die Revo
lution auf Irland gemacht hatte, in England hervorrief.
Man be
grüßte dort die Botschaft von der ftanzösischen Erhebung, wie Sklaven
und Heloten die Botschaft der Freiheit begrüßen.
Obgleich das
irische Volk, unter Führung des edlen, von Byron so begeistert
besungenen Henry Grattan, im Jahre 1782 die Anerkennung der Gleichberechttgung seines Parlamentes mit dem englischen durch gesetzt hatte, war es dennoch sowohl hinsichtlich seines Handels wie seiner Religion vollständig unterdrückt.
Der maßvolle Thomas
Moore gebraucht den Ausdruck, daß er als Kind katholischer Eltern mit dem Sklavenjoche um deu Hals zur Welt gekommen sei.
Er
erzählt, daß er als Knabe 1792 von seinem Vater zu einem in
Dublin zur Feier der Revolution veranstalteten Bankett mitgenommen
wurde,
bei
welchem der Präsident den folgenden Trinkspruch
ausbrachte: Möge die Brise aus Frankreich die irische Eiche zum Grünen bringen!
Bei ihm findet man die Bewegung, welche
sich der irischen Jugend bemächtigt hatte, geschildert. und bewunderte ihren Führer Robert Emmet.
Er kannte
Wenn Emmet
im Dubliner Diskussionsklub, dessen Leitstern er war, in beredten
Ausdrücken die Großthaten der französischen Republik schilderte, wenn er mit einer Anspielung auf Cäsar, der auf dem über den
Rubico schwimmenden Pferde mit der einen Hand sein Schwert,
mit der andern seine Kriegsgeschichte hoch über dem Wafier empor
hielt, in die Worte ausbrach: „So watet Frankreich durch ein sturm gepeitschtes Meer von Blut; doch während es in der einen Hand
das Schwert gegen seine Unterdrücker schwingt, erhält es mit der anderen die Schätze der Wisienschast und Litteratur unbefleckt von dem blutigen Strome, durch welchen es sich hindurch kämpft" — da lauschten seine jungen Landsleute nicht nur dem direkten In
halte der Rede, auch jeder Abschweifung von dem Gegenstände, jeder Nebenbemerkung, die etwa Irland in das behandelte Thema
einbezöge.
Solche Anspielungen blieben denn auch nicht aus.
„Wenn ein Volk", rief er eines Tages, „das an Erkenntnis und
Macht rasch fortschreitet, endlich die Wahrnehmung macht, wie weit seine Regierung hinter ihm zurückgeblieben ist, was ist da anderes zu thun, als die Regierung zu der Höhe des Volkes emporzuziehen!"
Der Tag war nicht fern, an dem Robert Emmet so kühne
Worte schwer büßen sollte.
1798 explodierte der aufgehäufte
Sprengstoff, und Castlereagh wusch (mit Byron zu sprechen) seine
jungen Hände in Erins Blut.
Die Wut, mit welcher die Re
gierung gegen die Empörer vorging, war so tierisch und wild,
daß in der modernen Zeit nicht hänfig die Unterdrückung eines Aufstandes solche Greuel mit sich geführt hat.
Her politische Hintergrund.
39
Der Haß gegen die Revolution setzte sich als Haß gegen
Napoleon fort.
Er überstieg alles vernünftige Maß.
Thackeray
erzählt eine Anekdote, die von dem Grade desselben eine Vor
stellung giebt.
Ich kam, sagte er, als Kind von Indien, und unser
Schiff legte auf dem Heimwege bei einer Insel an, auf die mich
mein schwarzer Diener zu einem langen Spaziergange mitnahm.
Wir wanderten über Klippen und Höhen,
bis wir bei einem
Garten anlangten, in dem wir einen Mann auf und ab gehen sahen.
„Das ist er", sagte der Schwarze, „das ist Bonaparte.
Er verspeist täglich drei Schafe und alle kleinen Kinder, deren
er habhaft werden kann,"
und Thackeray fügt hinzu: Es gab
mehr Leute in dem britischen Reiche, die vor dem korsischen Menschen
fresser ein ähnliches Grauen wie dieser arme Kalkuttadiener em pfanden. — Es tritt in Wordsworth's Sonnetten, in Southey's
Gedichten, wie in Walter Scott's berüchtigter Napoleonbiographie
gleich
stark hervor.
Mit
den Kriegen
gegen Frankreich brach
die große britische Reaktion an: Die Habeas-Corpus-Akte wurde
wiederholt aufgehoben, der alte Hochverratsparagraph Eduards III. verschärft, das Versammlungs- und Beschwerderecht beschränkt, die Preßfreiheit alsbald in ein leeres Wort verwandelt.
Schottland
wieder
wurden
hervorgesncht,
grausame
und
Gesetze
aus
der
hochgebildete Männer
Zumal in
Vergangenheit
wie gemeine
Verbrecher nach den Strafkolonien Australiens verwiesen.
Man
wagte den Republikanern und Gleichheitsmännern in England die
Unumschränktheit der Krone entgegenzuhallen und von Parlamenten
und Geschworenengerichten als von untergeordneten Nebengewalten zu sprechen.
Es bildete sich eine allgewaltige Partei unter dem
Feldgeschrei: König und Kirche!
Der König selbst war verrückt, der Prmzregent schlimmer als verrückt und die Kirche gleißnerisch.
Mißwachs, Überschwem
mung, Hungersnot traten 1816 auf.
Nagender Hunger trieb
rings im Lande die niedre Bevölkerung planlos von Haus und
Der politische Hintergrund.
40
Hof.
Man findet in Shelley's „Die Maske der Anarchie" der
Stimmung AuSdnick geliehen.
In Leicestershire zerstörten die Ar
beiter in ihrer Verzweiflung die Spitzenwebereien und schlugen die
Webstühle in Stücke.
Seine erste, schöne Parlamentsrede hält
Byron zu ihrer Verteidigung. Man ersieht aus Romilly's Tagebüchern, wie unmöglich es
den wenigen freisinnigen Männern war, die geringste Reform durch
zufetzen.
Er, der allgemein verehrte Reformator der grausamen
Strafgesetzgebung Englands,
später hauptsächlich als juridischer
Beirat der Prinzessin von Wales und Sachwalter der Lady Byron
bekannt, sagt in seinem Tagebuche von 1808: „Wenn jemand einen
klaren Begriff von den unseligen Wirkungen zu erhalten wünscht, welche die französische Revolution und die Schrecken, die ihr folgten,
in
unserem
Lande hervorriefen,
so möge er nur irgend eine
Umgestaltung der Gesetzgebung nach menschenfreundlichen oder frei
sinnigen Grundsätzen herbeizuführen versuchen.
Er wird sich dann
nicht allein von der blöden Furcht vor Veränderungen, sondern auch von dem Geiste der Grausamkeit überzeugen, der in allzu
viele seiner Landleule gefahren ist."
Auf Romilly's Antrag auf
Aufhebung des Gesetzes aus der Zeit William's III., wonach Ladendiebstahl mit dem Tode durch den Strang bestraft wurde, sprach Lord Ellenborough, von Lord Eldon kräftig unterstützt, fein
Bedauern darüber aus, „daß eine moderne Philosophie sich nun mehr sogar unterstünde, an den weisen Bestimmungen der Jahr
hunderte
zu
rütteln,"
und
nicht
die Regierung
allein,
auch
Parlamentsmitglieder in Menge waren wie besessen von Henkers
wut. Romilly erzählt selbst, daß einer seiner jüngeren Parlaments
kollegen auf jede Vorstellung, jeden Einwand mit dem stereotypen „I am for hanging all*1
geantwortet habe.
Und doch sollte
man meinen, es wäre im neunzehnten Jahrhundert an der Zeit gewesen, der in England herrschenden Leidenschaft für das Hängen,
welche nur allzu unvorteilhaft von der gewaltigen Grundsumme
Bet politische Hintergrund.
41
der Roheit im Volke zeugte, ein Ende zu machen. Unter Heinrich VIII.
waren 72000 Diebe gehenkt worden; nun, unter Georg III. wurden durchschnittlich 200 des Jahres aufgeknüpft, was von
1760 bis 1810 die hübsche Summe von 10000 ausmacht.
Im
Jahre 1817 wurde die Verfolgung der Denk- und Schreibfreiheit
bei den Prozessen gegen den greisen Bücherfreund Hone, der vor Gericht, durch eine seltene Bereinigung von Wahrheitsliebe und Klug
heit, ein wie das andere Mal jeben Versuch, ihn wegen Gottes lästerung zu verurteilen, vereitelte, förmlich in System gebracht.
Hierauf folgten 1818 die Straßenaufläufe der armen Bevölkerung von Manchester, wobei die Reiterei auf sie einhieb und die Soldaten die unbewaffneten Volksschaaren mißhandelten.
Shelley's Gedichte
von 1819 haben ihre Färbung hiervon erhalten.
Finster, wahrlich,
ist sonach der politische Hintergrund dieser Litteraturperiode — finster durch
die Angst erschrockener Philister
über die Aus-
schreitungen der Freiheitsbewegung in Frankreich, finster von den
tyrannischen Gelüsten stolzer Tories und dem Druck der Hochkirche, finster von dem Blute irischer Katholiken und englischer Arbeiter
— und zu alledem ist, auf den Zinnen der Gesellschaft, die Krone
dem Wahnsinn in Georgs III. Stirn aufgesetzt, und das Szepter der schlaffen Unzucht in die Hand gelegt, die in Gestalt des Prinz
regenten den Königssitz als Stellvertreterin der Beschränktheit ein
nimmt, welche mit seinem Vater den Thron bekleidet hatte. Und dieser Thron ist es, den Lord Eldon mit seinen sechs Knebelgesetzen stützt, zu denm er die uralte Verfassung Englands umgebildet hat,
und den Castlereagh's ebenso ungrammatikalische als freiheitsfeind
liche Parlamentsreden, wie Southey's ebenso unmelodische als
wohlbezahlte Schmeichelhymnen verherrlichen und lobpreisen — bis der Scheidungsprozeß zwischen Georg IV. und Karoline mit
seinem ungeheuern, alle Begriffe übersteigenden Skandal, der sich
von der Rednerbühne des Oberhauses stromweise wie eine Kloake nach allen Seiten ergießt, den Glanz der Krone und die Würde
des Hofes in einem Meer von Kot ersäuft — bis die einander
Schlag auf Schlag folgenden Revolutionen Spaniens, Griechen lands und Südamerikas die Lust reinigen, und Castlereagh sich die Gurgel abschneidet (seinen Gänsekiel schneidet, wie Byron sagt),
und England unter Canning die südamerikanischen Republiken an
erkennt, wie die Schlacht bei Navarino vorbereitet.
Shelley's, Landor's, Byron's und Campbell's Poesien haben ihre politische Parallele in diesen Regierungshandlungen Canning's. Doch Canning's Reden selbst bilden ein Supplement zu dem Werke dieser Dichter.
Castlereagh's ungelenke Rede und seine schalen,
gehaltlosen Staatsbriefe — doppelt gehaltlos, weil er, als echter Geschäftsmann aus Metternich's Schule, mündliche Mitteilungen vorzog — werden direkt von Canning's freimütiger, glühender
Beredsamkeit abgelöst.
Während Castlereagh wie seine ihn über
lebenden Kollegen auf dem schändlichen Kongreß von Verona nur darauf
ausgingen,
unter
dem Scheine
evangelischen Friedens
Schweigen und Finsternis in Europa ungestört zu erhalten, leuchteten
Canning's Reden wie ein Waldbrand in der tiefen Nacht der heiligen Allianz.
Sein großer humaner Grundgedanke war das
Selbstbestimmungsrecht der Völker.
allein
am
Am 8. August 1827 starb er;
12. Oktober desselben Jahres
wurde die Schlacht
bei Navarino geschlagen, die gleichsam der letzte Wille des Toten
war, und die fiir uns heutigen Tags das politische Symbol ist für das Erwachen des neuen Geistes in Europa?
1 Miss Martineau: The history of England during the thirty years peace T, II. Massey: History of England during the reign of George the Third, I—IV. Thackeray: The four Georges. Reinhold Pauli: Geschichte Englands seit den Friedensschlüssen 1814 und 1815. Emerson: English traits.
IV. Im Sommer 1797 war unter den Bewohnern eines Dörf chens
Küste von Somersetshire viel von zwei jungen
der
an
Männern die Rede, die seit kurzem ihren Wohnsitz daselbst auf
geschlagen hatten, und die man täglich miteinander spazieren gehm
sah,
vertieft
eifrige,
in
endlose Gespräche,
in
denen
fremde
Worte und fremde Namen, für die Vorübergehenden unverständlich, unter lebhaften Fragen und Antworten ausgesprochen wurden. Der eine von den beiden jungen Männern war 27 Jahre alt. Ein tiefer Ernst lag in seinen Zügen, eine unerschütterliche Würde, ja
Feierlichkeit
in
seinem
Er
Wesen.
glich
zumeist
einem
jungen Methodistenpriester und hatte eine einförmige, schleppende
Stimme.
Sein etliche Jahre jüngerer Begleiter, der sich beständig
in einer Flut von Worten erging und mit den Händen oft und unruhig gestikulierte, hatte einen großen, runden Kopf, dessen
Form
auf
hervorragende Begabung
schließen ließ, ein glattes
Gesicht, tiefe hellbraune Augen mit einem geistvollen, schm be kümmerten Blick und einem seltsamen Ausdruck schlaffer Unent
schlossenheit und durchgängiger Charakterschwäche, von jener Art, die eine Plötzlich auflodernde Energie nicht ausschließt.
Seine
Stimme war Musik, seine Beredsamkeit schien selbst seinen zurück
haltenden
Freund
zu bezaubern.
Wer und was waren diese
beiden Männer, die so gar keinen Umgang in der Gegend suchten? Das war die Frage, welche die Bewohner sich vorlegten.
Was
hätte es anderes als Politik sein können, das sie so leidenschaft-
lich erörterten, und wenn dem so war, was konnten sie da anderes als Verschworene sein, als Jakobiner mit Aufruhrplänen?
Bald wurde es ruchbar, daß der ältere von den beiden Frmnden, Mr. Wordsworth, sich zu Beginn
der Revolution
längere Zeit in Frankreich aufgehalten und die Schwärmerei der Zeit für eine Gesellschaftsreform mit großer Wärme geteilt, daß
ferner der jüngere, Mr. Coleridge, sich zugleich als eifrigen Demo
kraten und Unitarier bekannt gemacht, ein Drama:
„Der Sturz
Robespierres" geschrieben, zwei politische Flugschriften, „Conciones
ad populum“ herausgegeben, ja mit etlichen Gesinnungsgenossen
den Plan gehegt habe, eine sozialistische Kommune in dem fernen Amerika zu gründen.
Brauchte man da noch länger zu zweifeln?
Eine liebevolle Seele aus der Nachbarschaft gab die Freunde der Londoner Regierung an, und diese sandte einen Späher aus, der das Ziel ihrer Spaziergänge und dm Gegenstand ihrer Gespräche
auskundschaften
sollte.
Alsbald
kam
spion mit einem Bardolph-Gesicht nach
ein
rotnasiger
Polizei
der friedlichen Gegend,
folgte unbeachtet dm beiden Freunden, und da er sie mit Papier in der Hand gehm sah, zweifelte er nicht, daß sie das Land „auf
nähmen".
Er sprach sie hier und da an und wählte sich einen
Versteck in den Gebüschen hinter einer Bank an der Küste, ihrem
Lieblingsruheplätzchen.
Hier lag er stundenlang auf der Lauer.
Anfangs glaubte er, die beiden Verschworenen hätten von der ihnm drohenden Gefahr Wind bekommen, denn in ihrem Gespräch
kam des öfter« ein Wort vor, das ihn spy-nosy (der Spion mit der Nase) zu sein dünkte, ein Wort, das er auf sich zu beziehen
geneigt war; bald aber überzeugte er sich, daß es der Name eines Mannes war, der ein Buch geschrieben hatte und längst verstorben
war.
Man merkt,
gesprochen hatten.
daß die Freunde Spinoza englisch aus
Die Unterhaltung drehte sich fast ausschließlich
um Bücher, wobei einer den andern auf verschiedenes aufmerksam
machte, dies und jmes zu lesen aufforderte.
Von Politik jedoch
vermochte der Polizeimann nichts aufzufangen, weshalb er denn bald enttäuscht den Versuch aufgab, um seine Spürnase anders
wohin zu wenden. In der That war hier nichts Bedrohliches zu entdecken.
politisch
Den
revolutionären Rausch hatten die zwei Freunde längst
ausgeschlafen, und selbst jenen Spinoza, der eine so große Rolle in ihren Gesprächen spielte, hatten sie aus zweiter Hand kennen
gelernt und erörterten chn, ohne ihn zu verstehen, geschweige denn sich ihn anzueignen.
Coleridge war es,
der durch die ersten
Schriften Schellings die Substanzphilosophie kennen gelernt hatte und nun seinen in der Philosophie unbewanderten Freund in die neuerworbene Weisheit einweihte.
Allein Spinoza war in diesen
Unterredungen nur das Sinnbild eines geheimnisvollen Natur
kultus; der Name Jakob Böhme's erscholl in friedlicher Gemein schaft mit dem seinen.
Es handelte sich hier nicht um Wissenschaft,
sondern um Poesie, und war bei diesen weitläufigen Verhandlungen
die Rede von einer Revolution, so war dies eine rein litterarische, poeüsche, hinsichtlich welcher die Gedanken der beiden in der Ab geschiedenheit Lebenden, trotz ihrer verschiedenen Ausgangspunkte,
ganz merkwürdig übereinstimmten.
Was in diesen Unterredungen sich vollzog, war nichts anderes und nichts geringeres, als der bewußte litterarische Bruch mit
dem Geiste des achtzehnten Jahrhunderts, der unter verschiedenen Formen gleichzeitig in ganz Europa vor sich ging.
Coleridge hatte einen prüfenden Geist, dessen Abscheu vor dem französischen klassischen Puder schon in der Schule geweckt
worden war.
Dort hatte ein origineller Lehrer seinen aufmerk
samen Schüler vor Harfe, Laute und Leier im Prosastile, wo er
statt dessen „Feder und Tinte« zu sagen mahnte, vor Musen, vor Pegasus, Parnaß und Hippokrene in der Lyrik gewarnt, und dergleichen als Perückenmanier und allen Zopf gebrandmarll.
Coleridge bestritt daher Pope und seinen Nachfolgern das
Ankündigung des Naturalismus.
46
Anrecht auf den Namen Dichter, und schwor auf die Sonette Bowles.
Er äußerte sich gegen Pope, wie in Dänemark die jungen
Freunde Öhlenschlägers sich-etwas später gegen Baggesens Poesie äußerten.
Das germanische Naturell in ihm war ein geborener
Feind von Esprit, Epigrammen und Pointen; es dünkte ihm, daß die Vorzüge der aus Frankreich stammenden Schule nicht poetischer
Art wären; sie bestanden, seiner Meinung nach, in der richtigen,
scharfen Beobachtung der Menschen und. Sitten in einem künst
lichen, verfeinerten Gesellschastszustande, sowie in der geschliffenen
Form, welche diese Beobachtungen annahmen; diese Form war eine Art Logik des Witzes, in glatten, stark epigrammatischen
Versen entwickelt; selbst wenn der Stoff unwirklicher Natur war,
wendete sich der Dichter an dm Verstand; ja sogar in der zu sammenhängenden poettschm Erzählung war für eine Pointe am
Ende jeder zweiten Zeile gesorgt, und das Ganze nahm sich wie „ein Kettenschluß von Epigrammen" aus.
Man fand mit andem
Worten, Coleridge's Auffassung nach, hier nicht poetische Gedanken, sondern unpoetische, in eine Sprache übertragen, die man aus altem
Schlendrian poetisch nannte.
In der Konzeption der Dichtung
selbst lag nichts Phantastisches, ja es gebrach dem Dichter ost so sehr an Einbildungskraft, daß es von einem großen oder kleinen
Anfangsbuchstaben abhing, ob die Worte als Personifikationen oder
als bloße Begriffe betrachtet werden sollten.
Doch während die
alten, großen Dichter Englands, wie Spenser, die phantastischsten
dem
Einfälle
in
wußten,
vermochten
reinsten, diese
schlichtesten Englisch
auszudrücken
neueren die gewöhnlichsten Alltags
vorstellungen nicht anders als in einem ganz merkwürdig erbärm
lichen, phantastischen Englisch auszudrücken, so daß das Resultat sich ausnahm, als hättm Echo und Sphinx sich zusammen den
Kopf zerbrochen, um es zuwege zu bringen.
Mit Unwillen wendete sich Coleridge von jenen Versuchen
ab, Phantasielosigkeit durch geschraubte Diktion zu verdecken.
Er
Ankündigung des Naturalismus.
47
verabscheute Oden an „Eifersucht", „Hoffnung", „Vergessen" und
dergleichen Abstraktionen. Ode
an
gann:
die
Sie erinnerten ihn an eine Oxforder
Kuhpockenimpfung,
„Impfung!
Du
welche mit den
himmlische
Maid
steige
Worten be
hernieder!"1
Selbst in der besten späteren englischen Poesie erhielt sich jene
Unsitte, Abstraktionen für Gestalten zu nehmen, noch allzulange.
(Bei Shelley z. B. treten die Zwillinge „Irrtum und Wahrheit", the twins Error and Truth, noch als handelnde Personen auf). Dieses ganze rhetorische System schien Coleridge direkt von der
herrschenden Gepflogenheit herzurühren, in de» Schulen lateinische
Verse zu schreiben. Im Gegensatz hierzu erblickte er sein Ideal darin, natürliche Gedanken in einem natürlichen Stil, der weder studiert noch platt wäre, weder nach Lampenöl, noch nach dem Rinnstein röche, aus
zudrücken, und die altenglischen Balladen in Percy's Sammlung mit der unverfälschten Volkstümlichkeit ihrer Naturtöne galten ihm
als Wegweiser. Auch er wünschte, solche Naturtöne erklingen zu lassen.
Hier
sätzen
kam Wordsworth
ihm eutgegen.
mit seinen Grübeleien und Vor
Er war einer jener Geister, die nur bei
bestimmtem energischen Aburteilen sich wohl und sicher fühlten. Seine
Ansicht
über
die
ganze
englische
Poesie seit Milton
war die, daß das Volk mit dem Hervorbringen jenes Mannes
seine poetische Kraft erschöpft und nichts bewahrt habe, als eine Kompositionsform, so daß die Poesie nunmehr in einer Sprach kunst und Wortspielerei bestände, und der Dichter nach seiner
Herrschaft über das sprachliche Werkzeug beurteilt würde.
Daher
hätte der metrische Stil sich mehr und mehr von der Prosa ent
fernt.
Aufgabe sei es nun, ihn zu dieser zurückzuführen, so daß
der Vers sich von der Sprache des Alltagslebens nur durch die rhythmische Form unterschiede.
Während Coleridge für Natur-
Inoculation! heavenly maid, descend!
Melodien schwärmte, war Wordsworth so radikal, daß er theoretisch
sich nicht mit wenigerem als einem gereimten natürlichen Prosa dialoge zufrieden geben mochte. Und zu diesem Naturalismus in der Auffassung der Form
kam ein gleicher in der Auffassung des poetischen Inhalts.
war seiner
eine
von Wordsworth's Lieblingsbehauptungen
heftigsten
Vorwürfe
gegen
die
herrschende
ES
und eine
litterarische
Schule, daß kaum ein einziges originelles Bild der äußeren Natur, eine einzig« neue Beschreibung derselben zwischen Milton und Thom
son zu Tage getreten sei.
Selbst mit einem hohen Grade von
Empfänglichkeit für die Vorgänge und Erscheinungen der äußeren Natur ausgestattet, machte er den Ruf Natur! Natur! zu seiner
Losung — mit Natur aber meinte er das Land im Gegensatze zur Stadt.
Durch das Stadtleben vergaßen die Menschen die
Erde, auf der sie lebten; sie kannten sie nicht mehr, erinnerten sich
wohl der groben Züge in der Physiognomie von Flur und Wald, doch nicht der Einzelheiten des Naturlebens, nicht seiner wechsel vollen Schauspiele mit ihren unzähligen, lächelnden, strahlenden,
ernsten, erschreckenden Szenen.
Wer kannte noch die Namen der
verschiedenen Bäume und wilden Blumen; wer kannte die Vor
zeichen von Sturm und Wetter oder wußte, was eS bedeutet, daß die Wolken gerade so dahin jagen, die Herden sich gerade so zu
sammendrängen
oder die Nebel gerade so sich von den Höhen
wälzen! Wordsworth hatte schon als Kind, als er noch zwischen den
Hügeln von Cumberland spielte, alle diese Runen zu deuten ver
standen.
Er war mit jeder Art von englischer Natur in Lenz und
Winter tief vertraut; er war dazu geschaffen, das wieder zu gebm,
was er sah und fühlte,
und darüber nachzugrübeln, ehe er es
wiedergab; geschaffen, im vollen Bewußtsein dessen, was er unter nahm, die poetische Reformation durchzuführen, die von dem armen
Chatterton, dem „schlaflosen.Knaben", und von dem Bauernsohn, dem Wordsworth an ursprünglicher Begabung so weit überlegenen
49
Ankündigung de« Naturalismus
Burns begonnen worden.
Er war freilich nur eines von den
zahlreichen Organen jener Liebe zur äußeren Natur, die um die
Wende des Jahrhunderts sich in ganz Europa ausbreitete, allein er hatte ein stärkeres, intensiveres Bewußtsein der Thatsache, daß
ein neuer poetischer Hauch über England wehte, als sonst jemand in den vereinigten Königreichen. Darin
stimmten also
die Freunde überein,
daß man die
ganze englische Poesie in drei Gruppen teilen könne: die Zeit
der poetischen Kraft und Jugend von Chaucer bis Dryden, die Periode der poetischen Unfruchtbarkeit von Dryden einschließlich bis zum Schluffe des achtzehnten Jahrhunderts, endlich das Zeit alter der Wiedergeburt, das nun mit ihnen selbst anbrach, nachdem es
von ihren Vorläufern verkündet worden. Ganz wie die Männer der
neuen Zeit in Deutschland und Dänemark suchten diese Jünglinge nach großen, schlagenden Bezeichnungen, welche den Unterschied
zwischen ihnen und den von ihnen Bekämpften auszudrücken ver möchten, und fanden genau die nämlichen wie jene. Sich selbst legten sie Phantasie und damit die eigentliche schöpferische Kraft bei; sie
schrieben ganze Bogen voll zur unklaren Verherrlichung von Ima gination im Gegensatze zu fancy, wie Öhlenschläger und seine Schule die Phantasie priesen,
Baggesen höchstens Humor zu
gestehend: Sie hattm Vernunft, die Vorgänger nur Verstand; sie hatten Genie, jene nur Talent; sie warm die Schöpferkraft, jene nur die Kritik. Selbst ein Aristoteles konnte, als Nicht-Dichter,
es zu keinem höheren Titel, als dem eines Talmtes bringen.
Auch
in England machte man sich über Nureddin her und fühlte sich
über sein „naturloses" Forschen hoch erhaben.
Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
4
V.
Der Standpunkt, von dem Wordsworth eigentlich ausging, war also der, daß die Menschen im Stadtleben und unter dessen
zerstreuendem Einfluß die Natur- vergessen hätten; sie wären dafür bestraft worden, indem das gemeinschaftliche Zusammenleben ihre
Kräfte und Fähigkeiten zersplittert und die Empfänglichkeit ihrer Herzen für einfache und reine Eindrücke geschwächt habe.
Unter
Wordsworth's Hunderten von Sonetten befindet sich eines, das in Hinsicht auf diesen Grundgedanken besonders bedeutungsvoll ist
(Miscellanous Sonnets, Part I, Nr. 35).
Es beginnt mit der
Klage, daß die Menschenwelt allzuviel um uns sei, und wir in
folgedessen nur wenig in der Natur sähen, Eigenstes entgegenträte.
das uns als unser
Und nun heißt es:
Die See, dem Mond entschleiernd ihren Schoß,
Die Winde, heulend bald zum Sturm gestaltet. Jetzt noch wie Blumen still im Schlaf gefaltet, Dies trifft und Jegliches uns stimmungslos, Bewegt uns nicht. — Ein Heid', ach, lieber wär'
Ich, in verschollenem Glaubenswahn gebor'n; Dann blitzt aus all' der Schönheit um mich her Ein Schimmer doch, nicht ganz in Nacht verlor'n,
Ich sähe Proteus tauchen aus dem Meer, Und hörte blasen Tritons Muschelhorn.
Das sind bedeutsame Worte in Wordsworth's Munde, bedeut sam, weil sie zeigen, was im Grunde aller wahre Naturalismus
ist, er mag sich mit noch so vielen theistischen Lappen ausstaffieren; im tiefsten Innern ist er der Naturauffassung des alten Griechen
lands verwandt und feind allen den offiziellen Dogmen der neuen
51
Nie Tiefe und Wahrheit des Naturalismus.
Zeit; im tiefsten Innern trägt er das Gepräge jenes Pantheismus,
den wir im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts das poetische Naturgefühl in allen Litteraturen beherrschen sehen.
Mr haben
den Pantheismus, welcher sich unter Tiecks romantischer Natur betrachtung barg, kennen gelernt?
Er begegnet uns hier unter
der Form des selbstvergessenen, halb unbewußten Verschmelzens
des Menschen mit der Allnatur gewaltigen Harmonie.
als eines Einzeltones in ihrer
Er hat in einem kleinen, eigentümlichen
Gedichte Ausdruck gefunden? Ein Schlummer deckte meinen Geist, Samt allem Menschenleid, Nicht fühlt er, wie vorüber kreist Der Erdenjahre Zeit. Null stört ihn nichts, er blickt nicht aus, Liegt still, als wie im Traum, Und schwingt sich nur im Erdenlauf Mit Fels und Stein und Baum.
Vertieft man sich in die Stimmung, aus der ein Gedicht wie dieses entsprungen ist, so hat man das Wahrzeichen eines rein pantheistischen Jdeenkreises: das unbewußte Leben ist als Grund und Quelle des bewußten geschaut, und alle Wesen der Erde sind als
untereinander im Schoße der Natur verwachsen aufgefaßt, bis zu
dem Punkte, wo das Bewußtsein beginnt.
Einer von den Keimen
der Poesie des neuen Jahrhunderts liegt in solch einem kleinen
Gedichte; denn dem zivilisierten Menschen, welchen das vorige Jahrhundert entwickelt und gepriesen hatte, stellte die neue Zeit
den Menschen als Naturwesen im Kreise aller seiner Verwandten, der Vögel und wilden Tiere, der Pflanzen und Blumen, gegen
über.
Das Christentum gebot, alle Menschen zu lieben, der natura
listische Pantheismus, auch das geringste Tier zu lieben.
Hart-
leap-well dürfte unter allem, was Wordsworth geschrieben hat, am 1 Die romantische Schule in Deutschland, S. 138. 1 Wordsworth: Poetical works, 1832, II. S. 16.
4*
52
Die Tief« und Wahrheit de» Naturalismus.
höchsten stehen. ist
Dieses einfache Gedicht — eine Doppelromanze —
eine Fürsprache
von ergreifender Beredsamkeit zu Gunsten
eines armen, preisgegebenen, gehetzten Tieres, eines Hirsches, d. h. eines Gegenstandes,
dem
die
klassischen Dichter
höchstens ein
Küchen-, ein Feinschmeckerinteresse abzugewinnen vermochten, und
den die Bewunderer der Ritterzeit, ja selbst Scott, von chren
Helden zu Hunderten hatten erlegen lassen.
Rührend, trotz seines
bescheidenen Borwurfs, groß und einfach in seinem Stile, giebt
es ein edles Zeugnis von der tiefen Pietät für die Natur, die Wordsworth's Adelsbrief ist.
Diese Pietät ist bei ihm vor allen Dingen Ehrfurcht für das Kindliche und das Kind, und diese Ehrfurcht vor dem Menschen wesen, das in seiner Unbewußtheit der Natur am Nächsten steht,
ist wiederum einer der originalen Züge des neuen Jahrhunderts. In einem kleinen Gedichte, welches Wordsworth an die Spitze
aller seiner anderen stellte, sagte er: Mein Herz jauchzt auf, seh' ich die Lust
Den Regellbogen färben; So war es, da mein Lenz begann,
So ist es jetzt, da ich ein Mann, So sei es, wenn das Alter ruft,
Sonst laßt mich sterben! Das Kind ist Vater für den Mailn — O möchten meine Tage stet
Verknüpft sein durch natürliche Pietät.
Hier ist die Ehrfurcht vor dem Kinde so weit getrieben und so auf die Spitze gestellt, daß sie die Pietät für das Alter ersetzt.
Allein die Einsetzung des Kindes in seine natürlichen poetischen Rechte ist, wie die Erfahrung in allen Ländern lehrt, nur eines
von den vielen Anzeichen der Thronbesteigung der Naivetät in den
europäischen Litteraturen.
„Das achtzehnte Jahrhundert, das seine
Stärke im raisonnierenden Verstände, seinen Feind in der Ein
bildungskraft, in welcher er nur den Bundesgenossen und Leib-
eigenen der veralteten Traditionen erblickt, seine Königin in der
Logik, seinen König in Voltaire, den Gegenstand seiner Poesie und seiner Wissenschaft in dem abstrakten, dem aufgeklärten und gesell schaftlichen Menschen findet, sendet das Kind, das weder gesellschaft
lich, noch aufgeklärt, noch abstrakt ist, aus der Wohnstube hinaus,
weit, weit weg in die Ammenstube,
Märchen, Sagen
wo es nach
Herzenslust
und Räubergeschichten hören mag,
wohl zu
merken, wenn es als erwachsener Mensch bedacht ist, all dies
Unwürdige
zu
vergessen."
In
der
Gesellschaft
zehnten Jahrhunderts tritt der Rückschlag ein.1
des
neun
Wir finden sie
hier mit ihren äußersten Schlußfolgerungen selbst bei einem so wenig naiven Dichter wie Wordsworth.
In einem seiner Sonette
(Poetical works, II, p. 165) schildert er einen Spaziergang, den
er an einem lieblichen Abend mit einem kleinen Mädchen unter
nimmt, malt die milde Abendstimmung, nennt sie „still wie eine Nonne, vor Andacht atemlos", und wendet sich sodann mit den folgenden Worten an das Kind: Lieb' Kind, lieb' Mädchen, das Genoss' mir war: Schien unbewegt von Andacht deine Brust,
Nicht minder göttlich ist darum dein Sein — Du liegst in Abrahams Schoß das ganze Jahr,
Und betest an des Tempels innerm Schrein, Gott ist allstets mit dir. uns unbewußt.
Der theistische Ausgang ist bei Wordsworth obligat, doch, wie dem aufmerksamen Leser nicht mtgehen wird, dem Grund
gedanken von der an und für sich göttlichen Natur des Kindes
nur aufgekleistert.
In seiner, berühmten Ode an die Unsterblich
keit führt er diesen Grundgedanken mit solcher Schwärmerei aus,
daß es selbst einem so weit gehenden Verehrer der Naivetät, wie Coleridge, zu stark erschien.
Er ruft hier einem sechsjährigen Kinde zu: 1 G. Brandes: Moderne Geister. 3. Ausg. S. 296.
54
Vie Tiefe und Wahrheit des Naturalismus.
Du, dessen Äußres die Unendlichkeit Der Seele Lügen zeiht: Du bester Philosoph, der noch umschließt Sein Erbteil, Auge unter Blinden du, Der, taub und stumm, die etv'ge Tiefe liest, Bom ew'gen Geist durchwandelt immerzu, — Du Seher und Prophet, Bei dem als wahr besteht, Was lebenslang wir suchen ohne Ruh! Allerdings erhalten alle diese Aussprüche eine Art poetischphilosophischer Umdeutung, indem die Erhabenheit des Kindes darauf zurückgeführt wird, daß es dem Leben vor der Geburt, und damit
dem Vorzeichen der Unsterblichkeit näher stehe als wir;
doch ist selbst dies, nach der nahezu autorisierten Erklärung Coleridge's, keineswegs als Wordsworth's buchstäbliche Meinung aufzu
fassen.
Das Kind wird als der Pflegesohn der Erde geehrt, und der
Jüngling, der jedoch immer weiter weg vom „Osten" (der Stätte
des Sonnenaufgangs) pilgern muß, ist noch der „Priester der Natur"? In zahlreichen Gedichten kommt Wordsworth auf die Em
pfänglichkeit zurück, die er als Jüngling für jedes Naturschauspiel
besaß.
In einem derselben, das, wie fast alles, was er schrieb,
einen langen, schleppenden Titel hat (Influence of natural Ob
jects, in calling forth and strengthening the imagination in
boyhood and early youth) dankt er dem Weltgeiste, daß er bei ihm von Kindheit auf den Leidenschaften, aus denen unser Seelen leben sich aufbaut, nicht die geringen, niederen Werke der Menschen
zum Ziel gab, sondern erhabene Gegenstände, bleibende Gegen
stände, Leben und Natur.
Also, sagt er, läuterten sich die Elemente seiner Gefühle und Gedanken, bis er eine gewisse Größe (grandeur) in dem Puls
schlage seines Herzens empfand.
1 The Youth, who daily farther from the East Must travel, still is Natures Priest.
Nie Tiefe und Wahrheit de« Naturalismus.
55
Man beachte den feinen, innigen Natursinn in der folgenden
Schilderung: Und nicht war dieser freundliche Verkehr Mir karg gemessen! Am Novembertag,
Wenn Nebel thalwärts rollend, öder noch Die Öde machen; mittags tief im Wald
Hub in der Sommernächte stiller Ruh', Wenn ich am Saum des leis' bewegten Sees Unter den dunkeln Hügeln heimwärts ging,
In Einsamkeit war solche Zwiesprach mein. Mein war sie in den Feldern Tag und Nacht,
Am Wasser auch, den ganzen Sommer lang. Und in der kalten Jahr'szeit, wenn die Sonn'
Jn's Meer getaucht, und durch die Dämmerung Die Hüttenfenster blitzten meilenweit,
Nicht achtet ich der Mahnung. Glücklich war Uns allen diese Zeit; Entzücken gar
War sie für mich!
Die Dorfesglocke schlug
Mit lauten Schlägen sechs — ich stürmte fort Mit stolzer Freude, wie ein muntres Roß, Das sich nicht heimwärts sehnt. — Aus Eisenschuh'n Flogen wir über's blanke Eis im Spiel Gesellt, nachahmend alle Sommerlust Des Waldes und der Jagd — des Hornes Ruf, Der Meute Bellen, das gehetzte Wild.
So schwebten wir durch Frost und Dunkel hin, Und keine Stimme schwieg: im Widerhall Scholl all der Lärm vom Uferhang zurück; Die kahlen Bäum' und jedes eis'ge Riff Klirrten wie Erz: und von den fernen Höh'n Erklang in den Tumult ein fremder Ton
Der Schwermut, leis empfunden, und im Ost Funkelten die Sterne hell, indes im West Das Goldgewölk des Abends sanft verglomm.
Nicht selten schoß aus dem Getümmel ich In eine stille Bucht und stahl zum Scherz Mich seitwärts fort aus der Gespielen Schaar,
Zu kreuzen eines Sternes Wiederschein, Ein Bild, das blinkend auf den glatten Plan Allüberall vor mir entwich; und oft.
Wenn wir uns treiben ließen von dem Wind, Und all' die schatt'gen Ufer rechts und links
56
Die Tiefe und Wahrheit des Naturalismus.
Vorüber glitten durch die Finsternis, Hab' ich urplötzlich in der Sturmesfahrt, Auf meinen Hacken rückgelehnt, den Flug
Gehemmt; doch immer schossen einzeln noch Vorbei die Klippen, gleich als hätte sich Die Erde sichtbarlich vor mir gedreht; Und hinter mir verschwamm der Berge Zug
Schwächer und schwächer, und ich schaute hin,
Bis alles still lag wie ein Sommersee.
Das ist eine Naturmalerei, die auch in späterer Zeit in eng lischer Poesie ihresgleichen sucht.
und
bedeutendsten
Gedichte
Doch in einem seiner schönsten
Tintern-Abbey
hat
Wordsworth
selbst seinen Sinn für Natur in Ausdrücken geschildert, von denen
er später nicht mit Unrecht behauptet, daß sie in den berühmtesten und poetischsten Stellen von Byron's Childe Harold spukten; auf jeden Fall haben sie Epoche in der englischen Dichtkunst gemacht.
Er sagt: Denn nachdem
Die gröbern Freuden meiner Knabenzeit Und ihre muntern Spiele all' dahin, War eins und alles für mich die Natur. —
Ich kann nicht schildern, was ich damals war. Der rauschende Wasserfall bestrickte mich Wie eine Leidenschaft; der hohe Fels, Der Berg, der tiefe, schattendunkle Wald, Ihr Aussehn, ihre Farben waren mir Ein Anreiz, eine Liebe, ein Gefühl,
Das keiner Lockung durch Gedankenreihn Bedurfte, keines Interesses, das Dem Auge nicht entstammte.
Mag es komisch wirken, wenn Wordsworth 1820 Moore
von Byron's Plagiaten aus seinen Dichtungen unterhält und er zählt, der ganze dritte Gesang von Childe Harold gründe sich auf seine Gefühle und seinen Stil, mag immerhin Lord Rüssel
Recht haben, wenn er darauf hin trocken bemerkt, sei Wordsworth
der Urheber des Childe Harold, so sei dies sein bestes Werk — man
Vie Tiefe und Wahrheit des Naturalismus.
57
begreift doch leicht, daß Wordsworth sich des Eindruckes nicht er wehren konnte, die Hauptstellen jenes dritten Gesanges und die
schönen Stellen über die Einsamkeit in den früheren Gesängen ent
hielten nur in antithetischer und gekünstelter Form, was bei ihm ein
fach und natürlich gesagt worden war?
Es ist nicht schwer, die ge
kränkte Eitelkeit eines beschränkten, überstrahlten Geistes in diesen
Ausbrüchen zu erkennen, doch darf man nicht vergessen, daß Words
worth in der That als erster den Akkord angeschlagen hatte, den
Byron mit so überlegenem Talent variierte, noch auch, daß einzelne
besonders
treffende,
lebendige Verse
von Wordsworth Byron
augenscheinlich in Erinnerung geblieben sind.
Wer kann z. B. diese
Zeile aus Childe Harold (dritter Gesang,
72. Strophe) lesen:
„Für mich sind hohe Berge ein Gefühl",
ohne sich der oben angeführten Worte zu erinnern, und wer kann leugnen, daß Byron von Wordsworth jene Stimmung aufnimmt
und bereichert, wenn er singt: Sind nicht Gebirge, Himmelszelt und Wogen Ein Teil von mir, wie ich von ihrem Sein? — Hat Liebe nicht für sie mein Herz durchzogen Mit reiner Leidenschaft?
Während aber Wordsworth in Tintem-Abbey seine Leiden schaft für die Natur als etwas Vorübergegangnes darstellt, das nur einen flüchtigen Augenblick, in einem Übergangsalter währte, um
alsbald in Erwägung gezogen und von der Reflexion beherrscht zu werden,
ist sie bei Byron das bleibende, sein Wesen aus
drückende Gefühl.
Bei ihm ist das Ich in seinem Verhältnis zur
Natur nicht in die theistische Zwangsjacke gezwängt; kein dog
matischer Damm ist zwischen der Natur und ihm errichtet. Er fühlt in pantheistischer Mystik sich eins mit ihr, ohne daß irgend ein
deus ex machina sie zusammenführt.
Die unmittelbare Leidenschaft ist denn auch nicht das BeSiehe Thomas Moore: Memoirs III, 161.
zeichnende für Wordsworth's Verhältnis zur Natur.
Seine Eigen
tümlichkeit in der Auffassung und Wiedergabe der Natureindrücke ist von feinerer, zusammengesetzterer Art.
Der Eindruck wird,
wiewohl mit frischen Sinnen ausgenommen, durch das Grübeln über denselben gedämpft und gemildert. Er stimmt den Dichter nicht unmittelbar zum Gesang.
Wenn
er mit Goethe sagen kann: „Ich singe wie der Bogel singt —
der in den Zweigm wohnet", so ist es zum mindesten kein Sang
wie Nachtigallenschlag, kein reich entquellendes Liebeslied, das vom Rausch der Seele zeugt und der nächtlichen Stille spottet, die es
durchbricht und zerstreut.
Wordsworth hat selbst den Gesang der
Nachtigall mit ähnlichen Worten geschildert (Poems of Imagina
tion Nr. 10); er fügt hinzu: Am selben Tage mir erklang Des wilden Taubers schlichter Sang;
Leis durch die Bäume scholl hervor Sein Lied im Winde an mein Ohr.
Er girrte, girrte, süß zum Sterben, Schwermüttg ernst doch klang sein Werben. Er sang von Liebe, Ruh' entsendend.
Langsam beginnend, nimmer endend,
Boll Treu' und Frohsinn innerlich, Das war das Lied — das Lied für mich!
Wordsworth hat in der Zeile „and somewhat pensively
he wooed" sich selbst schildern wollen.
Nach der Gepflogenheit
so vieler Dichter hat er seine Praxis zur Theorie zu erheben und
zu beweisen versucht, daß alle gute Poesie die Eigenschaften seiner
Dichtung haben müsse.
Alle gute Poesie, sagt er, ist das unwill
kürliche Überströmen mächtiger Gefühle; gleichwohl hat niemand noch ein wertvolles Gedicht hervorgebracht, der nicht nur unge
wöhnliche Gefühlsinnigkeit besessen, sondern auch lange und tief ge dacht hatte.
Der Grund ist seiner Ansicht nach darin zu suchen,
daß erstens der Strom unserer Gefühle stets von unseren Ge-
danken bestimmt und gelenkt wird, wie daß, zweitens, unsere Gedanken selbst nichts anderes sind, als „Vertreter aller unserer
früheren Gefühle" — ein tiefes und glüMches, wenn auch nicht wisienschaftlich befriedigendes Wort, das in treffender Weise sein eigenes poetisches Sinnen und Denken kennzeichnet.
Dasselbe besteht nämlich, genau definiert, darin, den Natur
eindruck aufzusparen und aufzuspeichern, damit er, gleichsam verdaut
und vollauf angeeignet, aus der Vorratskammer der Seele später wieder hervorgeholt und
werden könne.
dann nochmals beschaut und genossen
Wer diese Eigentümlichkeit von Wordsworth recht
erfaßt hat, besitzt den Schlüsiel zu seiner Originalität.
In Tin-
tern-Abbey erklärt er, wie diese stille Aneignung der menschen artigen Stimmungen der Natur im Mannesalter auf die unmittel bare heftige Freude der Jünglingsjahre an der Naturschönheit
gefolgt sei: Jene Zeil ist aus, All' ihre schmerzlichen Freuden sind dahin, Und all' ihr schwindelndes Entzücken. Doch Nicht klag' ich drum. Denn andre Gaben sind
An ihrer Statt gefolgt, für den Verlust
Ein reichlicher Ersatz. Ich hab' gelernt, Auf die Natur zu blicken, nicht wie in Der Zeit gedankenloser Jugend, nein. Erhorchend oft die stille Moll-Musik Der Menschlichkeit, die kreischend nicht und rauh/
Doch stark genug, den Sinn zu läutern und Zu bändigen.
Und eine Gegenwart
Hab' ich gefühlt, die mit der edlern Lust
Erhabener Gedanken mich erregt Ein Wehen, einen Hauch, der alles, was Da denkt, und alles, was gedacht wird, treibt, Und der durch alle Dinge kreist.
1 For I have learned To look on nature, not as in the hour Of thoughtless youth, but Hearing oftentime The still, sad music of humanity Nor harsh, nor grating.
60
Die Tiefe und Wahrheit de» Naturalismus.
Hier hat Wordsworth seine Domäne umschrieben, leise und bestimmt das Gebiet bezeichnet, welches das seine ist. Welcher Gegen
satz zu Byron, der selten oder niemals die menschliche Stimme in der Natur vernahm, sie am allerwenigsten ohne schrillen Mißton klingen
hörte — er, der in Childe Harold sogar das ganze Menschen
leben den „falschen Ton" in dem großen Akkord des Alls nennt.
Noch aber sind wir nicht zu den eigentümlichen Aussprüchen
von Tintern-Abbey
gelangt.
Es
sind
das
die,
in
welchen
Wordsworth das stille Wirken des aufbewahrten, aufgesparten
Natureindruckes auf das Gemüt schildert.
Er sagt:
Diese schönen Formen sind
In der Entfernung langer Zeit mir nicht
Gewesen, was die Landschaft für das Aug' Des Blinden: — oft im einsamen Gemach, Im Lärm der Stadt, in müden Stunden hab'
Ich ihnen seligsten Genuß verdankt, .......................................... Gefühle auch, Bon jetzt vergess'nen Freuden, die vielleicht Den schwächsten und geringsten Einfluß nicht
Auf jenen besten Teil der Lebensthal Des Biedermannes üben: auf die Zahl
Bon kleinen, namenlosen Handlungen Der Güte und der Liebe, deren er
Sich nicht erinnert.
Und er setzt auseinander, daß er diesen Natureindrücken noch
eine andere, erhabenere Gabe verdanke, den glücklichen, heiteren Sinn, welcher den Bürden des Daseins ihren Druck benimmt, worauf er seinen Gedankengang mit der Überzeugung schließt, daß
der genußreiche Augenblick, da er die trauten Stätten wiedersieht, nicht bloß momentanes Vergnügen, sondern Leben und Nähr
kraft für künftige Jahre berge.
Immer und immer kehrt diese Wendung bei ihm wieder. Als besonders charakteristisch kann man das Gedicht Nr. 15 in
den Poems of Imagination anführen, worin der Dichter erzählt,
wie er auf einer einsamen Wanderung an einem See plötzlich ein
ganzes Heer von goldenen Narzissen entdeckte, im Winde schwankend und tanzend, dicht gesäet wie die Sterne der Milchstraße, und in noch
munterer Bewegung als die plätschernden Wellen, die sie
umsäumten. Ich schaut' und schaute — doch mein Sinn
Nicht ahnte dieser Schau Gewinn;
Denn oft, wenn ich gedankenschwer Auf meinem Lager nachts gelegen. Blinkt meinem innern Auge her Ihr lieblich Spiel zu Trost und Segen;
Dann wird das Herz mir leicht und klar Und tanzt mit der Narzifsenschaar.
Nichts kann dem gewohnten Jm-Augenblickleben des lyrischen Dichters entgegengesetzter sein, als dieses Lyrikers bewußtes Auf-
bewahren
des
flüchtigen Augenblickes
zu
künftigem Gebrauch.
Er charakterisiert sich selbst als eine Sammlernatur.
Er speichert
förmlich Wintervorräte von lichten Sommeraugenblicken auf, und
darin liegt etwas Wahres, etwas Allgemeinmenschliches, das allzu
viele Menschm überspringen und versäumen, vor allem aber liegt etwas Nationales hierin: man wundert sich nicht, daß der eng
lische Naturalismus damit beginnt, ökonomisch und haushälterisch sich ein Kapital, ein Lager von Natnreindrücken anzulegen.
Wir alle tarnen die Stimmungen, die hierzu führen können.
Wie mancher von uns hat nicht bei einer weiten, unbegrenzten Aussicht über das blaue, im Sonnenschein glitzernde Meer gefühlt, daß solch ein Natnrschauspiel täglich zu
schauen, die Seele er
weitern und alles Kleinliche aus jedem Winkel derselben hinweg fegen müßte, wie mancher hat es nicht bedauert, die Stätte verlaffen
zu müssen und sich an dm Eindruck geklammert, um willkürlich besten Wirkung erneuern zu tonnen.
Oder man war beim Anblick herr
licher Gegendm, zumal wenn man sich auf Reism befand, mit der
Gewißheit, sich an ihre Schönheit schwerlich so bald wieder todten zu tonnen, bem'ht, sich so passiv als möglich zu verhaltm, um
62 sich
Vie Tiefe unb Wahrheit de» Naturalismus.
das
Instinktiv
Bild
ist
Erinnerung
der
recht
man
oft
zu
einbrennen
zu
Eindrücke
schönen
dem
lassen. zurück
gekehrt, wie die Seele überhaupt unwillkürlich sich zurückflüchtet zu allen lichten Erinnerungen ihrer Bilderreihe, um Kraft und
Lebensmut aus ihnen zu schöpfen. diese bei uns anderen übertäubt.
Allein stärkere Impulse haben
Wir haben sie nicht wie Früchte
für künftige Zeiten einlegen oder sie ewig Wiederkäuen können. Das soziale Leben, das Getümmel der Welt und das Spiel der
Leidenschaften haben es uns unmöglich gemacht, die tiefsten, die uns am meisten inspirierenden Freuden in der Erinnerung an
taubeglänzte Blumen oder einsame, ineinander verwachsene Riesen bäume zu finden.
Anderes trug sich in der Seele des englischen Dichters zu,
der Sinn
seinen für
Lebensberuf alle
darin
sah,
das
Interesse
und
den
jenen elementaren Stimmungen und Eindrücke
neuerdings wachzurufen.
Seine praktisch unthätige Seele vegetierte
in diesen Naturträumereien, und es läßt sich nicht leugnen, daß
diese immer wiederkehrende Beschäftigung mit den einfachsten Ein drücken der Natur seine Seele frei und rein erhielt, um die Schön heit ihrer schlichten und irdischen Formen ohne Phantasterei und
ohne Überreizung empfinden zu können. Wie selten ist diese Gabe!
wie oft fehlt sie nicht den aller
größten, allerbesten Geistern! wie rasch ging sie nicht in der englischen
Poesie wieder verloren! Sie offenbart sich am schönsten und vollsten in den wenigen poetischen Frauengestalten, deren Umrisse Words-
worth in seinen kleinen Gedichten skizziert hat.
Die Helden seiner
erzählenden Dichtungen sind von ungleich geringerem Wert und
teils dazu bestimmt, Interesse für die Landbevölkerung und die
unterm Klassen zu wecken, teils in der Absicht geschildert, eine mora lisierende Wirkung zu üben.
Die wenigen leicht hingeworfenen
Frauengestalten aber, die mit demselben ruhigen und doch ver liebten Blick geschaut sind, mit dem Wordsworth Bäume und Bögel
Die Tiefe und Wahrheit des Naturalismus.
betrachtete, sind ganz Natur.
63
Sie sind die englische Frauennatur
selber, und niemand hat deren Grundlinien mit sichererer Hand zu
treffen gewußt, als er.
Man lese eines dieser keinen Gedichte?
Sie war ein Luftgebild an Zier, Als sie zuerst gelächelt mit; Kin lieblich Wunder, das zur Pracht Für einen Augenblick gemacht; Wie Zwielichtsstern' ihr Augenpaar,
Wie Zwielicht auch ihr dunkles Haar; Doch alles sonst an ihr gewebt Aus Morgenglanz, dem Lenz entschwebt.
Ein tanzend Elfchen, lufterhellt, Das hold verwirrt uitb Netze stellt. Da sah in näherem Bereich
Ich sie, — ein Geist, doch Weib zugleich! Durch's Haus hin leicht und sicher glitt, Jungfräulich rasch, ihr Gang und Schritt;
Ein Antlitz, deß Erinnern süß, Und süßte Zukunft noch verhieß; Ein Wesen, nicht zu gut und licht Für Menschenthun und Alltagspflicht,
Für Lachen, Weinen, Freud' und Schmerz, Lob, Tadel, Liebe, Kuß und Scherz. Und nun seh' ich mit klarem Blick Den Puls in diesem Meisterstück: Ein Dasein, das Gedanken haucht,
Wie sie der Lebenspilger braucht; Verstand und Willen, nie erschlafft, Ausdauer, Vorsicht, tüffge Kraft;
Ein Weib, ein echtes, das den Mann Erquicken, warnen, lenken kann; Und doch ein Geist noch, dessen Welt Ein Strahl von Engelslcht erhellt.
Man hat hier unstreitig ein echtes, naturtreues Musterbild
des englischen Weibes, und man kann Wordsworth einen Triumph dadurch
bereiten,
daß
man
diese
nüchterne,
wahrheitsgetreue
1 Sbe was a phantom of delight. Poet. W. II, p. 13.
64
Bit Tiefe und Wahrheit de» Naturalismus.
Schilderung mit den weiblichen Idealen vergleicht, in deren Zeich nung sich in der kommenden Epoche die größten Dichter Englands
gefielen. Man nehme Shelley's Beschreibung der ätherischen Beschützerin
der Blumen und Insekten in seinem Gedichte „Die Mimose". Das Bild der feenhaften Schönheit ist voll Liebreiz, wie alles,
was aus Shelley's Feder kommt; ihre Zärtlichkeit für die Pflanzen, ihr rührendes Mitleid mit all den häßlichen, verachteten Tierchen,
„deren Absicht,
wiewohl
sie
Schaden
anrichteten,
unschuldig
war", giebt ihrem Elfenwesen menschliche Züge — ein Mensch aber ist sie dennoch nicht, so wenig wie Shelley's „Fee des Atlas"
oder des Epipsychidion undeutliche Heldin.
Shelley war wie die
Lerche, die er besungen hat, ein Verächter der Erde (scorner of the ground). — Oder man nehme die leidenschaftlichen orientalischen
Heldinnen der ftühesten poetischen Erzählungen Byron's, Medora, Gulnare, Kaled!
Jene schöne Einfachheit erreichen sie nicht.
Sie
treten immer nur in höchster Leidenschaftlichkeit auf, ihre Liebe, Hin gebung und Entschlossenheit gehen über alle Grenzen.
Sie sind für
eine Leserwelt gedichtet, bei der das betäubende Stadtleben unter den
Londoner Menschenmassen und die stete Beschäftigung mit den Welt begebenheiten eine Art nervösen Dranges nach den stärksten geistigen
Reizmitteln hervorgerufen hatten.
Doch Wordsworth galt es von
allem Anfänge an als eine schöne, lohnende Aufgabe, den Beweis
zu erbringen, wie tief die Menschennatur, ohne Anwendung grober oder gewaltsamer Stimulantia, erregt, gerührt, erschüttert werden
könnte. Er sah freilich ein, daß der an schreiende Farben Gewöhnte leicht außer Stande sein würde, Werken Geschmack abzugewinnen,
deren Originalität in einem milden, naturtreuen Kolorit bestand;
allein er beschloß, die Ansprüche des Lesers an die Wirkungsmittel einer Dichtung auf die natürliche Spur zurückzuzwingen.
VI.
Man kann unmöglich Wordsworth's poetische Stärke und Be grenzung von Grund aus verstehen, wenn man nicht einen Blick auf seinen Lebenslauf wirst.
idyllisches, beschütztes Leben.
Man findet dann ein ungemein Er wurde im wohlhabenden Mittel
stände geboren (der Vater war Advokat), studierte in Cambridge,
machte Reisen, kam zurück und erbte schon 1795 von einem Be wunderer seines Genius 900 Pfund, welche neben seinem Anteil
der Summe
an als
einen
bezahlte,
dem
von 8500 Pfund, die
verstorbenen
Vater
ein Lord der Familie
geschuldeten
den Dichter in den Stand setzte
einem Fache widmen zu müssen.
Betrag
aus
zu leben, ohne sich
1803 heiratete er, 1813 siedelte er
sich in Rydal-Mount an den „Seen" an.
Er hatte eine Sinekure
als Stamp-Distributor mit 500 Pfund Jahresgehalt von 1813 bis 1842 inne, wo er sie zu Gunsten eines seiner Söhne aufgab.
1843 folgte er auf Southey als Poet-laureate, und bezog als solcher eine Regierungspension von 300 Pfund jährlich bis zu seinem Tode,
der erst 1850 eintrat, als er eben sein achzigstes Jahr vollendet
hatte.
Von allen Seiten
gegen die äußeren Wechselfälle des
Lebens gesichert, betrachtete er dieselben mit protestantisch-philo-
sophischem Blick. Ein Leben wie dieses war nicht danach angethan, die Leiden schaft anzufachen; sie ist denn auch weder in seinem Leben noch
in seiner Poesie vorhanden.
In der Lebensgeschichte anderer her
vorragender Poeten pflegt irgend ein gewichtiger biographischer Brander, Litteratur der 19. Jahrh. IV.
5
66
Landleben und Schilderungen vom Lande
Umstand vorzukommen, ein oder mehrere Wendepunkte, eine oder die andere historische Quelle der Melancholie, oder der Charakter
stärke, oder der Fruchtbarkeit; bei Wordsworth ist nichts dergleichen
zu entdecken.
Kein angeborenes Unglück lähmte ihn, kein Angriff
auf Leben und Tod stachelte ihn an und drückte seinem Geiste den
Stempel auf.
Gewiß, die Kritik verhöhnte und verspottete ihn und zwar lange genug: von 1800—1820 ward seine Poesie mit Füßen getreten,
von 1820—1830 war sie im Kampfe begriffen, nach 1830 wurde sie
allgemein anerkannt.
Allein der Widerstand war nicht albern und
heftig, der Kampf nicht heiß, der Sieg nicht glänzend genug, um seinem Leben Farbe und Glanz zu verleihen, oder es zum Vorwurf für Gesänge werde» zu lassen.
Sein intimstes persönliches Leben
war also nie ein so starkes und energisches, daß es hätte seine Poesie aufsaugen oder ihr Stoffe bieten können.
Es führte ihn im Gegenteil dahin, den Blick nach außen zu
kehren.
Die auswärtigen Kämpfe, die umgebende Natur und die
kleine unansehnliche Menschenwelt, in der er lebte, erfüllten ihn
ganz und gar.
Er war nicht, wie Byron, zu sehr von seinem Ich
erfüllt, um nicht mit Gemütsruhe bei dem Kleinen und bei bett Geringen zu verweilen, die er mit Milde und Mitleid darstellte
und beschrieb.
Allerdings fühlte er sich als den Mittelpunkt seiner Welt. Aus seinem idyllischen, abgeschiedenen Heim gingen von Zeit zu Zeit
Bändchen mit Gedichten oder größere Dichtungen hervor, begleitet mit erläuternden Vorreden, die an der Hand einer langen Reihe von Beispielen den Leser darüber austlärten, daß alle großen Dichter
verkannt und von ihren Zeitgenosien verschmäht worden, daß jeder Schriftsteller, wofern er groß und originell sei, sich selbst die Ge
schmacksrichtung schaffen müsse, die seiner Werke sich erfreuen könne,
und daß seine Vorgänger ihm zwar hinsichtlich alles dessen, was er mit ihnen gemein habe, die Bahn gebrochen und geebnet hätten,
daß er aber in allem, was ihm selbst eigen, sich in der Lage be
finde, wie Hannibal inmitten der Alpen.
(Vorrede von 1815.)
Er wußte wohl, daß ein bahnbrechender Geist nur von jenen Zeitgenossen, die jünger als er selbst sind, volle Anerkennung er
warten kann. Allein die Kritik, die nicht ungestüm genug gewesen, um ihn kriegerisch und rücksichtslos wie Byron zu machen, machte ihn
selbstgefällig und arrogant.
Die Abwechslung seines Lebens be
stand darin, im Schoße seiner bewundernden Familie die zufälligen
Besuche solcher Bewunderer zu empfangen,
welche
gelegentlich
einer Fußreise nach der Gegend sich mit Empfehlungsbriefen an
ihn versehen hatten.
Auf eine kalte, würdevolle Weise unterhielt
er sich mit ihnen und verletzte sie nicht selten durch die Eigen liebe, mit der er unablässig seine eigenen Werke pries, anführte,
vortrug, die Gleichgültigkeit, die er für alles andere bekundete, die peinliche Strenge, mit der er von seiner Umgebung jedes sichtbare Zeichen der Ehrfurcht forderte, und den Eifer, womit er sogar
das
unbedeutendste Wort wiederholte, das zu seinem Lobe ge
sagt worden war. Es
haben
sich
eine Menge,
illustrierender Anekdoten erhalten.
sein Selbstgefühl schlagend
Thomas Moore erzählt (Me-
moirs III, 163), daß Wordsworth eines Tages, als er bei Lord
Dawy zu Mittag speiste, plötzlich, ohne daß auch nur ein Wort
gefallen wäre, welches auf diesen Gegenstand führte, über den
Tisch hinüber rief: „Dawy, wissen Sie, warum ich „Das weiße Reh von Rylstone" in Quart drucken ließ?" geschah dies?"
halte."
An
„Nein!
weshalb
„Um der Welt zu zeigen, was ich selbst davon
Wordsworth las nie andere Werke vor als seine eigenen.
dem Tage,
an
dem
Walter
Scott's
„Rob
Roy"
mit
einem Motto aus Wordsworth's Gedicht „Rob Roys Grab" er schienen war, weilte Wordsworth eben bei einer Familie, welche
auf den Inhalt des Romans, der ihr zugesendet worden, sehr gespannt war.
Er nahm den Band zur Hand, und man erwartete, er
5*
werde die ersten Kapitel vorlesen; statt dessen aber ging er zum Bücherschrank,
holte
einen Band seiner eignen Werke
und las sein Gedicht der Gesellschaft vor.
heraus
Emerson hat uns Auf-
zeichnungen aufbewahrt, die er unmittelbar nach zwei Besuchen bei Wordsworth,
zwischen denen Jahre liegen, notiert hat.
Nach
dem zweiten schreibt er: „Er hegte eine nationale Bitterkeit gegen
die Franzosen, eine nicht geringere gegen die Schotten; kein Schotte
könne
englisch schreiben. . . Seine Ansichten über Franzosen,
Engländer, Irländer und Schotten scheint er sich in aller Ge
schwindigkeit nach kleinen Geschichten gebildet zu haben, die ihm selbst oder Mitgliedern seiner Familie in einer Diligence oder einem
Postwagen begegnet sind." —Nach seinem ersten Besuche (1833)
schreibt er: „Wordsworth brachte seinen Lieblingsgegenstand aufs Tapet, daß die Gesellschaft durch oberflächliche Kultur, ohne alle
Rücksicht
auf
die
moralische
Schulen nützten nichts.
Bildung,
aufgeklärt worden sei.
Der Schulmeister sei nicht Erziehung . ..
Er möchte mich und alle guten Amerikaner zu der Ansicht bekehren,
daß die Moral, das konservative Element u. s. w. kultiviert werden müssen . . . Er schimpfte und schalt
auf „Wilhelm Meister".
Derselbe sei voll von aller Art Unzucht.
Fliegen in der Lust paarten.
Es sei, als ob sich
Er sei nicht über den ersten Teil
hinausgekommen und habe das Buch bei Seite geworfen, so empört
sei er gewesen ... Er citierte sein Sonett „Gefühle eines hoch herzigen Spaniers", das er unter allen am höchsten stellte, dann
„Die zwei Stimmen", und sagte seine Verse „An die Lerche" her." Man hat Wordsworth voll und ganz, wie er im täglichen Um
gänge ging und stand in diesen Augenblicksbildern: Die höhnischen Urteile
moderne
über
alle
Kultur
ftemden —
Völker,
der
den
die
derselbe,
Einwand
gegen
Muhamedaner
die noch
heuügen Tags beständig gegen sie zur Hand haben — daß sie sich nämlich mit großer Unsittlichkeit vereinigen lasse, die Verherr
lichung der herkömmlichen Moral als des konservativen Elementes
Landleben und Schilderungen vom Lande.
69
(die wahre Moral ist das radikalste Element, das es giebt), die an Novalis erinnernde Entrüstung über Goethe, und endlich die
Citate aus seinen eigenen Poesien als Finale!
Emerson faßt seine Eindrücke in folgende Worte zusammen:
„Sein Antlitz hellte sich einige Male auf, im übrigen zeichnete sich das Gespräch nicht durch besondere Kraft oder besonderen
Schwung aus: Wordsworth ehrt sich selbst durch seine schlichte Wahrheitsliebe, allein man staunt über die engen Grenzen seiner Gedanken.
Einem einzelnen Gespräch nach zu schließen, machte er
den Eindruck eines beschränkten, echt englischen Geistes, der die seltenen Stunden der Begeisterung mit der Prosa der andern
bezahlte." 1843 traf Wordsworth zum ersten Male mit Dickens zu
sammen.
Wordsworth hegte eine ungemeine Verachtung gegen alle
jungen Leute, und der gemeinsame Freund, bei dem die Begegnung
stattgefunden
hatte,
war
daher begierig zu erfahren,
Eindruck der große Humorist auf ihn gemacht habe.
welchen
Nachdem er
in der ihm eigenen Weise den Mund verzogen und die Beine so
übereinander geschlagen hatte, daß die nackten Knöchel über den Socken hervorschauten, erwiderte er gedehnt:
„Oh, ich bin nicht
sehr geneigt, mich gegen die Leute, die ich treffe, kritisch zu ver halten, doch da Sie mich nun einmal danach fragen, so will ich aufrichtig gestehen, daß er mir ein recht geschwätziger, recht ge
wöhnlicher junger Mensch zu sein scheint — übrigens mag er ja recht tüchtig sein.
Verstehen Sie mich recht, es liegt mir fern, auch
nur ein Wort gegen ihn sagen zu wollen, denn ich habe nie eine
Zeile
seiner
Schriften
gelesen."
Einige
Zeit
darauf
richtete
der gemeinsame Bekannte diskret die Frage an Dickens, wie ihm
der Laureat-Poet gefallen habe. Dickens.
„Nicht im geringsten.
„Er mir gefallen?" antwortete
Er ist ein schauerlicher alter Esel."'
1 Like him! Not at all. He is a dreadful old ass. R. 8. Mackenzie: Life of Dickens.
Der Leser wird ein so absprechendes Urteil sicherlich nicht unterschreiben.
So viel aber steht fest, daß Wordsworth im per
sönlichen Umgänge die Geduld ungemein auf die Probe gestellt
haben muß.
Wenn er sprach, sagt einer seiner Zeitgenossen,
arbeitete er wie ein Walfisch und verkündete Truismen im Orakel
ton.
Das Wort Truismus (Wahrheit, die zu wahr ist, als daß
man sie auszusprechen brauchte) ist für mehr als seine mündliche
Produktion bezeichnend. Seite seiner Poesie.
Es trifft die ganze betrachtende, belehrende
In ihr liegt keine besondere geistige Krast
oder Leidenschaft, sondern ein Hamletsches Verweilen bei den großen
Fragen von Sein oder Nichtsein, Geburt, Tod und Zukunst; die Leiden und Sünden des Menschen hieniedm und seine Hoffnung auf ein künftiges Leben, der geringe Umfang unseres ganzen Wissensbereiches und das mit Bangen erfüllende Verhältnis, in
dem wir zu der Welt des Übernatürlichen stehen — das sind, wie Masson sagt1, die steten und unvermeidlichen Gegenstände der
Betrachtung und Sorge für den Menschen im allgemeinen und für Wordsworth im besonderen.
Allein diese Gedanken bewegen
sich unglücklicherweise, da sie nicht dem Mittelpunkte, sondern der
äußersten Peripherie unseres Wissens angehören, ans Bahnen, die nirgends hmführen, auf alten ausgetretenen, von tiefen Gleisen durch
furchten Wegen, die sich im Kreise bewegen, und welche man mit ruhiger, würdiger Melancholie, doch ohne Nutzen oder Gewinn
für sich selbst oder andere, befahren
kann.
Daß sich Words
worth immer wieder hinaus begiebt an diese Peripherie unseres
Wissens, welche Anhänger der positiven Religionen als den natür lichen Mittelpunkt unserer
Gedanken betrachten, hat mehr als
alles andere dazu beigetragen, daß sein Ruf, so groß er auch in England ist, nie sonderlich weit über die Grenzen seines Landes
zu dringen vermochte.
1 Siehe Masson: Wordsworth, Shelley, Keats and other essays.
Als Coleridge Wordsworth persönlich kennen lernte, hatte dieser bereits genug veröffentlicht, so daß man sich ein Urteil über
die Beschaffenheit seiner Originalität bilden konnte.
Was Cole
ridge an Wordsworth's Poesie rührte, das war die Vereinigung von tiefem Gefühl mit dem, was ihm als tiefer Gedanke er schien, das feine Gleichgewicht zwischen Treue in der Beobach
tung und Einbildungskraft in der Umgestaltung des Beobachteten,
vor allem aber die Gabe, den Hauch einer idealen Welt über Gestalten, Zustände, Verhältnisse und Vorgänge zu verbreiten,
welchen die Gewohnheit
alles Interesse für das gemeine Auge
benommen hatte.
Wordsworth's und Coleridge's erste Gespräche drehten sich
um das, was sie
als die beiden Hauptpunkte der Poesie er
achteten, das Vermögen,
die Teilnahme des Lesers durch echte
Naturwahrheit zu erwecken, und das Vermögen, durch die um
stimmenden Farben der Einbildungskraft das Interesse der Neuheit
einzuflößen. Der plötzliche Reiz, den Auge und Seele bei dem Lichtund Schattenspiele in der Natur empfinden, das neue zauberhafte Aussehen, welches Mondschein oder Sonnenuntergang einer längst
gekannten Landschaft verleihen können, schienen ihnen für die Mög lichkeit einer Versöhnung der beiden Elemente zu bürgen.
Hier
hatte man ja die der Natur eigene Poesie, es galt nur, sie wieder
zu erzeugen.
Sie wollten nicht direkt die Natur, sie wollten die
Poesie der Natur nachahmen. Sie
beschlossen
eine Reihe
welche zwei verschiedenen
ersten
sollten Handlung
von Dichtungen zu schreiben,
Kunstgattungen
angehörten.
In
der
und handelnde Personen übernatürlich
sein, und der angestrebte Vorzug in der dramatischen Wahrheit der
Schilderung solcher Gemütsbewegungen liegen, welche die Situation naturgemäß begleiten würden, wenn sie reell wäre.
Und reell
in diesem Sinne war sie ja doch für jeden Menschen, der jemals,
gleichviel auf Grund welcher Illusion, unter übernatürlicher Ein-
72
Landleben und Schilderungen turnt Lande.
Wirkung zu stehen glaubte.
Die Ausführung dieser Aufgabe fiel
Coleridge zu, und es läßt sich wohl kaum bezweifeln, daß auch er es war, der sie stellte.
Jeder in der europäischen Litteratur
einigermaßen bewanderte Leser wird sofort erkennen, in welch naher
Verwandtschaft sie zu den Aufgaben steht Romantik sich stellte und löste.
welche die deutsche
Eigentümlich englisch ist es aber,
daß der Nachdruck hier nicht auf das Übernatürliche und Phan tastische, sondern auf die Naturwahrheit gelegt wird, so daß die
Romantik hier nur eine der Formen des Naturalismus bildet. In der zweiten Dichtungsart sollten die Stoffe aus dem
Alltagsleben geschöpft werden. Wordsworth aber, dem diese Gruppe zufiel, nahm sich vox, den einfachsten, natürlichsten Begebenheiten einen Schimmer von etwas Außerordentlichem, Neuem, ja Über
natürlichem
dadurch
mitzuteilen,
daß
er
das
Gemüt
seinem
Gewohnheitsschlummer entriß und es zwang, sich auf die Schön
heit und die Wunder zu richten, welche die wirkliche Welt unbeachtet vor dem Meuschengeiste entfaltet.
Er machte den Versuch zum
erstenmal in den „Lyrischen Balladen", welche die Vorrede als
ein „Experiment" bezeichnete, ob nämlich Gegenstände, die ihrer Natur nach sich nicht zu „ausschmückender" Behandlung eigneten,
nicht dennoch, wiewohl in der Sprache des täglichen Lebens vor getragen, zu interessieren vermöchten, und er setzte später den Ver
such in Hunderten von Gedichten höchst ungleichen Wertes fort,
deren Helden und Heldinnen samt und sonders den unteren und
untersten, in ländlichen Beschäftigungen ausgewachsenen Volks schichten angehören und im Rahmen des ländlichen Lebens darge
stellt sind. In der dänischen Litteratur findet man keine derartige Gruppe
von Dichtungen.
Hingegen wird derjenige, welcher Wordsworth
mit Aufmerksamkeit studiert,
dann und wann auf eine Form
der poetischen Anekdote und einen Erzählerton stoßen, welche an Runebergs „Fähnrich Stahl" erinnern.
Selbst im Rhythmus und
Metrum kommen hie und da leise Anklänge vor; es wäre interessant, zu erfahren, ob Runeberg den englischen Dichter überhaupt ge kannt hat; vielleicht rührt die ganze schwache Ähnlichkeit nur daher,
daß die Begebenheiten sich bei beiden beständig innerhalb derselben eng begrenzten Örtlichkeit abspielen, in der Umgebung der eng lischen wie in der Umgebung der finnischen Seen.
zwischen ihnen ist jedenfalls außerordentlich groß.
Der Unterschied Bei Runeberg
der kriegerische Hintergrund und Ton, der flammende lyrische Stil, die begeisterte Vaterlandsliebe, bei Wordsworth das Stillleben in
ländlichem Frieden, die rein epische Haltung und der vollständige
Kirchturmpatriotismus, die Liebe zu dem Thun und Treiben in etlichen Kirchspielen.
Bei Runeberg die Begeisterung des Soldaten
für das Heer, bei Wordsworth die Fürsorge des Dorfpfarrers für die Gemeinde.
Ein dänisches Gedicht giebt es indessen, das in ganz über
raschender Weise an Wordsworth's Ton und Stil erinnert, nur daß es weit dramatischer ist, als alles, was er je geschaffen hat.
Es ist „Der Obsthändler" von Henrik Hertz.
Dieses Gedicht steht
merkwürdig vereinzelt unter den Poesien von Hertz da, so vielerlei Saiten sie auch anschlagen.
Dessen Held ist wie geschaffen, von
Wordsworth behandelt zu werden; die Gabe zu rühren ohne zu
verherrlichen ist ganz die Sache des Meisters der Seeschule. Selbst verständlich zeigt es nicht jene Eigentümlichkeit, an der gerade Wordsworth als solcher kenntlich wird, und die er selbst als die Kunst bezeichnet,
dem
Alltäglichsten einen
fast
übernatürlichen
Glanz zu verleihen. Ein Gedicht, ein nichts weniger als vorzügliches, das aber
unstreitig zu seinen bezeichnendsten Gedichten gehört, Resolution
and Independance nämlich, liefert ein Beispiel, wie er dabei verfährt.
Der Dichter schildert seinen Spaziergang an einem
Sommermorgen, das Glitzern des Taues, den Gesang der Vögel, die Flucht des Hasen über die Felder; er denkt daran, daß er
selbst unbedachtsam wie die Tiere des Feldes und die Vögel des Waldes gewesen, und wie sehr solch ein Leben sich rächen könne. Es fällt ihm ein, daß viele bedeutende Dichter in Elend und Not
endeten, und höchst prosaische Sorgen in Bezug auf die Zukunft drücken sein Gemüt.
Da erblickt er plötzlich in dieser einsamen
Gegend in einiger Entfernung einen alten Mann: Er schien der älteste Mann, der graues Haar je trug. Wie einen ries'gen Stein man wohl gesehn Auf einer Berghöh' lagern, sichtbar weit,
Ein Wunder allen, die ihn jetzt erspähn, Wie er dahin kam und zu welcher Zeit,
Daß Leben fast ihm unser Sinn verleiht, Als wär's ein Seetier, das hinauf einst kroch, Sich nun zu sonnen dort auf hohem Felsenjoch: So schien der Mann bei seiner Jahre Last
Nicht lebend ganz, noch tot, noch schlafentrafft; Gekrümmt sein Leib, und Haupt und Füße fast Begegnend sich auf langer Pilgerschaft, Als hätte peinvoll wilder Schmerzen Kraft
Und Siechtum, in verschollner Zeit gehegt, Ein mehr als menschliches Gewicht ihm auferlegt.
Reglos wie eine Wolke stand der Greis, Die nicht der lauten Winde Toben hört, Doch regt sie einmal sich, ringsum die Ruhe stört.
Wie genial hier das Doppelgleichnis ist, und wie mystisch es wirkt!
Der Greis gleicht dem ungeheuren Stein auf der
Höhe, und dieser Stein wieder sieht so gewaltig aus, daß er
wie ein Seetier heraufgekrochen zu sein scheint.
Mit seltener
Kraft ist hierdurch der Eindruck des hohen Alters gegeben.
Alte schien „der älteste Mann", der je gelebt.
Der
Befänden wir uns
in Deutschland oder auf dem Boden der Romantik, wir würden nicht erstaunt sein zu erfahren, daß wir hier den Schuhmacher
von Jerusalem vor uns hätten. Wordsworth's Führung.
Allein wir sind in England unter
Es zeigt sich denn auch, daß der alte
Mann ein in hohem Grade gewöhnliches menschliches Wesen ist,
Egelsammler von Profession, eine Profession, die für alte, schwache
Leute in einer wasserreichen Gegend paßt.
Die zuversichtliche,
gottergebene Rede des alten Mannes, seine heitere Ruhe, selbst in der äußersten Einsamkeit und Armut,
beruhigen den jungen
Dichter in seiner Furcht vor der Zukunft, und er beschließt, so oft ein solches Bangen sich seines Gemütes bemächtigen sollte, des alten Egelsammlers zu gedenken.
„Dies ist kein Odenflug", wie
Johannes Ewald irgendwo sagt, doch es giebt einen guten Begriff von der Wordsworth eigenen Gabe, dem alltäglichsten, naturalistischsten
Stoffe durch die Art der Behandlung ein gewisses phantastisches, großartiges Gepräge zu verleihen.
Dieses Streben hat
in nicht wenigen von Wordsworth's
Gedichten sich selbst karikiert, überall nämlich, wo bei ihm eine mystisch-religiöse oder grauenvolle Wirkung durch ein einfach un
heimliches oder außergewöhnliches Ereignis verursacht wird, das er mit der Wirkungskraft des sogenannten Übernatürlichen aus
stattet.
Es ist höchst pueril, wenn in dem Gedichte The Thorn
ein Erzähler (dessen Stand und Verhältnisse nicht näher angegeben sind, den sich aber Wordsworth, wie er selbst zu Coleridge äußerte, als einen alten, pensionierten, völlig faseligen Schiffskapitän ge
dacht hatte) mit einem ekstatischen Grauen, als handele es sich
um eine Gespenstergeschichte, von einem armen irrsinnigen Mädchen berichtet, das nachts in einem hochroten Kleide unter einem Dornen
busch sitzt und wehklagt.
Und geradezu parodistisch wird diese
Richtung in Wordsworth's, dem Publikum in so anspruchsvoller
Form vorgelegtem „Peter Bell", einer Dichtung, die ohne Shelley's Satire
gleichen
Namens
sicherlich
vollständig
vergessen
wäre.
Hier führt nämlich das Entsetzen eines rohen, grausamen Gesellen über die übernatürliche Standhaftigkeit, mit der ein armer Esel lieber die schrecklichsten Prügel erduldet, als daß er sich von der
Stelle
rührt,
im
Verein
mit
einer
von der
Dunkelheit
er
hitzten Phantasie die moralische Bekehrung des Gesellen herbei.
Die
des
Beharrlichkeit
Esels
hatte,
wie
sich
herausstellt,
ihren Grund darin, daß sein Herr, an der Stelle, wo er stand, in das Wasser gestürzt war; er wollte die Aufmerksamkeit darauf
Die moralische Größe des Esels steht daher hier in
hinlenken.
glänzendem Gegensatze zu der Eselei des Mannes, und Wordsworth, dem aller Sinn für das Komische abging, unterläßt nicht, diesen Gegensatz hervorzuhebm.
Und das ist kein Zufall, sondern ein Charakterzug.
Die neue
Schule fühlte in ihrem Haß gegen das Blendende und in ihrer
Vorliebe für das Schlichte, Einfältige sich zu den Eseln, diesen
(tätigen, geduldigen, besonders verkannten Geschöpfen der Natur,
die von minder genügsamen Tieren ständig überstrahlt werden, allen
Ernstes hingezogen. Coleridge ließ sich in seinem bekannten Gedichte „An einen jungen Esel, als man seine Mutter in seiner Nähe an pfählte", sogar zu dem warmen Ausruf „Ich grüße dich als Bruder!"1
und zu dem philantropischen Wunsche hinreißen, in einer besser ein
gerichteten Welt, wo größere Gleichheit herrsche, dem Esel einen friedlichen Weideplatz schenken zu können — dann würde dessen
frohes Wiehern seinem Ohre schöner klingen, als die süßeste Musik. Es kann nicht Wunder nehmen, daß der Spottvogel Byron diesen
Brudergruß English
sofort
bards
aufgriff
and
und
sich
cotch reviewers
in seiner ersten Satyre
darüber
lustig machte.
Coleridge war indes dieser extreme Naturalismus nicht in Fleisch und Blut übergegangen, und er war selbst der erste, seine Überspannt heit zu belachen. Wordsworth hingegen, der zur Konsequenz veran
lagt und zugleich streitbaren Sinnes war, trieb als Dichter dm rein litterarischen Naturalismus zu dessen letztm, äußersten Konsequenzen.
Er wählte sich fast durchgehends Stoffe aus dem Leben der
Landbevölkerung und besonders der unteren Volksschichten, und zwar nicht wie die Franzosen des vorigen Jahrhunderts, um, selbst ge schliffen und gebildet, das Ungeschliffene als Kontrast und mit einem
1 Innocent fool! thou poor despised forlorn!
I bail thee brother.
Gefühl der
Überlegenheit
zu
genießen,
sondern
weil
er
der
Meinurg war, daß die wesentlichen Leidenschaften des Herzens bei diesen Klassen ein besseres Erdreich fänden und zu größerer
Reife gediehen, als bei den Gebildeten, ferner weil sie, die einem geringeren Zwange unterlagen, eine schlichtere Sprache redeten.
Er mente, daß die Grundgefühle des Menschenherzens bei dem Landbewohner einfacher und elementarer hervorträten und daher leichter beobachten ließen, als im Stadtleben.
endlich überzeugt,
daß
das Zusammenleben
mit
den
sich
Er war schönen,
bleibenden Formen der Natur, im Verein mit dem Gepräge des Notwerdigen, ©tätigen der ländlichen Beschäftigungen, alle Ge
fühle lauernder und stärker machen müßte.
Man findet sonach
hier, in der Geburtsstunde des Jahrhunderts, den Keim zu der
mehr als fünfzig Jahre aufrecht erhaltenen, weitverzweigten, von Land zu Land sich verpflanzenden ästhetischen Grundanschauung,
die in Deutschland, Frankreich und Skandinavien zur Bauern poesie und Dorfgeschichte,
in
manchen Ländern zu besonderer
Verherrlichung der Sprache des Volkes führt. Indem man botanisch
diesen Keim zerlegt, lernt man die Naturgeschichte der Pflanze aus dem Grunde kennen. Wordsworth's Ausgangspunkt ist rein topographisch.
Die
Ortsbeschreibung im weitesten Sinne des Wortes ist ihm noch mehr als
Scott
eigentümlich.
Seine
Lebensaufgabe
bestand darin,
englische Natur und englische Naturen so zu schildern, wie er sie
von Argesicht zu Angesicht kannte.
Und da er nur das schildern
wollte, womit er unbedingt vertraut war, so gelangte er zu dem
Schluß es sei eine Notwendigkeit für jeden Dichter, sich ständig an einen Meck Erde zu binden, und verknüpfte seinen Dichternamen
mit dm Seen Nord-Englands, beren Umgebung durchweg die
Szenerie seiner Dichtung bildet.
Ja, er ging so weit, die Heimat
eines leben als die Stätte zu bezeichnen, die sich am besten zum
Schamlatze seiner Thätigkeit für das ganze Leben eigene.
jtanbltlen und Sdjilberungrn vom Lande.
78
So ward er ein ausschließlich englischer Naturmaler, so kam es, daß seine Schilderungm ein rein lokales Interesse erhielten. Der berühmte englische Kunstkritiker John Ruskin hat Wordsworth mit Recht den
raumes
genannt.
großen poetischen Landschaftsmaler jenes Zeit Während Byron immer und immer wieder
der Heimat entfloh, um
Griechenlands, um des Morgenlandes
Natur mit fremden und glühenden Farben zu schildern; während
es Shelley vor dem Klima Englands als einem totbringenden für seinen zarten Körperbau schauderte, und er stets aufs neue
Italiens Küsten und Flüsse verherrlichte; während Scott Schott land besang, und Moore nimmer müde wurde, die Schönheit des grünen Erin zu preisen, stand Wordsworth allein als Bollblut
engländer da, tief im Lande wurzelnd und mit dessen Grund und Bodm selber, gleich einer alten Eiche, mit tausend Fasern ver wachsen. Sein Ehrgeiz war, ein echt englischer beschreibender Dichter
zu sein.
Wenn er sich also in die Gegend verüefte, wo er zu
Hause war, Spaziergänge, Segelfahrten machte, in die Kirche
ging und Besuche von Bewunderern empfing, so geschah dies mit der allerumständlichsten Kenntnis des Lebens der unteren Klassen dort in der Gegend, wie des ländlichen Lebens überhaupt.
Er
hat denselben Blick dafür wie ein guter, würdiger, englischer Land
prediger von der Art, wie er ihn selbst in der „Exkursion" ge schildert hat.
Seine Spezialität sind alle die gewöhnlichen Kirch
spielbegebenheiten und Kirchspielunfälle, die in einer ländlichen Gegend
in England sich ereignen: die Rückkehr eines längst verschollenen Pfarrkindes in die heimatliche Gegend, wo es sein Häuschen ver
schwunden und die Namen aller seiner Lieben auf dem Kirchhof
findet (The brothers); das Schicksal eines armen, verführten und verlassenen Mädchens (Ruth); der nächtliche Ritt eines idiotischen Kindes, das, nach dem Arzt geschickt, sich auf dem Wege verirrt (The
idiot boy); das überraschende Abenteuer, das ein kleiner blinder Knabe, ohne zu Schaden zu kommen, bestand (The blind Highlandboy);
der Kummer eines alten vortrefflichen Vaters über seinen mißratenen Sohn (Michael); der klägliche Hang eines in der ganzen Gegend
beliebten Postillons zu einem kleinen Schwips, und seine darauf hin erfolgte Entlassung (besungen in vier Gesängen, unter dem
Titel The waggoner).
Das einzige Unenglische in der Art und Weise, wie diese Begebenheiten, selbst die leichteren und lustigeren, berichtet werden, ist der völlige Mangel
an Humor in der Darstellung.
Statt
des Humors hat Wordsworlh, wie Masson sich trefflich ausdrückt, „ein hartes wohlwollendes Lächeln".
Doch tief und bewegt ist
zur Entschädigung dafür das Pathos, womit er die tragischen oder
ernsten unter diesen einfachen Lokalgeschichten erzählt.
Besitzt dies
Pathos in all seiner Reinheit und Echtheit keinen pythisch-bebenden
oder modern glühenden Charakter, so wirkt es um so stärker auf die Mehrzahl des Menschengeschlechtes, die den Dichter sich lieber
nicht allzuhoch über ihr Niveau erheben sieht und das Wohl thuende, Heilende der Sympathie empfindet, der es entquillt.
Es
ist das eine Sympathie, welche der des Priesters oder des Arztes gleicht, und welche, obschon weniger sanft als professionell, durch ihren vollendeten Ausdruck ergreift. Nirgends
wohl giebt dieser Ausdruck sich schöner als in
Gedichten, wie „Simon Lee" oder „Der alte Bettler von Cumber
land".
Ersteres ist eine Anekdote von einem Jäger, der, in
seiner Jugend der flinkeste mit Horn und Hund, zu Fuß und zu
Roß,
Dichter
nun
eines
so
altersschwach
Tages
nur
wie das Ausgraben einer
mit
geworden Mühe
ist,
eine so
daß leichte
ihn
der
Arbeit,
morschen, faulen Baumwurzel, ver
richten sieht. „Zu schwer für Euch ist's, guter Mann," Sprach ich, „gebt mir den Karst zur Hand!"
Und frohen Blickes nahm er an Die Hilf', ihm zugewandt.
80
Landleben und Schilderungen uom Lande.
Ich hieb — ein einziger Schlag, da flog Die Wurzel aus der Erde, An der der Alte sich so lang
Geplagt mit viel Beschwerde.
Bon Thränen ward sein Auge naß, Und Dank und Preis gesprudelt kam
Aus seiner Brust so stürmisch, daß
Es schier kein Ende nahm. —
Ungüt'ge Herzen haben oft, Gutthaten kalt empfangen; Ach, öfter ließ der Menschen Dank Mich wehvoll trüb erbangen?
Wenige Dichter haben eine so schöne Pietät wie Wordsworth für die ohne eigene Schuld Unnützen, die demutsvollen Venerabilia der Menschheit, bewiesen.
von ein leuchtendes Beispiel.
„Der alte Bettler" giebt hier Wordsworth schildert, wie dieser
Mann, v oit allen gekannt, in der Gegend von Haus zu Haus
wandert: Bon Kind auf kannt' ich ihn, da war er schon So alt, daß er mir jetzt nicht älter scheint.
Er wandert fort, ein einsam müder Mann; So hilflos ist sein Ausseh'n, daß vor ihm
Der müßig schweif'nde Reiter sorglos nicht Die kleine Gabe hin zur Erde wirft,
Nein, anhält — sicher in des Alten Hut Das Geld zu legen; und auch dann noch stets, Wenn er dem Roß die Zügel schießen ließ,
Bon seitwärts her und halb zurückgewandt, Zum Bettlergreis hinüberblickt. Die Frau Am Schlagbaum, wenn sie Sommers vor der Thür Ihr Spinnrad dreht und auf dem Straßendamm Den Bettler kommen sieht, verläßt ihr Werk,
Und öffnet.ihm den Schlag zum Weitergeh'n.
Der Postknecht, desfl rasselnde Räder ihn Oft überholen auf dem Heckenpfad,
1 I’ve heard of hearta unkind, kind deeds With coldness still returning; Alas! the gratitude of men Has oftener lest me mourning.
Rust ihm Von ferne; und wenn, so gewarnt, Der Alte doch nicht ausweicht, biegt der Knecht Langsaniern Schritts beiseit und fährt an ihm Freundlich vorüber, ohne einen Fluch
Auf seinen Lippen oder stillen Groll ....
Doch haltet diesen Mann für nutzlos »licht! — Staatsulänner ihr, die, rastlos iveif und klug,
Ihr stets den Besen schwingt, um aus der Welt Jedwedes Ärgernis zu fegen! Ihr, So stolz gebläht in eurem Übermut
Auf eure Gaben, Weisheit oder Macht,
O, nennt ihn eine Last nicht! Ein Gesetz Jst's der Natur, daß kein Erschaffener,
Und fei'S das niedrigste und schlechteste Und schädlichste Don alle»! Dingen, lebt.
Dem nicht doch etwas Gutes innewohnt, Ein Hauch und Puls des Guten, Lebenskraft
Und Seele, mit jedweder Form des Seins Untrennbarlich verknüpft Wo sich der alte Bettler blicken läßt, Treibt des Gebrauches niisbe Nötigung
Zu Liebesthaten, und Gewohnheit thut, Was die Vernunft heischt, und bereitet doch Nachsreude, wie Vernunft sie liebt.
So wird
Durch dies Gefühl von unerstrebter Lust Die Seele unvermerkt zu Tugend und
Zu wahrem Gutsein hingelenkt. . . . Der Reiche, der behaglich vor der Thür Des eignen Hauses sitzt und, gleich der Frucht
Des Birnbaums über seinem Haupt, gedeiht Im Sonnenschein; — der^ kräftige junge Mann, Der Glückliche, Gedankenlose, — sie, Die unter sichrem Obdach leben, und
In einem Hain von Sprossen ihrer Art Wachsen und blühen, — Alle sehn in ihm
Den stillen Mahner, welcher ihrem Sinn
Den flüchtigen Gedanken einmal doch Der Selbstglückwünschung einprägt.
Man
lese
dieses Gedicht
in den prachtvollen fünffüßigen
Jamben des Originales, und man wird zugeben, daß, wenn es eine
Predigt ist, es eine Predigt in optima forma ist. Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
Es lag näm-
6
Landleben unb Schilderungen vom Lande.
82
lich in diesem Naturalismus, der in seiner späteren Entwickelung folgerichtig und logisch sich zum Humanismus und Radikalismus
gestaltete, ursprünglich ein Hang zum Moralisieren und zu evan gelischer Religiosität.
Er suchte die Einfältigen im Herzen, die
Armen, die in den Augen der Welt Geringen auf — das stimmte
mit der Moral des Evangeliums überein.
Er verwarf eine ver
feinerte Civilisation und wandte ihr den Rücken, um zu seinen
Helden Fischer und Bauern zu ersehen — darin folgte er nur dem Beispiele des Evangeliums.
Auf diese Art paarte sich bei
Wordsworth ganz konseqnent der Naturkultus mit dem in Eng land so hochgehaltenen moralisierenden und protestantisch-christlichen
Element.
Man verwerfe auch
Lehrgedichte.
nicht so ganz seine moralischen
Es liegt so manches Mal eine eigene Größe in der
Weise, wie die einfache Lehre ausgedrückt ist.
Wer wollte echte
Hoheit den Worten absprechen, womit in „Laodamia" der trauernden Gattin verkündet wird, daß sie, statt ihren Gatten zurückzubegehren, auf ihn verzichten möge, um durch die Liebe zu einem edleren,
geistigeren Leben geläutert zu werden?
Learn by a mortal yeaming to ascend Towards a higher object. — Love was given, Encouraged, sanctioned, chiefly for that end. For this the passion to excess was driven — That seif might be annuled: her bondage prove The fetters of a dream, opposed to love.
Ja, selbst die abstrakte Ode an die Pflicht, die eine wahrhaft
Kantische Begeisterung aufweist, hat genial-verstandeswidrige Zeilen,
erhaben wie eines der Paradoxe der Kirchenväter.
Die Pflicht
apostrophierend ruft der Dichter aus: „Du hältst in Takt der Sterne Schwung, Die ältsten Himmel sind durch dich noch stark unb jung/"
1 Thou dost preserve the stars from wrong And the most ancient heavens through Thee are fresh and strong.
Doch von allen Poesien dieser Art wird der Leser rasch zu Wordsworth's eigentlichem Gebiete, seinen Idyllen, zurückkehren.
Werfen wir noch einen Blick auf diese Gedichte und auf die Lehre, die der Dichter durch sie verkünden will.
Es steht fest,
daß Wordsworth der Schilderung des ländlichen Lebens eine größere Bedeutung für die Poesie überhaupt beilegt, als ihr zu
kommt.
Seine Uingebung war allerdings danach angethan, solch
eine theoretische Überschätzung bei ihm hervorzurufen.
Wenn er
zu seinen Helden shepherd-farmers aus Cumberland und West-
moreland als Modelle verwenden konnte, so rührt dies daher, daß
diese Männer, die einerseits unabhängig genug waren, um nicht für andere arbeiten zu müssen, andrerseits sich doch nicht der Notwendigkeit zu arbeiten oder in dürftigster Bescheidenheit zu leben überhoben sahen, ungewöhnlich poetische Eigenschaften dar
boten.
Daß das Landleben an und für sich bessere, ist ein Aber
glaube; es kann ebensogut abstumpfen.
Coleridge hat z. B. nach
gewiesen, daß bei einem Vergleiche der Art und Weise, wie in
England damals Liverpool, Manchester und Bristol die Armen
gesetze zur Anwendung brachten, mit jener, wie auf dem Lande die Armenpflege gehandhabt wurde, dieser Vergleich gänzlich zu
Gunsten der Städte ausfalle. Wordsworth überschätzte ferner die Bedeutung, welche die Schilderung der ländlichen Beschäftigungen für seine eigene Poesie
hatte.
Nicht
nur sind die Hauptpersonen vieler seiner besten
Dichtungen (wie Ruth, Michael, The brothers) nicht ausdrücklich
Bauern oder Landbewohner, er hat auch so manches Mal infolge
seiner naturalistischen Leidenschaft und seines damit verwandten Hanges, durch Verherrlichung der untersten Volksschichten zu mora lisieren, den Namen irgend einer unansehnlichen, niederen Profession
mit Gaben oder Eigenschaften verknüpft, von denen es wenig wahr scheinlich ist, daß sie damit verbunden sind.
Es ist ein Paradoxon,
welches Wordsworth mit einer gewissen Vorliebe in seinem Gedichte
6*
Landleben und Schilderungen eom Lande.
84
„Die Exkursion"
predigt, daß große Dichter in den niedersten
Ständen verborgen feint;1 2es befriedigt auch seine evangelischen Neigungen, sich die Unabhängigkeit des Talents von Vermögen
und guten äußern Lebensverhältnissen zu denken.
Mag sein, daß
es davon unabhängig ist, wäre es aber nicht gleichwohl wider
sinnig,
dem
Poeten
in
einem
Gedichte
die
Schornsteinfeger
profession beizulegen, und dann in einer sorgsam ausgeklügelten Biographie zu erklären, wie es kam, daß er zugleich Dichter,
Philosoph und Schornsteinfeger ward? Derartige Erscheinungen ver mag nur die wirkliche Lebensbeschreibung zu rechtfertigen.
In der
Poesie wirkt ein so weit getriebener Naturalismus anstößig, weil der
Fall allzuwenig typisch ist. Und welcher Unterschied besteht zwischen diesem Falle und allen jenen, wo Wordsworth einem Hausierer,
einem Egelsammler, einem Bauern Gedankm in den Mund legt, die,
von
müssen?
solchen
Lippen
vernommen,
mit
Staunen
erfüllen
Um seine Personen zu rechtfertigen und hinlänglich zu
erklären, sieht sich daher Wordsworth zur Einführung allerlei zu fälliger, untergeordneter Umstände genötigt, deren es bedarf, um eine Thatsache des wirklichen Lebens plausibel zu machen, was
man
einem Dichter gern erlassen wird.
Die kleinliche Rück
sichtnahme auf die Wahrscheinlichkeit, die kleinliche Ängstlichkeit
in der Motivierung ist im hohen Grade ermüdend bei Words worth, besonders bei den langen Übergängen und Beschreibungen
der „Exkursion," welche Byron witzig als ein ewiges: „Hier gehen
wir hinauf, und hier gehen wir hinab, und hier gehen wir rund herum" bezeichnet hat?
1 Oh! many are the Poets that are sown By nature; Men endowed with highest gifte, The vision and the faculty divine, Yet wanting the accomplishment of verse . . . The Excursion I, The Wanderer. 2 Or Wordsworth with his eternal: Here we go up, up and up, and here we go down, down, and here round about! Look at the nerveless laxity of the Exursion! What interminable prosing! Byron.
Die
Wahl
seiner Stoffe
führt Wordsworth überdies zu
einer Eigentümlichkeit in sprachlicher Beziehung, die man wohl
als
die
äußerste
bezeichnen
darf.
Sprache,
deren
sei,
litterarische
Konsequenz
dieses Naturalismus
Wordsworth stellt die Behauptung auf: die
sich
die von ihm geschilderte
Klasse
bediene,
sobald man sie nur von ihren Makeln reinige, die beste,
die es gebe, weil Männer und Frauen des niederen Landvolkes in stetem Verkehr mit jenen Gegenständen leben, von welchen der
beste Teil unserer Sprache ursprünglich abgeleitet ist, und weil sie infolge der Einförmigkeit und Enge ihres Gesichtskreises am wenig
sten der gesellschaftlichen Eitelkeit ausgesetzt seien, welche zu ge suchtem, gedrechseltem Ausdruck verleite. Da nun diese Sprache die beste ist, so wird, meint Wordsworth, es keinem Dichter möglich sein,
eine bessere Ausdrucksweise an ihre Stelle zu setzen, gleichviel, ob er in Prosa oder in Versen schreibt.
Und so gelangt denn Words
worth zu seinem bekannten, interessanten Paradoxon, daß zwischen Prosasprache
und
metrischer
Komposition
irgend
wesentlicher Unterschied weder sei, noch sein könne.
ein
Wenn
er hiermit nur einen Protest beabsichtigt hätte gegen alle leidigen,
jämmerlichen Sprachverrenkungen, zu denen Reimnot und Mangel an rhythmischem Gefühl nur allzuviele, selbst hervorragende Dichter
getriebm haben, so würde man ihm vom Herzen zustimmen können.
Theodor Banville hat mit vollem Rechte seiner Poetik' ein Kapitel eingefügt, dessen Überschrift „Licentia poetica“ und dessen Inhalt
ist: „Es giebt keine."
Allein Wordsworth will seinen Satz ganz
anders aufgefaßt wissen.
Er erklärt, daß die Sprache, nicht nur
bei großen Partien eines jeden guten Gedichtes, in allen andern Beziehungen als der einen metrischen, naturgemäß mit der Prosa zusammenfallen, sondern daß sie sogar bei den allerintereffantesten
Partien der allerbesten Gedichte mit dem Prosastile gänzlich über-
1 Petit traite de poesie frangaise.
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Landleben und IchUderungen vom Lande.
einstimmen müsse. Denn, sagt Wordsworth, wie wahr und lebendig die Sprache des Dichters auch ist, so lebendig und so wahr wie die Sprache dessen, der in der erdichteten Situation sich befindet,
kann sie doch niemals werden; mit andern Worten» sie kann den prosaischen Ausdruck der Wirklichkeit niemals übertreffen, sie kann
sich ihm höchstens nähern.
Mit echt englischer Hartnäckigkeit be
harrte er auf seiner Doktrin den von allen Seitm auf ihn ein stürmenden Angriffen gegenüber.
Man hatte als ein Mustergedicht
nach der neuen Poetik folgende von Samuel Johnson fabrizierte, burleske, doch von der Prosasprache sicherlich nicht abweichende
Strophe angeführt: I put my hat upon my head And walked into the Strand And there I met another man, Whose hat was in bis hand.
Dies ist keine Poesie,
sagt? man.
Zugegeben, erwiderte
Wordsworth, doch auch als Prosa ist es weder an sich interessant, noch zu etwas Interessantem führend und daher außer stände,
Gefühle und Gedanken anzuregen.
„Wozu beweisen, daß ein Affe
kein Newton sei, wenn er nicht einmal ein Mensch ist?"
Und
der herrschenden Anschauung, die er ungefähr mit den Worten
charakterisiert, daß ein Schriftsteller, indem er in Versen schreibt,
eine Art Verpflichtung übernehme, gewissen geistigen Gepflogen heiten entgegenzukommen, gewissen Klassen von Ideen in seinem
Buche Raum zu geben und andere sorgsam ausznschließen, stellt er
nun
seine
Überzeugung
von
der Wesenseinheit
der
guten
Poesie und guten Prosa entgegen, welche, auf seinem Abscheu vor der
poetischen Affektation beruhend,
ihn
in
seinem poetischen
Schaffen dahin führte, seinen in vielen Beziehungen so muster gültigen,
meisterhaften
poetischen Stil bald gewaltsam zu be
schränken, bald geradezu zu trivialisieren.
Gegen die Verherrlichung der Sprache des Landvolkes, von welcher Wordsworth ausgeht, und die nicht ohne Analogie mit
Landleben und Schilderungen vom Lande.
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dem Kultus der Volkssprache ist, wie er in Dänemark von Grundtvig
ausging,
ist vor allem einzuwenden, daß die Sprache eines
Bauers, von den Provinzialismen gereinigt, wie es der Dichter
fordert, und in Einklang mit den Regeln der Grammatik gebracht,
sich nicht von der eines jeden andern verständigen Mannes unter scheiden wird, nur daß der Bauer weniger und minder klare Begriffe besitzt.
Ferner wird er, seiner geringen Entwicklung
halber, nur bei der einzelnen, seiner beschränkten Erfahrung oder seinem überlieferten Glauben entnommenen Thatsache stehen bleiben,
während der Entwickelte den Zusammenhang der Dinge überblickt Wordsworth meint, der
und nach allgemeinen Gesetzen forscht.
beste Teil der Sprache sei von den Gegenständen, die den Bauer
umgeben und beschäftigen, abgeleitet.
Allein die Vorstellungen,
die sich um Nahrung, Obdach, Sicherheit, Wohlergehen drehen,
Es wäre nicht minder
sind doch nicht der beste Teil der Sprache!
verfehlt, mit Wordsworth von dieser Sprache nur einen gewissen
Grad von Leidenschaftlichkeit zu fordern, um ihr den Ehrentitel
poetisch zuzuerteilen; denn die Leidenschaft ruft keine neuen Ge danken hervor, schafft keinen neuen Wortvorrat, sie setzt nur den vorhandenen Inhalt in erhöhte Wirksamkeit, wie sie auch keineswegs
die Umgangssprache zur Poesie zu erheben vermag, ist sie doch kaum im stände, sie zur Prosa zu gestalten.
Es ist eine sonderbare naturalistische Verwechselung bei Words worth, die Worte Umgangssprache und Prosa bunt ohne Unter schied durcheinander zu gebrauchen.
Die gute Prosa ist von den
leeren, sinnlosen Wiederholungen, den unsicheren, stammelnden Redensarten, welche Halbbildung und Verwirrung unvermeidlich
mit sich bringen, und von denen Wordsworth leider nur allzuviele
überall da in seine Dichtungen aufnahm, wo er dramatische Diktion einführte, bereits gereinigt. allerplatteste
Es ist die unselige Vorliebe für die
Naturnachahmung,
die
in
seinen Dichtungen
die
plötzlichen peinlichen Übergänge von einer hohen, edlen Diktion
zu einer völlig stillosen verursacht.
Man sehe z. B. The blind
Highlandboy.
Poesie hat nach Wordsworth's Definition ihren Ursprung in
einer Gemütsbewegung, die man in Ruhe nachempfindet.
Sie strebt
Nachahmung der Sprache der Natur an, mit dem einen Vorbehalt, daß der Dichter, da es seine Aufgabe ist, Vergnügen, nicht einfach Wahrheit mitzuteilen, sich der Bersform bedient, die dem Leser
eine Reihenfolge angenehmer kleiner Überraschungen durch Rhyth Das Versmaß wirkt durch stetes Er
mus und Reim bereitet.
wecken und Befriedigen der Neugierde jedoch auf eine so schlichte
Art, daß es keine selbständige Aufmerksamkeit auf sich zieht.
beeinflußt
ungefähr
wie
eine
künstlich
Es
hergestellte Atmosphäre
oder wie Wein bei einer erregten Unterhaltung das Bewußtsein
mächtig, aber unbemerkt.
Durch seine immer wiederkehrende Regel
mäßigkeit dämpft und mildert es dm leidenschaftlichen oder er greifenden Inhalt der Erzählung und verleiht, infolge seiner Tendenz die Rede ihres Wirklichkeitsgepräges zu entkleiden, der Komposition
eine Art Halbbewußtsein ihrer Unwirklichkeit.
Im übrigen aber
könne, meint Wordsworth, selbst die beste Poesie sich in keiner Beziehung von der Prosa unterscheiden.
Er vergißt sich die Frage
vorzulegen, ob es nicht umgekehrt eine Menge Ausdrucksweisen,
Wendungen und gewöhnliche Sätze giebt, die in einer Prosa
mitteilung am Platze sind, in der Poesie jedoch in höchstem Grade
anstößig wirken würden, und ob nicht in jedem pathetischen Gedichte ohne alle Künstelei eine Bauart und Anordnung der Sätze, so wie eine Benützung von Redefiguren vorkommen kann, die im
Prosastile unmöglich wäre.
Der Sinn, in dem sich einzig sagen läßt, ein großer Teil der Poesie gleiche der Sprache des wirklichen Lebens, ist der, daß ihre Ausdrücke solche seien, deren sich einige wmige der Allergebildetsten bei äußerst seltenen Anläflen bedienen würden. Im Alltagsgespräche
schweift die Rede ungebunden umher,
in der öffentlichm Rede
sammelt sie sich zu festem Zusammenhang der Gedanken; im ge schriebenen Buche schlängelt sich der ausgearbeitete Satz unter
mancherlei Windungen naturgemäß vorwärts.
Im Verse endlich
kann die Form nicht genug gewählt, genug fest sein.
Hier gilt
die Lehre, die Theophile Gautier in seinem herrlichen Gedicht „Die Kunst" predigt:
Oui Foeuvre sort plus belle D’une forme au travail Rebelle, Vers, marbre, onyx, email!
Point de contraintes fausses! Mais que pour marcher droit Tu chausses, Muse, un cothurne etroit! Doch wie vieles sich auch einwenden läßt gegen diese Poetik, oder, wie sie richtiger heißen könnte, „Prosaik" Wordsworth's, eine
Lehre, welche von den Zeitgenossen anfangs ausgenommen wurde, als wäre sie mit dem alten Hexengesange fair is foul and foul
is fair gleichbedeutend, sie hat für den Nachlebenden ein hohes Jnteresie als ein genauer und unzweideutiger Ausdruck des ersten
litterarischen Extrems, in das der englische Naturalismus verfiel.
VII.
Wir haben einen Augenblick Coleridge aus dem Gesichte ver loren. Als Wordsworth und er die neuen Dichtungsarten unter sich verteilten, fiel ihm, wie bereits erwähnt, die derjenigen Wordsworth's gerade entgegengesetzte Aufgabe zu, übernatürliche Stoffe auf natürliche Weise zu behandeln. Er löste sie in den Beiträgen, die er zu den „Lyrischen Balladen" gab, und überhaupt in dem kleinen Kranze von Gedichten, mit dem sein bedeutender Dichter name verknüpft ist. Samuel Taylor Coleridge war ein Landkind, eines Predigers Sohn, geboren im Oktober 1772 in Devonshire. Bon 1782—90 besuchte er die Schule in Chrisfs Hospital in London, und von dieser Schulzeit schreibt seine Freundschaft mit einem anderen englischen Romantiker, seinem warmen Bewunderer Charles Lamb, sich her. 1791—93 studierte er in Cambridge ohne jede Aussicht und ohne alle Hilfsmittel, worauf er in einem, sei es von Schulden oder von unglücklicher Liebe veranlaßten Anfalle von Verzweiflung, die Universitätsstadt verließ und unter dem Pseudonym Silas Titus Cumberback sich in das 15. leichte Dragonerregiment ein schreiben ließ.1 Es scheint keineswegs Ehrgeiz gewesen zu sein, was ihn, wie einige Jahre früher Johannes Ewald bewog, sein Glück als Soldat zu versuchen, sondern ausschließlich Mittellosig1 Being at a loss, when suddenly asked my name, I answered Cumberback and verily my habits were so little equestrian, that my borse I doubt not, was of that opinion.
teil.
Er blieb auch nur vier Monate Dragoner.
Denn als er
eines Tages unter seinen an der Wand hängenden Sattel den Klage
ruf: Eheu quam infortuni miserrimum est fuisse felicem! ge schrieben und sein Kapitän bei dieser Gelegenheit seine Bildungs
stufe entdeckt hatte, that dieser bei seiner Familie die notwendigen
Schritte, um ihm die Mckkehr nach Cambridge zu ermöglichen. In die nächstfolgende Zeit fällt sein vorübergehendes Auftreten als
ein
die Orthodoxie
bekämpfender
Demokrat,
infolgedessen
er sich jeden Gedanken an eine Promotion aus dem Kopfe schlagen mußte.
Seiner und Southey's gemeinsamer Verherrlichung Robespierre's (der erste Akt vom „Sturz" dieses Schreckensmannes war von Coleridge, der zweite und dritte von Southey verfaßt) ist be
reits Erwähnung geschehen, ebenso der hirnverbrannten Kommunisten-
und Kolonisten-Pläne der Freunde.
Mitglieder der kleinen, von
ihnen gegründeten Auswanderergesellschaft waren einzig Coleridge,
Southey, ein junger Quäker, namens Lovell, und ein Jüngling, namens George Burnet, der ein Schulkamerade Southey's war.
Allein Gott Hymen hatte das Jahr 1795 dazu erkoren, diese gesellschaftsbedrohenden Pläne zum Scheitern zu bringen.
Cole
ridge war nach Bristol gereist, um öffentliche Vorträge zu halten, und entfaltete dort all die Beredsamkeit, die bei ihm, wie etwa bei dem gleichfalls in mündlicher Rede so berückenden Norweger Welhavcn, seinen poetischen Werken das Mark ausgesogen zu haben scheint.
Eine junge Dame aus jener Stadt gewann sein Herz, und noch im selben Jahre wurde Coleridge mit Sarah Fricker getraut, während ihre Schwestern Edith und Mary Fricker, ihre Zunamen mit den Namen Lovell und Southey vertauschten, und — die
Reise nach Amerika endete, wie die der Kinder bei Christian Winther.
Wie hätte Coleridge, der sein ganzes Leben hindurch aller Willens kraft entbehrte, einen so lang gehegten Plan ausführen sollen! Er, der nie etwas anderes zur Ausführung brachte, als was
Naturalistische Romantik.
92
er nicht beschlossen hatte, oder was sich seiner Natur nach nicht beschließen ließ!
Im Jahre 1796 wurde er, der damals noch leidenschaftliche
Unitarier, von einigen Philantropen „überredet" — er wird immer „überredet" — unter dem Titel The watchman (der Wächter)
eine Wochenschrift herauszugeben, die 32 Seiten Groß-Oktav um
den mäßigen Preis von 4 Pence bieten sollte, und denn mit flammender Begeisterung geschriebene Subskriptions-Einladung die Devise „Wissen ist Macht" trug.
In der Absicht, Abonnenten
für sie zu sammeln, unternahm er, jung und feurig wie er war, eine Agitationsreise von Bristol und Sheffield nach dem Norden
und rundum durch das ganze Land, in allen größeren Städten an
seinem
Wege
als
unbesoldeter
Apostel
in
blauem
Rock
und weißer Weste predigend, nicht gewillt, ein pfaffenmäßigeres Gewand anzulegen, auf daß auch nicht so viel wie ein Fetzen an
ihm klebe,
das
„an
das
babylonische Weib
erinnere".
Die
Schilderung, die er von dieser seiner Odyssee entworfen hat, giebt uns ein Bild des jungen, englischen Romantikers, wie er war uni blieb: unklug in allem Weltlichen, abwechselnd für jede religiöse und
philosophische Halbheit begeistert, doch von übersprudelndem Humor in der Auffassung fremder und eigener Lächerlichkeit.
Er eröffnete seinen Feldzug in Birmingham, wo er seinen ersten Angriff gegen einen strengen Calvinisten, einen Lichtzieher von
Profession, richtete.
Derselbe war ein hagerer, finsterer Mann,
dessen Länge seine Breite so sehr übertraf, daß er in seiner Gießerei als Schürstange hätte bienen' können! „Und dies Gesicht!" rüst Cole-
ridge aus, „ich sehe es in diesem Augenblick vor mir.
Das schlicht
herabhängende, schwarze garnartige Haar, von Fett glänzend, meiner Linie mit den dunkeln Stoppeln seiner pulverfarbigen Augenbrauen
geschnitten, die wie versengter Nachwuchs vom vorwöchentlichm Bar bieren aussahen: sein Rockkragen hinten in völliger Üdereinstinmung
mit dem dicken klebrigen Tauwerk, welches er — denke ich —
sein Haar nannte, unb das mit einer Krümmung nach innen ant
Genick — bet einzigen Spur einer Biegung an dem Haupte — hinter seine Weste sank, währenb bas Antlitz, hager, finster, hart, mit starken senkrechten Furchen, in mir bie undeutliche Vorstellung erweckte, als ob mich jemand durch einen abgenutzten Bratrost
voller Ruß, Fett unb Eisen, anglvtzte.
Er war jedoch ein echtes
Vollblut — ein wahrer Freund der Freiheit, der, wie ich mir sagen
ließ,
zu
gewiesen hatte,
höchlicher Erbauung daß Mr. Pitt
eines
gar
für
manche
der Hörner
des
nach zweiten
Tieres der Offenbarung sei, desselben, welches wie ein Drache redete..."
Eine volle halbe Stunde verschwendete Coleridge seine ganze Beredsamkeit an ihn, bewies, beschrieb, verhieß und prophezeite, hegann mit der Unabhängigkeit der Völker und endete mit dem
nahen Anbruch des tausendjährigen Reiches.
Der Wachsstockmann
hörte ihn mit ausdauernder und rühmenswerter Geduld an, obwohl ein gewisser, nichts weniger als ambrosischer Dust seinem Gaste
verriet, daß er an einem Gießtage gekommen sei.
Endlich ergriff
er das Wort: „Und wie hoch, Sir, werden sich die Kosten be laufen?" — Auf vier Pence nur, Sir, für je eine Nummer, die
alle acht Tage erscheint." bis das Jahr um ist.
Geld geboten?"
„Das summiert sich doch ganz gehörig,
Und wieviel, sagten Sie, wird für das
„Zweiunddreißig Seiten, Sir, eng gedruckt."
„Zweiunddreißig Seiten!
Da sei Gott vor!
Das ist ja, aus
genommen, was ich am Sabbath von wegen der Familie mir auf erlege, mehr, Sir! als ich das ganze Jahr hindurch jemals lese.
Ich bin so gut, wie irgend wer in Brummagem, Sir! für Frei
heit, Wahrheit und all dergleichen, aber in diesem Falle — Sie nehmen mir es nicht übel, Sir! — muß ich schon bitten, mich zu
entschuldigen." So endigte Coleridge's erster Versuch, Rekruten im Kampfe
gegen die heilige Dreieinigkeit zu werben.
Sein zweiter in Man-
Naturalistische Romantik.
94 chester,
einem
stattlichen,
wohlhabenden
Baumwollgroßhändler
gegenüber, hatte nur das Resultat, daß ihn dieser von oben bis
unten maß und ihn frug, ob er von dem Ding eine Faktur habe.
Coleridge reichte ihm die Subskriptionseinladung, und als^ der
Mann brummend die erste Seite und schneller noch die zweite und
letzte überflogen hatte,
knüllte er das Blatt zwischen der
geballten Rechten und der Handfläche der Linken zusammen, rieb
und strich es dann bedächtig und nachdrücklich wieder glatt, steckte
es ein und wendete dann mit einem bündigen „Überlaufen mit dem Artikel!"' Coleridge den Rücken, um sich in sein Bureau
zurückzubegeben. — Nach diesen mißglückten Versuchen gab Coleridge den Gedanken, seine Abonnenten einzeln gewinnen zu wollen, auf, kam aber nichtsdestoweniger von seiner denkwürdigen Reise mit beinahe 1000 Namen auf seiner Subskribentenliste heim.
Doch —
schon die erste Nummer erschien, nach echt Coleridge'scher Manier, zu spät; die zweite, die eine Abhandlung gegen die Festtage ent
hielt, jagte 500 konservative Abonnenten in die Flucht, und die folgenden Nummern, welche von Ausfällen gegen die französische Philosophie und Moral, sowie gegen diejenigen wimmelten, welche
ihre Reden direkt an die Armen und Unwissenden richteten, statt deren Sache vor den Wohlhabenden und Angesehenen zu führen, bewogen die übrigen jakobinischen und demokratischen Abonnenten das Blatt abzubestellen.
Coleridge scheint, indem er diese Thatsachen
selbst mitteilt, auch nicht die leiseste Ahnung zu haben, welche
natürliche Strafe für alle seine Halbheit dies war — eine Halb heit, die darin bestand, die Konsequenzen seines eigenen Handelns
niemals ziehen zu wollen. auf religiösem Gebiete.
Halb war er auf politischem, halb
Als alter Mann an diese Zeit zurück
denkend, bricht er selbst in die Worte aus: „Mein Hirn war bei Spinoza, wiewohl mein ganzes Herz mit Paulus und Johannes
war!"
worauf er sich beeilt, dem Leser die rechten Beweise für
die Existenz Gottes und der Dreieinigkeit vorzulegen, die auszu-
sinnen er in seiner Jugend noch nicht fähig gewesen.1
Da die
Wochenschrift nicht mehr als ein Dutzend Nummern erlebte, wurde Coleridge Journalist, schrieb erst gegen das Ministerium Pitt,
bald aber, da seine Anschauungen mehr und mehr der konservativen Richtung zuneigten, streng ministeriell und, besonders nach der
Besetzung der Schweiz durch die Franzosen, als grimmiger Franzosen hasser.
So antifranzösisch waren seine Artikel in der Morning
Post, daß sie sogar die Aufmerksamkeit Napoleons auf sich zogen,
und daß Coleridge als deren Verfasser dem ersten Consul ein Gegen stand besonderen Zornes wurde.
Ja, seine Freiheit wäre bei seinem
Aufenthalte in Italien in Gefahr gewesen, hätte ihn nicht sowohl der preußische Ministerresident Wilhelm von Humboldt, als der eigene Onkel Napoleons, Cardinal Fesch, bei Zeiten durch einen
untergeordneten Beamten warnen lassen.
Das Jahr 1797, dasselbe, in dem er Wordsworth kennen
lernte, wurde in poetischer Hinsicht das entscheidendste Jahr seines
Lebens, sein annus mirabilis.
In diesem Jahre verfaßte er seine
weltberühmte Ballade „Der alte Seemann" und das in der Poesie
Englands epochemachende Gedichtfragment „Christabel". „Christabel" ist die Einleitung zu einem Romanzenkreise, der
niemals fortgesetzt wurde.
Es ist zweifelsohne das früheste eng
lische Gedicht, das im strengsten Sinne von romantischem Geiste durchhaucht ist, weshalb es durch das Neue in Tonfall, Inhalt, Grundgepräge und Versbehandlung einen mächtigen Eindruck auf die Herzen der zeitgenössischen
Dichter
machte.
Das unregel
mäßige und doch wohllautende Versmaß übte auf Scott einen so
starken Einfluß, daß er es sich in seinem ersten romantischen
Gedichte The lay of the last minstrel aneignete.
Er gesteht un
umwunden, wie viel er dem schönen, tantalisierenden Bruchstücke
„Christabel"
verdanke, das er, wie alle damaligen Dichter im
1 Siehe Biographia Citeraria, vol. I. Abt. II. S. 208—9.
Naturalistische Romantik.
96
Manuskript kennen gelernt hatte, indem Coleridge es volle 20 Jahre
in allen Gesellschaften vortrug, ehe es das Licht der großen Öffent lichkeit erblickte.
Byron lernte das Gedicht auf dieselbe Weise
wie Scott kennen.
Und da er, noch bevor er es gehört hatte, in
einem seiner Gedichte (die Belagerung von Korinth, Abschnitt XIX) einige Verszeilen geschrieben hatte,
Versen in „Christabel"
aufwiesen,
die Ähnlichkeit mit etlichen benutzte er später die
Ge
legenheit, in einer Anmerkung ein paar Worte zu Ehren dieses
„schauerlich schönen, originellen Gedichtes" zu sagen.
Daß jedoch
nicht alle die Bewunderung dieser Dichter und die noch größere Wordsworth's teilten, läßt sich aus der Biographie und dem Brief wechsel Moore's ersehen. Er selbst sowohl wie Jeffrey machen starke Vorbehalte in Bezug auf die Affektation des Gedichts.
(Siehe
Moore's „Memoirs“ II, 101, IV, 48.) Für Deutsche und Dänen, die durch Tieck und die beiden Schlegel, wie später besonders durch
Jngemann in die Mysterien jener poetischen Manier gründlich ein
geweiht worden sind, hat das Fragment durchaus kein großes Inter esse. Die grenzenlose Naivetät der Erzählungsweise und das ganze gemacht Kindliche in Anlage und Ton ist für sie, was Bäcker
kindern Weißbrot ist.
Der höchste Vorzug der Dichtung besteht,
von seiner süßen, vollen Melodie abgesehen, in der eigentümlichen
Gewalt, mit welcher das Wesen der bösen Fee gezeichnet ist, in dem eigentümlichen Dämonischen, das in der englischen Poesie noch nie
mit solcher Wirkungskraft wie hier hervorgetreten war.
Man
muß sich jedoch gegenwärtig halten, daß, wenn auch der erste Teil des Gedichtes im Jahre 1797 geschrieben wurde, so doch im Jahre
1800 nicht nur der zweite Teil verfaßt, sondern ohne Frage auch
eine Überarbeitung
vorgenommen
worden
ist,
d. h. nachdem
Coleridge auf einer Reise nach Deutschland, gemeinschaftlich mit
Wordsworth, die moderne deutsche Poesie, ihre mittelalterlichen Voraussetzungen und neuesten Tendenzen hatte kennen lernen. Sein zweites Hauptwerk, die Ballade „Der alte Seemann",
die noch gesuchter Buden
naiv in der Diktion und gleich den in den
der Winkelgäßchen einzeln verkäuflichen, mittelalterlichen
Volksballaden, mit einem prosaischen Inhaltsverzeichnis am Rande
ausgestattet ist, hat unter allen Gedichten Coleridge's die größte Popularität erlangt, obgleich sie bei ihrem Erscheinen erbittert an gegriffen wurde.
Auf eine äußerst affektierte Einleitung (drei
Hochzeitsgäste vergessen die Einladung über der Erzählung des
alten Seemannes, so beredt ist er — noch dazu auf der Gaffe, wie Falstaff sagt) folgt eine schauerliche Spukgeschichte auf einem gespenstischen Schiffe, deren Schrecknisse sämtlich dadurch verursacht
werden, daß ein Matrose so leichffinnig ist, einen Albatros zu
töten, der auf dem Schiffe Zuflucht sucht.
Die ganze Mannschaft,
einzig er selbst ausgenommen, wird für diese Ungastlichkeit mit
dem Untergange bestraft.
Als das Gedicht neu war, erörterte,
wie Swinburne erzählt, die englische Kritik auf das lebhafteste
die Frage, ob nicht
dessen Moral (daß man keinen Albatros
schießen darf?) zum Schaden der phantastischen Seite des Ge dichtes zu sehr vorwiege, während andere meinten, der Fehler des Gedichtes stecke in seinem Mangel an Wirklichkeitsmoral, ein
Punkt, der lange nachher Anlaß zu einer ähnlichen Kontroverse
zwischen Freiligrath und Julian Schmidt gegeben.
Die moderne
Kritik würde der Ballade und dem Dichter wahrlich die Moral
gern schenken, wenn sich der poetische Kern darin finden ließe. Ein Beispiel wird erkennen lassen, worin der Grundfehler liegt.
In der Gedichtsammlung „Die Zeitlosen" von dem deutschen
Lyriker Moritz Hartmann kommt ein Gedicht vor, das, wenn eS sich auch nicht als ein Ableger von Coleridge's „Altem Seemann" geriert,
doch auf den ersten Blick als eine unmittelbare Nachbildung desselben zu erkennen ist.
Es bewegt sich in der gleichen metrischen Form
und behandelt ein ganz verwandtes Sujet. „Der Camao".
Es führt den Titel
Der Vogel Camao, der hier.dem Albatros bei
Coleridge entspricht, wurde im Mittelalter auf der pyrenäischen Brande«, Litteratur de, 19. Jahrh. IV.
7
Halbinsel in jedem Hause gepflegt und mit einer Verehrung be
handelt, die ihren Grund in einem allgemein verbreiteten Aber
glauben hatte.
Dieser Vogel konnte, der Sage nach, in keinem
Hause gedeihen, dessen Glanz durch die Schuld der Hausfrau bestecht war; er starb, sobald durch ihre Treulosigkeit die Ehre des
Hausherrn
den
kleinsten Makel
erlitt.
Gewöhnlich
prächtiger Bauer in der Vorhalle des Hauses.
hing sein
In dem Gedichte
Hartmann's erzählt nun der alte irrsinnige Mann, der darin die
Stelle von Coleridge's geisteskrankem Seemann einnimmt, wie er einst als Page von wilder Leidenschaft für die Gemahlin seines
Herrn entbrannte, und welche Qualen ihm jedesmal, so oft er abgewiesen und über ihre Kälte verzweifelt aus ihren Gemächern
stürzte, der Gesang des Vogels zu Ehren ihrer Keuschheit, welcher er sein Leben verdankte, bereitet habe. Sein Herr kehrt von einem Siegs
zuge heim, begleitet von seinem Freunde, einem schönen, jungen Sänger und Helden, dem die Schloßfrau die herzlichste Freundschaft
bezeigt, den der junge Page aber alsbald mit der ganzen Glut der
Eifersucht haßt. Seiner selbst nicht mehr mächtig, verleumdet er die
Beiden bei seinem Herrn, doch dieser erwidert ihm gelassen, daß der Camao lebe und eben zu Ehren Estrellas singe.
Da beschließt
er in blutgieriger, eifersüchtiger Raserei sich zu rächen und tötet
den Vogel.
Vasco erschlägt sein Weib — und seitdem irrt der
Verbrecher unstet und flüchtig von Land zu Land, ohne seine Seelenruhe wiederfinden zu können.
„Der
Camao"
kann
sich,
was
die Eigentümlichkeit und
Virtuosität der Sprachbehandlung betrifft, nicht im entferntesten
mit The ancient mariner messen, in Bezug auf den dichterischen
Kern steht das Gedicht jedoch nicht nur hoch über seinem englischen Vorbilde, es kritisiert überdies in erschöpfender Weise Coleridge's
Ballade und den ganzen affektiert romantischen Jdeenkreis, dem sie entspringt.
Hier.ist die Tötung des Vogels eine wirklich mensch
liche Handlung, aus einem wirklich menschlichen Motive vollführt;
hier ist die Strafe des Thäters keine Schrulle, sondern eine gerechte,
natürliche Folge seiner Unthat.
Hier ist das Unglück, welches die
Tötung des Bogels über Vasco's Gemahlin und ihn selbst herauf
beschwört, durch eine wirkliche ursächliche Verkettung mit derselben
verknüpft, während der Untergang der Seeleute infolge der Un gastlichkeit gegen den Albatros sich wie eine Art Wahnwitz aus nimmt.
Hier zeigt sich klar der Unterschied zwischen wahrhaft
poetischem Verarbeiten der abergläubischen Vorstellung und der
romantischen Behandlung derselben.
In beiden Dichtungen beruht
ja alles auf einem Aberglauben, und Hartmann ist weit davon
entfernt, ihn einer rationalistischen Kritik unterwerfen zu wollen;
allein er drängt ihn niemand anderem auf, die Schönheit seines Dichterwerkes ist ganz und gar davon unabhängig, ob der Leser an beit magischen Einfluß des Camao im vulgären Sinne des
Wortes glaubt oder nicht, während die romantische Verschroben
heit gerade die Ehrfurcht vor dem Magischen und Unerklärlichen als die Summe aller Lebensweisheit und aller Poesie predigt.
Steht auch
„Der alte Seemann"
nicht hoch
im Vergleich zu
der Poesie, die in späterer Zeit aus den Windeln der Romantik
sich
entwickelte,
so
ist dies
Gedicht
den
meisten
verwandten
Erzeugnissen der deutschen Romantik doch weit überlegen.
Es ist
trotz all seines romantischen Scheinwesens vom Meere inspiriert,
dem wirklichen, natürlichen Meere, dessen wechselnde Stimmungen, dessen beängstigenden, drohenden Ernst es schildert.
Die frische
Brise, der schäumende Gischt, der unheimliche Nebel und der glühende, kupferfarbige Abendhimmel mit seiner Mutigen Sonne,
all diese Elemente entstammen der Natur, und der ganze Jammer
der auf dem Meere Verschlagenen, die Hungersnot, der quälende Durst, der sie dahin bringt, Blut aus ihrem eigenen Arm zu saugen, die fahlen Gesichter, das fürchterliche Todesröcheln, die grausige Ver
wesung, alle diese Elemente sind der Wirklichkeit entnommen und
mit der ganzen naturalistischen Kraft des Engländers geschildert.
1*
Naturalistische Romantik.
100
Echt englisch ist auch der Zug, daß Coleridge die Schatten-feiten einer Dichtung, wie es seine berühmte Ballade war, ganz ausKzeichnet zu erkennen vermochte.
Die nationale Grundeigenschaft,
dev Humor, verleiht ihm in dieser Beziehung einen merkwürdig
unbefangenen Blick.
Selbstkritik erzählt.
Man höre, was er selbst hinsichtlich seiner Ein poetischer Dilettant äußerte einem seiner
Freunde den Wunsch, bei dem Dichter eingeführt zu werden; er besann sich jedoch, als ihm augenblicklich hierzu Gelegenheit ge
boten wurde, eines Besseren, und zwar aus dem Grunde, weil er „gestehen müsse, daß er der Verfasser eines verteufelt strengen
Epigrammes über den alten Seemann sei, das, so viel er wisse, Coleridge Ungemein verdrossen habe".
Der Dichter versicherte
deut Freunde, im Fall das Epigramm gut sei, würde sein Verlangen, den Verfasser kennen zu lernen, hierdurch nur gesteigert werden,
und' bat, es ih« vorzulesen. Da stellte es sich zu seiner ebenso großen Überraschung wie Belustigung heraus, daß es einige Spöttereien
waren,
die er selbst geschrieben und in „Morning Post"
öffentlicht hatte.
Fügt man hinzu,
ver-
daß Coleridge selbst drei
Sonette' schrieb, um, wie er sagt, die gekünstelte Einfalt und den rührseligen Egoismus der neuen Richtung lächerlich zu machen, Sonette, deren schwulstige Redensarten samt und sonders seinen
eigenen Gedichten entnommen waren, so läßt sich nicht leugnen,
daß
er
mit
seltener
sich freizühalten
Überlegenheit
des
Geistes
von jener Verbohrtheit
bestrebt
war,
und Befangenheit in
einer Doktrin,■ welche die schwächste Seite
der deutschen
Ro-
mantik war.
Gleichwohl war es Deutschland, von dem sein Geist die
kräftigste, wesentlichste Nahrung erhielt.
Er war der erste Eng
länder, der in die von Fremden noch unbetretenen Wälder der deutschen Litteratur drang und zwar ungefähr um die nämliche Zeit, als Frau von Stael den romanischen Völkerschaften den Weg in ihre Dickichte bahnte.
Zur selben Zeit, wo er seine eben
Naturalistische Romantik.
101
erwähnten berühmtesten Gedichte schafft, beginnt er deutsch zu studieren und Schiller und Kant ziehm ihn zunächst an.
Im Jahre 1798 unternimmt er
sodann mit Wordsworth
eine litterarische Entdeckungsreise nach Deutschland.
In Hamburg
suchen die beiden jungen Männer ben Patriarchen Klopstock auf,
der Bürger rühmte, im übrigen jedoch von der jüngeren Schule in der deutschen Litteratur und gerade von Coleridge's Göttern,
von Kant wie von Schiller, dessen Räuber er nicht lesen zu können erklärte, kalt und wegwerfend sprach, sie dafür aber um so
mehr von der Messiade und seiner Entrüstung über die schlechten englischen Übersetzungen dieses Gedichtes unterhielt.
Coleridge warf sich in Deutschland auf das Studium des Gotischen, las die Meistersänger und Hans Sachs und gab bei seiner Heimkehr Schillers „Wallenstein"
heraus, den Benjamin
Constant nicht lange nachher für die französische Bühne bearbeitete. Nun
siedelte er sich an jenen „Seen'' Nordenglands an, wo
Wordsworth und Southey etwas früher ihre Zelte aufgeschlagen hatten, und von denen die litterarische Schule, die sie nach Auf
fassung
der Zeitgenossen
bildeten,
den Namm
erhielt.
Der
Name bedeutet indessen nicht viel mehr, als wenn man 1880 in
Dänemark Hauch, Jngemann, Wilster und Peder Hjort „Die Soraner" hätte nennen wollen.
Die englischen Dichter der See
schule waren so völlig verschieden in ihren Anlagen, wie die er
wähnten Lektoren von Sorö.
Allein die Kritik koppelte Coleridge
immer mit Wordsworth und Southey zusammen, weil man wußte,
daß er mit diesen Männern in frmndschastlicher, vertrauterVerbindung stehe, weil er nie eine Gelegenheit versäumte, sie zu loben, wie sie nie
eine, ihn zu rühmen, und weil er, wie die übrigen „Lakisten" jedes Vierteljahr einmal in Quarterly Reyiew mit frischen Lorbeer« bekränzt, der Sünder Byron aber mit frischen Skorpionen gezüchtigt
wurde.
Die Folge davon war, daß Wordsworth und Sonthey
fast nie vom kalten Strahl der Kritik getroffen wurden, ohne daß
Coleridge, der doch kaum je etwas von sich hören ließ, es hätte mit ausbaden müssen.
Der Umstand, daß die Seeschule, ungefähr
wie die Prärafaeliten und die Nazarener in der Malerkunst, daraus ausging, lauter poetische Vertiefung, lauter Kindersinn und Kinder glaube, lauter priesterliche Sanftmut und Salbung zu sein, bot
einer scharfen, beißenden Kritik steten Anlaß zu Spott und Hohn über ihn, der allen als der Theoretiker der Schule erscheinen mußte.
Als Jüngling hatte Coleridge in seinem Gedichte „Feuer,
Hungersnot und Metzelei"
alle diese Schrecknisse, eine nach der
anderen, auf die jeweilige Frage, wer sie wüten hieß, mit dem auf
Pitt gemünztm, schrecklichen Refrain antworten lassen:
The same! the same! Leiters four do form his name He let me loose, and cried: Halloo: To him alone the praise is due. Jetzt war er Mr. Pitt's getreuer Journalist und, wie alle
die anderen Mitglieder der Sceschule, ein strenger Tory, der Feind
freier Anschauungen auf staatlichem wie kirchlichem Gebiete. Wunder
also,
Was
daß er seitens der liberalen Partei, pele-mele
mit den anderen, parteiischen und unaufhörlichen Angriffen aus gesetzt war!
Und doch wäre es so leicht und so natürlich gewesen,
ihn als Dichter von allen den übrigen zu unterscheiden und ihm
die Ehre zu geben, die seiner Originalität zukam!
Die äußerst
wenigen Gedichte, die er im Laufe eines ziemlich langen Lebens geschrieben hat, nehmen ihren hohen Rang durch ihre unsagbar melodische Sprache ein;
ihre Harmonien
sind nicht bloß zart
und ungemein in das Ohr gehend, wie bei Shelley, sondern kontrapunktisch zusammengesetzt und reich von eigentümlich schwerer,
durchdringender Süße; jede Zeile hat Wucht und Wohlgeschmack
eines Honigtropfens.
In Gedichten wie Love oder wie Lewti,
unstreitig den lieblichsten seiner Poesien, in einermorgenländischen Phantasie wie Kubla Khan, die einem Traum entsprang, hört
man Coleridge's Nachtigallenstimme mit all den herrlichen, wechsel
vollen Accenten der Singvogelkehle flöten und locken, singen Md schmettern.
Shelley ist, wie Swinburne treffend bemerkt hat, wenn man in
Bezug auf die Harmonie der Sprache ihn mit Coleridge vergleicht, was eine Lerche im Vergleich zu einer Nachtigall ist. Allein Cole
ridge's Poesie ist ebenso unplastisch wie melodisch, und ebenso leiden
schaftslos wie wohllautgesättigt. Sie ist rein romantisch-phantastisch, d. h. sie stellt weder ein energisch gelebtes persönliches Seelenleben dar, noch giebt sie Beobachtungen aus der umgebenden Welt wieder.
Es ist in letzterer Beziehung interessant, daß Coleridge's große
Reise nach dem Süden fast völlig ohne Frucht für seine Dichtung blieb.
Das einzige, was er von ihr heimbrachte, die Hymne „Bor
Sonnenaufgang im Chamonixthale", wohin er niemals den Fuß
setzte, ist eine Paraphrase der Beschreibung, welche die in der däni schen Litteratur wohlbekannte Dichterin Friederike Brun von dem
Thale gegeben hat. sein Lokalsinn.
Sein historischer Sinn war ebenso gering wie
Er sagt selbst: „Der liebe Sir Walter Scott und
ich waren unbedingt aber harmonisch einander hierin entgegengesetzt,
daß jede alte Ruine, jeder Hügel, Fluß oder Baumstamm in seinem Geiste ein Heer von historischen und biographischen Ideen
verbindungen hervorrief . . . wogegen ich glaube, ich könnte selbst über die Ebene von Marathon wandeln, ohne mehr Interesse dafür zu empfinden, als für jede ähnliche Ebene . . .
Charles Lamb
hat einen Essay über einen Mann, der in der Vorzeit lebte, ge
schrieben — ich habe daran gedacht, einen solchen über einen
Mann hinzuzufügen, der überhaupt nicht in der Zeit lebte, sondern
außerhalb derselben, oder neben ihr her."
Seine Poesie besteht
daher im buchstäblichen Sinne des Wortes aus Traumbildern;
1 Specimens of the table talk of the late Sam. vol. II. 225.
T. Coleridge,
dasjenige seiner Gedichte, welches die besten Kenner am höchsten stellen, komponierte er schlafend, im Traume.
Sein eigenes Leben war plan- und energielos, wie das eines Träumenden.
Von Natur indolent, entwickelte sich bei ihm ein
immer größerer Hang,
alles aufzuschieben.
Die Verschiebungs
sucht (die Prokrastination der Engländer) türmte mehr und mehr
Schwierigkeiten
auf
seinem Wege
auf,
nicht groß genug war zu bewältigen.
die
seine Arbeitskraft
Um für körperliche Leiden
Linderung zu suchen, nahm er zum Opium seine Zuflucht, verfiel aber bald dem Opiumessen, wodurch seine genüge Thatkraft »och mehr gelähmt wurde.
Nach längerem Umherpilgern mit wech
selndem Aufenthalte in befreundeten Häusern, währenddessen er bald litterar-historische Vorträge hielt, bald für Zeitschriften Bei träge lieferte, fand er, unfähig sein Leben selbständig zu leiten, ein Asyl im Hause eines Arztes namens Gillmann, und lebte von 1816
an in Highgate bei diesem Manne, dessen Botmäßigkeit unterstehend, in freiwilliger Trennung von seiner Familie, welche er der Fürsorge seines Schwagers und Freundes Robert Southey überantwortete. Auf den Opiumrausch folgte der Katzenjammer der Reue, der
Selbstvorwürfe und einer immer strenggläubigeren Religiosität.
Was er während dieses Zeitraumes schrieb, hat durchgehends den Zweck, die Ketzereien seiner Jugend zu widerrufen und in der Dog
matik hie Dreieinigkeit, in der Politik die englische Staatskirche
gegen alle kritischen Anfechtungen in Schutz zu nehmen.1 Emerson schildert ihn uns nach einem Besuche bei ihm als „alt und voller Vorurteile", empört über die Handvoll „Priest-
leyaner", welche hie Jahrhunderte lang unangetastete Dreieinigkeits
lehre zu leugnen wagten, und daneben seine Rede mit allerhand ab
gestandenen Gemeinplätzen würzend.
Achtzehn Jahre gingen ihm
unter Träumereien, mündlichem Austausch und der Abfassung von 1 On the Constitution of Church and State according to the idea of each. — Lay ermons.
Erbamngsschriften dahin, wobei er stets einen weit geringeren Einflug als schaffender, denn als anfeuernder Geist übte. spornte und stachelte andere zur Produktion.
Er
Unfern von London
wohnend und seiner sprudelnden Unterhaltungsgabe wegen unab
lässig von den besten Schriftstellern ausgesucht, verbrachte er als
Zuschauer des Lebens, unter Gesprächen mit Männern wie Charles Lamb, Wordsworth, Southey, Leigh Hunt, Hazlitt, Carlyle, eben jene Jahre, in denen die Geister der entgegengesetzten Richtung, Shelley und Byron, sich mit feuriger Kraft gegen die politische und soziale Ordnung aussprachen, von deren Vortrefflichkeit ex durch-
drungm war.
Während er, willenlos und der Disziplin untex-
worfer wie ein Kind, sein Leben von anderen konservieren ließ, und, selbst konserviert, sich immer mehr zuin Konservativen aus bildete, entwickelten die beiden großen Freiheitsdichter, qus ihrer
Heimat vertrieben und allein auf ihre persönliche Energie angewiesm, das höchste Selbständigkeitsgesühl, das iy der Geschichte der Poesie noch je zum Ausbruch gekommen, und rieben sich, da weder andere noch sie selbst bedacht waren, ihr Lehen zu bewähren, lange
vor der Zeit in leidenschaftlichen Kämpfen auf, um von einsm frühen Tode
dahingerafft
zu werden.
Persönliche Forschung,
persönliche Freiheit war ihnen ein ebenso kostbares Kleinod, ass ihm bs Church of England.
VIII. Gewiß konnten sich Coleridge, sowie die übrigen Mitglieder
der Seeschule als
durchaus warme Freunde der Freiheit be
zeichnen: die Zeit war vorüber, wo die Reaktionäre sich anders nannten.
Coleridge
hat
eines
seiner
schönsten
Gedichte,
die
Ode France als einen Hymnus an die Freiheit geschrieben und
ruft hier Wolken, Wogen und Felder zu Zeugen auf, daß er sie stets geliebt habe, und Wordsworth, der ihr ausdrücklich zwei große Gruppen seiner Gedichte zugeeignet, betrachtet sich sogar als
ihren erklärten Anwalt.
Nach einer flüchtigen Lektüre könnte man
diese Dichter für ganz so freiheitsliebend wie Moore oder Shelley
oder Byron halten.
Allein das Wort Freiheit bedeutet in jener
Mund etwas ganz anderes, als in dem Munde dieser.
Man
muß, um es zu verstehen, es mittels der zwei einfachen Fragen analysieren: Freiheit — wovon?
Freiheit — wozu?
Freiheit ist diesen konservativen Dichtern ein bestimmtes, end
liches Gut, das England besitzt und das Europa fehlt, das Recht eines Landes, ohne Alleinherrscher sich selbst zu regieren, vor allem ohne Alleinherrscher aus einem fremden Stamme. Das Land, welches
dies Vorrecht besitzt, ist frei.
Unter Freiheit wird also in diesem
Lager Freiheit von fremder politischer Despotie verstanden; von Freiheit zu etwas ist sozusagen in demselben nicht die Rede.
Man
werfe einen Blick auf Wordsworth's Freiheitssonette und sehe,
was es ist, das er besingt.
Es ist der Kampf der europäischen
Völker gegen Napoleon,
eine Art Antichrist bezeichnet
der als
wird (den Teufel auf seinem „Flammenthron" nennt ihn Scott).
Der
Dichter
trauert
bei
der
Spaniens,
Eroberung
Schweiz, Venedigs, Tirols durch die Franzosen.
tapferen Hofer,
der
Er besingt den
den braven Schill, den verwegenen Toussaint
l'Ouverture, die gewagt haben, den Gewalthabern die Spitze zu bieten, nicht minder Gustav IV. Adolf von Schweden, der mit romantisch-ritterlicher Unfähigkeit Napoleon den Handschuh hin
geworfen und seine Schwärmerei für die Wiedereinsetzung der Kurz darauf sollten ja auch Victor
Bourbonen verkündet hatte.
Hugo und Lamartine als Legittmisten seinen Sohn, den Prinzen
Gustav
Wasa, besingen.
Von Napoleon
Abscheu auf Frankreich über.
geht
der Haß und
In einem der Sonette (Inland
within a hollow vale I stood) erzählt Wordsworth, wie der Kanal zwischen England und Frankreich ihm einen Augenblick so schmal wie ein Landsee vorgekommen sei, und eine Angst ihn
befallen
habe,
England
könnte
mit
jenem
verfluchten
Lande
Zusammenhängen; da aber stärtt ihn wieder der Gedanke, wie groß die englische Volksseele und wie klein die französische sei. In einem anderen Sonett freut er sich bei dem Gedanken, welch
bedeutende
Männer
und
bedeutsame
Werke
England
hervor
gebracht habe, und stutzt, daß Frankreich demgegenüber nicht einen einzigen bedeutenden Band, nicht einen einzigen Meistergeist er zeugt . . . „sondern einen ebenso großen Mangel an Büchern, wie
an Männern habe."
Daher kehrt er dann auch immer und immer wieder zu Eng
land zurück, seine Sonette sind eine lange Liebeserklärung an dies Land, für das er ein Gefühl „wie ein Liebhaber und ein Kind" hat, dies Land, welches das einzige ist, auf dem „alle Hoffnungen
der Erde ruhen/"
Er begleitet in seinen Gedichten sein Vaterland
1 Sonnets dedicated to Liberty. I, XVII, XXI.
bei dessen Kämpfen, er stimmt,
wie Southey, ein Loblied ans
jeden Sieg desselben an, und seine Freiheitssonette gipfeln denn auch höchst bezeichnender Weise in der großen pompösen „Dank sagungsode" für die Schlacht bei Waterloo.
Wir fragen uns
heutigen Tags, was für eine Art Freiheit es war, die Waterloo brachte,
Aber wir begreifen, daß die Gruppe von Dichtern,
dssrey Helden die Nationalhelden Pitt, Nelson und Wellington
selbst waren, deren Lobgesänge der englischen Verfassung als
dex Freiheit selber, und England als dem Muster aller Staaten gasten, bei der Mehrzahl des Volkes eine Beliebtheit errang, deren sich ihre großen poetischen Gegner noch heutigen Tags nicht ZU rühmen vermögen.
Für jene war das Volk, wie es war, ein
Jheal, das Stteben dieser war es, das Volk zu zwingen, seinen
Blick auf ein noch nicht erreichtes, ja nicht einmal erkanntes Ziel zu richten; jene schmeichelten dem Volke und wurden mit Lorbeeren belohnt, diese erzogen und züchtigten das Volk und wurden aus
seinem Schoße ausgestoßen.
Während die Ehrenstellung als Poeta
laureatu8 Scott angeboten und sowohl von Southey wie von Wordsworth bekleidet wurde, hat das englische Volk noch bis
auf diesen Tag durch keine einzige öffentliche Huldigung ein Zeugnis seines Dqnkgefühls gegen Shelley und Byron abgelegt?
Die
Ursache liegt darin, daß ihr Freiheitsbegriff sich so wesentlich von dem der Seeschule unterschied.
Für sie war die Freiheitsidee
nicht in einem Lande, einer Verfassung verwirklicht, lag überhaupt nicht als etwas Fertiges vor, für sie verwirklichte sich auch nicht
bet Freiheitskampf in einem stark egoistischen Kriege gegen einen
revolutionären Exoberer,
Sie fühlten tief, wie üppig die Unfrei
heit, politisch wie geistig, religiös wie sozial, im Schutze einer
sogenannten freien Verfassung wuchern konnte. 1 Erst 1875 hat DIsraeli, als Präsident des Byron Memorial Com mittee, sich an die Spitze einer Sammlung zur Errichtung eines Denkmals für Byron auf einem der öffentlichen Plätze Londons gestellt.
Her /«ihrttsbegriff der Lttschüle.
109
Wenig zu Lobhymnen darüber aufgelegt, wie herrlich weit die Menschheit und insbesondere ihreLandsleute es gebracht hätten, fühlten sie vielmehr unter dem sogenannten Freiheitsregiment einen glühenden,
ungefüllten Freiheitsdurst, ein Bedürfnis nach Freiheit zu Nut allzu
vielem — zu denken ohne Rücksicht auf Dogmen, und zu schreiben, ohne vor der öffentlichen Meinung zu katzenbuckeln, zu handeln,
wie es mit ihrer innersten Individualität übereinstimmte, ohne 8er
Kontrole jener unterworfen zu sein, die, weil sie selbst keine Persönlichkeit besaßen, die lautesten, unbarmherzigsten Richter über die Charakterfehler waren, die mit Selbständigkeit, Originalität
und Genie verknüpft waren.
Sie sahen, daß die herrschende Kaste
unter der „Freiheit" heuchelte und log, aussog und plünderte, Zwang und Gewalt anthat, in Banden und Ketten schlug, genau
so, wie der einzelne Selbstherrscher in seiner Unumschränkten Macht es that, und ohne wie er die Autorität des Geistes und die ENt-
schuldigung des Genies für sich zu haben.
Für die Dichter der
Seeschule war der Zwang kein Zwang, sobald er englisch war,
die Tyrannei keine Tyrannei, sobald sie konstitutionell-monar chisch war, der Verfinsterungsgeist keiU wirklicher VerfmsteruNgsgeist, sobald er von einer protestantischen Kirche ausging.
Die
radikalen Dichter hießen den Zwang Zwang, selbst wenn er die englische Nationalfahne über seinem Haupte schwang Und mit bet
englischen Kokarde als Polizeischild aufttat; bei ihnen erstreckte sich der Widerwille jener gegen unumschränkte Könige auf die Könige überhaupt; sie wünschten die Erde nicht bloß von der Herr
schaft katholischer Pfaffen, sondern von PfaffenvormUndschäft über haupt befreit zu sehen.
Als sie die Dichter der entgegengesetzten
Schule, die in der Hitze der Jugend nicht minder weit als sie selbst gegangen waren, die Toryregierung Englands mit all dem
blinden Eifer einer Renegatenbande verherrlichen sahen, da könnten
sie
dieselben nicht anders denn als Freiheitsfeinde betrachten.
Daher bettauert es Shelley in seinem Sonett an Wordswötth,
110
Der Freihettsbegriff der Leeschule.
daß er „Wahrheit und Freiheit untreu geworden", daher fühlt sich Byron Southey gegenüber immer und immer wieder versucht,
„ihn wie einen Kürbis aufzuschlitzen".
Daher birgt sich überhaupt
in der Leidenschaft dieser Dichter für Freiheit eine heilige Raserei,
ein edles Feuer, davon kein Funke in der platonischen Freiheits liebe
der
Seeschule
zu finden
ist.
Wenn
Shelley
von
der
Freiheit singt: Doch Heller dein Blick, als des Blitzes Schein, Und wie du, so dröhnet die Erde nimmer.
Des Meeres Getös, der Bulkane Spei'n Übertönst, überstrahlst du; der Sonne Schimmer
Ist vor dir wie Jrrlichtsgeflimmer!
da fühlt man, daß diese Freiheit kein Ding, das sich mit Händen
greifen, oder als Geschenk in einer Berfassung geben oder in die Matrikel einer Staatskirche eintragen läßt, sondern daß sie die
ewige Forderung des Menschengeistes ist, sein unveräußerliches
Recht an sich selbst, da« himmlische Feuer, das Prometheus als Funken in das Menschenherz legte, als er es formte, und das die
größten Männer als ihr Lebensziel erachteten, zu der Flamme zu entfachen, welche die Quelle alles Lichtes und aller Wärme den
jenigen ist, die empfinden, wie grabesdunkel und eisigkalt das Dasein ohne sie sein würde. Diese Freiheit ist es, die in jedem neuen Jahr
hundert mit einem neuen Namen auftaucht, die im Mittelalter unter
dem Namen Ketzerei verfolgt und ausgerottet, im sechzehnten Jahr hundert unter dem Namen Reformation verfochten und bekämpft,
im
siebzehnten
Jahrhundert als
Hexerei und Atheismus
zum
Feuertode verurteilt wird, die im achtzehnten Jahrhundert in
Form von Philosophie zu einem Evangelium erhöht wird,
um
während der Revolution in Gestalt der Politik eine Macht zu
werden, und die endlich im neunzehnten Jahrhundert von den
Vertretern der Vergangenheit mit dem Spitznamen des Radikalis mus sich gebrandmarkt sieht.
Der Freiheitsbegriff der Aeeschule.
111
Die Freiheit, welche die Dichter der Seeschule priesen, war
ein bestimmter, konkreter Inbegriff von Freiheiten, keine Freiheit. Was hingegen die revolutionären Dichter verherrlichten, war zwar an und für sich die wahre Freiheit, aber sie faßten diese Freiheit
so abstrakt auf, daß sie im einzelnen nur allzu oft über das Ziel schoflen.
In der Schwächung jedweder bestehenden Regierung,
in den halbbarbarischen Aufständen unterdrückter Volksstämme er blickten sie nur die Schwächung schlechter Regierung, sahen sie das
Morgenrot der ewigen Freiheit.
Shelley war so abstrakt, daß er
dafür hielt, die Schlacht wäre gewonnen, wenn er mit einem Schlage alle Könige und Priester ausrotten könnte, und Byron kam erst
spät auf dem Wege der Erfahrung zu der Einsicht, wie arm an re publikanischen Tugenden die im Namen der Freiheit verschworenen
Revolutionsmänner waren. Die Männer der Seeschule blieben von den edelmütigen Verirrungen und dem vorgreifenden Ungestüm der radikalen Dichter behütet, doch die Nachwelt hat größeren Genuß
und Vorteil von den Ausschreitungen der Freiheitsliebe dieser gehabt, als von dem allseits umgrenzten und eingehegten Freisinn jener.
IX. Hier ist der Ort, dem Manne einen Platz zu gönnen, welcher
Byrön's und Shelley's ärgster Feind und Coleridge's bester Freund War, und der, im ganzen genommen, als hervorragender englischer Romantiker Eoleridge nahe steht, wenn auch seine Produktion an
innerem Gehalt hinter der des Freundes zurückbleibt. Robert Southey, 1774 in Bristol geboren, war der Sohn
eines dortigen Leinwandhändlers, und behielt sein Lebelang das Gepräge, in engen Verhältnissen und mit einem beschränkten Hori
zont vor Augen zur Welt gekommen zu sein.
Nachdem er eine kurze
Zeit in Oxford studiert hatte, wurde er, wie die übrigen Dichter
der Seeschule, vom Geist der Revolution erfaßt und dichtete 1794 ein höchst jakobinisches Poem Wat Tyler1.
Als auch er seine Aus-
1 Als Inschrift für das Zimmer, in dem der Königsmörder Martin eingekerkert gewesen, verfaßte er zu jener Zeit folgende Zeilen:
For thirty years secluded from mankind Here Martin lingered. Osten have these walle Echo’d bis footsteps, as with even tread He paced around bis prison. Not to bim Did Natureis fair varieties ex ist; He never saw the sun’s delightful beams, Save when tbrougb yon high bars he pour’d a sad And broken splendour. Dost thou ask bis crime? He bad rebell ’d against the king and sat In judgement on bim; for bis ardent mind Shaped goodliest plans of happiness on earth And peace and liberty. Wild dreams! but such As Plato loved etc.
Wanderungspläne aufgegeben und seine Miß Fricker heimgeführt hatte, ließ er sich 1797 in London nieder.
Von 1807 an bezog
er eine Staatspension von jährlich 150 Pfund.
Nach dem Tode
des Dichters Pye wurde er Poeta laureatus mit 300 Pfund jährlich.
Diese Stellung, mit welcher die Verpflichtung verbunden
war, alle das königliche Haus betreffenden Begebenheiten zu besingen, wurde zuerst vom Prinzregenten Walter Scott angeboten, der
seinen Gönner, den Herzog von Buccleugh, zu Rate zog.
In der
Antwort des Herzogs heißt es: „Wie könnten Sie das aushalten, an einem königlichen Geburtstage eine Schaar heiserer, quiekender
Choristen Ihre Verse in Rezitativen zur Erbauung von Bischöfen, Hofdamen, Pagen und Leibgardisten ableiern zu hören! O schrecklich, dreimal schrecklich!"
Scott lehnte sonach die ihm zugedachte Ehre
ab, schlug jedoch den königstreuen Southey als bedürftigen Dichter für dieselbe vor.
Den größten Teil seines Lebens darauf ange
wiesen, von seiner Feder zu leben, schrieb er viel notgedrungen.
Fleißig wie er war, ökonomisch und mit allen guten häuslichen Eigenschaften geziert, hinterließ er ein Kapital von 12 000 Pfund.
Die Romantik war bei ihm, wie bei den Deutschen, so weit
davon entfernt, die bürgerlichen und spießbürgerlichen Tugenden Darauf verfaßte damals Canning folgende recht ergötzliche Parodie.
„In
schrift über der Zelle in Newgate, wo Mrs. Brownrigg, die Lehrlingsmörderin,
eingesperrt saß:
For one long term or ere her trist came Here Brownrigg linger’d, Osten have these cells Echo’d her blasphemies, as with shrill voice She scramed for fresh geneva. Not to her Did the blithe Leids of Tothili, or thy Street St. Giles, its fair varieties expand; Till, at the last, in slow-drawn cart she went To execution. Dost thou ask her crime? She wipp’d two fetnale prentices to death And hid them in the coalhole. For her wind Shaped strictest plane of discipline: Sage echemes Such as Lycurgus tought etc. Brandes, Litteratur der 19. Jahrh. IV.
8
Die orkntaltfdjt Romantik -er Zeeschuie.
114
auszuschließen, daß sie sich im Gegenteile aufs beste mit ihnen vertrug.
Hatte sie doch nun einmal mit dem Leben so wenig
zu thun.
Dagegen^ hinderte seine ehrbare Philisterci ihn keineswegs,
seine Phantasie die wildesten morgenländischen Luftfahrtm unter» nehmen zu lassen. — In Southey's erster Periode, der freisinnigen, lag offenbar
etwas Schönes, Warmes in seiner Begabung.
geisterung, hatte Mut.
Er hatte Be
Sein Epos Joan of Arc vom Jahre
1797 ist ein Gedicht, das aus einem ebenso innigen Gefühl für die Heldin Frankreichs hervorgeht, wie
es Schiller fünf Jahre
später in seinem Drama „Die Jungfrau von Orleans" an ben
Tag legte.
Wie Schiller's Dichtung,
ist
die
Southey's
ein
Gegenstück zu Voltaire's Pucelle, ja der sittsame englische Poet versichert sogar in der Vorrede, er habe sich niemals, dessen schuldig gemacht» „einen Blick in dies Gedicht zu werfen".
Joan
of Arc
ist Southey
noch kein Romantiker.
In
Er richtet
hie und da voreilend den Blick geradezu auf seine eigene Zeit.
Im
dritten Gesang
verherrlicht er Madame Roland als das
heroische Weib, das zur Märtyrerin ihrer Vaterlandsliebe würbe,
im zehnten Gesang Lafayette, dessen Namen „die Freiheit stets lieben wird", und selbst in der Darstellung der Thaten Johannas
ist weit sorgsamer als bei Schiller jeder Appell an das Magische vermieden.. An einer Eckstelle des Gedichtes, wo die Jungfrau nm
ihren Glauben befragt wird, bekennt sie sich sogar, und durch sie der Dichter, so ehrlich zum Kultus der Natur, daß man selbst
hinsichtlich Southey's das volle Gefühl hat, der die ganze eng
lische Poesie jener Zeit beherrschende Naturalismus sei die Basis, auf welcher auch er stehe. Weib, sagt ein Priester zu Jeanne d'Arc,
Weib, du scheinst Zu höhne» uns'rer Kirche fromm Gebot;
Und wenn ich deine Worte recht versteh', Sagst du, daß Einsamkeit und daß Natur
Dich dein Gefühl von Religion gelehrt, Und daß jetzt Messen und Absolution
Und Christi heil'ger Leib dir unbekannt. Wie konnte, ohne diese, die Natur Dich wahre Religion wohl lehren?
Nein,
Zu sündigen lehrt einzig die Natur;
Der Priester nur lehrt Reue, nur auf sein Geheiß schließt Petrus auf das Himmelsthor,
Und aus des Fegefeuers Strafgericht Erlöst nur er die Seele.
Das Mädchen antwortet: Väter der heil'gen Kirche, sollt' in so Verzwickten Punkten eine schlichte Maid Wie ich sich irren, schreibt den Frevel nicht
Dem eigenwilligen Verstand zu, der Sich stärker denn die ew'ge Weisheit dünkt!
Wahr ist's, daß ich seit lange nicht den Ton
Der Messe hörte, noch den heil'gen Leib Des Herrn mit zitternder Lipp' empfangen. — Der Bogel, der ein muntres Lied als Gruß Zum Morgenstrahl emporgesandt, schien mir
In seiner wilden Melodie des Glücks Weit süßern Dank zu schmettern in das Ohr
Der Frömmigkeit, als jemals durch die hoch Gewölbten Hall'n menschlicher Kunst erklang. Und dennoch hab' ich niemals ohne Dank Des Rebstocks reife Trauben abgepflückt Uneingedenk des Gottes, welcher dies
Unblut'ge Mahl mir gab.
Ihr sagtet mir.
Daß die Natur uns einzig sünd'gen lehrt. Jst's Sünde, hilfreich dem versehrten Lamm
Die Wunden zu verbinden und sie sanft Mit meinen Thränen zu benetzen?
Das
Hat mich Natur gelehrt! Ihr Väter, nein, Nicht die Natur lehrt uns zu sündigen, Natur ist Güte, Liebe, Schönheit ganz! Im stillen Schattengrund' des grünen Wald's
Giebt es kein Laster, das zur zornigen Wang' Empor die Röte treibt; kein Elend giebt's
Und keine arme Mutter dort, die bleich
116
Vie orientalische Romantik der Seeschule.
Und hager auf die hungernden Kinder starrt Mit einem Blick, so matt, so wehevoll,
Daß seine strafende Beredsamkeit Dereinst die Mächtigen der Welt verklagt!. . .l
Der aufmerksame Leser wird schon, allein an dieser kleinen Deklamationsnummer nicht nur den Nachhall der revolutionären
Leidenschaft jenseits des Kanales, die hier in englische Naturver
ehrung umgesetzt ist, sondern auch des jungen Dichters Mangel
an Fähigkeit herausgefühlt haben, seinem Vorwurfe eine wirkliche Zeit- und Lokalfarbe zu verleihen.
Frankreich und das Mittelalter
sind ihm, was ihm später das Morgenland und die Sagenwelt
teerten sollte, ein Kostüm, unter dem er seine englischen protestantischen Ideen spielen läßt.
und
Es gehörte jedoch ein gewisser
Mut dazu, zu jener Zeit, wo der Nationalhaß gegen Frankreich
so lebendig war, die nationale Heldin des Feindes zu verherrlichen,
und das Gedicht ist, bei all seiner Trockenheit an Gefühl sowohl wie an Färbung, ein Werk, das einem jungen Dichter Ehre macht;
allein der Geist, der hier sein Talent beflügelt hatte, sollte rasch aus seiner Poesie verschwinden.
Je mehr die uneigennützige Begeisterung für die großen Auf gaben und Träume der Menschheit in seiner Seele ebbte, desto
mehr fühlte er den Drang, dieser Dürre dadurch zu begegnen, daß er sie mit einem Sttom von äußerer Romantik zu befruchten suchte. Er hatte allmählich eine gewisse Herrschaft über die Sprach
mittel erlangt und vermochte, wenn auch lose gebaute, so doch melo dische und bei all ihrer Vagheit und Monotonie recht stimmungsvolle
Sttophen zu schreiben.
In diese reiche, geschmeidige Form ließ
er nun allen Aberglauben Arabiens und die allerphantastischsten Träume des Orients sich ergießen, und aus dem Gemenge gingen
seine beiden Hauptwerke „Kehama's Fluch"
1 Southey: Joan of Arc, Book III.
und „Thalaba der
117
Vie orientalische Nomantik der Zeeschnle.
Zerstörer" hervor. romantischer.
Der Zug zum Morgenlande ist ein gemeinsam
Wir finden ihn gleichzeitig bei Oehlenschläger und,
als die Bewegung nach Frankreich übergreift, bei Viktor Hugo
(Aly und Gulhyndi — Les Orientales).
Was aber besonders die
englischen Dichter nach dem Oriente locken mußte, das war das
farblose protestantische Leben der Heimat mit seiner strengen, kalten
Wohlanständigkeit.
Doch bedurfte es eines Irländers, Thomas
Moore, eines Koloristen, dem keltisches Blut in den Adern floß,
um, sei es auch nur annähernd, ein Volk und eine Sagenwelt wie die Altpersiens zu verstehen und in der englischen Sprache die Natur
des Ostens in einem Stile darzustellen, der wie mit Juwelen und
barbarischen Ornamenten überstreut erscheint.
„Lalla Rookh" ist
kein Meisterwerk, seine Personen und Gedanken sind allzu europäisch und zahm, allein „Thalaba" ist äußerst matt im Vergleich zu „Lalla Rookh" und sittsam wie eine englische Predigt.
Dies Gedicht,
das zu seiner Zeit eines gewissen Rufes sich erfreute, krankt an dem
grellen
Widersprüche
zwischen
dem
bunten
Flitter
Szenerie und der nüchternen Ehrbarkeit der Gefühle.
der
Wir sind
einerseits in einer Welt, die nicht minder märchenhaft, als die von
„Tausend und eine Nacht" ist, zugleich aber in einer, wo unaus gesetzt Nächstenliebe und der Glaube an den einigen Gott gelehrt
wird.
Das Leben des Helden wird auf das Umständlichste von
einer allwaltenden Vorsehung gelenkt.
Soll er das Haus seines
Pflegevaters verlassen, so geschieht nichts Geringeres, als daß ein Schwarm syrischer Heuschrecken, von einer Vogelschaar verfolgt,
über das Haus hingesendet wird; einer der Vögel verliert aus
seinem Schnabel eine Heuschrecke, die zu Füßen Thalaba's nieder
fällt und auf deren Stirn mit feinen Schriftzügen zu lesen steht: Wenn die Sonne Mittags verdunkelt wird,
Dann Sohn Hodeirahs zeuch fort!
(Dritter Gesang, Strophe 32.)
Während sich jedoch der Dichter
einer so abenteuerlichen Maschinerie bedient, kann er, wie eben
118
Vie orientalische Romantik der Zeeschnle.
auch in Joan of Arc, nicht umhin, gleichzeitig seine Leser vor
den irrigen religiösen Meinungen des Orientes und der Zeit zu Alle seine Hauptpersonen sind Vernunftgläubige ihrer
behüten.
morgenländischen Religion gegenüber,
und lassen es so wenig
als möglich daran fehlen, gute Protestanten zu sein.
Als die
Heuschrecken erscheinen, sägt Thalaba's Pflegevater Moath: Wähnst du denn, Daß der Geruch von Wasser, hingesetzt Auf irgend eine syrische Moschee,
Mit Priesterpossen und Beschwörungswort,
Die nur den Pöbel äffen, sie hieher Geführt aus Khorosan?
Nein, Allah, der
Zu Plag' und Straf' den Menschen sie erschuf, Hat ihnen auch hieher den Weg gezeigt
Kritischer vermag ein geborener Araber sich unmöglich aus
zudrücken.
Und so ist es durchgehends.
Southey häuft phan
tastische Motive, um, wenn er ihrer müde wird oder wähnt, der
Leser könnte einer Lehre bedürfen, sie hierauf selbst mit irgend einem evangelischen Texte in tausend Stücke zu zerschmettern.
Thalaba trägt an seinem Finger einen Talisman, der ihn gegen die bösen Geister beschützt.
Daher gehen alle Bestrebungen
des bösen Geistes Lobaba dahin, ihm den Ring abzulocken.
Ein
mal versucht er z. B., ihm, während er schläft, denselben vom
Finger zu ziehen.
Allein einer der guten Geister entsendet eine
Wespe, die Thalaba gerade oberhalb des Ringes in den Finger sticht,
so daß es unmöglich wird, den Ring über die geschwollene Stelle zu ziehen.
kreuzt.
Auf ähnliche Weise werden seine Pläne beständig durch
Endlich glückt es dem furchtbaren Zauberer Mohareb, den
Jüngling zu bethören.
Nachdem der Zauberer mehr als einmal
von ihm überwunden worden ist, verhöhnt ihn dieser» weil er nicht
im offenen^Kampfe, sondern nur durch einen Talisman seinen Feind habe besiegen können, und setzt ihm so listig und so lange zu, bis Thalaba den Ring in einen Abgrund schleudert.
Nun beginnt
Man erwartet, jetzt werde er das Knie
der Kampf von vorn.
beugen müssen, steht er doch wehrlos den übernatürlichen Mächten gegenüber. Doch nein: Thalaba siegt gleichwohl. Wieso und weshalb?
Eine Stimme vom Himmel verkündet es: Weil nicht der Ring der wahre Talisman war, der wirkliche Talisman ist Glaube!
(Fünfter Gesang, Strophe 41).
Wozu aber dann der ganze Apparat?
Der Dichter geleitet uns durch unterirdische Höhlen, wo den
die Eingänge
bewachenden Schlangen
abgeschnittene Menschen
häupter vorgeworfen werden müssen, wo die Kerze nur brennend
erhalten
werden
kann,
wenn
der Wanderer sie in die abge
hauene Hand eines Hingerichteten Mörders steckt u. s. w., mit
einem Myrte, durch eine Welt, in der es ganz anders hergeht, als
im britischen Reiche.
plötzlich
erfolgt
eine
Allein das Ganze
Szenenveränderung:
ist nur Ballet; morgenländische
die
Garderobe verschwindet, und der Souffleur verliest einen Glaubens
artikel. ein
Hierauf hebt das Ballet wieder an.
prunkendes
Gastmahl
mit erlesenen
Die Bühne stellt mit
köst
Weinen, rosig
„wie
Gerichten,
lichen Weinen in goldenen Gefäßen dar,
das Morgengrauen" und safranfarbig „wie die Abendnebel", und wieder anderen wie Rubin und Ambra. — Was nützt all diese lockende Herrlichkeit?
Thalaba ist ein allzu guter Muselmann,
um sich verführen zu lassen. Doch Thalaba nahm nicht den Trank: Er wußte, daß verboten der Prophet Ihm dies Getränk, das Sünden zeugt.
Die Gäste drängten auch
Zum zweiten Mal das flüssige Feuer nicht Ihm auf; denn aus des Jünglings Auge sprach Ein eherner Entschluß.
Bei Lichte besehen ist der „Zerstörer" Mitglied eines eng lischen Mäßigkeitsvereins;
als
echter
teetotaler
mag
er nur
Quellwasser trinken und dazu „Wassermelonen speisen" (Sechster Gesang, Strophe 24).
120
Die orientalische Romantik der Seeschule.
Nun füllt sich die Bühne mit Figurantinnen. Ein Trnpp von Tänzerinnen schlang den Reihn, Mit Glockenspangen um den Fuß,
Die leis und sanft erklingelten im Takt. Durchsichtige Kleider ließen schamlos frech
All' ihre feilen Glieder schau'n
In lüstern reizendem Gebärdenspiel.
Man ängstige sich nicht, Thalaba ist ein eifriger Gegner der arabischen Vielweiberei; unser junger reisender Engländer wappnet sich mit dem Gedanken an seine Braut, fern in der Heimat: Und Thalaba sah hin,
Doch einen Talisman umschloß sein Herz,
Deß heil'ge Alchemie Der lockern Szene Reiz
In tugendhafte Regung wandelte: Bor seinen Augen schwamm Oneiza's Bild, Arabiens süße Maid.
Thalaba entsteht in England fast zu derselben Zeit, als Aladdin in Dänemark geschaffen wurde (Kehama kam 1801, Alad-
din 1804, Thalaba 1810 . heraus).
Wie fischartig erscheint er im
Vergleich mit seinem dänischen Bruder! Er erreicht das Ziel, er fuhrt seine teure „arabische Maid" heim.
Damit ja das Ganze gehörig asketisch und religiös sei, stirbt seine Braut dieselbe Nacht.
Damit hierauf alles wieder eine morgen
ländische Färbung annehme, wird Thalaba von den arabischen
Schicksalsmächten gezwungen, ein unschuldiges Mädchen namens Laila zu töten. Damit endlich alles gehörig evangelisch ende, verzeiht er zum Schluß in einer pathetischen Trauerrede dem Zauberer,
der an all seinem Unglücke schuld ist, demselben, den er sein ganzes
Leben hindurch gesucht hat, um die Ermordung seines Vaters zu rächen, und der ihm nun endlich nicht zu entrinnen vermag: „Ich töte dich nicht, Greis!" sprach Thalaba, „WaS du mir und den Meinen Böses thatst, Trug bitt're Strafe in sich selbst."
O Thalaba!
Du sprichst wie ein Buch, doch wie eins der
Bücher, die man zuschlägt. Schlagen wir es zu und werfen wir noch einen Abschieds
blick auf dessen Verfasser.
Selbst Thackeray,
der Southey als
Charakter über die Maßen rühmt, muß von seinem Hauptwerke
zugeben, daß in dem Kampfe zwischen dem „Zerstörer" Thalaba
und der Zeit dieser letztere „Zerstörer" die Wahlstatt behauptet haben dürfte.
Es wäre lehrreich zu erfahren, wie viele jetzt
lebende Engländer dies Gedicht gelesen haben.
Der Nachwelt ist
und bleibt Southey nur durch seine hysterischen Ausfälle gegen
Byron und durch dessen unvergleichliche Gegenhiebe bekannt. Wir haben Southey's „Vision des Gerichtes" diejenige Byron's
zu verdanken, und nm der letzteren willen vergeben wir ihm gern sowohl „Kehama" wie „Thalaba".
Und dennoch, wie viel hohle
Phantasterei diese Dichtungen auch enthalten:
auf die Natur
schilderungen erstreckt sich dieselbe nicht in dem Maße, wie bei den Romantikern Deutschlands.
Selbst inmitten all dieser roman
tischen Verirrungen verleugnet sich das nüchterne Wahrheitsstreben
des Engländers nicht.
Wie schön ist gleich die erste Strophe des
Gedichtes mit ihrer Schilderung der Wüstennacht, deren sanften Tonfall Shelley als Jüngling in seiner Queen Mab! nachahmte:
How beautiful is night! A dewy freshness Alls the silent air, No mist obscures, nor cloud, nor speck, nor stain, Break the serene of heaven: In full-orb’d glory yonder Moon divine Rolls through the dark blue depths. Beneath her steady ray The desert circle spreads Like the round ocean girdled with the sky, How beautiful is night! Der Karawanengesang im fünften Akt des Aladdin giebt kein
schöneres Bild des Mondscheines auf dem Wüstensande. solcher Bilder finden sich bei Southey nicht wenige.
Und
Wenn er
122
Vie orientalische Romantik -er Seeschule.
die furchtsame Antilope schildert, die den Schritt des Wanderers
vernimmt und stille steht, unschlüssig, wohin sie in der unsicheren Dämmerung sich wenden soll, oder den Strauß, der in seiner blinden
Hast ihnen gerade entgegeneilt, während die unbeweglichen Nebel
der Nacht sich über die Wüste breiten (vierter Gesang, Strophe 19), so ist dies seine Szenerie im deutsch-romantischen Stile, sondern ein naturgetreues Bild des Ostens, auf dem Grunde englischen
Beobachtungsgeistes ausgeführt.
Dem Charakter Robert Southey's wurde von seinen Freunden und Zeitgenossen so viel Achtung gezollt, wie sonst nicht leicht
einem Manne von solch zweifelhaftem politischen und litterarischen Rufe.
Er war Wordsworth ein zuverlässiger Freund, Coleridge
die beste, treueste Stütze, und was mit nicht geringem Gewicht in
die Wagschale fällt: Walter Savage Landor beehrte ihn, seines
schnurstracks entgegengesetzten politischen Standpunktes ungeachtet, mit einer Freundschaft, die erst mit dem Tode erlosch, und die in Landor's
Imaginary
gesetzt hat.
Conversations
Als Emerson den
sich
Denkmale
zahlreiche
15. Mai 1833 bei Landor zu
Tische gewesen, schreibt er: „Ich speiste bei Landor — er quälte Man sieht, daß
mich mit Southey — aber wer ist Southey?"
Landor für seinen Freund Seelen zu fangen bemüht war.
Endlich
hat Thackeray, nach dem Typus eines echten englischen Gentleman suchend, kein Bedenken getragen, den armen, fleißigen Southey als Muster eines solchen zu bezeichnen.
Allein kein Zeugnis zu Gunsten seines persönlichen Charafters wird seinen litterarischen zu retten vermögen.
Dieser ist durch
Southey's Lobgesänge auf das englische Königshaus und durch
seine Angeberei Byron gegenüber gestempelt.
Daß er, gleich den
übrigen Mitgliedern der Seeschule, dieser neuen, rücksichtslos auf-
tretenden litterarischen Erscheinung gegenüber sich kühl und ab
lehnend
verhielt,
war natürlich,
daß
er
aber
—
selbst
ein
Dichter — durch die nichtswürdige Anklage der Unsittlichkeit und
Gottlosigkeit den gebildeten Pöbel gegen einen anderen und so un endlich viel größeren Dichter aufhetzte, das ist ein Verbrechen, welches die Geschichte nicht vergiebt, und das sie damit gestraft hat, Southey's
Namen nur in einer Note zu Byron's Werken aufzubewahren. Als „Don Juan" erschien, schrieb Southey: „Ich bin nicht blind
dafür, daß das Publikum äußerst unduldsam gegen litterarische Re
formversuche ist... Doch ich wünschte, die Intoleranz den Büchern
gegenüber entspränge einer gesunden Urteilskraft und beträfe mehr die Moral des Werkes als seine Komposition, mehr den Geist als
die Form.
Ich wünschte, sie richtete sich gegen jenes scheußliche
Gemisch von Greueln und Lästerungen, von Unsittlichkeit und Gott losigkeit, womit die englische Poesie unserer Tage befleckt worden
ist.
Mehr als 50 Jahre lang zeichnete die englische Litteratur
sich durch ihre moralische Reinheit aus, die eine Wirkung und
wiederum eine Ursache der sittlichen Hebung des Volkes war. Ein Vater konnte seinen Kindern ohne Gefahr jedes neuerschienene Werk in die Hände geben, wofern es nicht durch irgend ein auf
dem Titelblatte ersichtliches Zeichen darthat, daß es für den Absatz
in unzüchtigen Häusern bestimmt sei.
Es kam nur darauf an,
daß das Werk den Namen eines ehrenhaften Verlegers trüg, oder von einem ehrenhaften Buchhändler zugesendet wurde.
insbesondere bei der Poesie der Fall.
Nun ist dem nicht mehr
so, und wehe ihm, von dem dies Ärgernis ausgeht!
Gaben er besitzt,
Dies war
Je größere
um so größer sein Verbrechen, um so länger
wird seine Schande währen.
Mag nun das Gesetz an sich außer
stände sein, einem Übel von dieser Bedeutung zu steuern, oder mag es mit Schlaffheit und mit solcher Ungerechtigkeit vollstreckt
werden, daß die Berühmtheit des Frevlers ihm Straflosigkeit
sichert, so sollte doch jedermann bedenken,
daß so verderbliche
Werke weder zur Veröffentlichung kämen, noch geschrieben würden, wenn sie bei der öffentlichen Meinung auf gebührenden Widerstand
stießen.
Jeder, der solche Bücher kauft oder über seine Schwelle
Bit orientalische Nomantik der Zerschule.
124
kommen läßt, erhöht das Übel und wird insofern ein Mitschuldiger
des Verbrechens.
Die Veröffentlichung eines unsittlichen Buches
ist eine der schlimmsten Kränkungen, die der Wohlfahrt der Ge
sellschaft nur zugefügt werden kann. Tragweite sich nicht absehen Reue aufhalten kann.
Es ist eine Sünde, deren
läßt, deren Folgen
keine spätere
Denn welche Gewissensbisse den Verfasser
auch quälen mögen, wenn seine Stunde kommt, und kommen muß
sie, sie werden vergebens sein.
Die jammervollste Reue auf dem
Sterbebette vermag nicht ein einziges Exemplar des Buches aus zulöschen ...
Männer mit siechem Herzen und verderbter Ein
bildungskraft, welche sich ein System von Ansichten gebildet haben,
das zu ihrem eigenen kläglichen Betragen paßt, Männer, die gegen die heiligsten Vorschriften der menschlichen Gesellschaft sich auf
lehnen und die geoffenbarte Religion hassen, gegen welche sie trotz all ihrer Anstrengungen und Prahlereien doch nicht im stände
sind, sich völlig ungläubig zu verhalten, arbeiten darauf hin, andere ebenso elend wie fich selbst zu machen, indem sie deren
Seelen mit geistigem Giftstoff verpesten.
Für die von ihnen ge
gründete Schule ist der passendste Name die satanische Schule; denn
atmen auch ihre Erzeugnisse den Geist Belials in ihren schlüpfrigen
Partien und den Geist Moloch'- in den widerlichen Bildern von Grausamkeit und Schrecknissen, die darzustellen für sie eine Wollust
bildet, so zeichnen sie sich doch am meisten durch den satanischen
Geist des Hochmuts und der frechen Gottlosigkeit aus, in dem sich
nichtsdestoweniger
das
unselige
Gefühl
der
Hoffnungslosigkeit
verrät . . Es empfahl sich, eine so lange Probe dieser biblischen Bered
samkeit zu geben, ist sie doch für die Rasse des Verfassers so typisch.
Jede kräftige Entladung eines mächtigen Parteigeistes hat
kulturhistorischen Wert.
War es indessen nicht, als ob Southey
die Nemesis ereile, daß ein Buchhändler im Jahre 1821, demselben
Jahre, in welchem er jene Salve abfeuerte, darauf verfiel, sich
Die orientalische Nomantik der Seeschale.
125
durch den heimlichen Wiederabdruck seines alten aufrührerischen
Wat Tyler einen Verdienst zu ergattern, so daß der Dichter sich an die Gerichte wenden mußte, um die Unterdrückung der Auflage und die Bestrafung des Schuldigen zu erwirken — und war es
nicht wie zwiefache Nemesis, daß Lord Eldon die Klage abwies,
weil er es nicht für richtig ansehe, einem Schriftsteller zu seinem Rechte in Bezug auf direkt schädliche und die Sittlichkeit unter
grabende Werke zu verhelfen?
Im selben Jahre verfaßte auch
Southey bei dem Ableben des alten, geisteszerrütteten Georg III.
sein langes, trübseliges Hexametergedicht The vision of judgment,
ein Gedicht, welches nicht allein wegen des verwandten Sujets, sondern auch wegen der Übereinstimmung in der Benutzung des Übernatürlichen zu einem interessanten Vergleich mit Viktor Hugo's
legitimistischem Poem „Die Vision" einladet.
Bezeichnend genug
verherrlichte Southey den armen alten Georg III. um der ein
zigen Tugenden willen, die seinem eigenen Verständnisse zugänglich waren, der einzigen übrigens, die der König besessen hatte, um
der häuslichen und bürgerlichen Tugenden willen, treu gegen sein Weib, gut gegen seine Kinder gewesen zu sein, Eigenschaften, die
ebensowenig einen guten König wie einen guten Dichter aus machen.
Da war das Maß für Byron voll.
Der beleidigte
Apollo erhob sich in seinem Grimme, mit unbeschreiblichem Humor
packte er den armen Marsyas am Ohr und schund ihn lebendigen Leibes in seiner Dooms-Vision. 1 Siehe die Reaktion in Frankreich, S. 255.
X.
Wenden wir uns von Southey zu einem besseren Manne, zu dem Dichter, der die eigentümlich britische Romanük auf die Volks natur und die Geschichte basierte.
Er brauchte nicht, wie die
Männer der Seeschule, sich zum Renegaten zu machen, um in
religiöser und politischer Beziehung konservativ zu werden, sondern
er war es ohne Haß und Groll gegen die Geister der entgegen» gesetzten Richtung, rein und ruhig von Naturell, edlen, festen
Charakters,
poetisch
so
überreich
begabt,
daß
er
mehr
als
20 Jahre hindurch alle Länder Europas mit gesunder, unter
haltender Lektüre versah, und so tief originell in seiner Auffassung der Raffen und der Weltgeschichte, daß sein Einfluß auf die europäische Geschichtsschreibung nicht geringer ward, als der auf die Romandichtung aller zivilisierten Länder.
Walter Scott wurde zu Edinburgh den 15. August 1771 als neunter Sohn einer altadligen Familie geboren.
Der Vater
war Jurist und scheint in seinem strengen Ordnungssinne einige
Ähnlichkeit mit Goethes Vater besesien zn haben; in der Gestalt
des bejahrten Kaufmannes in Hob Roy soll, wie es heißt, der Sohn ihn geschildert haben.
Unverbrüchliche Königstteue hatte
sich in der Familie von altersher — zuerst als Ergebenheit für
die Stuarts, dann für das Haus Hannover — fortgeerbt, nicht minder die strengste Kirchlichkeit.
Der kleine Walter war gesund
und stark, als in seinem zweiten Jahre sein rechtes Bein plötzlich
lahm wurde.
Der Gleichmut, mit dem er sein ganzes Leben hin-
Her geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
127
durch dieses körperliche Gebrechen ertrug, steht in auffallendem Gegensatze zu der Leidenschaftlichkeit, mit der sein großer englischer
Rivale sich gegen sein verwandtes Mißgeschick aufbäumte. Er wuchs in der Schwärmerei für die vertriebene Königsfamilie und für die
Volkslieder mit ihren Schilderungen der alten Kämpfe der Hochländer
und Schotten heran.
Schon im zartesten Alter wußte er ganze
Stücke auswendig jener Ballade von Hardiknut, mit deren Vortrag
er 1815 Byron Thränen entlockte. Alles Anekdotische, besonders in
Reim- und Balladenform, lernte er mit Leichtigkeit; hingegen wird
ausdrücklich bemerkt, daß er sich — ein deutlicher Fingerzeig in Bezug auf die Beschaffenheit seiner spätern Produktion — Jahres zahlen und allgemeine Grundsätze nur mit Schwierigkeit an
eignete.
Der kleine hinkende Knabe, der auf einem Pony, kaum
größer als ein gewöhnlicher Metzgerhund, umherzureiten pflegte,
war ein Kenner von Percy's Sammlung altschottischer Dichtungen
und Fragmente, ja was noch merkwürdiger ist, er sammelte alte Gedichte wie andre Kinder Münzen oder Siegel, und besaß im
Alter von zehn Jahren deren bereits mehrere Bände voll.
auch sein Lebenlang ein Balladenjäger.
Er blieb
Ebenso frühe wie für
die Poesie war sein Sinn für die landschaftlichen Umgebungen erschlossen.
Jede Ruine, jedes Denkmal, ja jeder alte Stein zog
ihn an und ließ ihn verweilen.
Doch betrachtete er nicht die
Natur mit der Wordsworth eigentümlichen Innigkeit, um ihrer
selbst willen bloß als Natur.
Eine Gruppe alter, ineinander
verwachsener Bäume vermochte nicht an und für sich in seinem
Gemüte die Andacht zu erwecken, die sie bei Wordsworth hervor
rief.
Hieß es jedoch: Unter diesem Baume hat Karl II. geruht —
oder: an diesen Baum knüpfen sich Erinnerungen an Maria Stuart — da schnitt er sich Zweige ab zum Angedenken an die von ihm
besuchte Stätte und vergaß sie niemals. Fünftehn Jahre alt
lernte er die malerischen schottischen
Hochlande kennen, die so große Bedeutung für seine Poesie durch
128
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus,
die neue, Europa unbekannte Szenerie erlangen sollten, mit welcher sie seine dichterischen Gestalten umgaben. Von dem Augenblicke an, wo er sich als Dichter fühlte, studierte er die Natur, ganz wie ein Maler Studien aufnimmt. Wollte er. eine Gegend be schreiben, so reifte er eigens hin, notierte auf das Genaueste das Aussehen der Berge, die Lage und Form der Wälder, selbst den Charakter der Wolken in dem gegebenen Augenblick, ja oft die einzelnen Blumen und Sträucher, die am Wege oder am Eingang einer Höhle standen. Der poetische Blick für die Natur, den er mit den Romantikern Deutschlands und Dänemarks gemein hatte, schloß die kräftigste, gewissenhasteste Wirklichkeitstreue der Schilde rung nicht aus. Während Oehlenschläger sich lange mit Rosen und „Vergißmeinnicht" zu behelfen vermochte, kannte Scott jeden Hügel, jedes Thal, jeden Bach, jeden Felsen, jeden Stein, jeden Pfad' und die ganze schottische Flora. Noch aber war Scott sich seines Dichterberufes nicht klar bewußt worden: er bildete sich zu einem fleißigen, eifrigen Juristen aus, der seine Akten mit einer zierlichen Juristenhand und den juridischen Schnörkeln schrieb, womit er später seine vielen poetischen Werke zu Papier bringen sollte. Trotz seines Gebrechens besaß er einen gesunden, geschmeidigen und kräftigen Körper und war so gewandt in allen Leibesübungen, daß er sich einmal eine ganze Stunde lang auf einem einsamen Wege mit seinem Stock gegen drei Kerle verteidigte, die ihn überfielen. Was aber für seine geistige Veranlagung höchst bezeichnend ist: diese Gesundheit war nicht mit einer entsprechenden Feinheit der Sinnesorgane ver bunden. Er ermangelte fast völlig des Geruchsfinnes, und sein homerischer Appetit war alles eher als Leckerhaftigkeit; er ver mochte sein Lebtag guten und schlechten Wein nicht zu unterscheiden, noch einen Unterschied zwischen einem schlecht und einem fein 1 Siehe „Mannion“ Gesang IV, Str. XXIII., wo er selbst diese Aus drücke gebraucht.
zubereiteten Mahle zu schmecken — ein Punkt, worin er den ausgesprochensten Gegensatz zu seinem jüngeren Zeitgenossen Keats
bildet. so
In seinem Verhältnis zu dem andern Geschlecht war er
kalt, daß er wegen dieser Kälte sich Neckereien von seinen
Kameraden gefallen lassen mußte.
Nichtsdestoweuiger hegte er in
seinen Jünglingsjahren romantische Gefühle für eine junge Dame, die einen anderen heiratete, wußte sich aber so vollkommen zu be herrschen, daß niemand etwas davon ahnte.
Das Leid war bald
verwunden, und nach einer keuschen, gesetzten Jugend vermählte
er sich im Alter von 26 Jahren mit einer französischen Dame,
einer Protestantin (Fräulein Carpenter), deren Vater während der Revolution gestorben war.
Den Winter 1796 auf 97 verbrachte
er bei der allgemeinen Furcht der Engländer vor einer Landung damit, Freiwilligenregimenter zu errichten, und da er Feuer und
Flamme für die Sache war, wurde er zum Quartiermeister und Schreiber eines der Regimenter ernannt.
Seiner ersten Über
setzungen aus dem Deutschen Haden wir bereits Erwähnung gethan.
Er, der so lange ein lebendiges Magazin von Liedern, Balladen
und Erzählungen gewesen war, gab nun 1803 eine Sammlung schottischer Volkslieder (Minstrelsy of the Scottish Border) heraus,
die er seinem Baterlande, „Albions besserer Hälfte", widmete; der
dritte Teil „Neuere Nachahmungen" enthält Gedichte des Heraus
gebers selbst?
Eine Kritik des Buches enthielt den prophetischen
Ausspruch, es berge Stoff für hundert Romane. Bei all seiner Treue für das englische Königshaus fühlte er
sich doch beständig als Schotte, ja es unterliegt keinem Zweifel, daß
das schottische Rassengepräge die entscheidende Grundlage seiner Originalität bildet.
Schon das poetisch-historische Interesse, das
bei ihm zum Durchbruche kommt, ist schottisch. Kein Zug des Volks
charakters war bei den Schotten zu allen Zeiten so ausgeprägt, wie 1 In eben demselben Jahre debütierte Oehlenschläger („Gedichte 1803") mit einer Sammlung von Umdichtungen alter Volkslieder. Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
9
130
Der geschichtliche imb ethnographische Naturalismus.
ein heftiges, leidenschaftliches Nationalgefühl.
Jenes Wort „Per-
fervidum ingenium Scotorum“, das seit dem Mittelalter durch
Jahrhunderte die stehende Redensart über die Bewohner Schott
lands war, hatte ursprünglich keine andere Bedeutung.
Sehen
wir einen Augenblick von der inneren Parteispaltung ab, die das Gefühl der Gemeinsamkeit nicht umstößt, so finden wir nicht leicht
in irgend einem andern Lande ein solches Bewußtsein der Zusammen gehörigkeit, wie bei diesem kleinen Volke, dessen Reich mit einem
anderen, bedeutend größeren, das die nämliche Sprache spricht und unter dessen Herrschaft es steht, territorial zusammenhängt. Auch die Engländer haben ein lebhaftes Nationalgefühl, doch tritt es weit
weniger in den Vordergrund, drängt sich weniger scharf hervor, es ist teilt positiver Art und hat all das Viele und Große zum Inhalt,
das nach der Ansicht
zeichnet.
Das Nationalgefühl
des Engländers
sein Volk aus
des Schottländers
unaufhörlich wachsam, beständig auf dem Posten, Wesentlichen negativer Natur ist.
hingegen
ist
weil es im
Wenn der Engländer sagt: Ich
bin ein Engländer, so meint er genau das, was er sagt; wenn aber der Schotte sagt oder denkt: Ich bin ein Schotte, so be
deuten diese Worte in seinem Munde so viel wie: Ich bin kein Engländer?
Um dies Gefühl recht zu verstehen, muß man die geringe Zahl der Schotten im Verhältnis zu der Anzahl ihrer mächtigen Nachbarn bedenken.
Wenn man weiß, daß noch im Jahre 1707
die ganze Bevölkerung Schottlands nicht eine Million überstieg, so begreift man, daß kräftiges Zusammenhalten, tiefe Hartnäckigkeit
und defensive Streitbarkeit not that, wenn die minder zahlreiche Rasse ihre Eigentümlichkeit nicht vom Süden her überflutet oder
verdrängt sehen wollte.
So kam man dazu, auf eine besonders
nachdrückliche Weise das rauhe, düstere Schottland im Gegen-
Masson: Scottish Influence in British Literature.
Der geschichtliche und ethnographische Vatutoliemue. satze
zu dem grünen,
131
fruchtbaren England zu lieben und zu
bewuniern, für seine Berge, Fluren, Sümpfe nnd Nebel mit fast polemischer Vaterlandsliebe zu schwärmen.
Als nun dem Lande
ein großer epischer Dichter geboren wird, und zwar zu einer Zeit, wo das Nationalgefühl sich allenthalben in Europa die Poesie erobert was Wunder, daß es da Schottland ist, welches die ersten
und kraftvollsten Produkte der historischen und volkspsychologischen
Romantik hervorbringt.
Was konnte einem Dichter dieses Landes
näher liegen, als sich in die eigentümlichen Sitten der Hochländer zu verliefen und sie mit ihrem effektvollen Kostüme zu schildern? Was »ar für den Mann, dessen bloßer Name ihn gleichsam zum Baterlcnde in Person zu stempeln schien, natürlicher, als seine Zu
flucht zur Vergangenheit, zu ihren Denkmälern und Erinnerungen
zu nehnen, um so gewissermaßen die geringe Zahl und Bedeutung seiner Landsleute in der Gegenwart durch die Schilderung ihres
Lebens in der Vergangenheit und ihrer geschichtlichen Großthaten
wett zu machen? Was das schottische Nationalgefühl sonach auszeichnete, war
zunächß
das Gepräge
eines innigen Solidaritätsgefühles;
Provinjnation war geschlossener,
die
barg keine so scharfen indivi
duellen Gegensätze wie die Hauptnation.
Scott hat an so mancher
Stelle dies kräftige Sippengefühl seiner Landsleute geschildert, nirgents schöner, als im dritten Teil seines Romans „Das Ge fängnis von Edinburgh", wo dies gesunde, schöne Gefühl dem
armen Bauernmädchen den Mut einflößt, sich unbefangen an den
Herzog von Argyle ganz wie an einen Angehörigen um Hilfe zu wenden.
Allein das schottische Nationalgefühl hatte noch einen
andern Grundzug, nämlich den der Schwärmerei für einen provinz artigen Sonderstaat, wodurch es unmodern und traditionell und dem
gemäß mit allen alten Überlieferungen verbunden austrat.
Daher
bei Scctt die übertriebene Ehrfurcht vor der Königsmacht, deren Sinnbildern und gesamtem Zubehör.
Als er Mitglied der Kom9*
132
Btt geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
Mission zur Untersuchung der alten schottischen Kronregalien war, rief
die Auffindung
derselben
eine
so
lebhafte,
andachtsvolle
Gemütsbewegung bei ihm hervor, daß er, als einer der Beamten einem jungen Mädchen das Diadem zur Probe auf den Kopf
setzen wollte, sich nicht enthalten konnte: „Nein, um Gotteswillen nein!" auszurufen.
Der erste große Partikularismus zog ein ganzes Heer weiterer Sondergefühle nach sich.
Hatten nicht viele Völker das Gefühl
der Schotten für Zusammengehörigkeit, so zersplitterten sich diese
noch mehr als andere in Parteien und Lager.
Das
Gefühl
des Individuums von der Pflicht, in einem gemeinsamen Ganzen aufzugehen, begann nicht erst beim Staate, sondern schon in dem
Stamme, dem Clan, ja der Familie.
Darum treffen wir denn auch bei Scott als Balladensammler eine besondere Vorliebe für jene Balladen, welche die Großthaten von Stammesverwandten oder Vorfahren des Dichters zum Bor
wurf haben.
Darum hat er auch in seiner Eigenschaft als Schotte
ein äußerst ausgebildetes Familiengefühl.
Er war ein muster
hafter Sohn, ein exemplarischer Gatte, er war — wie aus seinen Briefen an seinen ältesten Sohn hervorgeht — der zärtlichste
Vater; er war ein guter Erzieher seiner Kinder an Leib und Seele, der zunächst nur die altpersische Forderung an sie stellte, gut
zu Pferde zu sitzen und die Wahrheit zu sprechen; doch selbst in diesen Gefühlen war er kein recht moderner Geist.
In seinem
Privatleben wie in seiner Poesie ging ihm das Geschlecht über
das Individuum.
Er hatte einen Bruder, Daniel Scott, der
verkommen war und ohne je etwas geradezu Unehrenhaftes be gangen zu haben, doch der Familie Schande machte.
Diesem ver
kommenen Bruder verschaffte er auf schriftlichem Wege eine kleine Anstellung in Westindien, nannte ihn aber in den Briefen an deffen Vorgesetzten immer nur seinen „Verwandten", verlangte auch von
ihm, daß er vor niemand verlauten lasse, wie nahe dies Verwandt-
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
133
schastsverhältnis fei, wollte ihn, als er nach Schottland zurückkam, um keinen Preis Wiedersehen, noch seinen Namen nennen, noch als
-er starb,
seinem Begräbnisse beiwohnen,
oder um ihn Trauer
Derlei gehört zu den Fehlern, die sich im Gefolge konser-
kragen.
vativer Tugenden finden.
Niemanden wird es jedoch wundern, daß
der Mann, der, sonst so milden Sinnes, dermaßen auf dem Altare
der Familie zu
opfern
imstande
war,
nicht der Dichter der
Individualität werden konnte, sondern mit einem Schlage in die
Vergangenheit zurückgeworfen wurde, als Byron erstand.
Im Jahre 1802 wurde die Edinburgh Review gegründet, und Scott beteiligte sich gleich anfangs an diesem Organ, dessen
Redakteur, sein Landsmann Jeffrey, als Kritiker eine sehr große Rolle int Leben der damaligen Dichter spielte, wiewohl ein gewisser derber Verstand ohne Geschmeidigkeit und ohne Schulung seine
einzige kritische Gabe war.
Diese Mitarbeiterschaft währte indes
nur sieben Jahre, da Scott im Jahre 1809, mißvergnügt über die allzu liberale Haltung der Edinburgh Review in der katholischen
Frage
und aufgebracht über Jeffrey's ungünstige Besprechung
seines „Marmion", die Quarterly Review ins Leben rief.
1805 erschien Scott's erste epische Dichtung „Das Lied des
letzten Minstrel".
Sie machte außerordentliches Glück, man freute
sich über diese Rückkehr zur Volkspoesie und zur Natur, insbesondere
wurden die Naturschilderungen höchlich bewundert.
Pitt erklärte,
daß Scott, seiner Ansicht nach, an manchen Stellm die Wirkungen der Malerkunst erreicht habe, und sein Gegner Fox war aus
nahmsweise in diesem Punkte mit ihm eines Sinnes.
War Scott
schon als Beamter durch seine persönliche Liebenswürdigkeit so
beliebt gewesen, daß, wie Wordsworth im Jahre 1803 erfuhr, sein bloßer Name genügte, um wie mit einem Zauberschlage alle Thüren seines Amtsdistriktes zu öffnen, so wurde er nun ebenso
beliebt als Dichter. abgesetzt.
In kurzer Zeit wurden 30000 Exemplare
Es waren die Zustände des sechzehnten Jahrhunderts,
welche, mit annähernd historischer Genauigkeit dargestellt, dem
Leser hier entgegentraten. Die Schilderung der hochländischen Sitten wurde mit so lebhaftem Interesse ausgenommen, daß Scott durch
den geernteten Beifall den Anstoß empfing, etwas Ähnliches in Prosa zu versuchen, ein Gedanke, der in seiner nachmaligen Ver
den Namen Waverley erhielt.
körperung
Vorläufig war das
Interesse für das Mittelalter, das Ritterwesen, die Königsherrlich
keit, die Lehnstreue und die schottische Nationaleigentümlichkeit
erweckt.
Die
englischen Turisten
begannen romantische Wall
fahrten zu den Ruinen der alten Burgen und der Walstatt bei
Killiecrankie zu unternehmen, wo ihre Landsleute im siebzehnten Jahrhundert von den Ungeheuern
mit den Tartanen und den
nackten Waden geschlagen worden waren. Bisher hatte Scott am Abende und bis tief in die Nacht
hinein geschrieben; jetzt, wo seine eigentliche Schaffensperiode be gann, verlegte er seine Arbeitszeit auf den frühen Morgen.
Er
war vor 5 Uhr auf, ging alsbald in die Ställe hinab, begrüßte
seine Pferde und Lieblingshunde, sah nach allen seinen Haustieren, setzte sich hierauf an den Schreibtisch und arbeitete so leicht und
rasch, daß er, wenn er zwischen 9—10 Uhr beim Frühstück er
schien, fast immer schon „seinem Tagewerk das Genick gebrochen" hatte. Um 12 Uhr verließ er sein Arbeitszimmer und verbrachte den Rest des Tages mit seiner Familie und seinen Gästen.
In den
frischen Morgenstunden arbeitete er alle die Werke, die nun folgten,
aus, während Byron charakteristischerweise seine Poesien sämtlich nachts schrieb.
Es ist, selbst wo die beiden Dichter einander am
nächsten stehen, als fühlte man die verschiedene Stimmung der lichten oder dunkeln Empfängnisstunde über dem Werke schweben.
Am nächsten kommt Scott Byron in dem im November 1806
von
Schlacht
ihm
von
begonnenen
Flodden
Field".
Gedichte Was
„Marmion,
die Fabel
oder betrifft,
die
ist
diese Dichtung den übrigen Scott's durchaus verwandt; wieder
Der geschichtliche unb ethnographische ttaturoliemus. ist
es das sechzehnte Jahrhundert,
135
wieder Schottland, wieder
das Leben auf der Burg und bei Hofe, das geschildert wird.
Doch
der
Held
des
Gedichtes
ist
derart
gehalten,
daß
er
direkt den Übergang zu den Byron'schen Helden bildet, gleichwie
das ganze Werk in den leichten, fließenden, aber etwas eintönigen vierfüßigen Jamben geschrieben ist, deren sich Byron in seinen
poetischen Erzählungen am häufigsten bedient hat.
Mannion ist
ein stolzer, unerschrockener Ritter, doch eine Verbrechernatur.
Er
hat eine wunderschöne, junge Nonne, Constanze von Beverley, entführt, die ihm überallhin in Männertracht als sein Page folgt;
aber bald ihrer überdrüssig, sucht er sich mit Gewalt die Hand einer jungen, adligen Dame zu erzwingen, obschon er weiß, daß
diese einen andern liebt.
Von eifersüchtiger Verzweiflung getrieben,
macht Constanze ein Attentat auf Marmions Leben, und mit kalter Grausamkeit liefert er sie als entwichene Nonne der Strafe
des Klosters aus.
Die Äbtissin fällt das Urteil über sie, und in
einer romantischen Greuelszene von der Art, wie sie Byron liebt, doch mit weit geringerer Schonung für die Nerven des Lesers
auszumalen pflegt, wird sie lebendig in einem unterirdischen Ge wölbe eingemauert.
Hier, bei Scott, ist nicht viel von einer Be
gründung der Seelenvorgänge die Rede; die Pracht der Rüstungen,
das Dunkel des Klosters und die treulich wiedergegebene Archi tektur der alten Schlösser besitzen größeren Wert für ihn, als die
zarten Regungen des Gemütes;
gleichwohl hat er in Marmion
etwas geboten, das uns jetzt wie ein Urbild des Giaur, zumal
des Lara anmutet.
Auch die Geliebte des Giaur erleidet einen
schrecklichen Tod, auch Lara wird überall pon einem hingebungs
vollen Weibe in Pagentracht begleitet; eine Szene, worin der Held öffentlich beschämt wird, wie sie in Marmion vorkommt, hat einige
Verwandtschaft mit jener, wo Lara's Vergangenheit ihm plötzlich
mit Verachtung vorgehalten wird. wie Byron:
Klingt es nicht schon beinahe
136
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
Marmion, deß Seele fest und klar, Verblieb in äußerster Gefahr, Marmion, der trotzig selbst zurück
Gab seines Königs Hochmutsblick; Der in der Kampfgenossen Zahl
Den Tapfersten ihr Thun befahl, —
Ihm jetzt versagten Sprach' und Denken, Den Blick zu Boden mußt' er senken, Und glüh'nde Röte stieg
Ihm ins Gesicht; es klang das Wort
So strafend in der Seel' ihm fort,
Daß er betroffen schwieg?
Seine Gewissensqual wird in folgenden Worten geschildert: Es dringt, o Reue, deine Pein Zutiefst in stolze Seelen ein.
Den Feigling schreckt die Peitsche nur,
Du bist der Tapferen Tortur'?
Sßorten,
die
gleichsam
eine Vorherverkündigung
sind der
be
rühmten Stelle im Giaur, wo der über Jammer und Schuld
brütende Geist dem rings von Flammen umloderten Skorpion verglichen wird, der verzweifelungsvoll seinen Giftstachel gegen das eigene Hirn kehrt.
Wie nun einige Ähnlichkeit zwischen Marmion's und Lara's Lage und Wesen besteht, so sterben sie auch beide auf dieselbe Weise, im offenen Kampfe getroffen, ungebeugt im Tode, gottlos bis zum letzten Atemzuge.
Damit aber ist auch die Ähnlichkeit erschöpft; sie ist gerade groß genug, um Byron's Eigentümlichkeit deutlich werden zu lassen.
Für Scott ist Marmion's Persönlichkeit nicht die Hauptsache, er
bedient sich ihrer nur dazu, Gestalten und Situationen aus der Vergangenheit seines Vaterlandes um sie zu gruppieren.
Er be
darf der Laster des Helden, um seine einfache Handlung in Gang
1 Mannion, Gesang IDE, Str. 14. 8 High minds of native pride and force Most deeply feel thy pangs, Remorse! Fear for their scourge, mean villains have, Thon art the tortuner of the brave!
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
137
zu Bringen; sie beschäftigen ihn jedoch nicht an und für sich, und
er stellt sie vollkommen unpersönlich dar.
Als hingegen Byron
seine ersten verbrecherischen Helden skizziert, will er vor allem
Interesse für sie wachrufen.
Schon ihre Erscheinung erregt Auf-
merksankeit und Teilnahme bei jedem, zeugt Vorstellungen von Stolz,
Schuld,
der sie sieht, und er
Haß und Trotz; sie
schlage» in keinem Augenblick ihres Lebens wie Marmion vor
einem Ankläger die Augen nieder; sie leben wie jener Skorpion
der
Srge: ringsum Flammen, innen Selbstvernichtung.
Ohne
Trost zu finden im Himmel oder auf Erden, zieht ihr Herz sich
voll Stolz und Qual zusammen, bis es aufhört zu schlagen.
War
Marmion auch ein hartherziger, selbstsüchtiger Ritter, so ist doch sein leftes Wort „England" als
— er ist an ein größeres Ganzes
sein eigenes egoistisches Leben gefesselt.
Anders Byron's
früheste Helden: sie leben ganz und gar in ihrem eigenen Innern,
das gleichsam eine völlig abgeschlossene Welt für sich bildet, und der DHter hat dafür gesorgt, ab und zu das Publikum eine
ähnlich« finstere, abgeschlossene Welt in seiner eigenen Seele ahnen zu lassm.
Seine Individualität schimmert hinter der erdichteten
hervor, man fühlt hinter dem Werke ein Herz, das gelittm hat und das in halben Geständnissen und dunkeln Ausbrüchen Linderung sucht; d e Darstellung ist mit einem Worte im vollsten Sinne persön
lich, urd damit ist eine Revolution in der englischen Dichtungs weise eingetreten. In dem rein episch gestalteten Gedichte Scott's war es nicht
die Hauptperson, es waren die Begebenheiten, die besonderes Glück
machten,
vor
allem
die Schlachtengemälde im letzten Gesang,
welche ron der begeisterten Kritik für die besten seit Homer erklärt wurden.
Und war nun das Gedicht ganz danach angethan, Be-
wunderrng bei Scott's schlichten Landsleuten zu erwecken, so war es nich: minder geeignet, bei Hof anzusprechen.
Byron hatte
recht, a.s er zum Prinzregenten sagte, Scott scheine ihm so recht
Der geschichtliche uni ethnographische Naturalismus.
138 ein Dichter
für Fürsten
zu sein;
sie seien niemals glänzender
als in Marmio» und der Jungfrau vom See geschildert worden.
Wahrscheinlich finden sich sogar in Mannion direkte Anspielungen
auf den Prinzregenten und seine Gemahlin.
Ersterer dürste kaum
ohne Gemütsbewegung die Schilderung von König James' Auf
treten in der prunkenden Hoftracht gelesen haben,' und die vom Hofe verstoßene Prinzessin von Wales, welche Scott, als er 1806 zum erstenmale in London als Löwe gefeiert wurde, persönlich
kennen gelernt hatte, und deren Partei er sich als Tory anschloß,
konnte die in dem Gedichte vorkommende Schilderung von dem einsam vertrauerten Leben der verlasienen Königin Margarethe auf
sich beziehen, indes der ritterliche und leichtfertige Monarch die Zeit mit seinen Geliebten verbringt. 1806 begonnen, erschien Marmion 1808, und als Scott das Jahr darauf zum zweitmmale nach London kam, ward ihm dort
ein Empfang zuteil, der jedem andern dm Kopf verdreht haben würde.
Er spielte seine Löwenrolle mit einer Gutmütigkeit und
einem Humor, wie sie sich bei dem, der in einer Weltstadt der
Held des Augenblickes ist, nicht häufig finden.
Man erzählt, daß
er einmal, als er eine ganze Gesellschaft mit seinen Erzählungen und Einfällen unterhalten hatte und spät nachts, nach dem Weg
gehen der Gäste, mit einigen verttauten Freunden allein geblieben war, mit sprudelnder Laune in das Shakespeare'sche Citat ausbrach: Ich weiß recht wohl, daß ich Hans Schnock der Schreiner bin,
Kein böser Löw' fürwahr,
und so bescheiden war und blieb er, daß er, als die Rede auf Burns kam, heftig sagte, er verdiene nicht, an einem Tage mit Bums.genannt zu werden.
1 For royal were bis garb and mien, His cloak, of crimson velvet piled, Trimm’d with the für of martin wild; His vest of changeful satin sheen, The dazzled eye beguiled. Marmion V, 8.
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
139
Doch war Scott zahm und sanft als Löwe, so war er um
so grimmer als Tory.
Seine Reise nach London hatte vornehm
lich den Zweck, der Quarterly Review Mitarbeiter zu verschaffen;
sie sollte in streng konservativem Geiste geleitet werden, und zu mal war es die Frage der Katholiken-Emanzipation, die Scott in Aufregung versetzte.
Er ging von dem Gedanken aus, wenn
eine religiöse Sekte, die ihrem Wesen nach eng mit den politischen
Bestrebungen einer ausländischen Macht verbunden und den geist lichen Einflüssen einer Priesterschaft unterworfen sei, deren Ver schlagenheit und Thatkraft nicht ihresgleichen habe, so könne man
cs dem Staate nicht verdenken, wenn er die Anhänger derselben
nicht zu seinen Ämtern berufen wolle. „Wenn einer mit ein paar Pfund Pulver in der Tasche umhergeht," sagte Scott, „und ich gutmütig genug bin, ihn nicht
deshalb aus meinem Hause zu. jagen,
so brauche ich ihm doch
wohl nicht einen Platz an meinem Herde zu geben."
Er hielt
sein ganzes Leben an diesen Anschauungen fest; denn noch wenige
Jahre vor seinem Tode sagte er zu seinem Schwiegersohn: „Ich
die Papisterei
halte
für einen so niederträchtigen, schrecklichen
Aberglauben, daß ich kaum meine Einwilligung zur Aufhebung der peinlichen Strafen gegeben hätte, die bis l 780 in Anwendung
waren.
Jetzt aber, nachdem man der babylonischen Dame das
Pflaster vom Munde genommen, weiß ich nicht, weshalb man so
viel Aufhebens davon macht, ihr Sitz und Stimme im Parlamente
einzuräumen."
Man begreift, daß dem englischen Volke Dichter
wie Byron, Moore und Shelley not thaten, wenn man einen Mann von dem Geistesadel und der Bildung Scott's sich mit so schmählicher, grausamer Beschränktheit aussprechen hört.
Im Jahre 1810 erschien „Die Jungfrau vom See".
So
großes Glück wie dieses Gedicht hatte bisher ^noch nichts von Scott gemacht.
Die herrliche Wald- und Gebirgsfrische, welche dies
schöne Werk durchströmt, seine milde Wärme, sein echtes Gefühl,
140
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
das nirgends zu stürmischer Leidenschaftlichkeit anschwillt, das ganze Naturbild, welches nicht wie bei Wordsworth von Armenhaus
sympathien und Moralpredigten gestört wird, wirkte bezaubernd
auf die Leserwelt.
Das Gedicht fand solchen Anklang in den
weitesten Kreisen, daß die Einnahmen der Passagierpost in den der
Szenerie zunächst gelegenen Stationen sich verdoppelten. Man muß
seine Zuflucht zu Vorfällen aus Scott's eigenem Leben nehmen, um ein Seitenstück zu einer derartigen Thatsache zu finden.
Als
sein Roman „Der Altertümler" erschien, von dem in zwei Tagm 6000 Exemplare abgingen, wurde es ruchbar, daß er die beidm Hunde Dandie Dinmonts, „Pfeffer" und „Senf", nach zwei Hunden benannt habe, denen ein Pächter in Liddlesdale diese wunderlichen Namen gegeben hatte.
Dieser Mann, der Davidson hieß, und
übrigens in dem Roman gar nicht porträtiert war, wurde hier durch so bekannt, daß die Leute eigens Reisen machten, um ihn
zu sehen, ja eine vornehme Dame, die ein Paar Junge von den berühmten Hunden
wünschte und
seinen Namen
nicht
wußte,
adressierte den Brief au Dandie Dinmont, und derselbe kam ihm richtig zu Händen.
The Lady of the Lake wurde mit kaum geringerer Wärme ausgenommen.
So
teilte z. B. der schottische Kapitän Adam
Ferguffon Scott in einem Briefe mit, daß er in Portugal auf
Vorposten, den Kugeln des Feindes ausgesetzt, kniend seine Dich tung vorgelesen habe, während die Mannschaft platt ausgestreckt
auf der Erde lag, und daß, als er die Beschreibung der Schlacht
im sechsten Gesänge las, lautlose Stille geherrscht habe, nur unter brochen von einem donnernden Hurrah, wenn eine französische Kugel neben ihnen in dm Boden schlug.
Was ein moderner ausländischer Leser heutigm Tages in diesem Gedichte findet, ist vor allem das Nationalgepräge, die
Verherrlichung der nationalen und feudalen Erinnerungen und
Sitten, der Königsmacht und der Clanstreue, in Moren; lebendigen.
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
141
naiven Gesängen, ferner Naturschilderungen, thaufrisch wie die Christian Winther's — keinerlei Psychologie.
Da sind ein alter
Barde, namens Allan, ein romantischer Greis, halb Druide, halb Prophet, namens Briand, romantische Träume, die in Erfüllung
gehen,
Weissagungen,
die eintreffen, letztere jedoch als etwas
Volkstümliches, nicht als etwas Mystisches, eingewoben.
Keine
Spur darin von der Romantik des Unheimlichen, an die zu glauben Scott selbst der letzte gewesen wäre.
So sehr seine Geister- und
Gespenstergeschichten ihn auch ergötzen mochten, er selbst war, gonj.
im Gegensatze zu den deutschen Romantikern, weit davon entfernt, dem Eindruck des Schauerlichen und Unheimlichen unterworfen zu
sein.
Er erzählt irgendwo, daß er eines Abends, als er in ein Dorf
wirtshaus kam, den Bescheid erhielt, daß kein Bett mehr zu haben sei.
Ist gar kein Platz, wo ich schlafen kann? — Nein,
das
einzige Bett, das frei ist, steht in einem Zimmer, wo eine Leiche
liegt. — Ist die Person an einer ansteckenden Krankheit gestorben? — Nein. — Gut, so gebt mir das andere Bett. — Ich legte mich
nieder und habe nie eine ungestörtere Nacht verbracht. — Man
denke sich Novalis oder Hoffmann in einer ähnlichen Situation. Nicht als ob sonach der romantische Duft in der „Jungfrau vom See"
etwas Unfrisches hätte.
Was uns heutzutage das
Gedicht weniger interessant macht, ist nicht dies,
sondern das
theatralische Arrangement bei der Schilderung von Sitten und
Gebräuchen.
Auch Scott hat die schlimmste Klippe der roman
tischen Epopöe, das Ballett, woran Southey scheiterte, nicht ganz
zu umschiffen vermocht.
Es werden z. B. in dem Gedichte die
Mannen zum Kriege aufgeboten, und nun wird umständlich er
zählt, auf welche Weise dies geschieht, indem ein Jüngling im Laufschritt das Feuerkreuz von Ort zu Ort trägt.
der Theaterwirkung
Hier ist alles
halber auf die Spitze getrieben: der junge
Mann stößt zuerst auf ein Leichenbegängnis und nimmt den waffen fähigen Sohn von der Leiche seines Vaters hinweg, begegnet dann
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
einem Hochzeitszuge und nimmt den Bräutigam von der Braut fort. Man sieht gleichsam die Prozession über die Bühne schreiten und
den grellen Effekt, als der Bote aus der Kulisse herbeigestürzt kommt.
Es geht wie auf dem Theater zu.
Ein Pfiff, und es
füllen sich menschenleere Thäler und Höhen mit Hunderten von bewaffneten Männern,
eine Handbewegung,
und sie sind ver
schwunden, es sind Massenwirkungen, und man fühlt, daß dem Dichter die Massen, nicht das Individuum, die Hauptsache sind. Ihm
war vor allen Dingen darum zu thun, mit lebhaft hervorstechenden
Zügen die schönen Sitten seines Landes darzustellen: der Fremde findet in der Hütte, unbeftagt, gastliche Aufnahme, der eine Feind teilt mit dem anderen, als dieser müde wird, aus ritterlicher Höflichkeit seinen Plaid — ferner wollte der Dichter seine Leser
durch unschuldige Effektmittel, Verwandlungsszenen und dergleichen, überraschen:
der hochländische Führer,
der Fitz-James geleitet,
entpuppt sich plötzlich als der gefürchtete Clanhäuptling Rhodrick
Dhu, und Fitz-James selbst ist zuguterletzt kein geringerer, denn der König selbst. Doch wie gesund, wie leicht, wie fröhlich, in welch breitem Strome fließt nicht dieser Lobgesang auf Schottland und die Schotten dahin!
Der König beherrscht, ehrliebend wie ein
König bei Calderon, seine Leidenschaft; Hochländer und Bewohner ber Ebene, Männer und Frauen, haben alle das Herz auf dem
rechten Fleck.
Man freut sich des Einblickes in eine harmonische
Welt und verzichtet gern auf Wordsworth's strafendes, morali sierendes Seelenstndium.
Will man in der That ein lehrreiches Gegenstück zu The Lady of the Lake haben» so lese man Wordsworth's
Epos
„Das weiße Reh von Rylstone", dem eine Ballade aus Percy's Sammlung zu Grunde liegt, und das, gleichfalls 1809 begonnen,
ein Gedicht ist, worin der Poet von Rydal Mount, der sich zum Wettstreit angespornt fühlen mochte, am meisten sich dem Gebiete
Scotfs nähert.
Wer würde wohl leugnen wollen, daß das Gefühl
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
143
Bei seinem Haß gegen alle
bei Wordsworth ungleich tiefer ist.
blendenden Tugenden und prunkenden Laster
hat er sich einen
Helden gewählt, der, obschon ein gehorsamer Sohn und mutiger
Ritter, sich aus Pflichtgefühl weigert, seinem Vater und seinen
Brüdern Gefolgschaft zu leisten, als sie die Fahne des Aufruhrs gegen die Königin Elisabeth von England entrollen, und der, ver
stoßen
und verkannt, ohne die Gefahren der Seinen teilen zu
können, ihre Niederlage und schmähliche Strafe erleben muß.
hat seinen Helden mit Entsagung,
Festigkeit,
Er
Herzensgüte und
nazarenischer Religiosität ausgestattet, doch wie überwuchert ist nicht
das Ganze von gesuchtem Tiefsinn, von dem affektierten Halbüber natürlichen,
Empfindsamen,
Salbungsvollen!
Scott betrachtete
die Natur und die alten Sitten mit dem Auge eines Jägers,
Wordsworth mit dem eines Moralisten.
Wordsworth's schwer
beladenes Frachtschiff bewegt sich langsam,
unterwegs.
säumt und zaudert
Scott's Dichternachen schoß mit vollen Segeln dahin,
nur leichte Blasen in der Phantasie des Lesers hinterlassend, und
wie es im dritten Gesang des Gedichtes von dem Rache» heißt — So rasch den See der Rudrer schlug, Daß, wo in's Wasser schnitt der Kiel, Die Blase noch ihr lustig Spiel
Trieb tanzend aus dem Kausen Spiegel,
Als schon erreicht die Festlandshügel.
Man wird leicht begreifen, daß Scott's Poesien mit ihrer
Vorliebe für ritterliche Tugenden, für die Kühnheit und den Mut selbst bei aufrührerischen Clanhäuptlingen, Seeräubern, Zigeunern,
Schmugglern rc, kurz mit allen den Sympathien, die den Über
gang zu Byron's Liebe zum Kühnen, Wilden bilden, eine Seite hatten, von welcher sie den moralischen, christlichen Dichtern der Seeschule höchlich zuwider waren.
So wirft bezeichnenderweise
Coleridge an einer Stelle Walter Scott vor, er arbeite „dem korrupten Verlangen nach Reizmitteln in die Hände, indem er
das Lasterhafte und Verruchte sympathisch darstelle, sobald der
Teufel nur verwegen sei", worauf er mit dem äußerst unwirschen
Worten schließt: „Nicht zwanzig Zeilen von Scott weiden auf die Nachwelt kommen, sie stehen zu gar nichts in Beziehung."1
Die
Prophezeihung ist nicht in Erfüllung gegangen. Das Jahr 1812 brachte die ersten zwei Gesänge von Childe
Harold
und
kurz
darauf
einen
innigen
Brief
Byron's
an
Scott mit einer aufrichtig gemeinten Entschuldigung wegen des
thörichten Angriffes in English Bards and Scottish Reviewers. Der junge hitzige Poet hatte hier seinen älteren Berufsgeuossen
mit Hohnreden überhäuft, nicht nur, weil sein Lieblingsheld eine Mischung von „Wilddjeb, Räuber und gemeinem Schuft" sei, sondern
vornehmlich, weil 'Scott Honorar für seine Schriften empfange, für Lohn schreibe, und „für seine Brotherren" arbeite, etwas,
wovon Byron in seiner ersten Jugend, so bedürftig er dessen auch war, aus Vornehmheit nichts wissen mochte — bis er nach seiner zweiten Reife in das Ausland sich seine Arbeiten gehörig
einttäglich zu machen wußte.
Er bereute seine Übereilung gegen Scott
ebenso heiß wie alle seine anderen Übereilungen dieser Art, und die
vorübergehende Spannung zwischen den beiden großen, liebens würdigen Männern wurde nun von dem herzlichsten Verhältnisse
abgelöst. — Auf Scott's Produktion aber einen schwerwiegenden Einfluß aus.
übte Childe Harold
Mit klarem Blick erkannte er,
daß er in der poetischen Erzählung nicht mit Byron Schritt
halten könne;
er beschloß sich einem anderen Kunstgebiete zuzu
wenden, dem, auf welchem er bald ohne Nebenbuhler in Europa dastehen sollte.
Die Äußerungen über seine Beweggründe hierzu, wie über haupt seine Äußerungen über Byron,
die sich in seiner Bio
graphie verstreut vorfinden, sind Zeugnisse edler Humanität und
reizenden Offenherzigkeit.
Im Jahre 1821 sagte
1 Leiters, conversations and reeolleetions I, 193.
er zu einem
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
145
Freunde: „Ich habe es längst aufgegeben, Verse zu schreiben. war Sieger
gewesen
auf dieser Bahn
und
mochte nicht
Ich die
Zeit erleben, wo ich hinter einem andern hätte zurückbleiben müssen.
Die Klugheit mahnte mich, vor Byron's mächtigerem Genius die Hätte ich, eifersüchtig, nach Dichterruhm ge
Segel zu streichen.
ich würde mich wohl mit nicht geringerem Mute, als er
geizt, ihn
bei
seinem Austreten
bekundete,
auf
den Zweikampf ein
gelassen oder das Publikum in Staunen und Schrecken versetzt haben, indem
ich
in eigener Person die Rolle des sterbenden
Fechters gab; doch ich will lieber mit jener Offenheit, die Sie
seit zwanzig Jahren an mir kennen, gestehen, daß ich mich nicht
stark genug fühlte."
Als er endlich im Jahre vor seinem Tode
gefragt wurde, weshalb er keine Verse mehr geschrieben habe, ant wortete er kurz und bündig: „Weil Byron mich geschlagen hat!"
und auf den Einwurf des Fragenden, daß er für seinen Teil ebenso viele Stellen aus seinen als aus Byron's Gedichten auswendig wisse,
erwiderte er: „Mag
sein; aber er hat mich durch seine
Zeichnung der leidenschaftlichen Gefühle und seine tiefe Kenntnis
des Menschenherzens aus dem Felde geschlagen."
Mußte dies
auch im ersten Augenblick eine herbe Erkenntnis für Scott gewesen
sein, so konnte er nicht mit Unrecht in dem Gedanken Trost suchen, dem er ein andermal Ausdruck gab: „Wenn ich Ursache hatte, es mir zu Herzen zu nehmen, daß die Entfaltung seines Genies mich
in Schatten zu stellen schien, so durste ich mich damit trösten, daß
die Natur mich zum Ersatz dafür mit weit größerer Anlage zu wahrem Glück ausgestattet hat." Mit „Waverley", der im Februar 1814 anonym erschien, begann
Scott
nunmehr
und
die
lange
sein Heimatland
berühmt machten.
Reihe
in
der
anonymer
Romane,
die
ganzen zivilisierten Welt
Ihr Auftreten fällt mit dem Auflodern des
nationalen Stolzes beim Friedensschlüsse mit Frankreich und den
für die Zukunft sich eröffnenden vielverheißenden Aussichten zuBrandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
10
146
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus,
sammen.
Diese Werke sind nicht, wie die der vornehmsten Dichter,
wie die Schöpfungen eines Goethe, eines Byron, verschiedenen Entwicklungsstufen und Bildungsstadien, noch auch tiefeingreifenden
persönlichen Erlebnissen entsprungen, sie sind zur vollen Reife ge diehene Erzeugnisse einer unerschöpflichen Erzählergabe und eines
ungewöhnlichen Talentes der Charakterschilderung.
Sie bezeichnen
nach zwei Richtungen hin einen außerordentlichen Fortschritt — in Bezug auf die Auffassung des historischen und in Bezug auf
die Darstellung des bürgerlichen Lebens. Während die Geschichtschreiber des achzehnten Jahrhunderts,
deren Ideal in ihrer eigenen Zeit lag, ihren Beruf mehr oratorisch als dichterisch aufgefaßt und mit abstrakter Verständigkeit sich mit
Staats- und Bildungszustanden beschäftigt hatten, ohne Blick für den Einfluß der Himmelsstriche und geographischen Verhältnisse, ohne
Untersuchung der völkergeschichtlichen Ursachen, da das LZolk als Volksstamm in ihrem Bewußtsein überhaupt keine Rolle spielte — ging Walter Scott als historischer Romanschriftsteller vor allem
darauf aus, ein farbensattes Bild des betreffenden Zeitalters und der Eigentümlichkeit des betreffenden Landes zu geben, und fühlte sich um so weniger versucht, seine Helden in dem Kostüme seiner
eigenen Zeit auftreten zu lassen, als er im innersten Herzen das bunte
Leben
der
Vergangenheit
dem
farblosen Treiben,
den
glatten Verstandesschlüssen seines eigenen Jahrhunderts bei weiteitt vorzog. Chateaubriand hatte wenige Jahre zuvor in den „Märtyrern"
den ersten Versuch gemacht, jedes Zeitalter mit seinem eigenen Maß zu messen, und die Physiognomie des Altertums in lebensvollen
Bildern zur Darstellung zu bringen.
Gleichwohl ist Walter Scott
der eigentliche Entdecker und Durchführer jener „Lokalfarbe" in
der Dichtung,
welche
die Grundlage
der
ganzen Poesie
des
Romantismus in Frankreich wurde und von Anfang an Hugo,
Msrimie und Gautier inspirierte. Ja, nicht genug, daß er mit seinem
Der geschichtliche und ethnographische Itaturalieyiue.
147
historischen Sinne der Wegweiser einer ganzen Dichterschule wurde,
er übte mit seinen anspruchslosen Romanen den größten Einfluß auf die Geschichtschreibung des neuen Jahrhunderts aus.
Es darf
nicht übersehen werden, daß es Walter Scott's „Jvanhoe" mit seiner Schilderung der Spannung zwischen Normannen und Sachsen
war, wodurch Augustin Thierry auf den Gedanken kam, hinter den Thaten Chlodwig's, Karl's des Großen und Hugo Capet's als treibende Ursache der Ereignisse den Rassenkampf zwischen Galliern und Franken zu suchen.
Dieser Dichter, der keinen tiefen Blick für das Seelenleben des
einzelnen modernen Menschen hatte, und welcher der modernen Zeit der freistehenden Persönlichkeiten gegenüber vielfach von den Fesseln und Banden nationaler, monarchischer und religiöser Vorurteile umstrickt war,
besaß,
vermöge seines mächtigen Naturalismus,
sobald die Menschen als Clan, als Volk, als Stamm oder Rasse
vor ihm standen, den schärfsten Entdeckerblick für die Naturgrund lage in ihnen.
Er, der gewohnt war, sich im Geiste stets mit
dem Gegensatze zwischen Schotten und Engländern zu befassen, fand leicht und wie durch eine plötzliche Inspiration die Bedeutung
des Rasiengegensatzes zwischen Angelsachsen und Normannen her aus, und seinen Schilderungen ist hierdurch eine ebenso große Be deutung für die Völkerpsychologie,
wie denen Byron's für die
Psychologie des Einzelnen eigen. Dazu kommen die großen Vorzüge dieser Bücher als Schilde
rungen aller bürgerlichen Gesellschastsschichten in scharfgeprägten und typischen Gestalten.
Während man in den Romanen des
vorigen Jahrhunderts (jenen Fieldings z. B.) von einer Wirtshaus
szene zur andern taumelt, offenbart sich das bürgerliche Leben bei
Scott in seiner ganzen behäbigen Breite.
Und was den Wert
von alledem noch erhöht, das ist die realistische Kraft, womit jede
einzelne Person
gezeichnet ist.
Die Engländer haben bei dem
Dichter stets die Fähigkeit geschätzt, mittels handgreiflicher, augen-
10*
scheinlicher Einzelheiten zu schildern, so daß die Gestalt sich vor
dem Leser deutlich abzeichnet.
Ihr derber, gesunder Verstand hat
Freude an kräftigem, anschaulichem Ausdruck.
Sie sehen das
poetische Bild am liebsten in so satten Farben ausgeführt, daß es sich grell abhebt, als wäre es ein auf den Schild gemaltes Wappen.
Dieser Vorliebe kam Scott als Romanschriftsteller entgegen.
Man
verzieh ihm gerne die gräßliche Breite seiner Beschreibungen und seiner Gespräche, gewann man doch mittels derselben, sei es durch Aneinanderreihung von Zug an Zug, sei es durch endlose Wieder
holung der nämlichen Charatterzüge, die deutlichste Anschauung. Ist sein Verfahren auch ermüdend, so ist er doch immerhin einer
der größten Seelenmaler, die je gelebt haben.
Eine Frauen
gestalt wie Diana Vernon in „Rob Roy", oder wie Jeanie Deans
in dem „Gefängnis von Edinburgh", eine historische Persönlichkeit
wie Ludwig XI. in „Quentin Durward", reihen sich dem Besten an, was die Romandichtung je geleistet.
Allein von allem Anfänge an war mit der Produktion dieser
Romane ein Mißstand verbunden, der in der Folgezeit sich auf eine ganze Klasse talentvoller Romanschriftsteller vererbte: Die
unkünstlerische Schnellschreiberei, die in der Aussicht auf kolossale
Honorare das Dichten fabrikmäßig wie eine Industrie betrieb. Schon im Jahre 1809 war Scott mit der Berlagsfirma Ballantyne,
welche die Quarterly Review für ihn druckte, in Verbindung ge treten; als Romanschriftsteller assozierte er sich förmlich mit dieser Buchdrucker- und Berlagsfirma, die leider weit mehr Unternehmungs lust als Vorsicht besaß.
Er schrieb nun mit einer fabelhaften Ge
schwindigkeit. „Guy Mannering" wurde binnen 25 Tagen geschrieben und gleichzeitig gedruckt, und bald brachte er es so weit, durch schnittlich zwölf Bände im Jahre zu liefern.
40 Druckseiten vor
Tische fertig zu haben, war ihm nur eine gewöhliche Vormittags arbeit.
Der Absatz entsprach der ungeheuern Produktion: von
„Rob Roy" wurden 10000 Exemplare in 6 Wochen verkauft,
Btt geschichtliche und ethnographische Naturalismus. die späteren Romane gingen noch reißender ab. einen Jahre 1822
gab Scott's Verleger
und neuer Romane von ihm heraus.
149
Allein in dem
145 000 Bände alter
Die Honorare stiegen mit
dem Absätze, für die zwei ersten Auflagen der Lebensgeschichte Na-
poleon's erhielt Scott 18000 Pfund, und seine jährliche Einnahme
an Honoraren betrug bis 1826 kein Jahr unter 220000 Mark.
Er verwendete diese Gelder zur Erweiterung seines Gutes Ab botsford und zur Aufführung einer
förmlichen Burg,
wo
er
mit fürstlicher Gastfteiheit das Heer von Besuchern empfing, das
sein Haus überschwemmte und sich häufig für lange Zeit dort einquartierte.
Sein Ruf und seine Beliebtheit waren in stetem
Steigen. Während seines Triumphaufenthaltes in London 1815, wo
man in ihm nicht bloß den Dichter, auch den Patrioten, den
Ehrenbürger von Edinburgh, der sich durch seinen glühenden Haß gegen Napoleon bekannt gemacht hatte, feierte, wurde er beim
Prinzregenten eingeführt, der ihn mit Gnaden überschüttete.
Es
hat sich von diesem Besuche eine Anekdote erhalten, die eine Vor stellung von der Art Witz giebt, durch welchen der Thronfolger
vorübergehend bestechen und für sich einnehmen konnte.
Es war
eine Abendgesellschaft beim Prinzregenten, und Scott hatte als Ehrengast unaufhörlich erzählen mässen, wobei der Prinz ihn
scherzend aufs Glatteis zu führen und dazu zu bewegen suchte, sich zur Autorschaft der Waverley-Romane zu bekennen.
Scott
wußte geschickt von dem Thema abzulenken und erzählte, um sich
der Fragen zu erwehren, eine wahre Geschichte von seinem alten
Bekannten, dem Oberrichter Braxfield, welcher auf seinen Amts rundreisen bei einem reichen Gutsbesitzer zu übernachten pftegte,
der,
gleich dem Richter, ein leidenschaftlicher Schachspieler war
und ost die Partie von einem Jahre zum andern unentschieden stehen ließ.
Der Gutsbesitzer beging ein schweres Verbrechen und
Braxfield lag das traurige Amt ob, über seinen Freund und
Mitspieler das Todesurteil zu sprechen.
Er setzte die schwarze
Mütze auf und verlas das Todesurteil, das mit den Worten „Daß Du am Halse gehenkt werden sollst, bis Du tot
schloß:
Er sprach diese traurigen Worte mit dem größtmöglichen
bist."
dann nahm er die schicksalsschwangere Mütze ab, und
Pathos,
seinem Spielkameraden mit einem pfiffigen Lächeln zunickend, fügte
er hinzu: „Und nun, Donald, mein Junge, habe ich Dich wohl für ewige Zeiten schachmatt gesetzt."
Im selben Augenblick rief der
Prinzregent: „Hoch lebe, hoch und dreimal hoch, der Verfaffer von Waverley!
Ein Glas
auch
noch
auf den Verfasser des
Marmion!" und mit einem Blick auf die verlegenen Mienen und
abwehrenden Gebärden Scott's fügte er hinzu: „Und nun, Walter, mein Junge, habe ich Dich, hoffentlich für ewig, schachmatt gesetzt."
„Das Gefängnis von Edinburgh", eine der Perlen unter Scott's Werken, erschien im Jahre 1818.
auf den Gipfel seines Ruhmes.
Das Buch erhob ihn
Da folgte int Dezember 1819
„Jvanhoe" und entfesselte einen ungeheueren Beifallssturm. Aus wie wenigen, geringfügigen Wirklichkeitselementen Scott seine poetische Welt zu gestalten vermochte, läßt sich am besten aus diesem meister
haften Romane ersehen.
Ein Herr Skene, der von einer Reise
nach Deutschland zurückgekehrt war, erzählte Scott allerlei von
den Zuständen der Juden daselbst, ihrer seltsamen Tracht, ihren eigentümlichen Sitten, der Härte, mit der sie behandelt würden.
Das genügte Scott, um darauf eine so farbenreiche Schilderung wie die Isaaks und Rebekka's zu gründen.
War er in seinem
Privatleben äußerst beschränkt gegenüber der Frage der Erteilung
politischer Rechte an die Bekenner der von der Kirche abweichenden Kulte, so
gereicht es ihm als Dichter um so mehr zur Ehre,
daß er vorurteilsfrei eine Jüdin zur Heldin seines Romanes zu machen
und sie mit einer unvergleichlich idealen und dennoch
naturwahren Schönheit auszustatten vermochte.
Das Jahr 1823 brachte „Quentin Durward",
in welchem
3er geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
151
Scott zum erstenmale fremden Boden betrat, und der seinem eng lischen und amerikanischen Renommee ein ebenso großes in Frank
reich, Deutschland und Italien sich zugesellen ließ.
Herrn Skene's
Tagebücher über seinen Aufenthalt in Frankreich genügten Scott, der
Dichtung das ihr eigene bewunderungswürdige Kolorit zu verleihen.
Sein Name war nun in aller Mund und selbst seinen wenigst belesenen Landsleuten bekannt.
Bei dem fürchterlichen Gedränge,
das in London beim Krönungsfeste eutstand, war das Leben
Walter Scott's besonders seiner Lahmheit halber gefährdet. Mitten auf einem Platze, um den eine lebendige Hecke von schottischen
Gardedragonern gezogen war, sprach Scott einen der Unteroffiziere
an und bat, ihn in den freien Raum hinter ihnen treten zu lassen.
Der Mann antwortete kurz, unmöglich.
er habe strengen Befehl,
es sei
Im selben Angenblick rief einer der Begleiter des
Dichters, der einen neuen Menschenschwarm herankommen sah: Sir
Waller Scott, nehmen Sie sich in Acht! Kaum hörte der Dragoner diesen Namen, als er rief: „Wie? Sir Walter Scott! Der passiert überall!" und sich an seine Kameraden wendend, rief er: „Mächt
Platz,
mann!"
Leute,
für Sir Walter Scott,
unsern großen Lands
Die Soldaten antworteten: Sir Walter Scott!
Gott
segne ihn! — So empfing das französische Heer in Afrika Horace
Bernet mit Trommelwirbel, Fanfaren und denselben militärischen Ehren, die einem Oberbefehlshaber eriviesen werden.
Man kann
sich kaum einen größeren Triumph für einen Künstler denken, als
diese Huldigung des gemeinen Mannes. 1826 trat die Krise im Leben des Dichters ein.
Die Ber-
lagsfirma Ballantyne, deren Teilhaber er war, machte Bankerott,
und es zeigte sich zum Staunen des haushälterischen, in Privat angelegenheiten äußerst skrupulösen Scott, daß die Schuld sich auf die
ungeheure Summe
von
seinen Ruin wie ein Mann.
117 000 Pfund belief.
Er trug
Die königliche Bank sendete eine
Deputation an ihn ab, um ihm zu sagen, daß sie sich ihm in
jeder Beziehung zur Verfügung stelle.
nicht an. angeboten,
Er nahm ihr Anerbieten
Anonym wurde ihm ein Geschenk von 30 000 Pfund er schlug alles aus.
verzweifelten Versuch
zu
machen,
Er beschloß heldenmütig den mit Hilfe
seiner Feder die
ungeheuere Schuld abzutragen und sich nicht eher Rast noch Ruh zu gönnen, als bis er die Verpflichtungen eingelöst haben würde,
die der Leichtsinn und die Mißwirtschaft anderer seinen Schultern aufgebürdet hatten.
Es kann aber auch niemanden Wunder nehmen, daß von nun
an der Wert seiner dichterischen Erzeugniffe mehr und mehr sinkt. Der arme Schrifsteller schloß Kontrakte über Bücher ab — so und so viele Romane im Jahre — deren Inhalt, ja deren Titelblatt
er nicht kannte.
Gerade in dieser unglücklichen Zeit verlor er
seine heißgeliebte Gattin.
Seine Geschäfte gestatteten ihm nicht
einmal an ihrem Sterbebette zu sitzen; er schrieb und schrieb, von dem Romane „Woodstock" einen halben Band in vier Tagen, dabei
fortwährend von Gläubigern bestürmt.
Er, der sein Haus vom
Mörgen bis zum Abend voller Gäste gesehen, führte nun das
Leben eines Einsiedlers.
Kapitän Basil Hall schildert den nieder
schlagenden Eindruck, den es auf ihn machte, als er zu Scott kam und den Mann, der sonst, seiner Gattin gegenüber, von Verwandten
und Gästen umringt, Tafel zu halten pflegte, sich allein zu Tische setzen und den Diener das Gedeck für einen Einzigen bringen sah.
Er unternahm noch einige Reisen, unter anderen eine zum Zwecke
von Archivstudien nach Paris, woselbst eine Deputaüon der Dames de la halle ihm ein Riesenbouquet überreichte.
Er veranstaltete
eine Gesamtausgabe seiner Werke — der Absatz der neun ersten Bände betrug 35 000 Exemplare im Monat.
Er zahlte einen
Teil seiner Schuld ab.
Er sah mit Schmerz England die Bahn
der Reformen betteten.
1830 rief er aus: In England ist kein
Bleiben mehr für rechtschaffene Menschen, seit diese neuen Reformen Spielraum gewinnen.
Er unternahm frans, geschwächt und mit
Bet geschichtlich« und ethnographische Naturalismus.
153
einer teilweisen Gesichtslähmung behaftet, seine letzte Reise nach
Italien, auf welcher er in Neapel noch alle altitalienischen Lieder und Balladen sammelte, die nur aufzustöbern waren. Krank eilte er
wieder heim, um in seinem Vaterlande zu sterben, und hauchte im
September 1832, gerade ein halbes Jahr nach Goethe, den letzten Er war sein ganzes Leben ein aufrichtiger, mild
Atemzug aus.
rationalistischer Christgläubiger gewesen, den die prüfende, kühne Wissenschaft seiner Zeit völlig unberührt gelassen.
1825 sagte er
eines Tages: „Ich hoffe, es giebt wenige Menschen, die das Da sein Gottes leugnen, ja, ich glaube im Grunde, daß nie jemand eine so abscheuliche Anschauung gehegt hat."
Gleichzeitig räumte er
ein, daß das Feuer der Hölle und die Musik der Sphären bild
liche Ausdrücke sein könnten, wie er ja auch ohne Unwillen, ja mit Freude, die Zueignung von Byron's „Kain" annahm.
Weder
in religiöser, noch in politischer oder poetischer Beziehung hatte er
es zu der Befreiung der Persönlichkeit von den zufälligen Über lieferungen gebracht,
an die sie von Geburt an gefesselt wird.
Auch auf diesem Punkte überließ er dem jüngeren Dichtergeschlechte eine ungelöste, doch
vom Gange der Geschichte deutlich vorge
zeichnete Aufgabe.
Blicken wir von der Höhe unserer Zeit auf den zweiten
Zeitraum
seiner Dichtung,
die
Prosa-Periode
und
die
ganze
lange Reihenfolge von Romanen, zurück, so ist es uns nicht
möglich, letztere in so günstigem Lichte zu sehen, wie sie seinen
Zeitgenoffen
erschienen.
gewähren mußten; keinerlei Anstoß
Wir
begreifen,
daß sie Befriedignug
verstehen wir doch nur zu wohl, daß sie
gaben,
daß sie stets nicht bloß als poetisch,
sondern auch als moralisch mit Freude begrüßt werden konnten. Gerade dies aber ist der Grund, warum sie weniger Interesse
für uns haben.
Man kann in den modernen Litteraturen ohne
Übertreibung das Gesetz aufftellen, daß ein Schriftsteller bei einer Generatton seiner Zeitgenossen für unmoralisch gelten und Anstoß
Ott geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
154
erregen muß, soll er nicht schon der nächstfolgenden langweilig und beschränkt erscheinen.
Die Mängel der Scottschen Romane
fallen uns nunmehr in die Augen.
Sie ergötzen den Leser durch
die Gediegenheit der Charakterzeichnung und die Lebendigkeit der Gespräche, doch sie befriedigen nicht den Verstand, sie rufen keiner lei starke Gemütsbewegungen hervor, sie spannen nicht einmal die
Neugierde.
Sie sind seelenvoll, aber ideenlos.
Man fühlt, daß
es Scott als patriotischem Dichter, nachdem Macpherson und Burns die Aufmerksamkeit auf Schottland gelenkt hatten, dies Inter esse rege zu erhalten galt; deshalb schreibt er so, daß kein Leser,
und sei es der beschränkteste, dadurch verscheucht werden könnte. Er, dem die Sinne eines Künstlers versagt waren, berührt die Geschlechtsverhältnisse in so schonender Weise, daß erotische Schilde
rungen fast ausgeschlossen sind.
Und er, dem die Moral wichtiger
war, als die Liebe zur Kunst, gab bei seinen Schilderungen der alten Zeiten deren rohe Elemente stets nur in so stark gemilderter
Form wieder, darunter leidet.
daß die geschichtliche Wahrheit in hohem Grade
Die Kunstgattung, die er einführte, und die einen
so bedeutenden Fortschritt gegenüber dem älteren Romane be
zeichnete, ist heutigen Tages ihrerseits veraltet.
Man neigt in
Europa der Ansicht zu, daß der historische Roman mit allen seinen Vorzügen eine Bastardart bilde; ist er doch bald so sehr mit historischem Stoff überladen, daß die poetische Entwicklung darüber
stille steht, bald in seiner Umdichtung der Geschichte so frei, daß die wirklichen und hinzugedichteten Elemente in ihrem Vereine ein
höchst unharmonisches Konzert verursachen. Geradezu anstoßerregend ist z. B. die Art und Weise, wie im zehnten Kapitel des dritten
Teiles des „Gefängnisses von Edinburgh" historische und erdichtete Repliken
des Herzogs
von Argyle miteinander verquickt sind.
Dazu kommt, daß es uns immer klarer geworden, wie sehr das hier
entworfene Gesamtbild von dem wirklichen Charakter der entlegenen Zeit abweicht, die häufig gar kein Verständnis finden oder gar
Ner geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
155
keinerlei Sympathie erwecken würde, wenn man sie ungeschminkt,
wie sie war, darstellen wollte. fahrer"
Der „Talisman" und die „Kreuz
Scott's sind Leihbibliotheksromane
aus abenteuerlichen
Ländern mit abenteuerlichen Thaten der Kreuzritter, fast ebenso unwirklich wie das befreite Jerusalem Tasso's, doch mit viel ge
ringerem poetischem Talent geschrieben und ohne Tasso's gewissen haften Kunstsinn in Ausführung und Stil.
Wie konnte es bei einem Dichter anders sein, der wie Scott schrieb, ohne das Geschriebene jemals zu überlesen, geschweige denn zu feilen, der nicht die Gabe, sich kurz zu fassen besaß und ernstliche
Anforderungen in Bezug auf Müdigkeit und Komposition an sich nicht stellte?
Noch geringere Anforderungen stellt er an seine Leser,
was Aufmerksamkeit und Feinheit der Auffassung betrifft.
Er
wiederholt sich und läßt seine Personen sich wiederholen, redet in
die Erzählung hinein,
deutet mit dem Finger und erklärt
und begnügt sich nicht damit, der Persönlichkeit ein bestimmtes Gepräge zu verleihen, er läßt sie im Notfälle über ihr Wesen selbst Rechenschaft ablegen mittels Äußerungen wie:
„Ich spreche jetzt
mit Ruhe, obgleich dies meinem Charakter widerstreitet,"
oder
mittels einer Replik, in welcher der Redende selbst die Moral
aus seinen schlechten Handlungen zieht, aus Furcht, der Leser könnte sie übersehen und verführt werden.
(Man lese z. B. die ganze
Beichte George Stauntons an Jeanie Dean, ein Muster schlechten Stiles und falscher Psychologie.)
Was nützt es bei so großen
Mängeln im einzelnen, daß die Grundzüge der Komposition in den besten Romanen vortrefflich sind und zumeist in einer oder mehreren gewaltigen dramatischen Katastrophen gipfeln?
Ein Buch, das
seinen Ruf ein Jahrhundert lang bewahren soll, muß nicht nur künstlerisch angelegt, es muß auch in jedem einzelnen Punkte künstle risch ausgeführt sein, wozu Scott von dem Augenblick an, wo
er in Prosa zu schreiben begann, sich nie die Zeit nahm.
Selbst
die dramatischste Szene, die Scott je verfaßt hat, die herrliche, er-
greifende Gerichtsszene im „Gefängnis zu Edinburgh," wo Jeanie blutenden Herzens, aber mit edler Wahrheitsliebe gegen ihre eigene Schwester zeugt, büßt die Hälfte ihrer Wirkung durch die Breite
und Nachlässigkeit ein, mit welcher sie erzählt ist.
Aus Thomas
Moore's Denkwürdigkeiten ersieht man, daß der Hauptinhalt des
Buches — das junge Mädchen, das sich weigert, vor Gericht zu Gunsten ihrer Schwester zu zeugen, und hierauf die lange Reise
unternimmt, um deren Begnadigung zu erflehen — ans einer wirk
lichen Begebenheit beruht, die Scott in einem anonymen Briefe mit geteilt worden war.
Er hatte den schärfsten Blick für die sittliche
Schönheit dieser Begebenheit, dagegen einen sehr schwachen für ihren
dramatischen Charakter.
Hätte Scott nur halb so viel Begabung,
aber doppelt so viel Bildung und Selbstkritik besessen, er würde zwar
nicht das geräuschvolle Aufsehen, das er machte, erregt, dafür aber Werke von höherem, bleibenderem Werte hervorgebracht haben? Er
fühlt selbst, daß seine mangelhafte Bildung ihn hindere, das Höchste auf dem Gebiete der Dichtkunst zu erreichen.
An einer Stelle
seines Tagebuches findet sich ein kurzer merkwürdiger Überblick seines Lebens: „Wie seltsam sich mein Leben gestaltet hat! Meine
Bildung ist halb, meine wissenschaftlicheErziehung wurde
vernachlässigt oder mir selbst überlaffen.
So pfropfte ich mir
bett Kopf mit einer Unmasse dummen Zeuges voll und wurde von meinen Altersgenossen eine Zeit lang verkannt.
Doch ich kam
vorwärts und galt für einen klugen, tüchtigen Burschen, zur Be
schämung derer, die mich für einen Träumer gehalten hatten ... Und nun muß ich mit zerschossenem Flügel von der Höhe meines
Stolzes
herabstürzen, nur weil es der Londoner Börse gefällt,
* Von bildender Kunst scheint er keinen Begriff gehabt zu haben.
Um
von -em alten Puritaner im „Gefängnis zu Edinburgh" ein Bild zu geben,
bringt er folgende künstlerische Ungeheuerlichkeit: Es war ein Gemälde, deffen lichte Partien Rembrandt's, deffen scharfe Konturen jedoch Michel Angelo's lebensvoller, kraftvoller Pinsel ausgeführt zu haben schien.
Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.
157
sich toll zu gebethen, und darum werde ich armer braver Löwe
nun hart von Bären und Ochsen bedrängt."
Es rächt sich an einem modernen Dichter, vom Fortschritte der Wissenschaft unberührt zu bleiben.
Kann er nicht wie Byron
durch unmittelbaren Scharfblick alles ahnen, was die Wissenschaft
erforscht und feststellt, so entsinken seine Werke den Händen der
Gebildeten, um von jenen ergriffen zu werden, die nur Unter haltungsstoff suchen, oder- die Gebildeten bewahren sie auf und lassen sie binden, um sie als Geburtstags- und Konfirmations geschenke ihren Söhnen und Töchtern, Neffen und Nichten zu ver
ehren.
Dichter,
Dies ist das Los, welches Scott zu teil geworden ist.
Der
der in dem zweiten und dritten Jahrzehnte des neun
zehnten Jahrhunderts den litterarischen Markt beherrschte, der alle Länder Europas beeinflußte und der in Frankreich Nachahmer wie
de Vigny, Hugo, Mirimee, Balzac und den älteren Dumas (Les Mousquetaires), in Italien einen Jünger wie Manzoni, in Deutsch land Geistesverwandte wie FouquL und Alexis, in Dänemark Be
wunderer und Schüler wie Poul Möller, Jngemann und Hauch fand, ist in unsern Tagen durch die stumme, aber lehrreiche Kritik der Zeit der Lieblingsdichter der Knaben und Mädchen von etwa
zwölf Jahren geworden, ein Dichter, den alle Erwachsenen gelesen haben, den aber kein Erwachsener mehr liest.
In dem bewunderungswürdigen Fragment „Hyperion" von
Seats kommt eine Szene vor, wo das ganze gestürzte Götter geschlecht überwunden in einer tiefen Felsenhöhle unter der Erde
liegt.
Man pflegt eben Rat, und der Titanen Gott, der alte
Saturn, schließt seine mutlose Rede:
fejb
Besiegt, verhöhnt, geschlagen seid ihr hier! Titanen, sag' ich euch: „Steht auf!" — ihr stöhnt.
Sag' ich: „Demütigt euch!" ihr stöhnt.
Was denn?
O Himmel! nie gesehner Vater! Was
Vermag ich? All ihr Brudergötter, sagt: Wie können kämpfen wir, wie unserm Grimm
Genüge thun?
Da erhebt sich zuerst Oceanus, der grübelnde, gedankenvolle Gott
des Meere-, und schüttelt seine nun trockenen Locken; und in jenem Murmeltone sprechend, den er von Uranfang an dem branden
den Gischte nachgelallt, heißt er die von Leidenschaft Gestachelten Ruhe und Trost in dem Gedanken suchen, daß sie kraft des Ge setzes der Natur, nicht durch des Donners oder Jupiters Ge
walt fallen.
Großer Saturnus, du
Hast das Atomen Weltall wohl durchschaut. Doch aus dem Grunde, weil du König bist Und blind aus purer Oberherrlichkeit, Blieb deinem Aug' ein Weg in Nacht gehüllt,
Auf welchem ich zu ew'ger Wahrheit schritt.
Wie du die erste nicht der Mächte warst,
Bist du die letzte nicht, und kannst's nicht sein. Du bist der Anfang nicht, das Ende nicht.
Allseitiger Sensualismus. Dein Chaos und der Finsternis entsprang Das Licht, die erste Frucht des innern Kampfs, Der trüben Gährung, die zu hehrem Ziel
Herangereift.
Der Reife Stunde kam.
Mit ihr das Licht, das zeugend wieder auf
Derr eignen Schöpfer wirkte, und den Stoff,
Den ganzen riesigen in's Leben rief. Zu jener Frist wird unser Elternpaar,
Der Himnlel und die Erde, offenbar; Danll herrschten du, der Erstgeborne, und
Wir, das Geschlecht der Niesen, ob der Welt.
Jetzt kommt der Wahrheit Schmerz, wem Schmerz sie ist: O Thorheit! Denn der Hoheit Gipfel ist's. Die nackte Wahrheit und verhängtes Los Mit Fassung zu ertragen.
Merkel wohl!
Wie Erd' und Himmel schöner, hehrer sind,
Als Finsternis und Chaos, die dereinst
Geherrscht, und wie wir hinter ihnen Erd' Und Himmel, fest und herrlich an Gestalt, In Willen, Handlung frei, Geselligkeit
Und tausend Zeichen reinen Lebens schau'«: So tritt jetzt eine neue, bessere
Und schön're Macht in unsre Spur, von uns Gezeugt, die uns besiegen soll, wie wir
Glorreich die alte Finsternis besiegt;
Auch unterliegen wir darum nicht mehr. Als uns des Chaos Ungestalt erlag. Wie! zürnt der unbeholfne Boden wohl
Dem stolzen Wald, den er genährt, und noch Ernährt, der anmutsreicher als er selbst? Gönnt er die Herrschaft nicht dem grünen Hain? Und soll der Baum die Taube meiden wohl, Dieweil sie girrt und weiße Schwingen hat. Auf denen froh sie überall hin schweift?
Wir gleichen solchen Bäumen tief int Wald,
Und unsre kräfr'gen Zweige hegten nicht Einsame bleiche Tauben, sondern gold-
Gefiederte Adler, die hoch über rtns In ihrer Schönheit schweben, und deshalb Negieren müssen; denn ein ewiges Gesetz gebeut, daß, wer der Erste ist
An Schönheit, auch an Macht der Erste sei;
Ja, dies Gesetz mag fügen, daß vielleicht
159
Ein anderes Geschlecht einst unsere Besieger trauern läßt, wie sie jetzt uns.
Habt ihr den jungen Meeresgott gesehn, Der mich entthronte? — Saht ihr sein Gesicht? Saht seine Wagen ihr, den ein Gespann Von edlen Flügelrössen, die er selbst Erschaffen, durch den Schaunl hinfliegen heißt?
Ich sah ihn gleiten durch die ebne Flut Mit solcher Schönheitsglut in seinem Blick,
Daß ich mit einem trüben Lebewohl Bon meinem ganzen Reiche Abschied nahm. . .
So spricht Oceanus.
Und als die gestürzten Götter, ob von den
Worten überzeugt, oder ob grollend, stumm bleiben, bricht eine, deren
niemand achtete, die Göttin Klymene, das lange Schweigen und ergreift mit hektischen Lippen und sanft blickenden Auges schüchtern
das Wort: O Vater, ich bin die geringste hier, Und weiß nur dies, daß alle Lust dahin, Und daß ein Weh in unsre Herzen schlich, Das, fürcht' ich, dort für immer bleiben wird.
Ich möchte Unheil nicht verkünden . ..
Doch
Laßt meine Sorge mich erzählen, laßt Mich sagen, was ich hörte, und was mir In heißen Thränen das Bewußtsein gab,
Daß jede Hoffnung uns erloschen ist.
Ich stand an einem schönen Ufer jüngst,
Wohin ein stilles Land voll Blütenduft Des Friedens umndersüßen Hauch ergoß.
Boll sanfter Freude war's, wie ich voll Grain.
Zu voll an Freude, Reiz und Lieblichkeit, So daß die Regung in das Herz mir stieg, Die Einsamkeit zu schelten und zu schmäh'n Durch Klageweisen, Lieder unsres Leids.
Ich setzte mich, hob eine Muschel auf, Und haucht' in sie die trübe Melodie — Ach, Melodie nicht mehr! Denn als ich sang, Und kunstlos in die Lust beit Widerhall
Der dumpfen Muschel strömen ließ, da kam
Jenseits von einer wald'gen Insel her Im Wechselspiel des Winds ein Zauberklang,
Der mir das Ohr betäubt' und süß ergriff.
Ich warf die Muschel nieder auf den Sand, Nnd eine Welle füllte sie, wie mir
Den Sinn die neue, goldne Melodie. In jedem Laute war lebendiger Ton,
In jedem Strom entzückter Töne, die
Hinklangen nacheinander und zugleich Wie Perlen, plötzlich ihrer Schnur entrollt; Dann noch ein Lied, und wiederum ein Lied, Gleich Tauben, von des Ölbaums Ast entschwebt;
Statt stummer Federn mit Musik beschwingt, Die mich umschwirrten, und mich krank vor Lust Und Trauer machten. Trauer herrschte vor, Ich hielt mir die berauschten Ohren zu;
Da, durch der zitternden Hände eitle Wehr Klang eine Stimme süßer, süßer noch Als alle Melodien und rief: „Apollo! Der morgenhelle junge Gott Apollo!"
Ich floh, es folgte mir und rief: „Apollo!"
Seats hat nie etwas Besseres als diese Stelle geschrieben, sie ist ebenso gedankeniief, wie schön. Sie giebt nicht nur eine Probe der Größe und der Krastfülle seiner Poesie, sie bildet auch eine Einleitung nicht nur zu seinem, sondern zu dem Auftreten des ganzen, jüngeren Dichtergeschlechtes, nachdem die Seeschule und Scott das poetische Szepter ergriffen hatten. Im Namen der herrschenden Götter ist der menschliche Geist stets zur Unbe weglichkeit und zum Stillstände verurteilt. Der Fortschritt bedarf eines Thronwechsels. Wordsworth und Scott waren mächttgen Titanengöttern gleich, bereit Glanz vor dem des jungen Ge schlechtes verblaßte — Seats selbst war der strahlende Vogel, der sich von Wordsworth's großblättriger Steineiche empor in die Lüfte schwang. War nicht Byron der neue Meeresgott, der die Gewässer der Leidenschaft befuhr, mit einer Schönheit im Auge, die bett größten dichterischen Genius der Zeit bewog, sein Reich zu ver lassen, tief überzeugt, im Wettkampfe nicht bestehen zu können? Und schallen nicht Shelley's Melodien so süß berauschend, so un erhört kühn durch die Luft, daß sie noch heutigen Tags überallBrandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV. 11
Allseitiger Sensualismus.
162
hin bringen, obschon man, wie Klymene, sich die Ohren zuhält und sich so lange als möglich weigert, den neuen Tönen ein
williges Ohr
zn
leihen?
denn von allen
Es ist vergebens,
Seiten hören wir nunmehr den Ruf: Apollo!
der morgenhelle
junge Gott Apollo! —
Die alten Götter nahmen, wie in dem Gedichte, eine ver schiedenartige Haltung ein.
Scott, der älteste unter ihnen, strich,
wie wir gesehen, vor Byron mit einem Adel und einer Milde die Flagge, die seinen vielen andern Kränzen noch einen neuen
hinzufügten.
Wordsworth
zog
sich
murrend,
eine Plagiatbe
schuldigung auf den Lippen, an seine Seen zurück, Southey spie Gift und Galle — und unterdessen nahmen die neuen jungen Götter ihren Thron em und schlangen die Sonnenstrahlen als
Glorienschein um ihre Scheitel. Keats
war der jüngste der Jungen und ausgerüstet mit
eigentümlichen Attributen, sowie mit einem eigenen Reiche, in das
keiner der anderen einen Eingriff that.
Er ist eines der vielen Bei
spiele, daß die feinsten, seltensten Organismen unter groben äußern
Verhältnissen auftauchen und sich fast ohne alle Gunst der Um
stände entfalten können. Dieser Jüngling, der, mit kaum 26 Jahren vom Tode dahingerafft, Meisterwerke, unvergeßlich jedem, der
sie gelesen, hinterließ, und dessen Namen Shelley in „Adonais" unter seine Sterne schrieb, war der Sohn eines Londoner Mietkutschers und als Apothekerlehrling erzogen.
Den Meistern de-
älteren Geschlechtes war er unbekannt, Wordsworth — der einzige
Ältere, auf den sein Blick beständig und mit größerer Ehrfurcht gerichtet war, als sonst einer von den Jüngeren sie für ihn empfand — selbst Wordsworth zeigte sich kalt gegen ihn.
Als Keats
eines Abends bei dem Maler Heydon, bei dem auch der Veteran von Rydal Mount zu Gaste war, aufgefordert wurde, die schöne Hymne an Pan aus dem ersten Buche seines „Endymion" vorzu
tragen, hörte der weißhaarige Dichter sie ohne Unterbrechung bis
Allseitiger Sensualismus.
163
zu Ende an und machte dann nur die Bemerkung, es wäre „ein
schönes Stück Heidentum". dafür.
Das war es, und Ehre sei Keats
Doch Wordsworth wollte schwerlich etwas Schmeichel
haftes damit sagen.
So also lautete die gewichtigste Stimme der
alten Dichterschule.
Eine zweite scholl von den kritischen Alt
meistern her. Sie war heiser und krächzend. Sowohl die Quarterly
wie die Blackwood Review verhöhnten „Endymion" auf die albernste Weise.
Man sagte dem Verfasser, er thäte besser, zu seinen
Apothekertiegeln zurückzukehren, und gab ihm zu bedenken, daß ein hungernder Apotheker doch noch immer besser
hungernder Poet.
sei, als ein
Der Stachel verwundete und schmerzte sicherlich
tief, so ruhig sich auch der junge Dichter in seinen Briefen über
die ihm zu teil gewordene schmähliche Behandlung äußerte.
Es
ist höchst unwahrscheinlich, daß die Tradition, die sich über den
zerrüttenden Einfluß dieses Artikels auf feinen Gesundheitszustand gleich unter Keats' Bekannten bildete, wie jetzt immer behauptet
zu werden pflegt, alles Grundes entbehrt.
Bon einem Artikel ge
tötet, wie es in Byron's „Don Juan" heißt, ward Keats aller dings nicht, und seine Äußerungen thun jedenfalls zur Genüge dar, welche tiefe Verachtung er für die erwähnten Auslassungen gegen
seine Kunst und Person hegte.
Allein sein Ehrgeiz war heftig, sein
Gemüt war für Eindrücke empfänglich, und sein Körper trug den Keim des Todes in sich.
Kein Wunder denn, daß gehässige An
griffe von außen einen Organismus erschütterten, der von innen von verzehrender Leidenschaft und von verzehrender Krankheit be
stürmt wurde. Keats wurde im Oktober 1795 geboren, verlor neun Jahre alt
seinen Vater, wurde in eine gute Schule von seiner Mutter ge schickt und verlor zu seiner unbeschreiblichen Trauer auch sie noch
als Knabe.
Sein Äußeres entsprach dem Eindrücke, den man aus
seiner Poesie erhält.
Während der ätherische, weibliche Shelley eine
schlanke, feine, schmalschultrige Gestalt und eine gellende Stimme
li*
hatte, besaß der echt irdische, schwerfüßige Keats bei einem etwas kleinen Unterkörper einen breiten kraftvollen Brusttorb mit starten Schultern und eine tiefe, ernste Stimme.
Sein kleiner Kopf war
von dichten braunen Locken umwallt, die Augen groß, strahlend dunkelblau, bei starker Gemütsbewegung von sprühendem Feuer, der
Mund schön geformt, doch die Unterlippe so vorspringend, daß sie dem Antlitz ein herausforderndes, streitbares Gepräge gab.
Der
hervorstechendste Grundzug bei ihm als Knabe war denn auch die Hart näckigkeit und Entschlossenheit eines kleinen, englischen Dachshundes,
ein Zug, aus dem man eher hätte schließen können, er werde sich in der kriegerischen, als in der litterarischen Laufbahn auszeichnen.
Er verriet frühe großen persönlichen Mut und war ein Meister in
Leibesübungen; kurz bevor er an Auszehrung erkrankte, prügelte er einen ungezogenen Metzgerburschen in einem regelmäßigen Boxer
kampfe gehörig ab. Mit 15 Jahren trat er aus der Schule und erhielt durch
Verwendung
eines Verwandten
in Edmonton bei einem recht
tüchttgen Chirurgen, der nach der Sitte der Zeit den Beruf des
Arztes mit dem des Apothekers verband, eine Stelle als Apotheker
gehilfe, die er von seinem fünfzehnten bis zu seinem zwanzigsten Jahre versah. 1816 begann er als Student die Londoner Hospitäler zu besuchen, gab jedoch bald die Medizin für die Litteratur auf.
Rach ein
paar Jahren intimen Verkehrs
mit mehreren jungen
Männer jener Zeit, deren Interessen sich um Kunst und Wissen
schaft gruppierten,
und auf denen die litterarische Zukunft des
Landes beruhte, wurde er von der nämlichen Krankheit befallen, die schon seine Mutter und seinen jüngeren Bruder dahingerafft. Sie
entwickelte sich unter der Besorgnis, wie er sich seinen Lebensunter
halt schaffen solle, und unter dem immer drückender werdenden
Gefühle der Rot.
Sie ward durch eine tiefe und erwiderte, aber
der Mittellosigkeit Keats' halber hoffnungslose Leidenschaft für eine
junge englisch-ostindische Dame beschleunigt.
Sie machte seine
Trennung von ihr durch eine Reise nach dem Süden notwendig.
Sie tötete ihn in Rom. Man findet, wenn man den litterarischen Teil der Lebens geschichte Keats' überblickt, nur drei biographische Hauptumstände:
die Aussichtslosigkeit in Bezug auf seinen Lebensunterhalt — er dachte an Südamerika, dachte daran, sich als Schiffsarzt auf einem
Ostindienfahrer anstellen zu lassen — die tiefe und hoffnungslose Leidenschaft für sie,
ohne die das Leben ihm nichts war, und
endlich die tückische Krankheit. Miß Fanny (eigentlich Frances) Brawne war 5 Jahre jünger
als Keats,
also 18 Jahre alt, als er sie 1818 kennen lernte.
Er lebte damals in Wentworth Place bei Hampstead, einer Be
sitzung,
die
nur
rückwärts bestand,
ans
zwei Häusern
mit
Gärten
wovon die Familie Brawne,
vorn und
Mutter und
Tochter, das eine bewohnte, während Keats und sein Freund Brown in dem andern ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten.
Hier
verbrachte Keats das erste halbe Jahr seines Liebeslebens in
wahrhaftem Glücke. gonnen.
Im Dezember 1818 hatte er „Hyperion" be
Im Januar schrieb er „Isabella."
Im Februar 1819,
dem fruchtbarsten Monate seines Lebens, dichtete er die Ode „An
Psyche", den „St. Agnes-Abend" und viel von „Hyperion."
Zu
Beginn des Frühlings schrieb er, unter einem Pflaumenbaum im
Garten der Familie Brawne sitzend, die Ode an die Nachtigall.
Mit andern Worten: das schönste, das er geschrieben hat, stammt aus diesem ersten Halbjahr, in welchem er lange Spaziergänge
mit Fanny machte und noch gesund war.
Da er täglich reichliche
Gelegenheit hatte, seine Geliebte zu sehen, so existiert leider nicht ein einziger Liebesbrief aus dieser kurze» Zeit des Glückes.
Im
Juli 1819 schrieb er ihr zum erstenmale, und alle die Briefe,
die er ihr in diesem und den nächstfolgenden Jahren sendete, wurden 1878 veröffentlicht.
Die ersten sind noch nicht schwermüfig. In einem der frühesten
166
Allseitiger Stnfualiemue.
heißt es: „Ich bedarf eines lichteren Wortes als licht, eines schönern
Wortes als schön," und auf eine Einwendung ihrerseits erwidert er: „Weshalb soll ich nicht von Deiner Schönheit sprechen, da ich
ohne sie Dich nie geliebt haben könnte?
Es mag eine andre Art
Liebe geben, vor welcher ich dm größten Respekt habe und die
ich an andern bewundern kann.
Doch hat sie nicht den Reich
tum, die Blüte, die Fülle der Gestalt, den Zauber, den Liebe
nach meinem Herzen besitzt." Sehr bald aber schimmert in diesen Briefen die Eifersucht
durch, die so verzehrend auf Keats wirken sollte.
Immer und
immer wieder fordert er ihr Gelöbniffe ewiger Liebe ab.
noch
Ohne
krank zu sein, hat er ein unbestimmtes Vorgefühl, daß
seine Todesstunde nicht fern sei.
Es gebe, sagt er, zwei un
erschöpflich reiche Themen, über die er auf einsamen Wanderungm
brüte, ihre Lieblichkeit und seinen Tod.
„O, daß ich sie beide in
derselbm Minute besitzen könnte!" Ihre Briefe wirkten im Grunde nur verstimmend auf ihn.
Er überlas sie so oft, daß jeder Satz ein unnatürliches Gewicht erhielt, und sie erschimen ihm dann entweder kalt oder voller Bor würfe. Er quälte sich selbst und hierauf sie mit seiner argwöhnischm
Reizbarkeit, machte z. B. durch Hampstead kommmd ohne Grund vor ihrer Thüre nicht Halt, obschon er selbst sich nach ihr sehnte und ihr durch sein Ausbleibm eine Enttäuschung bereitete.
Bom
Oktober 1819 liegen ein paar glückliche u»d ungetrübt zärtliche
Briefe vor.
Im Februar 1820 aber tritt in seinem Seelenlebm
ein Zustand höchster Erregung ein.
Er beginnt Blut zu speim
und „liest in desien Farbe sein Todesurteil".
Die nun folgmden
Briefe sind kurz, einige noch hoffnungsvoll und scherzend, andere mißtrauisch und heftig, voll Eifersucht.
Alle überströmen sie von
Leidenschaft.
Man lese folgendes Bruchstück: „Du kennst unsere Lage —
welche Hoffnung winkt uns wohl, selbst wenn ich mich noch so
167
Allseitiger Sensualismus.
schnell erholen würde — mein Gesundheitszustand wird mir nicht
Nicht
gestatten, auch nur die geringste Anstrengung zu machen.
einmal Gedichte soll ich lesen, hat man mir vorgeschrieben, ge
schweige denn schreiben.
Hätte ich doch nur ein klein wenig
Hoffnung! Ich kann nicht sagen: Vergiß mich — will aber doch
bemerken, daß es Unmöglichkeiten in dieser Welt giebt. mehr davon.
Nichts
Ich bin nicht stark genug, entsagen zu können —
doch keine Anspielung hierauf in Deinem Gutenacht-Brief." Beständig bittet er sie während seiner scheinbaren Rekonva
lescenz nur auf eine halbe Minute zu dem Fenster zu kommen, an
welchem er sie sehen kann, oder ein paar Schritte im Garten zu machen.
Kurz darauf bittet er sie, sie möge nicht jeden Tag ihn zu
besuchen kommen — er könne ihren Anblick nicht immer ertragen. Kommt sie dann aber nicht, so wird er eifersüchttg und unruhig. Die Briefe werden immer trauriger und peinlicher zu lesen, je näher der unabwendbare Ausgang rückt.
herzzerreißend.
Die letzten Briefe sind
In seiner Leidenschaftlichkeit ist er hilflos und
rasend, verzweifelt wie ein Kind, das sich vergessen glaubt.
Es
ist der seelische Todeskampf vor dem körperlichen.
Seine Geliebte bewies ihm unveränderte Zärtlichkeit bis zum letzten Atemzuge. blutjunge,
Selbstverständlich hatte, wie sich zeigt, dies
etwas kokette Mädchen keine Ahnung, welche hohe
Gaben und Kräfte diesem armen, brustkranken Jüngling, der sie anbetete und quälte, innewohnten, doch sie liebte ihn um seiner
selbst willen, und als sein letzter Brief ihr verriet, wie schlimm
es
um ihn bestellt war, wollte sie und ihre Mutter ihn nicht
länger der Wartung eines Freundes überlasten, sondern brachten ihn in ihr eigenes Haus in Wentworth Place, wo er beit letzten Monat vor seiner Abreise nach Italien zubrachte.
Eine Reise dahin
war das letzte Mittel, das die Ärzte noch versuchen wollten. Er, der unter anderen Umständen es als das höchste Glück
empfunden hätte, das Land zu sehen, nach besten Natur er immer
Allseitiger Sensualismus.
168
geschmachtet,
dessen Götter
er
den Toten
von
erweckt hatte,
schreibt jetzt: „Die Reise nach Italien weckt mich jeden Morgen bei Tagesanbruch.
Ich werde versuchen sie zu unternehmen, ob
gleich es mit eiiftm Gefühle geschieht, als sollte ich gegen eine
Batterie marschieren."
An Bord des Schiffes schreibt er im Hin
blick auf seine Liebe: „Wenn mein Körper sich von selbst erholen könnte, würde dieser Umstand es verhindern; gerade das, wofür ich am
meisten zu leben wünschte, wird der Hauptanlaß meines Todes sein... Ich wünsche den Tod Tag und Nacht herbei, um von diesem
Leiden erlöst zu werden, und verwünsche dann wieder den Tod,
denn der Tod würde diese selben Leiden zerstören, die besser als das Nichts sind.
Land und Meer, Schwäche und Schwindsucht
sind große Trenner, doch
der Tod ist der große Trenner für
ewig... Ich denke selten an meinen Bruder oder meine Schwester in Amerika; aber der Gedanke, Miß Brawne verlassen zu sollen,
ist über
Mich
alles schrecklich; ein Gefühl von Finsternis überkommt
dabei;
ich sehe
unablässig
ihr
entschwindendes Antlitz."
In einem anderen Briefe wieder schreibt er:
„Die Überzeugung,
sie nicht mehr Wiedersehen zu können, wird mich töten. lieber Brown,
sie hätte mein sein
war, und ich wäre nicht erkrankt.
sollen,
Mein
solange ich gesund
Ich kann es nicht ertragen
zu sterben — ich kann es nicht ertragen, sie zu verlassen. O Gott,
Gott, Gott!
Alles, was ich in meinen Koffern habe, was mich
an sie erinnert, durchbohrt mein Herz wie mit einem Speer.
Das
Seidevfutter, das sie in meine Reisemütze nähte, brennt mir auf dem
Kopfe.
Meine Phantasie ist fürchterlich lebhaft, was sie betrifft —
ich sehe sie — ich höre sie überall.
Es giebt nichts auf der Welt,
das hinlängliches Jnteresie für mich hätte, um meine Gedanken auch nur für einen Augenblick von ihr abzulenken... Ich vermag kein
Wort über Neapel zu sagen, ich fühle mich von den tausend neuen Dingen rings umher nicht im geringsten berührt.
mich,
an sie zu schreiben.
Ich fürchte
Allein es wäre mir lieb, wenn sie
wüßte, daß
ich sie nicht vergessen habe.
glühende Kohlen in meiner Brust.
O Brown! ich habe
Es überrascht mich, daß das
menschliche Herz imstande ist, so viel Elend auszuhalten, zu er tragen.
Ward ich geboren, um so zu enden?"
Am letzten Tage des Novembers
letzten Brief.
1820 schrieb er seinen
Ein tüchtiger Arzt, ein vertrauter Jugendfreund von
Keats, Dr. Clark, erhielt ihn noch den Winter über am Leben. In Neapel hatte er einen herzlichen Brief von Shelley erhalten,
der ihn einlud, nach Pisa zu kommen, wo er alle Pflege und
Hilfe finden würde.
Er nahm das Anerbieten nicht an.
einigen Wochen qualvollster Leiden
Nach
kam ein Zustand von Friede
und Resignation mit ruhigem, wohligem Schlummer über ihn.
Er
wünschte, daß ein Brief seiner Geliebten, den er nicht zu lesen
wagte, sowie ein Beutel und ein Brief seiner Schwester mit ihm in den Sarg gelegt würden, und verfügte, daß man auf seinen
Grabstein die Inschrift setze: Hier ruht Einer, dessen Name in Wasser geschrieben ward.
Die Berührung von Shelley's Zauberstab ließ das Wasier sich zu Eis verdichten und den Namen für alle kommenden Zeiten
leuchtend dastehen, wie in Krystall geritzt?
Keats' Poesie ist die am stärksten duftende Blüte des eng lischen Naturalismus.
Dieser hatte ja beim Auftreten des jungen
Dichters bereits ein langes, kräftiges Wachstum hinter sich.
Seine
Losung war, wie wir sahen, zuerst von Wordsworth formuliert und von ihm so in System gebracht worden, daß er seine Gedichte
in Gruppen teilte, den verschiedenen Lebensaltern und Seelen vermögen entsprechend.
Er bekam bei Coleridge einen Rückhalt in
einer halb Schellingschen Naturphilosophie, er trat bei Scott sieg
reich
als
ein
von Vaterlandsliebe
getragenes Menschen-
und
... time's monthless torrent grew A scroll of chrystall, blazoning the name Of Adonais. Shelley: Fragment LXXVII, On Keats.
Landschaftsstudium,
als
historische Begeisterung,
wie
als der
Entdeckerblick des Genies für die eingreifende Bedeutung der Rassen Bei Moore und Keats endlich gestaltete er sich zu einem
auf.
üppigen, prachtvollen Sensualismus, getragen von Organismen,
deren Sinne eine Empfänglichkeit für die Schönheitseindrücke der Außenwelt besitzen, gegen welche die gewöhnliche Eindrucksfähigkeit
der Menschen blöde und stumpf erscheint.
Allein bei Moore ist
die Sinnlichkeit, während sie künstlerisch sich in einem warmen, glänzenden Kolorit offenbart, einseitig auf das Erotische gerichtet
und von leichter, spielender Natur.
Bei Keats ist sie umfassend,
gediegen und schwer, keineswegs vorwiegend erotisch, sondern allseitig und in dieser ihrer Allseitigkeit ein bewunderungswürdiges Extrem des spezifisch englischen Naturalismus. Bei Wordsworth hatte
derselbe zu dem schon geschilderten einen Extrem geführt; zu einem ganz anderen, poetisch weit wertvolleren ist er bei Keats gelangt.
Bon
allen Dichtergeistern Englands
Künstler wie Keats. matische.
war keiner
so
sehr
Er war unter allen der am wenigsten Dog
Seine Poesie hat keine Stütze an der Vaterlandsliebe,
wie die Scott's und Moore's, predigt kein Freiheitsevangelium, wie die Shelley's und Byron's, sie ist reine Kunst und wird allein von der Einbildungskraft getragen.
Es gehörte zu seinem Lieb
lingssätzen, daß der wahre Dichter keine Lehre oder Ansicht, keine
Moral, ja kein Selbst haben könne.
Und weshalb?
Weil sich
der Dichter in gleichem Maße am Licht wie am Dunkel erfreue, einen ebenso großen Genuß darin finde, einen Jago wie eine
Imogen zu erschaffen.
Bon allen Dichtern, die sich selbst über
den Gegenständen ihrer Phantasie vergaßen, gilt es, daß sie in ihren
Schaffensstunden
ihre
eigene Gesinnung,
ihren Privat
geschmack so viel wie möglich bei Seite setzten, von Keats aber gilt dies im höchsten Maße.
Säuberten die anderen ihr Arbeits
zimmer von einem Teil ihrer privaten Hoffnungen, Schwärmereien
und Grundsätze, so thaten sie es doch nicht so vollständig
wie
er.
Sein Arbeitsgemach glich, wie einer seiner Bewunderer sagt,
dem Atelier eines Malers mit wenig anderem Hausrat als der Staffelei. Indessen war Keats' poetische Gleichgültigkeit Ansichten und
Prinzipien gegenüber selbst eine Lebensanschauung, ein Prinzip, das des poetischen Pantheismus nämlich.
Für den konsequenten
Pantheisten in der Dichtkunst sind alle Formen, alle Gestalten,
alle Lebensäußerungen auf Erden, in welche die Phantasie sich
vertieft, teuer und gleich teuer.
Keats anerkennt für den Dichter
keinerlei Wahrheit von der Art, die reformiert und ausschließt, aber er hegt einen fast religiösen Glauben an die Einbildungs
kraft
als den eigentlichen Born der Wahrheit.
Es heißt in
einem seiner Briefe: „Ich weiß nichts bestimmt, außer daß die
Gefühle des Herzens heilig sind, und daß die Einbildungskraft wahr ist.
Was sie als Schönheit erfaßt, muß Wahrheit sein,
gleichviel ob es zuvor so existiert hat oder nicht — denn ich habe von allen unseren Leidenschaften die gleiche Anschauung, wie von der
Liebe; sie sind auf ihrem Höhepunkte allesamt Schöpfer wesenhafter
Schönheit.
Die Einbildungskraft ist Adams Traum vergleichbar:
Adam erwachte und fand, daß derselbe Wahrheit sei."
Er setzt
weiter den Unterschied zwischen dieser Art von Wahrheit und
jener, zu welcher man auf dem Wege der Reflexion gelangt, aus
einander, und bricht dann in folgende, den Schlüssel zu seiner ganzen Poesie enthaltende Worte auS:
„Doch wie sich auch alles
verhalte, o, wie viel lieber ein Leben in Sinneseindrücken als in
Gedanken!" (0, sor a life of sensations rather than of thoughts!)
Er lebte zum großen Teile ein Leben in Sinneseindrücken, in Lust und Schmerz mittels der Sinne.
„Man nehme," sagt
Masson, „eine Physiologie zur Hand und gehe die sogenannten
Arten von Sinnesempfindungen eine nach der anderen durch —
die Sinnesempfindungen, die mit den bloßen Muskelzuständen verbunden sind, die, welche mit solchen Lebensprozessen, wie Blut-
Allseitiger Sensualismus.
172
umlauf, Eruähruilg, Atemholen, und elektrischer Berührung mit
umgebenden Körpern Zusammenhängen, die Geschmacks- und Ge ruchs-,
die Tast-, Gehörs- und Gesichtsempfindungen — und
man wird finden, daß Keats mit ihnen allen ungewöhnlich be gabt war."
Er war z. B. ungemein für die Genüsse des Gaumens empfäng lich und suchte sie durch besondere Reizmittel zu erhöhen.
Einer
seiner Freunde erzählt, er habe eines Tages gesehen, wie KeatS sich Cayennepfeffer auf die Zunge streute, um, wie er äußerte,
den angenehmen Geschmack eines Schluckes kalten Clarets daraus besser zu genießen.
„Da wir von Lustempfindungen sprechen," sagt
Keats selbst in einem Briefe, „so schreibe ich in diesem Augenblick mit der einen Hand und halte mit der anderen eine Pfirsich an den
Mund."
Kein Wunder also, daß von diesem Gebiete hergeholte In seiner mit Recht berühmten Ode
Bilder bei ihm häufig sind.
an die Melancholie heißt es von dieser Gottheit, daß sie ihren Altar im Tempel der Freude aufgeschlagen habe, wiewohl jedem anderen als dem unsichtbar,
„der mit kräftiger Zunge die
Traube der Freude an seinem feinen Gaumen zu zer drücken vermag,"
und in einem der letzten Sonette beschreibt
er das Nahen des Todes mit den bezeichnenden Worten, daß
der Gaumen seiner Seele den Geschmack verliere. verständlich
versahen
ihn
der
Gehörs-
und
der
Selbst
Gesichtssinn
mit einer noch weit größeren Fülle von Ausdrücken, als die untergeordneteren, minder edlen Sinne.
Er besaß die Liebe eines
Musikers zur Musik und das Ange eines Malers für Lichtund Farbennüancen.
So
begreift man,
daß er für alle die
mannigfachen Arten von Laut- und Duft- und Geschmacks- und
Tastempfindung über
einen Wortvorrat gebot, nach dem man
bei den größten Dichtern vergebens suchen wird, und so erkmnt
man, daß er in seiner angeborenen Organisation ein System von Anlagen besaß, die — gesichtet, geformt und entfaltet — in
ihrem Verein die höchste Fähigkeit auslösen mußten, alle Schön heit der Natur aufzusaugen und wiederzugeben. Diese wiedergeben zu können, war vom Anfänge an sein
Traum, und er, der seinem eigenen Zeugnisse nach, keinerlei „Über zeugungen"
außer in Bezug auf die Kunst besaß, schloß sich
leidenschaftlich der Umwälzung an, die Wordsworth und Coleridge
in der Beurteilung der Dichter des vorigen Jahrhunderts herbei
geführt hatten.
Spenser war sein Abgott, die klassische Kunst
dichtung war ihm ein Greuel, und in dem Gedichte „Schlaf und Poesie" hat er ein ästhetisches Glaubensbekenntnis abgelegt, wie es
in seinen Ausdrücken garnicht heftiger hätte abgefaßt werden können.
Nachdem er die alten poetischen Triumphe Englands geschildert hat, ruft er aus: Vergaß man alles dies?
Ja ein Verfall,
Genährt durch Barbarei und Thorheitsschwall, Hat schamrot um sein Land Apoll gemacht. Männer, die blind für seine Götterpracht, Hielt man für weise: kindisch und bethört
Wiegten sie sich auf einem Schaukelpferd Und nannten's Pegasus. O Schwächlingsbrut! Der Wind des Himmels blies, es schwoll die Flut Des Meers — ihr sühltet's nicht. Das ero'ge Blau
Enthüllte strahlend sich, es fiel der Thau Des Sommers und umwob des Morgens Pracht Mit Perlenzier: die Schönheit war erwacht! Warum doch schliefet ihr?
................... Dahin stumpfsinnig schrittet ihr, Und schwangt ein elend jämmerlich Panier, Bestickt mit nichtigen Mottos, mitten drauf
Der eine Name Boileau!
Schon lange bevor in Frankreich sich der Sturm gegen
diesen Unglücksnamen erhebt, stößt Keats gegen ihn in die Kriegs
trompete.
THLophile Gautier hat ihn nicht mit größerem Ingrimm
genannt, als er.
Es muß wohl dieser Passus,
dessen energischer Stil an
jenes Bild Wilhelm Kaulbach's erinnert, auf dem der Künstler
der Zopfzeit mit
dem Hampelmännchen im Arme schlummert,
sein, der Anlaß zu Byron's beständigen Ausfällen gegen Keats als den Angreifer Pope's gab.
Allein Keats hat nie eine Zeile gegen
Pope veröffentlicht, und wenn die Gräfin Guiccioli in ihrem naiven Buche über Byron auf diese Angriffe, die ihren Geliebten erzürnt haben sollen, zurückkommt, so ist dies nur liebenswürdige weibliche
Nachbeterei.
Hingegen dürfte Keats aller Wahrscheinlichkeit nach
Pope mit einbegriffen haben unter die oben Bezeichneten, deren
Ohr sich der Musik des Meeres und der Winde verschloß, und die
den seine Schönheit entfaltenden Morgen verschliefen. Keats gehörte nicht zu diesen.
Analysieren wir seine Eigen
tümlichkeit, so ergiedt sich uns, wie bereits erwähnt, als deren
Grundlage die allseitige Sinnlichkeit.
Man lese folgende Strophe
der Ode an die Nachtigall: O hätt' ich einen Rebentrunk, der lang Geruht, tief in der Erde kühler Brust,
Nach Blumen schmeckend, nach dem grünen Hang, Tanz, provenzal'schem Lied und sonn'ger Lust! Hätt einen Becher ich, auf dessen Grund Des Südens echte Hippokrene quellt.
Von Perlenbläschen lockend angelacht,
Purpurgefärbt den Mund — Daß ich ihn tränke und vergäß' die Welt
Und mit dir schwände in des Waldes Nacht!
und vergleiche damit diese Zeilen aus „Endymion": Bon diesen fass gen Birnen koste du,
Die mir Bertumnus sandte
.....
................................Hier ist Nahm, Der nie so schneeig zu Gesicht dir kam,
Süßer als Amalthea ihn gesandt Dem jungen Zeus; und hier, vom Druck der Hand
Noch ungeschwärzt ein Büschel duft'ger Pflaumen, Zerschmelzend schier auf eines Kindes Gaumen.
Dem verfeinerten, reichen Geschmackssinne entspricht die ideale Feinheit des Geruchs- und Gefühlssinnes.
In „Isabella", einem
Gedichte, welches nach Boccaccio denselben Vorwurf wie Andersens
Märchen „Der Rosenelf" behandelt, heißt es an der Stelle, wo das junge Mädchen das abgehauene Haupt des Geliebten ergreift: Die Seidenschärpe, süß vom Dusterguß
Thaufrischer Blumen aus Arabiens Flur Und hehrem Naß, das mit balsam'schem Fluß
Sickernd dem kalten Schlangenrohr entfuhr — Umhüllte dann das Haupt.
In „Lamm" heißt es bei der Beschreibung der Ankunft der
Gäste zur Hochzeit des jungen Paares: Als jeder Gast im Borsaal mit Genuß
Den kalten, vollen Schwamm auf Hand und Fuß Mit dienender Sklaven Hilfe ausgeschwenkt, Und man sein Haar mit dust'gem iöl getränkt, Schritten sie all' in weißem Festgewand
Zur Halle hin und nahmen ihren Stand
Rings um die seid'nen Polster.
In einer der „Episteln" findet sich folgende, in ihrem sinn lichen Bilderreichtum unglaublich knappgefaßte Zeile über einen
Schwan: „Du küßtest dir dein täglich Futter aus
Den Perlenhänden der Najaden zu."'
Es
ist
unnötig,
den Leser
auf die einzelnen Feinheiten
dieser Bruchstücke, von denen bei einer Übersetzung ja so vieles ver loren geht, aufmerksam zu machen.
Doch erst jetzt, wenn wir zu
dem Gebiete des Gesichtssinnes kommen, gelangen wir auf Keats'
eigentliches Feld, obgleich in seiner Poesie es nie der Gesichtssinn
allein ist, der Reize empfängt. Während WordSworth's Naturmalerei uns in die eigent
liche Flora hinausführt, treten wir mit Keats in ein Treibhaus ein:
eine milde,
feuchte
Wärme schlägt uns entgegen;
bunte
Blumen und safttriefende Früchte begegnen unserm Auge, und
schlanke Palmen, durch deren Zweige kein unsanfter Hauch zu
1 Kissing thy daily food from Najads' pearly hands.
sausen vermag, bewegen schwach nickend ihre langen, breiten Fächer. Er hat ein Lied an den Herbst gedichtet, das typisch für seine
Naturbeschreibung ist.
Er zeichnet, wie der Herbst sich mit der
zeitigenden Sonne verschwört, die Reben, die längs des Stroh
daches sich winden, zu segnen und mit Trauben zu beladen, um die Zweige der moosbewachsenen Apfelbäume sich neigen zu fassen
unter der Last der Äpfel, um alle Früchte bis in die Schale mit
Saft zu tränken, um den Kürbis zu schwellen und die Haselnuß
mit süßem Kern zu füllen, und schildert dann mit Meisterhand den Herbst als Person: Wer sah nicht oft dich unter deinen Schätzen?
Manchmal sieht dich, wer draußen nach dir späht, Ans einer Tenne frtar sich sorglos setzen, Bom worfelnden Winde leis dein Haar durchweht;
Oder an halbgemähter Furche ruh'n, Bon Mohnduft eingeschläfert, während noch
Den nächsten Schwaden deine Sichel schont.
Es ist Keats unmöglich, einen Gedanken oder Begriff auch nur mit Namen zu nennen, ohne ihn sofort in körperlicher oder
plastischer Form darzustellen.
Seine zahlreichen Allegorien haben
ein Lebm, ein Feuer, als wären sie von den besten italienischen Künstlerhänden des sechzehnten Jahrhunderts in Stein ausgeführt.
Er sagt von der Melancholie: Sie weilt bei Schönheit, die dem Tod geweiht, Und Freude, die beständig ihre Hand Zur Lippe führt, Abschied zu winken.
Er sagt von der Dichtkunst: Ein unerschöpflich Meer von Licht Ist sie; sie ist die höchste Kraft, ist Macht,
Im Halbschlaf ruh'nd auf ihrem rechten Arm.
So sehen wir Keats' dichterische Fähigkeit stets an Umfang wachsm.
Sein Ausgangspunkt, und der Ausgangspunkt in seinen
schönsten kleineren Gedichten (wie in der Ode an die Nachtigall) ist
die Schilderung eines rein körperlichen Zustandes, wie Mattigkeit,
Nervosität, Opiumschläfrigkeit, Durst, Verschmachten; von diesem Hintergründe von Wohl- und Wehegefühl heben sich sodann die Sinnenbilder ab,
deutlich und rund wie die Reliefs auf einem
Schilde. Das Wort „zusammengeschweißt" tritt einem unwillkürlich bei dem Gedanken an Keats' Bilder auf die Lippen.
Sie haben
gewissermaßen etwas Volllötiges, Fertiges, als wären sie auf eine Fläche geschweißt worden
Man merke achtsam darauf, wie in den folgenden Bruchstücken
der ersten und der dritten Strophe der schönen „Ode an den Müßiggang" die Gestalten sich allmählich hervorheben: Jüngst sah ich drei Gestalten im Profil,
Gesenkten Hauptes schreitend Hand in Hand; Sie folgten sich einander leis und still Auf weichen Sohlen, schimmernd ihr Gewand.
Sie schwanden, Bildern einer Urne gleich, Die man gedreht, zu schauen der Rückwand Bild:
Und dann wie bei der Urne Weiterdrehn, Kehrten sie wieder aus dem Schattenreich; Sie däuchten fremd mir, wie ein Vasenschild, Ein seltenes, das der Forscher nie gesehen . . .
Sie schritten mir vorbei zum dritten Mal, Und Netzen kllrz auf mir die Blicke ruhn.
Dann schwanden sie, ich brannr' in Sehnsuchtsqual Den Drei'n zu folgen, die ich kannte nun: Liebe, so hieß die Erste, schön und hehr;
Ehrgeiz, die Zweite, wach zu jeder Zeit, Bleichwangig, müden Aug's, doch rastend nie; Die Letzte, um so teurer mir, je mehr Man sie geschmäht, die ernste, stolze Maid,
Sie war, wußt' ich, mein Dämon Poesie.
Doch erst in den wenigen fertig gewordenen Gesängen des „Hyperion" gelang es Keats, seine Kunstmittel völlig zu beherrschen
und das Ideal plastisch-sinnlicher Bestimmtheit zu verwirklichen, das seinem Auge vorschwebte.
Hier hat das Relief der Statue Platz ge
macht, einer Statue in einem Stil, als wäre bei ihrem Werden der
Meißel Michel Angelo's mit im Spiel gewesen. Mag sein, daß man Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
12
das Studium Milton'S herausfühlt, immerhin überragt dies Mil
ton.
Schon die Natur des Stoffes trieb die Bilder ins Kolossale.
Man lese die folgenden Worte über die Göttin Thea: Die hohe Amazone neben ihr
Wär von Pygmäenwuchs erschienen: sie Hätte Achilleus wohl am Haar gepackt
Und ihm gebeugt den Nacken; ja, das Rad
Jxions mit des Fingers Druck gehemmt.
Oder man lese die Beschreibung der Höhle, in der sich die Titanen nach ihrem Sturz versammelt haben: '8 war eine Höhle, wo kein schmerzlich Licht Auf ihre Thränen siel; wo ihr Gestöhn
Sie fühlten, doch nicht hörten Dorrn Gebrüll Der Heisern Ströme und der Sturzflut Schwall, Der donnernd rings durchs Dunkel niederschob. Es streckten Klipps an Klipp', und Felsen, die Just schienen aus dem Schlaf erwacht zu sein, Die mächt'gen Hörner Stirn an Stirn hervor,
Und formten so, phantastisch riesenhaft, Ein patzlich Dach ob diesem Nest der Qual. Anstalt auf Thronen, saßen sie auf FlintGestein und hartem Fels- und Schieferbruch, Durchstarrt von Erz.
Nicht alle waren dort:
Gefesselt waren ein'ge, andre fern. Cöus und Gyges, sowie Briareus, Typhon und Dolor und Porphyrion, Nebst manchen noch der Trotzigsten beim Sturm,
Waren in Regionen eingesperrt, Wo ihnen kaum zu atmen möglich war, Die Zähne knirschend in der Finsternis, Und, den metallnen Adern gleich im Berg,
Die Glieder all gekrümmt und festgespannt, Ganz regungslos, — nur daß in Qualen sich Die schweren Herzen hoben, und sich wild Mit kochend fieberhaftem, heißem Puls
Zusammenkrampften.
Byron, der ehedem so streng gegen Keats gewesen, hat nicht zu viel gesagt, wenn er bemerkt: „Sein Gedicht Hyperion scheint
in der That von den Titanen inspiriert und ist erhaben wie
Allseitiger Sensualismus.
Äschylos."
179
Man hat jetzt auch hinlängliche Proben von der ge
waltigen Einbildungskraft des Dichterjünglings.
Wie süß auch
seine Melodien finb,1 so ist doch diese es, die ihn zum englischen
Dichter stempelt.
Er bildet mit dem rein künstlerischen Gepräge
seiner Poesie den Übergang von den konservativen zu den fort
schrittsliebenden Poeten, aber doch mit einem ausgesprochenen Hange
zum Fortschritt, einem Hange, von dem seine schwärmerische Freund schaft für den radikalen Redakteur des „Examiner", Leigh Hunt, ein
sprechendes Zeugnis giebt.
Er fühlte, was er schrieb, wenn er in
seiner Erbitterung über die Wirtschaft Liverpool's und Castlereagh's
in dem Gedichte „An die Hoffnung" ausrief: O laßt mich seine Seele unser Land Bewahren sehn: Den Stolz, die Freiheit; nicht Der Freiheit Schatten —
und die Namen Wilhelm Test, William Wallace, wie vor allem
Koscziuszko kommen, mit höchster Bewunderung genannt, immer und
immer
wieder in seinen Versen vor.
Wozu er sich entwickelt
haben würde, wenn er das Mannesalter erreicht hätte, ist nicht zu sagen.
Als er seine letzten Gesänge dichtete, war er ja noch
ein weltfremdes Kind. Man darf nicht vergessen, daß er sie unter großen Qualen
und ohne alle Ruhe zur Arbeit schrieb. Möglich, daß sie gerade des
halb so schön sind.
Mag der Künstler seine Produktion noch so
sehr von seinem Privatleben frei halten, mag er, wie Keats, seiner tiefsten Leidenschaft in seinen Werken kaum
gedenken,
nimmer
wird ein Werk das Leben und die Farbe haben, das göttliche Feuer an der Stirn
tragen, wie dasjenige,
bei dessen Aus
führung der, der es schuf, nicht nur gedichtet, sondern gelebt und 1 Ma» achte z. B. auf den Wohllaut seines Elfengesanges:
Shed no tear! 0 shed no tear! The flower will bloom another year, Weep no more! weep no more! Young buds sleep in the roots white core etc. 12*
180
Allseitiger Sensualismus. Weder die Sorge um das tägliche Brot, noch das
gelitten hat.
Brustleiden, noch die Leidenschaft für das ostindische Fräulein haben Keats'
Schaffen unmittelbar ihren Stempel aufgedrückt;
doch aus all diesem Gifte für ihn hat er Nahrung für dasselbe
gesogen.
So sank er denn in sein frühes Grab, und kaum bestattet, «rstand er vou den Toten in dem Klagelied, seiner Gruft anstimmte.
das Shelley an
Er hörte als Keats zu existieren auf,
er verwandelte sich in eine Mythe, in Adonais, den schönen Lieb ling aller Musen und Elemente, und zur Mythe geworden, führte
er von da ab in dem Bewußtsein der Nachwelt eine Doppel existenz: Er lebt, er wacht — der Tod ist tot, nicht er. Klagt nicht um Adonais! . . . Er ist jetzt eins mit der Natur, sein Hall
Ertönt in ihren Klängen, vom Gedröhn
Des Donners bis zum Lied der Nachtigall . . . Er ist ein Teil der Lieblichkeit, die er Einst lieblicher gemacht: er lebt und webt Im Schöpferhauch des Geistes um ihn her, Der durch des Weltalls dumpfe Masse schwebt Und neue Forrnenreih'n zum Licht erhebt . . . Sie, die zu früh für ihren Ruhm entflohn, Verließen ihre Throne, fern von Zeit
Und Raum im Unsichtbaren. Chatterton Erhob sich bleich, noch abgehärmt vom Leid Des Todeskampfs.
Sidney, wie er im Streit
Gefallen, wie gelebt er und geliebt,
Erhaben mild, im Geist noch unentweiht, Stand auf
Und viele mehr, auf Erden kaum bekannt, Sie riefen: „Du bist unser nun! für dich Hat jener königliche Ball so lang' In unbeherrschter Pracht geschwungen sich. Alleinzig stumm, im Himmel voll Gesang. — Nimm deinen Thron jetzt ein du Abendstern voll Klang?
1 Shelley: Adonais, Strophe 41—43.
Allseitiger Sensuellem 110.
181
Es giebt in der Geschichte der Poesie kaum ein Seitenstück zu dieser Elegie.
Sie ist die unmittelbare Verklärung der Gestalt
nach dem Tode, eine poetische Verklärung von rein naturalistischer und rein menschlicher Art.
Für Shelley lag die wahre Apotheose
Keats' in den Worten: Er ist jetzt eins mit der Natur.
(He is made one with Nature.)
XII.
Im November 1825 schreibt Walter Scott in sein Tagebuch: „Thomas Moore hier . . . In
Offenheit,
seinem Wesen liegt männliche
gepaart mit vollkommenem Anstande und guter Er
ziehung. — Keine Spur von Poet oder Pendant... Sein Antlitz
ist nicht ungewöhnlich, allein seine Züge sind so lebhaft, besonders
wenn er spricht oder singt, daß sie weit interessanter sind, als
regelmäßige Schönheit sie machen könnte.
Ich erinnerte mich, daß
Byron sowohl mündlich, wie in seinem Tagebuch Moore und mich
so ost in einem Atem und mit ein und derselben Art von Achtung genannt hat, daß ich begierig war, zu sehen, was wir wohl mit einander gemein haben könnten, da doch Moore stets in der ele
ganten Welt gelebt hat, ich auf dem Lande und im Verkehr mit Geschäftsleuten, mitunter auch Staatsmännern, da Moore ein Ge lehrter, ich nicht, da er ein großer Musiker, während ich nicht eine
Note kenne, und da er ein Demokrat ist, ich ein Aristokrat, ganz davon zu geschweigen, daß er ein Irländer ist, ich ein Schotte. Eins jedoch ist «nS beiden eigen, und das ist ein wichtiger Ähnlichkeitspunkt:
Wir sind beide zwei gutmütige Bursche, die lieber den Augenblick genießen, als sich anstrengen, ihre Löwenwürde zu behaupten, und
wir kennen beide zur genüge die Welt, um von Herzen solche hochnäsige Personen zu verachten, die in ihrer litterarischen Wichtig-
thuerei an bett Mann erinnern, welchen Johnson in einem Wirts hause traf, und der sich selbst als den großen Twalmy, den Er-
finder des schleußenförmigen Plätteisens, vorstellte ... Es wäre ein erfreulicher Zuwachs meines Glückes, wenn Thomas Moore
zwei Meilen von hier einen Landsitz hätte. — Wir begaben uns zusammen ins Theater, und
da das Haus glücklicherweise von
einem guten Publikum besucht war, wurde Thomas Moore mit Entzücken empfangen ... Ich hätte die Leute umarmen mögen, betttt sie trugen meine Schuld für den schönen Empfang ab, den
ich in Irland gefunden habe."
Mit diesen herzlichen und humoristischen Worten hat der
große Dichter Schottlands die Parallele zwischen sich und dem Nationaldichter Irlands gezogen.
Die Ähnlichkeit ihrer Stellung
als anerkannte, bewunderte Organe der beiden mit England ver
bundenen, abhängigen Reiche, läßt den Unterschied zwischen ihnen um
so schärfer hervortreten.
Er beruht zuvörderst auf dem Unterschiede
in der Lage Schottlands und Irlands dem herrschenden Stamme
Schottlands Stellung war untergeordnet, doch sie war
gegenüber.
gesetzlich geordnet, und
Parlamente.
die Schotten hatten Sitz im englischen
Die Irländer hingegen, zwischen denen und ihren
englischen Herren teils ein weit tieferer Rassenunterschied, teils hin
sichtlich ihrer Mehrzahl eine weit bedeutendere religiöse Ungleich
artigkeit bestand, warm 600 Jahre lang von einer Regierung beherrscht worden, über welche sie nicht mehr Kontrolle übten, als
die Hindus oder die Singhalesen über die ihre.
Das protestan
tisch« Parlament des Landes hatte seinerzeit in dem katholischen Irland wie eine feindliche Besatzung in einem eroberten Lande
gehaust.
Es war eine Bande von Diktatoren, die im Namen
einer fremden Macht, mit der vollen Freiheit zu unterdrücken,
regierten, selbst aber bei dem leisesten Versuch einer Opposition
sofort durch Bestechung gewonnen oder auf gewaltthätige Weise unterdrückt wurden.
Der irische Protestant war in Wirklichkeit
nicht besser gestellt, als sein katholischer Landsmann.
Er konnte
die Gunst seiner Herren allein durch die Aufopferung der Jntereffen
seines Landes erkaufen und genoß nur das eine traurige Vorrecht,
zugleich Sklave und Tyrann zn fein. Der englische Stamm hat das Glück gehabt, daß sowohl seine Tugenden, wie seine Fehler ihm die Überlegenheit im Kampfe um politische Selbständigkeit und Macht sicherten; sein Egoismus und sein Hochmut sind ihm fast ebenso zu statten gekommen,
wie seine nüchterne Klugheit und seine Thatkraft.
Das irische
Volk hingegen scheint ungefähr in derselben Art, wie das pol nische, durch
wie
seine Tugenden
Abhängigkeit verurteilt zu sein.
seine Laster zur politischen
Ohne zu vergessen,
daß der
Charakter des überwundenen Stammes in den Schilderungen des
Siegers stets verunglimpft wird, darf man behaupten, daß die Geschmeidigkeit, die Lebhaftigkeit, die Anmut und das Feuer der
Irländer, ihr unruhiger Heldenmut, ihre unstete Ritterlichkeit,
der Trieb zur Freiheit und in gewissen Fällen zur Empörung, der sich bei ihnen mit der Vorliebe für die Pracht und den Pomp der Königsmacht verbindet, eine schlechte Grundlage für ein ruhiges,
unabhängiges Staatsleben obgeben.
Es fehlt ihnen an den bürger
lichen Tugenden der modernen Zeit, und die, welche sie besitzen, gehören der Vergangenheit an: ihre Religiosität streift an den blindesten Aberglauben, ihre Treue besteht, wie bei ihren Brüdern in der Bretagne, in einer Art Lehnstreue gegen die alte Aristokratie
des Landes, und ihr glänzender Mut ist von undisziplinierter, auf brausender Natur.
Endlich hat die Jahrhunderte lange Unter
drückung der Volksseele ihren Stempel ausgeprägt.
Die Irländer
ermangeln des Selbstvertrauens, sind zur Verstellung geneigt wie nicht minder zu Indolenz, sind, vor der Gefahr, allzuwenig auf ihrer Hut, und allzu leicht eingeschüchtert in dem Augenblicke, wo sie
erscheint; sie
verstehen nicht,
wenn sie ihnen vorübergehend
die
Freiheit zu
gebrauchen,
gewährt ist, weil man sie nur
durch lange Übung mit Festigkeit gebrauchen lernt. Es
giebt
unerfahrene
Völker
wie
unerfahrene Jndivi-
Die Irländer sind von einer Seite den Franzosen, für die
duen.
sie stets lebhafte Sympathien hegten, verwandt, von einer andern
gesehen,
erinnern
sie etwas
sie
an die Polen;
Orientalisches.
von einer dritten haben
Unter den letzten irischen Melodien
Moore's befindet sich ein Gedicht The Parallel, welches als Ant wort auf ein Pamphlet gegen die Irländer, das ihren jüdischen
Ursprung beweisen wollte, eine Parallele zwischen dem Schicksale der Juden und dem des irischen Volkes zieht: Unser Volk liegt gleich dir nun besiegt und gebrochen. Vom Haupt fiel die Kron' ihm, sein Schimmer erlag, Rings hat ihm Verwüstung das Urteil gesprochen. Seine Sonne ging unter, derweil es noch Tag.
Und der Stamm selbst hat ein morgenländisches Gepräge. „Die Irländer," sagt Byron an einer Stelle in Bezug auf Moore,
„rühmen sich ihrer orientalischen Abstammung, und wirklich sprechen die Wildheit und Zartheit, die lebhaften Farben ihrer Phantasie, die feurige, exaltierte Sinnesart ihrer Männer, die Schönheit und
der asiatische Anmut ihrer jungen Mädchen zu gunsten dieser An
sicht."
Ein Volksstamm mit solchen Grundzügen mußte für die
zähe, grausame englische Tyrannei eine leichte Beute abgeben.
Ein kurzer Überblick über die Geschichte Irlands während
der Jugendzeit Thomas Moore's wird es begreiflich machen, daß
dieser mild angelegte, weichmütige Dichtergeist der erste ist, der
die auf der Naturbetrachtung ruhende Dichtung Englands in das Lager der Freiheitsideen hinüberführt und das Signal zur poli tischen Poesie giebt. Er ward im Mai 1779 geboren und machte
die Schrecknisse, .die bald darauf eintreten sollten, in den ersten Jünglingsjahren mit.
Von dem Zeitpunkte an, wo die eng
lische Regierung durch die Ernennung des Lord Camden zum Bizekönig von Irland (1795) ihre Absicht zu erkennen gab, die
humanere Politik von 1782 aufzugeben, nahm die über das ganze Land verbreitete patriotische Gesellschaft der „Vereinigten Irländer" (United Irishmen),
die
bisher
die Befteiung Irlands
durch
gesetzliche Mttel angestrebt hatte, einen neuen Charakter an; man
steckte sich das Ziel der Losreißung Irlands von England und träumte von der Errichtung einer irischen Republik.
Das irische
Volk selbst war indes in feindliche Parteien zersplittert, und ein glühender Haß stellte in den unteren Klassen Protestanten und Ka
tholiken einander gegenüber.
Um den Unruhen und Krawallen,
welche durch diese innere Feindschaft veranlaßt wurden, ein Ende zu
machen, errichtete die Regierung ein protestantisches Gendarmerie korps von 37 000 Mann, dem es unter dem Vorwande, noch
verborgenen Waffen zu fahnden, gestattet war, jeden einzukerkern,
zu foltern und zu töten, der von irgend einem Halunken oder Feinde
als
verdächtig
angezeigt
wurde.
Hunderte
von
Un
schuldigen, bereit ganzes Verbrechen darin bestand, sich zu dem
Glauben ihrer Väter zu bekennen, wurden gepeitscht, bis ihnen die Sinne schwanden, wurden mit einem Beine auf einem spitzen
Pfahl zu stehen gezwungen, wurden halb gehängt (d. h. kurz nach
dem Hängen herabgenommen) oder durch den Sprung aus der
Pechkappe skalpiert.
Hierzu kamen die über das ganze Land sich
erstreckenden Dragonaden mit völliger Freiheit zu Raub, Plünde rung, Notzucht und, im Falle der Gegenwehr, Mord.
Offiziere
von Rang brüsteten sich, daß es in manchen Gegenden weit und breit kein Haus gäbe, wo die Frauen nicht geschändet worden, und auf den Einwurf, daß die Irländerinnen gerade nicht sehr
sittenstreng gewesen sein müßten, lautete die Antwort, „das Bajonett
entferne alle Sprödigkeit?"
Es war demnach kein Wunder, daß die Verzweiflung viele
der ruhigstm, besonnensten Irländer einer geheimen Gesellschaft
in die Arme trieb, als deren Abgesandter Lord Edward Fitzgerald (dessen Lebensgeschichte Moore mit so warmer Begeisterung geschrieben hat) nach Frankreich ging, um mit dem General Hoche über eine 1 Massey: History of England IV, 302. Die ganze Darstellung ist auf die Schilderung englischer Patrioten gegründet.
gleichzeitig mit dem allgemeinen Ausbruche des irischen Aufstandes zu bewerkstelligende Landung der Franzosen zu unterhandeln. Der alte kaltblütige Führer des Volkes, Grattan, der nichts mit den Fremden zu schaffen haben wollte, zog sich zurück, ebenso
verzweifelt über die letzten Pläne der Herrschenden wie der Unter
drückten.
Es bildete sich nun in Irland heimlich ein förmliches
Direktorium nach dem Muster des französischen, das mit Frank reich wegen Geldanleihen und Truppenunterstützung in Unter
handlung stand, als alle Pläne plötzlich an der Verräterei eines
einzigen katholischen Irländers scheiterten. Sein Name war Reynolds
und verdient vor der Vergessenheit bewahrt zu werden.
Un
zweifelhaft ist er es, den Thomas Moore vor Augen gehabt hat, als er in den „Feueranbetern" die niedere Berräterei schildert, welche das Haupt der Empörung in die Gewalt der Muhamedaner
bringt.
(Lalla Rookh: The fireworshippers.)
Edward Fitzgerald lag im Bette, als die Truppen, um ihn
zu verhaften, in das Haus drangen, in dem er sich verborgen
hielt.
Auf seinen Kopf war ein Preis von tausend Pfund ge
setzt.
Obwohl liegend und einzig mit einem Dolch bewaffnet,
verteidigte er sich gegen drei englische Offiziere in voller Aus
rüstung, brachte dem einen zwei, drei, dem anderen 14 Wunden bei, bis ihn der dritte mit einem Pistolenschuß entwaffnete und
er ins Gefängnis abgeführt wurde.
Er war mit den besten
Männern der französischen Revolution bekannt, war ein Freund
Thomas Payne's und mit einer Tochter von Philippe Egalitö, einer schönen Dame, vermählt.
Er stand in stetem Briefwechsel
mit Frankreich, und nur durch seinen Tod im Gefängnis ent
ging er der Hinrichtung.
Wiewohl in Kreisen lebend, in betten
Fitzgerald als ein landesverräterischer Tollkopf betrachtet wurde, hat Moore den Mut und die Selbständigkeit besessen, seinem Heroismus alle Ehre widerfahren zu lassen.
Durch den Schlag, den die Regierung gegen das Haupt des
Aufstandes geführt hatte, war die Aussicht auf eine Überrumpelung
vernichtet, allein gegen die über das ganze Land zerstreuten Rebellen
bot sich der Regierung nunmehr Gelegenheit, mit einer Grausam keit vorzugehen, die an Wut grenzte.
Der Belagerungszustand
mit Kriegsgerichten wurde verhängt, und die Mitglieder der Jury
werden von englischen Historikern als „eine Rotte unwissender, blutdürstiger
Schurken
bezeichnet,
die
durch
Tortur
und Be
gnadigungsvorspiegelungen erst katholischen Zeugen falsche Aussagen
gegen die Angeklagten abdrangen, um hinterher jegliche Schandthat gegen sie zu verüben."
Der erste vornehme Mann, der diesem
Gerichtsverfahren zum Opfer fiel, war ein friedlicher Anhänger der gesetzlichen Reformpartei Irlands (Sir Edward Crosbie): er wurde
gehängt und
nachher verstümmelt.
Es war nicht der
Religionsunterschied, der die Grausamkeit dieser Henker entflammte, denn die hervorragendsten Führer
der
„Vereinigten Irländer"
(Fitzgerald, O'Connor, Harvey, Thomas Emmei) waren sämtlich Protestanten,
die sich der Sache ihrer katholischen Landsleute
uneigennützig annahmen; nein, es war der alte Rassenhaß der Angelsachsen gegen den keltischen Stamm. Zu ihrem Hauptwerheuge wählte die Regierung einen Mann,
der als ein so unwissender, fanatischer Parieimann bekannt war,
daß jede Gewaltthätigkeit sich von ihm erwarten ließ.
Es war
ein kleiner Gutsbesitzer, namens Thomas Judkin Fitzgerald, der 1799 zum High Sheriff ernannt wurde. Anfänge an dahin, sich bei
Sein Plan ging vom
seinen Vorgesetzten
dadurch einzu
schmeicheln, daß er den Erstbesten, den er der Teilnahme an auf rührerischen Plänen verdächtig hielt, aufgreifen ließ, um von ihm
durch Peitschenhiebe und. die Androhung sofortigen Hängens Ge ständnisse
und Anklagen
gegen
andere
zu erpressen.
Solchen
Schrecken flößte er bei seiner Ankunft in Irland ein, daß die
armen
Bauern,
die
sich
seiner
Willkür
überlassen
auf seinem Wege vor ihm auf die Kniee fielen.
wußten,
Hier ein paar
Beispiele seines Verfahrens, unter den vielen herausgegriffen, die
bei
dem
wegen
Mißbrauch
der Amtsgewalt gegen ihn ange
strengten Prozeß, in welchem er natürlicherweise glänzend frei
gesprochen wurde, zu Tage kamen.
Er empfing einen armen
Sprachlehrer, namens Wright, der auf die Kunde, daß er „ver dächtig" sei, sich bei dem Sheriff einfand, mit den Worten, er
solle „auf die Kniee fallen, um sein Urteil zu vernehmen."
„Du
bist ein Rebell," sagte er zu ihm, „Du sollst 500 Peitschenhiebe
bekommen und dann erschossen werden."
Da der arme Mann
unvorsichtig genug war, um Aufschub zu flehen und das Wort
„Verhör" zu stammeln, wurde er augenblicklich seinen Henkern
übergeben.
Doch noch ehe diese ihn ergreifen konnten, stürzte sein
Richter sich auf ihn,
packte ihn an den Haaren,
und versetzte ihm Degenstiche. halten
hatte,
verbrochen
schlug ihn
Als Wright 50 Peitschenhiebe er
erschien ein englischer Major und frug, was er
habe.
Statt
aller Antwort
reichte
man
ihm ein
französisches Billet, das man bei dem Verräter gefunden hatte aber
nicht verstand.
Es stellte sich heraus, daß es eine Ent
schuldigung war, nicht zu rechter Zeit zu einer Unterrichtsstunde kommen zu können.
Der Major versicherte dem Richter, daß es
ein durchaus unschuldiger Zettel sei; nichtsdestoweniger wurde die Stäupung fortgesetzt, bis die Eingeweide des Opfers durch das
zerfetzte Fleisch sichtbar wurden.
Nun erhielt der Büttel Befehl,
an jene Körperteile, welche die Peitsche nicht zerfleischt hatte, seine
Zangen anzusetzen.
Dieser Fall war einer von denjenigen, die in dem Prozesse
gegen den irischen Oberrichter am meisten Aufsehen erregten, einem Prozesse, sagt Massey, der nicht vollständig gewesen wäre, wenn
nicht ein protestantischer Geistlicher als Zeuge zu gunsten des Angeklagten einen Eid darauf abgelegt hätte, daß dieser allbekannte Bluthund, den man in ganz Irland nur den Peitschen-Fitzgerald
nannte, ein milder, menschenfreundlicher Mann sei. Man hatte gleich
Irische Opposttionspoefle. anfangs
ihm zu Liebe
Tortur eingeführt.
verfassungswidrig durch ein Gesetz die
So wurde es ihm ein Leichtes, alle Ankläger
aus dem Felde zu schlagen.
Mit unerhörter Roheit brüstete er
sich als Angeklagter, bei einer Unzahl von Fällen weit heftigere Auspeitschungen verhängt zu haben, als bei denen, von welchen
jetzt so viel Aufhebens gemacht würde, und erzählte selbst von
einem Manne, der sich den Hals abgeschnitten habe, um den Schrecknissen der Tortur und der damit verbundenen Schmach
zu entgehen.
Es verdient bemerkt zu werden, daß er zum Lohn
für seine Verdienste eine besondere Pension erhielt, und nachdem
Castlereagh die Union mit Irland ins Werk gesetzt hatte, zum „Baron des Bereinigten Königreiches" ernannt wurde.
Nur ein Beispiel noch, wie bei Unterdrückung des Aufstandes vorgegangen wurde; es giebt ein lebendiges Bild der Eindrücke» unter
denen der junge Thomas Moore, der damals 18 Jahre zählte, zum Manne heranreifte.
An einem Herbstabende des Jahres 1798
gingen Gendarmen unter Anführung eines gewissen Whollaghan in ein Haus des Dorfes Delbary, das einem als verdächtig
geltenden Arbeiter, namens Dogherty, gehörte, und fragten, ob
von den mörderischen Aufrührern niemand zugegen wäre.
Die
einzigen im Hause Anwesenden waren Dogherty's Weib und ein kranker Knabe,
ihr Sohn.
Whollaghan frug, ob der Junge
Dogherty's Sohn sei, und da die Frage bejaht wurde, schrie er:
„Dann sollst Du sterben, Du Hund!" Leben.
Der Knabe flehte um sein
Unter einer Flut von Schimpfreden versuchte der Unter
offizier zweimal zu feuern, doch das Gewehr versagte. Ein Kamerad
reichte ihm
sodann ein anderes Gewehr, die Mutter warf sich
über ihr Kind, allein die Kugel zerschmetterte den Arm des Knaben.
Als er zusammenstürzte, verließen die Mörder die Hütte.
Whol
laghan kehrte jedoch
zurück, und als er die Mutter über den
Sohn gebeugt sah,
schrie er: „Was, ist der Hund noch nicht
tot? —"
„Ach Gott, Herr," entgegnete das arme Weib, „er ist
so gut
wie tot"
„Ich fürchte, nein", erwiderte Whollaghan,
„mag er noch das nehmen."
Er feuerte nun noch ein viertes
Mal, worauf der Knabe tot in die Arme der Mutter sank. —
Whollaghan wurde der Überschreitung der Amtsgewalt angeklagt. Als der Prozeß wider ihn verhandelt wurde, stützte die Ver
teidigung sich darauf,
daß der Angeklagte und
seine Begleiter
„mit der allgemeinen Ordre, wen sie wollten, zu erschießen, aus
gesendet worden seien."
Das Gericht war nicht der Ansicht, daß
solch ein Befehl etwas Ungewöhnliches oder Vernunftwidriges hätte. Es befand, daß der Angeklagte einen Rebellen, Thomas Dogherty,
durch einen Schuß getroffen und getötet habe, sprach ihn jedoch von dem Verbrechen des vorsätzlichen, böswilligen Mordes frei. Durch solche Mittel wurde die Ruhe in Irland wieder her
gestellt, und das Volk für den Akt, in welchem Castlereagh mit
kaltem diplomatischen Scharfblick den einzigen Ausweg aus dem irischen Sumpfe sah, für die Auflösung des Dubliner Parlamentes
und dessen Verschmelzung mit dem Londoner Parlamente reif ge
macht.
Der Widerstand, den es allein zu überwinden galt, war der
des irischen Parlamentes selbst, und da dieses, so gründlich verderbt es auch war, sich noch nicht hinlänglich gefügig zeigte, verfiel
Castlereagh, der damalige Chief secretary für Irland, der in seiner Eigenschaft als Irländer und Protestant keine allzu hohe Meinung von den Protestanten unter seinen Landsleuten gehegt zu haben scheint, auf den einfachen Ausweg, die erforderliche An
In
zahl von Mitgliedern der Opposition einzeln zu erkaufen. jedem
amtlichen
Schreiben,
das
er
seit
Anfang
1799
nach
London sandte, bis die Union 1800 zur Annahme gelangte, kam
er immer und immer wieder auf seinen Vorschlag zurück;
er
erhielt als Antwort von der Regierung nach und nach andert halb Millionen Pfund Sterling, eine Summe, die auf die wirk samste Weise verwendet wurde.
In ihrer Verzweiflung verfielen
die wenigen irischen Patrioten des Parlamentes auf den Gedankm,
das einzige Mittel zu versuchen, das noch von einigem Gewicht
erschien, nämlich den vom Volke noch immer vergötterten, doch
seit lange verstummten und jetzt gefährlich erkrankten Grattan in
dem Augenblick, wo der Unionsvorschlag auf der Tagesordnung stand, Plötzlich int Parlamente austauchen zu lassen.
Mit echt
irischem Hang zu dramatischem Effekt wurde die Sache in Szene
gesetzt.
Da ein Sitz im Parlamente seit wenigen Tagen erledigt
war, wurde Grattan in aller Stille gewählt, und der Patron des betreffenden Fleckens, ein Mr. Tighe, ritt in Karriere nach Dublin, um das Resultat zu verkünden.
an.
Er langte um 5 Uhr morgens
Der von Krankheit abgezehrte Grattan wurde aus dem Bette
gehoben, in eine Bettdecke gehüllt und in einer Sänfte ins Par-
lamentsgebände getragen.
Die Verhandlungen hatten bereits seit
vollen 15 Stunden ununterbrochen, auch die ganze Nacht hindurch,
gedauert, als das Haus um 7 Uhr morgens beim Anblicke der gespenstischen Erscheinung
aus
dem Halbschlummer emporfuhr.
Es war der Mairn von 1782, der Mann, der die Irländer zu
einem Volke gemacht hatte, der jetzt als das sterbende Gewissen seines Volkes aus dem Grabe stieg, um den letzten Protest zu Gunsten
der Unabhängigkeit desselben zu erheben.
Er schloß seine Rede
mit den Worten, ob er auch sterbend am Boden läge, so wolle er doch den letzten Atemzug zur Einsprache wider einen Antrag
wie den vorgelegten gebrauchen, und als der Schatzkanzler Corry ihm auf diese Worte die Beschuldigung des Landesverrates ent gegenzuschleudern wagte, antwortete er mit einer Herausforderung, welche wenige Tage darauf ein Pistoleitduell zur Folge hatte.
Bei demselben wurde Corry zu seinem Glück am Arme verwundet;
hätte er gesiegt, so wäre er sicher von der Bevölkerung in Stücke zerrissen worden.
Doch selbst Grattatt vermochte nichts den Waffen
gegenüber, deren die Regierung sich bedient hatte. Die Beredsam keit, die Moore dem Glanz und der Festigkeit des Edelsteines ver
glichen hat, der Byron nicht bloß alle die Vorzüge beilegt, welche
Irische Appvsitionspoesie.
193
Demosthenes besaß, sondern auch die ihm fehlenden, fand keinen Widerhall?
An
dem Tage, an dem die Union angenommen
wurde, waren Galerien und Tribünen von einer ängstlich gespannten
Zuhörerschaft überfüllt, Castlereagh allein, der über den Ausfall der Abstimmung nicht im Zweifel war, erwartete das Resultat un
beweglich, mit einem Lächeln auf den Lippen.
Als der Sprecher
mit zögernder Stimme sagte: „Wollen die, welche für die Union sind,
die Hände erheben!" und darauf Hand um Hand sich langsam und
verschämt emporrecken sah, blieb er erst einen Augenblick starr wie eine Bildsäule stehen; dann rief er: „Die Union ist angenommen!"
und warf sich mit einem Ausdruck des Ekels und der Entrüstung in seinen Sessel.
Bei diesen stürmischen Verhandlungen, in welchen
die ersten Männer Irlands verkündeten,
stand wären nunmehr Pflicht,
Widerstand und Auf
ohne daß jedoch jemand daran
gedacht hätte, seinen Worten gemäß zu handeln, befand sich auf
der Tribüne ein Jüngling mit blassem Antlitz und strahlenden Augen, bei dem die leeren Worte der anderen lebendiges Leben
waren, und der in seinem Herzen schwor, der Befreier seines
Vaterlandes zu werden.
Dieser junge Mann war Robert Emmet,
der edelste, vortrefflichste Sohn Irlands, dem, was sich an Kraft
und Feuer in Thomas Moore's hinreißenden „Irischen Melodien" findet, größtenteils zu verdanken sein dürfte.
Der irische Dichter, der 1779, in demselben Jahre wie Oehlen-
1 An eloquence rieh, wheresoever its wave Wander’d free and triumphant, with thoughts, that shone through, As elear as the Brooks stone of lustre, and gave With the flash of the gern its solidity too.
Moore: Shall the barp then be silent
Ever glorious Grattan! the best of the good! So simple in heart, so sublime in the rest! With all which Demosthenes wanted endued, And his rival and victor in all he possess’d. Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
Byron: The Irish avatar. 13
Irische Appolitionspoelik.
194
schläger zur Welt kam, war der Sohn eines kleinen Weinhändlers in Dublin, hatte einen wackeren Vater, eine liebevolle und tüchtige
Mutter (eifrige Katholikin) und verbrachte eine glückliche Jugend
im Schoße seiner Familie.
Er zeigte sich vom frühesten Kindes
alter an als ein ungewöhnlich begabter, besonders talentvoller Knabe. Er spielte Komödie, schrieb und dellamierte Verse und sang
mit einer ausgezeichnet schönen Stimme, die ihm sein ganzes Leben
hindurch erhalten blieb.
Liest man die von ihm selbst gegebene
Schilderung seiner Knabenjahre, so fühlt man allenthalben, wie
frühe sein eigentümliches Dichternaturell, welches das des Im
provisators, des eigentlichen, des singenden Lyrikers ist, zum Durch bruche kommt.
Er besaß dieselbe Gabe, die des Schweden Bellmann
Größe bildet, die Gabe, in seinen Schöpfungen Dichtung und Musik
zu einem Ganzen zu verschmelzen, und im Vereine damit die Fähig
keit des Schauspielers und Sängers, durch den Vortrag zu ergreifen.
Er war klein, weit unter Mittelgröße, mit einem braunen Locken kopf und glich als Kind einem kleinen Cupido.
Seine Stirn war
groß und strahlend, so interessant, daß sie einen Phrenologen in
Entzücken versetzen mußte; seine Augen dunkel und schön, von der Art, sagt Leigh Hunt, wie man sie sich gern unter einem Kranz von Weinlaub träumt; der Mund fein und heiter lächelnd, Grübchen in den Wangen, die Nase ein wenig gestülpt, sinnlich
und mit einem eigentümlichen Gepräge, als sauge sie den Dust eines Festmahles oder eines Obstgartens ein.
Der kleine Mann
machte einen Totaleindruck von Leben und Beweglichkeit, als sei er ganz dazu geschaffen, nach alter Iren Weise an einem flinken
Reiterscharmützel teilzunehmen — er war stets höchst ehrliebend
und in seiner Jugend ein Heißsporn, der Jeffrey wegen der ersten Kritik, welche ihm widerfuhr, forderte, dann auch Byron wegen dessen Spottes (in English bards) über den Verlauf dieses Zwei
kampfes. Doch ist es, trotz dieses kriegerischen Elementes in seinem
Irische @ppo|tfionepotltc.
195
Blute, höchst wahrscheinlich, daß Moore, hätte er unter weniger
ernsten, erschütternden Umgebungen gelebt und Unterdrückung und Tyrannei nicht aus allernächster Nähe kennen gelernt, sich niemals
zu einer höheren Sphäre der Poesie als der eines liebenswürdigen Anakreontikers aufgeschwungen haben würde.
zog ihn nach dieser Richtung.
Sein Temperament
Allein es ward ihm vergönnt,
mehr für sein Vaterland zu thun, als irgend ein anderer für das
selbe gethan, mehr noch, als Burns für Schottland geleistet hatte, indem er den Namen Irlands, dessen Erinnerungen, dessen Leiden,
das blutige Unrecht, das man ihm zugefügt, die schönsten Eigen schaften seiner Söhne und Töchter unvergänglicher Dichtung und
Musik vermählte.
Nach kaum zurückgelegtem fünfzehnten Jahre bezog er die Dubliner
Universität,
innerhalb
deren Mauern der
politische
Gärungsstoff, der ganz Irland zu durchsäuern begann, sich zu jener
Zeit gleichfalls offenbarte, indem ein Jüngling, dem ein großes
tragisches Schicksal vorbehalten war, bald die Aufmerksamkeit so wohl seiner Studiengenossen als der Professoren im höchsten Grade auf sich lenkte, der oben erwähnte Robert Emmet, dem glänzende
Studien in mathematischen und physikalischen Fächern im Vereine
mit einer politischen Beredsamkeit höchsten Ranges und der seltensten Lauterkeit des Charakters schon im Alter von sechzehn Jahren einen
Namen gemacht hatten.
Seine Reden in dem Diskussionsklub
„Die historische Gesellschaft" und der tiefe Eindruck, den sie auf
den gleichalterigen, ungleich weicheren, minder entwickelten Moore machten, sind bereits berührt worden.
Wiewohl er gewarnt war,
sich unvorsichtig auf offener Straße mit Emmet sehen zu lassen,
fühlte Moore sich bald in herzlicher Bewunderung und inniger
Freundschaft zu ihm hingezogen.
Kein Wunder!
Es war Irlands
junger Nationalheld, dem Irlands junger Dichter in den ersten
Jugendjahreu auf seinem Wege begegnete.
Keiner von ihnen ahnte
damals die künftige Größe des anderen, allein der Instinkt, welcher 13*
Geister, die zu einander stimmen, verknüpft, führte sie für hin
reichend geraume Zeit zusammen, so daß der Sänger die Weihe von
dem Helden empfangen konnte.
„Wenn man mich früge," sagt
Moore, „wer von allen Menschen, die ich je gekannt, mir die größten Fähigkeiten mit der größten sittliche» Hoheit zu vereinigen schien, würde ich, ohne mich zu bedenken, Robert Emmet nennen."1 Robert Emmet ward 1780 geboren; sein älterer Bruder
Thomas nahm an der Revolution von 1798 als einer ihrer her-
vorragendsten Führer teil und wurde nach deren Scheitern erst
eingekerkert und dann des Landes verwiesen.
Roberts früheste
Empfindungen waren Haß gegen die englische Tyrannei und Liebe
zu Irlands Märtyrern.
Er legte bereits als Knabe eine Charakter
stärke an den Tag, welche die Seelengröße, die er als Jüngling entfalten sollte, vorahnen ließ. Schon im Alter von zwölf Jahren
studierte er mit Leidenschäft Mathematik und Chemie?
Eines
Tages machte er sich, umnittelbar nachdem er einen chemischen Versuch ausgeführt hatte,
an eine mathematische Aufgabe, die
äußerst schwierig zu lösen war, und als er in seiner Zerstreutheit die Hand an den Mund führte, vergiftete er sich mit einem
Quecksilbersublimat, das er wenige Augenblicke zuvor gebraucht hatte.
Die
heftigen Schmerzen, die ihn sofort befielen,
lehrten ihn über die Gefahr, in der er schwebte.
be
Aus Furcht
jedoch, man werde ihm künftig solche gefährliche Experimente ver bieten, hütete er sich Lärm zu schlagen, begab sich vielmehr in die Bibliothek seines Vaters, wo er in einer Encyklopädie den
Artikel „Gift" nachschlug, fand in Fällen, wie der seine, auf gelöste Kreide als Gegengift empfohlen, erinnerte sich, ein Stück
Kreide in der Wagenremise gesehm zu haben, eilte dahin, fand die Thür verschlossen, sprengte sie auf, nahm die Kreide, trank
1 Th. Moore: Memoirs of Lord Edward Fitzgerald. 8 Madden: United Irishmen, their lives and times.
Irische ©ppofitionopotfir.
197
die Kreidelösung und kehrte sodann ruhig zu seiner mathematischen
Aufgabe
Als sein Lehrer am nächsten Morgen beim
zurück.
Frühstück sein Aussehen so verändert fand, daß er kaum wieder
zuerkennen war, gestand ihm Emmet, daß er die Nacht in entsetz lichen Schmerzen verbracht habe, fügte jedoch hinzu, seine Schlaf
losigkeit habe ihm wenigstens insofern zum Nutzen gereicht, als ihm die Lösung seiner mathematischen Aufgabe gelungen sei.
Ein
Knabe, der in solchem Grade Mut und Fassung besitzt, ist da zu ausersehen, als Mann das Vorbild vieler zu werden.
Er ward es in erster Linie für Thomas Moore.
Die seinem
Wesen eigene schlichte Geradheit, die sich mit der zartfühlendsten
Rücksichtsnahme verband, wich in dem Augenblicke, wo die Saite,
die seine Gefühle in Schwingung versetzte, berührt wurde, dem Ge präge einer Geistesüberlegenheit, welche einen werdenden Dichter
fesseln mußte.
„Zwei Menschen,"
sagt Moore,
„können nicht
verschiedener von einander sein, als es dieser junge Mann war, bevor und nachdem er sich zum Sprechen erhoben hatte.
Der
Blick, der eben noch müde, fast leblos erschien, erstrahlte plötzlich
von der ganzen Kraft seiner Begabung.
Sein Antlitz, seine Ge
bärden, seine ganze Haltung war wie von höherer Inspiration getragen.
Über seine Beredsamkeit vermag ich nur nach meinen
Jugenderinnerungen zu urteilen, doch habe ich seitdem nie wieder etwas gehört, das mir ein erhabeneres oder reineres Gepräge zu tragen dünkte."
Moore macht auch die Bemerkung, daß Emmet
seine Umgebung ebensosehr durch die untadelhafte Reinheit seines
Wandels und die Milde und Anmut seiner Wesens, wie durch seine Kenntnisse und seine Beredsamkeit beherrscht habe. Als im Jahre 1797 das Blatt The Press von den irischen
Führern O'Connor, den Brüdern Emmet u. a. gegründet wurde, brannte Moore
vor
Begierde
ein
oder
das
andere
Produkt
seiner Muse in den patriotischen und vielgelesenen Spalten dieses Blattes
erscheinen
zu
sehen.
Allein
die
stete
und
in jenen
Irische Oppositionspoesie. Zeiten durchaus nicht unbegründete Besorgnis seiner Mutter um ihn
ihn
ließ
andererseits
davor zurückscheuen, einen Schritt,
welchen sie sich zu Herzen nehmen konnte, zu thun, weshalb er fürs erste anonym aufzutreten beschloß.
Er sendete eine Nach
ahmung des Ossian ein, die unbeanstandet durchschlüpfte,
Aufmerksamkeit zu
erregen.
ohne
Hierauf vertraute er mit zittern
der Hand einen Brief „An die Studenten des Trinity College" dem Postkasten an, reich gepfeffert mit „Landesverrat", wie er selbst bemerkt, eine witzige Satire auf Castlereagh, der, so lange
er lebte, niemals aufhörte, Moore als Zielscheibe seines Spottes zu dienen.
„Ich machte mir
wenig Hoffnung,"
„daß der Brief gedruckt würde, Abend,
als ich wie gewöhnlich
die Zeitung entfaltete,
doch siehe in
da,
sagt Moore,
am nächsten
meiner Ofenecke saß und
um sie meinen Eltern vorzulesen, stand
mein Brief ganz vorn im Blatte und starrte mir
Gesicht und gehörte natürlicherweise meine Zuhörer zu hören wünschten."
gerade ins
mit zu dem ersten,
das
Seine Gemütsbewegung
mit Gewalt bemeisternd las er den Brief vor und hatte die Be
friedigung, ihn von seinem Vater und seiner Mutter rühmen zu
hören, obgleich er beiden „sehr gewagt" dünkte.
Als am folgen-
den Tage Edward Hudson, der einzige von Moore's Freunden, der in das Geheimnis eingeweiht war, bei einem Morgenbesuch mit
einem vielsagenden Blick Moore die Bemerkung hinwarf: „Nun hast Du gesehen —
— „Der Brief war von Dir, Tom!" rief die
Mutter, und ein neuerliches Bitten und Beschwören, vorsichtig zu sein, folgte dem Geständnisse.
„Ein paar Tage darauf," erzählt
Moore, „kam auf einer der Landpartien, die Emmet und ich mit einander zu unternehmen Pflegten, das Gespräch auf den Brief, und ich gab ihm zu verstehen, daß er von mir sei.
Da gestand
er mir mit der ihm eigenen, fast weiblichen Sanftmut, die gar häufig das Merkmal gerade der entschlossensten Geister ist, er hätte
bei der Lettüre des Briefes, obwohl er dessen Inhalt durchaus billige,
nicht umhin gekonnt zu bedauern, daß die öffentliche Aufmerksam keit in dieser Weise auf die Politik der Universität hingelenkt worden
sei.
Es würde das ja bei einmal rege gewordener Wachsamkeit der
Behörden der Ausbreitung dessen, was wir beide als den „guten
Geist" betrachteten, der gegenwärtig in aller Stille sich Bahn breche, nur Hindernisse bereiten.
So knabenhaft ich auch noch war, so
fühlte ich mich doch unwillkürlich von der männlichen Auffaffung
betroffen, die er, wie ich merkte, von dem hatte, was unter solchen Umständen und in solchen Zeiten Männer thun müßten, nämlich
nicht mündlich noch schriftlich ihre Absichten äußern, sondern han
deln.
Er hatte, so viel ich mich erinnere, nie vorher im Gespräch
mit mir auf die Existenz der geheimen Gesellschaft United Irishmen augespielt, wie er mir auch weder jetzt noch später je den Vor schlag machte, ihr beizutreten, eine Rücksicht, die ich größtenteils
dem Umstande beimesse, daß er Kenntnis von der sorglichen Ängst
lichkeit hatte, mit der man zu Hause über mich wachte... Er war
ein durch und durch edles Geschöpf, ebenso reich an Einbildungs kraft und Gemütstiefe wie an männlicher Kühnheit."
Augenschein
lich hat Robert Emmet bei all seinem herzlichen Wohlwollen für Moore recht wohl gefühlt, daß dieser nicht aus dem Metall war,
aus welchem ein Mann geschmiedet sein muß, der seine Zukunft und
sein Leben in einer Revolution auf das Spiel setzen soll.
Allein er
war dem jungen Dichter gut und suchte ihn häufig auf; ist ihm
doch sicher nicht entgangen, welch seltenen Resonanzboden seine
Ideen und Träumereien in der Harfe fanden, die Thomas Moore in seiner Seele trug.
Er pflegte neben Moore am Pianoforte
zu sitzen, während dieser Melodien aus Büntings irischer Sammlung
spielte, und Moore konnte noch als bejahrter Mann nicht ver-
geffen, mit welcher Leidenschaft Robert Emmet eines Tages, als er die Melodie zu Let Erin remember the days spielte, ausrief: „O stünde ich an der Spitze von 20000 Mann, die nach dieser Melodie marschierten!"
Das war im Jahre 1797 kurz vor Entdeckung der irischen Ver schwörung. Da trat diese ein und mit ihr alle ihre Schrecknisse. Eine
ihrer ersten Folgen war eine förmliche Inquisition innerhalb der Mauern der Universität. Die Studenten wurden einzeln mit Namen aufgerufen und verhört. Die meisten wußten wenig oder nichts von
den Absichten der Führer, mir das plötzliche Ausbleiben einzelner,
darunter Robert Emmet, belehrte die Kameraden, wie tief sie in die verratenen Pläne eingeweiht gewesen.
Die Totenstille, die täg
lich ihrem Namensaufruf folgte, machte einen erschütternden Ein
druck auf Moore.
Er selbst erwies sich bei seinem Verhör als
der wackere kleine Student, der er war; er erklärte dem gefürch
teten Lord Fitzgibbon in's Gesicht, daß er den ihm abgeforderten Eid nur unter dem Vorbehalte leisten wolle, keinerlei Fragen
zu
beantworten,
die
Kameraden
einen
ins
Unglück
stürzen
könnten, und hielt die sich hierauf entladenden Zornesausbrüche mit männlicher Fassung aus.
Da er kein Mitglied der United
Irishmen gewesen und sich über die Pläne der Gesellschaft in der That in völliger Unkenntnis befand, wurde er bald wieder entlassen. In
die nächstfolgenden Jahre
treten als Dichter.
fällt Moore's
Die Greuel, von denen die Unterdrückung
des Aufstandes begleitet war, lieferten
seine Dichtung.
erstes Auf
ihm keinen
Dazu stand er ihnen allzunahe.
Stoff für Emmet war
fort, die von ihm ausgehmde Einwirkung für eine Zeitlang lahm
gelegt,
politische
Dichtung
in Irland unmöglich.
Der junge
Dichter, der von Natur zur Produktion heiterer, leichter Poesie veranlagt war, verfolgte demnach die Bahn, auf die seine Anlagen
und seine Jahre ihn Hinwiesen, bearbeitete zuerst die anakreontischen Lieder und veröffentlichte sie noch keine 20 Jahre alt mit einer Zueignung an den Prinzregenten, der damals die Hoffnung der
Liberalen war, und trat sodann 1801 mit einem Bande Poetical
works of tbe late Thomas Little auf, zumeist erotischen Gedichten, jugendlich sinnlicher und von etwas frivoler Art.
Die irische Fri-
volität gemahnt gar sehr an diejenige, die in den erotischen Ge
dichten der Schweden so häufig ist, wie auch ihr der Charakter einer National-Eigentümlichkeit anhaftet. Nachdem Moore ein paar Jahre in den besten Londoner
Kreisen umhergeflattert war, seiner gesellschaftlichen Talente, wie seiner ganzen irischer» Leichtlebigkeit wegen beliebt und gesucht,
zwang
ihn 1803 seine Mittellosigkeit nach den Bermudainseln
zu gehen, um dort einen Posten als Admiralitäts-Registrator an zutreten.
Er war, wie leicht begreiflich, durchaus nicht für diesen
Posten geeignet; er ließ denn auch nach kurzer Frist denselben von einem Stellvertreter verwalten und sah sich, als dieser Veruntreu
ungen beging und den Staat um eine größere Summe betrog, ohne eigene Schuld in ein ganz ähnliches Unglück gestürzt, wie
Scott.
Gleich diesem wurde ihm von vielen Seiten Hilfe an
geboten, und er tilgte seine Schuld teils mit dem Beistände ver mögender Freunde,
teils durch mehrere Jahre der Sparsamkeit
und des gewissenhaften Fleißes.
Sein amerikanischer Aufenthalt
erstreckte sich vom Oktober 1803 bis November 1804.
Er brachte
aus Amerika die im zweiten Bande seiner Werke gesammelten ameri kanischen Briefe und Gedichte heim, bereit Natnrschilderungen sich ebensosehr durch Farbenglut wie durch Porträtähnlichkeit aus
zeichnen. hinsichtlich
Als echt englischer Naturalist hat er größeren Ehrgeiz
der Ähnlichkeit als
die mannigfachen Lobsprüche,
des Kolorits, die ihm
und er ist auf
von Eingeborenen
wie
Reisenden über die graphische und geographische Naturtreue dieser
Schilderungen gespendet werden, nicht wenig stolz.
Der bekannte
englische Reisende Kapitän Basil Hall (derselbe, der Scott in Abbotsford besuchte und bei seiner Erkrankung in Venedig von Byron gepflegt wurde) behauptet, Moore's Oden und Episteln ent hielten die schönste und genaueste Beschreibung von den Bermudas,
die existiere, und weist nach, wie das unstreitig schönste Lied dar unter The Canadian Boat-Song, sowohl in Betreff der Melodie wie
Irische Opposition-poesie.
202
des Textes, sich auf die Lieder gründe, die thatsächlich auf den Schiffen dort gesungen werden, doch unter Hinweglassung alles
dessen, was an diesen Liedern unschön oder nicht eigentümlich sei.
Und Moore selbst erzählt, wie genau seine Beschreibung sogar der Landschaften und Bäume sich an die Wirklichkeit hielt.
Mt Rücksicht auf die Zeilen: Tas thus, by the shade of tbe Calabash-tree, With a few who could feel and remember like me —
erhielt er etwa 25 Jahre später aus Bermuda einen Becher, der aus einer der Fruchtschalen eben jenes erwähnten Kalabassen
baumes, in welchem man seinen Namen eingeritzt gefunden hatte, hergestellt war.
Die fremde Natur jener Gegenden wirkte be-
fruchtend auf einen Dichtergeist, der seiner Anlage nach für üppige,
festliche Natureindrücke eine ganz besondere Empfänglichkeit besaß;
die demokratischen und republikanischen Staatsverhältnisse, deren Zeuge er wurde, sprachen den verfeinerten Dichter, auf dm die be
ginnende Weltreaktion gegen das achtzehnte Jahrhundert im Begriffe
war ihre Wirkung zu üben, weit weniger an.
Seine Episteln über
die amerikanischen sozialen Zustände haben nur für die Schatten seiten der Republik ein Auge.
Er hatte Audienz beim Präsidmten
der Bereinigten Staaten; allein die nachlässige Kleidung Jeffersons
— blaue Strümpfe und Schlappen an den Füßen — verunstaltete,
wie man merkt, in seinen Augen das Bild desjenigen Mannes, der die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verfaßt hatte.
Bor
allem erschreckte es ihn, die französische Philosophie, die ihm, dem
echten Kinde seiner Zeit, lauter Gift und Sünde war, in der jungen Republik so stark verbreitet zu sehen?
„Es war", schreibt
1 Already has the child of Gallia’s sehool, The foul philosophy that sins by rule, With all her train of reasoning, damning arts, Begot by brilliant heads on worthless hearts . . . Already has she pour’d her poison here O’er every charm that makes existence dear x . . Epistel: To Lord Viscount Forbes.
Moore viele Jahre später, „die einzige Periode meines Lebens, in welcher mir Zweifel aufstiegen in Betreff der Gesundheit des freisinnigen politischen Glaubens, als dessen Bekenner und Anwalt ich, so zu sagen, fast buchstäblich mein Leben begonnen habe, und als der ich aller Wahrscheinlichkeit nach es auch enden werde."
Es
hatte einen Augenblick ganz den Anschein, als ob die Kindheits
und Jugendeindrücke auf der mißhandelten
Heimatsinsel unter
anakreontischen Stimmungen, Reiseerinnerungen und dem lustigen,
fashionablen Leben in den höchsten Kreisen Londons, begraben seien. Da erschien im Jahre 1807 die erste Sammlung von Moore's
„Irischen Melodien", sein Rechtstitel auf die Unsterblichkeit. Alles,
was sein unglückliches Heimatland in den langen Jahren der Schmach gefühlt und gelitten, seine Qualen und Seufzer, sein begeisterter Aufschwung, seine kriegerische Kühnheit, sein Lächeln
unter Thränen, alles schimmert hier zwischen Liedern hervor, die in üdersprudelndem,
halbwehmütigem Leichtsinn
und erotischer
Schwärmerei geschrieben sind. Es war ein Kranz, aus Wehmut, Begeisterung und Zärtlich keit geflochten, ein duftender Trauerkranz wie zu Ehren eines
Toten, der hier seinem Vaterlande um die Stirn gewunden wurde.
Nicht als ob der Name Irlands oft oder mit Vorliebe genannt wurde; es kommen überhaupt in diesen Gedichten so wenige Namen als möglich vor — es war nicht unbedenklich, irische Eigennamen
zu nennen.
Doch bald verherrlichte der Sänger seine Geliebte
in solchen Ausdrücken, daß man Erin's Züge unter den ihren
ahnte; bald sprach das liebende Weib mit einer Hoheit, daß man
wohl empfand, es sei kein irdisch Weib gemeint, und die Mystik
des Ausdruckes erhöhte wie in den altchristlichen, allegorischen Gesängen die poeüsche Wirkung.
Was war vorgefallen in dem Zeitraume zwischen dem Ent stehen der leichtfertigen Gedichte Moore's und der Konzeption dieser bewunderungswürdigen Poesien?
Es ist eine lange und
Irische Oppoktionspoefie.
204
traurige Geschichte. Sie selbst beantworten jene Frage, indem sie die Antwort verstummen heißen. Sammlung hebt also an:
Schon das vierte Gedicht der
•£), nicht seinen Namen haucht, weckt ihn nicht auf, Wo kalt seinen Staub sie der Erde gesellt,
Trüb, düster und stumm rinnt der Thränen Lauf, Wie aufs Gras ihm zu Häupten der Nachtthau fällt.
Es gab also Einen, dessen Name nicht genannt werden durste,
dessen Gebeine entehrt im Grabe lagen und den schwere, stille Thränen nur im Dunkel der Nacht beweinen dursten. In dem nächstfolgenden Gedichte heißt es wiederum ohne
Nennung eines Namens: Wenn ihm, der dich liebt, nur der Name allein
Geblieben von Schuld und von Leid, Sprich, weinst du, wenn zu beflecken sie dräu'n
Ein Leben, dir einzig geweiht?
Ja, weine!
Wie bitter die Feinde mich schmähen,
Deine Thräne soll reinigen mich.
Denn muß ich mich schuldig vor ihnen gestehen.
Ich war nur zu treu gegen dich!
Daß die von dem Helden Angebetete Irland ist, sieht man auf den ersten Blick; doch wieder ist gleichsanr ein Trauerflor ge breitet über ihn, ans dessen Ruf die Feinde einen Schatten warfen, und der, obschon von ihnen für schuldig erklärt, nur allzu treu gegen seine Geliebte war. Man blättere noch etwas weiter in der Sammlung, und man wird auf ein Gedicht stoßen, das sich den eben angeführten eng anschließt, und das in sanften Farben die hinterlassene Braut des
Ungenannten malt: Sie ist fern von des Heldenjünglings Grab, Und Freier sie schmachtend umgeben,
Doch sie schweiget und weinet und wendet sich ab, Denn im Grab liegt ihr Herz und ihr Leben.
Sie singt aus der Heimat manch' wilden Gesang, Jede Weise, die hold ihm geklungen;
Ach, wenig bedenkt, wer da lauschet dem Klang,
Daß der Sängerin Herze gesprungen.
Irische Oppositionspoesie.
205
Er lebte der Liebsten, er starb für sein Land, Sie waren ihm Sterne des Lebens. Kein Auge im Land ohne Thränen stand. Und nicht harrt er der Liebsten vergebens. Wo den Hügel am letzten der Sonnenstrahl küßt, Da sollt ihr zur Erde sie betten, Daß ein Lächeln aus West ihr den Scklunnner versüßt, Wie ein Gruß von den heinrischen Stätten. Der Leser hat bereits geahnt, daß der junge Held, um
den so rührende Klagetöne erschallen, niemand anderes ist als Moore's ehemaliger Universitätsfreund Robert Emmet.
Es unter
liegt keinem Zweifel, daß sein Schicksal Moore zu den herrlichsten
Während
Freiheitsgedichten seiner irischen Melodien begeisterte.
der ältere Emmet infolge der Revolution von 1798 auf dem Fort St. Georges gefangen gehalten und sodann
des Landes
verwiesen wurde, war es Robert gelungen, sich der Verhaftung
zu entziehen; er gebrauchte seine Freiheit hinfort ausschließlich
im Dienste der Sache, die seinen Bruder ins Unglück gebracht» und
der
er
selbst sein Leben geweiht hatte.
1802 reiste er
nach Paris und hatte dort eine Zusammenkunft mit dem ersten
Konsul, der ihm übrigens den Eindruck machte, „sich nicht mehr um Irland als um die Republik und die Freiheit zu bekümmern,"
ferner mehrere Unterredungen mit Talleyrand, dessen Wesen ihm ebensowenig zusagte.
Auf Grund der mit ihnen getroffenen Ver einer
irischen Republik,
gestützt auf die Allianz mit der französischen.
Es war in dem
einbarungen plante er
die Errichtung
Augenblicke, wo das durch den Frieden von Amiens für eine Weile
hergestellte
England wieder
gute Einvernehmen zwischen Frankreich und in die Brüche zu
gehen drohte.
Bonaparte
scheint eine kurze Zeit ernstlich an eine Landung in Irland ge
dacht zu haben — noch auf St. Helena bedauerte er ja, nicht
nach
Irland
statt nach
Ägypten gegangen
zu
sein.
Emmet
kehrte nach seiner Geburtsinsel mit dem bestimmten Versprechen
zurück, daß die Landung des französischen Heeres im August 1803
stattfinden
solle.
Mit rastloser Kühnheit brachte er abermals
eine über ganz Irland sich erstreckende Verschwörung zustande. Seiner Überzeugung nach war die Revolution von 1798 gescheitert, weil es ihr an einer Grundlage für ihr Wirken in der Hauptstadt
gefehlt habe.
Ihm kam es vor allem darauf an, sich Dublins,
besonders des Schlosses zu bemächtigen, dessen Thore vom Morgen bis Abend offen standen.
bereitungen zum Aufstand.
Tag und Nacht überwachte er die Vor
Eine Menge von Häusern wurde in
den verschiedenen Stadtvierteln von Dublin gemietet, wo ununter brochen Waffen, Kugeln und Pulver fabriziert wurden.
Er selbst
hatte beständig einen kleinen Stab von fünfzehn Personen um sich, fast
sämtlich Männer aus dem Volke,
die unter seiner Auf
sicht arbeiteten, und die kurze Ruhe, die er sich gönnte, genoß er,
auf
eine Matratze
hingestreckt,
in einem der Pulvermagazine.
Wiewohl mehr als tausend Personen in die Verschwörung ein
geweiht waren, fand sich doch kein Verräter unter ihnen, und die blutdürstige Obrigkeit hatte nicht die entfernteste Ahnung von dem,
was sich vorbereitete.
Emmet's Vermögen wurde gänzlich durch
die Einkäufe erschöpft, allein die Arbeiter, die ihm dienten, nahmen keine Bezahlung für ihre Leistungen an; „sie arbeiteten," sagte
einer derselben, den der Verfasser des Buches United Irishmen als Greis traf, „nicht für Geld, sondern um der Sache willen."
Sie hatten großes Vertrauen zu Robert Emmet, sie hätten „ihr
Leben für ihn lassen mögen."
Da trat im Monat Juli ein
nicht vorherzusehender Zufall ein: eines der Pulvermagazine flog in die Luft und tötete zwei Männer, von
Robert Emmet's Armen verschied.
denen der eine in
Den nächsten Tag gab ein pro
testantisches Blatt der Regierung davon Kunde, daß sie auf einer Mine schlafe.
Man mußte, unfertig wie man war und ohne die
Ankunft der Franzosen abzuwarten, losschlagen, wollte man sich
nicht der Vernichtung ohne Kampf aussetzen.
Den 23. Juli war
Irische Kppositionspoefle.
207
ein mannhafter Aufruf an die Bevölkerung Irlands, von Robert Emmet selbst verfaßt, an allen Straßenecken von Dublin ange
schlagen, doch als der Abend kam und er an der Spitze einer kleinen Schar die Überrumpelung des Schlosses versuchte, da mußte er mit Bitterkeit erfahren, wie unzuverlässig
seine Landsleute in
einem gefahrvollen, entscheidenden Augenblicke waren.
Je näher
man dem Schlosse kam, desto schüchterner wurde die Schar um
ihn her, und als man vor dessen Thoren stand, da war kaum eine Handvoll Getreuer übrig und jede Hoffnung eines glücklichen Ausganges dem nunmehr wachsamen» wohlbewaffneten Feinde gegen
über erloschen.
Es gelang den Führern in der ersten Verwirrung
in die Schluchten von Wicklow zu entkommen, und hier versammelten
sie sich schon am nächsten Tage in einem abgelegenen Thale, um Rat zu halten.
Die meisten waren überzeugt, daß noch nichts
verloren sei; ein Signal — und Irland würde sich wie ein Mann erheben u. s. w., Robert Emmet allein wiegte sich nicht weiter in Illusionen und bewies seinen Freunden mit aller Klarheit, daß ein fortgesetztes Streben in diesem Augenblicke und mit Kämpfern,
wie die undisziplinierten Aufrührer sie ihnen boten, nur neues Blutvergießen über die schon so hartgeprüfte Bevölkerung des Landes
heraufbeschwören würde. In dem Augenblicke, wo man sich trennte,
forderte man Emmet von allen Seiten auf, zu entfliehen; die einzige Gelegenheit hierzu bot sich in ein paar Fischerkähnen,
die den Aufftändischen gehörten.
Da erklärte Robert Emmet mit
einiger Verlegenheit, er müsse durchaus noch einmal nach Dublin, um Abschied von einer Person zu nehmen, die ihm so teuer sei,
daß er ohne ein nochmaliges Wiedersehen unmöglich Irland für mehrere Jahre verlassen könne.
„Er müsse sie sehen, und sollte
er tausendmal dafür sterben."
Die Soldaten suchten ihn überall; seine treue Haushälterin,
ein junges mutiges Mädchen, wurde vergebens am ganzen Leibe mit Bajonettstichen verwundet und dem „halb Hängen" unterzogen,
Irische Oppofilionspoefie.
sie wollte über seinen Aufenthalt nichts verraten.
Endlich fand
man ihn, lähmte jeden Fluchtversuch durch einen Pistolenschuß in
die Schulter und verhaftete ihn.
Als der Major, der sich seiner
bemächtigte, sich wegen des Schusses entschuldigen wollte, ant
wortete er kurz, daß im Kriege alles gestattet sei (all is fair in war). Ein paar Tage nach seiner Verhaftung schrieb Robert Emmet einen Brief an das junge Mädchen,
Leben aufs Spiel gesetzt hatte.
um dessentwillen er sein
Es war Miß Sarah Curran, die
Tochter des berühmten Advokaten, besten Name so
häufig in
Byron's Poesien porkommt, des unverdrossenen, begeisterten, beredten
Verteidigers der irischen ^Angeklagten von 1798, eines der an
gesehensten, anerkanntesten Männer des Landes.
In seinem Hause
hatte Robert Emmet in ftüher Jugend viel verkehrt, als aber
Curran sein und der Tochter warmes Interesse für einander bemerkte und befürchtete, daß Emmet's politische Richtung seine Zukunft zer
stören würde, hatte er die beiden jungen Leute getrennt, und der Briefwechsel, den sie beständig unterhielten, war hinter seinem
Rücken geführt worden.
Der Gefängniswärter, der sich eine große
Summe dafür zahlen ließ, Emmet's Brief an die Adresiatin zu be
fördern, übergab denselben sofort dem Staatsanwalt.
In seiner
Angst, sie, die er liebte, bloßgestellt zu haben, schrieb Emmet augenblicklich an seine Richter, und da er wußte, welche Furcht
man vor seiner Beredsamkeit hegte,
erbot er sich, vor Gericht
sich selbst schuldig zu bekennen, ja kein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, wenn man dafür unterlassen wollte, seine Briefe an
Fräulein Curran in den Prozeß mit einzubeziehen.
Vergebens,
den nächsten Tag schon unterrichtete eine Haussuchung den er zürnten Curran von dem intimen Berhältniffe, das zwischen Emmet und seiner Tochter bestand.
Über dm Ausgang der Sache selbst
konnte kein Zweifel herrschen; der Angeklagte kannte sein Schicksal.
Als der Direktor des Gefängnisses ihn eines Tages beim Flechten einer Haarlocke überraschte, die Miß Cnrran ihm geschenkt hatte,
blickte er auf und sagte:
„Ich flechte sie, damit ich sie auf dem
Schafott bei mir haben kann."
Auf seinem Tische fand man eine
äußerst sorgfältig ausgeführte Federzeichnung, sein Selbstbildnis,
überraschend ähnlich, den Kopf vom Rumpfe getrennt, den Körper
neben dem Haupte hingestreckt.
Der Prozeß begann um 10 Uhr morgens.
Staatsanwalt in seiner Rede versichert hatte,
Nachdem der daß diese Ver
schwörung keine andere Wirkung gehabt habe, als die Liebe Ir lands zu seinem Könige um so voller zum Ausdruck kommen zu lassen, erbat sich Robert Emmet, als Entgegnung einzig den
folgenden Paragraphen der von ihm verfaßten Kundgebung der provisorischen Regierung verlesen zur dürfen: „Bon nun an ist die
Strafe des Peitschens und die Anwendung der Tortur auf Irlands
Boden verboten und darf unter keinem Vorwande wieder eingeführt
Darauf folgte die Rede eines widerwärtigen irischen
werden."
Renegaten,
des ehemaligen Mitgliedes der Jnsurrektionspartei,
Lord Plunket, der als öffentlicher Ankläger Emmet mit Hohn überschüttete.
Nun erhob dieser sich und hielt, den sicheren nahen
Tod vor Augen, eine Verteidigungsrede, die heute noch jeder Ir
länder kennt.
Er sagte, wenn er nach seiner Schuldigerklärung
allein den Tod zu erleiden hätte, so würde er die Aufmerksamkeit der Anwesenden nicht ermüdet haben.
Doch das Urteil, das seinen
Körper dem Henkerbeil überliefere, würde seinen Namen zugleich dem Tadel der öffentlichen Meinung ausliefern, und deshalb wolle er sprechen.
gegnete
.Auf die tobende Unterbrechung des Richters ent
er mit vollkommener Ruhe: „Ich habe sagen gehört,
Mylord, daß die Richter es zuweilen als ihre Pflicht erachten, mit
Geduld anzuhören und mit Humanität zu sprechen" — und setzte
dann seine Rede mit so lauter Stimme fort, daß man sie deutlich an den Außenthüren des Gerichtssaales vernahm» ohne daß jedoch
das geringste Übertriebene oder Deklamatorische in seinem Vortrage
hervorgetreten wäre. Seine Stimme war im Gegenteil, wie Madden, Brande-, Litteratur de- 19. Jahrh. IV.
14
der ihn hörte, sagt, mit der größten Feinheit moduliert, er schritt
mit gewissen, ihm eigentümlichen Bewegungen, die eine besondere An
mut besaßen, an die Schranken vor und wieder zurück. Noch dreißig Jahre nachher sprechen die Zeugen dieser eindringlichen Beredsamkeit
nicht ohne Gemütsbewegung von der Grazie und der Hoheit, mit
Ein Korrespondent der „Times,"
denen er seinen Richtern trotzte. der
den Aufstand selbst unbedingt verdammt,
sagt
in
seinem
Briefe über Emmet: „Aber das muß ich gestehen, er war groß bei allen seinen Verirrungen.
Als er am Tage des Prozesses
in dem Augenblicke, wo das Grab sich öffnete, ihn zu empfangen,
selbst die Mauern des Gerichts durch die Energie und und den Glanz
seiner Beredsamkeit
erschütterte, sah ich jene Schlange,
die sein Vater an seinem Busen genährt hatte (Lord Plunket),
unter seinem Blicke erzittern und jenen Auswurf der Menschheit, der ihn verurteilte (Lord Norbury), auf seinem Stuhl erbleichen
und erbeben." Emmet schloß mit den folgenden Worten:
harren ungeduldig Ihres Opfers.
„Mylords!
Sie
Alle die Schrecken, womit
Sie mich umgeben, haben das Blut in meinen Adern, nach dem Sie so gierig trachten, nicht zu erstarren vermocht, und in wenigen
Stunden wird es zum Himmel um Rache schreien.
Doch Geduld!
Ich habe nur noch wenige Worte zu sagen, ich gehe in mein
kaltes, stummes Grab, meine Lebenslampe ist fast schon erloschen.
Ich habe um meines Landes willm mich von allem getrennt, was mir in diesem Leben teuer war, von dem Abgott.meiner Seele, dem Gegenstand meiner Gefühle.
Meine Bahn ist zu Ende; das
Grab öffnet sich, mich zu empfangen, und ich sinke in feinen Schoß.
Ich habe ein einziges Begehren zu stellen bei meinem Abschiede aus dieser Welt: daß sie mir die milde Gabe des Schweigens gönne.
Möge niemand meine Grabschrist schreiben;
denn da
niemand, der meine Beweggründe kennt, sie jetzt zu verteidigen
wagt, so laßt nicht Vorurteil oder Unwissenheit sie anschwärzen.
Laßt sie in Dunkel und Frieden ruhen! in Vergessenheit sinken
Möge mein Andenken
und mein Grab ohne Inschrift bleiben,
bis andere Zeiten und andere Männer meinem Charakter Ge
Wenn mein Volk seinen
rechtigkeit widerfahren lassen können.
Platz unter den Nationen einnimmt, dann und nicht früher werde
meine Grabschrift geschrieben.
Ich bin zu Ende."
Das Urteil wurde gefällt und lautete dahin, daß Robert Emmei noch in derselben Nacht um 1 Uhr gehängt und dann ent hauptet werden solle.
Es war gegen 11 Uhr, als er in sein
Gefängnis zurückgeführt wurde.
Er hielt auf dem Wege vor
einem Zellengitter, hinter welchem einer seiner Freunde saß, an und fegte ihm: „Ich soll morgen gehängt werden." ihm »ährend der letzten Stunden keine Ruhe.
Man gönnte
Man fuhr ihn zehn
englische Meilen aufs Land hinaus, aus Furcht, er möchte mit
Erst da befreite ihn ein
Gewalt dem Kerker entrissen werden.
menschenfteundlicher Gefangenwärter von dm Eisen, die man ihm
mit solcher Roheit angelegt hatte, daß ihm das Blut aus den ver stümmelten Gliedern quoll, und derselbe Mann gab ihm etwas zu efsm; denn seit 10 Uhr morgens, wo der Prozeß begann, hatte er keine Nahrung erhalten.
Darauf sank er in einen kurzen liefen
Schlaf, erwachte und benutzte die wenigen Augenblicke, die ihm übrig blieben, um Briefe zu schreiben, einen an feinen Bruder in
Ameröa, einen an den Bruder von Miß Curran und einen an sie
selbst, als er von einen Freunde unterbrochen wurde, der ihn
zum lchten Male zu sehen wünschte.
Roberts erste Worte an ihn
waren, wie es seiner Mutter gehe, und der Freund mußte ihm
tief geieugt die Mitteilung machen, daß sie vor zwei Tagen aus Gräm gestorbm sei.
Mit Ruhe hatte sie um Irlands willen den
einen ihrer Söhne verbannt gesehen, mit Festigkeit hatte sie Robert stets ottf seinem Wege ermuntert, doch als sie den Sohn, den
Stolz ihres Lebens, noch nicht 23 Jahre alt einem so furchtbaren
Tode geweiht sah, brach ihr das Herz.
Robert empfing die Nach-
14*
richt mit Fassung und erwiderte: „Es ist besser so.”
In dem
Briefe an den jungen Curran schreibt er: „Ich habe nie um
meiner selbst willen Ehren und Würden gewünscht; ich würde mich um niemandes Lob gekümmert habm, doch hätte ich in Sarahs strahlendem Antlitz lesen zu könneu gewünscht, daß ihr Gatte ge
achtet sei.”
Seine Handschrift in diesem Briefe ist so fest und
regelmäßig wie immer. geholt.
Um 1 Uhr wurde er zum Schafott ab
So groß war die Herrschaft, welche die Milde und Anmut
seines Wesens über alle rohen Naturen ausübte, daß einer der Gefangenwärter, als Emmet, von den Sheriffs geführt und von
dem Henker gefolgt, aus dem Kerker schritt, ihm unter strömenden Thränen Lebewohl sagte; der Gefangene, dessen Arme gebunden
waren, beugte sich und küßte den Mann auf die Wange, und dieser Mann, der sich in zwanzigjährigem Dienste gehärtet hatte und
an Kerkrszenen gewöhnt war, brach bewußtlos vor ihm zusammen. Am Fuße des Schafotts gab Robert Emmet einem seiner Freunde
den Brief, bett er an Fräulein Curran geschrieben hatte, allein der Freund wurde verhaftet, und der Brief gelangte niemals an seine Adresse.
Emmet nahm selbst sein Halstuch ab und half den
Strick um seinen Hals legen.
Der Henker zeigte das Haupt dem
Volke und rief mit lauter Stimme: Dies ist der Kopf Robert Em-
met's, eines Hochverräters. — Kein Laut wurde als Antwort hörbar.
Am nächsten Tage stand in dem Regierungsblatte London Chronicle: Er war bis zum letzten Atemzuge derselbe, als der er
sich bei der gestrigen Gerichtsverhandlung gezeigt hatte; er legte dieselbe Mischung vornehmer Nachlässigkeit und Frechheit an dm
Tag und schien der furchtbaren Umstände zu spotten, unter denen er sich befand.
Nichts konnte weniger der Geläffenheit des wahren
Christm gleichen. Grundsätzen!
Gott bewahre uns vor Sotten mit solchen
Nichtsdestowmiger haben wir nie einen Menschm
sterben sehen, der wie er starb . . . Er war ein entschieden Un
gläubiger, und zu dem Geistlichm, der ihm das Geleite gab, sagte
er: „Ich danke Ihnen für die Mühe, die Sie sich geben, aber
sie ist unnütz.
Meine Ansichten über diesen Punkt sind schon seit
lange äußerst bestimmt, und dies ist kein Augenblick, wo ich sie
ändern kann."
So sprach die offizielle Presse; das unterdrückte Irland schwieg an
dem Schafotte seines dreiundzwanzigjährigen Lieblings, und
seinem Geheiße treu setzte es keine Inschrift auf sein Grab. Als jedoch Moore's „IrischeMelodien" erschienen, hörte man mit
einem Male den Schmerz und die Entrüstung eines ganzen Volkes
in diesen Liedern steigen und sinken, flüstern und grollen, klagen
und murmeln wie MeereSwogen und mit der unwiderstehlichen Gewalt eines Naturelementes!
keinen Bauer in Irland,
Es gab bald und giebt noch heute
dem nicht das Lied When he who
adores thee bekannt wäre. In Amerika wird Robert Emmet's letzte Rede noch heutigen Tages in den Schulen gelesen.
Sie ist das
Evangelium des Freiheitsstrebens in Irland. Doch seltsam, Robert Emmet's heldenmütiger Tod machte ihn nicht so berühmt unter
seinen Landsleuten, wie seine rührende Liebesgeschichte.
Seine
Braut galt dem irischen Volke als die Witwe des Helden und war der Gegenstand stiller Ehrfurcht.
Ihr Unglück wurde noch
dadurch erhöht, daß sie in einem englisch gesinnten Kreise lebte, der Robert Emmet zwar beklagte, doch sein Schicksal als ein ver dientes erachtete.
Einige Jahre nach dem Tode Emmet's lernte
sie einen englischen Offizier, Kapitän Sturgeon, kennen, der, von ihrer verlassenen Stellung unter Fremden gerührt und von ihrem
Liebreiz gefesselt, ihr seine Hand bot. nahm sie seinen Antrag an.
Nach längerer Weigerung
Er wollte, ihrer zerrütteten Gesundheit
wegen, sich in Italien mit ihr niederlasien.
Ihr Aussehen war,
sagt Admiral Napier, der sie in Neapel sah, das „einer wandelnden
Statue."
Sie starb wenige Jahre darauf in Sizilien, „fern von
dem Lande, wo ihr junger Held schläft."
Washington Irving hat
sie in seiner schönen Skizze „Das gebrochene Herz" in The aketch
book geschildert.
Allein ihr schönstes Denkmal ist das Lied: She
is far from the land, where her young hero sleeps.1
Indes ist das Unglück des Einzelnen in den „Irischen Melodien" ja nur ein Sinnbild für das des ganzen Volkes, eine Personifikation
des allgemeinen Schmerzes.
Lieder kommen vor, aus beiten es wie
Klagen und Jammern aller Söhne und Töchter Irlands über den traurigen Ausgang der großen französischen Revolution und das Scheitern der Hoffnungen klingt, die alle Völker, dies Volk jedoch
vor allen anderen, auf den Bestand und den Sieg der Republik gesetzt
hatten.
Ein derartiges Lied ist das rührende ’Tis gone, and for
ever, the light we saw breaking mit seiner wilden Klage, daß
jener erste Freiheitsstrahl, den die Menschheit segnete, wieder ver schwunden sei und bei seinem Verschwinden die Nacht der Knecht
schaft und der Trauer gleichsam tiefer und finsterer, als sie ge wesen, gemacht habe, doch am tiefsten, am finstersten für Erin. Zum höchsten, edelsten Fluge schwingt Moore sich in einer Strophe
wie die folgende auf: Hoch schwang sich dein Hoffen, als rings durch die Lande Ausblitzten die Strahlen aus Wolken so schwer,
Als zornig die Wahrheit zerriß ihre Bande
Und ihr Banner, wie Sonnenblick, flammte daher! O hehrer Moment, nie wieder errungen! Wenn damals ein Hymnus der Freiheit die Zungen Der Böller vereinte, wie süß wär' erklungen
Sein jubelndster Laut, o mein Erin, von dir!
Das
Gedicht
schließt
mit
Verwünschungen
gegen
das
leicht
fertige Geschlecht, das, der Segnungen der Wahrheit unwürdig, furiengleich an des Todes rauchendem Altare die junge Hoffnung der Freiheit liebkoste und sie in Blut taufte.
Andere Gedichte sind
drohender, wenn auch die Drohung überall poetisch und versteckt ist.
Man lese z. B. das Lied Lay his sword by his side: 1 Madden: United Irishmen. — Robert Emmet (Anonym, doch von
. Frau d'Haufsonville verfaßt).
215
Irische Gpposltionspoelle. Nun legt ihm zur Seite das tapfere Schwert, Zu ruh'n bei des Schlummernden Pfühl!
Getreu bis zuletzt nach dem Feinde gekehrt
Blieb's, eh' seiner Hand es entfiel. Die im Leben Genoffen im Ruhmeskranz, Laßt ruh'n sie, den Freund zu dem Freunde gesellt. —
Dies Schwert in der Scheide noch schnejdig und ganz. Und frei noch im Grabe der Held. Doch horch!
Was tönet so leise empor.
Als wollt' es dem Grabe entflieh'n. Wie ein Echo der Stimme, die Knechten ins Ohr
Den Kriegsruf „Freiheit" geschrien? Es ruft aus der dunkeln Tiefe uns zu:
„Ob hernieder in's Grab der Führer auch stieg, O bettet sein Schwert nicht in schimpfliche Ruh',
Noch verheißt es ja Leben und Sieg! Will je dich berühren verächtliche Hand, Dann hafte, du tapfere Wehr,
Wie ein Talisman fest in die Scheide gebannt, Und zum freien Gebieter komm her!
Doch faßt eine Hand dich, die helhenbewährt
Dein Leuchten gesehen im Schlachtengraus, Wie flammender Blitz dann, o fliege mein Schwert
—.Wenn Freiheit dich ruft — aus der Scheide heraus!"
Das Gedicht, welches sich direkt gegen den Prinzregenten richtet, ist von allen das strengste, hochsinnigste.
Er ist wohl,
nicht darin genannt, allein man versteht das Gedicht erst, wenn
man weiß, daß er gemeint ist.
Es ist der Gesang: When first
I met thee, warm and young.
Erin spricht hier als Weib,
sie schildert ihren arglosen Glauben an den jungen Königssohn» ihr Vertrauen zu den Versprechungen, die er ihr im Feuer der Jugend geleistet hat, ihr Festhalten an dem Glauben, selbst als
sie die Wandlung, die mit ihm vorging, sah.
Sie wollte, selbst
als sie von seinen Fehlern vernahm, in ihnen einen Schimmer künftigen Ruhmes entdecken — nun aber, da der Reiz der Jugend
dahin und keine der Vorzüge des reiferen Alters an seine Stelle
getreten, da sie, die einst ihn liebten, ihn scheuen, und selbst seine Schmeichler
ihn verachten,
nun möchte Erin nicht eine ihrer
lauteren Thränen für all seine schuldbeladene Pracht dahingeben.
Doch eine Zeit wird kommen, wo selbst die letzten Freunde ihn verlassen und er vergebens die Hände nach ihr, die er für ewig
verloren, ausstrecken tbird.
Dann wird sie sprechen:
Geh! Schmähn wär' Schwäche hier.
Zu fluchen dir, veracht' ich; Haß wünscht nichts Schlimmres dir.
Als Schuld und Schmach gemacht dich?
Wordsworth schrieb Liebeserklärungen an England, da eS siegreich und groß war.
Scott besang Schottland zu einer Zeit,
da das Land begonnen hatte, in glücklichem Aufblühen seinen Platz neben dem Schwesterreiche zu behaupten. Moore aber sandte
seine heißen Lieder einem Lande zu, das gedemütigt und blutend zu Füßen seiner Henker lag.
Er sagt in dem Gedichte Re-
member thee: Dein Denken!
Ja, wie du verloren auch bist,
DieS Herz doch dich nimmer und nimmer vergißt.
Mehr gilt mir dein Trauern, dein Leben, dein Leid
Als die übrige Welt in der sonnigsten Zeit. Und stündest du blühend und mächtig und hehr.
Die Blume der Länder, die Perle vom Meer, Mit stolzerem Herzen wohl pries' ich dich hoch, Doch könnt ich dich lieben herzinniger noch? Deine klirrenden Ketten, dein strömendes Blut
Macht schmerzlicher Iieb deinen Söhnen ihr Gut — Wie deS Pelikans Brut trinkt Liebe ihr Herz
- Aus dem Born deines Lebens, aus zuckendem Schmerz.
In allen seinen Schöpfungen gedenkt denn auch Moore Ir
lands.
Seine große morgenländische Dichtung „Lalla Rookh", die
1 Go — go — 'tis vain to curse, 'Tis weakness to upbraid thee, Hase cannot wish thee worse Than guilt and shame have made thee.
1817 erschien, ist nach den gewissenhaftesten Studien ausgeführt: auch nicht ein Gleichnis, eine Beschreibung, ein Nanie, ein Zug aus
der Geschichte, nicht eine Anspielung kommt hier vor, die
etwas innerhalb des Gesichtskreises Europas Liegendes berührte. Alles ohne Ausnahme zeigt die Vertrautheit mit dem Leben und
der Natur des Ostens.
Nichtsdestoweniger flößte der Stoff Moore
erst dann Interesse ein, als er eine Möglichkeit sah, den Kampf
zwischen Feueranbetern und Muhamedanern zum Vorwande zu benutzen, um Toleranz im Sinne der Lehre zu predigen, die er seinen Landsleuten in dem Gedichte der irischen Melodien Come,
send round the wine gegeben hatte.
Auch das Interesse des
Lesers wird erst in dem Augenblick rege, wo er Irland und Ir
länder hinter diesen Ghebern mit ihrem fremdländischen Kostüme ahnt.
The fire-worshippers sind daher auch die einzige völlig
gelungene Partie der Dichtung.
Selbst die Namen Iran und
Erin fließen allmählich dem Ohre des Lesers ineinander über.
Moore sagt selbst, daß der Geist, der sich in den irischen Melo
diken ausgesprochen hatte, sich im Osten erst, als er zu den Feuer anbetern kam, heimisch fühlte, und wirklich scheint dieses schöne Gedicht, dessen Held ein edler und unglücklicher Empörer ist und
dessen Heldin in einem Kreise lebt, in dem sie stets mit Abscheu von ihm sprechen hört, geradezu von dem Andenken an Robert
Emmet und Sarah Curran inspiriert zu sein.
Es herrscht in
vielen Einzelheiten eine Ähnlichkeit: Hafed ist, kurz bevor er die Ghebern zur Empörung aufruft, landflüchtig in der Fremde um
hergeirrt; Hinda muß in ihrer Herzensangst um Hafed täglich von
dem Blutbade
hören,
das
unter den Aufrührern (rebel
carnage) angerichtet wird. Und als Hinda, aus Leid über Hafed's Tod auf dem Scheiterhaufen, sich selbst den Tod giebt, stimmt der
Dichter an ihrer Leiche einen Gesang an, von welchem ganze Strophen, wenn nur der Name Iran durch Erin ersetzt wird, dem
Gedichte She is far from the land eingefügt werden könnten,
ohne daß man ein fremdes Element herausfühlen würde.
So
heißt es z. B.:
Nor sball Iran, belov’d of her Nero, sorget thee — Though tyranta watch over her tears as they start, Close, close by the side of that Nero she’ll set thee Embalm’d in the innermost shrine of her heart.
Ja, so weit geht die Ähnlichkeit zwischen der Stimmung der irischen Melodien und jener, welche in dieser asiatischen Epopöe herrscht,
daß einige Zeilen der letzteren unverändert als Motto für die
Sammlung aller den irischen Aufstand betreffenden Schriftstücke gebraucht werben konnten, die in den siebziger Jahren unter dem Titel Rebellion book and black history erschien?
Es war Moore's polemische Stellung als Irländer, die es
ihm unmöglich machte, die hohe Politik in dem Lichte zu sehen,
in dem sie der Seeschule und Scott erschien.
Er ließ einen Hagel
von Witzpfeilen auf die heilige Allianz niederschauern.
In den
Lord Byron zugeeigneten Faheln, die er dem frommen Fürsten
bunde widmete, treibt er mit liebenswürdiger Keckheit seinen Spott mit
der
europäischen Reaktion.
Ihm
träumt z. B.,
daß der
Zar Alexander einen prachtvollen Ball in einem Eispalaste giebt,
den er (wie einst die Kaiserin Anna) auf der Newa hat aufführen lasten, und daß alle „die heiligen Gentlemen", die so zärtliche Be sorgnis für das Wohl Europas auf den großen Kongreffen bekunden,
dahin geladen sind, um zu untersuchen, wie man es anzustellen habe, daß der Strom des menschlichen Bewußtseins sich in derselben Weise
wie der Fluß staue und zu Eis erstarre, so daß er imstande ist, die schwersten Könige zu tragen, die Sonett und Ode je gepriesen haben.
* Sie laufen: Rebellion! foul dishonouring word, Whose wrongful blight so oft has stain’d The holiest cause that tonguc or sword Of mortal ever lost or gain’d.
Frau von Krüdener hat ihr Prophetenwort darauf verpfändet,
daß keine Gefahr dabei sei und der Frost ewig dauern werde. Da beginnt plötzlich von allen Decken und Wänden ein unheil verkündendes Tröpfeln.
Der Zar tanzt zwar noch seine Polonaise,
doch er hat alle Mühe, sich auf den Beinen zn halten; Preußen,
wiewohl der schlüpfrigen Wege gewohnt, ist nahe daran zu purzeln; kaum aber hebt der spanische Fandango an, als ein glühender Sonnenaufgang seine Flammenstrahlen durch den Palast sendet. Man rettet sich unter einem allgemeinen sauve qui peut.
Aber
alle die Dekorationen in Eis, die Doppeladler, die königlichen
Wappen, die dmtschen Raubvögel und französischen Lilien, alles
schmilzt und löst sich in Wasser auf. — Warum, fragt Moore,
wollen denn aber auch die Fürsten ihre Kapriolen in Palästen ohne Fundament machen? — Er hat, wie man sieht, sanguinische
Hoffnungen auf die damals eben ausgebrochene spanische Revo lution gesetzt. In einer anderen Fabel erzählt er von einem Lande, wo ein
lächerliches Verbot gegen die Einführung von Spiegelglas existierte.
Aus welchem Grunde?
Weil dort die Königsfamilie kraft ihrer
außerordentlichen Schönheit regierte, gleichwie das Volk gehorchte,
weil es ein Dogma war, daß es häßlich sei.' Die Nase der Majestät nicht schön zu finden, war Hochverrat, seinen Nachbar schöner zu finden, als Leute in gewissen hohen Stellungen, gar
sehr verbrecherisch, und da man keine Spiegel hatte, kannte man
sich selbst nicht.
Da
sorgen einige verruchte Radikale (svme
wicked Radicals) dafür, daß an der Küste ein mit Spiegeln be
ladenes Schiff strandet — und man begreift die Folgen.
In
einer dritten Fabel kehrt er zu seinem alten Symbol der Feuer
anbeter zurück; allein minder tolerant als in „Lalla Rookh" läßt er diese, als man ein Korps von Lichtauslöschern anstellt, um sie an der friedlichen Ausübung ihres Kultes zu hindern, zur
Abwechslung einmal kurzen Prozeß mit den Auslöschern machen
und sie kopfüber in das Feuer werfen, das sie nicht ruhig wollten
brennen lassen. Movre's satirisch-humoristisches Hauptwerk The Fudge family
in Paris, in dem es von Witzen über das bourbonische Regiment sprudelt, kehrt sich zugleich mit mutigem Pathos gegen England. Es heißt hier: „Während tapfere Herzen und wahrheitsliebende
Geister nun allerwegen Verächtlichen und Wenigen zum Opfer fallen, ist England der allgemeine Feind der Wahrheit und Frei heit, wo immer deren Flammen lodern, und überall zuerst als
Helfershelfer der Tyrannen zur Hand, wenn sie loSschlagen."
Und
England wird daran gemahnt, daß von. allen Seiten Verwün
schungen aufsteigm gegen die Herrschsucht und den selbstischen Hoch mut, mit dem es stets nur den eigenen Vorteil wahrt und alles
fremde Recht mit Füßen tritt.
Man lese besonders den vierten und
siebenten Brief mit ihren Spöttereien über die Trägheit und Feist
heit des Prinzregenten und den furchtbaren Ausfällen gegen Castlereagh, der. „die Verkörperung all der Fäulnis und des Gestanks der Verwesung" genannt wird, womit Irland England beschenkte,
wie die erschlagene Leiche Pest emporsendet zu ihrem Mörder. Hier finden sich
auch die rücksichtslosesten Ausfälle gegen die
alliierten Könige, „diese Bande von Vampyren, die dem schlum
mernden Europa das Blut aussaugen." Dies klingt gar grimm, gar schauerlich, der Abstand von dem älterm Dichtergeschlecht ist unverkennbar, von hier zu Shelley und
Byron scheint nur ein kleiner Schritt zu sein.
In Wirklichkeit
aber ist dieser Schritt sehr groß, sind alle diese Ausfälle so ernst nichts wie sie sich ausnehmen, gemeint.
Es war kein irischer Home-
Ruler, der hier Irlands Sache verfocht; denn Moore war keines
wegs für die LoSreißung seiner Geburtsinsel von England, wollte sie nur bester und gerechter regiert wissen.
er
Es war kein
Republikaner, der sich hier so derb gegm die Könige aussprach,
sondern ein aufrichtiger Monarchist, der schlechte Könige von guten
Irische Opposition-poesie. abgelöst zu sehen wünschte.
221
Es war endlich kein Freidenker, der
alle die heftigen Ausfälle gegen die Heuchelei der heiligen Allianz
machte, sondern ein, wenn auch aufgeklärter, so doch aufrichtig gläubiger Katholik, der zwar seine Kinder zu Protestanten erziehen
ließ, doch zugleich ein dickes Buch, Travels of an Irish Gentleman in search of a Religion, zur Verteidigung der Hauptdogmen
der katholischen Lehre schrieb.
Bei all seiner scheinbaren Unge-
buqdenheit hielt Moore sich innerhalb der Grenzen und beobachtete die Rücksichten, die der Kreis, in dem er lebte, ihm auferlegte.
Die Führer der Whigs hatten ihn, so wie er nach London kam, mit offenen Armen empfangen, nnd Moore war und blieb der
erklärte Whigdichter, der in einer langen Reihe von satirischen
und humoristischen Briefen, gereimte Feuilletons könnte man sie
nennen, die Tagesfragen und die parlamentarischen Vorkommnisse mit glänzendem Witz und prächtiger Salonlaune im Geiste der Whigpartei behandelte.
XIII. Moore war von der Natur zu Heiterkeit und Glück, nicht zu einsamem Kampfe veranlagt.
Er war dazu geschaffen, wie die
alten irischm Barden hochgeehrt an hoher Herren Tisch zu sitzen nnd ihnen die Zeit mit Gesang zu verkürzen.
Er trägt in solchem
Grade das Gepräge eines Lieblings des Glückes an sich, daß er oft, wenn er am ernsthastesten ist, halb zu scherzen scheint, hierin das gerade Gegenteil von Byron, der, selbst wenn er scherzt, ernst, ja finster ist.
Moore spielt mit seinem Gegenstände und liebkost ihn,
Byron zergliedert ihn und wendet sich mit Überdruß davon ab. Beide Frennde versenken sich in den Anblick und die Darstellung der äußeren Natur; wenn aber Byron sie betrachtet, so scheint
selbst die Sonne sich unter seinem Blicke zu verfinstern, während Moore bei seiner Borliebe für Rosenrot und Hell in Hell und
Glanz und Schimmer gleichsam „eine Morgensonne, die am Mittag aufgeht," erschafft.
Man erhält denn auch nur ein einseitiges Blld von Moore, wenn man, wie unser Plan es mit sich brachte, ihn vorzugsweise als politischen Dichter studiert.
Er ist zugleich ein Erotiker, und
zwar einer der vorzüglichsten, der musikalischsten, die je gelebt
haben.
Die Musik seiner Berse ist eher voll als fein, doch
liegt ein Zauber in seiner Sprachbehandlung.
Eine lockende,
lodernde Sinnlichkeit, eine glühende Zärtlichkeit haben in seinen
eroüschen Poesien einen Ausdruck gefunden, dessen schmelzender Wohllaut uns wie Töne Rossini's umschmeichelt.
Mögen die
englischen Bewunderer Shelley's, an zartere, den Profanen minder
verständliche Harmonien gewohnt, diese Lieder immerhin allzu süß (oversweet) schelten, erotische Lyrik kann nie erotisch genug sein: dans l’amour trop n’est pas assez.
Moore ist kein Mozart,
aber klingt es nicht fast wie eine Mozart'sche Melodie, wie eine Arie des Helden oder Zerlinens in „Don Juan", wenn er singt:
The young May moon is beaming, love, The glowworm’s lamp is gleaming, love, How sweet to rove Through Morna’s grove, While the drowsy world is dreaming, love!1 Lieder Rossini's und Moore's behalten ihren Wert, selbst wenn die Welt gleichzeitig einen Schubert und einen Shelley besaß.
Nirgends spiegelt die Eigenart der englischen Dichter in diesem Zeitraume sich schärfer ab, als in ihrer Erotik, während zugleich
auch der Naturalismus des ganzen Zeitalters auf diesem Gebiete in seinem ganzen scharfen Gegensatze zu den Überschwänglichkeiten in
den Liebesschilderungen der deutschen und französischen Reaktions periode hervortritt.2
Was Byron von seiner schönsten Frauen
gestalt sagt („Don Juan", Gesang II, Strophe 202}: Sie war Braut der Natur und Kind der Leidenschaft,
und was er über Don Juans und Haidee's Liebe äußert (Don Juan, Gesang IV, Strophe 19): Bei andern ist's ein Opiumtaumel nur.
Frucht der Lektüre oder Jugendwahn. Bei ihnen war es Schicksal und Natur —
das gilt von den erotischen Schilderungen dieses ganzen Zeit
abschnittes.
Doch nur im „Don Juan" hat Byron eine glück
liche Liebe gezeichnet.
Seine erotischen Gedichte sind voll Qual,
1 O sieh den Maimond glühen, Lieb, Des Leuchtwurms Flämmchen sprühen, Lieb!
Wie süß im Hain
Schweift sich's zu Zwei'n, Wenn die Welt verträumt ihr Mühen, Lieb! 2 Bergl.: „Die romanttsche Schule in Deutschland," das romantische Ge
müt, und „Die Reaktion in Frankreich," die Erotik.
Schmerz und Klage.
Das wundervollste derselben, When we
two parted, schluchzt selbst in seinem Rhythmus und drückt all
das Weh der Trennung schon in der Art und Weise aus, wie in der letzten Strophe der Rhythmus behandelt ist.
Eine gewisse
Ruhe der Leidenschaft herrscht noch in den ersten Zeilen:
When we two parted In silence and tears, Half broken hearted To sever for years, Pale grew thy cheek and cold, Colder thy kiss; Truly that hour forctold Sorrow to this.
Als wir uns trennten In Schweigen und Leid, Brechenden Herzens, Für lange Zeit, Bleich war die Wang' und kalt,
Kälter der Kutz — Wahrlich, mein Ahnen galt Bitterem Schluß.
Doch aller Jammer der Liebe spricht aus dem kurzen, stoßweisen
Tonfall dieser Schlußzeilen:
In secret we met — In silence I grieve, That thy heart could sorget, Thy spirit deceive. If I should mect thee After long years, How should I greet thee? — With silence and tears.
Geheim, wie die Lust war,
Geheim ist der Schmerz, Daß falsch deine Brust war, Und treulos dein Herz.
Und säh' ich dich wieder Nach langer Zeit —
Wie sollt' ich dich grüßen? In Schweigen und Leid.
Das eigentümlichste Gebiet der Byron'schen Erotik ist der Liebe Qual. Thomas Campbell hat nicht viele rein erotische Gedichte ge
schrieben — er zieht die kürzere oder längere Liebesgeschichte in Versen dem persönlichen Ergüsse vor — einige derselben sind jedoch
so zärtlich im Tone, wie die von Moore oder Keats.
Und seit-
samerweise wird er mit den Jahren immer wärmer, zärtlicher, freier in seiner Ausdrucksweise. dichtet er seine verliebteste Lyrik.
Im vorgerückteren Alter gerade Er wendet sich gegen die Be
hauptung, daß nun die Jahre der unsinnlichen Liebe für ihn ge kommen seien; er antwortet mit einer Herausforderung Plato's
selbst in seinem Himmel, ihn bittend, seiner Geliebten ins Auge
zu schauen und dann zu versuchen, platonisch zu empfinden.
Er
singt von der Liebe flüchtigem Wesen, von dem Leid, das der
Geliebten Abwesenheit
bereitet.
Er
dolmetscht
die Qual
des
jungen Mädchens, das hofft und harrt, es werde der Geliebte
sich zum Werben entschließen.
Doch am eigenartigsten ist er als
erotischer Dichter dort, wo er mit einem halb wehmütigem Lächeln
zugesteht, daß sein Herz jünger sei als seine Jahre, wie in den folgenden Versen:
The God lest my heart, at its surly reflections, But came back on pretext of some sweet recollections, And he made me sorget what I ought to remember, That the rose-bud of June cannot bloom in November. Ah! Tom, ’tis all’ o’er with thy gay days — Write psalms, and not songs for the ladies. But time’s been so far from my wisdom enriching, That the longer I live, beauty seams more bewitching, And the only new lore my experience traces, Is to find fresh enchantment in magical faces. How weary is wisdom, how weary! When one sits by a smiling young dearie. Bei Keats ist die Erotik, wie sich nicht anders erwarten ließ,
schweratmig, heiß, sinnlich und in Dust und Tönen schwelgend. Man lese die folgende meisterhafte Strophe:
Lift the laich! ah gently! ah tenderly — sweet! We are dead if that latchet give one little clink! Well done — now those lips, and a flowery seat — The old man may sleep, and the planets may wink; The shut rose shall dream of our love and awake Full-blown, and such warmth for the moming take, The stock-dove shall hatch his soft twin-eggs and coo. While I kiss to the melody, aching all through. Shelley's Erotik ist hypergeistig und hypersinnlich zugleich. Sie erinnert an diejenige Correggio's. Bei Shelley verschmilzt wie
bei Correggio der Ausdruck der höchsten Hingebung mit dem des heftigsten sinnlichen Rausches; was er schildert, ist der erotische Todeskampf.
Man lese z. B. die indische Serenade: O, hebe mich empor!
Ich sterb', ich verschmachte hier! Brande-, Litteratur de- 19. Jahrh. IV.
15
Auf Lippen und Augen laß Deine Küsse regnen mir:
Meine Wang' ist bleich und kalt.
Wildstürmisch pocht die Brust: O schließe fest mein Herz an deins, Wo es brechen wird vor Lust ...
und vergleiche damit den völlig ekstatischen Schluß des Epipsychidion: In eins soll unser warmer Odem schwellen. Vereint sich heben unsres Busens Wellen;
Und vor der Lippen vielberedtem Schweigen Soll sich verfinstert fast die Seele zeigen.
Die zwischen ihnen glüht; und jene Bronnen, Die unsres WesenS tiefstem Schacht entronnen, Die Quellen unsres Lebens, sollen kraus
Erblinken in der Leidenschaft Gebraus,
Wie Bergesquellen in dem Morgenschein, Dann werden wir ein Geist, ein Odem sein
In zweien Körpern . . .
Ein Hoffen in zwei Willen, und Ein Wille, Bedeckt von zweier Seelen Schaltenhülle,
Ein Leben, Ein Tod, Eine Himmelsfreud',
Ein Höllenleid, Eine Unsterblichkeit, Eine Vernichtung! — Weh, der Worte Schwingen,
Auf denen meine Seele wollte dringen
Zur höchsten Höh' der Liebeswelt hinauf, Sie hemmen angstvoll ihren Feuerlauf,
Gelähmt, versengt in Flammentod und Rauche — Ich keuche, stöhne, zittre und verhauche.
Ist Byron's Territorium die Qual des unglücklich oder einsam Liebendm, so ist, wie man sieht, dasjenige Shelley's der Schmerz der glücklichen Liebe, die Selbstvernichtung in der Ekstase der Liebes
wonne.
Doch gerade weil das erotische Gebiet der beiden großen
Dichter so mg begrenzt ist, hat keiner von ihnen viele erotische
Gedichte geschrieben, wie auch ihr Schaffen nicht auf diesem Felde
seinen Mittelpunkt hat.
Moore hingegen ist, wie der Däne Christian Winther, ein ge borener Erotiker. Ihm ist die erotische Phantasie eigen, wie anderen
Dichtern die erotische Leidenschaft.
Er liebt alles, was schön, fein,
erlesen, weich und hell ist um dessen selbst willen,
Folie, eines Gegensatzes hierzu zu bedürfen.
ohne einer
Er läßt sich niemals
auf eine Erzählung mit vielen Vorgängen ein, stellt nie einen gewaltigen Kontrast auf, untergräbt die Stimmungen nie durch tiefes Grübeln. Wurzeln.
Er liebt die Blüten des Baumes, nicht dessen
Die Gegenstände, die ihn fesseln, fesseln auf den ersten
Blick, sie sind schön und blendend, ihr Glanz berückt die Sinne,
sie entzücken das Auge und das Ohr mehr als das Herz; an ihre Stelle treten andere von gleichen Eigenschaften: es ist ein ewiges Flirren und Flimmern.
Schmetterlingsnatur.
Doch alle stark erotischen Dichter haben
Es giebt in dieser Beziehung keinen schlagen
deren Gegensatz als den zwischen Wordsworth und Moore.
Der
erstere wählt mit Vorbedacht Stoffe, die gering und abstoßend,
ja an sich häßlich sind, um sie mit einer moralischen oder geistigen Schönheit auszustatten, der andere haßt die schmutzigen Einzel heiten des Menschenlebens, scheut vor all dessen krassen Wider
wärtigkeiten zurück und umgeht die Moral mit einem Wieland'schen Lächeln und einem Knix. Muß er notgedrungen das Unschöne mit in den Kauf nehmen, so pflegt er erst einen weichen, glänzenden
Schleier darüber zu breiten.
Man hat seinem Stil die Überladung
mit pomphaften Adjektiven, den Hang, jedes Gefühl in ein Gleichnis
sich verlieren zu lassen, das ewig unruhige Schillern und Glitzern vorgeworfen — man hat denselben im Vergleiche zu Wordsworth's Schreibart gekünstelt genannt.
„Gekünstelt!" ruft einer seiner
irischen Bewunderer aus, „und dies, wiewohl ein jeder sich an
Moore's Gedichten erfreuen kann, während man sich einen neuen Geschmack anschaffen muß, um Wordsworth zu genießen!" Bedarf
es, muß man allerdings fragen, des Studiums und entwickelten Geschmackes, um das Natürliche zu genießen, und nur des haus
backenen Gefühls, um an künstlicher Schönheit Gefallen zu finden? Wordsworth und Coleridge waren Dichter für eine litterarisch 15*
Erotische Lyrik.
228
gebildete Leserwelt, Moore war ein Dichter für das Volk. sich gegen
ihn
Was
einwenden läßt, ist nur die Konsequenz seiner
natürlichen Begrenzung, Musiker und Kolorist, kein Zeichner zu
sein.
Er ist außer stände, einen ganzen Gegenstand zu zeichnen
oder zu beschreiben, er malt nur besondere Eigenschaften schöner
Gegenstände.
Er verherrlicht ein Erröten, ein Lächeln, den Wohl
klang einer Stimme ganze Strophen hindurch, er bietet eher ein Schönheitsverzeichnis, als eine schöne Kontur, und nimmt man
Boltaire's alte feine Definition der Liebe: „Stoff der Natur, von der Einbildungskraft mit Stickerei verziert", so findet man in Moore's
erotischen Poesien ost die Stickerei so verschwenderisch und prunkend, daß sie den Stoff kaum hindurchschimmern läßt.
Desungeachtet ist
und bleibt es doch Stoff der Natur. Dabei ist es nur billig hinzuzufügen, daß in den besten, be
wunderungswürdigsten Gedichten Moore's jener Überschwang von Bildern gänzlich verschwunden ist.
Wo die echte irische Wehmut
seine Seele beherrscht, hat sie allen Flitter hinweggefegt und sich zu unvergänglichem Ausdruck emporgeschwungen.
Take back the
virgin page und insbesondere The last rose of summer sind ebenso einfach im Stil als vollendet im Versmaß.
Gedichten kommen gar keine Gleichnisse vor.
In diesm
Ebensowenig finden
sich irgend welche in dem reizenden Liedchen, das trotz seiner Kürze für Irland die Bedeutung einer Nationalhymne gewonnen
hat, in der schlichten Erzählung von der Jungfrau, die, mit seltenen Edelsteinen geschmückt und noch mehr durch ihre vollendete Schön
heit gefährdet, ganz Irland sorglos von einem Ende zum anderen durchwandert, ruhig darauf bauend, daß Irlands Söhnen Ehre und Tugmd teurer feien als Frauen und goldene Schätze. (Rich
and rare etc.) Von ihm, der solch ein Lied gedichtet, konnte Byron mit Recht die rühmenden Worte sprechen: Moore's irische Melodien werden mit ihrer Musik auf die Nachwelt kommm, Werben so lange fortleben wie Irland, oder wie Musik und Poesie.
Moore's Leben war ein glückliches.
Er vermählte sich im
Alter von 31 Jahren mit einem schönen, liebenswürdigen Mädchen
(einer Miß Dyke) und lebte in harmonischer Ehe mit seiner treuen
„Bessy".
Seine Verhältnisse waren zwar nicht immer die besten,
doch von dem Augenblicke an, wo sein Ruf allgemein anerkannt
war, warfen seine Schriften ihm ein reiches Erträgnis ad.
Er,
der in seiner Humoreske Oranä dinner of Type & Comp. die
reichen Buchhändler — gleich den Kriegern der Sagenzeit, die Met aus den Schädeln ihrer Feinde tranken — ihren Wein
aus
den Hirnschalen armer Schriftsteller schlürfen ließ,
persönlich keinen Grund über seinen Verleger zu klagen.
hatte
Letzterer
bot ihm z. B. 3000 Pfund für „Lalla Rookh", bevor er noch eine Zeile des Gedichtes gesehen hatte, und zahlte ihm 4200 Pfund für
seine vortreffliche Biographie Byron's.
Moore wurde gleich sehr
von Irländern wie von Engländern gefeiert.
Man gab ihm 1818
in Dublin ein Festmahl, bei dem ihm alles huldigte, was sich nur
in Litteratur und Politik auszeichnete, und als er 1822 nach
Paris kam, veranstaltete dort ihm zu Ehren der britische Adel ein Bankett.
Erst das Alter brachte ihm mancherlei Mißgeschick,
eine geschwächte Gesundheit und Kummer durch seine Kinder.
starb 1852.
Er
XIV. Ein Dichter, der in Schottland geboren und, ein eifriger
schottischer Patriot wie Walter Scott, lebhafte Teilnahme für Irland empfand, der irische Großthaten und irische Bolkstrauer wie Thomas Moore besang, der überdies mit der Liebe zu den beiden
untergeordneten Königreichen ein feuriges britisches Nationalgefühl verband, ist der von einer alten Hochländerfamilie abstammende
Thomas Campbell. Er war nicht bloß ein Nationaldichter in dem Sinne, in dem Wordsworth dies war, er war auch von Jugend auf bis zu seinem
Tode ein glühender Verfechter der Freiheit. Seine epischen Dichtungen und seine Balladen erheben sich nicht sonderlich über entsprechende
Erzeugnisie Wordsworth's, allein er besaß ein echt lyrisches Genie; er ist der Tyrtäus oder Petöfi der naturalistischen Gruppe.
Ihm
war die Sache der Freiheit und die Sache des Vaterlandes eins,
und in seinen besten Rhythmen herrscht eine Frische, ein Marsch» takt, ein Schwung, ein Feuer, die ihn hinsichtlich einer Hand voll
auserlesener Gedichte den größten Dichtern an die Seite stellen. Seine Hymne über die Schlacht auf der Rhede macht naturgemäß
auf einen Dänen geringen Eindruck.
Der Stolz auf den Sieg, den
Nelson über einen so viel schwächeren Feind erfocht, desien Macht
hier zu einer England ebenbürtigen aufgebauscht wird, ist die
reine Vaterländerei.
Doch dicht daneben steht das gleichzeitig
verfaßte Gedicht The Mariners of England, das ein Meister werk ist, und in dessen Versen man förmlich die frische Meeres»
Britischer Freisinn.
231
Krise sich in den britischen Segeln verfangen zu hören glaubt. Hier und fast einzig hier schwang sich in der zeitgenössischen Poesie
ein Dichter zu den Höhen des Nationalgesanges auf.
Hier ist
es der echte Sohn der Königin des Meeres, der, den Ruhm der britischen Seeleute verkündend, seiner Mutter ein Hochlied an
stimmt.
Man beachte die sausende, brausende Gewalt, den Jubel
der sich in der siebenten Zeile der folgenden Strophe zusammen
drängt: Ye marinere of England! That guard our native seas. Whose flag has braved, a thousand years, The battle and the breeze! Your glorious Standard launch again To match another foe! And sweep through the deep, While the stormy winds do blow, While the battle rages loud and long; And the stormy tempests blow —
und man höre den Stolz über England als Weltmacht zur See
durch diese Strophe wehen: Britannia needs no bulwark, No towers along the steep; Her march is o’er the mountain-waves, Her hörne is on the deep. With thunders from her native oak She quells the floods below — As they roar on the shore, When the stormy tempests blow u. s. w. Das Leben Campbell's nahm einen regelmäßigen, ruhigen
Verlauf.
Er
erhielt
in Glasgow eine vorzügliche Erziehung,
studierte in Edinburgh, veröffentlichte, 21 Jahre alt, seine Dichtung The Pleasures of Hope,
die, nunmehr veraltet, damals Auf
sehen erregte, und unternahm für das Honorar eine Reise nach
Deutschland, auf welcher er, von der Aussicht auf einen Krieg mit Dänemark inspiriert, einige Gedichte, darunter das oben an
geführte, schrieb.
Er verheiratete sich in London 1803 mit seiner
Base, lebte daselbst als Litterat, hielt öffentliche Borträge und war
von 1820
an
als
Herausgeber
einer Zeitschrift
thätig.
Seit dem Jahre 1830 waren seine Gesundheit und seine Lebenskraft
gebrochen.
Er lebte, nur ein Schatten seiner selbst, noch bis zum
Jahre 1844.
Die bei
allen
Grundlage
seiner
poetischen
Begabung
anderen Dichtern dieser Gruppe,
Naturauffassung.
bildete,
wie
die Frische seiner
Er hat ein Gedicht an dm Regenbogen ge
schrieben, das trotz einer etwas prosaischen, vernünftelnden Einleitung
ein kleines Meisterwerk an Einfachheit und Phantasie ist.
Er
versetzt sich im Geiste darein zurück, was die primitive Menschheit
beim Anblicke des Regmbogens empfand.
Wenn dieser sich zeigte,
hielt jede Mutter ihr Kind empor, um Gottes Bogen zu segnen. Ihn haben die ersten Hymnen begrüßt,
Dichter besungen.
ihn haben die ersten
Und heute noch erwecke er dieselben Gefühle:
„Wie strahlend ist dein Gürtel, sich senkmd über Berg, Turm
und Stadt, oder wiedergespiegelt im weiten Meer, tausend Klafter
tief!
Auf dem dunkeln Hintergründe erscheint deine Schönheit
so jugendftisch, wie da zum erstenmal der Adler von der Arche aufstieg in deinen Strahlenkranz."
Bon ebmso ungeschwächtem
Natursinne wie dieses Gedicht aus Campbell's Jugendtagen zeugt eines
der letzten von ihm verfaßten, das in Oran in Afrika geschriebene Poem „Der tote Adler."
Hier äußert sich eine Freude an der
Stärke und Gewalt eines Lebewesms, die spezifisch englisch ist. Wohl wahr, sagt er, es kann der Lustschiffer so hoch emporsteigen
wie der Adler, doch sein Schiff besitzt kein Steuer, ist die Bmte von Wind und Wetter; kein Wille lenkt die Fahrt.
Wie anders
bei diesem stolzm Bogel: Er durchschneidet dm Sturm, er hält so leicht auf seinem Fluge inne, wie der Araber sein Pferd anhält,
und verharrt unbeweglich, so ost es ihm gefällt, am Scheitelpunkte des Himmels, einer Lampe gleich, die von der dnnkelblauen Wölbung Hemieder hängt. Unter ihm sind die Berge wie Maulwurfshügel, die
Arktischer Freisinn.
Flüsse wie leuchtende Fäden.
233
Da schießt er herab, schneller als ein
fallender Stern, bis seine Gestalt ihren Schatten über die Erde
wirst und Schrecken sich in der Wildnis beim Rauschen seines Flügelschlages verbreitet.
Nun schwingt er sich von neuem auf.
Ein Ausdruck der Geringschätzung liegt in allen seinen Bewegungen, ob er nun den kammgeschmückten Kopf zurückwendet, um hinter
sich zu schauen, oder wagerccht liegend, das weiße Innere seiner ge neigten Schwingen in anmutigem Kreisen entfaltet. — Und Campbell sieht ihn vor sich, wie er hoch in den Lüsten über tobenden See
schlachten zwischen Mauren und Christen geschwebt hat, unbekümmert
wer den Sieg davontrage, voll Geringschätzung für die Menschen, welche die Tiefe zu durchfurchen genötigt sind, indes seine Schwin
gen ihn mit Leichtigkeit nach Algier, nach den Korallenhainen, die unter Bonas grünen Wogen lodern, ja in einer Stunde weiter
dahin tragen, als das stolzeste Schiff in einem Tage erreichen könnte.
Er hat unberührt von allem Menschlichen und Irdischen
gelebt; selbst das Erdbeben, das (1790) Oran erschüttert und zerstört
und unter dem Jammergeschrei Tausender Kirchen,
Forts und
Paläste zu Schutt und Trümmern verwandelt hat, störte ihn nicht.
Nicht nur Reichtum der Beobachtung, auch Phantasie verrät sich in dem geschauten Bilde.
Doch am größten ist Campbell in seiner Freiheitsdichtung, in Poesten wie:
Navarino,
Men of England, Stanzas on the Battle of
Lines of Poland, The Power of Russia und in
so edlen, tiefen Äußerungen geistigen Freisinnes wie Hallowed Ground.
In
solchen Gedichten
zeigt sich so recht Campbell's
geistige Überlegenheit über die Dichter der Seeschule, die ja eben falls sehr gut verstanden, die Unabhängigkeitskämpfe der Völker zu verherrlichen.
Diese letzteren priesen, wohl zu merken, nur
dann jene Kämpfe, wenn sie gegen Napoleon, den Feind Englands, stattfanden; Campbell kennt keine derartige Rücksicht.
Er feuert
England gar oft an (ja schilt es zuweilen) im Namen der Freiheit,
Lettischer Freifinn.
234
während jenen Dichtern England schlechtweg der Herd der Frei heit war. Man beachte in Men of England die Wärme, mit der er erklärt, daß der Tapferkeit errichtete Denkmale in keinem Vergleiche
zn dem lebendigen Freisinn in der Männerbrust stehen.
Der
Ruhm der Freiheitsmärtyrer wiege Hunderte von gewonnenen
Schlachten auf: Yours are Hampdens, Russell’» glory, Sidneys matchless shade is yours, Martyrs in heroic story, Worth a hundred Azincourts!
Campbell'- Freude über die Befreiung Griechenlands ist ebenso echt, wie seine Trauer über den Fall Polens.
Doch ist das Ge
dicht über Polen in seinem Zorn und seiner Hoffnung» in seiner Trauer, daß England nicht den Handschuh hinzuwerfen wage, glühender, während das Gedicht über die Macht Rußlands eine
so klare Einsicht verrät in die Gefahr, die der Zivilisation von
Rußland droht, so tief die Bedeutung der Niederlage Polens ver steht, als sei hier ein Staatsmann Dichter geworden.
wuchtige Worte:
Es sind
„Wäre dies ein gewöhnlicher Streit zwischen
Staaten, dann könnte Britannien auf den Sieger und den Über-
wundmen ruhigen Blickes schauen
und seinen Ölblattkranz mit
Ehren tragen; doch dies ist die Finsternis, die wider das Licht kämpft, dies sind die entgegengesetzten Prinzipien der Erde, die um
die Herrschaft ringen."
Und wuchtig ist auch diese Zeile:
The Polish eagle’s fall is big with fate to men. Das Gedicht „Geweihte Erde" ist in seiner derben Einfachheit
ein wider allen Aberglauben, er trage welchen Namen immer, frank und frei sich kehrender Protest, das mannhafte Bekennen des Freiheitsevaygeliums, wie dieses Jahrhundert es gestaltet hat.
ist geweihte Erde?
fragt Campbell.
Was
Giebt es auf Erden einen
Fleck, wo nach Gottes Willen der Mensch nicht frei und aufrecht
stehen, sondern unter der Geißel des Aberglaubens das Knie
beugen soll?
Nein, geweihte Erde ist dort, wo Lippen Ruhe ge
sunden, die unsere Liebe geküßt — doch nicht auf dem Kirchhofe ist sie, sondern dort, wo das Bild deS Toten unberührt ruht, in uns selbst.
Ein Kuß heiligt die Stätte, wo zwei Herzen einander
in Liebe fanden.
Und Kampf und Tod der Helden für die Frei
heit lebt in den Herzen, ob auch ihre Asche in alle Winde zer streut ward, lebt in den Herzen wie in geweihter Erde, bis schließ
lich das ganze Erdenreich sich in — geweihte Erde wandelt.
Hier
ist die erste und die letzte Strophe:
What’s hallo wed ground? Has earth a clod, Its maker meant not should be trod By man, the Image of his God Erect and free, Unscourged by Superstitions rod To bow the knee? What’s hallowed ground? Tis what gives birth To sacred thougts in souls of worth! — Peace! Independance! Truth! go forth Earth’s compass round; And your high priesthood shall make earth All hallowed ground.
r
Zu den größten Dichtern der naturalistischen Gruppe gehört
Campbell nicht, doch in seinem schlichten, krastvollm Pathos klingt
eine Saite von so volltönender Lyrik, daß fie an die alten grie chischen Elegiker gemahnt.
Wiewohl Schotte von Geburt, war er
im Herzen mit Irland; dem Geiste nach war er Britte.
Wiewohl
leidenschaftlich national wie die Dichter der Seeschule, war er
unbedingt nur Freund und Verfechter der Freiheit, der Frecheit als Gottheit, nicht als Götzenbild.
Er bildet den Übergang von
den Nationaldichtern Schottlands und Irlands zu den drei großen Emigranten der zeitgenössischen englischen Poesie.
XV.
Zu der Zeit, da England auswärts die Geschäfte der heiligen
Allianz besorgte,
im Innern die Katholiken unterdrückte und
die unteren Klassen durch Begünstigung des Landadels in Not stürzte, verließen mehr und mehr Engländer ihr Vaterland, um
als fahrende Ritter der Freiheit gleichsam Europa daran zu er innern, daß England zu allen Zeiten als geborener Schützer der Volksfreiheit gegolten hatte.
Solche Engländer waren General
Wilson, der unter Bolivar Südamerika befreite, und Admiral Cochrane, der zuerst im brasilianischen, dann im griechischen Freiheits kriege seinen Namen berühmt gemacht hat.
Zu dieser Klasse von
Männern gehört Walter Savage Landor, der stolzeste Sonder ling in der poetischen Litteratur des Zeitalters.
Landor wurde den 30. Januar 1775 in Warwick als Kind einer hochadeligen Familie und Erbe fürstlicher Reichtümer ge
boren.
Er studierte in Oxford, hielt sich 1802 in Paris auf,
kehrte zurück, veräußerte den größten Teil seiner Familienbesitzungen und kaufte sich in einer anderen Grafschaft an, wo er sodann
nach Gutdünken alle möglichen Verbesserungen und Verschönerungen einführte und seinen zahlreichen Pächtern eine weit beffere Existenz
zu sichern strebte, als sie der unteren Klasse in England sonst
irgendwo beschieden war.
Er verausgabte 70000 Pfund für diese
Reformversuche, die er mit weniger Menschenkenntnis als mit Be
geisterung für das Wohl der Menschen ins Werk setzte.
Sein
philantropischer Eifer wurde von seinen Untergebenen aufs schänd-
lichste mißbraucht.
Man machte sich seine Großmut und Un
eigennützigkeit zu Nutze, um ihn in großartigstem Stile zu be
trügen.
Empört über den Undank und die Schlechtigkeit seiner
Pächter beschloß er, seinen gesamten Grundbesitz, selbst jene Güter,
die seit 700 Jahren im Besitze seiner Familie waren, zu verkaufen
und als freier Weltbürger zu leben.
Er brachte diesen Vorsatz
1806 zur Ausführung.
Der spanische Aufstand gegen die Tyrannei Napoleons brach
Landor reiste nach Spanien, rüstete auf eigene Kosten ein
aus.
ganzes kleines Truppenkorps aus und kämpfte in den Reihen der
Aufrührer.
Er erhielt infolgedessen von der obersten Junta ein
öffentliches
Dankschreiben
und
den
Titel
eines
Obersten
im
spanischen Heere.
Bei der Wiedererhebung des Königs Ferdinand
auf den
sandte er diesem seinen Ernennungsbrief mit
Thron
einem Schreiben zurück, worin er erklärte, daß er, obschon der Sache Spaniens für immer ergeben, mit „einem Meineidigen
und Verräter wie dessen König" könne. Mannes
keine Berührungspunkte haben
Man hat in diesem einen Zuge das Temperament des
— ungestüm und rücksichtslos,
aber stolz und groß.
Es schlug das Herz eines unabhängigen Häuptlings in dieser
Dichterbrust.
1815 ließ sich Landor in Italien nieder, wo er ununter brochen durch mehr als 30 Jahre weilte.
Erst 1857 nahm er
ständigen Aufenthalt in England (in der Stadt Bath).
Er blieb
sein Lebenlang ein Todfeind der Tyrannei in allen ihren Formen
und Gestalten, sowie ein leidenschaftlicher Verfechter und Wort
führer der Freiheit auf jedwedem Gebiete.
Politischen Flücht
lingen und Verfolgten war er bis zu seinem Tode ein treuer Helfer.
Derselbe trat erst 1864 in seinem neunzigsten Jahre ein.
Sein langes, ehrenvolles Leben umfaßt eine große litterarische
Produktion.
Er hat doppelt soviel wie Byron geschrieben und
manches Werk, dem man nur mit Ehrfurcht naht.
Allein seine
Poesie blieb während der ganzen Periode, die uns hier beschäftigt, unverstanden und ungewürdigt.
Landor schrieb ohne irgend welche
Beziehung zu einer Leserwelt, ohne andere Aufmunterung seitens der Kritik, als kalt nnd steif genannt zu werden, und sich wegen seines Englisch, das einer Übersetzung aus fremden Sprachen gliche,
zurechtgewiesen zu sehen.
Niemals ward ihm ein Schatten von
Popularität zu teil, noch erfreute er sich auch nur eines einzigen litterarischen Triumphes.
Zehn Jahre vor seinem Tode begann
man ihn zu bewundern, und um 1870 ungefähr begann er zu wirken. Kommt man von Moore zu Landor, so ist es, als käme man
von schaukelnden Wellen ans Land, auf festen Grund und Boden. Landor's Haupteigenschaft ist männliche Festigkeit, er ragt unter seinen Zeitgenossen als Dichter hoch empor, ist aber noch größer als Mann.
Er wird so wenig gelesm, daß man leider fast nichts
von ihm als bekannt voraussetzen, keinen Anhaltspunkt für Äuße
rungen über ihn in der Erinnerung oder Phantasie des Lesers zu finden hoffen kann, und es ist nicht leicht, ihn zu beschreiben. Seine Festigkeit fand ihren auffallendsten Ausdruck in einem für viele abschreckenden Selbstgefühl.
die folgenden vor:
Es kommen bei ihm Sätze wie
„Was ich schreibe, ist nicht auf Schiefer ge
schrieben; und kein- Finger, nicht einmal der selbsteigene der Zeit,
den sie in die Wolken der Jahre taucht, kann es wieder auslöschen,"1 oder Antworten auf die Kritiken über seine „Imaginary conversations“ wie diese hier: „Ich habe nun mehr als hundert solcher
Gespräche geschrieben; möge der tüchtigste unter der Bande meiner Kritiker die zehn schlechtesten auswählen, und wenn er in zehn
Jahren etwas so Gutes zu schaffen vermag, so will ich ihm ein warmes Franzbrot und einen halben Krug Porterbier zum Früh
stück geben."
1 Landor: Imaginary conversations between literary men and statesmen. English Visitors and Florentine Visitors.
Einen geringeren Mann würde ein solcher Hochmut lächer
lich gemacht haben,
Landor verunehrt er nicht; ja,
ihm sogar hin und wieder an.
er steht
Man wird zuweilen an Schopen-
hauer's an und für sich nicht unberechtigtes, aber unbändiges und anspruchvolles Gefühl seines Wertes gemahnt; nur daß Landor in
seinem Wesen der vornehme, feingebildete Gentleman von adeliger Abkunft war und blieb, während Schopenhauer mit seiner völligen
Hintansetzung aller Gebote der Höflichkeit ein großer Plebejer
war und blieb.
Doch öfter noch erinnert sein absonderliches
Temperament mit dessen ungestümer Heftigkeit in großem, mit dessen Schöpfungen in noch größerem Stile an einen Mann, dessen Name zu gewaltig ist, als daß er leichtfertig ausgesprochen werden dürfte, der aber, obwohl Landor an Geist weit überlegen, sicher
lich einen Geistesverwandten in ihm entdeckt haben würde — an den einsamen, rauhen Michel Angelo. Etwas Strenges lag in Landor's Natur, die Strenge, welche unerschütterliche Festigkeit und vollkommene Wahrhaftigkeit gegen
sich und andere mit sich bringt.
gewisse wohlthuende Härte.
In seinen Werken herrscht eine
Das Gedicht „Hyperbion" in den
„Hellenics" bietes ein gutes, echt Landor'sches Beispiel hierfür:
„Hyperbion war einer der wenigen Auserwählten Apollos, und die Menschen ehrten ihn eine Zeit lang und in ihm den Gott.
Allein andere sangen ebenso laut, und die Buben riefen
ihnen ebenso laut „Hurrah" zu.
Hyperbion, der darob in hef
tigeren Grimm geriet, als einem Sänger ziemt, redete zu Apollo und sprach: O Phöbus, hörst du dort draußen das rohe Geschrei
des Pöbels, der schwört, dich schon gekannt zu haben, da du die weißen Rinder des Admet hütetest? Ich höre es, sprach der Gott. Ergreife den ersten unter ihnen und ziehe ihn hoch über die
Häupter der Menschen empor, und du wirst sie dir wieder voll Freuden zujauchzen hören.
Hartnäckig und stolz war Hyperbion,
der Lorbeerkranz auf seiner Stirn hatte diese schlecht gekühlt. Als
er daher die Burschen vor seinen Pforten singen hörte und etliche
den Namen seines Nebenbuhlers an die Mauer kritzeln sah, schoß
er hinaus und ergriff den kläglichen Sänger, welcher der Rädels
führer des Schwarmes war. Füßen, doch vergebens.
Dieser wehrte sich mit Händen und
Hyyerbion umschlang ihn mit kräftigem
Arm und entrollte mit der Linken einen Hanfftrick, an dem sich bereits eine Schlinge befand. Er diente dazu, das Kalb zu halten,
während morgens und abends das Euter der Mutter gemolken wurde.
Nun aber waren Kuh und Kalb auf der Weide.
Mit
aller Kraft schleppte er den Burschen fort und zerrte ihn auf einen
Pinienbaum hinauf, wo er starb.
Eines Nachts jedoch, nicht
lange nachher, erschien der klägliche Sänger ihm im Schlafe; da
bat er Apollo, ihn darüber aufzuklären, ob das, was er gethan,
vielleicht nicht ganz in Ordnung gewesen. Hyperbion!"
„Du hast recht gehandelt,
erwiderte der Gott, „ganz ebenso verfuhr ich mit
Marsyas einige Jahre vor deiner Geburt;
allein besser wäre es
gewesen, du hättest meine Worte richtig aufgefaßt; denn nun werden die anderen unter dem Vorwande über dich herfallen, daß
du das Gesetz übertreten hättest. Meine Meinung war, du solltest ihn zu den hohen Stellen in deiner Seele erheben und dich um so
größer dadurch zeigen, daß du ihn ertrügest." stand der Sänger da, doch Phöbus sagte:
Niedergeschlagen „Sei guten Muts,
Hyperbion: wenn der Strick nicht zu zerschlissm ist, um das Kalb noch ferner daran halten zu können, so ist der größte Schade der,
daß du ihn beim Hinaufziehen des Burschen sehr, sehr heftig an dem Pinienbaum geschürft hast, und die Rinde von Pinien bäumen heilt nie wieder zu."
Selten hat ein Apollo sich mit so wenig Empfindelei über die Mittelmäßigkeit in der Kunst geäußert.
Landor's Verachtung
derselben hatte ihren Grund in seinen ernsten künstlerischen An forderungen an sich selbst.
Er ist der strengste Sttlist der eng
lischen Prosa; nicht Stilist in dem Sinne, daß er eine seltene
Sprachvirtuosität besessen hätte — kein englischer Dichter ist weniger
geschmeidig als er — sondern so verstanden, daß er alle seine Gestalten,
die alltäglichsten wie die ehrwürdigsten, die aus der Vergangenheit
wie die aus der Gegenwart, in dem nämlichen einfachen attischen Stile ausführte.
Bei seiner ausgesprochenen Vorliebe für das Helden
hafte und Erhabene verlieh er seinen Dialogen — der vornehm
lich von ihm gepflegten Kunstform — eine nie sich verleugnende
Hoheit und Ruhe, und teilte unwillkürlich ihrer Grunddiktion ein Gepräge mit, das griechisch durch seine nüchterne Schönheit, und römisch-englisch durch seinen Stolz und seine Bestimmtheit ist. Sein
Stil ist rein, korrekt, gedrängt, und bei seinem antiken Stempel
eignet er sich ganz besonders zur Darstellung von Gestalten aus dem alten Hellas oder dem alten Rom.
Die Agora Athens, der
Senat und das Forum Roms leben in seinen Gesprächen das Leben ihrer eigenen Zeit.
Die moderne Konversation hingegen lag seiner Feder weit weniger bequem; die Dialoge aus der neueren Geschichte gelingen ihm nur dort völlig, wo die Konversation so geartet ist, daß Landor's
geheime Entrüstung der Rede Leben und Feuer verleiht.
Will
man Landor in seiner Frische und seinem Glanze sehen, so lese
man seinen Roman in Briefform „Perikles und Aspasia," ein Werk von der nämlichen Art wie Wieland's „Aristipp," aber in
einem ganz anderen Geiste und Stile verfaßt. und
kokett ist, hat Landor einen
Wo Wieland üppig
männlichen Reiz; wo
land weichlich ist, zeigt Landor sich edel und stolz.
Wie
Dieser Brief
wechsel ist mehr gemeißelt als geschrieben; er verherrlicht Perikles als den republikanischen Typus edler Menschlichkeit und politischer
Weisheit, er stellt in Aspasia nicht die Hetäre dar, sondern eine
Verkörperung hellenischer Schönheit und Feinsinnigkeit, heidnischer Weiblichkeit und geistesfreier antiker Denkart und Bildung.
Es
versteht sich von selbst, daß kein Funke von Frivolität darin ent halten ist; alles was kleinlich und unwürdig ist, scheint außerhalb Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
16
NepubUkanischer Humanismus.
des Horizontes
dieses
Buches
wie
des Verfassers zu liegen.
Allein das Werk ermüdet durch seine altväterische und allzn weit
schweifige Briefform, und der ungeduldigere Leser sei daher auf Landor's Meisterwerk, den Dialog zwischen Epikur, Leontion und
Ternissa, verwiesen'. Dieses Gespräch
steht entschieden nur durch seinen minder
gewichtigen Gedankeninhalt, doch wahrlich weder in Hinsicht auf
Anmut, noch auf Charakteristik oder Natürlichkeit des Gespräches hinter einem Dialoge Plato's zurück. Der ältliche, liebenswürdige
Philosoph lustwandelt im Gespräch über die flüchtigen Ereignisse des Tages und die ernsten Begebenheiten des Lebens mit zwei in
der ersten Jugend stehenden griechischen Mädchen in seinem reizen
den Garten auf und ab, und ein Duft von Attizismus, eine edle, be herrschte Sinnlichkeit, die keuscheste, hinreißendste Grazie ist über die
Szene, vor allem über die mannigfaltigen kleinen Züge gehaucht, womit die beiden jungen Mädchen geschildert sind, die sechzehnjährige zu
mal, mit ihrer Mischung von Verschämtheit und liebenswürdiger
Offenherzigkeit. Landor hat hier das weibliche Seitenstück zu Plato's Jünglingen geschaffen; er hat das junge griechische Mädchen ent
deckt,
das Plato unbeachtet ließ, daS die Tragödie einzig in
pathetischen und heroisch-tragischen Situationen darstellte, und von
dem nur vereinzelte schöne Reliefs uns die äußere Kontur aufbe wahrt haben.
Es verlohnt der Mühe, dies Gespräch in seinen
Windungen zu verfolgen.
Es beginnt mit einer feinen Natur
malerei und einer Verherrlichung der Einsamkeit, deren derjenige be
darf, der geistig leben und schaffen will, und schon hier gewahrt man unter Epikur's Gestalt die Umriffe Landor's, welcher die gleiche Vorliebe für ein zurückgezogenes, vor dem geräuschvollen Treiben der Außenwelt wohlverschanzteS Leben besaß.
(Siehe die
Einleitung zu dem Dialoge: Southey and Landor, Works I, 57.)
1 Landor: Works vol. I, 497.
Hierauf erörtert Epikur in feiner, humorvoller Weife mit Terniffa, dem jüngeren Mädchen, die Frage, inwiefern die Mythe von
Boreas, Zethes und Kalais buchstäblich zu nehmen sei oder nicht, während das ältere junge Mädchen, Leontion, Terniffa schelmisch ihrer Leichtgläubigkeit halber neckt.
Sodann gleitet das Gespräch,
während es sich spielend um das frische Weinlaub und die jüngst
angekommenen Olivenbäume bewegt, in die rührende und tiefe Unterhaltung
über die Furcht vor dem Tode über, wobei die
männliche Würde und Ruhe Epikur's die jungen Mädchen zu
den heftigsten Ausbrüchen wider diejenigen begeistert, die ihn als Atheisten verfolgen und herabsetzen. Ja, es zeigt sich, daß Leontion, als Widerlegung der Angriffe Theophrast's, ein ganzes Heft voll
zu
seiner Verteidigung geschrieben hat.
Epikur zeigt ihr mit
sanfter Hoheit, wie unnütz eine Verteidigung gegen derlei Angriffe sei, und erklärt ihr, weshalb er niemals mit jemandem kämpfen oder rivalisieren mag.
„Ich möchte mich selbst mit den Männern
in keinen Wettstreit einlassen, die mit mir zu wetteifern fähig sein
könnten ... Mit wem sollte ich es? Mit dem Geringeren? Das
wäre unrühmlich. fein."1
Denn
Mit dem Größeren?
Das würde vergeblich
Hier schimmert wieder Landor's eigenes Antlitz hervor.
es
entsprach
dies
genau
der
Denkweise
des
Mannes,
der wenige Jahre vor seinem Tode sein letztes Buch mit dem Motto versah:
I strove with none, for none was worth my strife, Nature I loved, and after Nature, Art; I warrned both Bands before the fire of life, It sinke, and I am ready to depart. Die erste Zeile enthält zugleich das Bekenntnis und die Recht
fertigung seines scheinbar anmaßenden Wesen-, für welches Nach1 I would not contend even with men, able to contend with me . . . Whom should I contend with? the less? it were inglorious. The greater, it were vain?
sicht oder Sympathie zu hegen, kleinen Seelen so schwer fiel.
Die
zweite Zeile erklärt, was der ursprüngliche Gegenstand seines tiefen Studiums, und was dessen zweiter war, der den ersten vervoll Die dritte Zeile spricht die edle Philosophie aus, die
ständigte,
seinen Geist unter so viel Verkennung und Mißgeschick aufrecht-
erhielt und nährte, die letzte endlich zeigt ihn mit jener.ruhigen
Würde, die dem Charakter dieses Mannes entsprach, bereit, wenn seine Stunde schlägt, sich in sein Gewand zu hüllen und von
hinnen zu gehen? Die Ähnlichkeit zwischen diesen Zeilen und dm Aussprüchen Epikurs ist auffallend.
Leontion setzt das Gespräch fort. — „Die Alten," sagt sie,
„sind
alle gegen dich, denn selbst der Name Glücksphilosophie
bedeutet für' sie eine Herausforderung.
Sie kennen keine andere
Art Vergnügen, als das, welches sowohl Blüte wie Samen trug
trübseliges Aussehen
und
dessen
hat.
Was wir trocken nennen, heißen sie gesund.
welker Stamm
sicherlich
ein
Mchts darf
irgendwie Saft in sich behalten; ihr Vergnügen besteht darin, was
hart ist, zu kauen, nicht darin, was saftig und wohlschmeckmd ist,
zu kosten."
Landor, der sogar von Byron (siehe die Vorrede zur
Vision of Judgement) Tadel über die Frivolität seiner Gedichte hinnehmen mußte, leitet offenbar, wie Stuart MA es etwas später
hinsichtlich seiner Moral gethan, die Glücksphilosophie, zu der er sich bekmnt, von derjenigen des Heiden Epikur ab.
Indes springt das Gespräch nach rechts und links ab, ver weilt bald bei Ternissa's Errötm Statum
in
der Erinnemng an die
der Satyrn und Faune des Badegemaches, bald
Leontion's weiblichen
bei
Einwänden gegen Aristoteles und Theo-
1 Siehe den Artikel The centenary of Landor’s birth im „Exammer" vom 30. Januar 1875, verfaßt von dem hochbegabten Dichter und Kritiker
Edmund Gosse.
phrast, bis es, echt griechisch, erotisch und epikuräisch mit Epikur's und Ternissa's Aufführung der Szene zwischen Peleus und
Thetis und mit dem Kusse endigt, der zwischen ihnen gewechselt wird. In diesem Gespräche steht Landor auf der Höhe seiner Kunst
und seines
ruhigen Humanismus.
Gehen wir jedoch zu den
modernen Dialogen über, so lernen wir den Soldaten in ihm
kennen, den stets gewappneten, stets kampfbereiten Schriftsteller, der unter tausend verschiedenen Vermummungen jede Form von
Lüge und Unterdrückung bloßlegt und trifft, die ihn,
in seiner
Eigenschaft als Heide, Republikaner und Philantrop, zum An griffe reizt.
spräche"
Seine hundertundfünfundzwanzig „Erdichteten Ge
erstrecken
sich,
mit
erstaunlicher Gelehrsamkeit
durch
geführt, über den ganzen Erdkreis, von London bis China, von
Paris bis zu den Südseeinseln, bewegen sich durch die ganze Zeitenfolge der Geschichte, von Cicero zu Bossuet, von Crom well
zu
Petrarca,
von
Tasso
zu
Talleyrand,
um in
jedem
Lande und in jedem Zeitalter einen energischen Protest gegen die
Tyrannei zu erheben und für die Freiheit ein schwertscharfes Wort einzulegen.
Wir
belauschen die Kaiserin Katharina mit ihrer
Liebling-Hofdame in dem Augenblicke, wo der Mord an ihrem Ge
mahl begangen wird — der Dialog steht dem Bitet's in seinen
unvergleichlichen historischen Szenen, dem Ideal derartiger Dar stellung, nur wenig nach.
Wir hören Ludwig XVIII. mit dem
feinen, ironischen Talleyrand über Politik plaudern und bemerken,
wie das unbezwingliche Gelüste nach möglichst vielen Fasanen und Fasanmeiern sich als roter Faden durch die politischen Projekte
seiner bourbonischen Majestät zieht.
Wir sehen General Kleber
inmitten seines Stabes mit seinen Offizieren in Ägypten, und wir hören die Erbitterung über den Freiheitshaß Bonaparte's als ge dämpftes Murren aus ihren Reden klingen.
Wir wohnen der
Ermordung Kotzebue's bei und vernehmen von den Sippen Sand's
dessen Selbstfreisprechung, während er Kotzebue zum Verlassen der
eingeschlagenen Bahn zu bewegen versucht.1
Es gehörte zu Landor's politischem Katechismus, daß der
Unterdrücker durch das Schwert fallen müsse.
Er hat sein ganzes
Leben den Tyrannenmord gepredigt und scheute sich auch nicht, mit Leidenschaftlichkeit direkt und öffentlich den Wunsch der Er
mordung Napoleon III. auszusprechen.
Geistesverwandter
der
großen
Er war ein Freund und
europäischen Revolutionsmänner,
die, mit Mazzini an der Spitze, den Unterdrückern der Völker einen rücksichtslosen Haß geschworen hatten.
Doch nicht allein
als Politiker schießt er über das Ziel hinaus; der größte Teil seiner historischen Dialoge leidet ästhetisch unter der allzu deutlich
ausgesprochenen Tendenz; man sieht alle Augenblicke den Dichter selbst den Kopf hervorstrecken.
Schildert er z. B. Katharina von
Rußland in jenem furchtbaren Augenblicke, so kann er sich nicht enthalten» uns gelegentlich durch den Mund der Prinzessin Daschkof die Ruchlosigkeit von Voltaire's Charakter und die Immoralität
seiner „Puerile" zu zeigen, um so dem Leser den schlechten Ein fluß des französischen Geistes in Rußland fühlbar zu machen.
Denn bei aller seiner Geistesfreiheit ist er doch zu sehr der Eng
länder seiner Zeit, um nicht alles Schlechte zwischen Himmel und
Erde von Frankreich herzuleiten und einen Franzosen je anders als in einem lächerlichen oder verächtlichen Lichte darzustellen. Bringt er die Gespräche Ludwigs XVIII. mit Talleyrand aufs Papier, so kann
er es nicht lassen, die Satire so beißend, Ludwigs Albernheit so plump, Talleyrand's Haltung seinem Herrn gegenüber so ironisch zu gestalten, daß niemand an die historische Wahrheit zu glauben ver mag. Landor lechzt danach, die Engländer und Wellington rühmen
zu hören, Ludwigs Erbärmlichkeit deutlich dargethan zu sehen,
imb seine Feder ist ungeberdig genug, sowohl da- Lob Englands
1 Landor: Works I, 515, II, 189, I, 43, II, 4.
Republikanischer Humanismus.
247
wie den Spott über Ludwig dem klugen französischen Hofmanne in den Mund zu legen.
Er hätte in Bezug auf die Handhabung der satirischen Klinge von den verhaßten Franzosen gar manches lernen können.
Allein
er verachtete ebenso sehr ihre Poesie wie ihre Politik und schätzte Voltaire als Schriftsteller nicht weniger gering, denn als Charakter. Das
von ihm selbst geführte Gespräch mit Abb6 Delille
zeigt
ihn uns als Kritiker der französischen Tragödie, eine noch härtere Sprache als Lessing führend, und, gleich diesem, ohne Blick für
die große stilistische Begabung des französischen Geistes (Works I, 90).
Es macht einen wunderlichen Eindruck, jemand mit größt
möglichster Grobheit einem anderen vorwerfen zu hören, daß er allzu geschliffen sei.
Man wird es begreiflich finden, daß er bei solchem Urteil über die klassisch-französische Poesie ein großer Verächter Pope's, ein leidenschaftlicher Anhänger Milton's und ein erkürter Anhänger
der Wordsworthschen Reform der englischen Poesie war.
Fast
alle die vielen litterar-historischen und kritischen Gespräche, die in
den Dialogen vorkommen, laufen darauf hinaus, Wordsworth und Southey als Dichter zu verherrlichen und der Leserwelt ihren
Mangel an Verständnis gegenüber einer so erlesenen Poesie vor-
zuwerfen.1
Auch Keats und Shelley preist er in warmen Aus
drücken und bedauert, daß er keinen der beiden kennen gelernt,
besonders,
hältnis
zu
daß
eine
unwahre Geschichte
über Shelley's Ver
seiner ersten Frau ihn davon abhielt, Shelley in
Pisa zu besuchen.
Er sagt von Shelley, daß er das Feuer
des Dichters mit der Geduld und Toleranz
des Philosophen
verband, und meint, daß er an Edelmut und Wohlthätigkeit alle
lebenden Menschen
und
übertroffen
habe (I, 341).
Sobald
jedoch
1 Man sehe z.B. den Dialog zwischen Southey und Porson, I, 16, I, 68 vergl. I, 340, sowie die Übersicht über die englischen Dichter in
Miscellaneoua CXVI.
Republikanischer Humanismus.
248
die Rede auf Byron kommt, spricht er sich ganz wie ein Poet der Seeschule aus.
Der Mann, der da meinte, daß er mit der Feder
in der Hand mehr Macht in seinen zwei Fingern habe, als beide
Häuser des Parlaments besäßen, konnte Byron seine Spöttereien über
„Gebir" nie vergessen. Ebensowenig konnte er, der, trotz aller Un
einigkeit in Betreff des Politischen und Religiösen, eine so sonderbare
Freundschaft für Southey hegte, Byron je die Stöße verzeihen, die
er
seinem
bewunderten
Bewunderer
versetzt
hatte.
Das
Egoistische und Ruhelose in dem Wesen Byron's stießen ihn ab, doch Ivar es hauptsächlich das Verhältnis zu Southey, das ihn
beeinflußte und ihn für viele der besten Eigenschaften Byron's blind machte.
Überhaupt entstellt Southey das Leben Landor's,
und Forster's lange, unlesbare Biographie des letzteren ist doppelt unlesbar,
weil
die Briefe von und an eine so unintereffante
Persönlichkeit einen unverhältnismäßig großen Raum darin ein nehmen?
und
Allein Southey besaß in Landor's Augen die große
jedenfalls
seltene Tugend,
eine der beiden
die
zu sein, welche sein Gedicht „Gebir"
kauft und gelesen hatten,
Personen
bei dessen Erscheinen ge
de Quincey, die andere Person, er
zählt» daß in seiner Jugend auf dm Straßen Oxfords mit Fingern auf ihn als den einzigen Leser dieses Gedichtes gewiesen wurde.
Es ist also nur zu begreiflich, daß Southey, der es nicht bloß
kaufte und las, sondern es lobte, und der später in Quarterly Re
view Landor's nicht eben kurzweiligen Count Julian ehrenvoll besprach, dem der Bescheidenheit wenig zugethanen Dichter als
ein Mann von äußerst ungewöhnlicher Begabung erscheinen mußte.
Nichtsdestoweniger ist „Gebir" bei all seinem leidenschaftlichen Republikanismus ein steifes, schlechtes Gedicht, welches sichtliche Spuren
davon trägt,
einer höchst
bezeichnenden Grille
seines
wunderlichm seltsamen Verfassers zufolge, zuerst in lateinischm,
1 John Forster: W. 8. Landor, a biography.
Versen geschrieben zu sein.
Leben
hindurch
einen
Landor's Verse hatten sein ganzes
gewissen
lateinischen
Anstrich.
Selbst
Gosse, der sie bewundert, ist so gütig einzuräumen, daß der
Charakter von Landor's Versen, gleich dem Geschmack der Olive, ein so ungewöhnlicher sei, daß sie nicht zu goutieren noch keines
wegs ein Zeichen von Affektation zu sein brauche.
Nur in seiner
Prosa ist seine Stärke zu suchen.
Doch ein Dichter, dessen Versen es an Anmut des Ausdruckes und an lyrischem Schwünge gebricht, dessen Dramen weder gespielt noch gelesen wurden, und der sein eigentlichstes Gebiet erst in dem
breiten, nie zu einem Schauspiele verbundenen, nie einem Schauspiele
einverleibten Prosadialoge aus allen Enden der Welt und der Ge schichte fand, war, bei allem Adel der Gesinnung und aller Schärfe des
Radikalismus, nicht der Mann, der einen freisinnigen Umschwung in der öffentlichen Meinung Europas zu bewerkstelligen vermochte. Er stieß durch Wunderlichkeiten und Grillen ab, wie beispielsweise die, den von Nero angestisteten Brand Roms als eine hygienische Maßregel in Schutz zu nehmen (Works I, 41), oder die, Pitt als ein mittelmäßiges Talent und Fox als einen Charlatan zu bezeichnen,
oder die allerärgste, den Griechen zu raten, bei ihrem Kampfe mit
den Türken auf den Gebrauch der Feuerwaffen zu verzichten und zu ihrer alten Wehr, dem Bogen, zurückzukehren.
Er war zuviel
von einem Sonderling und Einsiedler, um Bewunderer und Nach
ahmer zu finden, er war viel zu wenig gemeinverständlich veranlagt, um bei der großen Menge durchzudringen, und blieb unpopulär
durch seine Tugenden wie seine Fehler, durch seine wilde Mann haftigkeit wie seine unbändige Arroganz.
Und konnte er auch nie,
wie Moore, sich gefügig erweisen, niemals Whigdichter werden,
so vermochte er doch andererseits auch nicht, seinen Radikalis mus so poetisch zu gestalten, daß er das Publikum mit sich fort gerissen hätte.
Indem er für die große religiöse, politische und
soziale Bewegung der modernen Zeit teilweises Verständnis besaß,
250
Republikanischer Humanismus.
bildet er mit den zwei jüngeren und größeren Männern, Shelley und
Byron, Eine Gruppe, und er diente der Idee wie ein tapferer und stolzer republikanischer Soldat.
Doch er war nicht zum Feldherrn
berufen; er war nicht imstande, ein Heer von Geistern sich zu unterwerfen und zu elektrisierend Er, der älteste der drei freisinnigen Landflüchtigen, überlebte
die beiden anderen, und lebte so lange, daß er dem jüngsten großen
Geschlechte englischer Dichter ein Zeitgenosse ward.
Browning
wurde sein Freund, Swinburne's innige Bewunderung versüßte dem Greise die letzten Jahre seines Daseins, und ihm wurde Swinburne's „Atalanta" mit herzlichen Worten zugeeignet.
So
scheint sein großer Schatten, die eine Hand in der Wordsworth's, die andere in derjenigen Swinburne's, Englands ganze poetische
Entwickelung während eines Zeitraumes von nicht weniger als achtzig Jahren zu umspannen. 1 Eine satirische Flugschrift, die er 1836 herausgab: „Letters of a Conservative, in which arc shown the only means of saving what is lest of the English church“ machte keinen Eindruck.
XVI. Wenn man im Jahre 1820 einen biederen und belesenen Engländer gefragt hätte: wer ist Shelley? so würde er, wofern er fähig gewesen wäre, eine Antwort zu erteilen, erwidert haben:
Es soll ein schlechter Poet mit abscheulichen Ansichten und
von
mehr
als
zweifelhaftem
Charakter
sein.
Die Quarterly
Review, die sich gerade nicht mit Klatsch abgiebt, sagt, sein Leben
sei „aus niedrigem Hochmut, kaltem Egoismus und unmännlicher Grausamkeit zusammengesetzt", und das auszeichnende Merkmal seiner Poesie bestehe in einer vollkommenen Sinnlosigkeit.
Jüngst
hat er ein Drama „Prometheus" herausgegeben, dessen Verse von der Zeitschrift als eine melancholisch-wirre Prosa, die überschnappt,
bezeichnet werden, und in der Presse herrscht nur eine Stimme, denn die Literary Gazette sagt von dem Buche: „Wäre man
nicht vom Gegenteile unterrichtet, man müßte es für ausgemacht be
trachten, daß dessen Verfaffer ebenso verrückt sei, als seine Prinzipien lächerlich schlecht sind; ist doch seine Poesie ein Gemisch von Unsinn,
Geckenhaftigkeit, Armseligkeit und Pedanterie." Hier steht es: „Dieses
stupide Gewäsch eines Deliriumträumers" — und mit flüsternder Stimme hätte der Mann vielleicht hinzugefügt: Es sind gar schlimme
Gerüchte über ihn im Umläufe.
Die Literary Gazette, die mit
den Feinden der Religion nicht eben glimpflich umzuspringen pflegt, deutet so etwas wie Blutschande an: „Welches Arg sollte solch ein Mann
daran
finden,
einen
verttauensvollen Vater seiner
Tochter zu berauben und in Blutschande mit allen Mitgliedern
Radikaler Naturalismus.
252
einer Familie zu leben, deren Sittlichkeit durch seine niedrige So phisterei untergraben worden?"
Selbst angenommen, diese Aus
drücke wären etwas stark, so ist es doch kaum glaublich, daß
sie unverdient
seien;
denn
Blackwood Magazine, die
einzige
Zeitschrift, die diesen Poeten etwas gnädiger behandelt, sagt von seinem „Prometheus", „ein pestilenzialischeres Gemisch von Gottes lästerung, Empörungsgeist und Sinnlichkeit könne es unmöglich
geben", und der ausgezeichnete Witz Theodor Hook's über das Buch ist Ihnen doch wohl zu Ohren gekommen: „Prometheus
ünbound“?
Das glaube ich gern, wer möcht' ihn binden lassen!'
Und hätte man zwei Jahre nach dem Tode dieses so-un günstig beurteilten Dichters sich an seinen Verleger gewendet, um
zu erfahren, ob seine so heftig angegriffenen Poesien nicht wenigstens Käufer gefunden hätten, so würde der Verleger sicherlich über das
schlechte Geschäft geklagt und dem Fragenden die Auskunft erteilt
haben,
daß
während
Shelley's
ganzem
Leben
keine hundert
Exemplare von irgend einer seiner Dichtungen („Queen Mab" und „Cenci" ausgenommen) abgegangen wären, ja daß, was „Ado-
nais" und „Epipsychidion" beträfe, von zehn Exemplaren zu reden noch zu hoch gegriffen sei.
Wie ganz anders würde jetzt die Antwort lauten, falls heu tigen Tages jemand ftagte, wer Shelley sei — doch heutigen Tages giebt es in England niemanden mehr, der so fragt.
Am 4. August 1792 wurde Englands größter Lyriker ge boren.
Am nämlichen Tage, an dem in Paris die Häupter der
Revolution, Santerre, Camille Desmoulins und andere, sich in
einem Hause auf dem Boulevard versammelten, um Verabredungen, die wenige Tage darauf den Sturz der Monarchie in Frankreich
herbeiführen sollten, zu treffen, kam in England zu Field Place in Suffex ein schönes Knäblein mit dunkelblauen Augen zur Welt,
1 Prometheus (Jnbound — it is well named, who would bind it!
NaLikaler Naturalismus.
253
dessen Leben von größerer und nachhaltigerer Bedeutung für die
Befreiung des Menschengeistes werden sollte, als alles, was im
Monate August 1792 in Frankreich geschah. Sein Name wurde — keine 30 Jahre später — auf dem Grabstein auf dem protestan
tischen Friedhofe zu Rom, unter welchem seine Asche ruht, einge
meißelt: Percy Bysshe Shelley, und diesem Namen wurden die
Worte hinzugefügt: Cor Cordium. Cor Cordium, Herz der Herzen, dies die schlichten, tiefen Worte, darein Shelley's junge Gattin den Inbegriff seines Wesens
faßte, die wahrsten und tiefsten, die über ihn gesprochen werden konnten.
Er war der Sprößling einer altadeligen, angesehenen Familie. Sein Vater war Baronet und im Besitze eines bedeutenden Ver mögens, aber ein beschränkter Mann, der Anhänger alles Bestehenden,
nur weil es bestand.
Dessenungeachtet war Unregelmäßigkeit ebenso
erblich in Shelley's Geschlecht, wie Wildheit und Gewaltthätigkeit in dem Byron's.
Der Großvater, ein aufgeregter, überspannter
Mann, hatte drei Frauen entführt, wie ihrerseits zwei seiner Töchter sich entführen ließen; Züge, an welche Begebenheiten im
Leben des Enkels gerade so gemahnen, wie man bei so mancher Handlung Byron's daran erinnert wird, daß eine Grundsumme
ungezügelter, rücksichtsloser Leidenschaftlichkeit sein unbestreitbares
väterliches
und mütterliches Erbe war.
Indes bildete die Un
regelmäßigkeit nur die äußerliche, wenig bedeutende Seite von Shelley's Natur und Existenz.
Sie war nur ein Symptom der
tiefen Empfänglichkeit und Weichmütigkeit, denen der Bettachter seines Lebens frühzeitig begegnet.
In der Schule ist er, selbst
mißhandelt, empört über die Mißhandlungen, welchen die schwächeren
und jüngeren Schüler nach englischem Brauch seitens der größeren
und der Lehrer ausgesetzt waren.
Opfer derartiger Roheit,
wie
Keiner scheint so wie er zum aller anderen Arten von Roh
heiten, die ihm später widerfuhren, ausersehen gewesen zu sein.
Denn alles, was gemein und dumm und schmutzig war, hegte eine natürliche Antipathie gegen ihn, und er fand sich niemals mit
irgend einem oder irgend etwas dergleichen ab. Man gewinnt eine deutliche Vorstellung von dem Eindruck, den er bei seinem ersten Hinaustreten ins Leben empfing, wenn
man ein versifiziertes Fragment liest, das nach seinem Tode auf einem Keinen Zettel gefunden wurde: Ach, dies ist nicht, was mir das Leben schien!
Wohl glaubt' ich an Berbrechen, Bosheit, Haß,
Auch hofft' ich nicht den Leiden zu entstiegn;
Doch in des eignen Herzens Spiegelglas Sah ich die Herzen andrer —
Er wappnete, sagt er, sein Herz mit einem dreifachen Panzer
ruhiger Standhaftigkeit.
Doch der passiven Widerstandskraft ging
bei ihm die leidenschaftliche Entrüstung voran.
Dies Herz, das
er mit Ausdauer wappnete, war zu schwärmerisch und heiß, um nicht Angriffspläne hinter seiner Ringmauer zu hegen. In der Einleitnng zur Empörung des Islam gedenkt er der
Stunde, da sein Geist zuerst aus seinem Schlummer erweckt wurde: Ein Morgen war's im Mai, die jungen Saaten
Glänzten von Thau — da brachen Thränen vor; Nicht wußt' ich anfangs, welchem Schmerz sie galten. Da nahten aus der Schule meinem Ohr
Die Stimmen einer Welt voll Leid — sie hallten
Mir zu dem grimmen Streit tyrannischer Gewalten. Ich rang die Händ' und blickte um mich, doch War niemand da, zu spotten meiner Thränen,
Die gierig der besonnte Boden sog —
Da sprach ich: „Darf die Macht ich in mir wähnen, Gerecht zu sein, und weis' und mild, und frei,
So will ich's werden, denn zu schau'n verdrossen
Bin ich, wie Stärk' und Selbstsucht sonder Scheu
Bedrücken stets."
Nicht mehr die Thränen stossen,
Mein Herz ward ruhig, und zum Kampf war ich entschlossen.
Das Geschlecht, das gleichzeitig mit der ersten französischen
Republik und unter denselben Sternen geboren ward, reifte früh
zur Kritik der ganzen bestehenden Überlieferung heran.
der
schon
in
der Schule Unterdrückungssucht
und
Shelley, erheuchelte
Religiosität einander gesellt sah, und dem schon frühzeitig die
Schriften französischer Encyklopädisten, sowie die Hume's, Godwin's
und
anderer Freidenker in die Hände kamen, stellte schon als
halber Knabe über die Geschichte, die Endzwecke und Verirrungen
des Menschengeschlechtes, jugendlich aber frei, im Geiste des acht zehnte» Jahrhunderts seine Betrachtungen an.
Wessen seine Kameraden sich später aus seiner Jugend er war die Außerachtlassung der schuldigen Pietät und
innerten,
„daß
Loyalität,
sprach." oder
er schlecht von seinem Vater und dem Könige
Unter den Knaben wurde er allgemein der „tolle Shelley"
„der Atheist Shelley" genannt, und so knüpfte sich zum
erstenmale
an
feinen Namen
jenes
gehässige Wort,
das sein
Lebenlang daran gekoppelt bleiben sollte, damit wieder daran jeder Hohn und Unglimpf sich hefte. Es ist überflüssig, bei jenen Vorkommnissen im Leben Shelley's zu verweilen, mit denen jeder, der seinen Namen gehört, wenigstens
oberflächlich vertraut ist: wie er als achtzehnjähriger Student die drollige Gepflogenheit hatte, seine religiösen, politischen und sozialen
Zweifel in Briefform niederzuschreiben, und diese Briefe verschie
denen mehr oder minder bekannten Personen, die er jedoch persön lich nicht kannte, mit der Bitte zuzusenden, dieselben und die Argumente, wider die er für seinen Teil keine Gegengründe zu finden vermöchte» zu widerlegen; wie aus diesen Briefen, welche größtenteils Aus
züge aus den Werken Hume's und der französischen Materialisten enthielten, eine kleine, nun verschwundene anonyme Schrift, „Die Notwendigkeit des Atheismus", entstand, welche, mit einem Q. E. D. schließend, von Shelley in der naiven Hoffnung,
auf das Be
wußtsein der Zeitgenoffen reformierend zu wirken, dem bischöflichen
Obergericht zugestellt wurde. bekannt.
Was hierauf erfolgte, ist gleichfalls
Er wurde als Verfasser denunziert, aus der Universität
Radikaler Naturalismus.
256
gestoßen, aus dem Vaterhause verwiesen.
Wir glauben heutigen
Tages nicht mehr, daß eine ernsthafte, wissenschaftliche Überzeugung,
wie sie auch laute, dem, der sich zu ihr bekennt, eine beschämende Strafe zuziehen dürfe.
Doch doppelt widersinnig wird die Strafe,
die Shelley traf, dadurch, daß er in Wirklichkeit in der Broschüre,
deren Hauptinhalt die Noten zu „Queen Mab" bilden, nicht mehr Atheist ist, als es z. B. H. C. Oersted in seinem bekannten Buche
„Der Geist in der Natur" war.
Er hat zu jener Zeit keinerlei
folgerichtige, zusammenhängmde Lebensanschauung, ist sich nur über
den einen Hauptpunkt klar, ein Anhänger irgend
einer positiven
Religion weder zu sein, noch jemals werden zu können.
übrigen
aber
verschmelzen
Im
sich materialistische Eindrücke seiner
Lektüre mit einem schwärmerischen Pancheismus, den er niemals
aufgab.
Als Trelawny in Shelley's Todesjahr ihn frug: Weshalb
haben Sie sich selbst einen Acheisten genannt? entgegnete Shelley: Ich gebrauchte das Wort, um meinen Abscheu vor Aberglauben aus zudrücken. Ich nahm es auf, wie ein Ritter in alten Tagen einen
Handschuh aufnahm, um der Ungerechtigkeit zu trotzen. Shelley war schmächtig und hochaufgeschossen, schmal in den Schultern, die Züge unregelmäßig, doch der Mund ungewöhnlich schön, anziehend und sinnig, das Auge weiblich und fast seraphisch
in seinem Blick, der Ausdruck unendlich bewegt und wechselnd, bald als zähle er nicht mehr als seine 19, bald als sei er 40 Jahre alt. In den zehn Jahren, die ihm noch zu leben vergönnt waren, wurde
seine Erscheinung männlicher, dennoch machte er mitunter einen
halb knabenhaften, halb weiblichen Eindruck.
Daher Trelawny's
Erstaunen bei seiner oftmals geschilderten ersten Begegnung mit
Shelley.
War es möglich, konnte dieser bartlose Jüngling mit
den sanften Zügen
das Ungeheuer sein, das mit der Welt in
Fehde lag, der Gründer einer satanischen Schule in der Litteratur,
wie seine Rivalen ihn beschuldigten?
Zu jener Zeit trug sein
Antlitz, dessen vorherrschendes Gepräge Raschheit und Bestimmtheit
war, einen wechselnden Ausdruck von Ernst, Freude, rührender Trauer und gleichgültiger Müdigkeit.
Es stimmte derselbe häufig
zu den Worten in seinem Gedichte an Edward Williams: Des Hasses bin ich stolz, des Hohns zufrieden; Gleichgültigkeit, die einstens mich verletzt. Ist mir sogar gleichgültig worden jetzt.
Übrigens sah er, um den Ausdruck eines seiner Jugendfreunde zu gebrauchen,
übernatürlich begabt aus,
und Mulready, ein
damals berühmter Porträtmaler, erklärte es für unmöglich, Shelley zu malen, er wäre „gar zu schön." Als einen Jüngling von dem Wesen, wie wir es hier zu be
schreiben versuchten, exaltiert wie ein Poet, mutig wie ein Held, scheu und errötend wie ein junges Mädchen, leicht und behend wie Shakespeare's Ariel müssen
Freunden von ihm:
wir
ein- und ausgehend denken.
uns
Shelley
bei
seinen
Frau Williams äußerte
Er kommt und geht wie ein Geist.
Niemand weiß
wann und wohin. Seine Gesundheit war sein ganzes Leben hindurch unerträg
lich schwach und würde wohl kaum widerstandsfähig gewesen sein, hätte er nicht die strengste Diät beobachtet; von seinem zwanzigsten Jahre an huldigte er mit zweifelhaftem Nutzen dem Vegetaria nismus.
Er hatte Anlage zur Schwindsucht; er litt beständig an
Nerven- und Krampfanfällen so heftiger Art, daß er sich zuweilen
vor Schmerzen auf dem Boden wähle und häufig Opium nahm, um sie zu lindern.
Zu Zeilen, wenn er besonders heftig litt, kam
die Opiumflasche nicht aus seiner Hand.
Als er 1816 die Spitäler
zu London besuchte und Medizin studierte, um die Armen pflegen
zu können, wurde er selbst ernstlich krank, wobei ihm ein hervor ragender Arzt prophezeite, er würde an Schwindsucht sterben.
Seine Brust kräftigte fich indes nach einigen Jahren.
Infolge
seiner Besuche bei den Armen in ihren verseuchten Dörfern zog
er sich eine gefährliche Augenentzündung zu. Brandes, Litteratur de- 19. Jahrh. VI.
Dieselbe befiel ihn 17
Radikaler Naturalismus.
1817 neuerdings und 1821 abermals, so zwar, daß er währmd ihrer Dauer nicht lesen durfte.
So teuer bezahlte er die hochgespannte Menschenliebe, die
ihm Religion war.
Sie war überallhin seine Begleiterin.
Als
er zu Marlow in England wohnte, verwandelte er trotz seiner
spärlichen Einkünften alle Armen der Gegend in seine Pensionäre; sie kamen allwöchentlich zu ihm und erhielten ihren Sold. saß
an ihrem Bette,
konnten.
wenn sie krankheitshalber nicht kommen
Einmal kam er barfuß bei einem seiner Nachbarn auf
dem Lande an. schenft.
Er
Er hatte einem armen Weibe seine Schuhe ge-
Aus eigenem Antrieb verzichtete er zu gunsten seiner
Schwestern nahezu auf sein ganzes Erbe und zwar sofort nach seiner Vertreibung aus Oxford, und als sich später sein jährliches
Einkommen auf ungefähr 1000 Pfund belief, wanderte dasselbe
fast vollständig direkt in anderer Menschen Taschen, besonders
in die bedürftiger Schriftsteller, deren Schulden er bezahlte, und denen er ein sicheres Auskommen mit einer Mildthätigkeit und
einem Edelmut schaffte, die in gar keinem Verhältnis zu seinen
Mitteln standen. mißverstandener
Folgendes die Geschichte seiner ersten Ehe: Aus und
übertriebener
Ritterlichkeit
entführte
er,
19 Jahre alt, ein sechzehnjähriges Schulmädchen, das leidenschaftlich in ihn verliebt war und sich über die Mißhandlungen ihres Vaters
beklagte.
Dieser wollte sie die Schule zu besuchen zwingen (!) und
die Liebschaft mit Shelley nicht gestatten.
Nach einigen Zusammen
künften lief Shelley mit Harriet Westbroock nach Schottland auf
und davon und verheiratete sich mit ihr in Edinburgh. • Den vielen harten Angriffen gegenüber, denen der Dichter aus diesem Grunde ausgesetzt war, dürfte die Äußerung Roffetti's hier am Platze sein,
daß nicht eben viele junge, reiche, christliche Barone sich mit der Tochter eines ehemaligen Gastwirtes, die sich selbst erboten hatte, ihnen als Geliebte zu folgen, vermählt haben würden.
Diese
übereilte und aus unreifen Beweggründen geschlossene Ehe ge-
stattete sich unglücklich.
Sie wurde aufgelöst, als Shelley 1814
die 17 jährige Mary Wollstonecraft Godwin kennen lernte und eine
unwiderstehlich heftige Neigung , zu ihr faßte.
Sie, eine Tochter
der ersten berühmten Verfechterin der Frauen-Emanzipation und des radikalen Verfassers jener Schriften, die in Shelley's Jugend
so tiefen Einfluß auf ihn geübt hatten, schenke ihm ihre Liebe frei und warm und befand sich, als sie ihm ihr Jawort gab, in
Übereinstimmung mit ihrem eigenen Moralgesetz.
Beider An
schauungen über die Ehe waren allzu ideal, um nicht vom Pöbel für pöbelhaft gehalten zu werden, doch im wirklichm Leben un
praktisch und undurchführbar.
Obgleich gegenseitige Liebe und
keine kirchliche oder bürgerliche Formalität beiden als das einzig heilige eheliche Band galt, beschlossen sie das Jahr darauf aus plastischen Gründen und um ihrer Kinder willen, sich trauen zu
lasten.
Sie verließen England, um erst eine kürzere Reise nach
Frankeich, die fast gänzlich zu Fuß zurückgelegt wurde, hierauf jene größeren Reisen zu unternehmen, auf denen Shelley's Name
sich mit dem Byron's verknüpfte, während die Wut der englischen Presse gleichmäßig über beide herfiel, ja so weit ging, daß das
Gerücht ihrer schönen, männlichen Freundschaft eine schändliche Auslegung lieh.
Zu einer wahren Explosion bot Southey der unbedeutende, harmlose Umstand Anlaß, daß Shelley in einem steinen Berg
häuschen auf Montanvert am Chamonixthale unter eine lange Reihe von süßlich frömmelnden Ergüssm über die Natur und
den Gott der Natur die äußerst unorthographische Hexameterzeile
gesetzt hatte: equ cptlävd-Qümoc d^toXQäzixoc
t
ä&eoQ ze. Percy B. Shelley.
Zu deutsch: Ich bin ein Philankop, ein Demokat Und ein Atheist. Southey's vorerwähntes Manifest gegen Byron nahm hiervon 17*
seinen Ausgangspunkt. Dies in wenigen Worten die Ouvertüre zu Shelley'- Leben und Dichtung. Cor cordium wurde er mit Recht genannt. Das heißt, was er verstand und fühlte, das war der Mittelpunkt und Kern der Dinge, deren Geist, deren Seele, und die Gefühle, denen er Aus druck gab, es waren jene allerinnigsten, für welche das Wort zu grob erscheint, die in Musik sich Lust machen oder, wie bei ihm, in Versen, die ebenso musikalisch sind wie reich harmonisierte Melodien. Die verhaltene Wehmut in Shelley'- Lyrik erinnert zuweilen an die Shakespeare'-; das kleine Lied der Spinnerin in The Cenci z. B. an die Lieder des Narren in „Was ihr wollt" oder an die Weisen Desdemonas und Ophelias. Wo er jedoch am meisten er selbst ist, da läßt er Shakespeare an Zartheit hinter sich, läßt er sich überhaupt mit keinem anderen Dichter vergleichen, denn Höheres hat keiner geleistet. Die Keinen Gedichte aus dem Jahre 1821 und 1822 dürften die vorzüglichsten sein, welche die englische Sprache hervorgebracht. Ebenso wundervoll durch ihre Melodie wie durch die Zurück haltung des Ausdruckes ist eine Strophe wie die folgende: One word is too osten profaned For me to profane it; One feeling too falsely disdained For thee to disdain it; One hope is too like despair For prudence to smother; And pity from tliee more dear Than that from another.
Der Worte sind nicht gar viele, noch ist die Versbehandlung besonders eigenartig, doch keine Zeile könnte hier von einer anderen Hand als der Shelley's stammen. In diesen kleinen Gedichten äußert sich die Melancholie bei ihm, die in den größeren Dichtungen verschleiert oder von seinem
lichten Zukunftsglauben, den für die Menschheit gehegten strahlen
den Hoffnungen, bezwungen wird. In seinem eigensten, innersten Wesen war er durch das Be
wußtsein der Wandelbarkeit aller Dinge, durch die frühzeitig ge machten Erfahrungen, wie sehr das Gefühl irreleite, die Liebe enttäusche, daS Leben trüge, von tiefer Wehmut erfüllt.
Unver
gänglichen Ausdruck hat er diesem Bewußtsein in dem Gedichte
Mutability gegeben: Die Blume, die heut' sich entfaltet, Schon morgen verblüht:
Und was wir uns dauernd wünschen,
Reizt und entflieht. WaS sind die Freuden der Welt?
Ein Blitz, der die Nacht erhellt, So flüchtig wie glänzend. Tugend, wie ist sie so schwach!
Freundschaft, ein Scherz! Lieb', wie sie armselig Glück Tauscht um stolzen Schmerz!
Doch wir, ob sie bald auch entschweben, Ihre Freuden und alle- überleben. Was unser wir nennen. Während die Blumen noch fröhlich schimmern Und der Himmel lacht.
Während Augen den Tag erheitern Und wechseln vor Nacht,
Während trüg' ruhiger Stunden Lauf
Träume und dann wache auf Vom Schlummer, zu weinen.
Die erste Strophe weist auf die Flüchtigkeit aller Schönheit und
Freude des Erdenreiches hin: Alles, wovon wir wünschen, daß es
bleibe, entflieht.
Die zweite gedenkt des Schmerzes, der sich selbst
in der Freude birgt:
wie hinfällig die Tugend, wie selten die
Freundschaft! Welche karge Wonnen und welch heftige Verzweiflung schafft die Liebe! Und sie gedenkt der größten aller Qualen: wie kurz auch die Freude währt, wir überleben sie und alles, was wir
unser nennen.
Die letzte Strophe endlich sagt: Träume denn, so
lange der Himmel klar, das Leben hell erscheint, und erwache dann zu Thränen!
Eine verwandte Stimmung ist in dem unvergleichlich herr lichen Gedichte ausgedrückt, das den einfachen Titel Lines trägt
und mit den Worten When the lamp is shattered beginnt.
Shelley hätte dasselbe nicht schreiben können, wenn nicht eine Schwärmerei nach der anderen in seinem Leben sich in Ranch aufgelöst hätte, wenn nicht nacheinander der Leidenschaft für Harriet, für Mary, für Emilia Viviani ein schmerzliches Erwachen gefolgt
wäre.
Gleichwohl trägt das Gedicht nicht das Gepräge irgend
welchen persönlichen Bekenntnisses.
Es ist durchaus eine schmerz
lich bewegte Verkündigung des allgemeinen Lebensgesetzes, erst leise gesummt, dann aber mit einer Stimme gesungen, die ihresgleichen
sucht.
Die erste Strophe lautet: Wenn die Leuchte zerschmettert,
Das Licht im Staube versprüht; Wenn di« Wölk' sich entwettert. Der Regenbogen verglüht;
Wenn die Laute zerbrochen. Der teure Ton achtlos verhallt:
Wenn die Lippen gesprochen,
Wird die Stimme vergessen bald.
In der dritten Strophe kommen nachstehende Zeilen vor,
die
bündig sind, wie die Rhetorik Pope's und melodisch wie Tatte
Beethoven's:
0 love, who bewallest The frailty of all things here, Why chose you the frailest For your cradle, your home, and your hier? Und das Gedicht schließt mit der folgenden Prophezeiung, itt
welcher man das verheerende Stürmen der Leidenschaft vernimmt: Seine Leidenschaft wird dich wiegen Wie die Raben des Sturmes Getümmel;
Der Helle Verstand wird dich trügen Gleich der Sonne am Winterhimmel. Dein Nest wird verrotten;
Du Adler wirft bloß dastehen Bor der Menschen giftigem Spotten, Wenn das Laub fällt, die Eiswinde wehen.
Zm stärksten Widerstreite zu dieser unsagbaren Innerlichkeit scheint
bei Shelley die Eigentümlichkeit zu stehen, die jedem, der ihn nur
aus Anthologien kennt, auf den Lippen schweben dürste, daß näm lich seine berühmtesten lyrischen Dichtungen einen außerhalb des Gefühlslebens, ja außerhalb der Menschenwelt liegenden Vorwurf haben, von Wind und Wolken, von dem bewegten Leben der äußeren Elemente, von der unermeßlichen Freiheit und Sturm
gewalt des Wassers und der Winde handeln. logische und kosmische Poesien.
Es sind meteoro
Allein es liegt kein Widerspruch
darin, daß der innerlichste Lyriker zugleich anscheinend der äußer
lichste ist.
Wir finden die Ursache in einer kleinen Abhandlung
Shelley's, welche den Titel „Über die Liebe" führt, angegeben.
Er schildert das Wesen der Liebe
als einen unwiderstehlichen
Drang nach Sympathie.
„Wenn wir denken, wollen wir verstanden werden; wenn unsere Einbildungskraft gestaltet, wollen wir die luftigen Kinder
unseres Hirns , in dem Gehirne anderer wiedergeboren sehen; wenn wir fühlen, wollen wir nicht, daß Lippen aus starrem Eis Lippen
antworten, die von dem besten Blute des Herzens beben und
glühen.
Dies ist Liebe. Einen Geist zu entdecken, der den unserigen
zu würdigen vermag, eine Einbildungskraft, die einzugehen ver
mag auf die feinen und starken Eigentümlichkeiten, die im. Stillen zu hegen und auszugestalten uns zur Freude gereichte, das ist der
unsichtbare und unerreichbare Punkt, dem alle Liebe zustrebt.
So
kommt es, daß wir in dem verlassenen Zustande, in dem wir uns,
von Menschen , umgeben, die nicht mit uns sympathisieren, befinden,
Blumen, grüne Matten, die Wasser, den Himmel, die Beredsamkeit der Winde und die Melodie der Wogen mit dem gleichen Entzücken lieben,
mit welchem wir der Stimme einer Geliebten lauschen,
wenn sie einzig uns ihr Lied singt." In einer Note zur „Fee des Atlas" bemerkt Frau Shelley
gleichfalls, daß die Gewißheit, weder Sympathie noch Beifall bei seinen Landsleuten zu finden — gepaart mit der Scheu, durch Vertiefung in die Leidenschaften die eigenen Herzenswunden auf
zureißen, ihn dazu getrieben habe, Vergessenheit in bett lustigen
Flügen der Phantasie zu suchen. Doch jener tiefe Drang nach einer Sympathie, welche die um
gebende Menschenwelt ihm versagte, gestaltete seine Auffafiung der Natur zu einem nie zuvor gesehenen feurigen Buhlen um die Natur und verlieh derselben ihre tiefe Originalität.
erhört war dergleichen in der englischen Poesie.
Un
Pope's steift
Kunstschule war von der Seeschule abgelöst worden.
Pope hatte
die Lust mit Affektation parfümiert; die Seefchule hatte der ftischen
Atmosphäre der Berge und der Seen weit die Fenster geöffnet, doch Wordsworth's Naturliebe war leidenschaftslos, was er auch
anders Lautendes in Tintern Abbey gesagt hat.
Die Natur war
ihm ein Labsal und ein Stoff für protestantische Nestexionen.
Das
bescheidenste Blümchen, welches ihm Gedanken eingab, die
ost z« tief für Thränen lagen/ er nahm es in sein Knopfloch,
schmückte sich damit und betrachtete es hie und da mit stiller Würde, über einen Vergleich nachsinnend.
Shelley stürzt sich in
die Natur, als die Menschenwelt sich ihm verschließt.
Deshalb
empfindet er sie nicht wie andere außer sich als kalt, als gleich gültig oder grausam.
Ihre steinharte Ruhe dem Wohl und Wehe
der Menschen gegenüber, ihre göttliche Fühllosigkeit gegenüber
1 To me the meanest flower that blows can give Tdughts that do osten lie too deep for tears. Poet. W. III, 322.
unserem Leben und unserem Tode, unseren kurzen Triumphen und langen Qualen, ist ihm Milde im Vergleich zu der Dummheit und Roheit des Menschengeschlechtes.
Er verhöhnt in „Peter
Bell III." Wordsworth, weil er die Natur als eine Art geistig Verschnittener liebe, der nie gewagt, ihr den Gürtel zu lösen: er selbst liebe sie, wie man eine Geliebte liebt, er verfolge ihre heim
lichsten Schritte wie ihr Schatten, sein Puls schlage in geheimnis vollem Mitgefühl mit dem ihren.
Er gleicht selbst seinem Alastor,
dem Geist der Winde und der Luft mit strahlendem Auge, frischem
Odem und flüchtigem Fuß.
Er nennt Tiere und Pflanzen seine
geliebten Brüder und Schwestern und bei seiner liefen Empfänglich
keit, seiner zitternden Feinfühligkeit, vergleicht er sich unter den
Tieren dem Chamäleon, unter den Pflanzen der Mimose.
In
einem seiner Gedichte spricht er von den Chamäleons, die, von
Licht und Luft, wie die Dichter von Liebe und Ruhm lebend, wohl zwanzigmal des Tages nach jedem Sonnenstrahle die Farbe
wechseln, und vergleicht das Dasein der Dichter auf dieser kalten
Erde mit dem Leben, welches jene führen würden, wenn sie in einer Höhle unter dem Meere eingeschlossen wären.
In einem
anderen weltberühmten Gedichte erzählt er, wie die Mimose im Garten wächst, wie der Wind sie nährt mit Silbertau, und wie sie
sich schließt unter dem Kuß der Nacht. Und jegliches Blümchen rings umfloß Das Licht und der Duft, die sein Nachbar ergoß.
Wie die liebe Jugend beim zärtlichen Kuß Den Atem teilet in Wonnegenuß.
Die Mimose nur, die wenig verstand. Zu künden der Liebe verzehrenden Brand, Empfing mehr als alle und liebte mehr.
Als ihr geben konnte der Liebe Gewähr. Denn ach, sie besitzt nicht duft'ge Bluten, Die herrlich in schimmernden Farben erglühten ;
Sie liebt wie die Liebe, ihr Herz ist voll, Sie ersehnt, was ihr fehlt: der Schönheit Zoll!
Noch eigentümlicher, noch persönlicher tritt Shelley's innerstes
Wesen, das Herz seines Herzens, wie die schwersten Geschicke es
formten und prägten, in der herrlichen Elegie auf Keats hervor, verfaßt in dem glühenden Zorn, der über den niederen Angriff der Quarterly Review in ihm entbrannte.
Wenn man diese
feinen melodiösen Strophen in einer anderen Sprache wiedergiebt,
wird man, so trefflich die Umdichtung auch sein mag, unwillkürlich
daran gemahnt, daß Shelley in einem Essay jeden Versuch einer solchen mit dem thörichten Beginnen vergleicht, ein Veilchen in
einen Schmelztiegel zu thun, um seines Geruches und seiner Farbe habhaft zu werden.
Shelley schildert, wie die Dichter aller Zeiten
sich zur Totenklage einfinden: Und einer unter den Geringren geht, J Ein Fremdling unter Menschen, schmerzgebeugt,
Allein, gleich letzter Wolke, wenn ausweht
Das Wetter; seinem Aug' sich hat, mir deucht, Die nackte Schönheit der Nalur gezeigt Wie einst Attäon.
In die öde Weis
Der Welt mit schwachen Schritten er entweicht,
Verfolgt von der Gedanken wilder Meute: Der ihnen Vater war, den Hetzen sie als Beute.
Em Geist, gleich einem Panther schnell und schön — Liebe gehüllt in Kummer — eine Macht
Bon Schwäch' umgeben — fast möcht' er vergehn In Ohnmacht von der Stunden schwerer Tracht;
Fallender Siegen; Licht, vergehend in Nacht; Brechende Wog' ist er; selbst wie wir reden.
Sinkt er nicht hin?
Die Sonne tötend lacht
Auf welke Blumen; lebensvoll sich röten
Die Wange tarnt, indes das Herz in Todesnöten. Sein Haupt umkränzt mit welker Beilchetr Blässe,
Und mit verblühendem Vergißmeinnicht; Ein Speer, gekrönt vom Zapfen der Cypresse,
Um dessen Schaft sich dunkler Epheu flicht,
Dran noch des Thaues Tropfen funkeln licht.
Bebt in der. Hand, wie von des Pulses Stoß Die Hand, der für so leichte Last gebricht
Die Kraft beinah — er kam gefährtenlos. Verlassen wie ein Reh, verletzt vom Jagdgeschoß.
Sie standen fern, durch ihrer Thränen Schauer Stilllächelnd.
Sie erkennen ihn, der sang
In fremdem Lose seine eigne Trauer, Wie jetzt in unbekannten Tönen klang
Sein Klagelied.
Urania forschte bang
Und stumm: Wer bist du? Antwort nicht entfloß
Dem Fremden, doch im roitben Schmerzesdrang Die Stirn, gezeichnet, blutig, deckt er bloß,
Gleich Kains oder Christus' Stirn.
Daß so sein Los!
Mit Aktäon vergleicht sich Shelley hier, den der Anblick der nackten Schönheit der Natur zerrissen hat.
Offenbar bedurfte es
seiner ganzen Willenskraft, um mit einem so zarten, gebrechlichen Körper nicht den Traumgebilden und Sinnestäuschungen, die ihn
heimsuchten, zu unterliegen.
So manches Mal war ihm, als
drohten die Gesichte, die sich seiner Einbildungskraft aufdrängten, sein Hirn zu sprengen, und wenn er dann in fremden Landen, im Exil, Linderung in der Einsamkeit suchte, erlebte er Natureindrücke,
wie jene, die er in den hinreißenden „Zeilen, in einer trüben
Stunde in Neapel geschrieben", festgehalten hat, Zeilen, die als die
Quintessenz von Shelleys ganzer Poesie betrachtet werden können. Er schildert nicht die Landschaft, er schildert überhaupt nie.
Er
beschreibt nicht die äußeren Formen und Farben der Dinge, doch
er empfindet mit äußerster Empfänglichkeit, was wir den Geist,
die Seele der Dinge genannt haben.
Mit wenigen Strichen zeichnet er das Bild des Golfes: Die Sonn' ist warm und still die See, Mit Lächeln blickt der Himmel drein. Der Insel Blau, der Berge Schnee
Umkränzt der goldne Abendschein. Wie Sternenflut, der Wellen Blau
Hinplätschert leis zum Uferrand. . . Der Flut entblitzt wie leuchtend Erz Ein Funkeln, und im Abendbrand Entsteigt ein Klingen uferwärts. —
Ach! ruft er auS: Wie süß, erbebte nur wie meins ein einzig Herz!
Weh mir, ich hab' nicht Glück noch Ruh', Noch Frieden in des Herzens Nacht, Noch fiel mir jener Reichtum zu,
Den Weisheit bringen und Bedacht,
Gekrönt mit inn'rer Glorie Pracht. Nicht Ruhm, noch Macht, nicht Lieb und Heil — Ach, andern hat das all' gelacht;
Sie sagten jedem Tag: „Verweil!" Mir ward des Lebens Kelch nach anderm Maß zu Teil. Doch hier ist selbst Verzweiflung lind
Wie Abendrauschen, Meer und Fluß;
Fortweinen wie ein müdes Kind Möcht' ich das Leben voll Verdruß,
Das ich ertrug und tragen muß,
Bis mir der Tod den Schlummer bringt, Bis in der Lüfte warmem Guß Mein Geist ins weite All verklingt.
Und meinem Ohr das Meer sein letztes Murmeln singt.
Diese Worte enthielten eine Weissagung. Doch noch prophetischer sind diese: Wohl hör' ich zürnen, ich sei feilt,
Daß ich gestört in dunklem Sinn Mit einem Herzen, trüb und alt, Auch dieser Stunde Hochgewinn.
Zürnt nimmer!
Denn von Menschen bin
Ich nicht geliebt und doch beklagt,
Und gleich dem Tag, der, wenn dahin,
Sein Glanz, der prächtig uns getagt. Voll Lust und Freude ganz noch im Gedächtnis ragt.
Selbst in der Übersetzung vermag die unendliche Schlichtheit und
Herzlichkeit des Ausdrucks sich nicht zu verwischen. Er, über dessen
sterbendes Hirn grausame Wogen so bald zusammenschlagen sollten, fühlt mit der sanftesten Wehmut sein Wesen sich in die wohl thuenden Elemente der Natur auflösen und vergleicht sein Dahin
scheiden mit dem Erlöschen des herrlichen südländischen Sommer tages.
Er liebt die Natur nicht allein in ihrem Aufruhr wie
Byron, sondern schlichten, einfältigen Gemütes liebte er ihre Ein fachheit, ihre heilige Einfalt.
Doch dieser Zug ist nicht der am wesentlichsten bezeichnende.
Es tritt ein anderer hinzu.
Selbst titanisch und gigantisch ver
anlagt, liebt er die titanische und gigantische Schönheit der Natur,
und auch hier wieder auf eine ganz andere Weise wie Byron. Nicht die handgreifliche und leicht zugängliche Poesie der Natur, wie sie sich in den Blumen oder dem Wälde offenbart, besingt er.
Nein,
seine hochfliegende Seele berauscht sich zumeist an dem Erhabenen
und Fernen, an den breiten Bewegungen der Elemente, dem Tanze der Welttörper durch den Himmelsraum.
In dieser Verttautheit
mit den großen Gestaltungen und großen Wandlungen der Natur gleicht Shelley Byron, allein er gleicht ihm wie ein blonder
Genius einem entsprechend brünetten, wie Ariel dem Flammen
bringenden Engel des Morgensternes gleicht. Für Byron gipfelte die Poesie der See in der Poesie des Schiff
bruches, im Kampf und Nasen von Wirbelwind und Wetter, im Gebrüll des Meeres nach mehr und immer mehr Beute. Für Byron gipfelte die Poesie des Himmels in der Vorstellung von Sturm
geheul, Donnerhall und dem Zischen der Blitze. Er lebt mit und in
der verheerenden Natur. Der berühmte Passus im vierten Gesang
des „Childe Harold": „Noll an, tiefblauer Ozean, roll an!" jauchzt
dem Meere zu,
das Flotten von seinem Busen fegt, Kaiser
reiche in seine Tiefen spült und eine Blase aufsteigen läßt auf
seinem Spiegel als einziges Zeugnis, daß ein Mensch versank.
Dieser Paffus ist wie ein Vorspiel zu der gewaltigen, prachtvollen Sintflutvision, welche, „Himmel und Erde" genannt, ein Dithyrambos der Zerstörungslust ist.1
Man lese hierauf Shelley'- berühmtes Gedicht „Die Wolke."
1 Swinburne, der in seinem kleinen, meisterhaften Essay über Byron auf das Naturgebiet, das letzterer mit Shelley gemein hat, hinweist, hat den Gegensatz, der trotz der Ähnlichkeit vorhanden ist, unerwähnt gelassen.
270
Radikaler Naturalismus.
Alle elementaren Kräfte der Natur hört man darin tollen und scherzen, mit reckenhafter Lust, mit gigantischer Wohlthätigkeit und
Freigebigkeit gegen die Erde.
Welche stürmische Frische in dem
Gesang der Wolke, wie sie den dürstenden Blumen erquickende
Regenschauer aus den Seen und Strömen bringt, wie sie leichte Schatten über die Blätter wirft, die in Mittagsträumen ruhen.
Ausgelassen
ist sie,
wenn sie den Flegel peitschenden
Hagels
schwingt oder Schnee über die Berge unten streut, auf daß sie,
vom Arm des Sturms umfangen, die ganze Nacht ruhig auf dem Schneepfühl schlummern kann, oder wenn sie die Wirbelwinde ihr
Banner entfalten läßt, daß die Vulkane sich verfinstern und die Sterne zittern; übermütig, wenn sie mit Donnergelächter daher
fährt;
stolz,
wenn der blutige Sonnenaufgang, dessen Augen
Meteore sind, auf den Rücken ihres segelnden Dunstes springt —
und stille wird sie, in ihrem lustigen Neste zusammengekauert, wenn der hochrote Mantel des Abends vom Himmel fällt und die lichte
See darunter ihr brennendes Sehnen nach Liebe und Ruhe aus
atmet.
Sie fühlt ihre Macht, wenn sie, eine ungeheure Brücke,
sonnendicht und finster von Vorgebirg zu Vorgebirg hängt; sie freut sich ihres Sieges, wenn die Triumphpforte, durch die sie
mit Orkan, Feuer und Schnee fliegt, der aus Millionen Farben gewobene himmlische Bogen ist.
Beständig aber spielt sie wie
ein Kind: fegen die Sonnenstrahlen sie
vom Himmelsgewölbe
hinweg, so lacht sie nur, und lachend steigt sie aufs Neue aus
ihrem Nichts empor und reißt sie wiederum nieder, die blaue
Kuppel der Lust. Es ist nicht bloß der Gegensatz zu Byron's düsterer Leiden schaft, die in dieser großartigen Kindlichkeit, Freigebigkeit und All liebt der Wolke frappiert, es ist noch ein anderer Zug, den wir
hier nur betonen, um später auf denselben wieder zurückzukommen,
das ursprüngliche, ja urzeitliche Gepräge dieser Poesie, das an die ältesten arischen Hymnen, die Bedas und die homerischen Ge-
sänge erinnert.
Byron ist im Vergleich hierzu durchaus modern.
Wenn die Wolke von jener Jungfrau redet, gekleidet in weiße
Flammen und von den Sterblichen Mond genannt, die da schimmernd
hingleitet
auf ihrem flockigen Grunde,
und deren unsichtbarer
Fuß mit leichten Tritten, nur den Engeln hörbar, das Gewebe ihres dünnen Zeltdachs durchbricht, oder wenn sie von dem blutigen
Sonnenaufgange mit den Meteoraugen singt, so hat der Dichter, kraft der Urfrische seiner Phantasie, den Leser zurückversetzt in
jene Zeit, wo die Naturerscheinungen in voller Neuheit sich zu Mythologien gestalteten. Für Shelley waren diese Naturerscheinungen ewig neu.
Er
lebte unter ihnen auf ganz andere Weise, als je ein Dichter vor
ihm
oder nach ihm.
Sein kurzes Leben von 29 Jahren ist
fast ganz unter freiem Himmel verbracht worden.
Das Meer
war seine Leidenschaft, er segelte beständig umher, und in seinem
Boote liegend schrieb er seine schönsten Gedichte, indes die Sonne herniederbrannte und das seelenvolle Antlitz und die feinen Hände
bräunte.
Die Leidenschaft für das Meer war sein Leben und
wurde sein Tod.
Alles, was mit Booten, mit Wasserfahrten in
Verbindung stand, hatte einen Reiz für ihn.
Kind dabei.
Er wurde ganz
Er konnte sich ins Unendliche damit unterhalten,
kleine Papierkähne zu fertigen und sie auf dem Waffer schwimmen zu sehen.
Eines Tages, als er kein Papier mehr bei sich hatte,
nahm er eine Fünfzig-Pfund-Note und ließ sie auf einem Garten
kanal als Boot treiben.
Schwimmen konnte er nicht.
Als er einmal bei seinen un
aufhörlichen, Tag und Nacht fortgesetzten Segelfahrten auf dem
Genfer See dem Kentern nahe war, schlug er alle Hilfe aus, blieb
ruhig sitzen und erwartete den Tod.
„Mein Gefühl," schreibt er,
„wäre weit weniger peinlich gewesen, wenn ich mich allein befunden hätte, aber ich wußte, daß mein Begleiter versucht haben würde, mich zu retten, und ich fühlte mich tief gedemütigt bei dem Gedanken,
daß sein Leben gefährdet werden könnte, um das meinige zu be wahren."
Wenige Jahre hernach aber war das Gefühl, womit
er an solch einen Tod dachte, nicht einmal mehr ein peinliches. Als er, wenige Monate ehe er starb, eines Tages dem Ertrinken
nahe war, doch von Trelawney gerettet wurde, sagte er nur: „Es war eine große Versuchung; wenn alte Weiber recht haben, hätte
ich
in
dieser Minute auf einem anderen Planeten sein
können." In Italien lebte er beständig im Freien, bald auf langen Spazier
ritten mit Byron in Venedig, Ravenna und Pisa, bald im Ruder boote auf dem Arno und Serchio oder im Segelboote an der
Küste von Toscana.
Es ist bemt auch von Interesse zu beobachten,
welch ein Lieblingsgleichnis bei ihm das Boot bildet. Und dichtete er nicht auf dem Wasser, so wenigsten- im Freien.
„Prometheus"
schrieb er in Rom, auf den bergähnlichen Ruinen der Bäder des Caracalla gelagert, und dort, auf diesen schwindelnd hohen, mit
Blumendickichten überwachsenen Bogen fand er unter Roms klarem
Himmel und bei dem kräftigen, fast betäubenden Erwachen des Früh lings in diesem herrlichen Klima die Inspiration zu der Dichtung. Das Fragment „Der Triumph des Todes" schrieb er teils auf dem Dache des Hause-, welches er in Lerici bewohnte, teils in
einem Boote Allein Shelley
während hatte
der
drückendsten
Schwüle
und
Dürre.
eine Salamandernatur und lebte in der
brennendsten Sonnenhitze erst auf. In einem Haine am Arno bei Florenz liegend schreibt er
sein gewaltigstes Gedicht, „Die Ode an dem Westwind." Die ersten Strophen rufen uns den Herbstodem des Windes inS Gedächtnis, der
die dürren Blätter, gelbe, schwarze, fahle, hektisch rote, pestkrank, vor sich hinwirbelt, und seinen Lenzhauch, der Thal und Berg
mit satten Farben und Dust erfüllt — ein Rauschen, das sein Echo in den tiefen Tönen des Refrains des Sonetts findet: Hör, o höre mich!
Und gemahnt es nicht wiederum an die alten Mythologien,
wenn er von den zerrissenen Regenwolken singt, die von des Himmels und des Meeres verschlungenem Geäste hernieder ge schüttelt werden auf des Windes Fläche — wenn er von dem Gelock
des Sturmes singt, das den luftigen Plan umflattert, dem lichten
Haare gleich, das sich am Haupte einer zornglühenden Mänade sträubt. Doch des Westwindes Wehen und Shelleys ganze Seele
atmen aus in diesem Schlußerguß: O, nimm mich auf als Blatt, als Welle bloß!
Ich fall' auf Schwerter, ich verblute hier! Zu Tode wund sinkt in des Unmuts Schob
Ein Geist wie du, stolz, wild und fessellos. Laß gleich dem Wald mich deine Harfe sein, Ob auch, wie seins, mein Blatt zur Erde fällt!
Der Hauch von deinen mächt'gen Melodein
Macht, daß ein Herbstton beiden tief entschwellt.
Süß, ob in Trauer. Sei, du stolzer Geist, Mein Geist! Sei ich — du stürmevoller Held!
Gleich welkem Laub, das neuen Lenz verheißt, Weh' meine Grabgedanken durch das All, Und bei dem Liede, das mich aufwärts reißt,
©treu, wie vom Herde glüh'nder Funkenfall Und Asche stiebt, mein Wort ins Land hinein!
Dem Erdkreis sei durch meiner Stimme Schall Der Prophezeihung Horn! O Wind, stimm' ein: Wenn Winter naht, kann fern der Frühling sein?
Man vergleiche diese Ode mit der herrlichen Stelle im dritten Gesang von Harolds Pilgerfahrt, wo Byron ausrnst: Könnt' ich verkörpern alles doch, was mich So ganz erfüllt, und könnt' ich Ausdruck leih'n
All den Gedanken, bis ergossen sich Herz, Seele, Leidenschaft und Lust und Pein Und Dulden in ein einzig Wort, und wär'
Ein Blitz dies Wort!
oder mit jener Stelle, wo er am Genfer See im tobenden Un
wetter der Nacht zürnst: O, laß mich teilen deine wilde Lust, Ein Teil des Sturmes und ein Teil von dir! BrandrS, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
18
274
Radikaler Naturalismus.
und man hat in einem lehrreichen Beispiel den Gegensatz zwischen der Schwärmerei für die Natur eines alles umfassenden und eines
alles herausfordernden Dichtergeistes.
Shelley will der Natur
nicht wie Byron ihren Donnerkeil entreißen. Er liebt sie nicht als
seine Waffe, sondern als sein Instrument; er liebt sie ungeschreckt von ihren ungeheuren Verhältnissen, vertraut mit ihrer Riesengröße,
das Weltall als seine Heimat empfindend. Am allerliebsten weilt seine Phantasie bei den Weltkörpern, er wird von ihrer Schönheit,
ihrem Leben angezogen, wie andere von der Schönheit des Vergißmeinnichts und der Rose. Welche mächtige, weltbeherrschende Phantasie in dem Gedichte,
das er bei der Nachricht vom Tode Napoleons niederschreibt: Wie! Erde, so kühn und voll Lebenslust?
Bist du nicht allzukühn? Was kleidest du noch die alternde Brust Wie einst in schimmerndes Grün?
Du letztes Glied in der Sternenschar,
Rollst du noch weiter von Jahr zu Jahr? Ist starr der Leib nicht, wenn der Geist entflohen?
Du regst dich noch, da tot Napoleon?
Wie? Ist dein pochendes Herz nicht kalt? Welcher Funken blieb deinem Herde?
Ist nicht sein Totenlied erschallt?
Und du lebst noch, Mutter Erde?
Du wärmtest dir doch die welke Hand An der Asche Gluten, die ausgebrannt, Des feurigsten der Geister, als er floh —
Was, da er tot ist, lachst du jetzt so froh? . . . Die Erde jubelt: „Noch lebenswach
Ist und kühner als je meine Brust.
Mich erfüllen die Toten zehntausendfach Mit Schnelle, mit Schimmer und Lust. Ich war wolkig, verdrossen nnd kalt Wie ein starres Chaos, aus Eis geballt,
Bis mir die Flammenglut, die ihn verzehrt,
Das Herz gewärmt.
Ich nähre, was mich nährt."
Mit seinem geistigen Auge sah Shelley die Weltkugeln be
seelt im Himmelsraume kreisen, innerlich glühend, nach außen in die Nacht hinein leuchtend.
Sein Blick tauchte in die tiefen Ab
gründe, wo grüne Welten aneinander vorbeiglitten, Wandelsterne mit glänzende«! Locken, kalte, lichte Eismonde.
Er vergleicht sie
den Thaukugeln, die am Morgen die Blumenkelche füllen; er sieht sie dahinrollen, Welt auf Welt, von der Entstehung bis zum Unter
gänge, wie Schaumblasen auf einem Fluß, sprühend, berstend und doch unsterblich, beständig neue Wesen, neue Gesetze, neue Götter, helle und dunkle, webend, die sie wie Gewänder über das nackte
Gerippe des Todes werfen.
Er sieht sie, wie Raphael sie zu Rom
in der Kirche Santa Maria del Popolo malte, eine jede von ihrem
Engel beherrscht und gelenkt, und kraft der poetischen Macht
vollkommenheit seiner Einbildungskraft weist er dem armen ent schlafenen Keats solch einen unbesetzten Thron, eine herrscherlose Sonne an.
Seine „Fee des Atlasgebirges" hat ihre Herrschaft im Äther.
Wie Arion auf dem Rücken des Delphins, reitet sie singend auf einer Wolke durch die Lust und
lacht, wenn sie das brüllende
Sausen der Feuerkugeln hinter sich vernimmt.
Hier spielt Shelley
mit den Himmelskörpern, wie ein Jongleur mit seinen Kugeln; in „Prometheus" öffnet er sie, wie der Botaniker eine Blume öffnet.
Im vierten Akte ist die Erde durchsichtig wie Krystall geschil
dert, mit all ihren übereinanderliegenden Schichten, ihren Feuer wogen, ihren ungeheuren Quellen, die das Meer speisen, ihren Ver steinerungen,
begrabenen
Trophäen, Ruinen
und Städten —
und Shelley's Genius umschwebt sie, atmet den starken Duft ihrer Wälder ein, sieht das smaragdgrüne Licht, das die Blätter zurück
werfen, und hört die wilde Musik der Sphären.
Allein die
Erde ist ihm kein Aggregat; sie ist ihm ein lebendiger Geist, in
besten unbekanntem Innern, ewig unvernommen, eine Stimme
schlummert,
die ihr Schweigen bricht, als sich des Prometheus 18*
Bande lösen.
Als Jupiter in den Abgrund stürzt, stimmen Erde
und Mond einen jauchzenden Wechselgesang, eine Hymne ohne Gleichen an. Die Erde jubelt über ihre Befreiung von der Götter tyrannei, der Mond läßt seine glühende, ekstatische Liebeserklärung
an die Erde erschallen, schildernd, wie stumm und still er wird, wenn der Schatten der Erde auf ihn fällt und ihn bedeckt, und wie
voller Liebe zu der herrlichen Erde er da ist. keit hat aufgehört.
Seine Unfruchtbar
Lebendige Blumen entsprießen seiner Ober
fläche, er hört Musik in Meer und Luft, indes beschwingte Wolken ihn umschweben, vom Regen schwer, von dem seine jungen Knospen
träumen, und er jubelt: „Das ist Liebe, alles ist Liebe!" Shelley's Phantasie löst das ganze Naturleben auf und freut sich mit der Naivetät des Kindes über jedes einzelne Element.
Die Fee freut sich z. B. über das Feuer: Der Mensch deS Feuers Schönheit selten sieht: Jedwede Flamme, wie ein Edelstein In immer flackernd Licht gelöst, erglüht,
Und jeden einzelnen erquickt ihr Schein.
Und die Fee liebt die Schönheit des Schlafes: Wie schön die Sterblichen ihr Blick gefunden, Im milden Zanberbann des Schlafs erscheinend! Hier zwei Geschwister, Kinder eng verbundm!
Dort ein einsamer Knab' im Traume weinend!
Hier unschuldvoll zwei Liebende umwunden
Bon dm gelüsten Locken, sie vereinend
Wie dunkler Epheu, Einem Stamm entsprossen,
Und dort ein, Greis von Silberhaar umflossen!
Shelley fühlt mit dm Flüssen, die von bett Seen geliebt
werden und in deren Bett verschwinden; er besingt den Tod und das Leichenbegängnis der Natur im Herbst und Winter, ge
denkt der Blumen, einst über Adonis hingestreut, schildert des Sommers und der Schönhett Göttin, die gleich einem weiblichen
Balder der Gartmblnmen wartet, und malt die wilde Fahrt der
Horen über den Himmel (Arethusa,
Apollo, Pan, Autumn,
Sensitive Plant, die Horen in Prometheus ünbound).
Jedes Lebenselement hat er mit einem poetischen Worte ge stempelt — die weithin sich dehnenden, einsamen Gegenden, wo wir die Freude genießen, zu glauben, was wir sehen, sei grenzenlos,
wie wir von unserer Seele es wünschen (Julian and Maddalo) — die Zeit, die unermeßliche See, dervn Wogen Jahre sind und
den brackigen Geschmack von salzigen Menschenthränen haben — den Schnee und alle Gestalten des blinkenden Frostes. Man lese das Gedicht, worin die vorstehenden Worte Vor
kommen.
zur Natur. gerichtet.
jene liebe,
Es ist eine
elegische Zusammenfassung
seiner Liebe
Es heißt Song und ist an den Geist der Freude Er klagt, daß ihn derselbe verlassen habe, daß er nur die seiner nicht bedürfen, daß seinesgleichen ihn nie
zurückzugewinnen vermöge, daß die Sorge ihn verscheuche, er vor
dem Kummer fliehe: Selbst der Seufzer Klag' Schmäht dich, daß du dort nicht weilest
Und vor'm Schmähen du enteilest.
Und das Lied schließt: Was du liebst, o Geist der Freude, Liebte ich auch immer! Erd' im grünen Frühlingskleide, Nacht im Sternenschimmer;
Herbstesabend und des jungen Morgens goldne Dämmerungen.
Schnee lieb' ich und die Gestalten, Die im Eise schossen; Wellen, Winde, Sturmeswalten,
Alles, was entsprossen Der Natur, und nicht beirrt Bon des Menschen Elend wird. Ich lieb' ruhevolle Öde,
Freundeskreis voll Frieden
Und voll sanfter Weisheitsrede —
Radikaler Naturalismus.
278
Sind wir noch verschieden?
Komm herbei! nicht säum', Wähl', o wähl' mein Herz zum Heim!
Doch aus diesen elegischen Stimmungen schwingt sich Shelley's Geist in seiner herrlichen Freiheitsbegeisterung mit LerHenflug himmelan. Seine „Ode an die Lerche," die den Übergang zu seinen
Freiheitsgedichten bezeichnet, ist in einem Rausche sorgloser, jauch
zender Stimmung geschrieben.
Schwerlich überragt in der älteren
englischen Litteratur irgend ein anderes ähnliches das beste von Wordsworth's Liedern, das Lied „An die Lerche," das für Geist
und Poesie der Seeschule typisch ist: Der Nachtigall laß ihren schatt'gen Wald, Ei» Reich von strahlend Hellem Licht ist dein.
Darin kommen
die für jenen konservativen Dichter so be
zeichnenden Worte vor: Du Bild des Weisen, der sich auswörts schwingt.
Doch »immerdar entflieht in fernes Land,
Dem Heim und Himmel treu, die sich verwandt!'
Wenden wir uns nun zu Shelley's Lerche, die singend immer steigt und steigend immer singt.
Hier ist es, als ob alle Winde
von Melodien widerhallten, als ob wir in ein Meer von ewig morgenfrischen Tönen glitten und darin gewirbelt würden. Es ist
des reinen Freiheitsgefühles jüngster, hellster Triumphgesang von Freude und Glück.
Es bildet den Übergang zu der lange» Reihe
der Freiheitsgesänge, zu der großen Gruppe, in welcher Shelley'-
Genius der stürmische Herold der kommenden Revolutioien ist. Sein Freiheitslied ist ein einziger weithin hallender Kriegtruf, in wechselnde Melodien gekleidet.
Als Oden an die Freihiit und
deren Verteidiger — Gedichte, so schön und gewaltig
vie die
Marseillaise — als politische Satiren auf Zustände wie auf Per-
1 Type of the wise, who soar but never roam True, to the kindred points of Heaven and Home.
fönen, als aristophanische Komödie über das Unwesen nnd die
Lächerlichkeiten daheim, als mythische oder historische Tragödie,
stets ist seine Poesie nur der eine nnd derselbe Klageruf über Un
gerechtigkeit und Heuchelei, der eine und derselbe gewaltige Aufruf ail alle jene unter seinen Zeitgenossen, die noch etwas unwürdig zu finden vermochten.
Schon gleich nach seiner ersten Vermählung war er als politischer Wühler aufgetreten.
Er reiste nach Dublin, um für
die Befreiung der Katholiken zu wirken, verfaßte einen jugendlich überschwänglichen Aufruf an das irische Volk, worin er es be
schwor, sich der Gewaltthätigkeiten, welche die französische Revolution befleckt hatten, zu enthalten, und war so naiv, denselben vom
Balkon seines Hotels aus allen Vorübergehenden, die ihm der Be einflussung durch Aufrufe zugänglich erschienen, zu Füßen flattern
zu lassen.
Wie kindlich er sowohl wie seine junge Frau die Sache
auffaßten, ersieht man daraus, daß er eines Tags, als er mit seiner kleinen Harriet spazieren ging,
sich das Vergnügen nicht
versagen konnte, das Schriftstück einer Dame in die Mantelkapuze
zu stecken, worüber sein Weibchen — deren eigener Äußerung nach — sich hätte zu Tode lachen mögen.
Er war bei mehreren
Versammlungen zugegen und sprach einmal eine ganze Stunde
lang
in
Gegenwart
O'Connell's
und
anderer
Berühmtheiten.
Die Zeugnisse seiner Zeitgenossen sind so voll von Begeisterung, daß, nach ihnen zu schließen, er noch größer als Redner, denn als Dichter gewesen wäre. Als Shelley das nächste Mal mit der herrschenden Partei zu
sammenstieß, hatte dieser Zusammenstoß einen bei weitem tragischeren Charakter.
Harriet war tot und auf Verlangen ihres Vaters
wurde vom Gericht eine Untersuchung darüber
eingeleitet, wer
größere intellektuelle und moralische Vorbedingungen für eine gute
Erziehung von Shelley's Kindern besäße, der ehemalige Gast
wirt Westbrook oder der Verfasser von Queen Mab und Alastor,
der, als Atheist denunziert, im Verdachte stand, seine Kinder zu
Atheisten erziehen zu wollen.
Lord Eldon's Urteilsspruch fiel dahin aus, daß Shelley's ganzes bisheriges Leben im höchsten Grade unmoralisch gewesen sei,
daß er, weit entfernt sich dessen zu schämen, sich vielmehr auf die verderblichsten Prinzipien etwas zu gute thue und dieselben anderen
empfehle;
daß demzufolge er des Vaterrechtes über die Kinder
für immer verlustig gehen, jedoch gehalten sein solle, mit einem Fünftel seines Einkommens für sie zu sorgen. Die Kinder wurden einem Geistlichen übergeben.
Shelley's Schmerz war so furchtbar,
daß- nicht einmal seine vertrautesten Freunde fortan der Kinder
je vor ihm zu erwähnen wagten. In dem Gedichte an Lord Eldon ruft er aus: Fluch dir bei des gekrünkten Vaters Liebe, —
Bei teuren Hoffnungen, die jäh geknickt.
Bei jeglichem dir fremden edlen Triebe, Beim Schmerz, der nie dein kaltes Herz durchzückt . . .
Beim Heucheln, das an ihrem Unschuldsmunde, Wie Gift an einer Blüte, hängen muß, Beim finstern Glauben, der zu jeder Stunde
Sie nun umschattet bis zum Lebensschluß; . . .
Bei der Verzweiflung, die mich zwingt zu klagen:
Ach, meine Kinder sind nicht länger mein! Es mag mein Blut in ihren Adern schlagen, Tyrann, doch ihr beflecktes Herz ist dein!
In dem Gedichte an William Shelley, seinem Söhnchen aus der Ehe mit Mary, heißt es: Sie raubten dir Bruder und Schwesterlein, Und ihr Herz entfremden sie dir;
Ihres Lächelns Reiz, ihrer Thränen Schein, Der heil'gen, verlöschten sie mir. Ein mördrischer Glaube, ein Schmachgesetz
Warf über ihr jugendlich Haupt sein Netz,
Und fluchen werden sie mir und dir, Weil freie Menschen und furchtlos wir.
Doch nicht ewig herrscht der Tyrannen Wort Und der Priester schändlich Gebot.
Sie stehn an des wütenden Stromes Bord Und besudeln sein Wasser mit Tod.
Alts tausend Schluchten ihm Zufluß quillt, Rings uni sie schäumt er und tobt und schwillt.
Und ihr Schlvert und Szepter entfluten weit, Zerknickt, auf den Wogen der Ewigkeit.
Von der Angst gefoltert, auch dieses letzten Kindes beraubt zu werden, verließ Shelley sein Vaterland, um nie wieder dahin
zurückzukehren.
Zur selben Zeit jedoch, da der Lordkanzler Shelley
als einen Mann brandmarkt, der sich weniger als wer immer sonst
in England
zur Ausübung der elementarsten sozialen Pflichten
und Rechte eigne,
schickte er selbst sich an zu zeigen, daß er
unter den Mitlebenden einer der wenigen zur Unsterblichkeit Aus
erkorenen sei. Zum Verbrecher gestempelt verließ er England,
und wo er
im Auslande Engländern begegnete, wurde er in der Regel als jedes Verbrechens fähig von ihnen gefürchtet und gehaßt.
Ja,
er scheint sogar so manchesmal persönlichen Unglimpf erlitten zu haben.
Shelley hatte, wie oben schon erwähnt, eine Flugschrift über die Reform des Parlamentes ausgearbeitet, die 1817 erschien und so gediegenen und gesunden Inhaltes war, daß die 1867 von den
Tories angenommene und durchgeführte Reform in allem Wesent
lichen mit dem fünfzig Jahre alten Plane des „Atheisten und Republikaners" übereinstimmt.
Er wollte weder das allgemeine
Stimmrecht mit einemmale eingeführt, noch Königtum und Aristo kratie abgeschafft sehen.
Er spricht sich auch sonst des Öfteren gegen
allzu überstürzte Veränderungen aus.
Sein Radikalismus bestand
nur darin, seiner Zeit um fünfzig Jahre vorausgeeilt zu sein.
Den Verfolgungen der Beschränktheit ausgesetzt, schleuderte er nunmehr seine Freiheitsgedichte gegen England. Seine politischen
Poesien sind mit seinem Herzblute geschrieben.
Mit Fug und
Recht nannte er Castlereagh und Sidmouth „zwei mit trockener
Kehle heulende Wölfe, zwei
ineinander verschlungene Nattern."
Man darf nicht vergessen, daß Castlereagh, daß Sidmouth, daß Eldon ihm nicht Personen, sondern Personifikationen eines Prinzips
waren, des großen, unheilschwangeren Prinzips der Reaktion, dem sein Leben, sein Glück geopfert worden war.
Er sagt:
Ich sah den Mord am Wege steh'n, Wie Castlereagh war er anzuseh'n . . .
Wie Sidmouth kam die Heuchelei Auf einem Krokodil herbei . . .
Eine Irre da vorüber rannte,
Hoffnung sie sich mit Namen nannte, Doch mehr wie Verzweiflung sah sie aus, Laut schrie sie in die Lust hinaus:
„Mein Vater, die Zeit, ward alt und schwach Vom Harren auf einen bessern Tag;
Verloren hat er den Verstand,
Er lastet umher mit gelähmter Hand. Geboren ward ihm Kind auf Kind,
Doch ihren Staub verweht der Wind, Nur ich alleine bin noch hier — Wehe mir, ach, wehe mir!"
Doch gab Shelley in diesen Jahren nicht bloß in lyrischen
Streitgedichten seinen politischen und sozialen Ideen und Leiden schaften Ausdruck. Er verfaßte im Jahre 1818 zwei höchst eigen
tümliche erzählende Dichtungen „Julian und Maddalo" und „Rosa linde und Helena".
Die erstere giebt eine lebendige Schilderung
seines Zusammenlebens mit Byron in Venedig und ist eines der vielen Zeugnisse seiner edlen und glühenden Begeisterung für Byron's
Poesie.
Das Gedicht enthält eine Schilderung des Besuches der
beiden Freundeineiner Irrenanstalt
außerhalb
Venedigs
der Stimmungen, welche dieser bei Shelley hervorrief. In dessen Herz des Fremden Thräne schnitt, Dem Tropfen gleich, der auf den Sandstein glitt.
Der seufzen konnte, selbst bei solchem Leid,
DaS andre nicht gewahren —
Er,
und
mußte naturgemäß ein tiefes Mitleid mit den Unglücklichen fühlen, die man zu jener Zeit noch in Ketten legte und mit Peitschenhieben strafte. Wie wenig Begriff man damals von dem Wesen der Gemüts
krankheiten hatte, und mit welcher Barbarei der Patient behandelt wurde, läßt sich am besten ersehen, wenn man liest, welcher Behand lung ein Geisteskranker von der sozialen Stellung eines Georg III.
noch 1788 ausgesetzt gewesen.
Die Krankheit des Königs äußerte
sich namentlich in einer ununterbrochenen Schwatzsucht, war jedoch
von
keinerlei Hang zu Gewaltthätigkeiten begleitet.
Gleichwohl
wurde er von allem Anfänge an (und blieb es während der ganzen Zeit) in die Zwangsjacke geschnürt, wurde eingesperrt, des Gebrauches
von Messer und Gabel beraubt und
der Laune seiner Pagen
überlassen, die wie mit einer toten Sache mit ihm verfuhren, ihm Püffe und Stöße versetzten und ihn mit groben Worten anließen. Nach seiner Heilung erinnerte sich der König deutlich an alles,
was ihm während seiner Geisteszerrüttung widerfahren war, und
so weiß man es nun.
Es giebt ein Bild von Shelley's mildem,
menschenfreundlichem Charakter, daß
er, der von der humanen
Behandlung, welche man in Frankreich unter der Revolution den
Geisteskranken angedeihen zu lassen begonnen, nichts ahnte, eine
liebevolle Behandlung der Unglücklichen befürwortete: Mich dünkt, es gäbe Heilung doch Für sie, wenn man sie sanft und gütig pflegt,
Da die Musik so tief ihr Herz bewegt.
Das zweite Gedicht „Rosalinde und Helena," welches ein großes
Gesamtbild des Elends giebt, welches Vorurteil und Unduldsamkeit über das Menschengeschlecht heraufbeschwören, ist noch lange nicht
in seiner wahren Bedeutung verstanden und nach Verdienst ge würdigt.
Es versucht eine ganze Welt im Kleinen der Leiden
der Freisinnigen und Guten auf Erden, wie veraltete Institutionen
und menschliche Bosheit sie im Verein hervorrufen, zur Darstellung zu bringen.
Hier wird ein Familienvater geschildert, eine Memme
Radikaler Naturalismus.
den Starken, ein Gewalthaber den Schwachen gegenüber, hart, selbstsüchtig, falsch, lügnerisch und habgierig, der Büttel seiner
Fran, der Plagegeist seiner Kinder — wenn die Kinder seine Schritte nahen hören, verstummt jedes Gespräch, und sie erbleichen.
Er stirbt, und Rosalinde,
die Mutter, jammert es, die Kinder
unbewußt über den Tod des Vaters sich freuen zu sehen und selbst diesen als Linderung empfinden zu müssen. streng kirchlich gesinnt.
Der Verstorbene war
Wie sich herausstellt,
hat er in seinem
Testamente bestimmt, daß die Kinder, wenn sie ferner mit ihrer Mutter beisammen leben, ihres Erbes verlustig gehen sollen, da
sie die christliche Lehre für falsch halte und er seine Kinder vor dem ewigen Feuer retten müsse.
So muß denn die Mutter ihre
Kinder verlassen; denn, sagt sie, Du weißt, was Armut für ein Los Den Opfern einer bösen Zeit:
Verbrechen ist's und Furcht und Schmach,
Der Mangel ist es, ohne Dach Auf eisigen Wegen, nackt und bloß.
Und tiefes, grauenvolles Leid; Und jene Selbstverachtung, die Der Jugend Glanz in Hohn ersäuft — Du weißt, das eine Mutter nie
Solch' Weh auf ihre Kinder häuft.
Rosalindens Schicksal dient vornehmlich dazu, den Jammer einer unglücklichen Ehe, besonders die Abhängigkeit des Weibes von einem schlechten, tyrannischen Mann darzustellen, wie man auch
Shelley's Trauer über den Verlust seiner Kinder hindurchfühlt.
Helenas Schicksal spielt direkt auf die Verfolgungen an, denen der Dichter als Philosoph ausgesetzt war.
Lebens
und
der
Ideen
Lionels
ist
Die ganze Darstellung des
reine
Selbstschilderung.
Welches Wort könnte treffender Shelley's Menschenliebe schildern als dies hier: Zwillinge warm Lieb' und Leben
Bei ihm, erzeugt zu gleicher Zeit.
Bei jedem andern erst beginnt Das Leben sich empor zu heben
Und dann die Liebe, ob sie beid' Auch Kinder einer Mutter sind.
Jung, reich und von vornehmer Abkunft, tritt er mit Be
geisterung in die Reihen derer,
die unter der Revolution
das
Menschengeschlecht von der Herrschaft der Dogmen befreien wollen.
Seine Umgebung sinnt vergebens darüber nach, was er damit denn eigentlich bezwecke: Sucht Ruhm er? Ruhm hat nie gelohnt Den Kämpfer für zertretnes Recht; Erstrebt er Macht? Die Macht, sie thront
Bei Unrecht nur und altem Recht, Den Wölfen, die tagaus, tagein
Boll Gier nach Lob und Beute schrei'«, Und nur um sie dir Macht verleih'n.
Die Reaktion tritt ein: Ergraute Macht Saß wieder sicher auf dem Thron
Der Väter, und es reckte schon Der Drache Glaube durch die Nacht Sein giftig Haupt ... Es weinten viele Nicht Thränen, sondern Galle.
Bald schleppen seine Feinde ihn, weil er ihre Götter gelästert habe, in den Kerker, wo er lange, von seinen Lieben getrennt, einsam schmachtet.
Endlich wird er mit der Geliebten wieder ver
eint, und unter dem Sternenhimmel feiern sie ihre Hochzeit. „Rosalinde und Helma" ist ein, wie es scheint, in tiefer Ver
zweiflung geschriebenes Gedicht; nirgends ist Shelley in seinem Kriege gegen alles überlieferte so weit gegangen wie hier.
Wir
hatten schon früher Gelegenheit zu sehen, daß es eines der Lieb
lingsthemen der Dichtkunst zu Anfang des Jahrhunderts war, daß Blutschande nur auf Vorurteil beruhe.1
und Helena"
Sowohl iu „Rosalinde
wie in The Revolt of Islam, dessen Held und
1 Emigrantenlitteratur S. 54.
Heldin nur auf dringendes Bitten des Verlegers aushörten Bruder
und Schwester zu sein, verschwendete Shelley viel Beredsamkeit an dieses unheimliche, auch Byron so stark beschäftigende Paradoxon, welches zu einem so einfältigen und empörenden Angriff auf das
Andenken des letzteren Anlaß geben sollte.
Im Jahre 1820 brach der große, bereits erwähnte Ehescheidungsftandal aus.
Den 8. April 1798 hatte der Prinzregent
pour faire une fin sich mit der achtundzwanzigjährigen Karoline
von Braunschweig vermählt.
Er nahm jedoch die Sache so wenig
feierlich, daß er schon bei der ersten Begegnung in St. James, als die Prinzessin vor ihm niederkniete,
dem Gesandten Lord
Malmesbury zurief: „Harris, schaffen Sie mir ein Glas Brandy.
Mir ist nicht ganz wohl!"
Auf des letzteren Entgegnung, ob nicht
ein Glas Wasser in diesem Falle vorzuziehen sei, lief er fluchend aus dem Zimmer, ohne seiner Braut ein Wort zu sagen. Bei der Hochzeit war er betrunken und bei der Trauung stieß es ihm fort
während auf.
Er ließ die Prinzessin nicht nur bald Gleichgültigkeit
und Zurücksetzung fühlen, indem er mit einer Unzahl von Frauen Liebesverhältnisse unterhielt, sondern er behandelte sie auch mit der rücksichtslosesten Roheit, ließ sie einsperren, umgab sie mit Spionen
und beraubte sie auf eine falsche Anklage hin ihrer Tochter, was zu fortwährenden Szenen am Hofe Anlaß gab.
Uniadelhaft scheint
das Betragen der Prinzessin nicht eben lange gewesen zu sein. Anfangs war sie nur unvorsichtig, in vorgerückteren Jahren jedoch
suchte sie sich zu trösten und nicht immer auf würdige Weise. sehm
wir
sie
mit fünfzig
Jahren
ganz
Europa
mit
So
ihrem
Kurier und Kammerherrn, vormals Kammerdiener Bergami be reisen, einem italienischen Ruy Blas, den sie zu allem mög
lichen ernennt, den sie mit Orden bedeckt und zärtlich liebt. Als sie bei der Thronbesteigung des Prinzregenten nach Eng land zurückkehrte, um ohne weiteres den Platz der Königin ein
zunehmen, beschloß der jämmerliche, verächtliche Fürst, sich dessen,
was
ihm
bezahlte Spione
über
seine Gemahlin
hatten, zu bedienen, um sich ihrer zu entledigen. dem Oberhause der Untreue angeklagt.
hinterbracht
Sie wurde vor
Und nun wurden ganze
Schiffsladungen fremder Hotelkellner und Stnbenmädchen in Eng
land unter dem erbitterten Gejohle der Bevölkerung gelandet, um Zeugenschast wider die Königin abzulegen.
Etwas Schamloseres
als dieser Prozeß wird sich nicht so leicht wiederfinden.'
Untersuchungen über die Lage von Schlafzimmern und die Stellung von Betten, über eine Königin und ihren Kammerherrn, die im allertiefsten Negligs beobachtet worden waren, füllten Tag
für Tag die Spalten aller englischen Blätter, bis — die Anklage
plötzlich zurückgezogen wurde, teils wegen angeblicher Unzuläng1 The trial at large of Her Majesty Caroline Amelia Elizabeth, Queen of Great Britain, in the House of Lords on charges of adulterous intercourse. London 1821. 2 volumes. At Carlsruhe Her Majesty was one day found in Bergami’s room; she was sitting upon his bed, and he was in bed with his arms around the neck of Her Majesty. She was surprised in this extraordinary Situation by one of the femmes de chambre, who was going into the room by chance ... In that bed was found a cloak, which Her Majesty was afterwards seen wearing; and in that bed, also, certain marke were observed, by one of the servants. These marke, without his saying any thing farther at present, would lead their lordships perhaps to infer that, which he wished them to understand (vol. I, 145, II, 487). What was the state of Bergami’s dress at the time you saw him in the passage, going to wards the bed-room of Her Royal Highness? He was not dressed. When you say he was not dressed, what do you mean; what had he on? He was not dressed at all (vol. I, 484, vol. II, 435). On the 12 th of that month she arrived at Salona . . . A large bed was provided in the inner room for Her Majesty; the outer room assigned for Bergami had no bed. There was no access to the bed in the inner room, except through Bergami’s. It would be proved in evidence, that, in the morning after Her Majesty had slept here, her bed had the appearance of having been slept in by two persons. There was only one passage to Her Majesty’s bed-room; that passage led from Bergami’s room, and in his room there was no bed (vol. I, 136).
Radikaler Naturalismus.
288
lichkeit der Beweise, teils wegen der bedenklichen Höhe, zu der die Verachtung gegen
den König als
Urheber des
Skandals ge-
diehen war.
Anläßlich dieses Prozesses schreibt Shelley seine köstliche Saüre „Ödipus oder Dickfuß der Tyrann", so viel wie der podagrische
Tyrann, eine politische Komödie von mindest ebenso glücklichem Wurfe, wie „Die politische Wochenstube" von Robert Prutz? Handlung spielt in Böotien.
Schweine auf.
Die
Die englischen Ochsen treten hier als
Geist, Wesen und öffentliches Regimmt in England
werden somit als Schweinerei bezeichnet, und das Ganze ist in
folgendem Ton gehalten: Die Steuern, Die wahren Quellen aller Schweinerei,
(Und giebt es einen Passendern Ausdruck Wohl, um Moral» Religion und Frieden Und Wohlstand, alles, was Böotien
Zu einem Volke macht, das andern^Bölkem
Als Vorbild und als Muster dienen kann. Mit einem Worte zu bezeichnen?) — wachsen In gleichem Maße mit der Schweinerei.
Die Heuchelei des gekrönten Ehegatten, das steche Pochen der Königin auf ihre Reinheit, die verlogene Haltung Castlereagh's
und Sidmouth's,
alles ist mit sicher treffenbet Satire gegeißelt.
Allein Shelley's Genius war nicht dazu geschaffen, lange beim Spott über die Karikaturen der Zeit zu verweilen.
Sein freier und
himmlischer Geist war wie kein anderer berufen, dem Bewußtsein der Zeit das Freiheitsideal des Jahrhunderts in seinem Strahlenglanze zu offenbaren.
Von seinen Knabenjahren an waren im
Grunde alle seine Bestrebungen auf dies Ziel gerichtet.
Er hatte
zuerst große musikalische, leider jedoch formlose Gedichte geschrieben, die lange Standreden sind wider die Könige und die Pfaffm, wider die Religion, welche die Erde mit Teufeln, die Hölle mit Männern --------- 1------------------------
1 Bergt.: Das junge Deutschland S. 408.
und den Himmel mit Sklaven bevölkert, wider die Ungerechtigkeit
der
Regierungen und dm Knechtsinn der Gerichte,
wider das
Empöreilde der Zwangsehen und der Ausschließung des Weibes
von dem Rechte auf freien Erwerb, wider die Grausamkeit des Schlachtens der Tiere, mit einem Wort, wider alle Formen von
Unterdrückung und Unduldsamkeit, die keinen geringeren Zweck ver folgten, als die Menschheit umzubilden und sie die Mittel zu lehren, durch welche sie die Ursachen ihres mannigfachen Elends beseitigen
und einen Zustand herbeizuführm vermöchte, der, im Vergleich zu dem jetzigen, ein wahres goldenes Zeitalter zu nennen wäre. Er hatte, wie er selbst es kindlich ausdrückt, „eine Leiden schaft, die Welt zu reformieren." Seines Abscheues vor Lehrgedichten
ungeachtet, war es, wie er in der Vorrede zur „Empörung des Islam" schreibt, seine Absicht, einen edeln Impuls im Leser an
zuregen, einen brennenden Durst nach Vollkommenheit in ihm zn erwecken.
„Der panische Schrecken," sagt Shelley, „der wie eine Seuche alle Klassen der Gesellschaft bei den Ausschreitungen der französi-
schen Revolution ergriff, macht allmählich einem gesünderen Zustande Platz.
Man hat aufgehört zu glaubm, ganze Generationen der
Menschen müßten sich ans das trostlose Erbe von Unwiffenheit
und Elmd beschränken, weil ein Volk, das Jahrhunderte lang be
trogen und geknechtet gewesen, außer Stande war, mit der Weis heit und Ruhe freier Männer aufzutreten, als einige seiner Fesseln gesprmgt wurden.
lich verlaufen,
Wäre die Revolntion in jeder Hinsicht glück
unser Abscheu vor Gewaltherrschaft und Aber
glauben würde gar sehr an Berechügung verlieren.
Sie wärm
dann Fesseln, welche der Gefangme mit der leisestm Handbewegung
abzuschütteln vermöchte, während sie in Wahrheit sich mit giftigem
Rost in die Seele fressen.” So beschloß denn Shelley, die Grundgedaukm der Revolution in verklärter Gestalt weiter zu bilden. Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
Sein Gedicht wurde eine 19
Predigt, seine Einbildungskraft offenbarte nicht seine Beobachtungen, sondem seine Wünsche.
Indes war doch auch nach fernem System die Einbildungs kraft die in Wahrheit reformatorische Gabe.
Er, den grobe Un
wissenheit einen Materialisten schalt, war nicht umsonst bei Hume und Berkeley in die Schule gegangen und hatte dort die weitest
gehende Unkörperlichkeitslehre eingesogen.
Ihm war alles nur Ge
danke, die Dinge Schichten von Gedanken, das Weltall eine un geheure verdickte Masse alter gestockter Gedanken, Bilder, Vor
stellungen.
Daher könne der Dichter, zu dessen Fach und Aufgabe
es gehöre, neue derartige Bilder zu schaffen, die den stärksten Ein druck auf andere machen, die Welt fortwährend umgestaltcn.
Die
Phantasie, sagt Shelley, ist die Gabe, von welcher jedweder, selbst der geringste Fortschritt abhängt.
Ob er nun mit Sanftmut die
verdickten Gedanken wieder in Fluß bringt, ob er mit konvulsivischer
Kraft die Gewohnheitskruste der überlieferten Vorstellungen sprengt, immer tritt der Dichter als der wahre Reformator auf.
Philosophisch und unhistorisch veranlagt wie Shelley in seinen Jünglingsjahren erschien, suchte er in dem einzigen Lebensabschnitte,
der ihm ganz zu Ende zu leben vergönnt war — jenem vor Ab
fassung der „Genet" — nicht nach einer Gmndlage in Zeit und Raum für seine reformatorischen Visionen;
denn als Wünsche
hatten sie keine geschichtliche Wirklichkeit. Doch indem seine Gestalten solcher Wirklichkeit entbehren, mangelt es ihnen auch an gewissen wesentlichen Eigenschaften, die nur die historischen und örtlichen Elemente zu verleihen vermögen, während die Eigenschaften, die
sie besitzen, vorzugsweise die am tiefsten liegenden, ursprünglichsten Züge der Menschennatur sind.
Auch in der Charakterbildung geht
Shelley zur Urgeschichte der Menschheit zurück.
Die Personen
werden halb mythische Wesen, riesenhaft, unbestimmt in ihren
Dimensionen,
geisterhaft in ihrer Gestalt,
und kein allgemein
menschliches Interesse kann sich an sie knüpfen, weil die „Geschichte",
das in landläufigem Sinne Interessante an der Dichtung, von Shelley gänzlich verachtet und übersprungen wird.
Daher seine vollständige
Unpopularität. Während ein Walter Scott jederzeit unter allen, die
lesen können, Leser zu gewinnen vermag, wird Shelley zu allen Zeiten
darauf beschränkt bleiben, für the happy few geschrieben zu haben. Indessen kam es nur darauf an, daß Shelley auf Stoffe
traf, welchen diese Anlagen just entsprachen, um ihn das Höchste in der Poesie leisten zu lassen.
Diese Seite seiner Begabung war
vollständig griechisch, wie Shelley überhaupt durch die Art seiner
Religiosität, durch seine poetische und philosophische Bildung durch
und durch griechisch war. einer Stelle.
„Wir sind alle Griechen," sagt er an
Das galt jedenfalls von ihm.
Doch von Naturwesen, Göttern und Helden, wie dies in seinen Dichtungen der Fall, handelte die griechische Poesie nur in ihrem Ursprünge.
Einzig mit dieser ältesten griechischen Poesie kann daher
Shelley verglichen werden.
Gleichwie seine Lyrik an die homerischen
Hymnen erinnert, und seine politische Komödie durch ihre rück
sichtslose Satire sowohl
als durch den lyrischen Schwung der
Gesänge dem Aristophanes verwandt und des Aristophanes würdig ist, so wurde er nun int ernsten Drama des Äschylos ebenbürtiger
Rivale.
Sein „Entfesselter Prometheus" ist das moderne Gegen
stück zu Äschylos' „Gefesseltem Prometheus", sein „Hellas", eine
Weissagung des Sieges Griechenlands, das moderne Seitenstück zu den „Persern" des Äschylos.
Wir können nur bei „Prometheus" verweilen.
Dies groß
artige Dichterwerk ist die Krone seiner ganzen Freiheitspoesie. Hier versucht Shelley zum ersten Male mit Glück den Grundtypus
seiner Poesie und seines Zeitalters zu schaffen. Mancherlei Typen entstanden in seinem Gehirn, Hiob, dann
Tasso, derselbe Stoff, der sich gleichzeitig Byron und Goethe auf
drängte.
Es blieb bei Prometheus. Über die Sem und Ebenm der
zeitgmössischen mglischen Poesie erhebm sich Byron's Alpm mit
19»
seinem Manfred und Shelley's Kaukasus mit seinem Prometheus.
Seit sich die Befreiung des Menschengeistes ernstlich zu vollziehen
begonnen, beschäftigte dieser Typus alle großen Dichter. Er taucht gegen den Anfang unsres Jahrhunderts in Goethe's, Byrvn's und
Shelley's Gehirn auf. Götterglauben
Goethe's herrliches Gedicht stellt den vom
sich lossagenden Menschengeist in seiner Arbeit,
seinem künstlerischen Schaffen dar, stolz auf seine Hütte, die der
Gott nicht gebaut, Gestalten nach seinem Bilde formend — Goethe's
Prometheus ist der schaffende und freie.
Byron's schroffe, kurze,
feurige Verse schildern den Märtyrer, der mit znsammengebissenen Zähnen schweigend leidet, dem keine Tortur das Geständnis zu
entreißen vermag, und der seine höchste Ehre darein setzt, seine Qualen nicht ahnen zu lassen.
Dieser Titan würde nie, wie der
antike, von dm Töchtem des Ozeans sich haben oder ihnen
trösten lassen
vorgeklagt haben — Byron's Prometheus ist der
trotzmde, gefesselte.
Shelley's Prometheus jedoch gleicht keinem der beiden.
Er ist
der wohlthätige, wider das böse Prinzip kriegende Menschmgeist, der
seit undmklichen Zeitm von demselben unterdrückt wird und nicht von ihm allein, von allm den anderen Wesen, dm Guten selbst, die von dem Gedankm, das Böse sei notwendig und heilsam, be-
thört sind.
Er ist der Geist, der nur eine Spanne Zeit hindurch
— währe sie noch so lang — gefesselt und in Bande geschlagm werden kann, der aber eines Tages zum Entzücken des Weltalls
befreit wird — der siegreiche, entfesselte, der von dem einstimmigen
Jubelgesang aller Himmelskörper begrüßte Promethms. Er ist selbst inmitten seiner Leiden vollkommen ruhig; bcmt
er weiß, daß Jupiters Herrschaft nur ein Zeitabschnitt im Weltmleben ist, nichts anderes, nicht mehr.
Darum möchte er den
schwarzen Abgrund, in dem er verschmachtet, nicht gegen alle
Wollust am Hofe Jupiters tauschm.
Als die Furim ihm in die
ewig schlaflosm Augen lachm, antwortet er:
Ich will nicht wägen, was ihr Böses thut. Nur was ihr leidet, da ihr böse seid.
Wie ganz anders würde ein Byron'scher Prometheus ge antwortet haben! zu den Menschen.
Hier dieser ist ganz Liebe — zu feinen Feinden,
Und
der Trotz hat das Herz des Titanen
nicht den erotischen Regungen verschlossen.
Er gedenkt in seinen
Qualen seiner Braut, ihrer, Die, wenn sein Dasein überströmte, glich
Dem goldnen Kelch für einen edlen Wein.
Asia ist die den Titanen liebende Natur.
Sie ist das Kind
des Lichts, eine lebendige Liebesflammengestalt, deren Lippen, wie Panthea singt, mit ihrer Liebe den Hauch zwischen sich entzünden,
und deren Lächeln die kalte Luft in Feuer wandelt. Als nun die Zeit der Qualen und der Ungerechtigkeit um
ist, sinkt Jupiter, feig und verachtet, Prometheus kläglich um Er barmen anflehend, in den Abgrund.
Das prometheische Zeitalter
bricht an, und die Luft verwandelt sich in ein Meer von ewigen, wundersamen Liebesmelodien: Der Erde dumpfer Jubel wechselt ab mit dem wonnetrunkenen Liede des Mondes, bis das Jauchzen des Alls zu einem Freudenhymnus verschmilzt, den selbst Beethoven's
Finale in der neunten Symphonie nicht übertrifft.
Wir können nur flüchtig erwähnen, wie Shelley nun, nach dem er mit Äschylos gewetteifert hatte, mit Shakespeare rivalisierte
und mit einem plötzlichen Sprung in die historische Wirklichkeit England, selbst nach dem Zeugnisse Byron's, die beste Tragödie
gab, die ihm seit den Tagen Shakespeare's geschenkt wurde.
„Die Cenci" erinnern einigermaßen an solche Stücke Shake speare's wie „Maß für Maß", wiewohl letzterer nicht von jenem
glühenden Haß gegen die Tyrannei beseelt war, der Shelley's Drama seinen Geist einhauchte. Der Name Beatrice Cenci's ist noch heuügen Tages den Römern das große Freiheitssymbol. Das junge Mädchen, welches
der Sage nach seine Ehre gegenüber dem schrecklichen Vater ver
teidigte, dessen Schandthat indirekt durch die Verderbtheit des Papstes und aller Behörden unterstützt wurde, gilt noch jetzt den Römern als Heldin und Märtyrerin.
So oft unter dem Drucke des Papst
tums sich im Laufe der Zeiten der Himmel nur etwas aufhellte, tauchte allenthalben in Rom ihr Name, ihr Bild auf.
Shelley
vertiefte sich hier ganz in den Stoff und vergaß alle Theorien. Was an diesem tragischen Konflikt ihn jedoch eigentlich ergriff, war
augenscheinlich wiederum der tiefe Bruch mit aller überlieferten
Sittenlehre, den des Vaters Verbrechen hier zur Notwendigkeit und zur Pflicht gemacht hatte, sowie der Anlaß, der sich ihm bot, die landläufigen theologischen Begriffe von der Vatergüte der Welt
regierung in volle Beleuchtung zu rücken. Beatrice sagt: Du großer Gott, Deß Bild auf Erden sonst ein Vater ist,
Verlässest du mich wirklich?
und als sie gefragt wird: Bist du nicht schuld an deines Vaters
Tod? lautet die Antwort: Willst du nicht lieber Gott, den höchsten Richter
Verklagen, daß er solche That erlaubt, Wie ich sie litt, und wie er sie geschaut; Daß er unnennbar sie gemacht unb mir
Nicht andre Zuflucht, Rach' und Sühne ließ, Als das, was meines Vaters Tod du nanntest.
Im Angesicht der Folterbank sagt sie: Mein Herz weint Thränen bittrer Galle, da's
In dieser argen Welt, wo niemand wahr ist. Mein eigen Blut sich selber treulos sieht.
O, denk ich an dies jammervolle Leben, Das ich gelebt und das nun gräßlich endet,
Und an die dürftige Gerechtigkeit, Die mir und all den Meinen Erd' und Himmel
Erwiesen; und welch ein Tyrann du bist; Und wie zu Sklaven diese sich erniedrigt;
Und was für eine Welt der Unterdrücker
Und die Bedrückten miteinander bilden — Dies ist das Weh, das mir am Herzen frißt.
Offenbar war es besonders die Bereinigung von Energie und
Im Todes
Güte, die Shelley in der Gestalt Beatrices anzog.
augenblicke endlich, da sie die Angst erfaßt, den Vater nach dem
Tode, unter der Erde, im Jenseits wiederzufinden, bricht sie in die Worte aus: Ha! wäre alles meines Vaters Geist, Sein Auge, seine Stimme, seine Hand
Rings um mich her und nimmer mich verlassend,
Die Lust, der Atem meines toten Lebens! . . . Und schlöss' er mich in seine Höllenarme,
Und heftete auf mich den glüh'nden Blick Und risse mich hinab, hinab, hinab!
Denn war er nicht allein allgegenwärtig
Auf Erden und allmächtig?
Lebt sein Geist,
Selbst da er tot ist, nicht in allem fort, Was atmet und mir und den Meinen noch
Verderben, Schmach, Verzweiflung, Qual erschafft?
Von diesem reifsten und bestkomponierten Werke Shelley's erklärte die Literary Gazette: „Die „Cenci" sind das abscheu
lichste Produkt der Zeit, das irgend ein Teufel hervorgebracht zu haben scheint."
Der betreffende Kritiker hofft, nie wieder einem
Buche zu begegnen, das „so den Stempel der Befleckung, Gott losigkeit und Schändlichkeit an sich trage." Dieser erbitterte Widerstand übte eine niederschlagende Wir
kung auf Shelley aus. zu haben.
Er meinte diesmal sein Bestes geleistet
Nicht, als ob er sich hätte beirren lassen, aber er
verlor die Schaffenslust.
Seine beiden letzten Lebensjahre weisen
keinerlei größere Arbeiten auf.
Er schreibt im November 1820:
„Eine Aufnahme, wie sie mir von der Leserwelt zu teil wird, dürfte wohl eines Jeden Begeisterung dämpfen."
Seine letzten
Briefe wimmeln von Auslassungen über die Kritik: April 1819: „Was die Rezensionen bettifft, so nehme ich an,
Radikaler Naturalismus.
296
daß sie nichts als Schmähungen enthalten, und von so ehrlichem
Unwillen sind diese nicht eingegeben, daß sie mich zu ergötzen
vermöchten." März 1820:
„Wenn mich einer der Krittler schmäht, so
schneide es aus und schicke es mir.
Wenn sie mich loben, brauchst
Du Dir leine Ungelegenheiten zu machen.
Ich schäme mich zu
denken, daß ich Lob von ihrer Seite verdienen könnte. Ich schmeichle mir, daß die Schimpfworte nur ein schuldiger Tribut sind."
Im Jahre 1821
schreibt er
das Gedicht auf Keats mit
seinen furchtbaren Ausfällen gegen jenen Krittler, der vermeintlich dessen Tod verschuldet haben soll:
Dir brenne heiße Scham die Stirne wund. Und zittern sollst du stets wie ein geschlag'ner Hund! —
Ium 1821: „Ich höre, daß die Schmähungen über mich alle Grenzen übersteigen.
Ich bitte Dich, wenn du einen oder den an
deren verletzenden Artikel findest, ihn mir zu smden. ich darüber gelacht.
Bisher habe
Doch wehe den Halunken, wenn sie mich
einmal aus dem Gleichgewichte bringen sollten.
Ich habe ent»
deckt, daß mein Verleumder in Quarterly Review der wohlehr
würdige Mr. Milman ist.
Pfaffen haben ihre Vorrechte."
August 1821: „Ich schreibe nichts und werde wahrscheinlich nichts mehr schreiben."
Wenn Byron derart von seinen Feinden gereizt wurde, hielt
er einen Augenblick in seinem Schaffen inne und wies ihnen die Löwentatze. Anders war es bei Shelley. Was in „Peter Bell III."
gegen die Rezensenten vorgebracht wird, ist ein mutwilliger Spaß
im Vergleiche zu Byron's blutigem Hohn gegen Southey und die
anderen.
So oft Shelley auftrat, wimmelte es von litterarischem
Gewürme und Gezüchte unter seinen Füßen. die Ferse.
Sie stachen ihn in
Er konnte ihnen den Kopf nicht zertreten.
Denn solche
Kreaturen haben, wie Swinburne sich ausdrückt, allzu wenig Kopf,
als daß man ihn wahrnehmen und zertreten könnte.
Byron hatte
sich überdies in Europa Freunde und Bewunderer zu Tausenden
erobert; er teilte den Parnaß mit Goethe, er hatte dem Festlande
das Gepräge seines Geistes aufzudrücken begonnen.
seiner Zeit allzusehr vorausgeeilt.
Shelley war
Ein Führer, der nur zwanzig
Schritte vorausschreitet, zieht noch den Schwarm sich nach; ist er den anderen jedoch tausend Schritte voran, so sehen sie ihn und folgen sie ihm nicht mehr, und der erste beste litterarische Busch
klepper kann ihn ungestraft aus dem Hinterhalte niederschießen.
Moore war ein Talent und wirkte als ein solches.
Shelley
war kein Talent, kein kleines und kein großes, sondern ein Genius,
der Genius des Gesanges selbst, mit all der Kraft des Genies, doch
mit wenig Sinn für die Wirklichkeit.
Er war dazu aus
ersehen, das nachwachsende Dichtergeschlecht Englands noch an der Neige des Jahrhunderts zu beherrschen, doch er erlangte nicht den
zwanzigsten Teil des Einflusses auf seine Zeit, wie der nur talentvolle
Moore.
Byron war der Dichter der selbstherrlichen Persönlichkeit
wie keiner vor ihm, und als solcher in hohem Grade selbstisch.
Vorurteil und Eitelkeit hätten nicht bei ihm ausgemerzt werden können, ohne edle Teile in Mitleidenschaft zu ziehen.
Frei von
Eitelkeit und selbstlos, wie Shelley war, ging er unbedingt in
seinen Idealen auf, er entfaltete sein Ich, bis es das Weltall umspannte;
allein
was
eine rein ideale Tugend bei ihm als
Mensch war, bedingte und verursachte bei seiner Poesie, jedenfalls bei jener Gruppe seiner Dichtungen, die er während der ersten Periode seines allzu kurzen Lebens schuf, einen verhängnisvollm
Mangel.
Dem so vollkommm selbstlosen Dichter fehlte es lange
an aller Selbstbeschränkung.
Ein geschärfter Formensinn für die
große Komposition in ihrer Ganzheit war ihm viele Jahre ver sagt.
Bei seinem ersten Auftreten als Dichter strauchelte er daher
über die Schwelle, und es gehört mehr als Genie dazu, solch ein Auftreten bei der Leserwelt in Vergessenheit zu bringen.
Sein
Gedicht „Die Empörung des Islam" war bei allen seinen schönen
Einzelheiten unbestimmt und formlos, schwebte übersinnlich in der Es war mit seinen schattenhaften, blutlosen Gestalten vor
Luft.
allem so breit und lang, daß es eine Aufgabe war, es zu Ende zu
lesen, eine Aufgabe, die nur von Wenigen gelöst wurde.
Bis
Shelley „Die Cenci" schrieb, scheint ihm aller Sinn für den un
endlichen Reiz und den unendlichen Wert, den das Individuelle
besitzt, abgegangen zn sein.
Selbst „Prometheus" und „Asia" er
mangeln in ihrer Eigenschaft als Typen jedes individualisierendm
Zuges, ihre Namen sind nur Überschriften für die wundervollste Lyrik, die England jemals hervorgebracht.
So deutlich die „Cenci"
auch zeigen, daß Shelley alles zu erringen vermocht hätte, woran
es ihm in dieser Hinsicht gebrach, so wurde er doch dahingerafft,
ehe er die Fülle der Verheißungen, die sein Genius barg, zu verwiMchen vermochte, ehe auch der Mitwelt sich die Augen öffneten, was sie an ihm besaß.
Dichtungen alles
an
Tiefe
überragen,
geschaffen, so
Und wiewohl seine kleineren lyrischm
und Frische,
was
dieses
Natürlichkeit
Jahrhundert
konnten doch auch
in
und
lyrischer
Anmut
Form
sie das Zeitalter nicht beein
flussen, da die besten bei Lebzeitm Shelley's nicht einmal gedruckt
wurden.
So vermochte denn er so wenig wie Moore oder Landor
jene Revolution des allgemeinen Bewußtseins herbeizuführen, die Europa erheischte und erharrte. Es bedurfte eines Dichters, der ebenso
individuell wie Shelley kosmisch, ebenso leidenschaftlich wie Shelley ideal,
ebenso
schneidend
satirisch
wie Shelley harmonisch und
graziös war, um die grobe herkulische Arbeit zu verrichten, das
politische und
religiöse Bewußtsein Europas
aufzuwühlen,
die
Schlafenden zu erwecken und die Triumphierenden in den Ab-
grund der Lächerlichkeit zu stoßen.
Es bedurfte eines Geistes, der
das Interesse des Zeitalters ebensosehr durch seine Laster wie durch seine Tugenden, seine Vorzüge wie seine Fehler zu fesseln
vermochte.
Shelley's Instrument war eine edle Geige; ein Horn
mußte erschallen, um die Luft zu reinigen und das Kampfsignal zu geben.
Was von Shelley's Leben noch zu berichten erübrigt, ist rasch
erzählt: Seine letzte Reise von Livorno nach Lerici, auf der er
von dem unvorhergesehenen Sturme überfallen wurde, und von
welcher er nicht wieder lebend ans Land kam — die langen Tage, die seine Gattin in fürchterlicher Angst verbrachte, an der italie nischen Küste irrend, um ihn zu suchen — dann endlich die Auf
findung der unkenntlichen Leiche.
Eine Verordnung bestimmte der
Pestgefahr halber, daß alles vom Meere an den Strand Gespülte verbrannt werde.
Byron benützte dies, um Shelley eine mit seinem
Charakter im Einklang stehmde griechisch-heidnische Bestattungsfeier
zu bereiten. Auf den Scheiterhaufen wurden Räucherwerk, Wein, Salz und Öl gestreut, wie im alten Hellas. Es war ein schöner
Tag und ein prachtvolles Schauspiel — das ruhige Meer und die Apenninen im Hintergründe.
Ein kleiner Vogel umkreiste den
Holzstoß und war nicht zu verscheuchen. und golden empor.
Die Flamme stieg hoch
Der Leichnam wurde verzehrt, doch zu aller
Verwunderung blieb das Herz unversehrt und Trelawny haschte diese Reliquie aus dem glühenden Herde heraus, wobei er sich die
Hand verbrannte.
Die Asche wurde an der Pyramide des Cestius
zu Rom beigesetzt, wo Shelley es so schön gefunden, zu ruhen.
Der Mann, der seinen Körper den Flammen überantwortet hatte, übernahm sein geistiges Erbe.
Wir sind seinem Namen auf
jedem Blatte der Geschichte der Zeit begegnet.
Wir sehen ihn
von Wordsworth, Coleridge und Scott vorbereitet, von Southey
gehaßt, von Landor mißverstanden, geliebt von Moore, von Shelley bewundert, beeinflußt, besungen:
aller.
Er spielt eine Rolle im Leben
In Wirklichkeit ist er es, welcher der poetischen Litteratur
des Zeitalters ihr endgültiges und entscheidendes Gepräge verleiht.
XVII.
Tritt man in das Thorwaldsen-Museum zu Kopenhagen, so
ist das erste Bildwerk, das man zu seiner Rechten hat, eine Marmor büste, die einen schönen, jungen Mann mit feinen, edlen Zügen
und gelocktem Haare darstellt, die Büste Lord Byron's.
Man
findet dieselbe Büste in Gips im Saale Nr. XII und die Por trätstatue, zu welcher sie nach dem Tode Byron's benutzt wurde,
im Saale Nr. XIII.
Stellt man sich vor die Gipsbüste, die
ohne Vergleich am beredtesten ist, so wird der erste Eindruck der
eleganter, vornehmer Schönheit sein.
Im nächsten Augenblicke
wird man sicherlich von dem lebensvollen Ausdrucke sich ergriffen fühlen, der über sie gehaucht ist, und der vornehmlich in einem unruhigen Zittern der Stirn, als könnten sich Wolkew auf dieselbe
lagern und Blitze aus diesen Wolken zucken, sowie in etwas Gewaltsamem in Braue und Blick besteht.
Diese ©tim trägt das
Gepräge der Unwiderstehlichkeit.
Wenn man den Abstand zwischen Thorwaldsen's und Byron's Natur bedenkt und sich erinnert, daß Thorwaldsen sicherlich nie eine
Zeile von Byron gelesen hatte, und wenn man außerdem weiß, daß Byron sich Thorwaldsen nicht eben von seiner vorteilhaftesten Seite zeigte, so muß man das Resultat jener Begegnung der beiden
großen Männer höchlich bewundern.
Die Büste giebt, wenn auch
naturgemäß eine schwache und unvollständige, so doch eine wahr heitsgetreue, schöne Vorstellung von einer Hauptseite von Byron's Charakter, die Thorwaldsen unendlich fern lag.
Das Gebiet, auf
Btjrott. Die inbioibueUe Leidenschaftlichkeit.
301
welchem er am größten ist, ist das der Idylle; will er den Ein
zug Alexander's in Babylon darstellen, so gelingen die Hirten, die Lämmer, der Fischer, die Frauen und Kinder, der ganze festliche
Aufzug ihm besser, als der Held selbst.
Denn das Heroische ist
nicht in eben dem Maße seine Sache, um wie viel weniger erst das kriegerische Naturell in dessen zusammengesetzter moderner Form, welche man als dämonisch bezeichnet hat.
Er hat in der Büste (nicht in der Statue) ihm
Byron geahnt. ein
welches,
gesetzt,
Denkmal
Und dennoch hat er
obschon
es
weder
die
Gräfin
Giuccioli noch Moore befriedigte, sowohl des Dichters wie des
Künstlers würdig ist. würde sich
wohl
Hätte er Byron näher gekannt, das Werk
vortrefflicher
noch
gestaltet,
es würde auch
jenen Zug des Offenen, Sympathischen haben, der jeden, welcher
genauer mit Byron bekannt war, ergriff.
Dieser fehlt nun.
Doch es gelang dem dänischen Künstler,
hinter dem düsteren Ausdruck, der ihm gemacht erschien, zu dem
wirklichen hindurchzudringen, dem tief originellen Gepräge von Schmerz, Unruhe, Genie, edler und furchtbarer Kraft.
Unzweifelhaft ist es dieser Byron, der vom Museum her gekannte Byron, mit welchem das jüngere Geschlecht in Däne mark aufwuchs.
Doch an das Bild knüpfte sich zugleich hart
näckig die Anekdote von dem Besuch in Thorwaldsen's Werkstätte
und von dessen Ausruf: sein," und man
Mann
sich
nicht
„Er wollte nun einmal so unglücklich
wunderte sich unwillkürlich, daß ein so großer vollkommen
natürlich
gehaben
sollte.
So
gerieten die Dänen von allem Anfänge an in ein schiefes, un
sicheres Verhältnis zu Byron.
Und auch das spätere Geschlecht
ist in den Jahren, die seit dem Tode des großen Dichters ver
strichen sind, in ein ähnliches kühles Verhältnis zu ihm getreten. Er ist gar weit davon entfernt, der Held unserer Tage zu sein.
Was noch weit mehr als seine poetische Größe unsere Großväter und Großmütter für ihn schwärmen ließ, das gerade hat die
jetzige Generation abgestoßen. Die Legende, die sich um ihn gebildet
hat, die ganze Überlieferung, womit seine Lebensgeschichte überwuchert ist, und die sie unserem Blicke verhüllt, der Theaterheld in ihm, dessen Halstuchknoten zum Muster biente, der Romanheld, der sich von seinen Pistolen nicht trennen konnte und dessen Liebesabenteuer
nicht minder weltbekannt wurden, wie seine Verse, endlich der Aristokrat, dessen hoher Rang ihm selbst so wertvoll war, dessen
Titel jedoch auf ein Geschlecht, welches keinen anderen Adel als
dm des Geistes anerkennt, nicht länger imponiermd wirkt.
Unser
praktisches Jahrhundert schätzt zudem die Figur gering, welche zu sein Byron sich bald zur Ehre machte, bald in WiMchkeit
war: ein Dilettant.
Es ist ihm Ehrensache, seine Kunst als Amateur und Dilet tant zu betreiben.
Seine Stellung und seine Bestrebungen —
heißt es in der Vorrede zu seinen ersten Poesien —
machen
es höchst unwahrscheinlich, daß er je wieder die Feder ergreifm werde.
Im April 1814 beschließt er auf der Höhe des Ruhmes,
den seine ersten poetischen Erzählungen ihm verschafft haben, keine
Verse mehr zu dichtm und alles zu unterdrückm, was er bereits verfaßt hat.
Einen Monat darauf dichtet er „Lara", und als
Jeffrey den Charakter des Heldm zu peinlich ausgearbeitet nennt,
schreibt er (in einem Briefe von 1822): „Was meinen die Kritiker mit ihrem „ausgearbeitet"?
„Lara" schrieb ich, während ich mich
auskleidete, wmn ich in dem luftigen Jahre 1814 von Bällen und Maskeraden heimkam."
Man fühlt, daß er ausdrücklich die
nachlässige Produktionsweise und die Planlosigkeit, die sie zur Folge hat, betont, weil er vor allem Weltmann sein will und nicht Dichter von Fach, sondern, was sein Genie ihm zu sein ver bot, Dilettant in der Poesie.
Und wie er mit aller Gewalt Dilettant auf einem Gebiete
sein wollte, wo er es nie werdm konnte, wo es uns jedoch heut zutage zuweilen abstößt, daß er seinen Beruf nicht in höherem
Grade achtete, so war er umgekehrt unstreitig auf einem Felde Dilettant, wo er selbst um feinen Preis es hätte sein mögen, als Politiker nämlich. So viel praktischen Sinn er auch im politischen
Leben stets beknudete, seine Politik war doch im Grunde Ge
fühls- und Abenteurerpolitik, mochte er nun an Verschwörungen als Carbonari in Ravenna teiluehmen, oder als Feldherr an der
Spitze der Sulioten in Missolunghi stehen.
Byron's erste Hand
lung, als er nach Griechenland zu gehen beschloß, war, sich und
seinen Freunden vergoldete Helme mit seiner adligen Devise als
Inschrift zu bestellen. In unseren Tagen ist der ein Politiker, der bestimmte Pläne
entwirft, an ihnen festhält, sie jahraus jahrein weiter ausbildet und endlich hartnäckig und rücksichtslos
nicht mit dem Apparat
des Helden, doch mit des Helden Festigkeit durchführt. Endlich hat der ganze Troß der Byron'schm Bewunderer und
Nachahmer sich zwischen ihn und uns gedrängt und das Bild des
großen Toten verdunkelt, sein Andenken getrübt.
Man hat ihm
ihre Eigenschaften angedichtet, ihre Fehler zur Last gelegt.
Als
in der Litteratur die Reaktion gegen diejenigen eintrat, die ihn
halb und falsch verstanden hatten, gegen die Zerrissenen, die Bla sierten und Interessanten, führte der Rückschlag allmählich dahin,
daß der große Name mit allen dm kleineren heute verdrängtm zur Seite geschobm wurde.
Er hätte ein besseres Los verdimt.
George Gordon Byron wurde den 22. Januar 1788 von einer leidenschaftlichen und unglücklichm Mutter geboren, die kurz
zuvor ihren Gattm, einen rohm Mann von zügellosen Sittm, ver lassen hatte.
Dieser Mann, Kapitän Byron mit Namm, der als
Gardeoffizier einige Zeit in Amerika gedient hatte, hatte schon in
seiner Jugmd sich durch sein wildes Lebm allgemein unter dem Namm „der tolle Jack Byron" bekannt gemacht.
Wegen der
Entführung der Gemahlin des Marquis von Carmarthen wurde
er bei Gericht verklagt.
Der Prozeß endete mit einer Scheidung;
Die individuelle Leidenschaftlichkeit.
Dyron.
er heiratete die Marquise, brachte ihr Vermögen durch und be handelte sie so schlecht, daß sie wenige Jahre darauf aus Gram starb.
Mit seinem kleinen Töchterchen Augusta kehrte er nunmehr
nach England zurück und vermählte sich, lediglich um seine Vermögens
verhältnisse zu bestem, mit einer reichen schottischen Erbin, Fräu lein Katharina Gordon, welche die Mutter des Kindes ward, dessen Ruhm noch heute die Welt beschäftigt.
Gleich nach der Hochzeit be
gann Kapitän Byron mit dem Vermögen seiner zweiten Gattin wie
mit dem seiner ersten zu schalten, und im Laufe eines Jahres hatte er dasselbe von 24000 Pfund auf 3000 Pfund herab
gebracht.
Sie verließ ihn in Frankreich und gebar in London
ihr einziges Kind.
Bei der Geburt wurde der Fuß des Kindes
verrenkt oder verletzt.
Zwei Jahre darauf zog die Mutter mit ihrem Kinde nach
Aberdeen in Schottland, wohin ihnen Kapitän Byron, in der Hoff
nung, von seiner Gemahlin Geld zu erpressen, während einer Pause in seinen Ausschweifungen folgte.
Frau Byron nahm ihn eine
Zeitlang wieder gutmütig in ihrem Hause auf, später kam er noch ost zu ihr auf Besuch, bis er, um seinen Gläubigem zu entrinnen,
nach Frankreich zurückkehrte, wo er kurz darauf starb.
Als seine
Gattin, die nie aufgehört hatte, ihn zu liebm, die Todesbotschaft
erhielt, brach sie in so leidenschaftliche Wehklagen aus, daß man
es in der ganzen Nachbarschaft vernahm. Nur der Form und dem Grade nach verschieden offenbart
sich
als gemeinsamer Charakterzug bei
beiden Eltem Byron's
eine starke Leidmschastlichkeit, verbunden mit einem großen Mangel
an Selbstbeherrschung.
Und forscht man weiter zurück, so findet
man bei beiden Geschlechtern die nämlichen Züge, bei der Familie
der Mutter als Selbstmords- und Vergiftungsversuche, bei der Familie des Vaters bald unter der Form von heldmmütiger Ber-
wegenheit, bald in Gestalt wilder Roheit.
Byron's Großvater
von väterlicher Seite, Admiral John Byron, allgemein hardy
Byron, der kühne Byron, genannt, nahm an dem Seekriege gegen
die Spanier und Franzosen teil, machte Entdeckungsreisen in der Südsee, umsegelte die Erde und erlebte Gefahren, Abenteuer und
Schiffbrüche ohne Zahl; der merkwürdige Zufall, daß er nie eine Reise unternahm, ohne von heftigen Stürmen überfallen zu werden,
trug ihm bei den Matrosen den Spitznamen Foul-weather Jack ein.
Byron vergleicht sein Schicksal mit dem dieses Vorfahren.
Bei dem Großonkel
des Dichters, William,
Familienzug am unheimlichsten geltend.
macht sich dieser
Er war ein ausschwei
fender Raufbold, dessen einzige Heldenthat darin bestand, daß er
nach einem Wortwechsel seinen Nachbar Mr. Chaworth in einem Duell ohne Sekundanten erstach.
Nur als Peer von England
entging er der Verurteilung wegen Totschlages; er lebte, gemieden wie ein Aussätziger, auf seinem Gute in Newstead.
Seiner Um
gebung war er verhaßt, seine Gattin trennte sich von ihm.
Der
Aberglaube in jener Gegend dichtete ihm die abgeschmacktesten
Schandthaten an. Unruhiges Blut hatte sonach der Dichter in seinen Adern. Allein dies unruhige Blut war zugleich hochadliges Blut.
Von
mütterlicher Seite war er mit den Stuarts verwandt und konnte seine Familie bis auf König Jakob II. zurücksühren; von väter
licher Seite stammte er — jedoch mit einem einzelnen illegitimen Gliede im Stammbaume, ein Umstand, den Byron selbst nie mals erwähnt — von einem alten normannischen Adelsgeschlechte,
dessen ältester bekannter Stammvater, Radolphns de Burun, an
der normannischen Eroberung Englands teilnahm.
Und als der
obenerwähnte Großonkel seinen einzigen Sohn und 1794 seinen einzigen Enkel verlor, war alle Aussicht vorhanden, daß sein Be
sitztum Newstead, und mit diesem sein Peerstitel und seine Peers rechte, dem Kinde zufallen würden, das er nie gesehen hatte, das er aber „den lahmen Jungen, der in Aberdeen wohnt," zu nennen
pflegte. Br-nde-, Litteratur der 19. Jahrh. IV.
20
Der kleine lahme Junge wuchs
dieser Anwartschaft auf.
denn auch im Bewußtsein
Stolz und unlenksam war er von Natur.
Als er als ganz kleiner Junge eines Tages gescholten wurde, weil
er seine neue Bluse beschmutzt hatte, erwiderte er kein Wort, sondern
griff sich, leichenblaß, mit beiden Händen an die Bmst und riß in einem seiner (später nicht seltenen) Anfälle von stummer Wut die
Bluse
bis unten entzwei.
oben
von
Die Erziehung der
Mutter war eine derartige, daß sie das Kind bald mit Schelt worten, bald mit den heftigsten Liebkosungen überhäufte, ihm bald
das Unrecht, das ihr von seinem Vater widerfahrm, bald sogar sein körperliches Gebrechen vorrückte.
So ist es zum Teil ihre
Schuld, daß dieses Gebrechen von frühe auf einen düstern Schatten über das Gemüt des kleinen Georgie warf; er hörte sich von den
Lippen
seiner
Mutter
Krüppel
nennen.
Durch
orthopädische
Maschinen und durch Bandagen hatte man das Übel verschlimmert;
der Fuß schmerzte, und der stolze Knabe bot seine ganze Willenskrast auf, um diesen Schmerz und die Beschwerlichkeit beim Gehen zu verheimlichen.
Zuweilen vertrug er keine Anspielung auf sein
Gebrechen, manchmal sprach er selbst mit bitterem Humor von seinem „Klumpfuß".
Ohne irgendwie Schulsteiß zu bekunden, stürzte sich der Knabe, sobald er lesen konnte, auf Geschichtswerke, besonders aber auf
Reisebeschreibungen.
Der Grund zu seiner Sehnsucht nach dem
Morgenlande wurde auf diese Weise schon im frühesten Kindes alter gelegt.
Er sagt selbst, daß er, keine zehn Jahre alt, mehr
als sechs große Werke über die Türkei, außerdem Reiseschilderungen
und arabische Märchen gelesen habe.
Als kleiner Junge war sein
Lieblingsroman „Zeluco" von John Moore, dessen Held, infolge
der schlechten Erziehung der Mutter nach dem Tode des Vaters, jeder Laune zu folgen sich gewöhnt hat und dessen Temperament
schließlich „so leicht Feuer fängt, wie Schießpulver". Das Kind sah sich im Spiegel dieses an „William Lovell" erinnernden Roman-
Helden.
Unter den Eigenschaften, welche eine entscheidende Rolle
im Leben des Dichters spielen sollten, zeigte die leidenschaftliche
Zuneigung zu dem andern Geschlechte sich schon als Kind bei ihm. Nicht mehr als fünf Jahre zählend, verliebte er sich so heftig in
ein
kleines
Mädchen,
Mary
Duff,
daß
ihn,
als
er
elf
Jahre später von ihrer Verheiratung erfuhr, die Kunde wie ein
Blitz traf. Zu dem Stolze, der Leidenschaftlichkeit, der Melancholie und
der phantastischen Reisesehnsucht gesellten sich noch als ausschlag
gebender Charakterzug eine glühende Wahrheitsliebe, eine naive
Aufrichtigkeit, die schon als Kind sich bei dem geltend machte, dem das Los vorbehalten war, als Mann den Kampf gegen die ge sellschaftliche Heuchelei in Europa aufzunehmen. nur eine der Formen seiner Wahrheitsliebe.
Sein Trotz war
Das Dienstmädchm
hatte eines Tages das Kind zu einer Aufführung von Shakespeare's „Der Widerspenstigen Zähmung" mit ins Theater genommen. Eben war man zu der Stelle gelangt, wo Petruchio behauptet, der Mond
scheine, und Katharina, die gesagt hat, daß es die Sonne sei, gezwungen wird, ihre Meinung zu widerrufen.
Als hierauf Pe
truchio zu ihrer nachdrücklichen Bändigung umsattelt, sprang der kleine Georgie nach der Replik: „Ei, wie du lügst! 's ist ja die liebe Sonne," erzürnt über die vermeintliche Unwahrheit auf und
rief dem Schauspieler zu: „Und ich sage Ihnen, Sir, es ist doch der Mond!" Als George sein zehntes Jahr erreicht hatte, starb sein Groß
onkel.
Die erste Regung des Kindes war, zur Mutter zu laufen
und sie zu fragen, ob sie keine Veränderung an ihm bemerken
könne, da er nun Lord geworden.
Als am nächsten Morgen die
Namen in der Schule aufgerufen wurden und dem seinigen unter dem Jubel der Kameraden der Titel Dominus beigefügt wurde,
war der Eindruck so tief, daß er in Thränen ausbrach und die gewöhnliche Antwort Adsum
nicht über seine Lippen bringen 20*
konnte.
Seine
heftigstm Freuden waren frühzeitig und lange
die Triumphe der Eitelkeit.
Um
diese Gemütsbewegung zu verstehen, muß man
aber
sich erinnern, was die Lordwürde in England bedeutete und be deutet.
Adlig
im strengen Sinne
sind in diesem Lande nicht
mehr als ungefähr 400 Personen. Der Lord, der in seiner Baronie
mit einem fast unumschränkten politischen und sozialen Einfluß
ausgestattet ist, genießt kaum weniger Ansehen als ein regierender Fürst. Im allgemeinen entspricht auch sein Reichtum seinem Range, was indes hier nicht der Fall war, denn Byron war vermögens los und Newstead Abbey verfallen und verschuldet.
Im Herbste 1798 begab sich Frau Byron mit ihrem Söhnchen auf die Reise nach Newstead.
Als sie an das Chausseehaus vor
Newstead kämm, that die Mutter, als ob sie den Ort nicht kenne,
und frug die Frau, die den Schlagbaum öffnete, wem der Park und das Schloß gehörten.
Das Weib antwortete, daß der letzte
Besitzer der Abtei vor wenigen Monatm gestorben sei. — Und wer ist sein Erbe? frug sie in ihrem Glücke. — Es soll ein kleiner Knabe sein, der in Aberdeen wohnt.
Da vermochte das Dienst
mädchen ihre Freude nicht länger zu bezähmen. Sie küßte den klemm George, dm sie auf dem Schoße hielt, und rief triumphierend:
„Und der da ist es.
Gott segne ihn!"
1801 wurde der Knabe in die Schule zu Harrow gethan, eine der großen, mglischen Nationalschulen, die bei der Aristokratie beson
ders beliebt war.
Der Unterricht (im Griechischen und Lateinischen)
war trocken und pedantisch und nicht sonderlich anregend für Byron,
der mit seinen Lehrem auf gespanntem Fuße zu stehen pflegte,
während er . mit seinen Kameraden schwärmerische Freundschafts bündnisse anknüpfte.
„Meine Schulfrmndschaftm," sagte er in
seinem Tagebuch von 1821,
war immer ungestüm."
liebsten Beschützer.
„waren Leidenschaften;
denn ich
Er war als Freund edelmütig und am
Als Peel, der spätere Minister, eines Tages
von einem größeren Knaben, dessen „sag“ er war, unbarmherzig
geprügelt wurde, unterbrach Byron seinen Plagegeist mit der Bitte,
die Hälfte der dem Kameradm zugedachten Schläge auf sich nehmen zu dürfen.
Als der kleine Lord Gort von einem jüngeren Lehrer,
weil er ihm das Franzbrot schlecht geröstet hatte, mit einem glühen den Eisen in die Hand
gebrannt worden war und der Knabe,
als die Sache zur Untersuchung kam, sich hartnäckig weigerte, den
Thäter zu nennen, bot Byron ihm an, statt bei dem Lehrer bei ihm „sag“ zu sein, mit dem Versprechen, daß er dann keine Miß
handlungen zu befürchten haben solle.
„Ich wurde sein Fag,"
erzählt Lord Gort (s. die Memoiren der Gräfin Giuccioli) „und
war äußerst glücklich, einen so gütigen, edelmütigen Herrn be
kommen zu haben, der mir beständig Kuchen und Näschereien schenkte und stets Nachsicht mit meinen Fehlern hatte."
An seinen
Lieblingsfag, den Herzog von Dorset, hat Byron in seinen „Stunden der Muße" schöne Verse zur Erinnerung an das Schulleben ge
richtet.
Wenn Byron während der Ferienzeit daheim weilte, trat die Mutter in ihrer alten, jähzornigen Art gegen ihn auf, allein statt sich vor ihr zu fürchten, konnte er sich oft des Lachens über die Leiden
schaftlichkeit der kleinen dicken Frau nicht enthalten. Nicht genug, daß sie Teller und Tassen zerschlug, trieb sie auch zuweilen den Sohn
mit der Schürstange und dem Messer in die Flucht.1 Stellt man
* Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist von DiSraeli in dem
Roman „Benetia" so wahr und lebendig geschildert worden, daß mit Um wandlung der erdichteten Namen (Carducis, Plantagenet, Morpeth u. s. w.) in
sei.
die
richtigen
eine
gedrängte Szme
aus
diesem .Buche
wiedergegeben
Versetzen wir uns im Geiste auf den Herrensitz Annesley in der Nach
barschaft
von Newstead,
den Hofplatz
als
eben
angefahren kommt,
eines
dem
Vormittags ein Postwagen auf
eine kleine sehr beleibte Dame mit
rotem Gesicht und einem Anzuge entsteigt, der Schäbiges und Scheckiges auf eigentümliche Weise vereinigt.
Sie ist von einem Knaben von 11—12 Jahre»
begleitet, dessen Erscheinung von der der Mutter in hohem Grade absticht.
Er
Byron.
310
Bit individuelle Leidenschaftlichkelt.
Ilch nun vor, daß nach einer Szene, wie der unten geschilderten, ein junges
goldhaariges Mädchen
in
die Stube tritt und mit einem
Blick den trotzigen Knaben besänftigt, so hat man eine Situation,
die
auf Annesley
bei der Familie Chaworth (Verwandten
jenes
ist blaß und schlank, mit langem, gelocktem Haar und großen, Hellen Augen,
deren Blitzen ab und zu auf angenehme Weise ein Antlitz belebt, das im all
gemeinen einen scheuen, verdrossenen Ausdruck hat.
Es ist ein erster Besuch.
Müde und erhitzt von der Fahrt tritt man ein.
Eine schreckliche Fahrt!
rief Frau Byron sich fächelnd, indem sie Platz
nahm, und diese Hitze! George, mein Schatz, mache der Dame eine Verbeugung. Habe ich Dir nicht immer befohlen, Du solltest Dich verbeugen, wenn Du in ein fremdes Zimmer kommst?
Mache Frau Chaworth Deine Verbeugung! —
Der Knabe grüßte mit einem verdrießlichen Nicken; allein Mrs. Chaworth
nahm ihn mit solcher Herzlichkeit auf, daß seine Züge sich ein wenig aufhellten, wiewohl er sich vollkommen schweigsam verhielt und wie ein Bild störrischer
Gleichgültigkeit auf dem Rande seines Sessels saß. — Eine reizende Gegend, Frau
Chaworth, meinte Frau Byron . . . Annesley ist ein wunderschöner Punkt,
sehr verschieden von der Abtei, aber schauerlich einsam ist es hier.
Es ist eine
große Veränderung für uns, die wir von einer kleinen Stadt mit allen den vielen freundlichen Nachbarn kommen.
Sehr verschieden von Dulwich, — nicht
wahr, George? — Ich Haffe Dulwich, sagte der Knabe. — Was, Du hassest
Dulwich? rief Frau Byron, nun, das heiße ich undankbar sein, gegen die vielen lieben Freunde. Abgesehen davon, George, habe ich Dir nicht gesagt, daß Du niemanden Haffen darfst? Ach, Sie glauben es gar nicht, Frau Chaworth,
was das für eine Aufgabe ist, das Kind^zu erziehen! er so artig sein, wie nur einer.
Wenn er aber will, kann
Nicht, George? — Lord Byron lächelte'höhnisch,
setzte sich ganz nach hinten auf den tiefen Stuhl und schlenkerte mit den Beinen,
welche nun nicht mehr bis zum Boden reichten.
Ich bin überzeugt, daß
Lord Byron stets artig ist, bemerkte Frau Chatvorth. — Nun, George, ver setzte Frau Byron, hörst Du? Hörst Du, waS Mrs. Chaworth sagt? Nimm
Dich nun zusammen, daß Du der Dame keinen Anlaß giebst, ihre gute Meinung von Dir zu ändern. — George kräuselte die Lippe und wandte der Gesellschaft
halb den Rücken zu. — George, mein Schatz, so sprich doch. Hab ich Dir nicht
gesagt, , daß man, wenn man in Gesellschaft ist, dann und wann den Mund austhun muß?
Schwatzhafte Kinder kann ich nicht leiden, aber solche Kinder
habe ich gern, die antworten, wenn man mit ihnen spricht. — Mit mir hat
niemand gesprochen, sagte Lord Byron in mürrischem Tone. — George, mein
Schatz, Du weißt, Du hast mir versprochen, artig zu sein. — Was habe ich denn gethan? — Lord Byron, sagte Frau Chaworth ablenkend, möchten Sie
vielleicht Bilder
ansehen? —
Nein,
ich danke sehr,
erwiderte der
kleine
Lord in höflicherem Tone, ich möchte am liebsten in Ruhe gelassen sein. —-
Mannes, den Byron's Großonkel im Duell getötet hatte) sich gar
oft wiederholt haben mag, wenn Mutter und Sohn dort zu Besuch weilten nnd die junge Tochter des Hauses, Mary Ann Chaworth,
einen Moment ihren Blick auf George ruhen ließ. Sie war 17 Jahre Sie müssen, beste Frau Chaworth, ihn nicht danach beurteilen, wie Sie ihn jetzt sehen.
Er kann ganz köstlich sein, wenn er will. — Köstlich! murmelte der
kleine Lord zwischen den Zühnen. — Sie hätten ihn in Dulwich sehen sollen,
dann und wann in den kleinen Theegesellschaften, er war geradezu die Perle der Gesellschaft. — Nein, das war ich nicht, sagte Lord Byron. — George,
gab seine Mutter in feierlichem Tone zurück, wie oft hab' ich Dir befohlen, nicht zu widersprechen? — Der kleine Lord gab sich einem unterdrückten Murren hin. — Letzte Weihnachten führte man ein kleines Lustspiel auf, da spielte er
allerliebst.
Sie werden das gar nicht glauben können, nach dem, wie er jetzt
dort auf seinem Sessel sitzt. George, mein Schatz, ich verlange, daß Du artig bist. So sitze doch wie ein Mann. — Ich bin kein Mann, sagte Lord Byron,
ich wollte, ich wäre es. — George, versetzte die Mntter, hab' ich Dir nicht ein für allemal gesagt, daß ich keine Widerrede dulde?
Das schickt sich nicht
für Kinder . .. George, hörst Du, was ich sage, schrie Frau Byron scharlachrot vor Zorn. — Alle Menschen können hören, was Sie sagen, Mrs. Byron, ent gegnete der kleine Lord. — Nenne mich nicht Mrs. Byron, das ist nicht die Art,
wie man zu seiner Mutter spricht. Ich mag von Dir nicht Mrs. Byron gegenannt werden. Ich hätte Lust aufzustehen und Dir einen tüchtigen Klaps zu geben.
O, Frau Chaworth, seufzte sie, und eine Thräne rollte über ihre Wange,
wenn Sie nur wüßten, was das heißt, dieses Kind zu erziehen! — Werte Frau, versetzte Frau Chaworth, ich bin überzeugt, daß Lord Byron keinen anderen Wunsch kennt, als zu thun, was Ihnen angenehm ist, Sie haben ihn sicherlich mißverstanden. — Ja, sie mißversteht mich immer, sagte der kleine Lord mit weicherem Tone und feuchten Augen. — So, jetzt sängt er an, sagte seine Mutter uni) begann selbst auf das Schrecklichste zu weinen, als im selben Nu
die Erinnerung an alle seine Unarten in ihrem Bewußtsein auftauchte und sie
ausfuhr, um zu ihrem gewohnten letzten Auskunstsmittel zu greifen und ihm einen tüchtigen Schlag zu versetzen. Ihr behender Sohn, an diese Stürme gewöhnt, sprang zur Seite, stellte einen Sessel zwischen sich und seine Mutter, über den
sie beinahe gefallen wäre, und nun jagten sie im Zimmer hintereinander her. In ihrer Verzweiflung haschte sie nach einem Buche und wollte es ihm an den Kopf werfen, doch mit satanischem Lächeln duckte er sich, und das Buch
flog durch eine Fensterscheibe.
Sie machte noch einen desparaten Angriff, vor
dem der kleine Lord fich in seinem Schrecken nur dadurch zu schützen wußte, daß er Frau Chaworth's Nähtisch vor sie hinwirbelte.
Sie fiel-über das Tisch
bein und bekam einen hysterischen Anfall, während Lord Byron bleich und trotzig in einem Winkel stand.
alt, als Byron 15 zählte. in sie verliebt.
Er war leidenschaftlich und eifersüchtig
Auf den Bällen, wo sie glänzte, mußte er, der
durch seinen lahmen Fuß am Tanzen verhindert war, mit qual vollen Blicken sie in den Armen Andrer sehen.
Da hörte er sie
eines Abends zu dem Kammermädchen, das die Rede auf Byron
und seine Aussichten gebracht hatte, die Äußerung thun: „Glaubst Du, ich mache mir etwas aus dem lahmen Burschen?" den Schmerz hinab und zog sich zurück.
Er würgte
Dreizehn Jahre später
schrieb er unter strömenden Thränen in der Villa Diodati am
Genfer See das Gedicht „Der Traum", welches dies Verhältnis behandelt und den Beweis liefert, wie tief ihm diese Jugend-
enttäuschung zu Herzm gegangen? Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn gestaltete sich
immer unnatürlicher, mit um so ruhigerer Ironie Byron allmählich
den Wutanfällen der Mutter begegnete. Es kam zu solchen Szenen, daß eines Abends Mutter und Sohn, jedes für sich, insgeheim in der Apotheke ersuchen ließen, falls der andre Teil Gift verlangen sollte, möge man ihm statt dessen eine unschädliche Mixtur verab
reichen.
Hatten sie einander mit Selbstmord gedroht? Mit trüb
seligem Humor spricht der junge Byron in seinen Briefen von
den Ausflügen, von denen er niemanden im voraus das Geringste
1 Höchst bezeichnend für die Mutter ist die Art und Weise, wie sie, zwei Jahre nachdem Byron seine Hoffnungen hatte aufgebm müssen, ihm mitteilte,
daß Mary Chaworth sich vermählt'habe.
eben Besuch zugegen war.
Sie erhielt die Nachricht, während
Byron, rief sie, ich habe eine tranrige Nachricht
für Dich. — So, was den»? — Nimm erst Dein Taschentuch zur Hand, Du
wirst eS brauchen. — Byron that es. Als die Mutter ihm hierauf erzählte, daß Miß Chaworth sich verheiratet habe, steckte er das Taschentuch rasch wieder ein und sagte mit erzwungener Gleichgültigkeit und Kälte, während tiefe Bläffe sein Antlitz überzog: Ist das alles? Auf die Bemerkung der Mutter, sie hätte
geglaubt, er
würde vor Leid zusammenbrechen, schwieg er und lenkte das
Gespräch auf andere Gegenstände.
Je weniger seine Mutter ihm eine Ver
traute zu sein vermochte, desto lebhafteren Drang mußte er empfinden, dem Papiere seine Gefühle und Kümmernisse anzuvertrauen.
ahnen ließ, aus Furcht, wie er bemerkt,
„vor dem gewohnten
mütterlichen Kriegsgeheul."
1805
bezog
Byron
die
Universität
Cambridge;
er
ver
brachte seine Zeit dort weniger mit dem Studium der Universitäts
fächer, als mit allen erdenklichen körperlichen Übungen, auf die er
sich schon von Kindheit auf, um sein Gebrechen wett zu machen,
geworfen hatte.
Reiten, Schwimmen, Tauchen, Schießen, Boxen,
Criquetspielen und Trinken, das waren Fertigkeiten, die sich bis
zur Vollkommenheit anzueignen sein ehrgeiziges Bemühen war. Der
Dandy begann in ihm zu keimen, und in jugendlichem Übermut belustigte es ihn,
seine Ausflüge in Gesellschaft eines hübschen
jungen Mädchens, das ihn in Männerkleidern bald als Page, bald als sein jüngerer Bruder begleitete, zu unternehmen, ja er war mutwillig genug, es in dem Badeorte Brighton einer fremden Dame
unter letzterem Titel vorzustellen.
Newstead Abbey
war verpachtet.
trag ablief, zog Byron ein.
Sobald
der
Pachtver
Es war eine wirkliche alte gotische
Abtei, mit Refektorium und Zellen, schon 1170 gegründet, mit
Park und See und Ringmauer und einem gotischen Brunnen aus
dem Hofplatze.
Hier führten er und seine Kameraden ein aus
jugendlichem Trotz gegen alle Regeln hervorgegangenes Lotter leben, das in einem Stile gehalten und von einer Originalitäts sucht gestempelt war, wie man dies in der Geschichte genialer
Jünglinge,
die sich ihrer Aufgaben und Ziele noch nicht bewußt
geworden, häufig beobachtet. Man stand um 2 Uhr nachmittags auf, focht, spielte Feder ball, schoß mit Pistolen, und nach dem Dinner machte, zum Entsetzen
der ganzen gottesfürchtigen Gegend, ein mit Burgunder gefüllter
Schädel die Runde.
Byron hatte, als sein Gärtner zufällig einen
alten Mönchsschädel ausgrub, denselben in einem Anfall über mütiger Laune in Silber fassen lassen, und er und seine Freunde fanden nun ein kindliches Ergötzen daran, in der Mummerei von
Mönchen mit Tonsur, mit Kreuz und Rosenkranz u. s. w. ihn als
Trinkschale zu benützen.1 Man muß jedoch in diesem Zuge nicht etwa einzig jugmdlichen Cynismus von der Art erblicken wollen, die sich,
wie z. B. häufig bei jungen Medizinern, gar wohl mit großer
Lebenslust paaren kann; ein Charakter wie der Byron's hat sicher eine Art bittern Reizes darin gefunden, beim Trinkgelage solch ein
Memento mori vor Augen zu haben.
In Byron's Versen auf diese
Trinkschale heißt es, daß die Berührung von Menschenlippen dem
Toten immerhin lieber sein müsse, als der Biß des Wurms. Aus allzu überschäumender Lust entsprangen indes seine Aus
schreitungen nicht.
Er besaß nicht allein die Schwermut, die bei
hervorragenden Naturen in der ersten Jugend fast durchgehends die Folge der Unruhe ist, mit noch unerprobten Gaben und Kräften
lauter schwierigen Fragen von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen: er besaß auch die Melancholie, die seine eigenartige Natur
anlage, seineErziehung, seine heftige Leidenschaftlichkeit mit sich bringen mußten.
Man erzählt aus dieser Periode seines Lebens ein paar
Anekdoten, bei welchen seine Biographen Rührung zu beschleichen pflegt.
Die erste betrifft seinen Hund.
Er setzte 1808 auf das
Grab seines Lieblingshundes eine höchst misanthropische Inschrift, in der er diesen auf Kosten der gesamten Menschheit erhebt, und machte zugleich ein (später zurückgenommenes) Testament, worin er
an der Seite dieses Hundes, seines einzigen Freundes, begraben zu
werden verlangte. Ein zweites Zeichen seines Gefühles von Verlassen heit ist die Art und Weise, wie sein Geburtstag 1809 gefeiert wurde. An diesem Tage vollendete er sein einundzwanzigstes Lebensjahr
und wurde nach
englischem
Gesetze mündig.
Diesen Tag als
höchsten Festtag zu betrachten, ist in England Sitte; beim Adel
begeht man ihn mit Tanz, Illumination, Feuerwerk und der Be wirtung aller Bewohner des Gutes.
Byron war so arm, daß er
1 Der jetzige Besitzer von Newstead hat ihn aus religiösen Gründen be graben lassen.
nur gegen Wucherzinsen sich Geld zu verschaffen vermochte, um seinen Leuten einen Ball zu geben und den traditionellen ganzen Ochsen braten zu lassen.
Keine Wagenreihe mit hohen Gratulanten hielt
am 22. Januar 1809 vor den Pforten des Schlosses; weder Mutter, Schwester, Vormund noch Verwandte fanden sich ein; er verbrachte
den Tag in einem Hotel in London.
In einem seiner Briefe von
1822 heißt es: „Habe ich Ihnen je erzählt, daß ich an dem Tage, wo ich mündig wurde, Schinken mit Eiern zu Mittag aß und eine Flasche Ale dazu trank?
Das ist mein Leibgericht und Leib
getränk; da ich jedoch keines von beiden vertrage, gönne ich mir
beides nur alle vier, fünf Jahre einmal an hohen Festtagen." Wer wollte leugnen, daß es erfreulicher, reich als arm zu sein,
und daß es dem Selbstbewußtsein wohlthuender ist, von Verwandten und Freunden beglückwünscht zu werden, als sich heimatlos und vereinsamt zu fühlen; allein im Vergleich zu den Schwierigkeiten,
Entbehrungen
und Demütigungen,
mit
welchen jeder moderne
junge Plebejer am Anfänge seiner Laufbahn zu kämpfm hat, sind die Widerwärtigkeiten dieses jungen Patriziers doch wahrlich kaum
der Rede wert.
Sie erhalten ihre Bedeutung dadurch, daß sie
Byron, der als Aristokrat so leicht in Standes- und Familien
gefühlen hätte aufgehen können, frühe allein auf jene Hilfsquellen
anwiesen, welche die einzig auf sich gestellte Persönlichkeit besaß.
Es
war
keine der großen politischen Begebenheiten jener
Periode, kein Eindruck von Begeisterung oder Entrüstung hinsichtlich der historischen Umwälzungen, an denen die Zeit so reich war, was
Byron dem regellosen, planlosen Lebm auf Newstead entriß.
Er
eignisse, wie der Tod von Fox, wie das für England so schmähliche
Bombardement Kopenhagens, ließen denjenigen als Jüngling unbe rührt, den als Mann jedes politische Geschehnis, sei es Großthat oder Unthat, durchbeben sollte.
Es war eine private litterarische
Widerwärtigkeit, die dm Wmdepunkt erzeugte.
Währmd seines
Aufenthalts in dem Städtchen Southwell vom Sommer 1806
bis zum Sommer 1807 hatte er seine ersten poetischen Versuche
niedergeschrieben und mit denselben bei den jungem Gliedern einer
bürgerlichen Nachbarsfamilie namens Pigot lebhafte Teilnahme erregt.
Im März 1807 erschien die Sammlung unter dem Titel Unter diesen Gedichten ist keines sehr be
Hours of idleness. deutend;
die
diejenigen,
darunter ein energisches Gefühlsleben
ahnen lassen, verlieren sich unter einem Wust von Schülerpoesien,
teils Übersetzungen und Nachahmungen der in der Schule gelesenen klassischen Dichter und des Ossian, teils empfindsamen und stilistisch
unreifen Freundschasts- und Liebesgedichten.
In einigen wenigen
enthüllt sich uns Jetztlebenden, die wir ja hinterher leicht klug sein
können, in deutlichen Umrissen Byron's spätere Persönlichkeit; in dem Gedichte To a Lady, das an Mary Chatworth gerichtet
ist, finden sich ein paar echt Byron'sche Strophen: Wärst du nur mein, wär alles gut: Die Wange, bleich von frühem Schwärmen, Verzehret in der Lüste Glut,
Könnt ruhig an eignem Herd erwärmen . . . Jetzt aber such' ich andre Lust,
Zum Wahnsinn triebe mich das Denken; Bei lässigem Schwarm, in leeren Wust
Muß ich der Seele Leid versenken.
In Wirklichkeit aber verdienten die Gedichte nur wenig Be
achtung, und da sie zudem mit knabenhaften und geschmacklosen Anmerkungm versehen, mit einem anspruchsvollen Vorwort aus
gestattet
und
auf
dem
Titelblatte
die
Worte
„ein
Minder
jähriger" dem Verfassernamen beigefügt waren, so bot die Samm lung Stoff genug, den Spott und die (Satire herauszufordern.
Im Januar 1808 brachte denn die Edinburgh Review, damals das
oberste
kritische
Tribunal,
eine (wahrscheinlich von Lord
Brougham verfaßte) überaus boshafte Rezension dieser Gedichte. „Die Minderjährigkeit," heißt es darin, „prangt auf dem Titel-
blatte,
sogar auf dem Einbande. . . Wäre Lord Byron darauf
verklagt worden, ein gewisses Quantum Poesie zu liefern, und er
hätte dann den vorliegenden Band eingereicht, so würde der Richter aller Wahrscheinlichkeit nach den Inhalt des Bandes nicht als
Poesie anerkennen, wogegen er den Einwand der Minderjährigkeit erheben könnte.
Doch da er die Ware fteiwillig anbietet" u. s. w.
„Vielleicht," fährt der Kritiker fort,
„will er damit nur sagen:
,Seht, wie ein Minorenner schreiben kann! Die Hand darauf, dies Gedicht hier ist von einem jungen Menschen von achtzehn Jahren
verfaßt, jenes andere von einem Sechzehnjährigen!'
Allein, weit
entfernt uns darüber zu wundern, daß ein junger Mensch äußerst mittelmäßige Verse macht, glauben wir vielmehr, daß in England
unter zehn Jungen von besserer Erziehung neun gleichfalls Verse machen, und der zehnte bessere schmiedet, als Lord Byron . . . .
Wir müssen ihm zu bedenken geben, daß, wenn die Endsilben sich
reimen, und die Versfüße richtig an den Fingern abgezählt sind — was sich von den seinen nicht einmal immer behaupten läßt —
dies noch lange nicht den Inbegriff alles dessen bildet, was man von einem Dichter verlangt.
Ein wenig Phantasie gehört auch
dazu . . ." u. s. w. u. s. w.
Zum Schluffe
wird
denn
Byron
der
gute
Rat
erteilt,
der Poesie zu entsagen, seine Talente, die großen Vorzüge seiner
Stellung besser zu benutzen.
An die Adresse des epochemachendstm
Dichters des Zeitalters von jemandem gerichtet, beffen Fach es war, die Geister kritisch zu prüfen und zu würdigen, war der
Artikel, trotz seiner teilweisen Berechtigung, unleugbar ein grober
Verstoß.
Für Byron
widerfahrm können.
Herausforderung,
aber war er das beste, was ihm hätte
Er wirkte auf ihn mit der Gewalt einer
er verletzte seine Eitelkeit tödlich und weckte,
was diese überleben sollte, seinen Stolz.
Ein Freund, der eben
zu ihm kam, als ihm die Zeiffchrift zu Händm gekommm war,
versichert, seine Augen hätten einen so wundersamen Ausdruck von
Trotz und Stolz gehabt, daß kein Künstler, der eine beleidigte
Gottheit darzustellen wünschte, ein Modell von furchtbarerer Schön heit hätte finden können. Der Umgebung gegmüber verhehlte er, wie tief erregt er war. In einem Briefe aus jenen Tagen giebt er seinem Bedauern Aus
druck, daß seine Mutter sich den Artikel so sehr zu Herzen ge nommen habe, erklärt, daß derselbe weder seine Ruhe noch seinen Appetit gestört habe, und bemerkt nur, daß diese Papierkugeln ihn
gelehrt hätten,
Schüssen standzuhaltm.
Doch
nach
mehr als
zehn Jahren schreibt er: „Ich erinnere mich noch sehr lebhaft des
Eindruckes, dm die Edinburger Kritik auf mich machte; sie rief Wut und dm Vorsatz in mir hervor, zu trotzen und mich zu
rächm, keineswegs jedoch Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung.
Eine unbarmherzige Kritik ist Gift für einen angehenden Schrift steller, und sie schmetterte mich zu Boden — doch ich sprang
wieder auf . . . fest entschlossen, ihr Rabmgekrächz zu Schandm zu machen und bald wieder von mir hören zu lassen.".
So kam denn von außen her der Antrieb, durch welchen das leidenschaftliche, zersplitterte Seelenlebm des jungen Mannes sich in Einem Gefühle, in einem einzigen Vorsatz konzentrierm sollte. Mit unerschütterlicher Festigkeit und zäher Ausdauer machte er
sich daran zu arbeiten, schlief am Tage, stand nach Sonnenunter gang auf und schrieb in einem Zuge, mehrere Monate lang die
Nächte hindurch bis zum Morgengrauen arbeitmd, seine erste be
rühmte Safire.
XVIII. Berühmt ist und ward dieselbe mit Recht; doch nicht durch
ihren Witz und Humor, denn daran gebricht es ihr völlig, auch nicht durch die Fülle treffender Ausfälle, denn sie teilt fast nur
blinde Hiebe nach links und rechts aus, sondern um der Kraft, des
Selbstgefühles, der unerhörten Kühnheit willen, die ihr zu Grunde liegen und sich in ihr Luft machen.
Die Angriffe hatten bei
Byron eine dunkle Regung wachgerufen, die alsbald zu einem übermächtigen Gefühl erwachsen sollte, einem Gefühl, in welchem
er sich seiner selbst erst recht bewußt ward, dem:
euch alle!
Diese Regung war ihm wie anderen großen streit
baren Naturen der Geschichte das Lebenselixir.
ungestraft
können!
Einer gegen
höhnen
Mich,
dürfen!
„Mich sollte man
Mich glaubt man zerschmettern zu
der allein stärker ist, als sie alle!"
Dies das
Thema, das ihm in den Ohren schwirrte, währmd er schrieb.
Die Edinburger waren gewohnt, sion
einen
kleinen
Dutzenddichter
wenn sie in solch einer Rezm-
wie
eine Fliege
zu Boden
schlugen, oder aus Versehen ein armes Singvögelchen Herabschossen, den Betreffenden in der Stille sich härmen oder demütig seiner
eigenen mangelhaften Begabung die Schuld geben zu sehen, so
baß jedenfalls stets ein tiefes Schweigen der Kritik folgte.
Nun
aber warm sie auf Einen gestoßen, bessert ungeheure Stärke und Schwäche eben darin bestand, niemals sich selbst die Schuld an
einem Mißgeschicke zuzuschreiben, sondem dieselbe mit Leidmschaft auf andere zu wälzen.
Auch diesmal folgte der Kritik em ändert-
halbjähriges Schweigen, dann aber erging es, wie es in dem Ge dichte Viktor Hugo's geschrieben steht: Tont ä coup au milieu de ce silence morne Qui monte et s’accroit de moment en moment S’öl&ve un formidable et long rugissement, C’est le lion.1
Und
das Bild ist das richtige.
Denn diese nicht schöne,
nicht graziöse, nicht witzige Satire ist mehr Gebrüll als Gesang. Der Dichter, der eine Nachtigallenkehle hat, freut sich, da er zum
ersten Male vernimmt, daß seiner Stimme Wohllaut eigen ist? — Das
Entlein
häßliche
verspürt
seine
Schwanennatur,
als
es
hinaus in sein Element gestoßen wird, allein das Gebrüll des
jungen Löwen überrascht ihn selbst und belehrt ihn, daß er nun zum Seiten erwachsen ist.
Man suche denn auch nicht in den English
bards and Scotch reviewers Degenstöße, die mit fester Hand
geführt werden.
sie — doch
Diese Wunden schlug keine Hand, eine Tatze riß
ex ungue leonem!
Mäßigung und Vernunft.
Man suche hier nicht Kritik,
Kennt das verwundete Raubtier Scho
nung und Takt, wenn eine Kugel, die es töten sollte, es nur
flüchtig verletzt hat?
Nein, das Raubtier sieht sein eigenes Blut
fließen, Blut schwimmt ihm vor den Augen, und Blut will es
zur Rache vergießen.
Es sucht auch nicht einzig den, der die
Kugel abgefeuert; wenn einer aus der Schar den jungen Löwm ver wundet hat, dann wehe der ganzen Schar! Alle Dichternotabilitäten Englands,
die berühmtesten, gefeiertsten — jeder, der bei der
Edinburgh Review gut angeschrieben stand, wie jeder, der für sie schrieb,
werden
in
dieser Satire wie Schulknaben von einem
zwanzigjährigen Jüngling behandelt, der vor kurzem selbst nichts 1 Victor Hugo: Les chätiments — La caravane. 8
Noch hör' im Ohr klingen ich's, Wie einstens es mir kam,
Daß der eignen Stimme Singen
Urplötzlich ich vernahm.
Chr. Winther: An Eine.
Nr. 139.
Byron. Die individuelle Leidenschaftlichkeit.
321
Er läßt sie Spießruten
anderes als ein Schulknabe gewesen war.
laufen, einen nach dem andern, englische Poeten wie schottische Rezensenten. Es kommt hier manches beißende Wort vor, das nicht ins Blaue hinein geredet ist.
Die leere Phantasterei in Southey's
Thalaba und die unnatürliche Fruchtbarkeit dieses Schriftstellers, die Beweise, welche Wordsworth's Gedichte für die Wahrheit seiner
Lehre liefern, daß Verse bloße Prosa sind, Coleridge's Ammen-
stubenkindlichkeit
und
die
Lüsternheit
leidenschaftlichem Hohne gegeißelt.
bei Moore
werden
mit
Scott's Mannion erfährt einen
Angriff, der an des Aristophanes Verspottung der Helden des
Euripides erinnert.
Allein der überwiegenden Mehrzahl nach sind
diese Ausfälle doch so ungerecht und unbesonnen, daß sie in der
Folgezeit dem Verfasser weit mehr Verdrießlichkeiten bereiteten, als denjenigen, welchen sie galten. dem er eben noch
jedoch
Byron's Vormund, Lord Carlisle,
die Hours of idleness gewidmet, der sich
geweigert hatte,
seinen Mündel
im Parlamente
einzu
führen, Männer, wie Scott, Moore, Lord Holland, die später zu
Byron's bestm Freunden zählten, wurden hier ohne Gmnd, aus ganz unrichttgen Voraussetzungen und mit einer grandiosen Kritik
losigkeit angeschnauzt, die ihr Gegenstück nur in der erstaunlichen Bereitwilligkeit hat, womit Byron, sobald er zu besserer Einsicht kam, Abbitte that und die Wirkungen seiner ehemaligen Irrtümer
auszulöschen suchte.
Er war einige Jahre später vergebens bemüht,
die nun einmal erschienene Saüre dadurch aus der Welt zu schaffen,
daß er die fünfte Auflage derselben gänzlich vernichten ließ. Vorläufig machte sie indes großes Auffehen und verschaffte
ihrem Verfasser die gewünschte Genugthuung. Byron hatte zu Beginn des Jahres 1809 in London Auf
enthalt genommen, um seine Satire zum Druck zu befördern, sowie
um seinen Sitz im Oberhause einzunehmen.
Da er niemanden
hatte, dm er bei dieser Gelegenheit um sein Geleit hätte ersuchm
können, mußte er gegen Brauch und Sitte sich selbst einführm. Brande», Litteratur de» 19. Jahrh. IV.
21
Sein Frmnd Dallas hat die Szene beschrieben.
Beim Eintritt
schien sich Byron's Antlitz mit noch tieferer Blässe als sonst zu über ziehen, und in seinen Zügm lag ein Ausdmck der Kränkung und
des Unwillens.
Der Kanzler, Lord Eldon, ging ihm lächelnd
entgegen und sagte ihm einige verbindliche Worte.
Mit einer
steifen Verbeugung berührte Byron als Antwort die dargereichte
Hand Lord
Eldon's mit dm Fingerspitzen.
Als der Kanzler
sein Entgegenkommen solchermaßen verschmäht sah, kehrte er auf feinen Sitz zurück.
Byron warf sich nachlässig auf eine der leeren
Bänke der Opposition, verweilte einige Minuten, erhob sich und
ging seines Weges.
Er wollte nur seinen Platz bezeichnen und
zeigen, welcher Partei er sich anschließe.
„Jetzt, da ich meinen Sitz
eingenommen habe," sagte er zu Dallas, „will ich ins Ausland
reifen."
Im Juni 1809 verließ er England.
wie er in einem Briefe an seine
Längst schon hatte er,
Mutter vom Jahre 1808 bemerkt, gefühlt, daß derjenige, welcher nur sein eigenes Vaterland kennt, die Menschen nie von einem freieren oder allgemeineren Standpunkte zu beurteilen vermag;
denn, sagt er, man lemt aus der Erfahrung, nicht aus Büchem; nichts ist so belehrend wie die sinnliche Betrachtung des Gegen
standes
selbst.
Zuerst
Hurrah Hodgson!),
reiste und
er
nach
Lissabon
(das Gedicht:
die Beschreibung Eintras im ersten
Gesänge des Childe Harold entstammt diesem kurzen Aufenthalte ;
hierauf galoppierte er mit seinem Begleiter, Mr. Hobhouse, nach Sevilla und besuchte sodann Cadix und Gibraltar.
Keines
der
prachtvollm
historischen
Denkmäler
Sevillas
machte Eindmck auf ihn; hier wie in Cadix nehmen die Fraum ihn ganz und gar in Beschlag.
Er fühlt sich von der Zuvor
kommenheit spanischer junger Damen jugendlich geschmeichelt und nimmt aus Sevilla als Reliquie eine drei Fuß lange Haarlocke
mit.
Gibraltar ist ihm als englische Stadt selbstverständlich ein
„verwünschter Ort".
Doch so kalt ihn die geschichtlichen Denkmäler lassen, so stark beginnen nun die politischen Verhältnisse der Länder ihn zu be schäftigen, und vor allem sind es die Beziehungen Spaniens zu
England, auf die seine Aufmerksamkeit sich richtet.
Die beiden
ersten Gesänge des Childe Harold zeigen, daß er nur bitteren Hohn
für
die ganze auswärtige Politik Englands
hatte.
Er
spottete über dessen sogenannten Sieg bei Madrid, bei welchem die Engländer 5000 Gefallene hatten, ohne den Franzosen irgend
welchen wesentlichen Schaden zuzufügen, und er ist kühn genug, Napoleon seinen Helden zu nennen. Von Spanien ging die Reise nach Malta, dessen uralte Denk
mäler, die später den alten kranken Scott so entzückten, ebenso wie
früher die Sevillas auch
nicht den geringsten Eindruck auf ihn
machten. An dem historisch-romantischen Sinne gebrach es ihm eben so vollständig, wie an dem romantischen Nationalgefühl. Seine Ge
danken und seine Sehnsucht galten weder den grünen Wiesen Englands, noch den nebligen Hochlanden Schottlands, sondern dem Genfer See
in seiner ewigen Farbenpracht und dem griechischm Jnselmeere.
Ihn beschäftigten nicht die historischen Großthaten seines Volkes,
nicht die Kämpfe zwischen der roten und weißen Rose, wohl aber die
Politik
der
Gegenwart,
und
in
den
Annalen
der
Ver
gangenheit nur die Erinnerung an die großen Freiheitskämpfe.
Die alten Statuen waren ihm nichts als Stein, er fand die
lebenden Frauen schöner als alle die antiken Göttinnen (dummes Zeug nennt er die idealen Steinbilder in „Don Juan"); doch ver
sinkt er in tiefes Sinnen angesichts des Schlachtfeldes von Marathon und verherrlicht es später in zwei epischen Dichtungen.
Und als
er in seinem letzten Lebensjahre nach Ithaka kam, wies er das Anerbieten der Führer, ihm die Monumente der Insel zu zeigen,
mit den an Trelawny gerichteten Worten zurück:
Geschwätz über die Antike.
„Ich hasse das
Glauben denn die Leute, ich hätte
keine lichten Augenblicke und wäre nach Griechenland gekommen,
21*
UM noch mehr Albernheiten zusammenzuschmierm!"
Das prak
tische Freiheitspathos verschlang zuletzt sogar bei ihm das poetische. Mit Byron ist die romantische Empfindsamkeit dahin;
mit ihm
erhebt sich der moderne Geist in der Poesie; daher wirkte er nicht
bloß für sein Land, sondern für Europa.
Auf Malta fühlte sich Byron stark von einer reizenden jungen Dame gefesselt, derm Bekanntschaft er dort machte, einer Frau
Spencer Smith, die aus politischen Gründen von Napoleon ver folgt
wurde.
Eine
schwärmerische
Freundschaft
entspann
sich
zwischen dm beidm, die in Byron's Dichtungen so manches Dmkmal hinterlassm hat.
Florence.
(Childe Harold, Ges. II, Str. 30.
In ein Album.
Ambracischen Golf.)
An
Während eines Gewittersturmes im
Von Malta ging die Reise durch West-
griechmland nach Albanim, „wilder Männer trotzige Säugerin",
wie er in Childe Harold das Land nennt, von dem er singt: Hier streift der Wolf, der Adler wetzt die Klau', Hier hausen Männer, wild wie Wolf und Aar.
Es ist bezeichnmd für Byron, daß seine erste Reise Gegenden galt, die außerhalb aller Civilisation lagen, wo daher die Per
sönlichkeit noch gamicht von Gesetz und Sitte eingeschränkt war. Wahlverwandtschaft Mmschen hin.
zog ihn zu diesm Naturszenm und diesen
Es ging ihm wie dem jungen Manne in Words-
worth's Ruth: Was er in diesen Zonen fand An Ton und Anblick unbekannt,
Rief ihm ein Echo wach
In tiefster Brust; verwandter Schall
Ließ hören ihn im Widerhall Des eignen Herzens Schlag.
Er, der in gerader Linie von Rousseau abstammt, fühlte sich
mächtig zu allen den „im Naturzustände" lebenden Vollem hin
gezogen?
Die Albanesen waren damals fast noch ebenso wild
1 Er hat Rousseau in einer Stanze geschildert, die wie auf ihn selbst gedichtet erscheint:
Byron. Bit individuelle Leidenschaftlichkeit.
325
wie ihre pelasgischen Vorfahren, und Faustrecht und Blutrache galten unter ihnen als einzige Rechtsordnung.
Der erste Anblick
der Männer und Frauen am Gestade in ihren prächtigen Trachten, mit ihren hohen Filzmützen oder Turbans, auf prunkend aufge zäumten Rossen, unter Trommelwirbel und Muezzinrufen von den
Minarets, erschien ihm, da eben die untergehende Sonne ihre
Strahlen über das Ganze ergoß, wie ein Märchen aus „Tausend und eine Nacht." Janina erwies sich als eine bedeutendere Stadt als Athen. In der Nähe derselben ereignete es sich, daß die Reisenden in
einer Nacht, die Byron besungen hat, ihren Führer verloren,
und verlassen inmitten der Berge, den Hungertod
vor Augen,
flößte er seinen Reisegefährten ein tiefes Gefühl von Bewunderung ein durch den unerschütterlichm Mut, der sein männliches Charakter
merkmal bei allen großen Gefahren war. Am Tage nach der Ankunft wurde Byron bei Ali Pascha
eingeführt, „dem türkischen Bonaparte", den er, ttotz seiner Wild heit und Grausamkeit stets bewundert hatte.
Ali empfing ihn
stehend, war äußerst freundlich, bat ihn, seine Mutter von ihm zu grüßen, und sagte, was Byron ganz besonders schmeichelte, daß er
an feinen kleinen Ohren, weißen Händen und gelockten Haaren
seine vornehme Abkunst erkenne.
Der Besuch bei Ali hat das
Motiv zu wichttgen Szenen im vierten Gesänge des Don Juan
Rousseau, der Grübler mit dem wilden Herzen,
Des GramS Apostel, dessen Zaubermacht
Stolze Beredsamkeit äbmng den Schmerzen, Sah hier das Licht, das ihm nur Fluch gebracht; Und doch, er hat den Wahnsinn schön gemacht.
Die sünd'gen Thaten und des Irrtums Wähnen Hüllt' er in Worte voller Himmelspracht,
Die gleich der Sonne blenden, und vor denen Das Auge wehmutsvoll sich füllt mit heißen Thränen. Childe Harold, III, 77.
abgegeben; Lambro und noch etliche andere Byron'sche Figuren sind nach ihm gezeichnet, wie ihn übrigens auch später Viktor Hugo in Les orientales geschildert hat.
Ali behandelte Byron ganz wie
ein verzogenes Kind und sendete ihm wohl zwanzigmal des Tages Mandeln, Früchte, Sorbet und Zuckerwerk.
Gegen die zahlreichen Räuberbanden durch das bewaffnete Gefolge, welches Ali ihm mitgab, geschützt, bereiste Byron ganz Albanien, und seine wilden Begleiter gewannen ihn so lieb, daß
sie einmal, als er ein paar Tage am Fieber darniederlag, den Arzt zu erschlagen drohtm, wenn er ihn nicht Herstelle.
dessen entfloh der Arzt — und Byron genas. war
er,
während
man in einer Höhle
Infolge
Auf dieser Reise
am Golfe von Arta
übernachtete, Zeuge jener nächtlichen Szene — der Aufführung
des pyrrhischen Waffentanzes unter Gesang —, die ihn zu der Schilderung in Childe Harold, II, 67, wie zu dem schönen Ge sänge Tamburgi! Tamburgi! Anlaß gab.
In Athen regte die
Entrüstung über die englische Plünderung der Parthenonsskulp
turen Byron zu dem Gedichte „Minerva's Fluch" an, wie eine flüchtige Liebschaft mit einer der Töchter des englischen Konsuls
ihm das kleine Gedichtchen „Das Mädchen von Athm" eingab, dessen Heldin fortan während ihres ganzen übrigm Lebens, auch
noch als sie eine blasse, verschrumpfte Matrone war, von englischen
Touristen überrannt wurde.
Am 3. Mai vollführte Byron seine
berühmte Schwimmtour über die Meerenge der Dardanellen von Sestos bis Abydos in einer Stunde und zehn Minuten, auf die
er sein ganzes Leben so stolz war, und die er in „Don Juan" erwähnt.
Alles, was er in diesen ftemden Gegenden sah und erlebte, sollte übrigens
dienen.
wenige . Jahre später ihm als poetischer Stoff
In Konstantinopel sah er eines Tages Hunde von einer
Leiche das Fleisch abnagen, und diese von ihm selbst erlebte Szene bildet die Grundlage für die Schilderung der Greuel in der
„Belagerung von Korinth"
wie später in „Don Juan" für die
Schreckensszenen, welche die Belagerung von Ismail im Gefolge hat.
Als er von einem Besuche Moreas nach Athen zurückkehrte,
scheint er das Liebesabenteuer, das dem „Giaur" zu Grunde liegt,
selbst erlebt zu haben.
(Der Brief des Marquis von Sligo an
Byron spricht für diese Annahme.)
Soviel steht jedenfalls außer
allem Zweifel, daß er eines Tages, von seinem Bade im Piräus heimkehrend,
einem
Trupp
türkischer
Soldaten
begegnete,
die
ein in einen Sack eingenähtes junges Mädchen trugen, das ins
Meer geworfen werden sollte, weil es ein Liebesverhältnis mit einem Christen unterhalten hatte.
Mit der Pistole in der Hand
zwang Byron die ganze wilde Schar umzukehren, und erwirkte, teils durch Bestechungen, teils durch Drohungen, die Freilassung
des Mädchens. Das bunte Reiseleben vermochte ihm nicht das Gleichgewicht
des Gemütes zu schenken, daran es ihm gebrach.
Die letzten von
seiner Reise datierenden Briefe bekunden starke Melancholie.
Das
Ziellose seines Daseins und der^daraus hervorgehende Lebms-
überdruß
scheinen ihn darnieder zu drücken.
Die Sorge,
ver
schuldet zu sein, und mit erschütterter Gesundheit, mit einem von
Fieber geschwächten Körper allein ohne Freunde dazustehen, zieht sich durch alle seine Äußerungen.
Einzig von seinen Gläubigern
erwartet er daheim empfangen zu werden.
In Wirklichkeit em
pfing ihn bei seiner Ankunft die Nachricht von der Erkrankung seiner Mutter.
Er eilte nach Newstead, um sie noch einmal zu
sehen, und traf dm Tag nach ihrem Tode ein.
Die Kammerjungfer
fand ihn abmds neben der Leiche kauernd und hörte durch die Thür
sein Schluchzen. Auf ihren Zuspruch, seinen Schmerz zu beherrschen, erwiderte er unter Thränen: „Ach, sie war der einzige Freund, den ich besaß, und sie ist tot."
Gleichwohl konnte er in seiner
übertriebenen Scheu, vor anderen seinen Schmerz zur Schau zu
tragen, sich nicht entschließen, seine Mutter zu Grabe zu geleiten.
Er stand am Schloßportale, bis der Leichenzug verschwunden war.
Dann rief er seinen Pagen, ließ sich die Fechthandschuhe bringen, und ging mit krampfhafter Heftigkeit an seine gewohnten Box
übungen.
Doch dies überstieg seine Kräfte.
Er warf die Hand
schuhe hin und eilte auf sein Zimmer. — Unmittelbar darauf verfiel er in einen Zustand tiefen, nicht abzuschüttelnden Trüb
sinnes, während dessen er neuerdings die testamentarische Ver
fügung traf, daß Lord Byron's Leichnam neben dem seines Hundes bestattet werden solle.
Kaum war Byron gelandet, als sein Freund Dallas sich er
kundigte, ob er keine Verse von seiner Reise mit heimgebracht habe.
Der
unkritische
Byron
zeigte
ihm
nicht
ohne
Stolz
Hinte from Horace, eine neue Satire im Süle Pope's, und als der Freund, von der Lektüre mit Recht nicht sonderlich erbaut, frag, ob er nichts anderes hätte, rückte Byron mit dem, was er
„etliche
kleinere
Gedichte
und
eine
Menge
Spenser-Stanzen"
nannte, heraus: es warm die beiden ersten Gesänge des Childe
Harold.
Auf die inständige Bitte des Freundes wurden diese
zuerst in Druck gegeben.
Uns Jetztlebmdm verschmilzt der Eindruck der zwei ersten
Gesänge leicht mit der Erinnerung an die (sechs bis sieben Jahre
später geschriebmen) zwei letzten; allein man muß beide Teile in ihrem Wesm streng auseinanderhalten, will man eine klare Vor
stellung von Byron's Entwickelungsgang gewinnen.
Es ist ein
ebmso großer Sprang von der ersten Hälfte des Childe Harold zu der zweiten, wie von dieser zu „Don Juan."
Die Stanzm, welche Byron Dallas zeigte, sind wohlklingmd, empfindungsvoll und hier und da pompös. Hier schallm zum ersten male Gesang und Musik von den Lippen, dmen reicher Wohllaut, so
lange sie Leben atmeten, entströmen sollte.
Immerhin habm wir
hier nur die schwachm Umrisse der Dichterphysiognomie, mit der zehn Jahre später ganz Europa verttaut war.
Die zahlreichen und
Ayrou. Vie inbitnbutllc Leidenschaftlichkeit.
329
kräftigen Naturschilderungen sind hier noch die Hauptsache, die lyrischen Partien im Vergleiche hierzu von verschwindendem Umfange, und leicht können diese Stanzen bei einem oberflächlichen Blicke wie Reiseeindrücke eines jungen vornehmen und lebensmüden Eng
länders anmuten, nur daß sie durch den das
welchem
empfangen
gehalten
Gedicht
haben.
Childe
ist,
erhabenen Stil, in
ein
veredelndes
ist
ebenso
Harold
„Don Juan"
schwärmerisch in seinem Tone, als
Gepräge
feierlich
und
wirklichkeits
liebend und launig ist. Hier herrscht ein gewisses trübseliges Grau in Grau der
Stimmung vor. Byron ist hier noch nicht derjenige, der von einem
Gefühle zum anderen, am liebsten zum entgegengesetzten Extreme überspringt, um ihnen allen Zwang anzuthun und sie um so ge
waltsamer zu zerreißen, je stärker er sie spannt.
Doch nehmen wir
des Dichters Physiognomie auch nur in halbem Profile wahr, sehm wir auch nicht den leisesten Anflug der stachlichten Laune
des
Satirikers
Lächeln
oder
sein
bald
so
haben
hervorblitzen,
cynisches,
wir
bald
dennoch
scherzhaftes
hier
in
dem
warmen, feierlichen Pathos des Jünglings die ausgeprägteste Per
sönlichkeit in der Poesie des Jahrhunderts vor uns.
Ein Ich
tritt in diesem Gedichte hervor, das jede Einzelheit beherrscht, ein
Ich, das in keinem Gefühle hinschmilzt, in keiner Sache aufgeht.
Währmd die anderm Dichterpersönlichkeiten luftige, fließende, krystallisierte Formen annehmm konnten, bald hinter einer ftemden
Persönlichkeit unsichtbar wurden, bald sich zu kosmischen Wesen verwandelten, bald ganz in den Sinneseindrücken aufgingen, die sie von außen her empfingen, steht hier ein Ich,
das mittelst aller
Dinge sich zu sich selbst verhält, auf sich selbst zurückkommt, und
zwar ein bewegtes, leidenschaftliches Ich, von dessen Gemütsbe
wegung die Bewegung jeder noch so kleinm Strophe zeugt, wie
das Brausen der einzelnm Muschel an das des Meeres erinnert. Childe Harold
(in
dem
ersten
Entwürfe Childe Bunin)
verläßt nach übelverbrachter Jugend das Herz voll Spleen ein
Land, in dem er keinen Freund und keine Geliebte hinterläßt.
Er
krankt an jenem jugendlichen Lebensüberdruß, welchen Trübsinn erzeugende physische Anlagen und Zustände, sowie frühzeitige Über
sättigung mit Genüssen im Gefolge haben.
Keine Spur bei ihm
von der kecken Fröhlichkeit der Jugend oder ihrer Lust an Ver
gnügungen, an Ruhm; er glaubt mit allem fertig zu sein, nachdem
er wmiges erprobt, und
der Dichter verschmilzt so vollständig
mit seinem Helden, daß er sich nie auch nur für eine Minute auf
den Schwingen der Ironie über ihn erhebt. Alles dies, wovon die Zeitgenossen sich so überwältigt fühlten,
spricht den modemen kritischen Leser wenig an, die Künstelei tritt zu deutlich hervor, und die Zeit, wo der schlaffe Lebensüberdruß
interessierte, ist vorüber.
Gleichwohl kann niemand, der ein ge
übtes Auge besitzt, übersehen, daß die Maske — denn hier ist that sächlich eine Maske — wenn sie kritisch entfernt wird, ein ernstes
und leidendes Antlitz enthüllt. Die Maske war die eines Einsiedlers — man nehme sie fort, und eine einsame Natur bleibt zurück.
Die
Maske war pompöse Melancholie — man reiße sie ab, und echte
Schwermut birgt sich dahinter.
Harold's muschelbesetzte Pilger-
ttacht ist allerdings nur das Domino eines Maskenballes, doch sie bedeckt einen Jüngling mit feurigem Gefühle, mit scharfem Ver
stände, mit düsteren Lebenseindrücken und mit seltener Freiheits
liebe.
In Childe Harold's besserem Ich ist nichts Unaufrichttges,
für alles, was er denkt und siihlt, steht Byron selbst ein.
Und
sollte der mit Byron's eigener Lebensführung während des nächst folgenden Zeitraumes Vertraute einen Widerspruch zwischen dem
greisenhaften Trübsinn der erdichteten und dem jugendlich genuß
süchtigen Leichtsinn der wirklichen Persönlichkeit finden, so rührt diese Nichtübereinstimmung allein daher,
daß Byron, welcher in
der Dichtkunst noch der absttakt idealistischen Richtung huldigte, in den ersten Gesängen des Childe Harold nicht sein ganzes Wesen
Nyroa. Vie inMotbutllt tobtnsdjaftlidikiit.
an den Tag zu legen vermochte.
331
Alles gehört allerdings ihm
selbst, doch in ihm lag noch eine ganz andere Welt, die völlig mit einzubeziehen, voll und ganz in seiner Dichtung zu Fleisch
und Blut werden zu lassen, ihm erst in seinem „Don Juan" ge
lang.
Die Unvollständigkeit der Selbstschilderung darf nicht mit
Verstellung oder Affektation verwechselt werden.
Im Februar 1812 hielt Byron seine Jungfernrede im Par lamente zu Gunsten der armen Arbeiterbevölkerung von Notting
ham, welche die Webemaschinen, die sie brotlos machten, zertrümmert hatte, nnd gegen die nun die strengsten Maßregeln vorgeschlagen
wurden.
Die Rede ist jugendlich und rhetorisch, aber lebhaft
und warm; es war ganz im Geiste Byron's, für die Sache der
hungernden, verzweifelnden Massen einzutreten, und mit viel ge sundem Sinne wies er seinen Landsleuten nach, daß ein Zehntel
der Summe, mit welcher sie die Portugiesen bereitwilligst in den
Stand setzten Krieg zu führen, hinreichen würde, der Not abzu helfen, welche man nun mittelst Kerker und Galgen zum Schweigen
Byron's lebhafter, eingefleischter Haß wider den
bringen wollte.
Krieg ist einer von jenen
„Gran gesunden Menschenverstandes,"
in seiner Poesie aufgelöst findet,
die man stets
und derselbe
beseelt auch die zwei ersten Gesänge des „Childe Harold". Byron's
zweite
Parlamentsrede
galt
der
Befteiung
Katholiken; sie gefiel nicht sonderlich, ist aber sehr gut.
bekämpft
darin
Religionsfteiheit
mit der
großer
logischer
Katholiken
ins
Schärfe Feld
den
wider
geführten
der
Byron
die
Beweis
grund: mit eben demselben Rechte könne man sie auch den Juden gewähren.
In
seinen Papieren findet sich folgende jugendlich
launige Äußerung: „Da beide Parteien in der Emanzipätionsftage ungefähr gleich standen, sendete man in aller Eile nach mir und
holte mich von einem Balle weg, dm ich, ehrlich gestanden, ziem lich ungern verließ, um fünf Millionen Menschen zu emanzipieren." Derartige scherzhafte Äußerungen, von ähnlichem Schlage wie seine
Notiz über die Ehe: „Wie angenehm das sein muß, vermählt zu sein
und auf dem Lande zu wohnm — man hat ein hübsches Weibchen und küßt dessen Zofe" — sind, weil sie so gar nicht der Childe Harold'schen Schwermut entsprechen, thörichten Menschen ein hin reichender Beweis gewesen, daß er es mit nichts ernst gemeint habe.
Er war einfach sehr jung, etwas geckenhaft, betrachtete es als eine Schande, sich empfindsam auszudrücken, und hatte sich unbewußt
die Worte des heiligen Bernhard zum Wahlspruch erkoren: Be
mühe dich mehr deine Tugenden als deine Laster zu verbergen!
(Plus labora celare virtutes quam vitia!) Die Jungfernrede machte außerordentliches Glück und kam gerade gelegen, um auf die beiden ersten Gesänge des Childe
Harold die Aufmerksamkeit zu lenken, welche zwei Tage, nachdem jene gehalten worden war, erschienen.
Die Wirkung des Ge
dichtes war überwältigend; urplötzlich war Byron eine Berühmtheit
geworden, der neue Löwe Londons, der legitime Herrscher der Stadt für das Jahr 1812.
Die ganze Weltstadt, d. h. alles in
ihr, was am schönsten, feinsten, gebildetsten und glänzendsten war, lag dem dreiundzwanzigjährigm Jüngling zn Füßen.
Hätten die
ersten Gesänge des Childe Harold die Eigenschaften der letzten be sessen, sie hätten sicherlich nicht diese geräuschvolle Popularität er rungen. Große Ehrlichkeit und große Ursprünglichkeit gewinnen nie mals mit einem Schlage die Gunst der Massen.
Allein gerade das
Verschleierte, unklar Blasierte dieses ersten Versuches machte Ein
druck auf den Haufen; die dunkel empfundene Kraft wirkte um so
stärker, weil sie sich ein wmig theatralisch aussprach. Es war die Blütezeit des Dandytums, wo nach dem Muster Bmmmel's
das eigentliche Londoner High-life sich mit einer
Üppigkeit und Leichtfertigkeit entfaltete, wie nur in den Tagen
Karl II. — Gesellschaften und Bälle, Theaterbesuch, Spiel und Schulden, Liebesabenteuer, Verführungen und daraus erfolgende Duelle, das war der Lebensinhalt der Aristokratie.
Und Byron
war der Held des Tages, ja des Jahres.
Welch ein Gegenstand
der Bewunderung und Vergötterung für eine Gesellschaft, die sich langweilte und unter ihrer eigenen Leere litt!
So jung, so schön
und so schuldbeladen — denn wer hätte zweifeln mögen, daß er ein ebenso gefährlicher, übersättigter Genußmensch wie sein Held sei.
Byron besaß nicht Scott's Kaltblütigkeit und Gleichmut Ver suchungen gegenüber. ihn emportrug.
Er überließ sich willig dem Strome, der
Den Künstler in ihm drängte es, alle Stim
mungen zu durchleben, und er wies keine von sich.
Mit Leichtig
keit behauptete er seinen Dichterruhm; denn in kurzen Zwischen räumen folgten die poetischen Erzählungen „Der Giaur" (Mai 1813), „Die Braut von Abydos" (Dezember desselben Jahres),
„Der Korsar" (am Neujahrstage 1814 vollendet), von welch letzterem
an einem einzigen Tage 13000 Exemplare verkauft wurden.
Die
herbe Ode an Napoleon anläßlich dessen Abdankung bewies, daß
Byron über der Poesie die Politik der Zeit nicht aus dem Gesichte
verlor.
1815 schrieb er ferner „Parisina" und die „Belagerung
von Korinth."
Das Neue, Fremdartige, Leidenschaftliche in diesen
Schöpfungen riß die abgespannte Londoner Gesellschaft hin.
war das Phänomen, auf welchem aller Blicke ruhten.
Er
Junge
Damen bebten in den Gesellschaften vor Freude bei dem Gedanken, möglicherweise von ihm zu Tisch geführt zu werden, und zitterten zugleich, einen Bissen zu genießen, war es doch bekannt, daß er
Damen nicht gerne essen sah! nung hin,
halten.
Man gab sich schüchtem der Hoff
ein paar Zeilen ins Stammbuch von ihm zu
Seine bloße Handschrift war ein Schatz.
er
Man frug sich,
wie vielen türkischen und griechischen Frauen die Liebe zu ihm
den Tod gebracht, wie viele Ehemänner er getötet habe.
Seine
Stirn, sein Blick sahen wie das leibhafte Verbrechen aus.
Er ge
brauchte keinen Puder, sein Haar war wild wie sein Sinn.
In
allem grundverschieden von den gewöhnlichen Sterblichen, war er auch
mäßig wie sein Korsar.
Bei Lord so und so hatte er jüngst bei
der Tafel elf Gänge vorübergehen lassen und Biskuit und Soda wasser begehrt. Welche peinliche Situation für die Hausfrau, die auf
das Menu so stolz gewesen! Und welch eine unnatürliche Absonder lichkeit in einer Gesellschaft, wo guter Appetit eine Nationaltugend ist!
So sehen wir Childe Harold in Person sich in Don Juan verwandeln.
Der einsame Pilger wurde Salonlöwe.
Ebenso sehr
wie Byron's Poesie machten natürlich sein Rang, seine Jugend
und seltene Schönheit Eindruck in den Damenkreisen.
In Walter
Scott's Biographie findet sich über Byron's Äußeres folgende Be merkung: „Ich glaube die besten Dichter meiner Zeit und meines
Landes gesehen zu haben, doch obschon Burns die schönsten Augen besaß, hatte doch keiner in solchem Grade das Aussehen desien, was man sich unter einem Dichter denkt, wie Byron.
Seine
Bilder geben keine rechte Vorstellung von ihm, das Licht ist wohl
da, doch ist es nicht angezündet.
wovon man träumen konnte!"
Byron's Antlitz war etwas,
Eine der gefeiertsten Schönheiten
Englands rief, als sie ihn zum erstenmale erblickte: „Dieses blasse
Gesicht ist mein Verhängnis."
Die Frauen haben Byron's Seelenleben zwar stets in hohem Maße in Anspruch genommen, doch der förmliche Harem, den er,
wie auf die Anspielungen im Childe Harold hin die Sage ging,
in Newstead besessen haben sollte, scheint in Wirklichkeit aus einer einzigen Odaliske bestanden zu haben.
Über seine Reiseabenteuer
im Verkehr mit Frauen kursierten lächerlich übertriebene Geschichten. Infolgedessen wurde er förmlich von den Frauen bestürmt, sein
Tisch war täglich mit Briefen von ihm bekannten und unbekanntm Damen bedeckt.
Eine kam zu ihm als Page verkleidet, vermutlich
um Kaled in „Lara" zu gleichen, und viele andere tonten ohne
Verkleidung.
Von dem Strudel, in dem er lebte,
erhält man
einen Begriff, wenn man ihn seinem Freunde Medwin erzählen
hört, er habe eines Tages kurz nach seiner Hochzeit
im Salon
seiner Gemahlin gleichzeitig drei verheiratete Damen angetroffen,
die er — um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen — alle
kannte wie „Tauben aus demselben Schlage". Es war ein Leben in Triumphen der Eitelkeit, voll hohler Genüsse, für Byron war es jedoch besser als Ruhe,
ist,
wie
er
in
Childe
Harold
sagt,
eine
Hölle
denn Ruhe für- starke
Herzen.
War sein Herz übrigens hier jemals mit im Spiel?
Kaum.
Das Liebesverhältnis, welches Byron in diesen Jahren
unterhielt, und das für sein späteres Schicksal Bedeutung erlangte,
war, wie aufbewahrte Briefe beweisen, nur ein Strudel im Strudel und als solcher verlockend, ließ aber sein Herz völlig kalt.
Lady
Caroline Lamb, eine junge Dame von höchstem Adel, mit dem nachmals als Lord Melbourne bekannten Staatsmanne vermählt, hatte lange den glühenden Wunsch gehegt, den Dichter des Childe Harold kennen zu lernen.
Sie war eine wilde, phantastische, auf
geregte Natur, die keinerlei Zwang duldete und schnell jeder Ein gebung gehorchte, und insofern dem drei Jahre jüngeren Dichter geistesverwandt; sie war schlank und schön gebaut, mit blondem Haar
und einer sanften Stimme; ihr Wesen übte, wiewohl es affektiert und überspannt erschien, einen ungemeinen Reiz aus; mit einem Wort, sie gehörte zu jener Art von „Bacchantinnen und enthu siastischen Frauen", die Paludan-Müller in seinem „Adam Homo" singen läßt.
Rütteln wir an seinem Herzen,
Wird uns Teil an seinen Schmerzen; Rasen wir darin mit Grauen, Müssen wir den Geist doch schauen. Unter unsern wilden Tänzen Winden wir aus seinen KränzenEine Zier uns, zum Entzücken Aller, um uns selbst zu schmücken.
Sie spielt eine ähnliche Rolle in Byron's Leben wie Frau von Kalb in dem Schiller's?
Das Verhältnis erregte so viel Auf-
1 In Lady Morgan's Memoiren finden fich einige lebensvolle Auf zeichnungen der Lady Lamb über die Art, wie ihre Bekanntschaft mit Byron
sehen,
die Mutter der jungen Dame nicht eher rastete,
daß
als
bis dasselbe durch die Abreise der Tochter nach Irland zu einem Besuche
wurde.
abgebrochen
Byron
schrieb hierauf Lady Lamb
einen Äbschiedsbrief, von welchem diese später Lady Morgan eine Abschrift zu nehmen gestattete, einen Brief, der für Byron's Stil
in
noch unreifen Jahren
typisch
ist, und worin ein Seelenkenner
schwerlich die Sprache der Liebe finden wird.
Er erinnert lebhaft
an Hamlets geschraubtes Billet an Ophelia. „Wenn Thränen, die Du sahst, und die ich, wie Du weißt, nicht leicht vergieße; wenn die Gemütsbewegung, mit der ich mich
sich anknüpfte: Lady Westmoreland hatte ihn im Auslande kennen gelernt. Sie machte es sich zur Aufgabe, ihn zu introduzieren.
ihn förmlich.
Ich hörte nichts
von ihm,
Die Frauen erstickten
bis eines Tages Rogers (denn
er und Spencer und Moore waren allesamt meine Anbeter) zu mir sagte: Sie
sollten den jungen Dichter kennen lernen!
„Childe Harold" anbot.
und mir das Manuskript des
Ich laS es, und dies war genug.
Rogers sagte: Er
hat einen Klumpfuß und kaut an den Nägeln. .Ich erwiderte: Und wäre er so häßlich wie Äsop, ich muß ihn kennen lernen! Ich war eines Abends
bei Lady Westmoreland, und die Damen waren alle rein vernarrt in ihn.
Lady Westmoreland führte mich zu ihm hin.
sicht und drehte mich um.
Ich sah ihm ernsthaft ins Ge
Meine Ansicht über ihn war, wie ich in mein Tage
Ein oder zwei
buch schrieb: toll — schlecht — eine gefährliche Bekanntschaft.
Tage vergingen; ich saß bei Lord und Lady Holland, als er gemeldet wurde.
Lady Holland sagte: Ich muß Ihnen Lord Byron vorstellen!
Lord Byron
entgegnete: Dies Anerbieten ist Ihnen schon früher gemacht worden, darf ich
fragen, weshalb Sie es damals ausschlugen? Er bat um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen.
Am nächsten Tage that er es.
standen bei mir, ich saß auf dem Sopha.
heimgekehrt.
Rogers und Moore
Eben war ich von einem Spazierritte
Ich war unordentlich und erhitzt.
Als Lord Byron gemeldet
wurde, sprang ich auf und flog aus dem Zimmer, um mich zu waschen... Als ich wiederkam, sagte Rogers: Lord Byron, Sie sind ein glücklicher Mensch. Lady
Caroline hat in all ihrem Schmutze mit uns Leiden dagesessen, als aber Sie
gemeldet wurden, flog sie hinaus, um sich schön zu machen . . . Bon diesem
Augenblicke und länger als neun Monate lebte er förmlich in Melbourne House. Er war der Mittelpunkt aller Lustbarkeiten, wenigstens anscheinend . . . Der ganze bon ton Londons versammelte sich Fashionableres.
hier jeden Tag,
es gab nichts
Byron war bemüht, sie alle in die Flucht zu treiben. — Diese
mit stenographischer Genauigkeit aufbewahrten Äußerungen
treffliches Bild des damaligen Londoner High-life.
geben ein vor
von Dir trennte, eine Erregung, die Dir bei dieser ganzen markerschütternden Angelegenheit nicht entgangen fein kann, ob sie auch erst, als der Augenblick des Abschieds nahte, sichtbar ward; wenn alles, was ich gesagt und gethan habe und noch zu sogen und zu thun bereit bin, Dir nicht hinlänglich bewiesen hat, welches meine wahren Gefühle für Dich, meine Geliebte, sind und nie aufhören können zu sein, so habe ich keinen onbern Beweis zu bieten Giebt es im Himmel oder auf Erden etwas, das mich so glücklich gemacht hätte, als Dich schon längst zu meiner Gattin zu machen? Du weißt, ich würde mit Freuden alles dafür hingeben, diesseits wie jenseits des Grabes, und wenn ich dies als steten Refrain wiederhole, kann ich da mißverstanden werden? Was kümmert es mich auch, wer davon erfährt, oder welcher Gebrauch davon gemacht werden mag — an Dich, einzig an Dich, sind diese Worte gerichtet, an Dich selbst. Ich war und bin Dein, frei und ganz, Dir zu gehorchen, Dich zu ehren, Dich zu lieben und mit Dir zu entfliehen, wann, wohin und wie Du selbst willst oder Dir zu bestimmen beliebt." Es kann niemand Wunder nehmen, daß Byron wenige Monate später einen Bruch herbeizuführen strebte. Seine Liebe kann kaum etwas anderes als jene Art von Reflexleidenschast gewesm sein, die wie in einem Spiegel alle Bewegungen der Flamme ohne eigenes Feuer nachahmt. Auf einem Balle, wo Lady Lamb kurz darauf mit Byron zusammentraf, bemächtigte sie sich in ihrer Ver zweiflung über seine Kälte des ersten besten scharfen Werkzeuges, beffen sie habhaft werden konnte, einige sagen einer großm Schere, die onbern (Galt) eines zerbrochenen Geleeglases, und schnitt stch damit in die Kehle. Nach diesem mißglückten Selbstmordversuche machte sie (nach der Behauptung der Gräfin Giuccioli) erst einem jungen Lord die unglaublichsten Bersprechnngen, wenn er Byron fordern und töten wolle, und erschien doch kurz darauf selbst bei Byron, „keineswegs in der Absicht, sich oder ihm den Hals abzuBrandti, Litteratur de» 19. Jahrh. XV.
22
Die Worte, die sie, als sie ihn nicht zu Hause traf,
schneiden."
auf seinem Tisch zurückließ, veranlaßten das Epigramm Remember thee! das sich unter Byron's Gedichten findet.
Verzehrt von Rachsucht griff nun Lady Lamb zur Feder und
verfaßte dm Roman „Glenarvon", der zu dem für Byron allerungünstigstm Zeitpunkte, nämlich unmittelbar nachdem seine Frau
ihn verlassm hatte, erschien und eines der schlimmsten Gärungs
elemente in der Stimmung der Gesellschaft gegen ihn bildete.
Das
Buch hatte das folgmde Motto aus dem „Korsar": Sein Name wird der Nachwelt noch verkünden Bon Einer Tugend und von tausend Sündert —
und schildert Byron als einen Dämon an Verstellung und Bosheit,
ausgestattet mit all' dm schlechtesten Charakterzügm seiner Helden. Gleichwohl hat sie — vielleicht zur eigenen Entschuldigung — nicht
umhin können, dem Bilde auch liebenswürdige Züge zu verleihm.
An einer Stelle heißt es: „Wäre sein Bmehmen ein derarttges gewesen, daß er sich auch nttr im geringsten etwas den Freiheitm, dm Zudringlichkeiten ähnliches, wie sie bei dm Männern so häufig sind, herausgmommm hätte, es würde sie vielleicht geschreckt, ge-
wamt haben.
Was aber hätte sie fliehm sollen? Wahrlich nicht
die grobe Schmeichelei oder die leichtfertigen und leichtsinnigen
^Beteuerungen, daran alle Frauen sich so schnell gewöhnen, sondem eine Aufmerksamkeit, die sich auf ihre geringsten Wünsche erstreckte, eine zugleich feine und schmeichelhafte Ehrerbietigkeit, eine Anmut, eine Zartheit, die ebmso berückmd wie selten sind.
Und all dies
mit allm Kräften der Phantasie, einem Verstände, einem Witz ge
paart, wie kein anderer sie in gleichem Grade besaß." Währmd Byron's späterem Aufmthalte in Bmedig wurde
„Glenarvon" ins Italienische übersetzt, und der Zensor ließ bei
ihm Anfragen, ob er gegen das Erscheinm des Buches etwas ein-
zuwmdM habe, in welchem Falle es unterdrückt werden würde: Byron antwortete damit, daß er es auf eigene Kosten herausgab.
Lady Lamb taucht nur noch einmal in Byron's Lebensgeschichte
auf, und zwar unter seltsamen Umständen.
Als Byron's Leiche
von Griechenland nach England überführt worden war und der Trauerzug sich langsam zu Fuße von London nach Newstead
bewegte, kamen demselben unterwegs
ein Herr und eine Dame
entgegengeritten, und die Dame frug, wen man hier zu Grabe
trage. Pferde.
Als sie die Antwort vernahm, sank sie ohnmächtig vom Es war die Verfasserin von Glenarvon.
Byrons leichtsinniges und wildes Londoner Leben erhielt einen vorläufigen Abschluß durch das verhängnisvollste Ereignis seines
Lebens, seine Heirat.
Große Achtung vor dem Weibe hatte ihm
seine Lebensführung nicht eingeflößt, doch das Weib nach seinem Herzen war das hingebungsvolle, sich selbstverleugnende Geschöpf,
das er in allen seinen Dichtungen mit Vorliebe geschildert hat.
Und nun wollte der Zufall, daß ihm in seiner Gattin ein zäher,
kräftiger englischer Charakter zu Teil wurde. Fräulein Anna Isabel Milbanke, das einzige Kind eines reichen Baronets, hatte Byron durch ihr schlichtes, bescheidenes Wesen gefesselt, ihn durch die Aussicht verlockt, mit Hilfe ihrer Mitgift Newstead in Stand schm
zu können, ihn durch einen Korb geärgert, als er um ihre Hand
anhielt, durch den fteundschastlichen Briefwechsel aber, den sie aus eigenem Antrieb mit ihm eröffnete, für sich eingenommen, und nun
endlich gab sie ihm ihr Jawort auf einen Werbebrief hin, der, in unverantwortlichstem Leichtsinne abgefaßt, aus dem Grunde ab
gesendet wurde, weil ein Freund, dem Byron dmselbm vorlas, ihn „schön geschrieben" fand.
Aus lauter kläglichen, teils eitlen, teils philiströsen Rücksichten
stürzte Byron sich in eine Ehe, der sich von vornherein nur ein schlimmes Ende prophezeien ließ.
Währmd der Verlobungszeit
befand er sich in verhältnismäßig heiterer «Stimmung.
„Ich bin
sehr verliebt," schreibt er an eine Freundin, „und so thöricht wie alle unvermählten Herren in dieser Lage," an einer andern Stelle 22*
wieder: „Ich bin nun der glücklichste aller Sterblichen, da ich mich vor acht Tagm verlobt habe.
Bestem traf ich den jungen F.,
auch er der glücklichste aller Sterblichen, denn er hat sich ebenfalls
So kindisch sind alle Briefe aus jener Zeit, daß Byron's
verlobt."
einzige ernste Sorge darin zu bestehen scheint, daß er blaue Fräcke nicht ausstehen kann, und daß es Sitte ist, sich in blauem Frack trauen zu lassen.
Je näher jedoch die Hochzeit rückte, je schlimmer wurde
ihm zu Mute, das Verhältnis seiner (Stiern hatte ihm frühzeitig Angst vor der Ehe eingeflößt.
Seine Gefühle bei der Trauung
hat er in dem Gedichte „Der Traum" geschildert und in den Ge sprächen mit Medwin sagt er, daß er gezittert und verkehrte Ant-
worten gegeben habe! Der „Simpsmonat", wie ihn Byron nennt, verging nicht wolkm-
los. „Ich verbringe meine Zeit" [auf dem Lande bei den Schwiegereftent], schreibt er an Moore, „in einem schrecklichen Zustande der Einförmigkeit und Versumpfung und bin ausschließlich damit be schäftigt, Kompott zu essen, umher zu schlendem, ein langweiliges Spielchen zu machen, alte Almanachs und Zeitungen zu lesen, am
Sttande Muschelschalen zu suchen und das Wachstum etlicher ver
krüppelter Stachelbeerbüsche zu beobachtm." — Und einige Tage später:
„Ich
lebe hier sehr bequem und höre jeden Abmd dm
verwünschten Monolog an, dm alte Herrm Unterhaltung nennen,
und dem mein Schwiegervater, einen einzigen Abend, an dem er
Violine spielte, ausgenommen, sich allabendlich hingiebt. indessen sehr liebenswürdig und gastfrei.
Sie find
Bell ist wohlauf und
von unveränderter Liebenswürdigkeit und guter Laune." Pegasus fühlte sich nicht recht wohl im Joche.' Jndessm, das junge Paar reiste bald nach London, richtete sich glänzend ein,
hielt Wagen und Pferde, gab Gesellschaftm u. s. w. so lange, bis
Byron's Gläubiger sich einstellten.
Die 10000 Pfund Mitgift
verflüchtigtm sich wie Thau vor der Sonne; mit 8000 Pfund, die Byron eben als Erbe zufielm, ging es nicht anders.
Er mußte
sogar seine Bücher verkaufen.
Murray bot ihm 1500 Pfund als
Honorar an, damit er sie behalten könne, allein aus falscher Scham
sendete er die Anweisung zerrissen zurück.
Hierauf folgten acht
Auspfändungen, sogar die Ehebetten wurden, nachdem man Möbel und Wagen weggeführt hatte, mit Beschlag belegt.
Unter diesen
Verhältnissen gebar Lady Byron im Dezember 1815 ihre Tochter
Ada.
Der jungen verwöhnten Erbin war es selbstverständlich
niemals eingefallen, daß ihr solche Verhältnisse bevorstehen könnten.
Nichtsdestoweniger war das Zusammenleben des jungen Paares anfangs ein gutes.
Sie fuhren miteinander ans, und die junge
Frau wartete mit großer Geduld im Wagen, während ihr Gatte
Besuche abstattete.
Sie schrieb Briefe für ihn und kopierte seine
Gedichte, z. B. „Die Belagerung von Korinth."
es nicht an kleinen Konflikten.
Indessen fehlte
Die junge Frau scheint die Ge
wohnheit gehabt zu haben, Byron durch Fragm und Bemerkungen
beim Schreiben zu stören, was ihn zu Ausbrüchen übler Laune veranlaßte, die sie höchst unpassend fand.
Auch war ihr nie eine
solche Heftigkeit und Regellosigkeit vorgekommen, wie bei ihm. Ein
mal sah sie ihn in der Wut seine Uhr in den Kamin schleudern und sie mit der Feuerzange zerstoßen; ein andermal feuerte er zum
Spaß oder aus Unachtsamkeit eine Pistole in ihrem Zimmer ab. Dazu kam Eifersucht. Sie wußte, in welchem Rufe er als Damm
freund stand, und insbesondere hatte sie Kenntnis von dem Ver
hältnis zu Lady Lamb, die ihre nahe Verwandte war.
Endlich
hatte Byron die unglückselige Idee gehabt, sich in den Vorstand
des Drurylanetheaters wählen zu lassen, und seine korrekte Ge mahlin sah mit Unruhe den beständigm Geschäftsverkehr mit Schau spielerinnen, Sängerinnen und Tänzerinnen.
Eine Person, die zu
Lady Byron in dienstlichem Verhältnisse stand, jmes Frauenzimmer,
das er in A sketch geschildert hat, verlegte sich aufs Spionieren
und erbrach Byron's Schubfächer und Briefe.
Und noch ein
dunkler Punkt ist vorhandm, auf dm wir noch zurückkommen.
Einen Monat nach der Geburt des Kindes verließ die junge
Frau, dem gemeinschaftlichen Beschluß zufolge, das unruhige, un gemütliche Heim, um einige Zeit bei ihren Eltem zuzubringen. Kaum aber war sie daselbst angelangt, als ihr Vater Byron be
nachrichtigte, daß sie nicht zu ihm zurückkehren werde. Noch unter
wegs hatte sie ihm einen (nunmehr veröffentlichten) Brief geschrieben, dessen Überschrift Dear Duck! („Liebe Pute") lautet und dessen
Unterschrift nicht minder zärtlich ist. Man begreift demnach Byron's Überraschung.
Er erwiderte dem Vater, daß er in dieser An-
gelegenheit selbstverständlich seine väterliche Autorität nicht an erkennen könne, sondern die Erklärung seiner Gattin haben müsse;
sie fiel gleichlautend aus.
1830 erklärte Lady Byron öffentlich,
sie habe ihrem Manne nur in dem Glauben, er wäre geistes gestört, so zärtlich geschrieben; hätte diese Annahme sich bestäügt, so würde sie treu bei ihm ausgeharrt haben; im anderen Falle
aber habe sie um keinen Preis unter einem Dache weiter mit ihm leben wollen. In einem 1817 von Byron verfaßten Novellenftagment heißt
es in Übereinstimmung hiermit:
„Wenige Tage darauf reiste sie
mit ihrem Sohne nach Aragonien zum Besuche ihrer Eltern.
Ich
begleitete sie nicht sofort, da ich schon früher in Aragonien ge wesen war ....
Bon der Reise bekam ich einen höchst lieb
reichen Brief von Donna Josepha, der mich von ihrem und meines
Sohnes Wohlbefinden unterrichtete.
Bei ihrer Ankunft im Schlosse
schrieb sie mir einen noch liebevolleren Brief, der mich in über
aus
zärtlichen,
ja
ziemlich
schleunigst nachzukommen.
ausgelassenen Ausdrücken bat,
ihr
Eben traf ich Anstalten, Sevilla zu
verlassen, als ich einen dritten Brief, diesmal von ihrem Vater
erhielt, der in beit höflichsten Ausdrücken mich auffordette, meine Ehe aufzuheben.
Ich antwortete ebenso höflich, daß ich nichts
dergleichen zu chun gewillt sei.
Ein vierter Brief von Donna
Josepha langte nunmehr an, in welchem sie mir mitteilte, daß der
Nyro». Vie individuelle LridenschaMchkeit.
343
Brief ihres Vaters auf ihren ausdrücklichen Wunsch geschriebm sei. Ich erkundigte mich mit wendender Post nach dem Grunde.
Sie
erwiderte per Expreß, daß Gründe mit der Sache nichts zu thun hätten, es daher unnötig sei, solche anzugeben — daß sie jedoch
eine gekränkte und vortreffliche Frau sei.
Nun frug ich sie, warum
sie mir die beiden vorhergehenden liebevollen Briefe mit der Auf
forderung, nach Aragonien zu kommen, geschriebm habe?
Sie er
widerte, weil sie mich für toll gehalten, und ich hätte mich nur
allein auf die Reise zu begeben gebraucht, um unbehindert in das Schloß meines Schwiegervaters zu gelangen und dort die zärtlichste der Frauen und eine enge Zwangsjacke vorzufinden."
Sobald Byron's Gattin ihn »erfassen hatte, war das Urteil der Welt über ihn mit einem Schlage ein anderes geworden. Wie er eines Morgens, nach dem Erscheinm des „Childe Harold", sich beim Erwachen als berühmten Mann gesehm, so erwachte er
eines anderen Morgens ehrlos und geächtet.
Die Ursache lag vor allem in dem Neide, nicht in jenem Neide der Götter, der den Alten als die Quelle des Unterganges
der Großen erschim, fonbern in dem schmutzigen, gemeinm Neide der Menschen.
Er stand so hoch; er war so groß; bei allm feinen
Fehlem war er keinen Augenblick zu dem Niveau spießbürgerlicher Achtbarkeit herabgesunken.
Im Verttaum auf seine Gabm und
sein Glück hatte er es stets verschmäht, beschützende Frmnde zu er werben, noch je darauf geachtet, wie viele Feinde er sich auf seinem
Wege schuf.
Zu zählm warm sie schon längst nicht mehr.
Neider
besaß er vor allem und zuvörderst unter feinen Kollegen von
der Feder, und
unter dm verschiedenm Artm des Neides ist
der Schriftstellemeid einer der giftigsten.
Er hatte sie verhöhnt
und sie Dekadmz-Schriftsteller geheißm,
hatte einige um ihrm
Namm gebracht, anderen die Möglichkeit abgeschnitten, sich einen
Namm zu machen — weshalb sollte er vergöttert und bewundert werden, währmd sie stets »ergebens ihre Locken ordneten für den
Kranz, der ausblieb? Welche Lust, ihn von dem goldenen Throne
der Berühmtheit herabzuzerren und ihn mit dem Kote zu besudeln, in dem sie selber steckten! In der religiös und politisch orthodoxen Gesellschaft empfand
man schon lange Argwohn und heimlichen Haß gegen ihn.
Die
wenigen Strophen des „Childe Harold", die in den vorsichtigsten Ausdrücken ritten Zweifel an ein Wiedersehm nach dem Tode aus-
zudrücken wagen, waren mit verketzerndem Geschrei begrüßt und
ein ganzes Buch, Anti-Byron, dagegen geschrieben worden.
Seine
vier Zeilen an die Prinzessin Charlotte, die unter der Überschrift „An eine weinende Fürstin" zugleich mit dem „Korsar" gedruckt
wurden und Trostworte an die Prinzessin bei Gelegenheit des poli tischen Umschlages des Prinzregenten richteten, brachten die' ganze
Torypartei gegen ihn in Harnisch.
Bisher aber war er von dem
seine Person umgebendm Nimbus wie durch einen unsichtbaren
Panzer beschützt gewesen; was Wunder, daß man nun, da in seinem Privatleben sich eine Bresche aufthat, die öffentliche Meinung
gegen ihn aufhetzte. Lady Byron und ihre Familie lebten selbstverständlich ganz «ach dem Herzen der Gesellschaft, und es war nicht schwer, den
jenigen als ein Ungeheuer darzustellen, den zu verlassen solch eine Gattin sich gezwungen sah.
Gerüchte entstanden.
Die Verleum
dung ward geboren, nahm Gestalt an, bekam Füße zum Gehen, Schwingen, mit denen sie fliegen konnte, im Fluge Wachsmd. Ihre Sttmme schwoll, wie es in der berühmtm Arie des Basilio
heißt, vom leism Flüstern zu einem Rauschm, vom Rauschen zu einem ohrenbetäubmden Lärm wie Donnerrollm zwischm Bergen
an.
Wer kennt nicht dies von der Gemeinheit im Bunde mit
der Einfalt
veranstaltete Konzert,
bei
dessen AuMhrung Un-
wissmheit und bewußte Niederttacht im Chore fingen, während die Schadenfreude jubelnd ihre schrillstm Triller in die Harmonie schmettert!
Der Neid gegen Byron trat in den Dienst der Heuchelei und
war in deren Sold thätig.
Die civilisierte Heuchelei ist bis tief
in das neunzehnte Jahrhundert hinein, im Zeitalter der religiösen
Reaktion, die soziale Macht gewesen, deren Autorität nur durch die Art ihrer Mittel, doch keineswegs an Ausdehnung und Wirkungs
kraft derjenigen nachsteht, welche die Jnquisitionsgerichte des sech
zehnten Jahrhunderts besaßen.
So wird denn,
wie Byron in
„Childe Harold" sagt (Ges. IV, Str. 93): Die Meinung Allmacht, die in Nacht uns dicht
Einhüllt, bis Recht und Unrecht Zufall werden. Und Menschen zittern, daß zu hell das Licht
Hienieden ward, und ängstlich sich geberden, Als wär' es Sünde, frei zu denken hier auf Erden.
Und so wurde, wie er sich in „Don Juan" ausdrückt, die Heuchelei eine Gewalt, die, würdig zu besingen, er Vierzig-Priester-
Krast haben müßte? Es konnte dies nicht anders sein in einer Zeit, die mit der Epoche, welche die Auflösung der antiken Lebens
auffassung kennzeichnet, so viel Übereinstimmung aufweist — einer Zeit, wo eine alte theologische Welt- und Lebensanschauung auf
allen Punkten von der Wissenschaft untergraben nnd unterhöhlt, außer Stande, sich durch eigene innere Wahrheit zu behaupten,
genötigt ist, sich an die hergebrachte Moral der höheren Gesell
schaft zu klammern und sie, nur um einen Halt zu haben, aufs
äußerste zu stärken — einer Zeit, wo kirchliche Autorität und spießbürgerlicher Konservatismus zwei Taumelnden gleichen, die sich gegenseitig stützen.
Wirft man einen Blick auf die Psychologie
Europas zu Beginn dieses Jahrhunderts, so nimmt es sich förm lich aus, als ob all die Heuchelei, die, zuerst unter den Emigranten
1 Oh for a forty-parson power to chant Thy praise, Hypocrisy! oh for a hymn Loud as the virtues thou dost loudly vaunt Not practice! Oh for trump of Cherubim! Don Juan, X, 34.
auftretend, bei der deutschen Romantik mehr und mehr in die Höhe schoß, um während der Reaktion in Frankreich Turmhöhe
zu erreichen, jetzt mit einem Male auf das Haupt dieses einen
Mannes herniederprassele. Macaulay bemerkt im Hinblicke darauf in seinem Essay über Byron: „Ich kenne kein so lächerliches Schauspiel als das britische Publikum bei einer seiner regelmäßig wiederkehrenden Moralitäts
anwandlungen.
Im
allgemeinen
pflegen
Entführungen,
Ehe
scheidungen, Familienzwiste nicht gerade viel Aufmerksamkeit zu er regen.
Wir lesen von dem Skandal, sprechen einen Tag lang
darüber und vergessen ihn.
Doch alle sechs, sieben Jahre einmal
wird unsere Tugend kriegerisch.
Wir können nicht dulden, daß die
Vorschriften der Religion und Sitte also verletzt werden. müssen ein Bollwerk wider das Laster errichten.
Wir
Wir müssen den
Leichtfertigen zeigen, daß das englische Volk die Wichtigkeit der
häuslichen Bande kenne.
Folglich wird ein Unglücklicher, der
in keiner Hinsicht verderbter als hundert andere ist, deren Über
tretungen mit großer Milde behandelt wurden, zum Sündenbock ausersehen.
Hat er Kinder, so werden sie ihm entrissen; hat er
eine Lebensstellung, wird er daraus vertriebm; die höheren Klassen grüßen ihn nicht, die niederen zischen und pfeifen ihn aus.
Er
wird eine Art Prügelknabe, durch dessen Strafe und Schmerzen man zugleich alle Missethäter seines Schlages straft.
Wir denken
sodann mit innerem Wohlbehagen an unsere eigene Strenge und laben uns mit vielem Stolze an der hohen Stufe, auf der die
Sittlichkeit in England im Vergleiche zur Pariser Leichtfertigkeit steht.
Nun endlich hat unsere Entrüstung sich gesättigt.
Unser
Opfer ist zu Grunde gerichtet oder hat sich zu Tode gegrämt, und
unsere Tugend legt sich für die nächsten sieben Jahre wieder schlafen." Waren die Ursachen von Byron's Sturz verwickelter Natur, so
war das Mittel dazu um so einfacher — das einzig wirksame, das
es in solchen Fällen giebt: die Presse.
Schon gelegentlich seiner
Verse an die Prinzessin Charlotte hattm die Blätter zu gemeinm Verleumdungen gegen ihn gegriffen, und etliche von ihnen besaßen
eine eigene stehende Rubrik für schmutzige Ausfälle wider ihn. Nun war infolge der Anonymität, welche trotz aller Unnatur
und Verderbtheit,
die
sie zeitigt, in der englischen Presse im
Schwange ist, dm Angriffen auf sein Privatleben freier Spiel raum geboten.
Die Bedeutung der Anonymität ist in Wirklichkeit
keine andere als die, dem erbärmlichsten Stümper, der kaum die
Feder, mit der er lügt, zu halten imstande ist, es zu ermög
lichen, die Trompete der öffentlichen Meinung an den Mund zu setzen und in tausenden von Exemplaren die Stimme der beleidigten Tugmd zu Worte kommm zu lassen.
Und nicht genug, daß der
eine Nammlose in all den vielen Exemplarm zur Allgemeinheit
wird, er kann, Dank seiner Anonymität, hunderterlei Gestalt an nehmen, unter allen möglichen Chiffem und in einem Dutzend
verschiedener Blätter schreiben. Gmügt schon ein einziger Schmierer, um eine ganze Presse mit gemeinen Ausfällen gegen ein in den
Augm der öffentlichm Meinung geächtetes Individuum zu versorgm, wie mußten erst die Angriffe auf Byron niederhageln, da
seiner Feinde Zahl Legion war!
Bon den Schimpfnamen, mit
welchen die Presse ihn damals überfiel, warm ihm später beson
ders die Titel Nero, Apicius, Caligula, Heliogabal und Heinrich VIEL
erinnerlich, das heißt, er wurde aller Formm schändlichster Grau samkeit, wahnwitziger Roheit und unnatürlicher Wollust bezichtigt,
wurde in allen den Farben dargestellt, welche die Nichtswürdigkeit
auf ihrer Palette hat. gungm,
Die furchtbarste unter diesen Beschuldi-
die schon damals in der Presse die Runde machte und
das Brandmal dem ihm teuersten Wesen auf die ©tim drückte,
war jedoch die, in Blutschande mit seiner Schwester gelebt zu
habm — und zu alle dem keine Möglichkeit einer Entgegnung. Sonnte er sich mit dem Straßmkote, der ihn besudelte, Hemm
schlagen?
Die Gerüchte schwirrten von Mund zu Mund. Schauspielerin Frau Mardyn
unmittelbar
Als die
nach der Scheidung
auf dem Drurylanetheater austrat, wurde sie hinausgepfiffen und -gezischt, weil sich unter den Zuschauern der völlig aus der Lust
gegriffene Klatsch verbreitet hatte, daß diese Dame, mit welcher Byron in allem ein paarmal gesprochen hatte, in einem Liebes
verhältnisse zu ihm stünde. ausgehen.
Er selbst konnte nie ohne Gefahr
Er wurde auf der Straße wie auf dem Wege zum
Parlamente, wo man that, als kenne man ihn nicht, von dem ge
bildeten Pöbel insultiert. Da jede Verteidigung unmöglich, mußte er, so stolz er war,
das Feld räumen.
Er fühlte, wie er sagt, daß, „wenn die ge
flüsterten oder laut ausgesprochenen Verleumdungen Grund hätten, er nicht mehr für England passe, hättm sie keinen, dann passe
England nicht mehr für ihn."
Am 25. April 1816 schiffte er sich
ein, um nie wieder lebmd zurückzukehren. Bon diesem Augenblicke an datiert Byron's wahre Größe. Die
Edinburger
Kritik
hatte ihn zum ersten Male zu
Geistesthat sich austaffen lassen. zum Ritter.
einer
Dieser neue Schlag schlug ihn
Ein Vergleich zwischen dem, was Byron vor und
was er nach den Geschehnissen, die er als sein größtes Unglück betrachtete, schrieb, ist völlig unmöglich.
Dies Unglück sandte ihm
der Genius der Geschichte, um ihn einer betäubenden Vergötterung zu entteißen und ihn voll und ganz von dem erschlaffenden Zu
sammenhänge mit jener Gesellschaft und jenem Gesellschastsgeiste loszulösen, gegen welche es seine historische Mission war, mit mehr
Glück und Kraft als irgmd ein anderer den entscheidenden Kampf zu führen.
XIX. Als er zum zweiten Male ein heimatloser und einsamer Pilger
geworden war, nahm er das Reisegedicht seiner Jugend neuerdings
auf.
Er fügte den dritten und vierten Gesang „Childe Harold"
hinzu.
Er versetzte sich in die Stimmungen seiner Jugend zurück.
Doch welch' eine Fülle hatten sie in der Zwischenzeit gewonnen! Der Akkord, den von allem Anfänge an „Childe Harold" anschlug,
war der
Dreiklang der Einsamkeit,
Freiheitsdranges.
der Melancholie und
des
Jeder einzelne dieser Töne war nun vielfach
klarer und vollklingender geworden. Durch die erste Hälfte des Werkes zog sich die Stimmung
der Einsamkeit als Bedingung der Liebe zur Natur; schon dort hieß es (Ges. II, Str. 25, 26): Aus Felsen sitzen, über Wellen träumen.
Lustwandeln unter schatt'gem Waldesgrau'n, Wo freies Leben wohnt in freien Räumen,
Wohin sich Menschenschritte nie getrau'». Aus Berge klettern, ohne Pfad und Zaun, Mit wilden Herden, die der Hürd' entbehren,
Allein in Schlucht und Gießbach niederschau'n — Das ist nicht Einsamkeit, das heißt verkehren
Mt Reizen der Natur und ihre Wunder ehren. Hingegen im Gewühl und Lärm mit andern,
Seh'n, hören, fühlen, sorgen ohne Rast, Ein müder Pilger durch das Leben wandern,
Wo nichts dich liebt, du nichts zu lieben hast,
Nyron.
350
Me Vertiefung Les Ich» in sich selbst.
Schoßkind des Ruhms, das vor der Not erblaßt. Wo niemand mit verwandter Freundlichkeit, Kein Schmeichler, kein Gespiele, Freund und Gast
Einst wen'ger lächelt, wmn ihr nicht mehr seid — Das heißt allein sein, das, o das ist Einsamkeit!
Allem diese Ergüsse waren Erinnemngen an schöne Kindheits eindrücke aus den Berggegenden Schottlands, oder auch Träume
reien, hervorgerufen durch den Anblick der Eremitenbehausung auf
dem Berge Athos.
Es war noch, wie die Einsamkeitsstimmung
bei Wordsworth, eine Liebe zur Natur, die auf der Scheu vor einer unbekannten, fremden Menschenwelt beruhte. Der Unterschied zwischen dem Gefühle bei Wordsworth und bei Byron war nur der, daß Wordsworth des Landkindes und
Landschaftsmalers stummbrütendes Verweilen bei dem Naturein drucke, Byron die sehnsüchtige, nervöse Liebe des Stadtbewohners
zu demselben besaß, und daß Wordsworth zu der Natur in ihrer Ruhe seine Zuflucht nahm,
während Byron sie am meisten in
ihrem Zorne liebte (Harolds Pilgerfahrt IV,' 37). In der zweiten Hälfte des Werkes ist das Einsamkeitsgefühl
ein
anderes
geworden.
Es
herrscht
eine tiefe Verschiedenheit
zwischen diesem Drange zu einsamem Verkehre mit der Natur, den
Harold als unerfahrener Jüngling empfindet, und jenem, der sich seiner als Mann bemächtigte, nachdem seine erste Erdumsegelung
der Menschen und Dinge beendigt war.
Mcht Scheu vor dm
Menschen, nein, Widerwille gegen sie trieb nun Byron, die stumme
Natur zu liebm.
Eine ganze große Kaste, die oberste, herrschmde
Kaste in einer ganzen großen Stadt, die dem fremden Auge so human, so feinfühlmd, so rechtlich denkend und ritterlich gesinnt
erschien, hatte die rauhe Seite gegen ihn herausgekehrt, und die Kehrseite ist lehrreich, aber nicht schön.
Er hatte erprobt, was
für Freundschaft man dem Gefallenen zollt, erfahren, daß
die
einzige werkthätige Kraft, auf welcher derjmige sicher bauen kann,
der Pläne für die Zukunft schmiedet, die Eigmliebe der anderm
$i)ton. Vie Vertiefung Le« Ich« in sich selbst. und was mit dieser zusammenhängt, ist.
351
So vereinsamte er zum
zweiten Male, und die Poesie, die er nun schuf, ist nicht für ge
sellige Naturen.
Doch wer, und sei es auch nur vorübergehend,
dm Menschen den Rücken zuzuwenden gelernt, wer den Wunsch, vor ihnen in Frieden zu leben, gekannt, den Drang empfundm, aus
seinem Heim, aus seinem Vaterlande fortzukommm, um dem An
blicke der alten Gesichter zu entgehen und den Anblick eines fremden Himmels, fremder Erde aufzusuchen — wer auf einsamen Pfaden
das Nahen einer Menschengestalt wie das Auftauchen eines Schmutz
fleckes in seinem freien und reinen Gesichtskreise empfundm hat — in einer solchen Menschenseele werden diese lyrischm Ergüsse ein
Echo finden.
Childe Harold ist allein.
Er hat erfahren, daß er zu allem
eher taugt, als mit der Horde zu gehen, daß er außer Stande ist, seine Gedanken unter die Botmäßigkeit einer fremden Denkart
zu stellen oder Gewalt über seine Seele Geistem einzuräumen,
gegen die sein eigener Geist sich empört.
Wo die Berge ragen,
dort fühlt er sich unter Freunden, wo das Meer rollt, dort ist seine Heimat.
Das Gedicht, das die Natur mit Sonnenstrahlen
auf den Spiegel der See schreibt, ist ihm teurer als ein Buch in der Sprache seines Heimatlandes.
Unter dm Menschen ist ihm
zu Mute wie dem Falken, dem man die Flügel gestutzt. flieht er auch
die Welt,
aus Mißmut, noch
so haßt er sie dämm nicht;
Doch weder
aus Trotz sammelt sich seine Seele tief im
eigenen Quell; sie fürchtet überzuwallen im Menschmgewühl, wo
ost ein Nu unser Lebensglück verheeren kann, so daß „all unser Blut sich in Zähren wandelt."
Besser will es ihm dünken, allein zu sein, und so ein Teil von allem um ihn her zu werden; der Anblick hoher Berge ist
ihm ein wohlthuendes Gefühl, während das Gesumme der Städte ihm eine Folter ist; Gebirge, Meer und Himmel scheinen ihm ein Stück von seiner Seele, wie er von ihnm; sie zu lieben dünkt
ihm das reinste Glück.
In der Einsamkeit am wenigsten allein,
ahnt er in ihr ein unendliches Leben, eine Wahrheit, die seine
Seele reinglüht vom Ich. liebte sie ihn.
Harold hat nicht die Welt geliebt, noch
Er ist stolz darauf, nie ihrem geilm Atem ge
schmeichelt, nie das Knie vor ihren Götzen gebeugt, nie sein Ge sicht zu einem Lächeln verzogen zu haben, das unaufrichtig war,
nie das Echo gewesen zu sein, wenn die Menge schrie. inmitten ihrer, jedoch nicht einer von dm ihren.
Er war
Doch will er von
der Welt, die er nicht liebte, und die es ihm mit Zinsen heim gezahlt hat, als offener Feind scheiden.
Er glaubt, was seine Er
fahrung ihn auch gelehrt haben möge, daß es Worte giebt, denen die Wucht von Thatm innewohnt: Hoffnung, die nicht trügt,
echte Barmherzigkeit und ihrer zwei oder drei, die scheinen, was sie sind.
(Childe Harold, 3. Gesang.)
So fließt die Stimmung der Einsamkeit in die der Melan cholie über.
Auch diese Saite war in den ersten beiden Gesängen
angeschlagen worden; ihre Melancholie jedoch war rein jugend licher Unmut.
Hinter sich hatte Childe Harold eine vergeudete
Jugend, und einem phlegmatisch-schwermütigen Hamlet gleich stand er am Grabe des Achill und erwog, einen Totenschädel in der
Hand, was das Leben und sein höchster Ruhm wohl wert seien, während er, der damals die Süßigkeit des Ruhmes noch nicht gekostet hatte, in Wirklichkeit nichts so leidenschaftlich ersehnte, als Ruhm, den zum Scheine und mit erklügelter Philosophie ver
schmähten und geringgeschätztm Ruhm.
Nun hat er ihn genoffen
und erfahren, eine wie wenig nahrhafte Speise er sei. Sein Herz gleicht einem zerschmetterten Spiegel,
der statt
Eines Bildes dasselbe tausmdfach aufnimmt, und es vermag um so
wmiger zu vergessen, je zerschmetterter es ist.
Selbst gebrochen,
flüchtet er dmn zu dem in der Natur, was seine Qual zu lindern
vermag, zu dem freien, offenen Meere, dessm Schaummähne er
schon als Kind gestreichelt hat, und das ihn kennt, wie das Roß
Er liebt das Meer, weil beffeti Fläche
seinen Reiter und Herrn.
die einzige ist, die nie brechen, nie auch nur sich mit Furchen
oder Runzeln bedecken kann, die einzige, die noch am heutigen
Tage so aussieht, wie am Morgm der Zeitm. Natur erinnert ihn an Qual und Kampf.
Doch alles in der
Der ferne Donner ist
ihm ein Sturmglockenschall, der alles in ihm weckt, was sich zur Ruhe gelegt hatte.
Selbst der liebliche stille Nemi-See mutet ihn
nicht als etwas Friedliches und Sanftes an, er erscheint ihm „still,
wie verhaltener Haß."
Könnte er all
Seine Schwermut ist nun ganz cholerisch.
seine Leidenschaft in ein Wort zusammenfassm, und dies Wort würde, ausgesprochen, wie ein Blitzschlag schreckm und zerschmettern,
er bedächte, sagt er, sich nicht, es auszusprechen. Ruhe! ist seine Losung.
Alles lieber denn
Ruhe ist Hölle für starke Herzen.
Es
giebt ein Feuer der Seele, das, einmal mtzündet, unauslöschlich
in stets wilderen Flammen emporzulodern strebt.
Ein Fieber ist's,
jedem verhängnisvoll, der einmal es gefühlt. Dies, sagt er, Dies macht die Tollen, die der Menschen Kinder
Toll machen, Welterobrer, mächt'ge Herrn,
Propheten, Sektenstifter, und nicht minder
Sophisten, Barden — alles, was zu gern Aufrührt der Seele tiefsten Born und Kern,
Sie selbst, die Thoren derer, die sie thören. Glücklich gepriesen, und vom Glück so fern . . . Ihr Obern ist Tumult, ihr Leben Krampf,
Daß, wenn einmal verschont von Erdennot Ihr Tag hinschmilzt in stilles Abendrot, Dann Gram und Überdruß ihr Mark verheert
Wie Feuer, welchem niemand Nahrung bot.
Ach, ruft Harold aus: Wir welken früh und Kuchen hin durchs Leben, Krank — krank, kein Durst gelöscht, teilt Lohn gebucht,
Bis ganz zuletzt, am Saum des Grabes eben,
Ei» Trugbild winkt, wie wir eS stets gesucht, Brander, Litteratur de» 19. Jahrh. IV.
23
354
Vyron.
Vie Vertiefung des Ichs in sich selbst.
Zu spät! — und doppelt sind wir so verflucht. Lieb', Ehrfurcht, Habgier — alles einerlei, Gleich eitel alles, alles gleich verrucht,
Stemschnuppen bloß, was auch ihr Name sei, Und mit dem schwarzen Qualm des Todes ist's vorbei. O Menschenleben, im Akkord des Alls Bist du ein falscher Ton, bist schwere Last,
Ein unvertilgbar Mal des Sündenfalls,
Ein ries'ger Upasbaum, der Wurzel faßt
Auf Erden, während Laub und Zweig und Ast Die Himmel sind, die Unheil niedertau'n, Pest, Knechtschaft, Tod, — was du vor Augen hast, Und schlimmres Unheil noch, das wir nicht schaun,
Das die gequälte Brust durchbohrt mit ew'gem Graun.
Aus all diesem brütcnben Mißmut, mit welchem der Gedanke
an das allgemeine Elend (Weltschmerz ist der eigentümliche Aus druck, den die Deutschen hierfür gebrauchen) unausweichlich die
Seele beschwert, war schon in den ersten Gesängen des „Childe
Harold" die Freiheitsliebe als dritte Grundstimmung des Ge dichtes die einzige erlösende Macht gewesen, die einzige, welche
dem Leben eine praktische Aufgabe stellte.
Schon in Portugal
war Harold in die Worte ausgebrochen: Ach, daß sein Wall ein freies Volk umhegte —
und er hatte die Spanier beschworen: Auf, Söhne Spaniens! Eure Göttin ruft, Die Ritterehre!
Schon damals rief er dem unterjochten Griechenland, das beständig nach Hilfe von außen ausschaute, die Mahnung zu: Ihr erblichen Leibeignen!
wißt ihr's nicht?
Wer frei sein will, der schlage selbst die Schlacht! Sein rechter Arm ist's, der den Sieg erficht.
Hofft ihr auf Galliens oder Moskaus Macht? Sie beugt vielleicht des Räubers Trotz, doch facht
Sie nie der Freiheit Herd zu neuem Brande . . .
Bis LacedämonS Helden aufersteh'n, Bis Theben greift zu sieggewohnten Speeren, Bis wieder Herzen schlagen in Athen,
355
Vyron. Die Vertiefung des Ichs in sich selbst. Bis Griechenmütter Männer einst gebären, So lange wird, so lang die Knechtschaft währen.
Damals aber war seine Freiheitsliebe rein politischer Natur,
es
war der Zorn des freigeborenen Engländers,
die fremden
Völkerschaften außer Stande zu sehen, ein Fremdenjoch abzuschütteln, das sein eigenes Volk nie und nimmer ertragen haben würde.
Nun faßt er die Freiheit in dem weiten, vollen, allgemein menschlichen Sinne des Wortes auf.
Nun fühlt er, daß der freie
Gedanke der Ausgangspunkt für alles geistige Leben ist. Ja, lasset kühn uns grübeln, ohne Wanken!.
Es wär' ein feiger, schmählicher Verzicht, Die letzte Burg, die Rechte der Gedanken
Zu opfern.
Diesem Recht entsag' ich nicht!
Ob man die Götterkraft, die zu uns spricht, Auch kette, foltre, beuge, banne, binde
Und schul' in Dunkelheit, auf daß vom Licht
Der Geist nicht plötzlich sich geblendet finde — Der Strahl bricht durch! Denn Zeit und Kunst
heilt ja auch Blinde. Childe Harold, IV, 127. Bergl. Don Juan IX, 24.
Und nicht bloß grübeln will er, er will auch handeln.
Er
ruft die Zeit an, die große Rächerin; er mahnt sie daran, daß er mit Ruhe und Stolz den Haß der Welt ertragen habe — und er
hat jegliche Art von Haß erlitten —1 und schließt mit dem Gebete: O, sei dies Eisen nicht umsonst getragen In meiner Seele!
Wenn er nun wieder von Land zu Land pilgert, schwindet
seine persönliche Trauer beim Anblicke der ungeheuren Ruinen Roms in nichts dahin, und wie jener Sulpicius, dessen Gefühle Chateaubriand in seinen
„Märtyrern" seinem Helden aneignete,
1 Vom schwersten Unrecht bis zum feigsten Hohn Litt ich nicht alles? Schmähung laut und leis, Der schäumenden Verleumdung ftechsten Ton,
Das flüsternde Gezisch im engsten Kreis, Und jener Natten: fein'res Giftgeschmeiß . . .
Childe Harold, IV, 136. 23*
empfindet er die Kleinheit seines eigenen Geschickes im Vergleiche zu
dem,
welches
die Städte Griechenlands
dahingemäht hat?
Und wenn er, mit der bloßen Gedankenfreiheit nicht zufrieden, den Blick nach aussen wendet, um sich mit den großen politischen
Kämpfen zu befassen, wiederholt er nicht bloß die alten leiden
schaftlichen Mahnungen an die Gefallenen, wie da et Venedig zü rnst, die Stadt habe den Ruhm der Jahrhunderte im Schlamme der Knechtschaft ersäuft, und ihr wäre besser, selbst im Meere ver sunken zu sein, als solche Schmach zu erleben, nein, er kehrt sich
keck gegen die Mächtigen, die Sieger von Waterloo, die er als Napoleon's Affen verhöhnt und wendet sich von der politischen Außenseite der Kämpfe ab und ihrem sozialen Keme zu.
Zwar hat Frankreich, sagt er, scheinbar vergebens Ruinen auf
Ruinen uralter Vorurteile getürmt, die seit dem Anbeginn der
Zeiten bestanden, zwar sehen wir jetzt Gefängnisse und Throne aus all dem Schutt sich wiedererheben: Das aber wird nicht dauern! Ihre Stärke Hat endlich doch die Menschheit wohl erkannt. —
Und hat auch Frankreich sich in Blut berauscht,
bis es
Greuel spie: Doch Freiheit!
Dein zeriss'neS Banner wallt
Wie Donnerwolke» gegen alle Winde, Und dein Trompetenruf ersterbend schallt, AlS ob sein Echo niemals wieder schwinde.
Dein Baum verlor die Blüten und di« Rinde, Bom Beil zerhackt, scheint rauh und welk zu sein; Jedoch der East lebt, und dm Samm finde
1 O Rom! Du meine Heimat! Stadt der Seele! BerwaisteS Herz, es kehre ein bei dir. Einsame Mutter toter Reich', und hehle
Beschämt sein Zwergenweh! — Was murren wir? Childe Harold IV, 78.
Da, wo der Freund deS Weisesten in Rom,
Der Freund deS Tullius fuhr gm Griechenland, Da fuhr auch ich ... .
Bergl.: Die Reaktion in Frankreich S. 193.
Childe Harold IV, 44.
Ich tief gesät bis in die Wüstenei'n, Und minder bittre Frucht bringt neuer Lenz dir ein.
Ich habe doch gelebt und nicht vergebens: Ob dieser Geist erlahmt, dies Herz versiegt. Ob dieser Leib zerbricht im Kampf des Lebens,
Eins ist in mir, was Zeit und Qual besiegt, Was atmen wird, wann dieser Hauch verfliegt;
Ein etwas, das ihr Ohr noch nie vernahm, Wie Nachhall der verstummten Harfe, wiegt Einst ihren Groll in Schlaf.
Childe Harold, III, 82; IV, 98, 136.
So verschmelzen in diesem schönen Gedichte die Grundstim
mungen der Einsamkeit, der Melancholie und der Freiheitsliebe,
und so erweitert und vertieft, mit dem von Gesang zu Gesang
vorschreitenden Werke, und mehr.
das Seelenleben des Dichters sich mehr
Wordsworth hatte sein Ich in ein Organ Englands
verwandelt, Scott und Moore den Gefühlen Schottlands und Ir lands in ihren Gesängen Luft gemacht, Byron's Ich aber ist das
allgemein menschliche; dessen Sorgen und Hoffnungen sind die der
Menschheit.
Nachdem dies Ich voll männlicher Kraft sich
auf
sich selbst zurückgezogen und in sein einsames Leid vertieft hat,
erweitert sein Schmerz sich zur Trauer über den Jammer des Menschenlebens; die harte und egoistische Schale des Ichs wird
gesprengt, und die ttefe Freiheitsbegeisterung bricht sich Bahn, um die gesamte Mitwelt des Dichters zu umfassen und zu erheben?
1 In Martensen's „Christlicher Ethik" S. 228 heißt es von Byron, dessen
Sprache der hochwürdige Verfasser, der ihn stets deutsch zitiert, nicht mächtig
zu sein scheint:
„Nimmt man ihn jedoch in seiner Ganzheit, so darf man
wahrlich behaupten, daß sein Glaube an das politische Freiheitsideal bei weitem nicht so stark war, als seine Verachtung einer Welt, die so schlecht sei, daß kein
Freiheitsideal sich in ihr verwirklichen, kein wahrer Fortschritt in ihr zu stände kommen könnte," eine Behauptung, die sich weder rechtfertigen läßt, noch in der
betreffenden Schrift zu rechtfertigen versucht wird. Kategorie „Pessimismus" aufgehen.
Byron soll dort in der
In Grimur Thomsen's Dissertation über
Lord Byron, einer in äußerst spekulativem Stile abgefahren Arbeit, heißt es
Byron.
358
Die Vertiefung -es Ichs in sich selbst.
Und nun hält der Dichter seinen Gottesdienst, und seine Seele sammelt sich voll Andacht.
alle
Er verwirft
„Götzenhäuser",
goüsche Kirchen wie griechische Tempel, und gleichwie die alten
Perser ihre Altäre auf den höchsten, die Erde überschauenden Bergen errichteten, so beugt er das Haupt in der großen Kirche der Natur, in ihr, die aus Erde und Luft besteht? ungleich verständiger: der Bekanntschaft mit
Die jungen Dichter (Frankreichs) wurden erst mittels der Poesie Byrons sich des wahren Prinizipes der
Revolution, des freien Gedankens klar bewußt.
1
Vergleiche nur
Die Götzenhäuser, Griechen-, Gotenpracht, Mit Erd' und Lust, den Kirchen der Natur, Und heft' an Mauern nicht dein Flehn und deinen Schwur.
Childe Harold, III, 91.
XX. Nach einem Besuche des Schlachtfeldes von Waterloo reiste
Byron den Rhein hinauf nach der Schweiz, wo er am Genfer See seinen Aufenthalt nahm.
In einer der dorügen Pensionen traf
er mit dem um vier Jahre jüngeren Shelley zusammm.
Letzterer
hatte seinerzeit Byron Queen Mab zugesendet; allein der dem
Buche beigegebene Brief war verloren gegangen, und so hatte sich keine Korrespondenz daraus entsponnen.
Shelley war um vierzehn
Tage früher in Genf angekommen, wohin er sich mit Mary Godwin
und einer Stieffchwester derselben, Fräulein Jane Clairmont, be
geben, welche schon in London ein leidenschaftliches Interesse für Byron gefaßt hatte.
Byron's natürliche Tochter Allegra ist die
Frucht der kurzwährenden Verbindung, die nun zwischen ihm und der jungen Dame entstand.
Im vertrauten Umgang mit Shelley empfing Byron's Geist einige der stärksten und tiefsten Eindrücke, für die er empfänglich
war. Der erste große Eindruck war der von Shelley's Persönlichkeit und Lebensanschauung. Byron
einem
Zum ersten Male in seinem Leben stand
vollkommen modernen,
vollkommen freien Geiste
gegenüber. Bei all seiner genialen Fähigkeit, sich das, was mit seiner Natur übereinstimmte, zu eigen zu machen, hatte er doch litterarisch
und philosophisch nur eine halbe Bildung erhalten und sich be ständig mehr von Sympathien als von Überzeugungen leiten lassen. Nun trat Shelley ihm entgegen, durchglüht von der Begeisterung
eines Apostels,
längst
über
Priester des Humanismus.
alle Zweifel
hinaus,
ein wahrer
Das zerstreuende Leben in Londons
wie der beklemmende Druck schwerer
Gesellschastssälen sowohl,
Schicksale hatten Byron zu sehr die Gemütsruhe geraubt, um ihn über die Grundfragm des Daseins und die Reform der Mensch
heit sonderlich viel nachgrübeln zu lassen; er war allzusehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.
Nun begegnete er eben an dem Punkte
seiner Dichterlaufbahn, in dem das Ich in ihm aufzuthauen be
gann, dem Geiste, der ihm die Feuertaufe gab. schloß sich
Seine Seele er
ganz dem neuen Einflüsse, und in einer Reihe nun
von ihm verfaßter Dichtungen ist derselbe deutlich zu verspüren.
Die vielen pantheistischen Ergüsse im dntten Gesang des Childe Harold sind ohne Zweifel samt und sonders die Frucht der Ge spräche mit Shelley, vor allem ist die schöne Stelle von der allmächtigen Liebe als dem Geiste der Natur (III, 100) ein Ausdruck
der Lehre Shelley's von Liebe und Schönheit als den geheimnis vollen, die Welt umspannmden Mächten. Ja, in einer seiner Tage
buchaufzeichnungen geht Byron in jenen Tagen im Shelley'schen Pantheismus so weit, daß er die Stimmung, welche Clärens und
Meillerie, dm Schauplatz von Rousseau's „Heloise" umhaucht, als eine solche bezeichnet, die „von höherer, umfassenderer Art" sei als die Sympathie mit einer einzelnm Leidmschaft.
„Es ist", sagt er,
„das Gefühl der Existenz der Liebe im höchsten, weitesten Sinne des Wortes, wie unseres eigenen Anteils an ihren Gütem, ihrem Ruhm, es ist das große Prinzip des Weltalles, das hier ver dichteter als anderwärts zugegen ist.
obwohl
wir
uns
bewußt
sind,
In demselben verlierm wir,
daran teil zu haben,
unsere
Individualität, indem wir in der Schönheit des Ganzen auf gehen."
Ein weiterer Einfluß Shelley's läßt sich in den Geister
szenen des „Manfred" und besonders in dem dntten Akte des Dramas nachweism, dessen Umarbeitung auf Shelley's Rat vor-
gmommm wurde.
Endlich hätte „Kain", selbst wenn Shelley,
wie er behauptet, keinen direkten Anteil an der Komposition dieser Dichtung hatte, unstreitig nie das Gepräge, welches das Werk
trägt, erhalten, wenn man sich Shelley aus dem Leben Byron's
hinwegdenken könnte.
Die beiden Dichter besuchten gemeinsam Chillon und die ganze
Gegend, und so empfing Byron den zweiten großen Eindruck, der befruchtend auf ihn wirken sollte, den Eindruck der Alpenkette.
Es war ein Labsal für ihn, der eben erst dm Qualm der mglischen Gesellschaftssäle eingeatmet, das Auge auf dem ewigen
Schnee ruhen zu lassen und, wolkenhoch über dem Menschen
gewimmel, die schneebedeckten Spitzen der Alpen zu betrachten. Sein poetischer Vorgänger Chateaubriand verabscheute die Alpen, ihre
Größe wirkte niederdrückend auf seine Eitelkeit; Byron fühlte sich
unter ihnen heimisch. „Manfred",
dessen wahrer poetischer Wert darin liegt, eine
Alpenlandschaft,
eine Alpenlandschast sondergleichen zu sein, ist
direkt aus den Natureindrücken hervorgegangen.
Taine hat sich zu
dem starken Ausdruck hinreißen lassen, daß Byron's Alpengeister im Manfred bloße Theatergötter seien, allein Taine kannte, als er dies schrieb, nicht selbst die Schweiz. In keiner Umgebung liegt der Übergang zu einer Personi
fizierung
der Natur
näher
als hier.
Reismde fühlt sich hierzu versucht.
Selbst der gewöhnliche
Ich erinnere mich, daß ich
eines Abends auf dem Rigi-Kulm stand und die schönen Seen
zu Füßen des Berges, sowie die kleinen Wölkchm betrachtete, die unten, dicht über dem Spiegel derselben, Hintrieben.
Da rollte mit
einem Male, vom Saume des Horizonts, ein kleiner weißer Klumpen
daher.
Als er eine Minute später den Pilatus, erreichte, war
er eine ungeheure Nebelmasse.
Mit reißender Schnelle breitete
sich diese über dm Himmel und ließ die Zipfel ihres Wolken-
mantels meilmweit nach beidm Seiten flattern.
Sie senkte sich
auf die Spiegelfläche der Seen, hüllte die Felsspitzen ein, ritt auf
den Bergrücken, vertiefte sich in die Klüfte, breitete dann nochmals
ihre Flanken aus, wirbelte wie Rauch gen Himmel, sank wie Blei auf die Städte, verlöschte alle Farben und zerrann zu Grau in Grau.
Die Weiße des Schnees, das Grün der Bäume, die tausend Lichter
und Farben des Abendhimmels warm in einem Nu überflutet und dahin.
Der Blick, der eben noch frei über die unermeßliche Fläche
schweifte, heftete sich, unwiderstehlich angezogen, einzig auf die un
förmliche Masse, die, eiligen Fluges und gewaltig wie ein Welt körper im Urzustände, dem Beschauer entgegmschoß.
Es war, als
ob himmlische Heerscharm, als ob hunderttausende lustiger Reiter
in geschlossenm Reihm, auf beschwingten, lautlosen Rossen daher gesaust kämen, unwiderstehlicher als irgend ein irdisches Heer, spur los alles hinter sich verttlgmd, wie asiattsche Horden oder die
Hunnen Attila's.
Ein Nordländer mußte unwillkürlich an dm
Heerzug der Banen denken.
In dem Augmblicke, wo die Wolke
den Rand des Kulms erreichte, wurdm die Vordersten dem Auge mtrückt und immer mehr und mehre verschwandm in ihr, bis sie
mdlich, feucht und erstickend, einen jeden umschlang,
einem dm
Mund schloß und sich schwer auf die Bmst legte. Derartige Naturschauspiele waren es, die zu den Geistererscheinungm, welche Manfted überfallen, dm Stoff abgaben. Aus
dm Tagebüchem Byron's ist Abschnitt um Abschnitt in sein Ge
dicht übergegangm, und nicht selten sind die Ausdrücke in ihrer
ersten flüchttgm Gestaltung fast noch ergreifender als im Gedichte. „Kam nach Grindelwald.
Ritt zu dem höhem Gletscher hinan —
er glich einem gefrorenen Orkan.
fJn Manfted steht, des Verses
halber, einem gefrorenen Sturm.]
Sternhell, schön, aber ein ver
teufelter Weg.... etwas Blitz, aber der Tag im ganzen so schön
wie der Tag, an dem das Paradies geschaffm wurde.
Ging durch
ganze Wälder verdorrter Tannm, allesamt eingegangm, die Stämme
abgeschält, ohne Rinde, die Äste tot; dies das Werk eines einzigm
Winters — ihr Aussehen erinnerte mich an mich und die Meinigen."
Sijton.
Alle
363
Der revolutionäre Geist.
diese Ausdrücke kommen,
leicht umgeformt,
in dem Ge
dichte vor. So reich
an Ausbeute
aber Byron's
und Shelley's ge
meinschaftliche Ausflüge auch waren, sie wurden ihnen doch auf
mannigfache Weise vergällt.
Ihre reisenden Landsleute plagten
sie überall mit ihrer Neugierde und drangen sogar mit unglaub licher Frechheit in Byron's Behausung ein.
Verwehrte man ihnen
den Eintritt, so postierten sie sich mit ihren Ferngläsem an den Ufern und den Wegen, um ihre Beobachtungen anzustellen, guckten
über Gartenmauern und bestachen Gasthofskellner, wie später in Venedig Gondelführer, um Skandalgeschichten zu ergattern.
Daß
Byron und Shelley gemeinschaftlich mit zwei Schwestern lebten, war das erste Gerücht, das man in Umlauf setzte, und je mehr
die beiden Dichter sich im Munde der Leute zu leibhaften Teufeln
wandelten, ein desto widerlicheres Gepräge nahmen diese Gerüchte
an.
Kein Wunder also, daß eines Tages in Coppet, als Byron
das Wohnzimmer der Frau
von Stael
betrat,
eine
englische
Dame, die gottesfürchtige Romanschriftstellerin Frau Hervey, da
sie seinen Namen nennen hörte, in Ohnmacht fiel, als käme, sagt Byron, „Seine satanische Majestät"
selber vor ihren Augen an
gestiegen. Wenn wir die Ursache dieses uns jetzt so lächerlich erscheinenden
Schauders vor Byron's Person recht begreifen wollen, so werden wir auf den furchtbaren Eindruck geführt,
den er noch zuletzt
während seines Aufenthaltes am Genfer See empfing, nämlich den einer in England über ihn ausgesprengten bestimmten Verleumdung, über deren Beschaffenheit und die weite Verbreitung, die sie ge
funden, er sich jetzt erst klar wurde.
Es ist dieselbe, die Frau
Beecher-Stowe der Welt als eine vertrauliche Mitteilung kundthat, welche sie aus dem Munde Lady Byron's empfangm hübe,
„wobei himmlischer Glanz das ätherische Antlitz dieser Dame ver klärte," die Geschichte von dem verbrecherischm Verhältnisse Byron's
zu seiner Schwester Augusta Leigh.
Diese Geschichte war im
Laufe der Jahre bei Lady Byron so zur fixen Idee geworden, daß sie, wie eine 1869 herausgegebene Schrift nachweist, nicht einmal Anstand nahm, einer Tochter Augusta's, die sich in einer
Notlage an sie wmdete, mitzuteilen, sie, Medora, wäre keine Tochter des Obersten Leigh, sondem ein Kind Byron's und seiner Stief
schwester.
Sie erklärte zugleich, daß sie stets für ihren Unterhalt
sorgen werde, was ihr jedoch später entfallen zu sein scheint.
Von dieser Beschuldigung hat Byron in dem Augenblicke, wo er England verließ, offenbar nichts oder so gut wie nichts gewußt. Er dürste kaum alle gegen ihn erschienenen Zeitungsartikel gelesen
haben.
Er sagt selbst: „Erst ziemlich lange nach meiner Abreise
wurde ich von dem ganzen Vorgehen und der Sprache meiner
Feinde unterrichtet.
Meine Freunde hätten mir vieles sagen sollen,
was sie mir verschwiegen."
Erst in der Schweiz erhielt er durch
einen Freund von allem Kunde.
Hierdurch werden auch erst die
aus der Schweiz an Augusta gerichteten Poesien völlig verständ
lich.
So heißt es im Childe Harold, III, 55: Und eine sanfte Brust, wie ich erzählt.
War ihm verbunden durch ein stärkres Band, AIS es die Kirche schürzt.
Zwar unvermählt,
Doch rein war diese Liebe; sie bestand Die Prüfung tiefsten Hasses Hand in Hand,
Gestählt in tätlichster Gefahr, die mehr
Als alles Frauenherzen übermannt, Ihr Herz blieb fest, und wohl war seines schwer,
Als diesen Gruß er ihr heimsandte übers Meer.
Die Stanzen an Augusta enthaltm ähnliche Ausdrücke, und die Zeile „Du wurdest geschmäht und bliebest echt" (in dem zweiten
der Gedichte an sie) zeigt,
daß auch sie um diese schändlichm
Gerüchte wußte. Nun erst erklärt sich auch der in der Schweiz eingetretene
plötzliche Umschlag der Stimmung Byron's gegen Lady Byron.
Er, der in der ersten Zeit nach der Scheidung äußerte, er glaube
nicht, daß so leicht ein muntereres, besseres, liebenswürdigeres, an
genehmeres Wesen als sie zu finden sei, und alle Schuld seiner
Heftigkeit und Unbesonnenheit beimaß, sieht nun mehr die Schattenseiten ihres Charakters, und unter dem überwältigenden Eindmcke
der eben geschilderten Entdeckung, beginnt er den häßlichm Krieg gegen ein Weib, der sonst so unwürdig erscheinen müßte, und
entwirft das harte Porträt von ihr als Donna Inez im ersten Gesänge des Don Juan.
Der zwingendste und in der That vernichtendste Beweis gegen
Lady Byron kam im Oktober 1869 in Quarterly-Beview zu Tage. Es wurden nämlich sieben Briefe und Billette abgedruckt, welche
Lady Byron nach dem Bruche mit ihrem Gatten an Mrs. Leigh ge schrieben hat und die von Zärtlichkeit und liebevollen Versicherungen überfließen.
Es sei ihr „ein großer Trost," heißt es darin, Mrs.
Leigh mit ihrem Gemahl beisammm zu wissen; sie müsse freilich
nun auf das Recht verzichtm, „ihre teuerste Augusta" Schwester zu nennen, dennoch hoffe sie, es werde dies dem herzlichen Wohl
wollen, das Frau Leigh stets für sie gehegt, keinen Abbruch thun. „In diesem Punkte wenigstens (!)," schreibt sie, „bin ich die Wahrheit
selbst, wenn ich sage, in welche Lage ich auch kommen möge, giebt
es doch niemanden, dessen Umgang mir jemals teurer sein, mich
mehr beglücken könnte. ändern vermögen.
Nichts wird je diese meine Gefühle zu
Solltest Du mich vemrteilm, ich werde Dich
dämm nicht minder lieben."
So hat Lady Byron an diejenige
geschrieben, welche sie viele Jahre später als die Schuldige brand markte, die sie aus dem Hause ihres Gatten vertrieben habe.
Ja,
noch mehr, der freundschaftliche Briefwechsel zwischen Lady Byron
und Mrs. Leigh währte bis zum Tode Byron's. unvollendeter Brief beginnt mit den Worte:
Noch sein letzter „Liebste Augusta!
Bor wenigen Tagen erhielt ich Deinen und Lady Byron's Bericht über Ada's Befinden."
Und
nun
sollen
wir
glauben,
Lady
366
Byron.
Btt revolutionäre Leist.
Byron habe Augusta, die nach wie vor das versöhnende Mittel
glied zwischen den Gatten bildete, ihr ganzes Leben als die un natürliche Verbrecherin betrachtet, welche die Hauptschuld an dem Unglück ihres Lebens
traf?
Welches
Chaos
von Lüge und
Wahnwitz!
Wahnwitz
ist
das
richtige Wort;
denn —
so
bemerkt
Quarterly-Review — wie Lady Byron gleich anfangs für die Handlungsweise ihres Gatten keine andere Erklärung als Irrsinn zu finden vermochte, so können wir uns heutigen Tages die ihre
nicht anders als durch Gemütskrankheit erklären. „Allein ein merk würdiger Unterschied waltet zwischen ihrer und seiner Krankheit ob.
Er übertrieb in krankhafter Weise seine Fehler, sie ihre
Tugenden.
Seine Monomanie bestand darin, ein unmöglicher
Sünder, die chrige darin, eine unmögliche Heilige sein zu wollen.
Er that in seinen wahnwitzigen Stimmungen alles Mögliche, um sich
bei der Welt anzuschwärzen, und sie nahm seine Selbst
anklagen, die oft nur schlechte Witze und Mystifikationen waren,
für baren Ernst.
Ihre Halluzinationen hingegen gingen darauf
aus, Namen und Ruf derjenigen zn untergraben, die ihr am nächsten standen, und die ihr hätten am teuersten sein sollen.
Welche dieser
Geistesverirrungen war wohl hier die gefährlichste und unliebens würdigste?" 1
Byron's letzter Eindruck in der Schweiz war somit der Druck der furchtbaren Verleumdung, unter der er sich wand.
Seine Ge
danken drehten sich selbstverständlich immer und immer wieder um dieselbe, und nach Künstlerart dichtete er sich tiefet und tiefer hin
ein.
George Sand hat in einem Briefe an Sainte-Beuve an einer
Stelle ihre Natur und die Dichtematur überhaupt mit ein paar kecken Zügen geschildert.
Die Rede ist von dem Philosophen
Jouffroy, der sich ihr vorstellen zu lassen gewünscht hat, vor dem 1 Quarterly Review, Okt. 1869. Schrift: Lord Byron. S. 179.
Vergl. Karl Elze's ausgezeichnete
Nyron.
367
Der revolutionäre Seist.
sie jedoch einige Scheu empfindet, als vor einem allzu strengen Moralisten und allzu wenig geschmeidigen Geiste. Sie schreibt: „Ich
habe mir manchmal im Stillen gesagt: Wer weiß, ob man nicht Menschenfleisch essen darf?
Sie haben sich im Stillen gesagt:
Es mag Leute geben, die ihre Zweifel haben, ob man nicht Menschenfleisch essen dürfe.
Jouffroy hat sich gesagt: So eine
Idee ist noch keinem Menschen eingefallen u. s. to."
Tiefe Worte,
die an sich eine Definition von dem Wesen des Dichters im Gegen
satze zu dem des Beobachters und des Moralisten enthalten.
Der starke Drang, seiner Einbildungskraft und seiner Reflexion
jedes Experiment zu gestatten, der Trieb, über das zu grübeln und zu phantasieren, was die Menschen im allgemeinen fürchten
und scheuen, war in hohem Grade bei Byron ausgeprägt.
Die
bekannte Anekdote, die so großes Entsetzen erregt hat, daß er ein mal, mit einem kleinen Messer in der Hand, ausrief: „Ich möchte
wissen, wie jemandem zu Mute ist, der einen Mord begangen!" hat keine andere Bedeutung.
Es lockte ihn, sich in das mit einer
verbrecherischen Liebe verbundene Schuldbewußtsein hereinzugrübeln,
nicht minder sich in jenes hineinzudichten, das einem Morde auf
dem Fuße folgt.
Seine frühestm Helden, wie der Giaur und
Lara, haben einen mysteriösen Mord begangen, und, wie männig-
lich bekannt, wurde Byron das Verbrechen dieser seiner Helden ohne weiteres aufgemutzt, ja selbst der alte Goethe ließ sich von
dem Gerede der Leute verleiten, bei seiner Besprechung des „Man
fred" das Ammenmärchen, das er als höchst wahrscheinlich be zeichnet, wiederzugeben, Byron hätte sich in Florenz (wo er sich
komischer Weise einen einzigen Vormittag aufhielt) in einen Liebes handel mit einer jungen Frau eingelassen, deren Gatte sie tötete, worauf Byron, um ihren Tod zu rächen, seinerseits dem Mörder das Leben nahm.
Ganz wie man früher dm Beweis für seine
Mordchaten in Lara's tragischen Mienen zu finden glaubte, hat
man in unfern Tagen einen Beweis für seinen Inzest in Manfred's
Verzweiflung und in Kain's Ehe mit seiner Schwester erblicken
wollen.
Es kann nicht Wunder nehmen, daß Byron und Moore
einmal mit der Absicht umgingen, eine phantastische Biographie Lord Byron's zu »erfassen, derzufolge er so viele Mitglieder des einen Geschlechtes verführt und so viele des andem ermordet haben sollte,
daß man hoffen könnte, allen übrigen Anekdotensammlern durch Überbietung den Mund zu stopfen.
Sie gaben den Plan nur aus
Furcht auf, die Naivetät des Publikums könnte den Spaß für Ernst nehmen.
So manches Gespräch zwischen Byron und Shelley dürste
sich denn aus leicht begreiflichen Gründen um die Liebe zwischen Bruder und Schwester gedreht haben, umsomehr als dieselbe un-
fmchtbare Frage auch den jüngeren Dichter beschäftigte.
Byron
irritierte besonders der Umstand, daß die Frommen gar so sehr Zeter darüber schrien, während sie doch selbst dogmatisch lehrten,
daß die Menschheit, als von einem einzigen Paare stammend, fich durch Geschwisterpaarung gebildet habe.
Daher betont er im
„Kain", daß Kain und Adah Geschwister seien, und läßt Lucifer Adah erklären, daß ihre Liebe zu dem Bruder keine Sünde sei, daß dies aber bei den Nachkommen der Fall sein würde, worauf
Adah sehr logisch antwortet: WaS ist Sünde, die Nicht Sünd' an sich ist? Macht ein äußrer Umstand Sünd' oder Tugend?
Ans allen diesm eben angedeuteten seelischen Elementm gingen „Mansted" und „Kain" hervor.
Das erste von diesen beiden
Werken ist das minder bedeutende und verträgt wahrlich nicht den
Vergleich mit Goethe's Faust, zu dem es einladet, und den man so häufig angestellt hat.
Goethe selbst sagt, daß sich darüber eine
schöne Vorlesung halten ließe, doch ist nun diese ost genug ge-
halten worden, von niemand wohl mit größerer Originalität und Begabung als von Taine.
Nyron.
369
Der revolutionäre Geist.
Nur in einem einzigen Punkte erhebt sich Manfred über Faust. Dem Kritiker giebt nichts einen besseren Wertmesser für die ver
schiedenen Partim eines Werkes ab, als der Umstand, was er nach Jahren noch davon in Erinnerung behalten hat, und ich weiß
bestimmt, daß, nachdem ich ein Jahrzehnt lang Manfred nicht gelesen hatte, das
einzige
mir im Gedächtnisse Gebliebene die
Szene war, wo er, der doch selbst so streng mit sich ins Ge richt geht, in seiner Todesstunde, nachdem er dm Abt und seine
Tröstungen zurückgewiesen, mit festem Stolz und tiefer Verachtung die bösen Geister fortsendet, mit welchen er nichts gemein hat, und denen er nie die geringste Macht über sich eingeräumt hat.
Der
Gegensatz zu Faust, der sich Mephistopheles verkauft und vor
dem Erdgeiste aufs Knie sinkt, ist hier schlagend.
Dem englischen
Dichter hat hier ein Ideal selbständiger Männlichkeit vorgeschwebt, zu dem der dmtsche Dichter sich nicht erhob, und sein Held ist
ebmso typisch Mann, wie Goethe's Held der Typus des Mmschen ist.
Einsam im Tode wie im Leben, steht er mit der Hölle nicht
im Bunde, noch irgmdwie zum Himmel in Beziehung. eigener Ankläger und sein eigener Richter. Moral Byron's liegt hierin.
Er ist sein
Die ganze männliche
Auf dm einsamen Höhen jenseits
der Schneegrenze, wo menschliche Schwäche und Weichlichkeit nicht mehr gedeihen, dort atmet seine Seele erst leicht, und die Alpen landschaft gestaltet sich naturgemäß zum Rahmen um die mit ihrer
strengen Wildheit verwandte Hauptperson. In
Manfted kommt jedoch
nur die selbstische Seite der
Dichterseele Byron's zum Vorschein.
Seine allgemein menschliche
Sympathie äußerte sich zum ersten Male ganz in dem dramatischm Gegmstück zu Manfted, in „Kain". Kain ist Byron's Glaubensbe-
kmntnis, d. h. das Bekenntnis aller seiner Zweifel und aller seiner Kritik.
Wmn man bedmkt, daß er weder wie Shelley und die
großen Dichter Dmtschlands sich mittelst philosophischer Studien eine freie humane Weltanschauung erkämpft hatte, noch wie die Brandes, Litteratur de» 19. Jahrh. IV.
24
Dichter unserer Tage wissenschaftliche Naturkunde und wissenschaft liche Kritik der biblischen Schriftdenkmäler als Voraussetzung für alle Grübeleien und Träumereien über die Lebensauffassung der
Vergangenheit und Gegmwart anzuwendm gelernt hatte, so muß
man staunmd die Energie und den Ernst bewundem, mit dem er
hier alle höchsten Lebensfragen aufgriff. Als private Persönlichkeit war Byron unstreitig ebenso un
fertig in seiner Freidenkerei, wie er dilettantisch in seiner Politik
war.
Sein klarer Verstand empörte sich gegen den Glaubm an
das Vemunftwidrige, allein er war wie die meisten großen Männer zu Anfang des Jahrhunderts, d. h. vor der Entwicklung der Re-
ligions- und der Naturwissenschaft, zugleich Zweifler und aber
gläubisch.
Schon als Kind war ihm die Religion verleidet worden.
Die Mutter schleppte ihn regelmäßig mit in die Kirche, und er rächte sich damit, sie mit Stecknadeln zu stechen, wenn er sich allzu
sehr langweilte.
Als Jüngling wurde er über den starren Buch-
stabenglauben der anglikanischen Kirche mit ihren 39 Artikeln auf gebracht und schrieb in sein „Memorandum", daß es ebenso vergeb
lich sei, der Vernunft das Forschen zu verbieten, wie einem Wachen
zuzurufen: Wache nicht, schlafe! Der Glaube an die ewigm Höllenstrafen war deshalb auch der Gegenstand seines ewigen Gespöttes.
Er schreibt 1822 an Moore: „Erinnern Sie sich nicht der Antwort
Friedrichs des Großm auf die Klage jener Bauerngemeinde, deren
Pastor gegen die Ewigkeit der Höllenqualm gepredigt hatte?
Sie
lautete folgendermaßm: Wenn meine lieben und getreuen Unter thanen in Schrausenhansen es vorziehen, ewig verdammt zu wer-
ben, so steht ihnen solches frei."1 Landslmtm Byron's,
Und schrecklich erschien es dm
in Don Juan „altm Rum und wahre
1 In Wirklichkeit handelte es sich um einem Pfarrer namens Petitpierre
im Kanton
Neuenburg.
Die Geistlichkeit Neuenburgs verklagte ihn beim
König als Hetzer in betreff der ewigen Höllenstrafen, und Friedrich gab die von Byron angeführte Antwort.
Religiosität" als die besten Beruhigungsmittel für erhitzte Gemüter angeführt zu sehen.
Er verabscheute die Pfaffen.
Trelawny führt von ihm die
Äußerung an: „Wann haben die Priester den Genius beschützt? Sobald einer von ihrer schwarzen Bande zu denken wagt, wird
er ausgepfiffen wie Sterne oder Swift," und Moore zitiert den
folgenden Zornesausbruch: „Diese Schurken von Pfaffen haben der Religion mehr Schaden zugefügt als alle Ungläubigen."
Doch
bei allen seinen Witzen und allen seinen Ausfällen schwankte er.
Er wagte nicht, dm Resultaten, zu welchen sich Shelley durch seine Folgerungm geführt sah, beizupflichten, und ließ sein un
eheliches Töchterchm in einem Kloster erziehm, damit das Kind nicht durch die freidenkerischen Reden Shelley's und seiner Gattin
beeinflußt werde.
Ein schöner, bezeichnmder Brief Shelley's ist
ein unumstößlicher Beweis für Byron's Unentschiedenheit. Byron," schreibt er,
„Lord
„hat mir ein paar Briefe von Moore vor
gelesen, worin sich dieser sehr freundlich über mich äußert, und ich kann mich durch den Beifall eines Mannes, dessen Über
legenheit ich frmdig anerkenne, nur geschmeichelt fühlen.
Allein
Moore scheint meinen Einfluß auf Byron in religiöser Beziehung
zu fürchten und dm Ton, in dem Kain gehalten ist, einer Ein
wirkung von meiner Seite zuzuschreiben .... Moore zu versichem,
Ich bitte Sie,
daß ich nicht den geringsten Einfluß in
dieser Hinsicht auf Byron besitze; besäße ich ihn, ich würde ihn
sicher dazu benützm, aus seiner Seele das Blendwerk des Christen
tums zu tilgen, das, seiner Vernunft ungeachtet, stets wieder zukehren
und
für Stunden
der Krankheit
im Hinterhalte zu liegen scheint.
und
des
Unglücks
Kain war vor Bieten Jahren
konzipiert und begonnen worden, bevor ich Byron in Ravenna sah.
Wie glücklich wäre ich gewesen, wenn ich mir einen auch nur indirektm Anteil an diesem unsterblichen Werke hätte zuschreibm sönnen!"
Wir sehm also, daß Byron als Privatmann sich keineswegs zu einer prinzipienfesten Lebensanschauung emporgerungen hatte.
Allein mit um so größerem ©tarnten nimmt man wahr, wie in
seinen poetischen Schöpfungen sein Genie ihn mit sich fortreißt, ihn
groß
und
siegreich
in
seinem
Gedankengang
macht
und
ihn mit vollendeter Sicherheit die entscheidenden Punkte treffen
läßt.
Eine wahre Umwälzung vollzog sich in der europäischen
Poesie, die 1821 bis an den Hals int Bibelglauben und religiöser
Verdummung steckte, als Kain wie eine Aufruhrsbotschaft erschien; der Eindruck kann nur mit dem verglichen werden, den Strauß' „Leben Jesu" vierzehn Jahre später in der wissenschaftlichen Welt
hervorrief. Hellenismus
Die großen deutschen Dichter hattm in ihrem freien
den Offenbarungsglauben links liegen lassen.
Hier
erhob sich ein anderer minder freigeistiger Dichter, der in dem Dogmenkäfig eingezwängt saß, ihn aber wie ein Raubtier durch maß, an dm Stangen des Käfigs rüttelnd.
Kain ist nicht mit der Hast der Inspiration geschrieben; das Drama stürmt und donnert nicht. Byron hat hier zu vollbringen ver standen, was ungestümen Seelen das Schwierigste und der Inbegriff
aller Moral ist: seine Leidenschaft zu kanalisieren, d. h. ihren
blinden Strom fmchtbar zu machen. Das Stück ist die Schöpfung
eines Grüblers.
Es ist das Werk einer langsam bohrenden und.
höhlenden Erwägung, eines zersetzenden Scharfsinns, einer zer bröckelnden Denkkraft.
Nirgmds gilt wie hier von Byron, was
Goethe ihn als Euphorion im zweitm Teil des Faust sagen läßt: Das leicht (Errungene
Das widert mir; Nur das Erzwungene Ergötzt mich schier.
Allein die ganze hämmemde und zermalmende Maschinerie des
Geistes, die hier scheinbar so beherrscht wird, ist tion einer entstammten,
mächtig lodernden Einbildungskraft in Schwingung gesetzt, und im
Vyron.
Ser revolutionäre Seist.
tiefsten Jnnem schluchzt hier eine Seele.
373
Byron's Glaube ist ihm
hier ebenso zustatten gekommen, wie sein Unglaube.
Mit voller
poetischer Naivetät geht er auf die alttestamentarische Sage, wie
sie vorliegt, ein.
Er behandelt die Sagengestalten nicht als Sinn
bilder, sondern als Wirklichkeiten, und er ist ehrlich, indem er so zu Werke geht.
sich
Es fällt ihm leicht; dmn sein Zweifel bewegt
auch in der Dichtung beständig auf dem Boden der Über
lieferung und hat dieselbe zur Voraussetzung.
Dabei war er alt
testamentarisch in seiner Geistesrichtung wie in seinem Seelenleben. In seinem Jnnem zitterten Klagemfe wie die Hiob's, als diesem
Trost und Zurechtweisung von feinett Freunden ward, in seinem Herzm scholl dumpf bei Tag und Nacht ein Racheschrei gleich
jenem Davids.
Die „Hebräischen Melodien" geben Zeugnis, wie
natürlich das jüdische Gewand für die Formm seines Gefühls
paßte. Indem
Byron
mit
voller
Treuherzigkeit
auf
die
Über-
liefemng eingeht und seine Vernunft vorläufig unter ihr Joch
bmgt, sehen wir in seinem Gedichte die menschliche Bemunst sich
unter diesem Joche winden, sich gegen dasselbe erheben, vom
Stachel gemartert werden und dawider tiefen.
Und was dies
Schauspiel noch anziehender macht, das ist, daß jene mmschliche Vemunft jung, neugeboren ist.
Auf den echtm Dichter wirkt
der Aufgang der Sonne so stark, als sähe er sie am ersten Schöpfungstage aufgehen; bei Byron hatten alle Zweifel und
Fragen eine solche Frische, daß sie dem ersten Frager und Zweifler in den Mund gelegt werden könnten.
Daß diese Zweifel, diese
Klagen sich bildm tonnten, hierzu bedurfte es nichts Geringeres als der gongen langen Kette der menschlichen Geschlechter, die
unter der Grausamkeit des Lebens und dem Aberwitz vererbter Sagm geseufzt und geschmachtet hatten.
Indem jedoch das auf-
gehäuste Leid der Jahrtausmde, die stets sich steigemde Qual, die freie Menschmvemunft auf die Folterbank des Glaubens geschraubt
zu sehen, hier dem ersten Empörer in den Mund gelegt ist, wird
alles von ihm so ursprünglich und naiv ausgesprochen, als wäre die Gedankenarbeit von Millionen schon von dem ersten denkenden
Gehirn vollbracht.
Dies der erste gewaltige Widerspruch, der an
dem Gedichte ergreift. Jene Partie
des Dramas,
in
welcher
teils alle inneren
Widersprüche der jüdisch-christlichen Überlieferung, teils deren Un
vereinbarkeit mit der Vernunft bloßgelegt werden, die versteckt an greifende Partie darin, ist allerdings heute von ziemlich geringem
Interesse.
Die
Menschheit
hat
seit
1821
so
viele
Schritte
vorwärts gethan, daß all der Scharfsinn, der aufgeboten wird,
um die Theologie des ersten Buches Moses kritisch zu nichte zu machen, sich in unsern Augen ungefähr wie ein Zu-Feldeziehen
gegen den Glauben an Werwölfe ausnimmt.
In Wirklichkeit aber
ist diese Polemik ja nur scheinbar buchstäblich zu nehmen.
Byron
wollte selbstverständlich nicht gotteslästerlich schreiben, nicht ein Wesen verhöhnen, das er selbst als das höchste, allumfassende
betrachtete. Was Kain bekämpft, ist in Wirklichkeit nur der Glaube, daß die Ordnung der Natur ihrem Wesen nach sittlich sei, daß
das Gute, statt eines der Ziele des Menschenlebens zu sein, dessen Voraussetzung bilden sollte.
Man muß jedoch eingedenk bleiben,
daß die menschliche Sprache voller Worte ist, welche die Ver
gangenheit gebildet hat und die Nachwelt zu gebrauchen genötigt ist, weil die Sprache keine anderen besitzt, ob wir ihnen auch
fort und fort eine andere Auslegung geben.
Solche Worte sind
z. B. Seele und Körper, Ewigkeit, Seligkeit, das Paradies, die erste Versuchung, der erste Fluch u. s. w., und Byron hat in seinem Gedichte alle Ausdrücke der Genesis beibehalten?
Eine
1 Renan bemerkt hierüber: Supposti meme que, pour nous philosophes, un autre mot fut präfärable, outre que les mots abstraits n’expriment pas assez clairement la reelle exiatence, il y aurait un immense inconv&rient L nous säparer par notre langage des simples, qui adorent si bien L
Weitere Wirkung seines Dramas beruht denn auf diesem zweiten, zum Nachdenken anregenden Widersprüche, daß alle die alten theo logischen und barbarischen Worte beibehalten sind, so daß ein unablässiger innerer Streit zwischen dem Geiste des Gedichtes und dessen Buchstaben besteht. Dieser zweite Widerspruch erschüttert die Leser, welche der erste aufgescheucht hat. Dem Nachweise der Flachheit des gewöhnlichen Theismus aber entspricht in diesem Drama das leidenschaftliche Aussprechen des unendlichen Jammers des menschlichen Daseins. Nicht Pessi mismus, Wie man mit einem schalen, nichtssagenden Worte es genannt hat, sondern das tiefe Gefühl des nicht wegzudisputieren den menschlichen Elendes liegt zu Grunde. Weit tiefer in Byron's Seele als die Bitterkeit gegen die Weltmacht, welche nur schafft, um zu zerstören, liegt das Gefühl der Naturnotwendigkeit des Mitleides aller mit allen, liegt das Mitgefühl mit all der Qual, der man zwar unmöglich abzuhelfm, aber sich doch auch unmöglich zu verschließen vermag. „Kain" ist eine Tragödie über das Grund tragische, daß der Mensch geboren wird, leidet, schuldig wird und stirbt. Byron begründet die biblische Legende: Adam ist gezähmt, Eva gebändigt, Abel ein sanfter, gehorsamer Knabe. Kain ist die junge Menschheit, die grübelt, fragt, ersehnt und fordert. Er soll am Dankgebete teilnehmen. Weshalb preisen und bauten? Für das Leben? Muß ich denn nicht sterben? Für das Leben? Bin ich leur manidre. Le mot Dien, 6taut en possession des respects de l’humanitä, ce mot ayant pour lui une longue präscription et ayant 6t6 employl dans des beiles podsies, ce serait renverser toutes les habitudes du langage que de Fabandonner. Dites aux simples de vivre d’aspirations k la värite, k la beautö, k la bontl morale, ces mots n’auront pour eux aucun sens. Dites leur d’aimer Dieu, de ne pas offenser Dieu, ils vous comprendront k merveille. Dieu, Providence, immortalitä, autant de bons vieux mots, un peu lourds peut-etre, que la Philosophie interprßtera dans des sens de plus en plus raffinSs, mais qu’elle ne remplacera jamais avec avantage.
Etudes d’histoire religieuse. S. 418.
376
Btjton.
Jet revolutionäre Keift.
denn noch im Gartm Eden? — Mit welchem Rechte leide ich? Für Adams Sünde?
Was geht mich Adams Sünde an?
halb wurde er versucht, sich zu vergehm?
Wes
Aus welchem Grunde
wurde der Baum gepflanzt, wmn nicht um seinetwillen?
Weshalb
ward er als der schönste mitten in den Garten in seine Nähe ge setzt, weshalb die Unschuld dadurch versuchen, daß man ihre Neu
gierde erweckt? War es gut, weil Gott es wollte? Ist das eine Antwort?
Kann der Gute das Böse schaffen, und was anders
schuf er?
Und wmn das Böse zum Gutm führt, weshalb dann
nicht gleich das Gute thun? In tausmdfachem Elend hat er sich
jetzt vervielfälttgt, und dmnoch ist er selig.
Wie kann man glück
lich sein, wenn man's allein ist? selig, wenn man der Einzige ist,
der sich der Seligkeit erfreut?
Und allein ist er, der unfaßliche,
unverttlgbare Tyrann. Wir sind nichts ihm gegmüber.
Wohlan!
So
will ich
wenigstens nicht Zufriedenheit mit meinem Nichts erheucheln und
nicht froh meiner Qual erscheinm.
Krieg Aller wider Alle und
wider alle Dinge, und Tod für Alle, und Krankheit für die Meisten und Tortur und Bitterkeit, das sind die Früchte des
verbotmm Baumes.
Ist das Menschenlos sonach nicht elend?
Ein Gutes nur schmkte der Schicksalsapfel: Vemunft.
Doch wer
kann stolz sein auf eine Vemunft, die an knechüsch-grobm Stoff und an die kläglichen Bedürfnisse eines Wesens gekettet ist, dessen höchste Lust nur eine süße Selbstemiedrigung, ein entnervendes,
schmutziges Blendwerk ist?
Nicht das Paradies, der Tod ward
uns zum Erbe auf dieser jämmerlichen kleinen Erde, dem Sitz von
Geschöpfm, derm höchstes Glück darin hätte bestehen sollen, blind
im Eden der Unwiffmheit zu lebm, wo Erkmntnis wie Gift ver pönt wäre.
Und nun der Gedanke, daß all dies Elend sich fort«
pflanzen und vererben soll!
Die ersten Thränen zu schauen und
schaudemd zu begreifen, welches Meer von Thränen fließm wird!
Wär's da nicht beffer, das zarte Kind wider den Fels zu schlmdem
und gleich zu töten, um so den Quell des Jammers an seinem
Ursprung zu verstopfen? wäre nie geboren?
Wär's nicht unendlich besser, das Kind
Woher nimmt man den Mut, Kinder in solch'
eine Welt zu setzen?
Und für dies Dasein soll ich Dankgebete
zum Himmel emporsenden? Dies ist die Stimmung in der Seele Kains, als er zum Opfer zu schreiten gezwungen wird, und durch Lucifers Reden
ist sie in ihm entwickelt worden.
Denn Lucifer zieht die Marter
der Kriecherei mit Hymnen und Harfen vor. kein Teufel.
Dieser Lucifer ist
Er sagt selbst (Akt 2, Sz. 2):
Wer sucht die Bitterkeit des Böseil Um ihrer selber willen? — Niemand! Nichts! Es ist der Sauerteig für Sein und Nichtsein. Er ist auch kein Mephistopheles; bis auf etliche wenige leichte
Scherze ist er streng ernsthaft.
Nein, dieser Lucifer ist wirklich
der Lichtbringer, der Genius der Wissenschaft, der stolze, trotzige
Geist der Kritik, der beste Freund des Menschen, gestürzt, weil er nicht kriechen und tilgen wollte, aber unbeugsam, weil er ewig wie
sein Feind ist.
Er ist der Geist der Freiheit.
Doch seltsam!
Er ist nicht der klare offene Kampf für die Freiheit, sondern der
Kampf für die Freiheit, wie sie Verschworene beseelt, finster und
unheimlich, lautlos auf verbotenen Wegen wandelnd, ein Freiheits drang wie derjenige, der 1821 alle die jungen verzweifelnden Frei
heitskämpfer Europas beseelte. In seinem Buche „Die Gerechtigkeit in der Religion und in
der Kirche" ruft Proudhon dem Erzbischof von Besan(vn zu: „Die Freiheit, das ist Euer Antichrist! O komm Satan, Du von
den Priestern und Königen Verleumdeter, laß Dich von mir um armen, Dich an meine Brust drücken!
Deine Werke, o Du Ge
benedeiter meines Herzens, sind nicht immer schön und gut; Du
allein aber verleihst dem Weltall einen Sinn.
Gerechtigkeit ohne Dich?
Ein Instinkt!
Was wäre die
Die Vernunft?
Eine
Der Mensch? Ein Tier."
Gewohnheit.
Der so verstandene Satan
ist nichts anderes als die freie Kritik, und wäre Byron's Poesie
nach ihm benannt worden, sie hätte sich des Namens „die satanische" Durch Lucifer wird Kain ein Geister
nicht zu schämen gebraucht.
drama; denn Lucifer durchmißt mit seinem Jünger die unermeß lichen Räume des Universums, zeigt ihm alle Welten mit ihren
Bewohnern, das Reich des Todes und die in den Nebeln der Zukunft ruhendm,
noch ungeborenen Geschlechter.
Bon
Kain
fordert er weder blinden Glauben, noch blinde Unterwerfung.
Er
„Zweifle an mir, und du versinkst — glaube, und
spricht nicht:
du wirst emporgetragen!"
Er macht nicht den Glauben an sich
znr Bedingung für die Rettung Kains und fordert weder Kniefall
noch Dank.
Er öffnet Kain die Augen.
Dann kehrt Kain zur Erde zurück, und der erste Empörer läßt den ersten Totschläger mit sich allein als Beute seiner ver
zehrenden Zweifel. Altar wählen.
Es soll geopfert werden und Kain soll einen
Was sind ihm die Altäre?
Steine und Rasen.
Er, dem das Leiden ein Greuel ist, mag nicht unschuldige Tiere zu Ehren eines blutdürstigen Gottes schlachten, er legt Früchte
auf seinen Altar? Schnur.
Abel spricht sein, ftommes Gebet nach der
Auch er soll beten.
Was soll er sagen?
Wenn du beschwichtigt werden mußt durch Opfer,
So nimm das meine, Gott!
Liebst du das Blut,
So nimm das Opfer Abels ....
Er, welcher diesen Altar aufgerichtet, Er — ist wie du ihn machtest.
Nichts begehrt er,
Was man durch Knien gewinnt.
Da zuckt der Blitz auf Abels Opfer hernieder, und das himm
lische Feuer leckt begierig das Blut dieses Altars, während der Kains vom Wirbelwind verächtlich umgestürzt wird.
Hat denn
Gott sich des Schmerzes der blökenden Mütter gefreut, als ihre
Lämmer ihnen entrissen und zur Schlachtbank geführt wurden? * Shelley'? Einfluß ist in diesem Punkte unverkennbar.
Weidete er sich an der Qual der armen Tiere unter dem frommen
Messer? Kains Blut kocht, er will jenen Altar stürzen, allein Abel
hindert ihn daran und hält ihn zurück. — Hüte dich, dein Gott liebt Blut!
und von seinem Ingrimm, seinen Qualen, seinem
Schicksal bethört, fällt Kain in die Schlinge, die ihm der Herr
gelegt hat, begeht den ersten Mord, ohne zu wissen, was das heißt, ein Mord, und bringt so selbst den Tod in die Menschenwelt,
dessen bloßer Name, als er der Menschheit geweissagt wurde, ihn mit Entsetzen erfüllt hatte.
Die That ist bereut, noch bevor sie
verübt worden; denn Kain, der alle Menschen liebt, liebt Abel innig.
Doch nun folgt der Fluch, die Strafe, die Austreibung
und das Kainsmal.
Dies Kainszeichen ist das ureigene der Menschheit, der Qual und der Unsterblichkeit Zeichen.
Byron's Drama schildert den
Kampf zwischen der leidenden, strebenden Menschheit auf der einen Seite, und jenem Gott des Blitzes, des Sturmes und der Heerschaaren auf der andern, dessen geschwächte Arme genötigt werden,
eine Welt fahren zu lassen, die seinem Griffe sich entwindet.
Um
diese Welt, die ihn verleugnet, zu vertilgen, mag er Ströme Blutes fließen und Scheiterhaufen zu Hunderten von seinen Priestern ent zünden lassen, unversehrt steigt Kain aus der Asche des Holzstoßes
empor und
geißelt diese Priester mit unsterblicher Verachtung.
Kam ist die denkende Menschheit, die eines schönen Tages die alte
Wölbung des Himmels sprengt und Millionen von Weltkörpem in Freiheit hoch über Jahvehs tosendem Donnerwagen rollen sieht.
Kain ist die arbeitende Menschheit, im Schweiße ihres Angesichtes
bestrebt, ein neues, besseres Eden, keines der Unwissenheit, sondem eines der Erkenntnis und der Harmonie hervorzubringen.
Wenn
längst schon Jahveh in sein Leichentuch genäht ist, wird er noch
leben und beit wiedergefundenen Abel an die Brust drücken?
1 Leconte de Liale: Poemes barbares — Ostin.
Kain wurde Walter Scott gewidmet, welcher der Ansicht war,
daß Byron's Muse noch nie einen so erhabenen Flug genommen habe, und den Dichter im voraus gegen Angriffe in Schutz nahm.
Allein die Herausgabe des Werkes wurde in England nichtsdesto
weniger als ein förmliches National-Unglück betrachtet und aus-
geschrien. Gleich nach Empfang des Manuskriptes setzte Murray alle Hebel in Bewegung, um Ändemngen zu erwirken. Byron erwiderte: „Die beiden Stellen können nicht geändert werden, ich ließe denn
Lucifer wie den Bischof von Lincoln reden, was dem Charakter
Unmittelbar nach dem Er
des erstgenannten nicht entspräche."
scheinen des Buches wurde es nachgedruckt, und Murray wmdete sich an Lord Eldon, um möglichst schnell den Schutz seines Ber-
lagsrechtes zu erlangen.
folgenden Ausdrücken:
Er
wurde abgewiesen und zwar mit
„Das Gericht erkennt in Übereinstimmung
mit allen anderm Gerichten hier zu Lande, daß Christlichkeit das
Fundammt aller englischen Gesetze sei.
Auch der Schutz des Eigen
tumsrechtes der Buchhändler beruht auf diesem Grunde.
Das
vorliegmde Buch jedoch, welches dm Zweck verfolgt, jenen Teil der heiligen Schrift, dem es mtspricht, herabzusetzen, ist nicht von
der Art, daß dem Berleger irgmd ein Schadenersatz für den Nachdmck zugebilligt werdm
könnte."
Kain wurde also — gleich
Southey's „Wat Tyler" — für eine so verbrecherische Dichtung erachtet,
daß
ihr
gegmüber nicht einmal
das Eigmtumsrecht
Geltung hatte. Moore
aber
schrieb
an
Byron:
furchtbar, wird nie vergessen werden.
sich der Welt tief ins Herz senken."
Urteil bestätigt.
„Kain
ist
wundervoll,
Irre ich nicht, so wird er Die Geschichte hat dies
XXI.
Als im Spätsommer 1816 der Strom der reisenden Eng
länder die Schweiz zu überschwemmen begann, vermochte es Byron nicht länger dort auszuhalten, und er machte sich mit dem Reise
gefährten seiner Jugend, Hobhouse, nach Italien auf.
In Mailand
traf einer der feinsten, unbestechlichsten Beobachter jener Zeit, Henry
Beyle, mit Byron zusammen, und es ist ein starker Beweis des
außerordmtlichen Eindruckes, welchen seine Persönlichkeit machte, daß er sogar diesen Mann bezauberte, der stets auf seiner Hut
war, sich nicht zu unzeitiger Begeisterung hinreißm zu lassen, der auch rasch entdeckte, was an Byron's Haltung gezwungm war.
Er
sagt: „Ich traf mit Lord Byron im La Scala-Theater, in der Loge des Ministers Brkme zusammen.
Mir fielen feilte Augen
auf in dem Momente, als er das Sextett von Meyerbeer's Elena
anhörte.
Nie in meinem Leben habe ich etwas so Schönes und so
Ausdrucksvolles gesehen. Noch heutigen Tags zeigt sich mir plötzlich
dieser sublime Kopf, wenn ich daran denke, welchen Ausdruck ein
großer Maler dem Genie gebm müßte. geistemng überkam mich
Ein Augenblick der Be-
Nie werde ich den göttlichen Aus-
druck dieser Züge vergessm; es war das klare Bewußtsein von Macht und Genie."
Bon Mailand kam Byron nach Venedig, seiner Lieblingsstadt vor allen andern, die er im werten Gesang von Harolds Pilger fahrt, in „Marino Falieri", in dm „beidm Foscari", in der „Ode an Bmedig" und endlich in dem an Ort und Stelle geschriebenm
„Beppo" verherrlicht hat.
Noch nie war sein Gemüt so bedrückt
gewesen wie in diesem Augenblick, nie hatte er so sehr der Ver
gessenheit bedurft.
Das entzückende Klima, die zauberische Luft
Italiens wehtm ihm zum ersten Male warm entgegen.
Er war
Mit seinen schönen Frauen, feinen
neunundzwanzig Jahre alt.
leichtfertigen Sitten, seinem ganzen südländischen Leben lud Venedig zu einem Taumel und Rausch der Sinne ein.
Ein heißer Drang
nach Glück und Gennß lag in seiner Natur, und sein Trotz war
aufs Äußerste entflammt. schweifung fähig.
Man hielt ihn ja doch jeder Aus
Er konnte daher ebm so gut seinen reisendm
Landsleuten etwas nach Hause zu schreiben in der That Anlaß
geben, und dm alten Damen in Ohnmacht zu fallen Gelegenheit schaffen — geschah dies ja doch, wie er sich auch geberden mochte. Das erste in Venedig war für Byron, sich eine Gondel, einen
Gondoliere, eine Loge im Theater und eine Geliebte anzuschaffen. Die letztere fand er leicht; er hatte sich bei einem Kaufmann ein
logiert, dessen junge, zweiundzwanzigjährige Gattin, Mariana Segati, als eine Antilope mit großm dunkeln Augen geschildert wird.
Sie
und Byron verliebtm sich so heftig ineinander, daß Byron Hobhouse
allein nckch Rom reisen ließ.
„Ich wäre mitgereist," schreibt er,
Die
„bin aber verliebt und muß wartm, bis es vorüber ist." junge Frau schleppte ihn zu allm Kamevalslustbarkeitm mit.
Er lebte ganz auf venezianische Art, durchschwärmte die Nächte,
beobachtete — aus Furcht beleibt zu werden — seine gewohnte Fastmdiät,
lebte
ausschließlich
von
Pflanzenkost
und
mußte
sein Lieblingsgetränk, Rum mit Wasser, in großm Qnantitäten trinkm, um die Lebensgeister rege zu erhalten.
Zeit vollendete er feinen Manfred.
Dmn zur selbm
Es giebt ein trauriges Bild
von der damaligm Zerfahrenheit seines Lebens, daß er, einzig um
wider die Zerstrmungm ein Gegengewicht zu haben und feinen Tagen einen Schwerpunkt zu verleihen, täglich einige Stunden da
mit verbrachte, bei dm Mönchen im Kloster San Lazaro armmisch
zu lernen.
Er ließ seine Pferde nach Venedig bringen, und wie
die Vormittage dem Armenischen, so wurden die Abende körper lichen Übungen, namentlich dem Reiten gewidmet.
Mit Shelley
und andern Freunden ließ er sich in einer Gondel nach dem Lido übersetzen, wo man auf und ab ritt.
Eine
Erinnerung
an
Byron's
Gespräche
während
Spazierritte ist uns in Shelley's „Julian und Maddolo" bewahrt.
dieser auf
Er und Shelley erblicken bei Sonnenuntergang auf einer
der Inseln einen fensterlosen, unförmlichen Turm, der sich im Relief dunkel von dem flammenden Himmel hinter ihm abhebt.
Sie hören von drüben die Glocke mit ihrer heiseren Erzzunge. „Was wir sehen," sagte Byron, „ist das Irrenhaus." Und dieses Läuten zum Gebete ruft Die Irren jetzt aus ihrer Zellengruft.
Dies ist ein Bild von unserm Erdenleben, Und wie ein Gleichnis ist es uns gegeben. Gleich jener schwarzen dumpfen Glocke dort
Muß unsre Seele rufen immerfort In ihrem Tnrm, umglänzt von Himmelsscheinen, Daß sich die Wünsche und Gedanken einen
Um das zerrissene Herz, und beten wie
Wahnwitzige — um was?
Das wiffen sie
Nicht eh'r, als bis der Tod, wie Finsternis
Die Farben jener Vision zerriß.
Uns die Erinnrung unsres Ichs entreißt.
Kein Gleichnis vermöchte Byron's Lebm zu diesem Zeitpunkte besser zu schildern.
Wahrlich, seine damaligen Wünsche und Be
gierden glichen Wahnsinnigen, welche die Glocke des Narrenturmes nur einmal täglich zusammenläutete. Mit Mühe riß er sich, nachdem er in der ungesunden Luft
Venedigs sich ein hitziges Fieber zugezogen hatte, für so lange von Mariana Segati los, daß er auf einem kurzm Ausfluge Ferrara
und Rom besuchen konnte.
Nach seiner Rückkunft aber verschwand
die heftige Leidenschaft für sie, da Byron entdeckte, daß sie das Ge
schmeide, welches er ihr gab, verkaufte und überhaupt ihr Verhältnis
mit ihm sich so einträglich als möglich zu machen suchte.
Während
seines ersten Aufenthaltes in Venedig hatte er vorzugsweise die gute Gesellschaft, welche sich besonders in dem Salon der litterarisch gebildetm Gräfin Albrizzi versammelte, aufgesucht; jetzt zog er sich völlig aus dem
Machtbereich des guten Tones zurück.
Er mietete für sich und seine
Menagerie einen prächtigen Palast an dem Canal grande.
Dieser
Palast verwandelte sich bald in einen Harem, und Lieblingssultanin
in demselbm ward ein Weib aus dem Volke, Margarita Cogni, die, als die Frau eines Bäckers, auf dem Kupferstiche, den sein
Verleger von ihr herstellen ließ, Byron's Fornarina genannt wurde.
Ihr Antlitz war vom schönsten venezianischen Schnitt, ihre Gestalt vielleicht etwas zu groß, doch dämm nicht wmiger schön und für die Nationaltracht wie geschaffen.
Sie besaß die ganze Naivetät
und Possierlichkeit der vmezianischen unterm Klasse, und da sie
weder
lesen noch
schreiben konnte,
mit Briefm zu behelligm.
vermochte sie Byron nicht
Sie war eifersüchtig, riß vomehmm
Damm die Maske vom Gesicht, wenn sie dieselben in Byron's
Gesellschaft sah, und kam zu ihm, wann es ihr beliebte, ohne sich um Zeit, Ort oder Personen zu kümmern.
In einem Briefe sagt
Byron von ihr: „Als ich ihre Bekanntschaft machte, stand ich mit einer vomehmm Dame in Verbindung, die unklug genug war, ihr zu drohen.
Die so von der Dame herausgeforderte Margarita
schlug ihr Kopftuch zurück und entgegnete in ihrer resoluten ve
nezianischen Manier: nicht seine Frau.
liebte.
Ihr seid nicht seine Frau, und ich bin
Ihr seid seine Geliebte, und ich bin seine Ge
Euer Mann ist ein Tropf, und mein Mann ist ein Tropf.
Ist es meine Schuld, daß er mich lieber mag? — Nachdem sie
dies Meisterstück von Beredsamkeit vom Stapel gelassen, ging sie ihrer Wege und überließ es der Dame, über ihre Worte anchzu-
denken."
Schließlich warf sie sich bei Byron förmlich zur obersten
Leiterin des Hauses auf, schränkte durch strenge Ordnung seine
Ausgabm auf die Hälfte ein und spazierte im Schleppkleide, auf
Brjtoti.
Komischer enb tragischer Kealtsmüs.
385
dem Kopfe einen Federhut — Prachtgegenstände, deren Erlangung das
höchste Ziel ihres Ehrgeizes gewesen — im Palaste umher,
prügelte die Mägde, öffnete Byron's Briefe und zerbrach sich dm
Kopf,
das Alphabet zu erlernen, um die Damenbriefe darunter
entdecken zu können.
Sie liebte ihn mit dem ganzm Ungestüm
ihres Wesens; ihre Freude, als sie ihn von einer gefährlichen Segelpartie heimkehren
sah,
glich
der einer Tigerin,
die
ihr
Junges wieder erhält, und als ihre stets zunehmende Unbändigkeit
Byron nötigte, sie zu entfernen, stürzte sie sich, nachdem sie ihn mit einem Messer zu verwunden gesucht hatte, in ihrem Groll
und ihrer Verzweiflung nachts in den Kanal.
Sie wurde recht
zeitig aufgefischt und nach Hause gebracht, und Byron schrieb
Murray mit breiter Ausführlichkeit ihre Geschichte; er wußte, daß seine Briefe an den Verleger ganz wie Drucksachen oder öffentliche Urkundm von Hand zu Hand gingen, und das Vergnügen an
seinen Ausschweifungen wäre ihm nur ein halbes gewesm, hätte er sich nicht zugleich des Ärgernisses vergewissert, das er damit in England gab. Schon aus dem angeführten Briefe ist zu ersehen, daß er in
dem zügellosen vmezianischen Leben nicht aufging; er gewann ihm
eine komische, eine humoristische Seite ab.
Es war dmn auch für
seine Entwicklung in geistiger und dichterischer Hinsicht nicht verloren.
Während daheim seine Freunde trostlos waren, ihn so seine Würde
aufs Spiel setzm und sich um die bürgerliche Achtung bringen zu sehen, entsprang diesem wilden, luftigen Karnevalsleben inmitten von
Frauen aus dem Volke und unter der lachmdm Sonne Italiens
ein neuer, sich an die Wirklichkeit schmiegmder Stil in seiner Poesie.
In
seinen Jugenddichtungen
hatte
er
wehmütig
und
schmerzzerrissen die Ebbe des Lebens geschildert, in „Beppo" er hob sich plötzlich des Lebens Springflut.
Es war der Realismus
des Humors, die WiMchkeit des Lebens in Scherz und Lachen aufgelöst.
Seinem frühesten Pathos hätte etwas Eintöniges und
Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.
25
ein gut Teil Manieriertheit angehaftet.
Hier häutete sich sein
Genius, ein stetes Sichkreuzen mannigfacher Themata und Ton arten unterbrach die Einförmigkeit, und alle Manier war wie hin
weggeblasen von herzlichem Lachen.
In seinen frühesten Satiren
hätte eine ziemliche Bissigkeit obgewaltet, Grazie und Laune hingegen
sich gar sehr vermissen lassen.
Nun, da sein eigenes Leben für
eine kurze Weite das Gepräge eines Fastnachtsspieles angenommen
hatte, schlang die Grazie von selbst ihrm Steigen durch seine
Strophen, während die Schellen des Humors den Takt dazu klingelten. „Beppo" ist der Kameval von Venedig selbst — jenes alte Thema, welches Byron, ein zweiter Paganini, auf seinem Wege
fand, auf die Spitze seines göttlichen Violinbogens hob und nun mit einer Überfülle von kecken und genialen Variationen, mit
Perlenstickereien
und
goldenen
Arabesken
in
verschwenderischer
Pracht ausstattete.
Gerade in jetten Tagen war ihm ein mglisches komisches Ge dicht von König Arthur und dm Rittern der Tafelrunde in die Hand gekommen, dessm Verfasser, der Diplomat John Frere, hier des
Italieners Bemi Umdichtung von Bojardos „Rasendem Roland", dem ersten Gedichte, in welchem Ottave Stinte angewendet sind, nach
geahmt hatte. versuchen, und
Die Lust regte sich bei Byron, etwas ähnliches zu
aus der Nachahmung ging der obm erwähnte
künstlerische Scherz hervor, dessm vollendete Originalität jede Er-
innerung an ein Vorbild auslöscht. Hier hatte er die Form gefun den, die er brauchm konnte, die Waffe, die ihm handgerecht war: die Ottave Stinte mit ihrem dreifach gereimten Sextett, an deffm
Stamm der Endreim bald ein Fant, bald einen Scherz, bald eine sprachliche Ausgeläffmheit, bald einen schwirrenden Witzpfeil anfügt.
Wovvn das Gedicht handelt? Von ebensowenig wie Muffels
„Namouna" oder Paludan-Müller's „Tänzerin", die beide 16 Jähre später, 1833, in verwandtem Stile geschrieben wurden. Die Hand-
lung ist ein Nichts: Ein Benctianer, der sich auf eine weite Reise begeben, bleibt so lange aus, daß die zurückgelassene Gattin ihn
längst für todt gehalten hat und längst wieder so gut wie ver
heiratet ist, als er, der als türkischer Sklave verkauft gewesen,
plötzlich heimkehrt und, als Türke gekleidet, sein Weib am Arme seines mehrjährigm Nachfolgers auf einem Maskenballe antrifft.
Er steht nach Bemdigung des Balles an der Pforte seines Hauses, als das Paar aus der Gondel steigt.
Nachdem alle drei sich von
der ersten Überraschung erholt habm, verlangen sie drei Tafsm
Kaffee, und nun entspinnt sich folgmdes Gespräch: O Himmel, wie dein Bart gewachsen ist!
Was fiel dir ein, daß du so lange bliebst?
Du ahnst wohl kaum, was du für Anstoß giebst? Und bist du Türke? ist es keine Fabel,
Und hast du einen Harem? Ist es wahr. Daß sie die Finger brauchen statt der Gabel? Gott, welch ein Shaw! — den krieg' ich, das ist klar! — Und Schweinefleisch kommt nie in euren Schnabel?
Das ist die ganze Erklärung, die der Mann fordert oder
erhält; er mtlehnt, da er in seinem Kostüm nicht ausgehen kann, vorläufig ein Paar Beinkleider von seinem Nachfolger, Laura's
Cavaliere servente, und die Geschichte endet in voller Harmonie.
Sie ist an und für srch von untergeordneter Bedeutung; allein sie war für Byron die Vorschule zu seinem Meisterwerke „Don Juan" — das einzige von Byron's Werken, das bett ganzen weiten Ozean
des Lebens, mit seinen Stürmen und seinem Sonnenschein, seiner
Ebbe und Flut, umspannt und in sich birgt. Byron's Freunde unternahmen einen Schritt nach dem anderen,
um ihn zur Rückkehr nach England zu bewegen und ihn so dem Leben, das er führte, zu entreißen.
Alles Zuredm war stuchtlos.
Statt heimzukehren, verkaufte er für 94,000 Pfund seinen Herrensitz
Newstead Abbey, dessen fich nie entäußem zu wollen er in seiner Jugend erklärt hatte, und so fest entschloffen war er, nie wieder 25*
in sein Vaterland zurückzukehren, daß er sogar mit Schrecken der
Möglichkeit gedachte, als Leiche nach England überführt zu werden.
Er schreibt: „Ich hoffe, niemand wird daran denken, mich zu kon servieren und einzubalsamieren, um mich nach der Heimat zurück
zubringen. Meine Gebeine würden keine Ruhe finden in einem eng lischen Grabe, und mein Staub sich mit dem Staube des Landes
nicht vermischen können.
Der Gedanke, daß einer meiner Freunde
so schlecht sein könnte, meine Leiche in Euer Land überzuführen, könnte mich noch auf dem Totenbette rasend machen.
Nicht ein
mal Euren Würmern will ich zum Futter dienen."
Da traf eine Begebenheit ein, die der polygamischen Existenz,
die Byron in Venedig führte, ein unvorhergesehenes Ende be reitete und entscheidende Bedeutung für sein Leben gewann.
Im
April 1819 wurde Byron in einer Gesellschaft der jugendlichen
sechzehnjährigen Gräfin Teresa Guiccioli, geborenen Gräfin Gamba, vorgestellt, die damals eben dem einige sechzig Jahre alten Grafen Guiccioli, der schon zweimal Witwer gewesen, angettaut wordm
war.
Die Vorstellung fand gegen beider Wunsch statt; die junge
Gräfin war müde und wünschte nach Hause zu kommen, Byron mochte nicht gerne neue Bekanntschaften machen; beide gaben aus Höflichkeit gegen die Hausfrau nach.
Doch von dem ersten Augen
blicke an, wo sie miteinander sprachen, wurde ein Funke in beider Seelen geworfen, der nie wieder erlosch.
Die Gräfin sagt: „Seine
wunderbar schönen, edlen Züge» der Klang seiner (Stimme, sein
Wesen und der unbeschreibliche Zauber, der ihn umgab, machten ihn zu einer Erscheinung, die alles, was ich zuvor gesehen hatte,
überragte.
Bon dem Abende an sahen wir uns täglich während
meines Aufenthaltes, in Venedig."
Nach Verlauf von wenigen Wochen mußte Teresa mit ihrem
Gatten nach Hause zurückkehren.
Dieser Abschied erschütterte sie
dermaßen, daß sie den ersten Tag mehrmals in Ohnmacht und hierauf
in eine so heftige Krankheit fiel,
daß
sie halbtot in
Dyron.
Komischer und tragischer Realismus.
ihrem neuen Heim anlangte. Mutter.
389
Zur selben Zeit verlor sie ihre
Der Graf besaß verschiedene Landhäuser und Schlösser
zwischen Venedig und Ravenna, und von jeder dieser Raststellen richtete Teresa die leidenschaftlichsten Briefe an Byron, worin sie
ihrer Verzweiflung über die Trennung Ausdruck gab und ihn nach
Ravenna zu kommen beschwor. die sie nach
Anziehend ist die Schildemng,
der Ankunft von dem Umschwung in ihrem ganzen
Gefühlsleben giebt.
Während sie früher nur von Festen und
Bällen träumte, habe ihre Liebe, sagt sie, nun so ihr Wesen ver wandelt, daß sie, dem Wunsche Byron's folgend, alle Gesellschaften
meide und in tiefer Einsamkeit sich nur mit Lektüre, Musik, Reiten und häuslichen Verrichtungen beschäftige.
Sie wurde vor Sehn
sucht und Gram gefährlich krank; ein schleichendes Fieber schien an ihrem Leben zu zehren, und Anzeichen der Schwindsucht stellten
sich ein.
So machte denn Byron sich auf den Weg.
Er fand
die Gräfin bettlägerig, hustend, Blut speiend und allem Anscheine
nach dem Tode nahe.
krank.
Er schreibt: „Ich fürchte sehr, sie ist brust
So geht es mit jeder Sache, mit jeder Person, für die ich
wahre Hingebung empfinde.
Wenn aber ihr ein Unglück zustößt,
so ist es aus mit diesem Herzen — dies ist meine letzte Liebe. Die Ausschweifungen, denen ich mich ftüher hingab, und deren ich herzlich überdrüssig bin, haben wenigstens das eine Gute gehabt,
daß ich nun in des Wortes edlerer Bedeutung Liebe zu fühlen
vermag."
Das Benehmen des Grafen gegen den jungen Fremden
setzte jedermann in Erstaunen; er war äußerst höflich, holte ihn
täglich in einem Sechsspänner ab und fuhr mit ihm, wie Byron sich ausdrückt, „wie Whittington mit seiner Katze" umher.
Byron fühlte sich in der Nähe seiner Geliebten äußerst glücklich.
Das Gefühlsleben seiner frühen Jugend war ihm mit dieser seiner einzigen vollen und erwiderten Liebe zurückgekehrt.
Gedicht Stanzas on the Po,
Das reizende
das von tiefem und ritterlichem
Gefühle zeugt und mit dem inbrünstigen Wunsche, jung zu sterben,
endigt, war die erste Frucht seiner neuen Leidenschaft.
Wahrhaft,
von ganzem Herzen liebte er, liebte wie ein Jüngling, ohne im
geringsten außerhalb seines Gefühles zu stehen oder zu versuchen, sich über dasselbe zu erheben.
Als die Gräfin im August für
einige Zeit ihren Gemahl auf einem Ausfluge nach seinen Gutem
zu begleiten genötigt war, besuchte er täglich das Haus seiner Ge
liebten, ließ sich ihre Zimmer öffnen, las in ihren Lieblingsbüchem und versah dieselben mit Randbemerkungen,
In einem Exemplare
von Corinne hat man folgende Worte gefunden: „Meine geliebte
Teresa — ich habe dies Buch in Deinem Garten gelesen — meine Geliebte, Du warst abwesend, sonst hätte ich es nicht lesen könnm.
Es ist eines Deiner Lieblingsbücher, und seine Verfasserin war meine Freundin. Du kannst diese englischen Worte nicht verstehen — auch andere werden sie nicht verstehen können — dies die Ursache,
weshalb ich sie nicht auf italienisch hingekritzelt habe.
Doch Du
wirst die Handschrift dessen erkennen, der Dich leidenschaftlich liebt,
wirst erraten, daß er, mit einem Deiner Bücher in der Hand, nur an Liebe denken konnte.
In diesem Worte, das in allen Sprachen
schön, doch am schönsten in der Deinen klingt — amor mio — ist mein Dasein für jetzt und für alle Zukunft beschlossen. ....
Denk zuweilen an mich, wenn die Alpm und das Meer uns trennen, doch das wird nie geschehen, es sei denn, Du wünschtest
es."
Mm braucht nicht erst diese Ausdrücke mit dem Abschieds
briefe an Lady Lamb zu vergleichm, um zu fühlen, daß dies die Sprache einer wahren, innigen Liebe ist. Als im September der Graf in Geschäften nach Ravenna be-
rufett wurde, gestattete er seiner jungen Gemahlin und Byron, miteinander frei in Bologna zu verkehren und später zusammen
nach Venedig zu reifen, wo sie unter Einem Dache wohnten, indem die Gräfin Aufenthalt in Byron's Landhause La Mra nahm.
Sie schreibt nach Byron's Tode in einem Briefe an Moore von jenen Hagen:
„Doch ich kam nicht bei .diesen glücklichen Er-
innerungen verweilen — der Gegensatz von damals und jetzt ist
zu furchtbar.
Wenn ein seliger Geist aus dem vollen Genusse
himmlischer Glückseligkeit auf die Erde herabgeseudet würde, um
all ihr Elend zu erdulden, das Leid könnte nicht größer fein, als das, welches ich seit dem Augenblicke empfinde, da jenes schreckliche
Wort mein Ohr traf, und ich für immer der Hoffnung entsagen mußte, ihn wiederzusehen, von dem ein Blick mir mehr als alles
Glück der Erde war." Die junge Frau, der es die Welt verdankt, daß Byron
nicht in unwürdigen Zerstreuungen zu Grunde ging, hatte von dem Augenblicke an, wo sie Aufenthalt in seinem Landhause nahm, sich in den Augen ihrer Landsleute unwiderbringlich bloßgestellt.
Der Moralkodex der damaligen Zeit — vortrefflich dargestellt
in Stendhal's italienischen Erzählungen — gestattete der jungen Frau einen Freund (amico) zu haben, ja betrachtete sogar diesen als ihren eigentlichen Gatten, doch nur unter der Bedingung,
daß die, nun von ihr verletzten äußeren Formen gewahrt werden.
Es war nicht Leichtsinn, was sie bewog, sich dem Tadel der
öffentlichen Meinung auszusetzen; ihr Verhältnis zu Lord Byron erschien ihr in poetischem Lichte.
Sie betrachtete es als ihre
Lebensaufgabe, durch ihre Liebe einen edlen und hochbegabten Dichter
aus den Banden unedler Verhältnisse zu erlösen und chm dm Glauben an reine, aufopfernde Liebe wiederzugebm.
Sie hoffte
als eine Muse auf ihn zu wirken, war sie doch blutjung und un gewöhnlich schön.
Sie war hellblond, mit dunkeln Augen, klein,
aber herrlich gebaut.
Der amerikanische Maler West, der in der
Villa Rossa bei Pisa Byron malte, hat folgmdes Bild von ihr.
gegeben:
„Während ich ihn malte, verdunkelte sich plötzlich das
Fenster, durch welches das Licht hereindrang, und ich hörte eine Stimme rufen: E troppo bello!
Ich wendete mich um und er
blickte ein reizend schönes Weib, welches sich niederbmgte, nm hereinzuschauen, da der Garten draußen in gleicher Höhe mit dem
Fenster war.
Ihr langes, goldenes Haar fiel über Gesicht und
Nacken, ihre Gestalt war vollendet schön, und ihr Lächeln vervollständigte den Liebreiz eines der romantischsten Köpfchen, das ich
je gesehen, besonders wie es hier sich zeigte, von einer Glorie von Sonnenschein umflossen."
Je mehr der Gräfin nun daran lag und
daran liegen mußte, nicht als eine der vielen Geliebten Byron's
angesehen zu werden, umso lebhafter wünschte sie, seine Poesie in
eine höhere, reinere Sphäre, als es die war, worin sie sich da mals bewegte, emporzuheben.
Eines Abends, als Byron in der Handschrift des „Don
Juan" blätterte, von welchem zwei Gesänge fertig Vorlagen, ehe sich die Bekanntschaft mit der Gräfin entsponnen hatte, trat diese hinter seinen Sessel, deutete auf die Stelle, die er eben überlas
und frug ihn, was dort stünde.
Es war gerade die 137. Strophe
des ersten Gesanges, und Byron erwiderte auf italienisch: „Dein „O Gott, er kommt," rief die Gräfin, erschrocken
Mann kommt."
znrückfahrmd; sie glaubte, er spräche von ihrem eigenen Manne.
Dieser Zufall weckte ihr Verlangen, „Don Juan" tarnen zu lernen, und als er ihr die beiden ersten Gesänge in französischer Übersetzung
vorgelesen hatte, beschwor sie Byron, weiblich über dm Cynismus
des Inhaltes mtsetzt, das Gedicht nicht fortzusetzen.
Er versprach
augenblicklich seiner Dictatrice alles, was sie begehrte.
Dies
war der erste unmittelbare Einfluß, den die Gräfin Giuccioli auf Byron's Produktion ausübte — keinen guten diesmal fürwahr —
sie nahm jedoch ihr Verbot alsbald zurück, wiewohl unter der
Bedingung,
daß
in dm weiteren noch
ungeschriebenen Teilm
nichts Schlüpfriges mehr voMme, und das Zusammmleben mit ihr
setzte sich in der nächstm Zeit eine Reihe der schönstm, unvergäng lichsten Dmkmäler in dm Werken, die fortan ans Byron's Feder
hervorgingen.
Die Art wie in „Don Juan" der Schleier von
allm Illusionen gerissen war, der schonungslose Spott, der mit der Empfindsamkeit
getrieben wurde,
verletzte die Gräfin als
Weib; denn ungern sieht das Weib die letzten Hüllen von den
Blendwerken gerissen, welche, so lange sie währen, das Leben verschönen. Strebte nun aber die Gräfin, Byron jener Art von Pro
duktion,
welche den Glauben an die Menschen und den Wert
des Menschenlebens herabstimmt, abwendig zu machen, so bewog
sie mit ihrem romantischen Sinne für das Großartige und als leidenschaftliche Patriotin ihren Geliebten, Stoffe zu wählen, welche das Gemüt ihrer Landsleute zu erheben, in ihnen Begeisterung
für die Befreiung des Vaterlandes vom Joche der Fremdherrschaft
hervorzurufen vermochten.
Auf ihren Wunsch schrieb Byron die
„Weissagung Dante's" und übersetzte dessen berühmte Verse über
Francesca da Rimini's Liebe,
wie er auch die venetianischen
Dramen „Marino Falieri" und „Foscari" unter ihrem Einflüsse schuf, Dramen, die, obgleich in englischer Sprache geschriebm, durch
Stil und Stoff in Wirklichkeit weit eher der romanischen als der englischen Litteratur angehören, thatsächlich auch nicht der eng
lischen, sondern der italienischen Bühne einverleibt sind.
Es sind
leidenschaftliche politische Tendenzstücke, deren Zweck es war, durch die stärksten Wirkungsmittel die in Stumpfsinn versunkenen italie
nischen Patrioten anzufeuern, sich wie Ein Mann gegen die Unter drückung zu erheben.
Unter dem ersten Eindrücke seines Liebes
verhältnisses zur Gräfin schrieb Byron überdies „Mazeppa", dessen Geliebte ihren Namen trug, und direkt ging endlich ihre Persön
lichkeit in die beiden schönsten und besten Frauengestalten über, die Byron in diesem Zeitraume hervorbrachte: Adah in „Kain" und Myrrha in „Sardanapal". In der Gräfin Gniccioli fand Byron das weibliche Ideal
verwirklicht, welches ihm stets vorgeschwebt hatte, das ihm jedoch
in feinen ersten poetischen Erzählungen natürlich darzustellen nicht geglückt war.
Er hat selbst einmal Lady Blessington ein naives
Bekenntnis über die Schwierigkeiten, die sich ihm darboten, sowie
Über die Art und Weise, wie er seine Ideale gestalte, abgelegt. „Ich liebe," sagte er, „gar sehr die üppigen Frauen, allein diese
habm feiten so schöne, schlanke Finger, wie sie zum Ideal einer
Frau passen; ich mußte also, um meiner Phantasie Genüge zu thun, mir selbst Frauen und junge Mädchen schaffen, die alles in sich
Bereinigen, was sich sonst nicht beisammen findet. — Ich liebe ferner
nur einfache, natürliche Frauen, allein diese sind in der Regel nicht gebildet, noch mit den Formen des feinen Anstandes vertraut, und
die feinen und gebildeten sind wiederum nicht natürlich. Deshalb
bin ich auf die griechischen Mädchen verfallen, die mit unbewußter
Anmut und Naivetät zugleich die höchste angeborene Feinheit der
Gedanken und Gefühle vereinen."
Die so entstandene Mischung
war ebenso unmöglich als schön, trug so gut wie gar nicht den Stempel der Wirklichkeit an sich und entsprach insofern ganz dem Charakter der Helden, welche diese Frauen anbeten.
Alle erzählenden Dichtungen Byron's vom „Giaur" bis zur
„Belagerung von Korinth" sind romantisch, doch mit einem starten persönlichen Gepräge. Die Leidmschast wird bei beiden Geschlechtern
vergöttert.
Alle diese Helden sind, um einen Ausdruck des „Giaur"
zu gebrauchen, von der Leidmschast verheerte Wracks, die aber lieber von den Stürmm sich umherschleudern lassen, als dahin-
zulebm in träger Ruhe.
Sie
lieben
nicht
mit
jenem kalten
Blute,' wie es ein kaltes Klima zeugt, ihre Herzen speien „Lavaflammm."
Bon diesen jetzt so veralteten Byron'schm Heldm ist
die ausgeprägteste Gestalt der edle Seeräuber, der Korsar, der stolz, launenhaft und voll Hohn gegen die Menschheit, rachgierig bis zur
Grausamkeit, von Gewiffmsbissen gefoltert wird und so edel und hochherzig ist, daß er sich lieber den barbarischsten Foltem unter
wirft, als daß er einen schlafenden Feind erschlüge.
Der inter
essante Bandit mit den geheimnisvollen Gesichtszügen, dertheatraüschm Haltung und schrankenlosm Ritterlichkeit gegen Frauen ist
das
Byron'sche Seitmstück
zu
Schiller's „Karl Moor".
Zu
seinem Mannesideal paßte der König eines gesetzmäßig geordneten
Staates, umgeben von Hofregeln, nur schlecht; ein solcher er mangelt der romantischen Thaten, des freien Lebens an dm Küstm
und
auf dem Meere.
So nahm denn Byron einen Seeräuber
häuptling und fügte den aus dessen Prosession sich ergebmden Eigenschaften die zartesten seiner eigenen Seele hinzu.
Der Korsar,
der gewohnt ist, in Blut zu waten, schaudert vor der jungen Sultanin, die ihn liebt, zurück, als er den Keinen Blutfleck auf ihrer «Stirn gewahrt — nicht, weil von einem Korsar ein Zurückschaudem vor einer solchen Kleinigkeit anzunehmen ist, sondem weil
Byron selbst Schauder vor solch einem Anblicke empfunden hätte.
Kurz, alle diese Jugendhelden und -Heldinnen des Dichters fanden
bei der Menge nur deshalb so großen Anklang, weil sie — wie tteffend von ihnen gesagt wordm — sich stets dort bewegm, wo
sie keine Gelmke haben.
Das Publikum war nicht entzückter über
die flammende Leidenschaft der lyrischen Partim und die losen (gewöhnlich
erst währmd
der
Korrektur)
eingesetzten
poeüschen
Perlm, als über das Unmögliche der Bewegungen, die außerhalb des Bereiches der menschlichen Natur tagen.
Es war eine Be-
wundemng nach Art der dem kühnm Akrobaten gezolltm, der
unter naturwidrigen Verrenkungen seines Körpers halsbrecherische
Kunststücke ausführt. Immerhin bringen diese Gestalten einzelne Anklänge an tiefere
Züge des Byron'schen Ideals, die nun zum Durchbmch kommen. Des Korsar's Standhaftigkeit inmitten von Leiden deutet bereits auf die Unbeugsamkeit Manfted's hin; er will so wenig das Knie
bmgm, wie Kain vor Lucifer oder Don Juan vor Gulbeyaz knien will.
Das Mitleid mit dem Niedrigergestelltm, das nie aus
Byron's Seele schwand, ist schon, wmn auch zumeist als „Haß
gegen die Herren" bei „Lara" lebendig, und die ^Begeisterung für die Befreiung Griechenlands bricht schon im „Giaur" wie in der
„Belagerung von Korinth" hervor.
Merkwürdigerweise beschloß
ja der Dichter selbst sein Leben als der Befehlshaber wilder
Männer vom Schlage derer, die er besungen hat. Das Wikingerblut in seinen Adern gönnte ihm nicht eher Ruhe, als bis er selbst
ein Wikingerkönig gleich jenen Normannen geworden war, von betten er abstammte.
Und sind auch alle diese Desperados (der
Renegat Alp, der die Türken gegen seine eigenen Landsleute fuhrt, nicht minder als Lara, der mit seinen eigenen Standesgenossen in Fehde liegt) von innen aus gestaltete Traumgebilde, Ein wirklich
keitstreuer Zug geht doch durch alle diese Gestalten, derselbe, der
in allen den später sich anreihenden als der vorherrschende auftritt, der Realismus großgearteten Leidens.
Der Humor in Beppo ist
die Form, unter welcher die Naturtreue das Theatralische und Manierierte seiner früheren Werke überwindet.
Das Mitgefühl für
das menschliche Leid, das in Byron's ernster Dichtung allmählich
das Interesse für alles andere verschlingt, ist die Form, worin das Gefühl für die wirkliche Beschaffenheit des Lebens das Roman
tische bei ihm durchbricht und vernichtet.
Dies Gefühl war nach dem Bruche mit England schneidender
und
wahrer
denn
je zuvor geworden.
„Der Gefangene von
Chillon" hatte die Qualm geschildert, welche der edle Bonnivard
litt, der, sechs volle Jahre an einem unterirdischen Pfeiler mit einer so kurzen Kette gefesselt, daß er sich nicht auf dm Boden strecken
konnte, seine an die nächsten Pfeiler in gleicher Weise geketteten Brüder sterben sah, ohne ihnen eine helfende Hand reichen zu
können.
Nun folgte in derselben Spur „Mazeppa", der Jüngling,
gebundm auf den Rücken des wildm Rosses, das mit triefender Mähne und dampfmdm Flanken durch Wälder und über Steppm
saust, während er selbst, Qual hinter sich und Grausen vor sich, von der Seite der Geliebtm gerissen, von Durst, von Wunden
und Schmach gepeinigt wird.
Bisher hatte Byron insbesondere
das für Fleisch und Blut Entsetzlichste ausgesucht; selbst wo das Leidm, wie bei Bonnivard, eine geistige Seite darbot und der Stoff
Gelegenheit zur Schilderung einer heldmmütigen Persönlichkeit gab,
hatte er mit Vorliebe die rein körperliche Qual geschildert.
Jetzt,
da in ihm Sympathie für die großen Männer Italiens geweckt
wurde, adelte sich seine Auffassung des Tragischen. In der „Weissagung Dante's"
schildert er das Dichterlos
mit diesen Worten: Gar mancher ist Poet, der nicht so heibt.
Denn was ist Dichten?
Böses oder Gutes
Erschaffen durch zuviel Gefühl und Geist;
Zum Himmel stimmen überird'schen Mutes, Neuer Prometheus neuen Menschen sein. Der Spender eines gottgeraubten Gutes,
Und dann zu spät entdecken, daß mit Pein
Die Welt belohnt die Bringer solcher Lust, Die so umsonst den hohen Schatz verleih'«.
Die Geier nagen an des Gebers Brust;
Einsam am Felsen hängt er überm Meer —
Und Byron läßt dm großen, gleich ihm selbst ungerecht ver bannten Dichter ausrufen: Dies ist's, was Geistern meines Ranges droht:
Im Leben Folter und endloses Ringen, Ein Herz, das sich verzehrt, einsamer Tod.
Schon früher hatte er „Taffo" behandelt. tiger Vergleich zwischen Goethe's „Taffo"
Selbst ein flüch
und Byron's „Klage
Tasso's" zeigt, mit welcher Leidenschaft Byron's Phantasie das hoffnungslose Leid auffucht.
Goethe nimmt Taffo als Jüngling,
als liebend, als dichtmd, zum Vorwurf und stellt ihn an dem
Hof zu Ferrara in einen Kreis schöner Fraum, wo er glücklich
unglücklich, bewundert und verletzt wird.
Byron's Vorwurf ist
der Taffo, der einsam, zerschmettert, in die Tollhauszelle gesperrt,
ohne irrsinnig zu sein, bin Opfer der Grausamkeit seines ehemaligm Wohlthäters ist:
Ich liebte Einsamkeit, doch ahnt' ich nie.
Mir würden, ach, wie viele Jahr' entrollen. Bon allem Dasein fern als dem der Tollen
Und ihrer Peiniger: — wär* ich wie sie, So wäre längst mein Geist vor dieser Frist Begraben und verwest, wie ihrer ist.
Wer aber sah je, daß ich zuckt' und schrie? Wir dulden mehr vielleicht in solcher Zelle,
Als der Verschlagne am öden Saum der Welle; Er hat die Welt noch vor sich — mein ist kaum
So groß wie einst für meinen Sarg der Raum.
Ob er erliegt, er kann gen Himmel schau'n.
Sein sterbend' Auge noch kann Gott verklagen —
Ich will mein Aug' im Zorn nicht austvärtS schlagen. Obwohl ein Kerker eS umwölkt mit Grau'n.
Goethe hatte aus dem Hofe von Ferrara, einem Hofe, an dem die Leidenschaftlichkeit und Grausamkeit der Renaissancezeit
üppig wucherte, ein kleindmtsches, in allen Punkten von der zartfühlendsten Humanität
des
achtzehnten Jahrhunderts
geleitetes
Weimar gemacht; Byron's Blick wird magnetisch von dem an
gezogen,
was ihm als die empörende Barbarei
des
Ferrara-
Herzogs gilt, und sein Gedicht verwandelt sich in eine Anklage
gegen fürstliches Unrecht und Machthaber-Tyrannei. Einm noch ungestümer anklagendm, doch allzu überspannten
Charakter nahm endlich die Schilderung tragischer Selben in dem
Drama „Die beiden Foscari" an, wo der Vater genötigt ist, seinen Sohn, dm er liebt, zu allm Qualm der Tortur zu verurteilm,
und der Sohn, der Held des Dramas, die Folterbank, auf die er von der ersten bis zur letzten Szme des Stückes gespannt ist, nur
verläßt, um aus Gram und Leid über die Verbannung zu sterbm.
Diese Tragödie ist, gleich allen übrigen Byron's, in allzu nachlässigm Versen, und wie zum Trotz, ganz dm aristotelischm Regeln gemäß,
in der Manier der ftanzösischm Tragödie geschriebm.
Durch-
dmngen von der Überzeugung, daß dieser Weg der einzig richtige
sei, versteigt er sich sogar zu dem komischen Paradoxon, England
habe bisher kein Drama besessen.
Man hat sich sehr darüber gewundert, daß Byron, der ganz
wie alle die anderen englischen Dichter dieser Epoche ein aus gesprochener Naturalist war, d. h. den Wald dem Garten, den Naturmenschen dem Gesellschaftsmenschen und den ursprünglichen
Ausdruck der Leidenschaften ihrer angelernten Sprache vorzog, so stark für Pope und die kleine Gruppe von Dichtern, die, wie
Samuel Rogers oder Crabbe noch dem Klassizismus huldigtm, zu schwärmen vermochte, ja, diese Schwärmerei bis zur Nach
ahmung des dramatischen Stiles der Vergangenheit trieb. Zuvörderst
Byron's.
liegt
die
Ursache
in
dem
Widerspruchsgeiste
Daß die Seeschule, die er verachtete, Pope stets in maß
losen Ausdrücken herunterriß, war für ihn an und für sich Grund genug, Pope bis zu den Wolken zu erheben, ihn den ersten aller
Dichter Englands zu nennen, ja den Nationaldichter der Mensch heit, dem er gern im Dichterwinkel der Westminsterabtei, von welch
letzterer Pope als Katholik ausgeschlossen war, auf eigene Kosten ein Denkmal errichten würde.
Dazu kam die Anhänglichkeit, die
Byron sein Lebenlang für die Schuleindrücke von Harrow hegte,
und in Harrow war Pope stets als der Musterpoet aufgestellt worden, ferner die völlige Kritiklosigkeit Byron's, die ihn zu der
selben Zeit Grillparzer's „Sappho" rühmen läßt, wo er Lady Blessington zu verstehen giebt, daß Shakespeare seiner niederen Her
kunft die Hälfte seines Ruhmes verdanke — sodann der Umstand,
daß Pope verwachsen war, dessungeachtet aber einen schönen Kopf hatte, daß er ein Dissenter, daß er der Dichter der aristokratischen
Gesellschaft war, daß seine verwachsene Gestalt die Quelle einer satirischen Verstimmtheit für ihn war, lauter Dinge, mit boten Byron sympathisierte — und endlich der seiner normannischen Abstammung entspringende lebhafte Hang
Manier der romanischen Völker.
zur Rhetorik in der
Durch sein ästhetisches Verfechten
des Systems der Ver
gangenheit, währmd er gleichzeitig in jeder anderen Hinsicht dem
Fortschritte anhing, weist Byron eine gewisse Ähnlichkeit mit Ar mand Carrel auf, der, in allm politischen und religiösen Fragen
durchaus freisinnig, sich in der Litteratur ebenfalls an dm ver-
altetm Klassizismus klammerte.
Da sie beide auf den meisten
dm Standpunkt Frankreichs
geistigen Gebieten
im achtzehntm
Jahrhundert einnahmen, lag es ihNm Nahe, sich ihm auch auf dem
einzigm Gebiete
ziehungen,
dem
anzuschließm,
Herkommm
wo
huldigte,
es,
auf
in
gewissen Be
dem
litterarischen.
Indessen ist nicht zu bestreiten, daß diese theoretische Grille auf
Bhron's
italimische
Dramen
unvorteilhaft einwirkte.
Byron's
Genie gepaart mit der Vaterlandsliebe der Gräfin Giuccioli habm
nicht vermocht, ihnen mehr dmn einen allgemeinm poetischm Hauch
zu verleihen. Bei der Ausarbeitung von „Kain" und „Sardanapal" aber
ward die junge Gräfin in der That, wie sie gehofft hatte, eine
Muse für Byron. Im ganzm „Kain" ist Adah das beste.
Während Byron's
Männercharaktere, wie des öfteren bemerk worden, einander sämt
lich gleichen, sind, wofür man kein so offenes Auge hatte, seine
Frauengestaltm von höchst verschiedener Art.
Ein weiblicher Kain
ist Adah nicht, obgleich sie die einzig für ihn passende Gattin ist.
Kains weibliches Gegmstück ist in der stolzen, ttotzigen Aholibamah in „Himmel und Erde" gegeben.
Doch wie Kain allmthalben die
Bemichtung, so sieht Adah das Wachstum, die Liebe, die Keim kraft, das Glück.
Die Zypresse, die ihr Laubdach über das Haupt
des Keinen Enoch breitet, ist für Kain ein Baum der Trauer, Adah sieht nur, daß er dem Kinde Schatten gewährt.
Als Kain
das trostlose Wort ausgesprochen hat, daß alles Unheil und alles Leid der Welt sich durch Enoch fortpflanzen sollen, spricht Adah:
O Kain, sieh ihn an!
Schau, wie voll Leben,
Boll Blüte, Kraft, voll Schönheit und voll Lust!
Wie ähnlich mir — und dir, sobald du gut bist!
So knapp ist die Zeichnung Adah's,
daß
alle ihre Reden
zusammengenommen nicht ein Oktavblatt füllen würben. zwischen Wissen und Liebe wählm soll, sagt sie:
Kain!"
„Wähle Liebe,
Als Kain Abel erschlagen hat und verflucht, als Mörder
gescheut allein dasteht, beantwortet sie seinen Ausruf: mich!"
Als Kain
mit den Worten:
„Verlaß
„Alle haben dich ja verlassen."
Und
diese Gestalt hat Byron geschaffen, fast ohne von den Bibelworten abzuweichen, nur indem er hier und da das von dem Einen Ge
sagte einem Anderen in den Mund legte.
In der Gmesis sagt
Kain, als er vom Herrn verflucht wird: „Siehe, du treibst mich
heute aus dem Lande" u. s. w.
Bei Byron verstummt Kain, als
der Engel ihm den gräßlichen Fluch veMndet, doch Adah öffnet ihren Mund und spricht (Hl, 1): Die Straf' ist mehr, als er ertragen kann. Siehe, du treibst ihn heut' aus seinem Lande,
Und bergen muß er sich vor Gottes Antlitz. Unstet und flüchtig soll er sein auf Erden?
So wird's ihm geh'«, daß, wer ihn findet, ihn Totschlägen wird —
buchstäblich die Worte, welche die Bibel Kain in dm Mund
legt; allein Byron erschaute mit dem Blick des Gmius in dieser einen Gegmrede, in diesem alttestammtarischen Lehmklumpen, die
Konturen einer ganzen Menschmgestalt, und mit einem einfachm Druck seiner Hand formte er ihn zur Statuette des ersten liebenden Weibes.
Die zweite Gestalt, in der inan — und zwar noch stärker —
den Einfluß der jungen Gräfin verspürt, ist die der griechischen Sklavin Myrrha in „Sardanapal".
Bon dm historischen Tra
gödien Byron's ist diese die beste. Mit sorgloser Menschen- und Weltverachtung hat der stolze Brande», Litteratur de» 19. Jahrh. IV.
26
Sardanapal sich
dem Lebmsgmusse ergeben.
Kriegsruhm
ver
schmäht und verachtet er; er möchte nicht einen sogenannten großen
Namen um das
vergossene Blut lausender schuldloser Menschen
erkaufen; er wünscht nicht wie seine Borfahrm in dm Tempeln als Gottheit angebetet zu werden. bis zur Unklugheit.
Sein gleichgültiger Hochsinn geht
Als dem auftührerischen Hohepriester das
Schwert entwundm worden, giebt er es ihm mit dm Worten zurück (Sardanapal, M II, Sz. 1):
Inzwischen nimm dein Schwert zurück und wisse: Ich zieh' dein Kriegsamt deinem Priestertum Bei weitem vor und liebe keins von beiden. Seine Manneskraft scheint durch sein Genußleben geschwächt, als Myrrha, das griechische Mädchm, seine Lieblingssklavin, ihn zu retten beschließt; sie fleht ihn an, seinen Gleichmut abzulegm
und sich zur Verteidigung gegm seine Feinde zu wappnen.
Sie
leidet ebenso sehr unter ihrer Liebe zu ihm wie unter ihrem Ge schick als Sklavin:
Weswegen lieb' ick ihn? Rur Helden lieben Die Töchter meines Landes! — Meines Landes? Der Sllav' nennt nichts als Fesseln sein. Ich lieb' ihn — Das ist der schwerste Ring der langen Kette — Den liebe», dm man doch nicht achtet . . . .......................... Bor mir selber bin ich Gefallen, seit ich diesm Fremdling liebe. Und mehr fast lieb' ich ihn, seit ich gewahre, Daß ihn die eigenen Barbaren Haffen. Doch als zuletzt die Feinde sich der Königsburg nahm und Sardanapal, nachdem er das plumpe Schwert als zu unbequem
für seine Hand, den wuchtigm Helm als für sein Haupt zu be
schwerlich verschmäht hat, sich barhaupt und leichtbewaffnet in die Schlacht stürzt und wie ein Held streitet, da triumphiert Myrrha,
als sei die Last der Schande von ihrer Bmst gewälzt: Es ist nicht Schande — nein, ES ist nicht Schande, den geliebt zu haben! .......................Alcides war entehrt,
Als er den Weiberrock der Omphale
Und ihre Kunkel trug — er aber, der Mit einem Mal ausspringt, ein Herkules,
Irr üppiger Weichlichkeit zum Mann erzogen, Und stürzt vom Schwelgermahl sich in die Schlacht,
Als toär'8 ein Bett der Liebe — er verdient
Ein griechisch Mädchen wohl zu seiner Buhle, Ein griechisch Lied zum Preis, ein griechisch Grab Zum Monument.
Prophetische Worte auf Byron selbst.
Und galt es nicht vom
Dichter wie von seinem Helden, daß er tausende von Frauen ge kannt habe, doch bis dahin kein einziges Frauenherz? Myrrha.
Du fragst nach dem, was du nie wissen kannst. Sardanapal.
Das wäre?
Myrrha. Eines Herzens wahren Wert,
Des Weiberherzens Wert. Sardanapal.
Ich kannte tausend — Tausend und aber lausend. Myrrha.
Herzen?
Sardanapal. Freilich.
Myrrha.
Nicht eins!
Vielleicht erfährst du's einst!
Gleich Myrrha wies die junge italienische Gräfin ihrem Ge liebten männlichere Ziele als den Lebensgenuß;
gleich Myrrha
hob sie ihn empor aus einem Dasein, das der Größe seines
Geistes nicht angemessen war. Wir verließen die Liebenden in dem Landhaufe La Mira bei
Venedig, wo Byron u. a. die Lebenserinnerungen aufzeichnete, die er Thomas Moore als Erbteil für dessen Söhnchen schenkte, und
die auf Betreiben der Familie Byron's aus nimmer zu recht fertigenden Gründen verbrannt wordm sind.
Doch der scheinbar 26*
friedlich geordnete Verkehr zwischen dm Liebmdm sollte nicht von
langer Dauer sein. dulden.
Der Graf wollte ihn plötzlich nicht länger
Teresa mochte Byron nicht aufgeben, und so kam es
zwischen den Ehegatten zu einer Trennung, bei welcher die Gräfin,
mit Gmehmigung ihrer Familie, auf Vermögen und gesellschaft
liche Stellung Verzicht leistete.
Es wurde ihr nur ein unbedmten-
des Jahrgeld ausgesetzt, und es war eine der Scheidungsstipulationen, daß ihr dasselbe nur unter der Bedingung zustände, daß sie in dem Hause ihres Vaters wohnm bliebe.
Hier pftegte betttt Byron regelmäßig die Abendstunden bei ihr zuzubringm;
er
liebte es, sich von
ihr Mozart'sche oder
Rossinische Melodien vorspielen oder Vorsingen zu lassen.
Sein
Tagebuch vom Januar bis Februar 1821 besteht fast durchgehends aus den Wortm: „Ritt aus, schoß mit Pistolm — speiste zu Mittag — ging aus, hörte Musik und schwatzte Nonsms — kam heim — las."
Solange der Graf Giuccioli sich noch als drohmdes Schreck
gespenst erhob, hatte Byron's Liebesverhältnis nicht jmes Elementes der Gefahr und Spannung, das ihm eine Würze des
Lebens war, entbehrt.
Die einzige Gewähr, auf fernen Ritten
nicht ermordet zu werdm, erblickte er darin, daß er stets Pistolm
im Halfter führte und als trefflicher Schütze bekannt und gefürchtet war, die einzige Gewähr, nicht daheim gemmchelt zu werdm, sah er in dem Geize des Grafen Giuccioli, der seiner Überzeugung nach
es ihm nicht erlauben würde, die zwanzig Scudi, die ein tüchtiger
Bravo kostete, zu verausgaben.
Run trat eine neue und edlere
Aufregung an die Stelle der anderen. Allenthalben auf der italimischen Halbinsel gärte es in der
Sülle heftig.
Nach dem Sturze der Napoleonischen Herrschaft
traten nämlich im Kirchenstaate und in Neapel die alten legitimen
Machthaber mit grmzmlosem Übermute auf.
Jede wohlthäüge
Spur des französischen Einflusses sollte getilgt und an Stelle der
französischen Reformen die ganze alte Mißwirtschaft wieder ein geführt werden.
Der unerträgliche Druck der von der heiligen
Allianz ausgehenden allgemeinen europäischen Reaktion trieb die
Italiener zur Organisation einer weitverzweigten Verschwörung, und so bildete sich nach dem Muster der Freimaurer der große
Geheimbund der Carbonari,
der sich alsbald über das ganze
Land erstreckte.
Durch seine Geliebte wurde Byron in den Kreis der Ver schworenen eingeführt.
Die ganze Familie Gamba gehörte dieser
geheimen Gesellschaft an, und der Bruder Teresas, Pietro, ein warmherziger Jüngling von zwanzig Jahren, der eine bewundemde Zuneigung für Byron gefaßt hatte und ihm später nach Griechen
land folgte, war einer ihrer eifrigsten und bestunterrichteten Führer.
Der Carbonarismus erschien Byron als die Poesie der Politik. Das hölzerne parlamentarische Leben daheim in England hatte ihn abgeschreckt, in dieser Form aber sprach die Politik seine Einbil
Er stieg zu einer sehr hohen Rangstufe unter den
dungskraft an.
Carbonari empor und wurde der Führer einer Abteilung namens
Americani.
Er lieferte den Verschworenen Waffen und bot der
konstitutionellen Regierung in Neapel 1000 Louisdors als seinen
Beitrag zum Kampfe gegen die heilige Allianz an.
Gegm die
österreichischen Gewalthaber legen seine Briefe eine wahre Wut an den Tag.
Wo er auch wohnte, war er der österreichischen
Polizei ein Dom im Auge, seine Briefe wurden geöffnet, die
italienische Übersetzung des
„Childe Harold"
in den italienisch
österreichischen Landen verboten, und die Polizei versuchte, wie er
wohl wußte, zum Meuchelmorde gegen ihn aufzureizen.
Gleichwohl
untcmahm er Tag für Tag allein und ruhig seine Spazierritte. Seine Gefühle äußerten sich bei dieser Gelegmheit, wie auch bei sonstigen Anlässen, halb als stoischer Heldenmut, halb als knaben hafter Mutwille.
Es ist knabmhaft liebenswürdig, wenn er in
feinen Briefen mit großen Buchstaben obenauf hinschreibt:
„Die
österreichische Regierung — Halunken! Die österreichischm Polizeibeamtm — Flegel! Ich weiß, daß sie meine Briefe erbrechen und
dies leseit, deshalb schreibe ich es!"
Da die härtesten «strafen
denjenigen bedrohten, der in seinem Hause Waffen berge, ließ er die Waffen aller Verschworenen der Romagna in dem feinigen
anfhäufen, so daß es sich zu einem förmlichm Arsenal verwandelte. Seine Schränke und Laden warm mit ihren Proklamationen und
Eidformularm angefüllt.
Er dachte mit Recht, daß man eine
Haussuchung bei einem Peer von England vorzunehmm kaum wagm würde. Es war jedoch leichter, ihn zu vertreiben, als ihn zu verhaften. Ersteres geschah ganz einfach dadurch, daß die Grafm Gamba plötz
lich Befehl erhielten, binnen 24 Stunden das Land zu verlaffen. Da die Scheidungsbestimmungen ausdrücklich festsetzten, daß die junge Gräfin, wofern sie das Haus ihres Vaters verließe, ge-
zwuugm »erben sollte, ins Kloster zu gehen, so war man so
ziemlich sicher, bei dieser Gelegmheit Byron los zu werden.
Der
Schluß von Teresas Brief an Byron, als sie Wesen Befehl erfuhr,
lautet: „Byron, ich verzweifle, wmn ich Dich verlassm soll, ohne zu wiffeu, wann wir einander wiedersehm — ist es Dein Wille,
daß ich so mtsetzlich leide, so bin ich mtschlossm zu bleiben.
Man
wird mich in ein Kloster sperren, und dann kannst Du mir nicht
mehr helfen ... Ich weiß nicht, was man zu mir redet.
Meine
Aufregung überwältigt mich — und weshalb? nicht um der Ge fahr willm, die mich bedroht, sondern — ich rufe den Himmel
zum Zmgm an — einzig, weil ich Dich verlassen soll/" 1 Das große Werk „Lord Byron jug£ par les tämoins de sa vie“,
das die Gräfin 1868 herausgab, bildet, wiewohl in ästhetischer und psychologischer
Beziehung wertlos, ein rührendes Zeugnis der Stärke und Tiefe ihrer Liebe. Die Lösung des Rätsels, das die Welt Byron nennt, ist für sie mit dem einen Wort gegeben: er war ein Engel, nicht mehr, nicht weniger, schön wie ein Engel,
gut wie ein Engel, ein Engel in allem und jedem. find in Kapitel nach seinen Tugenden eingeteilt.
Die 1100 Seilen des Buches
Sie weiht seiner Menschenliebe
Das große Vermögen, in dessen Besitz Byron durch seine Ehe gekommen war und
das
er — merkwürdigerweise — zu
behalten sich keine Skrupel machte, die Summen, die der Verkauf
von Newstead einbrachte, und die 20,000 Pfd., die ihm im Laufe der Jahre Murray an Honoraren ausbezahlte, hatten ihn in den Stand gesetzt, eine großartige Wohlthätigkeit zu entfalten.
Als es
ruchbar wurde, daß Byron Ravenna zu verlassen gedenke, reichten alle Armen der Gegend, denen seine Freigebigkeit zu Gute gekommen
war,
eine Bittschrift an den Kardinallegaten ein, daß ihm der
Aufenthalt gestattet werden möge.
Allein gerade in der Sym
pathie der Bevölkerung für ihn lag ja die Gefahr für die Regie rung.
Er vertauschte nun Ravenna als Wohnort mit Pisa.
Da
indes die toskanische Regierung keine geringere Angst vor Byron
und den Gambas hatte, als die des Kirchenstaates, erfolgte bald eine
neuerliche Ausweisung, und so begab man sich denn nach Genua, der letzten Station Byrons vor dem Aufbruche nach Griechenland, ein Kapitel, ein anderes seiner Bescheidenheit u. s. w.
Fehler weist auf das klarste nach, daß er keine hatte.
ist das körperliche beigefügt.
Das Kapitel über seine Seinem geistigen Porträt
Die Schönheit seiner Stimme, seiner Nase, seiner
Lippen werden in besonderen Rubriken behandelt.
Unfaßbar ist es, wie sich
die schändliche Verleumdung verbreiten konnte, daß Lord Byron lahm oder sein Fuß ein Klumpfuß gewesen.
Das Gebrechen bei seinem Gang war so
geringfügig, daß sich unmöglich erkennen ließ, welcher Fuß der nicht normale sei. Und hier wird ein Zeugnis beigebracht von Seiner Herrlichkeit Schuhmacher,
der noch die Holzleisten besitzt, worüber in Newstead seine Schuhe geschlagen wurden, und aus dem Har hervorgeht, wie unbedeutend die Verunstaltung war.
Unfaßbar ist desgleichen, wie man der elenden Verleumdung Glauben schenken
konnte,
Lord
Byron wäre an den Schläfen
zuletzt etwas
kahl
geworden.
Allerdings war er dort von Haaren ein wenig entblößt, allein das rührte nur daher, weil er sich an der Stirne pflegte rasieren zu lasten.
Unbegreiflich ist
es, wie die alberne Unwahrheit behauptet werden konnte, seine Beine seien
zuletzt etwas dünn geworden.
Allerdings wurden sie etwas dünner, als sie
früher gewesen, aber war dies nicht natürlich bei einem Manne, der fast seine
ganze freie Zeit zu Pferde zubrachte? — Wenn man bedenkt, daß dieses Buch 44 Jahre nach Byron's Tode herausgegeben wurde, so kann man nicht leugnen, daß die Leidenschaft, die er einflößte, tief und dauernd war.
XXII. In dem Zeitraume von 1818—1823 arbeitete Byron den
„Don Juan" aus.
Kaum war der Anfang des Manuskriptes nach
England gelangt, so hagelte es von Schreckensrufen der Freunde
und Krittler, die Einsicht in dasselbe erhielten, von dringenden
Vorstellungen um Streichungen und Ausmerzungen bald hier, bald dort und von Ach und Weh über die Unsittlichkeit des Gedichtes.
Unsittlichkeit! Dies war die große Beschuldigung, welche Byron bei
jedem Schritte in seinem Leben hören mußte, und die ihn noch über den Tod hinaus verfolgte.
Unter dem Vorwande der Un-
siMchkeit wurden seine Memoiren verbrannt, unter dem Vorwande
der Unsittlichkeit seinem Standbilde die Westminsterabtei verschlossen.
Byron antwortete in einem Briefe an Murray: „Wenn Sie mir
gesagt hätten, die Poesie sei schlecht, so würde ich mich beruhigt haben, aber Sie sagen das Gegenteil und reden mir dann von
Moralität — es ist das erste Mal,, daß ich dies Wort von Leuten höre, die nicht Halunken sind und das Wort zu einem Zwecke
gebrauchen.
Ich behaupte, es ist das moralischste aller Gedichte;
wenn die Leute aber die Moral nicht sehen wollm» so ist es ihre
Schuld, nicht meine... Bon ihrem verdammten Beschneiden und
Kappen will ich nichts wiffen.
Wenn Sie wollm, können Sie das
Gedicht anonym herausgebm, das ist am Ende besser; aber ich
will meinen Weg gegen alle durchfechten wie ein Stachelschwein." Dieses Gedicht, das, eingeleitet mit einer Zueignung an den
Hofpoetm Southey, anonym, ja ohne auch nur den Namen eines
Verlegers auf dem Titelblatte zu tragen, erscheinen mußte, welches, wie Byron sagt, schwerer in eine englische Wohnstube kam, als ein Kamel durch ein Nadelöhr,
ist das einzige des neunzehnten
Jahrhunderts, das sich mit Goethe's „Faust" vergleichen läßt: dmn
dieses und nicht der verhältnismäßig unbedeutende „Manfred" ist
Als sein trotziges Motto trägt es nach
Byron's Weltgedicht.
stehende Shakespeare'sche Replik: „Vermeinst du, weil du tugend haft seiest, solle es in der Welt keine Torten und keinen Wein
geben?
Das soll's,
bei Sankt
Annen, und
der Ingwer soll
auch noch im Munde brennen!" — ein Motto, das nichts als
Ärgernis und satirischen Scherz verheißt; nichtsdestoweniger war es berechtigter prophetischer Stolz, der Byron die Worte diktierte: „Wenn ihr ein modernes Epos verlangt, so habt ihr den Don
Juan; das ist so gut ein Epos für unsere Zeit, wie die Ilias für die Zeit Homer's."
Byron war es beschieden, das zu bieten,
was Chateaubriand sich einbildete, in den „Märtyrern" geboten zu haben, die modeme epische Dichtung, die sich weder auf christ
lich-romantischer Grundlage, wie Chateaubriand wollte, noch auf der Basis eines einzelnen Volkslebens aufführen ließ, wie Scott versucht hatte.
Es gelang Byron, weil seine Grundfeste keine ge
ringere als die fortgeschrittenste Kultur des Jahrhunderts war.
Sein Juan ist kein romantischer Held, er erhebt sich weder
durch Verstand, noch durch Charakter sonderlich hoch über das
Durchschnittsmaß, allein er ist ein Günstling des Glückes, ein selten
schöner, stolzer, kecker und äußerst erfolgreicher Mann, der weit mehr
von seinem Schicksal, als von Plan und Berechnung geleitet wird. So paßt er zum Helden eines Gedichtes, welches das Menschen leben umfassen soll, und wo es nicht anging, daß der Held sich ein besonderes Feld erwählte.
Denn dem Spielraum, der Trag
weite des Werkes waren von vornherein keine Grenzen gesetzt. Das Gedicht steigt und fällt wie ein von sonnenbeglänzten und sturmgepeitschten Wellen getragenes Schiff, und wird von einem
Extrem zum andern geschlmdert.
Auf die feurige Liebesgeschichte
zwischen Juan und Julia folgt der Schiffbruch mit all seiner
Hungersnot und Todesqual, auf den Schiffbruch die prachtvollen
und schmelzenden Harmonien der jugendlichen Liebe Juan's und Haidi's, des Daseins höchste, freieste, süßeste Potenz als seliges
Lebm — eine nackte und schöne Gruppe wie die von Amor und
Psyche, doch beseelt — über ihnen das Mondlicht der griechischen Nächte, vor ihnen das weinfarbene Meer, dessen melodisches Plät schern ihre Liebesworte begleitet,
Klima Griechenlands, und
endlich
als Rahmen das zauberische
zu ihrm Füßen die ganze
asiatische Pracht des Ostens: hochroter Was, Gold, Krystall und
Marmor.
Und wie all dies auf die äußerste Lebensgefahr und
Ermattung folgt, so folgt auf das Fest in Haidi's Palast: für Haidi eine Qual, daß ihr das Herz bricht, für Juan ein zerhaumer Schädel, drückende Bande und Sklaverei.
Als Sklave
aber wird er an das Serail verkauft, und nun folgt seine possier
liche Verkleidung als Mädchen, seine Einführung bei der FavoritSultanin und die schalkhafte Nachtszene im Serail mit all ihrem
Fmer und Dust, all ihrm mutwilligm und sinnlichm Scherzen. Unmittelbar von dort werdm wir zur Belagerung von Ismail
geführt, zur Menschenschlächterei im größten Stile und allen den Greueln eines sinnlosm Krieges und einer rohen Soldateska, die
in einem Umfange, mit einer Energie geschildert werden, wie es bis dahin in keines Landes Poesie noch je geschehen war.
Dann
reisen wir mit Juan an den Hof der Kaiserin Katharina von
Rußland unter die lackiertm Barbaren Ostmropas, die von einer genialm Messalina beherrscht werdm, von dort nach England, dem gelobtm Lande der Straßenräuberei, der Moral, der Pluto-
kratie und Aristokratie, der Ehe, der Tugend und der Heuchelei.
Dieser grobe Umriß giebt nur den Umfang des Gedichtes an.
Allein nicht nur, daß es mit solcher Vielseitigkeit die Grund
gegensätze des Lebens umfaßt, jedes dieser Extreme ist wiederum
extrem aufgefaßt.
Der Dichter hat an jedem Punkte die Sonde
seiner Einbildungskraft bis tief auf den Grund der Situation hinabgesenkt,
Goethe's antikes Naturell bewog ihn, wo es möglich
Situation.
war,
sowohl der seelischen, wie der äußerlich wirklichen
die Mitte
einzuhalten,
und selbst im „Faust", wo er
mit furchtbarem Ernste das Menschenleben enthüllt, hebt er den
Schleier mit schonender Hand. hierdurch
Oftmals büßen jedoch seine Werke
die höchste Spannung des Lebens ein.
Den vollen
Spielraum zur Entfaltung ihrer Riesenschwingen finden die Genien des Lebens und des Todes selten bei ihm. Leser beruhigen, nie ihn schonen.
Byron will nie seinen
Er ist selbst nicht ruhig, bis er
alles, das letzte Wort in der Sache gesprochen hat;
er ist ein
Todfeind jedes Idealismus, der ausscheidet und dadurch verschönt,
seine ganze Kunst deutet nur auf die Wirklichkeit oder die Natur hin und ruft dem Leser zu: Erkenne sie!
Nehme man den ersten, besten Charakter, den Julia's z. B. Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt, voll Liebreiz, ohne es zu wissen leise in Juan verliebt, mit ihrem fünhigjährigen Manne zuftieden, aber doch — ohne es zu wissen — leise den Wunsch hegend, er möchte sich in zwei von fünfundzwanzig teilest lassen.
Anfangs kämpft sie
wacker für ihre Tugend, dann ergiebt sie sich. Noch aber hat sie nichts Niedriges oder Komisches begangen.
Nun zeigt sie uns Byron in
einer höchst bedenklichen äußersten Situation, als der Mann das
Paar überrascht, und da entdecken wir plötzlich eine neue Schicht in ihrer Seele.
Sie lügt, sie betrügt, sie spielt Komödie mit einer
ganz überraschenden Zungenfertigkeit.
Sie war also nicht gut und
liebenswürdig, wie sie sich anfangs gezeigt? ihr geirrt? Keineswegs.
Wir haben uns in
Byron zeigt uns eine noch tiefere Schichte
ihrer Seele, als sie bett berühmten Abschiedsbrief an Juan schreibt,
einen warm empfundenen, echt weiblichen Brief, eine der Perlen
des Werkes.
Der Seelenkampf schließt somit nicht die Hingebung,
die Liebe nicht die Lüge, die Lüge nicht die höchste Seelenvor-
Und dieser
nehmheit und Schönheit in gewissen Momenten aus.
Brief nun, wo gerät er hin? — Juan liest ihn mit thränen feuchten Augm auf dem Schiffe — da wird der rührende Ver gleich zwischen der Art und Weise, wie Mann und Frau lieben,
von der Seekrankheit unterbrochen.
in der Hand übel —
arme Menschheit!
Juan wird es mit dem Briefe
armer Brief, arme Julia,
armer Juan,
Denn ist nicht das Menschenleben so?
nochmals armer Brief!
Und
Als nach dem Schiffbruche die Mann
schaft im Boote, elend und verkommen, die letzte Station verzehrt
hat, als die Leute lange untereinander mit gierigen Augm ihre abgezehrten Gestalten betrachtet habm und man zu losen beschließt,
wer zuerst geschlachtet werdm soll, um dm anderm zur Speise zu bienen, siehe, da findet sich im Boote kein anderes Papier als
Julia's poetischer, liebeglühender Brief, und man mtwindet ihn
Juan, um ihn in kleine Vierecke zu zerschneiden und dieselben zu numerieren.
Dieser numerierten Vierecke eines ist es, das Pedrillo
den Tod bringt.
Giebt es denn wirklich am Firmamente einen
Weltball, wo die Schwärmerei der Liebe und Mmschmstesser-Jnstinkte sich dicht nebmeinander befinden, ja sich auf dem nämlichen Quadratzoll Papier begegnen?
Byron antwortet, er seltne einen
solchen: die Erde.
Unmittelbar darauf werden wir zu Haidi versetzt.
Im Ver
gleiche zu ihr sind alle früherm Griechenmädchen Byron's nur
unreife, tastende Versuche.
Niemals war in modemer Poesie die
Liebe eines wilden Naturkindes schöner geschildert worden. Goethe's
herrlichste Jungstauen, Gretchm und Klärchen, sind kleine Bürger mädchen, und ihre Haltung trägt bei all ihrem Adel das klein
bürgerliche Gepräge.
Man fühlt, daß ihr Dichter ein Frankfurter
Bürgersohn war, dem die Natur sich im niederm Bürgerstande, die Bildung
aber
im
kleindmtschm Hoflebm
offmbarte.
Byron's
schönste Frauengestaltm haben nichts Bürgerliches an sich.
ihre freie Natürlichkeit hat keine Bürgersitte getastet.
Au
Man fühlt,
Ayron.
Kulmination des Naturalismus.
413
wenn man von Juan und Haidi liest, daß Byron von Rousseau
stammt, zugleich aber auch, daß seine hohe, unabhängige soziale Stellung, im Verein mit seinen großen Schicksalen, ihm einen un
gleich
freieren
Blick
für
die Menschennatur
verlieh,
als ihn
Rousseau besaß (II, 184, 185, 186, 190): Und so ergingen sie sich, Hand in Hand Über die blanken Stein' und Muschelschnecken,
Und glitten über festen, glatten Sand, Und in den wilden, hohlen Felsverstecken, Planvoll, so schien's, vom Sturme ausgespannt
Zu weilen Hallen mit Gebälk und Decken,
Da ruhten beide, Arm in Arm geschlungen, Bon Abends Purpurzauber sanft bezwungen. Sie sah'n zum Himmel, dessen flüssige Gluten Hinwallten wie ein ros'ger Ozean; Sie sah'n die Wogen, wie sie schimmernd ruhten, Und wie der Mond austaucht am Himmelsplan;
Sie hörten leise Wind' und müde Fluten, Und wenn sie dann sich Aug' in Auge sah'n.
Den dunkeln Blitz — dann flogen wie zwei Flammen Die Lippen fest in einen Kuß zusammen.
Ein langer, langer Kutz, ein Kuß der Wonnen, Der Lieb' und Schönheit, der in eine Glut Zusammenfaßt die Strahlen aller Sonnen . . .
Wer dacht' an Eid' und Skrupel? Nicht Haidi! Bon Ehepakten und Verlöbnis hatten Die Leut' ihr nie gesagt . . .
Welcher Leser berauscht sich hier nicht, zumal wenn er von
der erotischen Heuchelei der französischen Reaktionslitteratur kommt,
an dem frischen Strome jugendlicher Liebesglut, an des Dichters feuriger Begeisterung für den Adel der natürlichen Schönheit und
seinem tiefen, unergründlichen Spott über die Philistereien der Biedermannsmoral!
Giebt es denn eine Welt — eine regelrechte
Welt, in welcher zweimal zwei vier macht, eine tierische Welt, wo alle niedrigsten und abscheuerregendsten Triebe jeden Augenblick her-
vorbrechen können — in welcher zugleich blitzartig, minutenlang, tagelang, monatelang, in ewigen Augenblicken und Jahren, solche
Schönheitsoffenbarungen im Menschenleben vorkommen?
Ja, ant
wortet Byron, eine solche giebt es, und die ist es, die vor uns
allen offen liegt.
Und nun flugs von hier zum Sklavenmarkt,
zum Serail, zur Schlacht, zur systematischen Metzelei und Notzucht und zu dem Spießen kleiner Kinder auf das Bajonett!
So große Gegensätze umfaßt dies Gedicht.
Doch ist es nicht
eine sinnliche, satirisch-humoristische Epopöe, wie die Ariost's, es ist ein leidenschaftlich-politisches Tendenzgedicht, voll Grimm, Hohn,
Drohungen und Weckmfen, mit wiederholten, langen, gellenden Stößen in das Kriegshom der Revolution? Byron schildert nicht blos die Schrecknisse, er versieht sie
mit Erläuterungen.
Als er, nach
der Einnahme Ismails, die
Siegesbotschaft des „Schlächters" Suworow an Katharina zitiert,
fügt er hinzu (VIII, 135):
Er schrieb dies Nordpollied, Text, Melodie Und auch Begleitung, Röcheln, Heulen, Schreien, Nicht sangbar, doch vergessen soll man's nie! Denn ich will pred'gen, bis die Steine schrei'n Und fluchen den Tyrannen. Soll das Knie Der Menschheit stets gekrümmt vor Thronen sein? Dann lern', o Nachwelt, lern' wie unsre Zeit war. Die wir geschildert, eh' die Welt befreit war!
Vergleicht man in diesem Punfte „Don Juan" mit „Faust",
der großen Dichtung der Jahrhundertscheide, so fühlt man, daß dem mächtigen, weltgeschichtlichen Odem in „Don Juan" vollauf
die Kraft des philosophischen Geistes innewohnt, die
beseelt.
„Faust"
Und stellt man „Don Juan" einen Augenblick in Gedanken
mit seinem russischen Abkömmling,
Puschkin's „Eugen Onegin",
1 But by and by 111 prattle Like Roland's hörn in Roncesvalles’ battle.
Don Juan, X, 87.
Lyron.
Kulmination des Naturalismus.
415
wie seinem dänischen Sproß, Paludan-Müller's „Adam Homo", zusammen, so fühlt man in dem englischen Gedichte den Meeres hauch der Natur und der Geschichte doppelt stark im Gegensatze
zu dem Weltton und dem politischen Unvermögen der russischen
Dichtung und zu dem beschränkten moralischen Standpunkte der so
talentvollen dänischen Epopöe.
In „Don Juan" herrschm Natur
und Geschichte, wie im „Faust" Natur und tiefsinnige Spekulation;
dort entfaltet sich das Menschenleben in seiner Breite, wie es int „Faust" in eine Personifikation zusammengedrängt ist, und das ganze Werk ist das Produkt einer Enttüstung, die hier allen Großen
der Zeit ihr Mene Tekel Upharsin! vor Augen schrieb. Erst in diesem Werke war Byron ganz er selbst.
Gründlich
erfahren kannte er den Weltlauf nur zu wohl, um nicht alle nnreife Leichtglänbigkeit abgestreift zu haben.
Er wußte jetzt, woraus
der Durchschnittsmensch bestehe, und wovon er sich im Leben leiten lasse.
Menschenfeindlich hat man ihn, infolge seines beißenden
Spottes hierüber, genannt;
er hat die richttge Antwort darauf
gegeben, wenn er (IX, 21) sagt: Mich nennt ihr Misanthrop?
Weshalb?
Weil ihr
Mich habt, ich ench nicht.
Wohl wahr, er ist hie und da cynisch, doch ist er es nur dort, wo die Natur selbst schamlos ist. Hat er etwa Unrecht, wenn er sagt (V, 48): Die Leute reden viel von Appellieren An Leidenschaft, an Herz und auch Verstand...
All diese Zaubermittel aber geh'n
Richt so direkt an's Herz den Millionen, Wie der gewalt'ge Klang, daS süße Locken, Das Seelensturmgelüut der Tafelglocken.
Hat er Unrecht, wenn er erbarmungslos darchut (IX, 73),
wie eitel und selbstsüchttg die Liebe ist? Oder geht er in seiner Bitterkeit und Saüre zu weit, toenn er (HI, 60), das Glück des
Familienlebens schildernd, meint:
Doch wird man Kinder für ein Glück erklären, (Nur nicht nach Tisch, da werden sie zu Plagern)
Wie schön, wenn Mütter ihre Kinder nähren! (Nur pflegen sie dabei sehr abzumagern.)
Ach, so lange alle schönen Dinge hier auf Erden ihre Kehr seite haben, fruchtet es wenig, dem Dichter verbieten zu wollen, sie zu zeigen, ob der Moralist noch so tief dabei seufze!
Und
es sind das unstreitig die ausgesprochen cynischsten Stellen des Gedichtes, wie überhaupt die herben Rousseau'schen Ausfälle gegen
die Civilisation, als deren Wonnen Krieg, Pestilenz, Despoten wirtschaft und die Geißel der Könige aufgezählt werden, stets
von glühendm Liebeserklärungen an die Natur begleitet werden (s. besonders VIII, 61—68).
Anonyme Artikel sagen von mir, ruft er aus (III, 104), ich hätte keine Religiosität. Mein Dom ist Meer, Gebirg' und Firmament, Alles, was von dem Urquell seinen Lauf nimmt,
Der unsre Seelen schuf und wieder aufnimmt.
Doch es versteht sich, mit dem theologischen Ritual stimmte
diese Naturreligiosität nicht überein. Harold"
Wie ein Refrain aus „Childe
kehrt die Verherrlichung der Denkfreiheit wieder.
Es
heißt (XI, 90): Ich geb', auch wenn ich einsam bin. Mein freies Denken nicht um Kronen hin.
Bald begegnen dem Leser die sarkastischsten Ausfälle gegen die Vorstellungen der Theologie über den Ursprung der Sünde,
bald eine beißende Satyre über die Rechtgläubigkeit und die gang bare Lehre, daß Krankheit und Mißgeschick fromm machen. der Sünde heißt es (IX, 19): „Der Himmel deckt," wie Cassio sagt, „uns alle;
Kommt, laßt uns beten!" Seien wir befliffen
Für unsrer Seelen Heil.
Seit Adams Falle
Wird alle Menschheit in das Grab gerissen, Samt allen Bestien. „Ob der Sperling falle.
Sei Fügung," sagt man, wenn wir auch nicht wissen.
Von
Was er verbrochen hat. Vermutlich saß Er auf dem Baum, von welchem Eva aß.
Man sieht, um wie viel freier und kühner der Ton seit
Kain gewordm ist.
Und von der Hospitalorthodoxie heißt es
(XI, 5, 6): Je mehr die Krankheit Angst macht und Beschwerde Die Folg' ist, daß ich orthodoxer werde.
Ein Stoß bewies mir Gottes Göttlichkeit, (Doch daran glaubt' ich schon, wie auch an Satan;)
Der zweite Stoß der Jungfrau Heiligkeit; Beim dritten nahm ich Adams Sündthat an; Beim vierten kam auch die Dreieinigkeit —
Mein Glaube wuchs zu einem solchen Grad an. Daß ich nur wünscht', es wären vier statt drei.
Weil dann noch etwas mehr zu glauben sei.
Byron war nun auf seiner Dichterlaufbahn dahin gelangt,
daß er nicht mehr wußte, wie er seine Arbeiten veröffentlichm sollte. Sein Verleger war ängstlich und zog sich allmählich ganz zurück. Für die ersten Gesänge des „Don Juan" fand sich ja nicht ein mal ein Buchhändler,
wagte.
der dieselben in Kommission zu nehmen
Er sagt selbst, indem er sein Schicksal dem Napoleon's
vergleicht (XI, 56): Doch war „Juan" mein Moskau, und „Faliero" Mein Leipzig, und mein Mont St. Jean scheint „Kain"; Die Belle-Alliance der Tröpfe kann nunmehro Viktoria ob dem toten Löwen schrei».
Wir habm bereits gesehm, was Southey in der Vorrede zu
seinem Speichelleckergedichte „Die Vision des Gerichtes" sich zu
sagen vermaß.
Er forderte als echter Denunziant dm Staat auf,
gegen dm Verkauf von Byron's Schriftm einzuschreiten; dmn daß der Angriff auf Byron gemünzt war, verhehlte er in seiner Antwort auf Byron's Entgegnung nicht.
Triumphierend ruft
er hier aus: „Ich habe die Mitglieder dieser Schule als Feinde
der Religion ihres Vaterlandes, der Gesellschaftsordnung und der häuslichen Moral dem öffmtlichen Abscheu preisgegeben. Brande», Litteratur der 19. Jahrh. IV.
27
Ich habe
ihr bat Namen der satanischen Schule beigelegt, ein Name,
der
Ich habe aus meiner
ihrem Gründer und Häuptling mtspricht.
Schleuder einen Stein geworfen, der ihren Goliath an der Stinte
traf.
Ich habe seinen Namen an den Galgen genagelt zur Schmach
und Schande für ihn, so lange dessen gedacht werden wird!" So schrieb der bestallte und besoldete Skribent, der, wie Byron sagt, sich zum Hofpoeten emporgelogen hatte? Byron antwortete mit
der bewunderungswürdigen Satyre: The Vision of Judgment Georg III. kommt hier wie bei Southey vor die Himmelspforte
und begehrt Einlaß.
Allein Sankt Peter ist keineswegs erbötig, Schloß und Schlüssel des Pfört
seinem Wunsche zu willfahren.
ners sind verrostet; es giebt so wenig zu thun; seit 1789 wandern alle Menschen zur Hölle hinab.
Manne Platz
machen,
Die Cherubim wollen dem alten
berat die Engel sind allesammt Torys.
Allein der Satan tritt als Ankläger auf, und er und Michael
machen sich nun das Recht auf bett Toten streitig.
Jeder von ihnen
führt Zeugen an und unter diesen wird von Asmodeus Southey herbeigeholt, der nun seine Werke vorliest, und dies mit solch un erschütterlicher Beharrlichkeit,
daß
alle, Engel wie Teufel, die
Flucht ergreifen, der alte König aber in dem allgemeinen Tumult und Wirrwarr hineinschlüpft.
In seiner Berzweiflung über die
Vorlesung schlägt St. Peter Souchey den Schlüsselbund um bat Kopf, erst sinkt er tief — wie seine Schreibereien — dann taucht
er wieder — wie er selbst — empor. Denn was verfault ist, pflegt so leicht zu sein Wie Korkholz oder Jrrlichtlein im Moor.
Das ganze kleine Meisterwerk folgt Punkt für Punkt Sou-
they's Gedichte,
es parodierend.
Die Schwierigkeit aber war
nun, es zur Veröffentlichung zu bringen.
Murray wollte es nicht
nehmen, noch sonst ein Londoner Verleger. 1 Siehe die Ausfälle auf Southey in Don Juan I, 205, III, 80, 93,
IX, 35, X, 18.
Sijron. Kulmination drs Naturatismus.
419
In dieser Klemme beging Byron fernen unklugsten littera rischen Schritt, der ihm am meisten in den Augen der englischen Leserwelt schadete. Manne,
Einem talentvollen, aber nicht hervorragenden
dem radikalen Dichter Leigh Hunt,
welchen,
als er
wegen Beleidigung des Prinzregenten zu zweijähriger Kerkerhaft
verurteilt worden, Byron in der Jugend (um seine Gesinnung zu bethätigen) gemeinschaftlich mit Moore im Gefängnisse besucht
hatte, und der nun mit Shelley befreundet war, kam die Idee,
im Verein mit Shelley und Byron eine radikale Zeitschrift zu gründm.
Shelley
selbst
hielt
sich
aus Bescheidmheit zurück,
doch nicht sobald hatte er Hunt die etwaige Mitarbeiterschaft Byron's
in Aussicht gestellt,
als Hunt mit Weib und Kind
England verließ, alles aufgab, womit er sich bisher beschäftigt und ernährt hatte, und hilf- und mittellos in Jtalim erschien, wo Byron edelmütig ihm und seiner Familie im eigenen Hause Obdach
gab.
Jndessm stellte es sich bald heraus, daß persönliche Sym
pathie zwischen diesen beidm, an Art und Wert so verschiedenen
Männern unmöglich war.
Byron fühlte sich durch Hunt's zu
dringliche Vertraulichkeit verletzt, Hunt stieß sich an Byron's vor
nehm ablehnender Haltung.
Allein das Hauptunglück war, daß
Byron durch die Allianz mit einem so viel geringeren Manne sich
bei dm Engländem völlig diskreditierte. Vergebms warnte ihn Thomas Moore, indem er es ablehnte,
der geplanten Zeitschrift Beiträge zu Kesern und schrieb:
„Allein
können Sie den Kampf gegen die Welt aufnehmen, was etwas heißen will, dmn die Welt ist, wie Briareus, ein Gentleman mit vielen Händm, doch um es zu können, müssm Sie allein stehen.
Bedenken Sie, daß die elmdm Häuser um die Peterskirche fast
gänzlich die Aussicht auf sie nehmen."
Byron hatte einmal sein
Wort gegeben, Hunt seine Unterstützung zu leihm, und wollte nun nicht zurücktreten.
Er konnte nicht ahnm, daß Leigh Hunt's
erste That nach seinem Tode darin bestehen würde, drei volle 27*
Bände zufammenzufchmierm, um sein Andmkm zu besudeln?
So
gab er denn Hunt „Die Vision des Gerichtes" und „Himmel und
Erde", das schöne Weltuntergangsgedicht, an welches in der dänischen Litteratur Paludan-Müller's „Ahasverus" ein wmig er
innert.
Doch die Zeitschrift, die ursprünglich The Carbonaro
heißen sollte, der man jedoch aus Politik den matten Namen The Liberal gab,
rief ein solches
Entsetzen
und solchen Unwillen
hervor, daß sie ein kümmerliches Dasein fristete und schon nach
dem vierten Hefte einging.
So war Byron aus der Litteratur
so gut wie ausgeschloffen, und der Weg der That und des wirk
lichen Kampfes für seine Ideen der einzige, der ihm noch offen stand. Vorher aber machte sein revolutionäres Pachos sich noch Luft in „Don Juan" und in dem „Ehernen Zeitalter".
Shelley
traute Byron dm Ehrgeiz und die Fähigkeit zu, „der Retter seines unterdrücktm Vaterlandes"
zu werden.
Mit Unrecht; bentt zu
dem zähen, langsamm Freiheitskampfe der englischen Opposition
taugte er nicht.
Was ihn ergriff und beschäftigte, war auch nicht
die politische Not Englands allein; er warf in seinem Unwillm über alle Unterdrückung und in seinem Haß gegm alle Hmchelei
sich zum Fürsprecher der leidmdm Mmschheit auf.
Sein Blut
kochte, wmn er an die Sklaverei in Amerika, an die Mißhandlung
der armm Bevölkemng Irlands, an das Martyrium der italimischm
1 Mit Recht vergleicht ihn ThomaS Moore mit dem Hunde» dem im Löwenkäfig zu wohnen gestattet worden: Though he roar’d pretty well — this the puppy allowa — It was all, he aaya, borrow’d — all second-hand roar; And he vastiy prefera hia own little bow-wows To the loftieat war-note the lion could pour.
Nay, fed as he waa (and thia makea it a dark caae) With aopa every day fron» the lion’a own pan, He lifta up hia leg at the noble dear’a earcaas And — doea all a dog, ao diminutive, can.
Patrioten dachte.
Seme Sympathim hatten stets der stanzösischen
Revolution gegolten. Er hatte anfangs Napoleon bewundert; als er aber sah. wie der Held der Zeit dazu herabsank, „ein König" zu werden, wie er „die erwachten Menschenrechte" wieder auslöschte „und mit gemeinen
Königen und Schmarotzern verkehrte", um endlich in Fontainebleau lieber dem Throne zu entsagen, als sich selbst den Tod zu gebm,
da griff er mit furchtbaren Hohnworten sein einstiges Ideal an. In dem Verhältnisse Byron's und Heine's zu Napoleon herrscht
viel Ähnlichkeit; denn beide verhöhnen dm sogenannten Freiheits
kampf ihres Landes gegen ihn.
Die Ungleichheit aber liegt darin,
daß der unbeugsame Stolz und Freisinn des englischm Dichters
es ihm unmöglich machten, sich in die weibische Bewunderung zu
verlieren,
in welche der deutsche Dichter verfiel.
Der blutige
Kriegsruhm Napoleon's konnte nicht dem imponieren, der das
schöne Wort gesprochen hat, es sei ruhmvoller, eine einzige Thräne zu trocknen, als Meere von Blut zu vergießen („Don Juan"
VIII, 3), und der (einen anderen Krieger bewunderte, als den, der wie Leonidas und Washington für Freiheit kämpfte. Seit langem schwang er schon die Geißel über dem Haupte
des Prinzregenten und hatte sie gar manchmal auf dessen Dick wanst niedersausen lassen.
„Irland stirbt vor Hunger," heißt es,
„Georg wiegt 14 Liespfund", und in dem Epigramme, wo er ihn mit Karl II. und Heinrich VEH. („Karl ohne Kopf und Heinrich
ohne Herz") vergleicht, ruft er aus:
Dem Volk ein Karl, ein Heinrich seinem Weib, Die zwei Tyrannen ein- in einem Leib! Nun rückte Byron seinem Baterlande selbst auf den Leib. Er
griff alles Unwahre, alles Hassenswerte daselbst an, von der Tra dition der jungftäulichen Königin angefangm (unsere halbkeusche Elffabeth, heißt es in Don Juan IX, 81) bis herab auf die
modernstm Borschristm der guten Lebensart.
„Ich bin ein zu
guter Patriot," sagt er, „um nicht lieber zehn Lügen über die Franzosen zu erzählen, als ein wahres Wort über sie zu sagm — solche Wahrheiten sind Hochverrat" (VH, 22).
Er wagt, dm
Preußen einen großen Anteil an der Ehre des Sieges von Waterloo zuzuschreiben und Wellington (nach Beranger) Villain-ton zu nennen,
wie er es ihm auch zu verstehen giebt, daß trotz aller seiner Ordm und Pensionm er sich kein anderes Verdimst erworben habe, als
„die alte Krücke der Legimität zu flicken."
Er wagt endlich mit
ungleich tieferem Ernst als Thomas Moore in den satirischm Briefm England die Wahrheit zu sagen, wie verhaßt die Tory-
Politik es bei allen Völkern der Erde gemacht habe (X, 66—68): Ich habe wenig Grund, dies Stück der Welt, Das mir kaum mehr als Leben gab, zu lieben,
Und das den Stoff zum größten Volk enthält.
Doch ist mir Ehrfurcht, Schmerz ist mir geblieben
Für seinen alten Ruhm, der jetzt verfällt . . . O könnt' es doch recht klar und wahr erkennen.
Wie seinen großen Namen Haß verzehrt, Wie alle Völker auf die Stunde brennen,
Die seine Brust bloßlegen wird dem Schwert,
Wie alle Land' es Feind und Todfeind nennen,. Schlimmer als Feind, den Freund, den sie geehrt, Den falschen Freund, der Freiheit erst verheißt,
Und dann sie ketten möchte, Leib und Geist. Will der sich stolz mit seiner Freiheit bläh'n, Der nur der erste Sklav' ist?
Alles Land
Trägt Fesseln, doch den Schließer, was trifft den? Auch er ist an Verließ und Schloß gebannt.
DaS arme Recht, den Schlüffe! umzudrehn Im Kerker, ist das Freiheit?
Byron stand nun auf solcher Höhe, daß er von keiner konven
tionellen Mcksichtsich Fesseln anlegen ließ; er verfolgte das Ministerium der Mittelmäßigkeiten, wie er es nannte, selbst über den Tod seiner
Mtglieder hinaus.
Er gönnte Castlereagh keine Ruhe im Grabe,
weil, wie er in einer der Borreden zu Don Juan sagt, das System der Unterdrückung und der Heuchelei, mit welchem sein Name
identisch war, noch weit über seinen Tod hinaus das herrschende
blieb.
Er verabscheut die Legitimität und die bis zum Überdruß
wiederholten Phrasen von der meerbeherrschenden Britannia, ihrem Dreizack und ihrer glücklichen Verfassung, von dm hohen Helden kaisem
und
dem frommen Russenvolke.
münzen — sagt er nach
Auf dm feinen Gold
dem Sturz Napoleon's — stehen nun
wieder „Gesichter mit dem echt stupidm Gepräge."
Ihn ekelte die
mit dem rohestm Volke Europas getriebene Abgötterei, wurde man doch allerorten von dem dmtschen Abschiedsliede des empfindsamen
Kosaken an sein Mädchen verfolgt,
dessen Anfangsworte „Schöne
Minka, ich muß scheiden" noch hmte nicht vergessm sind.
Byron also ist es, der in Europa die radikale Opposition er
öffnet, die Mitte der zwanziger Jahre gegen die politische Romantik und die heilige Allianz ausbricht, die ja nichts anderes als die in System gesetzte politische Hmchelei Europas war.
Er nannte die
heilige Allianz den politischen Affen der himmlischm Dreieinigkeit,
welcher darauf ausgehe, drei Narren zu einem Napoleon zusammmEr persiflierte den koketten Zar Alexander als den
zuschweißen. vortrefflichsten
„Walzer
und
Barbaren"
und
brandmarkte
die
hmchlerische Kongreßpolitik, mittelst welcher „die zwanzig Hans wurste in Laibach das Schicksal der Menschheit entscheiden wollten." Er singt (XIV, 82, 83):
O Wilberforce! Du Mann der schwarzen Ehre,' Den Lied und Rede nie genugsam preist, . . . ES giebt auf unserer alten Hemisphäre Noch allerlei zu thun für deine» Beist, Feg auch einmal den andern Erdteil rein; Der Schwarz' ist frei nun — sperr' die Weißen ein!
Sperr' ein den tahlm Raufbold Alexander! Verschiff' die „heil'gen Drei" gen Senegal, Und frag sie, wie es schmeckt, so miteinander Z« frohndm, und die Prügelsupp' als Mahl? Welche Sprache!
Welche Töne inmitten der Todesstille in
dem unterdrückten Europa! Gellmd durchschwirrtm sie die politische
Atmosphäre und widerhalllen weit und breit; fiel doch kein Wort Lord Byron's ungehört zu Boden, und die zahllosen Flüchtlinge
und Verfolgten, Unterdrückten und Verschworenen von ganz Europa hefteten ihre Augen auf diesen einen Mann, der inmitten des all
gemeinen Sinkens der Intelligenzen und Charaktere auf ein niedriges
Niveau hochaufgerichtet dastand, schön wie ein Apollo, mutig wie ein Achill, stolzer als alle Könige Europas miteinander.
Er, der
überall unantastbare Peer von England, wurde das Organ der
stummen Erbitterung, die an den besten, freiheitsliebenden Geistern
Europas zehrte, indem er ungehindert und ungestraft seinen revo lutionären Zom in furchtbaren Ausbrüchen sich entladen ließ.
Er hatte selbst die Poesie als Leidenschaft definiert.1
Seine
eigene Dichtung wurde nun lauter beseelte Leidenschaft.
Man
höre den Donner, der jetzt über Europa hinrollte, als er von den Geschlechtern der Zukunst sprach: Wie eine Fabel wird es euch erscheinen,
Was ihr von Thronen lest, so fabelhaft Wie unS ein Mammuthtier, vor dess' Gebeinen
DaS heutige Geschlecht verwundert gafft,
Oder wie Schrift auf Hieroglyphensteinen, Das heitre Rätsel künst'ger Wissenschaft;
Gottlob, ein Rätsel wird dies einst hinieden
Wie uns der wahre Zweck der Pyramiden . . . Denkt, George der Vierte würde ausgegraben!
Ein solcher Zukunstsmensch begriffe nicht, Was wir der Kreatur zu ftessen gaben . . .
Genug!
Gott schütz' den Thron und alle Throne!
Wenn Er's nicht thut, die Menschen thun's nicht länger.
Ein kleiner Bogel singt mit Hellem Tone: „Das Volk bezwingt allmählich seine Dränger." Der trägste Gaul wird wild in seiner Frohne,
Wenn allzu tief ins wunde Fleisch die Sträng' er Einschneiden fühlt, nnd selbst der Pöbel hat
Da- Beispiel HiobS nachgerade satt.
1 Poetry, which is but passiern
Don Juan, IV, 106.
Erst knurrt er bloß; dann flucht er auch, und dann
Wie David, wirst er Kiesel nach dem Riesen;
Zuletzt greift er zu Waffen, welche man Nur aufrafft in verzweiflungsvollen Krisen,
Und dann giebts Krieg!
Noch einmal fängt.er an;
Es thut mir leid, ich hab' ihn nie gepriesen;
Nur leider, Revolution allein Kann von der Höllenfäulnis uns befrein . . . Krieg schwör' ich jedem (wenigstens in Reden,
Vielleicht in Thaten einst), der den Gedanken
Bekriegt, und jeden Sykophanten, jeden Despoten ford're ich in meine Schranken. Ich weiß es nicht, wer siegt in diesen Fehden, Doch wüßt' ich's auch, ich würde nimmer schwanken;
Nichts wird den tiefen, offnen Haß je ändern,
Haß aller Tyrallnei in allen Ländern. Don Juan, VIII, 137, IX, 39, VIII, 50, 51, IX, 24.
Er hatte die Revolution geweissagt, er hatte mit Trauer die Pläne der Carbonari scheitern sehen. Endlich war sie ausgebrochen,
diese Revolution; „von den Gipfeln der Anden bis zu des Athos Felsenspitze" wehte dasselbe Banner. Englands ausgestoßen. getrieben.
Er war aus der Litteratur
Er wurde in Italien von Stadt zu Stadt
Er hatte schon längst erklärt, ein Mann müsse mehr
für die Menschheit thun, als bloß Verse schreiben.
So manches Mal hatte er mit einer Geringschätzung wie Shakespeares Hotspur von der Kunst als von leerem Tand ge sprochen.
Nun vereinigte sich alles, ihn zum Handeln zu tteiben.
Einzig die Rücksicht auf die Gräfin Giuccioli hielt ihn noch zurück.
Er dachte daran, sich an dem Freiheitskriege der Kreolen zu be
teiligen, erkundigte sich eifrig nach den Zuständen in Südamerika,
und schon seine „Ode an Venedig" hatte mit den Worten geschlossen: Besser da,
Wo einst Thermopylä dich fallen sah, Besiegt und frei, Lacedämonia,
Als hier versumpfen! — oder fliehn auf Bahnen Des Meers, ein neuer Strom den Ozeanen,
Ein Erbe mehr des Geistes unserer Ahnen, Ein Bürger mehr für dich, Amerika!
Allein die stärkste Anziehungskraft besaß doch für ihn das Land, das ihn zuerst zum Gesänge begeistert hatte.
Er riß sich
los von seiner Geliebten, die er den Gefahren und Strapazen eines
Feldzuges nicht auszusetzen wagte.
Das englische Komitee der Phil
hellenen hatte ihn unter seine Mitglieder ausgenommen, und er brachte reiche Geldmittel von demselben mit. In Livorno empfing er noch am Tage der Abreise Goethe's ersten und letzten Gruß, das
bekannte Sonett des Altmeisters an Byron. Fünf volle Monate hielt Byron sich auf Kephalonia auf, damit beschäftigt, sich eingehend mit
dm griechischen Angelegenheiten vertraut zu machen, und von jedem
einzelnen der verschiedmm, sich gegenseitig in Parteileidenschast be fehdenden Häuptlinge bestürmt, sich ihm anzuschließen.
Die Ber
teilung von Kriegsmaterial, Geschütz und Geld veranlaßte einm aus-
gedehntm Briefwechsel, dm er mit eisernem Fleiß bewältigte. End lich traf Byron seine Wahl unter den griechischm Anführem und
mtschloß sich, zu Maurocordato nach Mssolunghi zu gehm. Schon währmd seines Aufmthaltes auf Kephalonia warm die für seinen
Ehrgeiz schmeichelhaftesten Anerbietungm an ihn gerichtet wordm.
Die
Griechen
monarchischen
neigten
in
ihrer
Regiemngsform zu,
überwiegenden und
Mehrzahl
nach der
der
Überzeugung
Trewlany's, der die Verhältnisse kannte, würde der Kongreß von
Salona, wenn Byron dmselbm erlebt hätte, ihm nichts Geringeres als die griechische Krone angeboten habm. Als Byron in Missolunghi ans Land stieg, wurde er beinahe
wie ein Fürst empfangm.
Geschützsalvm und rauschende Musik
begrüßtm ihn, die ganze Bevölkemng war in Hellem Jubel am
Strande zusammmgeströmt, unb in dem für ihn eingerichteten
Hause erwartete ihn Maurocordato an der Spitze einer glänzenden Versammlung griechischer und ausländischer Offiziere. 5000 Mann lagen in der Stadt.
Byron nahm 500 Sulioten (Albanesen), die
durch Marco BvMri's Tod führerlos geworden, in feinen eigenen Sold.
Sich selbst erkor er den gefährlichsten Postm, gleich als
wünschte er den Tod herbei.
Er wollte den Befehl über die nach
Lepanto zu entsendenden Truppen übernehmen und hoffte durch
Mut und Thatkraft zu ersetzen, was ihm an militärischer Er fahrung abging.
Die eigentliche strategische Leitung sollte einem
Generalstab obliegen. Er hatte hier Gelegenheit, über die mächtige Wirkung zu staunen, die persönliche Unerschrockenheit und persönliche Vorzüge auf halbwilde Männer üben; durch nichts imponierte er
seinen Sulioten, die selbst schlechte Schützen waren, so sehr, wie durch seine Sicherheit im Schießm und seine Gleichgültigkeit gegen
Gefahren.
Er selbst war ein größerer Mensch geworden.
Wohl
konnte seine alte Schwermut sich seiner noch bemächtigen, doch die lichte Bahn des Ruhmes lag offen vor seinen Augen.
Ein Zeugnis
seiner Stimmung ist das herrliche Gedicht, das er an seinem sieben
unddreißigsten Geburtstage verfaßte, das schönste vielleicht, das er je gedichtet. Vergleicht man es mit den trostlosen Zeilen, die er an dem
Tage niederschrieb, an dem er sein dreiunddreißigstes Lebensjahr
vollendete, so wird man sich des Unterschiedes recht inne. Es enchält die Ahnung seines nahm Todes und dm männlichstm Vorsatz: Nun ist es Zeil, daß endlich sich
Mein einsam Herz zur Ruh' begiebt; Doch muß ich lieben, ob auch mich Kein andrer liebt.
Das Laub wird gelb, der Winter kam, Der Liebe Blüt' und Frucht verdorrt,
Und nur der Wurm, der Krebs, der Gram,
Sind mein hinfort.
Nicht aber jetzt, nicht hier erdrückt, Erinnerungen, Herz und Hirn;
Nicht hier, wo Ruhm dem Helden schmückt
Sarg oder Stirn!
Banner und Schwert und Schlachtgefild Und Hellas schaun mir in's Gesicht — Der Sparter, tot auf seinem Schild,
War freier nicht.
Was ungesucht so mancher sand.
Ein kriegrisch Grab, das suche du! Schau denn in's Land, wähl' deinen Stand,
Und finde Ruh'!
Byron's allererster Gedanke war, wie sich von ihm erwarten
ließ, der Barbarei, mit welcher der Krieg geführt wurde, nach Kräften Einhalt zu chun.
Er schenkte einigen türkischen Offizieren
die Freiheit und sendete sie zu Jussuf Pascha mit
einem in
würdigen und schönen Ausdrücken abgefaßten Briefe, worin er ihn bittet, dafür auch wieder den griechischen Gefangenen Menschlich
keit zu beweisen, sei doch das Elmd des Krieges ohnehin furcht bar genug.
Hierauf wmdete er mit aller Kraft seine Aufmerk
samkeit der Aufgäbe zu, die er sich gestellt hatte, und hier zeigte sich nun klar sein praftischer Blick im Gegensatze zu den Träumereien seiner Umgebung.
Währmd die übrigen mglischen Komiteemitglieder in ihrer weltmtrücktm Schwärmerei für Ideen damit beginnen wolltm, durch
Gründung einer freien Presse, durch Journalartikel u. s. w. Griechen-
land zu civilisieren, war bei Byron der Carbonaro ganz dem
Politiker gewichen.
Mit Festigkeit und Kraft baute er überall nur
auf die wirklich vorliegendm Verhältnisse, zuvörderst auf den ge
meinsamen Türkmhaß der Griechm.
Er glaubte, daß mit diesem zu
rechnm ficherer wäre, als seine Rechnung auf ihre Liebe zu Freiheit und
Republik zu gründen.
Stanhope wollte Schulen gründen, Byron
forderte und verteilte Kanonen.
Stanhope suchte, durch Missionäre
protestantisches Christmtum einzuführen.
Byron, der einsah, daß
diese Thorheit die ganze griechische Geistlichkeit dem Aufstande mtftemdm würde, wollte nur Gewehre und Geld einführen. End
lich unterließ jetzt Byron jedm feindlichen Ausfall gegen die mropäischen Regierungen.
Er, der das klägliche Scheitem des
Carbonarismus an der organisierten Macht mit angesehm hatte, wollte vor allem dahin tonten, von Seiten der Großmächte die Anerkmnung Griechenlands zu erlangm.
Leider war seine Gesundheit seinen großen Plänen nicht ge wachsen.
Er unternahm in Missolunghi seine gewohnten Spazier
ritte um die Wälle der Stadt und ließ sich, um auf die Phantasie der Einwohner zu wirken, wenn er ausritt, von einer Leibwache von 50 Sulioten zu Fuß begleiten.
Sie waren so vorzügliche
Läufer, daß sie mit geschultertem Gewehr neben seinem Pferde ein
herliefen, selbst wenn er den schärfsten Trab ritt. Auf einem dieser
Ritte wurde er bis auf die Haut durchnäßt, wollte aber'dennoch nicht sofort nach Hause.
„Nähme ich solche Rücksichten," meinte er,
„so würde ich einen schlechten Soldaten abgeben."
Tags darauf
stellten sich heftige Krämpfe ein — drei Männer vermochten kaum ihn zu halten — wobei er so furchtbare Schmerzen litt, daß er
sagte: „Ich fürchte nicht dm Tod, aber diese Schmerzm kann ich
nicht ertragen."
Währmd des darauf folgmden ohnmachtähnlichen
Zustandes stürzte ein Tmpp aufrührerischer Sulioten in sein Gemach,
schwang die Säbel und verlangte Genugthuung für eine vermeint liche Zurücksetzung.
Byron richtete sich im Bette auf, und mit
einer gewaltigen Willmsanstrengung, um so ruhiger, je mehr sie
schrieen, beherrschte er sie durch Blick und Mienen und schickte sie fort.
Er hatte früher Moore geschrieben: „Sollte etwas wie Fieber,
Überanstrengung, Hunger oder dergleichen dem Leben Ihres Bmders in Apoll hier ein Ende machen, so dmkm Sie mein bei Wein
und Gesang.
Ich hoffe, daß die gute Sache siegen wird; eins
aber weiß ich, daß der Ehre Gebot von mir so streng eingehalten
werden wird, wie meine Milchdiät."
Dm 15. April mußte Byron
sich wieder zu Bette legen, und das Fieber verließ ihn nicht mehr. Der 18. April war der erste Osterfeiertag, dm die Griechen mit
Kanonmdonner und Gewehrsalvm auf dm Straßm zu feiern pflegtm. Aus Mcksicht auf ihrm Wohlchäter verhielt jedoch die Bevölkemng
sich ganz still. Lebens.
Der 19. April 1824 war der letzte Tag seines
Er lag im Delirium, glaubte zu kommandieren und rief:
Vorwärts, immer vorwärts, Mut! Als er wieder zu sich gekommen war, bat er seinen Kammerdiener seinen letzten Willen zu ver
nehmen.
Er sagte: Gehe zu meiner Schwester und sage ihr.....
gehe zu Lady Byron und sage ihr
; allein seine Stimme
versagte, und man hörte nur einzelne Namen: Augusta — Ada — „nun habe ich Dir alles gesagt," schloß er.
„Ach, Mylord,"
entgegnete der Diener, „ich habe kein Wort von dem verstanden,
was mir Enre Herrlichkeit gesagt haben." „Mich nicht verstanden?"
versetzte Byron mit einem trostlosen Blick, „welches Unglück! Jetzt
ist es zu spät!" — Nur «och ein paar abgerissene Worte hörte man aus seinem Munde: Armes Griechenland!
Meine armen Dimer!
Arme Stadt!
Dann wandten sich seine Gedanken der
Geliebtm zu, berat er sagte italienisch: Io lascio qualque cosa di caro nel mondo.
Endlich gegen Abmd sagte er: „Nun will
ich schlafm" — und er war nicht mehr.
Byron's Tod traf ganz Griechenland wie ein Donnerschlag. Das Volk stand diesem Verluste wie einem Naturereignisse, dessm
Folgen sich nicht berechnen ließen, gegenüber.
Noch desselbigen
Tages erschien das folgende Manifest:
Die provisorische Regierung von Westgriechenland. Das heutige Osterfest hat sich aus einem Freudmfeste in einen Tag des Leides und der Trauer verwandelt.
Lord Noel
Byron hat heute um 6 Uhr Nachmittags nach zehntägigem Krankm-
lager zu leben aufgehört
Ich verordne hiermit:
1. Morgen bei Tagesanbruch sollen von der großen Batterie
37 Kanonenschüsie abgegeben werden, eine Zahl, die dm Lebms-
jahrm des großm Totm entspricht. 2. Alle öffentlichen Gebäude, einschließlich der Rathäuser, bleiben drei Tage geschlossen. 3. Alle Verkaufslädm, mit Ausnahme der Apotheken, bleibm
gleichfalls geschlossm, und es ist strenge darauf zu achten, daß
keinerlei Art von Fröhlichkeit, womit sonst das Osterfest be gangen wird, kundgegebm werde. 4. Allgemeine Landestrauer für 21 Tage. 5. In allen Kirchen sind Trauergottesdienste abzuhalten.
Gegeben zu Missolunghi, den 19. April 1824. A. Maurocordato.
Es bedarf keines andern Zeugnisses des Eindruckes, welchen die Botschaft von dem Tode Byron's auf alle, die ihm nahe
standen, machte.
Die griechische Bevölkerung lief wehklagend durch
die Straßen unter dem Rufe: Er ist tot, der große Mann ist tot! — Die Leiche wurde nach England gebracht, und die Geist lichkeit
verweigerte
Westminsterabtei.
ihr einen Platz in dem Dichterwinkel
der
Aber „hocherhaben über Englands Tadel und
Griechenlands Lob" schritt sein Andenken über die Erde dahin. In Rußlands und Polms, Spaniens und Italiens, Frank
reichs und Deutschlands Geistesleben setzten die Keime, die er mit ver
schwenderischer Hand ausgestreut hatte, Frucht an. Der Same ward zu Blumm, die Drachenzähne wurdm zu streitbaren Männern.
Die
slawischen Nationen, die unter einer brutalen Tyrannei senkten, beiten von Natur der Hang zur Schwermut eigen war, und bei
welchen die Geschichte aufrührerische Instinkte großgezogen hatte, eigneten sich Byron's Poesie leidenschaftlich an, und Puschkin's „Onegin", Lermontow's „Der Held unserer Zeit", Malczewski's
„Marya", Mickiewicz's „Konrad Wallenrod", Slowacki's „Lambro" und „Beniowski" zeigen, wie tief ihre Dichter sich ergriffen
fühlten. In den romanischen Ländern, beten schönes Klima und süße
Sündm er besungen hatte, und die sich eben jetzt zum Aufstande erhoben, wurdm seine Werke übersetzt und eifrig studiert.
Die
emigrierten spanischen und italienischen Dichter nahmm feinen Feld ruf auf, in Spanim selbst bildete sich die Myrtengesellschaft, in
Italien stand vor allem Giovanni Berchet unter dem Einflüsse
Byron's, und bei Leopard! und Giusti ist derselbe kaum weniger fühlbar.
Am bedeutendsten jedoch war der spontane Eindruck des Todes Byron's in Frankreich.
Nur wenige Wochen lagen zwischen dieser
Begebenheit und dem Übertritt Chateaubriand's zur Opposition,
und dessen erste That nach seinem Sturze war, dem griechischen Komitee als Mitglied beizutreten. Hugo's Les Orientales bedeuteten
keine Flucht ins Morgenland, wie sie die deutschen Dichter liebten; Hugo nahm den Weg über Griechenland und verweilte lange bei
den Helden des Freiheitskrieges.
Delavigne besang Byron in einem
schönen Gedichte, Lamartine fügte Childe Harold noch einen Ge sang hinzu, Mirimee ließ sich von dem Geiste wilder Urwüchsig keit in Byron's Dichtungen stimmen, Alfred de Müsset versuchte
das Erbe des großen Dichters anzutreten, und selbst Lammenais führte alsbald eine Sprache, in der so manches Wort und manche
Wendung an den Ton von Byron's Ausfällen gemahnte. Deutschland war politisch noch zu weit zurück, um Verbannte
und Ausgewanderte unter seinen Dichtergeistern zu zählm; allein mit stiller philologischer Begeisterung hatten seine Gelehrten in der
Erhebung Griechenlands die Wiederauferstehung des antiken Hellas erblickt; Dichter wie Wilhelm Müller und Alsted Meißner schrieben
schöne Gedichte zu Ehrens Byron's, und innerhalb der Grenzen
des Landes gab es hier in der Litteratur Geister,
die fich mit
Fug und Recht exiliert und geächtet fühlten, und bei denen Byron's
Poesie um so zündender wirkte: die Schriftsteller jüdischer Ab
kunft, besonders Börne und Heine.
Heine's beste Poesie, vor
allem „Deutschland ein Wintermärchen," setzt Byron's Lebenswerk
fort.
Die Romantik
in Frankreich
und der Liberalismus in
Deutschland stammen beide in gerader Linie vom Naturalismus
in Byron's Dichtung ab.
Der Naturalismus in dem Geistesleben Englands beginnt hei
Wordsworth als ländliche Liebe zur äußeren Natur, als Aufsparung
Byron.
Kulmination de« Naturalismus.
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von Natureindrücken und als Pietät gegen das Tier, das Kind, den Bauern und die Herzenseinfältigen.
Er verirrt sich bei ihm
vorübergehend in eine Sackgasse, die der platten Naturnachahmung.
Er nähert sich bei Coleridge und noch mehr bei Southey der gleich
zeitigen deutschen Romantik, folgt dieser in die Welt der Legende und des Aberglaubens, hält sich aber durch seine naturalistische
Behandlung des romantischen Stoffes, durch seinen offenen Sinn
für Land und Meer und alle Elemente der Wirklichkeit von ihrm schlimmsten Ausschreitungen frei.
Der Naturalismus wird völker
psychologisch und historisch bei Scott und schildert mit lebhaften
Farben den Menschen als Kind einer Rasse und eines Zeitalters;
er erobert bei Keats die ganze Sinnenwelt und einen Augenblick
neutral zwischen
hält sich hier
dem Ruhen in der Natur
betrachtung und dem Predigen eines Naturevangeliums und natür licher Rechte.
Er wird erotisch und liberal-politisch bei Moore,
den der Anblick der Leiden seiner Heimatinsel hinüber in das Lager der freisinnigen Ideen treibt.
Er gestaltet sich bei Camp
bell zum Lobgesang auf England als der Königin des Meeres und zum Ausdruck für britischen Freisinn.
Er tritt bei Landor
als heidnischer Humanismus auf, doch zu abschreckend und stolz,
um Europa für sich einnehmen zu können.
Er verwandelt sich
bei Shelley zu einer pantheistischen Naturschwärmerei und einem poetischen Radikalismus, der über die erlesensten dichterischen Mittel gebietet; allein sein unkörperliches, kosmisches Gepräge im Verein
mit dem allzu großen Borsprung des Dichters vor seiner Zeit und sein früher Tod bewirken, daß der Gesang ungehört verhallt, ohne
daß Europa ahnt, welchen Dichter es in ihm besitzt und verliert.
Doch wie Achilleus sich erhebt, nachdem er des Patroklos Leiche verbrannt hat, mit so gewaltiger Kraft erhebt jetzt nach Shelley's Tode Byron seine Stimme.
Die europäische Poesie floß
wie ein stiller, träger Strom dahin, und wer an dessen Ufern
wandelte, fand wenig, worauf sein Auge hätte ruhen mögen.
Da
entstand im fortgesetzten Laufe des Stromes jene Poesie, welcher
so oft der Boden unter den Füßen wich, daß sie in Kaskaden sich von Fall zu Fall stürzte — und alle betrachten einen Fluß
an der Stelle, wo seine Wogen einen Wasserfall bilden.
Hier
bei Byron sah man die Flut schäumen und kochen, hörte sie melodisch rauschen und jauchzend ihren Hochgesang gm Himmel
senden.
Hier empörten sich die Wasser — schauerlich schön —
vom weißen Schaum der Wut bedeckt, drehten sich in Wirbeln, zersplitterten sich selbst und alles, was ihnen im Wege stand, ja höhltm allmählich selbst Felsen aus.
Und inmitten des Wasser
falles wölbte sich, wie Byron in Harolds Pilgerfahrt es geschildert,
eine herrliche Iris, ein prachtvoll strahlender Regmbogrn, das
Zeichen der Harmonie, des Friedens und des Freiheitsglückes, vielen unbemerkbar, doch jedem sichtbar, welcher die Soime über sich hat und sich richtig stellt.
Er kündigte Europa bessere Tage an.