Die Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts in ihren Hauptströmungen: Band 4 Der Naturalismus in England [Reprint 2020 ed.] 9783112364000, 9783112363997


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Die Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts in ihren Hauptströmungen: Band 4 Der Naturalismus in England [Reprint 2020 ed.]
 9783112364000, 9783112363997

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Die Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts. Vierter Sand.

Die Litteratur des neunzehnten Jahrhunderts in

ihren Kauptströmungen dargestellt

Georg Grandes. Vierter Band.

Der Naturalismus in England.

Leipzig, Verlag von Veit & Comp. 1900.

Das Recht der Herausgabe von Übersetzungen Vorbehalten.

Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.

Inhalt. Einleitung.............................................................................................................. 3 Gemeinsame Züge des Zeitalters...................................................................... 5 Gemeinsame Züge des Bolkscharakters................................................................. 11 Der politische Hintergrund........................................................................................ 22 Ankündigung des Naturalisinus.............................................................................43 Die Tiefe und Wahrheit des Naturalismus............................................................50 Landleben und Schilderungen vom Lande............................................................ 65 Naturalistische Romantik.............................................................................................. 90 Der Freiheitsbegriff der Seeschule...........................................................................106 Die orientalische Romantik der Seeschule......................................................... 112 Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus........................................ 126 Allseitiger Sensualismus............................................................................................ 158 Irische Oppositionspoesie............................................................................................ 182 Erotische Lyrik............................................................................................................. 222 Britischer Freisinn....................................................................................................... 230 Republikanischer Humanismus'................................................................................ 236 Radikaler Naturalismus . . . '.....................................................................251 Byron. Die individuelle Leidenschaftlichkeit................................................... 300 Die individuelle Leidenschaftlichkeit.......................................................................... 319 Die Vertiefung des Ichs in sich selbst............................................................... 349 Der revolutionäre Geist............................................................................................ 359 Komischer und tragischer Realismus.................................................................... 381 Kulmination des Naturalismus ............. 408

Der Naturalismus in England.

Braides, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

1

I am as a spirit who has dwelt Witlün his heart of hearts; and I have feit. His feelings, and liavc thought his tboughts, and known The inmost converse of his soul, tlie tone Unheard but in the silence of his blood Wlien all the pulses in their multitudc Image the trembling calm of summet seas I have unlocked the golden melodies Of his deep soul as with a master-key And looseucd thoni, and bathed mysolf thercin. Shelley: Fragment L.

Es ist meine Absicht, in der englischen Poesie der ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts jene starte, tiefbegründete und folgenreiche Strömung in dem englischen Geistesleben zu ver­ folgen, die, von den klassischen Formen und Gepflogenheiten be­ einen

freit,

die

hervorruft,

vom

Empörung

gegen

beherrschenden Naturalismus

ganze Litteratur

Naturalismus die

zum

Radikalismus,

von

der

überkommene litterarische Konvenienz zu

mächtiger Revolte gegen religiöse und politische Reaktion führt

und die Keime all der freiheitlichen Ideen, all der befreienden Thaten

in

sich

trägt,

welche

die

europäische

Kultur

seither

gezeitigt hat. Die Periode der schönen Litteratur, welche ich schildern will, ist eine Zeit hoher Blüte mit höchst verschiedenartigen, bald ein»

1*

4

Einleitung.

ander fremden, bald einander feindlichen Geistern und Schulen,

deren wechselseitiger Zusammenhang sich nicht unmittelbar aufdrängt, sondern erst dem kritischen Blicke wahrnehmbar wird.

Dennoch hat diese Periode ihre Einheit, und das Bild, das sie darbietet, ist von der Geschichte selbst unauflösbar komponiert, so bunt und

bewegt es auch ist.

I.

Zuvörderst weist diese Gruppe der englischen Litteratur gewisse Charaktermerkmale auf, welche der ganzen europäischen Geistes­

richtung des Zeitalters gemeinsam sind, weil sie von der näm­

Napoleon bedrohte Europa mit

lichen Ursache erzeugt werden.

einer Weltherrschaft.

Teils

instinftiv,

teils

mit

vollem

Be­

wußtsein kehrten alle die gefährdeten Volksgeister, um der Ver­

gewaltigung zu entgehen, zu ihren eigenen Lebensquellen zurück.

Das Nationalitätsgefühl erwacht und wird in Deutschland während der Freiheitskriege immer lebendiger; in Rußland lodert es mit der

alten Hauptstadt des Landes auf; in England begeistert es sich für

einen Wellington

und Nelson

und behauptet in blutigen

Schlachten vom Nil bis Waterloo die alte englische Herrschaft über das Meer; in Dänemark erweckt der Donner der Kanonen in der Schlacht auf der Rhede einen neuen Volksgeist und eine neue Poesie.

Es ist das Nationalitätsgefühl, das allenthalben die Völker dazu führt, sich in die eigene Geschichte und Sitten, in ihre Sagen-

und Märchenkreise zu vertiefen. führt zu dem Studium und

sogenannten

„Volkes",

der

Die Liebe zu dem Volkstum

der Darstellung

unteren

des

Volksschichten,

eigentlichen

ein

Feld,

das von der Poesie des achtzehnten Jahrhunderts noch nicht be­ arbeitet worden war.

Ja, die Reattion gegen eine Weltsprache

bringt sogar die Dialekte zu Ehren. In Deutschland führte, wie wir früher gesehen habens die 1 Siehe die romantische Schule in Deutschland S. 358.

Nationalitätsschwärmerei zum Enthusiasmus für die Vergangenheit Deutschlands, das Mittelalter, seinen Glauben, seinen Aberglauben

und seine Gesellschaftsordnung. In Italien findet mit den Hymnen Manzoni's eine scheinbare Rückkehr zum Katholizismus statt. dogmatische und asketische Religion macht sich

und Moral

geltend;

künstlerischen Mottve.

Die

hier als Poesie

einem Glauben wird sie zu einem

aus

Manzoni's religiöse Begeisterung ist die­

selbe Schwärmerei, welche den Papst nach Rom zurückführte und

Kaiser Alexander die Idee der heiligen Allianz eingab. reich,

das

Napoleon

großgezogen

hatte,

betrat,

Frank­

vom Zeit­

geiste gezwungen, eine ähnliche Bahn wie Deutschland; die littera­ rische Bewegung kehrte sich hier gegen die Akademie, gegen die so­

genannte klassische, d. h. abstrakt weltbürgerliche Litteratur, und man griff, Ludwig XIV. Zeitalter überspringend, auf die Dichter

des sechzehnten Jahrhunderts, auf Du Bellay und Ronsard, ja auf jene armen grotesken Poeten, die Boileau verhöhnt und ver­ drängt hatte, zurück.

litterarhistorische tesques.“)

(V. Hugo's Polemik, Sainte-Beuve's erste

Schriften,

Theophile

Gautter's

„Les

gro-

In Dänemark folgten die Geister zu Anfang des

Jahrhunderts in der Hauptsache der deutschen Sttömung. kehrte sich wider die französische Kultur.

Man

Öhlenschlägers Gedicht

„Die Büste" in der „Reise nach Langeland" deutet den Charakter

der neuen Bewegung an.

Der Dichter hält anfangs die Büste,

die er in dem fremden Gemach findet, für diejenige Voltaire's, und

nun folgen die Verse: Wir zwei sind nicht von gleicher Schule. Die Stube muß der eine räumen.

Da entdeckt er, daß er vor der Büste Johannes Ewald's steht, und macht seiner begeisterten Dankbarkeit gegen den Dichter Luft. Eine sorgsame Analyse der „Hamadryade" Hauch's führt zu dem

nämlichen Resultate; eS war die französische Geistesrichtung, ins-

besondere, wie sich sie durch deutsche Brillen gesehen ausnahm, welcher die neue Schule zu Leibe wollte.

Steffens brachte überdies die

deutsche Kulturströmung mit nach Dänemark herüber. Allein in dem zweiten, nicht minder bedeutungsvollen Stadium der Bewegung kehrt diese, statt wie bisher gegen Frankreich allein, sich polemisch gegen das

Fremde überhaupt, zumal gegen Deutschland, welches in Dänemark so lange die Rolle des Unterdrückers gespielt hatte, und vermöge

einer eigentümlichen und doch natürlichen Konsequenz

trägt eben

jenes Zurückstreben zum Volkstümlichen, dem man sich nach dem Beispiele Deutschlands hingegeben, immer mehr zur Entfremdung

(Die Hinneigung zum Altnordischen durch

von Deutschland bei.

Grundtvig.)

Man findet in England dieselben Grundzüge wieder, welche die Bewegung in allen anderen Ländern kennzeichnen. Man schüttelte

die

französische Bildung,

im achtzehnten Jahrhundert die

die

höheren Gesellschaftsschichten

beherrscht

hatte,

Der

ab.

letzte

Dichter der klassischen Richtung, Pope, sollte dem jungen Geschlechte

bald nicht mehr als Meister gelten. Perücke

des

Man zerzauste die zierliche

kleinen Mannes und trat in die wohlgeordneten

Beete seines Gartens.

Und nun zeigte es sich so recht, welch

mächtigen Rückhalt der britische Volksgeist in den frischeren, von der Kultur nicht erschöpften Königreichen besaß, die abseits von Irland, das im

dem Mittelpunkte des politischen Lebens lagen.

achtzehnten Jahrhundert einen Denker wie Swift und einen Schrift

steller wie Goldsmith hervorgebracht hatte, verfügte über einen Schatz von herrlichen Melodien, die, sobald ein großer lyrischer

Dichter

Worte

ihnen

Europa schallten.

sie

lieh,

von

allen

singenden

Lippen

in

Die Walliser sammelten ihre alten Dichtungen Schottland,

dessen, untere

Volksschichten noch nicht in die gedrückte Lage

des englischen

und

gaben

Fabrikarbeiters Vergangenheit

heraus,

geraten und

und

waren,

in

und

wo

das

auf

seine

sein Heimatland so stolze Volk an seinen

Gemeinsame lügt de« Zeitalter«.

8

Volksliedern, seinem Aberglauben und seinem politischen Sonder­

geist festhielt, tauchte am Schlüsse des achtzehnten Jahrhunderts Macpherson's Ossian als ein Protest gegen alle verstandeskalte, regelrechte Kunstdichtung - auf.

Der Einfluß desselben war ein

gleich mächtiger auf Alfieri und Foscolo in Italien, wie auf Herder und Goethe in Deutschland und Chateaubriand in Frank­

Nun folgte

reich.

in England Percy's Sammlung der eng­

lischen Volkslieder, in Schottland Walter Scott's Sammlung alter

schottischer Balladen. Zwischen diesen beiden aber liegt eine jener hin und her

litterarischen

flutenden

Hauptaugenmerk

tritt.

bildet,

Strömungen, und

welche

die

zu

verfolgen auffällig

hier

unser hervor­

In Göttingen lebte zur Zeit des Erscheinens von Percy's

Sammlung

in

drückenden

Verhältnisien,

in

einer

trostlosen,

demoralisierenden Doppelehe mit zwei Schwestern, ein armer Ge­ richtsbeamter, in dessen Haus jenes Buch eines Tages hinein­

geschneit kam. Es macht einen derartigen Eindruck auf Bürger, daß

sein Gemüt in hellen Aufruhr versetzt wird, und ihn die Lust packt, etwas zu schreibens das lange aus aller guten Kunstdichtung ver­

bannt gewesen, das er jedoch Baggesen (f. dessen „Labyrinth") gegen­

über als die eigentliche Poesie bezeichnete: eine Ballade. So geht

er denn an seine berühmte „Leonore", sie durch Wochen lang­

sam ausarbeitend; er ist von der Bedeutung des Schrittes, den er unternimmt, so tief durchdrungen, daß die Briefe an seine Freunde von stolzestem Selbstbewußtsein überströmen.

Diese Ballade er­

scheint und macht bald die Runde durch ganz Europa.

Im Jahre

1795 macht eine junge Dame in Edingburgh einen andere Ge­

richtsbeamten damit bekannt, und dieser junge Jurist, Walter Scott mit Namen, in dem gleichfalls ein Dichter, und zwar ein weit größerer steckte, trat zum ersten Male in poetischer Form mit einer Übersetzung der Leonore, wie auch einer zweiten Ballade vom „Wilden

Jäger"

auf.

Da die Übersetzungen mit Beifall ausgenommen

Gemeinsame Züge des Zeitalters. wurden, begann er, sich für einen Dichter zu halten. Grundlage dieser Übersetzungen und der des

lichingen",

Auf der

„Götz von Ber-

die Scott 1799 herausgab, erhob sich die national­

schottische Romantik seiner Poesien.

Diese Litteratur durchweht also ursprünglich ein Hauch der

gemeinsamen europäischen Reaktion gegen das achtzehnte Jahrhundert. Wir finden das lebendige Nationalgefühl, welches die Weltbürger­ stimmung ablöst, in England bei Wordsworth in Gestalt eines

poetisch beschreibenden Patriotismus, bei Southey als ganz- und halboffizielle Verherrlichung

des

Königshauses und der natio­

nalen Großthaten, bei dem in Schottland gebürtigen Campbell in

stürmischen Freiheits-

und Kriegsliedern,

während Scott

und

Moore als förmliche dichterische Personifizierungen Schottlands und Irlands erscheinen.

Das allgemeine Zurückstreben zum Volkstümlichen wird zu­

vörderst und vor allem durch Wordsworth, der vorzugsweise das

Leben der unteren und untersten Klassen schildert, repräsentiert, die Vorliebe für das Mittelalter in erster Linie durch Scott, der

das Interesse des Antiquars für die Denkmale der Vergangenheit mit dem Hange des Torypolitikers verbindet, das Ererbte in der anziehendsten Beleuchtung darzustellen.

Die eigentliche Romantik

des Aberglaubens findet ihren Dichter in Coleridge, dessen ab­ sichtliche Naivetät

und Schlichtheit zu der Tieckschen in naher

Verwandtschaft steht, wie es denn auch Coleridge ist, der als Ver­ treter der damaligen deutschen Philosophie einen abstrakt wissenschaft­

lichen Protest gegen das Aufklärungszeitalter erhebt.

Seine Lehre

ist ganz unenglisch, rein apriorisch, im Gegensatze zu dem empi­

rischen Charakter der englischen Wissenschaft; sie ist konservativ,

religiös und historisch, weil die frühere Philosophie radikal, un­

gläubig

und

metaphysisch

war;

es ist ein Schellingianismus,

der ursprünglich so viel als möglich von

den Resultaten des

vorigen Jahrhunderts zu bewahren sucht, doch immer hartnäckiger

und bornierter von demjenigen Extrem, woran der vorige Zeit­ abschnitt gescheitert war, zu einem anderen, ihm entgegengesetzten, eilt.

Als Repräsentant

der

wirr phantastischen Richtung der

Romantik erscheint Southey mit feinen morgenländischen Epopöen,

und was endlich die zerrissenen, leidenschaftlichen Helden Chateaubriand's und der Romantik betrifft, so treten sie in wilderer und

männlicherer Gestalt bei Byron auf, während Shelley's Geister­

glaube und seine Auflösung aller festen Formen in ätherische Musik an die Innigkeit und Unbestimmtheit von Novalis gemahnt.

II. Allein diese gemeinsamen, breitesten Grundzüge des Zeit­ alters werden sichtlich durch eine Reihe besonderer englischer Züge modifiziert, die, ohne anderwärts vorzukommen, sich bei den im

übrigen einander unähnlichsten Geistern, welche diese Periode der

englischen Litteratur aufzuweisen hat, wiederfinden. Diese Züge lassen sich sämtlich auf einen Grundzug zurück­ führen: den kräftigen Naturalismus.

Wie wir sahen, besteht

die erste Bewegung darin, daß die Schriftsteller national werden.

Allein national werden, hieß in England so viel wie Naturalist werden, wie es in Deutschland Romantiker, in Dänemark alt­ nordisch werden bedeutete.

samt die Natur.

Sie studieren, verehren, anbeten alle­

Wordsworth, der seine Passionen als Ideen zur

Schau zu tragen liebt, fiaggt förmlich mit dem Worte Natur und

stellt in großartigen Bildern, doch mit kleinlicher Sorgfalt, Nord­

englands Berge, Seen und Flüsse, Bauern und Leute aus dem Volke

dar.

Scott's Naturschilderungen sind auf Grund zahlreicher, an

Ort und Stelle gemachter Aufzeichnungen ausgeführt und so treu,

daß ein Botaniker die Pflanzenwelt der Gegend durch sie kennen lernen könnte.

Keats ist, bei all seiner Schwärmerei für die Antike

und die griechische Mythologie, ein mit den schärfsten Sinnen und der feinsten allseitigen Sinnlichkeit ausgestatteter Sensualist, der alles sieht, hört, fühlt, schmeckt und einatmet, was die Natur an

Abarten von Farbenpracht und Vogelsang und Seidenweichheit

und Traubensast und Blumenduft nur birgt.

Moore ist lauter

12

Gemeinsame Züge des Volkscharakiers.

vergeistigte Sinnlichkeit. Der verwöhnte und verwöhnende Dichter scheint von all den schönsten, erlesensten Eigentümlichkeiten der

Natur umringt zu leben. Er blendet unsern Geist mit Sonnenglanz,

lullt ihn mit Nachtigallenmelodien ein, ertränkt ihn mit Süßigkeit. Wir leben mit ihm in einer steten Phantasmagorie von Fittigen, Blüten, Regenbogen, von holdem Lächeln, Erröten, Erglühen, von

Thränen, Küssen und wieder Küssen. eigentliche

Naturalismus, das ist die

Grundtendenz von Werken

und Shelley's „The Cenci“.

wie Byron's Don Juan

Mit anderen Worten,

auf eng­

lischem Boden ist der Naturalismus so stark, daß er Coleridge's

romantischen Hang zum Übernatürlichen nicht weniger durchdringt, als den Offenbarungsglauben eines Wordsworth, den atheistischen

Geisterglauben Shelley's, den revolutionären Freisinn Byron's und

das historische Interesse Scott's.

Bei allen Dichtern beherrscht

er ihren persönlichen Glauben und ihre poetische Richtung.

Dieser Üppigsaite, kräftige Wirklichkeitssinn beruht auf ver­

schiedenen, tief wurzelnden englischen Eigenschaften. der Liebe zum Lande und zur See.

Erstens auf

Fast alle in diesem Zeitraume

auftretenden Dichter sind entweder Landbewohner oder Seeleute. Die englische Muse war von altersher eine Freundin von Herrensitzen

und Pachthöfen.

Wordsworth's echt englische Poesie entspricht

genau den weltbekannten Bildern und Stichen, die das englische Landleben mit einem Ausdruck von Gesundheit und ruhigem Gleich­

gewicht schildern,

hie und da auch die Szene mit einem evan­

gelischen Hauch umgeben, wenn das väterliche Walten des Dorf­ geistlichen oder der erbauliche Charakter der häuslichen Andacht dargestellt wird.

Burns, der Sänger hinter dem Pfluge, Schott­

lands größter Dichtergenius, weihte die schottische Dichtung frühe dem Landleben, und es liegt Wahrheit in dem beißenden Worte

Emerson's,

daß

Scott in

allen seinen Epopöen nur

reimtes Reisehandbuch über Schottland schrieb.

ein ge­

Daß schon die

Zeitgenossen diesen Eindruck empfingen, läßt sich aus Moore's saty-

Gemeinsame Züge des Volkscharakter«.

13

rischem Scherze, wie Scott in seinen Gedichten den einen Herren­ sitz nach dem andern „abthue", ersehen?

Und welche Rolle spielen

nicht diese Herrensitze in der Existenz zweier einander so polar ent­

gegengesetzter Dichternaturen, wie die Byron's und Scott's.

Der

Name Newstead wird untrennbar mit dem Byron's, wie der von

Abbotsford mit jenem Walter Scott's verbunden sein.

Die alte Abtei

mit

ihrer

mittelalterlichen,

phantastischen

Architektur ist Byron die notwendige Folie für seinen Pairstitel

und das Unterpfand seines Heimatsrechtes in England.

Er ver­

äußert sie erst, nachdem er seinem Vaterlande für immer Lebe­ wohl gesagt.

Das Gut Walter Scott's ist zwar nicht so alt und

ehrwürdig; doch er kauft sich Abbotsford, als der Wunsch nach Landbesitz, der sich stets mächtig in ihm geregt hatte, unwider­

stehlich wird, und in dem glücklichen Abschnitte seines Lebens, den

er hier verbringt, richtet er sich derart ein, als wäre ihm von der Wiege an nichts anderes vorgesungen worden, als die könig­

liche Gastlichkeit eines alten schottischen Landedelmannes zu üben, und dessen kühnes Leben in der freien Natur zu führen.

Seine größte

Lust ist das halsbrecherische Vergnügen, durch reißende Ströme zu

waten, selbst wenn er fünfzig Schritte weiter über eine Brücke hätte gehen können, oder ein so WildesPferd zu reiten, daß niemand es zu

tummeln vermag als er, oder bei Fackelschein mit dem Speer Jagd

1 Should you feel any touch of poetical glow We ’we a Scheine to suggest — Mr. Scott, yon must know Having quitted the Borders, to seek new renown Is coming, by long Quarto stages to Town; And beginning with Rokeby (the job’s eure to pay) Means to do all the Gentlemen's Seats on the way. Now the Scheine is (though none of our hackneys can beat him) To start a fresh Poet through Highgate to meet him; Who, by means of quick proofs — no revises — long coaches May do a few Villas, before Scott approaches.

Moore: Intercepted letters, Brief 7.

auf Lachse zu machen, bald vom Regen durchnäßt, bald erstarrt vom Nachtfrost.

Wer, der Byron's Leben kennt, erinnerte sich

nicht an seine Borliebe für wilde Ritte und waghalsige Schwimm­ versuche! Nichtsdestoweniger

herrscht

in

dem Verhältnis der beiden

Dichter zu ihrem Grundbesitz ein Gegensatz, der die Verschiedenheit ihrer Natur kennzeichnet.

Byron's Liebe zu Newstead hatte ihren

Grund in seinen aristokrattschen Neigungen, die Scott's für Abbots­

ford in seinen historischen Jnstintten. Wie Walter Scott's Herrensitz beit Ettrickwald zum Hintergründe hatte, so bei Byron Newstead den

durch Robin Hood und seine lustigen Gesellen berühmten Sherwood­ wald. Gleichwohl haben diese Erinnerungen keinen irgendwie merk­

lichen Einfluß auf Byron's Poesie geübt, so vorttefflich er auch jene Abtei im 13. Gesang des „Don Juan" schildert.

Die Erinne­

rungen an den Ettrickwald hingegen durchziehen gleich einem Kehr­ reim die ganze Dichtung Scott's, ja er ist es, und nicht Byron,

der (in Jvanhoes Leben und Poesie des Sherwoodwaldes von den

Toten auferstehen läßt.

Eine weitere englische Vorbedingung des Naturalismus ist die Liebe der Dichter zu den höheren Tieren, wie ihr stetes Verhält­

nis zur Tierwelt.

Sie besaßen jene Zuneigung zu den Haus­

tieren, die eine Folge des englischen Sinns für die Heimstätte ist.

mit.

Sie schleppen die Heimstatt und die Tiere auf ihren Reisen

Beinahe alle diese Schriftsteller sind Sportsmen, vor allem

leidenschaftliche Reiter.

Man muß diesen Zug beachten, um nicht,

wie nur allzu oft geschieht, eine persönliche Bizarrerie in Zügen zu erblicken, welche rein volkspsychologische Bestimmungen sind.

Nicht umsonst stammt diese Raffe von zwei mythischen Helden mit den Pferdenamen Hengist und Horsa ab.

Wir finden auch Byron's

Liebe zu Pferden, Hunden und allerlei wilden Tieren, die so oft

als eine bezeichnende Eigentümlichkeit des menschenscheuen Verbann­

ten hervorgehoben wird, in eben dem Maße bei dem in blühendem

häuslichem Glücke lebenden Walter Scott ausgeprägt.

Mathew's

bekannter Brief über das Leben auf Newstead zeigt uns Byron

als Jüngling von einer Menagerie umgeben, darunter ein Bär und

ein

Wolf,

Medwin's

Mitteilungen

über

sein Leben

in

Italien schildern uns seinen Aufbruch von Ravenna im Jahre 1821

„mit 7 Dienern, 5 Wagen, 9 Pferden, einem Affen, einer Bull­ dogge, einer Dogge, 2 Katzen, 3 Perlhühnern und andern Vögeln."

So etwas kann als eine rein persönliche Eigenheit erscheinen.

Doch

man lese vergleichshalber nur die in Walter Scott's Biographie

vorkommende

Beschreibung

seines

Umzugs

nach

Abbotsford.

Der ganze Unterschied besteht darin, daß die Trödelbude des Sammlers sich hier drollig mit der Menagerie vermischt:

„Der

Zug glich einer Karawane, die Wagen waren mit alten Schwer­

tern, Bogen, Schilden und Lanzen angefüllt, die Hühner hatte man in alten Helmen einquartiert, und selbst die Kühe mußten in dieser Prozession alte Fahnen, Standarten und Musketen tragen.

Neben

dem Zuge

lief ein Dutzend Bauernkinder einher,

mit

Fischergeräten, Netzen, Lachsspießen beladen und alle möglichen

Spielarten von Hunden an der Leine führend." — Man findet

ein Zeichen der Melancholie des schwermütigen Byron in seiner Liebe zu dem Hunde Boatswain, und der feierlichen Inschrift, die er auf das Grab seines Lieblingshundes setzen ließ.

Um

diesen Zug zu verstehen, muß man bedenken, daß der lebens­ lustige Scott, als sein Lieblingshund Camp starb, ihn feierlich in

seinem Garten beisetzen ließ, wobei die ganze Familie das Grab umstand und weinte.

Doch noch charakteristischer als die Liebe zum Grundbesitz, zu Pferdm und Hunden, als die Denkmale, die sie in der englischen Poesie sich setzt, ist die Leidenschaft des Engländers für das Meer.

Der Engländer ist ein Amphibium.

Eine bedeutende Gruppe der

Natnrschilderung dieser ganzen Periode bildet die Marinemalerei. Es war eine alte, zu jener Zeit sich neuerdings glorreich bewährende

Überlieferung, daß England die Königin des Meeres sei; die eng­

lische Dichtung war und blieb der vorzüglichste Schilderer und

Dolmetsch der See.

Ein Hauch der Frische und Freiheit des

Meeres durchweht die beste Poesie dieses Landes.

Das Meer selbst

erschien seinen Dichtern als das große Freiheitssymbol, gleichwie

zu allen Zeiten den freien Bewohnern der Schweiz die Alpen als solches gegolten.

Mit Recht tust Wordsworth (Sonnets dedicated

to Liberty I, 12) aus:

Two voices are there; one is of the Sea, One of the Mountains; each a migthy Voice: In both from age to age Thou didst rejoice, They were thy chosen Music, Liberty! Deshalb taucht auch in diesem Zeitabschnitt bei den vor­

züglichsten Dichtern des Landes, in denen die englische Poesie dieses Jahrhunderts kulminiert zu haben scheint, der längst be­

grabene Geist der Wikingerzeit aufs neue auf.

Coleridge's Ge­

dicht „Der alte Seemann" erschöpft den Schrecken und allen Graus

des Meeres, Campbell's Ode „The mariners of England“ ist eine hinreißend melodiöse und mannhafte Verherrlichung des Helden­ mutes und des Herrschergefühls englischer Seeleute, Byron's Wi­ kingerfahrten spiegeln sich direkt in Childe Harold und Don Juan ab,

Shelley's

lebt und

atmet

seiner Gesänge,

Leidenschaft

für

die

See

in dem Wellenschläge

und

seiner

das

Seefahren

Rhythmen,

wie

die Wind und Wellen verherrlichen, vor allem

in seinem Meisterwerke, in der „Ode an den Westwind." Auf das soziale Gebiet übertragen, wird der Naturalismus, wie

schon bei Rousseau, revolutionär, und

hinter jener Liebe zum

ländlichen Grundbesitz und dieser Lust, sich den Launen des Meeres

auszusetzen und es zu beherrschen, den tiefliegenden Ursachen des Naturalismus,

liegt beim Engländer das noch tiefere nationale

Selbständigkeitsgefühl, das unter den bestimmten historischen Ver­ hältnissen dieses Zeitabschnittes die besten Geister so naturgemäß zum

Gemeinsame Züge des Volkscharakter«. Radikalismus führen mußte.

17

Keine Nation ist in solchem Grade

diesem Selbstgefühl durchdrungen.

wie die englische von

Man

beobachtet dies am besten, wenn der Engländer im Auslande

unter Fremden auftritt:

Der Titel Engländer klingt „wie eine

Diese Selbständigkeit geht auf die englische Litte­

Fanfare". ratur über,

deren Kunst sie im entscheidenden Augenblicke zur

Charakterkunst macht;

sie ist es auch, die

in dem Zeitraume,

den wir

vor Augen haben, den Ausschlag giebt und den Um­

schwung

in

der

litterarischen

Bewegung

Europas herbeiführt.

Es bedurfte eines Engländers wie Byron, um den Strom zu

stauen, der aus der heiligen Allianz sich ergoß — eines Eng­

länders, weil erstens nur ein englischer Dichter das Temperament hierzu besaß, und zweitens weil zur damaligen Zeit nur Englands

Dichter jenen ausgeprägten politischen Hang, jenen scharfen poli­ tischen Sinn

besaßen, der diese erste, ja vielleicht einzige par­

lamentarische Nation stets auszeichnete.

Es bedurfte ferner eines

Engländers, um mit solch wilder Energie dem eigenen Volke den

Handschuh hinzuwerfen. Nur in dem nationalstolzesten Volke konnte es große Geister geben, die stolz genug waren, der Nation zu trotzen.

Diese persönliche Selbständigkeit der hervorragenden Dichter­ geister des Volkes wird von einer echt englischen Eigentümlichkeit

bedingt.

Die Dichter haben so gut wie keine Theorie, selten

eine ästhetische, niemals eine philosophische.

Während z. B. die

Deutschen Lessing, Goethe und Schiller sich samt und sonders die bedeutendsten Verdienste um die Wissenschaft erwerben, ist unter den

englischen Dichtern kein einziger Mann der Wissenschaft zu finden. Ja, was das merkwürdigste ist, diese Schriftsteller beraten sich nicht

einmal mit einander.

Goethe und Schiller korrespondieren in das

Unendliche über die Natur der verschiedenen Stoffe und ihre richtige

Behandlung, ja erörtern oft recht weitschweifig die Notwendig­ keit einer Strophe mehr oder weniger. Brande», Litteratur de» 19. Jahrh. IV.

Heiberg und seine Schule 2

folgen in Dänemark bestimmten ästhetischen Prinzipien, über welche

sie sich geeinigt haben, und sind beinahe ebenso kritisch als pro­

duktiv.

Scott, Byron und Moore hingegen, die doch eine herzliche

Freundschaft verbindet, führen ihre poetischen Werke vollständig isoliert aus, ohne sich einen Wink, einen Rat zu geben, oder auch nur zu wünschen, sich in ein Gespräch mit dem Bruderdichter über die begonnene Arbeit einzulasien. Selbst wenn ausnahmsweise eine Ein­

wirkung stattfindet, wie von Wordsworth und besonders von Shelley

auf Byron, vollzieht sie sich sozusagen heimlich, völlig unbewußt und derart, daß sie von dem Betreffenden nicht erwähnt oder doch nicht

eingestanden

wird.

Ein

amerikanischer Schriftsteller

Eigenschaft der Rasse treffend

hat diese

mit den Wortm charakterisiert:

„Jeder dieser Inselbewohner ist selbst eine Insel."

Wir berührten den politischen Sinn, das politische Jntereffe.

Wie es unter diesen Dichtern nicht einen Mann der Wissen­ schaft

giebt»

so giebt

es kaum einen unter ihnen,

der nicht

Politiker wäre. Der Hang zur Politik ist eine Folge des nationalen Wirklichkeitssinnes.

Abweichende

Überzeugungen

mögen

diese

Dichter politisch scheiden, aber Partei ergreifen sie alle, Scott als

Tory, Wordsworth als Royalist, Southey und Coleridge erst für,

dann gegen die Freiheitsprinzipien der neuen Zeit, Moore für die Irländer, Landor, Campbell, Byron und Shelley als Radikale für die Unterdrückten bei allen Völkern, wie für die unterdrückten

Nationen selbst.

Muß man einen einzelnen Dichter wie Keats,

der die Kunst fast nur um der Kunst willen pflegte, ausnehmen, so darf man auch nicht vergessen, daß er im Alter von 25 Jahren starb.

Auf diesem Jntereffe für die Wirklichkeit beruht es, daß die

rein

litterarischen

Fragen (Klassizismus oder Romantik z. B.)

in ihrem geringen Bezug auf das Leben hier nie die überttiebene

Bedeutung gewinnen konnten, welche man dazumal sowohl in der

deutschen, der dänischen, wie selbst der französischen Litteratur rein

litterarischen Streitigkeiten

beilegte.

Nur

ist

es

ergötzlich zu

sehen, wie bei diesen Dichtern sich der Drang des Engländers zu

thatkräftigem Eingreifen mit dem phantastischen Hang des Poeten paart.

Scott trieb seinen Widerwillen gegen die Revolution bis zur

reinen Don Quichotterie.

So kam er mit einem seiner Freunde,

einem Herzog, überein, falls die Franzosen in England ihre Truppen

landen sollten, in die Wälder hinauszuziehen und dort wie Robin

und seine Mannen zu leben.

Hood

Zur selben Zeit ungefähr

thaten ihrerseits Southey und Coleridge in der ersten jakobinischen Hitze der Jugend ihren Bekannten den Entschluß kund, nach einer

einsamen Gegend in Amerika auszuwandern. Die Ufer des Susque-

hanna wurden ausersehen, weil der Name dieses Flusses den jungen Leuten besonders hübsch und melodisch (pretty and melodical) er­

schien.

Dort wollten sie eine Gemeinde Pantisokracy bilden,

wo alles Eigentum gemeinsam und alle Menschen im Natur­

zustände gleich sein sollten.

Landor, der übrigens keineswegs da­

vor zurückbebte, als Soldat in Spanien sein Leben ernstlich für seine Ideen einzusetzen,

wollte als Jüngling daheim in War-

wickshire die Zeit der arkadischen Idyllen erneuen; er entspricht als Dichter ziemlich genau dem Sozialisten Owen.

Shelley be­

saß in der Politik eine so feine Empfänglichkeit, daß man beständig

des von ihm in „Julian und Maddolo" gethanen Ausspruchs ge­ denken muß: Me, who am as a nerve,o’er which do creep The eise unfeit oppressions of the earth.

So manche politische Umwälzung ahnte er vorher.

Doch der

nämliche Shelley, der 50 Jahre vor Durchführung der Parlaments­

reform in einer politischen Flugschrift genau den Plan derselben entwarf, und in dem Drama „Hellas" den glücklichen Ausgang

des griechischen Aufstandes zu einer Zeit weissagte, wo er den Staatsmännern aussichtslos erschien, wird ein reiner Phantast, so­

bald er auf das Kapitel von dem bevorstehenden goldenen Zeit2*

Gemeinsame Ijjge des Volkscharakter».

20

alter des Menschengeschlechts zn sprechen kommt.

Man lese die

Schilderung, die er als Jüngling in Queen Mab davon giebt: Das Eis des Nordpols schmilzt, die Wüste hat sich zu Ackerland

verwandelt, der Basilisk leckt des Kindes Fuß, die Winde werden

melodisch, die Früchte sind immer reif, die Blumen immer schön, der Löwe spielt mit dem Zicklein, der Mensch tötet weder noch

ißt er ein Tier,

die Vögel fliehen nicht

mehr den

Menschen.

Kein Schrecknis giebt es mehr. — Muß man da nicht an einige der

ausschweifendsten

Utopien

des

zeitgenössischen

französischen

Sozialismus denken: die Einführung der Phalansteres nach dem von Fourier entworfenen Plane würde derart auf die Ökonomie der ganzen Erde einwirken, daß schließlich sogar die Naturverhältnisse sich radikal verwandelten — ein Nordlicht-Kronleuchter, am Nordpole

befestigt, würde Sibirien Andalusiens Wärme schenken, der Mensch dem Meere das Salz entziehen, um ihm dafür einen Limonade­

geschmack zu verleihen, die Meeresungeheuer würden sich als Sxepferde vor unsere Schiffe spannen lassen. die

Dampfmaschine

kurz

darauf

diesen

Glücklicherweise machte

Vorspann

überflüssig.

Selbst Byron, der ohne Frage praktischste von diesen Dichtern, ist doch auch Dichter in seiner Politik.

Es unterliegt kaum einem

Zweifel, daß die Königskrone Griechenlands ihm als das Ziel seiner Anstrengungen vorgeschwebt hat.

Fern sei es uns, einen Schleier darüber breiten zu wollen,

daß auch den englischen Dichtern es nicht an Phantasterei in praktischer Beziehung gebricht.

Nichtsdestoweniger geht doch durch

ihre Moral, ihre Lebensbetrachtung, ein wirklichkeitsliebender Zug,

der sich bei keinem anderen Volke so ausgeprägt vorfindet.

Es

sind mehr Gran gesunden Menschenverstandes in ihrer Poesie auf­

gelöst, als in der anderer Dichter. Gerechtigkeitsdrang aus.

Sie alle zeichnet ein lebendiger

Wordsworth erbt ihn von Milton,

Campbell, Byron und Shelley fühlen ihn so ursprünglich, als könnten

sie ihn

wider

eine Welt

geltend machen.

Er spielt

Gemeinsame Züge des Volkscharakters. weder bei Byron's großem deutschen Vorgänger Goethe, noch bei seinem reichbegabten französischen Nachfolger Müsset eine Rolle. Keiner von beiden hat jemals wie dieser Fürsten und Regierungen

vor den Richterstuhl der Gerechtigkeit geladen.

Ganz spezifisch

englisch aber ist es, daß diese Gerechtigkeit, von welcher die Eng­

länder träumen, nicht wie jene, die z. B. Schiller anbetet, eine im voraus geliebte Idee, sondern das Kind des Nutzens ist.

Man

wähle, um sich dessen klar bewußt zu werden, einen so ätherischen, so idealistischen Dichter wie Shelley, und man wird sich überzeugen,

daß seine Moral eine ebenso ausgeprägte Nützlichkeitsphilosophie ist, wie die Bentham's und Stuart Mill's.

Es kommt in Bezug

auf diesen Punkt ein merkwürdiger Abschnitt in einem seiner Essays

vor.

Er sagt im zweiten Kapitel der „Speculations on Morals“:

„Wenn Jemand auf der Frage besteht, weshalb er das Glück

der Menschheit fördern soll, so verlangt er einen mathematischen oder übersinnlichen Grund für eine moralische Handlung.

Der

Aberwitz dieser Zweifelsucht ist minder offenbar, doch nicht minder

wirklich als der, einen moralischen Grund für eine mathematische oder übersinnliche Thatsache zu fordern."

In der Theorie, das

höchste Glück für die größtmögliche Anzahl, sowie in dem tiefen, praktischen Gerechtigkeitsdrang, der ihr seelischer Ursprung ist, liegt

in Wahrheit der Ausgangspunkt für den Radikalismus der eng­ lischen Poesie während der großen europäischen Reaktion.

III. Die Engländer sind gleichzeitig das ausdauerndste und das

unternehmendste Volk, die Nation, die am meisten an der Heimat hängt und am reiselustigsten ist, sich am schwersten zu Veränderungen entschließt und politisch freisinniger ist,

als alle anderen.

Die

Geister in diesem Lande spalten sich also naturgemäß in zwei große politische Gruppen, von welchen die eine das konservative Fest­ halten, die andere der wagemutige Freisinn kennzeichnet.

Die

Parteiteilung hat hier keine Ähnlichkeit mit der Frankreichs.

Ist

es auch eine Übertreibung, mit Taine zu sagen, daß Frankreich nur zwei Parteien habe, die der Zwanzig- und die der Vierzig­ jährigen, so ist doch diese Einteilung

wesentlich

den historischen Parteinamen näher bestimmte.

nur die von

In England ist

die Spaltung in dem Volkscharakter selbst begründet, und wir

finden in dieser bewegten Epoche der Poesie des Landes Wordsworth als Vertreter der einen Gruppe von Eigenschaften, Byron

als Typus der anderen.

Noch tiefer jedoch wurde in den ersten Tagen des Jahrhunderts die Spaltung durch die doppelseitige Natur der Hauptbegebm-

heit jener Zeit begründet.

gegen Frankreich.

Diese Hauptbegebenheit war der Krieg

Schon von dem deutschen Freiheitskriege ge­

brauchte ich den Ausdruck, daß er zwar ein Aufftand gegen eine

furchtbare Tyrannei war, doch gegen eine solche, welche Ideen der Revolution vertrat, daß er zwar ein Kampf für Haus und Herd

war, doch- auf Geheiß der alten reaktionären Königshäuser. Konnte dies aber mit Recht von dem Kampfe Deutschlands gesagt werden,

Bet politische Hintergrund.

23

um wie viel mehr gilt es nicht von England, dessen Unabhängig­ keit keine Anfechtung erduldete, dessen Interessen aber in hohem

Grade

bedroht

waren,

und

das

während

der

ganzen lang­

wierigen Kriegszeit und noch lange nachher nicht wie Deutschland

freiheitsliebende Männer an der Spitze der Bewegung stehen,

sondern die höchste Macht in die Hände der starrsten, eingefleisch­ testen reaktionären Toryregierung gelegt sah, welche die Geschichte

Englands je gekannt.

Daher kommt es, daß der Hintergrund dieser ganzen Periode der schönen Litteratur ein so düsterer ist. bilden, sind schwer und schwarz,

sie genannt haben.

Die Wolken, die ihn

sunbeamproof würde Shelley

England nimmt sich als Hintergrund des

Bildes, das ich entrollen will, wie eine Landschaft bei Nachtbeleuch­ tung aus.

Die großen Eigenschaften des Volkes waren irre­

geleitet, seine seltene Standhaftigkeit wurde zur Bekämpfung des

Freiheitsdranges bei einem anderen Volke verwandt, seine edle Frei­

heitsliebe ward zuerst zur Niederwerfung der Napoleonischen Despotie gebraucht,

um sodann dazu mißbraucht zu werden,

die alten

morschen Throne wieder aufzurichten, die man, von dem Pulverrauch von Waterloo gedeckt, mit einer Hast zurechtzimmerte, wie sonst

nur Galgen.

Die neutralen Eigenschaften des Volkes wurden zu

schlechten herangezüchtet; die Selbstliebe und Festigkeit wurden zu Adelshartherzigkeit und Kaufmannsegoismus, wie sie bei Reaktionen wuchern, großgezogen, das Unterthanengefühl gegenüber dem Königs­ hause bis zum Knechtssinn erhitzt, und das Selbstgefühl des Volkes

zum Nationalhaß, wie ihn lange Kriege ausbrüten, aufgestachelt.

Die schlechten Eigenschaften des Volkes brachte man zu üppiger Entfaltung.

Die Liebe zum äußeren Anstand um jeden Preis,

diese Schattenseite der moralischen Triebe, wurde zur Heuchelei auf dem sittlichen Gebiete ausgebildet, und das Festhalten an der ein­ mal aufgestellten Religion, das der unliebsamste Begleiter einer praktischen, den Dingen nicht auf den Grund gehenden Geistes-

Der politische Hintergrund.

richtung ist, wurde teils zur religiösen Heuchelei, teils zur Ber-

folgungssucht der Intoleranz entflammt.

Keine Zeit war der

Entwicklung der Heuchelei und des Fanatismus günstiger als diese, in welcher das Volk von seinen Führern direkt aufgemuntert wurde,

dem freigeistigen Frankreich gegenüber auf seine Religiosität zu pochen. Am

allermeisten

leiden

die

großen

Dichter des

Landes

darunter. Es ist heutzutage abgebraucht, von dem cant zu sprechen,

der Byron aus seiner Heimat vertrieb, und mancher verfeinerte Geist ist geneigt, für ehrliche, wenn auch bornierte Überzeugung zu

erklären, was man früher kurzweg als Heuchelei bezeichnete.

Allein

man kann sich dieser Auffassung unmöglich anschließen.

Eine

Religiosität, die sich auf eine Weise, wie es in England Byron und Shelley gegenüber geschah, geltend macht, ist nicht Dummheit allein, es ist eine, von großer Beschränktheit getragene, höchst wider­

liche Heuchelei. Die Ansichten des ausgezeichneten amerikanischen Be­ obachters Ralph Waldo Emerson über diesen Punkt sind von großem

Wert, weil Emerson als der hervorragendste Kritiker Amerikas und als der größte Bewunderer der Engländer, sowie als richtiger Beur­

teiler seiner eigenen Rasse allen Anspruch auf Vertrauen hat.

Er

sagt: „Die Stumpfheit des starken englischen Verstandes hinsichtlich

der Religion beweist, wie viel Vernunft und Unvernunft in einem

Gehirne vereint sein kann.

Die Religion der Engländer besteht in

Citaten, ihre Kirche ist eine Puppe, und jede Kritik wird mit einem Geheul des Entsetzens zurückgewiesen.

Ihr erwartet, die gute

Gesellschaft werde über den Fanatismus des Pöbels lachen, doch nein, sie thut es nicht, sie ist selbst der Pöbel.... Die Engländer, die in allen Dingen Veränderungen hassen und sie vor allem in

religiösen Angelegenheiten verabscheuen, halten an dem letzten Fetzen

des Kirchlichen fest und heucheln in greulicher Weise.

Die Eng­

länder — und ich wollte, es beschränkte sich auf sie, allein es ist

ein häßlicher Hang, der auf beiden Hemisphären im angelsächsischen Blute liegt — thun es an Heuchelei allen anderen Völkern zuvor.

Die Franzosen überlassen ihnen ganz und gar diese Industrie.

Was ist widerlicher als die höflichen Bücklinge, die man vor Gott in unsern Büchern und Zeitungen macht!

Die populäre Presse

ist schändlich in ihrem genauen Maß von heiliger Haltung, und

die Religion des Tages ist ein Sinai, dessen Donnerkeile von den Reichen geschmiedet werden. ... Die Kirche ist in diesem Augen­ blicke sehr zu bedauern.

Wenn ein Bischof mit einem intelligenten

Gentleman zusammentrifft, bleibt ihm kein anderer Ausweg, als mit ihm Wein zu trinken?"

Diese Schilderung gilt der Zeit um

1830; man kann sich also vorstellen, wie der Zustand zwanzig

Jahre früher war. Bor allem jedoch wurde das

beklagenswerteste Laster des

Volkes, der Hang zur Unterdrückung, in ein förmliches System

gebracht.

Von keinen Zeitraum gilt wie von diesem, was man

als den Krebsschaden Britanniens bezeichnet hat: England, Schott­

land und Irland unterdrückm im Verein die fernen Kolonien,

England und Schottland machen gemeinsame Sache, um Irland

zu unterdrücken, die irische Kirche zu knebeln und den irischen Gewerbfleiß und Handel niederzuhalten, England rafft sich auf, um

Schottland zurückzudrängen, und in England selbst unterdrückt der

Reiche den Armen und die herrschende Kaste alle anderen.

Von

30 Millionen Menschen war in diesem Zeitraum nur eine Million

politisch stimmberechttgt, und man braucht nur die Ausfälle gegen die

Gutsbesitzer Englands in Byron's „Ehernem Zeitalter" zu lesen, um zu sehen, wie schamlos sie sich während des Krieges auf Kosten der andern Klassen bereicherten und wie rücksichtslos ihre ganze Politik

darauf ausging, dies ungestört fortsetzen zu können. Dieser Zustand übt nun einen teils verderblichen,

teils in

entgegensetzter Beziehung begeisternden, anspornenden Einfluß auf die Schriftsteller des Landes.

Bei jenen, in welchen das heilige

1 Emerson: English traits 222—30.

Feuer schwach brennt, erlischt es bald, und sie bilden reaktionäre Stützen des herrschenden Zustandes.

Die aber, deren wetter­

schwangere Geister danach veranlagt warm, gegen dm Wind zu streben, erreichen unter dem Drucke dieser Verhältnisse ein Frei­ heitspathos, das die politische Atmosphäre in bebende Schwingung

versetzt.

Diesen Dichtern erscheint England als „ein Gibraltar

des Herkommens", und sie verlassen es, um ihre Heimat mit allen Projektilen

des Spottes

und

der Entrüstung anzugreifen,

zu

stürmen, zu bombardieren. Es ist nötig, inbetreff der politischen Verhältnisse ihrer Heimat etwas mehr ins Detail zu gehen, um das Erdreich, aus dem die

Litteratur emporkeimt, recht kennen zu lernen und die nicht littera­ rischen (politischen, sozialen und religiösen) Prinzipien zu verstehen,

welche die Dichter in einander entgegengesetzte Gruppen spalten. Auf dem Throne Englands saß zu Beginn des Jahrhunderts (schon seit 1760) Georg III.

Bon seiner Kindheit an hatte ihm

seine Mutter die übertriebenen Vorstellungen von der Bedeutung

der Souveränität, wie sie im Gegensatz zu England auf dem Festlande

herrschend waren, beizubringen gestrebt, ein Bemühen, welches in dem Grade glückte, daß die hohen Lords, die zu Hofmeistern des

Prinzen berufen worden, einer nach dem andern sich dieses Amtes entschlugen, weil ihrem Einflüsse entgegmgearbeitet wurde.

Einer

derselben, Lord Waldegrave, der nicht bloß ein scharfsinniger Be­

obachter, sondern auch ein ergebener Anhänger des Hauses Hannover war, hat ein Charakterbild seines Zöglings entworfen, das nichts

wmiger als einnehmend ist.

Er schildert ihn als leidlich begabt,

doch ohne allen Fleiß; als streng rechtschaffen, doch ohne die Offenheit und den Freimut, der die Rechtschaffenheit liebenswürdig

macht; als aufrichtig fromm, doch beständig auf die Fehltritte und Sünden seines Nächsten aufmerksam; als entschlossen, aber hals­

starrig und vorurteilsvoll.

Er schildert, wie Erbitterung und Zorn

sich nie bei ihm Luft machten, sondern sich sofort nach innen kehrten

Der politische Hintergrund.

und

den Augenblick

für

27

nur Verschlossenheit und Verstellung

erzeugten, um sich später mit um so größerer Heftigkeit zu äußern; wie ferner dieser selbe König, der ein so zähes Gedächtnis für

jedes ihm zugefügte Unrecht hatte, eine mehr als königliche Ver­ geßlichkeit für die Dienste besaß, die ihm erwiesen worden.

Die

vollständige Verknöcherung seines Geistes in Vorurteilen war indes

vielleicht sein größter Fehler als öffentliche Persönlichkeit und als

Regent.

In seinem Privatleben war er schlicht, ehrlich, zuverlässig,

und flößte seinen Unterthanen große Achtung ein, obgleich die

Mängel seiner Erziehung nie wieder gut zu machen waren.

Als

er ans Ruder kam, besaß er wenig oder gar keine Kenntnis von Menschen oder Büchern, und sein ganzes Leben war und blieb er

in Bezug auf Litteratur und Kunst vollständig unwissend.

Allein

der ihn umgebende eigennützige Hof brachte ihm bald eine nicht ge­ ringe Menschenkenntnis bei, und er, dem Alle, Große und Kleine, wo­

hin er blickte, die Hand entgegenstreckten, lernte bald jedermanns

Preis kennen und den Nutzen berechnen, den er von ihm zu haben vermochte.

Sein von Natur guter Verstand wurde weder durch

Studien noch Reisen oder Gespräche geschärft, doch mit allen jenen Detailfragen, die keinerlei feinere Bildung des Gemütes und

Geistes erheischten, wußte er sich vertraut zu machen und sie mit der Tüchtigkeit zu behandeln, die unerläßlich für einen Regenten

ist, der sich höchst ungern darauf beschränkt haben würde, nur dem Namen «ach König zu sein.1

Georg III. war Englands Friedrich VI.

Er war in der

That ein patriarchalischer Regent und fühlte sich selbst als Vater seines Volkes.

Das Land verlor unter ihm die nordamerikanischen

Kolonien, wie Dänemark unter Friedrich VI. Norwegen verlor,

ohne daß dieser Verlust oder die unvernünftige Politik, die ihn

herbeigeführt hatte, der Volksgunst, deren sich der Fürst erfreute,

1 Massey: History of England.

VoL I pag. 59.

28

Der politische Hintergrund.

irgendwelchen Eintrag that.

Die Haushaltung des Königs Georg

war das Muster häuslichen Lebens eines englischen Gentleman.

Frühmorgens auf! war oberster Grundsatz.

Dies Leben war be­

scheiden, ordentlich, sparsam, in jeder Beziehung echt bürgerlich

eingerichtet,

doch

in

einem Grade

langweilig,

daß es seinen

Historiographen Thackeray „schaudert", nur daran zu denken.

Wenn

der

und seine Pagen

König

einmal

selbst geweckt

recht

zeitig

aufgestanden

war

hatte, plauderte er auf seinem

Morgenspaziergange mit jedem, der ihm in den Weg kam, ging

unerkannt in so manches Haus und manche Hütte und schenkte bald einem Kinde einen Schilling, bald einer armen Frau ein Huhn.

Eines Tages trafen er und die Königin einen kleinen

Knaben, mit dem sie sich in ein Gespräch einließen, bis endlich

der König zu ihm sagte: „Kniee nieder, es ist Ihre Majestät die Königin, mit der Du sprichst!"

Da aber der Kleine, in pflicht­

schuldiger Rücksicht auf seine neue Hose, hartnäckig sich dagegen

sträubte, rührte dieser frühzeitige ökonomische Sinn den alten Georg so sehr, daß er den Knaben an sein Herz drückte.

Die Tage verstrichen am Hofe mit einer schleppenden Ein­

förmigkeit, welche die jungen Prinzen so weit als möglich vom

Hause verscheuchte, und es zum guten Teil mitverschuldete, daß sie so aus der Art schlugen.

Abends spielte der König entweder seine

Toccatille oder hatte sein Konzert, bei welchem er regelmäßig ein­ nickte, während die Pagen im Vorgemach sich zu Tode gähnten.

.Die täglichen Spaziergänge fanden en famille auf dem Walle

von Windsor statt, während das Volk, gemütlich um sie geschaart, zusah, und die Etoner Knaben die rotwangigen Gesichter zwischen

den Ellbogen des Haufens hervorschoben. Die Musik spielte, und wenn das Konzert int Freien zu Ende war, unterließ der König

niemals, seinen dreieckigen Hut abzunehmen und den Musikanten

ein „Ich danke Ihnen, Gentlemen" zu sagen. Welcher Däne muß bei diesen Szenen nicht unwillkürlich an

die Spaziergänge Friedrich VI. und seine Segelfahrten als Groß­ admiral im Garten von Frederiksberg denken!

Wie er, .so gewann

Georg III. die Herzen durch sein bürgerliches Auftreten und seinen fadenscheinigen Rock.

Auch von König Georg gilt, was

Orla Lehmann von Friedrich VI. sagt, daß man „in der Einfach­

heit des Königs (der des Verstandes wie des Auftretens), in seiner

gutmütigen Teilnahme an dem Wohl und Wehe der Individuen

einen Ersatz für die Gebrechen des Staatsmannes und Regenten erblickte,"

— und wie viele

diese letzteren?

hatten überhaupt ein Auge für

Für die große Mehrzahl der Bewohner Englands

war der alte Georg ein gewaltig scharfsinniger Staatsmann und ein machtvoller Souverän.

Es existiert von ihm ein seiner Zeit

berühmt gewesener Stich (von Gilray), auf welchem er — mit

einer alten Perücke, in einer engen, alten, häßlichen WindsorUniform — als König von Rrobdingnag, einen kleinen Gulliver

auf der einen, einen Operngucker, durch welchen er das Männchen

betrachtet, in der andern Hand, abgebildet ist. ist der kleine Gulliver?

Wer, glaubt man,

Er trägt einen dreieckigen Hut und den

kurzen grauen Marengo-Rock. Mancher Leser wird sich vielleicht eines alten dänischen Bildes erinnern, dessen photographische Wiedergabe vor einigen Jahren viel

Glück machte. Es trug die Unterschrift „Die geliebte hohe Familie" und stellte Friedrich VI. mit seiner Frau und allen Kindern, vom größten bis herab zum kleinsten, auf einem Spaziergange dar.

Ist das folgende kleine Familiengemälde, eine bei Miß Burney

vorkommende Beschreibung einer Nachmittagspromenade in Windsor,

nicht genau das Seitenstück hinzu? niedliche Prozession.

„Es war wirklich eine recht

Die kleine Prinzeß Amelia, die eben drei

Jahre alt geworden war, ging in einem feinen neuen Musselin­ kleidchen, einen hübschen geschlossenen Hut auf, mit weißen Hand­

schuhen und Fächer allein voraus, ganz entzückt über die Parade und fortwährend den Kopf zur Seite drehend, um jeden, an dem

denn alle Spaziergänger drückten sich,

sie vorbeikam, zu sehen;

sowie die königliche Familie erschien, an die Häuser, um ihr freie Passage zu lassen.

Nun folgten der König und die Königin, über

das Vergnügen ihres kleinen Lieblings ebenfalls höchst vergnügt.

Der Kronprinz hatte Lady Waldegrave den Arm geboten.

Hierauf

kamen die Prinzessin Augusta, Arm in Arm mit der Herzogin

von Ancaster, General Bude,

der Herzog von Montagne und

Major Price, der als Stallmeister den Zug schloß."

Welch

schönes Bild! ruft Thackeray aus: Während die Prozession lang­ spielt das Musikkorps seine alten Weisen, und

sam vorbeizieht,

das Sonnenlicht fällt auf die alten Festungswerke, die königliche Standarte, die von dem hohen Turme herniederwallt, die mächtigen Ulmenbäume und die Schaar der königstreuen Zuschauer beleuchtend,

welche das holde Kind mit seinem unschuldigen Lächeln liebkost. Das

Gegenstück

dieses

leidenschaftliche Bestreben

häuslichen

des Königs,

Idylls

bildete

Nordamerika

zu

das unter­

drücken, die französische Revolutton zu bekämpfen, die irische Kirche

zu vernichten und den Negerhandel mit allen seinen Schrecken

fortbestehen zu lassen.

Doch selbst das häusliche Idyll währte

nicht bis an das Ende des Jahrhunderts.

Im Jahre 1788 hatte

der König seinen ersten Jrrsinnsanfall, und schon damals wurde im

Parlament mit unerhörter Leidenschaftlichkeit über die Regentschaft

des Prinzen von Wales debattiert, die im Jahre 1811 endgültig

beschlossen wurde.

Die Opposition meinte, das Toryregiment für

lange Zeiten gestürzt zu haben, falls der Prinz zum Regenten er­ nannt würde.

Sein Charakter und seine Sitten waren indessen

bei der großen Mehrzahl des Volkes so übel berüchttgt, daß man

seiner Thronbesteigung mit Angst entgegensah.

Allein gerade als

ein dahin zielender Gesetzesvorschlag eingebracht werden sollte, sah sich

Pitt in der Lage, ein ärztliches Bnllettn über die unmittelbar be­ vorstehende Genesung Seiner Majestät vorzulegen, wodurch die Gefahr für diesmal beschworen wurde.

Die Enttäuschung des

Der politische Hintergrund.

31

Prinzen war groß, und er vermochte dieselbe um so weniger zu verbergen, als er während der Krankheit des Königs eine nichts

weniger als kindliche Gesinnung an den Tag gelegt hatte. Er besaß ein gewisses Talent Gebärden und Stimmen nachzuahmen, und

in der Krankheit seines Vaters war es eine seiner Hauptunter­ haltungen,

schweifenden

zum Ergötzen Männer

der guten Köpfe,

und Frauen,

die

der lustigen aus­

seinen steten Umgang

bildeten, Mienen und Handlungen seines irrsinnigen Vaters nach­

zuäffen.

In diesem einen Zuge hat man seinen Charakter,

den

Charakter des Mannes, der so lange eines gewissen Anstandes

und Schliffes willen

den Namen eines

„ersten Gentleman von

Europa" trug.

Man muß die Gewandtheit bewundern, womit dieser Mann,

sei es auch nur vorübergehend, die erlesensten Geister der Zeit zu gewinnen verstand.

Burke, Fox und Sheridan gehörten zu seinem

vertrauten Umgang. Ohne Zweifel dürfte es ihnen kaum um seine Ansichten über

Verfaffungsfragen oder die Lage der Irländer zu thun gewesen

sein — seine Ansichten über derlei!

Doch er plauderte mit Fox

über Würfel und mit Sheridan über Wein. Punkte, wo die

Interessen des Narren und der Genies sich begegneten, und der

Freund und Rivale Brummels galt unter den Dandys der Zeit als Autorität in Fragen wie die, welche Knöpfe zu einer gewissen

Art Weste paßten und welche Brühe mit einer gewissen

Pastete harmonierte.

Art

Wir sehen ihn für einen kurzen Augenblick

selbst Moore gewinnen.

Man merkt es dessen Brief an seine

Mutter vom Juni 1811 (Memoirs I. p. 225) deutlich an, daß

er sich von dem „herzlich vertraulichen Tone" des Prinzregenten geschmeichelt fühlt.

Und dasselbe gilt einen Moment von Byron;

sein Bersöhnungsbrief an Walter Scott zeigt, wie wenig unempfind­ lich er gegen die Schmeicheleien des Regenten über Childe Harold

war.

Und nun Scott! In seiner Eigenschaft als starrer Tory blieb

er stets, so edel und brav er auch war, der Getreue des Prinz­ regenten.

Als Georg IV. als König nach Schottland kam, wo

er in der Tracht eines Clanhäuptlings, die fetten Waden ent­

blößt,

einen

schottischen Schurz

auftrat — Byron

um seinen

spottet am Schlüsse

ungeheuren Wanst,

seines „Ehernen Zeit­

alters" darüber — kam Walter Scott an Bord der Jacht des

Königs, um ihn zu bewillkommnen; er ergriff ein Glas, woraus Seine Majestät soeben getarnten hatte, erbat sich die Gnade es

behalten zu dürfen, versprach, daß es sich in seiner Familie auf ewig forterben solle, ging heim, traf dort einen unerwarteten

Besuch, warf sich in einen Stuhl und — setzte sich auf die Hinter­ tasche seines Rockes,

königliche

um allzu frühe und schmerzlich

Erinnerungszeichen

gemahnt

zu

werden.

an das Er

blieb

Georg IV. auch dann noch treu, als Moore ihn längst mit den Pfeilen seines Witzes gespickt, Byron ihn längst mit seinen bitteren

Epigrammen verhöhnt und selbst Brummel auf einem Spazier­ gange im Hyde Park ihn wie einen Fremden durch die Lorgnette

fixiert und den Begleiter des Prinzen gefragt hatte: „Wer ist Ihr fetter Freund?"

Der einnehmende Thronfolger war nämlich nachgerade ge-

walttg umfangreich geworden.

Das schwelgerische Leben, das er

führte, hatte ihm eine solche körperliche Fülle verliehen, daß er nicht mehr gehen mochte.

Wenn er ausfahren wollte, wurde ein

Brett aus dem Fenster gelegt, auf dem er sich in den Wagen

hinabgleiten ließ.

Während die Weber in Glasgow und Lanea-

shire im Hunger zum Himmel schrieen, veranstaltete er riesige Fest­ lichkeiten mit unerhörter Pracht und empfing den landstüchtigen

Bourbon als Ludwig XVIII. sagt Wordsworth.

Der Knabe ist des Mannes Baler,

Georg IV. bezeichnete seinen Eintritt in das

Hofleben mit einer seines Lebens würdigen Großthat. eine neue Schuhschnalle.

breit.

Er erfand

Sie war einen Zoll lang und fünf Zoll

„Sie bedeckte", wie seine Zeitgenossen erzählen, „den ganzen

Der politische Hintergrund.

33

Von

Spann und reichte zu beiden Seiten bis auf die Sohle hinab."

seinem ersten Auftreten auf einem Hofballe lesen wir, daß sein

Wams aus rosenfarbener Seide mit weißen Aufschlägen, seine Weste aus weißer Seide, bordiert mit buntschillerndem Glanzstoff, mit einer

Unmasse unechter Edelsteine besäet war. Reihen

Stahlperlen,

fünftausend

an

Sein Hut war mit zwei der Zahl,

einem

Knopf

und einer Schnur von gleichem Metall verziert und hatte einen schwungvollen kriegerischen Schnitt.

Wie westlich stand er dem Kopfe

Ein kriegerischer Schnitt!

Dieser Kopf war damals, als besten Be­

an, der den Hut trug!

sitzer in Carlton House, seinem prachtvollen neuen Palaste, Hof zu halten begann, voll unbestimmter Pläne, Litteratur, Wissenschaft

und Künste zu ermuntern, und wohl mochte es einen Augenblick ernst

damit

zu

scheinen,

sein

Prinzregenten Walter Scott,

wenn

man an der Tafel

den besten

Erzähler

des

jener Zeit,

mit der Ergebenheit des Unterthanen und echter Liebenswürdig­

keit seinen unerschöpflichen Vorrat amüsanter launiger Geschichten

zum Besten geben hörte, wenn Moore in diesem Kreise einige seiner süßen anakreontischen Lieder sang, oder Grattan, der stolze

Führer der Irländer, mit dem Feuer seiner phantasiereichen, gefühl­

Doch wie bald

vollen Beredsamsamkeit zur Unterhaltung beitrug.

machten diese

weit

Prinzen Tänzern,

Männer besser

einer

paßte:

Gesellschaft ftanzösischen

Zeit,

ließen.

die

die

für

den

ftanzösischen

Jockeys, Hofnarren, Kupplern, Schneidern,

Juwelieren und Fechtmeistern. die

Platz, Köchen,

Boxern,

Mit solchen Leuten verbrachte er

seine Liebschaften

und

Trinkgelage

ihm

übrig

Er legte seinen künstlerischen Sinn und Geschmack dadurch

an den Tag, daß er um hohen Preis ganze Fuhren chinesischer Schnurrpfeifereien zusammenkauste.

Kaum war dann auch der

Schöngeist Regent geworden, als er mit den guten Köpfen unter

den Whigs brach, deren Gesellschaft er gesucht hatte. um und wurde plötzlich Tory. Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

3

Er schlug

Ner politische Hintergrund.

34

Es giebt vier europäische Rezente« i« der ersten Hälfte des neun­

zehnten Jahrhunderts, die in einem auffallenden Verwandtschafts­ verhältnisse zu einander stehen: Ludwig I. von Bayern, Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Christian VIII. von Dänemark und dieser

englische Prinzregent.

Das sind die vier reaktionären Schöngeister

auf dem Throne. In England wie in Dänemark tritt in der Königs­

familie der Dilettantismus nach der patriarchalischen Einfalt ans.

Allerdings war er dort mit de» abscheulichsten Sitten und einer fast unbegreiflichen Trägheit gepaart.

Im Jahre 1816 saßen in

Newgate 58 zum Tode Verurteilte, der Stunde harrend, wo die

Vergnügungen und Zerstreuungen des Prinzregenten ihm Zeit gönnen würden, das Todesurteil zu bestätigen oder Gnade ein-

tteten zu lasten, und Manche hatten also harrend vom Dezember bis März gesessen.

Vergebens erscholl im Parlamente Brougham's

furchtbarer Ausfall auf jene, „die, während die Gefängnisse mit Un­ glücklichen überfüllt sind,

feinen Augenblick ihre gedankenlosen

Vergnügungen aufschieben können, um diesem traurigen Schweben zwischen Leben und Tod ein Ende zu machen."

Man schlage in

dieser Hinsicht Moore's Satyren des „Twopenny Post-bag“ nach. Hier zeigt es sich, daß der liebenswürdige irische Singvogel Schnabel und Klauen hatte.

Man ersieht aus Scott's Biographie (III, 342),

mit welch ruhigem Lächeln der Regent 1815 über Moore's Verse scherzt, die seinen Tisch als auf der einen Seite von Modejournalen,

auf der andern von ununterfertigten Todesurteilen bedeckt schildern!

Diese Verse waren nur allzu gerecht, halfen aber nur allzu wenig. Schon im April 1812 hatte, in einer Parlamentsrede, Castlereagh ge­ äußert: „Es ist Seiner Königlichen Hoheit unmöglich, seine Person von den erdrückenden Stößen von Papieren, die sich auf seinem

Tische häufen, zu befreien." In Moore's Satire „The insnrrection of the papers“ heißt es: On one aide lay unrcad petitions On th’other Hints from five Physicians,

Here tradesmen’s bills, — official papers, Notes from my lady, drams for vapours, The re plans of saddles, tea and toast, Death-warrants and the Morning Post.

Und trotzdem läßt vier Jahre später der Regent 58 Todes­

urteile sich ansammeln! Wir sahen, daß er, kaum mit dem Abzeichen der Herrscher­

würde bekleidet, mit seinen einstigen Freunden brach und Tory wurde. bildet,

Das

große,

langlebige

wurde

Toryministerium

mit Liverpool an der Spitze,

einem zähen,

ge­

aber gut­

mütig lässigen Reaktionär, von dem sich alle Erbitterung stets

Er war als Premierminister eine

auf seine Kollegen überwälzte.

Art König mit beschränkter Gewalt, redlichen Absichten und be­ scheidenen Fähigkeiten.

Er genoß, gleich seinem Kollegen Lord

Sidmouth, das Privilegium, weder seiner Charakterstärke wegen gefürchtet, noch seiner Talente halber beneidet zu werden.

Die

markanteste, am stärksten hervortretende Persönlichkeit des Ministe­ riums war Lord Castlereagh,

ein mittelmäßig

begabter,

aber

energischer Mann, dem Wilberforce einmal die Definition „ein

Fisch an Kaltblütigkeit" gab.

Er hatte ein schönes Antlitz und eine

gebieterische Stimme, und seine äußere Erscheinung trug größere

Ehrenzeichen zur Schau als irgend einem Mitgliede des Unter­ hauses seit den Tagen Robert Walpole's verliehen worden. war „der edle Lord mit dem blauen Bande".

absolutistisch gesinnt

lichen Regenten

Er

Von vornherein

hatte sein Verkehr mit dem unverantwort­

des Festlandes

noch

mehr

dazu

beigetragen,

die für einen konstitutionellen Minister bedenklichsten Grundsätze bei ihm zu entwickeln.

Das Bewußtsein der Beschränktheit seines

Verstandes oder der Mängel seiner Erziehung hielt ihn nicht ab,

sich in einem Schwall von unförmlichen Sätzen und unstichhaltigen

Beweisgründen zu ergehen.

Seine Schulbildung war so gering,

daß er nicht zwei Sätze richtig zu verbinden vermochte, und seine

Suade erregte nur allzu ost das Gelächter des Hauses.

3*

Allein er

Der PdUtische Hintergrund.

36

hielt allen Angriffen mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit Stand,

und kein Argwohn, kein Groll, der gegen ihn laut wurde, schien ihn auch nur um Haaresbreite von dem eingeschlagenen Wege

abzubringen. gegenüber

Immer und immer wieder schlug er dem Parlamente

das alte „Wir allein wissen" des Absolutismus an.

Byron, Shelley und Moore geißeln ihn, einer wie der andere,

in ihren Gedichten.

Es erübrigt nur noch des Kanzlers Lord

Eldon zu erwähnen, der verkörperten Doktrin der Torypartei, der Tag und Nacht nichts anderes sann und dachte, als die „Verfassung aufrechtzuerhalten", wie er zu sagen pflegte.

Wer

irgend ein altes Sonderrecht, irgend welche Beeinträchtigungen

und Beschränkungen der Freiheit oder etwa gar ein altes, grau­ sames Strafgesetz abschaffen wollte, tastete seiner Ansicht nach die

Verfassung

an.

Nichtsdestoweniger

war er selbst immer und

immer wieder der erste, fein, eigenes Bollwerk, das Gesetz, sobald dasselbe ihm im Wege stand, zeitweilig aufzuheben.

Die Habeas-

Corpus-Akte eine Zeit lang außer Kraft zu setzen, die Presse zu knebeln rc — dergleichen heilsame Amputationen waren seinem

Dafürhalten nach Leben für die Verfassung; ihr frisches Blut ein­ zuflößen, war ihr Tod.

Dies war das Ministerium, das 1814 Alexander von Rußland

durch seinen Eifer, die von der Revolution erschütterten Prinzipien

wiederherzustellen, in Erstaunen setzte.

Der russische Kaiser ver­

höhnte das englische Ministerium, indem er dessen reaktionäre

Neigungen beklagte und in London mit den Führern der Opposition

in Verkehr zu treten suchte.

Der erste Eindruck der französischen

Revolution auf Volk und Regierung in England pathischer gewesen.

war ein sym­

Die Gegner Pitt und Fox begrüßten sie ver­

eint als eine der größten, herrlichsten Begebenheiten in der Ge­ schichte der Menschheit.

Doch kaum war jenseits des Kanals Blut

vergossen worden, als die große Masse der Bevölkerung, ja selbst die Mehrzahl der Opposition, alle ihre Traditionm, das König-

tum, die Religion, das Eigentumsrecht, in Gefahr sah und eine

Burke war unter den

ungeheure Partei der Ordnung bildete.

Whigs der erste, der mit ungestümer Heftigkeit die Revolution

verurteilte

unb

namentlich

seinen

Freund

und

Parteigenossen

Fox wegen dessen Verteidigung ihres Geistes scharf kritisierte. alten Whigs schlossen sich Burke an.

Die

Pitt, der eine Reihe not­

wendiger Reformen geplant hatte, getraute sich nicht einmal gegen

das verderbliche Wahlsystem Englands einzuschreiten und gestand auf eine an ihn gerichtete Anfrage, daß ihm die Zeit, so tief er

von der Notwendigkeit einer Parlamentsreform überzeugt sei, für

ein so gewagtes Experiment

nicht

günstig erscheine.

In jeder

freisinnigen Regung, selbst der unschuldigsten und berechtigsten, begann

man

den gefürchteten Jakobinismus zu wittern.

Als

Wilberforce seine Agitation gegen den Sklavenhandel einleitete, sah er sich gleichzeitig von Regierung und Opposition unterstützt. Nur der König, die Rheder und die Aristokraten des Oberhauses

waren damals dagegen. Als er jedoch 1791 zum zweiten Mal an das

Parlament appellierte, da war die Stimmung derart nmgeschlagen,

daß man die Abolitionisten als förmliche Jakobiner betrachtete, und daß

das Gesetz

über die Aufhebung des Sklavenhandels mit

163 Stimmen gegen 88 verworfen wurde. Hiezu kam der Schrecken, welchen der Eindruck, den die Revo­

lution auf Irland gemacht hatte, in England hervorrief.

Man be­

grüßte dort die Botschaft von der ftanzösischen Erhebung, wie Sklaven

und Heloten die Botschaft der Freiheit begrüßen.

Obgleich das

irische Volk, unter Führung des edlen, von Byron so begeistert

besungenen Henry Grattan, im Jahre 1782 die Anerkennung der Gleichberechttgung seines Parlamentes mit dem englischen durch­ gesetzt hatte, war es dennoch sowohl hinsichtlich seines Handels wie seiner Religion vollständig unterdrückt.

Der maßvolle Thomas

Moore gebraucht den Ausdruck, daß er als Kind katholischer Eltern mit dem Sklavenjoche um deu Hals zur Welt gekommen sei.

Er

erzählt, daß er als Knabe 1792 von seinem Vater zu einem in

Dublin zur Feier der Revolution veranstalteten Bankett mitgenommen

wurde,

bei

welchem der Präsident den folgenden Trinkspruch

ausbrachte: Möge die Brise aus Frankreich die irische Eiche zum Grünen bringen!

Bei ihm findet man die Bewegung, welche

sich der irischen Jugend bemächtigt hatte, geschildert. und bewunderte ihren Führer Robert Emmet.

Er kannte

Wenn Emmet

im Dubliner Diskussionsklub, dessen Leitstern er war, in beredten

Ausdrücken die Großthaten der französischen Republik schilderte, wenn er mit einer Anspielung auf Cäsar, der auf dem über den

Rubico schwimmenden Pferde mit der einen Hand sein Schwert,

mit der andern seine Kriegsgeschichte hoch über dem Wafier empor­

hielt, in die Worte ausbrach: „So watet Frankreich durch ein sturm­ gepeitschtes Meer von Blut; doch während es in der einen Hand

das Schwert gegen seine Unterdrücker schwingt, erhält es mit der anderen die Schätze der Wisienschast und Litteratur unbefleckt von dem blutigen Strome, durch welchen es sich hindurch kämpft" — da lauschten seine jungen Landsleute nicht nur dem direkten In­

halte der Rede, auch jeder Abschweifung von dem Gegenstände, jeder Nebenbemerkung, die etwa Irland in das behandelte Thema

einbezöge.

Solche Anspielungen blieben denn auch nicht aus.

„Wenn ein Volk", rief er eines Tages, „das an Erkenntnis und

Macht rasch fortschreitet, endlich die Wahrnehmung macht, wie weit seine Regierung hinter ihm zurückgeblieben ist, was ist da anderes zu thun, als die Regierung zu der Höhe des Volkes emporzuziehen!"

Der Tag war nicht fern, an dem Robert Emmet so kühne

Worte schwer büßen sollte.

1798 explodierte der aufgehäufte

Sprengstoff, und Castlereagh wusch (mit Byron zu sprechen) seine

jungen Hände in Erins Blut.

Die Wut, mit welcher die Re­

gierung gegen die Empörer vorging, war so tierisch und wild,

daß in der modernen Zeit nicht hänfig die Unterdrückung eines Aufstandes solche Greuel mit sich geführt hat.

Her politische Hintergrund.

39

Der Haß gegen die Revolution setzte sich als Haß gegen

Napoleon fort.

Er überstieg alles vernünftige Maß.

Thackeray

erzählt eine Anekdote, die von dem Grade desselben eine Vor­

stellung giebt.

Ich kam, sagte er, als Kind von Indien, und unser

Schiff legte auf dem Heimwege bei einer Insel an, auf die mich

mein schwarzer Diener zu einem langen Spaziergange mitnahm.

Wir wanderten über Klippen und Höhen,

bis wir bei einem

Garten anlangten, in dem wir einen Mann auf und ab gehen sahen.

„Das ist er", sagte der Schwarze, „das ist Bonaparte.

Er verspeist täglich drei Schafe und alle kleinen Kinder, deren

er habhaft werden kann,"

und Thackeray fügt hinzu: Es gab

mehr Leute in dem britischen Reiche, die vor dem korsischen Menschen­

fresser ein ähnliches Grauen wie dieser arme Kalkuttadiener em­ pfanden. — Es tritt in Wordsworth's Sonnetten, in Southey's

Gedichten, wie in Walter Scott's berüchtigter Napoleonbiographie

gleich

stark hervor.

Mit

den Kriegen

gegen Frankreich brach

die große britische Reaktion an: Die Habeas-Corpus-Akte wurde

wiederholt aufgehoben, der alte Hochverratsparagraph Eduards III. verschärft, das Versammlungs- und Beschwerderecht beschränkt, die Preßfreiheit alsbald in ein leeres Wort verwandelt.

Schottland

wieder

wurden

hervorgesncht,

grausame

und

Gesetze

aus

der

hochgebildete Männer

Zumal in

Vergangenheit

wie gemeine

Verbrecher nach den Strafkolonien Australiens verwiesen.

Man

wagte den Republikanern und Gleichheitsmännern in England die

Unumschränktheit der Krone entgegenzuhallen und von Parlamenten

und Geschworenengerichten als von untergeordneten Nebengewalten zu sprechen.

Es bildete sich eine allgewaltige Partei unter dem

Feldgeschrei: König und Kirche!

Der König selbst war verrückt, der Prmzregent schlimmer als verrückt und die Kirche gleißnerisch.

Mißwachs, Überschwem­

mung, Hungersnot traten 1816 auf.

Nagender Hunger trieb

rings im Lande die niedre Bevölkerung planlos von Haus und

Der politische Hintergrund.

40

Hof.

Man findet in Shelley's „Die Maske der Anarchie" der

Stimmung AuSdnick geliehen.

In Leicestershire zerstörten die Ar­

beiter in ihrer Verzweiflung die Spitzenwebereien und schlugen die

Webstühle in Stücke.

Seine erste, schöne Parlamentsrede hält

Byron zu ihrer Verteidigung. Man ersieht aus Romilly's Tagebüchern, wie unmöglich es

den wenigen freisinnigen Männern war, die geringste Reform durch­

zufetzen.

Er, der allgemein verehrte Reformator der grausamen

Strafgesetzgebung Englands,

später hauptsächlich als juridischer

Beirat der Prinzessin von Wales und Sachwalter der Lady Byron

bekannt, sagt in seinem Tagebuche von 1808: „Wenn jemand einen

klaren Begriff von den unseligen Wirkungen zu erhalten wünscht, welche die französische Revolution und die Schrecken, die ihr folgten,

in

unserem

Lande hervorriefen,

so möge er nur irgend eine

Umgestaltung der Gesetzgebung nach menschenfreundlichen oder frei­

sinnigen Grundsätzen herbeizuführen versuchen.

Er wird sich dann

nicht allein von der blöden Furcht vor Veränderungen, sondern auch von dem Geiste der Grausamkeit überzeugen, der in allzu

viele seiner Landleule gefahren ist."

Auf Romilly's Antrag auf

Aufhebung des Gesetzes aus der Zeit William's III., wonach Ladendiebstahl mit dem Tode durch den Strang bestraft wurde, sprach Lord Ellenborough, von Lord Eldon kräftig unterstützt, fein

Bedauern darüber aus, „daß eine moderne Philosophie sich nun­ mehr sogar unterstünde, an den weisen Bestimmungen der Jahr­

hunderte

zu

rütteln,"

und

nicht

die Regierung

allein,

auch

Parlamentsmitglieder in Menge waren wie besessen von Henkers­

wut. Romilly erzählt selbst, daß einer seiner jüngeren Parlaments­

kollegen auf jede Vorstellung, jeden Einwand mit dem stereotypen „I am for hanging all*1

geantwortet habe.

Und doch sollte

man meinen, es wäre im neunzehnten Jahrhundert an der Zeit gewesen, der in England herrschenden Leidenschaft für das Hängen,

welche nur allzu unvorteilhaft von der gewaltigen Grundsumme

Bet politische Hintergrund.

41

der Roheit im Volke zeugte, ein Ende zu machen. Unter Heinrich VIII.

waren 72000 Diebe gehenkt worden; nun, unter Georg III. wurden durchschnittlich 200 des Jahres aufgeknüpft, was von

1760 bis 1810 die hübsche Summe von 10000 ausmacht.

Im

Jahre 1817 wurde die Verfolgung der Denk- und Schreibfreiheit

bei den Prozessen gegen den greisen Bücherfreund Hone, der vor Gericht, durch eine seltene Bereinigung von Wahrheitsliebe und Klug­

heit, ein wie das andere Mal jeben Versuch, ihn wegen Gottes­ lästerung zu verurteilen, vereitelte, förmlich in System gebracht.

Hierauf folgten 1818 die Straßenaufläufe der armen Bevölkerung von Manchester, wobei die Reiterei auf sie einhieb und die Soldaten die unbewaffneten Volksschaaren mißhandelten.

Shelley's Gedichte

von 1819 haben ihre Färbung hiervon erhalten.

Finster, wahrlich,

ist sonach der politische Hintergrund dieser Litteraturperiode — finster durch

die Angst erschrockener Philister

über die Aus-

schreitungen der Freiheitsbewegung in Frankreich, finster von den

tyrannischen Gelüsten stolzer Tories und dem Druck der Hochkirche, finster von dem Blute irischer Katholiken und englischer Arbeiter

— und zu alledem ist, auf den Zinnen der Gesellschaft, die Krone

dem Wahnsinn in Georgs III. Stirn aufgesetzt, und das Szepter der schlaffen Unzucht in die Hand gelegt, die in Gestalt des Prinz­

regenten den Königssitz als Stellvertreterin der Beschränktheit ein­

nimmt, welche mit seinem Vater den Thron bekleidet hatte. Und dieser Thron ist es, den Lord Eldon mit seinen sechs Knebelgesetzen stützt, zu denm er die uralte Verfassung Englands umgebildet hat,

und den Castlereagh's ebenso ungrammatikalische als freiheitsfeind­

liche Parlamentsreden, wie Southey's ebenso unmelodische als

wohlbezahlte Schmeichelhymnen verherrlichen und lobpreisen — bis der Scheidungsprozeß zwischen Georg IV. und Karoline mit

seinem ungeheuern, alle Begriffe übersteigenden Skandal, der sich

von der Rednerbühne des Oberhauses stromweise wie eine Kloake nach allen Seiten ergießt, den Glanz der Krone und die Würde

des Hofes in einem Meer von Kot ersäuft — bis die einander

Schlag auf Schlag folgenden Revolutionen Spaniens, Griechen­ lands und Südamerikas die Lust reinigen, und Castlereagh sich die Gurgel abschneidet (seinen Gänsekiel schneidet, wie Byron sagt),

und England unter Canning die südamerikanischen Republiken an­

erkennt, wie die Schlacht bei Navarino vorbereitet.

Shelley's, Landor's, Byron's und Campbell's Poesien haben ihre politische Parallele in diesen Regierungshandlungen Canning's. Doch Canning's Reden selbst bilden ein Supplement zu dem Werke dieser Dichter.

Castlereagh's ungelenke Rede und seine schalen,

gehaltlosen Staatsbriefe — doppelt gehaltlos, weil er, als echter Geschäftsmann aus Metternich's Schule, mündliche Mitteilungen vorzog — werden direkt von Canning's freimütiger, glühender

Beredsamkeit abgelöst.

Während Castlereagh wie seine ihn über­

lebenden Kollegen auf dem schändlichen Kongreß von Verona nur darauf

ausgingen,

unter

dem Scheine

evangelischen Friedens

Schweigen und Finsternis in Europa ungestört zu erhalten, leuchteten

Canning's Reden wie ein Waldbrand in der tiefen Nacht der heiligen Allianz.

Sein großer humaner Grundgedanke war das

Selbstbestimmungsrecht der Völker.

allein

am

Am 8. August 1827 starb er;

12. Oktober desselben Jahres

wurde die Schlacht

bei Navarino geschlagen, die gleichsam der letzte Wille des Toten

war, und die fiir uns heutigen Tags das politische Symbol ist für das Erwachen des neuen Geistes in Europa?

1 Miss Martineau: The history of England during the thirty years peace T, II. Massey: History of England during the reign of George the Third, I—IV. Thackeray: The four Georges. Reinhold Pauli: Geschichte Englands seit den Friedensschlüssen 1814 und 1815. Emerson: English traits.

IV. Im Sommer 1797 war unter den Bewohnern eines Dörf­ chens

Küste von Somersetshire viel von zwei jungen

der

an

Männern die Rede, die seit kurzem ihren Wohnsitz daselbst auf­

geschlagen hatten, und die man täglich miteinander spazieren gehm

sah,

vertieft

eifrige,

in

endlose Gespräche,

in

denen

fremde

Worte und fremde Namen, für die Vorübergehenden unverständlich, unter lebhaften Fragen und Antworten ausgesprochen wurden. Der eine von den beiden jungen Männern war 27 Jahre alt. Ein tiefer Ernst lag in seinen Zügen, eine unerschütterliche Würde, ja

Feierlichkeit

in

seinem

Er

Wesen.

glich

zumeist

einem

jungen Methodistenpriester und hatte eine einförmige, schleppende

Stimme.

Sein etliche Jahre jüngerer Begleiter, der sich beständig

in einer Flut von Worten erging und mit den Händen oft und unruhig gestikulierte, hatte einen großen, runden Kopf, dessen

Form

auf

hervorragende Begabung

schließen ließ, ein glattes

Gesicht, tiefe hellbraune Augen mit einem geistvollen, schm be­ kümmerten Blick und einem seltsamen Ausdruck schlaffer Unent­

schlossenheit und durchgängiger Charakterschwäche, von jener Art, die eine Plötzlich auflodernde Energie nicht ausschließt.

Seine

Stimme war Musik, seine Beredsamkeit schien selbst seinen zurück­

haltenden

Freund

zu bezaubern.

Wer und was waren diese

beiden Männer, die so gar keinen Umgang in der Gegend suchten? Das war die Frage, welche die Bewohner sich vorlegten.

Was

hätte es anderes als Politik sein können, das sie so leidenschaft-

lich erörterten, und wenn dem so war, was konnten sie da anderes als Verschworene sein, als Jakobiner mit Aufruhrplänen?

Bald wurde es ruchbar, daß der ältere von den beiden Frmnden, Mr. Wordsworth, sich zu Beginn

der Revolution

längere Zeit in Frankreich aufgehalten und die Schwärmerei der Zeit für eine Gesellschaftsreform mit großer Wärme geteilt, daß

ferner der jüngere, Mr. Coleridge, sich zugleich als eifrigen Demo­

kraten und Unitarier bekannt gemacht, ein Drama:

„Der Sturz

Robespierres" geschrieben, zwei politische Flugschriften, „Conciones

ad populum“ herausgegeben, ja mit etlichen Gesinnungsgenossen

den Plan gehegt habe, eine sozialistische Kommune in dem fernen Amerika zu gründen.

Brauchte man da noch länger zu zweifeln?

Eine liebevolle Seele aus der Nachbarschaft gab die Freunde der Londoner Regierung an, und diese sandte einen Späher aus, der das Ziel ihrer Spaziergänge und dm Gegenstand ihrer Gespräche

auskundschaften

sollte.

Alsbald

kam

spion mit einem Bardolph-Gesicht nach

ein

rotnasiger

Polizei­

der friedlichen Gegend,

folgte unbeachtet dm beiden Freunden, und da er sie mit Papier in der Hand gehm sah, zweifelte er nicht, daß sie das Land „auf­

nähmen".

Er sprach sie hier und da an und wählte sich einen

Versteck in den Gebüschen hinter einer Bank an der Küste, ihrem

Lieblingsruheplätzchen.

Hier lag er stundenlang auf der Lauer.

Anfangs glaubte er, die beiden Verschworenen hätten von der ihnm drohenden Gefahr Wind bekommen, denn in ihrem Gespräch

kam des öfter« ein Wort vor, das ihn spy-nosy (der Spion mit der Nase) zu sein dünkte, ein Wort, das er auf sich zu beziehen

geneigt war; bald aber überzeugte er sich, daß es der Name eines Mannes war, der ein Buch geschrieben hatte und längst verstorben

war.

Man merkt,

gesprochen hatten.

daß die Freunde Spinoza englisch aus­

Die Unterhaltung drehte sich fast ausschließlich

um Bücher, wobei einer den andern auf verschiedenes aufmerksam

machte, dies und jmes zu lesen aufforderte.

Von Politik jedoch

vermochte der Polizeimann nichts aufzufangen, weshalb er denn bald enttäuscht den Versuch aufgab, um seine Spürnase anders­

wohin zu wenden. In der That war hier nichts Bedrohliches zu entdecken.

politisch

Den

revolutionären Rausch hatten die zwei Freunde längst

ausgeschlafen, und selbst jenen Spinoza, der eine so große Rolle in ihren Gesprächen spielte, hatten sie aus zweiter Hand kennen

gelernt und erörterten chn, ohne ihn zu verstehen, geschweige denn sich ihn anzueignen.

Coleridge war es,

der durch die ersten

Schriften Schellings die Substanzphilosophie kennen gelernt hatte und nun seinen in der Philosophie unbewanderten Freund in die neuerworbene Weisheit einweihte.

Allein Spinoza war in diesen

Unterredungen nur das Sinnbild eines geheimnisvollen Natur­

kultus; der Name Jakob Böhme's erscholl in friedlicher Gemein­ schaft mit dem seinen.

Es handelte sich hier nicht um Wissenschaft,

sondern um Poesie, und war bei diesen weitläufigen Verhandlungen

die Rede von einer Revolution, so war dies eine rein litterarische, poeüsche, hinsichtlich welcher die Gedanken der beiden in der Ab­ geschiedenheit Lebenden, trotz ihrer verschiedenen Ausgangspunkte,

ganz merkwürdig übereinstimmten.

Was in diesen Unterredungen sich vollzog, war nichts anderes und nichts geringeres, als der bewußte litterarische Bruch mit

dem Geiste des achtzehnten Jahrhunderts, der unter verschiedenen Formen gleichzeitig in ganz Europa vor sich ging.

Coleridge hatte einen prüfenden Geist, dessen Abscheu vor dem französischen klassischen Puder schon in der Schule geweckt

worden war.

Dort hatte ein origineller Lehrer seinen aufmerk­

samen Schüler vor Harfe, Laute und Leier im Prosastile, wo er

statt dessen „Feder und Tinte« zu sagen mahnte, vor Musen, vor Pegasus, Parnaß und Hippokrene in der Lyrik gewarnt, und dergleichen als Perückenmanier und allen Zopf gebrandmarll.

Coleridge bestritt daher Pope und seinen Nachfolgern das

Ankündigung des Naturalismus.

46

Anrecht auf den Namen Dichter, und schwor auf die Sonette Bowles.

Er äußerte sich gegen Pope, wie in Dänemark die jungen

Freunde Öhlenschlägers sich-etwas später gegen Baggesens Poesie äußerten.

Das germanische Naturell in ihm war ein geborener

Feind von Esprit, Epigrammen und Pointen; es dünkte ihm, daß die Vorzüge der aus Frankreich stammenden Schule nicht poetischer

Art wären; sie bestanden, seiner Meinung nach, in der richtigen,

scharfen Beobachtung der Menschen und. Sitten in einem künst­

lichen, verfeinerten Gesellschastszustande, sowie in der geschliffenen

Form, welche diese Beobachtungen annahmen; diese Form war eine Art Logik des Witzes, in glatten, stark epigrammatischen

Versen entwickelt; selbst wenn der Stoff unwirklicher Natur war,

wendete sich der Dichter an dm Verstand; ja sogar in der zu­ sammenhängenden poettschm Erzählung war für eine Pointe am

Ende jeder zweiten Zeile gesorgt, und das Ganze nahm sich wie „ein Kettenschluß von Epigrammen" aus.

Man fand mit andem

Worten, Coleridge's Auffassung nach, hier nicht poetische Gedanken, sondern unpoetische, in eine Sprache übertragen, die man aus altem

Schlendrian poetisch nannte.

In der Konzeption der Dichtung

selbst lag nichts Phantastisches, ja es gebrach dem Dichter ost so sehr an Einbildungskraft, daß es von einem großen oder kleinen

Anfangsbuchstaben abhing, ob die Worte als Personifikationen oder

als bloße Begriffe betrachtet werden sollten.

Doch während die

alten, großen Dichter Englands, wie Spenser, die phantastischsten

dem

Einfälle

in

wußten,

vermochten

reinsten, diese

schlichtesten Englisch

auszudrücken

neueren die gewöhnlichsten Alltags­

vorstellungen nicht anders als in einem ganz merkwürdig erbärm­

lichen, phantastischen Englisch auszudrücken, so daß das Resultat sich ausnahm, als hättm Echo und Sphinx sich zusammen den

Kopf zerbrochen, um es zuwege zu bringen.

Mit Unwillen wendete sich Coleridge von jenen Versuchen

ab, Phantasielosigkeit durch geschraubte Diktion zu verdecken.

Er

Ankündigung des Naturalismus.

47

verabscheute Oden an „Eifersucht", „Hoffnung", „Vergessen" und

dergleichen Abstraktionen. Ode

an

gann:

die

Sie erinnerten ihn an eine Oxforder

Kuhpockenimpfung,

„Impfung!

Du

welche mit den

himmlische

Maid

steige

Worten be­

hernieder!"1

Selbst in der besten späteren englischen Poesie erhielt sich jene

Unsitte, Abstraktionen für Gestalten zu nehmen, noch allzulange.

(Bei Shelley z. B. treten die Zwillinge „Irrtum und Wahrheit", the twins Error and Truth, noch als handelnde Personen auf). Dieses ganze rhetorische System schien Coleridge direkt von der

herrschenden Gepflogenheit herzurühren, in de» Schulen lateinische

Verse zu schreiben. Im Gegensatz hierzu erblickte er sein Ideal darin, natürliche Gedanken in einem natürlichen Stil, der weder studiert noch platt wäre, weder nach Lampenöl, noch nach dem Rinnstein röche, aus­

zudrücken, und die altenglischen Balladen in Percy's Sammlung mit der unverfälschten Volkstümlichkeit ihrer Naturtöne galten ihm

als Wegweiser. Auch er wünschte, solche Naturtöne erklingen zu lassen.

Hier

sätzen

kam Wordsworth

ihm eutgegen.

mit seinen Grübeleien und Vor­

Er war einer jener Geister, die nur bei

bestimmtem energischen Aburteilen sich wohl und sicher fühlten. Seine

Ansicht

über

die

ganze

englische

Poesie seit Milton

war die, daß das Volk mit dem Hervorbringen jenes Mannes

seine poetische Kraft erschöpft und nichts bewahrt habe, als eine Kompositionsform, so daß die Poesie nunmehr in einer Sprach­ kunst und Wortspielerei bestände, und der Dichter nach seiner

Herrschaft über das sprachliche Werkzeug beurteilt würde.

Daher

hätte der metrische Stil sich mehr und mehr von der Prosa ent­

fernt.

Aufgabe sei es nun, ihn zu dieser zurückzuführen, so daß

der Vers sich von der Sprache des Alltagslebens nur durch die rhythmische Form unterschiede.

Während Coleridge für Natur-

Inoculation! heavenly maid, descend!

Melodien schwärmte, war Wordsworth so radikal, daß er theoretisch

sich nicht mit wenigerem als einem gereimten natürlichen Prosa­ dialoge zufrieden geben mochte. Und zu diesem Naturalismus in der Auffassung der Form

kam ein gleicher in der Auffassung des poetischen Inhalts.

war seiner

eine

von Wordsworth's Lieblingsbehauptungen

heftigsten

Vorwürfe

gegen

die

herrschende

ES

und eine

litterarische

Schule, daß kaum ein einziges originelles Bild der äußeren Natur, eine einzig« neue Beschreibung derselben zwischen Milton und Thom­

son zu Tage getreten sei.

Selbst mit einem hohen Grade von

Empfänglichkeit für die Vorgänge und Erscheinungen der äußeren Natur ausgestattet, machte er den Ruf Natur! Natur! zu seiner

Losung — mit Natur aber meinte er das Land im Gegensatze zur Stadt.

Durch das Stadtleben vergaßen die Menschen die

Erde, auf der sie lebten; sie kannten sie nicht mehr, erinnerten sich

wohl der groben Züge in der Physiognomie von Flur und Wald, doch nicht der Einzelheiten des Naturlebens, nicht seiner wechsel­ vollen Schauspiele mit ihren unzähligen, lächelnden, strahlenden,

ernsten, erschreckenden Szenen.

Wer kannte noch die Namen der

verschiedenen Bäume und wilden Blumen; wer kannte die Vor­

zeichen von Sturm und Wetter oder wußte, was eS bedeutet, daß die Wolken gerade so dahin jagen, die Herden sich gerade so zu­

sammendrängen

oder die Nebel gerade so sich von den Höhen

wälzen! Wordsworth hatte schon als Kind, als er noch zwischen den

Hügeln von Cumberland spielte, alle diese Runen zu deuten ver­

standen.

Er war mit jeder Art von englischer Natur in Lenz und

Winter tief vertraut; er war dazu geschaffen, das wieder zu gebm,

was er sah und fühlte,

und darüber nachzugrübeln, ehe er es

wiedergab; geschaffen, im vollen Bewußtsein dessen, was er unter­ nahm, die poetische Reformation durchzuführen, die von dem armen

Chatterton, dem „schlaflosen.Knaben", und von dem Bauernsohn, dem Wordsworth an ursprünglicher Begabung so weit überlegenen

49

Ankündigung de« Naturalismus

Burns begonnen worden.

Er war freilich nur eines von den

zahlreichen Organen jener Liebe zur äußeren Natur, die um die

Wende des Jahrhunderts sich in ganz Europa ausbreitete, allein er hatte ein stärkeres, intensiveres Bewußtsein der Thatsache, daß

ein neuer poetischer Hauch über England wehte, als sonst jemand in den vereinigten Königreichen. Darin

stimmten also

die Freunde überein,

daß man die

ganze englische Poesie in drei Gruppen teilen könne: die Zeit

der poetischen Kraft und Jugend von Chaucer bis Dryden, die Periode der poetischen Unfruchtbarkeit von Dryden einschließlich bis zum Schluffe des achtzehnten Jahrhunderts, endlich das Zeit­ alter der Wiedergeburt, das nun mit ihnen selbst anbrach, nachdem es

von ihren Vorläufern verkündet worden. Ganz wie die Männer der

neuen Zeit in Deutschland und Dänemark suchten diese Jünglinge nach großen, schlagenden Bezeichnungen, welche den Unterschied

zwischen ihnen und den von ihnen Bekämpften auszudrücken ver­ möchten, und fanden genau die nämlichen wie jene. Sich selbst legten sie Phantasie und damit die eigentliche schöpferische Kraft bei; sie

schrieben ganze Bogen voll zur unklaren Verherrlichung von Ima­ gination im Gegensatze zu fancy, wie Öhlenschläger und seine Schule die Phantasie priesen,

Baggesen höchstens Humor zu­

gestehend: Sie hattm Vernunft, die Vorgänger nur Verstand; sie hatten Genie, jene nur Talent; sie warm die Schöpferkraft, jene nur die Kritik. Selbst ein Aristoteles konnte, als Nicht-Dichter,

es zu keinem höheren Titel, als dem eines Talmtes bringen.

Auch

in England machte man sich über Nureddin her und fühlte sich

über sein „naturloses" Forschen hoch erhaben.

Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

4

V.

Der Standpunkt, von dem Wordsworth eigentlich ausging, war also der, daß die Menschen im Stadtleben und unter dessen

zerstreuendem Einfluß die Natur- vergessen hätten; sie wären dafür bestraft worden, indem das gemeinschaftliche Zusammenleben ihre

Kräfte und Fähigkeiten zersplittert und die Empfänglichkeit ihrer Herzen für einfache und reine Eindrücke geschwächt habe.

Unter

Wordsworth's Hunderten von Sonetten befindet sich eines, das in Hinsicht auf diesen Grundgedanken besonders bedeutungsvoll ist

(Miscellanous Sonnets, Part I, Nr. 35).

Es beginnt mit der

Klage, daß die Menschenwelt allzuviel um uns sei, und wir in­

folgedessen nur wenig in der Natur sähen, Eigenstes entgegenträte.

das uns als unser

Und nun heißt es:

Die See, dem Mond entschleiernd ihren Schoß,

Die Winde, heulend bald zum Sturm gestaltet. Jetzt noch wie Blumen still im Schlaf gefaltet, Dies trifft und Jegliches uns stimmungslos, Bewegt uns nicht. — Ein Heid', ach, lieber wär'

Ich, in verschollenem Glaubenswahn gebor'n; Dann blitzt aus all' der Schönheit um mich her Ein Schimmer doch, nicht ganz in Nacht verlor'n,

Ich sähe Proteus tauchen aus dem Meer, Und hörte blasen Tritons Muschelhorn.

Das sind bedeutsame Worte in Wordsworth's Munde, bedeut­ sam, weil sie zeigen, was im Grunde aller wahre Naturalismus

ist, er mag sich mit noch so vielen theistischen Lappen ausstaffieren; im tiefsten Innern ist er der Naturauffassung des alten Griechen­

lands verwandt und feind allen den offiziellen Dogmen der neuen

51

Nie Tiefe und Wahrheit des Naturalismus.

Zeit; im tiefsten Innern trägt er das Gepräge jenes Pantheismus,

den wir im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts das poetische Naturgefühl in allen Litteraturen beherrschen sehen.

Mr haben

den Pantheismus, welcher sich unter Tiecks romantischer Natur­ betrachtung barg, kennen gelernt?

Er begegnet uns hier unter

der Form des selbstvergessenen, halb unbewußten Verschmelzens

des Menschen mit der Allnatur gewaltigen Harmonie.

als eines Einzeltones in ihrer

Er hat in einem kleinen, eigentümlichen

Gedichte Ausdruck gefunden? Ein Schlummer deckte meinen Geist, Samt allem Menschenleid, Nicht fühlt er, wie vorüber kreist Der Erdenjahre Zeit. Null stört ihn nichts, er blickt nicht aus, Liegt still, als wie im Traum, Und schwingt sich nur im Erdenlauf Mit Fels und Stein und Baum.

Vertieft man sich in die Stimmung, aus der ein Gedicht wie dieses entsprungen ist, so hat man das Wahrzeichen eines rein pantheistischen Jdeenkreises: das unbewußte Leben ist als Grund und Quelle des bewußten geschaut, und alle Wesen der Erde sind als

untereinander im Schoße der Natur verwachsen aufgefaßt, bis zu

dem Punkte, wo das Bewußtsein beginnt.

Einer von den Keimen

der Poesie des neuen Jahrhunderts liegt in solch einem kleinen

Gedichte; denn dem zivilisierten Menschen, welchen das vorige Jahrhundert entwickelt und gepriesen hatte, stellte die neue Zeit

den Menschen als Naturwesen im Kreise aller seiner Verwandten, der Vögel und wilden Tiere, der Pflanzen und Blumen, gegen­

über.

Das Christentum gebot, alle Menschen zu lieben, der natura­

listische Pantheismus, auch das geringste Tier zu lieben.

Hart-

leap-well dürfte unter allem, was Wordsworth geschrieben hat, am 1 Die romantische Schule in Deutschland, S. 138. 1 Wordsworth: Poetical works, 1832, II. S. 16.

4*

52

Die Tief« und Wahrheit de» Naturalismus.

höchsten stehen. ist

Dieses einfache Gedicht — eine Doppelromanze —

eine Fürsprache

von ergreifender Beredsamkeit zu Gunsten

eines armen, preisgegebenen, gehetzten Tieres, eines Hirsches, d. h. eines Gegenstandes,

dem

die

klassischen Dichter

höchstens ein

Küchen-, ein Feinschmeckerinteresse abzugewinnen vermochten, und

den die Bewunderer der Ritterzeit, ja selbst Scott, von chren

Helden zu Hunderten hatten erlegen lassen.

Rührend, trotz seines

bescheidenen Borwurfs, groß und einfach in seinem Stile, giebt

es ein edles Zeugnis von der tiefen Pietät für die Natur, die Wordsworth's Adelsbrief ist.

Diese Pietät ist bei ihm vor allen Dingen Ehrfurcht für das Kindliche und das Kind, und diese Ehrfurcht vor dem Menschen­ wesen, das in seiner Unbewußtheit der Natur am Nächsten steht,

ist wiederum einer der originalen Züge des neuen Jahrhunderts. In einem kleinen Gedichte, welches Wordsworth an die Spitze

aller seiner anderen stellte, sagte er: Mein Herz jauchzt auf, seh' ich die Lust

Den Regellbogen färben; So war es, da mein Lenz begann,

So ist es jetzt, da ich ein Mann, So sei es, wenn das Alter ruft,

Sonst laßt mich sterben! Das Kind ist Vater für den Mailn — O möchten meine Tage stet

Verknüpft sein durch natürliche Pietät.

Hier ist die Ehrfurcht vor dem Kinde so weit getrieben und so auf die Spitze gestellt, daß sie die Pietät für das Alter ersetzt.

Allein die Einsetzung des Kindes in seine natürlichen poetischen Rechte ist, wie die Erfahrung in allen Ländern lehrt, nur eines

von den vielen Anzeichen der Thronbesteigung der Naivetät in den

europäischen Litteraturen.

„Das achtzehnte Jahrhundert, das seine

Stärke im raisonnierenden Verstände, seinen Feind in der Ein­

bildungskraft, in welcher er nur den Bundesgenossen und Leib-

eigenen der veralteten Traditionen erblickt, seine Königin in der

Logik, seinen König in Voltaire, den Gegenstand seiner Poesie und seiner Wissenschaft in dem abstrakten, dem aufgeklärten und gesell­ schaftlichen Menschen findet, sendet das Kind, das weder gesellschaft­

lich, noch aufgeklärt, noch abstrakt ist, aus der Wohnstube hinaus,

weit, weit weg in die Ammenstube,

Märchen, Sagen

wo es nach

Herzenslust

und Räubergeschichten hören mag,

wohl zu

merken, wenn es als erwachsener Mensch bedacht ist, all dies

Unwürdige

zu

vergessen."

In

der

Gesellschaft

zehnten Jahrhunderts tritt der Rückschlag ein.1

des

neun­

Wir finden sie

hier mit ihren äußersten Schlußfolgerungen selbst bei einem so wenig naiven Dichter wie Wordsworth.

In einem seiner Sonette

(Poetical works, II, p. 165) schildert er einen Spaziergang, den

er an einem lieblichen Abend mit einem kleinen Mädchen unter­

nimmt, malt die milde Abendstimmung, nennt sie „still wie eine Nonne, vor Andacht atemlos", und wendet sich sodann mit den folgenden Worten an das Kind: Lieb' Kind, lieb' Mädchen, das Genoss' mir war: Schien unbewegt von Andacht deine Brust,

Nicht minder göttlich ist darum dein Sein — Du liegst in Abrahams Schoß das ganze Jahr,

Und betest an des Tempels innerm Schrein, Gott ist allstets mit dir. uns unbewußt.

Der theistische Ausgang ist bei Wordsworth obligat, doch, wie dem aufmerksamen Leser nicht mtgehen wird, dem Grund­

gedanken von der an und für sich göttlichen Natur des Kindes

nur aufgekleistert.

In seiner, berühmten Ode an die Unsterblich­

keit führt er diesen Grundgedanken mit solcher Schwärmerei aus,

daß es selbst einem so weit gehenden Verehrer der Naivetät, wie Coleridge, zu stark erschien.

Er ruft hier einem sechsjährigen Kinde zu: 1 G. Brandes: Moderne Geister. 3. Ausg. S. 296.

54

Vie Tiefe und Wahrheit des Naturalismus.

Du, dessen Äußres die Unendlichkeit Der Seele Lügen zeiht: Du bester Philosoph, der noch umschließt Sein Erbteil, Auge unter Blinden du, Der, taub und stumm, die etv'ge Tiefe liest, Bom ew'gen Geist durchwandelt immerzu, — Du Seher und Prophet, Bei dem als wahr besteht, Was lebenslang wir suchen ohne Ruh! Allerdings erhalten alle diese Aussprüche eine Art poetischphilosophischer Umdeutung, indem die Erhabenheit des Kindes darauf zurückgeführt wird, daß es dem Leben vor der Geburt, und damit

dem Vorzeichen der Unsterblichkeit näher stehe als wir;

doch ist selbst dies, nach der nahezu autorisierten Erklärung Coleridge's, keineswegs als Wordsworth's buchstäbliche Meinung aufzu­

fassen.

Das Kind wird als der Pflegesohn der Erde geehrt, und der

Jüngling, der jedoch immer weiter weg vom „Osten" (der Stätte

des Sonnenaufgangs) pilgern muß, ist noch der „Priester der Natur"? In zahlreichen Gedichten kommt Wordsworth auf die Em­

pfänglichkeit zurück, die er als Jüngling für jedes Naturschauspiel

besaß.

In einem derselben, das, wie fast alles, was er schrieb,

einen langen, schleppenden Titel hat (Influence of natural Ob­

jects, in calling forth and strengthening the imagination in

boyhood and early youth) dankt er dem Weltgeiste, daß er bei ihm von Kindheit auf den Leidenschaften, aus denen unser Seelen­ leben sich aufbaut, nicht die geringen, niederen Werke der Menschen

zum Ziel gab, sondern erhabene Gegenstände, bleibende Gegen­

stände, Leben und Natur.

Also, sagt er, läuterten sich die Elemente seiner Gefühle und Gedanken, bis er eine gewisse Größe (grandeur) in dem Puls­

schlage seines Herzens empfand.

1 The Youth, who daily farther from the East Must travel, still is Natures Priest.

Nie Tiefe und Wahrheit de« Naturalismus.

55

Man beachte den feinen, innigen Natursinn in der folgenden

Schilderung: Und nicht war dieser freundliche Verkehr Mir karg gemessen! Am Novembertag,

Wenn Nebel thalwärts rollend, öder noch Die Öde machen; mittags tief im Wald

Hub in der Sommernächte stiller Ruh', Wenn ich am Saum des leis' bewegten Sees Unter den dunkeln Hügeln heimwärts ging,

In Einsamkeit war solche Zwiesprach mein. Mein war sie in den Feldern Tag und Nacht,

Am Wasser auch, den ganzen Sommer lang. Und in der kalten Jahr'szeit, wenn die Sonn'

Jn's Meer getaucht, und durch die Dämmerung Die Hüttenfenster blitzten meilenweit,

Nicht achtet ich der Mahnung. Glücklich war Uns allen diese Zeit; Entzücken gar

War sie für mich!

Die Dorfesglocke schlug

Mit lauten Schlägen sechs — ich stürmte fort Mit stolzer Freude, wie ein muntres Roß, Das sich nicht heimwärts sehnt. — Aus Eisenschuh'n Flogen wir über's blanke Eis im Spiel Gesellt, nachahmend alle Sommerlust Des Waldes und der Jagd — des Hornes Ruf, Der Meute Bellen, das gehetzte Wild.

So schwebten wir durch Frost und Dunkel hin, Und keine Stimme schwieg: im Widerhall Scholl all der Lärm vom Uferhang zurück; Die kahlen Bäum' und jedes eis'ge Riff Klirrten wie Erz: und von den fernen Höh'n Erklang in den Tumult ein fremder Ton

Der Schwermut, leis empfunden, und im Ost Funkelten die Sterne hell, indes im West Das Goldgewölk des Abends sanft verglomm.

Nicht selten schoß aus dem Getümmel ich In eine stille Bucht und stahl zum Scherz Mich seitwärts fort aus der Gespielen Schaar,

Zu kreuzen eines Sternes Wiederschein, Ein Bild, das blinkend auf den glatten Plan Allüberall vor mir entwich; und oft.

Wenn wir uns treiben ließen von dem Wind, Und all' die schatt'gen Ufer rechts und links

56

Die Tiefe und Wahrheit des Naturalismus.

Vorüber glitten durch die Finsternis, Hab' ich urplötzlich in der Sturmesfahrt, Auf meinen Hacken rückgelehnt, den Flug

Gehemmt; doch immer schossen einzeln noch Vorbei die Klippen, gleich als hätte sich Die Erde sichtbarlich vor mir gedreht; Und hinter mir verschwamm der Berge Zug

Schwächer und schwächer, und ich schaute hin,

Bis alles still lag wie ein Sommersee.

Das ist eine Naturmalerei, die auch in späterer Zeit in eng­ lischer Poesie ihresgleichen sucht.

und

bedeutendsten

Gedichte

Doch in einem seiner schönsten

Tintern-Abbey

hat

Wordsworth

selbst seinen Sinn für Natur in Ausdrücken geschildert, von denen

er später nicht mit Unrecht behauptet, daß sie in den berühmtesten und poetischsten Stellen von Byron's Childe Harold spukten; auf jeden Fall haben sie Epoche in der englischen Dichtkunst gemacht.

Er sagt: Denn nachdem

Die gröbern Freuden meiner Knabenzeit Und ihre muntern Spiele all' dahin, War eins und alles für mich die Natur. —

Ich kann nicht schildern, was ich damals war. Der rauschende Wasserfall bestrickte mich Wie eine Leidenschaft; der hohe Fels, Der Berg, der tiefe, schattendunkle Wald, Ihr Aussehn, ihre Farben waren mir Ein Anreiz, eine Liebe, ein Gefühl,

Das keiner Lockung durch Gedankenreihn Bedurfte, keines Interesses, das Dem Auge nicht entstammte.

Mag es komisch wirken, wenn Wordsworth 1820 Moore

von Byron's Plagiaten aus seinen Dichtungen unterhält und er­ zählt, der ganze dritte Gesang von Childe Harold gründe sich auf seine Gefühle und seinen Stil, mag immerhin Lord Rüssel

Recht haben, wenn er darauf hin trocken bemerkt, sei Wordsworth

der Urheber des Childe Harold, so sei dies sein bestes Werk — man

Vie Tiefe und Wahrheit des Naturalismus.

57

begreift doch leicht, daß Wordsworth sich des Eindruckes nicht er­ wehren konnte, die Hauptstellen jenes dritten Gesanges und die

schönen Stellen über die Einsamkeit in den früheren Gesängen ent­

hielten nur in antithetischer und gekünstelter Form, was bei ihm ein­

fach und natürlich gesagt worden war?

Es ist nicht schwer, die ge­

kränkte Eitelkeit eines beschränkten, überstrahlten Geistes in diesen

Ausbrüchen zu erkennen, doch darf man nicht vergessen, daß Words­

worth in der That als erster den Akkord angeschlagen hatte, den

Byron mit so überlegenem Talent variierte, noch auch, daß einzelne

besonders

treffende,

lebendige Verse

von Wordsworth Byron

augenscheinlich in Erinnerung geblieben sind.

Wer kann z. B. diese

Zeile aus Childe Harold (dritter Gesang,

72. Strophe) lesen:

„Für mich sind hohe Berge ein Gefühl",

ohne sich der oben angeführten Worte zu erinnern, und wer kann leugnen, daß Byron von Wordsworth jene Stimmung aufnimmt

und bereichert, wenn er singt: Sind nicht Gebirge, Himmelszelt und Wogen Ein Teil von mir, wie ich von ihrem Sein? — Hat Liebe nicht für sie mein Herz durchzogen Mit reiner Leidenschaft?

Während aber Wordsworth in Tintem-Abbey seine Leiden­ schaft für die Natur als etwas Vorübergegangnes darstellt, das nur einen flüchtigen Augenblick, in einem Übergangsalter währte, um

alsbald in Erwägung gezogen und von der Reflexion beherrscht zu werden,

ist sie bei Byron das bleibende, sein Wesen aus­

drückende Gefühl.

Bei ihm ist das Ich in seinem Verhältnis zur

Natur nicht in die theistische Zwangsjacke gezwängt; kein dog­

matischer Damm ist zwischen der Natur und ihm errichtet. Er fühlt in pantheistischer Mystik sich eins mit ihr, ohne daß irgend ein

deus ex machina sie zusammenführt.

Die unmittelbare Leidenschaft ist denn auch nicht das BeSiehe Thomas Moore: Memoirs III, 161.

zeichnende für Wordsworth's Verhältnis zur Natur.

Seine Eigen­

tümlichkeit in der Auffassung und Wiedergabe der Natureindrücke ist von feinerer, zusammengesetzterer Art.

Der Eindruck wird,

wiewohl mit frischen Sinnen ausgenommen, durch das Grübeln über denselben gedämpft und gemildert. Er stimmt den Dichter nicht unmittelbar zum Gesang.

Wenn

er mit Goethe sagen kann: „Ich singe wie der Bogel singt —

der in den Zweigm wohnet", so ist es zum mindesten kein Sang

wie Nachtigallenschlag, kein reich entquellendes Liebeslied, das vom Rausch der Seele zeugt und der nächtlichen Stille spottet, die es

durchbricht und zerstreut.

Wordsworth hat selbst den Gesang der

Nachtigall mit ähnlichen Worten geschildert (Poems of Imagina­

tion Nr. 10); er fügt hinzu: Am selben Tage mir erklang Des wilden Taubers schlichter Sang;

Leis durch die Bäume scholl hervor Sein Lied im Winde an mein Ohr.

Er girrte, girrte, süß zum Sterben, Schwermüttg ernst doch klang sein Werben. Er sang von Liebe, Ruh' entsendend.

Langsam beginnend, nimmer endend,

Boll Treu' und Frohsinn innerlich, Das war das Lied — das Lied für mich!

Wordsworth hat in der Zeile „and somewhat pensively

he wooed" sich selbst schildern wollen.

Nach der Gepflogenheit

so vieler Dichter hat er seine Praxis zur Theorie zu erheben und

zu beweisen versucht, daß alle gute Poesie die Eigenschaften seiner

Dichtung haben müsse.

Alle gute Poesie, sagt er, ist das unwill­

kürliche Überströmen mächtiger Gefühle; gleichwohl hat niemand noch ein wertvolles Gedicht hervorgebracht, der nicht nur unge­

wöhnliche Gefühlsinnigkeit besessen, sondern auch lange und tief ge­ dacht hatte.

Der Grund ist seiner Ansicht nach darin zu suchen,

daß erstens der Strom unserer Gefühle stets von unseren Ge-

danken bestimmt und gelenkt wird, wie daß, zweitens, unsere Gedanken selbst nichts anderes sind, als „Vertreter aller unserer

früheren Gefühle" — ein tiefes und glüMches, wenn auch nicht wisienschaftlich befriedigendes Wort, das in treffender Weise sein eigenes poetisches Sinnen und Denken kennzeichnet.

Dasselbe besteht nämlich, genau definiert, darin, den Natur­

eindruck aufzusparen und aufzuspeichern, damit er, gleichsam verdaut

und vollauf angeeignet, aus der Vorratskammer der Seele später wieder hervorgeholt und

werden könne.

dann nochmals beschaut und genossen

Wer diese Eigentümlichkeit von Wordsworth recht

erfaßt hat, besitzt den Schlüsiel zu seiner Originalität.

In Tin-

tern-Abbey erklärt er, wie diese stille Aneignung der menschen­ artigen Stimmungen der Natur im Mannesalter auf die unmittel­ bare heftige Freude der Jünglingsjahre an der Naturschönheit

gefolgt sei: Jene Zeil ist aus, All' ihre schmerzlichen Freuden sind dahin, Und all' ihr schwindelndes Entzücken. Doch Nicht klag' ich drum. Denn andre Gaben sind

An ihrer Statt gefolgt, für den Verlust

Ein reichlicher Ersatz. Ich hab' gelernt, Auf die Natur zu blicken, nicht wie in Der Zeit gedankenloser Jugend, nein. Erhorchend oft die stille Moll-Musik Der Menschlichkeit, die kreischend nicht und rauh/

Doch stark genug, den Sinn zu läutern und Zu bändigen.

Und eine Gegenwart

Hab' ich gefühlt, die mit der edlern Lust

Erhabener Gedanken mich erregt Ein Wehen, einen Hauch, der alles, was Da denkt, und alles, was gedacht wird, treibt, Und der durch alle Dinge kreist.

1 For I have learned To look on nature, not as in the hour Of thoughtless youth, but Hearing oftentime The still, sad music of humanity Nor harsh, nor grating.

60

Die Tiefe und Wahrheit de» Naturalismus.

Hier hat Wordsworth seine Domäne umschrieben, leise und bestimmt das Gebiet bezeichnet, welches das seine ist. Welcher Gegen­

satz zu Byron, der selten oder niemals die menschliche Stimme in der Natur vernahm, sie am allerwenigsten ohne schrillen Mißton klingen

hörte — er, der in Childe Harold sogar das ganze Menschen­

leben den „falschen Ton" in dem großen Akkord des Alls nennt.

Noch aber sind wir nicht zu den eigentümlichen Aussprüchen

von Tintern-Abbey

gelangt.

Es

sind

das

die,

in

welchen

Wordsworth das stille Wirken des aufbewahrten, aufgesparten

Natureindruckes auf das Gemüt schildert.

Er sagt:

Diese schönen Formen sind

In der Entfernung langer Zeit mir nicht

Gewesen, was die Landschaft für das Aug' Des Blinden: — oft im einsamen Gemach, Im Lärm der Stadt, in müden Stunden hab'

Ich ihnen seligsten Genuß verdankt, .......................................... Gefühle auch, Bon jetzt vergess'nen Freuden, die vielleicht Den schwächsten und geringsten Einfluß nicht

Auf jenen besten Teil der Lebensthal Des Biedermannes üben: auf die Zahl

Bon kleinen, namenlosen Handlungen Der Güte und der Liebe, deren er

Sich nicht erinnert.

Und er setzt auseinander, daß er diesen Natureindrücken noch

eine andere, erhabenere Gabe verdanke, den glücklichen, heiteren Sinn, welcher den Bürden des Daseins ihren Druck benimmt, worauf er seinen Gedankengang mit der Überzeugung schließt, daß

der genußreiche Augenblick, da er die trauten Stätten wiedersieht, nicht bloß momentanes Vergnügen, sondern Leben und Nähr­

kraft für künftige Jahre berge.

Immer und immer kehrt diese Wendung bei ihm wieder. Als besonders charakteristisch kann man das Gedicht Nr. 15 in

den Poems of Imagination anführen, worin der Dichter erzählt,

wie er auf einer einsamen Wanderung an einem See plötzlich ein

ganzes Heer von goldenen Narzissen entdeckte, im Winde schwankend und tanzend, dicht gesäet wie die Sterne der Milchstraße, und in noch

munterer Bewegung als die plätschernden Wellen, die sie

umsäumten. Ich schaut' und schaute — doch mein Sinn

Nicht ahnte dieser Schau Gewinn;

Denn oft, wenn ich gedankenschwer Auf meinem Lager nachts gelegen. Blinkt meinem innern Auge her Ihr lieblich Spiel zu Trost und Segen;

Dann wird das Herz mir leicht und klar Und tanzt mit der Narzifsenschaar.

Nichts kann dem gewohnten Jm-Augenblickleben des lyrischen Dichters entgegengesetzter sein, als dieses Lyrikers bewußtes Auf-

bewahren

des

flüchtigen Augenblickes

zu

künftigem Gebrauch.

Er charakterisiert sich selbst als eine Sammlernatur.

Er speichert

förmlich Wintervorräte von lichten Sommeraugenblicken auf, und

darin liegt etwas Wahres, etwas Allgemeinmenschliches, das allzu

viele Menschm überspringen und versäumen, vor allem aber liegt etwas Nationales hierin: man wundert sich nicht, daß der eng­

lische Naturalismus damit beginnt, ökonomisch und haushälterisch sich ein Kapital, ein Lager von Natnreindrücken anzulegen.

Wir alle tarnen die Stimmungen, die hierzu führen können.

Wie mancher von uns hat nicht bei einer weiten, unbegrenzten Aussicht über das blaue, im Sonnenschein glitzernde Meer gefühlt, daß solch ein Natnrschauspiel täglich zu

schauen, die Seele er­

weitern und alles Kleinliche aus jedem Winkel derselben hinweg­ fegen müßte, wie mancher hat es nicht bedauert, die Stätte verlaffen

zu müssen und sich an dm Eindruck geklammert, um willkürlich besten Wirkung erneuern zu tonnen.

Oder man war beim Anblick herr­

licher Gegendm, zumal wenn man sich auf Reism befand, mit der

Gewißheit, sich an ihre Schönheit schwerlich so bald wieder todten zu tonnen, bem'ht, sich so passiv als möglich zu verhaltm, um

62 sich

Vie Tiefe unb Wahrheit de» Naturalismus.

das

Instinktiv

Bild

ist

Erinnerung

der

recht

man

oft

zu

einbrennen

zu

Eindrücke

schönen

dem

lassen. zurück­

gekehrt, wie die Seele überhaupt unwillkürlich sich zurückflüchtet zu allen lichten Erinnerungen ihrer Bilderreihe, um Kraft und

Lebensmut aus ihnen zu schöpfen. diese bei uns anderen übertäubt.

Allein stärkere Impulse haben

Wir haben sie nicht wie Früchte

für künftige Zeiten einlegen oder sie ewig Wiederkäuen können. Das soziale Leben, das Getümmel der Welt und das Spiel der

Leidenschaften haben es uns unmöglich gemacht, die tiefsten, die uns am meisten inspirierenden Freuden in der Erinnerung an

taubeglänzte Blumen oder einsame, ineinander verwachsene Riesen­ bäume zu finden.

Anderes trug sich in der Seele des englischen Dichters zu,

der Sinn

seinen für

Lebensberuf alle

darin

sah,

das

Interesse

und

den

jenen elementaren Stimmungen und Eindrücke

neuerdings wachzurufen.

Seine praktisch unthätige Seele vegetierte

in diesen Naturträumereien, und es läßt sich nicht leugnen, daß

diese immer wiederkehrende Beschäftigung mit den einfachsten Ein­ drücken der Natur seine Seele frei und rein erhielt, um die Schön­ heit ihrer schlichten und irdischen Formen ohne Phantasterei und

ohne Überreizung empfinden zu können. Wie selten ist diese Gabe!

wie oft fehlt sie nicht den aller­

größten, allerbesten Geistern! wie rasch ging sie nicht in der englischen

Poesie wieder verloren! Sie offenbart sich am schönsten und vollsten in den wenigen poetischen Frauengestalten, deren Umrisse Words-

worth in seinen kleinen Gedichten skizziert hat.

Die Helden seiner

erzählenden Dichtungen sind von ungleich geringerem Wert und

teils dazu bestimmt, Interesse für die Landbevölkerung und die

unterm Klassen zu wecken, teils in der Absicht geschildert, eine mora­ lisierende Wirkung zu üben.

Die wenigen leicht hingeworfenen

Frauengestalten aber, die mit demselben ruhigen und doch ver­ liebten Blick geschaut sind, mit dem Wordsworth Bäume und Bögel

Die Tiefe und Wahrheit des Naturalismus.

betrachtete, sind ganz Natur.

63

Sie sind die englische Frauennatur

selber, und niemand hat deren Grundlinien mit sichererer Hand zu

treffen gewußt, als er.

Man lese eines dieser keinen Gedichte?

Sie war ein Luftgebild an Zier, Als sie zuerst gelächelt mit; Kin lieblich Wunder, das zur Pracht Für einen Augenblick gemacht; Wie Zwielichtsstern' ihr Augenpaar,

Wie Zwielicht auch ihr dunkles Haar; Doch alles sonst an ihr gewebt Aus Morgenglanz, dem Lenz entschwebt.

Ein tanzend Elfchen, lufterhellt, Das hold verwirrt uitb Netze stellt. Da sah in näherem Bereich

Ich sie, — ein Geist, doch Weib zugleich! Durch's Haus hin leicht und sicher glitt, Jungfräulich rasch, ihr Gang und Schritt;

Ein Antlitz, deß Erinnern süß, Und süßte Zukunft noch verhieß; Ein Wesen, nicht zu gut und licht Für Menschenthun und Alltagspflicht,

Für Lachen, Weinen, Freud' und Schmerz, Lob, Tadel, Liebe, Kuß und Scherz. Und nun seh' ich mit klarem Blick Den Puls in diesem Meisterstück: Ein Dasein, das Gedanken haucht,

Wie sie der Lebenspilger braucht; Verstand und Willen, nie erschlafft, Ausdauer, Vorsicht, tüffge Kraft;

Ein Weib, ein echtes, das den Mann Erquicken, warnen, lenken kann; Und doch ein Geist noch, dessen Welt Ein Strahl von Engelslcht erhellt.

Man hat hier unstreitig ein echtes, naturtreues Musterbild

des englischen Weibes, und man kann Wordsworth einen Triumph dadurch

bereiten,

daß

man

diese

nüchterne,

wahrheitsgetreue

1 Sbe was a phantom of delight. Poet. W. II, p. 13.

64

Bit Tiefe und Wahrheit de» Naturalismus.

Schilderung mit den weiblichen Idealen vergleicht, in deren Zeich­ nung sich in der kommenden Epoche die größten Dichter Englands

gefielen. Man nehme Shelley's Beschreibung der ätherischen Beschützerin

der Blumen und Insekten in seinem Gedichte „Die Mimose". Das Bild der feenhaften Schönheit ist voll Liebreiz, wie alles,

was aus Shelley's Feder kommt; ihre Zärtlichkeit für die Pflanzen, ihr rührendes Mitleid mit all den häßlichen, verachteten Tierchen,

„deren Absicht,

wiewohl

sie

Schaden

anrichteten,

unschuldig

war", giebt ihrem Elfenwesen menschliche Züge — ein Mensch aber ist sie dennoch nicht, so wenig wie Shelley's „Fee des Atlas"

oder des Epipsychidion undeutliche Heldin.

Shelley war wie die

Lerche, die er besungen hat, ein Verächter der Erde (scorner of the ground). — Oder man nehme die leidenschaftlichen orientalischen

Heldinnen der ftühesten poetischen Erzählungen Byron's, Medora, Gulnare, Kaled!

Jene schöne Einfachheit erreichen sie nicht.

Sie

treten immer nur in höchster Leidenschaftlichkeit auf, ihre Liebe, Hin­ gebung und Entschlossenheit gehen über alle Grenzen.

Sie sind für

eine Leserwelt gedichtet, bei der das betäubende Stadtleben unter den

Londoner Menschenmassen und die stete Beschäftigung mit den Welt­ begebenheiten eine Art nervösen Dranges nach den stärksten geistigen

Reizmitteln hervorgerufen hatten.

Doch Wordsworth galt es von

allem Anfänge an als eine schöne, lohnende Aufgabe, den Beweis

zu erbringen, wie tief die Menschennatur, ohne Anwendung grober oder gewaltsamer Stimulantia, erregt, gerührt, erschüttert werden

könnte. Er sah freilich ein, daß der an schreiende Farben Gewöhnte leicht außer Stande sein würde, Werken Geschmack abzugewinnen,

deren Originalität in einem milden, naturtreuen Kolorit bestand;

allein er beschloß, die Ansprüche des Lesers an die Wirkungsmittel einer Dichtung auf die natürliche Spur zurückzuzwingen.

VI.

Man kann unmöglich Wordsworth's poetische Stärke und Be­ grenzung von Grund aus verstehen, wenn man nicht einen Blick auf seinen Lebenslauf wirst.

idyllisches, beschütztes Leben.

Man findet dann ein ungemein Er wurde im wohlhabenden Mittel­

stände geboren (der Vater war Advokat), studierte in Cambridge,

machte Reisen, kam zurück und erbte schon 1795 von einem Be­ wunderer seines Genius 900 Pfund, welche neben seinem Anteil

der Summe

an als

einen

bezahlte,

dem

von 8500 Pfund, die

verstorbenen

Vater

ein Lord der Familie

geschuldeten

den Dichter in den Stand setzte

einem Fache widmen zu müssen.

Betrag

aus­

zu leben, ohne sich

1803 heiratete er, 1813 siedelte er

sich in Rydal-Mount an den „Seen" an.

Er hatte eine Sinekure

als Stamp-Distributor mit 500 Pfund Jahresgehalt von 1813 bis 1842 inne, wo er sie zu Gunsten eines seiner Söhne aufgab.

1843 folgte er auf Southey als Poet-laureate, und bezog als solcher eine Regierungspension von 300 Pfund jährlich bis zu seinem Tode,

der erst 1850 eintrat, als er eben sein achzigstes Jahr vollendet

hatte.

Von allen Seiten

gegen die äußeren Wechselfälle des

Lebens gesichert, betrachtete er dieselben mit protestantisch-philo-

sophischem Blick. Ein Leben wie dieses war nicht danach angethan, die Leiden­ schaft anzufachen; sie ist denn auch weder in seinem Leben noch

in seiner Poesie vorhanden.

In der Lebensgeschichte anderer her­

vorragender Poeten pflegt irgend ein gewichtiger biographischer Brander, Litteratur der 19. Jahrh. IV.

5

66

Landleben und Schilderungen vom Lande

Umstand vorzukommen, ein oder mehrere Wendepunkte, eine oder die andere historische Quelle der Melancholie, oder der Charakter­

stärke, oder der Fruchtbarkeit; bei Wordsworth ist nichts dergleichen

zu entdecken.

Kein angeborenes Unglück lähmte ihn, kein Angriff

auf Leben und Tod stachelte ihn an und drückte seinem Geiste den

Stempel auf.

Gewiß, die Kritik verhöhnte und verspottete ihn und zwar lange genug: von 1800—1820 ward seine Poesie mit Füßen getreten,

von 1820—1830 war sie im Kampfe begriffen, nach 1830 wurde sie

allgemein anerkannt.

Allein der Widerstand war nicht albern und

heftig, der Kampf nicht heiß, der Sieg nicht glänzend genug, um seinem Leben Farbe und Glanz zu verleihen, oder es zum Vorwurf für Gesänge werde» zu lassen.

Sein intimstes persönliches Leben

war also nie ein so starkes und energisches, daß es hätte seine Poesie aufsaugen oder ihr Stoffe bieten können.

Es führte ihn im Gegenteil dahin, den Blick nach außen zu

kehren.

Die auswärtigen Kämpfe, die umgebende Natur und die

kleine unansehnliche Menschenwelt, in der er lebte, erfüllten ihn

ganz und gar.

Er war nicht, wie Byron, zu sehr von seinem Ich

erfüllt, um nicht mit Gemütsruhe bei dem Kleinen und bei bett Geringen zu verweilen, die er mit Milde und Mitleid darstellte

und beschrieb.

Allerdings fühlte er sich als den Mittelpunkt seiner Welt. Aus seinem idyllischen, abgeschiedenen Heim gingen von Zeit zu Zeit

Bändchen mit Gedichten oder größere Dichtungen hervor, begleitet mit erläuternden Vorreden, die an der Hand einer langen Reihe von Beispielen den Leser darüber austlärten, daß alle großen Dichter

verkannt und von ihren Zeitgenosien verschmäht worden, daß jeder Schriftsteller, wofern er groß und originell sei, sich selbst die Ge­

schmacksrichtung schaffen müsse, die seiner Werke sich erfreuen könne,

und daß seine Vorgänger ihm zwar hinsichtlich alles dessen, was er mit ihnen gemein habe, die Bahn gebrochen und geebnet hätten,

daß er aber in allem, was ihm selbst eigen, sich in der Lage be­

finde, wie Hannibal inmitten der Alpen.

(Vorrede von 1815.)

Er wußte wohl, daß ein bahnbrechender Geist nur von jenen Zeitgenossen, die jünger als er selbst sind, volle Anerkennung er­

warten kann. Allein die Kritik, die nicht ungestüm genug gewesen, um ihn kriegerisch und rücksichtslos wie Byron zu machen, machte ihn

selbstgefällig und arrogant.

Die Abwechslung seines Lebens be­

stand darin, im Schoße seiner bewundernden Familie die zufälligen

Besuche solcher Bewunderer zu empfangen,

welche

gelegentlich

einer Fußreise nach der Gegend sich mit Empfehlungsbriefen an

ihn versehen hatten.

Auf eine kalte, würdevolle Weise unterhielt

er sich mit ihnen und verletzte sie nicht selten durch die Eigen­ liebe, mit der er unablässig seine eigenen Werke pries, anführte,

vortrug, die Gleichgültigkeit, die er für alles andere bekundete, die peinliche Strenge, mit der er von seiner Umgebung jedes sichtbare Zeichen der Ehrfurcht forderte, und den Eifer, womit er sogar

das

unbedeutendste Wort wiederholte, das zu seinem Lobe ge­

sagt worden war. Es

haben

sich

eine Menge,

illustrierender Anekdoten erhalten.

sein Selbstgefühl schlagend

Thomas Moore erzählt (Me-

moirs III, 163), daß Wordsworth eines Tages, als er bei Lord

Dawy zu Mittag speiste, plötzlich, ohne daß auch nur ein Wort

gefallen wäre, welches auf diesen Gegenstand führte, über den

Tisch hinüber rief: „Dawy, wissen Sie, warum ich „Das weiße Reh von Rylstone" in Quart drucken ließ?" geschah dies?"

halte."

An

„Nein!

weshalb

„Um der Welt zu zeigen, was ich selbst davon

Wordsworth las nie andere Werke vor als seine eigenen.

dem Tage,

an

dem

Walter

Scott's

„Rob

Roy"

mit

einem Motto aus Wordsworth's Gedicht „Rob Roys Grab" er­ schienen war, weilte Wordsworth eben bei einer Familie, welche

auf den Inhalt des Romans, der ihr zugesendet worden, sehr gespannt war.

Er nahm den Band zur Hand, und man erwartete, er

5*

werde die ersten Kapitel vorlesen; statt dessen aber ging er zum Bücherschrank,

holte

einen Band seiner eignen Werke

und las sein Gedicht der Gesellschaft vor.

heraus

Emerson hat uns Auf-

zeichnungen aufbewahrt, die er unmittelbar nach zwei Besuchen bei Wordsworth,

zwischen denen Jahre liegen, notiert hat.

Nach

dem zweiten schreibt er: „Er hegte eine nationale Bitterkeit gegen

die Franzosen, eine nicht geringere gegen die Schotten; kein Schotte

könne

englisch schreiben. . . Seine Ansichten über Franzosen,

Engländer, Irländer und Schotten scheint er sich in aller Ge­

schwindigkeit nach kleinen Geschichten gebildet zu haben, die ihm selbst oder Mitgliedern seiner Familie in einer Diligence oder einem

Postwagen begegnet sind." —Nach seinem ersten Besuche (1833)

schreibt er: „Wordsworth brachte seinen Lieblingsgegenstand aufs Tapet, daß die Gesellschaft durch oberflächliche Kultur, ohne alle

Rücksicht

auf

die

moralische

Schulen nützten nichts.

Bildung,

aufgeklärt worden sei.

Der Schulmeister sei nicht Erziehung . ..

Er möchte mich und alle guten Amerikaner zu der Ansicht bekehren,

daß die Moral, das konservative Element u. s. w. kultiviert werden müssen . . . Er schimpfte und schalt

auf „Wilhelm Meister".

Derselbe sei voll von aller Art Unzucht.

Fliegen in der Lust paarten.

Es sei, als ob sich

Er sei nicht über den ersten Teil

hinausgekommen und habe das Buch bei Seite geworfen, so empört

sei er gewesen ... Er citierte sein Sonett „Gefühle eines hoch­ herzigen Spaniers", das er unter allen am höchsten stellte, dann

„Die zwei Stimmen", und sagte seine Verse „An die Lerche" her." Man hat Wordsworth voll und ganz, wie er im täglichen Um­

gänge ging und stand in diesen Augenblicksbildern: Die höhnischen Urteile

moderne

über

alle

Kultur

ftemden —

Völker,

der

den

die

derselbe,

Einwand

gegen

Muhamedaner

die noch

heuügen Tags beständig gegen sie zur Hand haben — daß sie sich nämlich mit großer Unsittlichkeit vereinigen lasse, die Verherr­

lichung der herkömmlichen Moral als des konservativen Elementes

Landleben und Schilderungen vom Lande.

69

(die wahre Moral ist das radikalste Element, das es giebt), die an Novalis erinnernde Entrüstung über Goethe, und endlich die

Citate aus seinen eigenen Poesien als Finale!

Emerson faßt seine Eindrücke in folgende Worte zusammen:

„Sein Antlitz hellte sich einige Male auf, im übrigen zeichnete sich das Gespräch nicht durch besondere Kraft oder besonderen

Schwung aus: Wordsworth ehrt sich selbst durch seine schlichte Wahrheitsliebe, allein man staunt über die engen Grenzen seiner Gedanken.

Einem einzelnen Gespräch nach zu schließen, machte er

den Eindruck eines beschränkten, echt englischen Geistes, der die seltenen Stunden der Begeisterung mit der Prosa der andern

bezahlte." 1843 traf Wordsworth zum ersten Male mit Dickens zu­

sammen.

Wordsworth hegte eine ungemeine Verachtung gegen alle

jungen Leute, und der gemeinsame Freund, bei dem die Begegnung

stattgefunden

hatte,

war

daher begierig zu erfahren,

Eindruck der große Humorist auf ihn gemacht habe.

welchen

Nachdem er

in der ihm eigenen Weise den Mund verzogen und die Beine so

übereinander geschlagen hatte, daß die nackten Knöchel über den Socken hervorschauten, erwiderte er gedehnt:

„Oh, ich bin nicht

sehr geneigt, mich gegen die Leute, die ich treffe, kritisch zu ver­ halten, doch da Sie mich nun einmal danach fragen, so will ich aufrichtig gestehen, daß er mir ein recht geschwätziger, recht ge­

wöhnlicher junger Mensch zu sein scheint — übrigens mag er ja recht tüchtig sein.

Verstehen Sie mich recht, es liegt mir fern, auch

nur ein Wort gegen ihn sagen zu wollen, denn ich habe nie eine

Zeile

seiner

Schriften

gelesen."

Einige

Zeit

darauf

richtete

der gemeinsame Bekannte diskret die Frage an Dickens, wie ihm

der Laureat-Poet gefallen habe. Dickens.

„Nicht im geringsten.

„Er mir gefallen?" antwortete

Er ist ein schauerlicher alter Esel."'

1 Like him! Not at all. He is a dreadful old ass. R. 8. Mackenzie: Life of Dickens.

Der Leser wird ein so absprechendes Urteil sicherlich nicht unterschreiben.

So viel aber steht fest, daß Wordsworth im per­

sönlichen Umgänge die Geduld ungemein auf die Probe gestellt

haben muß.

Wenn er sprach, sagt einer seiner Zeitgenossen,

arbeitete er wie ein Walfisch und verkündete Truismen im Orakel­

ton.

Das Wort Truismus (Wahrheit, die zu wahr ist, als daß

man sie auszusprechen brauchte) ist für mehr als seine mündliche

Produktion bezeichnend. Seite seiner Poesie.

Es trifft die ganze betrachtende, belehrende

In ihr liegt keine besondere geistige Krast

oder Leidenschaft, sondern ein Hamletsches Verweilen bei den großen

Fragen von Sein oder Nichtsein, Geburt, Tod und Zukunst; die Leiden und Sünden des Menschen hieniedm und seine Hoffnung auf ein künftiges Leben, der geringe Umfang unseres ganzen Wissensbereiches und das mit Bangen erfüllende Verhältnis, in

dem wir zu der Welt des Übernatürlichen stehen — das sind, wie Masson sagt1, die steten und unvermeidlichen Gegenstände der

Betrachtung und Sorge für den Menschen im allgemeinen und für Wordsworth im besonderen.

Allein diese Gedanken bewegen

sich unglücklicherweise, da sie nicht dem Mittelpunkte, sondern der

äußersten Peripherie unseres Wissens angehören, ans Bahnen, die nirgends hmführen, auf alten ausgetretenen, von tiefen Gleisen durch­

furchten Wegen, die sich im Kreise bewegen, und welche man mit ruhiger, würdiger Melancholie, doch ohne Nutzen oder Gewinn

für sich selbst oder andere, befahren

kann.

Daß sich Words­

worth immer wieder hinaus begiebt an diese Peripherie unseres

Wissens, welche Anhänger der positiven Religionen als den natür­ lichen Mittelpunkt unserer

Gedanken betrachten, hat mehr als

alles andere dazu beigetragen, daß sein Ruf, so groß er auch in England ist, nie sonderlich weit über die Grenzen seines Landes

zu dringen vermochte.

1 Siehe Masson: Wordsworth, Shelley, Keats and other essays.

Als Coleridge Wordsworth persönlich kennen lernte, hatte dieser bereits genug veröffentlicht, so daß man sich ein Urteil über

die Beschaffenheit seiner Originalität bilden konnte.

Was Cole­

ridge an Wordsworth's Poesie rührte, das war die Vereinigung von tiefem Gefühl mit dem, was ihm als tiefer Gedanke er­ schien, das feine Gleichgewicht zwischen Treue in der Beobach­

tung und Einbildungskraft in der Umgestaltung des Beobachteten,

vor allem aber die Gabe, den Hauch einer idealen Welt über Gestalten, Zustände, Verhältnisse und Vorgänge zu verbreiten,

welchen die Gewohnheit

alles Interesse für das gemeine Auge

benommen hatte.

Wordsworth's und Coleridge's erste Gespräche drehten sich

um das, was sie

als die beiden Hauptpunkte der Poesie er­

achteten, das Vermögen,

die Teilnahme des Lesers durch echte

Naturwahrheit zu erwecken, und das Vermögen, durch die um­

stimmenden Farben der Einbildungskraft das Interesse der Neuheit

einzuflößen. Der plötzliche Reiz, den Auge und Seele bei dem Lichtund Schattenspiele in der Natur empfinden, das neue zauberhafte Aussehen, welches Mondschein oder Sonnenuntergang einer längst

gekannten Landschaft verleihen können, schienen ihnen für die Mög­ lichkeit einer Versöhnung der beiden Elemente zu bürgen.

Hier

hatte man ja die der Natur eigene Poesie, es galt nur, sie wieder

zu erzeugen.

Sie wollten nicht direkt die Natur, sie wollten die

Poesie der Natur nachahmen. Sie

beschlossen

eine Reihe

welche zwei verschiedenen

ersten

sollten Handlung

von Dichtungen zu schreiben,

Kunstgattungen

angehörten.

In

der

und handelnde Personen übernatürlich

sein, und der angestrebte Vorzug in der dramatischen Wahrheit der

Schilderung solcher Gemütsbewegungen liegen, welche die Situation naturgemäß begleiten würden, wenn sie reell wäre.

Und reell

in diesem Sinne war sie ja doch für jeden Menschen, der jemals,

gleichviel auf Grund welcher Illusion, unter übernatürlicher Ein-

72

Landleben und Schilderungen turnt Lande.

Wirkung zu stehen glaubte.

Die Ausführung dieser Aufgabe fiel

Coleridge zu, und es läßt sich wohl kaum bezweifeln, daß auch er es war, der sie stellte.

Jeder in der europäischen Litteratur

einigermaßen bewanderte Leser wird sofort erkennen, in welch naher

Verwandtschaft sie zu den Aufgaben steht Romantik sich stellte und löste.

welche die deutsche

Eigentümlich englisch ist es aber,

daß der Nachdruck hier nicht auf das Übernatürliche und Phan­ tastische, sondern auf die Naturwahrheit gelegt wird, so daß die

Romantik hier nur eine der Formen des Naturalismus bildet. In der zweiten Dichtungsart sollten die Stoffe aus dem

Alltagsleben geschöpft werden. Wordsworth aber, dem diese Gruppe zufiel, nahm sich vox, den einfachsten, natürlichsten Begebenheiten einen Schimmer von etwas Außerordentlichem, Neuem, ja Über­

natürlichem

dadurch

mitzuteilen,

daß

er

das

Gemüt

seinem

Gewohnheitsschlummer entriß und es zwang, sich auf die Schön­

heit und die Wunder zu richten, welche die wirkliche Welt unbeachtet vor dem Meuschengeiste entfaltet.

Er machte den Versuch zum

erstenmal in den „Lyrischen Balladen", welche die Vorrede als

ein „Experiment" bezeichnete, ob nämlich Gegenstände, die ihrer Natur nach sich nicht zu „ausschmückender" Behandlung eigneten,

nicht dennoch, wiewohl in der Sprache des täglichen Lebens vor­ getragen, zu interessieren vermöchten, und er setzte später den Ver­

such in Hunderten von Gedichten höchst ungleichen Wertes fort,

deren Helden und Heldinnen samt und sonders den unteren und

untersten, in ländlichen Beschäftigungen ausgewachsenen Volks­ schichten angehören und im Rahmen des ländlichen Lebens darge­

stellt sind. In der dänischen Litteratur findet man keine derartige Gruppe

von Dichtungen.

Hingegen wird derjenige, welcher Wordsworth

mit Aufmerksamkeit studiert,

dann und wann auf eine Form

der poetischen Anekdote und einen Erzählerton stoßen, welche an Runebergs „Fähnrich Stahl" erinnern.

Selbst im Rhythmus und

Metrum kommen hie und da leise Anklänge vor; es wäre interessant, zu erfahren, ob Runeberg den englischen Dichter überhaupt ge­ kannt hat; vielleicht rührt die ganze schwache Ähnlichkeit nur daher,

daß die Begebenheiten sich bei beiden beständig innerhalb derselben eng begrenzten Örtlichkeit abspielen, in der Umgebung der eng­ lischen wie in der Umgebung der finnischen Seen.

zwischen ihnen ist jedenfalls außerordentlich groß.

Der Unterschied Bei Runeberg

der kriegerische Hintergrund und Ton, der flammende lyrische Stil, die begeisterte Vaterlandsliebe, bei Wordsworth das Stillleben in

ländlichem Frieden, die rein epische Haltung und der vollständige

Kirchturmpatriotismus, die Liebe zu dem Thun und Treiben in etlichen Kirchspielen.

Bei Runeberg die Begeisterung des Soldaten

für das Heer, bei Wordsworth die Fürsorge des Dorfpfarrers für die Gemeinde.

Ein dänisches Gedicht giebt es indessen, das in ganz über­

raschender Weise an Wordsworth's Ton und Stil erinnert, nur daß es weit dramatischer ist, als alles, was er je geschaffen hat.

Es ist „Der Obsthändler" von Henrik Hertz.

Dieses Gedicht steht

merkwürdig vereinzelt unter den Poesien von Hertz da, so vielerlei Saiten sie auch anschlagen.

Dessen Held ist wie geschaffen, von

Wordsworth behandelt zu werden; die Gabe zu rühren ohne zu

verherrlichen ist ganz die Sache des Meisters der Seeschule. Selbst­ verständlich zeigt es nicht jene Eigentümlichkeit, an der gerade Wordsworth als solcher kenntlich wird, und die er selbst als die Kunst bezeichnet,

dem

Alltäglichsten einen

fast

übernatürlichen

Glanz zu verleihen. Ein Gedicht, ein nichts weniger als vorzügliches, das aber

unstreitig zu seinen bezeichnendsten Gedichten gehört, Resolution

and Independance nämlich, liefert ein Beispiel, wie er dabei verfährt.

Der Dichter schildert seinen Spaziergang an einem

Sommermorgen, das Glitzern des Taues, den Gesang der Vögel, die Flucht des Hasen über die Felder; er denkt daran, daß er

selbst unbedachtsam wie die Tiere des Feldes und die Vögel des Waldes gewesen, und wie sehr solch ein Leben sich rächen könne. Es fällt ihm ein, daß viele bedeutende Dichter in Elend und Not

endeten, und höchst prosaische Sorgen in Bezug auf die Zukunft drücken sein Gemüt.

Da erblickt er plötzlich in dieser einsamen

Gegend in einiger Entfernung einen alten Mann: Er schien der älteste Mann, der graues Haar je trug. Wie einen ries'gen Stein man wohl gesehn Auf einer Berghöh' lagern, sichtbar weit,

Ein Wunder allen, die ihn jetzt erspähn, Wie er dahin kam und zu welcher Zeit,

Daß Leben fast ihm unser Sinn verleiht, Als wär's ein Seetier, das hinauf einst kroch, Sich nun zu sonnen dort auf hohem Felsenjoch: So schien der Mann bei seiner Jahre Last

Nicht lebend ganz, noch tot, noch schlafentrafft; Gekrümmt sein Leib, und Haupt und Füße fast Begegnend sich auf langer Pilgerschaft, Als hätte peinvoll wilder Schmerzen Kraft

Und Siechtum, in verschollner Zeit gehegt, Ein mehr als menschliches Gewicht ihm auferlegt.

Reglos wie eine Wolke stand der Greis, Die nicht der lauten Winde Toben hört, Doch regt sie einmal sich, ringsum die Ruhe stört.

Wie genial hier das Doppelgleichnis ist, und wie mystisch es wirkt!

Der Greis gleicht dem ungeheuren Stein auf der

Höhe, und dieser Stein wieder sieht so gewaltig aus, daß er

wie ein Seetier heraufgekrochen zu sein scheint.

Mit seltener

Kraft ist hierdurch der Eindruck des hohen Alters gegeben.

Alte schien „der älteste Mann", der je gelebt.

Der

Befänden wir uns

in Deutschland oder auf dem Boden der Romantik, wir würden nicht erstaunt sein zu erfahren, daß wir hier den Schuhmacher

von Jerusalem vor uns hätten. Wordsworth's Führung.

Allein wir sind in England unter

Es zeigt sich denn auch, daß der alte

Mann ein in hohem Grade gewöhnliches menschliches Wesen ist,

Egelsammler von Profession, eine Profession, die für alte, schwache

Leute in einer wasserreichen Gegend paßt.

Die zuversichtliche,

gottergebene Rede des alten Mannes, seine heitere Ruhe, selbst in der äußersten Einsamkeit und Armut,

beruhigen den jungen

Dichter in seiner Furcht vor der Zukunft, und er beschließt, so oft ein solches Bangen sich seines Gemütes bemächtigen sollte, des alten Egelsammlers zu gedenken.

„Dies ist kein Odenflug", wie

Johannes Ewald irgendwo sagt, doch es giebt einen guten Begriff von der Wordsworth eigenen Gabe, dem alltäglichsten, naturalistischsten

Stoffe durch die Art der Behandlung ein gewisses phantastisches, großartiges Gepräge zu verleihen.

Dieses Streben hat

in nicht wenigen von Wordsworth's

Gedichten sich selbst karikiert, überall nämlich, wo bei ihm eine mystisch-religiöse oder grauenvolle Wirkung durch ein einfach un­

heimliches oder außergewöhnliches Ereignis verursacht wird, das er mit der Wirkungskraft des sogenannten Übernatürlichen aus­

stattet.

Es ist höchst pueril, wenn in dem Gedichte The Thorn

ein Erzähler (dessen Stand und Verhältnisse nicht näher angegeben sind, den sich aber Wordsworth, wie er selbst zu Coleridge äußerte, als einen alten, pensionierten, völlig faseligen Schiffskapitän ge­

dacht hatte) mit einem ekstatischen Grauen, als handele es sich

um eine Gespenstergeschichte, von einem armen irrsinnigen Mädchen berichtet, das nachts in einem hochroten Kleide unter einem Dornen­

busch sitzt und wehklagt.

Und geradezu parodistisch wird diese

Richtung in Wordsworth's, dem Publikum in so anspruchsvoller

Form vorgelegtem „Peter Bell", einer Dichtung, die ohne Shelley's Satire

gleichen

Namens

sicherlich

vollständig

vergessen

wäre.

Hier führt nämlich das Entsetzen eines rohen, grausamen Gesellen über die übernatürliche Standhaftigkeit, mit der ein armer Esel lieber die schrecklichsten Prügel erduldet, als daß er sich von der

Stelle

rührt,

im

Verein

mit

einer

von der

Dunkelheit

er­

hitzten Phantasie die moralische Bekehrung des Gesellen herbei.

Die

des

Beharrlichkeit

Esels

hatte,

wie

sich

herausstellt,

ihren Grund darin, daß sein Herr, an der Stelle, wo er stand, in das Wasser gestürzt war; er wollte die Aufmerksamkeit darauf

Die moralische Größe des Esels steht daher hier in

hinlenken.

glänzendem Gegensatze zu der Eselei des Mannes, und Wordsworth, dem aller Sinn für das Komische abging, unterläßt nicht, diesen Gegensatz hervorzuhebm.

Und das ist kein Zufall, sondern ein Charakterzug.

Die neue

Schule fühlte in ihrem Haß gegen das Blendende und in ihrer

Vorliebe für das Schlichte, Einfältige sich zu den Eseln, diesen

(tätigen, geduldigen, besonders verkannten Geschöpfen der Natur,

die von minder genügsamen Tieren ständig überstrahlt werden, allen

Ernstes hingezogen. Coleridge ließ sich in seinem bekannten Gedichte „An einen jungen Esel, als man seine Mutter in seiner Nähe an­ pfählte", sogar zu dem warmen Ausruf „Ich grüße dich als Bruder!"1

und zu dem philantropischen Wunsche hinreißen, in einer besser ein­

gerichteten Welt, wo größere Gleichheit herrsche, dem Esel einen friedlichen Weideplatz schenken zu können — dann würde dessen

frohes Wiehern seinem Ohre schöner klingen, als die süßeste Musik. Es kann nicht Wunder nehmen, daß der Spottvogel Byron diesen

Brudergruß English

sofort

bards

aufgriff

and

und

sich

cotch reviewers

in seiner ersten Satyre

darüber

lustig machte.

Coleridge war indes dieser extreme Naturalismus nicht in Fleisch und Blut übergegangen, und er war selbst der erste, seine Überspannt­ heit zu belachen. Wordsworth hingegen, der zur Konsequenz veran­

lagt und zugleich streitbaren Sinnes war, trieb als Dichter dm rein litterarischen Naturalismus zu dessen letztm, äußersten Konsequenzen.

Er wählte sich fast durchgehends Stoffe aus dem Leben der

Landbevölkerung und besonders der unteren Volksschichten, und zwar nicht wie die Franzosen des vorigen Jahrhunderts, um, selbst ge­ schliffen und gebildet, das Ungeschliffene als Kontrast und mit einem

1 Innocent fool! thou poor despised forlorn!

I bail thee brother.

Gefühl der

Überlegenheit

zu

genießen,

sondern

weil

er

der

Meinurg war, daß die wesentlichen Leidenschaften des Herzens bei diesen Klassen ein besseres Erdreich fänden und zu größerer

Reife gediehen, als bei den Gebildeten, ferner weil sie, die einem geringeren Zwange unterlagen, eine schlichtere Sprache redeten.

Er mente, daß die Grundgefühle des Menschenherzens bei dem Landbewohner einfacher und elementarer hervorträten und daher leichter beobachten ließen, als im Stadtleben.

endlich überzeugt,

daß

das Zusammenleben

mit

den

sich

Er war schönen,

bleibenden Formen der Natur, im Verein mit dem Gepräge des Notwerdigen, ©tätigen der ländlichen Beschäftigungen, alle Ge­

fühle lauernder und stärker machen müßte.

Man findet sonach

hier, in der Geburtsstunde des Jahrhunderts, den Keim zu der

mehr als fünfzig Jahre aufrecht erhaltenen, weitverzweigten, von Land zu Land sich verpflanzenden ästhetischen Grundanschauung,

die in Deutschland, Frankreich und Skandinavien zur Bauern­ poesie und Dorfgeschichte,

in

manchen Ländern zu besonderer

Verherrlichung der Sprache des Volkes führt. Indem man botanisch

diesen Keim zerlegt, lernt man die Naturgeschichte der Pflanze aus dem Grunde kennen. Wordsworth's Ausgangspunkt ist rein topographisch.

Die

Ortsbeschreibung im weitesten Sinne des Wortes ist ihm noch mehr als

Scott

eigentümlich.

Seine

Lebensaufgabe

bestand darin,

englische Natur und englische Naturen so zu schildern, wie er sie

von Argesicht zu Angesicht kannte.

Und da er nur das schildern

wollte, womit er unbedingt vertraut war, so gelangte er zu dem

Schluß es sei eine Notwendigkeit für jeden Dichter, sich ständig an einen Meck Erde zu binden, und verknüpfte seinen Dichternamen

mit dm Seen Nord-Englands, beren Umgebung durchweg die

Szenerie seiner Dichtung bildet.

Ja, er ging so weit, die Heimat

eines leben als die Stätte zu bezeichnen, die sich am besten zum

Schamlatze seiner Thätigkeit für das ganze Leben eigene.

jtanbltlen und Sdjilberungrn vom Lande.

78

So ward er ein ausschließlich englischer Naturmaler, so kam es, daß seine Schilderungm ein rein lokales Interesse erhielten. Der berühmte englische Kunstkritiker John Ruskin hat Wordsworth mit Recht den

raumes

genannt.

großen poetischen Landschaftsmaler jenes Zeit­ Während Byron immer und immer wieder

der Heimat entfloh, um

Griechenlands, um des Morgenlandes

Natur mit fremden und glühenden Farben zu schildern; während

es Shelley vor dem Klima Englands als einem totbringenden für seinen zarten Körperbau schauderte, und er stets aufs neue

Italiens Küsten und Flüsse verherrlichte; während Scott Schott­ land besang, und Moore nimmer müde wurde, die Schönheit des grünen Erin zu preisen, stand Wordsworth allein als Bollblut­

engländer da, tief im Lande wurzelnd und mit dessen Grund und Bodm selber, gleich einer alten Eiche, mit tausend Fasern ver­ wachsen. Sein Ehrgeiz war, ein echt englischer beschreibender Dichter

zu sein.

Wenn er sich also in die Gegend verüefte, wo er zu

Hause war, Spaziergänge, Segelfahrten machte, in die Kirche

ging und Besuche von Bewunderern empfing, so geschah dies mit der allerumständlichsten Kenntnis des Lebens der unteren Klassen dort in der Gegend, wie des ländlichen Lebens überhaupt.

Er

hat denselben Blick dafür wie ein guter, würdiger, englischer Land­

prediger von der Art, wie er ihn selbst in der „Exkursion" ge­ schildert hat.

Seine Spezialität sind alle die gewöhnlichen Kirch­

spielbegebenheiten und Kirchspielunfälle, die in einer ländlichen Gegend

in England sich ereignen: die Rückkehr eines längst verschollenen Pfarrkindes in die heimatliche Gegend, wo es sein Häuschen ver­

schwunden und die Namen aller seiner Lieben auf dem Kirchhof

findet (The brothers); das Schicksal eines armen, verführten und verlassenen Mädchens (Ruth); der nächtliche Ritt eines idiotischen Kindes, das, nach dem Arzt geschickt, sich auf dem Wege verirrt (The

idiot boy); das überraschende Abenteuer, das ein kleiner blinder Knabe, ohne zu Schaden zu kommen, bestand (The blind Highlandboy);

der Kummer eines alten vortrefflichen Vaters über seinen mißratenen Sohn (Michael); der klägliche Hang eines in der ganzen Gegend

beliebten Postillons zu einem kleinen Schwips, und seine darauf hin erfolgte Entlassung (besungen in vier Gesängen, unter dem

Titel The waggoner).

Das einzige Unenglische in der Art und Weise, wie diese Begebenheiten, selbst die leichteren und lustigeren, berichtet werden, ist der völlige Mangel

an Humor in der Darstellung.

Statt

des Humors hat Wordsworlh, wie Masson sich trefflich ausdrückt, „ein hartes wohlwollendes Lächeln".

Doch tief und bewegt ist

zur Entschädigung dafür das Pathos, womit er die tragischen oder

ernsten unter diesen einfachen Lokalgeschichten erzählt.

Besitzt dies

Pathos in all seiner Reinheit und Echtheit keinen pythisch-bebenden

oder modern glühenden Charakter, so wirkt es um so stärker auf die Mehrzahl des Menschengeschlechtes, die den Dichter sich lieber

nicht allzuhoch über ihr Niveau erheben sieht und das Wohl­ thuende, Heilende der Sympathie empfindet, der es entquillt.

Es

ist das eine Sympathie, welche der des Priesters oder des Arztes gleicht, und welche, obschon weniger sanft als professionell, durch ihren vollendeten Ausdruck ergreift. Nirgends

wohl giebt dieser Ausdruck sich schöner als in

Gedichten, wie „Simon Lee" oder „Der alte Bettler von Cumber­

land".

Ersteres ist eine Anekdote von einem Jäger, der, in

seiner Jugend der flinkeste mit Horn und Hund, zu Fuß und zu

Roß,

Dichter

nun

eines

so

altersschwach

Tages

nur

wie das Ausgraben einer

mit

geworden Mühe

ist,

eine so

daß leichte

ihn

der

Arbeit,

morschen, faulen Baumwurzel, ver­

richten sieht. „Zu schwer für Euch ist's, guter Mann," Sprach ich, „gebt mir den Karst zur Hand!"

Und frohen Blickes nahm er an Die Hilf', ihm zugewandt.

80

Landleben und Schilderungen uom Lande.

Ich hieb — ein einziger Schlag, da flog Die Wurzel aus der Erde, An der der Alte sich so lang

Geplagt mit viel Beschwerde.

Bon Thränen ward sein Auge naß, Und Dank und Preis gesprudelt kam

Aus seiner Brust so stürmisch, daß

Es schier kein Ende nahm. —

Ungüt'ge Herzen haben oft, Gutthaten kalt empfangen; Ach, öfter ließ der Menschen Dank Mich wehvoll trüb erbangen?

Wenige Dichter haben eine so schöne Pietät wie Wordsworth für die ohne eigene Schuld Unnützen, die demutsvollen Venerabilia der Menschheit, bewiesen.

von ein leuchtendes Beispiel.

„Der alte Bettler" giebt hier­ Wordsworth schildert, wie dieser

Mann, v oit allen gekannt, in der Gegend von Haus zu Haus

wandert: Bon Kind auf kannt' ich ihn, da war er schon So alt, daß er mir jetzt nicht älter scheint.

Er wandert fort, ein einsam müder Mann; So hilflos ist sein Ausseh'n, daß vor ihm

Der müßig schweif'nde Reiter sorglos nicht Die kleine Gabe hin zur Erde wirft,

Nein, anhält — sicher in des Alten Hut Das Geld zu legen; und auch dann noch stets, Wenn er dem Roß die Zügel schießen ließ,

Bon seitwärts her und halb zurückgewandt, Zum Bettlergreis hinüberblickt. Die Frau Am Schlagbaum, wenn sie Sommers vor der Thür Ihr Spinnrad dreht und auf dem Straßendamm Den Bettler kommen sieht, verläßt ihr Werk,

Und öffnet.ihm den Schlag zum Weitergeh'n.

Der Postknecht, desfl rasselnde Räder ihn Oft überholen auf dem Heckenpfad,

1 I’ve heard of hearta unkind, kind deeds With coldness still returning; Alas! the gratitude of men Has oftener lest me mourning.

Rust ihm Von ferne; und wenn, so gewarnt, Der Alte doch nicht ausweicht, biegt der Knecht Langsaniern Schritts beiseit und fährt an ihm Freundlich vorüber, ohne einen Fluch

Auf seinen Lippen oder stillen Groll ....

Doch haltet diesen Mann für nutzlos »licht! — Staatsulänner ihr, die, rastlos iveif und klug,

Ihr stets den Besen schwingt, um aus der Welt Jedwedes Ärgernis zu fegen! Ihr, So stolz gebläht in eurem Übermut

Auf eure Gaben, Weisheit oder Macht,

O, nennt ihn eine Last nicht! Ein Gesetz Jst's der Natur, daß kein Erschaffener,

Und fei'S das niedrigste und schlechteste Und schädlichste Don alle»! Dingen, lebt.

Dem nicht doch etwas Gutes innewohnt, Ein Hauch und Puls des Guten, Lebenskraft

Und Seele, mit jedweder Form des Seins Untrennbarlich verknüpft Wo sich der alte Bettler blicken läßt, Treibt des Gebrauches niisbe Nötigung

Zu Liebesthaten, und Gewohnheit thut, Was die Vernunft heischt, und bereitet doch Nachsreude, wie Vernunft sie liebt.

So wird

Durch dies Gefühl von unerstrebter Lust Die Seele unvermerkt zu Tugend und

Zu wahrem Gutsein hingelenkt. . . . Der Reiche, der behaglich vor der Thür Des eignen Hauses sitzt und, gleich der Frucht

Des Birnbaums über seinem Haupt, gedeiht Im Sonnenschein; — der^ kräftige junge Mann, Der Glückliche, Gedankenlose, — sie, Die unter sichrem Obdach leben, und

In einem Hain von Sprossen ihrer Art Wachsen und blühen, — Alle sehn in ihm

Den stillen Mahner, welcher ihrem Sinn

Den flüchtigen Gedanken einmal doch Der Selbstglückwünschung einprägt.

Man

lese

dieses Gedicht

in den prachtvollen fünffüßigen

Jamben des Originales, und man wird zugeben, daß, wenn es eine

Predigt ist, es eine Predigt in optima forma ist. Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

Es lag näm-

6

Landleben unb Schilderungen vom Lande.

82

lich in diesem Naturalismus, der in seiner späteren Entwickelung folgerichtig und logisch sich zum Humanismus und Radikalismus

gestaltete, ursprünglich ein Hang zum Moralisieren und zu evan­ gelischer Religiosität.

Er suchte die Einfältigen im Herzen, die

Armen, die in den Augen der Welt Geringen auf — das stimmte

mit der Moral des Evangeliums überein.

Er verwarf eine ver­

feinerte Civilisation und wandte ihr den Rücken, um zu seinen

Helden Fischer und Bauern zu ersehen — darin folgte er nur dem Beispiele des Evangeliums.

Auf diese Art paarte sich bei

Wordsworth ganz konseqnent der Naturkultus mit dem in Eng­ land so hochgehaltenen moralisierenden und protestantisch-christlichen

Element.

Man verwerfe auch

Lehrgedichte.

nicht so ganz seine moralischen

Es liegt so manches Mal eine eigene Größe in der

Weise, wie die einfache Lehre ausgedrückt ist.

Wer wollte echte

Hoheit den Worten absprechen, womit in „Laodamia" der trauernden Gattin verkündet wird, daß sie, statt ihren Gatten zurückzubegehren, auf ihn verzichten möge, um durch die Liebe zu einem edleren,

geistigeren Leben geläutert zu werden?

Learn by a mortal yeaming to ascend Towards a higher object. — Love was given, Encouraged, sanctioned, chiefly for that end. For this the passion to excess was driven — That seif might be annuled: her bondage prove The fetters of a dream, opposed to love.

Ja, selbst die abstrakte Ode an die Pflicht, die eine wahrhaft

Kantische Begeisterung aufweist, hat genial-verstandeswidrige Zeilen,

erhaben wie eines der Paradoxe der Kirchenväter.

Die Pflicht

apostrophierend ruft der Dichter aus: „Du hältst in Takt der Sterne Schwung, Die ältsten Himmel sind durch dich noch stark unb jung/"

1 Thou dost preserve the stars from wrong And the most ancient heavens through Thee are fresh and strong.

Doch von allen Poesien dieser Art wird der Leser rasch zu Wordsworth's eigentlichem Gebiete, seinen Idyllen, zurückkehren.

Werfen wir noch einen Blick auf diese Gedichte und auf die Lehre, die der Dichter durch sie verkünden will.

Es steht fest,

daß Wordsworth der Schilderung des ländlichen Lebens eine größere Bedeutung für die Poesie überhaupt beilegt, als ihr zu­

kommt.

Seine Uingebung war allerdings danach angethan, solch

eine theoretische Überschätzung bei ihm hervorzurufen.

Wenn er

zu seinen Helden shepherd-farmers aus Cumberland und West-

moreland als Modelle verwenden konnte, so rührt dies daher, daß

diese Männer, die einerseits unabhängig genug waren, um nicht für andere arbeiten zu müssen, andrerseits sich doch nicht der Notwendigkeit zu arbeiten oder in dürftigster Bescheidenheit zu leben überhoben sahen, ungewöhnlich poetische Eigenschaften dar­

boten.

Daß das Landleben an und für sich bessere, ist ein Aber­

glaube; es kann ebensogut abstumpfen.

Coleridge hat z. B. nach­

gewiesen, daß bei einem Vergleiche der Art und Weise, wie in

England damals Liverpool, Manchester und Bristol die Armen­

gesetze zur Anwendung brachten, mit jener, wie auf dem Lande die Armenpflege gehandhabt wurde, dieser Vergleich gänzlich zu

Gunsten der Städte ausfalle. Wordsworth überschätzte ferner die Bedeutung, welche die Schilderung der ländlichen Beschäftigungen für seine eigene Poesie

hatte.

Nicht

nur sind die Hauptpersonen vieler seiner besten

Dichtungen (wie Ruth, Michael, The brothers) nicht ausdrücklich

Bauern oder Landbewohner, er hat auch so manches Mal infolge

seiner naturalistischen Leidenschaft und seines damit verwandten Hanges, durch Verherrlichung der untersten Volksschichten zu mora­ lisieren, den Namen irgend einer unansehnlichen, niederen Profession

mit Gaben oder Eigenschaften verknüpft, von denen es wenig wahr­ scheinlich ist, daß sie damit verbunden sind.

Es ist ein Paradoxon,

welches Wordsworth mit einer gewissen Vorliebe in seinem Gedichte

6*

Landleben und Schilderungen eom Lande.

84

„Die Exkursion"

predigt, daß große Dichter in den niedersten

Ständen verborgen feint;1 2es befriedigt auch seine evangelischen Neigungen, sich die Unabhängigkeit des Talents von Vermögen

und guten äußern Lebensverhältnissen zu denken.

Mag sein, daß

es davon unabhängig ist, wäre es aber nicht gleichwohl wider­

sinnig,

dem

Poeten

in

einem

Gedichte

die

Schornsteinfeger­

profession beizulegen, und dann in einer sorgsam ausgeklügelten Biographie zu erklären, wie es kam, daß er zugleich Dichter,

Philosoph und Schornsteinfeger ward? Derartige Erscheinungen ver­ mag nur die wirkliche Lebensbeschreibung zu rechtfertigen.

In der

Poesie wirkt ein so weit getriebener Naturalismus anstößig, weil der

Fall allzuwenig typisch ist. Und welcher Unterschied besteht zwischen diesem Falle und allen jenen, wo Wordsworth einem Hausierer,

einem Egelsammler, einem Bauern Gedankm in den Mund legt, die,

von

müssen?

solchen

Lippen

vernommen,

mit

Staunen

erfüllen

Um seine Personen zu rechtfertigen und hinlänglich zu

erklären, sieht sich daher Wordsworth zur Einführung allerlei zu­ fälliger, untergeordneter Umstände genötigt, deren es bedarf, um eine Thatsache des wirklichen Lebens plausibel zu machen, was

man

einem Dichter gern erlassen wird.

Die kleinliche Rück­

sichtnahme auf die Wahrscheinlichkeit, die kleinliche Ängstlichkeit

in der Motivierung ist im hohen Grade ermüdend bei Words­ worth, besonders bei den langen Übergängen und Beschreibungen

der „Exkursion," welche Byron witzig als ein ewiges: „Hier gehen

wir hinauf, und hier gehen wir hinab, und hier gehen wir rund herum" bezeichnet hat?

1 Oh! many are the Poets that are sown By nature; Men endowed with highest gifte, The vision and the faculty divine, Yet wanting the accomplishment of verse . . . The Excursion I, The Wanderer. 2 Or Wordsworth with his eternal: Here we go up, up and up, and here we go down, down, and here round about! Look at the nerveless laxity of the Exursion! What interminable prosing! Byron.

Die

Wahl

seiner Stoffe

führt Wordsworth überdies zu

einer Eigentümlichkeit in sprachlicher Beziehung, die man wohl

als

die

äußerste

bezeichnen

darf.

Sprache,

deren

sei,

litterarische

Konsequenz

dieses Naturalismus

Wordsworth stellt die Behauptung auf: die

sich

die von ihm geschilderte

Klasse

bediene,

sobald man sie nur von ihren Makeln reinige, die beste,

die es gebe, weil Männer und Frauen des niederen Landvolkes in stetem Verkehr mit jenen Gegenständen leben, von welchen der

beste Teil unserer Sprache ursprünglich abgeleitet ist, und weil sie infolge der Einförmigkeit und Enge ihres Gesichtskreises am wenig­

sten der gesellschaftlichen Eitelkeit ausgesetzt seien, welche zu ge­ suchtem, gedrechseltem Ausdruck verleite. Da nun diese Sprache die beste ist, so wird, meint Wordsworth, es keinem Dichter möglich sein,

eine bessere Ausdrucksweise an ihre Stelle zu setzen, gleichviel, ob er in Prosa oder in Versen schreibt.

Und so gelangt denn Words­

worth zu seinem bekannten, interessanten Paradoxon, daß zwischen Prosasprache

und

metrischer

Komposition

irgend

wesentlicher Unterschied weder sei, noch sein könne.

ein

Wenn

er hiermit nur einen Protest beabsichtigt hätte gegen alle leidigen,

jämmerlichen Sprachverrenkungen, zu denen Reimnot und Mangel an rhythmischem Gefühl nur allzuviele, selbst hervorragende Dichter

getriebm haben, so würde man ihm vom Herzen zustimmen können.

Theodor Banville hat mit vollem Rechte seiner Poetik' ein Kapitel eingefügt, dessen Überschrift „Licentia poetica“ und dessen Inhalt

ist: „Es giebt keine."

Allein Wordsworth will seinen Satz ganz

anders aufgefaßt wissen.

Er erklärt, daß die Sprache, nicht nur

bei großen Partien eines jeden guten Gedichtes, in allen andern Beziehungen als der einen metrischen, naturgemäß mit der Prosa zusammenfallen, sondern daß sie sogar bei den allerintereffantesten

Partien der allerbesten Gedichte mit dem Prosastile gänzlich über-

1 Petit traite de poesie frangaise.

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Landleben und IchUderungen vom Lande.

einstimmen müsse. Denn, sagt Wordsworth, wie wahr und lebendig die Sprache des Dichters auch ist, so lebendig und so wahr wie die Sprache dessen, der in der erdichteten Situation sich befindet,

kann sie doch niemals werden; mit andern Worten» sie kann den prosaischen Ausdruck der Wirklichkeit niemals übertreffen, sie kann

sich ihm höchstens nähern.

Mit echt englischer Hartnäckigkeit be­

harrte er auf seiner Doktrin den von allen Seitm auf ihn ein­ stürmenden Angriffen gegenüber.

Man hatte als ein Mustergedicht

nach der neuen Poetik folgende von Samuel Johnson fabrizierte, burleske, doch von der Prosasprache sicherlich nicht abweichende

Strophe angeführt: I put my hat upon my head And walked into the Strand And there I met another man, Whose hat was in bis hand.

Dies ist keine Poesie,

sagt? man.

Zugegeben, erwiderte

Wordsworth, doch auch als Prosa ist es weder an sich interessant, noch zu etwas Interessantem führend und daher außer stände,

Gefühle und Gedanken anzuregen.

„Wozu beweisen, daß ein Affe

kein Newton sei, wenn er nicht einmal ein Mensch ist?"

Und

der herrschenden Anschauung, die er ungefähr mit den Worten

charakterisiert, daß ein Schriftsteller, indem er in Versen schreibt,

eine Art Verpflichtung übernehme, gewissen geistigen Gepflogen­ heiten entgegenzukommen, gewissen Klassen von Ideen in seinem

Buche Raum zu geben und andere sorgsam ausznschließen, stellt er

nun

seine

Überzeugung

von

der Wesenseinheit

der

guten

Poesie und guten Prosa entgegen, welche, auf seinem Abscheu vor der

poetischen Affektation beruhend,

ihn

in

seinem poetischen

Schaffen dahin führte, seinen in vielen Beziehungen so muster­ gültigen,

meisterhaften

poetischen Stil bald gewaltsam zu be­

schränken, bald geradezu zu trivialisieren.

Gegen die Verherrlichung der Sprache des Landvolkes, von welcher Wordsworth ausgeht, und die nicht ohne Analogie mit

Landleben und Schilderungen vom Lande.

87

dem Kultus der Volkssprache ist, wie er in Dänemark von Grundtvig

ausging,

ist vor allem einzuwenden, daß die Sprache eines

Bauers, von den Provinzialismen gereinigt, wie es der Dichter

fordert, und in Einklang mit den Regeln der Grammatik gebracht,

sich nicht von der eines jeden andern verständigen Mannes unter­ scheiden wird, nur daß der Bauer weniger und minder klare Begriffe besitzt.

Ferner wird er, seiner geringen Entwicklung

halber, nur bei der einzelnen, seiner beschränkten Erfahrung oder seinem überlieferten Glauben entnommenen Thatsache stehen bleiben,

während der Entwickelte den Zusammenhang der Dinge überblickt Wordsworth meint, der

und nach allgemeinen Gesetzen forscht.

beste Teil der Sprache sei von den Gegenständen, die den Bauer

umgeben und beschäftigen, abgeleitet.

Allein die Vorstellungen,

die sich um Nahrung, Obdach, Sicherheit, Wohlergehen drehen,

Es wäre nicht minder

sind doch nicht der beste Teil der Sprache!

verfehlt, mit Wordsworth von dieser Sprache nur einen gewissen

Grad von Leidenschaftlichkeit zu fordern, um ihr den Ehrentitel

poetisch zuzuerteilen; denn die Leidenschaft ruft keine neuen Ge­ danken hervor, schafft keinen neuen Wortvorrat, sie setzt nur den vorhandenen Inhalt in erhöhte Wirksamkeit, wie sie auch keineswegs

die Umgangssprache zur Poesie zu erheben vermag, ist sie doch kaum im stände, sie zur Prosa zu gestalten.

Es ist eine sonderbare naturalistische Verwechselung bei Words­ worth, die Worte Umgangssprache und Prosa bunt ohne Unter­ schied durcheinander zu gebrauchen.

Die gute Prosa ist von den

leeren, sinnlosen Wiederholungen, den unsicheren, stammelnden Redensarten, welche Halbbildung und Verwirrung unvermeidlich

mit sich bringen, und von denen Wordsworth leider nur allzuviele

überall da in seine Dichtungen aufnahm, wo er dramatische Diktion einführte, bereits gereinigt. allerplatteste

Es ist die unselige Vorliebe für die

Naturnachahmung,

die

in

seinen Dichtungen

die

plötzlichen peinlichen Übergänge von einer hohen, edlen Diktion

zu einer völlig stillosen verursacht.

Man sehe z. B. The blind

Highlandboy.

Poesie hat nach Wordsworth's Definition ihren Ursprung in

einer Gemütsbewegung, die man in Ruhe nachempfindet.

Sie strebt

Nachahmung der Sprache der Natur an, mit dem einen Vorbehalt, daß der Dichter, da es seine Aufgabe ist, Vergnügen, nicht einfach Wahrheit mitzuteilen, sich der Bersform bedient, die dem Leser

eine Reihenfolge angenehmer kleiner Überraschungen durch Rhyth­ Das Versmaß wirkt durch stetes Er­

mus und Reim bereitet.

wecken und Befriedigen der Neugierde jedoch auf eine so schlichte

Art, daß es keine selbständige Aufmerksamkeit auf sich zieht.

beeinflußt

ungefähr

wie

eine

künstlich

Es

hergestellte Atmosphäre

oder wie Wein bei einer erregten Unterhaltung das Bewußtsein

mächtig, aber unbemerkt.

Durch seine immer wiederkehrende Regel­

mäßigkeit dämpft und mildert es dm leidenschaftlichen oder er­ greifenden Inhalt der Erzählung und verleiht, infolge seiner Tendenz die Rede ihres Wirklichkeitsgepräges zu entkleiden, der Komposition

eine Art Halbbewußtsein ihrer Unwirklichkeit.

Im übrigen aber

könne, meint Wordsworth, selbst die beste Poesie sich in keiner Beziehung von der Prosa unterscheiden.

Er vergißt sich die Frage

vorzulegen, ob es nicht umgekehrt eine Menge Ausdrucksweisen,

Wendungen und gewöhnliche Sätze giebt, die in einer Prosa­

mitteilung am Platze sind, in der Poesie jedoch in höchstem Grade

anstößig wirken würden, und ob nicht in jedem pathetischen Gedichte ohne alle Künstelei eine Bauart und Anordnung der Sätze, so­ wie eine Benützung von Redefiguren vorkommen kann, die im

Prosastile unmöglich wäre.

Der Sinn, in dem sich einzig sagen läßt, ein großer Teil der Poesie gleiche der Sprache des wirklichen Lebens, ist der, daß ihre Ausdrücke solche seien, deren sich einige wmige der Allergebildetsten bei äußerst seltenen Anläflen bedienen würden. Im Alltagsgespräche

schweift die Rede ungebunden umher,

in der öffentlichm Rede

sammelt sie sich zu festem Zusammenhang der Gedanken; im ge­ schriebenen Buche schlängelt sich der ausgearbeitete Satz unter

mancherlei Windungen naturgemäß vorwärts.

Im Verse endlich

kann die Form nicht genug gewählt, genug fest sein.

Hier gilt

die Lehre, die Theophile Gautier in seinem herrlichen Gedicht „Die Kunst" predigt:

Oui Foeuvre sort plus belle D’une forme au travail Rebelle, Vers, marbre, onyx, email!

Point de contraintes fausses! Mais que pour marcher droit Tu chausses, Muse, un cothurne etroit! Doch wie vieles sich auch einwenden läßt gegen diese Poetik, oder, wie sie richtiger heißen könnte, „Prosaik" Wordsworth's, eine

Lehre, welche von den Zeitgenossen anfangs ausgenommen wurde, als wäre sie mit dem alten Hexengesange fair is foul and foul

is fair gleichbedeutend, sie hat für den Nachlebenden ein hohes Jnteresie als ein genauer und unzweideutiger Ausdruck des ersten

litterarischen Extrems, in das der englische Naturalismus verfiel.

VII.

Wir haben einen Augenblick Coleridge aus dem Gesichte ver­ loren. Als Wordsworth und er die neuen Dichtungsarten unter sich verteilten, fiel ihm, wie bereits erwähnt, die derjenigen Wordsworth's gerade entgegengesetzte Aufgabe zu, übernatürliche Stoffe auf natürliche Weise zu behandeln. Er löste sie in den Beiträgen, die er zu den „Lyrischen Balladen" gab, und überhaupt in dem kleinen Kranze von Gedichten, mit dem sein bedeutender Dichter­ name verknüpft ist. Samuel Taylor Coleridge war ein Landkind, eines Predigers Sohn, geboren im Oktober 1772 in Devonshire. Bon 1782—90 besuchte er die Schule in Chrisfs Hospital in London, und von dieser Schulzeit schreibt seine Freundschaft mit einem anderen englischen Romantiker, seinem warmen Bewunderer Charles Lamb, sich her. 1791—93 studierte er in Cambridge ohne jede Aussicht und ohne alle Hilfsmittel, worauf er in einem, sei es von Schulden oder von unglücklicher Liebe veranlaßten Anfalle von Verzweiflung, die Universitätsstadt verließ und unter dem Pseudonym Silas Titus Cumberback sich in das 15. leichte Dragonerregiment ein­ schreiben ließ.1 Es scheint keineswegs Ehrgeiz gewesen zu sein, was ihn, wie einige Jahre früher Johannes Ewald bewog, sein Glück als Soldat zu versuchen, sondern ausschließlich Mittellosig1 Being at a loss, when suddenly asked my name, I answered Cumberback and verily my habits were so little equestrian, that my borse I doubt not, was of that opinion.

teil.

Er blieb auch nur vier Monate Dragoner.

Denn als er

eines Tages unter seinen an der Wand hängenden Sattel den Klage­

ruf: Eheu quam infortuni miserrimum est fuisse felicem! ge­ schrieben und sein Kapitän bei dieser Gelegenheit seine Bildungs­

stufe entdeckt hatte, that dieser bei seiner Familie die notwendigen

Schritte, um ihm die Mckkehr nach Cambridge zu ermöglichen. In die nächstfolgende Zeit fällt sein vorübergehendes Auftreten als

ein

die Orthodoxie

bekämpfender

Demokrat,

infolgedessen

er sich jeden Gedanken an eine Promotion aus dem Kopfe schlagen mußte.

Seiner und Southey's gemeinsamer Verherrlichung Robespierre's (der erste Akt vom „Sturz" dieses Schreckensmannes war von Coleridge, der zweite und dritte von Southey verfaßt) ist be­

reits Erwähnung geschehen, ebenso der hirnverbrannten Kommunisten-

und Kolonisten-Pläne der Freunde.

Mitglieder der kleinen, von

ihnen gegründeten Auswanderergesellschaft waren einzig Coleridge,

Southey, ein junger Quäker, namens Lovell, und ein Jüngling, namens George Burnet, der ein Schulkamerade Southey's war.

Allein Gott Hymen hatte das Jahr 1795 dazu erkoren, diese gesellschaftsbedrohenden Pläne zum Scheitern zu bringen.

Cole­

ridge war nach Bristol gereist, um öffentliche Vorträge zu halten, und entfaltete dort all die Beredsamkeit, die bei ihm, wie etwa bei dem gleichfalls in mündlicher Rede so berückenden Norweger Welhavcn, seinen poetischen Werken das Mark ausgesogen zu haben scheint.

Eine junge Dame aus jener Stadt gewann sein Herz, und noch im selben Jahre wurde Coleridge mit Sarah Fricker getraut, während ihre Schwestern Edith und Mary Fricker, ihre Zunamen mit den Namen Lovell und Southey vertauschten, und — die

Reise nach Amerika endete, wie die der Kinder bei Christian Winther.

Wie hätte Coleridge, der sein ganzes Leben hindurch aller Willens­ kraft entbehrte, einen so lang gehegten Plan ausführen sollen! Er, der nie etwas anderes zur Ausführung brachte, als was

Naturalistische Romantik.

92

er nicht beschlossen hatte, oder was sich seiner Natur nach nicht beschließen ließ!

Im Jahre 1796 wurde er, der damals noch leidenschaftliche

Unitarier, von einigen Philantropen „überredet" — er wird immer „überredet" — unter dem Titel The watchman (der Wächter)

eine Wochenschrift herauszugeben, die 32 Seiten Groß-Oktav um

den mäßigen Preis von 4 Pence bieten sollte, und denn mit flammender Begeisterung geschriebene Subskriptions-Einladung die Devise „Wissen ist Macht" trug.

In der Absicht, Abonnenten

für sie zu sammeln, unternahm er, jung und feurig wie er war, eine Agitationsreise von Bristol und Sheffield nach dem Norden

und rundum durch das ganze Land, in allen größeren Städten an

seinem

Wege

als

unbesoldeter

Apostel

in

blauem

Rock

und weißer Weste predigend, nicht gewillt, ein pfaffenmäßigeres Gewand anzulegen, auf daß auch nicht so viel wie ein Fetzen an

ihm klebe,

das

„an

das

babylonische Weib

erinnere".

Die

Schilderung, die er von dieser seiner Odyssee entworfen hat, giebt uns ein Bild des jungen, englischen Romantikers, wie er war uni blieb: unklug in allem Weltlichen, abwechselnd für jede religiöse und

philosophische Halbheit begeistert, doch von übersprudelndem Humor in der Auffassung fremder und eigener Lächerlichkeit.

Er eröffnete seinen Feldzug in Birmingham, wo er seinen ersten Angriff gegen einen strengen Calvinisten, einen Lichtzieher von

Profession, richtete.

Derselbe war ein hagerer, finsterer Mann,

dessen Länge seine Breite so sehr übertraf, daß er in seiner Gießerei als Schürstange hätte bienen' können! „Und dies Gesicht!" rüst Cole-

ridge aus, „ich sehe es in diesem Augenblick vor mir.

Das schlicht

herabhängende, schwarze garnartige Haar, von Fett glänzend, meiner Linie mit den dunkeln Stoppeln seiner pulverfarbigen Augenbrauen

geschnitten, die wie versengter Nachwuchs vom vorwöchentlichm Bar­ bieren aussahen: sein Rockkragen hinten in völliger Üdereinstinmung

mit dem dicken klebrigen Tauwerk, welches er — denke ich —

sein Haar nannte, unb das mit einer Krümmung nach innen ant

Genick — bet einzigen Spur einer Biegung an dem Haupte — hinter seine Weste sank, währenb bas Antlitz, hager, finster, hart, mit starken senkrechten Furchen, in mir bie undeutliche Vorstellung erweckte, als ob mich jemand durch einen abgenutzten Bratrost

voller Ruß, Fett unb Eisen, anglvtzte.

Er war jedoch ein echtes

Vollblut — ein wahrer Freund der Freiheit, der, wie ich mir sagen

ließ,

zu

gewiesen hatte,

höchlicher Erbauung daß Mr. Pitt

eines

gar

für

manche

der Hörner

des

nach­ zweiten

Tieres der Offenbarung sei, desselben, welches wie ein Drache redete..."

Eine volle halbe Stunde verschwendete Coleridge seine ganze Beredsamkeit an ihn, bewies, beschrieb, verhieß und prophezeite, hegann mit der Unabhängigkeit der Völker und endete mit dem

nahen Anbruch des tausendjährigen Reiches.

Der Wachsstockmann

hörte ihn mit ausdauernder und rühmenswerter Geduld an, obwohl ein gewisser, nichts weniger als ambrosischer Dust seinem Gaste

verriet, daß er an einem Gießtage gekommen sei.

Endlich ergriff

er das Wort: „Und wie hoch, Sir, werden sich die Kosten be­ laufen?" — Auf vier Pence nur, Sir, für je eine Nummer, die

alle acht Tage erscheint." bis das Jahr um ist.

Geld geboten?"

„Das summiert sich doch ganz gehörig,

Und wieviel, sagten Sie, wird für das

„Zweiunddreißig Seiten, Sir, eng gedruckt."

„Zweiunddreißig Seiten!

Da sei Gott vor!

Das ist ja, aus­

genommen, was ich am Sabbath von wegen der Familie mir auf­ erlege, mehr, Sir! als ich das ganze Jahr hindurch jemals lese.

Ich bin so gut, wie irgend wer in Brummagem, Sir! für Frei­

heit, Wahrheit und all dergleichen, aber in diesem Falle — Sie nehmen mir es nicht übel, Sir! — muß ich schon bitten, mich zu

entschuldigen." So endigte Coleridge's erster Versuch, Rekruten im Kampfe

gegen die heilige Dreieinigkeit zu werben.

Sein zweiter in Man-

Naturalistische Romantik.

94 chester,

einem

stattlichen,

wohlhabenden

Baumwollgroßhändler

gegenüber, hatte nur das Resultat, daß ihn dieser von oben bis

unten maß und ihn frug, ob er von dem Ding eine Faktur habe.

Coleridge reichte ihm die Subskriptionseinladung, und als^ der

Mann brummend die erste Seite und schneller noch die zweite und

letzte überflogen hatte,

knüllte er das Blatt zwischen der

geballten Rechten und der Handfläche der Linken zusammen, rieb

und strich es dann bedächtig und nachdrücklich wieder glatt, steckte

es ein und wendete dann mit einem bündigen „Überlaufen mit dem Artikel!"' Coleridge den Rücken, um sich in sein Bureau

zurückzubegeben. — Nach diesen mißglückten Versuchen gab Coleridge den Gedanken, seine Abonnenten einzeln gewinnen zu wollen, auf, kam aber nichtsdestoweniger von seiner denkwürdigen Reise mit beinahe 1000 Namen auf seiner Subskribentenliste heim.

Doch —

schon die erste Nummer erschien, nach echt Coleridge'scher Manier, zu spät; die zweite, die eine Abhandlung gegen die Festtage ent­

hielt, jagte 500 konservative Abonnenten in die Flucht, und die folgenden Nummern, welche von Ausfällen gegen die französische Philosophie und Moral, sowie gegen diejenigen wimmelten, welche

ihre Reden direkt an die Armen und Unwissenden richteten, statt deren Sache vor den Wohlhabenden und Angesehenen zu führen, bewogen die übrigen jakobinischen und demokratischen Abonnenten das Blatt abzubestellen.

Coleridge scheint, indem er diese Thatsachen

selbst mitteilt, auch nicht die leiseste Ahnung zu haben, welche

natürliche Strafe für alle seine Halbheit dies war — eine Halb­ heit, die darin bestand, die Konsequenzen seines eigenen Handelns

niemals ziehen zu wollen. auf religiösem Gebiete.

Halb war er auf politischem, halb

Als alter Mann an diese Zeit zurück­

denkend, bricht er selbst in die Worte aus: „Mein Hirn war bei Spinoza, wiewohl mein ganzes Herz mit Paulus und Johannes

war!"

worauf er sich beeilt, dem Leser die rechten Beweise für

die Existenz Gottes und der Dreieinigkeit vorzulegen, die auszu-

sinnen er in seiner Jugend noch nicht fähig gewesen.1

Da die

Wochenschrift nicht mehr als ein Dutzend Nummern erlebte, wurde Coleridge Journalist, schrieb erst gegen das Ministerium Pitt,

bald aber, da seine Anschauungen mehr und mehr der konservativen Richtung zuneigten, streng ministeriell und, besonders nach der

Besetzung der Schweiz durch die Franzosen, als grimmiger Franzosen­ hasser.

So antifranzösisch waren seine Artikel in der Morning

Post, daß sie sogar die Aufmerksamkeit Napoleons auf sich zogen,

und daß Coleridge als deren Verfasser dem ersten Consul ein Gegen­ stand besonderen Zornes wurde.

Ja, seine Freiheit wäre bei seinem

Aufenthalte in Italien in Gefahr gewesen, hätte ihn nicht sowohl der preußische Ministerresident Wilhelm von Humboldt, als der eigene Onkel Napoleons, Cardinal Fesch, bei Zeiten durch einen

untergeordneten Beamten warnen lassen.

Das Jahr 1797, dasselbe, in dem er Wordsworth kennen

lernte, wurde in poetischer Hinsicht das entscheidendste Jahr seines

Lebens, sein annus mirabilis.

In diesem Jahre verfaßte er seine

weltberühmte Ballade „Der alte Seemann" und das in der Poesie

Englands epochemachende Gedichtfragment „Christabel". „Christabel" ist die Einleitung zu einem Romanzenkreise, der

niemals fortgesetzt wurde.

Es ist zweifelsohne das früheste eng­

lische Gedicht, das im strengsten Sinne von romantischem Geiste durchhaucht ist, weshalb es durch das Neue in Tonfall, Inhalt, Grundgepräge und Versbehandlung einen mächtigen Eindruck auf die Herzen der zeitgenössischen

Dichter

machte.

Das unregel­

mäßige und doch wohllautende Versmaß übte auf Scott einen so

starken Einfluß, daß er es sich in seinem ersten romantischen

Gedichte The lay of the last minstrel aneignete.

Er gesteht un­

umwunden, wie viel er dem schönen, tantalisierenden Bruchstücke

„Christabel"

verdanke, das er, wie alle damaligen Dichter im

1 Siehe Biographia Citeraria, vol. I. Abt. II. S. 208—9.

Naturalistische Romantik.

96

Manuskript kennen gelernt hatte, indem Coleridge es volle 20 Jahre

in allen Gesellschaften vortrug, ehe es das Licht der großen Öffent­ lichkeit erblickte.

Byron lernte das Gedicht auf dieselbe Weise

wie Scott kennen.

Und da er, noch bevor er es gehört hatte, in

einem seiner Gedichte (die Belagerung von Korinth, Abschnitt XIX) einige Verszeilen geschrieben hatte,

Versen in „Christabel"

aufwiesen,

die Ähnlichkeit mit etlichen benutzte er später die

Ge­

legenheit, in einer Anmerkung ein paar Worte zu Ehren dieses

„schauerlich schönen, originellen Gedichtes" zu sagen.

Daß jedoch

nicht alle die Bewunderung dieser Dichter und die noch größere Wordsworth's teilten, läßt sich aus der Biographie und dem Brief­ wechsel Moore's ersehen. Er selbst sowohl wie Jeffrey machen starke Vorbehalte in Bezug auf die Affektation des Gedichts.

(Siehe

Moore's „Memoirs“ II, 101, IV, 48.) Für Deutsche und Dänen, die durch Tieck und die beiden Schlegel, wie später besonders durch

Jngemann in die Mysterien jener poetischen Manier gründlich ein­

geweiht worden sind, hat das Fragment durchaus kein großes Inter­ esse. Die grenzenlose Naivetät der Erzählungsweise und das ganze gemacht Kindliche in Anlage und Ton ist für sie, was Bäcker­

kindern Weißbrot ist.

Der höchste Vorzug der Dichtung besteht,

von seiner süßen, vollen Melodie abgesehen, in der eigentümlichen

Gewalt, mit welcher das Wesen der bösen Fee gezeichnet ist, in dem eigentümlichen Dämonischen, das in der englischen Poesie noch nie

mit solcher Wirkungskraft wie hier hervorgetreten war.

Man

muß sich jedoch gegenwärtig halten, daß, wenn auch der erste Teil des Gedichtes im Jahre 1797 geschrieben wurde, so doch im Jahre

1800 nicht nur der zweite Teil verfaßt, sondern ohne Frage auch

eine Überarbeitung

vorgenommen

worden

ist,

d. h. nachdem

Coleridge auf einer Reise nach Deutschland, gemeinschaftlich mit

Wordsworth, die moderne deutsche Poesie, ihre mittelalterlichen Voraussetzungen und neuesten Tendenzen hatte kennen lernen. Sein zweites Hauptwerk, die Ballade „Der alte Seemann",

die noch gesuchter Buden

naiv in der Diktion und gleich den in den

der Winkelgäßchen einzeln verkäuflichen, mittelalterlichen

Volksballaden, mit einem prosaischen Inhaltsverzeichnis am Rande

ausgestattet ist, hat unter allen Gedichten Coleridge's die größte Popularität erlangt, obgleich sie bei ihrem Erscheinen erbittert an­ gegriffen wurde.

Auf eine äußerst affektierte Einleitung (drei

Hochzeitsgäste vergessen die Einladung über der Erzählung des

alten Seemannes, so beredt ist er — noch dazu auf der Gaffe, wie Falstaff sagt) folgt eine schauerliche Spukgeschichte auf einem gespenstischen Schiffe, deren Schrecknisse sämtlich dadurch verursacht

werden, daß ein Matrose so leichffinnig ist, einen Albatros zu

töten, der auf dem Schiffe Zuflucht sucht.

Die ganze Mannschaft,

einzig er selbst ausgenommen, wird für diese Ungastlichkeit mit

dem Untergange bestraft.

Als das Gedicht neu war, erörterte,

wie Swinburne erzählt, die englische Kritik auf das lebhafteste

die Frage, ob nicht

dessen Moral (daß man keinen Albatros

schießen darf?) zum Schaden der phantastischen Seite des Ge­ dichtes zu sehr vorwiege, während andere meinten, der Fehler des Gedichtes stecke in seinem Mangel an Wirklichkeitsmoral, ein

Punkt, der lange nachher Anlaß zu einer ähnlichen Kontroverse

zwischen Freiligrath und Julian Schmidt gegeben.

Die moderne

Kritik würde der Ballade und dem Dichter wahrlich die Moral

gern schenken, wenn sich der poetische Kern darin finden ließe. Ein Beispiel wird erkennen lassen, worin der Grundfehler liegt.

In der Gedichtsammlung „Die Zeitlosen" von dem deutschen

Lyriker Moritz Hartmann kommt ein Gedicht vor, das, wenn eS sich auch nicht als ein Ableger von Coleridge's „Altem Seemann" geriert,

doch auf den ersten Blick als eine unmittelbare Nachbildung desselben zu erkennen ist.

Es bewegt sich in der gleichen metrischen Form

und behandelt ein ganz verwandtes Sujet. „Der Camao".

Es führt den Titel

Der Vogel Camao, der hier.dem Albatros bei

Coleridge entspricht, wurde im Mittelalter auf der pyrenäischen Brande«, Litteratur de, 19. Jahrh. IV.

7

Halbinsel in jedem Hause gepflegt und mit einer Verehrung be­

handelt, die ihren Grund in einem allgemein verbreiteten Aber­

glauben hatte.

Dieser Vogel konnte, der Sage nach, in keinem

Hause gedeihen, dessen Glanz durch die Schuld der Hausfrau bestecht war; er starb, sobald durch ihre Treulosigkeit die Ehre des

Hausherrn

den

kleinsten Makel

erlitt.

Gewöhnlich

prächtiger Bauer in der Vorhalle des Hauses.

hing sein

In dem Gedichte

Hartmann's erzählt nun der alte irrsinnige Mann, der darin die

Stelle von Coleridge's geisteskrankem Seemann einnimmt, wie er einst als Page von wilder Leidenschaft für die Gemahlin seines

Herrn entbrannte, und welche Qualen ihm jedesmal, so oft er abgewiesen und über ihre Kälte verzweifelt aus ihren Gemächern

stürzte, der Gesang des Vogels zu Ehren ihrer Keuschheit, welcher er sein Leben verdankte, bereitet habe. Sein Herr kehrt von einem Siegs­

zuge heim, begleitet von seinem Freunde, einem schönen, jungen Sänger und Helden, dem die Schloßfrau die herzlichste Freundschaft

bezeigt, den der junge Page aber alsbald mit der ganzen Glut der

Eifersucht haßt. Seiner selbst nicht mehr mächtig, verleumdet er die

Beiden bei seinem Herrn, doch dieser erwidert ihm gelassen, daß der Camao lebe und eben zu Ehren Estrellas singe.

Da beschließt

er in blutgieriger, eifersüchtiger Raserei sich zu rächen und tötet

den Vogel.

Vasco erschlägt sein Weib — und seitdem irrt der

Verbrecher unstet und flüchtig von Land zu Land, ohne seine Seelenruhe wiederfinden zu können.

„Der

Camao"

kann

sich,

was

die Eigentümlichkeit und

Virtuosität der Sprachbehandlung betrifft, nicht im entferntesten

mit The ancient mariner messen, in Bezug auf den dichterischen

Kern steht das Gedicht jedoch nicht nur hoch über seinem englischen Vorbilde, es kritisiert überdies in erschöpfender Weise Coleridge's

Ballade und den ganzen affektiert romantischen Jdeenkreis, dem sie entspringt.

Hier.ist die Tötung des Vogels eine wirklich mensch­

liche Handlung, aus einem wirklich menschlichen Motive vollführt;

hier ist die Strafe des Thäters keine Schrulle, sondern eine gerechte,

natürliche Folge seiner Unthat.

Hier ist das Unglück, welches die

Tötung des Bogels über Vasco's Gemahlin und ihn selbst herauf­

beschwört, durch eine wirkliche ursächliche Verkettung mit derselben

verknüpft, während der Untergang der Seeleute infolge der Un­ gastlichkeit gegen den Albatros sich wie eine Art Wahnwitz aus­ nimmt.

Hier zeigt sich klar der Unterschied zwischen wahrhaft

poetischem Verarbeiten der abergläubischen Vorstellung und der

romantischen Behandlung derselben.

In beiden Dichtungen beruht

ja alles auf einem Aberglauben, und Hartmann ist weit davon

entfernt, ihn einer rationalistischen Kritik unterwerfen zu wollen;

allein er drängt ihn niemand anderem auf, die Schönheit seines Dichterwerkes ist ganz und gar davon unabhängig, ob der Leser an beit magischen Einfluß des Camao im vulgären Sinne des

Wortes glaubt oder nicht, während die romantische Verschroben­

heit gerade die Ehrfurcht vor dem Magischen und Unerklärlichen als die Summe aller Lebensweisheit und aller Poesie predigt.

Steht auch

„Der alte Seemann"

nicht hoch

im Vergleich zu

der Poesie, die in späterer Zeit aus den Windeln der Romantik

sich

entwickelte,

so

ist dies

Gedicht

den

meisten

verwandten

Erzeugnissen der deutschen Romantik doch weit überlegen.

Es ist

trotz all seines romantischen Scheinwesens vom Meere inspiriert,

dem wirklichen, natürlichen Meere, dessen wechselnde Stimmungen, dessen beängstigenden, drohenden Ernst es schildert.

Die frische

Brise, der schäumende Gischt, der unheimliche Nebel und der glühende, kupferfarbige Abendhimmel mit seiner Mutigen Sonne,

all diese Elemente entstammen der Natur, und der ganze Jammer

der auf dem Meere Verschlagenen, die Hungersnot, der quälende Durst, der sie dahin bringt, Blut aus ihrem eigenen Arm zu saugen, die fahlen Gesichter, das fürchterliche Todesröcheln, die grausige Ver­

wesung, alle diese Elemente sind der Wirklichkeit entnommen und

mit der ganzen naturalistischen Kraft des Engländers geschildert.

1*

Naturalistische Romantik.

100

Echt englisch ist auch der Zug, daß Coleridge die Schatten-feiten einer Dichtung, wie es seine berühmte Ballade war, ganz ausKzeichnet zu erkennen vermochte.

Die nationale Grundeigenschaft,

dev Humor, verleiht ihm in dieser Beziehung einen merkwürdig

unbefangenen Blick.

Selbstkritik erzählt.

Man höre, was er selbst hinsichtlich seiner Ein poetischer Dilettant äußerte einem seiner

Freunde den Wunsch, bei dem Dichter eingeführt zu werden; er besann sich jedoch, als ihm augenblicklich hierzu Gelegenheit ge­

boten wurde, eines Besseren, und zwar aus dem Grunde, weil er „gestehen müsse, daß er der Verfasser eines verteufelt strengen

Epigrammes über den alten Seemann sei, das, so viel er wisse, Coleridge Ungemein verdrossen habe".

Der Dichter versicherte

deut Freunde, im Fall das Epigramm gut sei, würde sein Verlangen, den Verfasser kennen zu lernen, hierdurch nur gesteigert werden,

und' bat, es ih« vorzulesen. Da stellte es sich zu seiner ebenso großen Überraschung wie Belustigung heraus, daß es einige Spöttereien

waren,

die er selbst geschrieben und in „Morning Post"

öffentlicht hatte.

Fügt man hinzu,

ver-

daß Coleridge selbst drei

Sonette' schrieb, um, wie er sagt, die gekünstelte Einfalt und den rührseligen Egoismus der neuen Richtung lächerlich zu machen, Sonette, deren schwulstige Redensarten samt und sonders seinen

eigenen Gedichten entnommen waren, so läßt sich nicht leugnen,

daß

er

mit

seltener

sich freizühalten

Überlegenheit

des

Geistes

von jener Verbohrtheit

bestrebt

war,

und Befangenheit in

einer Doktrin,■ welche die schwächste Seite

der deutschen

Ro-

mantik war.

Gleichwohl war es Deutschland, von dem sein Geist die

kräftigste, wesentlichste Nahrung erhielt.

Er war der erste Eng­

länder, der in die von Fremden noch unbetretenen Wälder der deutschen Litteratur drang und zwar ungefähr um die nämliche Zeit, als Frau von Stael den romanischen Völkerschaften den Weg in ihre Dickichte bahnte.

Zur selben Zeit, wo er seine eben

Naturalistische Romantik.

101

erwähnten berühmtesten Gedichte schafft, beginnt er deutsch zu studieren und Schiller und Kant ziehm ihn zunächst an.

Im Jahre 1798 unternimmt er

sodann mit Wordsworth

eine litterarische Entdeckungsreise nach Deutschland.

In Hamburg

suchen die beiden jungen Männer ben Patriarchen Klopstock auf,

der Bürger rühmte, im übrigen jedoch von der jüngeren Schule in der deutschen Litteratur und gerade von Coleridge's Göttern,

von Kant wie von Schiller, dessen Räuber er nicht lesen zu können erklärte, kalt und wegwerfend sprach, sie dafür aber um so

mehr von der Messiade und seiner Entrüstung über die schlechten englischen Übersetzungen dieses Gedichtes unterhielt.

Coleridge warf sich in Deutschland auf das Studium des Gotischen, las die Meistersänger und Hans Sachs und gab bei seiner Heimkehr Schillers „Wallenstein"

heraus, den Benjamin

Constant nicht lange nachher für die französische Bühne bearbeitete. Nun

siedelte er sich an jenen „Seen'' Nordenglands an, wo

Wordsworth und Southey etwas früher ihre Zelte aufgeschlagen hatten, und von denen die litterarische Schule, die sie nach Auf­

fassung

der Zeitgenossen

bildeten,

den Namm

erhielt.

Der

Name bedeutet indessen nicht viel mehr, als wenn man 1880 in

Dänemark Hauch, Jngemann, Wilster und Peder Hjort „Die Soraner" hätte nennen wollen.

Die englischen Dichter der See­

schule waren so völlig verschieden in ihren Anlagen, wie die er­

wähnten Lektoren von Sorö.

Allein die Kritik koppelte Coleridge

immer mit Wordsworth und Southey zusammen, weil man wußte,

daß er mit diesen Männern in frmndschastlicher, vertrauterVerbindung stehe, weil er nie eine Gelegenheit versäumte, sie zu loben, wie sie nie

eine, ihn zu rühmen, und weil er, wie die übrigen „Lakisten" jedes Vierteljahr einmal in Quarterly Reyiew mit frischen Lorbeer« bekränzt, der Sünder Byron aber mit frischen Skorpionen gezüchtigt

wurde.

Die Folge davon war, daß Wordsworth und Sonthey

fast nie vom kalten Strahl der Kritik getroffen wurden, ohne daß

Coleridge, der doch kaum je etwas von sich hören ließ, es hätte mit ausbaden müssen.

Der Umstand, daß die Seeschule, ungefähr

wie die Prärafaeliten und die Nazarener in der Malerkunst, daraus ausging, lauter poetische Vertiefung, lauter Kindersinn und Kinder­ glaube, lauter priesterliche Sanftmut und Salbung zu sein, bot

einer scharfen, beißenden Kritik steten Anlaß zu Spott und Hohn über ihn, der allen als der Theoretiker der Schule erscheinen mußte.

Als Jüngling hatte Coleridge in seinem Gedichte „Feuer,

Hungersnot und Metzelei"

alle diese Schrecknisse, eine nach der

anderen, auf die jeweilige Frage, wer sie wüten hieß, mit dem auf

Pitt gemünztm, schrecklichen Refrain antworten lassen:

The same! the same! Leiters four do form his name He let me loose, and cried: Halloo: To him alone the praise is due. Jetzt war er Mr. Pitt's getreuer Journalist und, wie alle

die anderen Mitglieder der Sceschule, ein strenger Tory, der Feind

freier Anschauungen auf staatlichem wie kirchlichem Gebiete. Wunder

also,

Was

daß er seitens der liberalen Partei, pele-mele

mit den anderen, parteiischen und unaufhörlichen Angriffen aus­ gesetzt war!

Und doch wäre es so leicht und so natürlich gewesen,

ihn als Dichter von allen den übrigen zu unterscheiden und ihm

die Ehre zu geben, die seiner Originalität zukam!

Die äußerst

wenigen Gedichte, die er im Laufe eines ziemlich langen Lebens geschrieben hat, nehmen ihren hohen Rang durch ihre unsagbar melodische Sprache ein;

ihre Harmonien

sind nicht bloß zart

und ungemein in das Ohr gehend, wie bei Shelley, sondern kontrapunktisch zusammengesetzt und reich von eigentümlich schwerer,

durchdringender Süße; jede Zeile hat Wucht und Wohlgeschmack

eines Honigtropfens.

In Gedichten wie Love oder wie Lewti,

unstreitig den lieblichsten seiner Poesien, in einermorgenländischen Phantasie wie Kubla Khan, die einem Traum entsprang, hört

man Coleridge's Nachtigallenstimme mit all den herrlichen, wechsel­

vollen Accenten der Singvogelkehle flöten und locken, singen Md schmettern.

Shelley ist, wie Swinburne treffend bemerkt hat, wenn man in

Bezug auf die Harmonie der Sprache ihn mit Coleridge vergleicht, was eine Lerche im Vergleich zu einer Nachtigall ist. Allein Cole­

ridge's Poesie ist ebenso unplastisch wie melodisch, und ebenso leiden­

schaftslos wie wohllautgesättigt. Sie ist rein romantisch-phantastisch, d. h. sie stellt weder ein energisch gelebtes persönliches Seelenleben dar, noch giebt sie Beobachtungen aus der umgebenden Welt wieder.

Es ist in letzterer Beziehung interessant, daß Coleridge's große

Reise nach dem Süden fast völlig ohne Frucht für seine Dichtung blieb.

Das einzige, was er von ihr heimbrachte, die Hymne „Bor

Sonnenaufgang im Chamonixthale", wohin er niemals den Fuß

setzte, ist eine Paraphrase der Beschreibung, welche die in der däni­ schen Litteratur wohlbekannte Dichterin Friederike Brun von dem

Thale gegeben hat. sein Lokalsinn.

Sein historischer Sinn war ebenso gering wie

Er sagt selbst: „Der liebe Sir Walter Scott und

ich waren unbedingt aber harmonisch einander hierin entgegengesetzt,

daß jede alte Ruine, jeder Hügel, Fluß oder Baumstamm in seinem Geiste ein Heer von historischen und biographischen Ideen­

verbindungen hervorrief . . . wogegen ich glaube, ich könnte selbst über die Ebene von Marathon wandeln, ohne mehr Interesse dafür zu empfinden, als für jede ähnliche Ebene . . .

Charles Lamb

hat einen Essay über einen Mann, der in der Vorzeit lebte, ge­

schrieben — ich habe daran gedacht, einen solchen über einen

Mann hinzuzufügen, der überhaupt nicht in der Zeit lebte, sondern

außerhalb derselben, oder neben ihr her."

Seine Poesie besteht

daher im buchstäblichen Sinne des Wortes aus Traumbildern;

1 Specimens of the table talk of the late Sam. vol. II. 225.

T. Coleridge,

dasjenige seiner Gedichte, welches die besten Kenner am höchsten stellen, komponierte er schlafend, im Traume.

Sein eigenes Leben war plan- und energielos, wie das eines Träumenden.

Von Natur indolent, entwickelte sich bei ihm ein

immer größerer Hang,

alles aufzuschieben.

Die Verschiebungs­

sucht (die Prokrastination der Engländer) türmte mehr und mehr

Schwierigkeiten

auf

seinem Wege

auf,

nicht groß genug war zu bewältigen.

die

seine Arbeitskraft

Um für körperliche Leiden

Linderung zu suchen, nahm er zum Opium seine Zuflucht, verfiel aber bald dem Opiumessen, wodurch seine genüge Thatkraft »och mehr gelähmt wurde.

Nach längerem Umherpilgern mit wech­

selndem Aufenthalte in befreundeten Häusern, währenddessen er bald litterar-historische Vorträge hielt, bald für Zeitschriften Bei­ träge lieferte, fand er, unfähig sein Leben selbständig zu leiten, ein Asyl im Hause eines Arztes namens Gillmann, und lebte von 1816

an in Highgate bei diesem Manne, dessen Botmäßigkeit unterstehend, in freiwilliger Trennung von seiner Familie, welche er der Fürsorge seines Schwagers und Freundes Robert Southey überantwortete. Auf den Opiumrausch folgte der Katzenjammer der Reue, der

Selbstvorwürfe und einer immer strenggläubigeren Religiosität.

Was er während dieses Zeitraumes schrieb, hat durchgehends den Zweck, die Ketzereien seiner Jugend zu widerrufen und in der Dog­

matik hie Dreieinigkeit, in der Politik die englische Staatskirche

gegen alle kritischen Anfechtungen in Schutz zu nehmen.1 Emerson schildert ihn uns nach einem Besuche bei ihm als „alt und voller Vorurteile", empört über die Handvoll „Priest-

leyaner", welche hie Jahrhunderte lang unangetastete Dreieinigkeits­

lehre zu leugnen wagten, und daneben seine Rede mit allerhand ab­

gestandenen Gemeinplätzen würzend.

Achtzehn Jahre gingen ihm

unter Träumereien, mündlichem Austausch und der Abfassung von 1 On the Constitution of Church and State according to the idea of each. — Lay ermons.

Erbamngsschriften dahin, wobei er stets einen weit geringeren Einflug als schaffender, denn als anfeuernder Geist übte. spornte und stachelte andere zur Produktion.

Er

Unfern von London

wohnend und seiner sprudelnden Unterhaltungsgabe wegen unab­

lässig von den besten Schriftstellern ausgesucht, verbrachte er als

Zuschauer des Lebens, unter Gesprächen mit Männern wie Charles Lamb, Wordsworth, Southey, Leigh Hunt, Hazlitt, Carlyle, eben jene Jahre, in denen die Geister der entgegengesetzten Richtung, Shelley und Byron, sich mit feuriger Kraft gegen die politische und soziale Ordnung aussprachen, von deren Vortrefflichkeit ex durch-

drungm war.

Während er, willenlos und der Disziplin untex-

worfer wie ein Kind, sein Leben von anderen konservieren ließ, und, selbst konserviert, sich immer mehr zuin Konservativen aus­ bildete, entwickelten die beiden großen Freiheitsdichter, qus ihrer

Heimat vertrieben und allein auf ihre persönliche Energie angewiesm, das höchste Selbständigkeitsgesühl, das iy der Geschichte der Poesie noch je zum Ausbruch gekommen, und rieben sich, da weder andere noch sie selbst bedacht waren, ihr Lehen zu bewähren, lange

vor der Zeit in leidenschaftlichen Kämpfen auf, um von einsm frühen Tode

dahingerafft

zu werden.

Persönliche Forschung,

persönliche Freiheit war ihnen ein ebenso kostbares Kleinod, ass ihm bs Church of England.

VIII. Gewiß konnten sich Coleridge, sowie die übrigen Mitglieder

der Seeschule als

durchaus warme Freunde der Freiheit be­

zeichnen: die Zeit war vorüber, wo die Reaktionäre sich anders nannten.

Coleridge

hat

eines

seiner

schönsten

Gedichte,

die

Ode France als einen Hymnus an die Freiheit geschrieben und

ruft hier Wolken, Wogen und Felder zu Zeugen auf, daß er sie stets geliebt habe, und Wordsworth, der ihr ausdrücklich zwei große Gruppen seiner Gedichte zugeeignet, betrachtet sich sogar als

ihren erklärten Anwalt.

Nach einer flüchtigen Lektüre könnte man

diese Dichter für ganz so freiheitsliebend wie Moore oder Shelley

oder Byron halten.

Allein das Wort Freiheit bedeutet in jener

Mund etwas ganz anderes, als in dem Munde dieser.

Man

muß, um es zu verstehen, es mittels der zwei einfachen Fragen analysieren: Freiheit — wovon?

Freiheit — wozu?

Freiheit ist diesen konservativen Dichtern ein bestimmtes, end­

liches Gut, das England besitzt und das Europa fehlt, das Recht eines Landes, ohne Alleinherrscher sich selbst zu regieren, vor allem ohne Alleinherrscher aus einem fremden Stamme. Das Land, welches

dies Vorrecht besitzt, ist frei.

Unter Freiheit wird also in diesem

Lager Freiheit von fremder politischer Despotie verstanden; von Freiheit zu etwas ist sozusagen in demselben nicht die Rede.

Man

werfe einen Blick auf Wordsworth's Freiheitssonette und sehe,

was es ist, das er besingt.

Es ist der Kampf der europäischen

Völker gegen Napoleon,

eine Art Antichrist bezeichnet

der als

wird (den Teufel auf seinem „Flammenthron" nennt ihn Scott).

Der

Dichter

trauert

bei

der

Spaniens,

Eroberung

Schweiz, Venedigs, Tirols durch die Franzosen.

tapferen Hofer,

der

Er besingt den

den braven Schill, den verwegenen Toussaint

l'Ouverture, die gewagt haben, den Gewalthabern die Spitze zu bieten, nicht minder Gustav IV. Adolf von Schweden, der mit romantisch-ritterlicher Unfähigkeit Napoleon den Handschuh hin­

geworfen und seine Schwärmerei für die Wiedereinsetzung der Kurz darauf sollten ja auch Victor

Bourbonen verkündet hatte.

Hugo und Lamartine als Legittmisten seinen Sohn, den Prinzen

Gustav

Wasa, besingen.

Von Napoleon

Abscheu auf Frankreich über.

geht

der Haß und

In einem der Sonette (Inland

within a hollow vale I stood) erzählt Wordsworth, wie der Kanal zwischen England und Frankreich ihm einen Augenblick so schmal wie ein Landsee vorgekommen sei, und eine Angst ihn

befallen

habe,

England

könnte

mit

jenem

verfluchten

Lande

Zusammenhängen; da aber stärtt ihn wieder der Gedanke, wie groß die englische Volksseele und wie klein die französische sei. In einem anderen Sonett freut er sich bei dem Gedanken, welch

bedeutende

Männer

und

bedeutsame

Werke

England

hervor­

gebracht habe, und stutzt, daß Frankreich demgegenüber nicht einen einzigen bedeutenden Band, nicht einen einzigen Meistergeist er­ zeugt . . . „sondern einen ebenso großen Mangel an Büchern, wie

an Männern habe."

Daher kehrt er dann auch immer und immer wieder zu Eng­

land zurück, seine Sonette sind eine lange Liebeserklärung an dies Land, für das er ein Gefühl „wie ein Liebhaber und ein Kind" hat, dies Land, welches das einzige ist, auf dem „alle Hoffnungen

der Erde ruhen/"

Er begleitet in seinen Gedichten sein Vaterland

1 Sonnets dedicated to Liberty. I, XVII, XXI.

bei dessen Kämpfen, er stimmt,

wie Southey, ein Loblied ans

jeden Sieg desselben an, und seine Freiheitssonette gipfeln denn auch höchst bezeichnender Weise in der großen pompösen „Dank­ sagungsode" für die Schlacht bei Waterloo.

Wir fragen uns

heutigen Tags, was für eine Art Freiheit es war, die Waterloo brachte,

Aber wir begreifen, daß die Gruppe von Dichtern,

dssrey Helden die Nationalhelden Pitt, Nelson und Wellington

selbst waren, deren Lobgesänge der englischen Verfassung als

dex Freiheit selber, und England als dem Muster aller Staaten gasten, bei der Mehrzahl des Volkes eine Beliebtheit errang, deren sich ihre großen poetischen Gegner noch heutigen Tags nicht ZU rühmen vermögen.

Für jene war das Volk, wie es war, ein

Jheal, das Stteben dieser war es, das Volk zu zwingen, seinen

Blick auf ein noch nicht erreichtes, ja nicht einmal erkanntes Ziel zu richten; jene schmeichelten dem Volke und wurden mit Lorbeeren belohnt, diese erzogen und züchtigten das Volk und wurden aus

seinem Schoße ausgestoßen.

Während die Ehrenstellung als Poeta

laureatu8 Scott angeboten und sowohl von Southey wie von Wordsworth bekleidet wurde, hat das englische Volk noch bis

auf diesen Tag durch keine einzige öffentliche Huldigung ein Zeugnis seines Dqnkgefühls gegen Shelley und Byron abgelegt?

Die

Ursache liegt darin, daß ihr Freiheitsbegriff sich so wesentlich von dem der Seeschule unterschied.

Für sie war die Freiheitsidee

nicht in einem Lande, einer Verfassung verwirklicht, lag überhaupt nicht als etwas Fertiges vor, für sie verwirklichte sich auch nicht

bet Freiheitskampf in einem stark egoistischen Kriege gegen einen

revolutionären Exoberer,

Sie fühlten tief, wie üppig die Unfrei­

heit, politisch wie geistig, religiös wie sozial, im Schutze einer

sogenannten freien Verfassung wuchern konnte. 1 Erst 1875 hat DIsraeli, als Präsident des Byron Memorial Com­ mittee, sich an die Spitze einer Sammlung zur Errichtung eines Denkmals für Byron auf einem der öffentlichen Plätze Londons gestellt.

Her /«ihrttsbegriff der Lttschüle.

109

Wenig zu Lobhymnen darüber aufgelegt, wie herrlich weit die Menschheit und insbesondere ihreLandsleute es gebracht hätten, fühlten sie vielmehr unter dem sogenannten Freiheitsregiment einen glühenden,

ungefüllten Freiheitsdurst, ein Bedürfnis nach Freiheit zu Nut allzu

vielem — zu denken ohne Rücksicht auf Dogmen, und zu schreiben, ohne vor der öffentlichen Meinung zu katzenbuckeln, zu handeln,

wie es mit ihrer innersten Individualität übereinstimmte, ohne 8er

Kontrole jener unterworfen zu sein, die, weil sie selbst keine Persönlichkeit besaßen, die lautesten, unbarmherzigsten Richter über die Charakterfehler waren, die mit Selbständigkeit, Originalität

und Genie verknüpft waren.

Sie sahen, daß die herrschende Kaste

unter der „Freiheit" heuchelte und log, aussog und plünderte, Zwang und Gewalt anthat, in Banden und Ketten schlug, genau

so, wie der einzelne Selbstherrscher in seiner Unumschränkten Macht es that, und ohne wie er die Autorität des Geistes und die ENt-

schuldigung des Genies für sich zu haben.

Für die Dichter der

Seeschule war der Zwang kein Zwang, sobald er englisch war,

die Tyrannei keine Tyrannei, sobald sie konstitutionell-monar­ chisch war, der Verfinsterungsgeist keiU wirklicher VerfmsteruNgsgeist, sobald er von einer protestantischen Kirche ausging.

Die

radikalen Dichter hießen den Zwang Zwang, selbst wenn er die englische Nationalfahne über seinem Haupte schwang Und mit bet

englischen Kokarde als Polizeischild aufttat; bei ihnen erstreckte sich der Widerwille jener gegen unumschränkte Könige auf die Könige überhaupt; sie wünschten die Erde nicht bloß von der Herr­

schaft katholischer Pfaffen, sondern von PfaffenvormUndschäft über­ haupt befreit zu sehen.

Als sie die Dichter der entgegengesetzten

Schule, die in der Hitze der Jugend nicht minder weit als sie selbst gegangen waren, die Toryregierung Englands mit all dem

blinden Eifer einer Renegatenbande verherrlichen sahen, da könnten

sie

dieselben nicht anders denn als Freiheitsfeinde betrachten.

Daher bettauert es Shelley in seinem Sonett an Wordswötth,

110

Der Freihettsbegriff der Leeschule.

daß er „Wahrheit und Freiheit untreu geworden", daher fühlt sich Byron Southey gegenüber immer und immer wieder versucht,

„ihn wie einen Kürbis aufzuschlitzen".

Daher birgt sich überhaupt

in der Leidenschaft dieser Dichter für Freiheit eine heilige Raserei,

ein edles Feuer, davon kein Funke in der platonischen Freiheits­ liebe

der

Seeschule

zu finden

ist.

Wenn

Shelley

von

der

Freiheit singt: Doch Heller dein Blick, als des Blitzes Schein, Und wie du, so dröhnet die Erde nimmer.

Des Meeres Getös, der Bulkane Spei'n Übertönst, überstrahlst du; der Sonne Schimmer

Ist vor dir wie Jrrlichtsgeflimmer!

da fühlt man, daß diese Freiheit kein Ding, das sich mit Händen

greifen, oder als Geschenk in einer Berfassung geben oder in die Matrikel einer Staatskirche eintragen läßt, sondern daß sie die

ewige Forderung des Menschengeistes ist, sein unveräußerliches

Recht an sich selbst, da« himmlische Feuer, das Prometheus als Funken in das Menschenherz legte, als er es formte, und das die

größten Männer als ihr Lebensziel erachteten, zu der Flamme zu entfachen, welche die Quelle alles Lichtes und aller Wärme den­

jenigen ist, die empfinden, wie grabesdunkel und eisigkalt das Dasein ohne sie sein würde. Diese Freiheit ist es, die in jedem neuen Jahr­

hundert mit einem neuen Namen auftaucht, die im Mittelalter unter

dem Namen Ketzerei verfolgt und ausgerottet, im sechzehnten Jahr­ hundert unter dem Namen Reformation verfochten und bekämpft,

im

siebzehnten

Jahrhundert als

Hexerei und Atheismus

zum

Feuertode verurteilt wird, die im achtzehnten Jahrhundert in

Form von Philosophie zu einem Evangelium erhöht wird,

um

während der Revolution in Gestalt der Politik eine Macht zu

werden, und die endlich im neunzehnten Jahrhundert von den

Vertretern der Vergangenheit mit dem Spitznamen des Radikalis­ mus sich gebrandmarkt sieht.

Der Freiheitsbegriff der Aeeschule.

111

Die Freiheit, welche die Dichter der Seeschule priesen, war

ein bestimmter, konkreter Inbegriff von Freiheiten, keine Freiheit. Was hingegen die revolutionären Dichter verherrlichten, war zwar an und für sich die wahre Freiheit, aber sie faßten diese Freiheit

so abstrakt auf, daß sie im einzelnen nur allzu oft über das Ziel schoflen.

In der Schwächung jedweder bestehenden Regierung,

in den halbbarbarischen Aufständen unterdrückter Volksstämme er­ blickten sie nur die Schwächung schlechter Regierung, sahen sie das

Morgenrot der ewigen Freiheit.

Shelley war so abstrakt, daß er

dafür hielt, die Schlacht wäre gewonnen, wenn er mit einem Schlage alle Könige und Priester ausrotten könnte, und Byron kam erst

spät auf dem Wege der Erfahrung zu der Einsicht, wie arm an re­ publikanischen Tugenden die im Namen der Freiheit verschworenen

Revolutionsmänner waren. Die Männer der Seeschule blieben von den edelmütigen Verirrungen und dem vorgreifenden Ungestüm der radikalen Dichter behütet, doch die Nachwelt hat größeren Genuß

und Vorteil von den Ausschreitungen der Freiheitsliebe dieser gehabt, als von dem allseits umgrenzten und eingehegten Freisinn jener.

IX. Hier ist der Ort, dem Manne einen Platz zu gönnen, welcher

Byrön's und Shelley's ärgster Feind und Coleridge's bester Freund War, und der, im ganzen genommen, als hervorragender englischer Romantiker Eoleridge nahe steht, wenn auch seine Produktion an

innerem Gehalt hinter der des Freundes zurückbleibt. Robert Southey, 1774 in Bristol geboren, war der Sohn

eines dortigen Leinwandhändlers, und behielt sein Lebelang das Gepräge, in engen Verhältnissen und mit einem beschränkten Hori­

zont vor Augen zur Welt gekommen zu sein.

Nachdem er eine kurze

Zeit in Oxford studiert hatte, wurde er, wie die übrigen Dichter

der Seeschule, vom Geist der Revolution erfaßt und dichtete 1794 ein höchst jakobinisches Poem Wat Tyler1.

Als auch er seine Aus-

1 Als Inschrift für das Zimmer, in dem der Königsmörder Martin eingekerkert gewesen, verfaßte er zu jener Zeit folgende Zeilen:

For thirty years secluded from mankind Here Martin lingered. Osten have these walle Echo’d bis footsteps, as with even tread He paced around bis prison. Not to bim Did Natureis fair varieties ex ist; He never saw the sun’s delightful beams, Save when tbrougb yon high bars he pour’d a sad And broken splendour. Dost thou ask bis crime? He bad rebell ’d against the king and sat In judgement on bim; for bis ardent mind Shaped goodliest plans of happiness on earth And peace and liberty. Wild dreams! but such As Plato loved etc.

Wanderungspläne aufgegeben und seine Miß Fricker heimgeführt hatte, ließ er sich 1797 in London nieder.

Von 1807 an bezog

er eine Staatspension von jährlich 150 Pfund.

Nach dem Tode

des Dichters Pye wurde er Poeta laureatus mit 300 Pfund jährlich.

Diese Stellung, mit welcher die Verpflichtung verbunden

war, alle das königliche Haus betreffenden Begebenheiten zu besingen, wurde zuerst vom Prinzregenten Walter Scott angeboten, der

seinen Gönner, den Herzog von Buccleugh, zu Rate zog.

In der

Antwort des Herzogs heißt es: „Wie könnten Sie das aushalten, an einem königlichen Geburtstage eine Schaar heiserer, quiekender

Choristen Ihre Verse in Rezitativen zur Erbauung von Bischöfen, Hofdamen, Pagen und Leibgardisten ableiern zu hören! O schrecklich, dreimal schrecklich!"

Scott lehnte sonach die ihm zugedachte Ehre

ab, schlug jedoch den königstreuen Southey als bedürftigen Dichter für dieselbe vor.

Den größten Teil seines Lebens darauf ange­

wiesen, von seiner Feder zu leben, schrieb er viel notgedrungen.

Fleißig wie er war, ökonomisch und mit allen guten häuslichen Eigenschaften geziert, hinterließ er ein Kapital von 12 000 Pfund.

Die Romantik war bei ihm, wie bei den Deutschen, so weit

davon entfernt, die bürgerlichen und spießbürgerlichen Tugenden Darauf verfaßte damals Canning folgende recht ergötzliche Parodie.

„In­

schrift über der Zelle in Newgate, wo Mrs. Brownrigg, die Lehrlingsmörderin,

eingesperrt saß:

For one long term or ere her trist came Here Brownrigg linger’d, Osten have these cells Echo’d her blasphemies, as with shrill voice She scramed for fresh geneva. Not to her Did the blithe Leids of Tothili, or thy Street St. Giles, its fair varieties expand; Till, at the last, in slow-drawn cart she went To execution. Dost thou ask her crime? She wipp’d two fetnale prentices to death And hid them in the coalhole. For her wind Shaped strictest plane of discipline: Sage echemes Such as Lycurgus tought etc. Brandes, Litteratur der 19. Jahrh. IV.

8

Die orkntaltfdjt Romantik -er Zeeschuie.

114

auszuschließen, daß sie sich im Gegenteile aufs beste mit ihnen vertrug.

Hatte sie doch nun einmal mit dem Leben so wenig

zu thun.

Dagegen^ hinderte seine ehrbare Philisterci ihn keineswegs,

seine Phantasie die wildesten morgenländischen Luftfahrtm unter» nehmen zu lassen. — In Southey's erster Periode, der freisinnigen, lag offenbar

etwas Schönes, Warmes in seiner Begabung.

geisterung, hatte Mut.

Er hatte Be­

Sein Epos Joan of Arc vom Jahre

1797 ist ein Gedicht, das aus einem ebenso innigen Gefühl für die Heldin Frankreichs hervorgeht, wie

es Schiller fünf Jahre

später in seinem Drama „Die Jungfrau von Orleans" an ben

Tag legte.

Wie Schiller's Dichtung,

ist

die

Southey's

ein

Gegenstück zu Voltaire's Pucelle, ja der sittsame englische Poet versichert sogar in der Vorrede, er habe sich niemals, dessen schuldig gemacht» „einen Blick in dies Gedicht zu werfen".

Joan

of Arc

ist Southey

noch kein Romantiker.

In

Er richtet

hie und da voreilend den Blick geradezu auf seine eigene Zeit.

Im

dritten Gesang

verherrlicht er Madame Roland als das

heroische Weib, das zur Märtyrerin ihrer Vaterlandsliebe würbe,

im zehnten Gesang Lafayette, dessen Namen „die Freiheit stets lieben wird", und selbst in der Darstellung der Thaten Johannas

ist weit sorgsamer als bei Schiller jeder Appell an das Magische vermieden.. An einer Eckstelle des Gedichtes, wo die Jungfrau nm

ihren Glauben befragt wird, bekennt sie sich sogar, und durch sie der Dichter, so ehrlich zum Kultus der Natur, daß man selbst

hinsichtlich Southey's das volle Gefühl hat, der die ganze eng­

lische Poesie jener Zeit beherrschende Naturalismus sei die Basis, auf welcher auch er stehe. Weib, sagt ein Priester zu Jeanne d'Arc,

Weib, du scheinst Zu höhne» uns'rer Kirche fromm Gebot;

Und wenn ich deine Worte recht versteh', Sagst du, daß Einsamkeit und daß Natur

Dich dein Gefühl von Religion gelehrt, Und daß jetzt Messen und Absolution

Und Christi heil'ger Leib dir unbekannt. Wie konnte, ohne diese, die Natur Dich wahre Religion wohl lehren?

Nein,

Zu sündigen lehrt einzig die Natur;

Der Priester nur lehrt Reue, nur auf sein Geheiß schließt Petrus auf das Himmelsthor,

Und aus des Fegefeuers Strafgericht Erlöst nur er die Seele.

Das Mädchen antwortet: Väter der heil'gen Kirche, sollt' in so Verzwickten Punkten eine schlichte Maid Wie ich sich irren, schreibt den Frevel nicht

Dem eigenwilligen Verstand zu, der Sich stärker denn die ew'ge Weisheit dünkt!

Wahr ist's, daß ich seit lange nicht den Ton

Der Messe hörte, noch den heil'gen Leib Des Herrn mit zitternder Lipp' empfangen. — Der Bogel, der ein muntres Lied als Gruß Zum Morgenstrahl emporgesandt, schien mir

In seiner wilden Melodie des Glücks Weit süßern Dank zu schmettern in das Ohr

Der Frömmigkeit, als jemals durch die hoch Gewölbten Hall'n menschlicher Kunst erklang. Und dennoch hab' ich niemals ohne Dank Des Rebstocks reife Trauben abgepflückt Uneingedenk des Gottes, welcher dies

Unblut'ge Mahl mir gab.

Ihr sagtet mir.

Daß die Natur uns einzig sünd'gen lehrt. Jst's Sünde, hilfreich dem versehrten Lamm

Die Wunden zu verbinden und sie sanft Mit meinen Thränen zu benetzen?

Das

Hat mich Natur gelehrt! Ihr Väter, nein, Nicht die Natur lehrt uns zu sündigen, Natur ist Güte, Liebe, Schönheit ganz! Im stillen Schattengrund' des grünen Wald's

Giebt es kein Laster, das zur zornigen Wang' Empor die Röte treibt; kein Elend giebt's

Und keine arme Mutter dort, die bleich

116

Vie orientalische Romantik der Seeschule.

Und hager auf die hungernden Kinder starrt Mit einem Blick, so matt, so wehevoll,

Daß seine strafende Beredsamkeit Dereinst die Mächtigen der Welt verklagt!. . .l

Der aufmerksame Leser wird schon, allein an dieser kleinen Deklamationsnummer nicht nur den Nachhall der revolutionären

Leidenschaft jenseits des Kanales, die hier in englische Naturver­

ehrung umgesetzt ist, sondern auch des jungen Dichters Mangel

an Fähigkeit herausgefühlt haben, seinem Vorwurfe eine wirkliche Zeit- und Lokalfarbe zu verleihen.

Frankreich und das Mittelalter

sind ihm, was ihm später das Morgenland und die Sagenwelt

teerten sollte, ein Kostüm, unter dem er seine englischen protestantischen Ideen spielen läßt.

und

Es gehörte jedoch ein gewisser

Mut dazu, zu jener Zeit, wo der Nationalhaß gegen Frankreich

so lebendig war, die nationale Heldin des Feindes zu verherrlichen,

und das Gedicht ist, bei all seiner Trockenheit an Gefühl sowohl wie an Färbung, ein Werk, das einem jungen Dichter Ehre macht;

allein der Geist, der hier sein Talent beflügelt hatte, sollte rasch aus seiner Poesie verschwinden.

Je mehr die uneigennützige Begeisterung für die großen Auf­ gaben und Träume der Menschheit in seiner Seele ebbte, desto

mehr fühlte er den Drang, dieser Dürre dadurch zu begegnen, daß er sie mit einem Sttom von äußerer Romantik zu befruchten suchte. Er hatte allmählich eine gewisse Herrschaft über die Sprach­

mittel erlangt und vermochte, wenn auch lose gebaute, so doch melo­ dische und bei all ihrer Vagheit und Monotonie recht stimmungsvolle

Sttophen zu schreiben.

In diese reiche, geschmeidige Form ließ

er nun allen Aberglauben Arabiens und die allerphantastischsten Träume des Orients sich ergießen, und aus dem Gemenge gingen

seine beiden Hauptwerke „Kehama's Fluch"

1 Southey: Joan of Arc, Book III.

und „Thalaba der

117

Vie orientalische Nomantik der Zeeschnle.

Zerstörer" hervor. romantischer.

Der Zug zum Morgenlande ist ein gemeinsam

Wir finden ihn gleichzeitig bei Oehlenschläger und,

als die Bewegung nach Frankreich übergreift, bei Viktor Hugo

(Aly und Gulhyndi — Les Orientales).

Was aber besonders die

englischen Dichter nach dem Oriente locken mußte, das war das

farblose protestantische Leben der Heimat mit seiner strengen, kalten

Wohlanständigkeit.

Doch bedurfte es eines Irländers, Thomas

Moore, eines Koloristen, dem keltisches Blut in den Adern floß,

um, sei es auch nur annähernd, ein Volk und eine Sagenwelt wie die Altpersiens zu verstehen und in der englischen Sprache die Natur

des Ostens in einem Stile darzustellen, der wie mit Juwelen und

barbarischen Ornamenten überstreut erscheint.

„Lalla Rookh" ist

kein Meisterwerk, seine Personen und Gedanken sind allzu europäisch und zahm, allein „Thalaba" ist äußerst matt im Vergleich zu „Lalla Rookh" und sittsam wie eine englische Predigt.

Dies Gedicht,

das zu seiner Zeit eines gewissen Rufes sich erfreute, krankt an dem

grellen

Widersprüche

zwischen

dem

bunten

Flitter

Szenerie und der nüchternen Ehrbarkeit der Gefühle.

der

Wir sind

einerseits in einer Welt, die nicht minder märchenhaft, als die von

„Tausend und eine Nacht" ist, zugleich aber in einer, wo unaus­ gesetzt Nächstenliebe und der Glaube an den einigen Gott gelehrt

wird.

Das Leben des Helden wird auf das Umständlichste von

einer allwaltenden Vorsehung gelenkt.

Soll er das Haus seines

Pflegevaters verlassen, so geschieht nichts Geringeres, als daß ein Schwarm syrischer Heuschrecken, von einer Vogelschaar verfolgt,

über das Haus hingesendet wird; einer der Vögel verliert aus

seinem Schnabel eine Heuschrecke, die zu Füßen Thalaba's nieder­

fällt und auf deren Stirn mit feinen Schriftzügen zu lesen steht: Wenn die Sonne Mittags verdunkelt wird,

Dann Sohn Hodeirahs zeuch fort!

(Dritter Gesang, Strophe 32.)

Während sich jedoch der Dichter

einer so abenteuerlichen Maschinerie bedient, kann er, wie eben

118

Vie orientalische Romantik der Zeeschnle.

auch in Joan of Arc, nicht umhin, gleichzeitig seine Leser vor

den irrigen religiösen Meinungen des Orientes und der Zeit zu Alle seine Hauptpersonen sind Vernunftgläubige ihrer

behüten.

morgenländischen Religion gegenüber,

und lassen es so wenig

als möglich daran fehlen, gute Protestanten zu sein.

Als die

Heuschrecken erscheinen, sägt Thalaba's Pflegevater Moath: Wähnst du denn, Daß der Geruch von Wasser, hingesetzt Auf irgend eine syrische Moschee,

Mit Priesterpossen und Beschwörungswort,

Die nur den Pöbel äffen, sie hieher Geführt aus Khorosan?

Nein, Allah, der

Zu Plag' und Straf' den Menschen sie erschuf, Hat ihnen auch hieher den Weg gezeigt

Kritischer vermag ein geborener Araber sich unmöglich aus­

zudrücken.

Und so ist es durchgehends.

Southey häuft phan­

tastische Motive, um, wenn er ihrer müde wird oder wähnt, der

Leser könnte einer Lehre bedürfen, sie hierauf selbst mit irgend einem evangelischen Texte in tausend Stücke zu zerschmettern.

Thalaba trägt an seinem Finger einen Talisman, der ihn gegen die bösen Geister beschützt.

Daher gehen alle Bestrebungen

des bösen Geistes Lobaba dahin, ihm den Ring abzulocken.

Ein­

mal versucht er z. B., ihm, während er schläft, denselben vom

Finger zu ziehen.

Allein einer der guten Geister entsendet eine

Wespe, die Thalaba gerade oberhalb des Ringes in den Finger sticht,

so daß es unmöglich wird, den Ring über die geschwollene Stelle zu ziehen.

kreuzt.

Auf ähnliche Weise werden seine Pläne beständig durch­

Endlich glückt es dem furchtbaren Zauberer Mohareb, den

Jüngling zu bethören.

Nachdem der Zauberer mehr als einmal

von ihm überwunden worden ist, verhöhnt ihn dieser» weil er nicht

im offenen^Kampfe, sondern nur durch einen Talisman seinen Feind habe besiegen können, und setzt ihm so listig und so lange zu, bis Thalaba den Ring in einen Abgrund schleudert.

Nun beginnt

Man erwartet, jetzt werde er das Knie

der Kampf von vorn.

beugen müssen, steht er doch wehrlos den übernatürlichen Mächten gegenüber. Doch nein: Thalaba siegt gleichwohl. Wieso und weshalb?

Eine Stimme vom Himmel verkündet es: Weil nicht der Ring der wahre Talisman war, der wirkliche Talisman ist Glaube!

(Fünfter Gesang, Strophe 41).

Wozu aber dann der ganze Apparat?

Der Dichter geleitet uns durch unterirdische Höhlen, wo den

die Eingänge

bewachenden Schlangen

abgeschnittene Menschen­

häupter vorgeworfen werden müssen, wo die Kerze nur brennend

erhalten

werden

kann,

wenn

der Wanderer sie in die abge­

hauene Hand eines Hingerichteten Mörders steckt u. s. w., mit

einem Myrte, durch eine Welt, in der es ganz anders hergeht, als

im britischen Reiche.

plötzlich

erfolgt

eine

Allein das Ganze

Szenenveränderung:

ist nur Ballet; morgenländische

die

Garderobe verschwindet, und der Souffleur verliest einen Glaubens­

artikel. ein

Hierauf hebt das Ballet wieder an.

prunkendes

Gastmahl

mit erlesenen

Die Bühne stellt mit

köst­

Weinen, rosig

„wie

Gerichten,

lichen Weinen in goldenen Gefäßen dar,

das Morgengrauen" und safranfarbig „wie die Abendnebel", und wieder anderen wie Rubin und Ambra. — Was nützt all diese lockende Herrlichkeit?

Thalaba ist ein allzu guter Muselmann,

um sich verführen zu lassen. Doch Thalaba nahm nicht den Trank: Er wußte, daß verboten der Prophet Ihm dies Getränk, das Sünden zeugt.

Die Gäste drängten auch

Zum zweiten Mal das flüssige Feuer nicht Ihm auf; denn aus des Jünglings Auge sprach Ein eherner Entschluß.

Bei Lichte besehen ist der „Zerstörer" Mitglied eines eng­ lischen Mäßigkeitsvereins;

als

echter

teetotaler

mag

er nur

Quellwasser trinken und dazu „Wassermelonen speisen" (Sechster Gesang, Strophe 24).

120

Die orientalische Romantik der Seeschule.

Nun füllt sich die Bühne mit Figurantinnen. Ein Trnpp von Tänzerinnen schlang den Reihn, Mit Glockenspangen um den Fuß,

Die leis und sanft erklingelten im Takt. Durchsichtige Kleider ließen schamlos frech

All' ihre feilen Glieder schau'n

In lüstern reizendem Gebärdenspiel.

Man ängstige sich nicht, Thalaba ist ein eifriger Gegner der arabischen Vielweiberei; unser junger reisender Engländer wappnet sich mit dem Gedanken an seine Braut, fern in der Heimat: Und Thalaba sah hin,

Doch einen Talisman umschloß sein Herz,

Deß heil'ge Alchemie Der lockern Szene Reiz

In tugendhafte Regung wandelte: Bor seinen Augen schwamm Oneiza's Bild, Arabiens süße Maid.

Thalaba entsteht in England fast zu derselben Zeit, als Aladdin in Dänemark geschaffen wurde (Kehama kam 1801, Alad-

din 1804, Thalaba 1810 . heraus).

Wie fischartig erscheint er im

Vergleich mit seinem dänischen Bruder! Er erreicht das Ziel, er fuhrt seine teure „arabische Maid" heim.

Damit ja das Ganze gehörig asketisch und religiös sei, stirbt seine Braut dieselbe Nacht.

Damit hierauf alles wieder eine morgen­

ländische Färbung annehme, wird Thalaba von den arabischen

Schicksalsmächten gezwungen, ein unschuldiges Mädchen namens Laila zu töten. Damit endlich alles gehörig evangelisch ende, verzeiht er zum Schluß in einer pathetischen Trauerrede dem Zauberer,

der an all seinem Unglücke schuld ist, demselben, den er sein ganzes

Leben hindurch gesucht hat, um die Ermordung seines Vaters zu rächen, und der ihm nun endlich nicht zu entrinnen vermag: „Ich töte dich nicht, Greis!" sprach Thalaba, „WaS du mir und den Meinen Böses thatst, Trug bitt're Strafe in sich selbst."

O Thalaba!

Du sprichst wie ein Buch, doch wie eins der

Bücher, die man zuschlägt. Schlagen wir es zu und werfen wir noch einen Abschieds­

blick auf dessen Verfasser.

Selbst Thackeray,

der Southey als

Charakter über die Maßen rühmt, muß von seinem Hauptwerke

zugeben, daß in dem Kampfe zwischen dem „Zerstörer" Thalaba

und der Zeit dieser letztere „Zerstörer" die Wahlstatt behauptet haben dürfte.

Es wäre lehrreich zu erfahren, wie viele jetzt

lebende Engländer dies Gedicht gelesen haben.

Der Nachwelt ist

und bleibt Southey nur durch seine hysterischen Ausfälle gegen

Byron und durch dessen unvergleichliche Gegenhiebe bekannt. Wir haben Southey's „Vision des Gerichtes" diejenige Byron's

zu verdanken, und nm der letzteren willen vergeben wir ihm gern sowohl „Kehama" wie „Thalaba".

Und dennoch, wie viel hohle

Phantasterei diese Dichtungen auch enthalten:

auf die Natur­

schilderungen erstreckt sich dieselbe nicht in dem Maße, wie bei den Romantikern Deutschlands.

Selbst inmitten all dieser roman­

tischen Verirrungen verleugnet sich das nüchterne Wahrheitsstreben

des Engländers nicht.

Wie schön ist gleich die erste Strophe des

Gedichtes mit ihrer Schilderung der Wüstennacht, deren sanften Tonfall Shelley als Jüngling in seiner Queen Mab! nachahmte:

How beautiful is night! A dewy freshness Alls the silent air, No mist obscures, nor cloud, nor speck, nor stain, Break the serene of heaven: In full-orb’d glory yonder Moon divine Rolls through the dark blue depths. Beneath her steady ray The desert circle spreads Like the round ocean girdled with the sky, How beautiful is night! Der Karawanengesang im fünften Akt des Aladdin giebt kein

schöneres Bild des Mondscheines auf dem Wüstensande. solcher Bilder finden sich bei Southey nicht wenige.

Und

Wenn er

122

Vie orientalische Romantik -er Seeschule.

die furchtsame Antilope schildert, die den Schritt des Wanderers

vernimmt und stille steht, unschlüssig, wohin sie in der unsicheren Dämmerung sich wenden soll, oder den Strauß, der in seiner blinden

Hast ihnen gerade entgegeneilt, während die unbeweglichen Nebel

der Nacht sich über die Wüste breiten (vierter Gesang, Strophe 19), so ist dies seine Szenerie im deutsch-romantischen Stile, sondern ein naturgetreues Bild des Ostens, auf dem Grunde englischen

Beobachtungsgeistes ausgeführt.

Dem Charakter Robert Southey's wurde von seinen Freunden und Zeitgenossen so viel Achtung gezollt, wie sonst nicht leicht

einem Manne von solch zweifelhaftem politischen und litterarischen Rufe.

Er war Wordsworth ein zuverlässiger Freund, Coleridge

die beste, treueste Stütze, und was mit nicht geringem Gewicht in

die Wagschale fällt: Walter Savage Landor beehrte ihn, seines

schnurstracks entgegengesetzten politischen Standpunktes ungeachtet, mit einer Freundschaft, die erst mit dem Tode erlosch, und die in Landor's

Imaginary

gesetzt hat.

Conversations

Als Emerson den

sich

Denkmale

zahlreiche

15. Mai 1833 bei Landor zu

Tische gewesen, schreibt er: „Ich speiste bei Landor — er quälte Man sieht, daß

mich mit Southey — aber wer ist Southey?"

Landor für seinen Freund Seelen zu fangen bemüht war.

Endlich

hat Thackeray, nach dem Typus eines echten englischen Gentleman suchend, kein Bedenken getragen, den armen, fleißigen Southey als Muster eines solchen zu bezeichnen.

Allein kein Zeugnis zu Gunsten seines persönlichen Charafters wird seinen litterarischen zu retten vermögen.

Dieser ist durch

Southey's Lobgesänge auf das englische Königshaus und durch

seine Angeberei Byron gegenüber gestempelt.

Daß er, gleich den

übrigen Mitgliedern der Seeschule, dieser neuen, rücksichtslos auf-

tretenden litterarischen Erscheinung gegenüber sich kühl und ab­

lehnend

verhielt,

war natürlich,

daß

er

aber



selbst

ein

Dichter — durch die nichtswürdige Anklage der Unsittlichkeit und

Gottlosigkeit den gebildeten Pöbel gegen einen anderen und so un­ endlich viel größeren Dichter aufhetzte, das ist ein Verbrechen, welches die Geschichte nicht vergiebt, und das sie damit gestraft hat, Southey's

Namen nur in einer Note zu Byron's Werken aufzubewahren. Als „Don Juan" erschien, schrieb Southey: „Ich bin nicht blind

dafür, daß das Publikum äußerst unduldsam gegen litterarische Re­

formversuche ist... Doch ich wünschte, die Intoleranz den Büchern

gegenüber entspränge einer gesunden Urteilskraft und beträfe mehr die Moral des Werkes als seine Komposition, mehr den Geist als

die Form.

Ich wünschte, sie richtete sich gegen jenes scheußliche

Gemisch von Greueln und Lästerungen, von Unsittlichkeit und Gott­ losigkeit, womit die englische Poesie unserer Tage befleckt worden

ist.

Mehr als 50 Jahre lang zeichnete die englische Litteratur

sich durch ihre moralische Reinheit aus, die eine Wirkung und

wiederum eine Ursache der sittlichen Hebung des Volkes war. Ein Vater konnte seinen Kindern ohne Gefahr jedes neuerschienene Werk in die Hände geben, wofern es nicht durch irgend ein auf

dem Titelblatte ersichtliches Zeichen darthat, daß es für den Absatz

in unzüchtigen Häusern bestimmt sei.

Es kam nur darauf an,

daß das Werk den Namen eines ehrenhaften Verlegers trüg, oder von einem ehrenhaften Buchhändler zugesendet wurde.

insbesondere bei der Poesie der Fall.

Nun ist dem nicht mehr

so, und wehe ihm, von dem dies Ärgernis ausgeht!

Gaben er besitzt,

Dies war

Je größere

um so größer sein Verbrechen, um so länger

wird seine Schande währen.

Mag nun das Gesetz an sich außer

stände sein, einem Übel von dieser Bedeutung zu steuern, oder mag es mit Schlaffheit und mit solcher Ungerechtigkeit vollstreckt

werden, daß die Berühmtheit des Frevlers ihm Straflosigkeit

sichert, so sollte doch jedermann bedenken,

daß so verderbliche

Werke weder zur Veröffentlichung kämen, noch geschrieben würden, wenn sie bei der öffentlichen Meinung auf gebührenden Widerstand

stießen.

Jeder, der solche Bücher kauft oder über seine Schwelle

Bit orientalische Nomantik der Zerschule.

124

kommen läßt, erhöht das Übel und wird insofern ein Mitschuldiger

des Verbrechens.

Die Veröffentlichung eines unsittlichen Buches

ist eine der schlimmsten Kränkungen, die der Wohlfahrt der Ge­

sellschaft nur zugefügt werden kann. Tragweite sich nicht absehen Reue aufhalten kann.

Es ist eine Sünde, deren

läßt, deren Folgen

keine spätere

Denn welche Gewissensbisse den Verfasser

auch quälen mögen, wenn seine Stunde kommt, und kommen muß

sie, sie werden vergebens sein.

Die jammervollste Reue auf dem

Sterbebette vermag nicht ein einziges Exemplar des Buches aus­ zulöschen ...

Männer mit siechem Herzen und verderbter Ein­

bildungskraft, welche sich ein System von Ansichten gebildet haben,

das zu ihrem eigenen kläglichen Betragen paßt, Männer, die gegen die heiligsten Vorschriften der menschlichen Gesellschaft sich auf­

lehnen und die geoffenbarte Religion hassen, gegen welche sie trotz all ihrer Anstrengungen und Prahlereien doch nicht im stände

sind, sich völlig ungläubig zu verhalten, arbeiten darauf hin, andere ebenso elend wie fich selbst zu machen, indem sie deren

Seelen mit geistigem Giftstoff verpesten.

Für die von ihnen ge­

gründete Schule ist der passendste Name die satanische Schule; denn

atmen auch ihre Erzeugnisse den Geist Belials in ihren schlüpfrigen

Partien und den Geist Moloch'- in den widerlichen Bildern von Grausamkeit und Schrecknissen, die darzustellen für sie eine Wollust

bildet, so zeichnen sie sich doch am meisten durch den satanischen

Geist des Hochmuts und der frechen Gottlosigkeit aus, in dem sich

nichtsdestoweniger

das

unselige

Gefühl

der

Hoffnungslosigkeit

verrät . . Es empfahl sich, eine so lange Probe dieser biblischen Bered­

samkeit zu geben, ist sie doch für die Rasse des Verfassers so typisch.

Jede kräftige Entladung eines mächtigen Parteigeistes hat

kulturhistorischen Wert.

War es indessen nicht, als ob Southey

die Nemesis ereile, daß ein Buchhändler im Jahre 1821, demselben

Jahre, in welchem er jene Salve abfeuerte, darauf verfiel, sich

Die orientalische Nomantik der Seeschale.

125

durch den heimlichen Wiederabdruck seines alten aufrührerischen

Wat Tyler einen Verdienst zu ergattern, so daß der Dichter sich an die Gerichte wenden mußte, um die Unterdrückung der Auflage und die Bestrafung des Schuldigen zu erwirken — und war es

nicht wie zwiefache Nemesis, daß Lord Eldon die Klage abwies,

weil er es nicht für richtig ansehe, einem Schriftsteller zu seinem Rechte in Bezug auf direkt schädliche und die Sittlichkeit unter­

grabende Werke zu verhelfen?

Im selben Jahre verfaßte auch

Southey bei dem Ableben des alten, geisteszerrütteten Georg III.

sein langes, trübseliges Hexametergedicht The vision of judgment,

ein Gedicht, welches nicht allein wegen des verwandten Sujets, sondern auch wegen der Übereinstimmung in der Benutzung des Übernatürlichen zu einem interessanten Vergleich mit Viktor Hugo's

legitimistischem Poem „Die Vision" einladet.

Bezeichnend genug

verherrlichte Southey den armen alten Georg III. um der ein­

zigen Tugenden willen, die seinem eigenen Verständnisse zugänglich waren, der einzigen übrigens, die der König besessen hatte, um

der häuslichen und bürgerlichen Tugenden willen, treu gegen sein Weib, gut gegen seine Kinder gewesen zu sein, Eigenschaften, die

ebensowenig einen guten König wie einen guten Dichter aus­ machen.

Da war das Maß für Byron voll.

Der beleidigte

Apollo erhob sich in seinem Grimme, mit unbeschreiblichem Humor

packte er den armen Marsyas am Ohr und schund ihn lebendigen Leibes in seiner Dooms-Vision. 1 Siehe die Reaktion in Frankreich, S. 255.

X.

Wenden wir uns von Southey zu einem besseren Manne, zu dem Dichter, der die eigentümlich britische Romanük auf die Volks­ natur und die Geschichte basierte.

Er brauchte nicht, wie die

Männer der Seeschule, sich zum Renegaten zu machen, um in

religiöser und politischer Beziehung konservativ zu werden, sondern

er war es ohne Haß und Groll gegen die Geister der entgegen» gesetzten Richtung, rein und ruhig von Naturell, edlen, festen

Charakters,

poetisch

so

überreich

begabt,

daß

er

mehr

als

20 Jahre hindurch alle Länder Europas mit gesunder, unter­

haltender Lektüre versah, und so tief originell in seiner Auffassung der Raffen und der Weltgeschichte, daß sein Einfluß auf die europäische Geschichtsschreibung nicht geringer ward, als der auf die Romandichtung aller zivilisierten Länder.

Walter Scott wurde zu Edinburgh den 15. August 1771 als neunter Sohn einer altadligen Familie geboren.

Der Vater

war Jurist und scheint in seinem strengen Ordnungssinne einige

Ähnlichkeit mit Goethes Vater besesien zn haben; in der Gestalt

des bejahrten Kaufmannes in Hob Roy soll, wie es heißt, der Sohn ihn geschildert haben.

Unverbrüchliche Königstteue hatte

sich in der Familie von altersher — zuerst als Ergebenheit für

die Stuarts, dann für das Haus Hannover — fortgeerbt, nicht minder die strengste Kirchlichkeit.

Der kleine Walter war gesund

und stark, als in seinem zweiten Jahre sein rechtes Bein plötzlich

lahm wurde.

Der Gleichmut, mit dem er sein ganzes Leben hin-

Her geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

127

durch dieses körperliche Gebrechen ertrug, steht in auffallendem Gegensatze zu der Leidenschaftlichkeit, mit der sein großer englischer

Rivale sich gegen sein verwandtes Mißgeschick aufbäumte. Er wuchs in der Schwärmerei für die vertriebene Königsfamilie und für die

Volkslieder mit ihren Schilderungen der alten Kämpfe der Hochländer

und Schotten heran.

Schon im zartesten Alter wußte er ganze

Stücke auswendig jener Ballade von Hardiknut, mit deren Vortrag

er 1815 Byron Thränen entlockte. Alles Anekdotische, besonders in

Reim- und Balladenform, lernte er mit Leichtigkeit; hingegen wird

ausdrücklich bemerkt, daß er sich — ein deutlicher Fingerzeig in Bezug auf die Beschaffenheit seiner spätern Produktion — Jahres­ zahlen und allgemeine Grundsätze nur mit Schwierigkeit an­

eignete.

Der kleine hinkende Knabe, der auf einem Pony, kaum

größer als ein gewöhnlicher Metzgerhund, umherzureiten pflegte,

war ein Kenner von Percy's Sammlung altschottischer Dichtungen

und Fragmente, ja was noch merkwürdiger ist, er sammelte alte Gedichte wie andre Kinder Münzen oder Siegel, und besaß im

Alter von zehn Jahren deren bereits mehrere Bände voll.

auch sein Lebenlang ein Balladenjäger.

Er blieb

Ebenso frühe wie für

die Poesie war sein Sinn für die landschaftlichen Umgebungen erschlossen.

Jede Ruine, jedes Denkmal, ja jeder alte Stein zog

ihn an und ließ ihn verweilen.

Doch betrachtete er nicht die

Natur mit der Wordsworth eigentümlichen Innigkeit, um ihrer

selbst willen bloß als Natur.

Eine Gruppe alter, ineinander

verwachsener Bäume vermochte nicht an und für sich in seinem

Gemüte die Andacht zu erwecken, die sie bei Wordsworth hervor­

rief.

Hieß es jedoch: Unter diesem Baume hat Karl II. geruht —

oder: an diesen Baum knüpfen sich Erinnerungen an Maria Stuart — da schnitt er sich Zweige ab zum Angedenken an die von ihm

besuchte Stätte und vergaß sie niemals. Fünftehn Jahre alt

lernte er die malerischen schottischen

Hochlande kennen, die so große Bedeutung für seine Poesie durch

128

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus,

die neue, Europa unbekannte Szenerie erlangen sollten, mit welcher sie seine dichterischen Gestalten umgaben. Von dem Augenblicke an, wo er sich als Dichter fühlte, studierte er die Natur, ganz wie ein Maler Studien aufnimmt. Wollte er. eine Gegend be­ schreiben, so reifte er eigens hin, notierte auf das Genaueste das Aussehen der Berge, die Lage und Form der Wälder, selbst den Charakter der Wolken in dem gegebenen Augenblick, ja oft die einzelnen Blumen und Sträucher, die am Wege oder am Eingang einer Höhle standen. Der poetische Blick für die Natur, den er mit den Romantikern Deutschlands und Dänemarks gemein hatte, schloß die kräftigste, gewissenhasteste Wirklichkeitstreue der Schilde­ rung nicht aus. Während Oehlenschläger sich lange mit Rosen und „Vergißmeinnicht" zu behelfen vermochte, kannte Scott jeden Hügel, jedes Thal, jeden Bach, jeden Felsen, jeden Stein, jeden Pfad' und die ganze schottische Flora. Noch aber war Scott sich seines Dichterberufes nicht klar bewußt worden: er bildete sich zu einem fleißigen, eifrigen Juristen aus, der seine Akten mit einer zierlichen Juristenhand und den juridischen Schnörkeln schrieb, womit er später seine vielen poetischen Werke zu Papier bringen sollte. Trotz seines Gebrechens besaß er einen gesunden, geschmeidigen und kräftigen Körper und war so gewandt in allen Leibesübungen, daß er sich einmal eine ganze Stunde lang auf einem einsamen Wege mit seinem Stock gegen drei Kerle verteidigte, die ihn überfielen. Was aber für seine geistige Veranlagung höchst bezeichnend ist: diese Gesundheit war nicht mit einer entsprechenden Feinheit der Sinnesorgane ver­ bunden. Er ermangelte fast völlig des Geruchsfinnes, und sein homerischer Appetit war alles eher als Leckerhaftigkeit; er ver­ mochte sein Lebtag guten und schlechten Wein nicht zu unterscheiden, noch einen Unterschied zwischen einem schlecht und einem fein 1 Siehe „Mannion“ Gesang IV, Str. XXIII., wo er selbst diese Aus­ drücke gebraucht.

zubereiteten Mahle zu schmecken — ein Punkt, worin er den ausgesprochensten Gegensatz zu seinem jüngeren Zeitgenossen Keats

bildet. so

In seinem Verhältnis zu dem andern Geschlecht war er

kalt, daß er wegen dieser Kälte sich Neckereien von seinen

Kameraden gefallen lassen mußte.

Nichtsdestoweuiger hegte er in

seinen Jünglingsjahren romantische Gefühle für eine junge Dame, die einen anderen heiratete, wußte sich aber so vollkommen zu be­ herrschen, daß niemand etwas davon ahnte.

Das Leid war bald

verwunden, und nach einer keuschen, gesetzten Jugend vermählte

er sich im Alter von 26 Jahren mit einer französischen Dame,

einer Protestantin (Fräulein Carpenter), deren Vater während der Revolution gestorben war.

Den Winter 1796 auf 97 verbrachte

er bei der allgemeinen Furcht der Engländer vor einer Landung damit, Freiwilligenregimenter zu errichten, und da er Feuer und

Flamme für die Sache war, wurde er zum Quartiermeister und Schreiber eines der Regimenter ernannt.

Seiner ersten Über­

setzungen aus dem Deutschen Haden wir bereits Erwähnung gethan.

Er, der so lange ein lebendiges Magazin von Liedern, Balladen

und Erzählungen gewesen war, gab nun 1803 eine Sammlung schottischer Volkslieder (Minstrelsy of the Scottish Border) heraus,

die er seinem Baterlande, „Albions besserer Hälfte", widmete; der

dritte Teil „Neuere Nachahmungen" enthält Gedichte des Heraus­

gebers selbst?

Eine Kritik des Buches enthielt den prophetischen

Ausspruch, es berge Stoff für hundert Romane. Bei all seiner Treue für das englische Königshaus fühlte er

sich doch beständig als Schotte, ja es unterliegt keinem Zweifel, daß

das schottische Rassengepräge die entscheidende Grundlage seiner Originalität bildet.

Schon das poetisch-historische Interesse, das

bei ihm zum Durchbruche kommt, ist schottisch. Kein Zug des Volks­

charakters war bei den Schotten zu allen Zeiten so ausgeprägt, wie 1 In eben demselben Jahre debütierte Oehlenschläger („Gedichte 1803") mit einer Sammlung von Umdichtungen alter Volkslieder. Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

9

130

Der geschichtliche imb ethnographische Naturalismus.

ein heftiges, leidenschaftliches Nationalgefühl.

Jenes Wort „Per-

fervidum ingenium Scotorum“, das seit dem Mittelalter durch

Jahrhunderte die stehende Redensart über die Bewohner Schott­

lands war, hatte ursprünglich keine andere Bedeutung.

Sehen

wir einen Augenblick von der inneren Parteispaltung ab, die das Gefühl der Gemeinsamkeit nicht umstößt, so finden wir nicht leicht

in irgend einem andern Lande ein solches Bewußtsein der Zusammen­ gehörigkeit, wie bei diesem kleinen Volke, dessen Reich mit einem

anderen, bedeutend größeren, das die nämliche Sprache spricht und unter dessen Herrschaft es steht, territorial zusammenhängt. Auch die Engländer haben ein lebhaftes Nationalgefühl, doch tritt es weit

weniger in den Vordergrund, drängt sich weniger scharf hervor, es ist teilt positiver Art und hat all das Viele und Große zum Inhalt,

das nach der Ansicht

zeichnet.

Das Nationalgefühl

des Engländers

sein Volk aus­

des Schottländers

unaufhörlich wachsam, beständig auf dem Posten, Wesentlichen negativer Natur ist.

hingegen

ist

weil es im

Wenn der Engländer sagt: Ich

bin ein Engländer, so meint er genau das, was er sagt; wenn aber der Schotte sagt oder denkt: Ich bin ein Schotte, so be­

deuten diese Worte in seinem Munde so viel wie: Ich bin kein Engländer?

Um dies Gefühl recht zu verstehen, muß man die geringe Zahl der Schotten im Verhältnis zu der Anzahl ihrer mächtigen Nachbarn bedenken.

Wenn man weiß, daß noch im Jahre 1707

die ganze Bevölkerung Schottlands nicht eine Million überstieg, so begreift man, daß kräftiges Zusammenhalten, tiefe Hartnäckigkeit

und defensive Streitbarkeit not that, wenn die minder zahlreiche Rasse ihre Eigentümlichkeit nicht vom Süden her überflutet oder

verdrängt sehen wollte.

So kam man dazu, auf eine besonders

nachdrückliche Weise das rauhe, düstere Schottland im Gegen-

Masson: Scottish Influence in British Literature.

Der geschichtliche und ethnographische Vatutoliemue. satze

zu dem grünen,

131

fruchtbaren England zu lieben und zu

bewuniern, für seine Berge, Fluren, Sümpfe nnd Nebel mit fast polemischer Vaterlandsliebe zu schwärmen.

Als nun dem Lande

ein großer epischer Dichter geboren wird, und zwar zu einer Zeit, wo das Nationalgefühl sich allenthalben in Europa die Poesie erobert was Wunder, daß es da Schottland ist, welches die ersten

und kraftvollsten Produkte der historischen und volkspsychologischen

Romantik hervorbringt.

Was konnte einem Dichter dieses Landes

näher liegen, als sich in die eigentümlichen Sitten der Hochländer zu verliefen und sie mit ihrem effektvollen Kostüme zu schildern? Was »ar für den Mann, dessen bloßer Name ihn gleichsam zum Baterlcnde in Person zu stempeln schien, natürlicher, als seine Zu­

flucht zur Vergangenheit, zu ihren Denkmälern und Erinnerungen

zu nehnen, um so gewissermaßen die geringe Zahl und Bedeutung seiner Landsleute in der Gegenwart durch die Schilderung ihres

Lebens in der Vergangenheit und ihrer geschichtlichen Großthaten

wett zu machen? Was das schottische Nationalgefühl sonach auszeichnete, war

zunächß

das Gepräge

eines innigen Solidaritätsgefühles;

Provinjnation war geschlossener,

die

barg keine so scharfen indivi­

duellen Gegensätze wie die Hauptnation.

Scott hat an so mancher

Stelle dies kräftige Sippengefühl seiner Landsleute geschildert, nirgents schöner, als im dritten Teil seines Romans „Das Ge­ fängnis von Edinburgh", wo dies gesunde, schöne Gefühl dem

armen Bauernmädchen den Mut einflößt, sich unbefangen an den

Herzog von Argyle ganz wie an einen Angehörigen um Hilfe zu wenden.

Allein das schottische Nationalgefühl hatte noch einen

andern Grundzug, nämlich den der Schwärmerei für einen provinz­ artigen Sonderstaat, wodurch es unmodern und traditionell und dem­

gemäß mit allen alten Überlieferungen verbunden austrat.

Daher

bei Scctt die übertriebene Ehrfurcht vor der Königsmacht, deren Sinnbildern und gesamtem Zubehör.

Als er Mitglied der Kom9*

132

Btt geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

Mission zur Untersuchung der alten schottischen Kronregalien war, rief

die Auffindung

derselben

eine

so

lebhafte,

andachtsvolle

Gemütsbewegung bei ihm hervor, daß er, als einer der Beamten einem jungen Mädchen das Diadem zur Probe auf den Kopf

setzen wollte, sich nicht enthalten konnte: „Nein, um Gotteswillen nein!" auszurufen.

Der erste große Partikularismus zog ein ganzes Heer weiterer Sondergefühle nach sich.

Hatten nicht viele Völker das Gefühl

der Schotten für Zusammengehörigkeit, so zersplitterten sich diese

noch mehr als andere in Parteien und Lager.

Das

Gefühl

des Individuums von der Pflicht, in einem gemeinsamen Ganzen aufzugehen, begann nicht erst beim Staate, sondern schon in dem

Stamme, dem Clan, ja der Familie.

Darum treffen wir denn auch bei Scott als Balladensammler eine besondere Vorliebe für jene Balladen, welche die Großthaten von Stammesverwandten oder Vorfahren des Dichters zum Bor­

wurf haben.

Darum hat er auch in seiner Eigenschaft als Schotte

ein äußerst ausgebildetes Familiengefühl.

Er war ein muster­

hafter Sohn, ein exemplarischer Gatte, er war — wie aus seinen Briefen an seinen ältesten Sohn hervorgeht — der zärtlichste

Vater; er war ein guter Erzieher seiner Kinder an Leib und Seele, der zunächst nur die altpersische Forderung an sie stellte, gut

zu Pferde zu sitzen und die Wahrheit zu sprechen; doch selbst in diesen Gefühlen war er kein recht moderner Geist.

In seinem

Privatleben wie in seiner Poesie ging ihm das Geschlecht über

das Individuum.

Er hatte einen Bruder, Daniel Scott, der

verkommen war und ohne je etwas geradezu Unehrenhaftes be­ gangen zu haben, doch der Familie Schande machte.

Diesem ver­

kommenen Bruder verschaffte er auf schriftlichem Wege eine kleine Anstellung in Westindien, nannte ihn aber in den Briefen an deffen Vorgesetzten immer nur seinen „Verwandten", verlangte auch von

ihm, daß er vor niemand verlauten lasse, wie nahe dies Verwandt-

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

133

schastsverhältnis fei, wollte ihn, als er nach Schottland zurückkam, um keinen Preis Wiedersehen, noch seinen Namen nennen, noch als

-er starb,

seinem Begräbnisse beiwohnen,

oder um ihn Trauer

Derlei gehört zu den Fehlern, die sich im Gefolge konser-

kragen.

vativer Tugenden finden.

Niemanden wird es jedoch wundern, daß

der Mann, der, sonst so milden Sinnes, dermaßen auf dem Altare

der Familie zu

opfern

imstande

war,

nicht der Dichter der

Individualität werden konnte, sondern mit einem Schlage in die

Vergangenheit zurückgeworfen wurde, als Byron erstand.

Im Jahre 1802 wurde die Edinburgh Review gegründet, und Scott beteiligte sich gleich anfangs an diesem Organ, dessen

Redakteur, sein Landsmann Jeffrey, als Kritiker eine sehr große Rolle int Leben der damaligen Dichter spielte, wiewohl ein gewisser derber Verstand ohne Geschmeidigkeit und ohne Schulung seine

einzige kritische Gabe war.

Diese Mitarbeiterschaft währte indes

nur sieben Jahre, da Scott im Jahre 1809, mißvergnügt über die allzu liberale Haltung der Edinburgh Review in der katholischen

Frage

und aufgebracht über Jeffrey's ungünstige Besprechung

seines „Marmion", die Quarterly Review ins Leben rief.

1805 erschien Scott's erste epische Dichtung „Das Lied des

letzten Minstrel".

Sie machte außerordentliches Glück, man freute

sich über diese Rückkehr zur Volkspoesie und zur Natur, insbesondere

wurden die Naturschilderungen höchlich bewundert.

Pitt erklärte,

daß Scott, seiner Ansicht nach, an manchen Stellm die Wirkungen der Malerkunst erreicht habe, und sein Gegner Fox war aus­

nahmsweise in diesem Punkte mit ihm eines Sinnes.

War Scott

schon als Beamter durch seine persönliche Liebenswürdigkeit so

beliebt gewesen, daß, wie Wordsworth im Jahre 1803 erfuhr, sein bloßer Name genügte, um wie mit einem Zauberschlage alle Thüren seines Amtsdistriktes zu öffnen, so wurde er nun ebenso

beliebt als Dichter. abgesetzt.

In kurzer Zeit wurden 30000 Exemplare

Es waren die Zustände des sechzehnten Jahrhunderts,

welche, mit annähernd historischer Genauigkeit dargestellt, dem

Leser hier entgegentraten. Die Schilderung der hochländischen Sitten wurde mit so lebhaftem Interesse ausgenommen, daß Scott durch

den geernteten Beifall den Anstoß empfing, etwas Ähnliches in Prosa zu versuchen, ein Gedanke, der in seiner nachmaligen Ver­

den Namen Waverley erhielt.

körperung

Vorläufig war das

Interesse für das Mittelalter, das Ritterwesen, die Königsherrlich­

keit, die Lehnstreue und die schottische Nationaleigentümlichkeit

erweckt.

Die

englischen Turisten

begannen romantische Wall­

fahrten zu den Ruinen der alten Burgen und der Walstatt bei

Killiecrankie zu unternehmen, wo ihre Landsleute im siebzehnten Jahrhundert von den Ungeheuern

mit den Tartanen und den

nackten Waden geschlagen worden waren. Bisher hatte Scott am Abende und bis tief in die Nacht

hinein geschrieben; jetzt, wo seine eigentliche Schaffensperiode be­ gann, verlegte er seine Arbeitszeit auf den frühen Morgen.

Er

war vor 5 Uhr auf, ging alsbald in die Ställe hinab, begrüßte

seine Pferde und Lieblingshunde, sah nach allen seinen Haustieren, setzte sich hierauf an den Schreibtisch und arbeitete so leicht und

rasch, daß er, wenn er zwischen 9—10 Uhr beim Frühstück er­

schien, fast immer schon „seinem Tagewerk das Genick gebrochen" hatte. Um 12 Uhr verließ er sein Arbeitszimmer und verbrachte den Rest des Tages mit seiner Familie und seinen Gästen.

In den

frischen Morgenstunden arbeitete er alle die Werke, die nun folgten,

aus, während Byron charakteristischerweise seine Poesien sämtlich nachts schrieb.

Es ist, selbst wo die beiden Dichter einander am

nächsten stehen, als fühlte man die verschiedene Stimmung der lichten oder dunkeln Empfängnisstunde über dem Werke schweben.

Am nächsten kommt Scott Byron in dem im November 1806

von

Schlacht

ihm

von

begonnenen

Flodden

Field".

Gedichte Was

„Marmion,

die Fabel

oder betrifft,

die

ist

diese Dichtung den übrigen Scott's durchaus verwandt; wieder

Der geschichtliche unb ethnographische ttaturoliemus. ist

es das sechzehnte Jahrhundert,

135

wieder Schottland, wieder

das Leben auf der Burg und bei Hofe, das geschildert wird.

Doch

der

Held

des

Gedichtes

ist

derart

gehalten,

daß

er

direkt den Übergang zu den Byron'schen Helden bildet, gleichwie

das ganze Werk in den leichten, fließenden, aber etwas eintönigen vierfüßigen Jamben geschrieben ist, deren sich Byron in seinen

poetischen Erzählungen am häufigsten bedient hat.

Mannion ist

ein stolzer, unerschrockener Ritter, doch eine Verbrechernatur.

Er

hat eine wunderschöne, junge Nonne, Constanze von Beverley, entführt, die ihm überallhin in Männertracht als sein Page folgt;

aber bald ihrer überdrüssig, sucht er sich mit Gewalt die Hand einer jungen, adligen Dame zu erzwingen, obschon er weiß, daß

diese einen andern liebt.

Von eifersüchtiger Verzweiflung getrieben,

macht Constanze ein Attentat auf Marmions Leben, und mit kalter Grausamkeit liefert er sie als entwichene Nonne der Strafe

des Klosters aus.

Die Äbtissin fällt das Urteil über sie, und in

einer romantischen Greuelszene von der Art, wie sie Byron liebt, doch mit weit geringerer Schonung für die Nerven des Lesers

auszumalen pflegt, wird sie lebendig in einem unterirdischen Ge­ wölbe eingemauert.

Hier, bei Scott, ist nicht viel von einer Be­

gründung der Seelenvorgänge die Rede; die Pracht der Rüstungen,

das Dunkel des Klosters und die treulich wiedergegebene Archi­ tektur der alten Schlösser besitzen größeren Wert für ihn, als die

zarten Regungen des Gemütes;

gleichwohl hat er in Marmion

etwas geboten, das uns jetzt wie ein Urbild des Giaur, zumal

des Lara anmutet.

Auch die Geliebte des Giaur erleidet einen

schrecklichen Tod, auch Lara wird überall pon einem hingebungs­

vollen Weibe in Pagentracht begleitet; eine Szene, worin der Held öffentlich beschämt wird, wie sie in Marmion vorkommt, hat einige

Verwandtschaft mit jener, wo Lara's Vergangenheit ihm plötzlich

mit Verachtung vorgehalten wird. wie Byron:

Klingt es nicht schon beinahe

136

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

Marmion, deß Seele fest und klar, Verblieb in äußerster Gefahr, Marmion, der trotzig selbst zurück

Gab seines Königs Hochmutsblick; Der in der Kampfgenossen Zahl

Den Tapfersten ihr Thun befahl, —

Ihm jetzt versagten Sprach' und Denken, Den Blick zu Boden mußt' er senken, Und glüh'nde Röte stieg

Ihm ins Gesicht; es klang das Wort

So strafend in der Seel' ihm fort,

Daß er betroffen schwieg?

Seine Gewissensqual wird in folgenden Worten geschildert: Es dringt, o Reue, deine Pein Zutiefst in stolze Seelen ein.

Den Feigling schreckt die Peitsche nur,

Du bist der Tapferen Tortur'?

Sßorten,

die

gleichsam

eine Vorherverkündigung

sind der

be­

rühmten Stelle im Giaur, wo der über Jammer und Schuld

brütende Geist dem rings von Flammen umloderten Skorpion verglichen wird, der verzweifelungsvoll seinen Giftstachel gegen das eigene Hirn kehrt.

Wie nun einige Ähnlichkeit zwischen Marmion's und Lara's Lage und Wesen besteht, so sterben sie auch beide auf dieselbe Weise, im offenen Kampfe getroffen, ungebeugt im Tode, gottlos bis zum letzten Atemzuge.

Damit aber ist auch die Ähnlichkeit erschöpft; sie ist gerade groß genug, um Byron's Eigentümlichkeit deutlich werden zu lassen.

Für Scott ist Marmion's Persönlichkeit nicht die Hauptsache, er

bedient sich ihrer nur dazu, Gestalten und Situationen aus der Vergangenheit seines Vaterlandes um sie zu gruppieren.

Er be­

darf der Laster des Helden, um seine einfache Handlung in Gang

1 Mannion, Gesang IDE, Str. 14. 8 High minds of native pride and force Most deeply feel thy pangs, Remorse! Fear for their scourge, mean villains have, Thon art the tortuner of the brave!

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

137

zu Bringen; sie beschäftigen ihn jedoch nicht an und für sich, und

er stellt sie vollkommen unpersönlich dar.

Als hingegen Byron

seine ersten verbrecherischen Helden skizziert, will er vor allem

Interesse für sie wachrufen.

Schon ihre Erscheinung erregt Auf-

merksankeit und Teilnahme bei jedem, zeugt Vorstellungen von Stolz,

Schuld,

der sie sieht, und er­

Haß und Trotz; sie

schlage» in keinem Augenblick ihres Lebens wie Marmion vor

einem Ankläger die Augen nieder; sie leben wie jener Skorpion

der

Srge: ringsum Flammen, innen Selbstvernichtung.

Ohne

Trost zu finden im Himmel oder auf Erden, zieht ihr Herz sich

voll Stolz und Qual zusammen, bis es aufhört zu schlagen.

War

Marmion auch ein hartherziger, selbstsüchtiger Ritter, so ist doch sein leftes Wort „England" als

— er ist an ein größeres Ganzes

sein eigenes egoistisches Leben gefesselt.

Anders Byron's

früheste Helden: sie leben ganz und gar in ihrem eigenen Innern,

das gleichsam eine völlig abgeschlossene Welt für sich bildet, und der DHter hat dafür gesorgt, ab und zu das Publikum eine

ähnlich« finstere, abgeschlossene Welt in seiner eigenen Seele ahnen zu lassm.

Seine Individualität schimmert hinter der erdichteten

hervor, man fühlt hinter dem Werke ein Herz, das gelittm hat und das in halben Geständnissen und dunkeln Ausbrüchen Linderung sucht; d e Darstellung ist mit einem Worte im vollsten Sinne persön­

lich, urd damit ist eine Revolution in der englischen Dichtungs­ weise eingetreten. In dem rein episch gestalteten Gedichte Scott's war es nicht

die Hauptperson, es waren die Begebenheiten, die besonderes Glück

machten,

vor

allem

die Schlachtengemälde im letzten Gesang,

welche ron der begeisterten Kritik für die besten seit Homer erklärt wurden.

Und war nun das Gedicht ganz danach angethan, Be-

wunderrng bei Scott's schlichten Landsleuten zu erwecken, so war es nich: minder geeignet, bei Hof anzusprechen.

Byron hatte

recht, a.s er zum Prinzregenten sagte, Scott scheine ihm so recht

Der geschichtliche uni ethnographische Naturalismus.

138 ein Dichter

für Fürsten

zu sein;

sie seien niemals glänzender

als in Marmio» und der Jungfrau vom See geschildert worden.

Wahrscheinlich finden sich sogar in Mannion direkte Anspielungen

auf den Prinzregenten und seine Gemahlin.

Ersterer dürste kaum

ohne Gemütsbewegung die Schilderung von König James' Auf­

treten in der prunkenden Hoftracht gelesen haben,' und die vom Hofe verstoßene Prinzessin von Wales, welche Scott, als er 1806 zum erstenmale in London als Löwe gefeiert wurde, persönlich

kennen gelernt hatte, und deren Partei er sich als Tory anschloß,

konnte die in dem Gedichte vorkommende Schilderung von dem einsam vertrauerten Leben der verlasienen Königin Margarethe auf

sich beziehen, indes der ritterliche und leichtfertige Monarch die Zeit mit seinen Geliebten verbringt. 1806 begonnen, erschien Marmion 1808, und als Scott das Jahr darauf zum zweitmmale nach London kam, ward ihm dort

ein Empfang zuteil, der jedem andern dm Kopf verdreht haben würde.

Er spielte seine Löwenrolle mit einer Gutmütigkeit und

einem Humor, wie sie sich bei dem, der in einer Weltstadt der

Held des Augenblickes ist, nicht häufig finden.

Man erzählt, daß

er einmal, als er eine ganze Gesellschaft mit seinen Erzählungen und Einfällen unterhalten hatte und spät nachts, nach dem Weg­

gehen der Gäste, mit einigen verttauten Freunden allein geblieben war, mit sprudelnder Laune in das Shakespeare'sche Citat ausbrach: Ich weiß recht wohl, daß ich Hans Schnock der Schreiner bin,

Kein böser Löw' fürwahr,

und so bescheiden war und blieb er, daß er, als die Rede auf Burns kam, heftig sagte, er verdiene nicht, an einem Tage mit Bums.genannt zu werden.

1 For royal were bis garb and mien, His cloak, of crimson velvet piled, Trimm’d with the für of martin wild; His vest of changeful satin sheen, The dazzled eye beguiled. Marmion V, 8.

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

139

Doch war Scott zahm und sanft als Löwe, so war er um

so grimmer als Tory.

Seine Reise nach London hatte vornehm­

lich den Zweck, der Quarterly Review Mitarbeiter zu verschaffen;

sie sollte in streng konservativem Geiste geleitet werden, und zu­ mal war es die Frage der Katholiken-Emanzipation, die Scott in Aufregung versetzte.

Er ging von dem Gedanken aus, wenn

eine religiöse Sekte, die ihrem Wesen nach eng mit den politischen

Bestrebungen einer ausländischen Macht verbunden und den geist­ lichen Einflüssen einer Priesterschaft unterworfen sei, deren Ver­ schlagenheit und Thatkraft nicht ihresgleichen habe, so könne man

cs dem Staate nicht verdenken, wenn er die Anhänger derselben

nicht zu seinen Ämtern berufen wolle. „Wenn einer mit ein paar Pfund Pulver in der Tasche umhergeht," sagte Scott, „und ich gutmütig genug bin, ihn nicht

deshalb aus meinem Hause zu. jagen,

so brauche ich ihm doch

wohl nicht einen Platz an meinem Herde zu geben."

Er hielt

sein ganzes Leben an diesen Anschauungen fest; denn noch wenige

Jahre vor seinem Tode sagte er zu seinem Schwiegersohn: „Ich

die Papisterei

halte

für einen so niederträchtigen, schrecklichen

Aberglauben, daß ich kaum meine Einwilligung zur Aufhebung der peinlichen Strafen gegeben hätte, die bis l 780 in Anwendung

waren.

Jetzt aber, nachdem man der babylonischen Dame das

Pflaster vom Munde genommen, weiß ich nicht, weshalb man so

viel Aufhebens davon macht, ihr Sitz und Stimme im Parlamente

einzuräumen."

Man begreift, daß dem englischen Volke Dichter

wie Byron, Moore und Shelley not thaten, wenn man einen Mann von dem Geistesadel und der Bildung Scott's sich mit so schmählicher, grausamer Beschränktheit aussprechen hört.

Im Jahre 1810 erschien „Die Jungfrau vom See".

So

großes Glück wie dieses Gedicht hatte bisher ^noch nichts von Scott gemacht.

Die herrliche Wald- und Gebirgsfrische, welche dies

schöne Werk durchströmt, seine milde Wärme, sein echtes Gefühl,

140

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

das nirgends zu stürmischer Leidenschaftlichkeit anschwillt, das ganze Naturbild, welches nicht wie bei Wordsworth von Armenhaus­

sympathien und Moralpredigten gestört wird, wirkte bezaubernd

auf die Leserwelt.

Das Gedicht fand solchen Anklang in den

weitesten Kreisen, daß die Einnahmen der Passagierpost in den der

Szenerie zunächst gelegenen Stationen sich verdoppelten. Man muß

seine Zuflucht zu Vorfällen aus Scott's eigenem Leben nehmen, um ein Seitenstück zu einer derartigen Thatsache zu finden.

Als

sein Roman „Der Altertümler" erschien, von dem in zwei Tagm 6000 Exemplare abgingen, wurde es ruchbar, daß er die beidm Hunde Dandie Dinmonts, „Pfeffer" und „Senf", nach zwei Hunden benannt habe, denen ein Pächter in Liddlesdale diese wunderlichen Namen gegeben hatte.

Dieser Mann, der Davidson hieß, und

übrigens in dem Roman gar nicht porträtiert war, wurde hier­ durch so bekannt, daß die Leute eigens Reisen machten, um ihn

zu sehen, ja eine vornehme Dame, die ein Paar Junge von den berühmten Hunden

wünschte und

seinen Namen

nicht

wußte,

adressierte den Brief au Dandie Dinmont, und derselbe kam ihm richtig zu Händen.

The Lady of the Lake wurde mit kaum geringerer Wärme ausgenommen.

So

teilte z. B. der schottische Kapitän Adam

Ferguffon Scott in einem Briefe mit, daß er in Portugal auf

Vorposten, den Kugeln des Feindes ausgesetzt, kniend seine Dich­ tung vorgelesen habe, während die Mannschaft platt ausgestreckt

auf der Erde lag, und daß, als er die Beschreibung der Schlacht

im sechsten Gesänge las, lautlose Stille geherrscht habe, nur unter­ brochen von einem donnernden Hurrah, wenn eine französische Kugel neben ihnen in dm Boden schlug.

Was ein moderner ausländischer Leser heutigm Tages in diesem Gedichte findet, ist vor allem das Nationalgepräge, die

Verherrlichung der nationalen und feudalen Erinnerungen und

Sitten, der Königsmacht und der Clanstreue, in Moren; lebendigen.

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

141

naiven Gesängen, ferner Naturschilderungen, thaufrisch wie die Christian Winther's — keinerlei Psychologie.

Da sind ein alter

Barde, namens Allan, ein romantischer Greis, halb Druide, halb Prophet, namens Briand, romantische Träume, die in Erfüllung

gehen,

Weissagungen,

die eintreffen, letztere jedoch als etwas

Volkstümliches, nicht als etwas Mystisches, eingewoben.

Keine

Spur darin von der Romantik des Unheimlichen, an die zu glauben Scott selbst der letzte gewesen wäre.

So sehr seine Geister- und

Gespenstergeschichten ihn auch ergötzen mochten, er selbst war, gonj.

im Gegensatze zu den deutschen Romantikern, weit davon entfernt, dem Eindruck des Schauerlichen und Unheimlichen unterworfen zu

sein.

Er erzählt irgendwo, daß er eines Abends, als er in ein Dorf­

wirtshaus kam, den Bescheid erhielt, daß kein Bett mehr zu haben sei.

Ist gar kein Platz, wo ich schlafen kann? — Nein,

das

einzige Bett, das frei ist, steht in einem Zimmer, wo eine Leiche

liegt. — Ist die Person an einer ansteckenden Krankheit gestorben? — Nein. — Gut, so gebt mir das andere Bett. — Ich legte mich

nieder und habe nie eine ungestörtere Nacht verbracht. — Man

denke sich Novalis oder Hoffmann in einer ähnlichen Situation. Nicht als ob sonach der romantische Duft in der „Jungfrau vom See"

etwas Unfrisches hätte.

Was uns heutzutage das

Gedicht weniger interessant macht, ist nicht dies,

sondern das

theatralische Arrangement bei der Schilderung von Sitten und

Gebräuchen.

Auch Scott hat die schlimmste Klippe der roman­

tischen Epopöe, das Ballett, woran Southey scheiterte, nicht ganz

zu umschiffen vermocht.

Es werden z. B. in dem Gedichte die

Mannen zum Kriege aufgeboten, und nun wird umständlich er­

zählt, auf welche Weise dies geschieht, indem ein Jüngling im Laufschritt das Feuerkreuz von Ort zu Ort trägt.

der Theaterwirkung

Hier ist alles

halber auf die Spitze getrieben: der junge

Mann stößt zuerst auf ein Leichenbegängnis und nimmt den waffen­ fähigen Sohn von der Leiche seines Vaters hinweg, begegnet dann

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

einem Hochzeitszuge und nimmt den Bräutigam von der Braut fort. Man sieht gleichsam die Prozession über die Bühne schreiten und

den grellen Effekt, als der Bote aus der Kulisse herbeigestürzt kommt.

Es geht wie auf dem Theater zu.

Ein Pfiff, und es

füllen sich menschenleere Thäler und Höhen mit Hunderten von bewaffneten Männern,

eine Handbewegung,

und sie sind ver­

schwunden, es sind Massenwirkungen, und man fühlt, daß dem Dichter die Massen, nicht das Individuum, die Hauptsache sind. Ihm

war vor allen Dingen darum zu thun, mit lebhaft hervorstechenden

Zügen die schönen Sitten seines Landes darzustellen: der Fremde findet in der Hütte, unbeftagt, gastliche Aufnahme, der eine Feind teilt mit dem anderen, als dieser müde wird, aus ritterlicher Höflichkeit seinen Plaid — ferner wollte der Dichter seine Leser

durch unschuldige Effektmittel, Verwandlungsszenen und dergleichen, überraschen:

der hochländische Führer,

der Fitz-James geleitet,

entpuppt sich plötzlich als der gefürchtete Clanhäuptling Rhodrick

Dhu, und Fitz-James selbst ist zuguterletzt kein geringerer, denn der König selbst. Doch wie gesund, wie leicht, wie fröhlich, in welch breitem Strome fließt nicht dieser Lobgesang auf Schottland und die Schotten dahin!

Der König beherrscht, ehrliebend wie ein

König bei Calderon, seine Leidenschaft; Hochländer und Bewohner ber Ebene, Männer und Frauen, haben alle das Herz auf dem

rechten Fleck.

Man freut sich des Einblickes in eine harmonische

Welt und verzichtet gern auf Wordsworth's strafendes, morali­ sierendes Seelenstndium.

Will man in der That ein lehrreiches Gegenstück zu The Lady of the Lake haben» so lese man Wordsworth's

Epos

„Das weiße Reh von Rylstone", dem eine Ballade aus Percy's Sammlung zu Grunde liegt, und das, gleichfalls 1809 begonnen,

ein Gedicht ist, worin der Poet von Rydal Mount, der sich zum Wettstreit angespornt fühlen mochte, am meisten sich dem Gebiete

Scotfs nähert.

Wer würde wohl leugnen wollen, daß das Gefühl

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

143

Bei seinem Haß gegen alle

bei Wordsworth ungleich tiefer ist.

blendenden Tugenden und prunkenden Laster

hat er sich einen

Helden gewählt, der, obschon ein gehorsamer Sohn und mutiger

Ritter, sich aus Pflichtgefühl weigert, seinem Vater und seinen

Brüdern Gefolgschaft zu leisten, als sie die Fahne des Aufruhrs gegen die Königin Elisabeth von England entrollen, und der, ver­

stoßen

und verkannt, ohne die Gefahren der Seinen teilen zu

können, ihre Niederlage und schmähliche Strafe erleben muß.

hat seinen Helden mit Entsagung,

Festigkeit,

Er

Herzensgüte und

nazarenischer Religiosität ausgestattet, doch wie überwuchert ist nicht

das Ganze von gesuchtem Tiefsinn, von dem affektierten Halbüber­ natürlichen,

Empfindsamen,

Salbungsvollen!

Scott betrachtete

die Natur und die alten Sitten mit dem Auge eines Jägers,

Wordsworth mit dem eines Moralisten.

Wordsworth's schwer­

beladenes Frachtschiff bewegt sich langsam,

unterwegs.

säumt und zaudert

Scott's Dichternachen schoß mit vollen Segeln dahin,

nur leichte Blasen in der Phantasie des Lesers hinterlassend, und

wie es im dritten Gesang des Gedichtes von dem Rache» heißt — So rasch den See der Rudrer schlug, Daß, wo in's Wasser schnitt der Kiel, Die Blase noch ihr lustig Spiel

Trieb tanzend aus dem Kausen Spiegel,

Als schon erreicht die Festlandshügel.

Man wird leicht begreifen, daß Scott's Poesien mit ihrer

Vorliebe für ritterliche Tugenden, für die Kühnheit und den Mut selbst bei aufrührerischen Clanhäuptlingen, Seeräubern, Zigeunern,

Schmugglern rc, kurz mit allen den Sympathien, die den Über­

gang zu Byron's Liebe zum Kühnen, Wilden bilden, eine Seite hatten, von welcher sie den moralischen, christlichen Dichtern der Seeschule höchlich zuwider waren.

So wirft bezeichnenderweise

Coleridge an einer Stelle Walter Scott vor, er arbeite „dem korrupten Verlangen nach Reizmitteln in die Hände, indem er

das Lasterhafte und Verruchte sympathisch darstelle, sobald der

Teufel nur verwegen sei", worauf er mit dem äußerst unwirschen

Worten schließt: „Nicht zwanzig Zeilen von Scott weiden auf die Nachwelt kommen, sie stehen zu gar nichts in Beziehung."1

Die

Prophezeihung ist nicht in Erfüllung gegangen. Das Jahr 1812 brachte die ersten zwei Gesänge von Childe

Harold

und

kurz

darauf

einen

innigen

Brief

Byron's

an

Scott mit einer aufrichtig gemeinten Entschuldigung wegen des

thörichten Angriffes in English Bards and Scottish Reviewers. Der junge hitzige Poet hatte hier seinen älteren Berufsgeuossen

mit Hohnreden überhäuft, nicht nur, weil sein Lieblingsheld eine Mischung von „Wilddjeb, Räuber und gemeinem Schuft" sei, sondern

vornehmlich, weil 'Scott Honorar für seine Schriften empfange, für Lohn schreibe, und „für seine Brotherren" arbeite, etwas,

wovon Byron in seiner ersten Jugend, so bedürftig er dessen auch war, aus Vornehmheit nichts wissen mochte — bis er nach seiner zweiten Reife in das Ausland sich seine Arbeiten gehörig

einttäglich zu machen wußte.

Er bereute seine Übereilung gegen Scott

ebenso heiß wie alle seine anderen Übereilungen dieser Art, und die

vorübergehende Spannung zwischen den beiden großen, liebens­ würdigen Männern wurde nun von dem herzlichsten Verhältnisse

abgelöst. — Auf Scott's Produktion aber einen schwerwiegenden Einfluß aus.

übte Childe Harold

Mit klarem Blick erkannte er,

daß er in der poetischen Erzählung nicht mit Byron Schritt

halten könne;

er beschloß sich einem anderen Kunstgebiete zuzu­

wenden, dem, auf welchem er bald ohne Nebenbuhler in Europa dastehen sollte.

Die Äußerungen über seine Beweggründe hierzu, wie über­ haupt seine Äußerungen über Byron,

die sich in seiner Bio­

graphie verstreut vorfinden, sind Zeugnisse edler Humanität und

reizenden Offenherzigkeit.

Im Jahre 1821 sagte

1 Leiters, conversations and reeolleetions I, 193.

er zu einem

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

145

Freunde: „Ich habe es längst aufgegeben, Verse zu schreiben. war Sieger

gewesen

auf dieser Bahn

und

mochte nicht

Ich die

Zeit erleben, wo ich hinter einem andern hätte zurückbleiben müssen.

Die Klugheit mahnte mich, vor Byron's mächtigerem Genius die Hätte ich, eifersüchtig, nach Dichterruhm ge­

Segel zu streichen.

ich würde mich wohl mit nicht geringerem Mute, als er

geizt, ihn

bei

seinem Austreten

bekundete,

auf

den Zweikampf ein­

gelassen oder das Publikum in Staunen und Schrecken versetzt haben, indem

ich

in eigener Person die Rolle des sterbenden

Fechters gab; doch ich will lieber mit jener Offenheit, die Sie

seit zwanzig Jahren an mir kennen, gestehen, daß ich mich nicht

stark genug fühlte."

Als er endlich im Jahre vor seinem Tode

gefragt wurde, weshalb er keine Verse mehr geschrieben habe, ant­ wortete er kurz und bündig: „Weil Byron mich geschlagen hat!"

und auf den Einwurf des Fragenden, daß er für seinen Teil ebenso viele Stellen aus seinen als aus Byron's Gedichten auswendig wisse,

erwiderte er: „Mag

sein; aber er hat mich durch seine

Zeichnung der leidenschaftlichen Gefühle und seine tiefe Kenntnis

des Menschenherzens aus dem Felde geschlagen."

Mußte dies

auch im ersten Augenblick eine herbe Erkenntnis für Scott gewesen

sein, so konnte er nicht mit Unrecht in dem Gedanken Trost suchen, dem er ein andermal Ausdruck gab: „Wenn ich Ursache hatte, es mir zu Herzen zu nehmen, daß die Entfaltung seines Genies mich

in Schatten zu stellen schien, so durste ich mich damit trösten, daß

die Natur mich zum Ersatz dafür mit weit größerer Anlage zu wahrem Glück ausgestattet hat." Mit „Waverley", der im Februar 1814 anonym erschien, begann

Scott

nunmehr

und

die

lange

sein Heimatland

berühmt machten.

Reihe

in

der

anonymer

Romane,

die

ganzen zivilisierten Welt

Ihr Auftreten fällt mit dem Auflodern des

nationalen Stolzes beim Friedensschlüsse mit Frankreich und den

für die Zukunft sich eröffnenden vielverheißenden Aussichten zuBrandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

10

146

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus,

sammen.

Diese Werke sind nicht, wie die der vornehmsten Dichter,

wie die Schöpfungen eines Goethe, eines Byron, verschiedenen Entwicklungsstufen und Bildungsstadien, noch auch tiefeingreifenden

persönlichen Erlebnissen entsprungen, sie sind zur vollen Reife ge­ diehene Erzeugnisse einer unerschöpflichen Erzählergabe und eines

ungewöhnlichen Talentes der Charakterschilderung.

Sie bezeichnen

nach zwei Richtungen hin einen außerordentlichen Fortschritt — in Bezug auf die Auffassung des historischen und in Bezug auf

die Darstellung des bürgerlichen Lebens. Während die Geschichtschreiber des achzehnten Jahrhunderts,

deren Ideal in ihrer eigenen Zeit lag, ihren Beruf mehr oratorisch als dichterisch aufgefaßt und mit abstrakter Verständigkeit sich mit

Staats- und Bildungszustanden beschäftigt hatten, ohne Blick für den Einfluß der Himmelsstriche und geographischen Verhältnisse, ohne

Untersuchung der völkergeschichtlichen Ursachen, da das LZolk als Volksstamm in ihrem Bewußtsein überhaupt keine Rolle spielte — ging Walter Scott als historischer Romanschriftsteller vor allem

darauf aus, ein farbensattes Bild des betreffenden Zeitalters und der Eigentümlichkeit des betreffenden Landes zu geben, und fühlte sich um so weniger versucht, seine Helden in dem Kostüme seiner

eigenen Zeit auftreten zu lassen, als er im innersten Herzen das bunte

Leben

der

Vergangenheit

dem

farblosen Treiben,

den

glatten Verstandesschlüssen seines eigenen Jahrhunderts bei weiteitt vorzog. Chateaubriand hatte wenige Jahre zuvor in den „Märtyrern"

den ersten Versuch gemacht, jedes Zeitalter mit seinem eigenen Maß zu messen, und die Physiognomie des Altertums in lebensvollen

Bildern zur Darstellung zu bringen.

Gleichwohl ist Walter Scott

der eigentliche Entdecker und Durchführer jener „Lokalfarbe" in

der Dichtung,

welche

die Grundlage

der

ganzen Poesie

des

Romantismus in Frankreich wurde und von Anfang an Hugo,

Msrimie und Gautier inspirierte. Ja, nicht genug, daß er mit seinem

Der geschichtliche und ethnographische Itaturalieyiue.

147

historischen Sinne der Wegweiser einer ganzen Dichterschule wurde,

er übte mit seinen anspruchslosen Romanen den größten Einfluß auf die Geschichtschreibung des neuen Jahrhunderts aus.

Es darf

nicht übersehen werden, daß es Walter Scott's „Jvanhoe" mit seiner Schilderung der Spannung zwischen Normannen und Sachsen

war, wodurch Augustin Thierry auf den Gedanken kam, hinter den Thaten Chlodwig's, Karl's des Großen und Hugo Capet's als treibende Ursache der Ereignisse den Rassenkampf zwischen Galliern und Franken zu suchen.

Dieser Dichter, der keinen tiefen Blick für das Seelenleben des

einzelnen modernen Menschen hatte, und welcher der modernen Zeit der freistehenden Persönlichkeiten gegenüber vielfach von den Fesseln und Banden nationaler, monarchischer und religiöser Vorurteile umstrickt war,

besaß,

vermöge seines mächtigen Naturalismus,

sobald die Menschen als Clan, als Volk, als Stamm oder Rasse

vor ihm standen, den schärfsten Entdeckerblick für die Naturgrund­ lage in ihnen.

Er, der gewohnt war, sich im Geiste stets mit

dem Gegensatze zwischen Schotten und Engländern zu befassen, fand leicht und wie durch eine plötzliche Inspiration die Bedeutung

des Rasiengegensatzes zwischen Angelsachsen und Normannen her­ aus, und seinen Schilderungen ist hierdurch eine ebenso große Be­ deutung für die Völkerpsychologie,

wie denen Byron's für die

Psychologie des Einzelnen eigen. Dazu kommen die großen Vorzüge dieser Bücher als Schilde­

rungen aller bürgerlichen Gesellschastsschichten in scharfgeprägten und typischen Gestalten.

Während man in den Romanen des

vorigen Jahrhunderts (jenen Fieldings z. B.) von einer Wirtshaus­

szene zur andern taumelt, offenbart sich das bürgerliche Leben bei

Scott in seiner ganzen behäbigen Breite.

Und was den Wert

von alledem noch erhöht, das ist die realistische Kraft, womit jede

einzelne Person

gezeichnet ist.

Die Engländer haben bei dem

Dichter stets die Fähigkeit geschätzt, mittels handgreiflicher, augen-

10*

scheinlicher Einzelheiten zu schildern, so daß die Gestalt sich vor

dem Leser deutlich abzeichnet.

Ihr derber, gesunder Verstand hat

Freude an kräftigem, anschaulichem Ausdruck.

Sie sehen das

poetische Bild am liebsten in so satten Farben ausgeführt, daß es sich grell abhebt, als wäre es ein auf den Schild gemaltes Wappen.

Dieser Vorliebe kam Scott als Romanschriftsteller entgegen.

Man

verzieh ihm gerne die gräßliche Breite seiner Beschreibungen und seiner Gespräche, gewann man doch mittels derselben, sei es durch Aneinanderreihung von Zug an Zug, sei es durch endlose Wieder­

holung der nämlichen Charatterzüge, die deutlichste Anschauung. Ist sein Verfahren auch ermüdend, so ist er doch immerhin einer

der größten Seelenmaler, die je gelebt haben.

Eine Frauen­

gestalt wie Diana Vernon in „Rob Roy", oder wie Jeanie Deans

in dem „Gefängnis von Edinburgh", eine historische Persönlichkeit

wie Ludwig XI. in „Quentin Durward", reihen sich dem Besten an, was die Romandichtung je geleistet.

Allein von allem Anfänge an war mit der Produktion dieser

Romane ein Mißstand verbunden, der in der Folgezeit sich auf eine ganze Klasse talentvoller Romanschriftsteller vererbte: Die

unkünstlerische Schnellschreiberei, die in der Aussicht auf kolossale

Honorare das Dichten fabrikmäßig wie eine Industrie betrieb. Schon im Jahre 1809 war Scott mit der Berlagsfirma Ballantyne,

welche die Quarterly Review für ihn druckte, in Verbindung ge­ treten; als Romanschriftsteller assozierte er sich förmlich mit dieser Buchdrucker- und Berlagsfirma, die leider weit mehr Unternehmungs­ lust als Vorsicht besaß.

Er schrieb nun mit einer fabelhaften Ge­

schwindigkeit. „Guy Mannering" wurde binnen 25 Tagen geschrieben und gleichzeitig gedruckt, und bald brachte er es so weit, durch­ schnittlich zwölf Bände im Jahre zu liefern.

40 Druckseiten vor

Tische fertig zu haben, war ihm nur eine gewöhliche Vormittags­ arbeit.

Der Absatz entsprach der ungeheuern Produktion: von

„Rob Roy" wurden 10000 Exemplare in 6 Wochen verkauft,

Btt geschichtliche und ethnographische Naturalismus. die späteren Romane gingen noch reißender ab. einen Jahre 1822

gab Scott's Verleger

und neuer Romane von ihm heraus.

149

Allein in dem

145 000 Bände alter

Die Honorare stiegen mit

dem Absätze, für die zwei ersten Auflagen der Lebensgeschichte Na-

poleon's erhielt Scott 18000 Pfund, und seine jährliche Einnahme

an Honoraren betrug bis 1826 kein Jahr unter 220000 Mark.

Er verwendete diese Gelder zur Erweiterung seines Gutes Ab­ botsford und zur Aufführung einer

förmlichen Burg,

wo

er

mit fürstlicher Gastfteiheit das Heer von Besuchern empfing, das

sein Haus überschwemmte und sich häufig für lange Zeit dort einquartierte.

Sein Ruf und seine Beliebtheit waren in stetem

Steigen. Während seines Triumphaufenthaltes in London 1815, wo

man in ihm nicht bloß den Dichter, auch den Patrioten, den

Ehrenbürger von Edinburgh, der sich durch seinen glühenden Haß gegen Napoleon bekannt gemacht hatte, feierte, wurde er beim

Prinzregenten eingeführt, der ihn mit Gnaden überschüttete.

Es

hat sich von diesem Besuche eine Anekdote erhalten, die eine Vor­ stellung von der Art Witz giebt, durch welchen der Thronfolger

vorübergehend bestechen und für sich einnehmen konnte.

Es war

eine Abendgesellschaft beim Prinzregenten, und Scott hatte als Ehrengast unaufhörlich erzählen mässen, wobei der Prinz ihn

scherzend aufs Glatteis zu führen und dazu zu bewegen suchte, sich zur Autorschaft der Waverley-Romane zu bekennen.

Scott

wußte geschickt von dem Thema abzulenken und erzählte, um sich

der Fragen zu erwehren, eine wahre Geschichte von seinem alten

Bekannten, dem Oberrichter Braxfield, welcher auf seinen Amts­ rundreisen bei einem reichen Gutsbesitzer zu übernachten pftegte,

der,

gleich dem Richter, ein leidenschaftlicher Schachspieler war

und ost die Partie von einem Jahre zum andern unentschieden stehen ließ.

Der Gutsbesitzer beging ein schweres Verbrechen und

Braxfield lag das traurige Amt ob, über seinen Freund und

Mitspieler das Todesurteil zu sprechen.

Er setzte die schwarze

Mütze auf und verlas das Todesurteil, das mit den Worten „Daß Du am Halse gehenkt werden sollst, bis Du tot

schloß:

Er sprach diese traurigen Worte mit dem größtmöglichen

bist."

dann nahm er die schicksalsschwangere Mütze ab, und

Pathos,

seinem Spielkameraden mit einem pfiffigen Lächeln zunickend, fügte

er hinzu: „Und nun, Donald, mein Junge, habe ich Dich wohl für ewige Zeiten schachmatt gesetzt."

Im selben Augenblick rief der

Prinzregent: „Hoch lebe, hoch und dreimal hoch, der Verfaffer von Waverley!

Ein Glas

auch

noch

auf den Verfasser des

Marmion!" und mit einem Blick auf die verlegenen Mienen und

abwehrenden Gebärden Scott's fügte er hinzu: „Und nun, Walter, mein Junge, habe ich Dich, hoffentlich für ewig, schachmatt gesetzt."

„Das Gefängnis von Edinburgh", eine der Perlen unter Scott's Werken, erschien im Jahre 1818.

auf den Gipfel seines Ruhmes.

Das Buch erhob ihn

Da folgte int Dezember 1819

„Jvanhoe" und entfesselte einen ungeheueren Beifallssturm. Aus wie wenigen, geringfügigen Wirklichkeitselementen Scott seine poetische Welt zu gestalten vermochte, läßt sich am besten aus diesem meister­

haften Romane ersehen.

Ein Herr Skene, der von einer Reise

nach Deutschland zurückgekehrt war, erzählte Scott allerlei von

den Zuständen der Juden daselbst, ihrer seltsamen Tracht, ihren eigentümlichen Sitten, der Härte, mit der sie behandelt würden.

Das genügte Scott, um darauf eine so farbenreiche Schilderung wie die Isaaks und Rebekka's zu gründen.

War er in seinem

Privatleben äußerst beschränkt gegenüber der Frage der Erteilung

politischer Rechte an die Bekenner der von der Kirche abweichenden Kulte, so

gereicht es ihm als Dichter um so mehr zur Ehre,

daß er vorurteilsfrei eine Jüdin zur Heldin seines Romanes zu machen

und sie mit einer unvergleichlich idealen und dennoch

naturwahren Schönheit auszustatten vermochte.

Das Jahr 1823 brachte „Quentin Durward",

in welchem

3er geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

151

Scott zum erstenmale fremden Boden betrat, und der seinem eng­ lischen und amerikanischen Renommee ein ebenso großes in Frank­

reich, Deutschland und Italien sich zugesellen ließ.

Herrn Skene's

Tagebücher über seinen Aufenthalt in Frankreich genügten Scott, der

Dichtung das ihr eigene bewunderungswürdige Kolorit zu verleihen.

Sein Name war nun in aller Mund und selbst seinen wenigst belesenen Landsleuten bekannt.

Bei dem fürchterlichen Gedränge,

das in London beim Krönungsfeste eutstand, war das Leben

Walter Scott's besonders seiner Lahmheit halber gefährdet. Mitten auf einem Platze, um den eine lebendige Hecke von schottischen

Gardedragonern gezogen war, sprach Scott einen der Unteroffiziere

an und bat, ihn in den freien Raum hinter ihnen treten zu lassen.

Der Mann antwortete kurz, unmöglich.

er habe strengen Befehl,

es sei

Im selben Angenblick rief einer der Begleiter des

Dichters, der einen neuen Menschenschwarm herankommen sah: Sir

Waller Scott, nehmen Sie sich in Acht! Kaum hörte der Dragoner diesen Namen, als er rief: „Wie? Sir Walter Scott! Der passiert überall!" und sich an seine Kameraden wendend, rief er: „Mächt

Platz,

mann!"

Leute,

für Sir Walter Scott,

unsern großen Lands­

Die Soldaten antworteten: Sir Walter Scott!

Gott

segne ihn! — So empfing das französische Heer in Afrika Horace

Bernet mit Trommelwirbel, Fanfaren und denselben militärischen Ehren, die einem Oberbefehlshaber eriviesen werden.

Man kann

sich kaum einen größeren Triumph für einen Künstler denken, als

diese Huldigung des gemeinen Mannes. 1826 trat die Krise im Leben des Dichters ein.

Die Ber-

lagsfirma Ballantyne, deren Teilhaber er war, machte Bankerott,

und es zeigte sich zum Staunen des haushälterischen, in Privat­ angelegenheiten äußerst skrupulösen Scott, daß die Schuld sich auf die

ungeheure Summe

von

seinen Ruin wie ein Mann.

117 000 Pfund belief.

Er trug

Die königliche Bank sendete eine

Deputation an ihn ab, um ihm zu sagen, daß sie sich ihm in

jeder Beziehung zur Verfügung stelle.

nicht an. angeboten,

Er nahm ihr Anerbieten

Anonym wurde ihm ein Geschenk von 30 000 Pfund er schlug alles aus.

verzweifelten Versuch

zu

machen,

Er beschloß heldenmütig den mit Hilfe

seiner Feder die

ungeheuere Schuld abzutragen und sich nicht eher Rast noch Ruh zu gönnen, als bis er die Verpflichtungen eingelöst haben würde,

die der Leichtsinn und die Mißwirtschaft anderer seinen Schultern aufgebürdet hatten.

Es kann aber auch niemanden Wunder nehmen, daß von nun

an der Wert seiner dichterischen Erzeugniffe mehr und mehr sinkt. Der arme Schrifsteller schloß Kontrakte über Bücher ab — so und so viele Romane im Jahre — deren Inhalt, ja deren Titelblatt

er nicht kannte.

Gerade in dieser unglücklichen Zeit verlor er

seine heißgeliebte Gattin.

Seine Geschäfte gestatteten ihm nicht

einmal an ihrem Sterbebette zu sitzen; er schrieb und schrieb, von dem Romane „Woodstock" einen halben Band in vier Tagen, dabei

fortwährend von Gläubigern bestürmt.

Er, der sein Haus vom

Mörgen bis zum Abend voller Gäste gesehen, führte nun das

Leben eines Einsiedlers.

Kapitän Basil Hall schildert den nieder­

schlagenden Eindruck, den es auf ihn machte, als er zu Scott kam und den Mann, der sonst, seiner Gattin gegenüber, von Verwandten

und Gästen umringt, Tafel zu halten pflegte, sich allein zu Tische setzen und den Diener das Gedeck für einen Einzigen bringen sah.

Er unternahm noch einige Reisen, unter anderen eine zum Zwecke

von Archivstudien nach Paris, woselbst eine Deputaüon der Dames de la halle ihm ein Riesenbouquet überreichte.

Er veranstaltete

eine Gesamtausgabe seiner Werke — der Absatz der neun ersten Bände betrug 35 000 Exemplare im Monat.

Er zahlte einen

Teil seiner Schuld ab.

Er sah mit Schmerz England die Bahn

der Reformen betteten.

1830 rief er aus: In England ist kein

Bleiben mehr für rechtschaffene Menschen, seit diese neuen Reformen Spielraum gewinnen.

Er unternahm frans, geschwächt und mit

Bet geschichtlich« und ethnographische Naturalismus.

153

einer teilweisen Gesichtslähmung behaftet, seine letzte Reise nach

Italien, auf welcher er in Neapel noch alle altitalienischen Lieder und Balladen sammelte, die nur aufzustöbern waren. Krank eilte er

wieder heim, um in seinem Vaterlande zu sterben, und hauchte im

September 1832, gerade ein halbes Jahr nach Goethe, den letzten Er war sein ganzes Leben ein aufrichtiger, mild

Atemzug aus.

rationalistischer Christgläubiger gewesen, den die prüfende, kühne Wissenschaft seiner Zeit völlig unberührt gelassen.

1825 sagte er

eines Tages: „Ich hoffe, es giebt wenige Menschen, die das Da­ sein Gottes leugnen, ja, ich glaube im Grunde, daß nie jemand eine so abscheuliche Anschauung gehegt hat."

Gleichzeitig räumte er

ein, daß das Feuer der Hölle und die Musik der Sphären bild­

liche Ausdrücke sein könnten, wie er ja auch ohne Unwillen, ja mit Freude, die Zueignung von Byron's „Kain" annahm.

Weder

in religiöser, noch in politischer oder poetischer Beziehung hatte er

es zu der Befreiung der Persönlichkeit von den zufälligen Über­ lieferungen gebracht,

an die sie von Geburt an gefesselt wird.

Auch auf diesem Punkte überließ er dem jüngeren Dichtergeschlechte eine ungelöste, doch

vom Gange der Geschichte deutlich vorge­

zeichnete Aufgabe.

Blicken wir von der Höhe unserer Zeit auf den zweiten

Zeitraum

seiner Dichtung,

die

Prosa-Periode

und

die

ganze

lange Reihenfolge von Romanen, zurück, so ist es uns nicht

möglich, letztere in so günstigem Lichte zu sehen, wie sie seinen

Zeitgenoffen

erschienen.

gewähren mußten; keinerlei Anstoß

Wir

begreifen,

daß sie Befriedignug

verstehen wir doch nur zu wohl, daß sie

gaben,

daß sie stets nicht bloß als poetisch,

sondern auch als moralisch mit Freude begrüßt werden konnten. Gerade dies aber ist der Grund, warum sie weniger Interesse

für uns haben.

Man kann in den modernen Litteraturen ohne

Übertreibung das Gesetz aufftellen, daß ein Schriftsteller bei einer Generatton seiner Zeitgenossen für unmoralisch gelten und Anstoß

Ott geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

154

erregen muß, soll er nicht schon der nächstfolgenden langweilig und beschränkt erscheinen.

Die Mängel der Scottschen Romane

fallen uns nunmehr in die Augen.

Sie ergötzen den Leser durch

die Gediegenheit der Charakterzeichnung und die Lebendigkeit der Gespräche, doch sie befriedigen nicht den Verstand, sie rufen keiner­ lei starke Gemütsbewegungen hervor, sie spannen nicht einmal die

Neugierde.

Sie sind seelenvoll, aber ideenlos.

Man fühlt, daß

es Scott als patriotischem Dichter, nachdem Macpherson und Burns die Aufmerksamkeit auf Schottland gelenkt hatten, dies Inter­ esse rege zu erhalten galt; deshalb schreibt er so, daß kein Leser,

und sei es der beschränkteste, dadurch verscheucht werden könnte. Er, dem die Sinne eines Künstlers versagt waren, berührt die Geschlechtsverhältnisse in so schonender Weise, daß erotische Schilde­

rungen fast ausgeschlossen sind.

Und er, dem die Moral wichtiger

war, als die Liebe zur Kunst, gab bei seinen Schilderungen der alten Zeiten deren rohe Elemente stets nur in so stark gemilderter

Form wieder, darunter leidet.

daß die geschichtliche Wahrheit in hohem Grade

Die Kunstgattung, die er einführte, und die einen

so bedeutenden Fortschritt gegenüber dem älteren Romane be­

zeichnete, ist heutigen Tages ihrerseits veraltet.

Man neigt in

Europa der Ansicht zu, daß der historische Roman mit allen seinen Vorzügen eine Bastardart bilde; ist er doch bald so sehr mit historischem Stoff überladen, daß die poetische Entwicklung darüber

stille steht, bald in seiner Umdichtung der Geschichte so frei, daß die wirklichen und hinzugedichteten Elemente in ihrem Vereine ein

höchst unharmonisches Konzert verursachen. Geradezu anstoßerregend ist z. B. die Art und Weise, wie im zehnten Kapitel des dritten

Teiles des „Gefängnisses von Edinburgh" historische und erdichtete Repliken

des Herzogs

von Argyle miteinander verquickt sind.

Dazu kommt, daß es uns immer klarer geworden, wie sehr das hier

entworfene Gesamtbild von dem wirklichen Charakter der entlegenen Zeit abweicht, die häufig gar kein Verständnis finden oder gar

Ner geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

155

keinerlei Sympathie erwecken würde, wenn man sie ungeschminkt,

wie sie war, darstellen wollte. fahrer"

Der „Talisman" und die „Kreuz­

Scott's sind Leihbibliotheksromane

aus abenteuerlichen

Ländern mit abenteuerlichen Thaten der Kreuzritter, fast ebenso unwirklich wie das befreite Jerusalem Tasso's, doch mit viel ge­

ringerem poetischem Talent geschrieben und ohne Tasso's gewissen­ haften Kunstsinn in Ausführung und Stil.

Wie konnte es bei einem Dichter anders sein, der wie Scott schrieb, ohne das Geschriebene jemals zu überlesen, geschweige denn zu feilen, der nicht die Gabe, sich kurz zu fassen besaß und ernstliche

Anforderungen in Bezug auf Müdigkeit und Komposition an sich nicht stellte?

Noch geringere Anforderungen stellt er an seine Leser,

was Aufmerksamkeit und Feinheit der Auffassung betrifft.

Er

wiederholt sich und läßt seine Personen sich wiederholen, redet in

die Erzählung hinein,

deutet mit dem Finger und erklärt

und begnügt sich nicht damit, der Persönlichkeit ein bestimmtes Gepräge zu verleihen, er läßt sie im Notfälle über ihr Wesen selbst Rechenschaft ablegen mittels Äußerungen wie:

„Ich spreche jetzt

mit Ruhe, obgleich dies meinem Charakter widerstreitet,"

oder

mittels einer Replik, in welcher der Redende selbst die Moral

aus seinen schlechten Handlungen zieht, aus Furcht, der Leser könnte sie übersehen und verführt werden.

(Man lese z. B. die ganze

Beichte George Stauntons an Jeanie Dean, ein Muster schlechten Stiles und falscher Psychologie.)

Was nützt es bei so großen

Mängeln im einzelnen, daß die Grundzüge der Komposition in den besten Romanen vortrefflich sind und zumeist in einer oder mehreren gewaltigen dramatischen Katastrophen gipfeln?

Ein Buch, das

seinen Ruf ein Jahrhundert lang bewahren soll, muß nicht nur künstlerisch angelegt, es muß auch in jedem einzelnen Punkte künstle­ risch ausgeführt sein, wozu Scott von dem Augenblick an, wo

er in Prosa zu schreiben begann, sich nie die Zeit nahm.

Selbst

die dramatischste Szene, die Scott je verfaßt hat, die herrliche, er-

greifende Gerichtsszene im „Gefängnis zu Edinburgh," wo Jeanie blutenden Herzens, aber mit edler Wahrheitsliebe gegen ihre eigene Schwester zeugt, büßt die Hälfte ihrer Wirkung durch die Breite

und Nachlässigkeit ein, mit welcher sie erzählt ist.

Aus Thomas

Moore's Denkwürdigkeiten ersieht man, daß der Hauptinhalt des

Buches — das junge Mädchen, das sich weigert, vor Gericht zu Gunsten ihrer Schwester zu zeugen, und hierauf die lange Reise

unternimmt, um deren Begnadigung zu erflehen — ans einer wirk­

lichen Begebenheit beruht, die Scott in einem anonymen Briefe mit­ geteilt worden war.

Er hatte den schärfsten Blick für die sittliche

Schönheit dieser Begebenheit, dagegen einen sehr schwachen für ihren

dramatischen Charakter.

Hätte Scott nur halb so viel Begabung,

aber doppelt so viel Bildung und Selbstkritik besessen, er würde zwar

nicht das geräuschvolle Aufsehen, das er machte, erregt, dafür aber Werke von höherem, bleibenderem Werte hervorgebracht haben? Er

fühlt selbst, daß seine mangelhafte Bildung ihn hindere, das Höchste auf dem Gebiete der Dichtkunst zu erreichen.

An einer Stelle

seines Tagebuches findet sich ein kurzer merkwürdiger Überblick seines Lebens: „Wie seltsam sich mein Leben gestaltet hat! Meine

Bildung ist halb, meine wissenschaftlicheErziehung wurde

vernachlässigt oder mir selbst überlaffen.

So pfropfte ich mir

bett Kopf mit einer Unmasse dummen Zeuges voll und wurde von meinen Altersgenossen eine Zeit lang verkannt.

Doch ich kam

vorwärts und galt für einen klugen, tüchtigen Burschen, zur Be­

schämung derer, die mich für einen Träumer gehalten hatten ... Und nun muß ich mit zerschossenem Flügel von der Höhe meines

Stolzes

herabstürzen, nur weil es der Londoner Börse gefällt,

* Von bildender Kunst scheint er keinen Begriff gehabt zu haben.

Um

von -em alten Puritaner im „Gefängnis zu Edinburgh" ein Bild zu geben,

bringt er folgende künstlerische Ungeheuerlichkeit: Es war ein Gemälde, deffen lichte Partien Rembrandt's, deffen scharfe Konturen jedoch Michel Angelo's lebensvoller, kraftvoller Pinsel ausgeführt zu haben schien.

Der geschichtliche und ethnographische Naturalismus.

157

sich toll zu gebethen, und darum werde ich armer braver Löwe

nun hart von Bären und Ochsen bedrängt."

Es rächt sich an einem modernen Dichter, vom Fortschritte der Wissenschaft unberührt zu bleiben.

Kann er nicht wie Byron

durch unmittelbaren Scharfblick alles ahnen, was die Wissenschaft

erforscht und feststellt, so entsinken seine Werke den Händen der

Gebildeten, um von jenen ergriffen zu werden, die nur Unter­ haltungsstoff suchen, oder- die Gebildeten bewahren sie auf und lassen sie binden, um sie als Geburtstags- und Konfirmations­ geschenke ihren Söhnen und Töchtern, Neffen und Nichten zu ver­

ehren.

Dichter,

Dies ist das Los, welches Scott zu teil geworden ist.

Der

der in dem zweiten und dritten Jahrzehnte des neun­

zehnten Jahrhunderts den litterarischen Markt beherrschte, der alle Länder Europas beeinflußte und der in Frankreich Nachahmer wie

de Vigny, Hugo, Mirimee, Balzac und den älteren Dumas (Les Mousquetaires), in Italien einen Jünger wie Manzoni, in Deutsch­ land Geistesverwandte wie FouquL und Alexis, in Dänemark Be­

wunderer und Schüler wie Poul Möller, Jngemann und Hauch fand, ist in unsern Tagen durch die stumme, aber lehrreiche Kritik der Zeit der Lieblingsdichter der Knaben und Mädchen von etwa

zwölf Jahren geworden, ein Dichter, den alle Erwachsenen gelesen haben, den aber kein Erwachsener mehr liest.

In dem bewunderungswürdigen Fragment „Hyperion" von

Seats kommt eine Szene vor, wo das ganze gestürzte Götter­ geschlecht überwunden in einer tiefen Felsenhöhle unter der Erde

liegt.

Man pflegt eben Rat, und der Titanen Gott, der alte

Saturn, schließt seine mutlose Rede:

fejb

Besiegt, verhöhnt, geschlagen seid ihr hier! Titanen, sag' ich euch: „Steht auf!" — ihr stöhnt.

Sag' ich: „Demütigt euch!" ihr stöhnt.

Was denn?

O Himmel! nie gesehner Vater! Was

Vermag ich? All ihr Brudergötter, sagt: Wie können kämpfen wir, wie unserm Grimm

Genüge thun?

Da erhebt sich zuerst Oceanus, der grübelnde, gedankenvolle Gott

des Meere-, und schüttelt seine nun trockenen Locken; und in jenem Murmeltone sprechend, den er von Uranfang an dem branden­

den Gischte nachgelallt, heißt er die von Leidenschaft Gestachelten Ruhe und Trost in dem Gedanken suchen, daß sie kraft des Ge­ setzes der Natur, nicht durch des Donners oder Jupiters Ge­

walt fallen.

Großer Saturnus, du

Hast das Atomen Weltall wohl durchschaut. Doch aus dem Grunde, weil du König bist Und blind aus purer Oberherrlichkeit, Blieb deinem Aug' ein Weg in Nacht gehüllt,

Auf welchem ich zu ew'ger Wahrheit schritt.

Wie du die erste nicht der Mächte warst,

Bist du die letzte nicht, und kannst's nicht sein. Du bist der Anfang nicht, das Ende nicht.

Allseitiger Sensualismus. Dein Chaos und der Finsternis entsprang Das Licht, die erste Frucht des innern Kampfs, Der trüben Gährung, die zu hehrem Ziel

Herangereift.

Der Reife Stunde kam.

Mit ihr das Licht, das zeugend wieder auf

Derr eignen Schöpfer wirkte, und den Stoff,

Den ganzen riesigen in's Leben rief. Zu jener Frist wird unser Elternpaar,

Der Himnlel und die Erde, offenbar; Danll herrschten du, der Erstgeborne, und

Wir, das Geschlecht der Niesen, ob der Welt.

Jetzt kommt der Wahrheit Schmerz, wem Schmerz sie ist: O Thorheit! Denn der Hoheit Gipfel ist's. Die nackte Wahrheit und verhängtes Los Mit Fassung zu ertragen.

Merkel wohl!

Wie Erd' und Himmel schöner, hehrer sind,

Als Finsternis und Chaos, die dereinst

Geherrscht, und wie wir hinter ihnen Erd' Und Himmel, fest und herrlich an Gestalt, In Willen, Handlung frei, Geselligkeit

Und tausend Zeichen reinen Lebens schau'«: So tritt jetzt eine neue, bessere

Und schön're Macht in unsre Spur, von uns Gezeugt, die uns besiegen soll, wie wir

Glorreich die alte Finsternis besiegt;

Auch unterliegen wir darum nicht mehr. Als uns des Chaos Ungestalt erlag. Wie! zürnt der unbeholfne Boden wohl

Dem stolzen Wald, den er genährt, und noch Ernährt, der anmutsreicher als er selbst? Gönnt er die Herrschaft nicht dem grünen Hain? Und soll der Baum die Taube meiden wohl, Dieweil sie girrt und weiße Schwingen hat. Auf denen froh sie überall hin schweift?

Wir gleichen solchen Bäumen tief int Wald,

Und unsre kräfr'gen Zweige hegten nicht Einsame bleiche Tauben, sondern gold-

Gefiederte Adler, die hoch über rtns In ihrer Schönheit schweben, und deshalb Negieren müssen; denn ein ewiges Gesetz gebeut, daß, wer der Erste ist

An Schönheit, auch an Macht der Erste sei;

Ja, dies Gesetz mag fügen, daß vielleicht

159

Ein anderes Geschlecht einst unsere Besieger trauern läßt, wie sie jetzt uns.

Habt ihr den jungen Meeresgott gesehn, Der mich entthronte? — Saht ihr sein Gesicht? Saht seine Wagen ihr, den ein Gespann Von edlen Flügelrössen, die er selbst Erschaffen, durch den Schaunl hinfliegen heißt?

Ich sah ihn gleiten durch die ebne Flut Mit solcher Schönheitsglut in seinem Blick,

Daß ich mit einem trüben Lebewohl Bon meinem ganzen Reiche Abschied nahm. . .

So spricht Oceanus.

Und als die gestürzten Götter, ob von den

Worten überzeugt, oder ob grollend, stumm bleiben, bricht eine, deren

niemand achtete, die Göttin Klymene, das lange Schweigen und ergreift mit hektischen Lippen und sanft blickenden Auges schüchtern

das Wort: O Vater, ich bin die geringste hier, Und weiß nur dies, daß alle Lust dahin, Und daß ein Weh in unsre Herzen schlich, Das, fürcht' ich, dort für immer bleiben wird.

Ich möchte Unheil nicht verkünden . ..

Doch

Laßt meine Sorge mich erzählen, laßt Mich sagen, was ich hörte, und was mir In heißen Thränen das Bewußtsein gab,

Daß jede Hoffnung uns erloschen ist.

Ich stand an einem schönen Ufer jüngst,

Wohin ein stilles Land voll Blütenduft Des Friedens umndersüßen Hauch ergoß.

Boll sanfter Freude war's, wie ich voll Grain.

Zu voll an Freude, Reiz und Lieblichkeit, So daß die Regung in das Herz mir stieg, Die Einsamkeit zu schelten und zu schmäh'n Durch Klageweisen, Lieder unsres Leids.

Ich setzte mich, hob eine Muschel auf, Und haucht' in sie die trübe Melodie — Ach, Melodie nicht mehr! Denn als ich sang, Und kunstlos in die Lust beit Widerhall

Der dumpfen Muschel strömen ließ, da kam

Jenseits von einer wald'gen Insel her Im Wechselspiel des Winds ein Zauberklang,

Der mir das Ohr betäubt' und süß ergriff.

Ich warf die Muschel nieder auf den Sand, Nnd eine Welle füllte sie, wie mir

Den Sinn die neue, goldne Melodie. In jedem Laute war lebendiger Ton,

In jedem Strom entzückter Töne, die

Hinklangen nacheinander und zugleich Wie Perlen, plötzlich ihrer Schnur entrollt; Dann noch ein Lied, und wiederum ein Lied, Gleich Tauben, von des Ölbaums Ast entschwebt;

Statt stummer Federn mit Musik beschwingt, Die mich umschwirrten, und mich krank vor Lust Und Trauer machten. Trauer herrschte vor, Ich hielt mir die berauschten Ohren zu;

Da, durch der zitternden Hände eitle Wehr Klang eine Stimme süßer, süßer noch Als alle Melodien und rief: „Apollo! Der morgenhelle junge Gott Apollo!"

Ich floh, es folgte mir und rief: „Apollo!"

Seats hat nie etwas Besseres als diese Stelle geschrieben, sie ist ebenso gedankeniief, wie schön. Sie giebt nicht nur eine Probe der Größe und der Krastfülle seiner Poesie, sie bildet auch eine Einleitung nicht nur zu seinem, sondern zu dem Auftreten des ganzen, jüngeren Dichtergeschlechtes, nachdem die Seeschule und Scott das poetische Szepter ergriffen hatten. Im Namen der herrschenden Götter ist der menschliche Geist stets zur Unbe­ weglichkeit und zum Stillstände verurteilt. Der Fortschritt bedarf eines Thronwechsels. Wordsworth und Scott waren mächttgen Titanengöttern gleich, bereit Glanz vor dem des jungen Ge­ schlechtes verblaßte — Seats selbst war der strahlende Vogel, der sich von Wordsworth's großblättriger Steineiche empor in die Lüfte schwang. War nicht Byron der neue Meeresgott, der die Gewässer der Leidenschaft befuhr, mit einer Schönheit im Auge, die bett größten dichterischen Genius der Zeit bewog, sein Reich zu ver­ lassen, tief überzeugt, im Wettkampfe nicht bestehen zu können? Und schallen nicht Shelley's Melodien so süß berauschend, so un­ erhört kühn durch die Luft, daß sie noch heutigen Tags überallBrandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV. 11

Allseitiger Sensualismus.

162

hin bringen, obschon man, wie Klymene, sich die Ohren zuhält und sich so lange als möglich weigert, den neuen Tönen ein

williges Ohr

zn

leihen?

denn von allen

Es ist vergebens,

Seiten hören wir nunmehr den Ruf: Apollo!

der morgenhelle

junge Gott Apollo! —

Die alten Götter nahmen, wie in dem Gedichte, eine ver­ schiedenartige Haltung ein.

Scott, der älteste unter ihnen, strich,

wie wir gesehen, vor Byron mit einem Adel und einer Milde die Flagge, die seinen vielen andern Kränzen noch einen neuen

hinzufügten.

Wordsworth

zog

sich

murrend,

eine Plagiatbe­

schuldigung auf den Lippen, an seine Seen zurück, Southey spie Gift und Galle — und unterdessen nahmen die neuen jungen Götter ihren Thron em und schlangen die Sonnenstrahlen als

Glorienschein um ihre Scheitel. Keats

war der jüngste der Jungen und ausgerüstet mit

eigentümlichen Attributen, sowie mit einem eigenen Reiche, in das

keiner der anderen einen Eingriff that.

Er ist eines der vielen Bei­

spiele, daß die feinsten, seltensten Organismen unter groben äußern

Verhältnissen auftauchen und sich fast ohne alle Gunst der Um­

stände entfalten können. Dieser Jüngling, der, mit kaum 26 Jahren vom Tode dahingerafft, Meisterwerke, unvergeßlich jedem, der

sie gelesen, hinterließ, und dessen Namen Shelley in „Adonais" unter seine Sterne schrieb, war der Sohn eines Londoner Mietkutschers und als Apothekerlehrling erzogen.

Den Meistern de-

älteren Geschlechtes war er unbekannt, Wordsworth — der einzige

Ältere, auf den sein Blick beständig und mit größerer Ehrfurcht gerichtet war, als sonst einer von den Jüngeren sie für ihn empfand — selbst Wordsworth zeigte sich kalt gegen ihn.

Als Keats

eines Abends bei dem Maler Heydon, bei dem auch der Veteran von Rydal Mount zu Gaste war, aufgefordert wurde, die schöne Hymne an Pan aus dem ersten Buche seines „Endymion" vorzu­

tragen, hörte der weißhaarige Dichter sie ohne Unterbrechung bis

Allseitiger Sensualismus.

163

zu Ende an und machte dann nur die Bemerkung, es wäre „ein

schönes Stück Heidentum". dafür.

Das war es, und Ehre sei Keats

Doch Wordsworth wollte schwerlich etwas Schmeichel­

haftes damit sagen.

So also lautete die gewichtigste Stimme der

alten Dichterschule.

Eine zweite scholl von den kritischen Alt­

meistern her. Sie war heiser und krächzend. Sowohl die Quarterly

wie die Blackwood Review verhöhnten „Endymion" auf die albernste Weise.

Man sagte dem Verfasser, er thäte besser, zu seinen

Apothekertiegeln zurückzukehren, und gab ihm zu bedenken, daß ein hungernder Apotheker doch noch immer besser

hungernder Poet.

sei, als ein

Der Stachel verwundete und schmerzte sicherlich

tief, so ruhig sich auch der junge Dichter in seinen Briefen über

die ihm zu teil gewordene schmähliche Behandlung äußerte.

Es

ist höchst unwahrscheinlich, daß die Tradition, die sich über den

zerrüttenden Einfluß dieses Artikels auf feinen Gesundheitszustand gleich unter Keats' Bekannten bildete, wie jetzt immer behauptet

zu werden pflegt, alles Grundes entbehrt.

Bon einem Artikel ge­

tötet, wie es in Byron's „Don Juan" heißt, ward Keats aller­ dings nicht, und seine Äußerungen thun jedenfalls zur Genüge dar, welche tiefe Verachtung er für die erwähnten Auslassungen gegen

seine Kunst und Person hegte.

Allein sein Ehrgeiz war heftig, sein

Gemüt war für Eindrücke empfänglich, und sein Körper trug den Keim des Todes in sich.

Kein Wunder denn, daß gehässige An­

griffe von außen einen Organismus erschütterten, der von innen von verzehrender Leidenschaft und von verzehrender Krankheit be­

stürmt wurde. Keats wurde im Oktober 1795 geboren, verlor neun Jahre alt

seinen Vater, wurde in eine gute Schule von seiner Mutter ge­ schickt und verlor zu seiner unbeschreiblichen Trauer auch sie noch

als Knabe.

Sein Äußeres entsprach dem Eindrücke, den man aus

seiner Poesie erhält.

Während der ätherische, weibliche Shelley eine

schlanke, feine, schmalschultrige Gestalt und eine gellende Stimme

li*

hatte, besaß der echt irdische, schwerfüßige Keats bei einem etwas kleinen Unterkörper einen breiten kraftvollen Brusttorb mit starten Schultern und eine tiefe, ernste Stimme.

Sein kleiner Kopf war

von dichten braunen Locken umwallt, die Augen groß, strahlend dunkelblau, bei starker Gemütsbewegung von sprühendem Feuer, der

Mund schön geformt, doch die Unterlippe so vorspringend, daß sie dem Antlitz ein herausforderndes, streitbares Gepräge gab.

Der

hervorstechendste Grundzug bei ihm als Knabe war denn auch die Hart­ näckigkeit und Entschlossenheit eines kleinen, englischen Dachshundes,

ein Zug, aus dem man eher hätte schließen können, er werde sich in der kriegerischen, als in der litterarischen Laufbahn auszeichnen.

Er verriet frühe großen persönlichen Mut und war ein Meister in

Leibesübungen; kurz bevor er an Auszehrung erkrankte, prügelte er einen ungezogenen Metzgerburschen in einem regelmäßigen Boxer­

kampfe gehörig ab. Mit 15 Jahren trat er aus der Schule und erhielt durch

Verwendung

eines Verwandten

in Edmonton bei einem recht

tüchttgen Chirurgen, der nach der Sitte der Zeit den Beruf des

Arztes mit dem des Apothekers verband, eine Stelle als Apotheker­

gehilfe, die er von seinem fünfzehnten bis zu seinem zwanzigsten Jahre versah. 1816 begann er als Student die Londoner Hospitäler zu besuchen, gab jedoch bald die Medizin für die Litteratur auf.

Rach ein

paar Jahren intimen Verkehrs

mit mehreren jungen

Männer jener Zeit, deren Interessen sich um Kunst und Wissen­

schaft gruppierten,

und auf denen die litterarische Zukunft des

Landes beruhte, wurde er von der nämlichen Krankheit befallen, die schon seine Mutter und seinen jüngeren Bruder dahingerafft. Sie

entwickelte sich unter der Besorgnis, wie er sich seinen Lebensunter­

halt schaffen solle, und unter dem immer drückender werdenden

Gefühle der Rot.

Sie ward durch eine tiefe und erwiderte, aber

der Mittellosigkeit Keats' halber hoffnungslose Leidenschaft für eine

junge englisch-ostindische Dame beschleunigt.

Sie machte seine

Trennung von ihr durch eine Reise nach dem Süden notwendig.

Sie tötete ihn in Rom. Man findet, wenn man den litterarischen Teil der Lebens­ geschichte Keats' überblickt, nur drei biographische Hauptumstände:

die Aussichtslosigkeit in Bezug auf seinen Lebensunterhalt — er dachte an Südamerika, dachte daran, sich als Schiffsarzt auf einem

Ostindienfahrer anstellen zu lassen — die tiefe und hoffnungslose Leidenschaft für sie,

ohne die das Leben ihm nichts war, und

endlich die tückische Krankheit. Miß Fanny (eigentlich Frances) Brawne war 5 Jahre jünger

als Keats,

also 18 Jahre alt, als er sie 1818 kennen lernte.

Er lebte damals in Wentworth Place bei Hampstead, einer Be­

sitzung,

die

nur

rückwärts bestand,

ans

zwei Häusern

mit

Gärten

wovon die Familie Brawne,

vorn und

Mutter und

Tochter, das eine bewohnte, während Keats und sein Freund Brown in dem andern ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten.

Hier

verbrachte Keats das erste halbe Jahr seines Liebeslebens in

wahrhaftem Glücke. gonnen.

Im Dezember 1818 hatte er „Hyperion" be­

Im Januar schrieb er „Isabella."

Im Februar 1819,

dem fruchtbarsten Monate seines Lebens, dichtete er die Ode „An

Psyche", den „St. Agnes-Abend" und viel von „Hyperion."

Zu

Beginn des Frühlings schrieb er, unter einem Pflaumenbaum im

Garten der Familie Brawne sitzend, die Ode an die Nachtigall.

Mit andern Worten: das schönste, das er geschrieben hat, stammt aus diesem ersten Halbjahr, in welchem er lange Spaziergänge

mit Fanny machte und noch gesund war.

Da er täglich reichliche

Gelegenheit hatte, seine Geliebte zu sehen, so existiert leider nicht ein einziger Liebesbrief aus dieser kurze» Zeit des Glückes.

Im

Juli 1819 schrieb er ihr zum erstenmale, und alle die Briefe,

die er ihr in diesem und den nächstfolgenden Jahren sendete, wurden 1878 veröffentlicht.

Die ersten sind noch nicht schwermüfig. In einem der frühesten

166

Allseitiger Stnfualiemue.

heißt es: „Ich bedarf eines lichteren Wortes als licht, eines schönern

Wortes als schön," und auf eine Einwendung ihrerseits erwidert er: „Weshalb soll ich nicht von Deiner Schönheit sprechen, da ich

ohne sie Dich nie geliebt haben könnte?

Es mag eine andre Art

Liebe geben, vor welcher ich dm größten Respekt habe und die

ich an andern bewundern kann.

Doch hat sie nicht den Reich­

tum, die Blüte, die Fülle der Gestalt, den Zauber, den Liebe

nach meinem Herzen besitzt." Sehr bald aber schimmert in diesen Briefen die Eifersucht

durch, die so verzehrend auf Keats wirken sollte.

Immer und

immer wieder fordert er ihr Gelöbniffe ewiger Liebe ab.

noch

Ohne

krank zu sein, hat er ein unbestimmtes Vorgefühl, daß

seine Todesstunde nicht fern sei.

Es gebe, sagt er, zwei un­

erschöpflich reiche Themen, über die er auf einsamen Wanderungm

brüte, ihre Lieblichkeit und seinen Tod.

„O, daß ich sie beide in

derselbm Minute besitzen könnte!" Ihre Briefe wirkten im Grunde nur verstimmend auf ihn.

Er überlas sie so oft, daß jeder Satz ein unnatürliches Gewicht erhielt, und sie erschimen ihm dann entweder kalt oder voller Bor­ würfe. Er quälte sich selbst und hierauf sie mit seiner argwöhnischm

Reizbarkeit, machte z. B. durch Hampstead kommmd ohne Grund vor ihrer Thüre nicht Halt, obschon er selbst sich nach ihr sehnte und ihr durch sein Ausbleibm eine Enttäuschung bereitete.

Bom

Oktober 1819 liegen ein paar glückliche u»d ungetrübt zärtliche

Briefe vor.

Im Februar 1820 aber tritt in seinem Seelenlebm

ein Zustand höchster Erregung ein.

Er beginnt Blut zu speim

und „liest in desien Farbe sein Todesurteil".

Die nun folgmden

Briefe sind kurz, einige noch hoffnungsvoll und scherzend, andere mißtrauisch und heftig, voll Eifersucht.

Alle überströmen sie von

Leidenschaft.

Man lese folgendes Bruchstück: „Du kennst unsere Lage —

welche Hoffnung winkt uns wohl, selbst wenn ich mich noch so

167

Allseitiger Sensualismus.

schnell erholen würde — mein Gesundheitszustand wird mir nicht

Nicht

gestatten, auch nur die geringste Anstrengung zu machen.

einmal Gedichte soll ich lesen, hat man mir vorgeschrieben, ge­

schweige denn schreiben.

Hätte ich doch nur ein klein wenig

Hoffnung! Ich kann nicht sagen: Vergiß mich — will aber doch

bemerken, daß es Unmöglichkeiten in dieser Welt giebt. mehr davon.

Nichts

Ich bin nicht stark genug, entsagen zu können —

doch keine Anspielung hierauf in Deinem Gutenacht-Brief." Beständig bittet er sie während seiner scheinbaren Rekonva­

lescenz nur auf eine halbe Minute zu dem Fenster zu kommen, an

welchem er sie sehen kann, oder ein paar Schritte im Garten zu machen.

Kurz darauf bittet er sie, sie möge nicht jeden Tag ihn zu

besuchen kommen — er könne ihren Anblick nicht immer ertragen. Kommt sie dann aber nicht, so wird er eifersüchttg und unruhig. Die Briefe werden immer trauriger und peinlicher zu lesen, je näher der unabwendbare Ausgang rückt.

herzzerreißend.

Die letzten Briefe sind

In seiner Leidenschaftlichkeit ist er hilflos und

rasend, verzweifelt wie ein Kind, das sich vergessen glaubt.

Es

ist der seelische Todeskampf vor dem körperlichen.

Seine Geliebte bewies ihm unveränderte Zärtlichkeit bis zum letzten Atemzuge. blutjunge,

Selbstverständlich hatte, wie sich zeigt, dies

etwas kokette Mädchen keine Ahnung, welche hohe

Gaben und Kräfte diesem armen, brustkranken Jüngling, der sie anbetete und quälte, innewohnten, doch sie liebte ihn um seiner

selbst willen, und als sein letzter Brief ihr verriet, wie schlimm

es

um ihn bestellt war, wollte sie und ihre Mutter ihn nicht

länger der Wartung eines Freundes überlasten, sondern brachten ihn in ihr eigenes Haus in Wentworth Place, wo er beit letzten Monat vor seiner Abreise nach Italien zubrachte.

Eine Reise dahin

war das letzte Mittel, das die Ärzte noch versuchen wollten. Er, der unter anderen Umständen es als das höchste Glück

empfunden hätte, das Land zu sehen, nach besten Natur er immer

Allseitiger Sensualismus.

168

geschmachtet,

dessen Götter

er

den Toten

von

erweckt hatte,

schreibt jetzt: „Die Reise nach Italien weckt mich jeden Morgen bei Tagesanbruch.

Ich werde versuchen sie zu unternehmen, ob­

gleich es mit eiiftm Gefühle geschieht, als sollte ich gegen eine

Batterie marschieren."

An Bord des Schiffes schreibt er im Hin­

blick auf seine Liebe: „Wenn mein Körper sich von selbst erholen könnte, würde dieser Umstand es verhindern; gerade das, wofür ich am

meisten zu leben wünschte, wird der Hauptanlaß meines Todes sein... Ich wünsche den Tod Tag und Nacht herbei, um von diesem

Leiden erlöst zu werden, und verwünsche dann wieder den Tod,

denn der Tod würde diese selben Leiden zerstören, die besser als das Nichts sind.

Land und Meer, Schwäche und Schwindsucht

sind große Trenner, doch

der Tod ist der große Trenner für

ewig... Ich denke selten an meinen Bruder oder meine Schwester in Amerika; aber der Gedanke, Miß Brawne verlassen zu sollen,

ist über

Mich

alles schrecklich; ein Gefühl von Finsternis überkommt

dabei;

ich sehe

unablässig

ihr

entschwindendes Antlitz."

In einem anderen Briefe wieder schreibt er:

„Die Überzeugung,

sie nicht mehr Wiedersehen zu können, wird mich töten. lieber Brown,

sie hätte mein sein

war, und ich wäre nicht erkrankt.

sollen,

Mein

solange ich gesund

Ich kann es nicht ertragen

zu sterben — ich kann es nicht ertragen, sie zu verlassen. O Gott,

Gott, Gott!

Alles, was ich in meinen Koffern habe, was mich

an sie erinnert, durchbohrt mein Herz wie mit einem Speer.

Das

Seidevfutter, das sie in meine Reisemütze nähte, brennt mir auf dem

Kopfe.

Meine Phantasie ist fürchterlich lebhaft, was sie betrifft —

ich sehe sie — ich höre sie überall.

Es giebt nichts auf der Welt,

das hinlängliches Jnteresie für mich hätte, um meine Gedanken auch nur für einen Augenblick von ihr abzulenken... Ich vermag kein

Wort über Neapel zu sagen, ich fühle mich von den tausend neuen Dingen rings umher nicht im geringsten berührt.

mich,

an sie zu schreiben.

Ich fürchte

Allein es wäre mir lieb, wenn sie

wüßte, daß

ich sie nicht vergessen habe.

glühende Kohlen in meiner Brust.

O Brown! ich habe

Es überrascht mich, daß das

menschliche Herz imstande ist, so viel Elend auszuhalten, zu er­ tragen.

Ward ich geboren, um so zu enden?"

Am letzten Tage des Novembers

letzten Brief.

1820 schrieb er seinen

Ein tüchtiger Arzt, ein vertrauter Jugendfreund von

Keats, Dr. Clark, erhielt ihn noch den Winter über am Leben. In Neapel hatte er einen herzlichen Brief von Shelley erhalten,

der ihn einlud, nach Pisa zu kommen, wo er alle Pflege und

Hilfe finden würde.

Er nahm das Anerbieten nicht an.

einigen Wochen qualvollster Leiden

Nach

kam ein Zustand von Friede

und Resignation mit ruhigem, wohligem Schlummer über ihn.

Er

wünschte, daß ein Brief seiner Geliebten, den er nicht zu lesen

wagte, sowie ein Beutel und ein Brief seiner Schwester mit ihm in den Sarg gelegt würden, und verfügte, daß man auf seinen

Grabstein die Inschrift setze: Hier ruht Einer, dessen Name in Wasser geschrieben ward.

Die Berührung von Shelley's Zauberstab ließ das Wasier sich zu Eis verdichten und den Namen für alle kommenden Zeiten

leuchtend dastehen, wie in Krystall geritzt?

Keats' Poesie ist die am stärksten duftende Blüte des eng­ lischen Naturalismus.

Dieser hatte ja beim Auftreten des jungen

Dichters bereits ein langes, kräftiges Wachstum hinter sich.

Seine

Losung war, wie wir sahen, zuerst von Wordsworth formuliert und von ihm so in System gebracht worden, daß er seine Gedichte

in Gruppen teilte, den verschiedenen Lebensaltern und Seelen­ vermögen entsprechend.

Er bekam bei Coleridge einen Rückhalt in

einer halb Schellingschen Naturphilosophie, er trat bei Scott sieg­

reich

als

ein

von Vaterlandsliebe

getragenes Menschen-

und

... time's monthless torrent grew A scroll of chrystall, blazoning the name Of Adonais. Shelley: Fragment LXXVII, On Keats.

Landschaftsstudium,

als

historische Begeisterung,

wie

als der

Entdeckerblick des Genies für die eingreifende Bedeutung der Rassen Bei Moore und Keats endlich gestaltete er sich zu einem

auf.

üppigen, prachtvollen Sensualismus, getragen von Organismen,

deren Sinne eine Empfänglichkeit für die Schönheitseindrücke der Außenwelt besitzen, gegen welche die gewöhnliche Eindrucksfähigkeit

der Menschen blöde und stumpf erscheint.

Allein bei Moore ist

die Sinnlichkeit, während sie künstlerisch sich in einem warmen, glänzenden Kolorit offenbart, einseitig auf das Erotische gerichtet

und von leichter, spielender Natur.

Bei Keats ist sie umfassend,

gediegen und schwer, keineswegs vorwiegend erotisch, sondern allseitig und in dieser ihrer Allseitigkeit ein bewunderungswürdiges Extrem des spezifisch englischen Naturalismus. Bei Wordsworth hatte

derselbe zu dem schon geschilderten einen Extrem geführt; zu einem ganz anderen, poetisch weit wertvolleren ist er bei Keats gelangt.

Bon

allen Dichtergeistern Englands

Künstler wie Keats. matische.

war keiner

so

sehr

Er war unter allen der am wenigsten Dog­

Seine Poesie hat keine Stütze an der Vaterlandsliebe,

wie die Scott's und Moore's, predigt kein Freiheitsevangelium, wie die Shelley's und Byron's, sie ist reine Kunst und wird allein von der Einbildungskraft getragen.

Es gehörte zu seinem Lieb­

lingssätzen, daß der wahre Dichter keine Lehre oder Ansicht, keine

Moral, ja kein Selbst haben könne.

Und weshalb?

Weil sich

der Dichter in gleichem Maße am Licht wie am Dunkel erfreue, einen ebenso großen Genuß darin finde, einen Jago wie eine

Imogen zu erschaffen.

Bon allen Dichtern, die sich selbst über

den Gegenständen ihrer Phantasie vergaßen, gilt es, daß sie in ihren

Schaffensstunden

ihre

eigene Gesinnung,

ihren Privat­

geschmack so viel wie möglich bei Seite setzten, von Keats aber gilt dies im höchsten Maße.

Säuberten die anderen ihr Arbeits­

zimmer von einem Teil ihrer privaten Hoffnungen, Schwärmereien

und Grundsätze, so thaten sie es doch nicht so vollständig

wie

er.

Sein Arbeitsgemach glich, wie einer seiner Bewunderer sagt,

dem Atelier eines Malers mit wenig anderem Hausrat als der Staffelei. Indessen war Keats' poetische Gleichgültigkeit Ansichten und

Prinzipien gegenüber selbst eine Lebensanschauung, ein Prinzip, das des poetischen Pantheismus nämlich.

Für den konsequenten

Pantheisten in der Dichtkunst sind alle Formen, alle Gestalten,

alle Lebensäußerungen auf Erden, in welche die Phantasie sich

vertieft, teuer und gleich teuer.

Keats anerkennt für den Dichter

keinerlei Wahrheit von der Art, die reformiert und ausschließt, aber er hegt einen fast religiösen Glauben an die Einbildungs­

kraft

als den eigentlichen Born der Wahrheit.

Es heißt in

einem seiner Briefe: „Ich weiß nichts bestimmt, außer daß die

Gefühle des Herzens heilig sind, und daß die Einbildungskraft wahr ist.

Was sie als Schönheit erfaßt, muß Wahrheit sein,

gleichviel ob es zuvor so existiert hat oder nicht — denn ich habe von allen unseren Leidenschaften die gleiche Anschauung, wie von der

Liebe; sie sind auf ihrem Höhepunkte allesamt Schöpfer wesenhafter

Schönheit.

Die Einbildungskraft ist Adams Traum vergleichbar:

Adam erwachte und fand, daß derselbe Wahrheit sei."

Er setzt

weiter den Unterschied zwischen dieser Art von Wahrheit und

jener, zu welcher man auf dem Wege der Reflexion gelangt, aus­

einander, und bricht dann in folgende, den Schlüssel zu seiner ganzen Poesie enthaltende Worte auS:

„Doch wie sich auch alles

verhalte, o, wie viel lieber ein Leben in Sinneseindrücken als in

Gedanken!" (0, sor a life of sensations rather than of thoughts!)

Er lebte zum großen Teile ein Leben in Sinneseindrücken, in Lust und Schmerz mittels der Sinne.

„Man nehme," sagt

Masson, „eine Physiologie zur Hand und gehe die sogenannten

Arten von Sinnesempfindungen eine nach der anderen durch —

die Sinnesempfindungen, die mit den bloßen Muskelzuständen verbunden sind, die, welche mit solchen Lebensprozessen, wie Blut-

Allseitiger Sensualismus.

172

umlauf, Eruähruilg, Atemholen, und elektrischer Berührung mit

umgebenden Körpern Zusammenhängen, die Geschmacks- und Ge­ ruchs-,

die Tast-, Gehörs- und Gesichtsempfindungen — und

man wird finden, daß Keats mit ihnen allen ungewöhnlich be­ gabt war."

Er war z. B. ungemein für die Genüsse des Gaumens empfäng­ lich und suchte sie durch besondere Reizmittel zu erhöhen.

Einer

seiner Freunde erzählt, er habe eines Tages gesehen, wie KeatS sich Cayennepfeffer auf die Zunge streute, um, wie er äußerte,

den angenehmen Geschmack eines Schluckes kalten Clarets daraus besser zu genießen.

„Da wir von Lustempfindungen sprechen," sagt

Keats selbst in einem Briefe, „so schreibe ich in diesem Augenblick mit der einen Hand und halte mit der anderen eine Pfirsich an den

Mund."

Kein Wunder also, daß von diesem Gebiete hergeholte In seiner mit Recht berühmten Ode

Bilder bei ihm häufig sind.

an die Melancholie heißt es von dieser Gottheit, daß sie ihren Altar im Tempel der Freude aufgeschlagen habe, wiewohl jedem anderen als dem unsichtbar,

„der mit kräftiger Zunge die

Traube der Freude an seinem feinen Gaumen zu zer­ drücken vermag,"

und in einem der letzten Sonette beschreibt

er das Nahen des Todes mit den bezeichnenden Worten, daß

der Gaumen seiner Seele den Geschmack verliere. verständlich

versahen

ihn

der

Gehörs-

und

der

Selbst­

Gesichtssinn

mit einer noch weit größeren Fülle von Ausdrücken, als die untergeordneteren, minder edlen Sinne.

Er besaß die Liebe eines

Musikers zur Musik und das Ange eines Malers für Lichtund Farbennüancen.

So

begreift man,

daß er für alle die

mannigfachen Arten von Laut- und Duft- und Geschmacks- und

Tastempfindung über

einen Wortvorrat gebot, nach dem man

bei den größten Dichtern vergebens suchen wird, und so erkmnt

man, daß er in seiner angeborenen Organisation ein System von Anlagen besaß, die — gesichtet, geformt und entfaltet — in

ihrem Verein die höchste Fähigkeit auslösen mußten, alle Schön­ heit der Natur aufzusaugen und wiederzugeben. Diese wiedergeben zu können, war vom Anfänge an sein

Traum, und er, der seinem eigenen Zeugnisse nach, keinerlei „Über­ zeugungen"

außer in Bezug auf die Kunst besaß, schloß sich

leidenschaftlich der Umwälzung an, die Wordsworth und Coleridge

in der Beurteilung der Dichter des vorigen Jahrhunderts herbei­

geführt hatten.

Spenser war sein Abgott, die klassische Kunst­

dichtung war ihm ein Greuel, und in dem Gedichte „Schlaf und Poesie" hat er ein ästhetisches Glaubensbekenntnis abgelegt, wie es

in seinen Ausdrücken garnicht heftiger hätte abgefaßt werden können.

Nachdem er die alten poetischen Triumphe Englands geschildert hat, ruft er aus: Vergaß man alles dies?

Ja ein Verfall,

Genährt durch Barbarei und Thorheitsschwall, Hat schamrot um sein Land Apoll gemacht. Männer, die blind für seine Götterpracht, Hielt man für weise: kindisch und bethört

Wiegten sie sich auf einem Schaukelpferd Und nannten's Pegasus. O Schwächlingsbrut! Der Wind des Himmels blies, es schwoll die Flut Des Meers — ihr sühltet's nicht. Das ero'ge Blau

Enthüllte strahlend sich, es fiel der Thau Des Sommers und umwob des Morgens Pracht Mit Perlenzier: die Schönheit war erwacht! Warum doch schliefet ihr?

................... Dahin stumpfsinnig schrittet ihr, Und schwangt ein elend jämmerlich Panier, Bestickt mit nichtigen Mottos, mitten drauf

Der eine Name Boileau!

Schon lange bevor in Frankreich sich der Sturm gegen

diesen Unglücksnamen erhebt, stößt Keats gegen ihn in die Kriegs­

trompete.

THLophile Gautier hat ihn nicht mit größerem Ingrimm

genannt, als er.

Es muß wohl dieser Passus,

dessen energischer Stil an

jenes Bild Wilhelm Kaulbach's erinnert, auf dem der Künstler

der Zopfzeit mit

dem Hampelmännchen im Arme schlummert,

sein, der Anlaß zu Byron's beständigen Ausfällen gegen Keats als den Angreifer Pope's gab.

Allein Keats hat nie eine Zeile gegen

Pope veröffentlicht, und wenn die Gräfin Guiccioli in ihrem naiven Buche über Byron auf diese Angriffe, die ihren Geliebten erzürnt haben sollen, zurückkommt, so ist dies nur liebenswürdige weibliche

Nachbeterei.

Hingegen dürfte Keats aller Wahrscheinlichkeit nach

Pope mit einbegriffen haben unter die oben Bezeichneten, deren

Ohr sich der Musik des Meeres und der Winde verschloß, und die

den seine Schönheit entfaltenden Morgen verschliefen. Keats gehörte nicht zu diesen.

Analysieren wir seine Eigen­

tümlichkeit, so ergiedt sich uns, wie bereits erwähnt, als deren

Grundlage die allseitige Sinnlichkeit.

Man lese folgende Strophe

der Ode an die Nachtigall: O hätt' ich einen Rebentrunk, der lang Geruht, tief in der Erde kühler Brust,

Nach Blumen schmeckend, nach dem grünen Hang, Tanz, provenzal'schem Lied und sonn'ger Lust! Hätt einen Becher ich, auf dessen Grund Des Südens echte Hippokrene quellt.

Von Perlenbläschen lockend angelacht,

Purpurgefärbt den Mund — Daß ich ihn tränke und vergäß' die Welt

Und mit dir schwände in des Waldes Nacht!

und vergleiche damit diese Zeilen aus „Endymion": Bon diesen fass gen Birnen koste du,

Die mir Bertumnus sandte

.....

................................Hier ist Nahm, Der nie so schneeig zu Gesicht dir kam,

Süßer als Amalthea ihn gesandt Dem jungen Zeus; und hier, vom Druck der Hand

Noch ungeschwärzt ein Büschel duft'ger Pflaumen, Zerschmelzend schier auf eines Kindes Gaumen.

Dem verfeinerten, reichen Geschmackssinne entspricht die ideale Feinheit des Geruchs- und Gefühlssinnes.

In „Isabella", einem

Gedichte, welches nach Boccaccio denselben Vorwurf wie Andersens

Märchen „Der Rosenelf" behandelt, heißt es an der Stelle, wo das junge Mädchen das abgehauene Haupt des Geliebten ergreift: Die Seidenschärpe, süß vom Dusterguß

Thaufrischer Blumen aus Arabiens Flur Und hehrem Naß, das mit balsam'schem Fluß

Sickernd dem kalten Schlangenrohr entfuhr — Umhüllte dann das Haupt.

In „Lamm" heißt es bei der Beschreibung der Ankunft der

Gäste zur Hochzeit des jungen Paares: Als jeder Gast im Borsaal mit Genuß

Den kalten, vollen Schwamm auf Hand und Fuß Mit dienender Sklaven Hilfe ausgeschwenkt, Und man sein Haar mit dust'gem iöl getränkt, Schritten sie all' in weißem Festgewand

Zur Halle hin und nahmen ihren Stand

Rings um die seid'nen Polster.

In einer der „Episteln" findet sich folgende, in ihrem sinn­ lichen Bilderreichtum unglaublich knappgefaßte Zeile über einen

Schwan: „Du küßtest dir dein täglich Futter aus

Den Perlenhänden der Najaden zu."'

Es

ist

unnötig,

den Leser

auf die einzelnen Feinheiten

dieser Bruchstücke, von denen bei einer Übersetzung ja so vieles ver­ loren geht, aufmerksam zu machen.

Doch erst jetzt, wenn wir zu

dem Gebiete des Gesichtssinnes kommen, gelangen wir auf Keats'

eigentliches Feld, obgleich in seiner Poesie es nie der Gesichtssinn

allein ist, der Reize empfängt. Während WordSworth's Naturmalerei uns in die eigent­

liche Flora hinausführt, treten wir mit Keats in ein Treibhaus ein:

eine milde,

feuchte

Wärme schlägt uns entgegen;

bunte

Blumen und safttriefende Früchte begegnen unserm Auge, und

schlanke Palmen, durch deren Zweige kein unsanfter Hauch zu

1 Kissing thy daily food from Najads' pearly hands.

sausen vermag, bewegen schwach nickend ihre langen, breiten Fächer. Er hat ein Lied an den Herbst gedichtet, das typisch für seine

Naturbeschreibung ist.

Er zeichnet, wie der Herbst sich mit der

zeitigenden Sonne verschwört, die Reben, die längs des Stroh­

daches sich winden, zu segnen und mit Trauben zu beladen, um die Zweige der moosbewachsenen Apfelbäume sich neigen zu fassen

unter der Last der Äpfel, um alle Früchte bis in die Schale mit

Saft zu tränken, um den Kürbis zu schwellen und die Haselnuß

mit süßem Kern zu füllen, und schildert dann mit Meisterhand den Herbst als Person: Wer sah nicht oft dich unter deinen Schätzen?

Manchmal sieht dich, wer draußen nach dir späht, Ans einer Tenne frtar sich sorglos setzen, Bom worfelnden Winde leis dein Haar durchweht;

Oder an halbgemähter Furche ruh'n, Bon Mohnduft eingeschläfert, während noch

Den nächsten Schwaden deine Sichel schont.

Es ist Keats unmöglich, einen Gedanken oder Begriff auch nur mit Namen zu nennen, ohne ihn sofort in körperlicher oder

plastischer Form darzustellen.

Seine zahlreichen Allegorien haben

ein Lebm, ein Feuer, als wären sie von den besten italienischen Künstlerhänden des sechzehnten Jahrhunderts in Stein ausgeführt.

Er sagt von der Melancholie: Sie weilt bei Schönheit, die dem Tod geweiht, Und Freude, die beständig ihre Hand Zur Lippe führt, Abschied zu winken.

Er sagt von der Dichtkunst: Ein unerschöpflich Meer von Licht Ist sie; sie ist die höchste Kraft, ist Macht,

Im Halbschlaf ruh'nd auf ihrem rechten Arm.

So sehen wir Keats' dichterische Fähigkeit stets an Umfang wachsm.

Sein Ausgangspunkt, und der Ausgangspunkt in seinen

schönsten kleineren Gedichten (wie in der Ode an die Nachtigall) ist

die Schilderung eines rein körperlichen Zustandes, wie Mattigkeit,

Nervosität, Opiumschläfrigkeit, Durst, Verschmachten; von diesem Hintergründe von Wohl- und Wehegefühl heben sich sodann die Sinnenbilder ab,

deutlich und rund wie die Reliefs auf einem

Schilde. Das Wort „zusammengeschweißt" tritt einem unwillkürlich bei dem Gedanken an Keats' Bilder auf die Lippen.

Sie haben

gewissermaßen etwas Volllötiges, Fertiges, als wären sie auf eine Fläche geschweißt worden

Man merke achtsam darauf, wie in den folgenden Bruchstücken

der ersten und der dritten Strophe der schönen „Ode an den Müßiggang" die Gestalten sich allmählich hervorheben: Jüngst sah ich drei Gestalten im Profil,

Gesenkten Hauptes schreitend Hand in Hand; Sie folgten sich einander leis und still Auf weichen Sohlen, schimmernd ihr Gewand.

Sie schwanden, Bildern einer Urne gleich, Die man gedreht, zu schauen der Rückwand Bild:

Und dann wie bei der Urne Weiterdrehn, Kehrten sie wieder aus dem Schattenreich; Sie däuchten fremd mir, wie ein Vasenschild, Ein seltenes, das der Forscher nie gesehen . . .

Sie schritten mir vorbei zum dritten Mal, Und Netzen kllrz auf mir die Blicke ruhn.

Dann schwanden sie, ich brannr' in Sehnsuchtsqual Den Drei'n zu folgen, die ich kannte nun: Liebe, so hieß die Erste, schön und hehr;

Ehrgeiz, die Zweite, wach zu jeder Zeit, Bleichwangig, müden Aug's, doch rastend nie; Die Letzte, um so teurer mir, je mehr Man sie geschmäht, die ernste, stolze Maid,

Sie war, wußt' ich, mein Dämon Poesie.

Doch erst in den wenigen fertig gewordenen Gesängen des „Hyperion" gelang es Keats, seine Kunstmittel völlig zu beherrschen

und das Ideal plastisch-sinnlicher Bestimmtheit zu verwirklichen, das seinem Auge vorschwebte.

Hier hat das Relief der Statue Platz ge­

macht, einer Statue in einem Stil, als wäre bei ihrem Werden der

Meißel Michel Angelo's mit im Spiel gewesen. Mag sein, daß man Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

12

das Studium Milton'S herausfühlt, immerhin überragt dies Mil­

ton.

Schon die Natur des Stoffes trieb die Bilder ins Kolossale.

Man lese die folgenden Worte über die Göttin Thea: Die hohe Amazone neben ihr

Wär von Pygmäenwuchs erschienen: sie Hätte Achilleus wohl am Haar gepackt

Und ihm gebeugt den Nacken; ja, das Rad

Jxions mit des Fingers Druck gehemmt.

Oder man lese die Beschreibung der Höhle, in der sich die Titanen nach ihrem Sturz versammelt haben: '8 war eine Höhle, wo kein schmerzlich Licht Auf ihre Thränen siel; wo ihr Gestöhn

Sie fühlten, doch nicht hörten Dorrn Gebrüll Der Heisern Ströme und der Sturzflut Schwall, Der donnernd rings durchs Dunkel niederschob. Es streckten Klipps an Klipp', und Felsen, die Just schienen aus dem Schlaf erwacht zu sein, Die mächt'gen Hörner Stirn an Stirn hervor,

Und formten so, phantastisch riesenhaft, Ein patzlich Dach ob diesem Nest der Qual. Anstalt auf Thronen, saßen sie auf FlintGestein und hartem Fels- und Schieferbruch, Durchstarrt von Erz.

Nicht alle waren dort:

Gefesselt waren ein'ge, andre fern. Cöus und Gyges, sowie Briareus, Typhon und Dolor und Porphyrion, Nebst manchen noch der Trotzigsten beim Sturm,

Waren in Regionen eingesperrt, Wo ihnen kaum zu atmen möglich war, Die Zähne knirschend in der Finsternis, Und, den metallnen Adern gleich im Berg,

Die Glieder all gekrümmt und festgespannt, Ganz regungslos, — nur daß in Qualen sich Die schweren Herzen hoben, und sich wild Mit kochend fieberhaftem, heißem Puls

Zusammenkrampften.

Byron, der ehedem so streng gegen Keats gewesen, hat nicht zu viel gesagt, wenn er bemerkt: „Sein Gedicht Hyperion scheint

in der That von den Titanen inspiriert und ist erhaben wie

Allseitiger Sensualismus.

Äschylos."

179

Man hat jetzt auch hinlängliche Proben von der ge­

waltigen Einbildungskraft des Dichterjünglings.

Wie süß auch

seine Melodien finb,1 so ist doch diese es, die ihn zum englischen

Dichter stempelt.

Er bildet mit dem rein künstlerischen Gepräge

seiner Poesie den Übergang von den konservativen zu den fort­

schrittsliebenden Poeten, aber doch mit einem ausgesprochenen Hange

zum Fortschritt, einem Hange, von dem seine schwärmerische Freund­ schaft für den radikalen Redakteur des „Examiner", Leigh Hunt, ein

sprechendes Zeugnis giebt.

Er fühlte, was er schrieb, wenn er in

seiner Erbitterung über die Wirtschaft Liverpool's und Castlereagh's

in dem Gedichte „An die Hoffnung" ausrief: O laßt mich seine Seele unser Land Bewahren sehn: Den Stolz, die Freiheit; nicht Der Freiheit Schatten —

und die Namen Wilhelm Test, William Wallace, wie vor allem

Koscziuszko kommen, mit höchster Bewunderung genannt, immer und

immer

wieder in seinen Versen vor.

Wozu er sich entwickelt

haben würde, wenn er das Mannesalter erreicht hätte, ist nicht zu sagen.

Als er seine letzten Gesänge dichtete, war er ja noch

ein weltfremdes Kind. Man darf nicht vergessen, daß er sie unter großen Qualen

und ohne alle Ruhe zur Arbeit schrieb. Möglich, daß sie gerade des­

halb so schön sind.

Mag der Künstler seine Produktion noch so

sehr von seinem Privatleben frei halten, mag er, wie Keats, seiner tiefsten Leidenschaft in seinen Werken kaum

gedenken,

nimmer

wird ein Werk das Leben und die Farbe haben, das göttliche Feuer an der Stirn

tragen, wie dasjenige,

bei dessen Aus­

führung der, der es schuf, nicht nur gedichtet, sondern gelebt und 1 Ma» achte z. B. auf den Wohllaut seines Elfengesanges:

Shed no tear! 0 shed no tear! The flower will bloom another year, Weep no more! weep no more! Young buds sleep in the roots white core etc. 12*

180

Allseitiger Sensualismus. Weder die Sorge um das tägliche Brot, noch das

gelitten hat.

Brustleiden, noch die Leidenschaft für das ostindische Fräulein haben Keats'

Schaffen unmittelbar ihren Stempel aufgedrückt;

doch aus all diesem Gifte für ihn hat er Nahrung für dasselbe

gesogen.

So sank er denn in sein frühes Grab, und kaum bestattet, «rstand er vou den Toten in dem Klagelied, seiner Gruft anstimmte.

das Shelley an

Er hörte als Keats zu existieren auf,

er verwandelte sich in eine Mythe, in Adonais, den schönen Lieb­ ling aller Musen und Elemente, und zur Mythe geworden, führte

er von da ab in dem Bewußtsein der Nachwelt eine Doppel­ existenz: Er lebt, er wacht — der Tod ist tot, nicht er. Klagt nicht um Adonais! . . . Er ist jetzt eins mit der Natur, sein Hall

Ertönt in ihren Klängen, vom Gedröhn

Des Donners bis zum Lied der Nachtigall . . . Er ist ein Teil der Lieblichkeit, die er Einst lieblicher gemacht: er lebt und webt Im Schöpferhauch des Geistes um ihn her, Der durch des Weltalls dumpfe Masse schwebt Und neue Forrnenreih'n zum Licht erhebt . . . Sie, die zu früh für ihren Ruhm entflohn, Verließen ihre Throne, fern von Zeit

Und Raum im Unsichtbaren. Chatterton Erhob sich bleich, noch abgehärmt vom Leid Des Todeskampfs.

Sidney, wie er im Streit

Gefallen, wie gelebt er und geliebt,

Erhaben mild, im Geist noch unentweiht, Stand auf

Und viele mehr, auf Erden kaum bekannt, Sie riefen: „Du bist unser nun! für dich Hat jener königliche Ball so lang' In unbeherrschter Pracht geschwungen sich. Alleinzig stumm, im Himmel voll Gesang. — Nimm deinen Thron jetzt ein du Abendstern voll Klang?

1 Shelley: Adonais, Strophe 41—43.

Allseitiger Sensuellem 110.

181

Es giebt in der Geschichte der Poesie kaum ein Seitenstück zu dieser Elegie.

Sie ist die unmittelbare Verklärung der Gestalt

nach dem Tode, eine poetische Verklärung von rein naturalistischer und rein menschlicher Art.

Für Shelley lag die wahre Apotheose

Keats' in den Worten: Er ist jetzt eins mit der Natur.

(He is made one with Nature.)

XII.

Im November 1825 schreibt Walter Scott in sein Tagebuch: „Thomas Moore hier . . . In

Offenheit,

seinem Wesen liegt männliche

gepaart mit vollkommenem Anstande und guter Er­

ziehung. — Keine Spur von Poet oder Pendant... Sein Antlitz

ist nicht ungewöhnlich, allein seine Züge sind so lebhaft, besonders

wenn er spricht oder singt, daß sie weit interessanter sind, als

regelmäßige Schönheit sie machen könnte.

Ich erinnerte mich, daß

Byron sowohl mündlich, wie in seinem Tagebuch Moore und mich

so ost in einem Atem und mit ein und derselben Art von Achtung genannt hat, daß ich begierig war, zu sehen, was wir wohl mit­ einander gemein haben könnten, da doch Moore stets in der ele­

ganten Welt gelebt hat, ich auf dem Lande und im Verkehr mit Geschäftsleuten, mitunter auch Staatsmännern, da Moore ein Ge­ lehrter, ich nicht, da er ein großer Musiker, während ich nicht eine

Note kenne, und da er ein Demokrat ist, ich ein Aristokrat, ganz davon zu geschweigen, daß er ein Irländer ist, ich ein Schotte. Eins jedoch ist «nS beiden eigen, und das ist ein wichtiger Ähnlichkeitspunkt:

Wir sind beide zwei gutmütige Bursche, die lieber den Augenblick genießen, als sich anstrengen, ihre Löwenwürde zu behaupten, und

wir kennen beide zur genüge die Welt, um von Herzen solche hochnäsige Personen zu verachten, die in ihrer litterarischen Wichtig-

thuerei an bett Mann erinnern, welchen Johnson in einem Wirts­ hause traf, und der sich selbst als den großen Twalmy, den Er-

finder des schleußenförmigen Plätteisens, vorstellte ... Es wäre ein erfreulicher Zuwachs meines Glückes, wenn Thomas Moore

zwei Meilen von hier einen Landsitz hätte. — Wir begaben uns zusammen ins Theater, und

da das Haus glücklicherweise von

einem guten Publikum besucht war, wurde Thomas Moore mit Entzücken empfangen ... Ich hätte die Leute umarmen mögen, betttt sie trugen meine Schuld für den schönen Empfang ab, den

ich in Irland gefunden habe."

Mit diesen herzlichen und humoristischen Worten hat der

große Dichter Schottlands die Parallele zwischen sich und dem Nationaldichter Irlands gezogen.

Die Ähnlichkeit ihrer Stellung

als anerkannte, bewunderte Organe der beiden mit England ver­

bundenen, abhängigen Reiche, läßt den Unterschied zwischen ihnen um

so schärfer hervortreten.

Er beruht zuvörderst auf dem Unterschiede

in der Lage Schottlands und Irlands dem herrschenden Stamme

Schottlands Stellung war untergeordnet, doch sie war

gegenüber.

gesetzlich geordnet, und

Parlamente.

die Schotten hatten Sitz im englischen

Die Irländer hingegen, zwischen denen und ihren

englischen Herren teils ein weit tieferer Rassenunterschied, teils hin­

sichtlich ihrer Mehrzahl eine weit bedeutendere religiöse Ungleich­

artigkeit bestand, warm 600 Jahre lang von einer Regierung beherrscht worden, über welche sie nicht mehr Kontrolle übten, als

die Hindus oder die Singhalesen über die ihre.

Das protestan­

tisch« Parlament des Landes hatte seinerzeit in dem katholischen Irland wie eine feindliche Besatzung in einem eroberten Lande

gehaust.

Es war eine Bande von Diktatoren, die im Namen

einer fremden Macht, mit der vollen Freiheit zu unterdrücken,

regierten, selbst aber bei dem leisesten Versuch einer Opposition

sofort durch Bestechung gewonnen oder auf gewaltthätige Weise unterdrückt wurden.

Der irische Protestant war in Wirklichkeit

nicht besser gestellt, als sein katholischer Landsmann.

Er konnte

die Gunst seiner Herren allein durch die Aufopferung der Jntereffen

seines Landes erkaufen und genoß nur das eine traurige Vorrecht,

zugleich Sklave und Tyrann zn fein. Der englische Stamm hat das Glück gehabt, daß sowohl seine Tugenden, wie seine Fehler ihm die Überlegenheit im Kampfe um politische Selbständigkeit und Macht sicherten; sein Egoismus und sein Hochmut sind ihm fast ebenso zu statten gekommen,

wie seine nüchterne Klugheit und seine Thatkraft.

Das irische

Volk hingegen scheint ungefähr in derselben Art, wie das pol­ nische, durch

wie

seine Tugenden

Abhängigkeit verurteilt zu sein.

seine Laster zur politischen

Ohne zu vergessen,

daß der

Charakter des überwundenen Stammes in den Schilderungen des

Siegers stets verunglimpft wird, darf man behaupten, daß die Geschmeidigkeit, die Lebhaftigkeit, die Anmut und das Feuer der

Irländer, ihr unruhiger Heldenmut, ihre unstete Ritterlichkeit,

der Trieb zur Freiheit und in gewissen Fällen zur Empörung, der sich bei ihnen mit der Vorliebe für die Pracht und den Pomp der Königsmacht verbindet, eine schlechte Grundlage für ein ruhiges,

unabhängiges Staatsleben obgeben.

Es fehlt ihnen an den bürger­

lichen Tugenden der modernen Zeit, und die, welche sie besitzen, gehören der Vergangenheit an: ihre Religiosität streift an den blindesten Aberglauben, ihre Treue besteht, wie bei ihren Brüdern in der Bretagne, in einer Art Lehnstreue gegen die alte Aristokratie

des Landes, und ihr glänzender Mut ist von undisziplinierter, auf­ brausender Natur.

Endlich hat die Jahrhunderte lange Unter­

drückung der Volksseele ihren Stempel ausgeprägt.

Die Irländer

ermangeln des Selbstvertrauens, sind zur Verstellung geneigt wie nicht minder zu Indolenz, sind, vor der Gefahr, allzuwenig auf ihrer Hut, und allzu leicht eingeschüchtert in dem Augenblicke, wo sie

erscheint; sie

verstehen nicht,

wenn sie ihnen vorübergehend

die

Freiheit zu

gebrauchen,

gewährt ist, weil man sie nur

durch lange Übung mit Festigkeit gebrauchen lernt. Es

giebt

unerfahrene

Völker

wie

unerfahrene Jndivi-

Die Irländer sind von einer Seite den Franzosen, für die

duen.

sie stets lebhafte Sympathien hegten, verwandt, von einer andern

gesehen,

erinnern

sie etwas

sie

an die Polen;

Orientalisches.

von einer dritten haben

Unter den letzten irischen Melodien

Moore's befindet sich ein Gedicht The Parallel, welches als Ant­ wort auf ein Pamphlet gegen die Irländer, das ihren jüdischen

Ursprung beweisen wollte, eine Parallele zwischen dem Schicksale der Juden und dem des irischen Volkes zieht: Unser Volk liegt gleich dir nun besiegt und gebrochen. Vom Haupt fiel die Kron' ihm, sein Schimmer erlag, Rings hat ihm Verwüstung das Urteil gesprochen. Seine Sonne ging unter, derweil es noch Tag.

Und der Stamm selbst hat ein morgenländisches Gepräge. „Die Irländer," sagt Byron an einer Stelle in Bezug auf Moore,

„rühmen sich ihrer orientalischen Abstammung, und wirklich sprechen die Wildheit und Zartheit, die lebhaften Farben ihrer Phantasie, die feurige, exaltierte Sinnesart ihrer Männer, die Schönheit und

der asiatische Anmut ihrer jungen Mädchen zu gunsten dieser An­

sicht."

Ein Volksstamm mit solchen Grundzügen mußte für die

zähe, grausame englische Tyrannei eine leichte Beute abgeben.

Ein kurzer Überblick über die Geschichte Irlands während

der Jugendzeit Thomas Moore's wird es begreiflich machen, daß

dieser mild angelegte, weichmütige Dichtergeist der erste ist, der

die auf der Naturbetrachtung ruhende Dichtung Englands in das Lager der Freiheitsideen hinüberführt und das Signal zur poli­ tischen Poesie giebt. Er ward im Mai 1779 geboren und machte

die Schrecknisse, .die bald darauf eintreten sollten, in den ersten Jünglingsjahren mit.

Von dem Zeitpunkte an, wo die eng­

lische Regierung durch die Ernennung des Lord Camden zum Bizekönig von Irland (1795) ihre Absicht zu erkennen gab, die

humanere Politik von 1782 aufzugeben, nahm die über das ganze Land verbreitete patriotische Gesellschaft der „Vereinigten Irländer" (United Irishmen),

die

bisher

die Befteiung Irlands

durch

gesetzliche Mttel angestrebt hatte, einen neuen Charakter an; man

steckte sich das Ziel der Losreißung Irlands von England und träumte von der Errichtung einer irischen Republik.

Das irische

Volk selbst war indes in feindliche Parteien zersplittert, und ein glühender Haß stellte in den unteren Klassen Protestanten und Ka­

tholiken einander gegenüber.

Um den Unruhen und Krawallen,

welche durch diese innere Feindschaft veranlaßt wurden, ein Ende zu

machen, errichtete die Regierung ein protestantisches Gendarmerie­ korps von 37 000 Mann, dem es unter dem Vorwande, noch

verborgenen Waffen zu fahnden, gestattet war, jeden einzukerkern,

zu foltern und zu töten, der von irgend einem Halunken oder Feinde

als

verdächtig

angezeigt

wurde.

Hunderte

von

Un­

schuldigen, bereit ganzes Verbrechen darin bestand, sich zu dem

Glauben ihrer Väter zu bekennen, wurden gepeitscht, bis ihnen die Sinne schwanden, wurden mit einem Beine auf einem spitzen

Pfahl zu stehen gezwungen, wurden halb gehängt (d. h. kurz nach

dem Hängen herabgenommen) oder durch den Sprung aus der

Pechkappe skalpiert.

Hierzu kamen die über das ganze Land sich

erstreckenden Dragonaden mit völliger Freiheit zu Raub, Plünde­ rung, Notzucht und, im Falle der Gegenwehr, Mord.

Offiziere

von Rang brüsteten sich, daß es in manchen Gegenden weit und breit kein Haus gäbe, wo die Frauen nicht geschändet worden, und auf den Einwurf, daß die Irländerinnen gerade nicht sehr

sittenstreng gewesen sein müßten, lautete die Antwort, „das Bajonett

entferne alle Sprödigkeit?"

Es war demnach kein Wunder, daß die Verzweiflung viele

der ruhigstm, besonnensten Irländer einer geheimen Gesellschaft

in die Arme trieb, als deren Abgesandter Lord Edward Fitzgerald (dessen Lebensgeschichte Moore mit so warmer Begeisterung geschrieben hat) nach Frankreich ging, um mit dem General Hoche über eine 1 Massey: History of England IV, 302. Die ganze Darstellung ist auf die Schilderung englischer Patrioten gegründet.

gleichzeitig mit dem allgemeinen Ausbruche des irischen Aufstandes zu bewerkstelligende Landung der Franzosen zu unterhandeln. Der alte kaltblütige Führer des Volkes, Grattan, der nichts mit den Fremden zu schaffen haben wollte, zog sich zurück, ebenso

verzweifelt über die letzten Pläne der Herrschenden wie der Unter­

drückten.

Es bildete sich nun in Irland heimlich ein förmliches

Direktorium nach dem Muster des französischen, das mit Frank­ reich wegen Geldanleihen und Truppenunterstützung in Unter­

handlung stand, als alle Pläne plötzlich an der Verräterei eines

einzigen katholischen Irländers scheiterten. Sein Name war Reynolds

und verdient vor der Vergessenheit bewahrt zu werden.

Un­

zweifelhaft ist er es, den Thomas Moore vor Augen gehabt hat, als er in den „Feueranbetern" die niedere Berräterei schildert, welche das Haupt der Empörung in die Gewalt der Muhamedaner

bringt.

(Lalla Rookh: The fireworshippers.)

Edward Fitzgerald lag im Bette, als die Truppen, um ihn

zu verhaften, in das Haus drangen, in dem er sich verborgen

hielt.

Auf seinen Kopf war ein Preis von tausend Pfund ge­

setzt.

Obwohl liegend und einzig mit einem Dolch bewaffnet,

verteidigte er sich gegen drei englische Offiziere in voller Aus­

rüstung, brachte dem einen zwei, drei, dem anderen 14 Wunden bei, bis ihn der dritte mit einem Pistolenschuß entwaffnete und

er ins Gefängnis abgeführt wurde.

Er war mit den besten

Männern der französischen Revolution bekannt, war ein Freund

Thomas Payne's und mit einer Tochter von Philippe Egalitö, einer schönen Dame, vermählt.

Er stand in stetem Briefwechsel

mit Frankreich, und nur durch seinen Tod im Gefängnis ent­

ging er der Hinrichtung.

Wiewohl in Kreisen lebend, in betten

Fitzgerald als ein landesverräterischer Tollkopf betrachtet wurde, hat Moore den Mut und die Selbständigkeit besessen, seinem Heroismus alle Ehre widerfahren zu lassen.

Durch den Schlag, den die Regierung gegen das Haupt des

Aufstandes geführt hatte, war die Aussicht auf eine Überrumpelung

vernichtet, allein gegen die über das ganze Land zerstreuten Rebellen

bot sich der Regierung nunmehr Gelegenheit, mit einer Grausam­ keit vorzugehen, die an Wut grenzte.

Der Belagerungszustand

mit Kriegsgerichten wurde verhängt, und die Mitglieder der Jury

werden von englischen Historikern als „eine Rotte unwissender, blutdürstiger

Schurken

bezeichnet,

die

durch

Tortur

und Be­

gnadigungsvorspiegelungen erst katholischen Zeugen falsche Aussagen

gegen die Angeklagten abdrangen, um hinterher jegliche Schandthat gegen sie zu verüben."

Der erste vornehme Mann, der diesem

Gerichtsverfahren zum Opfer fiel, war ein friedlicher Anhänger der gesetzlichen Reformpartei Irlands (Sir Edward Crosbie): er wurde

gehängt und

nachher verstümmelt.

Es war nicht der

Religionsunterschied, der die Grausamkeit dieser Henker entflammte, denn die hervorragendsten Führer

der

„Vereinigten Irländer"

(Fitzgerald, O'Connor, Harvey, Thomas Emmei) waren sämtlich Protestanten,

die sich der Sache ihrer katholischen Landsleute

uneigennützig annahmen; nein, es war der alte Rassenhaß der Angelsachsen gegen den keltischen Stamm. Zu ihrem Hauptwerheuge wählte die Regierung einen Mann,

der als ein so unwissender, fanatischer Parieimann bekannt war,

daß jede Gewaltthätigkeit sich von ihm erwarten ließ.

Es war

ein kleiner Gutsbesitzer, namens Thomas Judkin Fitzgerald, der 1799 zum High Sheriff ernannt wurde. Anfänge an dahin, sich bei

Sein Plan ging vom

seinen Vorgesetzten

dadurch einzu­

schmeicheln, daß er den Erstbesten, den er der Teilnahme an auf­ rührerischen Plänen verdächtig hielt, aufgreifen ließ, um von ihm

durch Peitschenhiebe und. die Androhung sofortigen Hängens Ge­ ständnisse

und Anklagen

gegen

andere

zu erpressen.

Solchen

Schrecken flößte er bei seiner Ankunft in Irland ein, daß die

armen

Bauern,

die

sich

seiner

Willkür

überlassen

auf seinem Wege vor ihm auf die Kniee fielen.

wußten,

Hier ein paar

Beispiele seines Verfahrens, unter den vielen herausgegriffen, die

bei

dem

wegen

Mißbrauch

der Amtsgewalt gegen ihn ange­

strengten Prozeß, in welchem er natürlicherweise glänzend frei­

gesprochen wurde, zu Tage kamen.

Er empfing einen armen

Sprachlehrer, namens Wright, der auf die Kunde, daß er „ver­ dächtig" sei, sich bei dem Sheriff einfand, mit den Worten, er

solle „auf die Kniee fallen, um sein Urteil zu vernehmen."

„Du

bist ein Rebell," sagte er zu ihm, „Du sollst 500 Peitschenhiebe

bekommen und dann erschossen werden."

Da der arme Mann

unvorsichtig genug war, um Aufschub zu flehen und das Wort

„Verhör" zu stammeln, wurde er augenblicklich seinen Henkern

übergeben.

Doch noch ehe diese ihn ergreifen konnten, stürzte sein

Richter sich auf ihn,

packte ihn an den Haaren,

und versetzte ihm Degenstiche. halten

hatte,

verbrochen

schlug ihn

Als Wright 50 Peitschenhiebe er­

erschien ein englischer Major und frug, was er

habe.

Statt

aller Antwort

reichte

man

ihm ein

französisches Billet, das man bei dem Verräter gefunden hatte aber

nicht verstand.

Es stellte sich heraus, daß es eine Ent­

schuldigung war, nicht zu rechter Zeit zu einer Unterrichtsstunde kommen zu können.

Der Major versicherte dem Richter, daß es

ein durchaus unschuldiger Zettel sei; nichtsdestoweniger wurde die Stäupung fortgesetzt, bis die Eingeweide des Opfers durch das

zerfetzte Fleisch sichtbar wurden.

Nun erhielt der Büttel Befehl,

an jene Körperteile, welche die Peitsche nicht zerfleischt hatte, seine

Zangen anzusetzen.

Dieser Fall war einer von denjenigen, die in dem Prozesse

gegen den irischen Oberrichter am meisten Aufsehen erregten, einem Prozesse, sagt Massey, der nicht vollständig gewesen wäre, wenn

nicht ein protestantischer Geistlicher als Zeuge zu gunsten des Angeklagten einen Eid darauf abgelegt hätte, daß dieser allbekannte Bluthund, den man in ganz Irland nur den Peitschen-Fitzgerald

nannte, ein milder, menschenfreundlicher Mann sei. Man hatte gleich

Irische Opposttionspoefle. anfangs

ihm zu Liebe

Tortur eingeführt.

verfassungswidrig durch ein Gesetz die

So wurde es ihm ein Leichtes, alle Ankläger

aus dem Felde zu schlagen.

Mit unerhörter Roheit brüstete er

sich als Angeklagter, bei einer Unzahl von Fällen weit heftigere Auspeitschungen verhängt zu haben, als bei denen, von welchen

jetzt so viel Aufhebens gemacht würde, und erzählte selbst von

einem Manne, der sich den Hals abgeschnitten habe, um den Schrecknissen der Tortur und der damit verbundenen Schmach

zu entgehen.

Es verdient bemerkt zu werden, daß er zum Lohn

für seine Verdienste eine besondere Pension erhielt, und nachdem

Castlereagh die Union mit Irland ins Werk gesetzt hatte, zum „Baron des Bereinigten Königreiches" ernannt wurde.

Nur ein Beispiel noch, wie bei Unterdrückung des Aufstandes vorgegangen wurde; es giebt ein lebendiges Bild der Eindrücke» unter

denen der junge Thomas Moore, der damals 18 Jahre zählte, zum Manne heranreifte.

An einem Herbstabende des Jahres 1798

gingen Gendarmen unter Anführung eines gewissen Whollaghan in ein Haus des Dorfes Delbary, das einem als verdächtig

geltenden Arbeiter, namens Dogherty, gehörte, und fragten, ob

von den mörderischen Aufrührern niemand zugegen wäre.

Die

einzigen im Hause Anwesenden waren Dogherty's Weib und ein kranker Knabe,

ihr Sohn.

Whollaghan frug, ob der Junge

Dogherty's Sohn sei, und da die Frage bejaht wurde, schrie er:

„Dann sollst Du sterben, Du Hund!" Leben.

Der Knabe flehte um sein

Unter einer Flut von Schimpfreden versuchte der Unter­

offizier zweimal zu feuern, doch das Gewehr versagte. Ein Kamerad

reichte ihm

sodann ein anderes Gewehr, die Mutter warf sich

über ihr Kind, allein die Kugel zerschmetterte den Arm des Knaben.

Als er zusammenstürzte, verließen die Mörder die Hütte.

Whol­

laghan kehrte jedoch

zurück, und als er die Mutter über den

Sohn gebeugt sah,

schrie er: „Was, ist der Hund noch nicht

tot? —"

„Ach Gott, Herr," entgegnete das arme Weib, „er ist

so gut

wie tot"

„Ich fürchte, nein", erwiderte Whollaghan,

„mag er noch das nehmen."

Er feuerte nun noch ein viertes

Mal, worauf der Knabe tot in die Arme der Mutter sank. —

Whollaghan wurde der Überschreitung der Amtsgewalt angeklagt. Als der Prozeß wider ihn verhandelt wurde, stützte die Ver­

teidigung sich darauf,

daß der Angeklagte und

seine Begleiter

„mit der allgemeinen Ordre, wen sie wollten, zu erschießen, aus­

gesendet worden seien."

Das Gericht war nicht der Ansicht, daß

solch ein Befehl etwas Ungewöhnliches oder Vernunftwidriges hätte. Es befand, daß der Angeklagte einen Rebellen, Thomas Dogherty,

durch einen Schuß getroffen und getötet habe, sprach ihn jedoch von dem Verbrechen des vorsätzlichen, böswilligen Mordes frei. Durch solche Mittel wurde die Ruhe in Irland wieder her­

gestellt, und das Volk für den Akt, in welchem Castlereagh mit

kaltem diplomatischen Scharfblick den einzigen Ausweg aus dem irischen Sumpfe sah, für die Auflösung des Dubliner Parlamentes

und dessen Verschmelzung mit dem Londoner Parlamente reif ge­

macht.

Der Widerstand, den es allein zu überwinden galt, war der

des irischen Parlamentes selbst, und da dieses, so gründlich verderbt es auch war, sich noch nicht hinlänglich gefügig zeigte, verfiel

Castlereagh, der damalige Chief secretary für Irland, der in seiner Eigenschaft als Irländer und Protestant keine allzu hohe Meinung von den Protestanten unter seinen Landsleuten gehegt zu haben scheint, auf den einfachen Ausweg, die erforderliche An­

In

zahl von Mitgliedern der Opposition einzeln zu erkaufen. jedem

amtlichen

Schreiben,

das

er

seit

Anfang

1799

nach

London sandte, bis die Union 1800 zur Annahme gelangte, kam

er immer und immer wieder auf seinen Vorschlag zurück;

er

erhielt als Antwort von der Regierung nach und nach andert­ halb Millionen Pfund Sterling, eine Summe, die auf die wirk­ samste Weise verwendet wurde.

In ihrer Verzweiflung verfielen

die wenigen irischen Patrioten des Parlamentes auf den Gedankm,

das einzige Mittel zu versuchen, das noch von einigem Gewicht

erschien, nämlich den vom Volke noch immer vergötterten, doch

seit lange verstummten und jetzt gefährlich erkrankten Grattan in

dem Augenblick, wo der Unionsvorschlag auf der Tagesordnung stand, Plötzlich int Parlamente austauchen zu lassen.

Mit echt

irischem Hang zu dramatischem Effekt wurde die Sache in Szene

gesetzt.

Da ein Sitz im Parlamente seit wenigen Tagen erledigt

war, wurde Grattan in aller Stille gewählt, und der Patron des betreffenden Fleckens, ein Mr. Tighe, ritt in Karriere nach Dublin, um das Resultat zu verkünden.

an.

Er langte um 5 Uhr morgens

Der von Krankheit abgezehrte Grattan wurde aus dem Bette

gehoben, in eine Bettdecke gehüllt und in einer Sänfte ins Par-

lamentsgebände getragen.

Die Verhandlungen hatten bereits seit

vollen 15 Stunden ununterbrochen, auch die ganze Nacht hindurch,

gedauert, als das Haus um 7 Uhr morgens beim Anblicke der gespenstischen Erscheinung

aus

dem Halbschlummer emporfuhr.

Es war der Mairn von 1782, der Mann, der die Irländer zu

einem Volke gemacht hatte, der jetzt als das sterbende Gewissen seines Volkes aus dem Grabe stieg, um den letzten Protest zu Gunsten

der Unabhängigkeit desselben zu erheben.

Er schloß seine Rede

mit den Worten, ob er auch sterbend am Boden läge, so wolle er doch den letzten Atemzug zur Einsprache wider einen Antrag

wie den vorgelegten gebrauchen, und als der Schatzkanzler Corry ihm auf diese Worte die Beschuldigung des Landesverrates ent­ gegenzuschleudern wagte, antwortete er mit einer Herausforderung, welche wenige Tage darauf ein Pistoleitduell zur Folge hatte.

Bei demselben wurde Corry zu seinem Glück am Arme verwundet;

hätte er gesiegt, so wäre er sicher von der Bevölkerung in Stücke zerrissen worden.

Doch selbst Grattatt vermochte nichts den Waffen

gegenüber, deren die Regierung sich bedient hatte. Die Beredsam­ keit, die Moore dem Glanz und der Festigkeit des Edelsteines ver­

glichen hat, der Byron nicht bloß alle die Vorzüge beilegt, welche

Irische Appvsitionspoesie.

193

Demosthenes besaß, sondern auch die ihm fehlenden, fand keinen Widerhall?

An

dem Tage, an dem die Union angenommen

wurde, waren Galerien und Tribünen von einer ängstlich gespannten

Zuhörerschaft überfüllt, Castlereagh allein, der über den Ausfall der Abstimmung nicht im Zweifel war, erwartete das Resultat un­

beweglich, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Als der Sprecher

mit zögernder Stimme sagte: „Wollen die, welche für die Union sind,

die Hände erheben!" und darauf Hand um Hand sich langsam und

verschämt emporrecken sah, blieb er erst einen Augenblick starr wie eine Bildsäule stehen; dann rief er: „Die Union ist angenommen!"

und warf sich mit einem Ausdruck des Ekels und der Entrüstung in seinen Sessel.

Bei diesen stürmischen Verhandlungen, in welchen

die ersten Männer Irlands verkündeten,

stand wären nunmehr Pflicht,

Widerstand und Auf­

ohne daß jedoch jemand daran

gedacht hätte, seinen Worten gemäß zu handeln, befand sich auf

der Tribüne ein Jüngling mit blassem Antlitz und strahlenden Augen, bei dem die leeren Worte der anderen lebendiges Leben

waren, und der in seinem Herzen schwor, der Befreier seines

Vaterlandes zu werden.

Dieser junge Mann war Robert Emmet,

der edelste, vortrefflichste Sohn Irlands, dem, was sich an Kraft

und Feuer in Thomas Moore's hinreißenden „Irischen Melodien" findet, größtenteils zu verdanken sein dürfte.

Der irische Dichter, der 1779, in demselben Jahre wie Oehlen-

1 An eloquence rieh, wheresoever its wave Wander’d free and triumphant, with thoughts, that shone through, As elear as the Brooks stone of lustre, and gave With the flash of the gern its solidity too.

Moore: Shall the barp then be silent

Ever glorious Grattan! the best of the good! So simple in heart, so sublime in the rest! With all which Demosthenes wanted endued, And his rival and victor in all he possess’d. Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

Byron: The Irish avatar. 13

Irische Appolitionspoelik.

194

schläger zur Welt kam, war der Sohn eines kleinen Weinhändlers in Dublin, hatte einen wackeren Vater, eine liebevolle und tüchtige

Mutter (eifrige Katholikin) und verbrachte eine glückliche Jugend

im Schoße seiner Familie.

Er zeigte sich vom frühesten Kindes­

alter an als ein ungewöhnlich begabter, besonders talentvoller Knabe. Er spielte Komödie, schrieb und dellamierte Verse und sang

mit einer ausgezeichnet schönen Stimme, die ihm sein ganzes Leben

hindurch erhalten blieb.

Liest man die von ihm selbst gegebene

Schilderung seiner Knabenjahre, so fühlt man allenthalben, wie

frühe sein eigentümliches Dichternaturell, welches das des Im­

provisators, des eigentlichen, des singenden Lyrikers ist, zum Durch­ bruche kommt.

Er besaß dieselbe Gabe, die des Schweden Bellmann

Größe bildet, die Gabe, in seinen Schöpfungen Dichtung und Musik

zu einem Ganzen zu verschmelzen, und im Vereine damit die Fähig­

keit des Schauspielers und Sängers, durch den Vortrag zu ergreifen.

Er war klein, weit unter Mittelgröße, mit einem braunen Locken­ kopf und glich als Kind einem kleinen Cupido.

Seine Stirn war

groß und strahlend, so interessant, daß sie einen Phrenologen in

Entzücken versetzen mußte; seine Augen dunkel und schön, von der Art, sagt Leigh Hunt, wie man sie sich gern unter einem Kranz von Weinlaub träumt; der Mund fein und heiter lächelnd, Grübchen in den Wangen, die Nase ein wenig gestülpt, sinnlich

und mit einem eigentümlichen Gepräge, als sauge sie den Dust eines Festmahles oder eines Obstgartens ein.

Der kleine Mann

machte einen Totaleindruck von Leben und Beweglichkeit, als sei er ganz dazu geschaffen, nach alter Iren Weise an einem flinken

Reiterscharmützel teilzunehmen — er war stets höchst ehrliebend

und in seiner Jugend ein Heißsporn, der Jeffrey wegen der ersten Kritik, welche ihm widerfuhr, forderte, dann auch Byron wegen dessen Spottes (in English bards) über den Verlauf dieses Zwei­

kampfes. Doch ist es, trotz dieses kriegerischen Elementes in seinem

Irische @ppo|tfionepotltc.

195

Blute, höchst wahrscheinlich, daß Moore, hätte er unter weniger

ernsten, erschütternden Umgebungen gelebt und Unterdrückung und Tyrannei nicht aus allernächster Nähe kennen gelernt, sich niemals

zu einer höheren Sphäre der Poesie als der eines liebenswürdigen Anakreontikers aufgeschwungen haben würde.

zog ihn nach dieser Richtung.

Sein Temperament

Allein es ward ihm vergönnt,

mehr für sein Vaterland zu thun, als irgend ein anderer für das­

selbe gethan, mehr noch, als Burns für Schottland geleistet hatte, indem er den Namen Irlands, dessen Erinnerungen, dessen Leiden,

das blutige Unrecht, das man ihm zugefügt, die schönsten Eigen­ schaften seiner Söhne und Töchter unvergänglicher Dichtung und

Musik vermählte.

Nach kaum zurückgelegtem fünfzehnten Jahre bezog er die Dubliner

Universität,

innerhalb

deren Mauern der

politische

Gärungsstoff, der ganz Irland zu durchsäuern begann, sich zu jener

Zeit gleichfalls offenbarte, indem ein Jüngling, dem ein großes

tragisches Schicksal vorbehalten war, bald die Aufmerksamkeit so­ wohl seiner Studiengenossen als der Professoren im höchsten Grade auf sich lenkte, der oben erwähnte Robert Emmet, dem glänzende

Studien in mathematischen und physikalischen Fächern im Vereine

mit einer politischen Beredsamkeit höchsten Ranges und der seltensten Lauterkeit des Charakters schon im Alter von sechzehn Jahren einen

Namen gemacht hatten.

Seine Reden in dem Diskussionsklub

„Die historische Gesellschaft" und der tiefe Eindruck, den sie auf

den gleichalterigen, ungleich weicheren, minder entwickelten Moore machten, sind bereits berührt worden.

Wiewohl er gewarnt war,

sich unvorsichtig auf offener Straße mit Emmet sehen zu lassen,

fühlte Moore sich bald in herzlicher Bewunderung und inniger

Freundschaft zu ihm hingezogen.

Kein Wunder!

Es war Irlands

junger Nationalheld, dem Irlands junger Dichter in den ersten

Jugendjahreu auf seinem Wege begegnete.

Keiner von ihnen ahnte

damals die künftige Größe des anderen, allein der Instinkt, welcher 13*

Geister, die zu einander stimmen, verknüpft, führte sie für hin­

reichend geraume Zeit zusammen, so daß der Sänger die Weihe von

dem Helden empfangen konnte.

„Wenn man mich früge," sagt

Moore, „wer von allen Menschen, die ich je gekannt, mir die größten Fähigkeiten mit der größten sittliche» Hoheit zu vereinigen schien, würde ich, ohne mich zu bedenken, Robert Emmet nennen."1 Robert Emmet ward 1780 geboren; sein älterer Bruder

Thomas nahm an der Revolution von 1798 als einer ihrer her-

vorragendsten Führer teil und wurde nach deren Scheitern erst

eingekerkert und dann des Landes verwiesen.

Roberts früheste

Empfindungen waren Haß gegen die englische Tyrannei und Liebe

zu Irlands Märtyrern.

Er legte bereits als Knabe eine Charakter­

stärke an den Tag, welche die Seelengröße, die er als Jüngling entfalten sollte, vorahnen ließ. Schon im Alter von zwölf Jahren

studierte er mit Leidenschäft Mathematik und Chemie?

Eines

Tages machte er sich, umnittelbar nachdem er einen chemischen Versuch ausgeführt hatte,

an eine mathematische Aufgabe, die

äußerst schwierig zu lösen war, und als er in seiner Zerstreutheit die Hand an den Mund führte, vergiftete er sich mit einem

Quecksilbersublimat, das er wenige Augenblicke zuvor gebraucht hatte.

Die

heftigen Schmerzen, die ihn sofort befielen,

lehrten ihn über die Gefahr, in der er schwebte.

be­

Aus Furcht

jedoch, man werde ihm künftig solche gefährliche Experimente ver­ bieten, hütete er sich Lärm zu schlagen, begab sich vielmehr in die Bibliothek seines Vaters, wo er in einer Encyklopädie den

Artikel „Gift" nachschlug, fand in Fällen, wie der seine, auf­ gelöste Kreide als Gegengift empfohlen, erinnerte sich, ein Stück

Kreide in der Wagenremise gesehm zu haben, eilte dahin, fand die Thür verschlossen, sprengte sie auf, nahm die Kreide, trank

1 Th. Moore: Memoirs of Lord Edward Fitzgerald. 8 Madden: United Irishmen, their lives and times.

Irische ©ppofitionopotfir.

197

die Kreidelösung und kehrte sodann ruhig zu seiner mathematischen

Aufgabe

Als sein Lehrer am nächsten Morgen beim

zurück.

Frühstück sein Aussehen so verändert fand, daß er kaum wieder­

zuerkennen war, gestand ihm Emmet, daß er die Nacht in entsetz­ lichen Schmerzen verbracht habe, fügte jedoch hinzu, seine Schlaf­

losigkeit habe ihm wenigstens insofern zum Nutzen gereicht, als ihm die Lösung seiner mathematischen Aufgabe gelungen sei.

Ein

Knabe, der in solchem Grade Mut und Fassung besitzt, ist da­ zu ausersehen, als Mann das Vorbild vieler zu werden.

Er ward es in erster Linie für Thomas Moore.

Die seinem

Wesen eigene schlichte Geradheit, die sich mit der zartfühlendsten

Rücksichtsnahme verband, wich in dem Augenblicke, wo die Saite,

die seine Gefühle in Schwingung versetzte, berührt wurde, dem Ge­ präge einer Geistesüberlegenheit, welche einen werdenden Dichter

fesseln mußte.

„Zwei Menschen,"

sagt Moore,

„können nicht

verschiedener von einander sein, als es dieser junge Mann war, bevor und nachdem er sich zum Sprechen erhoben hatte.

Der

Blick, der eben noch müde, fast leblos erschien, erstrahlte plötzlich

von der ganzen Kraft seiner Begabung.

Sein Antlitz, seine Ge­

bärden, seine ganze Haltung war wie von höherer Inspiration getragen.

Über seine Beredsamkeit vermag ich nur nach meinen

Jugenderinnerungen zu urteilen, doch habe ich seitdem nie wieder etwas gehört, das mir ein erhabeneres oder reineres Gepräge zu tragen dünkte."

Moore macht auch die Bemerkung, daß Emmet

seine Umgebung ebensosehr durch die untadelhafte Reinheit seines

Wandels und die Milde und Anmut seiner Wesens, wie durch seine Kenntnisse und seine Beredsamkeit beherrscht habe. Als im Jahre 1797 das Blatt The Press von den irischen

Führern O'Connor, den Brüdern Emmet u. a. gegründet wurde, brannte Moore

vor

Begierde

ein

oder

das

andere

Produkt

seiner Muse in den patriotischen und vielgelesenen Spalten dieses Blattes

erscheinen

zu

sehen.

Allein

die

stete

und

in jenen

Irische Oppositionspoesie. Zeiten durchaus nicht unbegründete Besorgnis seiner Mutter um ihn

ihn

ließ

andererseits

davor zurückscheuen, einen Schritt,

welchen sie sich zu Herzen nehmen konnte, zu thun, weshalb er fürs erste anonym aufzutreten beschloß.

Er sendete eine Nach­

ahmung des Ossian ein, die unbeanstandet durchschlüpfte,

Aufmerksamkeit zu

erregen.

ohne

Hierauf vertraute er mit zittern­

der Hand einen Brief „An die Studenten des Trinity College" dem Postkasten an, reich gepfeffert mit „Landesverrat", wie er selbst bemerkt, eine witzige Satire auf Castlereagh, der, so lange

er lebte, niemals aufhörte, Moore als Zielscheibe seines Spottes zu dienen.

„Ich machte mir

wenig Hoffnung,"

„daß der Brief gedruckt würde, Abend,

als ich wie gewöhnlich

die Zeitung entfaltete,

doch siehe in

da,

sagt Moore,

am nächsten

meiner Ofenecke saß und

um sie meinen Eltern vorzulesen, stand

mein Brief ganz vorn im Blatte und starrte mir

Gesicht und gehörte natürlicherweise meine Zuhörer zu hören wünschten."

gerade ins

mit zu dem ersten,

das

Seine Gemütsbewegung

mit Gewalt bemeisternd las er den Brief vor und hatte die Be­

friedigung, ihn von seinem Vater und seiner Mutter rühmen zu

hören, obgleich er beiden „sehr gewagt" dünkte.

Als am folgen-

den Tage Edward Hudson, der einzige von Moore's Freunden, der in das Geheimnis eingeweiht war, bei einem Morgenbesuch mit

einem vielsagenden Blick Moore die Bemerkung hinwarf: „Nun hast Du gesehen —

— „Der Brief war von Dir, Tom!" rief die

Mutter, und ein neuerliches Bitten und Beschwören, vorsichtig zu sein, folgte dem Geständnisse.

„Ein paar Tage darauf," erzählt

Moore, „kam auf einer der Landpartien, die Emmet und ich mit­ einander zu unternehmen Pflegten, das Gespräch auf den Brief, und ich gab ihm zu verstehen, daß er von mir sei.

Da gestand

er mir mit der ihm eigenen, fast weiblichen Sanftmut, die gar häufig das Merkmal gerade der entschlossensten Geister ist, er hätte

bei der Lettüre des Briefes, obwohl er dessen Inhalt durchaus billige,

nicht umhin gekonnt zu bedauern, daß die öffentliche Aufmerksam­ keit in dieser Weise auf die Politik der Universität hingelenkt worden

sei.

Es würde das ja bei einmal rege gewordener Wachsamkeit der

Behörden der Ausbreitung dessen, was wir beide als den „guten

Geist" betrachteten, der gegenwärtig in aller Stille sich Bahn breche, nur Hindernisse bereiten.

So knabenhaft ich auch noch war, so

fühlte ich mich doch unwillkürlich von der männlichen Auffaffung

betroffen, die er, wie ich merkte, von dem hatte, was unter solchen Umständen und in solchen Zeiten Männer thun müßten, nämlich

nicht mündlich noch schriftlich ihre Absichten äußern, sondern han­

deln.

Er hatte, so viel ich mich erinnere, nie vorher im Gespräch

mit mir auf die Existenz der geheimen Gesellschaft United Irishmen augespielt, wie er mir auch weder jetzt noch später je den Vor­ schlag machte, ihr beizutreten, eine Rücksicht, die ich größtenteils

dem Umstande beimesse, daß er Kenntnis von der sorglichen Ängst­

lichkeit hatte, mit der man zu Hause über mich wachte... Er war

ein durch und durch edles Geschöpf, ebenso reich an Einbildungs­ kraft und Gemütstiefe wie an männlicher Kühnheit."

Augenschein­

lich hat Robert Emmet bei all seinem herzlichen Wohlwollen für Moore recht wohl gefühlt, daß dieser nicht aus dem Metall war,

aus welchem ein Mann geschmiedet sein muß, der seine Zukunft und

sein Leben in einer Revolution auf das Spiel setzen soll.

Allein er

war dem jungen Dichter gut und suchte ihn häufig auf; ist ihm

doch sicher nicht entgangen, welch seltenen Resonanzboden seine

Ideen und Träumereien in der Harfe fanden, die Thomas Moore in seiner Seele trug.

Er pflegte neben Moore am Pianoforte

zu sitzen, während dieser Melodien aus Büntings irischer Sammlung

spielte, und Moore konnte noch als bejahrter Mann nicht ver-

geffen, mit welcher Leidenschaft Robert Emmet eines Tages, als er die Melodie zu Let Erin remember the days spielte, ausrief: „O stünde ich an der Spitze von 20000 Mann, die nach dieser Melodie marschierten!"

Das war im Jahre 1797 kurz vor Entdeckung der irischen Ver­ schwörung. Da trat diese ein und mit ihr alle ihre Schrecknisse. Eine

ihrer ersten Folgen war eine förmliche Inquisition innerhalb der Mauern der Universität. Die Studenten wurden einzeln mit Namen aufgerufen und verhört. Die meisten wußten wenig oder nichts von

den Absichten der Führer, mir das plötzliche Ausbleiben einzelner,

darunter Robert Emmet, belehrte die Kameraden, wie tief sie in die verratenen Pläne eingeweiht gewesen.

Die Totenstille, die täg­

lich ihrem Namensaufruf folgte, machte einen erschütternden Ein­

druck auf Moore.

Er selbst erwies sich bei seinem Verhör als

der wackere kleine Student, der er war; er erklärte dem gefürch­

teten Lord Fitzgibbon in's Gesicht, daß er den ihm abgeforderten Eid nur unter dem Vorbehalte leisten wolle, keinerlei Fragen

zu

beantworten,

die

Kameraden

einen

ins

Unglück

stürzen

könnten, und hielt die sich hierauf entladenden Zornesausbrüche mit männlicher Fassung aus.

Da er kein Mitglied der United

Irishmen gewesen und sich über die Pläne der Gesellschaft in der That in völliger Unkenntnis befand, wurde er bald wieder entlassen. In

die nächstfolgenden Jahre

treten als Dichter.

fällt Moore's

Die Greuel, von denen die Unterdrückung

des Aufstandes begleitet war, lieferten

seine Dichtung.

erstes Auf­

ihm keinen

Dazu stand er ihnen allzunahe.

Stoff für Emmet war

fort, die von ihm ausgehmde Einwirkung für eine Zeitlang lahm­

gelegt,

politische

Dichtung

in Irland unmöglich.

Der junge

Dichter, der von Natur zur Produktion heiterer, leichter Poesie veranlagt war, verfolgte demnach die Bahn, auf die seine Anlagen

und seine Jahre ihn Hinwiesen, bearbeitete zuerst die anakreontischen Lieder und veröffentlichte sie noch keine 20 Jahre alt mit einer Zueignung an den Prinzregenten, der damals die Hoffnung der

Liberalen war, und trat sodann 1801 mit einem Bande Poetical

works of tbe late Thomas Little auf, zumeist erotischen Gedichten, jugendlich sinnlicher und von etwas frivoler Art.

Die irische Fri-

volität gemahnt gar sehr an diejenige, die in den erotischen Ge­

dichten der Schweden so häufig ist, wie auch ihr der Charakter einer National-Eigentümlichkeit anhaftet. Nachdem Moore ein paar Jahre in den besten Londoner

Kreisen umhergeflattert war, seiner gesellschaftlichen Talente, wie seiner ganzen irischer» Leichtlebigkeit wegen beliebt und gesucht,

zwang

ihn 1803 seine Mittellosigkeit nach den Bermudainseln

zu gehen, um dort einen Posten als Admiralitäts-Registrator an­ zutreten.

Er war, wie leicht begreiflich, durchaus nicht für diesen

Posten geeignet; er ließ denn auch nach kurzer Frist denselben von einem Stellvertreter verwalten und sah sich, als dieser Veruntreu­

ungen beging und den Staat um eine größere Summe betrog, ohne eigene Schuld in ein ganz ähnliches Unglück gestürzt, wie

Scott.

Gleich diesem wurde ihm von vielen Seiten Hilfe an­

geboten, und er tilgte seine Schuld teils mit dem Beistände ver­ mögender Freunde,

teils durch mehrere Jahre der Sparsamkeit

und des gewissenhaften Fleißes.

Sein amerikanischer Aufenthalt

erstreckte sich vom Oktober 1803 bis November 1804.

Er brachte

aus Amerika die im zweiten Bande seiner Werke gesammelten ameri­ kanischen Briefe und Gedichte heim, bereit Natnrschilderungen sich ebensosehr durch Farbenglut wie durch Porträtähnlichkeit aus­

zeichnen. hinsichtlich

Als echt englischer Naturalist hat er größeren Ehrgeiz

der Ähnlichkeit als

die mannigfachen Lobsprüche,

des Kolorits, die ihm

und er ist auf

von Eingeborenen

wie

Reisenden über die graphische und geographische Naturtreue dieser

Schilderungen gespendet werden, nicht wenig stolz.

Der bekannte

englische Reisende Kapitän Basil Hall (derselbe, der Scott in Abbotsford besuchte und bei seiner Erkrankung in Venedig von Byron gepflegt wurde) behauptet, Moore's Oden und Episteln ent­ hielten die schönste und genaueste Beschreibung von den Bermudas,

die existiere, und weist nach, wie das unstreitig schönste Lied dar­ unter The Canadian Boat-Song, sowohl in Betreff der Melodie wie

Irische Opposition-poesie.

202

des Textes, sich auf die Lieder gründe, die thatsächlich auf den Schiffen dort gesungen werden, doch unter Hinweglassung alles

dessen, was an diesen Liedern unschön oder nicht eigentümlich sei.

Und Moore selbst erzählt, wie genau seine Beschreibung sogar der Landschaften und Bäume sich an die Wirklichkeit hielt.

Mt Rücksicht auf die Zeilen: Tas thus, by the shade of tbe Calabash-tree, With a few who could feel and remember like me —

erhielt er etwa 25 Jahre später aus Bermuda einen Becher, der aus einer der Fruchtschalen eben jenes erwähnten Kalabassen­

baumes, in welchem man seinen Namen eingeritzt gefunden hatte, hergestellt war.

Die fremde Natur jener Gegenden wirkte be-

fruchtend auf einen Dichtergeist, der seiner Anlage nach für üppige,

festliche Natureindrücke eine ganz besondere Empfänglichkeit besaß;

die demokratischen und republikanischen Staatsverhältnisse, deren Zeuge er wurde, sprachen den verfeinerten Dichter, auf dm die be­

ginnende Weltreaktion gegen das achtzehnte Jahrhundert im Begriffe

war ihre Wirkung zu üben, weit weniger an.

Seine Episteln über

die amerikanischen sozialen Zustände haben nur für die Schatten­ seiten der Republik ein Auge.

Er hatte Audienz beim Präsidmten

der Bereinigten Staaten; allein die nachlässige Kleidung Jeffersons

— blaue Strümpfe und Schlappen an den Füßen — verunstaltete,

wie man merkt, in seinen Augen das Bild desjenigen Mannes, der die amerikanische Unabhängigkeitserklärung verfaßt hatte.

Bor

allem erschreckte es ihn, die französische Philosophie, die ihm, dem

echten Kinde seiner Zeit, lauter Gift und Sünde war, in der jungen Republik so stark verbreitet zu sehen?

„Es war", schreibt

1 Already has the child of Gallia’s sehool, The foul philosophy that sins by rule, With all her train of reasoning, damning arts, Begot by brilliant heads on worthless hearts . . . Already has she pour’d her poison here O’er every charm that makes existence dear x . . Epistel: To Lord Viscount Forbes.

Moore viele Jahre später, „die einzige Periode meines Lebens, in welcher mir Zweifel aufstiegen in Betreff der Gesundheit des freisinnigen politischen Glaubens, als dessen Bekenner und Anwalt ich, so zu sagen, fast buchstäblich mein Leben begonnen habe, und als der ich aller Wahrscheinlichkeit nach es auch enden werde."

Es

hatte einen Augenblick ganz den Anschein, als ob die Kindheits­

und Jugendeindrücke auf der mißhandelten

Heimatsinsel unter

anakreontischen Stimmungen, Reiseerinnerungen und dem lustigen,

fashionablen Leben in den höchsten Kreisen Londons, begraben seien. Da erschien im Jahre 1807 die erste Sammlung von Moore's

„Irischen Melodien", sein Rechtstitel auf die Unsterblichkeit. Alles,

was sein unglückliches Heimatland in den langen Jahren der Schmach gefühlt und gelitten, seine Qualen und Seufzer, sein begeisterter Aufschwung, seine kriegerische Kühnheit, sein Lächeln

unter Thränen, alles schimmert hier zwischen Liedern hervor, die in üdersprudelndem,

halbwehmütigem Leichtsinn

und erotischer

Schwärmerei geschrieben sind. Es war ein Kranz, aus Wehmut, Begeisterung und Zärtlich­ keit geflochten, ein duftender Trauerkranz wie zu Ehren eines

Toten, der hier seinem Vaterlande um die Stirn gewunden wurde.

Nicht als ob der Name Irlands oft oder mit Vorliebe genannt wurde; es kommen überhaupt in diesen Gedichten so wenige Namen als möglich vor — es war nicht unbedenklich, irische Eigennamen

zu nennen.

Doch bald verherrlichte der Sänger seine Geliebte

in solchen Ausdrücken, daß man Erin's Züge unter den ihren

ahnte; bald sprach das liebende Weib mit einer Hoheit, daß man

wohl empfand, es sei kein irdisch Weib gemeint, und die Mystik

des Ausdruckes erhöhte wie in den altchristlichen, allegorischen Gesängen die poeüsche Wirkung.

Was war vorgefallen in dem Zeitraume zwischen dem Ent­ stehen der leichtfertigen Gedichte Moore's und der Konzeption dieser bewunderungswürdigen Poesien?

Es ist eine lange und

Irische Oppoktionspoefie.

204

traurige Geschichte. Sie selbst beantworten jene Frage, indem sie die Antwort verstummen heißen. Sammlung hebt also an:

Schon das vierte Gedicht der

•£), nicht seinen Namen haucht, weckt ihn nicht auf, Wo kalt seinen Staub sie der Erde gesellt,

Trüb, düster und stumm rinnt der Thränen Lauf, Wie aufs Gras ihm zu Häupten der Nachtthau fällt.

Es gab also Einen, dessen Name nicht genannt werden durste,

dessen Gebeine entehrt im Grabe lagen und den schwere, stille Thränen nur im Dunkel der Nacht beweinen dursten. In dem nächstfolgenden Gedichte heißt es wiederum ohne

Nennung eines Namens: Wenn ihm, der dich liebt, nur der Name allein

Geblieben von Schuld und von Leid, Sprich, weinst du, wenn zu beflecken sie dräu'n

Ein Leben, dir einzig geweiht?

Ja, weine!

Wie bitter die Feinde mich schmähen,

Deine Thräne soll reinigen mich.

Denn muß ich mich schuldig vor ihnen gestehen.

Ich war nur zu treu gegen dich!

Daß die von dem Helden Angebetete Irland ist, sieht man auf den ersten Blick; doch wieder ist gleichsanr ein Trauerflor ge­ breitet über ihn, ans dessen Ruf die Feinde einen Schatten warfen, und der, obschon von ihnen für schuldig erklärt, nur allzu treu gegen seine Geliebte war. Man blättere noch etwas weiter in der Sammlung, und man wird auf ein Gedicht stoßen, das sich den eben angeführten eng anschließt, und das in sanften Farben die hinterlassene Braut des

Ungenannten malt: Sie ist fern von des Heldenjünglings Grab, Und Freier sie schmachtend umgeben,

Doch sie schweiget und weinet und wendet sich ab, Denn im Grab liegt ihr Herz und ihr Leben.

Sie singt aus der Heimat manch' wilden Gesang, Jede Weise, die hold ihm geklungen;

Ach, wenig bedenkt, wer da lauschet dem Klang,

Daß der Sängerin Herze gesprungen.

Irische Oppositionspoesie.

205

Er lebte der Liebsten, er starb für sein Land, Sie waren ihm Sterne des Lebens. Kein Auge im Land ohne Thränen stand. Und nicht harrt er der Liebsten vergebens. Wo den Hügel am letzten der Sonnenstrahl küßt, Da sollt ihr zur Erde sie betten, Daß ein Lächeln aus West ihr den Scklunnner versüßt, Wie ein Gruß von den heinrischen Stätten. Der Leser hat bereits geahnt, daß der junge Held, um

den so rührende Klagetöne erschallen, niemand anderes ist als Moore's ehemaliger Universitätsfreund Robert Emmet.

Es unter­

liegt keinem Zweifel, daß sein Schicksal Moore zu den herrlichsten

Während

Freiheitsgedichten seiner irischen Melodien begeisterte.

der ältere Emmet infolge der Revolution von 1798 auf dem Fort St. Georges gefangen gehalten und sodann

des Landes

verwiesen wurde, war es Robert gelungen, sich der Verhaftung

zu entziehen; er gebrauchte seine Freiheit hinfort ausschließlich

im Dienste der Sache, die seinen Bruder ins Unglück gebracht» und

der

er

selbst sein Leben geweiht hatte.

1802 reiste er

nach Paris und hatte dort eine Zusammenkunft mit dem ersten

Konsul, der ihm übrigens den Eindruck machte, „sich nicht mehr um Irland als um die Republik und die Freiheit zu bekümmern,"

ferner mehrere Unterredungen mit Talleyrand, dessen Wesen ihm ebensowenig zusagte.

Auf Grund der mit ihnen getroffenen Ver­ einer

irischen Republik,

gestützt auf die Allianz mit der französischen.

Es war in dem

einbarungen plante er

die Errichtung

Augenblicke, wo das durch den Frieden von Amiens für eine Weile

hergestellte

England wieder

gute Einvernehmen zwischen Frankreich und in die Brüche zu

gehen drohte.

Bonaparte

scheint eine kurze Zeit ernstlich an eine Landung in Irland ge­

dacht zu haben — noch auf St. Helena bedauerte er ja, nicht

nach

Irland

statt nach

Ägypten gegangen

zu

sein.

Emmet

kehrte nach seiner Geburtsinsel mit dem bestimmten Versprechen

zurück, daß die Landung des französischen Heeres im August 1803

stattfinden

solle.

Mit rastloser Kühnheit brachte er abermals

eine über ganz Irland sich erstreckende Verschwörung zustande. Seiner Überzeugung nach war die Revolution von 1798 gescheitert, weil es ihr an einer Grundlage für ihr Wirken in der Hauptstadt

gefehlt habe.

Ihm kam es vor allem darauf an, sich Dublins,

besonders des Schlosses zu bemächtigen, dessen Thore vom Morgen bis Abend offen standen.

bereitungen zum Aufstand.

Tag und Nacht überwachte er die Vor­

Eine Menge von Häusern wurde in

den verschiedenen Stadtvierteln von Dublin gemietet, wo ununter­ brochen Waffen, Kugeln und Pulver fabriziert wurden.

Er selbst

hatte beständig einen kleinen Stab von fünfzehn Personen um sich, fast

sämtlich Männer aus dem Volke,

die unter seiner Auf­

sicht arbeiteten, und die kurze Ruhe, die er sich gönnte, genoß er,

auf

eine Matratze

hingestreckt,

in einem der Pulvermagazine.

Wiewohl mehr als tausend Personen in die Verschwörung ein­

geweiht waren, fand sich doch kein Verräter unter ihnen, und die blutdürstige Obrigkeit hatte nicht die entfernteste Ahnung von dem,

was sich vorbereitete.

Emmet's Vermögen wurde gänzlich durch

die Einkäufe erschöpft, allein die Arbeiter, die ihm dienten, nahmen keine Bezahlung für ihre Leistungen an; „sie arbeiteten," sagte

einer derselben, den der Verfasser des Buches United Irishmen als Greis traf, „nicht für Geld, sondern um der Sache willen."

Sie hatten großes Vertrauen zu Robert Emmet, sie hätten „ihr

Leben für ihn lassen mögen."

Da trat im Monat Juli ein

nicht vorherzusehender Zufall ein: eines der Pulvermagazine flog in die Luft und tötete zwei Männer, von

Robert Emmet's Armen verschied.

denen der eine in

Den nächsten Tag gab ein pro­

testantisches Blatt der Regierung davon Kunde, daß sie auf einer Mine schlafe.

Man mußte, unfertig wie man war und ohne die

Ankunft der Franzosen abzuwarten, losschlagen, wollte man sich

nicht der Vernichtung ohne Kampf aussetzen.

Den 23. Juli war

Irische Kppositionspoefle.

207

ein mannhafter Aufruf an die Bevölkerung Irlands, von Robert Emmet selbst verfaßt, an allen Straßenecken von Dublin ange­

schlagen, doch als der Abend kam und er an der Spitze einer kleinen Schar die Überrumpelung des Schlosses versuchte, da mußte er mit Bitterkeit erfahren, wie unzuverlässig

seine Landsleute in

einem gefahrvollen, entscheidenden Augenblicke waren.

Je näher

man dem Schlosse kam, desto schüchterner wurde die Schar um

ihn her, und als man vor dessen Thoren stand, da war kaum eine Handvoll Getreuer übrig und jede Hoffnung eines glücklichen Ausganges dem nunmehr wachsamen» wohlbewaffneten Feinde gegen­

über erloschen.

Es gelang den Führern in der ersten Verwirrung

in die Schluchten von Wicklow zu entkommen, und hier versammelten

sie sich schon am nächsten Tage in einem abgelegenen Thale, um Rat zu halten.

Die meisten waren überzeugt, daß noch nichts

verloren sei; ein Signal — und Irland würde sich wie ein Mann erheben u. s. w., Robert Emmet allein wiegte sich nicht weiter in Illusionen und bewies seinen Freunden mit aller Klarheit, daß ein fortgesetztes Streben in diesem Augenblicke und mit Kämpfern,

wie die undisziplinierten Aufrührer sie ihnen boten, nur neues Blutvergießen über die schon so hartgeprüfte Bevölkerung des Landes

heraufbeschwören würde. In dem Augenblicke, wo man sich trennte,

forderte man Emmet von allen Seiten auf, zu entfliehen; die einzige Gelegenheit hierzu bot sich in ein paar Fischerkähnen,

die den Aufftändischen gehörten.

Da erklärte Robert Emmet mit

einiger Verlegenheit, er müsse durchaus noch einmal nach Dublin, um Abschied von einer Person zu nehmen, die ihm so teuer sei,

daß er ohne ein nochmaliges Wiedersehen unmöglich Irland für mehrere Jahre verlassen könne.

„Er müsse sie sehen, und sollte

er tausendmal dafür sterben."

Die Soldaten suchten ihn überall; seine treue Haushälterin,

ein junges mutiges Mädchen, wurde vergebens am ganzen Leibe mit Bajonettstichen verwundet und dem „halb Hängen" unterzogen,

Irische Oppofilionspoefie.

sie wollte über seinen Aufenthalt nichts verraten.

Endlich fand

man ihn, lähmte jeden Fluchtversuch durch einen Pistolenschuß in

die Schulter und verhaftete ihn.

Als der Major, der sich seiner

bemächtigte, sich wegen des Schusses entschuldigen wollte, ant­

wortete er kurz, daß im Kriege alles gestattet sei (all is fair in war). Ein paar Tage nach seiner Verhaftung schrieb Robert Emmet einen Brief an das junge Mädchen,

Leben aufs Spiel gesetzt hatte.

um dessentwillen er sein

Es war Miß Sarah Curran, die

Tochter des berühmten Advokaten, besten Name so

häufig in

Byron's Poesien porkommt, des unverdrossenen, begeisterten, beredten

Verteidigers der irischen ^Angeklagten von 1798, eines der an­

gesehensten, anerkanntesten Männer des Landes.

In seinem Hause

hatte Robert Emmet in ftüher Jugend viel verkehrt, als aber

Curran sein und der Tochter warmes Interesse für einander bemerkte und befürchtete, daß Emmet's politische Richtung seine Zukunft zer­

stören würde, hatte er die beiden jungen Leute getrennt, und der Briefwechsel, den sie beständig unterhielten, war hinter seinem

Rücken geführt worden.

Der Gefängniswärter, der sich eine große

Summe dafür zahlen ließ, Emmet's Brief an die Adresiatin zu be­

fördern, übergab denselben sofort dem Staatsanwalt.

In seiner

Angst, sie, die er liebte, bloßgestellt zu haben, schrieb Emmet augenblicklich an seine Richter, und da er wußte, welche Furcht

man vor seiner Beredsamkeit hegte,

erbot er sich, vor Gericht

sich selbst schuldig zu bekennen, ja kein Wort zu seiner Verteidigung zu sagen, wenn man dafür unterlassen wollte, seine Briefe an

Fräulein Curran in den Prozeß mit einzubeziehen.

Vergebens,

den nächsten Tag schon unterrichtete eine Haussuchung den er­ zürnten Curran von dem intimen Berhältniffe, das zwischen Emmet und seiner Tochter bestand.

Über dm Ausgang der Sache selbst

konnte kein Zweifel herrschen; der Angeklagte kannte sein Schicksal.

Als der Direktor des Gefängnisses ihn eines Tages beim Flechten einer Haarlocke überraschte, die Miß Cnrran ihm geschenkt hatte,

blickte er auf und sagte:

„Ich flechte sie, damit ich sie auf dem

Schafott bei mir haben kann."

Auf seinem Tische fand man eine

äußerst sorgfältig ausgeführte Federzeichnung, sein Selbstbildnis,

überraschend ähnlich, den Kopf vom Rumpfe getrennt, den Körper

neben dem Haupte hingestreckt.

Der Prozeß begann um 10 Uhr morgens.

Staatsanwalt in seiner Rede versichert hatte,

Nachdem der daß diese Ver­

schwörung keine andere Wirkung gehabt habe, als die Liebe Ir­ lands zu seinem Könige um so voller zum Ausdruck kommen zu lassen, erbat sich Robert Emmet, als Entgegnung einzig den

folgenden Paragraphen der von ihm verfaßten Kundgebung der provisorischen Regierung verlesen zur dürfen: „Bon nun an ist die

Strafe des Peitschens und die Anwendung der Tortur auf Irlands

Boden verboten und darf unter keinem Vorwande wieder eingeführt

Darauf folgte die Rede eines widerwärtigen irischen

werden."

Renegaten,

des ehemaligen Mitgliedes der Jnsurrektionspartei,

Lord Plunket, der als öffentlicher Ankläger Emmet mit Hohn überschüttete.

Nun erhob dieser sich und hielt, den sicheren nahen

Tod vor Augen, eine Verteidigungsrede, die heute noch jeder Ir­

länder kennt.

Er sagte, wenn er nach seiner Schuldigerklärung

allein den Tod zu erleiden hätte, so würde er die Aufmerksamkeit der Anwesenden nicht ermüdet haben.

Doch das Urteil, das seinen

Körper dem Henkerbeil überliefere, würde seinen Namen zugleich dem Tadel der öffentlichen Meinung ausliefern, und deshalb wolle er sprechen.

gegnete

.Auf die tobende Unterbrechung des Richters ent­

er mit vollkommener Ruhe: „Ich habe sagen gehört,

Mylord, daß die Richter es zuweilen als ihre Pflicht erachten, mit

Geduld anzuhören und mit Humanität zu sprechen" — und setzte

dann seine Rede mit so lauter Stimme fort, daß man sie deutlich an den Außenthüren des Gerichtssaales vernahm» ohne daß jedoch

das geringste Übertriebene oder Deklamatorische in seinem Vortrage

hervorgetreten wäre. Seine Stimme war im Gegenteil, wie Madden, Brande-, Litteratur de- 19. Jahrh. IV.

14

der ihn hörte, sagt, mit der größten Feinheit moduliert, er schritt

mit gewissen, ihm eigentümlichen Bewegungen, die eine besondere An­

mut besaßen, an die Schranken vor und wieder zurück. Noch dreißig Jahre nachher sprechen die Zeugen dieser eindringlichen Beredsamkeit

nicht ohne Gemütsbewegung von der Grazie und der Hoheit, mit

Ein Korrespondent der „Times,"

denen er seinen Richtern trotzte. der

den Aufstand selbst unbedingt verdammt,

sagt

in

seinem

Briefe über Emmet: „Aber das muß ich gestehen, er war groß bei allen seinen Verirrungen.

Als er am Tage des Prozesses

in dem Augenblicke, wo das Grab sich öffnete, ihn zu empfangen,

selbst die Mauern des Gerichts durch die Energie und und den Glanz

seiner Beredsamkeit

erschütterte, sah ich jene Schlange,

die sein Vater an seinem Busen genährt hatte (Lord Plunket),

unter seinem Blicke erzittern und jenen Auswurf der Menschheit, der ihn verurteilte (Lord Norbury), auf seinem Stuhl erbleichen

und erbeben." Emmet schloß mit den folgenden Worten:

harren ungeduldig Ihres Opfers.

„Mylords!

Sie

Alle die Schrecken, womit

Sie mich umgeben, haben das Blut in meinen Adern, nach dem Sie so gierig trachten, nicht zu erstarren vermocht, und in wenigen

Stunden wird es zum Himmel um Rache schreien.

Doch Geduld!

Ich habe nur noch wenige Worte zu sagen, ich gehe in mein

kaltes, stummes Grab, meine Lebenslampe ist fast schon erloschen.

Ich habe um meines Landes willm mich von allem getrennt, was mir in diesem Leben teuer war, von dem Abgott.meiner Seele, dem Gegenstand meiner Gefühle.

Meine Bahn ist zu Ende; das

Grab öffnet sich, mich zu empfangen, und ich sinke in feinen Schoß.

Ich habe ein einziges Begehren zu stellen bei meinem Abschiede aus dieser Welt: daß sie mir die milde Gabe des Schweigens gönne.

Möge niemand meine Grabschrist schreiben;

denn da

niemand, der meine Beweggründe kennt, sie jetzt zu verteidigen

wagt, so laßt nicht Vorurteil oder Unwissenheit sie anschwärzen.

Laßt sie in Dunkel und Frieden ruhen! in Vergessenheit sinken

Möge mein Andenken

und mein Grab ohne Inschrift bleiben,

bis andere Zeiten und andere Männer meinem Charakter Ge­

Wenn mein Volk seinen

rechtigkeit widerfahren lassen können.

Platz unter den Nationen einnimmt, dann und nicht früher werde

meine Grabschrift geschrieben.

Ich bin zu Ende."

Das Urteil wurde gefällt und lautete dahin, daß Robert Emmei noch in derselben Nacht um 1 Uhr gehängt und dann ent­ hauptet werden solle.

Es war gegen 11 Uhr, als er in sein

Gefängnis zurückgeführt wurde.

Er hielt auf dem Wege vor

einem Zellengitter, hinter welchem einer seiner Freunde saß, an und fegte ihm: „Ich soll morgen gehängt werden." ihm »ährend der letzten Stunden keine Ruhe.

Man gönnte

Man fuhr ihn zehn

englische Meilen aufs Land hinaus, aus Furcht, er möchte mit

Erst da befreite ihn ein

Gewalt dem Kerker entrissen werden.

menschenfteundlicher Gefangenwärter von dm Eisen, die man ihm

mit solcher Roheit angelegt hatte, daß ihm das Blut aus den ver­ stümmelten Gliedern quoll, und derselbe Mann gab ihm etwas zu efsm; denn seit 10 Uhr morgens, wo der Prozeß begann, hatte er keine Nahrung erhalten.

Darauf sank er in einen kurzen liefen

Schlaf, erwachte und benutzte die wenigen Augenblicke, die ihm übrig blieben, um Briefe zu schreiben, einen an feinen Bruder in

Ameröa, einen an den Bruder von Miß Curran und einen an sie

selbst, als er von einen Freunde unterbrochen wurde, der ihn

zum lchten Male zu sehen wünschte.

Roberts erste Worte an ihn

waren, wie es seiner Mutter gehe, und der Freund mußte ihm

tief geieugt die Mitteilung machen, daß sie vor zwei Tagen aus Gräm gestorbm sei.

Mit Ruhe hatte sie um Irlands willen den

einen ihrer Söhne verbannt gesehen, mit Festigkeit hatte sie Robert stets ottf seinem Wege ermuntert, doch als sie den Sohn, den

Stolz ihres Lebens, noch nicht 23 Jahre alt einem so furchtbaren

Tode geweiht sah, brach ihr das Herz.

Robert empfing die Nach-

14*

richt mit Fassung und erwiderte: „Es ist besser so.”

In dem

Briefe an den jungen Curran schreibt er: „Ich habe nie um

meiner selbst willen Ehren und Würden gewünscht; ich würde mich um niemandes Lob gekümmert habm, doch hätte ich in Sarahs strahlendem Antlitz lesen zu könneu gewünscht, daß ihr Gatte ge­

achtet sei.”

Seine Handschrift in diesem Briefe ist so fest und

regelmäßig wie immer. geholt.

Um 1 Uhr wurde er zum Schafott ab­

So groß war die Herrschaft, welche die Milde und Anmut

seines Wesens über alle rohen Naturen ausübte, daß einer der Gefangenwärter, als Emmet, von den Sheriffs geführt und von

dem Henker gefolgt, aus dem Kerker schritt, ihm unter strömenden Thränen Lebewohl sagte; der Gefangene, dessen Arme gebunden

waren, beugte sich und küßte den Mann auf die Wange, und dieser Mann, der sich in zwanzigjährigem Dienste gehärtet hatte und

an Kerkrszenen gewöhnt war, brach bewußtlos vor ihm zusammen. Am Fuße des Schafotts gab Robert Emmet einem seiner Freunde

den Brief, bett er an Fräulein Curran geschrieben hatte, allein der Freund wurde verhaftet, und der Brief gelangte niemals an seine Adresse.

Emmet nahm selbst sein Halstuch ab und half den

Strick um seinen Hals legen.

Der Henker zeigte das Haupt dem

Volke und rief mit lauter Stimme: Dies ist der Kopf Robert Em-

met's, eines Hochverräters. — Kein Laut wurde als Antwort hörbar.

Am nächsten Tage stand in dem Regierungsblatte London Chronicle: Er war bis zum letzten Atemzuge derselbe, als der er

sich bei der gestrigen Gerichtsverhandlung gezeigt hatte; er legte dieselbe Mischung vornehmer Nachlässigkeit und Frechheit an dm

Tag und schien der furchtbaren Umstände zu spotten, unter denen er sich befand.

Nichts konnte weniger der Geläffenheit des wahren

Christm gleichen. Grundsätzen!

Gott bewahre uns vor Sotten mit solchen

Nichtsdestowmiger haben wir nie einen Menschm

sterben sehen, der wie er starb . . . Er war ein entschieden Un­

gläubiger, und zu dem Geistlichm, der ihm das Geleite gab, sagte

er: „Ich danke Ihnen für die Mühe, die Sie sich geben, aber

sie ist unnütz.

Meine Ansichten über diesen Punkt sind schon seit

lange äußerst bestimmt, und dies ist kein Augenblick, wo ich sie

ändern kann."

So sprach die offizielle Presse; das unterdrückte Irland schwieg an

dem Schafotte seines dreiundzwanzigjährigen Lieblings, und

seinem Geheiße treu setzte es keine Inschrift auf sein Grab. Als jedoch Moore's „IrischeMelodien" erschienen, hörte man mit

einem Male den Schmerz und die Entrüstung eines ganzen Volkes

in diesen Liedern steigen und sinken, flüstern und grollen, klagen

und murmeln wie MeereSwogen und mit der unwiderstehlichen Gewalt eines Naturelementes!

keinen Bauer in Irland,

Es gab bald und giebt noch heute

dem nicht das Lied When he who

adores thee bekannt wäre. In Amerika wird Robert Emmet's letzte Rede noch heutigen Tages in den Schulen gelesen.

Sie ist das

Evangelium des Freiheitsstrebens in Irland. Doch seltsam, Robert Emmet's heldenmütiger Tod machte ihn nicht so berühmt unter

seinen Landsleuten, wie seine rührende Liebesgeschichte.

Seine

Braut galt dem irischen Volke als die Witwe des Helden und war der Gegenstand stiller Ehrfurcht.

Ihr Unglück wurde noch

dadurch erhöht, daß sie in einem englisch gesinnten Kreise lebte, der Robert Emmet zwar beklagte, doch sein Schicksal als ein ver­ dientes erachtete.

Einige Jahre nach dem Tode Emmet's lernte

sie einen englischen Offizier, Kapitän Sturgeon, kennen, der, von ihrer verlassenen Stellung unter Fremden gerührt und von ihrem

Liebreiz gefesselt, ihr seine Hand bot. nahm sie seinen Antrag an.

Nach längerer Weigerung

Er wollte, ihrer zerrütteten Gesundheit

wegen, sich in Italien mit ihr niederlasien.

Ihr Aussehen war,

sagt Admiral Napier, der sie in Neapel sah, das „einer wandelnden

Statue."

Sie starb wenige Jahre darauf in Sizilien, „fern von

dem Lande, wo ihr junger Held schläft."

Washington Irving hat

sie in seiner schönen Skizze „Das gebrochene Herz" in The aketch

book geschildert.

Allein ihr schönstes Denkmal ist das Lied: She

is far from the land, where her young hero sleeps.1

Indes ist das Unglück des Einzelnen in den „Irischen Melodien" ja nur ein Sinnbild für das des ganzen Volkes, eine Personifikation

des allgemeinen Schmerzes.

Lieder kommen vor, aus beiten es wie

Klagen und Jammern aller Söhne und Töchter Irlands über den traurigen Ausgang der großen französischen Revolution und das Scheitern der Hoffnungen klingt, die alle Völker, dies Volk jedoch

vor allen anderen, auf den Bestand und den Sieg der Republik gesetzt

hatten.

Ein derartiges Lied ist das rührende ’Tis gone, and for

ever, the light we saw breaking mit seiner wilden Klage, daß

jener erste Freiheitsstrahl, den die Menschheit segnete, wieder ver­ schwunden sei und bei seinem Verschwinden die Nacht der Knecht­

schaft und der Trauer gleichsam tiefer und finsterer, als sie ge­ wesen, gemacht habe, doch am tiefsten, am finstersten für Erin. Zum höchsten, edelsten Fluge schwingt Moore sich in einer Strophe

wie die folgende auf: Hoch schwang sich dein Hoffen, als rings durch die Lande Ausblitzten die Strahlen aus Wolken so schwer,

Als zornig die Wahrheit zerriß ihre Bande

Und ihr Banner, wie Sonnenblick, flammte daher! O hehrer Moment, nie wieder errungen! Wenn damals ein Hymnus der Freiheit die Zungen Der Böller vereinte, wie süß wär' erklungen

Sein jubelndster Laut, o mein Erin, von dir!

Das

Gedicht

schließt

mit

Verwünschungen

gegen

das

leicht­

fertige Geschlecht, das, der Segnungen der Wahrheit unwürdig, furiengleich an des Todes rauchendem Altare die junge Hoffnung der Freiheit liebkoste und sie in Blut taufte.

Andere Gedichte sind

drohender, wenn auch die Drohung überall poetisch und versteckt ist.

Man lese z. B. das Lied Lay his sword by his side: 1 Madden: United Irishmen. — Robert Emmet (Anonym, doch von

. Frau d'Haufsonville verfaßt).

215

Irische Gpposltionspoelle. Nun legt ihm zur Seite das tapfere Schwert, Zu ruh'n bei des Schlummernden Pfühl!

Getreu bis zuletzt nach dem Feinde gekehrt

Blieb's, eh' seiner Hand es entfiel. Die im Leben Genoffen im Ruhmeskranz, Laßt ruh'n sie, den Freund zu dem Freunde gesellt. —

Dies Schwert in der Scheide noch schnejdig und ganz. Und frei noch im Grabe der Held. Doch horch!

Was tönet so leise empor.

Als wollt' es dem Grabe entflieh'n. Wie ein Echo der Stimme, die Knechten ins Ohr

Den Kriegsruf „Freiheit" geschrien? Es ruft aus der dunkeln Tiefe uns zu:

„Ob hernieder in's Grab der Führer auch stieg, O bettet sein Schwert nicht in schimpfliche Ruh',

Noch verheißt es ja Leben und Sieg! Will je dich berühren verächtliche Hand, Dann hafte, du tapfere Wehr,

Wie ein Talisman fest in die Scheide gebannt, Und zum freien Gebieter komm her!

Doch faßt eine Hand dich, die helhenbewährt

Dein Leuchten gesehen im Schlachtengraus, Wie flammender Blitz dann, o fliege mein Schwert

—.Wenn Freiheit dich ruft — aus der Scheide heraus!"

Das Gedicht, welches sich direkt gegen den Prinzregenten richtet, ist von allen das strengste, hochsinnigste.

Er ist wohl,

nicht darin genannt, allein man versteht das Gedicht erst, wenn

man weiß, daß er gemeint ist.

Es ist der Gesang: When first

I met thee, warm and young.

Erin spricht hier als Weib,

sie schildert ihren arglosen Glauben an den jungen Königssohn» ihr Vertrauen zu den Versprechungen, die er ihr im Feuer der Jugend geleistet hat, ihr Festhalten an dem Glauben, selbst als

sie die Wandlung, die mit ihm vorging, sah.

Sie wollte, selbst

als sie von seinen Fehlern vernahm, in ihnen einen Schimmer künftigen Ruhmes entdecken — nun aber, da der Reiz der Jugend

dahin und keine der Vorzüge des reiferen Alters an seine Stelle

getreten, da sie, die einst ihn liebten, ihn scheuen, und selbst seine Schmeichler

ihn verachten,

nun möchte Erin nicht eine ihrer

lauteren Thränen für all seine schuldbeladene Pracht dahingeben.

Doch eine Zeit wird kommen, wo selbst die letzten Freunde ihn verlassen und er vergebens die Hände nach ihr, die er für ewig

verloren, ausstrecken tbird.

Dann wird sie sprechen:

Geh! Schmähn wär' Schwäche hier.

Zu fluchen dir, veracht' ich; Haß wünscht nichts Schlimmres dir.

Als Schuld und Schmach gemacht dich?

Wordsworth schrieb Liebeserklärungen an England, da eS siegreich und groß war.

Scott besang Schottland zu einer Zeit,

da das Land begonnen hatte, in glücklichem Aufblühen seinen Platz neben dem Schwesterreiche zu behaupten. Moore aber sandte

seine heißen Lieder einem Lande zu, das gedemütigt und blutend zu Füßen seiner Henker lag.

Er sagt in dem Gedichte Re-

member thee: Dein Denken!

Ja, wie du verloren auch bist,

DieS Herz doch dich nimmer und nimmer vergißt.

Mehr gilt mir dein Trauern, dein Leben, dein Leid

Als die übrige Welt in der sonnigsten Zeit. Und stündest du blühend und mächtig und hehr.

Die Blume der Länder, die Perle vom Meer, Mit stolzerem Herzen wohl pries' ich dich hoch, Doch könnt ich dich lieben herzinniger noch? Deine klirrenden Ketten, dein strömendes Blut

Macht schmerzlicher Iieb deinen Söhnen ihr Gut — Wie deS Pelikans Brut trinkt Liebe ihr Herz

- Aus dem Born deines Lebens, aus zuckendem Schmerz.

In allen seinen Schöpfungen gedenkt denn auch Moore Ir­

lands.

Seine große morgenländische Dichtung „Lalla Rookh", die

1 Go — go — 'tis vain to curse, 'Tis weakness to upbraid thee, Hase cannot wish thee worse Than guilt and shame have made thee.

1817 erschien, ist nach den gewissenhaftesten Studien ausgeführt: auch nicht ein Gleichnis, eine Beschreibung, ein Nanie, ein Zug aus

der Geschichte, nicht eine Anspielung kommt hier vor, die

etwas innerhalb des Gesichtskreises Europas Liegendes berührte. Alles ohne Ausnahme zeigt die Vertrautheit mit dem Leben und

der Natur des Ostens.

Nichtsdestoweniger flößte der Stoff Moore

erst dann Interesse ein, als er eine Möglichkeit sah, den Kampf

zwischen Feueranbetern und Muhamedanern zum Vorwande zu benutzen, um Toleranz im Sinne der Lehre zu predigen, die er seinen Landsleuten in dem Gedichte der irischen Melodien Come,

send round the wine gegeben hatte.

Auch das Interesse des

Lesers wird erst in dem Augenblick rege, wo er Irland und Ir­

länder hinter diesen Ghebern mit ihrem fremdländischen Kostüme ahnt.

The fire-worshippers sind daher auch die einzige völlig

gelungene Partie der Dichtung.

Selbst die Namen Iran und

Erin fließen allmählich dem Ohre des Lesers ineinander über.

Moore sagt selbst, daß der Geist, der sich in den irischen Melo­

diken ausgesprochen hatte, sich im Osten erst, als er zu den Feuer­ anbetern kam, heimisch fühlte, und wirklich scheint dieses schöne Gedicht, dessen Held ein edler und unglücklicher Empörer ist und

dessen Heldin in einem Kreise lebt, in dem sie stets mit Abscheu von ihm sprechen hört, geradezu von dem Andenken an Robert

Emmet und Sarah Curran inspiriert zu sein.

Es herrscht in

vielen Einzelheiten eine Ähnlichkeit: Hafed ist, kurz bevor er die Ghebern zur Empörung aufruft, landflüchtig in der Fremde um­

hergeirrt; Hinda muß in ihrer Herzensangst um Hafed täglich von

dem Blutbade

hören,

das

unter den Aufrührern (rebel

carnage) angerichtet wird. Und als Hinda, aus Leid über Hafed's Tod auf dem Scheiterhaufen, sich selbst den Tod giebt, stimmt der

Dichter an ihrer Leiche einen Gesang an, von welchem ganze Strophen, wenn nur der Name Iran durch Erin ersetzt wird, dem

Gedichte She is far from the land eingefügt werden könnten,

ohne daß man ein fremdes Element herausfühlen würde.

So

heißt es z. B.:

Nor sball Iran, belov’d of her Nero, sorget thee — Though tyranta watch over her tears as they start, Close, close by the side of that Nero she’ll set thee Embalm’d in the innermost shrine of her heart.

Ja, so weit geht die Ähnlichkeit zwischen der Stimmung der irischen Melodien und jener, welche in dieser asiatischen Epopöe herrscht,

daß einige Zeilen der letzteren unverändert als Motto für die

Sammlung aller den irischen Aufstand betreffenden Schriftstücke gebraucht werben konnten, die in den siebziger Jahren unter dem Titel Rebellion book and black history erschien?

Es war Moore's polemische Stellung als Irländer, die es

ihm unmöglich machte, die hohe Politik in dem Lichte zu sehen,

in dem sie der Seeschule und Scott erschien.

Er ließ einen Hagel

von Witzpfeilen auf die heilige Allianz niederschauern.

In den

Lord Byron zugeeigneten Faheln, die er dem frommen Fürsten­

bunde widmete, treibt er mit liebenswürdiger Keckheit seinen Spott mit

der

europäischen Reaktion.

Ihm

träumt z. B.,

daß der

Zar Alexander einen prachtvollen Ball in einem Eispalaste giebt,

den er (wie einst die Kaiserin Anna) auf der Newa hat aufführen lasten, und daß alle „die heiligen Gentlemen", die so zärtliche Be­ sorgnis für das Wohl Europas auf den großen Kongreffen bekunden,

dahin geladen sind, um zu untersuchen, wie man es anzustellen habe, daß der Strom des menschlichen Bewußtseins sich in derselben Weise

wie der Fluß staue und zu Eis erstarre, so daß er imstande ist, die schwersten Könige zu tragen, die Sonett und Ode je gepriesen haben.

* Sie laufen: Rebellion! foul dishonouring word, Whose wrongful blight so oft has stain’d The holiest cause that tonguc or sword Of mortal ever lost or gain’d.

Frau von Krüdener hat ihr Prophetenwort darauf verpfändet,

daß keine Gefahr dabei sei und der Frost ewig dauern werde. Da beginnt plötzlich von allen Decken und Wänden ein unheil­ verkündendes Tröpfeln.

Der Zar tanzt zwar noch seine Polonaise,

doch er hat alle Mühe, sich auf den Beinen zn halten; Preußen,

wiewohl der schlüpfrigen Wege gewohnt, ist nahe daran zu purzeln; kaum aber hebt der spanische Fandango an, als ein glühender Sonnenaufgang seine Flammenstrahlen durch den Palast sendet. Man rettet sich unter einem allgemeinen sauve qui peut.

Aber

alle die Dekorationen in Eis, die Doppeladler, die königlichen

Wappen, die dmtschen Raubvögel und französischen Lilien, alles

schmilzt und löst sich in Wasser auf. — Warum, fragt Moore,

wollen denn aber auch die Fürsten ihre Kapriolen in Palästen ohne Fundament machen? — Er hat, wie man sieht, sanguinische

Hoffnungen auf die damals eben ausgebrochene spanische Revo­ lution gesetzt. In einer anderen Fabel erzählt er von einem Lande, wo ein

lächerliches Verbot gegen die Einführung von Spiegelglas existierte.

Aus welchem Grunde?

Weil dort die Königsfamilie kraft ihrer

außerordentlichen Schönheit regierte, gleichwie das Volk gehorchte,

weil es ein Dogma war, daß es häßlich sei.' Die Nase der Majestät nicht schön zu finden, war Hochverrat, seinen Nachbar schöner zu finden, als Leute in gewissen hohen Stellungen, gar

sehr verbrecherisch, und da man keine Spiegel hatte, kannte man

sich selbst nicht.

Da

sorgen einige verruchte Radikale (svme

wicked Radicals) dafür, daß an der Küste ein mit Spiegeln be­

ladenes Schiff strandet — und man begreift die Folgen.

In

einer dritten Fabel kehrt er zu seinem alten Symbol der Feuer­

anbeter zurück; allein minder tolerant als in „Lalla Rookh" läßt er diese, als man ein Korps von Lichtauslöschern anstellt, um sie an der friedlichen Ausübung ihres Kultes zu hindern, zur

Abwechslung einmal kurzen Prozeß mit den Auslöschern machen

und sie kopfüber in das Feuer werfen, das sie nicht ruhig wollten

brennen lassen. Movre's satirisch-humoristisches Hauptwerk The Fudge family

in Paris, in dem es von Witzen über das bourbonische Regiment sprudelt, kehrt sich zugleich mit mutigem Pathos gegen England. Es heißt hier: „Während tapfere Herzen und wahrheitsliebende

Geister nun allerwegen Verächtlichen und Wenigen zum Opfer fallen, ist England der allgemeine Feind der Wahrheit und Frei­ heit, wo immer deren Flammen lodern, und überall zuerst als

Helfershelfer der Tyrannen zur Hand, wenn sie loSschlagen."

Und

England wird daran gemahnt, daß von. allen Seiten Verwün­

schungen aufsteigm gegen die Herrschsucht und den selbstischen Hoch­ mut, mit dem es stets nur den eigenen Vorteil wahrt und alles

fremde Recht mit Füßen tritt.

Man lese besonders den vierten und

siebenten Brief mit ihren Spöttereien über die Trägheit und Feist­

heit des Prinzregenten und den furchtbaren Ausfällen gegen Castlereagh, der. „die Verkörperung all der Fäulnis und des Gestanks der Verwesung" genannt wird, womit Irland England beschenkte,

wie die erschlagene Leiche Pest emporsendet zu ihrem Mörder. Hier finden sich

auch die rücksichtslosesten Ausfälle gegen die

alliierten Könige, „diese Bande von Vampyren, die dem schlum­

mernden Europa das Blut aussaugen." Dies klingt gar grimm, gar schauerlich, der Abstand von dem älterm Dichtergeschlecht ist unverkennbar, von hier zu Shelley und

Byron scheint nur ein kleiner Schritt zu sein.

In Wirklichkeit

aber ist dieser Schritt sehr groß, sind alle diese Ausfälle so ernst nichts wie sie sich ausnehmen, gemeint.

Es war kein irischer Home-

Ruler, der hier Irlands Sache verfocht; denn Moore war keines­

wegs für die LoSreißung seiner Geburtsinsel von England, wollte sie nur bester und gerechter regiert wissen.

er

Es war kein

Republikaner, der sich hier so derb gegm die Könige aussprach,

sondern ein aufrichtiger Monarchist, der schlechte Könige von guten

Irische Opposition-poesie. abgelöst zu sehen wünschte.

221

Es war endlich kein Freidenker, der

alle die heftigen Ausfälle gegen die Heuchelei der heiligen Allianz

machte, sondern ein, wenn auch aufgeklärter, so doch aufrichtig gläubiger Katholik, der zwar seine Kinder zu Protestanten erziehen

ließ, doch zugleich ein dickes Buch, Travels of an Irish Gentleman in search of a Religion, zur Verteidigung der Hauptdogmen

der katholischen Lehre schrieb.

Bei all seiner scheinbaren Unge-

buqdenheit hielt Moore sich innerhalb der Grenzen und beobachtete die Rücksichten, die der Kreis, in dem er lebte, ihm auferlegte.

Die Führer der Whigs hatten ihn, so wie er nach London kam, mit offenen Armen empfangen, nnd Moore war und blieb der

erklärte Whigdichter, der in einer langen Reihe von satirischen

und humoristischen Briefen, gereimte Feuilletons könnte man sie

nennen, die Tagesfragen und die parlamentarischen Vorkommnisse mit glänzendem Witz und prächtiger Salonlaune im Geiste der Whigpartei behandelte.

XIII. Moore war von der Natur zu Heiterkeit und Glück, nicht zu einsamem Kampfe veranlagt.

Er war dazu geschaffen, wie die

alten irischm Barden hochgeehrt an hoher Herren Tisch zu sitzen nnd ihnen die Zeit mit Gesang zu verkürzen.

Er trägt in solchem

Grade das Gepräge eines Lieblings des Glückes an sich, daß er oft, wenn er am ernsthastesten ist, halb zu scherzen scheint, hierin das gerade Gegenteil von Byron, der, selbst wenn er scherzt, ernst, ja finster ist.

Moore spielt mit seinem Gegenstände und liebkost ihn,

Byron zergliedert ihn und wendet sich mit Überdruß davon ab. Beide Frennde versenken sich in den Anblick und die Darstellung der äußeren Natur; wenn aber Byron sie betrachtet, so scheint

selbst die Sonne sich unter seinem Blicke zu verfinstern, während Moore bei seiner Borliebe für Rosenrot und Hell in Hell und

Glanz und Schimmer gleichsam „eine Morgensonne, die am Mittag aufgeht," erschafft.

Man erhält denn auch nur ein einseitiges Blld von Moore, wenn man, wie unser Plan es mit sich brachte, ihn vorzugsweise als politischen Dichter studiert.

Er ist zugleich ein Erotiker, und

zwar einer der vorzüglichsten, der musikalischsten, die je gelebt

haben.

Die Musik seiner Berse ist eher voll als fein, doch

liegt ein Zauber in seiner Sprachbehandlung.

Eine lockende,

lodernde Sinnlichkeit, eine glühende Zärtlichkeit haben in seinen

eroüschen Poesien einen Ausdruck gefunden, dessen schmelzender Wohllaut uns wie Töne Rossini's umschmeichelt.

Mögen die

englischen Bewunderer Shelley's, an zartere, den Profanen minder

verständliche Harmonien gewohnt, diese Lieder immerhin allzu süß (oversweet) schelten, erotische Lyrik kann nie erotisch genug sein: dans l’amour trop n’est pas assez.

Moore ist kein Mozart,

aber klingt es nicht fast wie eine Mozart'sche Melodie, wie eine Arie des Helden oder Zerlinens in „Don Juan", wenn er singt:

The young May moon is beaming, love, The glowworm’s lamp is gleaming, love, How sweet to rove Through Morna’s grove, While the drowsy world is dreaming, love!1 Lieder Rossini's und Moore's behalten ihren Wert, selbst wenn die Welt gleichzeitig einen Schubert und einen Shelley besaß.

Nirgends spiegelt die Eigenart der englischen Dichter in diesem Zeitraume sich schärfer ab, als in ihrer Erotik, während zugleich

auch der Naturalismus des ganzen Zeitalters auf diesem Gebiete in seinem ganzen scharfen Gegensatze zu den Überschwänglichkeiten in

den Liebesschilderungen der deutschen und französischen Reaktions­ periode hervortritt.2

Was Byron von seiner schönsten Frauen­

gestalt sagt („Don Juan", Gesang II, Strophe 202}: Sie war Braut der Natur und Kind der Leidenschaft,

und was er über Don Juans und Haidee's Liebe äußert (Don Juan, Gesang IV, Strophe 19): Bei andern ist's ein Opiumtaumel nur.

Frucht der Lektüre oder Jugendwahn. Bei ihnen war es Schicksal und Natur —

das gilt von den erotischen Schilderungen dieses ganzen Zeit­

abschnittes.

Doch nur im „Don Juan" hat Byron eine glück­

liche Liebe gezeichnet.

Seine erotischen Gedichte sind voll Qual,

1 O sieh den Maimond glühen, Lieb, Des Leuchtwurms Flämmchen sprühen, Lieb!

Wie süß im Hain

Schweift sich's zu Zwei'n, Wenn die Welt verträumt ihr Mühen, Lieb! 2 Bergl.: „Die romanttsche Schule in Deutschland," das romantische Ge­

müt, und „Die Reaktion in Frankreich," die Erotik.

Schmerz und Klage.

Das wundervollste derselben, When we

two parted, schluchzt selbst in seinem Rhythmus und drückt all

das Weh der Trennung schon in der Art und Weise aus, wie in der letzten Strophe der Rhythmus behandelt ist.

Eine gewisse

Ruhe der Leidenschaft herrscht noch in den ersten Zeilen:

When we two parted In silence and tears, Half broken hearted To sever for years, Pale grew thy cheek and cold, Colder thy kiss; Truly that hour forctold Sorrow to this.

Als wir uns trennten In Schweigen und Leid, Brechenden Herzens, Für lange Zeit, Bleich war die Wang' und kalt,

Kälter der Kutz — Wahrlich, mein Ahnen galt Bitterem Schluß.

Doch aller Jammer der Liebe spricht aus dem kurzen, stoßweisen

Tonfall dieser Schlußzeilen:

In secret we met — In silence I grieve, That thy heart could sorget, Thy spirit deceive. If I should mect thee After long years, How should I greet thee? — With silence and tears.

Geheim, wie die Lust war,

Geheim ist der Schmerz, Daß falsch deine Brust war, Und treulos dein Herz.

Und säh' ich dich wieder Nach langer Zeit —

Wie sollt' ich dich grüßen? In Schweigen und Leid.

Das eigentümlichste Gebiet der Byron'schen Erotik ist der Liebe Qual. Thomas Campbell hat nicht viele rein erotische Gedichte ge­

schrieben — er zieht die kürzere oder längere Liebesgeschichte in Versen dem persönlichen Ergüsse vor — einige derselben sind jedoch

so zärtlich im Tone, wie die von Moore oder Keats.

Und seit-

samerweise wird er mit den Jahren immer wärmer, zärtlicher, freier in seiner Ausdrucksweise. dichtet er seine verliebteste Lyrik.

Im vorgerückteren Alter gerade Er wendet sich gegen die Be­

hauptung, daß nun die Jahre der unsinnlichen Liebe für ihn ge­ kommen seien; er antwortet mit einer Herausforderung Plato's

selbst in seinem Himmel, ihn bittend, seiner Geliebten ins Auge

zu schauen und dann zu versuchen, platonisch zu empfinden.

Er

singt von der Liebe flüchtigem Wesen, von dem Leid, das der

Geliebten Abwesenheit

bereitet.

Er

dolmetscht

die Qual

des

jungen Mädchens, das hofft und harrt, es werde der Geliebte

sich zum Werben entschließen.

Doch am eigenartigsten ist er als

erotischer Dichter dort, wo er mit einem halb wehmütigem Lächeln

zugesteht, daß sein Herz jünger sei als seine Jahre, wie in den folgenden Versen:

The God lest my heart, at its surly reflections, But came back on pretext of some sweet recollections, And he made me sorget what I ought to remember, That the rose-bud of June cannot bloom in November. Ah! Tom, ’tis all’ o’er with thy gay days — Write psalms, and not songs for the ladies. But time’s been so far from my wisdom enriching, That the longer I live, beauty seams more bewitching, And the only new lore my experience traces, Is to find fresh enchantment in magical faces. How weary is wisdom, how weary! When one sits by a smiling young dearie. Bei Keats ist die Erotik, wie sich nicht anders erwarten ließ,

schweratmig, heiß, sinnlich und in Dust und Tönen schwelgend. Man lese die folgende meisterhafte Strophe:

Lift the laich! ah gently! ah tenderly — sweet! We are dead if that latchet give one little clink! Well done — now those lips, and a flowery seat — The old man may sleep, and the planets may wink; The shut rose shall dream of our love and awake Full-blown, and such warmth for the moming take, The stock-dove shall hatch his soft twin-eggs and coo. While I kiss to the melody, aching all through. Shelley's Erotik ist hypergeistig und hypersinnlich zugleich. Sie erinnert an diejenige Correggio's. Bei Shelley verschmilzt wie

bei Correggio der Ausdruck der höchsten Hingebung mit dem des heftigsten sinnlichen Rausches; was er schildert, ist der erotische Todeskampf.

Man lese z. B. die indische Serenade: O, hebe mich empor!

Ich sterb', ich verschmachte hier! Brande-, Litteratur de- 19. Jahrh. IV.

15

Auf Lippen und Augen laß Deine Küsse regnen mir:

Meine Wang' ist bleich und kalt.

Wildstürmisch pocht die Brust: O schließe fest mein Herz an deins, Wo es brechen wird vor Lust ...

und vergleiche damit den völlig ekstatischen Schluß des Epipsychidion: In eins soll unser warmer Odem schwellen. Vereint sich heben unsres Busens Wellen;

Und vor der Lippen vielberedtem Schweigen Soll sich verfinstert fast die Seele zeigen.

Die zwischen ihnen glüht; und jene Bronnen, Die unsres WesenS tiefstem Schacht entronnen, Die Quellen unsres Lebens, sollen kraus

Erblinken in der Leidenschaft Gebraus,

Wie Bergesquellen in dem Morgenschein, Dann werden wir ein Geist, ein Odem sein

In zweien Körpern . . .

Ein Hoffen in zwei Willen, und Ein Wille, Bedeckt von zweier Seelen Schaltenhülle,

Ein Leben, Ein Tod, Eine Himmelsfreud',

Ein Höllenleid, Eine Unsterblichkeit, Eine Vernichtung! — Weh, der Worte Schwingen,

Auf denen meine Seele wollte dringen

Zur höchsten Höh' der Liebeswelt hinauf, Sie hemmen angstvoll ihren Feuerlauf,

Gelähmt, versengt in Flammentod und Rauche — Ich keuche, stöhne, zittre und verhauche.

Ist Byron's Territorium die Qual des unglücklich oder einsam Liebendm, so ist, wie man sieht, dasjenige Shelley's der Schmerz der glücklichen Liebe, die Selbstvernichtung in der Ekstase der Liebes­

wonne.

Doch gerade weil das erotische Gebiet der beiden großen

Dichter so mg begrenzt ist, hat keiner von ihnen viele erotische

Gedichte geschrieben, wie auch ihr Schaffen nicht auf diesem Felde

seinen Mittelpunkt hat.

Moore hingegen ist, wie der Däne Christian Winther, ein ge­ borener Erotiker. Ihm ist die erotische Phantasie eigen, wie anderen

Dichtern die erotische Leidenschaft.

Er liebt alles, was schön, fein,

erlesen, weich und hell ist um dessen selbst willen,

Folie, eines Gegensatzes hierzu zu bedürfen.

ohne einer

Er läßt sich niemals

auf eine Erzählung mit vielen Vorgängen ein, stellt nie einen gewaltigen Kontrast auf, untergräbt die Stimmungen nie durch tiefes Grübeln. Wurzeln.

Er liebt die Blüten des Baumes, nicht dessen

Die Gegenstände, die ihn fesseln, fesseln auf den ersten

Blick, sie sind schön und blendend, ihr Glanz berückt die Sinne,

sie entzücken das Auge und das Ohr mehr als das Herz; an ihre Stelle treten andere von gleichen Eigenschaften: es ist ein ewiges Flirren und Flimmern.

Schmetterlingsnatur.

Doch alle stark erotischen Dichter haben

Es giebt in dieser Beziehung keinen schlagen­

deren Gegensatz als den zwischen Wordsworth und Moore.

Der

erstere wählt mit Vorbedacht Stoffe, die gering und abstoßend,

ja an sich häßlich sind, um sie mit einer moralischen oder geistigen Schönheit auszustatten, der andere haßt die schmutzigen Einzel­ heiten des Menschenlebens, scheut vor all dessen krassen Wider­

wärtigkeiten zurück und umgeht die Moral mit einem Wieland'schen Lächeln und einem Knix. Muß er notgedrungen das Unschöne mit in den Kauf nehmen, so pflegt er erst einen weichen, glänzenden

Schleier darüber zu breiten.

Man hat seinem Stil die Überladung

mit pomphaften Adjektiven, den Hang, jedes Gefühl in ein Gleichnis

sich verlieren zu lassen, das ewig unruhige Schillern und Glitzern vorgeworfen — man hat denselben im Vergleiche zu Wordsworth's Schreibart gekünstelt genannt.

„Gekünstelt!" ruft einer seiner

irischen Bewunderer aus, „und dies, wiewohl ein jeder sich an

Moore's Gedichten erfreuen kann, während man sich einen neuen Geschmack anschaffen muß, um Wordsworth zu genießen!" Bedarf

es, muß man allerdings fragen, des Studiums und entwickelten Geschmackes, um das Natürliche zu genießen, und nur des haus­

backenen Gefühls, um an künstlicher Schönheit Gefallen zu finden? Wordsworth und Coleridge waren Dichter für eine litterarisch 15*

Erotische Lyrik.

228

gebildete Leserwelt, Moore war ein Dichter für das Volk. sich gegen

ihn

Was

einwenden läßt, ist nur die Konsequenz seiner

natürlichen Begrenzung, Musiker und Kolorist, kein Zeichner zu

sein.

Er ist außer stände, einen ganzen Gegenstand zu zeichnen

oder zu beschreiben, er malt nur besondere Eigenschaften schöner

Gegenstände.

Er verherrlicht ein Erröten, ein Lächeln, den Wohl­

klang einer Stimme ganze Strophen hindurch, er bietet eher ein Schönheitsverzeichnis, als eine schöne Kontur, und nimmt man

Boltaire's alte feine Definition der Liebe: „Stoff der Natur, von der Einbildungskraft mit Stickerei verziert", so findet man in Moore's

erotischen Poesien ost die Stickerei so verschwenderisch und prunkend, daß sie den Stoff kaum hindurchschimmern läßt.

Desungeachtet ist

und bleibt es doch Stoff der Natur. Dabei ist es nur billig hinzuzufügen, daß in den besten, be­

wunderungswürdigsten Gedichten Moore's jener Überschwang von Bildern gänzlich verschwunden ist.

Wo die echte irische Wehmut

seine Seele beherrscht, hat sie allen Flitter hinweggefegt und sich zu unvergänglichem Ausdruck emporgeschwungen.

Take back the

virgin page und insbesondere The last rose of summer sind ebenso einfach im Stil als vollendet im Versmaß.

Gedichten kommen gar keine Gleichnisse vor.

In diesm

Ebensowenig finden

sich irgend welche in dem reizenden Liedchen, das trotz seiner Kürze für Irland die Bedeutung einer Nationalhymne gewonnen

hat, in der schlichten Erzählung von der Jungfrau, die, mit seltenen Edelsteinen geschmückt und noch mehr durch ihre vollendete Schön­

heit gefährdet, ganz Irland sorglos von einem Ende zum anderen durchwandert, ruhig darauf bauend, daß Irlands Söhnen Ehre und Tugmd teurer feien als Frauen und goldene Schätze. (Rich

and rare etc.) Von ihm, der solch ein Lied gedichtet, konnte Byron mit Recht die rühmenden Worte sprechen: Moore's irische Melodien werden mit ihrer Musik auf die Nachwelt kommm, Werben so lange fortleben wie Irland, oder wie Musik und Poesie.

Moore's Leben war ein glückliches.

Er vermählte sich im

Alter von 31 Jahren mit einem schönen, liebenswürdigen Mädchen

(einer Miß Dyke) und lebte in harmonischer Ehe mit seiner treuen

„Bessy".

Seine Verhältnisse waren zwar nicht immer die besten,

doch von dem Augenblicke an, wo sein Ruf allgemein anerkannt

war, warfen seine Schriften ihm ein reiches Erträgnis ad.

Er,

der in seiner Humoreske Oranä dinner of Type & Comp. die

reichen Buchhändler — gleich den Kriegern der Sagenzeit, die Met aus den Schädeln ihrer Feinde tranken — ihren Wein

aus

den Hirnschalen armer Schriftsteller schlürfen ließ,

persönlich keinen Grund über seinen Verleger zu klagen.

hatte

Letzterer

bot ihm z. B. 3000 Pfund für „Lalla Rookh", bevor er noch eine Zeile des Gedichtes gesehen hatte, und zahlte ihm 4200 Pfund für

seine vortreffliche Biographie Byron's.

Moore wurde gleich sehr

von Irländern wie von Engländern gefeiert.

Man gab ihm 1818

in Dublin ein Festmahl, bei dem ihm alles huldigte, was sich nur

in Litteratur und Politik auszeichnete, und als er 1822 nach

Paris kam, veranstaltete dort ihm zu Ehren der britische Adel ein Bankett.

Erst das Alter brachte ihm mancherlei Mißgeschick,

eine geschwächte Gesundheit und Kummer durch seine Kinder.

starb 1852.

Er

XIV. Ein Dichter, der in Schottland geboren und, ein eifriger

schottischer Patriot wie Walter Scott, lebhafte Teilnahme für Irland empfand, der irische Großthaten und irische Bolkstrauer wie Thomas Moore besang, der überdies mit der Liebe zu den beiden

untergeordneten Königreichen ein feuriges britisches Nationalgefühl verband, ist der von einer alten Hochländerfamilie abstammende

Thomas Campbell. Er war nicht bloß ein Nationaldichter in dem Sinne, in dem Wordsworth dies war, er war auch von Jugend auf bis zu seinem

Tode ein glühender Verfechter der Freiheit. Seine epischen Dichtungen und seine Balladen erheben sich nicht sonderlich über entsprechende

Erzeugnisie Wordsworth's, allein er besaß ein echt lyrisches Genie; er ist der Tyrtäus oder Petöfi der naturalistischen Gruppe.

Ihm

war die Sache der Freiheit und die Sache des Vaterlandes eins,

und in seinen besten Rhythmen herrscht eine Frische, ein Marsch» takt, ein Schwung, ein Feuer, die ihn hinsichtlich einer Hand voll

auserlesener Gedichte den größten Dichtern an die Seite stellen. Seine Hymne über die Schlacht auf der Rhede macht naturgemäß

auf einen Dänen geringen Eindruck.

Der Stolz auf den Sieg, den

Nelson über einen so viel schwächeren Feind erfocht, desien Macht

hier zu einer England ebenbürtigen aufgebauscht wird, ist die

reine Vaterländerei.

Doch dicht daneben steht das gleichzeitig

verfaßte Gedicht The Mariners of England, das ein Meister­ werk ist, und in dessen Versen man förmlich die frische Meeres»

Britischer Freisinn.

231

Krise sich in den britischen Segeln verfangen zu hören glaubt. Hier und fast einzig hier schwang sich in der zeitgenössischen Poesie

ein Dichter zu den Höhen des Nationalgesanges auf.

Hier ist

es der echte Sohn der Königin des Meeres, der, den Ruhm der britischen Seeleute verkündend, seiner Mutter ein Hochlied an­

stimmt.

Man beachte die sausende, brausende Gewalt, den Jubel

der sich in der siebenten Zeile der folgenden Strophe zusammen­

drängt: Ye marinere of England! That guard our native seas. Whose flag has braved, a thousand years, The battle and the breeze! Your glorious Standard launch again To match another foe! And sweep through the deep, While the stormy winds do blow, While the battle rages loud and long; And the stormy tempests blow —

und man höre den Stolz über England als Weltmacht zur See

durch diese Strophe wehen: Britannia needs no bulwark, No towers along the steep; Her march is o’er the mountain-waves, Her hörne is on the deep. With thunders from her native oak She quells the floods below — As they roar on the shore, When the stormy tempests blow u. s. w. Das Leben Campbell's nahm einen regelmäßigen, ruhigen

Verlauf.

Er

erhielt

in Glasgow eine vorzügliche Erziehung,

studierte in Edinburgh, veröffentlichte, 21 Jahre alt, seine Dichtung The Pleasures of Hope,

die, nunmehr veraltet, damals Auf­

sehen erregte, und unternahm für das Honorar eine Reise nach

Deutschland, auf welcher er, von der Aussicht auf einen Krieg mit Dänemark inspiriert, einige Gedichte, darunter das oben an­

geführte, schrieb.

Er verheiratete sich in London 1803 mit seiner

Base, lebte daselbst als Litterat, hielt öffentliche Borträge und war

von 1820

an

als

Herausgeber

einer Zeitschrift

thätig.

Seit dem Jahre 1830 waren seine Gesundheit und seine Lebenskraft

gebrochen.

Er lebte, nur ein Schatten seiner selbst, noch bis zum

Jahre 1844.

Die bei

allen

Grundlage

seiner

poetischen

Begabung

anderen Dichtern dieser Gruppe,

Naturauffassung.

bildete,

wie

die Frische seiner

Er hat ein Gedicht an dm Regenbogen ge­

schrieben, das trotz einer etwas prosaischen, vernünftelnden Einleitung

ein kleines Meisterwerk an Einfachheit und Phantasie ist.

Er

versetzt sich im Geiste darein zurück, was die primitive Menschheit

beim Anblicke des Regmbogens empfand.

Wenn dieser sich zeigte,

hielt jede Mutter ihr Kind empor, um Gottes Bogen zu segnen. Ihn haben die ersten Hymnen begrüßt,

Dichter besungen.

ihn haben die ersten

Und heute noch erwecke er dieselben Gefühle:

„Wie strahlend ist dein Gürtel, sich senkmd über Berg, Turm

und Stadt, oder wiedergespiegelt im weiten Meer, tausend Klafter

tief!

Auf dem dunkeln Hintergründe erscheint deine Schönheit

so jugendftisch, wie da zum erstenmal der Adler von der Arche aufstieg in deinen Strahlenkranz."

Bon ebmso ungeschwächtem

Natursinne wie dieses Gedicht aus Campbell's Jugendtagen zeugt eines

der letzten von ihm verfaßten, das in Oran in Afrika geschriebene Poem „Der tote Adler."

Hier äußert sich eine Freude an der

Stärke und Gewalt eines Lebewesms, die spezifisch englisch ist. Wohl wahr, sagt er, es kann der Lustschiffer so hoch emporsteigen

wie der Adler, doch sein Schiff besitzt kein Steuer, ist die Bmte von Wind und Wetter; kein Wille lenkt die Fahrt.

Wie anders

bei diesem stolzm Bogel: Er durchschneidet dm Sturm, er hält so leicht auf seinem Fluge inne, wie der Araber sein Pferd anhält,

und verharrt unbeweglich, so ost es ihm gefällt, am Scheitelpunkte des Himmels, einer Lampe gleich, die von der dnnkelblauen Wölbung Hemieder hängt. Unter ihm sind die Berge wie Maulwurfshügel, die

Arktischer Freisinn.

Flüsse wie leuchtende Fäden.

233

Da schießt er herab, schneller als ein

fallender Stern, bis seine Gestalt ihren Schatten über die Erde

wirst und Schrecken sich in der Wildnis beim Rauschen seines Flügelschlages verbreitet.

Nun schwingt er sich von neuem auf.

Ein Ausdruck der Geringschätzung liegt in allen seinen Bewegungen, ob er nun den kammgeschmückten Kopf zurückwendet, um hinter

sich zu schauen, oder wagerccht liegend, das weiße Innere seiner ge­ neigten Schwingen in anmutigem Kreisen entfaltet. — Und Campbell sieht ihn vor sich, wie er hoch in den Lüsten über tobenden See­

schlachten zwischen Mauren und Christen geschwebt hat, unbekümmert

wer den Sieg davontrage, voll Geringschätzung für die Menschen, welche die Tiefe zu durchfurchen genötigt sind, indes seine Schwin­

gen ihn mit Leichtigkeit nach Algier, nach den Korallenhainen, die unter Bonas grünen Wogen lodern, ja in einer Stunde weiter

dahin tragen, als das stolzeste Schiff in einem Tage erreichen könnte.

Er hat unberührt von allem Menschlichen und Irdischen

gelebt; selbst das Erdbeben, das (1790) Oran erschüttert und zerstört

und unter dem Jammergeschrei Tausender Kirchen,

Forts und

Paläste zu Schutt und Trümmern verwandelt hat, störte ihn nicht.

Nicht nur Reichtum der Beobachtung, auch Phantasie verrät sich in dem geschauten Bilde.

Doch am größten ist Campbell in seiner Freiheitsdichtung, in Poesten wie:

Navarino,

Men of England, Stanzas on the Battle of

Lines of Poland, The Power of Russia und in

so edlen, tiefen Äußerungen geistigen Freisinnes wie Hallowed Ground.

In

solchen Gedichten

zeigt sich so recht Campbell's

geistige Überlegenheit über die Dichter der Seeschule, die ja eben­ falls sehr gut verstanden, die Unabhängigkeitskämpfe der Völker zu verherrlichen.

Diese letzteren priesen, wohl zu merken, nur

dann jene Kämpfe, wenn sie gegen Napoleon, den Feind Englands, stattfanden; Campbell kennt keine derartige Rücksicht.

Er feuert

England gar oft an (ja schilt es zuweilen) im Namen der Freiheit,

Lettischer Freifinn.

234

während jenen Dichtern England schlechtweg der Herd der Frei­ heit war. Man beachte in Men of England die Wärme, mit der er erklärt, daß der Tapferkeit errichtete Denkmale in keinem Vergleiche

zn dem lebendigen Freisinn in der Männerbrust stehen.

Der

Ruhm der Freiheitsmärtyrer wiege Hunderte von gewonnenen

Schlachten auf: Yours are Hampdens, Russell’» glory, Sidneys matchless shade is yours, Martyrs in heroic story, Worth a hundred Azincourts!

Campbell'- Freude über die Befreiung Griechenlands ist ebenso echt, wie seine Trauer über den Fall Polens.

Doch ist das Ge­

dicht über Polen in seinem Zorn und seiner Hoffnung» in seiner Trauer, daß England nicht den Handschuh hinzuwerfen wage, glühender, während das Gedicht über die Macht Rußlands eine

so klare Einsicht verrät in die Gefahr, die der Zivilisation von

Rußland droht, so tief die Bedeutung der Niederlage Polens ver­ steht, als sei hier ein Staatsmann Dichter geworden.

wuchtige Worte:

Es sind

„Wäre dies ein gewöhnlicher Streit zwischen

Staaten, dann könnte Britannien auf den Sieger und den Über-

wundmen ruhigen Blickes schauen

und seinen Ölblattkranz mit

Ehren tragen; doch dies ist die Finsternis, die wider das Licht kämpft, dies sind die entgegengesetzten Prinzipien der Erde, die um

die Herrschaft ringen."

Und wuchtig ist auch diese Zeile:

The Polish eagle’s fall is big with fate to men. Das Gedicht „Geweihte Erde" ist in seiner derben Einfachheit

ein wider allen Aberglauben, er trage welchen Namen immer, frank und frei sich kehrender Protest, das mannhafte Bekennen des Freiheitsevaygeliums, wie dieses Jahrhundert es gestaltet hat.

ist geweihte Erde?

fragt Campbell.

Was

Giebt es auf Erden einen

Fleck, wo nach Gottes Willen der Mensch nicht frei und aufrecht

stehen, sondern unter der Geißel des Aberglaubens das Knie

beugen soll?

Nein, geweihte Erde ist dort, wo Lippen Ruhe ge­

sunden, die unsere Liebe geküßt — doch nicht auf dem Kirchhofe ist sie, sondern dort, wo das Bild deS Toten unberührt ruht, in uns selbst.

Ein Kuß heiligt die Stätte, wo zwei Herzen einander

in Liebe fanden.

Und Kampf und Tod der Helden für die Frei­

heit lebt in den Herzen, ob auch ihre Asche in alle Winde zer­ streut ward, lebt in den Herzen wie in geweihter Erde, bis schließ­

lich das ganze Erdenreich sich in — geweihte Erde wandelt.

Hier

ist die erste und die letzte Strophe:

What’s hallo wed ground? Has earth a clod, Its maker meant not should be trod By man, the Image of his God Erect and free, Unscourged by Superstitions rod To bow the knee? What’s hallowed ground? Tis what gives birth To sacred thougts in souls of worth! — Peace! Independance! Truth! go forth Earth’s compass round; And your high priesthood shall make earth All hallowed ground.

r

Zu den größten Dichtern der naturalistischen Gruppe gehört

Campbell nicht, doch in seinem schlichten, krastvollm Pathos klingt

eine Saite von so volltönender Lyrik, daß fie an die alten grie­ chischen Elegiker gemahnt.

Wiewohl Schotte von Geburt, war er

im Herzen mit Irland; dem Geiste nach war er Britte.

Wiewohl

leidenschaftlich national wie die Dichter der Seeschule, war er

unbedingt nur Freund und Verfechter der Freiheit, der Frecheit als Gottheit, nicht als Götzenbild.

Er bildet den Übergang von

den Nationaldichtern Schottlands und Irlands zu den drei großen Emigranten der zeitgenössischen englischen Poesie.

XV.

Zu der Zeit, da England auswärts die Geschäfte der heiligen

Allianz besorgte,

im Innern die Katholiken unterdrückte und

die unteren Klassen durch Begünstigung des Landadels in Not stürzte, verließen mehr und mehr Engländer ihr Vaterland, um

als fahrende Ritter der Freiheit gleichsam Europa daran zu er­ innern, daß England zu allen Zeiten als geborener Schützer der Volksfreiheit gegolten hatte.

Solche Engländer waren General

Wilson, der unter Bolivar Südamerika befreite, und Admiral Cochrane, der zuerst im brasilianischen, dann im griechischen Freiheits­ kriege seinen Namen berühmt gemacht hat.

Zu dieser Klasse von

Männern gehört Walter Savage Landor, der stolzeste Sonder­ ling in der poetischen Litteratur des Zeitalters.

Landor wurde den 30. Januar 1775 in Warwick als Kind einer hochadeligen Familie und Erbe fürstlicher Reichtümer ge­

boren.

Er studierte in Oxford, hielt sich 1802 in Paris auf,

kehrte zurück, veräußerte den größten Teil seiner Familienbesitzungen und kaufte sich in einer anderen Grafschaft an, wo er sodann

nach Gutdünken alle möglichen Verbesserungen und Verschönerungen einführte und seinen zahlreichen Pächtern eine weit beffere Existenz

zu sichern strebte, als sie der unteren Klasse in England sonst

irgendwo beschieden war.

Er verausgabte 70000 Pfund für diese

Reformversuche, die er mit weniger Menschenkenntnis als mit Be­

geisterung für das Wohl der Menschen ins Werk setzte.

Sein

philantropischer Eifer wurde von seinen Untergebenen aufs schänd-

lichste mißbraucht.

Man machte sich seine Großmut und Un­

eigennützigkeit zu Nutze, um ihn in großartigstem Stile zu be­

trügen.

Empört über den Undank und die Schlechtigkeit seiner

Pächter beschloß er, seinen gesamten Grundbesitz, selbst jene Güter,

die seit 700 Jahren im Besitze seiner Familie waren, zu verkaufen

und als freier Weltbürger zu leben.

Er brachte diesen Vorsatz

1806 zur Ausführung.

Der spanische Aufstand gegen die Tyrannei Napoleons brach

Landor reiste nach Spanien, rüstete auf eigene Kosten ein

aus.

ganzes kleines Truppenkorps aus und kämpfte in den Reihen der

Aufrührer.

Er erhielt infolgedessen von der obersten Junta ein

öffentliches

Dankschreiben

und

den

Titel

eines

Obersten

im

spanischen Heere.

Bei der Wiedererhebung des Königs Ferdinand

auf den

sandte er diesem seinen Ernennungsbrief mit

Thron

einem Schreiben zurück, worin er erklärte, daß er, obschon der Sache Spaniens für immer ergeben, mit „einem Meineidigen

und Verräter wie dessen König" könne. Mannes

keine Berührungspunkte haben

Man hat in diesem einen Zuge das Temperament des

— ungestüm und rücksichtslos,

aber stolz und groß.

Es schlug das Herz eines unabhängigen Häuptlings in dieser

Dichterbrust.

1815 ließ sich Landor in Italien nieder, wo er ununter­ brochen durch mehr als 30 Jahre weilte.

Erst 1857 nahm er

ständigen Aufenthalt in England (in der Stadt Bath).

Er blieb

sein Lebenlang ein Todfeind der Tyrannei in allen ihren Formen

und Gestalten, sowie ein leidenschaftlicher Verfechter und Wort­

führer der Freiheit auf jedwedem Gebiete.

Politischen Flücht­

lingen und Verfolgten war er bis zu seinem Tode ein treuer Helfer.

Derselbe trat erst 1864 in seinem neunzigsten Jahre ein.

Sein langes, ehrenvolles Leben umfaßt eine große litterarische

Produktion.

Er hat doppelt soviel wie Byron geschrieben und

manches Werk, dem man nur mit Ehrfurcht naht.

Allein seine

Poesie blieb während der ganzen Periode, die uns hier beschäftigt, unverstanden und ungewürdigt.

Landor schrieb ohne irgend welche

Beziehung zu einer Leserwelt, ohne andere Aufmunterung seitens der Kritik, als kalt nnd steif genannt zu werden, und sich wegen seines Englisch, das einer Übersetzung aus fremden Sprachen gliche,

zurechtgewiesen zu sehen.

Niemals ward ihm ein Schatten von

Popularität zu teil, noch erfreute er sich auch nur eines einzigen litterarischen Triumphes.

Zehn Jahre vor seinem Tode begann

man ihn zu bewundern, und um 1870 ungefähr begann er zu wirken. Kommt man von Moore zu Landor, so ist es, als käme man

von schaukelnden Wellen ans Land, auf festen Grund und Boden. Landor's Haupteigenschaft ist männliche Festigkeit, er ragt unter seinen Zeitgenossen als Dichter hoch empor, ist aber noch größer als Mann.

Er wird so wenig gelesm, daß man leider fast nichts

von ihm als bekannt voraussetzen, keinen Anhaltspunkt für Äuße­

rungen über ihn in der Erinnerung oder Phantasie des Lesers zu finden hoffen kann, und es ist nicht leicht, ihn zu beschreiben. Seine Festigkeit fand ihren auffallendsten Ausdruck in einem für viele abschreckenden Selbstgefühl.

die folgenden vor:

Es kommen bei ihm Sätze wie

„Was ich schreibe, ist nicht auf Schiefer ge­

schrieben; und kein- Finger, nicht einmal der selbsteigene der Zeit,

den sie in die Wolken der Jahre taucht, kann es wieder auslöschen,"1 oder Antworten auf die Kritiken über seine „Imaginary conversations“ wie diese hier: „Ich habe nun mehr als hundert solcher

Gespräche geschrieben; möge der tüchtigste unter der Bande meiner Kritiker die zehn schlechtesten auswählen, und wenn er in zehn

Jahren etwas so Gutes zu schaffen vermag, so will ich ihm ein warmes Franzbrot und einen halben Krug Porterbier zum Früh­

stück geben."

1 Landor: Imaginary conversations between literary men and statesmen. English Visitors and Florentine Visitors.

Einen geringeren Mann würde ein solcher Hochmut lächer­

lich gemacht haben,

Landor verunehrt er nicht; ja,

ihm sogar hin und wieder an.

er steht

Man wird zuweilen an Schopen-

hauer's an und für sich nicht unberechtigtes, aber unbändiges und anspruchvolles Gefühl seines Wertes gemahnt; nur daß Landor in

seinem Wesen der vornehme, feingebildete Gentleman von adeliger Abkunft war und blieb, während Schopenhauer mit seiner völligen

Hintansetzung aller Gebote der Höflichkeit ein großer Plebejer

war und blieb.

Doch öfter noch erinnert sein absonderliches

Temperament mit dessen ungestümer Heftigkeit in großem, mit dessen Schöpfungen in noch größerem Stile an einen Mann, dessen Name zu gewaltig ist, als daß er leichtfertig ausgesprochen werden dürfte, der aber, obwohl Landor an Geist weit überlegen, sicher­

lich einen Geistesverwandten in ihm entdeckt haben würde — an den einsamen, rauhen Michel Angelo. Etwas Strenges lag in Landor's Natur, die Strenge, welche unerschütterliche Festigkeit und vollkommene Wahrhaftigkeit gegen

sich und andere mit sich bringt.

gewisse wohlthuende Härte.

In seinen Werken herrscht eine

Das Gedicht „Hyperbion" in den

„Hellenics" bietes ein gutes, echt Landor'sches Beispiel hierfür:

„Hyperbion war einer der wenigen Auserwählten Apollos, und die Menschen ehrten ihn eine Zeit lang und in ihm den Gott.

Allein andere sangen ebenso laut, und die Buben riefen

ihnen ebenso laut „Hurrah" zu.

Hyperbion, der darob in hef­

tigeren Grimm geriet, als einem Sänger ziemt, redete zu Apollo und sprach: O Phöbus, hörst du dort draußen das rohe Geschrei

des Pöbels, der schwört, dich schon gekannt zu haben, da du die weißen Rinder des Admet hütetest? Ich höre es, sprach der Gott. Ergreife den ersten unter ihnen und ziehe ihn hoch über die

Häupter der Menschen empor, und du wirst sie dir wieder voll Freuden zujauchzen hören.

Hartnäckig und stolz war Hyperbion,

der Lorbeerkranz auf seiner Stirn hatte diese schlecht gekühlt. Als

er daher die Burschen vor seinen Pforten singen hörte und etliche

den Namen seines Nebenbuhlers an die Mauer kritzeln sah, schoß

er hinaus und ergriff den kläglichen Sänger, welcher der Rädels­

führer des Schwarmes war. Füßen, doch vergebens.

Dieser wehrte sich mit Händen und

Hyyerbion umschlang ihn mit kräftigem

Arm und entrollte mit der Linken einen Hanfftrick, an dem sich bereits eine Schlinge befand. Er diente dazu, das Kalb zu halten,

während morgens und abends das Euter der Mutter gemolken wurde.

Nun aber waren Kuh und Kalb auf der Weide.

Mit

aller Kraft schleppte er den Burschen fort und zerrte ihn auf einen

Pinienbaum hinauf, wo er starb.

Eines Nachts jedoch, nicht

lange nachher, erschien der klägliche Sänger ihm im Schlafe; da

bat er Apollo, ihn darüber aufzuklären, ob das, was er gethan,

vielleicht nicht ganz in Ordnung gewesen. Hyperbion!"

„Du hast recht gehandelt,

erwiderte der Gott, „ganz ebenso verfuhr ich mit

Marsyas einige Jahre vor deiner Geburt;

allein besser wäre es

gewesen, du hättest meine Worte richtig aufgefaßt; denn nun werden die anderen unter dem Vorwande über dich herfallen, daß

du das Gesetz übertreten hättest. Meine Meinung war, du solltest ihn zu den hohen Stellen in deiner Seele erheben und dich um so

größer dadurch zeigen, daß du ihn ertrügest." stand der Sänger da, doch Phöbus sagte:

Niedergeschlagen „Sei guten Muts,

Hyperbion: wenn der Strick nicht zu zerschlissm ist, um das Kalb noch ferner daran halten zu können, so ist der größte Schade der,

daß du ihn beim Hinaufziehen des Burschen sehr, sehr heftig an dem Pinienbaum geschürft hast, und die Rinde von Pinien­ bäumen heilt nie wieder zu."

Selten hat ein Apollo sich mit so wenig Empfindelei über die Mittelmäßigkeit in der Kunst geäußert.

Landor's Verachtung

derselben hatte ihren Grund in seinen ernsten künstlerischen An­ forderungen an sich selbst.

Er ist der strengste Sttlist der eng­

lischen Prosa; nicht Stilist in dem Sinne, daß er eine seltene

Sprachvirtuosität besessen hätte — kein englischer Dichter ist weniger

geschmeidig als er — sondern so verstanden, daß er alle seine Gestalten,

die alltäglichsten wie die ehrwürdigsten, die aus der Vergangenheit

wie die aus der Gegenwart, in dem nämlichen einfachen attischen Stile ausführte.

Bei seiner ausgesprochenen Vorliebe für das Helden­

hafte und Erhabene verlieh er seinen Dialogen — der vornehm­

lich von ihm gepflegten Kunstform — eine nie sich verleugnende

Hoheit und Ruhe, und teilte unwillkürlich ihrer Grunddiktion ein Gepräge mit, das griechisch durch seine nüchterne Schönheit, und römisch-englisch durch seinen Stolz und seine Bestimmtheit ist. Sein

Stil ist rein, korrekt, gedrängt, und bei seinem antiken Stempel

eignet er sich ganz besonders zur Darstellung von Gestalten aus dem alten Hellas oder dem alten Rom.

Die Agora Athens, der

Senat und das Forum Roms leben in seinen Gesprächen das Leben ihrer eigenen Zeit.

Die moderne Konversation hingegen lag seiner Feder weit weniger bequem; die Dialoge aus der neueren Geschichte gelingen ihm nur dort völlig, wo die Konversation so geartet ist, daß Landor's

geheime Entrüstung der Rede Leben und Feuer verleiht.

Will

man Landor in seiner Frische und seinem Glanze sehen, so lese

man seinen Roman in Briefform „Perikles und Aspasia," ein Werk von der nämlichen Art wie Wieland's „Aristipp," aber in

einem ganz anderen Geiste und Stile verfaßt. und

kokett ist, hat Landor einen

Wo Wieland üppig

männlichen Reiz; wo

land weichlich ist, zeigt Landor sich edel und stolz.

Wie­

Dieser Brief­

wechsel ist mehr gemeißelt als geschrieben; er verherrlicht Perikles als den republikanischen Typus edler Menschlichkeit und politischer

Weisheit, er stellt in Aspasia nicht die Hetäre dar, sondern eine

Verkörperung hellenischer Schönheit und Feinsinnigkeit, heidnischer Weiblichkeit und geistesfreier antiker Denkart und Bildung.

Es

versteht sich von selbst, daß kein Funke von Frivolität darin ent­ halten ist; alles was kleinlich und unwürdig ist, scheint außerhalb Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

16

NepubUkanischer Humanismus.

des Horizontes

dieses

Buches

wie

des Verfassers zu liegen.

Allein das Werk ermüdet durch seine altväterische und allzn weit­

schweifige Briefform, und der ungeduldigere Leser sei daher auf Landor's Meisterwerk, den Dialog zwischen Epikur, Leontion und

Ternissa, verwiesen'. Dieses Gespräch

steht entschieden nur durch seinen minder

gewichtigen Gedankeninhalt, doch wahrlich weder in Hinsicht auf

Anmut, noch auf Charakteristik oder Natürlichkeit des Gespräches hinter einem Dialoge Plato's zurück. Der ältliche, liebenswürdige

Philosoph lustwandelt im Gespräch über die flüchtigen Ereignisse des Tages und die ernsten Begebenheiten des Lebens mit zwei in

der ersten Jugend stehenden griechischen Mädchen in seinem reizen­

den Garten auf und ab, und ein Duft von Attizismus, eine edle, be­ herrschte Sinnlichkeit, die keuscheste, hinreißendste Grazie ist über die

Szene, vor allem über die mannigfaltigen kleinen Züge gehaucht, womit die beiden jungen Mädchen geschildert sind, die sechzehnjährige zu­

mal, mit ihrer Mischung von Verschämtheit und liebenswürdiger

Offenherzigkeit. Landor hat hier das weibliche Seitenstück zu Plato's Jünglingen geschaffen; er hat das junge griechische Mädchen ent­

deckt,

das Plato unbeachtet ließ, daS die Tragödie einzig in

pathetischen und heroisch-tragischen Situationen darstellte, und von

dem nur vereinzelte schöne Reliefs uns die äußere Kontur aufbe­ wahrt haben.

Es verlohnt der Mühe, dies Gespräch in seinen

Windungen zu verfolgen.

Es beginnt mit einer feinen Natur­

malerei und einer Verherrlichung der Einsamkeit, deren derjenige be­

darf, der geistig leben und schaffen will, und schon hier gewahrt man unter Epikur's Gestalt die Umriffe Landor's, welcher die gleiche Vorliebe für ein zurückgezogenes, vor dem geräuschvollen Treiben der Außenwelt wohlverschanzteS Leben besaß.

(Siehe die

Einleitung zu dem Dialoge: Southey and Landor, Works I, 57.)

1 Landor: Works vol. I, 497.

Hierauf erörtert Epikur in feiner, humorvoller Weife mit Terniffa, dem jüngeren Mädchen, die Frage, inwiefern die Mythe von

Boreas, Zethes und Kalais buchstäblich zu nehmen sei oder nicht, während das ältere junge Mädchen, Leontion, Terniffa schelmisch ihrer Leichtgläubigkeit halber neckt.

Sodann gleitet das Gespräch,

während es sich spielend um das frische Weinlaub und die jüngst

angekommenen Olivenbäume bewegt, in die rührende und tiefe Unterhaltung

über die Furcht vor dem Tode über, wobei die

männliche Würde und Ruhe Epikur's die jungen Mädchen zu

den heftigsten Ausbrüchen wider diejenigen begeistert, die ihn als Atheisten verfolgen und herabsetzen. Ja, es zeigt sich, daß Leontion, als Widerlegung der Angriffe Theophrast's, ein ganzes Heft voll

zu

seiner Verteidigung geschrieben hat.

Epikur zeigt ihr mit

sanfter Hoheit, wie unnütz eine Verteidigung gegen derlei Angriffe sei, und erklärt ihr, weshalb er niemals mit jemandem kämpfen oder rivalisieren mag.

„Ich möchte mich selbst mit den Männern

in keinen Wettstreit einlassen, die mit mir zu wetteifern fähig sein

könnten ... Mit wem sollte ich es? Mit dem Geringeren? Das

wäre unrühmlich. fein."1

Denn

Mit dem Größeren?

Das würde vergeblich

Hier schimmert wieder Landor's eigenes Antlitz hervor.

es

entsprach

dies

genau

der

Denkweise

des

Mannes,

der wenige Jahre vor seinem Tode sein letztes Buch mit dem Motto versah:

I strove with none, for none was worth my strife, Nature I loved, and after Nature, Art; I warrned both Bands before the fire of life, It sinke, and I am ready to depart. Die erste Zeile enthält zugleich das Bekenntnis und die Recht­

fertigung seines scheinbar anmaßenden Wesen-, für welches Nach1 I would not contend even with men, able to contend with me . . . Whom should I contend with? the less? it were inglorious. The greater, it were vain?

sicht oder Sympathie zu hegen, kleinen Seelen so schwer fiel.

Die

zweite Zeile erklärt, was der ursprüngliche Gegenstand seines tiefen Studiums, und was dessen zweiter war, der den ersten vervoll­ Die dritte Zeile spricht die edle Philosophie aus, die

ständigte,

seinen Geist unter so viel Verkennung und Mißgeschick aufrecht-

erhielt und nährte, die letzte endlich zeigt ihn mit jener.ruhigen

Würde, die dem Charakter dieses Mannes entsprach, bereit, wenn seine Stunde schlägt, sich in sein Gewand zu hüllen und von

hinnen zu gehen? Die Ähnlichkeit zwischen diesen Zeilen und dm Aussprüchen Epikurs ist auffallend.

Leontion setzt das Gespräch fort. — „Die Alten," sagt sie,

„sind

alle gegen dich, denn selbst der Name Glücksphilosophie

bedeutet für' sie eine Herausforderung.

Sie kennen keine andere

Art Vergnügen, als das, welches sowohl Blüte wie Samen trug

trübseliges Aussehen

und

dessen

hat.

Was wir trocken nennen, heißen sie gesund.

welker Stamm

sicherlich

ein

Mchts darf

irgendwie Saft in sich behalten; ihr Vergnügen besteht darin, was

hart ist, zu kauen, nicht darin, was saftig und wohlschmeckmd ist,

zu kosten."

Landor, der sogar von Byron (siehe die Vorrede zur

Vision of Judgement) Tadel über die Frivolität seiner Gedichte hinnehmen mußte, leitet offenbar, wie Stuart MA es etwas später

hinsichtlich seiner Moral gethan, die Glücksphilosophie, zu der er sich bekmnt, von derjenigen des Heiden Epikur ab.

Indes springt das Gespräch nach rechts und links ab, ver­ weilt bald bei Ternissa's Errötm Statum

in

der Erinnemng an die

der Satyrn und Faune des Badegemaches, bald

Leontion's weiblichen

bei

Einwänden gegen Aristoteles und Theo-

1 Siehe den Artikel The centenary of Landor’s birth im „Exammer" vom 30. Januar 1875, verfaßt von dem hochbegabten Dichter und Kritiker

Edmund Gosse.

phrast, bis es, echt griechisch, erotisch und epikuräisch mit Epikur's und Ternissa's Aufführung der Szene zwischen Peleus und

Thetis und mit dem Kusse endigt, der zwischen ihnen gewechselt wird. In diesem Gespräche steht Landor auf der Höhe seiner Kunst

und seines

ruhigen Humanismus.

Gehen wir jedoch zu den

modernen Dialogen über, so lernen wir den Soldaten in ihm

kennen, den stets gewappneten, stets kampfbereiten Schriftsteller, der unter tausend verschiedenen Vermummungen jede Form von

Lüge und Unterdrückung bloßlegt und trifft, die ihn,

in seiner

Eigenschaft als Heide, Republikaner und Philantrop, zum An­ griffe reizt.

spräche"

Seine hundertundfünfundzwanzig „Erdichteten Ge­

erstrecken

sich,

mit

erstaunlicher Gelehrsamkeit

durch­

geführt, über den ganzen Erdkreis, von London bis China, von

Paris bis zu den Südseeinseln, bewegen sich durch die ganze Zeitenfolge der Geschichte, von Cicero zu Bossuet, von Crom­ well

zu

Petrarca,

von

Tasso

zu

Talleyrand,

um in

jedem

Lande und in jedem Zeitalter einen energischen Protest gegen die

Tyrannei zu erheben und für die Freiheit ein schwertscharfes Wort einzulegen.

Wir

belauschen die Kaiserin Katharina mit ihrer

Liebling-Hofdame in dem Augenblicke, wo der Mord an ihrem Ge­

mahl begangen wird — der Dialog steht dem Bitet's in seinen

unvergleichlichen historischen Szenen, dem Ideal derartiger Dar­ stellung, nur wenig nach.

Wir hören Ludwig XVIII. mit dem

feinen, ironischen Talleyrand über Politik plaudern und bemerken,

wie das unbezwingliche Gelüste nach möglichst vielen Fasanen und Fasanmeiern sich als roter Faden durch die politischen Projekte

seiner bourbonischen Majestät zieht.

Wir sehen General Kleber

inmitten seines Stabes mit seinen Offizieren in Ägypten, und wir hören die Erbitterung über den Freiheitshaß Bonaparte's als ge­ dämpftes Murren aus ihren Reden klingen.

Wir wohnen der

Ermordung Kotzebue's bei und vernehmen von den Sippen Sand's

dessen Selbstfreisprechung, während er Kotzebue zum Verlassen der

eingeschlagenen Bahn zu bewegen versucht.1

Es gehörte zu Landor's politischem Katechismus, daß der

Unterdrücker durch das Schwert fallen müsse.

Er hat sein ganzes

Leben den Tyrannenmord gepredigt und scheute sich auch nicht, mit Leidenschaftlichkeit direkt und öffentlich den Wunsch der Er­

mordung Napoleon III. auszusprechen.

Geistesverwandter

der

großen

Er war ein Freund und

europäischen Revolutionsmänner,

die, mit Mazzini an der Spitze, den Unterdrückern der Völker einen rücksichtslosen Haß geschworen hatten.

Doch nicht allein

als Politiker schießt er über das Ziel hinaus; der größte Teil seiner historischen Dialoge leidet ästhetisch unter der allzu deutlich

ausgesprochenen Tendenz; man sieht alle Augenblicke den Dichter selbst den Kopf hervorstrecken.

Schildert er z. B. Katharina von

Rußland in jenem furchtbaren Augenblicke, so kann er sich nicht enthalten» uns gelegentlich durch den Mund der Prinzessin Daschkof die Ruchlosigkeit von Voltaire's Charakter und die Immoralität

seiner „Puerile" zu zeigen, um so dem Leser den schlechten Ein­ fluß des französischen Geistes in Rußland fühlbar zu machen.

Denn bei aller seiner Geistesfreiheit ist er doch zu sehr der Eng­

länder seiner Zeit, um nicht alles Schlechte zwischen Himmel und

Erde von Frankreich herzuleiten und einen Franzosen je anders als in einem lächerlichen oder verächtlichen Lichte darzustellen. Bringt er die Gespräche Ludwigs XVIII. mit Talleyrand aufs Papier, so kann

er es nicht lassen, die Satire so beißend, Ludwigs Albernheit so plump, Talleyrand's Haltung seinem Herrn gegenüber so ironisch zu gestalten, daß niemand an die historische Wahrheit zu glauben ver­ mag. Landor lechzt danach, die Engländer und Wellington rühmen

zu hören, Ludwigs Erbärmlichkeit deutlich dargethan zu sehen,

imb seine Feder ist ungeberdig genug, sowohl da- Lob Englands

1 Landor: Works I, 515, II, 189, I, 43, II, 4.

Republikanischer Humanismus.

247

wie den Spott über Ludwig dem klugen französischen Hofmanne in den Mund zu legen.

Er hätte in Bezug auf die Handhabung der satirischen Klinge von den verhaßten Franzosen gar manches lernen können.

Allein

er verachtete ebenso sehr ihre Poesie wie ihre Politik und schätzte Voltaire als Schriftsteller nicht weniger gering, denn als Charakter. Das

von ihm selbst geführte Gespräch mit Abb6 Delille

zeigt

ihn uns als Kritiker der französischen Tragödie, eine noch härtere Sprache als Lessing führend, und, gleich diesem, ohne Blick für

die große stilistische Begabung des französischen Geistes (Works I, 90).

Es macht einen wunderlichen Eindruck, jemand mit größt­

möglichster Grobheit einem anderen vorwerfen zu hören, daß er allzu geschliffen sei.

Man wird es begreiflich finden, daß er bei solchem Urteil über die klassisch-französische Poesie ein großer Verächter Pope's, ein leidenschaftlicher Anhänger Milton's und ein erkürter Anhänger

der Wordsworthschen Reform der englischen Poesie war.

Fast

alle die vielen litterar-historischen und kritischen Gespräche, die in

den Dialogen vorkommen, laufen darauf hinaus, Wordsworth und Southey als Dichter zu verherrlichen und der Leserwelt ihren

Mangel an Verständnis gegenüber einer so erlesenen Poesie vor-

zuwerfen.1

Auch Keats und Shelley preist er in warmen Aus­

drücken und bedauert, daß er keinen der beiden kennen gelernt,

besonders,

hältnis

zu

daß

eine

unwahre Geschichte

über Shelley's Ver­

seiner ersten Frau ihn davon abhielt, Shelley in

Pisa zu besuchen.

Er sagt von Shelley, daß er das Feuer

des Dichters mit der Geduld und Toleranz

des Philosophen

verband, und meint, daß er an Edelmut und Wohlthätigkeit alle

lebenden Menschen

und

übertroffen

habe (I, 341).

Sobald

jedoch

1 Man sehe z.B. den Dialog zwischen Southey und Porson, I, 16, I, 68 vergl. I, 340, sowie die Übersicht über die englischen Dichter in

Miscellaneoua CXVI.

Republikanischer Humanismus.

248

die Rede auf Byron kommt, spricht er sich ganz wie ein Poet der Seeschule aus.

Der Mann, der da meinte, daß er mit der Feder

in der Hand mehr Macht in seinen zwei Fingern habe, als beide

Häuser des Parlaments besäßen, konnte Byron seine Spöttereien über

„Gebir" nie vergessen. Ebensowenig konnte er, der, trotz aller Un­

einigkeit in Betreff des Politischen und Religiösen, eine so sonderbare

Freundschaft für Southey hegte, Byron je die Stöße verzeihen, die

er

seinem

bewunderten

Bewunderer

versetzt

hatte.

Das

Egoistische und Ruhelose in dem Wesen Byron's stießen ihn ab, doch Ivar es hauptsächlich das Verhältnis zu Southey, das ihn

beeinflußte und ihn für viele der besten Eigenschaften Byron's blind machte.

Überhaupt entstellt Southey das Leben Landor's,

und Forster's lange, unlesbare Biographie des letzteren ist doppelt unlesbar,

weil

die Briefe von und an eine so unintereffante

Persönlichkeit einen unverhältnismäßig großen Raum darin ein­ nehmen?

und

Allein Southey besaß in Landor's Augen die große

jedenfalls

seltene Tugend,

eine der beiden

die

zu sein, welche sein Gedicht „Gebir"

kauft und gelesen hatten,

Personen

bei dessen Erscheinen ge­

de Quincey, die andere Person, er­

zählt» daß in seiner Jugend auf dm Straßen Oxfords mit Fingern auf ihn als den einzigen Leser dieses Gedichtes gewiesen wurde.

Es ist also nur zu begreiflich, daß Southey, der es nicht bloß

kaufte und las, sondern es lobte, und der später in Quarterly Re­

view Landor's nicht eben kurzweiligen Count Julian ehrenvoll besprach, dem der Bescheidenheit wenig zugethanen Dichter als

ein Mann von äußerst ungewöhnlicher Begabung erscheinen mußte.

Nichtsdestoweniger ist „Gebir" bei all seinem leidenschaftlichen Republikanismus ein steifes, schlechtes Gedicht, welches sichtliche Spuren

davon trägt,

einer höchst

bezeichnenden Grille

seines

wunderlichm seltsamen Verfassers zufolge, zuerst in lateinischm,

1 John Forster: W. 8. Landor, a biography.

Versen geschrieben zu sein.

Leben

hindurch

einen

Landor's Verse hatten sein ganzes

gewissen

lateinischen

Anstrich.

Selbst

Gosse, der sie bewundert, ist so gütig einzuräumen, daß der

Charakter von Landor's Versen, gleich dem Geschmack der Olive, ein so ungewöhnlicher sei, daß sie nicht zu goutieren noch keines­

wegs ein Zeichen von Affektation zu sein brauche.

Nur in seiner

Prosa ist seine Stärke zu suchen.

Doch ein Dichter, dessen Versen es an Anmut des Ausdruckes und an lyrischem Schwünge gebricht, dessen Dramen weder gespielt noch gelesen wurden, und der sein eigentlichstes Gebiet erst in dem

breiten, nie zu einem Schauspiele verbundenen, nie einem Schauspiele

einverleibten Prosadialoge aus allen Enden der Welt und der Ge­ schichte fand, war, bei allem Adel der Gesinnung und aller Schärfe des

Radikalismus, nicht der Mann, der einen freisinnigen Umschwung in der öffentlichen Meinung Europas zu bewerkstelligen vermochte. Er stieß durch Wunderlichkeiten und Grillen ab, wie beispielsweise die, den von Nero angestisteten Brand Roms als eine hygienische Maßregel in Schutz zu nehmen (Works I, 41), oder die, Pitt als ein mittelmäßiges Talent und Fox als einen Charlatan zu bezeichnen,

oder die allerärgste, den Griechen zu raten, bei ihrem Kampfe mit

den Türken auf den Gebrauch der Feuerwaffen zu verzichten und zu ihrer alten Wehr, dem Bogen, zurückzukehren.

Er war zuviel

von einem Sonderling und Einsiedler, um Bewunderer und Nach­

ahmer zu finden, er war viel zu wenig gemeinverständlich veranlagt, um bei der großen Menge durchzudringen, und blieb unpopulär

durch seine Tugenden wie seine Fehler, durch seine wilde Mann­ haftigkeit wie seine unbändige Arroganz.

Und konnte er auch nie,

wie Moore, sich gefügig erweisen, niemals Whigdichter werden,

so vermochte er doch andererseits auch nicht, seinen Radikalis­ mus so poetisch zu gestalten, daß er das Publikum mit sich fort­ gerissen hätte.

Indem er für die große religiöse, politische und

soziale Bewegung der modernen Zeit teilweises Verständnis besaß,

250

Republikanischer Humanismus.

bildet er mit den zwei jüngeren und größeren Männern, Shelley und

Byron, Eine Gruppe, und er diente der Idee wie ein tapferer und stolzer republikanischer Soldat.

Doch er war nicht zum Feldherrn

berufen; er war nicht imstande, ein Heer von Geistern sich zu unterwerfen und zu elektrisierend Er, der älteste der drei freisinnigen Landflüchtigen, überlebte

die beiden anderen, und lebte so lange, daß er dem jüngsten großen

Geschlechte englischer Dichter ein Zeitgenosse ward.

Browning

wurde sein Freund, Swinburne's innige Bewunderung versüßte dem Greise die letzten Jahre seines Daseins, und ihm wurde Swinburne's „Atalanta" mit herzlichen Worten zugeeignet.

So

scheint sein großer Schatten, die eine Hand in der Wordsworth's, die andere in derjenigen Swinburne's, Englands ganze poetische

Entwickelung während eines Zeitraumes von nicht weniger als achtzig Jahren zu umspannen. 1 Eine satirische Flugschrift, die er 1836 herausgab: „Letters of a Conservative, in which arc shown the only means of saving what is lest of the English church“ machte keinen Eindruck.

XVI. Wenn man im Jahre 1820 einen biederen und belesenen Engländer gefragt hätte: wer ist Shelley? so würde er, wofern er fähig gewesen wäre, eine Antwort zu erteilen, erwidert haben:

Es soll ein schlechter Poet mit abscheulichen Ansichten und

von

mehr

als

zweifelhaftem

Charakter

sein.

Die Quarterly

Review, die sich gerade nicht mit Klatsch abgiebt, sagt, sein Leben

sei „aus niedrigem Hochmut, kaltem Egoismus und unmännlicher Grausamkeit zusammengesetzt", und das auszeichnende Merkmal seiner Poesie bestehe in einer vollkommenen Sinnlosigkeit.

Jüngst

hat er ein Drama „Prometheus" herausgegeben, dessen Verse von der Zeitschrift als eine melancholisch-wirre Prosa, die überschnappt,

bezeichnet werden, und in der Presse herrscht nur eine Stimme, denn die Literary Gazette sagt von dem Buche: „Wäre man

nicht vom Gegenteile unterrichtet, man müßte es für ausgemacht be­

trachten, daß dessen Verfaffer ebenso verrückt sei, als seine Prinzipien lächerlich schlecht sind; ist doch seine Poesie ein Gemisch von Unsinn,

Geckenhaftigkeit, Armseligkeit und Pedanterie." Hier steht es: „Dieses

stupide Gewäsch eines Deliriumträumers" — und mit flüsternder Stimme hätte der Mann vielleicht hinzugefügt: Es sind gar schlimme

Gerüchte über ihn im Umläufe.

Die Literary Gazette, die mit

den Feinden der Religion nicht eben glimpflich umzuspringen pflegt, deutet so etwas wie Blutschande an: „Welches Arg sollte solch ein Mann

daran

finden,

einen

verttauensvollen Vater seiner

Tochter zu berauben und in Blutschande mit allen Mitgliedern

Radikaler Naturalismus.

252

einer Familie zu leben, deren Sittlichkeit durch seine niedrige So­ phisterei untergraben worden?"

Selbst angenommen, diese Aus­

drücke wären etwas stark, so ist es doch kaum glaublich, daß

sie unverdient

seien;

denn

Blackwood Magazine, die

einzige

Zeitschrift, die diesen Poeten etwas gnädiger behandelt, sagt von seinem „Prometheus", „ein pestilenzialischeres Gemisch von Gottes­ lästerung, Empörungsgeist und Sinnlichkeit könne es unmöglich

geben", und der ausgezeichnete Witz Theodor Hook's über das Buch ist Ihnen doch wohl zu Ohren gekommen: „Prometheus

ünbound“?

Das glaube ich gern, wer möcht' ihn binden lassen!'

Und hätte man zwei Jahre nach dem Tode dieses so-un­ günstig beurteilten Dichters sich an seinen Verleger gewendet, um

zu erfahren, ob seine so heftig angegriffenen Poesien nicht wenigstens Käufer gefunden hätten, so würde der Verleger sicherlich über das

schlechte Geschäft geklagt und dem Fragenden die Auskunft erteilt

haben,

daß

während

Shelley's

ganzem

Leben

keine hundert

Exemplare von irgend einer seiner Dichtungen („Queen Mab" und „Cenci" ausgenommen) abgegangen wären, ja daß, was „Ado-

nais" und „Epipsychidion" beträfe, von zehn Exemplaren zu reden noch zu hoch gegriffen sei.

Wie ganz anders würde jetzt die Antwort lauten, falls heu­ tigen Tages jemand ftagte, wer Shelley sei — doch heutigen Tages giebt es in England niemanden mehr, der so fragt.

Am 4. August 1792 wurde Englands größter Lyriker ge­ boren.

Am nämlichen Tage, an dem in Paris die Häupter der

Revolution, Santerre, Camille Desmoulins und andere, sich in

einem Hause auf dem Boulevard versammelten, um Verabredungen, die wenige Tage darauf den Sturz der Monarchie in Frankreich

herbeiführen sollten, zu treffen, kam in England zu Field Place in Suffex ein schönes Knäblein mit dunkelblauen Augen zur Welt,

1 Prometheus (Jnbound — it is well named, who would bind it!

NaLikaler Naturalismus.

253

dessen Leben von größerer und nachhaltigerer Bedeutung für die

Befreiung des Menschengeistes werden sollte, als alles, was im

Monate August 1792 in Frankreich geschah. Sein Name wurde — keine 30 Jahre später — auf dem Grabstein auf dem protestan­

tischen Friedhofe zu Rom, unter welchem seine Asche ruht, einge­

meißelt: Percy Bysshe Shelley, und diesem Namen wurden die

Worte hinzugefügt: Cor Cordium. Cor Cordium, Herz der Herzen, dies die schlichten, tiefen Worte, darein Shelley's junge Gattin den Inbegriff seines Wesens

faßte, die wahrsten und tiefsten, die über ihn gesprochen werden konnten.

Er war der Sprößling einer altadeligen, angesehenen Familie. Sein Vater war Baronet und im Besitze eines bedeutenden Ver­ mögens, aber ein beschränkter Mann, der Anhänger alles Bestehenden,

nur weil es bestand.

Dessenungeachtet war Unregelmäßigkeit ebenso

erblich in Shelley's Geschlecht, wie Wildheit und Gewaltthätigkeit in dem Byron's.

Der Großvater, ein aufgeregter, überspannter

Mann, hatte drei Frauen entführt, wie ihrerseits zwei seiner Töchter sich entführen ließen; Züge, an welche Begebenheiten im

Leben des Enkels gerade so gemahnen, wie man bei so mancher Handlung Byron's daran erinnert wird, daß eine Grundsumme

ungezügelter, rücksichtsloser Leidenschaftlichkeit sein unbestreitbares

väterliches

und mütterliches Erbe war.

Indes bildete die Un­

regelmäßigkeit nur die äußerliche, wenig bedeutende Seite von Shelley's Natur und Existenz.

Sie war nur ein Symptom der

tiefen Empfänglichkeit und Weichmütigkeit, denen der Bettachter seines Lebens frühzeitig begegnet.

In der Schule ist er, selbst

mißhandelt, empört über die Mißhandlungen, welchen die schwächeren

und jüngeren Schüler nach englischem Brauch seitens der größeren

und der Lehrer ausgesetzt waren.

Opfer derartiger Roheit,

wie

Keiner scheint so wie er zum aller anderen Arten von Roh­

heiten, die ihm später widerfuhren, ausersehen gewesen zu sein.

Denn alles, was gemein und dumm und schmutzig war, hegte eine natürliche Antipathie gegen ihn, und er fand sich niemals mit

irgend einem oder irgend etwas dergleichen ab. Man gewinnt eine deutliche Vorstellung von dem Eindruck, den er bei seinem ersten Hinaustreten ins Leben empfing, wenn

man ein versifiziertes Fragment liest, das nach seinem Tode auf einem Keinen Zettel gefunden wurde: Ach, dies ist nicht, was mir das Leben schien!

Wohl glaubt' ich an Berbrechen, Bosheit, Haß,

Auch hofft' ich nicht den Leiden zu entstiegn;

Doch in des eignen Herzens Spiegelglas Sah ich die Herzen andrer —

Er wappnete, sagt er, sein Herz mit einem dreifachen Panzer

ruhiger Standhaftigkeit.

Doch der passiven Widerstandskraft ging

bei ihm die leidenschaftliche Entrüstung voran.

Dies Herz, das

er mit Ausdauer wappnete, war zu schwärmerisch und heiß, um nicht Angriffspläne hinter seiner Ringmauer zu hegen. In der Einleitnng zur Empörung des Islam gedenkt er der

Stunde, da sein Geist zuerst aus seinem Schlummer erweckt wurde: Ein Morgen war's im Mai, die jungen Saaten

Glänzten von Thau — da brachen Thränen vor; Nicht wußt' ich anfangs, welchem Schmerz sie galten. Da nahten aus der Schule meinem Ohr

Die Stimmen einer Welt voll Leid — sie hallten

Mir zu dem grimmen Streit tyrannischer Gewalten. Ich rang die Händ' und blickte um mich, doch War niemand da, zu spotten meiner Thränen,

Die gierig der besonnte Boden sog —

Da sprach ich: „Darf die Macht ich in mir wähnen, Gerecht zu sein, und weis' und mild, und frei,

So will ich's werden, denn zu schau'n verdrossen

Bin ich, wie Stärk' und Selbstsucht sonder Scheu

Bedrücken stets."

Nicht mehr die Thränen stossen,

Mein Herz ward ruhig, und zum Kampf war ich entschlossen.

Das Geschlecht, das gleichzeitig mit der ersten französischen

Republik und unter denselben Sternen geboren ward, reifte früh

zur Kritik der ganzen bestehenden Überlieferung heran.

der

schon

in

der Schule Unterdrückungssucht

und

Shelley, erheuchelte

Religiosität einander gesellt sah, und dem schon frühzeitig die

Schriften französischer Encyklopädisten, sowie die Hume's, Godwin's

und

anderer Freidenker in die Hände kamen, stellte schon als

halber Knabe über die Geschichte, die Endzwecke und Verirrungen

des Menschengeschlechtes, jugendlich aber frei, im Geiste des acht­ zehnte» Jahrhunderts seine Betrachtungen an.

Wessen seine Kameraden sich später aus seiner Jugend er­ war die Außerachtlassung der schuldigen Pietät und

innerten,

„daß

Loyalität,

sprach." oder

er schlecht von seinem Vater und dem Könige

Unter den Knaben wurde er allgemein der „tolle Shelley"

„der Atheist Shelley" genannt, und so knüpfte sich zum

erstenmale

an

feinen Namen

jenes

gehässige Wort,

das sein

Lebenlang daran gekoppelt bleiben sollte, damit wieder daran jeder Hohn und Unglimpf sich hefte. Es ist überflüssig, bei jenen Vorkommnissen im Leben Shelley's zu verweilen, mit denen jeder, der seinen Namen gehört, wenigstens

oberflächlich vertraut ist: wie er als achtzehnjähriger Student die drollige Gepflogenheit hatte, seine religiösen, politischen und sozialen

Zweifel in Briefform niederzuschreiben, und diese Briefe verschie­

denen mehr oder minder bekannten Personen, die er jedoch persön­ lich nicht kannte, mit der Bitte zuzusenden, dieselben und die Argumente, wider die er für seinen Teil keine Gegengründe zu finden vermöchte» zu widerlegen; wie aus diesen Briefen, welche größtenteils Aus­

züge aus den Werken Hume's und der französischen Materialisten enthielten, eine kleine, nun verschwundene anonyme Schrift, „Die Notwendigkeit des Atheismus", entstand, welche, mit einem Q. E. D. schließend, von Shelley in der naiven Hoffnung,

auf das Be­

wußtsein der Zeitgenoffen reformierend zu wirken, dem bischöflichen

Obergericht zugestellt wurde. bekannt.

Was hierauf erfolgte, ist gleichfalls

Er wurde als Verfasser denunziert, aus der Universität

Radikaler Naturalismus.

256

gestoßen, aus dem Vaterhause verwiesen.

Wir glauben heutigen

Tages nicht mehr, daß eine ernsthafte, wissenschaftliche Überzeugung,

wie sie auch laute, dem, der sich zu ihr bekennt, eine beschämende Strafe zuziehen dürfe.

Doch doppelt widersinnig wird die Strafe,

die Shelley traf, dadurch, daß er in Wirklichkeit in der Broschüre,

deren Hauptinhalt die Noten zu „Queen Mab" bilden, nicht mehr Atheist ist, als es z. B. H. C. Oersted in seinem bekannten Buche

„Der Geist in der Natur" war.

Er hat zu jener Zeit keinerlei

folgerichtige, zusammenhängmde Lebensanschauung, ist sich nur über

den einen Hauptpunkt klar, ein Anhänger irgend

einer positiven

Religion weder zu sein, noch jemals werden zu können.

übrigen

aber

verschmelzen

Im

sich materialistische Eindrücke seiner

Lektüre mit einem schwärmerischen Pancheismus, den er niemals

aufgab.

Als Trelawny in Shelley's Todesjahr ihn frug: Weshalb

haben Sie sich selbst einen Acheisten genannt? entgegnete Shelley: Ich gebrauchte das Wort, um meinen Abscheu vor Aberglauben aus­ zudrücken. Ich nahm es auf, wie ein Ritter in alten Tagen einen

Handschuh aufnahm, um der Ungerechtigkeit zu trotzen. Shelley war schmächtig und hochaufgeschossen, schmal in den Schultern, die Züge unregelmäßig, doch der Mund ungewöhnlich schön, anziehend und sinnig, das Auge weiblich und fast seraphisch

in seinem Blick, der Ausdruck unendlich bewegt und wechselnd, bald als zähle er nicht mehr als seine 19, bald als sei er 40 Jahre alt. In den zehn Jahren, die ihm noch zu leben vergönnt waren, wurde

seine Erscheinung männlicher, dennoch machte er mitunter einen

halb knabenhaften, halb weiblichen Eindruck.

Daher Trelawny's

Erstaunen bei seiner oftmals geschilderten ersten Begegnung mit

Shelley.

War es möglich, konnte dieser bartlose Jüngling mit

den sanften Zügen

das Ungeheuer sein, das mit der Welt in

Fehde lag, der Gründer einer satanischen Schule in der Litteratur,

wie seine Rivalen ihn beschuldigten?

Zu jener Zeit trug sein

Antlitz, dessen vorherrschendes Gepräge Raschheit und Bestimmtheit

war, einen wechselnden Ausdruck von Ernst, Freude, rührender Trauer und gleichgültiger Müdigkeit.

Es stimmte derselbe häufig

zu den Worten in seinem Gedichte an Edward Williams: Des Hasses bin ich stolz, des Hohns zufrieden; Gleichgültigkeit, die einstens mich verletzt. Ist mir sogar gleichgültig worden jetzt.

Übrigens sah er, um den Ausdruck eines seiner Jugendfreunde zu gebrauchen,

übernatürlich begabt aus,

und Mulready, ein

damals berühmter Porträtmaler, erklärte es für unmöglich, Shelley zu malen, er wäre „gar zu schön." Als einen Jüngling von dem Wesen, wie wir es hier zu be­

schreiben versuchten, exaltiert wie ein Poet, mutig wie ein Held, scheu und errötend wie ein junges Mädchen, leicht und behend wie Shakespeare's Ariel müssen

Freunden von ihm:

wir

ein- und ausgehend denken.

uns

Shelley

bei

seinen

Frau Williams äußerte

Er kommt und geht wie ein Geist.

Niemand weiß

wann und wohin. Seine Gesundheit war sein ganzes Leben hindurch unerträg­

lich schwach und würde wohl kaum widerstandsfähig gewesen sein, hätte er nicht die strengste Diät beobachtet; von seinem zwanzigsten Jahre an huldigte er mit zweifelhaftem Nutzen dem Vegetaria­ nismus.

Er hatte Anlage zur Schwindsucht; er litt beständig an

Nerven- und Krampfanfällen so heftiger Art, daß er sich zuweilen

vor Schmerzen auf dem Boden wähle und häufig Opium nahm, um sie zu lindern.

Zu Zeilen, wenn er besonders heftig litt, kam

die Opiumflasche nicht aus seiner Hand.

Als er 1816 die Spitäler

zu London besuchte und Medizin studierte, um die Armen pflegen

zu können, wurde er selbst ernstlich krank, wobei ihm ein hervor­ ragender Arzt prophezeite, er würde an Schwindsucht sterben.

Seine Brust kräftigte fich indes nach einigen Jahren.

Infolge

seiner Besuche bei den Armen in ihren verseuchten Dörfern zog

er sich eine gefährliche Augenentzündung zu. Brandes, Litteratur de- 19. Jahrh. VI.

Dieselbe befiel ihn 17

Radikaler Naturalismus.

1817 neuerdings und 1821 abermals, so zwar, daß er währmd ihrer Dauer nicht lesen durfte.

So teuer bezahlte er die hochgespannte Menschenliebe, die

ihm Religion war.

Sie war überallhin seine Begleiterin.

Als

er zu Marlow in England wohnte, verwandelte er trotz seiner

spärlichen Einkünften alle Armen der Gegend in seine Pensionäre; sie kamen allwöchentlich zu ihm und erhielten ihren Sold. saß

an ihrem Bette,

konnten.

wenn sie krankheitshalber nicht kommen

Einmal kam er barfuß bei einem seiner Nachbarn auf

dem Lande an. schenft.

Er

Er hatte einem armen Weibe seine Schuhe ge-

Aus eigenem Antrieb verzichtete er zu gunsten seiner

Schwestern nahezu auf sein ganzes Erbe und zwar sofort nach seiner Vertreibung aus Oxford, und als sich später sein jährliches

Einkommen auf ungefähr 1000 Pfund belief, wanderte dasselbe

fast vollständig direkt in anderer Menschen Taschen, besonders

in die bedürftiger Schriftsteller, deren Schulden er bezahlte, und denen er ein sicheres Auskommen mit einer Mildthätigkeit und

einem Edelmut schaffte, die in gar keinem Verhältnis zu seinen

Mitteln standen. mißverstandener

Folgendes die Geschichte seiner ersten Ehe: Aus und

übertriebener

Ritterlichkeit

entführte

er,

19 Jahre alt, ein sechzehnjähriges Schulmädchen, das leidenschaftlich in ihn verliebt war und sich über die Mißhandlungen ihres Vaters

beklagte.

Dieser wollte sie die Schule zu besuchen zwingen (!) und

die Liebschaft mit Shelley nicht gestatten.

Nach einigen Zusammen­

künften lief Shelley mit Harriet Westbroock nach Schottland auf

und davon und verheiratete sich mit ihr in Edinburgh. • Den vielen harten Angriffen gegenüber, denen der Dichter aus diesem Grunde ausgesetzt war, dürfte die Äußerung Roffetti's hier am Platze sein,

daß nicht eben viele junge, reiche, christliche Barone sich mit der Tochter eines ehemaligen Gastwirtes, die sich selbst erboten hatte, ihnen als Geliebte zu folgen, vermählt haben würden.

Diese

übereilte und aus unreifen Beweggründen geschlossene Ehe ge-

stattete sich unglücklich.

Sie wurde aufgelöst, als Shelley 1814

die 17 jährige Mary Wollstonecraft Godwin kennen lernte und eine

unwiderstehlich heftige Neigung , zu ihr faßte.

Sie, eine Tochter

der ersten berühmten Verfechterin der Frauen-Emanzipation und des radikalen Verfassers jener Schriften, die in Shelley's Jugend

so tiefen Einfluß auf ihn geübt hatten, schenke ihm ihre Liebe frei und warm und befand sich, als sie ihm ihr Jawort gab, in

Übereinstimmung mit ihrem eigenen Moralgesetz.

Beider An­

schauungen über die Ehe waren allzu ideal, um nicht vom Pöbel für pöbelhaft gehalten zu werden, doch im wirklichm Leben un­

praktisch und undurchführbar.

Obgleich gegenseitige Liebe und

keine kirchliche oder bürgerliche Formalität beiden als das einzig heilige eheliche Band galt, beschlossen sie das Jahr darauf aus plastischen Gründen und um ihrer Kinder willen, sich trauen zu

lasten.

Sie verließen England, um erst eine kürzere Reise nach

Frankeich, die fast gänzlich zu Fuß zurückgelegt wurde, hierauf jene größeren Reisen zu unternehmen, auf denen Shelley's Name

sich mit dem Byron's verknüpfte, während die Wut der englischen Presse gleichmäßig über beide herfiel, ja so weit ging, daß das

Gerücht ihrer schönen, männlichen Freundschaft eine schändliche Auslegung lieh.

Zu einer wahren Explosion bot Southey der unbedeutende, harmlose Umstand Anlaß, daß Shelley in einem steinen Berg­

häuschen auf Montanvert am Chamonixthale unter eine lange Reihe von süßlich frömmelnden Ergüssm über die Natur und

den Gott der Natur die äußerst unorthographische Hexameterzeile

gesetzt hatte: equ cptlävd-Qümoc d^toXQäzixoc

t

ä&eoQ ze. Percy B. Shelley.

Zu deutsch: Ich bin ein Philankop, ein Demokat Und ein Atheist. Southey's vorerwähntes Manifest gegen Byron nahm hiervon 17*

seinen Ausgangspunkt. Dies in wenigen Worten die Ouvertüre zu Shelley'- Leben und Dichtung. Cor cordium wurde er mit Recht genannt. Das heißt, was er verstand und fühlte, das war der Mittelpunkt und Kern der Dinge, deren Geist, deren Seele, und die Gefühle, denen er Aus­ druck gab, es waren jene allerinnigsten, für welche das Wort zu grob erscheint, die in Musik sich Lust machen oder, wie bei ihm, in Versen, die ebenso musikalisch sind wie reich harmonisierte Melodien. Die verhaltene Wehmut in Shelley'- Lyrik erinnert zuweilen an die Shakespeare'-; das kleine Lied der Spinnerin in The Cenci z. B. an die Lieder des Narren in „Was ihr wollt" oder an die Weisen Desdemonas und Ophelias. Wo er jedoch am meisten er selbst ist, da läßt er Shakespeare an Zartheit hinter sich, läßt er sich überhaupt mit keinem anderen Dichter vergleichen, denn Höheres hat keiner geleistet. Die Keinen Gedichte aus dem Jahre 1821 und 1822 dürften die vorzüglichsten sein, welche die englische Sprache hervorgebracht. Ebenso wundervoll durch ihre Melodie wie durch die Zurück­ haltung des Ausdruckes ist eine Strophe wie die folgende: One word is too osten profaned For me to profane it; One feeling too falsely disdained For thee to disdain it; One hope is too like despair For prudence to smother; And pity from tliee more dear Than that from another.

Der Worte sind nicht gar viele, noch ist die Versbehandlung besonders eigenartig, doch keine Zeile könnte hier von einer anderen Hand als der Shelley's stammen. In diesen kleinen Gedichten äußert sich die Melancholie bei ihm, die in den größeren Dichtungen verschleiert oder von seinem

lichten Zukunftsglauben, den für die Menschheit gehegten strahlen­

den Hoffnungen, bezwungen wird. In seinem eigensten, innersten Wesen war er durch das Be­

wußtsein der Wandelbarkeit aller Dinge, durch die frühzeitig ge­ machten Erfahrungen, wie sehr das Gefühl irreleite, die Liebe enttäusche, daS Leben trüge, von tiefer Wehmut erfüllt.

Unver­

gänglichen Ausdruck hat er diesem Bewußtsein in dem Gedichte

Mutability gegeben: Die Blume, die heut' sich entfaltet, Schon morgen verblüht:

Und was wir uns dauernd wünschen,

Reizt und entflieht. WaS sind die Freuden der Welt?

Ein Blitz, der die Nacht erhellt, So flüchtig wie glänzend. Tugend, wie ist sie so schwach!

Freundschaft, ein Scherz! Lieb', wie sie armselig Glück Tauscht um stolzen Schmerz!

Doch wir, ob sie bald auch entschweben, Ihre Freuden und alle- überleben. Was unser wir nennen. Während die Blumen noch fröhlich schimmern Und der Himmel lacht.

Während Augen den Tag erheitern Und wechseln vor Nacht,

Während trüg' ruhiger Stunden Lauf

Träume und dann wache auf Vom Schlummer, zu weinen.

Die erste Strophe weist auf die Flüchtigkeit aller Schönheit und

Freude des Erdenreiches hin: Alles, wovon wir wünschen, daß es

bleibe, entflieht.

Die zweite gedenkt des Schmerzes, der sich selbst

in der Freude birgt:

wie hinfällig die Tugend, wie selten die

Freundschaft! Welche karge Wonnen und welch heftige Verzweiflung schafft die Liebe! Und sie gedenkt der größten aller Qualen: wie kurz auch die Freude währt, wir überleben sie und alles, was wir

unser nennen.

Die letzte Strophe endlich sagt: Träume denn, so

lange der Himmel klar, das Leben hell erscheint, und erwache dann zu Thränen!

Eine verwandte Stimmung ist in dem unvergleichlich herr­ lichen Gedichte ausgedrückt, das den einfachen Titel Lines trägt

und mit den Worten When the lamp is shattered beginnt.

Shelley hätte dasselbe nicht schreiben können, wenn nicht eine Schwärmerei nach der anderen in seinem Leben sich in Ranch aufgelöst hätte, wenn nicht nacheinander der Leidenschaft für Harriet, für Mary, für Emilia Viviani ein schmerzliches Erwachen gefolgt

wäre.

Gleichwohl trägt das Gedicht nicht das Gepräge irgend­

welchen persönlichen Bekenntnisses.

Es ist durchaus eine schmerz­

lich bewegte Verkündigung des allgemeinen Lebensgesetzes, erst leise gesummt, dann aber mit einer Stimme gesungen, die ihresgleichen

sucht.

Die erste Strophe lautet: Wenn die Leuchte zerschmettert,

Das Licht im Staube versprüht; Wenn di« Wölk' sich entwettert. Der Regenbogen verglüht;

Wenn die Laute zerbrochen. Der teure Ton achtlos verhallt:

Wenn die Lippen gesprochen,

Wird die Stimme vergessen bald.

In der dritten Strophe kommen nachstehende Zeilen vor,

die

bündig sind, wie die Rhetorik Pope's und melodisch wie Tatte

Beethoven's:

0 love, who bewallest The frailty of all things here, Why chose you the frailest For your cradle, your home, and your hier? Und das Gedicht schließt mit der folgenden Prophezeiung, itt

welcher man das verheerende Stürmen der Leidenschaft vernimmt: Seine Leidenschaft wird dich wiegen Wie die Raben des Sturmes Getümmel;

Der Helle Verstand wird dich trügen Gleich der Sonne am Winterhimmel. Dein Nest wird verrotten;

Du Adler wirft bloß dastehen Bor der Menschen giftigem Spotten, Wenn das Laub fällt, die Eiswinde wehen.

Zm stärksten Widerstreite zu dieser unsagbaren Innerlichkeit scheint

bei Shelley die Eigentümlichkeit zu stehen, die jedem, der ihn nur

aus Anthologien kennt, auf den Lippen schweben dürste, daß näm­ lich seine berühmtesten lyrischen Dichtungen einen außerhalb des Gefühlslebens, ja außerhalb der Menschenwelt liegenden Vorwurf haben, von Wind und Wolken, von dem bewegten Leben der äußeren Elemente, von der unermeßlichen Freiheit und Sturm­

gewalt des Wassers und der Winde handeln. logische und kosmische Poesien.

Es sind meteoro­

Allein es liegt kein Widerspruch

darin, daß der innerlichste Lyriker zugleich anscheinend der äußer­

lichste ist.

Wir finden die Ursache in einer kleinen Abhandlung

Shelley's, welche den Titel „Über die Liebe" führt, angegeben.

Er schildert das Wesen der Liebe

als einen unwiderstehlichen

Drang nach Sympathie.

„Wenn wir denken, wollen wir verstanden werden; wenn unsere Einbildungskraft gestaltet, wollen wir die luftigen Kinder

unseres Hirns , in dem Gehirne anderer wiedergeboren sehen; wenn wir fühlen, wollen wir nicht, daß Lippen aus starrem Eis Lippen

antworten, die von dem besten Blute des Herzens beben und

glühen.

Dies ist Liebe. Einen Geist zu entdecken, der den unserigen

zu würdigen vermag, eine Einbildungskraft, die einzugehen ver­

mag auf die feinen und starken Eigentümlichkeiten, die im. Stillen zu hegen und auszugestalten uns zur Freude gereichte, das ist der

unsichtbare und unerreichbare Punkt, dem alle Liebe zustrebt.

So

kommt es, daß wir in dem verlassenen Zustande, in dem wir uns,

von Menschen , umgeben, die nicht mit uns sympathisieren, befinden,

Blumen, grüne Matten, die Wasser, den Himmel, die Beredsamkeit der Winde und die Melodie der Wogen mit dem gleichen Entzücken lieben,

mit welchem wir der Stimme einer Geliebten lauschen,

wenn sie einzig uns ihr Lied singt." In einer Note zur „Fee des Atlas" bemerkt Frau Shelley

gleichfalls, daß die Gewißheit, weder Sympathie noch Beifall bei seinen Landsleuten zu finden — gepaart mit der Scheu, durch Vertiefung in die Leidenschaften die eigenen Herzenswunden auf­

zureißen, ihn dazu getrieben habe, Vergessenheit in bett lustigen

Flügen der Phantasie zu suchen. Doch jener tiefe Drang nach einer Sympathie, welche die um­

gebende Menschenwelt ihm versagte, gestaltete seine Auffafiung der Natur zu einem nie zuvor gesehenen feurigen Buhlen um die Natur und verlieh derselben ihre tiefe Originalität.

erhört war dergleichen in der englischen Poesie.

Un­

Pope's steift

Kunstschule war von der Seeschule abgelöst worden.

Pope hatte

die Lust mit Affektation parfümiert; die Seefchule hatte der ftischen

Atmosphäre der Berge und der Seen weit die Fenster geöffnet, doch Wordsworth's Naturliebe war leidenschaftslos, was er auch

anders Lautendes in Tintern Abbey gesagt hat.

Die Natur war

ihm ein Labsal und ein Stoff für protestantische Nestexionen.

Das

bescheidenste Blümchen, welches ihm Gedanken eingab, die

ost z« tief für Thränen lagen/ er nahm es in sein Knopfloch,

schmückte sich damit und betrachtete es hie und da mit stiller Würde, über einen Vergleich nachsinnend.

Shelley stürzt sich in

die Natur, als die Menschenwelt sich ihm verschließt.

Deshalb

empfindet er sie nicht wie andere außer sich als kalt, als gleich­ gültig oder grausam.

Ihre steinharte Ruhe dem Wohl und Wehe

der Menschen gegenüber, ihre göttliche Fühllosigkeit gegenüber

1 To me the meanest flower that blows can give Tdughts that do osten lie too deep for tears. Poet. W. III, 322.

unserem Leben und unserem Tode, unseren kurzen Triumphen und langen Qualen, ist ihm Milde im Vergleich zu der Dummheit und Roheit des Menschengeschlechtes.

Er verhöhnt in „Peter

Bell III." Wordsworth, weil er die Natur als eine Art geistig Verschnittener liebe, der nie gewagt, ihr den Gürtel zu lösen: er selbst liebe sie, wie man eine Geliebte liebt, er verfolge ihre heim­

lichsten Schritte wie ihr Schatten, sein Puls schlage in geheimnis­ vollem Mitgefühl mit dem ihren.

Er gleicht selbst seinem Alastor,

dem Geist der Winde und der Luft mit strahlendem Auge, frischem

Odem und flüchtigem Fuß.

Er nennt Tiere und Pflanzen seine

geliebten Brüder und Schwestern und bei seiner liefen Empfänglich­

keit, seiner zitternden Feinfühligkeit, vergleicht er sich unter den

Tieren dem Chamäleon, unter den Pflanzen der Mimose.

In

einem seiner Gedichte spricht er von den Chamäleons, die, von

Licht und Luft, wie die Dichter von Liebe und Ruhm lebend, wohl zwanzigmal des Tages nach jedem Sonnenstrahle die Farbe

wechseln, und vergleicht das Dasein der Dichter auf dieser kalten

Erde mit dem Leben, welches jene führen würden, wenn sie in einer Höhle unter dem Meere eingeschlossen wären.

In einem

anderen weltberühmten Gedichte erzählt er, wie die Mimose im Garten wächst, wie der Wind sie nährt mit Silbertau, und wie sie

sich schließt unter dem Kuß der Nacht. Und jegliches Blümchen rings umfloß Das Licht und der Duft, die sein Nachbar ergoß.

Wie die liebe Jugend beim zärtlichen Kuß Den Atem teilet in Wonnegenuß.

Die Mimose nur, die wenig verstand. Zu künden der Liebe verzehrenden Brand, Empfing mehr als alle und liebte mehr.

Als ihr geben konnte der Liebe Gewähr. Denn ach, sie besitzt nicht duft'ge Bluten, Die herrlich in schimmernden Farben erglühten ;

Sie liebt wie die Liebe, ihr Herz ist voll, Sie ersehnt, was ihr fehlt: der Schönheit Zoll!

Noch eigentümlicher, noch persönlicher tritt Shelley's innerstes

Wesen, das Herz seines Herzens, wie die schwersten Geschicke es

formten und prägten, in der herrlichen Elegie auf Keats hervor, verfaßt in dem glühenden Zorn, der über den niederen Angriff der Quarterly Review in ihm entbrannte.

Wenn man diese

feinen melodiösen Strophen in einer anderen Sprache wiedergiebt,

wird man, so trefflich die Umdichtung auch sein mag, unwillkürlich

daran gemahnt, daß Shelley in einem Essay jeden Versuch einer solchen mit dem thörichten Beginnen vergleicht, ein Veilchen in

einen Schmelztiegel zu thun, um seines Geruches und seiner Farbe habhaft zu werden.

Shelley schildert, wie die Dichter aller Zeiten

sich zur Totenklage einfinden: Und einer unter den Geringren geht, J Ein Fremdling unter Menschen, schmerzgebeugt,

Allein, gleich letzter Wolke, wenn ausweht

Das Wetter; seinem Aug' sich hat, mir deucht, Die nackte Schönheit der Nalur gezeigt Wie einst Attäon.

In die öde Weis

Der Welt mit schwachen Schritten er entweicht,

Verfolgt von der Gedanken wilder Meute: Der ihnen Vater war, den Hetzen sie als Beute.

Em Geist, gleich einem Panther schnell und schön — Liebe gehüllt in Kummer — eine Macht

Bon Schwäch' umgeben — fast möcht' er vergehn In Ohnmacht von der Stunden schwerer Tracht;

Fallender Siegen; Licht, vergehend in Nacht; Brechende Wog' ist er; selbst wie wir reden.

Sinkt er nicht hin?

Die Sonne tötend lacht

Auf welke Blumen; lebensvoll sich röten

Die Wange tarnt, indes das Herz in Todesnöten. Sein Haupt umkränzt mit welker Beilchetr Blässe,

Und mit verblühendem Vergißmeinnicht; Ein Speer, gekrönt vom Zapfen der Cypresse,

Um dessen Schaft sich dunkler Epheu flicht,

Dran noch des Thaues Tropfen funkeln licht.

Bebt in der. Hand, wie von des Pulses Stoß Die Hand, der für so leichte Last gebricht

Die Kraft beinah — er kam gefährtenlos. Verlassen wie ein Reh, verletzt vom Jagdgeschoß.

Sie standen fern, durch ihrer Thränen Schauer Stilllächelnd.

Sie erkennen ihn, der sang

In fremdem Lose seine eigne Trauer, Wie jetzt in unbekannten Tönen klang

Sein Klagelied.

Urania forschte bang

Und stumm: Wer bist du? Antwort nicht entfloß

Dem Fremden, doch im roitben Schmerzesdrang Die Stirn, gezeichnet, blutig, deckt er bloß,

Gleich Kains oder Christus' Stirn.

Daß so sein Los!

Mit Aktäon vergleicht sich Shelley hier, den der Anblick der nackten Schönheit der Natur zerrissen hat.

Offenbar bedurfte es

seiner ganzen Willenskraft, um mit einem so zarten, gebrechlichen Körper nicht den Traumgebilden und Sinnestäuschungen, die ihn

heimsuchten, zu unterliegen.

So manches Mal war ihm, als

drohten die Gesichte, die sich seiner Einbildungskraft aufdrängten, sein Hirn zu sprengen, und wenn er dann in fremden Landen, im Exil, Linderung in der Einsamkeit suchte, erlebte er Natureindrücke,

wie jene, die er in den hinreißenden „Zeilen, in einer trüben

Stunde in Neapel geschrieben", festgehalten hat, Zeilen, die als die

Quintessenz von Shelleys ganzer Poesie betrachtet werden können. Er schildert nicht die Landschaft, er schildert überhaupt nie.

Er

beschreibt nicht die äußeren Formen und Farben der Dinge, doch

er empfindet mit äußerster Empfänglichkeit, was wir den Geist,

die Seele der Dinge genannt haben.

Mit wenigen Strichen zeichnet er das Bild des Golfes: Die Sonn' ist warm und still die See, Mit Lächeln blickt der Himmel drein. Der Insel Blau, der Berge Schnee

Umkränzt der goldne Abendschein. Wie Sternenflut, der Wellen Blau

Hinplätschert leis zum Uferrand. . . Der Flut entblitzt wie leuchtend Erz Ein Funkeln, und im Abendbrand Entsteigt ein Klingen uferwärts. —

Ach! ruft er auS: Wie süß, erbebte nur wie meins ein einzig Herz!

Weh mir, ich hab' nicht Glück noch Ruh', Noch Frieden in des Herzens Nacht, Noch fiel mir jener Reichtum zu,

Den Weisheit bringen und Bedacht,

Gekrönt mit inn'rer Glorie Pracht. Nicht Ruhm, noch Macht, nicht Lieb und Heil — Ach, andern hat das all' gelacht;

Sie sagten jedem Tag: „Verweil!" Mir ward des Lebens Kelch nach anderm Maß zu Teil. Doch hier ist selbst Verzweiflung lind

Wie Abendrauschen, Meer und Fluß;

Fortweinen wie ein müdes Kind Möcht' ich das Leben voll Verdruß,

Das ich ertrug und tragen muß,

Bis mir der Tod den Schlummer bringt, Bis in der Lüfte warmem Guß Mein Geist ins weite All verklingt.

Und meinem Ohr das Meer sein letztes Murmeln singt.

Diese Worte enthielten eine Weissagung. Doch noch prophetischer sind diese: Wohl hör' ich zürnen, ich sei feilt,

Daß ich gestört in dunklem Sinn Mit einem Herzen, trüb und alt, Auch dieser Stunde Hochgewinn.

Zürnt nimmer!

Denn von Menschen bin

Ich nicht geliebt und doch beklagt,

Und gleich dem Tag, der, wenn dahin,

Sein Glanz, der prächtig uns getagt. Voll Lust und Freude ganz noch im Gedächtnis ragt.

Selbst in der Übersetzung vermag die unendliche Schlichtheit und

Herzlichkeit des Ausdrucks sich nicht zu verwischen. Er, über dessen

sterbendes Hirn grausame Wogen so bald zusammenschlagen sollten, fühlt mit der sanftesten Wehmut sein Wesen sich in die wohl­ thuenden Elemente der Natur auflösen und vergleicht sein Dahin­

scheiden mit dem Erlöschen des herrlichen südländischen Sommer­ tages.

Er liebt die Natur nicht allein in ihrem Aufruhr wie

Byron, sondern schlichten, einfältigen Gemütes liebte er ihre Ein­ fachheit, ihre heilige Einfalt.

Doch dieser Zug ist nicht der am wesentlichsten bezeichnende.

Es tritt ein anderer hinzu.

Selbst titanisch und gigantisch ver­

anlagt, liebt er die titanische und gigantische Schönheit der Natur,

und auch hier wieder auf eine ganz andere Weise wie Byron. Nicht die handgreifliche und leicht zugängliche Poesie der Natur, wie sie sich in den Blumen oder dem Wälde offenbart, besingt er.

Nein,

seine hochfliegende Seele berauscht sich zumeist an dem Erhabenen

und Fernen, an den breiten Bewegungen der Elemente, dem Tanze der Welttörper durch den Himmelsraum.

In dieser Verttautheit

mit den großen Gestaltungen und großen Wandlungen der Natur gleicht Shelley Byron, allein er gleicht ihm wie ein blonder

Genius einem entsprechend brünetten, wie Ariel dem Flammen

bringenden Engel des Morgensternes gleicht. Für Byron gipfelte die Poesie der See in der Poesie des Schiff­

bruches, im Kampf und Nasen von Wirbelwind und Wetter, im Gebrüll des Meeres nach mehr und immer mehr Beute. Für Byron gipfelte die Poesie des Himmels in der Vorstellung von Sturm­

geheul, Donnerhall und dem Zischen der Blitze. Er lebt mit und in

der verheerenden Natur. Der berühmte Passus im vierten Gesang

des „Childe Harold": „Noll an, tiefblauer Ozean, roll an!" jauchzt

dem Meere zu,

das Flotten von seinem Busen fegt, Kaiser­

reiche in seine Tiefen spült und eine Blase aufsteigen läßt auf

seinem Spiegel als einziges Zeugnis, daß ein Mensch versank.

Dieser Paffus ist wie ein Vorspiel zu der gewaltigen, prachtvollen Sintflutvision, welche, „Himmel und Erde" genannt, ein Dithyrambos der Zerstörungslust ist.1

Man lese hierauf Shelley'- berühmtes Gedicht „Die Wolke."

1 Swinburne, der in seinem kleinen, meisterhaften Essay über Byron auf das Naturgebiet, das letzterer mit Shelley gemein hat, hinweist, hat den Gegensatz, der trotz der Ähnlichkeit vorhanden ist, unerwähnt gelassen.

270

Radikaler Naturalismus.

Alle elementaren Kräfte der Natur hört man darin tollen und scherzen, mit reckenhafter Lust, mit gigantischer Wohlthätigkeit und

Freigebigkeit gegen die Erde.

Welche stürmische Frische in dem

Gesang der Wolke, wie sie den dürstenden Blumen erquickende

Regenschauer aus den Seen und Strömen bringt, wie sie leichte Schatten über die Blätter wirft, die in Mittagsträumen ruhen.

Ausgelassen

ist sie,

wenn sie den Flegel peitschenden

Hagels

schwingt oder Schnee über die Berge unten streut, auf daß sie,

vom Arm des Sturms umfangen, die ganze Nacht ruhig auf dem Schneepfühl schlummern kann, oder wenn sie die Wirbelwinde ihr

Banner entfalten läßt, daß die Vulkane sich verfinstern und die Sterne zittern; übermütig, wenn sie mit Donnergelächter daher­

fährt;

stolz,

wenn der blutige Sonnenaufgang, dessen Augen

Meteore sind, auf den Rücken ihres segelnden Dunstes springt —

und stille wird sie, in ihrem lustigen Neste zusammengekauert, wenn der hochrote Mantel des Abends vom Himmel fällt und die lichte

See darunter ihr brennendes Sehnen nach Liebe und Ruhe aus­

atmet.

Sie fühlt ihre Macht, wenn sie, eine ungeheure Brücke,

sonnendicht und finster von Vorgebirg zu Vorgebirg hängt; sie freut sich ihres Sieges, wenn die Triumphpforte, durch die sie

mit Orkan, Feuer und Schnee fliegt, der aus Millionen Farben gewobene himmlische Bogen ist.

Beständig aber spielt sie wie

ein Kind: fegen die Sonnenstrahlen sie

vom Himmelsgewölbe

hinweg, so lacht sie nur, und lachend steigt sie aufs Neue aus

ihrem Nichts empor und reißt sie wiederum nieder, die blaue

Kuppel der Lust. Es ist nicht bloß der Gegensatz zu Byron's düsterer Leiden­ schaft, die in dieser großartigen Kindlichkeit, Freigebigkeit und All­ liebt der Wolke frappiert, es ist noch ein anderer Zug, den wir

hier nur betonen, um später auf denselben wieder zurückzukommen,

das ursprüngliche, ja urzeitliche Gepräge dieser Poesie, das an die ältesten arischen Hymnen, die Bedas und die homerischen Ge-

sänge erinnert.

Byron ist im Vergleich hierzu durchaus modern.

Wenn die Wolke von jener Jungfrau redet, gekleidet in weiße

Flammen und von den Sterblichen Mond genannt, die da schimmernd

hingleitet

auf ihrem flockigen Grunde,

und deren unsichtbarer

Fuß mit leichten Tritten, nur den Engeln hörbar, das Gewebe ihres dünnen Zeltdachs durchbricht, oder wenn sie von dem blutigen

Sonnenaufgange mit den Meteoraugen singt, so hat der Dichter, kraft der Urfrische seiner Phantasie, den Leser zurückversetzt in

jene Zeit, wo die Naturerscheinungen in voller Neuheit sich zu Mythologien gestalteten. Für Shelley waren diese Naturerscheinungen ewig neu.

Er

lebte unter ihnen auf ganz andere Weise, als je ein Dichter vor

ihm

oder nach ihm.

Sein kurzes Leben von 29 Jahren ist

fast ganz unter freiem Himmel verbracht worden.

Das Meer

war seine Leidenschaft, er segelte beständig umher, und in seinem

Boote liegend schrieb er seine schönsten Gedichte, indes die Sonne herniederbrannte und das seelenvolle Antlitz und die feinen Hände

bräunte.

Die Leidenschaft für das Meer war sein Leben und

wurde sein Tod.

Alles, was mit Booten, mit Wasserfahrten in

Verbindung stand, hatte einen Reiz für ihn.

Kind dabei.

Er wurde ganz

Er konnte sich ins Unendliche damit unterhalten,

kleine Papierkähne zu fertigen und sie auf dem Waffer schwimmen zu sehen.

Eines Tages, als er kein Papier mehr bei sich hatte,

nahm er eine Fünfzig-Pfund-Note und ließ sie auf einem Garten­

kanal als Boot treiben.

Schwimmen konnte er nicht.

Als er einmal bei seinen un­

aufhörlichen, Tag und Nacht fortgesetzten Segelfahrten auf dem

Genfer See dem Kentern nahe war, schlug er alle Hilfe aus, blieb

ruhig sitzen und erwartete den Tod.

„Mein Gefühl," schreibt er,

„wäre weit weniger peinlich gewesen, wenn ich mich allein befunden hätte, aber ich wußte, daß mein Begleiter versucht haben würde, mich zu retten, und ich fühlte mich tief gedemütigt bei dem Gedanken,

daß sein Leben gefährdet werden könnte, um das meinige zu be­ wahren."

Wenige Jahre hernach aber war das Gefühl, womit

er an solch einen Tod dachte, nicht einmal mehr ein peinliches. Als er, wenige Monate ehe er starb, eines Tages dem Ertrinken

nahe war, doch von Trelawney gerettet wurde, sagte er nur: „Es war eine große Versuchung; wenn alte Weiber recht haben, hätte

ich

in

dieser Minute auf einem anderen Planeten sein

können." In Italien lebte er beständig im Freien, bald auf langen Spazier­

ritten mit Byron in Venedig, Ravenna und Pisa, bald im Ruder­ boote auf dem Arno und Serchio oder im Segelboote an der

Küste von Toscana.

Es ist bemt auch von Interesse zu beobachten,

welch ein Lieblingsgleichnis bei ihm das Boot bildet. Und dichtete er nicht auf dem Wasser, so wenigsten- im Freien.

„Prometheus"

schrieb er in Rom, auf den bergähnlichen Ruinen der Bäder des Caracalla gelagert, und dort, auf diesen schwindelnd hohen, mit

Blumendickichten überwachsenen Bogen fand er unter Roms klarem

Himmel und bei dem kräftigen, fast betäubenden Erwachen des Früh­ lings in diesem herrlichen Klima die Inspiration zu der Dichtung. Das Fragment „Der Triumph des Todes" schrieb er teils auf dem Dache des Hause-, welches er in Lerici bewohnte, teils in

einem Boote Allein Shelley

während hatte

der

drückendsten

Schwüle

und

Dürre.

eine Salamandernatur und lebte in der

brennendsten Sonnenhitze erst auf. In einem Haine am Arno bei Florenz liegend schreibt er

sein gewaltigstes Gedicht, „Die Ode an dem Westwind." Die ersten Strophen rufen uns den Herbstodem des Windes inS Gedächtnis, der

die dürren Blätter, gelbe, schwarze, fahle, hektisch rote, pestkrank, vor sich hinwirbelt, und seinen Lenzhauch, der Thal und Berg

mit satten Farben und Dust erfüllt — ein Rauschen, das sein Echo in den tiefen Tönen des Refrains des Sonetts findet: Hör, o höre mich!

Und gemahnt es nicht wiederum an die alten Mythologien,

wenn er von den zerrissenen Regenwolken singt, die von des Himmels und des Meeres verschlungenem Geäste hernieder ge­ schüttelt werden auf des Windes Fläche — wenn er von dem Gelock

des Sturmes singt, das den luftigen Plan umflattert, dem lichten

Haare gleich, das sich am Haupte einer zornglühenden Mänade sträubt. Doch des Westwindes Wehen und Shelleys ganze Seele

atmen aus in diesem Schlußerguß: O, nimm mich auf als Blatt, als Welle bloß!

Ich fall' auf Schwerter, ich verblute hier! Zu Tode wund sinkt in des Unmuts Schob

Ein Geist wie du, stolz, wild und fessellos. Laß gleich dem Wald mich deine Harfe sein, Ob auch, wie seins, mein Blatt zur Erde fällt!

Der Hauch von deinen mächt'gen Melodein

Macht, daß ein Herbstton beiden tief entschwellt.

Süß, ob in Trauer. Sei, du stolzer Geist, Mein Geist! Sei ich — du stürmevoller Held!

Gleich welkem Laub, das neuen Lenz verheißt, Weh' meine Grabgedanken durch das All, Und bei dem Liede, das mich aufwärts reißt,

©treu, wie vom Herde glüh'nder Funkenfall Und Asche stiebt, mein Wort ins Land hinein!

Dem Erdkreis sei durch meiner Stimme Schall Der Prophezeihung Horn! O Wind, stimm' ein: Wenn Winter naht, kann fern der Frühling sein?

Man vergleiche diese Ode mit der herrlichen Stelle im dritten Gesang von Harolds Pilgerfahrt, wo Byron ausrnst: Könnt' ich verkörpern alles doch, was mich So ganz erfüllt, und könnt' ich Ausdruck leih'n

All den Gedanken, bis ergossen sich Herz, Seele, Leidenschaft und Lust und Pein Und Dulden in ein einzig Wort, und wär'

Ein Blitz dies Wort!

oder mit jener Stelle, wo er am Genfer See im tobenden Un­

wetter der Nacht zürnst: O, laß mich teilen deine wilde Lust, Ein Teil des Sturmes und ein Teil von dir! BrandrS, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

18

274

Radikaler Naturalismus.

und man hat in einem lehrreichen Beispiel den Gegensatz zwischen der Schwärmerei für die Natur eines alles umfassenden und eines

alles herausfordernden Dichtergeistes.

Shelley will der Natur

nicht wie Byron ihren Donnerkeil entreißen. Er liebt sie nicht als

seine Waffe, sondern als sein Instrument; er liebt sie ungeschreckt von ihren ungeheuren Verhältnissen, vertraut mit ihrer Riesengröße,

das Weltall als seine Heimat empfindend. Am allerliebsten weilt seine Phantasie bei den Weltkörpern, er wird von ihrer Schönheit,

ihrem Leben angezogen, wie andere von der Schönheit des Vergißmeinnichts und der Rose. Welche mächtige, weltbeherrschende Phantasie in dem Gedichte,

das er bei der Nachricht vom Tode Napoleons niederschreibt: Wie! Erde, so kühn und voll Lebenslust?

Bist du nicht allzukühn? Was kleidest du noch die alternde Brust Wie einst in schimmerndes Grün?

Du letztes Glied in der Sternenschar,

Rollst du noch weiter von Jahr zu Jahr? Ist starr der Leib nicht, wenn der Geist entflohen?

Du regst dich noch, da tot Napoleon?

Wie? Ist dein pochendes Herz nicht kalt? Welcher Funken blieb deinem Herde?

Ist nicht sein Totenlied erschallt?

Und du lebst noch, Mutter Erde?

Du wärmtest dir doch die welke Hand An der Asche Gluten, die ausgebrannt, Des feurigsten der Geister, als er floh —

Was, da er tot ist, lachst du jetzt so froh? . . . Die Erde jubelt: „Noch lebenswach

Ist und kühner als je meine Brust.

Mich erfüllen die Toten zehntausendfach Mit Schnelle, mit Schimmer und Lust. Ich war wolkig, verdrossen nnd kalt Wie ein starres Chaos, aus Eis geballt,

Bis mir die Flammenglut, die ihn verzehrt,

Das Herz gewärmt.

Ich nähre, was mich nährt."

Mit seinem geistigen Auge sah Shelley die Weltkugeln be­

seelt im Himmelsraume kreisen, innerlich glühend, nach außen in die Nacht hinein leuchtend.

Sein Blick tauchte in die tiefen Ab­

gründe, wo grüne Welten aneinander vorbeiglitten, Wandelsterne mit glänzende«! Locken, kalte, lichte Eismonde.

Er vergleicht sie

den Thaukugeln, die am Morgen die Blumenkelche füllen; er sieht sie dahinrollen, Welt auf Welt, von der Entstehung bis zum Unter­

gänge, wie Schaumblasen auf einem Fluß, sprühend, berstend und doch unsterblich, beständig neue Wesen, neue Gesetze, neue Götter, helle und dunkle, webend, die sie wie Gewänder über das nackte

Gerippe des Todes werfen.

Er sieht sie, wie Raphael sie zu Rom

in der Kirche Santa Maria del Popolo malte, eine jede von ihrem

Engel beherrscht und gelenkt, und kraft der poetischen Macht­

vollkommenheit seiner Einbildungskraft weist er dem armen ent­ schlafenen Keats solch einen unbesetzten Thron, eine herrscherlose Sonne an.

Seine „Fee des Atlasgebirges" hat ihre Herrschaft im Äther.

Wie Arion auf dem Rücken des Delphins, reitet sie singend auf einer Wolke durch die Lust und

lacht, wenn sie das brüllende

Sausen der Feuerkugeln hinter sich vernimmt.

Hier spielt Shelley

mit den Himmelskörpern, wie ein Jongleur mit seinen Kugeln; in „Prometheus" öffnet er sie, wie der Botaniker eine Blume öffnet.

Im vierten Akte ist die Erde durchsichtig wie Krystall geschil­

dert, mit all ihren übereinanderliegenden Schichten, ihren Feuer­ wogen, ihren ungeheuren Quellen, die das Meer speisen, ihren Ver­ steinerungen,

begrabenen

Trophäen, Ruinen

und Städten —

und Shelley's Genius umschwebt sie, atmet den starken Duft ihrer Wälder ein, sieht das smaragdgrüne Licht, das die Blätter zurück­

werfen, und hört die wilde Musik der Sphären.

Allein die

Erde ist ihm kein Aggregat; sie ist ihm ein lebendiger Geist, in

besten unbekanntem Innern, ewig unvernommen, eine Stimme

schlummert,

die ihr Schweigen bricht, als sich des Prometheus 18*

Bande lösen.

Als Jupiter in den Abgrund stürzt, stimmen Erde

und Mond einen jauchzenden Wechselgesang, eine Hymne ohne Gleichen an. Die Erde jubelt über ihre Befreiung von der Götter­ tyrannei, der Mond läßt seine glühende, ekstatische Liebeserklärung

an die Erde erschallen, schildernd, wie stumm und still er wird, wenn der Schatten der Erde auf ihn fällt und ihn bedeckt, und wie

voller Liebe zu der herrlichen Erde er da ist. keit hat aufgehört.

Seine Unfruchtbar­

Lebendige Blumen entsprießen seiner Ober­

fläche, er hört Musik in Meer und Luft, indes beschwingte Wolken ihn umschweben, vom Regen schwer, von dem seine jungen Knospen

träumen, und er jubelt: „Das ist Liebe, alles ist Liebe!" Shelley's Phantasie löst das ganze Naturleben auf und freut sich mit der Naivetät des Kindes über jedes einzelne Element.

Die Fee freut sich z. B. über das Feuer: Der Mensch deS Feuers Schönheit selten sieht: Jedwede Flamme, wie ein Edelstein In immer flackernd Licht gelöst, erglüht,

Und jeden einzelnen erquickt ihr Schein.

Und die Fee liebt die Schönheit des Schlafes: Wie schön die Sterblichen ihr Blick gefunden, Im milden Zanberbann des Schlafs erscheinend! Hier zwei Geschwister, Kinder eng verbundm!

Dort ein einsamer Knab' im Traume weinend!

Hier unschuldvoll zwei Liebende umwunden

Bon dm gelüsten Locken, sie vereinend

Wie dunkler Epheu, Einem Stamm entsprossen,

Und dort ein, Greis von Silberhaar umflossen!

Shelley fühlt mit dm Flüssen, die von bett Seen geliebt

werden und in deren Bett verschwinden; er besingt den Tod und das Leichenbegängnis der Natur im Herbst und Winter, ge­

denkt der Blumen, einst über Adonis hingestreut, schildert des Sommers und der Schönhett Göttin, die gleich einem weiblichen

Balder der Gartmblnmen wartet, und malt die wilde Fahrt der

Horen über den Himmel (Arethusa,

Apollo, Pan, Autumn,

Sensitive Plant, die Horen in Prometheus ünbound).

Jedes Lebenselement hat er mit einem poetischen Worte ge­ stempelt — die weithin sich dehnenden, einsamen Gegenden, wo wir die Freude genießen, zu glauben, was wir sehen, sei grenzenlos,

wie wir von unserer Seele es wünschen (Julian and Maddalo) — die Zeit, die unermeßliche See, dervn Wogen Jahre sind und

den brackigen Geschmack von salzigen Menschenthränen haben — den Schnee und alle Gestalten des blinkenden Frostes. Man lese das Gedicht, worin die vorstehenden Worte Vor­

kommen.

zur Natur. gerichtet.

jene liebe,

Es ist eine

elegische Zusammenfassung

seiner Liebe

Es heißt Song und ist an den Geist der Freude Er klagt, daß ihn derselbe verlassen habe, daß er nur die seiner nicht bedürfen, daß seinesgleichen ihn nie

zurückzugewinnen vermöge, daß die Sorge ihn verscheuche, er vor

dem Kummer fliehe: Selbst der Seufzer Klag' Schmäht dich, daß du dort nicht weilest

Und vor'm Schmähen du enteilest.

Und das Lied schließt: Was du liebst, o Geist der Freude, Liebte ich auch immer! Erd' im grünen Frühlingskleide, Nacht im Sternenschimmer;

Herbstesabend und des jungen Morgens goldne Dämmerungen.

Schnee lieb' ich und die Gestalten, Die im Eise schossen; Wellen, Winde, Sturmeswalten,

Alles, was entsprossen Der Natur, und nicht beirrt Bon des Menschen Elend wird. Ich lieb' ruhevolle Öde,

Freundeskreis voll Frieden

Und voll sanfter Weisheitsrede —

Radikaler Naturalismus.

278

Sind wir noch verschieden?

Komm herbei! nicht säum', Wähl', o wähl' mein Herz zum Heim!

Doch aus diesen elegischen Stimmungen schwingt sich Shelley's Geist in seiner herrlichen Freiheitsbegeisterung mit LerHenflug himmelan. Seine „Ode an die Lerche," die den Übergang zu seinen

Freiheitsgedichten bezeichnet, ist in einem Rausche sorgloser, jauch­

zender Stimmung geschrieben.

Schwerlich überragt in der älteren

englischen Litteratur irgend ein anderes ähnliches das beste von Wordsworth's Liedern, das Lied „An die Lerche," das für Geist

und Poesie der Seeschule typisch ist: Der Nachtigall laß ihren schatt'gen Wald, Ei» Reich von strahlend Hellem Licht ist dein.

Darin kommen

die für jenen konservativen Dichter so be­

zeichnenden Worte vor: Du Bild des Weisen, der sich auswörts schwingt.

Doch »immerdar entflieht in fernes Land,

Dem Heim und Himmel treu, die sich verwandt!'

Wenden wir uns nun zu Shelley's Lerche, die singend immer steigt und steigend immer singt.

Hier ist es, als ob alle Winde

von Melodien widerhallten, als ob wir in ein Meer von ewig morgenfrischen Tönen glitten und darin gewirbelt würden. Es ist

des reinen Freiheitsgefühles jüngster, hellster Triumphgesang von Freude und Glück.

Es bildet den Übergang zu der lange» Reihe

der Freiheitsgesänge, zu der großen Gruppe, in welcher Shelley'-

Genius der stürmische Herold der kommenden Revolutioien ist. Sein Freiheitslied ist ein einziger weithin hallender Kriegtruf, in wechselnde Melodien gekleidet.

Als Oden an die Freihiit und

deren Verteidiger — Gedichte, so schön und gewaltig

vie die

Marseillaise — als politische Satiren auf Zustände wie auf Per-

1 Type of the wise, who soar but never roam True, to the kindred points of Heaven and Home.

fönen, als aristophanische Komödie über das Unwesen nnd die

Lächerlichkeiten daheim, als mythische oder historische Tragödie,

stets ist seine Poesie nur der eine nnd derselbe Klageruf über Un­

gerechtigkeit und Heuchelei, der eine und derselbe gewaltige Aufruf ail alle jene unter seinen Zeitgenossen, die noch etwas unwürdig zu finden vermochten.

Schon gleich nach seiner ersten Vermählung war er als politischer Wühler aufgetreten.

Er reiste nach Dublin, um für

die Befreiung der Katholiken zu wirken, verfaßte einen jugendlich überschwänglichen Aufruf an das irische Volk, worin er es be­

schwor, sich der Gewaltthätigkeiten, welche die französische Revolution befleckt hatten, zu enthalten, und war so naiv, denselben vom

Balkon seines Hotels aus allen Vorübergehenden, die ihm der Be­ einflussung durch Aufrufe zugänglich erschienen, zu Füßen flattern

zu lassen.

Wie kindlich er sowohl wie seine junge Frau die Sache

auffaßten, ersieht man daraus, daß er eines Tags, als er mit seiner kleinen Harriet spazieren ging,

sich das Vergnügen nicht

versagen konnte, das Schriftstück einer Dame in die Mantelkapuze

zu stecken, worüber sein Weibchen — deren eigener Äußerung nach — sich hätte zu Tode lachen mögen.

Er war bei mehreren

Versammlungen zugegen und sprach einmal eine ganze Stunde

lang

in

Gegenwart

O'Connell's

und

anderer

Berühmtheiten.

Die Zeugnisse seiner Zeitgenossen sind so voll von Begeisterung, daß, nach ihnen zu schließen, er noch größer als Redner, denn als Dichter gewesen wäre. Als Shelley das nächste Mal mit der herrschenden Partei zu­

sammenstieß, hatte dieser Zusammenstoß einen bei weitem tragischeren Charakter.

Harriet war tot und auf Verlangen ihres Vaters

wurde vom Gericht eine Untersuchung darüber

eingeleitet, wer

größere intellektuelle und moralische Vorbedingungen für eine gute

Erziehung von Shelley's Kindern besäße, der ehemalige Gast­

wirt Westbrook oder der Verfasser von Queen Mab und Alastor,

der, als Atheist denunziert, im Verdachte stand, seine Kinder zu

Atheisten erziehen zu wollen.

Lord Eldon's Urteilsspruch fiel dahin aus, daß Shelley's ganzes bisheriges Leben im höchsten Grade unmoralisch gewesen sei,

daß er, weit entfernt sich dessen zu schämen, sich vielmehr auf die verderblichsten Prinzipien etwas zu gute thue und dieselben anderen

empfehle;

daß demzufolge er des Vaterrechtes über die Kinder

für immer verlustig gehen, jedoch gehalten sein solle, mit einem Fünftel seines Einkommens für sie zu sorgen. Die Kinder wurden einem Geistlichen übergeben.

Shelley's Schmerz war so furchtbar,

daß- nicht einmal seine vertrautesten Freunde fortan der Kinder

je vor ihm zu erwähnen wagten. In dem Gedichte an Lord Eldon ruft er aus: Fluch dir bei des gekrünkten Vaters Liebe, —

Bei teuren Hoffnungen, die jäh geknickt.

Bei jeglichem dir fremden edlen Triebe, Beim Schmerz, der nie dein kaltes Herz durchzückt . . .

Beim Heucheln, das an ihrem Unschuldsmunde, Wie Gift an einer Blüte, hängen muß, Beim finstern Glauben, der zu jeder Stunde

Sie nun umschattet bis zum Lebensschluß; . . .

Bei der Verzweiflung, die mich zwingt zu klagen:

Ach, meine Kinder sind nicht länger mein! Es mag mein Blut in ihren Adern schlagen, Tyrann, doch ihr beflecktes Herz ist dein!

In dem Gedichte an William Shelley, seinem Söhnchen aus der Ehe mit Mary, heißt es: Sie raubten dir Bruder und Schwesterlein, Und ihr Herz entfremden sie dir;

Ihres Lächelns Reiz, ihrer Thränen Schein, Der heil'gen, verlöschten sie mir. Ein mördrischer Glaube, ein Schmachgesetz

Warf über ihr jugendlich Haupt sein Netz,

Und fluchen werden sie mir und dir, Weil freie Menschen und furchtlos wir.

Doch nicht ewig herrscht der Tyrannen Wort Und der Priester schändlich Gebot.

Sie stehn an des wütenden Stromes Bord Und besudeln sein Wasser mit Tod.

Alts tausend Schluchten ihm Zufluß quillt, Rings uni sie schäumt er und tobt und schwillt.

Und ihr Schlvert und Szepter entfluten weit, Zerknickt, auf den Wogen der Ewigkeit.

Von der Angst gefoltert, auch dieses letzten Kindes beraubt zu werden, verließ Shelley sein Vaterland, um nie wieder dahin

zurückzukehren.

Zur selben Zeit jedoch, da der Lordkanzler Shelley

als einen Mann brandmarkt, der sich weniger als wer immer sonst

in England

zur Ausübung der elementarsten sozialen Pflichten

und Rechte eigne,

schickte er selbst sich an zu zeigen, daß er

unter den Mitlebenden einer der wenigen zur Unsterblichkeit Aus­

erkorenen sei. Zum Verbrecher gestempelt verließ er England,

und wo er

im Auslande Engländern begegnete, wurde er in der Regel als jedes Verbrechens fähig von ihnen gefürchtet und gehaßt.

Ja,

er scheint sogar so manchesmal persönlichen Unglimpf erlitten zu haben.

Shelley hatte, wie oben schon erwähnt, eine Flugschrift über die Reform des Parlamentes ausgearbeitet, die 1817 erschien und so gediegenen und gesunden Inhaltes war, daß die 1867 von den

Tories angenommene und durchgeführte Reform in allem Wesent­

lichen mit dem fünfzig Jahre alten Plane des „Atheisten und Republikaners" übereinstimmt.

Er wollte weder das allgemeine

Stimmrecht mit einemmale eingeführt, noch Königtum und Aristo­ kratie abgeschafft sehen.

Er spricht sich auch sonst des Öfteren gegen

allzu überstürzte Veränderungen aus.

Sein Radikalismus bestand

nur darin, seiner Zeit um fünfzig Jahre vorausgeeilt zu sein.

Den Verfolgungen der Beschränktheit ausgesetzt, schleuderte er nunmehr seine Freiheitsgedichte gegen England. Seine politischen

Poesien sind mit seinem Herzblute geschrieben.

Mit Fug und

Recht nannte er Castlereagh und Sidmouth „zwei mit trockener

Kehle heulende Wölfe, zwei

ineinander verschlungene Nattern."

Man darf nicht vergessen, daß Castlereagh, daß Sidmouth, daß Eldon ihm nicht Personen, sondern Personifikationen eines Prinzips

waren, des großen, unheilschwangeren Prinzips der Reaktion, dem sein Leben, sein Glück geopfert worden war.

Er sagt:

Ich sah den Mord am Wege steh'n, Wie Castlereagh war er anzuseh'n . . .

Wie Sidmouth kam die Heuchelei Auf einem Krokodil herbei . . .

Eine Irre da vorüber rannte,

Hoffnung sie sich mit Namen nannte, Doch mehr wie Verzweiflung sah sie aus, Laut schrie sie in die Lust hinaus:

„Mein Vater, die Zeit, ward alt und schwach Vom Harren auf einen bessern Tag;

Verloren hat er den Verstand,

Er lastet umher mit gelähmter Hand. Geboren ward ihm Kind auf Kind,

Doch ihren Staub verweht der Wind, Nur ich alleine bin noch hier — Wehe mir, ach, wehe mir!"

Doch gab Shelley in diesen Jahren nicht bloß in lyrischen

Streitgedichten seinen politischen und sozialen Ideen und Leiden­ schaften Ausdruck. Er verfaßte im Jahre 1818 zwei höchst eigen­

tümliche erzählende Dichtungen „Julian und Maddalo" und „Rosa­ linde und Helena".

Die erstere giebt eine lebendige Schilderung

seines Zusammenlebens mit Byron in Venedig und ist eines der vielen Zeugnisse seiner edlen und glühenden Begeisterung für Byron's

Poesie.

Das Gedicht enthält eine Schilderung des Besuches der

beiden Freundeineiner Irrenanstalt

außerhalb

Venedigs

der Stimmungen, welche dieser bei Shelley hervorrief. In dessen Herz des Fremden Thräne schnitt, Dem Tropfen gleich, der auf den Sandstein glitt.

Der seufzen konnte, selbst bei solchem Leid,

DaS andre nicht gewahren —

Er,

und

mußte naturgemäß ein tiefes Mitleid mit den Unglücklichen fühlen, die man zu jener Zeit noch in Ketten legte und mit Peitschenhieben strafte. Wie wenig Begriff man damals von dem Wesen der Gemüts­

krankheiten hatte, und mit welcher Barbarei der Patient behandelt wurde, läßt sich am besten ersehen, wenn man liest, welcher Behand­ lung ein Geisteskranker von der sozialen Stellung eines Georg III.

noch 1788 ausgesetzt gewesen.

Die Krankheit des Königs äußerte

sich namentlich in einer ununterbrochenen Schwatzsucht, war jedoch

von

keinerlei Hang zu Gewaltthätigkeiten begleitet.

Gleichwohl

wurde er von allem Anfänge an (und blieb es während der ganzen Zeit) in die Zwangsjacke geschnürt, wurde eingesperrt, des Gebrauches

von Messer und Gabel beraubt und

der Laune seiner Pagen

überlassen, die wie mit einer toten Sache mit ihm verfuhren, ihm Püffe und Stöße versetzten und ihn mit groben Worten anließen. Nach seiner Heilung erinnerte sich der König deutlich an alles,

was ihm während seiner Geisteszerrüttung widerfahren war, und

so weiß man es nun.

Es giebt ein Bild von Shelley's mildem,

menschenfreundlichem Charakter, daß

er, der von der humanen

Behandlung, welche man in Frankreich unter der Revolution den

Geisteskranken angedeihen zu lassen begonnen, nichts ahnte, eine

liebevolle Behandlung der Unglücklichen befürwortete: Mich dünkt, es gäbe Heilung doch Für sie, wenn man sie sanft und gütig pflegt,

Da die Musik so tief ihr Herz bewegt.

Das zweite Gedicht „Rosalinde und Helena," welches ein großes

Gesamtbild des Elends giebt, welches Vorurteil und Unduldsamkeit über das Menschengeschlecht heraufbeschwören, ist noch lange nicht

in seiner wahren Bedeutung verstanden und nach Verdienst ge­ würdigt.

Es versucht eine ganze Welt im Kleinen der Leiden

der Freisinnigen und Guten auf Erden, wie veraltete Institutionen

und menschliche Bosheit sie im Verein hervorrufen, zur Darstellung zu bringen.

Hier wird ein Familienvater geschildert, eine Memme

Radikaler Naturalismus.

den Starken, ein Gewalthaber den Schwachen gegenüber, hart, selbstsüchtig, falsch, lügnerisch und habgierig, der Büttel seiner

Fran, der Plagegeist seiner Kinder — wenn die Kinder seine Schritte nahen hören, verstummt jedes Gespräch, und sie erbleichen.

Er stirbt, und Rosalinde,

die Mutter, jammert es, die Kinder

unbewußt über den Tod des Vaters sich freuen zu sehen und selbst diesen als Linderung empfinden zu müssen. streng kirchlich gesinnt.

Der Verstorbene war

Wie sich herausstellt,

hat er in seinem

Testamente bestimmt, daß die Kinder, wenn sie ferner mit ihrer Mutter beisammen leben, ihres Erbes verlustig gehen sollen, da

sie die christliche Lehre für falsch halte und er seine Kinder vor dem ewigen Feuer retten müsse.

So muß denn die Mutter ihre

Kinder verlassen; denn, sagt sie, Du weißt, was Armut für ein Los Den Opfern einer bösen Zeit:

Verbrechen ist's und Furcht und Schmach,

Der Mangel ist es, ohne Dach Auf eisigen Wegen, nackt und bloß.

Und tiefes, grauenvolles Leid; Und jene Selbstverachtung, die Der Jugend Glanz in Hohn ersäuft — Du weißt, das eine Mutter nie

Solch' Weh auf ihre Kinder häuft.

Rosalindens Schicksal dient vornehmlich dazu, den Jammer einer unglücklichen Ehe, besonders die Abhängigkeit des Weibes von einem schlechten, tyrannischen Mann darzustellen, wie man auch

Shelley's Trauer über den Verlust seiner Kinder hindurchfühlt.

Helenas Schicksal spielt direkt auf die Verfolgungen an, denen der Dichter als Philosoph ausgesetzt war.

Lebens

und

der

Ideen

Lionels

ist

Die ganze Darstellung des

reine

Selbstschilderung.

Welches Wort könnte treffender Shelley's Menschenliebe schildern als dies hier: Zwillinge warm Lieb' und Leben

Bei ihm, erzeugt zu gleicher Zeit.

Bei jedem andern erst beginnt Das Leben sich empor zu heben

Und dann die Liebe, ob sie beid' Auch Kinder einer Mutter sind.

Jung, reich und von vornehmer Abkunft, tritt er mit Be­

geisterung in die Reihen derer,

die unter der Revolution

das

Menschengeschlecht von der Herrschaft der Dogmen befreien wollen.

Seine Umgebung sinnt vergebens darüber nach, was er damit denn eigentlich bezwecke: Sucht Ruhm er? Ruhm hat nie gelohnt Den Kämpfer für zertretnes Recht; Erstrebt er Macht? Die Macht, sie thront

Bei Unrecht nur und altem Recht, Den Wölfen, die tagaus, tagein

Boll Gier nach Lob und Beute schrei'«, Und nur um sie dir Macht verleih'n.

Die Reaktion tritt ein: Ergraute Macht Saß wieder sicher auf dem Thron

Der Väter, und es reckte schon Der Drache Glaube durch die Nacht Sein giftig Haupt ... Es weinten viele Nicht Thränen, sondern Galle.

Bald schleppen seine Feinde ihn, weil er ihre Götter gelästert habe, in den Kerker, wo er lange, von seinen Lieben getrennt, einsam schmachtet.

Endlich wird er mit der Geliebten wieder ver­

eint, und unter dem Sternenhimmel feiern sie ihre Hochzeit. „Rosalinde und Helma" ist ein, wie es scheint, in tiefer Ver­

zweiflung geschriebenes Gedicht; nirgends ist Shelley in seinem Kriege gegen alles überlieferte so weit gegangen wie hier.

Wir

hatten schon früher Gelegenheit zu sehen, daß es eines der Lieb­

lingsthemen der Dichtkunst zu Anfang des Jahrhunderts war, daß Blutschande nur auf Vorurteil beruhe.1

und Helena"

Sowohl iu „Rosalinde

wie in The Revolt of Islam, dessen Held und

1 Emigrantenlitteratur S. 54.

Heldin nur auf dringendes Bitten des Verlegers aushörten Bruder

und Schwester zu sein, verschwendete Shelley viel Beredsamkeit an dieses unheimliche, auch Byron so stark beschäftigende Paradoxon, welches zu einem so einfältigen und empörenden Angriff auf das

Andenken des letzteren Anlaß geben sollte.

Im Jahre 1820 brach der große, bereits erwähnte Ehescheidungsftandal aus.

Den 8. April 1798 hatte der Prinzregent

pour faire une fin sich mit der achtundzwanzigjährigen Karoline

von Braunschweig vermählt.

Er nahm jedoch die Sache so wenig

feierlich, daß er schon bei der ersten Begegnung in St. James, als die Prinzessin vor ihm niederkniete,

dem Gesandten Lord

Malmesbury zurief: „Harris, schaffen Sie mir ein Glas Brandy.

Mir ist nicht ganz wohl!"

Auf des letzteren Entgegnung, ob nicht

ein Glas Wasser in diesem Falle vorzuziehen sei, lief er fluchend aus dem Zimmer, ohne seiner Braut ein Wort zu sagen. Bei der Hochzeit war er betrunken und bei der Trauung stieß es ihm fort­

während auf.

Er ließ die Prinzessin nicht nur bald Gleichgültigkeit

und Zurücksetzung fühlen, indem er mit einer Unzahl von Frauen Liebesverhältnisse unterhielt, sondern er behandelte sie auch mit der rücksichtslosesten Roheit, ließ sie einsperren, umgab sie mit Spionen

und beraubte sie auf eine falsche Anklage hin ihrer Tochter, was zu fortwährenden Szenen am Hofe Anlaß gab.

Uniadelhaft scheint

das Betragen der Prinzessin nicht eben lange gewesen zu sein. Anfangs war sie nur unvorsichtig, in vorgerückteren Jahren jedoch

suchte sie sich zu trösten und nicht immer auf würdige Weise. sehm

wir

sie

mit fünfzig

Jahren

ganz

Europa

mit

So

ihrem

Kurier und Kammerherrn, vormals Kammerdiener Bergami be­ reisen, einem italienischen Ruy Blas, den sie zu allem mög­

lichen ernennt, den sie mit Orden bedeckt und zärtlich liebt. Als sie bei der Thronbesteigung des Prinzregenten nach Eng­ land zurückkehrte, um ohne weiteres den Platz der Königin ein­

zunehmen, beschloß der jämmerliche, verächtliche Fürst, sich dessen,

was

ihm

bezahlte Spione

über

seine Gemahlin

hatten, zu bedienen, um sich ihrer zu entledigen. dem Oberhause der Untreue angeklagt.

hinterbracht

Sie wurde vor

Und nun wurden ganze

Schiffsladungen fremder Hotelkellner und Stnbenmädchen in Eng­

land unter dem erbitterten Gejohle der Bevölkerung gelandet, um Zeugenschast wider die Königin abzulegen.

Etwas Schamloseres

als dieser Prozeß wird sich nicht so leicht wiederfinden.'

Untersuchungen über die Lage von Schlafzimmern und die Stellung von Betten, über eine Königin und ihren Kammerherrn, die im allertiefsten Negligs beobachtet worden waren, füllten Tag

für Tag die Spalten aller englischen Blätter, bis — die Anklage

plötzlich zurückgezogen wurde, teils wegen angeblicher Unzuläng1 The trial at large of Her Majesty Caroline Amelia Elizabeth, Queen of Great Britain, in the House of Lords on charges of adulterous intercourse. London 1821. 2 volumes. At Carlsruhe Her Majesty was one day found in Bergami’s room; she was sitting upon his bed, and he was in bed with his arms around the neck of Her Majesty. She was surprised in this extraordinary Situation by one of the femmes de chambre, who was going into the room by chance ... In that bed was found a cloak, which Her Majesty was afterwards seen wearing; and in that bed, also, certain marke were observed, by one of the servants. These marke, without his saying any thing farther at present, would lead their lordships perhaps to infer that, which he wished them to understand (vol. I, 145, II, 487). What was the state of Bergami’s dress at the time you saw him in the passage, going to wards the bed-room of Her Royal Highness? He was not dressed. When you say he was not dressed, what do you mean; what had he on? He was not dressed at all (vol. I, 484, vol. II, 435). On the 12 th of that month she arrived at Salona . . . A large bed was provided in the inner room for Her Majesty; the outer room assigned for Bergami had no bed. There was no access to the bed in the inner room, except through Bergami’s. It would be proved in evidence, that, in the morning after Her Majesty had slept here, her bed had the appearance of having been slept in by two persons. There was only one passage to Her Majesty’s bed-room; that passage led from Bergami’s room, and in his room there was no bed (vol. I, 136).

Radikaler Naturalismus.

288

lichkeit der Beweise, teils wegen der bedenklichen Höhe, zu der die Verachtung gegen

den König als

Urheber des

Skandals ge-

diehen war.

Anläßlich dieses Prozesses schreibt Shelley seine köstliche Saüre „Ödipus oder Dickfuß der Tyrann", so viel wie der podagrische

Tyrann, eine politische Komödie von mindest ebenso glücklichem Wurfe, wie „Die politische Wochenstube" von Robert Prutz? Handlung spielt in Böotien.

Schweine auf.

Die

Die englischen Ochsen treten hier als

Geist, Wesen und öffentliches Regimmt in England

werden somit als Schweinerei bezeichnet, und das Ganze ist in

folgendem Ton gehalten: Die Steuern, Die wahren Quellen aller Schweinerei,

(Und giebt es einen Passendern Ausdruck Wohl, um Moral» Religion und Frieden Und Wohlstand, alles, was Böotien

Zu einem Volke macht, das andern^Bölkem

Als Vorbild und als Muster dienen kann. Mit einem Worte zu bezeichnen?) — wachsen In gleichem Maße mit der Schweinerei.

Die Heuchelei des gekrönten Ehegatten, das steche Pochen der Königin auf ihre Reinheit, die verlogene Haltung Castlereagh's

und Sidmouth's,

alles ist mit sicher treffenbet Satire gegeißelt.

Allein Shelley's Genius war nicht dazu geschaffen, lange beim Spott über die Karikaturen der Zeit zu verweilen.

Sein freier und

himmlischer Geist war wie kein anderer berufen, dem Bewußtsein der Zeit das Freiheitsideal des Jahrhunderts in seinem Strahlenglanze zu offenbaren.

Von seinen Knabenjahren an waren im

Grunde alle seine Bestrebungen auf dies Ziel gerichtet.

Er hatte

zuerst große musikalische, leider jedoch formlose Gedichte geschrieben, die lange Standreden sind wider die Könige und die Pfaffm, wider die Religion, welche die Erde mit Teufeln, die Hölle mit Männern --------- 1------------------------

1 Bergt.: Das junge Deutschland S. 408.

und den Himmel mit Sklaven bevölkert, wider die Ungerechtigkeit

der

Regierungen und dm Knechtsinn der Gerichte,

wider das

Empöreilde der Zwangsehen und der Ausschließung des Weibes

von dem Rechte auf freien Erwerb, wider die Grausamkeit des Schlachtens der Tiere, mit einem Wort, wider alle Formen von

Unterdrückung und Unduldsamkeit, die keinen geringeren Zweck ver­ folgten, als die Menschheit umzubilden und sie die Mittel zu lehren, durch welche sie die Ursachen ihres mannigfachen Elends beseitigen

und einen Zustand herbeizuführm vermöchte, der, im Vergleich zu dem jetzigen, ein wahres goldenes Zeitalter zu nennen wäre. Er hatte, wie er selbst es kindlich ausdrückt, „eine Leiden­ schaft, die Welt zu reformieren." Seines Abscheues vor Lehrgedichten

ungeachtet, war es, wie er in der Vorrede zur „Empörung des Islam" schreibt, seine Absicht, einen edeln Impuls im Leser an­

zuregen, einen brennenden Durst nach Vollkommenheit in ihm zn erwecken.

„Der panische Schrecken," sagt Shelley, „der wie eine Seuche alle Klassen der Gesellschaft bei den Ausschreitungen der französi-

schen Revolution ergriff, macht allmählich einem gesünderen Zustande Platz.

Man hat aufgehört zu glaubm, ganze Generationen der

Menschen müßten sich ans das trostlose Erbe von Unwiffenheit

und Elmd beschränken, weil ein Volk, das Jahrhunderte lang be­

trogen und geknechtet gewesen, außer Stande war, mit der Weis­ heit und Ruhe freier Männer aufzutreten, als einige seiner Fesseln gesprmgt wurden.

lich verlaufen,

Wäre die Revolntion in jeder Hinsicht glück­

unser Abscheu vor Gewaltherrschaft und Aber­

glauben würde gar sehr an Berechügung verlieren.

Sie wärm

dann Fesseln, welche der Gefangme mit der leisestm Handbewegung

abzuschütteln vermöchte, während sie in Wahrheit sich mit giftigem

Rost in die Seele fressen.” So beschloß denn Shelley, die Grundgedaukm der Revolution in verklärter Gestalt weiter zu bilden. Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

Sein Gedicht wurde eine 19

Predigt, seine Einbildungskraft offenbarte nicht seine Beobachtungen, sondem seine Wünsche.

Indes war doch auch nach fernem System die Einbildungs­ kraft die in Wahrheit reformatorische Gabe.

Er, den grobe Un­

wissenheit einen Materialisten schalt, war nicht umsonst bei Hume und Berkeley in die Schule gegangen und hatte dort die weitest­

gehende Unkörperlichkeitslehre eingesogen.

Ihm war alles nur Ge­

danke, die Dinge Schichten von Gedanken, das Weltall eine un­ geheure verdickte Masse alter gestockter Gedanken, Bilder, Vor­

stellungen.

Daher könne der Dichter, zu dessen Fach und Aufgabe

es gehöre, neue derartige Bilder zu schaffen, die den stärksten Ein­ druck auf andere machen, die Welt fortwährend umgestaltcn.

Die

Phantasie, sagt Shelley, ist die Gabe, von welcher jedweder, selbst der geringste Fortschritt abhängt.

Ob er nun mit Sanftmut die

verdickten Gedanken wieder in Fluß bringt, ob er mit konvulsivischer

Kraft die Gewohnheitskruste der überlieferten Vorstellungen sprengt, immer tritt der Dichter als der wahre Reformator auf.

Philosophisch und unhistorisch veranlagt wie Shelley in seinen Jünglingsjahren erschien, suchte er in dem einzigen Lebensabschnitte,

der ihm ganz zu Ende zu leben vergönnt war — jenem vor Ab­

fassung der „Genet" — nicht nach einer Gmndlage in Zeit und Raum für seine reformatorischen Visionen;

denn als Wünsche

hatten sie keine geschichtliche Wirklichkeit. Doch indem seine Gestalten solcher Wirklichkeit entbehren, mangelt es ihnen auch an gewissen wesentlichen Eigenschaften, die nur die historischen und örtlichen Elemente zu verleihen vermögen, während die Eigenschaften, die

sie besitzen, vorzugsweise die am tiefsten liegenden, ursprünglichsten Züge der Menschennatur sind.

Auch in der Charakterbildung geht

Shelley zur Urgeschichte der Menschheit zurück.

Die Personen

werden halb mythische Wesen, riesenhaft, unbestimmt in ihren

Dimensionen,

geisterhaft in ihrer Gestalt,

und kein allgemein

menschliches Interesse kann sich an sie knüpfen, weil die „Geschichte",

das in landläufigem Sinne Interessante an der Dichtung, von Shelley gänzlich verachtet und übersprungen wird.

Daher seine vollständige

Unpopularität. Während ein Walter Scott jederzeit unter allen, die

lesen können, Leser zu gewinnen vermag, wird Shelley zu allen Zeiten

darauf beschränkt bleiben, für the happy few geschrieben zu haben. Indessen kam es nur darauf an, daß Shelley auf Stoffe

traf, welchen diese Anlagen just entsprachen, um ihn das Höchste in der Poesie leisten zu lassen.

Diese Seite seiner Begabung war

vollständig griechisch, wie Shelley überhaupt durch die Art seiner

Religiosität, durch seine poetische und philosophische Bildung durch

und durch griechisch war. einer Stelle.

„Wir sind alle Griechen," sagt er an

Das galt jedenfalls von ihm.

Doch von Naturwesen, Göttern und Helden, wie dies in seinen Dichtungen der Fall, handelte die griechische Poesie nur in ihrem Ursprünge.

Einzig mit dieser ältesten griechischen Poesie kann daher

Shelley verglichen werden.

Gleichwie seine Lyrik an die homerischen

Hymnen erinnert, und seine politische Komödie durch ihre rück­

sichtslose Satire sowohl

als durch den lyrischen Schwung der

Gesänge dem Aristophanes verwandt und des Aristophanes würdig ist, so wurde er nun int ernsten Drama des Äschylos ebenbürtiger

Rivale.

Sein „Entfesselter Prometheus" ist das moderne Gegen­

stück zu Äschylos' „Gefesseltem Prometheus", sein „Hellas", eine

Weissagung des Sieges Griechenlands, das moderne Seitenstück zu den „Persern" des Äschylos.

Wir können nur bei „Prometheus" verweilen.

Dies groß­

artige Dichterwerk ist die Krone seiner ganzen Freiheitspoesie. Hier versucht Shelley zum ersten Male mit Glück den Grundtypus

seiner Poesie und seines Zeitalters zu schaffen. Mancherlei Typen entstanden in seinem Gehirn, Hiob, dann

Tasso, derselbe Stoff, der sich gleichzeitig Byron und Goethe auf­

drängte.

Es blieb bei Prometheus. Über die Sem und Ebenm der

zeitgmössischen mglischen Poesie erhebm sich Byron's Alpm mit

19»

seinem Manfred und Shelley's Kaukasus mit seinem Prometheus.

Seit sich die Befreiung des Menschengeistes ernstlich zu vollziehen

begonnen, beschäftigte dieser Typus alle großen Dichter. Er taucht gegen den Anfang unsres Jahrhunderts in Goethe's, Byrvn's und

Shelley's Gehirn auf. Götterglauben

Goethe's herrliches Gedicht stellt den vom

sich lossagenden Menschengeist in seiner Arbeit,

seinem künstlerischen Schaffen dar, stolz auf seine Hütte, die der

Gott nicht gebaut, Gestalten nach seinem Bilde formend — Goethe's

Prometheus ist der schaffende und freie.

Byron's schroffe, kurze,

feurige Verse schildern den Märtyrer, der mit znsammengebissenen Zähnen schweigend leidet, dem keine Tortur das Geständnis zu

entreißen vermag, und der seine höchste Ehre darein setzt, seine Qualen nicht ahnen zu lassen.

Dieser Titan würde nie, wie der

antike, von dm Töchtem des Ozeans sich haben oder ihnen

trösten lassen

vorgeklagt haben — Byron's Prometheus ist der

trotzmde, gefesselte.

Shelley's Prometheus jedoch gleicht keinem der beiden.

Er ist

der wohlthätige, wider das böse Prinzip kriegende Menschmgeist, der

seit undmklichen Zeitm von demselben unterdrückt wird und nicht von ihm allein, von allm den anderen Wesen, dm Guten selbst, die von dem Gedankm, das Böse sei notwendig und heilsam, be-

thört sind.

Er ist der Geist, der nur eine Spanne Zeit hindurch

— währe sie noch so lang — gefesselt und in Bande geschlagm werden kann, der aber eines Tages zum Entzücken des Weltalls

befreit wird — der siegreiche, entfesselte, der von dem einstimmigen

Jubelgesang aller Himmelskörper begrüßte Promethms. Er ist selbst inmitten seiner Leiden vollkommen ruhig; bcmt

er weiß, daß Jupiters Herrschaft nur ein Zeitabschnitt im Weltmleben ist, nichts anderes, nicht mehr.

Darum möchte er den

schwarzen Abgrund, in dem er verschmachtet, nicht gegen alle

Wollust am Hofe Jupiters tauschm.

Als die Furim ihm in die

ewig schlaflosm Augen lachm, antwortet er:

Ich will nicht wägen, was ihr Böses thut. Nur was ihr leidet, da ihr böse seid.

Wie ganz anders würde ein Byron'scher Prometheus ge­ antwortet haben! zu den Menschen.

Hier dieser ist ganz Liebe — zu feinen Feinden,

Und

der Trotz hat das Herz des Titanen

nicht den erotischen Regungen verschlossen.

Er gedenkt in seinen

Qualen seiner Braut, ihrer, Die, wenn sein Dasein überströmte, glich

Dem goldnen Kelch für einen edlen Wein.

Asia ist die den Titanen liebende Natur.

Sie ist das Kind

des Lichts, eine lebendige Liebesflammengestalt, deren Lippen, wie Panthea singt, mit ihrer Liebe den Hauch zwischen sich entzünden,

und deren Lächeln die kalte Luft in Feuer wandelt. Als nun die Zeit der Qualen und der Ungerechtigkeit um

ist, sinkt Jupiter, feig und verachtet, Prometheus kläglich um Er­ barmen anflehend, in den Abgrund.

Das prometheische Zeitalter

bricht an, und die Luft verwandelt sich in ein Meer von ewigen, wundersamen Liebesmelodien: Der Erde dumpfer Jubel wechselt ab mit dem wonnetrunkenen Liede des Mondes, bis das Jauchzen des Alls zu einem Freudenhymnus verschmilzt, den selbst Beethoven's

Finale in der neunten Symphonie nicht übertrifft.

Wir können nur flüchtig erwähnen, wie Shelley nun, nach­ dem er mit Äschylos gewetteifert hatte, mit Shakespeare rivalisierte

und mit einem plötzlichen Sprung in die historische Wirklichkeit England, selbst nach dem Zeugnisse Byron's, die beste Tragödie

gab, die ihm seit den Tagen Shakespeare's geschenkt wurde.

„Die Cenci" erinnern einigermaßen an solche Stücke Shake­ speare's wie „Maß für Maß", wiewohl letzterer nicht von jenem

glühenden Haß gegen die Tyrannei beseelt war, der Shelley's Drama seinen Geist einhauchte. Der Name Beatrice Cenci's ist noch heuügen Tages den Römern das große Freiheitssymbol. Das junge Mädchen, welches

der Sage nach seine Ehre gegenüber dem schrecklichen Vater ver­

teidigte, dessen Schandthat indirekt durch die Verderbtheit des Papstes und aller Behörden unterstützt wurde, gilt noch jetzt den Römern als Heldin und Märtyrerin.

So oft unter dem Drucke des Papst­

tums sich im Laufe der Zeiten der Himmel nur etwas aufhellte, tauchte allenthalben in Rom ihr Name, ihr Bild auf.

Shelley

vertiefte sich hier ganz in den Stoff und vergaß alle Theorien. Was an diesem tragischen Konflikt ihn jedoch eigentlich ergriff, war

augenscheinlich wiederum der tiefe Bruch mit aller überlieferten

Sittenlehre, den des Vaters Verbrechen hier zur Notwendigkeit und zur Pflicht gemacht hatte, sowie der Anlaß, der sich ihm bot, die landläufigen theologischen Begriffe von der Vatergüte der Welt­

regierung in volle Beleuchtung zu rücken. Beatrice sagt: Du großer Gott, Deß Bild auf Erden sonst ein Vater ist,

Verlässest du mich wirklich?

und als sie gefragt wird: Bist du nicht schuld an deines Vaters

Tod? lautet die Antwort: Willst du nicht lieber Gott, den höchsten Richter

Verklagen, daß er solche That erlaubt, Wie ich sie litt, und wie er sie geschaut; Daß er unnennbar sie gemacht unb mir

Nicht andre Zuflucht, Rach' und Sühne ließ, Als das, was meines Vaters Tod du nanntest.

Im Angesicht der Folterbank sagt sie: Mein Herz weint Thränen bittrer Galle, da's

In dieser argen Welt, wo niemand wahr ist. Mein eigen Blut sich selber treulos sieht.

O, denk ich an dies jammervolle Leben, Das ich gelebt und das nun gräßlich endet,

Und an die dürftige Gerechtigkeit, Die mir und all den Meinen Erd' und Himmel

Erwiesen; und welch ein Tyrann du bist; Und wie zu Sklaven diese sich erniedrigt;

Und was für eine Welt der Unterdrücker

Und die Bedrückten miteinander bilden — Dies ist das Weh, das mir am Herzen frißt.

Offenbar war es besonders die Bereinigung von Energie und

Im Todes­

Güte, die Shelley in der Gestalt Beatrices anzog.

augenblicke endlich, da sie die Angst erfaßt, den Vater nach dem

Tode, unter der Erde, im Jenseits wiederzufinden, bricht sie in die Worte aus: Ha! wäre alles meines Vaters Geist, Sein Auge, seine Stimme, seine Hand

Rings um mich her und nimmer mich verlassend,

Die Lust, der Atem meines toten Lebens! . . . Und schlöss' er mich in seine Höllenarme,

Und heftete auf mich den glüh'nden Blick Und risse mich hinab, hinab, hinab!

Denn war er nicht allein allgegenwärtig

Auf Erden und allmächtig?

Lebt sein Geist,

Selbst da er tot ist, nicht in allem fort, Was atmet und mir und den Meinen noch

Verderben, Schmach, Verzweiflung, Qual erschafft?

Von diesem reifsten und bestkomponierten Werke Shelley's erklärte die Literary Gazette: „Die „Cenci" sind das abscheu­

lichste Produkt der Zeit, das irgend ein Teufel hervorgebracht zu haben scheint."

Der betreffende Kritiker hofft, nie wieder einem

Buche zu begegnen, das „so den Stempel der Befleckung, Gott­ losigkeit und Schändlichkeit an sich trage." Dieser erbitterte Widerstand übte eine niederschlagende Wir­

kung auf Shelley aus. zu haben.

Er meinte diesmal sein Bestes geleistet

Nicht, als ob er sich hätte beirren lassen, aber er

verlor die Schaffenslust.

Seine beiden letzten Lebensjahre weisen

keinerlei größere Arbeiten auf.

Er schreibt im November 1820:

„Eine Aufnahme, wie sie mir von der Leserwelt zu teil wird, dürfte wohl eines Jeden Begeisterung dämpfen."

Seine letzten

Briefe wimmeln von Auslassungen über die Kritik: April 1819: „Was die Rezensionen bettifft, so nehme ich an,

Radikaler Naturalismus.

296

daß sie nichts als Schmähungen enthalten, und von so ehrlichem

Unwillen sind diese nicht eingegeben, daß sie mich zu ergötzen

vermöchten." März 1820:

„Wenn mich einer der Krittler schmäht, so

schneide es aus und schicke es mir.

Wenn sie mich loben, brauchst

Du Dir leine Ungelegenheiten zu machen.

Ich schäme mich zu

denken, daß ich Lob von ihrer Seite verdienen könnte. Ich schmeichle mir, daß die Schimpfworte nur ein schuldiger Tribut sind."

Im Jahre 1821

schreibt er

das Gedicht auf Keats mit

seinen furchtbaren Ausfällen gegen jenen Krittler, der vermeintlich dessen Tod verschuldet haben soll:

Dir brenne heiße Scham die Stirne wund. Und zittern sollst du stets wie ein geschlag'ner Hund! —

Ium 1821: „Ich höre, daß die Schmähungen über mich alle Grenzen übersteigen.

Ich bitte Dich, wenn du einen oder den an­

deren verletzenden Artikel findest, ihn mir zu smden. ich darüber gelacht.

Bisher habe

Doch wehe den Halunken, wenn sie mich

einmal aus dem Gleichgewichte bringen sollten.

Ich habe ent»

deckt, daß mein Verleumder in Quarterly Review der wohlehr­

würdige Mr. Milman ist.

Pfaffen haben ihre Vorrechte."

August 1821: „Ich schreibe nichts und werde wahrscheinlich nichts mehr schreiben."

Wenn Byron derart von seinen Feinden gereizt wurde, hielt

er einen Augenblick in seinem Schaffen inne und wies ihnen die Löwentatze. Anders war es bei Shelley. Was in „Peter Bell III."

gegen die Rezensenten vorgebracht wird, ist ein mutwilliger Spaß

im Vergleiche zu Byron's blutigem Hohn gegen Southey und die

anderen.

So oft Shelley auftrat, wimmelte es von litterarischem

Gewürme und Gezüchte unter seinen Füßen. die Ferse.

Sie stachen ihn in

Er konnte ihnen den Kopf nicht zertreten.

Denn solche

Kreaturen haben, wie Swinburne sich ausdrückt, allzu wenig Kopf,

als daß man ihn wahrnehmen und zertreten könnte.

Byron hatte

sich überdies in Europa Freunde und Bewunderer zu Tausenden

erobert; er teilte den Parnaß mit Goethe, er hatte dem Festlande

das Gepräge seines Geistes aufzudrücken begonnen.

seiner Zeit allzusehr vorausgeeilt.

Shelley war

Ein Führer, der nur zwanzig

Schritte vorausschreitet, zieht noch den Schwarm sich nach; ist er den anderen jedoch tausend Schritte voran, so sehen sie ihn und folgen sie ihm nicht mehr, und der erste beste litterarische Busch­

klepper kann ihn ungestraft aus dem Hinterhalte niederschießen.

Moore war ein Talent und wirkte als ein solches.

Shelley

war kein Talent, kein kleines und kein großes, sondern ein Genius,

der Genius des Gesanges selbst, mit all der Kraft des Genies, doch

mit wenig Sinn für die Wirklichkeit.

Er war dazu aus­

ersehen, das nachwachsende Dichtergeschlecht Englands noch an der Neige des Jahrhunderts zu beherrschen, doch er erlangte nicht den

zwanzigsten Teil des Einflusses auf seine Zeit, wie der nur talentvolle

Moore.

Byron war der Dichter der selbstherrlichen Persönlichkeit

wie keiner vor ihm, und als solcher in hohem Grade selbstisch.

Vorurteil und Eitelkeit hätten nicht bei ihm ausgemerzt werden können, ohne edle Teile in Mitleidenschaft zu ziehen.

Frei von

Eitelkeit und selbstlos, wie Shelley war, ging er unbedingt in

seinen Idealen auf, er entfaltete sein Ich, bis es das Weltall umspannte;

allein

was

eine rein ideale Tugend bei ihm als

Mensch war, bedingte und verursachte bei seiner Poesie, jedenfalls bei jener Gruppe seiner Dichtungen, die er während der ersten Periode seines allzu kurzen Lebens schuf, einen verhängnisvollm

Mangel.

Dem so vollkommm selbstlosen Dichter fehlte es lange

an aller Selbstbeschränkung.

Ein geschärfter Formensinn für die

große Komposition in ihrer Ganzheit war ihm viele Jahre ver­ sagt.

Bei seinem ersten Auftreten als Dichter strauchelte er daher

über die Schwelle, und es gehört mehr als Genie dazu, solch ein Auftreten bei der Leserwelt in Vergessenheit zu bringen.

Sein

Gedicht „Die Empörung des Islam" war bei allen seinen schönen

Einzelheiten unbestimmt und formlos, schwebte übersinnlich in der Es war mit seinen schattenhaften, blutlosen Gestalten vor

Luft.

allem so breit und lang, daß es eine Aufgabe war, es zu Ende zu

lesen, eine Aufgabe, die nur von Wenigen gelöst wurde.

Bis

Shelley „Die Cenci" schrieb, scheint ihm aller Sinn für den un­

endlichen Reiz und den unendlichen Wert, den das Individuelle

besitzt, abgegangen zn sein.

Selbst „Prometheus" und „Asia" er­

mangeln in ihrer Eigenschaft als Typen jedes individualisierendm

Zuges, ihre Namen sind nur Überschriften für die wundervollste Lyrik, die England jemals hervorgebracht.

So deutlich die „Cenci"

auch zeigen, daß Shelley alles zu erringen vermocht hätte, woran

es ihm in dieser Hinsicht gebrach, so wurde er doch dahingerafft,

ehe er die Fülle der Verheißungen, die sein Genius barg, zu verwiMchen vermochte, ehe auch der Mitwelt sich die Augen öffneten, was sie an ihm besaß.

Dichtungen alles

an

Tiefe

überragen,

geschaffen, so

Und wiewohl seine kleineren lyrischm

und Frische,

was

dieses

Natürlichkeit

Jahrhundert

konnten doch auch

in

und

lyrischer

Anmut

Form

sie das Zeitalter nicht beein­

flussen, da die besten bei Lebzeitm Shelley's nicht einmal gedruckt

wurden.

So vermochte denn er so wenig wie Moore oder Landor

jene Revolution des allgemeinen Bewußtseins herbeizuführen, die Europa erheischte und erharrte. Es bedurfte eines Dichters, der ebenso

individuell wie Shelley kosmisch, ebenso leidenschaftlich wie Shelley ideal,

ebenso

schneidend

satirisch

wie Shelley harmonisch und

graziös war, um die grobe herkulische Arbeit zu verrichten, das

politische und

religiöse Bewußtsein Europas

aufzuwühlen,

die

Schlafenden zu erwecken und die Triumphierenden in den Ab-

grund der Lächerlichkeit zu stoßen.

Es bedurfte eines Geistes, der

das Interesse des Zeitalters ebensosehr durch seine Laster wie durch seine Tugenden, seine Vorzüge wie seine Fehler zu fesseln

vermochte.

Shelley's Instrument war eine edle Geige; ein Horn

mußte erschallen, um die Luft zu reinigen und das Kampfsignal zu geben.

Was von Shelley's Leben noch zu berichten erübrigt, ist rasch

erzählt: Seine letzte Reise von Livorno nach Lerici, auf der er

von dem unvorhergesehenen Sturme überfallen wurde, und von

welcher er nicht wieder lebend ans Land kam — die langen Tage, die seine Gattin in fürchterlicher Angst verbrachte, an der italie­ nischen Küste irrend, um ihn zu suchen — dann endlich die Auf­

findung der unkenntlichen Leiche.

Eine Verordnung bestimmte der

Pestgefahr halber, daß alles vom Meere an den Strand Gespülte verbrannt werde.

Byron benützte dies, um Shelley eine mit seinem

Charakter im Einklang stehmde griechisch-heidnische Bestattungsfeier

zu bereiten. Auf den Scheiterhaufen wurden Räucherwerk, Wein, Salz und Öl gestreut, wie im alten Hellas. Es war ein schöner

Tag und ein prachtvolles Schauspiel — das ruhige Meer und die Apenninen im Hintergründe.

Ein kleiner Vogel umkreiste den

Holzstoß und war nicht zu verscheuchen. und golden empor.

Die Flamme stieg hoch

Der Leichnam wurde verzehrt, doch zu aller

Verwunderung blieb das Herz unversehrt und Trelawny haschte diese Reliquie aus dem glühenden Herde heraus, wobei er sich die

Hand verbrannte.

Die Asche wurde an der Pyramide des Cestius

zu Rom beigesetzt, wo Shelley es so schön gefunden, zu ruhen.

Der Mann, der seinen Körper den Flammen überantwortet hatte, übernahm sein geistiges Erbe.

Wir sind seinem Namen auf

jedem Blatte der Geschichte der Zeit begegnet.

Wir sehen ihn

von Wordsworth, Coleridge und Scott vorbereitet, von Southey

gehaßt, von Landor mißverstanden, geliebt von Moore, von Shelley bewundert, beeinflußt, besungen:

aller.

Er spielt eine Rolle im Leben

In Wirklichkeit ist er es, welcher der poetischen Litteratur

des Zeitalters ihr endgültiges und entscheidendes Gepräge verleiht.

XVII.

Tritt man in das Thorwaldsen-Museum zu Kopenhagen, so

ist das erste Bildwerk, das man zu seiner Rechten hat, eine Marmor­ büste, die einen schönen, jungen Mann mit feinen, edlen Zügen

und gelocktem Haare darstellt, die Büste Lord Byron's.

Man

findet dieselbe Büste in Gips im Saale Nr. XII und die Por­ trätstatue, zu welcher sie nach dem Tode Byron's benutzt wurde,

im Saale Nr. XIII.

Stellt man sich vor die Gipsbüste, die

ohne Vergleich am beredtesten ist, so wird der erste Eindruck der

eleganter, vornehmer Schönheit sein.

Im nächsten Augenblicke

wird man sicherlich von dem lebensvollen Ausdrucke sich ergriffen fühlen, der über sie gehaucht ist, und der vornehmlich in einem unruhigen Zittern der Stirn, als könnten sich Wolkew auf dieselbe

lagern und Blitze aus diesen Wolken zucken, sowie in etwas Gewaltsamem in Braue und Blick besteht.

Diese ©tim trägt das

Gepräge der Unwiderstehlichkeit.

Wenn man den Abstand zwischen Thorwaldsen's und Byron's Natur bedenkt und sich erinnert, daß Thorwaldsen sicherlich nie eine

Zeile von Byron gelesen hatte, und wenn man außerdem weiß, daß Byron sich Thorwaldsen nicht eben von seiner vorteilhaftesten Seite zeigte, so muß man das Resultat jener Begegnung der beiden

großen Männer höchlich bewundern.

Die Büste giebt, wenn auch

naturgemäß eine schwache und unvollständige, so doch eine wahr­ heitsgetreue, schöne Vorstellung von einer Hauptseite von Byron's Charakter, die Thorwaldsen unendlich fern lag.

Das Gebiet, auf

Btjrott. Die inbioibueUe Leidenschaftlichkeit.

301

welchem er am größten ist, ist das der Idylle; will er den Ein­

zug Alexander's in Babylon darstellen, so gelingen die Hirten, die Lämmer, der Fischer, die Frauen und Kinder, der ganze festliche

Aufzug ihm besser, als der Held selbst.

Denn das Heroische ist

nicht in eben dem Maße seine Sache, um wie viel weniger erst das kriegerische Naturell in dessen zusammengesetzter moderner Form, welche man als dämonisch bezeichnet hat.

Er hat in der Büste (nicht in der Statue) ihm

Byron geahnt. ein

welches,

gesetzt,

Denkmal

Und dennoch hat er

obschon

es

weder

die

Gräfin

Giuccioli noch Moore befriedigte, sowohl des Dichters wie des

Künstlers würdig ist. würde sich

wohl

Hätte er Byron näher gekannt, das Werk

vortrefflicher

noch

gestaltet,

es würde auch

jenen Zug des Offenen, Sympathischen haben, der jeden, welcher

genauer mit Byron bekannt war, ergriff.

Dieser fehlt nun.

Doch es gelang dem dänischen Künstler,

hinter dem düsteren Ausdruck, der ihm gemacht erschien, zu dem

wirklichen hindurchzudringen, dem tief originellen Gepräge von Schmerz, Unruhe, Genie, edler und furchtbarer Kraft.

Unzweifelhaft ist es dieser Byron, der vom Museum her gekannte Byron, mit welchem das jüngere Geschlecht in Däne­ mark aufwuchs.

Doch an das Bild knüpfte sich zugleich hart­

näckig die Anekdote von dem Besuch in Thorwaldsen's Werkstätte

und von dessen Ausruf: sein," und man

Mann

sich

nicht

„Er wollte nun einmal so unglücklich

wunderte sich unwillkürlich, daß ein so großer vollkommen

natürlich

gehaben

sollte.

So

gerieten die Dänen von allem Anfänge an in ein schiefes, un­

sicheres Verhältnis zu Byron.

Und auch das spätere Geschlecht

ist in den Jahren, die seit dem Tode des großen Dichters ver­

strichen sind, in ein ähnliches kühles Verhältnis zu ihm getreten. Er ist gar weit davon entfernt, der Held unserer Tage zu sein.

Was noch weit mehr als seine poetische Größe unsere Großväter und Großmütter für ihn schwärmen ließ, das gerade hat die

jetzige Generation abgestoßen. Die Legende, die sich um ihn gebildet

hat, die ganze Überlieferung, womit seine Lebensgeschichte überwuchert ist, und die sie unserem Blicke verhüllt, der Theaterheld in ihm, dessen Halstuchknoten zum Muster biente, der Romanheld, der sich von seinen Pistolen nicht trennen konnte und dessen Liebesabenteuer

nicht minder weltbekannt wurden, wie seine Verse, endlich der Aristokrat, dessen hoher Rang ihm selbst so wertvoll war, dessen

Titel jedoch auf ein Geschlecht, welches keinen anderen Adel als

dm des Geistes anerkennt, nicht länger imponiermd wirkt.

Unser

praktisches Jahrhundert schätzt zudem die Figur gering, welche zu sein Byron sich bald zur Ehre machte, bald in WiMchkeit

war: ein Dilettant.

Es ist ihm Ehrensache, seine Kunst als Amateur und Dilet­ tant zu betreiben.

Seine Stellung und seine Bestrebungen —

heißt es in der Vorrede zu seinen ersten Poesien —

machen

es höchst unwahrscheinlich, daß er je wieder die Feder ergreifm werde.

Im April 1814 beschließt er auf der Höhe des Ruhmes,

den seine ersten poetischen Erzählungen ihm verschafft haben, keine

Verse mehr zu dichtm und alles zu unterdrückm, was er bereits verfaßt hat.

Einen Monat darauf dichtet er „Lara", und als

Jeffrey den Charakter des Heldm zu peinlich ausgearbeitet nennt,

schreibt er (in einem Briefe von 1822): „Was meinen die Kritiker mit ihrem „ausgearbeitet"?

„Lara" schrieb ich, während ich mich

auskleidete, wmn ich in dem luftigen Jahre 1814 von Bällen und Maskeraden heimkam."

Man fühlt, daß er ausdrücklich die

nachlässige Produktionsweise und die Planlosigkeit, die sie zur Folge hat, betont, weil er vor allem Weltmann sein will und nicht Dichter von Fach, sondern, was sein Genie ihm zu sein ver­ bot, Dilettant in der Poesie.

Und wie er mit aller Gewalt Dilettant auf einem Gebiete

sein wollte, wo er es nie werdm konnte, wo es uns jedoch heut­ zutage zuweilen abstößt, daß er seinen Beruf nicht in höherem

Grade achtete, so war er umgekehrt unstreitig auf einem Felde Dilettant, wo er selbst um feinen Preis es hätte sein mögen, als Politiker nämlich. So viel praktischen Sinn er auch im politischen

Leben stets beknudete, seine Politik war doch im Grunde Ge­

fühls- und Abenteurerpolitik, mochte er nun an Verschwörungen als Carbonari in Ravenna teiluehmen, oder als Feldherr an der

Spitze der Sulioten in Missolunghi stehen.

Byron's erste Hand­

lung, als er nach Griechenland zu gehen beschloß, war, sich und

seinen Freunden vergoldete Helme mit seiner adligen Devise als

Inschrift zu bestellen. In unseren Tagen ist der ein Politiker, der bestimmte Pläne

entwirft, an ihnen festhält, sie jahraus jahrein weiter ausbildet und endlich hartnäckig und rücksichtslos

nicht mit dem Apparat

des Helden, doch mit des Helden Festigkeit durchführt. Endlich hat der ganze Troß der Byron'schm Bewunderer und

Nachahmer sich zwischen ihn und uns gedrängt und das Bild des

großen Toten verdunkelt, sein Andenken getrübt.

Man hat ihm

ihre Eigenschaften angedichtet, ihre Fehler zur Last gelegt.

Als

in der Litteratur die Reaktion gegen diejenigen eintrat, die ihn

halb und falsch verstanden hatten, gegen die Zerrissenen, die Bla­ sierten und Interessanten, führte der Rückschlag allmählich dahin,

daß der große Name mit allen dm kleineren heute verdrängtm zur Seite geschobm wurde.

Er hätte ein besseres Los verdimt.

George Gordon Byron wurde den 22. Januar 1788 von einer leidenschaftlichen und unglücklichm Mutter geboren, die kurz

zuvor ihren Gattm, einen rohm Mann von zügellosen Sittm, ver­ lassen hatte.

Dieser Mann, Kapitän Byron mit Namm, der als

Gardeoffizier einige Zeit in Amerika gedient hatte, hatte schon in

seiner Jugmd sich durch sein wildes Lebm allgemein unter dem Namm „der tolle Jack Byron" bekannt gemacht.

Wegen der

Entführung der Gemahlin des Marquis von Carmarthen wurde

er bei Gericht verklagt.

Der Prozeß endete mit einer Scheidung;

Die individuelle Leidenschaftlichkeit.

Dyron.

er heiratete die Marquise, brachte ihr Vermögen durch und be­ handelte sie so schlecht, daß sie wenige Jahre darauf aus Gram starb.

Mit seinem kleinen Töchterchen Augusta kehrte er nunmehr

nach England zurück und vermählte sich, lediglich um seine Vermögens­

verhältnisse zu bestem, mit einer reichen schottischen Erbin, Fräu­ lein Katharina Gordon, welche die Mutter des Kindes ward, dessen Ruhm noch heute die Welt beschäftigt.

Gleich nach der Hochzeit be­

gann Kapitän Byron mit dem Vermögen seiner zweiten Gattin wie

mit dem seiner ersten zu schalten, und im Laufe eines Jahres hatte er dasselbe von 24000 Pfund auf 3000 Pfund herab­

gebracht.

Sie verließ ihn in Frankreich und gebar in London

ihr einziges Kind.

Bei der Geburt wurde der Fuß des Kindes

verrenkt oder verletzt.

Zwei Jahre darauf zog die Mutter mit ihrem Kinde nach

Aberdeen in Schottland, wohin ihnen Kapitän Byron, in der Hoff­

nung, von seiner Gemahlin Geld zu erpressen, während einer Pause in seinen Ausschweifungen folgte.

Frau Byron nahm ihn eine

Zeitlang wieder gutmütig in ihrem Hause auf, später kam er noch ost zu ihr auf Besuch, bis er, um seinen Gläubigem zu entrinnen,

nach Frankreich zurückkehrte, wo er kurz darauf starb.

Als seine

Gattin, die nie aufgehört hatte, ihn zu liebm, die Todesbotschaft

erhielt, brach sie in so leidenschaftliche Wehklagen aus, daß man

es in der ganzen Nachbarschaft vernahm. Nur der Form und dem Grade nach verschieden offenbart

sich

als gemeinsamer Charakterzug bei

beiden Eltem Byron's

eine starke Leidmschastlichkeit, verbunden mit einem großen Mangel

an Selbstbeherrschung.

Und forscht man weiter zurück, so findet

man bei beiden Geschlechtern die nämlichen Züge, bei der Familie

der Mutter als Selbstmords- und Vergiftungsversuche, bei der Familie des Vaters bald unter der Form von heldmmütiger Ber-

wegenheit, bald in Gestalt wilder Roheit.

Byron's Großvater

von väterlicher Seite, Admiral John Byron, allgemein hardy

Byron, der kühne Byron, genannt, nahm an dem Seekriege gegen

die Spanier und Franzosen teil, machte Entdeckungsreisen in der Südsee, umsegelte die Erde und erlebte Gefahren, Abenteuer und

Schiffbrüche ohne Zahl; der merkwürdige Zufall, daß er nie eine Reise unternahm, ohne von heftigen Stürmen überfallen zu werden,

trug ihm bei den Matrosen den Spitznamen Foul-weather Jack ein.

Byron vergleicht sein Schicksal mit dem dieses Vorfahren.

Bei dem Großonkel

des Dichters, William,

Familienzug am unheimlichsten geltend.

macht sich dieser

Er war ein ausschwei­

fender Raufbold, dessen einzige Heldenthat darin bestand, daß er

nach einem Wortwechsel seinen Nachbar Mr. Chaworth in einem Duell ohne Sekundanten erstach.

Nur als Peer von England

entging er der Verurteilung wegen Totschlages; er lebte, gemieden wie ein Aussätziger, auf seinem Gute in Newstead.

Seiner Um­

gebung war er verhaßt, seine Gattin trennte sich von ihm.

Der

Aberglaube in jener Gegend dichtete ihm die abgeschmacktesten

Schandthaten an. Unruhiges Blut hatte sonach der Dichter in seinen Adern. Allein dies unruhige Blut war zugleich hochadliges Blut.

Von

mütterlicher Seite war er mit den Stuarts verwandt und konnte seine Familie bis auf König Jakob II. zurücksühren; von väter­

licher Seite stammte er — jedoch mit einem einzelnen illegitimen Gliede im Stammbaume, ein Umstand, den Byron selbst nie­ mals erwähnt — von einem alten normannischen Adelsgeschlechte,

dessen ältester bekannter Stammvater, Radolphns de Burun, an

der normannischen Eroberung Englands teilnahm.

Und als der

obenerwähnte Großonkel seinen einzigen Sohn und 1794 seinen einzigen Enkel verlor, war alle Aussicht vorhanden, daß sein Be­

sitztum Newstead, und mit diesem sein Peerstitel und seine Peers­ rechte, dem Kinde zufallen würden, das er nie gesehen hatte, das er aber „den lahmen Jungen, der in Aberdeen wohnt," zu nennen

pflegte. Br-nde-, Litteratur der 19. Jahrh. IV.

20

Der kleine lahme Junge wuchs

dieser Anwartschaft auf.

denn auch im Bewußtsein

Stolz und unlenksam war er von Natur.

Als er als ganz kleiner Junge eines Tages gescholten wurde, weil

er seine neue Bluse beschmutzt hatte, erwiderte er kein Wort, sondern

griff sich, leichenblaß, mit beiden Händen an die Bmst und riß in einem seiner (später nicht seltenen) Anfälle von stummer Wut die

Bluse

bis unten entzwei.

oben

von

Die Erziehung der

Mutter war eine derartige, daß sie das Kind bald mit Schelt­ worten, bald mit den heftigsten Liebkosungen überhäufte, ihm bald

das Unrecht, das ihr von seinem Vater widerfahrm, bald sogar sein körperliches Gebrechen vorrückte.

So ist es zum Teil ihre

Schuld, daß dieses Gebrechen von frühe auf einen düstern Schatten über das Gemüt des kleinen Georgie warf; er hörte sich von den

Lippen

seiner

Mutter

Krüppel

nennen.

Durch

orthopädische

Maschinen und durch Bandagen hatte man das Übel verschlimmert;

der Fuß schmerzte, und der stolze Knabe bot seine ganze Willenskrast auf, um diesen Schmerz und die Beschwerlichkeit beim Gehen zu verheimlichen.

Zuweilen vertrug er keine Anspielung auf sein

Gebrechen, manchmal sprach er selbst mit bitterem Humor von seinem „Klumpfuß".

Ohne irgendwie Schulsteiß zu bekunden, stürzte sich der Knabe, sobald er lesen konnte, auf Geschichtswerke, besonders aber auf

Reisebeschreibungen.

Der Grund zu seiner Sehnsucht nach dem

Morgenlande wurde auf diese Weise schon im frühesten Kindes­ alter gelegt.

Er sagt selbst, daß er, keine zehn Jahre alt, mehr

als sechs große Werke über die Türkei, außerdem Reiseschilderungen

und arabische Märchen gelesen habe.

Als kleiner Junge war sein

Lieblingsroman „Zeluco" von John Moore, dessen Held, infolge

der schlechten Erziehung der Mutter nach dem Tode des Vaters, jeder Laune zu folgen sich gewöhnt hat und dessen Temperament

schließlich „so leicht Feuer fängt, wie Schießpulver". Das Kind sah sich im Spiegel dieses an „William Lovell" erinnernden Roman-

Helden.

Unter den Eigenschaften, welche eine entscheidende Rolle

im Leben des Dichters spielen sollten, zeigte die leidenschaftliche

Zuneigung zu dem andern Geschlechte sich schon als Kind bei ihm. Nicht mehr als fünf Jahre zählend, verliebte er sich so heftig in

ein

kleines

Mädchen,

Mary

Duff,

daß

ihn,

als

er

elf

Jahre später von ihrer Verheiratung erfuhr, die Kunde wie ein

Blitz traf. Zu dem Stolze, der Leidenschaftlichkeit, der Melancholie und

der phantastischen Reisesehnsucht gesellten sich noch als ausschlag­

gebender Charakterzug eine glühende Wahrheitsliebe, eine naive

Aufrichtigkeit, die schon als Kind sich bei dem geltend machte, dem das Los vorbehalten war, als Mann den Kampf gegen die ge­ sellschaftliche Heuchelei in Europa aufzunehmen. nur eine der Formen seiner Wahrheitsliebe.

Sein Trotz war

Das Dienstmädchm

hatte eines Tages das Kind zu einer Aufführung von Shakespeare's „Der Widerspenstigen Zähmung" mit ins Theater genommen. Eben war man zu der Stelle gelangt, wo Petruchio behauptet, der Mond

scheine, und Katharina, die gesagt hat, daß es die Sonne sei, gezwungen wird, ihre Meinung zu widerrufen.

Als hierauf Pe­

truchio zu ihrer nachdrücklichen Bändigung umsattelt, sprang der kleine Georgie nach der Replik: „Ei, wie du lügst! 's ist ja die liebe Sonne," erzürnt über die vermeintliche Unwahrheit auf und

rief dem Schauspieler zu: „Und ich sage Ihnen, Sir, es ist doch der Mond!" Als George sein zehntes Jahr erreicht hatte, starb sein Groß­

onkel.

Die erste Regung des Kindes war, zur Mutter zu laufen

und sie zu fragen, ob sie keine Veränderung an ihm bemerken

könne, da er nun Lord geworden.

Als am nächsten Morgen die

Namen in der Schule aufgerufen wurden und dem seinigen unter dem Jubel der Kameraden der Titel Dominus beigefügt wurde,

war der Eindruck so tief, daß er in Thränen ausbrach und die gewöhnliche Antwort Adsum

nicht über seine Lippen bringen 20*

konnte.

Seine

heftigstm Freuden waren frühzeitig und lange

die Triumphe der Eitelkeit.

Um

diese Gemütsbewegung zu verstehen, muß man

aber

sich erinnern, was die Lordwürde in England bedeutete und be­ deutet.

Adlig

im strengen Sinne

sind in diesem Lande nicht

mehr als ungefähr 400 Personen. Der Lord, der in seiner Baronie

mit einem fast unumschränkten politischen und sozialen Einfluß

ausgestattet ist, genießt kaum weniger Ansehen als ein regierender Fürst. Im allgemeinen entspricht auch sein Reichtum seinem Range, was indes hier nicht der Fall war, denn Byron war vermögens­ los und Newstead Abbey verfallen und verschuldet.

Im Herbste 1798 begab sich Frau Byron mit ihrem Söhnchen auf die Reise nach Newstead.

Als sie an das Chausseehaus vor

Newstead kämm, that die Mutter, als ob sie den Ort nicht kenne,

und frug die Frau, die den Schlagbaum öffnete, wem der Park und das Schloß gehörten.

Das Weib antwortete, daß der letzte

Besitzer der Abtei vor wenigen Monatm gestorben sei. — Und wer ist sein Erbe? frug sie in ihrem Glücke. — Es soll ein kleiner Knabe sein, der in Aberdeen wohnt.

Da vermochte das Dienst­

mädchen ihre Freude nicht länger zu bezähmen. Sie küßte den klemm George, dm sie auf dem Schoße hielt, und rief triumphierend:

„Und der da ist es.

Gott segne ihn!"

1801 wurde der Knabe in die Schule zu Harrow gethan, eine der großen, mglischen Nationalschulen, die bei der Aristokratie beson­

ders beliebt war.

Der Unterricht (im Griechischen und Lateinischen)

war trocken und pedantisch und nicht sonderlich anregend für Byron,

der mit seinen Lehrem auf gespanntem Fuße zu stehen pflegte,

während er . mit seinen Kameraden schwärmerische Freundschafts­ bündnisse anknüpfte.

„Meine Schulfrmndschaftm," sagte er in

seinem Tagebuch von 1821,

war immer ungestüm."

liebsten Beschützer.

„waren Leidenschaften;

denn ich

Er war als Freund edelmütig und am

Als Peel, der spätere Minister, eines Tages

von einem größeren Knaben, dessen „sag“ er war, unbarmherzig

geprügelt wurde, unterbrach Byron seinen Plagegeist mit der Bitte,

die Hälfte der dem Kameradm zugedachten Schläge auf sich nehmen zu dürfen.

Als der kleine Lord Gort von einem jüngeren Lehrer,

weil er ihm das Franzbrot schlecht geröstet hatte, mit einem glühen­ den Eisen in die Hand

gebrannt worden war und der Knabe,

als die Sache zur Untersuchung kam, sich hartnäckig weigerte, den

Thäter zu nennen, bot Byron ihm an, statt bei dem Lehrer bei ihm „sag“ zu sein, mit dem Versprechen, daß er dann keine Miß­

handlungen zu befürchten haben solle.

„Ich wurde sein Fag,"

erzählt Lord Gort (s. die Memoiren der Gräfin Giuccioli) „und

war äußerst glücklich, einen so gütigen, edelmütigen Herrn be­

kommen zu haben, der mir beständig Kuchen und Näschereien schenkte und stets Nachsicht mit meinen Fehlern hatte."

An seinen

Lieblingsfag, den Herzog von Dorset, hat Byron in seinen „Stunden der Muße" schöne Verse zur Erinnerung an das Schulleben ge­

richtet.

Wenn Byron während der Ferienzeit daheim weilte, trat die Mutter in ihrer alten, jähzornigen Art gegen ihn auf, allein statt sich vor ihr zu fürchten, konnte er sich oft des Lachens über die Leiden­

schaftlichkeit der kleinen dicken Frau nicht enthalten. Nicht genug, daß sie Teller und Tassen zerschlug, trieb sie auch zuweilen den Sohn

mit der Schürstange und dem Messer in die Flucht.1 Stellt man

* Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist von DiSraeli in dem

Roman „Benetia" so wahr und lebendig geschildert worden, daß mit Um­ wandlung der erdichteten Namen (Carducis, Plantagenet, Morpeth u. s. w.) in

sei.

die

richtigen

eine

gedrängte Szme

aus

diesem .Buche

wiedergegeben

Versetzen wir uns im Geiste auf den Herrensitz Annesley in der Nach­

barschaft

von Newstead,

den Hofplatz

als

eben

angefahren kommt,

eines

dem

Vormittags ein Postwagen auf

eine kleine sehr beleibte Dame mit

rotem Gesicht und einem Anzuge entsteigt, der Schäbiges und Scheckiges auf eigentümliche Weise vereinigt.

Sie ist von einem Knaben von 11—12 Jahre»

begleitet, dessen Erscheinung von der der Mutter in hohem Grade absticht.

Er

Byron.

310

Bit individuelle Leidenschaftlichkelt.

Ilch nun vor, daß nach einer Szene, wie der unten geschilderten, ein junges

goldhaariges Mädchen

in

die Stube tritt und mit einem

Blick den trotzigen Knaben besänftigt, so hat man eine Situation,

die

auf Annesley

bei der Familie Chaworth (Verwandten

jenes

ist blaß und schlank, mit langem, gelocktem Haar und großen, Hellen Augen,

deren Blitzen ab und zu auf angenehme Weise ein Antlitz belebt, das im all­

gemeinen einen scheuen, verdrossenen Ausdruck hat.

Es ist ein erster Besuch.

Müde und erhitzt von der Fahrt tritt man ein.

Eine schreckliche Fahrt!

rief Frau Byron sich fächelnd, indem sie Platz

nahm, und diese Hitze! George, mein Schatz, mache der Dame eine Verbeugung. Habe ich Dir nicht immer befohlen, Du solltest Dich verbeugen, wenn Du in ein fremdes Zimmer kommst?

Mache Frau Chaworth Deine Verbeugung! —

Der Knabe grüßte mit einem verdrießlichen Nicken; allein Mrs. Chaworth

nahm ihn mit solcher Herzlichkeit auf, daß seine Züge sich ein wenig aufhellten, wiewohl er sich vollkommen schweigsam verhielt und wie ein Bild störrischer

Gleichgültigkeit auf dem Rande seines Sessels saß. — Eine reizende Gegend, Frau

Chaworth, meinte Frau Byron . . . Annesley ist ein wunderschöner Punkt,

sehr verschieden von der Abtei, aber schauerlich einsam ist es hier.

Es ist eine

große Veränderung für uns, die wir von einer kleinen Stadt mit allen den vielen freundlichen Nachbarn kommen.

Sehr verschieden von Dulwich, — nicht­

wahr, George? — Ich Haffe Dulwich, sagte der Knabe. — Was, Du hassest

Dulwich? rief Frau Byron, nun, das heiße ich undankbar sein, gegen die vielen lieben Freunde. Abgesehen davon, George, habe ich Dir nicht gesagt, daß Du niemanden Haffen darfst? Ach, Sie glauben es gar nicht, Frau Chaworth,

was das für eine Aufgabe ist, das Kind^zu erziehen! er so artig sein, wie nur einer.

Wenn er aber will, kann

Nicht, George? — Lord Byron lächelte'höhnisch,

setzte sich ganz nach hinten auf den tiefen Stuhl und schlenkerte mit den Beinen,

welche nun nicht mehr bis zum Boden reichten.

Ich bin überzeugt, daß

Lord Byron stets artig ist, bemerkte Frau Chatvorth. — Nun, George, ver­ setzte Frau Byron, hörst Du? Hörst Du, waS Mrs. Chaworth sagt? Nimm

Dich nun zusammen, daß Du der Dame keinen Anlaß giebst, ihre gute Meinung von Dir zu ändern. — George kräuselte die Lippe und wandte der Gesellschaft

halb den Rücken zu. — George, mein Schatz, so sprich doch. Hab ich Dir nicht

gesagt, , daß man, wenn man in Gesellschaft ist, dann und wann den Mund austhun muß?

Schwatzhafte Kinder kann ich nicht leiden, aber solche Kinder

habe ich gern, die antworten, wenn man mit ihnen spricht. — Mit mir hat

niemand gesprochen, sagte Lord Byron in mürrischem Tone. — George, mein

Schatz, Du weißt, Du hast mir versprochen, artig zu sein. — Was habe ich denn gethan? — Lord Byron, sagte Frau Chaworth ablenkend, möchten Sie

vielleicht Bilder

ansehen? —

Nein,

ich danke sehr,

erwiderte der

kleine

Lord in höflicherem Tone, ich möchte am liebsten in Ruhe gelassen sein. —-

Mannes, den Byron's Großonkel im Duell getötet hatte) sich gar

oft wiederholt haben mag, wenn Mutter und Sohn dort zu Besuch weilten nnd die junge Tochter des Hauses, Mary Ann Chaworth,

einen Moment ihren Blick auf George ruhen ließ. Sie war 17 Jahre Sie müssen, beste Frau Chaworth, ihn nicht danach beurteilen, wie Sie ihn jetzt sehen.

Er kann ganz köstlich sein, wenn er will. — Köstlich! murmelte der

kleine Lord zwischen den Zühnen. — Sie hätten ihn in Dulwich sehen sollen,

dann und wann in den kleinen Theegesellschaften, er war geradezu die Perle der Gesellschaft. — Nein, das war ich nicht, sagte Lord Byron. — George,

gab seine Mutter in feierlichem Tone zurück, wie oft hab' ich Dir befohlen, nicht zu widersprechen? — Der kleine Lord gab sich einem unterdrückten Murren hin. — Letzte Weihnachten führte man ein kleines Lustspiel auf, da spielte er

allerliebst.

Sie werden das gar nicht glauben können, nach dem, wie er jetzt

dort auf seinem Sessel sitzt. George, mein Schatz, ich verlange, daß Du artig bist. So sitze doch wie ein Mann. — Ich bin kein Mann, sagte Lord Byron,

ich wollte, ich wäre es. — George, versetzte die Mntter, hab' ich Dir nicht ein für allemal gesagt, daß ich keine Widerrede dulde?

Das schickt sich nicht

für Kinder . .. George, hörst Du, was ich sage, schrie Frau Byron scharlachrot vor Zorn. — Alle Menschen können hören, was Sie sagen, Mrs. Byron, ent­ gegnete der kleine Lord. — Nenne mich nicht Mrs. Byron, das ist nicht die Art,

wie man zu seiner Mutter spricht. Ich mag von Dir nicht Mrs. Byron gegenannt werden. Ich hätte Lust aufzustehen und Dir einen tüchtigen Klaps zu geben.

O, Frau Chaworth, seufzte sie, und eine Thräne rollte über ihre Wange,

wenn Sie nur wüßten, was das heißt, dieses Kind zu erziehen! — Werte Frau, versetzte Frau Chaworth, ich bin überzeugt, daß Lord Byron keinen anderen Wunsch kennt, als zu thun, was Ihnen angenehm ist, Sie haben ihn sicherlich mißverstanden. — Ja, sie mißversteht mich immer, sagte der kleine Lord mit weicherem Tone und feuchten Augen. — So, jetzt sängt er an, sagte seine Mutter uni) begann selbst auf das Schrecklichste zu weinen, als im selben Nu

die Erinnerung an alle seine Unarten in ihrem Bewußtsein auftauchte und sie

ausfuhr, um zu ihrem gewohnten letzten Auskunstsmittel zu greifen und ihm einen tüchtigen Schlag zu versetzen. Ihr behender Sohn, an diese Stürme gewöhnt, sprang zur Seite, stellte einen Sessel zwischen sich und seine Mutter, über den

sie beinahe gefallen wäre, und nun jagten sie im Zimmer hintereinander her. In ihrer Verzweiflung haschte sie nach einem Buche und wollte es ihm an den Kopf werfen, doch mit satanischem Lächeln duckte er sich, und das Buch

flog durch eine Fensterscheibe.

Sie machte noch einen desparaten Angriff, vor

dem der kleine Lord fich in seinem Schrecken nur dadurch zu schützen wußte, daß er Frau Chaworth's Nähtisch vor sie hinwirbelte.

Sie fiel-über das Tisch­

bein und bekam einen hysterischen Anfall, während Lord Byron bleich und trotzig in einem Winkel stand.

alt, als Byron 15 zählte. in sie verliebt.

Er war leidenschaftlich und eifersüchtig

Auf den Bällen, wo sie glänzte, mußte er, der

durch seinen lahmen Fuß am Tanzen verhindert war, mit qual­ vollen Blicken sie in den Armen Andrer sehen.

Da hörte er sie

eines Abends zu dem Kammermädchen, das die Rede auf Byron

und seine Aussichten gebracht hatte, die Äußerung thun: „Glaubst Du, ich mache mir etwas aus dem lahmen Burschen?" den Schmerz hinab und zog sich zurück.

Er würgte

Dreizehn Jahre später

schrieb er unter strömenden Thränen in der Villa Diodati am

Genfer See das Gedicht „Der Traum", welches dies Verhältnis behandelt und den Beweis liefert, wie tief ihm diese Jugend-

enttäuschung zu Herzm gegangen? Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn gestaltete sich

immer unnatürlicher, mit um so ruhigerer Ironie Byron allmählich

den Wutanfällen der Mutter begegnete. Es kam zu solchen Szenen, daß eines Abends Mutter und Sohn, jedes für sich, insgeheim in der Apotheke ersuchen ließen, falls der andre Teil Gift verlangen sollte, möge man ihm statt dessen eine unschädliche Mixtur verab­

reichen.

Hatten sie einander mit Selbstmord gedroht? Mit trüb­

seligem Humor spricht der junge Byron in seinen Briefen von

den Ausflügen, von denen er niemanden im voraus das Geringste

1 Höchst bezeichnend für die Mutter ist die Art und Weise, wie sie, zwei Jahre nachdem Byron seine Hoffnungen hatte aufgebm müssen, ihm mitteilte,

daß Mary Chaworth sich vermählt'habe.

eben Besuch zugegen war.

Sie erhielt die Nachricht, während

Byron, rief sie, ich habe eine tranrige Nachricht

für Dich. — So, was den»? — Nimm erst Dein Taschentuch zur Hand, Du

wirst eS brauchen. — Byron that es. Als die Mutter ihm hierauf erzählte, daß Miß Chaworth sich verheiratet habe, steckte er das Taschentuch rasch wieder ein und sagte mit erzwungener Gleichgültigkeit und Kälte, während tiefe Bläffe sein Antlitz überzog: Ist das alles? Auf die Bemerkung der Mutter, sie hätte

geglaubt, er

würde vor Leid zusammenbrechen, schwieg er und lenkte das

Gespräch auf andere Gegenstände.

Je weniger seine Mutter ihm eine Ver­

traute zu sein vermochte, desto lebhafteren Drang mußte er empfinden, dem Papiere seine Gefühle und Kümmernisse anzuvertrauen.

ahnen ließ, aus Furcht, wie er bemerkt,

„vor dem gewohnten

mütterlichen Kriegsgeheul."

1805

bezog

Byron

die

Universität

Cambridge;

er

ver­

brachte seine Zeit dort weniger mit dem Studium der Universitäts­

fächer, als mit allen erdenklichen körperlichen Übungen, auf die er

sich schon von Kindheit auf, um sein Gebrechen wett zu machen,

geworfen hatte.

Reiten, Schwimmen, Tauchen, Schießen, Boxen,

Criquetspielen und Trinken, das waren Fertigkeiten, die sich bis

zur Vollkommenheit anzueignen sein ehrgeiziges Bemühen war. Der

Dandy begann in ihm zu keimen, und in jugendlichem Übermut belustigte es ihn,

seine Ausflüge in Gesellschaft eines hübschen

jungen Mädchens, das ihn in Männerkleidern bald als Page, bald als sein jüngerer Bruder begleitete, zu unternehmen, ja er war mutwillig genug, es in dem Badeorte Brighton einer fremden Dame

unter letzterem Titel vorzustellen.

Newstead Abbey

war verpachtet.

trag ablief, zog Byron ein.

Sobald

der

Pachtver­

Es war eine wirkliche alte gotische

Abtei, mit Refektorium und Zellen, schon 1170 gegründet, mit

Park und See und Ringmauer und einem gotischen Brunnen aus

dem Hofplatze.

Hier führten er und seine Kameraden ein aus

jugendlichem Trotz gegen alle Regeln hervorgegangenes Lotter­ leben, das in einem Stile gehalten und von einer Originalitäts­ sucht gestempelt war, wie man dies in der Geschichte genialer

Jünglinge,

die sich ihrer Aufgaben und Ziele noch nicht bewußt

geworden, häufig beobachtet. Man stand um 2 Uhr nachmittags auf, focht, spielte Feder­ ball, schoß mit Pistolen, und nach dem Dinner machte, zum Entsetzen

der ganzen gottesfürchtigen Gegend, ein mit Burgunder gefüllter

Schädel die Runde.

Byron hatte, als sein Gärtner zufällig einen

alten Mönchsschädel ausgrub, denselben in einem Anfall über­ mütiger Laune in Silber fassen lassen, und er und seine Freunde fanden nun ein kindliches Ergötzen daran, in der Mummerei von

Mönchen mit Tonsur, mit Kreuz und Rosenkranz u. s. w. ihn als

Trinkschale zu benützen.1 Man muß jedoch in diesem Zuge nicht etwa einzig jugmdlichen Cynismus von der Art erblicken wollen, die sich,

wie z. B. häufig bei jungen Medizinern, gar wohl mit großer

Lebenslust paaren kann; ein Charakter wie der Byron's hat sicher eine Art bittern Reizes darin gefunden, beim Trinkgelage solch ein

Memento mori vor Augen zu haben.

In Byron's Versen auf diese

Trinkschale heißt es, daß die Berührung von Menschenlippen dem

Toten immerhin lieber sein müsse, als der Biß des Wurms. Aus allzu überschäumender Lust entsprangen indes seine Aus­

schreitungen nicht.

Er besaß nicht allein die Schwermut, die bei

hervorragenden Naturen in der ersten Jugend fast durchgehends die Folge der Unruhe ist, mit noch unerprobten Gaben und Kräften

lauter schwierigen Fragen von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen: er besaß auch die Melancholie, die seine eigenartige Natur­

anlage, seineErziehung, seine heftige Leidenschaftlichkeit mit sich bringen mußten.

Man erzählt aus dieser Periode seines Lebens ein paar

Anekdoten, bei welchen seine Biographen Rührung zu beschleichen pflegt.

Die erste betrifft seinen Hund.

Er setzte 1808 auf das

Grab seines Lieblingshundes eine höchst misanthropische Inschrift, in der er diesen auf Kosten der gesamten Menschheit erhebt, und machte zugleich ein (später zurückgenommenes) Testament, worin er

an der Seite dieses Hundes, seines einzigen Freundes, begraben zu

werden verlangte. Ein zweites Zeichen seines Gefühles von Verlassen­ heit ist die Art und Weise, wie sein Geburtstag 1809 gefeiert wurde. An diesem Tage vollendete er sein einundzwanzigstes Lebensjahr

und wurde nach

englischem

Gesetze mündig.

Diesen Tag als

höchsten Festtag zu betrachten, ist in England Sitte; beim Adel

begeht man ihn mit Tanz, Illumination, Feuerwerk und der Be­ wirtung aller Bewohner des Gutes.

Byron war so arm, daß er

1 Der jetzige Besitzer von Newstead hat ihn aus religiösen Gründen be­ graben lassen.

nur gegen Wucherzinsen sich Geld zu verschaffen vermochte, um seinen Leuten einen Ball zu geben und den traditionellen ganzen Ochsen braten zu lassen.

Keine Wagenreihe mit hohen Gratulanten hielt

am 22. Januar 1809 vor den Pforten des Schlosses; weder Mutter, Schwester, Vormund noch Verwandte fanden sich ein; er verbrachte

den Tag in einem Hotel in London.

In einem seiner Briefe von

1822 heißt es: „Habe ich Ihnen je erzählt, daß ich an dem Tage, wo ich mündig wurde, Schinken mit Eiern zu Mittag aß und eine Flasche Ale dazu trank?

Das ist mein Leibgericht und Leib­

getränk; da ich jedoch keines von beiden vertrage, gönne ich mir

beides nur alle vier, fünf Jahre einmal an hohen Festtagen." Wer wollte leugnen, daß es erfreulicher, reich als arm zu sein,

und daß es dem Selbstbewußtsein wohlthuender ist, von Verwandten und Freunden beglückwünscht zu werden, als sich heimatlos und vereinsamt zu fühlen; allein im Vergleich zu den Schwierigkeiten,

Entbehrungen

und Demütigungen,

mit

welchen jeder moderne

junge Plebejer am Anfänge seiner Laufbahn zu kämpfm hat, sind die Widerwärtigkeiten dieses jungen Patriziers doch wahrlich kaum

der Rede wert.

Sie erhalten ihre Bedeutung dadurch, daß sie

Byron, der als Aristokrat so leicht in Standes- und Familien­

gefühlen hätte aufgehen können, frühe allein auf jene Hilfsquellen

anwiesen, welche die einzig auf sich gestellte Persönlichkeit besaß.

Es

war

keine der großen politischen Begebenheiten jener

Periode, kein Eindruck von Begeisterung oder Entrüstung hinsichtlich der historischen Umwälzungen, an denen die Zeit so reich war, was

Byron dem regellosen, planlosen Lebm auf Newstead entriß.

Er­

eignisse, wie der Tod von Fox, wie das für England so schmähliche

Bombardement Kopenhagens, ließen denjenigen als Jüngling unbe­ rührt, den als Mann jedes politische Geschehnis, sei es Großthat oder Unthat, durchbeben sollte.

Es war eine private litterarische

Widerwärtigkeit, die dm Wmdepunkt erzeugte.

Währmd seines

Aufenthalts in dem Städtchen Southwell vom Sommer 1806

bis zum Sommer 1807 hatte er seine ersten poetischen Versuche

niedergeschrieben und mit denselben bei den jungem Gliedern einer

bürgerlichen Nachbarsfamilie namens Pigot lebhafte Teilnahme erregt.

Im März 1807 erschien die Sammlung unter dem Titel Unter diesen Gedichten ist keines sehr be­

Hours of idleness. deutend;

die

diejenigen,

darunter ein energisches Gefühlsleben

ahnen lassen, verlieren sich unter einem Wust von Schülerpoesien,

teils Übersetzungen und Nachahmungen der in der Schule gelesenen klassischen Dichter und des Ossian, teils empfindsamen und stilistisch

unreifen Freundschasts- und Liebesgedichten.

In einigen wenigen

enthüllt sich uns Jetztlebenden, die wir ja hinterher leicht klug sein

können, in deutlichen Umrissen Byron's spätere Persönlichkeit; in dem Gedichte To a Lady, das an Mary Chatworth gerichtet

ist, finden sich ein paar echt Byron'sche Strophen: Wärst du nur mein, wär alles gut: Die Wange, bleich von frühem Schwärmen, Verzehret in der Lüste Glut,

Könnt ruhig an eignem Herd erwärmen . . . Jetzt aber such' ich andre Lust,

Zum Wahnsinn triebe mich das Denken; Bei lässigem Schwarm, in leeren Wust

Muß ich der Seele Leid versenken.

In Wirklichkeit aber verdienten die Gedichte nur wenig Be­

achtung, und da sie zudem mit knabenhaften und geschmacklosen Anmerkungm versehen, mit einem anspruchsvollen Vorwort aus­

gestattet

und

auf

dem

Titelblatte

die

Worte

„ein

Minder­

jähriger" dem Verfassernamen beigefügt waren, so bot die Samm­ lung Stoff genug, den Spott und die (Satire herauszufordern.

Im Januar 1808 brachte denn die Edinburgh Review, damals das

oberste

kritische

Tribunal,

eine (wahrscheinlich von Lord

Brougham verfaßte) überaus boshafte Rezension dieser Gedichte. „Die Minderjährigkeit," heißt es darin, „prangt auf dem Titel-

blatte,

sogar auf dem Einbande. . . Wäre Lord Byron darauf

verklagt worden, ein gewisses Quantum Poesie zu liefern, und er

hätte dann den vorliegenden Band eingereicht, so würde der Richter aller Wahrscheinlichkeit nach den Inhalt des Bandes nicht als

Poesie anerkennen, wogegen er den Einwand der Minderjährigkeit erheben könnte.

Doch da er die Ware fteiwillig anbietet" u. s. w.

„Vielleicht," fährt der Kritiker fort,

„will er damit nur sagen:

,Seht, wie ein Minorenner schreiben kann! Die Hand darauf, dies Gedicht hier ist von einem jungen Menschen von achtzehn Jahren

verfaßt, jenes andere von einem Sechzehnjährigen!'

Allein, weit

entfernt uns darüber zu wundern, daß ein junger Mensch äußerst mittelmäßige Verse macht, glauben wir vielmehr, daß in England

unter zehn Jungen von besserer Erziehung neun gleichfalls Verse machen, und der zehnte bessere schmiedet, als Lord Byron . . . .

Wir müssen ihm zu bedenken geben, daß, wenn die Endsilben sich

reimen, und die Versfüße richtig an den Fingern abgezählt sind — was sich von den seinen nicht einmal immer behaupten läßt —

dies noch lange nicht den Inbegriff alles dessen bildet, was man von einem Dichter verlangt.

Ein wenig Phantasie gehört auch

dazu . . ." u. s. w. u. s. w.

Zum Schluffe

wird

denn

Byron

der

gute

Rat

erteilt,

der Poesie zu entsagen, seine Talente, die großen Vorzüge seiner

Stellung besser zu benutzen.

An die Adresse des epochemachendstm

Dichters des Zeitalters von jemandem gerichtet, beffen Fach es war, die Geister kritisch zu prüfen und zu würdigen, war der

Artikel, trotz seiner teilweisen Berechtigung, unleugbar ein grober

Verstoß.

Für Byron

widerfahrm können.

Herausforderung,

aber war er das beste, was ihm hätte

Er wirkte auf ihn mit der Gewalt einer

er verletzte seine Eitelkeit tödlich und weckte,

was diese überleben sollte, seinen Stolz.

Ein Freund, der eben

zu ihm kam, als ihm die Zeiffchrift zu Händm gekommm war,

versichert, seine Augen hätten einen so wundersamen Ausdruck von

Trotz und Stolz gehabt, daß kein Künstler, der eine beleidigte

Gottheit darzustellen wünschte, ein Modell von furchtbarerer Schön­ heit hätte finden können. Der Umgebung gegmüber verhehlte er, wie tief erregt er war. In einem Briefe aus jenen Tagen giebt er seinem Bedauern Aus­

druck, daß seine Mutter sich den Artikel so sehr zu Herzen ge­ nommen habe, erklärt, daß derselbe weder seine Ruhe noch seinen Appetit gestört habe, und bemerkt nur, daß diese Papierkugeln ihn

gelehrt hätten,

Schüssen standzuhaltm.

Doch

nach

mehr als

zehn Jahren schreibt er: „Ich erinnere mich noch sehr lebhaft des

Eindruckes, dm die Edinburger Kritik auf mich machte; sie rief Wut und dm Vorsatz in mir hervor, zu trotzen und mich zu

rächm, keineswegs jedoch Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung.

Eine unbarmherzige Kritik ist Gift für einen angehenden Schrift­ steller, und sie schmetterte mich zu Boden — doch ich sprang

wieder auf . . . fest entschlossen, ihr Rabmgekrächz zu Schandm zu machen und bald wieder von mir hören zu lassen.".

So kam denn von außen her der Antrieb, durch welchen das leidenschaftliche, zersplitterte Seelenlebm des jungen Mannes sich in Einem Gefühle, in einem einzigen Vorsatz konzentrierm sollte. Mit unerschütterlicher Festigkeit und zäher Ausdauer machte er

sich daran zu arbeiten, schlief am Tage, stand nach Sonnenunter­ gang auf und schrieb in einem Zuge, mehrere Monate lang die

Nächte hindurch bis zum Morgengrauen arbeitmd, seine erste be­

rühmte Safire.

XVIII. Berühmt ist und ward dieselbe mit Recht; doch nicht durch

ihren Witz und Humor, denn daran gebricht es ihr völlig, auch nicht durch die Fülle treffender Ausfälle, denn sie teilt fast nur

blinde Hiebe nach links und rechts aus, sondern um der Kraft, des

Selbstgefühles, der unerhörten Kühnheit willen, die ihr zu Grunde liegen und sich in ihr Luft machen.

Die Angriffe hatten bei

Byron eine dunkle Regung wachgerufen, die alsbald zu einem übermächtigen Gefühl erwachsen sollte, einem Gefühl, in welchem

er sich seiner selbst erst recht bewußt ward, dem:

euch alle!

Diese Regung war ihm wie anderen großen streit­

baren Naturen der Geschichte das Lebenselixir.

ungestraft

können!

Einer gegen

höhnen

Mich,

dürfen!

„Mich sollte man

Mich glaubt man zerschmettern zu

der allein stärker ist, als sie alle!"

Dies das

Thema, das ihm in den Ohren schwirrte, währmd er schrieb.

Die Edinburger waren gewohnt, sion

einen

kleinen

Dutzenddichter

wenn sie in solch einer Rezm-

wie

eine Fliege

zu Boden

schlugen, oder aus Versehen ein armes Singvögelchen Herabschossen, den Betreffenden in der Stille sich härmen oder demütig seiner

eigenen mangelhaften Begabung die Schuld geben zu sehen, so

baß jedenfalls stets ein tiefes Schweigen der Kritik folgte.

Nun

aber warm sie auf Einen gestoßen, bessert ungeheure Stärke und Schwäche eben darin bestand, niemals sich selbst die Schuld an

einem Mißgeschicke zuzuschreiben, sondem dieselbe mit Leidmschaft auf andere zu wälzen.

Auch diesmal folgte der Kritik em ändert-

halbjähriges Schweigen, dann aber erging es, wie es in dem Ge­ dichte Viktor Hugo's geschrieben steht: Tont ä coup au milieu de ce silence morne Qui monte et s’accroit de moment en moment S’öl&ve un formidable et long rugissement, C’est le lion.1

Und

das Bild ist das richtige.

Denn diese nicht schöne,

nicht graziöse, nicht witzige Satire ist mehr Gebrüll als Gesang. Der Dichter, der eine Nachtigallenkehle hat, freut sich, da er zum

ersten Male vernimmt, daß seiner Stimme Wohllaut eigen ist? — Das

Entlein

häßliche

verspürt

seine

Schwanennatur,

als

es

hinaus in sein Element gestoßen wird, allein das Gebrüll des

jungen Löwen überrascht ihn selbst und belehrt ihn, daß er nun zum Seiten erwachsen ist.

Man suche denn auch nicht in den English

bards and Scotch reviewers Degenstöße, die mit fester Hand

geführt werden.

sie — doch

Diese Wunden schlug keine Hand, eine Tatze riß

ex ungue leonem!

Mäßigung und Vernunft.

Man suche hier nicht Kritik,

Kennt das verwundete Raubtier Scho­

nung und Takt, wenn eine Kugel, die es töten sollte, es nur

flüchtig verletzt hat?

Nein, das Raubtier sieht sein eigenes Blut

fließen, Blut schwimmt ihm vor den Augen, und Blut will es

zur Rache vergießen.

Es sucht auch nicht einzig den, der die

Kugel abgefeuert; wenn einer aus der Schar den jungen Löwm ver­ wundet hat, dann wehe der ganzen Schar! Alle Dichternotabilitäten Englands,

die berühmtesten, gefeiertsten — jeder, der bei der

Edinburgh Review gut angeschrieben stand, wie jeder, der für sie schrieb,

werden

in

dieser Satire wie Schulknaben von einem

zwanzigjährigen Jüngling behandelt, der vor kurzem selbst nichts 1 Victor Hugo: Les chätiments — La caravane. 8

Noch hör' im Ohr klingen ich's, Wie einstens es mir kam,

Daß der eignen Stimme Singen

Urplötzlich ich vernahm.

Chr. Winther: An Eine.

Nr. 139.

Byron. Die individuelle Leidenschaftlichkeit.

321

Er läßt sie Spießruten

anderes als ein Schulknabe gewesen war.

laufen, einen nach dem andern, englische Poeten wie schottische Rezensenten. Es kommt hier manches beißende Wort vor, das nicht ins Blaue hinein geredet ist.

Die leere Phantasterei in Southey's

Thalaba und die unnatürliche Fruchtbarkeit dieses Schriftstellers, die Beweise, welche Wordsworth's Gedichte für die Wahrheit seiner

Lehre liefern, daß Verse bloße Prosa sind, Coleridge's Ammen-

stubenkindlichkeit

und

die

Lüsternheit

leidenschaftlichem Hohne gegeißelt.

bei Moore

werden

mit

Scott's Mannion erfährt einen

Angriff, der an des Aristophanes Verspottung der Helden des

Euripides erinnert.

Allein der überwiegenden Mehrzahl nach sind

diese Ausfälle doch so ungerecht und unbesonnen, daß sie in der

Folgezeit dem Verfasser weit mehr Verdrießlichkeiten bereiteten, als denjenigen, welchen sie galten. dem er eben noch

jedoch

Byron's Vormund, Lord Carlisle,

die Hours of idleness gewidmet, der sich

geweigert hatte,

seinen Mündel

im Parlamente

einzu­

führen, Männer, wie Scott, Moore, Lord Holland, die später zu

Byron's bestm Freunden zählten, wurden hier ohne Gmnd, aus ganz unrichttgen Voraussetzungen und mit einer grandiosen Kritik­

losigkeit angeschnauzt, die ihr Gegenstück nur in der erstaunlichen Bereitwilligkeit hat, womit Byron, sobald er zu besserer Einsicht kam, Abbitte that und die Wirkungen seiner ehemaligen Irrtümer

auszulöschen suchte.

Er war einige Jahre später vergebens bemüht,

die nun einmal erschienene Saüre dadurch aus der Welt zu schaffen,

daß er die fünfte Auflage derselben gänzlich vernichten ließ. Vorläufig machte sie indes großes Auffehen und verschaffte

ihrem Verfasser die gewünschte Genugthuung. Byron hatte zu Beginn des Jahres 1809 in London Auf­

enthalt genommen, um seine Satire zum Druck zu befördern, sowie

um seinen Sitz im Oberhause einzunehmen.

Da er niemanden

hatte, dm er bei dieser Gelegenheit um sein Geleit hätte ersuchm

können, mußte er gegen Brauch und Sitte sich selbst einführm. Brande», Litteratur de» 19. Jahrh. IV.

21

Sein Frmnd Dallas hat die Szene beschrieben.

Beim Eintritt

schien sich Byron's Antlitz mit noch tieferer Blässe als sonst zu über­ ziehen, und in seinen Zügm lag ein Ausdmck der Kränkung und

des Unwillens.

Der Kanzler, Lord Eldon, ging ihm lächelnd

entgegen und sagte ihm einige verbindliche Worte.

Mit einer

steifen Verbeugung berührte Byron als Antwort die dargereichte

Hand Lord

Eldon's mit dm Fingerspitzen.

Als der Kanzler

sein Entgegenkommen solchermaßen verschmäht sah, kehrte er auf feinen Sitz zurück.

Byron warf sich nachlässig auf eine der leeren

Bänke der Opposition, verweilte einige Minuten, erhob sich und

ging seines Weges.

Er wollte nur seinen Platz bezeichnen und

zeigen, welcher Partei er sich anschließe.

„Jetzt, da ich meinen Sitz

eingenommen habe," sagte er zu Dallas, „will ich ins Ausland

reifen."

Im Juni 1809 verließ er England.

wie er in einem Briefe an seine

Längst schon hatte er,

Mutter vom Jahre 1808 bemerkt, gefühlt, daß derjenige, welcher nur sein eigenes Vaterland kennt, die Menschen nie von einem freieren oder allgemeineren Standpunkte zu beurteilen vermag;

denn, sagt er, man lemt aus der Erfahrung, nicht aus Büchem; nichts ist so belehrend wie die sinnliche Betrachtung des Gegen­

standes

selbst.

Zuerst

Hurrah Hodgson!),

reiste und

er

nach

Lissabon

(das Gedicht:

die Beschreibung Eintras im ersten

Gesänge des Childe Harold entstammt diesem kurzen Aufenthalte ;

hierauf galoppierte er mit seinem Begleiter, Mr. Hobhouse, nach Sevilla und besuchte sodann Cadix und Gibraltar.

Keines

der

prachtvollm

historischen

Denkmäler

Sevillas

machte Eindmck auf ihn; hier wie in Cadix nehmen die Fraum ihn ganz und gar in Beschlag.

Er fühlt sich von der Zuvor­

kommenheit spanischer junger Damen jugendlich geschmeichelt und nimmt aus Sevilla als Reliquie eine drei Fuß lange Haarlocke

mit.

Gibraltar ist ihm als englische Stadt selbstverständlich ein

„verwünschter Ort".

Doch so kalt ihn die geschichtlichen Denkmäler lassen, so stark beginnen nun die politischen Verhältnisse der Länder ihn zu be­ schäftigen, und vor allem sind es die Beziehungen Spaniens zu

England, auf die seine Aufmerksamkeit sich richtet.

Die beiden

ersten Gesänge des Childe Harold zeigen, daß er nur bitteren Hohn

für

die ganze auswärtige Politik Englands

hatte.

Er

spottete über dessen sogenannten Sieg bei Madrid, bei welchem die Engländer 5000 Gefallene hatten, ohne den Franzosen irgend

welchen wesentlichen Schaden zuzufügen, und er ist kühn genug, Napoleon seinen Helden zu nennen. Von Spanien ging die Reise nach Malta, dessen uralte Denk­

mäler, die später den alten kranken Scott so entzückten, ebenso wie

früher die Sevillas auch

nicht den geringsten Eindruck auf ihn

machten. An dem historisch-romantischen Sinne gebrach es ihm eben­ so vollständig, wie an dem romantischen Nationalgefühl. Seine Ge­

danken und seine Sehnsucht galten weder den grünen Wiesen Englands, noch den nebligen Hochlanden Schottlands, sondern dem Genfer See

in seiner ewigen Farbenpracht und dem griechischm Jnselmeere.

Ihn beschäftigten nicht die historischen Großthaten seines Volkes,

nicht die Kämpfe zwischen der roten und weißen Rose, wohl aber die

Politik

der

Gegenwart,

und

in

den

Annalen

der

Ver­

gangenheit nur die Erinnerung an die großen Freiheitskämpfe.

Die alten Statuen waren ihm nichts als Stein, er fand die

lebenden Frauen schöner als alle die antiken Göttinnen (dummes Zeug nennt er die idealen Steinbilder in „Don Juan"); doch ver­

sinkt er in tiefes Sinnen angesichts des Schlachtfeldes von Marathon und verherrlicht es später in zwei epischen Dichtungen.

Und als

er in seinem letzten Lebensjahre nach Ithaka kam, wies er das Anerbieten der Führer, ihm die Monumente der Insel zu zeigen,

mit den an Trelawny gerichteten Worten zurück:

Geschwätz über die Antike.

„Ich hasse das

Glauben denn die Leute, ich hätte

keine lichten Augenblicke und wäre nach Griechenland gekommen,

21*

UM noch mehr Albernheiten zusammenzuschmierm!"

Das prak­

tische Freiheitspathos verschlang zuletzt sogar bei ihm das poetische. Mit Byron ist die romantische Empfindsamkeit dahin;

mit ihm

erhebt sich der moderne Geist in der Poesie; daher wirkte er nicht

bloß für sein Land, sondern für Europa.

Auf Malta fühlte sich Byron stark von einer reizenden jungen Dame gefesselt, derm Bekanntschaft er dort machte, einer Frau

Spencer Smith, die aus politischen Gründen von Napoleon ver­ folgt

wurde.

Eine

schwärmerische

Freundschaft

entspann

sich

zwischen dm beidm, die in Byron's Dichtungen so manches Dmkmal hinterlassm hat.

Florence.

(Childe Harold, Ges. II, Str. 30.

In ein Album.

Ambracischen Golf.)

An

Während eines Gewittersturmes im

Von Malta ging die Reise durch West-

griechmland nach Albanim, „wilder Männer trotzige Säugerin",

wie er in Childe Harold das Land nennt, von dem er singt: Hier streift der Wolf, der Adler wetzt die Klau', Hier hausen Männer, wild wie Wolf und Aar.

Es ist bezeichnmd für Byron, daß seine erste Reise Gegenden galt, die außerhalb aller Civilisation lagen, wo daher die Per­

sönlichkeit noch gamicht von Gesetz und Sitte eingeschränkt war. Wahlverwandtschaft Mmschen hin.

zog ihn zu diesm Naturszenm und diesen

Es ging ihm wie dem jungen Manne in Words-

worth's Ruth: Was er in diesen Zonen fand An Ton und Anblick unbekannt,

Rief ihm ein Echo wach

In tiefster Brust; verwandter Schall

Ließ hören ihn im Widerhall Des eignen Herzens Schlag.

Er, der in gerader Linie von Rousseau abstammt, fühlte sich

mächtig zu allen den „im Naturzustände" lebenden Vollem hin­

gezogen?

Die Albanesen waren damals fast noch ebenso wild

1 Er hat Rousseau in einer Stanze geschildert, die wie auf ihn selbst gedichtet erscheint:

Byron. Bit individuelle Leidenschaftlichkeit.

325

wie ihre pelasgischen Vorfahren, und Faustrecht und Blutrache galten unter ihnen als einzige Rechtsordnung.

Der erste Anblick

der Männer und Frauen am Gestade in ihren prächtigen Trachten, mit ihren hohen Filzmützen oder Turbans, auf prunkend aufge­ zäumten Rossen, unter Trommelwirbel und Muezzinrufen von den

Minarets, erschien ihm, da eben die untergehende Sonne ihre

Strahlen über das Ganze ergoß, wie ein Märchen aus „Tausend und eine Nacht." Janina erwies sich als eine bedeutendere Stadt als Athen. In der Nähe derselben ereignete es sich, daß die Reisenden in

einer Nacht, die Byron besungen hat, ihren Führer verloren,

und verlassen inmitten der Berge, den Hungertod

vor Augen,

flößte er seinen Reisegefährten ein tiefes Gefühl von Bewunderung ein durch den unerschütterlichm Mut, der sein männliches Charakter­

merkmal bei allen großen Gefahren war. Am Tage nach der Ankunft wurde Byron bei Ali Pascha

eingeführt, „dem türkischen Bonaparte", den er, ttotz seiner Wild­ heit und Grausamkeit stets bewundert hatte.

Ali empfing ihn

stehend, war äußerst freundlich, bat ihn, seine Mutter von ihm zu grüßen, und sagte, was Byron ganz besonders schmeichelte, daß er

an feinen kleinen Ohren, weißen Händen und gelockten Haaren

seine vornehme Abkunst erkenne.

Der Besuch bei Ali hat das

Motiv zu wichttgen Szenen im vierten Gesänge des Don Juan

Rousseau, der Grübler mit dem wilden Herzen,

Des GramS Apostel, dessen Zaubermacht

Stolze Beredsamkeit äbmng den Schmerzen, Sah hier das Licht, das ihm nur Fluch gebracht; Und doch, er hat den Wahnsinn schön gemacht.

Die sünd'gen Thaten und des Irrtums Wähnen Hüllt' er in Worte voller Himmelspracht,

Die gleich der Sonne blenden, und vor denen Das Auge wehmutsvoll sich füllt mit heißen Thränen. Childe Harold, III, 77.

abgegeben; Lambro und noch etliche andere Byron'sche Figuren sind nach ihm gezeichnet, wie ihn übrigens auch später Viktor Hugo in Les orientales geschildert hat.

Ali behandelte Byron ganz wie

ein verzogenes Kind und sendete ihm wohl zwanzigmal des Tages Mandeln, Früchte, Sorbet und Zuckerwerk.

Gegen die zahlreichen Räuberbanden durch das bewaffnete Gefolge, welches Ali ihm mitgab, geschützt, bereiste Byron ganz Albanien, und seine wilden Begleiter gewannen ihn so lieb, daß

sie einmal, als er ein paar Tage am Fieber darniederlag, den Arzt zu erschlagen drohtm, wenn er ihn nicht Herstelle.

dessen entfloh der Arzt — und Byron genas. war

er,

während

man in einer Höhle

Infolge­

Auf dieser Reise

am Golfe von Arta

übernachtete, Zeuge jener nächtlichen Szene — der Aufführung

des pyrrhischen Waffentanzes unter Gesang —, die ihn zu der Schilderung in Childe Harold, II, 67, wie zu dem schönen Ge­ sänge Tamburgi! Tamburgi! Anlaß gab.

In Athen regte die

Entrüstung über die englische Plünderung der Parthenonsskulp­

turen Byron zu dem Gedichte „Minerva's Fluch" an, wie eine flüchtige Liebschaft mit einer der Töchter des englischen Konsuls

ihm das kleine Gedichtchen „Das Mädchen von Athm" eingab, dessen Heldin fortan während ihres ganzen übrigm Lebens, auch

noch als sie eine blasse, verschrumpfte Matrone war, von englischen

Touristen überrannt wurde.

Am 3. Mai vollführte Byron seine

berühmte Schwimmtour über die Meerenge der Dardanellen von Sestos bis Abydos in einer Stunde und zehn Minuten, auf die

er sein ganzes Leben so stolz war, und die er in „Don Juan" erwähnt.

Alles, was er in diesen ftemden Gegenden sah und erlebte, sollte übrigens

dienen.

wenige . Jahre später ihm als poetischer Stoff

In Konstantinopel sah er eines Tages Hunde von einer

Leiche das Fleisch abnagen, und diese von ihm selbst erlebte Szene bildet die Grundlage für die Schilderung der Greuel in der

„Belagerung von Korinth"

wie später in „Don Juan" für die

Schreckensszenen, welche die Belagerung von Ismail im Gefolge hat.

Als er von einem Besuche Moreas nach Athen zurückkehrte,

scheint er das Liebesabenteuer, das dem „Giaur" zu Grunde liegt,

selbst erlebt zu haben.

(Der Brief des Marquis von Sligo an

Byron spricht für diese Annahme.)

Soviel steht jedenfalls außer

allem Zweifel, daß er eines Tages, von seinem Bade im Piräus heimkehrend,

einem

Trupp

türkischer

Soldaten

begegnete,

die

ein in einen Sack eingenähtes junges Mädchen trugen, das ins

Meer geworfen werden sollte, weil es ein Liebesverhältnis mit einem Christen unterhalten hatte.

Mit der Pistole in der Hand

zwang Byron die ganze wilde Schar umzukehren, und erwirkte, teils durch Bestechungen, teils durch Drohungen, die Freilassung

des Mädchens. Das bunte Reiseleben vermochte ihm nicht das Gleichgewicht

des Gemütes zu schenken, daran es ihm gebrach.

Die letzten von

seiner Reise datierenden Briefe bekunden starke Melancholie.

Das

Ziellose seines Daseins und der^daraus hervorgehende Lebms-

überdruß

scheinen ihn darnieder zu drücken.

Die Sorge,

ver­

schuldet zu sein, und mit erschütterter Gesundheit, mit einem von

Fieber geschwächten Körper allein ohne Freunde dazustehen, zieht sich durch alle seine Äußerungen.

Einzig von seinen Gläubigern

erwartet er daheim empfangen zu werden.

In Wirklichkeit em­

pfing ihn bei seiner Ankunft die Nachricht von der Erkrankung seiner Mutter.

Er eilte nach Newstead, um sie noch einmal zu

sehen, und traf dm Tag nach ihrem Tode ein.

Die Kammerjungfer

fand ihn abmds neben der Leiche kauernd und hörte durch die Thür

sein Schluchzen. Auf ihren Zuspruch, seinen Schmerz zu beherrschen, erwiderte er unter Thränen: „Ach, sie war der einzige Freund, den ich besaß, und sie ist tot."

Gleichwohl konnte er in seiner

übertriebenen Scheu, vor anderen seinen Schmerz zur Schau zu

tragen, sich nicht entschließen, seine Mutter zu Grabe zu geleiten.

Er stand am Schloßportale, bis der Leichenzug verschwunden war.

Dann rief er seinen Pagen, ließ sich die Fechthandschuhe bringen, und ging mit krampfhafter Heftigkeit an seine gewohnten Box­

übungen.

Doch dies überstieg seine Kräfte.

Er warf die Hand­

schuhe hin und eilte auf sein Zimmer. — Unmittelbar darauf verfiel er in einen Zustand tiefen, nicht abzuschüttelnden Trüb­

sinnes, während dessen er neuerdings die testamentarische Ver­

fügung traf, daß Lord Byron's Leichnam neben dem seines Hundes bestattet werden solle.

Kaum war Byron gelandet, als sein Freund Dallas sich er­

kundigte, ob er keine Verse von seiner Reise mit heimgebracht habe.

Der

unkritische

Byron

zeigte

ihm

nicht

ohne

Stolz

Hinte from Horace, eine neue Satire im Süle Pope's, und als der Freund, von der Lektüre mit Recht nicht sonderlich erbaut, frag, ob er nichts anderes hätte, rückte Byron mit dem, was er

„etliche

kleinere

Gedichte

und

eine

Menge

Spenser-Stanzen"

nannte, heraus: es warm die beiden ersten Gesänge des Childe

Harold.

Auf die inständige Bitte des Freundes wurden diese

zuerst in Druck gegeben.

Uns Jetztlebmdm verschmilzt der Eindruck der zwei ersten

Gesänge leicht mit der Erinnerung an die (sechs bis sieben Jahre

später geschriebmen) zwei letzten; allein man muß beide Teile in ihrem Wesm streng auseinanderhalten, will man eine klare Vor­

stellung von Byron's Entwickelungsgang gewinnen.

Es ist ein

ebmso großer Sprang von der ersten Hälfte des Childe Harold zu der zweiten, wie von dieser zu „Don Juan."

Die Stanzm, welche Byron Dallas zeigte, sind wohlklingmd, empfindungsvoll und hier und da pompös. Hier schallm zum ersten­ male Gesang und Musik von den Lippen, dmen reicher Wohllaut, so

lange sie Leben atmeten, entströmen sollte.

Immerhin habm wir

hier nur die schwachm Umrisse der Dichterphysiognomie, mit der zehn Jahre später ganz Europa verttaut war.

Die zahlreichen und

Ayrou. Vie inbitnbutllc Leidenschaftlichkeit.

329

kräftigen Naturschilderungen sind hier noch die Hauptsache, die lyrischen Partien im Vergleiche hierzu von verschwindendem Umfange, und leicht können diese Stanzen bei einem oberflächlichen Blicke wie Reiseeindrücke eines jungen vornehmen und lebensmüden Eng­

länders anmuten, nur daß sie durch den das

welchem

empfangen

gehalten

Gedicht

haben.

Childe

ist,

erhabenen Stil, in

ein

veredelndes

ist

ebenso

Harold

„Don Juan"

schwärmerisch in seinem Tone, als

Gepräge

feierlich

und

wirklichkeits­

liebend und launig ist. Hier herrscht ein gewisses trübseliges Grau in Grau der

Stimmung vor. Byron ist hier noch nicht derjenige, der von einem

Gefühle zum anderen, am liebsten zum entgegengesetzten Extreme überspringt, um ihnen allen Zwang anzuthun und sie um so ge­

waltsamer zu zerreißen, je stärker er sie spannt.

Doch nehmen wir

des Dichters Physiognomie auch nur in halbem Profile wahr, sehm wir auch nicht den leisesten Anflug der stachlichten Laune

des

Satirikers

Lächeln

oder

sein

bald

so

haben

hervorblitzen,

cynisches,

wir

bald

dennoch

scherzhaftes

hier

in

dem

warmen, feierlichen Pathos des Jünglings die ausgeprägteste Per­

sönlichkeit in der Poesie des Jahrhunderts vor uns.

Ein Ich

tritt in diesem Gedichte hervor, das jede Einzelheit beherrscht, ein

Ich, das in keinem Gefühle hinschmilzt, in keiner Sache aufgeht.

Währmd die anderm Dichterpersönlichkeiten luftige, fließende, krystallisierte Formen annehmm konnten, bald hinter einer ftemden

Persönlichkeit unsichtbar wurden, bald sich zu kosmischen Wesen verwandelten, bald ganz in den Sinneseindrücken aufgingen, die sie von außen her empfingen, steht hier ein Ich,

das mittelst aller

Dinge sich zu sich selbst verhält, auf sich selbst zurückkommt, und

zwar ein bewegtes, leidenschaftliches Ich, von dessen Gemütsbe­

wegung die Bewegung jeder noch so kleinm Strophe zeugt, wie

das Brausen der einzelnm Muschel an das des Meeres erinnert. Childe Harold

(in

dem

ersten

Entwürfe Childe Bunin)

verläßt nach übelverbrachter Jugend das Herz voll Spleen ein

Land, in dem er keinen Freund und keine Geliebte hinterläßt.

Er

krankt an jenem jugendlichen Lebensüberdruß, welchen Trübsinn erzeugende physische Anlagen und Zustände, sowie frühzeitige Über­

sättigung mit Genüssen im Gefolge haben.

Keine Spur bei ihm

von der kecken Fröhlichkeit der Jugend oder ihrer Lust an Ver­

gnügungen, an Ruhm; er glaubt mit allem fertig zu sein, nachdem

er wmiges erprobt, und

der Dichter verschmilzt so vollständig

mit seinem Helden, daß er sich nie auch nur für eine Minute auf

den Schwingen der Ironie über ihn erhebt. Alles dies, wovon die Zeitgenossen sich so überwältigt fühlten,

spricht den modemen kritischen Leser wenig an, die Künstelei tritt zu deutlich hervor, und die Zeit, wo der schlaffe Lebensüberdruß

interessierte, ist vorüber.

Gleichwohl kann niemand, der ein ge­

übtes Auge besitzt, übersehen, daß die Maske — denn hier ist that­ sächlich eine Maske — wenn sie kritisch entfernt wird, ein ernstes

und leidendes Antlitz enthüllt. Die Maske war die eines Einsiedlers — man nehme sie fort, und eine einsame Natur bleibt zurück.

Die

Maske war pompöse Melancholie — man reiße sie ab, und echte

Schwermut birgt sich dahinter.

Harold's muschelbesetzte Pilger-

ttacht ist allerdings nur das Domino eines Maskenballes, doch sie bedeckt einen Jüngling mit feurigem Gefühle, mit scharfem Ver­

stände, mit düsteren Lebenseindrücken und mit seltener Freiheits­

liebe.

In Childe Harold's besserem Ich ist nichts Unaufrichttges,

für alles, was er denkt und siihlt, steht Byron selbst ein.

Und

sollte der mit Byron's eigener Lebensführung während des nächst­ folgenden Zeitraumes Vertraute einen Widerspruch zwischen dem

greisenhaften Trübsinn der erdichteten und dem jugendlich genuß­

süchtigen Leichtsinn der wirklichen Persönlichkeit finden, so rührt diese Nichtübereinstimmung allein daher,

daß Byron, welcher in

der Dichtkunst noch der absttakt idealistischen Richtung huldigte, in den ersten Gesängen des Childe Harold nicht sein ganzes Wesen

Nyroa. Vie inMotbutllt tobtnsdjaftlidikiit.

an den Tag zu legen vermochte.

331

Alles gehört allerdings ihm

selbst, doch in ihm lag noch eine ganz andere Welt, die völlig mit einzubeziehen, voll und ganz in seiner Dichtung zu Fleisch

und Blut werden zu lassen, ihm erst in seinem „Don Juan" ge­

lang.

Die Unvollständigkeit der Selbstschilderung darf nicht mit

Verstellung oder Affektation verwechselt werden.

Im Februar 1812 hielt Byron seine Jungfernrede im Par­ lamente zu Gunsten der armen Arbeiterbevölkerung von Notting­

ham, welche die Webemaschinen, die sie brotlos machten, zertrümmert hatte, nnd gegen die nun die strengsten Maßregeln vorgeschlagen

wurden.

Die Rede ist jugendlich und rhetorisch, aber lebhaft

und warm; es war ganz im Geiste Byron's, für die Sache der

hungernden, verzweifelnden Massen einzutreten, und mit viel ge­ sundem Sinne wies er seinen Landsleuten nach, daß ein Zehntel

der Summe, mit welcher sie die Portugiesen bereitwilligst in den

Stand setzten Krieg zu führen, hinreichen würde, der Not abzu­ helfen, welche man nun mittelst Kerker und Galgen zum Schweigen

Byron's lebhafter, eingefleischter Haß wider den

bringen wollte.

Krieg ist einer von jenen

„Gran gesunden Menschenverstandes,"

in seiner Poesie aufgelöst findet,

die man stets

und derselbe

beseelt auch die zwei ersten Gesänge des „Childe Harold". Byron's

zweite

Parlamentsrede

galt

der

Befteiung

Katholiken; sie gefiel nicht sonderlich, ist aber sehr gut.

bekämpft

darin

Religionsfteiheit

mit der

großer

logischer

Katholiken

ins

Schärfe Feld

den

wider

geführten

der

Byron

die

Beweis­

grund: mit eben demselben Rechte könne man sie auch den Juden gewähren.

In

seinen Papieren findet sich folgende jugendlich

launige Äußerung: „Da beide Parteien in der Emanzipätionsftage ungefähr gleich standen, sendete man in aller Eile nach mir und

holte mich von einem Balle weg, dm ich, ehrlich gestanden, ziem­ lich ungern verließ, um fünf Millionen Menschen zu emanzipieren." Derartige scherzhafte Äußerungen, von ähnlichem Schlage wie seine

Notiz über die Ehe: „Wie angenehm das sein muß, vermählt zu sein

und auf dem Lande zu wohnm — man hat ein hübsches Weibchen und küßt dessen Zofe" — sind, weil sie so gar nicht der Childe Harold'schen Schwermut entsprechen, thörichten Menschen ein hin­ reichender Beweis gewesen, daß er es mit nichts ernst gemeint habe.

Er war einfach sehr jung, etwas geckenhaft, betrachtete es als eine Schande, sich empfindsam auszudrücken, und hatte sich unbewußt

die Worte des heiligen Bernhard zum Wahlspruch erkoren: Be­

mühe dich mehr deine Tugenden als deine Laster zu verbergen!

(Plus labora celare virtutes quam vitia!) Die Jungfernrede machte außerordentliches Glück und kam gerade gelegen, um auf die beiden ersten Gesänge des Childe

Harold die Aufmerksamkeit zu lenken, welche zwei Tage, nachdem jene gehalten worden war, erschienen.

Die Wirkung des Ge­

dichtes war überwältigend; urplötzlich war Byron eine Berühmtheit

geworden, der neue Löwe Londons, der legitime Herrscher der Stadt für das Jahr 1812.

Die ganze Weltstadt, d. h. alles in

ihr, was am schönsten, feinsten, gebildetsten und glänzendsten war, lag dem dreiundzwanzigjährigm Jüngling zn Füßen.

Hätten die

ersten Gesänge des Childe Harold die Eigenschaften der letzten be­ sessen, sie hätten sicherlich nicht diese geräuschvolle Popularität er­ rungen. Große Ehrlichkeit und große Ursprünglichkeit gewinnen nie­ mals mit einem Schlage die Gunst der Massen.

Allein gerade das

Verschleierte, unklar Blasierte dieses ersten Versuches machte Ein­

druck auf den Haufen; die dunkel empfundene Kraft wirkte um so

stärker, weil sie sich ein wmig theatralisch aussprach. Es war die Blütezeit des Dandytums, wo nach dem Muster Bmmmel's

das eigentliche Londoner High-life sich mit einer

Üppigkeit und Leichtfertigkeit entfaltete, wie nur in den Tagen

Karl II. — Gesellschaften und Bälle, Theaterbesuch, Spiel und Schulden, Liebesabenteuer, Verführungen und daraus erfolgende Duelle, das war der Lebensinhalt der Aristokratie.

Und Byron

war der Held des Tages, ja des Jahres.

Welch ein Gegenstand

der Bewunderung und Vergötterung für eine Gesellschaft, die sich langweilte und unter ihrer eigenen Leere litt!

So jung, so schön

und so schuldbeladen — denn wer hätte zweifeln mögen, daß er ein ebenso gefährlicher, übersättigter Genußmensch wie sein Held sei.

Byron besaß nicht Scott's Kaltblütigkeit und Gleichmut Ver­ suchungen gegenüber. ihn emportrug.

Er überließ sich willig dem Strome, der

Den Künstler in ihm drängte es, alle Stim­

mungen zu durchleben, und er wies keine von sich.

Mit Leichtig­

keit behauptete er seinen Dichterruhm; denn in kurzen Zwischen­ räumen folgten die poetischen Erzählungen „Der Giaur" (Mai 1813), „Die Braut von Abydos" (Dezember desselben Jahres),

„Der Korsar" (am Neujahrstage 1814 vollendet), von welch letzterem

an einem einzigen Tage 13000 Exemplare verkauft wurden.

Die

herbe Ode an Napoleon anläßlich dessen Abdankung bewies, daß

Byron über der Poesie die Politik der Zeit nicht aus dem Gesichte

verlor.

1815 schrieb er ferner „Parisina" und die „Belagerung

von Korinth."

Das Neue, Fremdartige, Leidenschaftliche in diesen

Schöpfungen riß die abgespannte Londoner Gesellschaft hin.

war das Phänomen, auf welchem aller Blicke ruhten.

Er

Junge

Damen bebten in den Gesellschaften vor Freude bei dem Gedanken, möglicherweise von ihm zu Tisch geführt zu werden, und zitterten zugleich, einen Bissen zu genießen, war es doch bekannt, daß er

Damen nicht gerne essen sah! nung hin,

halten.

Man gab sich schüchtem der Hoff­

ein paar Zeilen ins Stammbuch von ihm zu

Seine bloße Handschrift war ein Schatz.

er­

Man frug sich,

wie vielen türkischen und griechischen Frauen die Liebe zu ihm

den Tod gebracht, wie viele Ehemänner er getötet habe.

Seine

Stirn, sein Blick sahen wie das leibhafte Verbrechen aus.

Er ge­

brauchte keinen Puder, sein Haar war wild wie sein Sinn.

In

allem grundverschieden von den gewöhnlichen Sterblichen, war er auch

mäßig wie sein Korsar.

Bei Lord so und so hatte er jüngst bei

der Tafel elf Gänge vorübergehen lassen und Biskuit und Soda­ wasser begehrt. Welche peinliche Situation für die Hausfrau, die auf

das Menu so stolz gewesen! Und welch eine unnatürliche Absonder­ lichkeit in einer Gesellschaft, wo guter Appetit eine Nationaltugend ist!

So sehen wir Childe Harold in Person sich in Don Juan verwandeln.

Der einsame Pilger wurde Salonlöwe.

Ebenso sehr

wie Byron's Poesie machten natürlich sein Rang, seine Jugend

und seltene Schönheit Eindruck in den Damenkreisen.

In Walter

Scott's Biographie findet sich über Byron's Äußeres folgende Be­ merkung: „Ich glaube die besten Dichter meiner Zeit und meines

Landes gesehen zu haben, doch obschon Burns die schönsten Augen besaß, hatte doch keiner in solchem Grade das Aussehen desien, was man sich unter einem Dichter denkt, wie Byron.

Seine

Bilder geben keine rechte Vorstellung von ihm, das Licht ist wohl

da, doch ist es nicht angezündet.

wovon man träumen konnte!"

Byron's Antlitz war etwas,

Eine der gefeiertsten Schönheiten

Englands rief, als sie ihn zum erstenmale erblickte: „Dieses blasse

Gesicht ist mein Verhängnis."

Die Frauen haben Byron's Seelenleben zwar stets in hohem Maße in Anspruch genommen, doch der förmliche Harem, den er,

wie auf die Anspielungen im Childe Harold hin die Sage ging,

in Newstead besessen haben sollte, scheint in Wirklichkeit aus einer einzigen Odaliske bestanden zu haben.

Über seine Reiseabenteuer

im Verkehr mit Frauen kursierten lächerlich übertriebene Geschichten. Infolgedessen wurde er förmlich von den Frauen bestürmt, sein

Tisch war täglich mit Briefen von ihm bekannten und unbekanntm Damen bedeckt.

Eine kam zu ihm als Page verkleidet, vermutlich

um Kaled in „Lara" zu gleichen, und viele andere tonten ohne

Verkleidung.

Von dem Strudel, in dem er lebte,

erhält man

einen Begriff, wenn man ihn seinem Freunde Medwin erzählen

hört, er habe eines Tages kurz nach seiner Hochzeit

im Salon

seiner Gemahlin gleichzeitig drei verheiratete Damen angetroffen,

die er — um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen — alle

kannte wie „Tauben aus demselben Schlage". Es war ein Leben in Triumphen der Eitelkeit, voll hohler Genüsse, für Byron war es jedoch besser als Ruhe,

ist,

wie

er

in

Childe

Harold

sagt,

eine

Hölle

denn Ruhe für- starke

Herzen.

War sein Herz übrigens hier jemals mit im Spiel?

Kaum.

Das Liebesverhältnis, welches Byron in diesen Jahren

unterhielt, und das für sein späteres Schicksal Bedeutung erlangte,

war, wie aufbewahrte Briefe beweisen, nur ein Strudel im Strudel und als solcher verlockend, ließ aber sein Herz völlig kalt.

Lady

Caroline Lamb, eine junge Dame von höchstem Adel, mit dem nachmals als Lord Melbourne bekannten Staatsmanne vermählt, hatte lange den glühenden Wunsch gehegt, den Dichter des Childe Harold kennen zu lernen.

Sie war eine wilde, phantastische, auf­

geregte Natur, die keinerlei Zwang duldete und schnell jeder Ein­ gebung gehorchte, und insofern dem drei Jahre jüngeren Dichter geistesverwandt; sie war schlank und schön gebaut, mit blondem Haar

und einer sanften Stimme; ihr Wesen übte, wiewohl es affektiert und überspannt erschien, einen ungemeinen Reiz aus; mit einem Wort, sie gehörte zu jener Art von „Bacchantinnen und enthu­ siastischen Frauen", die Paludan-Müller in seinem „Adam Homo" singen läßt.

Rütteln wir an seinem Herzen,

Wird uns Teil an seinen Schmerzen; Rasen wir darin mit Grauen, Müssen wir den Geist doch schauen. Unter unsern wilden Tänzen Winden wir aus seinen KränzenEine Zier uns, zum Entzücken Aller, um uns selbst zu schmücken.

Sie spielt eine ähnliche Rolle in Byron's Leben wie Frau von Kalb in dem Schiller's?

Das Verhältnis erregte so viel Auf-

1 In Lady Morgan's Memoiren finden fich einige lebensvolle Auf­ zeichnungen der Lady Lamb über die Art, wie ihre Bekanntschaft mit Byron

sehen,

die Mutter der jungen Dame nicht eher rastete,

daß

als

bis dasselbe durch die Abreise der Tochter nach Irland zu einem Besuche

wurde.

abgebrochen

Byron

schrieb hierauf Lady Lamb

einen Äbschiedsbrief, von welchem diese später Lady Morgan eine Abschrift zu nehmen gestattete, einen Brief, der für Byron's Stil

in

noch unreifen Jahren

typisch

ist, und worin ein Seelenkenner

schwerlich die Sprache der Liebe finden wird.

Er erinnert lebhaft

an Hamlets geschraubtes Billet an Ophelia. „Wenn Thränen, die Du sahst, und die ich, wie Du weißt, nicht leicht vergieße; wenn die Gemütsbewegung, mit der ich mich

sich anknüpfte: Lady Westmoreland hatte ihn im Auslande kennen gelernt. Sie machte es sich zur Aufgabe, ihn zu introduzieren.

ihn förmlich.

Ich hörte nichts

von ihm,

Die Frauen erstickten

bis eines Tages Rogers (denn

er und Spencer und Moore waren allesamt meine Anbeter) zu mir sagte: Sie

sollten den jungen Dichter kennen lernen!

„Childe Harold" anbot.

und mir das Manuskript des

Ich laS es, und dies war genug.

Rogers sagte: Er

hat einen Klumpfuß und kaut an den Nägeln. .Ich erwiderte: Und wäre er so häßlich wie Äsop, ich muß ihn kennen lernen! Ich war eines Abends

bei Lady Westmoreland, und die Damen waren alle rein vernarrt in ihn.

Lady Westmoreland führte mich zu ihm hin.

sicht und drehte mich um.

Ich sah ihm ernsthaft ins Ge­

Meine Ansicht über ihn war, wie ich in mein Tage­

Ein oder zwei

buch schrieb: toll — schlecht — eine gefährliche Bekanntschaft.

Tage vergingen; ich saß bei Lord und Lady Holland, als er gemeldet wurde.

Lady Holland sagte: Ich muß Ihnen Lord Byron vorstellen!

Lord Byron

entgegnete: Dies Anerbieten ist Ihnen schon früher gemacht worden, darf ich

fragen, weshalb Sie es damals ausschlugen? Er bat um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen.

Am nächsten Tage that er es.

standen bei mir, ich saß auf dem Sopha.

heimgekehrt.

Rogers und Moore

Eben war ich von einem Spazierritte

Ich war unordentlich und erhitzt.

Als Lord Byron gemeldet

wurde, sprang ich auf und flog aus dem Zimmer, um mich zu waschen... Als ich wiederkam, sagte Rogers: Lord Byron, Sie sind ein glücklicher Mensch. Lady

Caroline hat in all ihrem Schmutze mit uns Leiden dagesessen, als aber Sie

gemeldet wurden, flog sie hinaus, um sich schön zu machen . . . Bon diesem

Augenblicke und länger als neun Monate lebte er förmlich in Melbourne House. Er war der Mittelpunkt aller Lustbarkeiten, wenigstens anscheinend . . . Der ganze bon ton Londons versammelte sich Fashionableres.

hier jeden Tag,

es gab nichts

Byron war bemüht, sie alle in die Flucht zu treiben. — Diese

mit stenographischer Genauigkeit aufbewahrten Äußerungen

treffliches Bild des damaligen Londoner High-life.

geben ein vor­

von Dir trennte, eine Erregung, die Dir bei dieser ganzen markerschütternden Angelegenheit nicht entgangen fein kann, ob sie auch erst, als der Augenblick des Abschieds nahte, sichtbar ward; wenn alles, was ich gesagt und gethan habe und noch zu sogen und zu thun bereit bin, Dir nicht hinlänglich bewiesen hat, welches meine wahren Gefühle für Dich, meine Geliebte, sind und nie aufhören können zu sein, so habe ich keinen onbern Beweis zu bieten Giebt es im Himmel oder auf Erden etwas, das mich so glücklich gemacht hätte, als Dich schon längst zu meiner Gattin zu machen? Du weißt, ich würde mit Freuden alles dafür hingeben, diesseits wie jenseits des Grabes, und wenn ich dies als steten Refrain wiederhole, kann ich da mißverstanden werden? Was kümmert es mich auch, wer davon erfährt, oder welcher Gebrauch davon gemacht werden mag — an Dich, einzig an Dich, sind diese Worte gerichtet, an Dich selbst. Ich war und bin Dein, frei und ganz, Dir zu gehorchen, Dich zu ehren, Dich zu lieben und mit Dir zu entfliehen, wann, wohin und wie Du selbst willst oder Dir zu bestimmen beliebt." Es kann niemand Wunder nehmen, daß Byron wenige Monate später einen Bruch herbeizuführen strebte. Seine Liebe kann kaum etwas anderes als jene Art von Reflexleidenschast gewesm sein, die wie in einem Spiegel alle Bewegungen der Flamme ohne eigenes Feuer nachahmt. Auf einem Balle, wo Lady Lamb kurz darauf mit Byron zusammentraf, bemächtigte sie sich in ihrer Ver­ zweiflung über seine Kälte des ersten besten scharfen Werkzeuges, beffen sie habhaft werden konnte, einige sagen einer großm Schere, die onbern (Galt) eines zerbrochenen Geleeglases, und schnitt stch damit in die Kehle. Nach diesem mißglückten Selbstmordversuche machte sie (nach der Behauptung der Gräfin Giuccioli) erst einem jungen Lord die unglaublichsten Bersprechnngen, wenn er Byron fordern und töten wolle, und erschien doch kurz darauf selbst bei Byron, „keineswegs in der Absicht, sich oder ihm den Hals abzuBrandti, Litteratur de» 19. Jahrh. XV.

22

Die Worte, die sie, als sie ihn nicht zu Hause traf,

schneiden."

auf seinem Tisch zurückließ, veranlaßten das Epigramm Remember thee! das sich unter Byron's Gedichten findet.

Verzehrt von Rachsucht griff nun Lady Lamb zur Feder und

verfaßte dm Roman „Glenarvon", der zu dem für Byron allerungünstigstm Zeitpunkte, nämlich unmittelbar nachdem seine Frau

ihn verlassm hatte, erschien und eines der schlimmsten Gärungs­

elemente in der Stimmung der Gesellschaft gegen ihn bildete.

Das

Buch hatte das folgmde Motto aus dem „Korsar": Sein Name wird der Nachwelt noch verkünden Bon Einer Tugend und von tausend Sündert —

und schildert Byron als einen Dämon an Verstellung und Bosheit,

ausgestattet mit all' dm schlechtesten Charakterzügm seiner Helden. Gleichwohl hat sie — vielleicht zur eigenen Entschuldigung — nicht

umhin können, dem Bilde auch liebenswürdige Züge zu verleihm.

An einer Stelle heißt es: „Wäre sein Bmehmen ein derarttges gewesen, daß er sich auch nttr im geringsten etwas den Freiheitm, dm Zudringlichkeiten ähnliches, wie sie bei dm Männern so häufig sind, herausgmommm hätte, es würde sie vielleicht geschreckt, ge-

wamt haben.

Was aber hätte sie fliehm sollen? Wahrlich nicht

die grobe Schmeichelei oder die leichtfertigen und leichtsinnigen

^Beteuerungen, daran alle Frauen sich so schnell gewöhnen, sondem eine Aufmerksamkeit, die sich auf ihre geringsten Wünsche erstreckte, eine zugleich feine und schmeichelhafte Ehrerbietigkeit, eine Anmut, eine Zartheit, die ebmso berückmd wie selten sind.

Und all dies

mit allm Kräften der Phantasie, einem Verstände, einem Witz ge­

paart, wie kein anderer sie in gleichem Grade besaß." Währmd Byron's späterem Aufmthalte in Bmedig wurde

„Glenarvon" ins Italienische übersetzt, und der Zensor ließ bei

ihm Anfragen, ob er gegen das Erscheinm des Buches etwas ein-

zuwmdM habe, in welchem Falle es unterdrückt werden würde: Byron antwortete damit, daß er es auf eigene Kosten herausgab.

Lady Lamb taucht nur noch einmal in Byron's Lebensgeschichte

auf, und zwar unter seltsamen Umständen.

Als Byron's Leiche

von Griechenland nach England überführt worden war und der Trauerzug sich langsam zu Fuße von London nach Newstead

bewegte, kamen demselben unterwegs

ein Herr und eine Dame

entgegengeritten, und die Dame frug, wen man hier zu Grabe

trage. Pferde.

Als sie die Antwort vernahm, sank sie ohnmächtig vom Es war die Verfasserin von Glenarvon.

Byrons leichtsinniges und wildes Londoner Leben erhielt einen vorläufigen Abschluß durch das verhängnisvollste Ereignis seines

Lebens, seine Heirat.

Große Achtung vor dem Weibe hatte ihm

seine Lebensführung nicht eingeflößt, doch das Weib nach seinem Herzen war das hingebungsvolle, sich selbstverleugnende Geschöpf,

das er in allen seinen Dichtungen mit Vorliebe geschildert hat.

Und nun wollte der Zufall, daß ihm in seiner Gattin ein zäher,

kräftiger englischer Charakter zu Teil wurde. Fräulein Anna Isabel Milbanke, das einzige Kind eines reichen Baronets, hatte Byron durch ihr schlichtes, bescheidenes Wesen gefesselt, ihn durch die Aussicht verlockt, mit Hilfe ihrer Mitgift Newstead in Stand schm

zu können, ihn durch einen Korb geärgert, als er um ihre Hand

anhielt, durch den fteundschastlichen Briefwechsel aber, den sie aus eigenem Antrieb mit ihm eröffnete, für sich eingenommen, und nun

endlich gab sie ihm ihr Jawort auf einen Werbebrief hin, der, in unverantwortlichstem Leichtsinne abgefaßt, aus dem Grunde ab­

gesendet wurde, weil ein Freund, dem Byron dmselbm vorlas, ihn „schön geschrieben" fand.

Aus lauter kläglichen, teils eitlen, teils philiströsen Rücksichten

stürzte Byron sich in eine Ehe, der sich von vornherein nur ein schlimmes Ende prophezeien ließ.

Währmd der Verlobungszeit

befand er sich in verhältnismäßig heiterer «Stimmung.

„Ich bin

sehr verliebt," schreibt er an eine Freundin, „und so thöricht wie alle unvermählten Herren in dieser Lage," an einer andern Stelle 22*

wieder: „Ich bin nun der glücklichste aller Sterblichen, da ich mich vor acht Tagm verlobt habe.

Bestem traf ich den jungen F.,

auch er der glücklichste aller Sterblichen, denn er hat sich ebenfalls

So kindisch sind alle Briefe aus jener Zeit, daß Byron's

verlobt."

einzige ernste Sorge darin zu bestehen scheint, daß er blaue Fräcke nicht ausstehen kann, und daß es Sitte ist, sich in blauem Frack trauen zu lassen.

Je näher jedoch die Hochzeit rückte, je schlimmer wurde

ihm zu Mute, das Verhältnis seiner (Stiern hatte ihm frühzeitig Angst vor der Ehe eingeflößt.

Seine Gefühle bei der Trauung

hat er in dem Gedichte „Der Traum" geschildert und in den Ge­ sprächen mit Medwin sagt er, daß er gezittert und verkehrte Ant-

worten gegeben habe! Der „Simpsmonat", wie ihn Byron nennt, verging nicht wolkm-

los. „Ich verbringe meine Zeit" [auf dem Lande bei den Schwiegereftent], schreibt er an Moore, „in einem schrecklichen Zustande der Einförmigkeit und Versumpfung und bin ausschließlich damit be­ schäftigt, Kompott zu essen, umher zu schlendem, ein langweiliges Spielchen zu machen, alte Almanachs und Zeitungen zu lesen, am

Sttande Muschelschalen zu suchen und das Wachstum etlicher ver­

krüppelter Stachelbeerbüsche zu beobachtm." — Und einige Tage später:

„Ich

lebe hier sehr bequem und höre jeden Abmd dm

verwünschten Monolog an, dm alte Herrm Unterhaltung nennen,

und dem mein Schwiegervater, einen einzigen Abend, an dem er

Violine spielte, ausgenommen, sich allabendlich hingiebt. indessen sehr liebenswürdig und gastfrei.

Sie find

Bell ist wohlauf und

von unveränderter Liebenswürdigkeit und guter Laune." Pegasus fühlte sich nicht recht wohl im Joche.' Jndessm, das junge Paar reiste bald nach London, richtete sich glänzend ein,

hielt Wagen und Pferde, gab Gesellschaftm u. s. w. so lange, bis

Byron's Gläubiger sich einstellten.

Die 10000 Pfund Mitgift

verflüchtigtm sich wie Thau vor der Sonne; mit 8000 Pfund, die Byron eben als Erbe zufielm, ging es nicht anders.

Er mußte

sogar seine Bücher verkaufen.

Murray bot ihm 1500 Pfund als

Honorar an, damit er sie behalten könne, allein aus falscher Scham

sendete er die Anweisung zerrissen zurück.

Hierauf folgten acht

Auspfändungen, sogar die Ehebetten wurden, nachdem man Möbel und Wagen weggeführt hatte, mit Beschlag belegt.

Unter diesen

Verhältnissen gebar Lady Byron im Dezember 1815 ihre Tochter

Ada.

Der jungen verwöhnten Erbin war es selbstverständlich

niemals eingefallen, daß ihr solche Verhältnisse bevorstehen könnten.

Nichtsdestoweniger war das Zusammenleben des jungen Paares anfangs ein gutes.

Sie fuhren miteinander ans, und die junge

Frau wartete mit großer Geduld im Wagen, während ihr Gatte

Besuche abstattete.

Sie schrieb Briefe für ihn und kopierte seine

Gedichte, z. B. „Die Belagerung von Korinth."

es nicht an kleinen Konflikten.

Indessen fehlte

Die junge Frau scheint die Ge­

wohnheit gehabt zu haben, Byron durch Fragm und Bemerkungen

beim Schreiben zu stören, was ihn zu Ausbrüchen übler Laune veranlaßte, die sie höchst unpassend fand.

Auch war ihr nie eine

solche Heftigkeit und Regellosigkeit vorgekommen, wie bei ihm. Ein­

mal sah sie ihn in der Wut seine Uhr in den Kamin schleudern und sie mit der Feuerzange zerstoßen; ein andermal feuerte er zum

Spaß oder aus Unachtsamkeit eine Pistole in ihrem Zimmer ab. Dazu kam Eifersucht. Sie wußte, in welchem Rufe er als Damm­

freund stand, und insbesondere hatte sie Kenntnis von dem Ver­

hältnis zu Lady Lamb, die ihre nahe Verwandte war.

Endlich

hatte Byron die unglückselige Idee gehabt, sich in den Vorstand

des Drurylanetheaters wählen zu lassen, und seine korrekte Ge­ mahlin sah mit Unruhe den beständigm Geschäftsverkehr mit Schau­ spielerinnen, Sängerinnen und Tänzerinnen.

Eine Person, die zu

Lady Byron in dienstlichem Verhältnisse stand, jmes Frauenzimmer,

das er in A sketch geschildert hat, verlegte sich aufs Spionieren

und erbrach Byron's Schubfächer und Briefe.

Und noch ein

dunkler Punkt ist vorhandm, auf dm wir noch zurückkommen.

Einen Monat nach der Geburt des Kindes verließ die junge

Frau, dem gemeinschaftlichen Beschluß zufolge, das unruhige, un­ gemütliche Heim, um einige Zeit bei ihren Eltem zuzubringen. Kaum aber war sie daselbst angelangt, als ihr Vater Byron be­

nachrichtigte, daß sie nicht zu ihm zurückkehren werde. Noch unter­

wegs hatte sie ihm einen (nunmehr veröffentlichten) Brief geschrieben, dessen Überschrift Dear Duck! („Liebe Pute") lautet und dessen

Unterschrift nicht minder zärtlich ist. Man begreift demnach Byron's Überraschung.

Er erwiderte dem Vater, daß er in dieser An-

gelegenheit selbstverständlich seine väterliche Autorität nicht an­ erkennen könne, sondern die Erklärung seiner Gattin haben müsse;

sie fiel gleichlautend aus.

1830 erklärte Lady Byron öffentlich,

sie habe ihrem Manne nur in dem Glauben, er wäre geistes­ gestört, so zärtlich geschrieben; hätte diese Annahme sich bestäügt, so würde sie treu bei ihm ausgeharrt haben; im anderen Falle

aber habe sie um keinen Preis unter einem Dache weiter mit ihm leben wollen. In einem 1817 von Byron verfaßten Novellenftagment heißt

es in Übereinstimmung hiermit:

„Wenige Tage darauf reiste sie

mit ihrem Sohne nach Aragonien zum Besuche ihrer Eltern.

Ich

begleitete sie nicht sofort, da ich schon früher in Aragonien ge­ wesen war ....

Bon der Reise bekam ich einen höchst lieb­

reichen Brief von Donna Josepha, der mich von ihrem und meines

Sohnes Wohlbefinden unterrichtete.

Bei ihrer Ankunft im Schlosse

schrieb sie mir einen noch liebevolleren Brief, der mich in über­

aus

zärtlichen,

ja

ziemlich

schleunigst nachzukommen.

ausgelassenen Ausdrücken bat,

ihr

Eben traf ich Anstalten, Sevilla zu

verlassen, als ich einen dritten Brief, diesmal von ihrem Vater

erhielt, der in beit höflichsten Ausdrücken mich auffordette, meine Ehe aufzuheben.

Ich antwortete ebenso höflich, daß ich nichts

dergleichen zu chun gewillt sei.

Ein vierter Brief von Donna

Josepha langte nunmehr an, in welchem sie mir mitteilte, daß der

Nyro». Vie individuelle LridenschaMchkeit.

343

Brief ihres Vaters auf ihren ausdrücklichen Wunsch geschriebm sei. Ich erkundigte mich mit wendender Post nach dem Grunde.

Sie

erwiderte per Expreß, daß Gründe mit der Sache nichts zu thun hätten, es daher unnötig sei, solche anzugeben — daß sie jedoch

eine gekränkte und vortreffliche Frau sei.

Nun frug ich sie, warum

sie mir die beiden vorhergehenden liebevollen Briefe mit der Auf­

forderung, nach Aragonien zu kommen, geschriebm habe?

Sie er­

widerte, weil sie mich für toll gehalten, und ich hätte mich nur

allein auf die Reise zu begeben gebraucht, um unbehindert in das Schloß meines Schwiegervaters zu gelangen und dort die zärtlichste der Frauen und eine enge Zwangsjacke vorzufinden."

Sobald Byron's Gattin ihn »erfassen hatte, war das Urteil der Welt über ihn mit einem Schlage ein anderes geworden. Wie er eines Morgens, nach dem Erscheinm des „Childe Harold", sich beim Erwachen als berühmten Mann gesehm, so erwachte er

eines anderen Morgens ehrlos und geächtet.

Die Ursache lag vor allem in dem Neide, nicht in jenem Neide der Götter, der den Alten als die Quelle des Unterganges

der Großen erschim, fonbern in dem schmutzigen, gemeinm Neide der Menschen.

Er stand so hoch; er war so groß; bei allm feinen

Fehlem war er keinen Augenblick zu dem Niveau spießbürgerlicher Achtbarkeit herabgesunken.

Im Verttaum auf seine Gabm und

sein Glück hatte er es stets verschmäht, beschützende Frmnde zu er­ werben, noch je darauf geachtet, wie viele Feinde er sich auf seinem

Wege schuf.

Zu zählm warm sie schon längst nicht mehr.

Neider

besaß er vor allem und zuvörderst unter feinen Kollegen von

der Feder, und

unter dm verschiedenm Artm des Neides ist

der Schriftstellemeid einer der giftigsten.

Er hatte sie verhöhnt

und sie Dekadmz-Schriftsteller geheißm,

hatte einige um ihrm

Namm gebracht, anderen die Möglichkeit abgeschnitten, sich einen

Namm zu machen — weshalb sollte er vergöttert und bewundert werden, währmd sie stets »ergebens ihre Locken ordneten für den

Kranz, der ausblieb? Welche Lust, ihn von dem goldenen Throne

der Berühmtheit herabzuzerren und ihn mit dem Kote zu besudeln, in dem sie selber steckten! In der religiös und politisch orthodoxen Gesellschaft empfand

man schon lange Argwohn und heimlichen Haß gegen ihn.

Die

wenigen Strophen des „Childe Harold", die in den vorsichtigsten Ausdrücken ritten Zweifel an ein Wiedersehm nach dem Tode aus-

zudrücken wagen, waren mit verketzerndem Geschrei begrüßt und

ein ganzes Buch, Anti-Byron, dagegen geschrieben worden.

Seine

vier Zeilen an die Prinzessin Charlotte, die unter der Überschrift „An eine weinende Fürstin" zugleich mit dem „Korsar" gedruckt

wurden und Trostworte an die Prinzessin bei Gelegenheit des poli­ tischen Umschlages des Prinzregenten richteten, brachten die' ganze

Torypartei gegen ihn in Harnisch.

Bisher aber war er von dem

seine Person umgebendm Nimbus wie durch einen unsichtbaren

Panzer beschützt gewesen; was Wunder, daß man nun, da in seinem Privatleben sich eine Bresche aufthat, die öffentliche Meinung

gegen ihn aufhetzte. Lady Byron und ihre Familie lebten selbstverständlich ganz «ach dem Herzen der Gesellschaft, und es war nicht schwer, den­

jenigen als ein Ungeheuer darzustellen, den zu verlassen solch eine Gattin sich gezwungen sah.

Gerüchte entstanden.

Die Verleum­

dung ward geboren, nahm Gestalt an, bekam Füße zum Gehen, Schwingen, mit denen sie fliegen konnte, im Fluge Wachsmd. Ihre Sttmme schwoll, wie es in der berühmtm Arie des Basilio

heißt, vom leism Flüstern zu einem Rauschm, vom Rauschen zu einem ohrenbetäubmden Lärm wie Donnerrollm zwischm Bergen

an.

Wer kennt nicht dies von der Gemeinheit im Bunde mit

der Einfalt

veranstaltete Konzert,

bei

dessen AuMhrung Un-

wissmheit und bewußte Niederttacht im Chore fingen, während die Schadenfreude jubelnd ihre schrillstm Triller in die Harmonie schmettert!

Der Neid gegen Byron trat in den Dienst der Heuchelei und

war in deren Sold thätig.

Die civilisierte Heuchelei ist bis tief

in das neunzehnte Jahrhundert hinein, im Zeitalter der religiösen

Reaktion, die soziale Macht gewesen, deren Autorität nur durch die Art ihrer Mittel, doch keineswegs an Ausdehnung und Wirkungs­

kraft derjenigen nachsteht, welche die Jnquisitionsgerichte des sech­

zehnten Jahrhunderts besaßen.

So wird denn,

wie Byron in

„Childe Harold" sagt (Ges. IV, Str. 93): Die Meinung Allmacht, die in Nacht uns dicht

Einhüllt, bis Recht und Unrecht Zufall werden. Und Menschen zittern, daß zu hell das Licht

Hienieden ward, und ängstlich sich geberden, Als wär' es Sünde, frei zu denken hier auf Erden.

Und so wurde, wie er sich in „Don Juan" ausdrückt, die Heuchelei eine Gewalt, die, würdig zu besingen, er Vierzig-Priester-

Krast haben müßte? Es konnte dies nicht anders sein in einer Zeit, die mit der Epoche, welche die Auflösung der antiken Lebens­

auffassung kennzeichnet, so viel Übereinstimmung aufweist — einer Zeit, wo eine alte theologische Welt- und Lebensanschauung auf

allen Punkten von der Wissenschaft untergraben nnd unterhöhlt, außer Stande, sich durch eigene innere Wahrheit zu behaupten,

genötigt ist, sich an die hergebrachte Moral der höheren Gesell­

schaft zu klammern und sie, nur um einen Halt zu haben, aufs

äußerste zu stärken — einer Zeit, wo kirchliche Autorität und spießbürgerlicher Konservatismus zwei Taumelnden gleichen, die sich gegenseitig stützen.

Wirft man einen Blick auf die Psychologie

Europas zu Beginn dieses Jahrhunderts, so nimmt es sich förm­ lich aus, als ob all die Heuchelei, die, zuerst unter den Emigranten

1 Oh for a forty-parson power to chant Thy praise, Hypocrisy! oh for a hymn Loud as the virtues thou dost loudly vaunt Not practice! Oh for trump of Cherubim! Don Juan, X, 34.

auftretend, bei der deutschen Romantik mehr und mehr in die Höhe schoß, um während der Reaktion in Frankreich Turmhöhe

zu erreichen, jetzt mit einem Male auf das Haupt dieses einen

Mannes herniederprassele. Macaulay bemerkt im Hinblicke darauf in seinem Essay über Byron: „Ich kenne kein so lächerliches Schauspiel als das britische Publikum bei einer seiner regelmäßig wiederkehrenden Moralitäts­

anwandlungen.

Im

allgemeinen

pflegen

Entführungen,

Ehe­

scheidungen, Familienzwiste nicht gerade viel Aufmerksamkeit zu er­ regen.

Wir lesen von dem Skandal, sprechen einen Tag lang

darüber und vergessen ihn.

Doch alle sechs, sieben Jahre einmal

wird unsere Tugend kriegerisch.

Wir können nicht dulden, daß die

Vorschriften der Religion und Sitte also verletzt werden. müssen ein Bollwerk wider das Laster errichten.

Wir

Wir müssen den

Leichtfertigen zeigen, daß das englische Volk die Wichtigkeit der

häuslichen Bande kenne.

Folglich wird ein Unglücklicher, der

in keiner Hinsicht verderbter als hundert andere ist, deren Über­

tretungen mit großer Milde behandelt wurden, zum Sündenbock ausersehen.

Hat er Kinder, so werden sie ihm entrissen; hat er

eine Lebensstellung, wird er daraus vertriebm; die höheren Klassen grüßen ihn nicht, die niederen zischen und pfeifen ihn aus.

Er

wird eine Art Prügelknabe, durch dessen Strafe und Schmerzen man zugleich alle Missethäter seines Schlages straft.

Wir denken

sodann mit innerem Wohlbehagen an unsere eigene Strenge und laben uns mit vielem Stolze an der hohen Stufe, auf der die

Sittlichkeit in England im Vergleiche zur Pariser Leichtfertigkeit steht.

Nun endlich hat unsere Entrüstung sich gesättigt.

Unser

Opfer ist zu Grunde gerichtet oder hat sich zu Tode gegrämt, und

unsere Tugend legt sich für die nächsten sieben Jahre wieder schlafen." Waren die Ursachen von Byron's Sturz verwickelter Natur, so

war das Mittel dazu um so einfacher — das einzig wirksame, das

es in solchen Fällen giebt: die Presse.

Schon gelegentlich seiner

Verse an die Prinzessin Charlotte hattm die Blätter zu gemeinm Verleumdungen gegen ihn gegriffen, und etliche von ihnen besaßen

eine eigene stehende Rubrik für schmutzige Ausfälle wider ihn. Nun war infolge der Anonymität, welche trotz aller Unnatur

und Verderbtheit,

die

sie zeitigt, in der englischen Presse im

Schwange ist, dm Angriffen auf sein Privatleben freier Spiel­ raum geboten.

Die Bedeutung der Anonymität ist in Wirklichkeit

keine andere als die, dem erbärmlichsten Stümper, der kaum die

Feder, mit der er lügt, zu halten imstande ist, es zu ermög­

lichen, die Trompete der öffentlichen Meinung an den Mund zu setzen und in tausenden von Exemplaren die Stimme der beleidigten Tugmd zu Worte kommm zu lassen.

Und nicht genug, daß der

eine Nammlose in all den vielen Exemplarm zur Allgemeinheit

wird, er kann, Dank seiner Anonymität, hunderterlei Gestalt an­ nehmen, unter allen möglichen Chiffem und in einem Dutzend

verschiedener Blätter schreiben. Gmügt schon ein einziger Schmierer, um eine ganze Presse mit gemeinen Ausfällen gegen ein in den

Augm der öffentlichm Meinung geächtetes Individuum zu versorgm, wie mußten erst die Angriffe auf Byron niederhageln, da

seiner Feinde Zahl Legion war!

Bon den Schimpfnamen, mit

welchen die Presse ihn damals überfiel, warm ihm später beson­

ders die Titel Nero, Apicius, Caligula, Heliogabal und Heinrich VIEL

erinnerlich, das heißt, er wurde aller Formm schändlichster Grau­ samkeit, wahnwitziger Roheit und unnatürlicher Wollust bezichtigt,

wurde in allen den Farben dargestellt, welche die Nichtswürdigkeit

auf ihrer Palette hat. gungm,

Die furchtbarste unter diesen Beschuldi-

die schon damals in der Presse die Runde machte und

das Brandmal dem ihm teuersten Wesen auf die ©tim drückte,

war jedoch die, in Blutschande mit seiner Schwester gelebt zu

habm — und zu alle dem keine Möglichkeit einer Entgegnung. Sonnte er sich mit dem Straßmkote, der ihn besudelte, Hemm­

schlagen?

Die Gerüchte schwirrten von Mund zu Mund. Schauspielerin Frau Mardyn

unmittelbar

Als die

nach der Scheidung

auf dem Drurylanetheater austrat, wurde sie hinausgepfiffen und -gezischt, weil sich unter den Zuschauern der völlig aus der Lust

gegriffene Klatsch verbreitet hatte, daß diese Dame, mit welcher Byron in allem ein paarmal gesprochen hatte, in einem Liebes­

verhältnisse zu ihm stünde. ausgehen.

Er selbst konnte nie ohne Gefahr

Er wurde auf der Straße wie auf dem Wege zum

Parlamente, wo man that, als kenne man ihn nicht, von dem ge­

bildeten Pöbel insultiert. Da jede Verteidigung unmöglich, mußte er, so stolz er war,

das Feld räumen.

Er fühlte, wie er sagt, daß, „wenn die ge­

flüsterten oder laut ausgesprochenen Verleumdungen Grund hätten, er nicht mehr für England passe, hättm sie keinen, dann passe

England nicht mehr für ihn."

Am 25. April 1816 schiffte er sich

ein, um nie wieder lebmd zurückzukehren. Bon diesem Augenblicke an datiert Byron's wahre Größe. Die

Edinburger

Kritik

hatte ihn zum ersten Male zu

Geistesthat sich austaffen lassen. zum Ritter.

einer

Dieser neue Schlag schlug ihn

Ein Vergleich zwischen dem, was Byron vor und

was er nach den Geschehnissen, die er als sein größtes Unglück betrachtete, schrieb, ist völlig unmöglich.

Dies Unglück sandte ihm

der Genius der Geschichte, um ihn einer betäubenden Vergötterung zu entteißen und ihn voll und ganz von dem erschlaffenden Zu­

sammenhänge mit jener Gesellschaft und jenem Gesellschastsgeiste loszulösen, gegen welche es seine historische Mission war, mit mehr

Glück und Kraft als irgmd ein anderer den entscheidenden Kampf zu führen.

XIX. Als er zum zweiten Male ein heimatloser und einsamer Pilger

geworden war, nahm er das Reisegedicht seiner Jugend neuerdings

auf.

Er fügte den dritten und vierten Gesang „Childe Harold"

hinzu.

Er versetzte sich in die Stimmungen seiner Jugend zurück.

Doch welch' eine Fülle hatten sie in der Zwischenzeit gewonnen! Der Akkord, den von allem Anfänge an „Childe Harold" anschlug,

war der

Dreiklang der Einsamkeit,

Freiheitsdranges.

der Melancholie und

des

Jeder einzelne dieser Töne war nun vielfach

klarer und vollklingender geworden. Durch die erste Hälfte des Werkes zog sich die Stimmung

der Einsamkeit als Bedingung der Liebe zur Natur; schon dort hieß es (Ges. II, Str. 25, 26): Aus Felsen sitzen, über Wellen träumen.

Lustwandeln unter schatt'gem Waldesgrau'n, Wo freies Leben wohnt in freien Räumen,

Wohin sich Menschenschritte nie getrau'». Aus Berge klettern, ohne Pfad und Zaun, Mit wilden Herden, die der Hürd' entbehren,

Allein in Schlucht und Gießbach niederschau'n — Das ist nicht Einsamkeit, das heißt verkehren

Mt Reizen der Natur und ihre Wunder ehren. Hingegen im Gewühl und Lärm mit andern,

Seh'n, hören, fühlen, sorgen ohne Rast, Ein müder Pilger durch das Leben wandern,

Wo nichts dich liebt, du nichts zu lieben hast,

Nyron.

350

Me Vertiefung Les Ich» in sich selbst.

Schoßkind des Ruhms, das vor der Not erblaßt. Wo niemand mit verwandter Freundlichkeit, Kein Schmeichler, kein Gespiele, Freund und Gast

Einst wen'ger lächelt, wmn ihr nicht mehr seid — Das heißt allein sein, das, o das ist Einsamkeit!

Allem diese Ergüsse waren Erinnemngen an schöne Kindheits­ eindrücke aus den Berggegenden Schottlands, oder auch Träume­

reien, hervorgerufen durch den Anblick der Eremitenbehausung auf

dem Berge Athos.

Es war noch, wie die Einsamkeitsstimmung

bei Wordsworth, eine Liebe zur Natur, die auf der Scheu vor einer unbekannten, fremden Menschenwelt beruhte. Der Unterschied zwischen dem Gefühle bei Wordsworth und bei Byron war nur der, daß Wordsworth des Landkindes und

Landschaftsmalers stummbrütendes Verweilen bei dem Naturein­ drucke, Byron die sehnsüchtige, nervöse Liebe des Stadtbewohners

zu demselben besaß, und daß Wordsworth zu der Natur in ihrer Ruhe seine Zuflucht nahm,

während Byron sie am meisten in

ihrem Zorne liebte (Harolds Pilgerfahrt IV,' 37). In der zweiten Hälfte des Werkes ist das Einsamkeitsgefühl

ein

anderes

geworden.

Es

herrscht

eine tiefe Verschiedenheit

zwischen diesem Drange zu einsamem Verkehre mit der Natur, den

Harold als unerfahrener Jüngling empfindet, und jenem, der sich seiner als Mann bemächtigte, nachdem seine erste Erdumsegelung

der Menschen und Dinge beendigt war.

Mcht Scheu vor dm

Menschen, nein, Widerwille gegen sie trieb nun Byron, die stumme

Natur zu liebm.

Eine ganze große Kaste, die oberste, herrschmde

Kaste in einer ganzen großen Stadt, die dem fremden Auge so human, so feinfühlmd, so rechtlich denkend und ritterlich gesinnt

erschien, hatte die rauhe Seite gegen ihn herausgekehrt, und die Kehrseite ist lehrreich, aber nicht schön.

Er hatte erprobt, was

für Freundschaft man dem Gefallenen zollt, erfahren, daß

die

einzige werkthätige Kraft, auf welcher derjmige sicher bauen kann,

der Pläne für die Zukunft schmiedet, die Eigmliebe der anderm

$i)ton. Vie Vertiefung Le« Ich« in sich selbst. und was mit dieser zusammenhängt, ist.

351

So vereinsamte er zum

zweiten Male, und die Poesie, die er nun schuf, ist nicht für ge­

sellige Naturen.

Doch wer, und sei es auch nur vorübergehend,

dm Menschen den Rücken zuzuwenden gelernt, wer den Wunsch, vor ihnen in Frieden zu leben, gekannt, den Drang empfundm, aus

seinem Heim, aus seinem Vaterlande fortzukommm, um dem An­

blicke der alten Gesichter zu entgehen und den Anblick eines fremden Himmels, fremder Erde aufzusuchen — wer auf einsamen Pfaden

das Nahen einer Menschengestalt wie das Auftauchen eines Schmutz­

fleckes in seinem freien und reinen Gesichtskreise empfundm hat — in einer solchen Menschenseele werden diese lyrischm Ergüsse ein

Echo finden.

Childe Harold ist allein.

Er hat erfahren, daß er zu allem

eher taugt, als mit der Horde zu gehen, daß er außer Stande ist, seine Gedanken unter die Botmäßigkeit einer fremden Denkart

zu stellen oder Gewalt über seine Seele Geistem einzuräumen,

gegen die sein eigener Geist sich empört.

Wo die Berge ragen,

dort fühlt er sich unter Freunden, wo das Meer rollt, dort ist seine Heimat.

Das Gedicht, das die Natur mit Sonnenstrahlen

auf den Spiegel der See schreibt, ist ihm teurer als ein Buch in der Sprache seines Heimatlandes.

Unter dm Menschen ist ihm

zu Mute wie dem Falken, dem man die Flügel gestutzt. flieht er auch

die Welt,

aus Mißmut, noch

so haßt er sie dämm nicht;

Doch weder

aus Trotz sammelt sich seine Seele tief im

eigenen Quell; sie fürchtet überzuwallen im Menschmgewühl, wo

ost ein Nu unser Lebensglück verheeren kann, so daß „all unser Blut sich in Zähren wandelt."

Besser will es ihm dünken, allein zu sein, und so ein Teil von allem um ihn her zu werden; der Anblick hoher Berge ist

ihm ein wohlthuendes Gefühl, während das Gesumme der Städte ihm eine Folter ist; Gebirge, Meer und Himmel scheinen ihm ein Stück von seiner Seele, wie er von ihnm; sie zu lieben dünkt

ihm das reinste Glück.

In der Einsamkeit am wenigsten allein,

ahnt er in ihr ein unendliches Leben, eine Wahrheit, die seine

Seele reinglüht vom Ich. liebte sie ihn.

Harold hat nicht die Welt geliebt, noch

Er ist stolz darauf, nie ihrem geilm Atem ge­

schmeichelt, nie das Knie vor ihren Götzen gebeugt, nie sein Ge­ sicht zu einem Lächeln verzogen zu haben, das unaufrichtig war,

nie das Echo gewesen zu sein, wenn die Menge schrie. inmitten ihrer, jedoch nicht einer von dm ihren.

Er war

Doch will er von

der Welt, die er nicht liebte, und die es ihm mit Zinsen heim­ gezahlt hat, als offener Feind scheiden.

Er glaubt, was seine Er­

fahrung ihn auch gelehrt haben möge, daß es Worte giebt, denen die Wucht von Thatm innewohnt: Hoffnung, die nicht trügt,

echte Barmherzigkeit und ihrer zwei oder drei, die scheinen, was sie sind.

(Childe Harold, 3. Gesang.)

So fließt die Stimmung der Einsamkeit in die der Melan­ cholie über.

Auch diese Saite war in den ersten beiden Gesängen

angeschlagen worden; ihre Melancholie jedoch war rein jugend­ licher Unmut.

Hinter sich hatte Childe Harold eine vergeudete

Jugend, und einem phlegmatisch-schwermütigen Hamlet gleich stand er am Grabe des Achill und erwog, einen Totenschädel in der

Hand, was das Leben und sein höchster Ruhm wohl wert seien, während er, der damals die Süßigkeit des Ruhmes noch nicht gekostet hatte, in Wirklichkeit nichts so leidenschaftlich ersehnte, als Ruhm, den zum Scheine und mit erklügelter Philosophie ver­

schmähten und geringgeschätztm Ruhm.

Nun hat er ihn genoffen

und erfahren, eine wie wenig nahrhafte Speise er sei. Sein Herz gleicht einem zerschmetterten Spiegel,

der statt

Eines Bildes dasselbe tausmdfach aufnimmt, und es vermag um so

wmiger zu vergessen, je zerschmetterter es ist.

Selbst gebrochen,

flüchtet er dmn zu dem in der Natur, was seine Qual zu lindern

vermag, zu dem freien, offenen Meere, dessm Schaummähne er

schon als Kind gestreichelt hat, und das ihn kennt, wie das Roß

Er liebt das Meer, weil beffeti Fläche

seinen Reiter und Herrn.

die einzige ist, die nie brechen, nie auch nur sich mit Furchen

oder Runzeln bedecken kann, die einzige, die noch am heutigen

Tage so aussieht, wie am Morgm der Zeitm. Natur erinnert ihn an Qual und Kampf.

Doch alles in der

Der ferne Donner ist

ihm ein Sturmglockenschall, der alles in ihm weckt, was sich zur Ruhe gelegt hatte.

Selbst der liebliche stille Nemi-See mutet ihn

nicht als etwas Friedliches und Sanftes an, er erscheint ihm „still,

wie verhaltener Haß."

Könnte er all

Seine Schwermut ist nun ganz cholerisch.

seine Leidenschaft in ein Wort zusammenfassm, und dies Wort würde, ausgesprochen, wie ein Blitzschlag schreckm und zerschmettern,

er bedächte, sagt er, sich nicht, es auszusprechen. Ruhe! ist seine Losung.

Alles lieber denn

Ruhe ist Hölle für starke Herzen.

Es

giebt ein Feuer der Seele, das, einmal mtzündet, unauslöschlich

in stets wilderen Flammen emporzulodern strebt.

Ein Fieber ist's,

jedem verhängnisvoll, der einmal es gefühlt. Dies, sagt er, Dies macht die Tollen, die der Menschen Kinder

Toll machen, Welterobrer, mächt'ge Herrn,

Propheten, Sektenstifter, und nicht minder

Sophisten, Barden — alles, was zu gern Aufrührt der Seele tiefsten Born und Kern,

Sie selbst, die Thoren derer, die sie thören. Glücklich gepriesen, und vom Glück so fern . . . Ihr Obern ist Tumult, ihr Leben Krampf,

Daß, wenn einmal verschont von Erdennot Ihr Tag hinschmilzt in stilles Abendrot, Dann Gram und Überdruß ihr Mark verheert

Wie Feuer, welchem niemand Nahrung bot.

Ach, ruft Harold aus: Wir welken früh und Kuchen hin durchs Leben, Krank — krank, kein Durst gelöscht, teilt Lohn gebucht,

Bis ganz zuletzt, am Saum des Grabes eben,

Ei» Trugbild winkt, wie wir eS stets gesucht, Brander, Litteratur de» 19. Jahrh. IV.

23

354

Vyron.

Vie Vertiefung des Ichs in sich selbst.

Zu spät! — und doppelt sind wir so verflucht. Lieb', Ehrfurcht, Habgier — alles einerlei, Gleich eitel alles, alles gleich verrucht,

Stemschnuppen bloß, was auch ihr Name sei, Und mit dem schwarzen Qualm des Todes ist's vorbei. O Menschenleben, im Akkord des Alls Bist du ein falscher Ton, bist schwere Last,

Ein unvertilgbar Mal des Sündenfalls,

Ein ries'ger Upasbaum, der Wurzel faßt

Auf Erden, während Laub und Zweig und Ast Die Himmel sind, die Unheil niedertau'n, Pest, Knechtschaft, Tod, — was du vor Augen hast, Und schlimmres Unheil noch, das wir nicht schaun,

Das die gequälte Brust durchbohrt mit ew'gem Graun.

Aus all diesem brütcnben Mißmut, mit welchem der Gedanke

an das allgemeine Elend (Weltschmerz ist der eigentümliche Aus­ druck, den die Deutschen hierfür gebrauchen) unausweichlich die

Seele beschwert, war schon in den ersten Gesängen des „Childe

Harold" die Freiheitsliebe als dritte Grundstimmung des Ge­ dichtes die einzige erlösende Macht gewesen, die einzige, welche

dem Leben eine praktische Aufgabe stellte.

Schon in Portugal

war Harold in die Worte ausgebrochen: Ach, daß sein Wall ein freies Volk umhegte —

und er hatte die Spanier beschworen: Auf, Söhne Spaniens! Eure Göttin ruft, Die Ritterehre!

Schon damals rief er dem unterjochten Griechenland, das beständig nach Hilfe von außen ausschaute, die Mahnung zu: Ihr erblichen Leibeignen!

wißt ihr's nicht?

Wer frei sein will, der schlage selbst die Schlacht! Sein rechter Arm ist's, der den Sieg erficht.

Hofft ihr auf Galliens oder Moskaus Macht? Sie beugt vielleicht des Räubers Trotz, doch facht

Sie nie der Freiheit Herd zu neuem Brande . . .

Bis LacedämonS Helden aufersteh'n, Bis Theben greift zu sieggewohnten Speeren, Bis wieder Herzen schlagen in Athen,

355

Vyron. Die Vertiefung des Ichs in sich selbst. Bis Griechenmütter Männer einst gebären, So lange wird, so lang die Knechtschaft währen.

Damals aber war seine Freiheitsliebe rein politischer Natur,

es

war der Zorn des freigeborenen Engländers,

die fremden

Völkerschaften außer Stande zu sehen, ein Fremdenjoch abzuschütteln, das sein eigenes Volk nie und nimmer ertragen haben würde.

Nun faßt er die Freiheit in dem weiten, vollen, allgemein menschlichen Sinne des Wortes auf.

Nun fühlt er, daß der freie

Gedanke der Ausgangspunkt für alles geistige Leben ist. Ja, lasset kühn uns grübeln, ohne Wanken!.

Es wär' ein feiger, schmählicher Verzicht, Die letzte Burg, die Rechte der Gedanken

Zu opfern.

Diesem Recht entsag' ich nicht!

Ob man die Götterkraft, die zu uns spricht, Auch kette, foltre, beuge, banne, binde

Und schul' in Dunkelheit, auf daß vom Licht

Der Geist nicht plötzlich sich geblendet finde — Der Strahl bricht durch! Denn Zeit und Kunst

heilt ja auch Blinde. Childe Harold, IV, 127. Bergl. Don Juan IX, 24.

Und nicht bloß grübeln will er, er will auch handeln.

Er

ruft die Zeit an, die große Rächerin; er mahnt sie daran, daß er mit Ruhe und Stolz den Haß der Welt ertragen habe — und er

hat jegliche Art von Haß erlitten —1 und schließt mit dem Gebete: O, sei dies Eisen nicht umsonst getragen In meiner Seele!

Wenn er nun wieder von Land zu Land pilgert, schwindet

seine persönliche Trauer beim Anblicke der ungeheuren Ruinen Roms in nichts dahin, und wie jener Sulpicius, dessen Gefühle Chateaubriand in seinen

„Märtyrern" seinem Helden aneignete,

1 Vom schwersten Unrecht bis zum feigsten Hohn Litt ich nicht alles? Schmähung laut und leis, Der schäumenden Verleumdung ftechsten Ton,

Das flüsternde Gezisch im engsten Kreis, Und jener Natten: fein'res Giftgeschmeiß . . .

Childe Harold, IV, 136. 23*

empfindet er die Kleinheit seines eigenen Geschickes im Vergleiche zu

dem,

welches

die Städte Griechenlands

dahingemäht hat?

Und wenn er, mit der bloßen Gedankenfreiheit nicht zufrieden, den Blick nach aussen wendet, um sich mit den großen politischen

Kämpfen zu befassen, wiederholt er nicht bloß die alten leiden­

schaftlichen Mahnungen an die Gefallenen, wie da et Venedig zü­ rnst, die Stadt habe den Ruhm der Jahrhunderte im Schlamme der Knechtschaft ersäuft, und ihr wäre besser, selbst im Meere ver­ sunken zu sein, als solche Schmach zu erleben, nein, er kehrt sich

keck gegen die Mächtigen, die Sieger von Waterloo, die er als Napoleon's Affen verhöhnt und wendet sich von der politischen Außenseite der Kämpfe ab und ihrem sozialen Keme zu.

Zwar hat Frankreich, sagt er, scheinbar vergebens Ruinen auf

Ruinen uralter Vorurteile getürmt, die seit dem Anbeginn der

Zeiten bestanden, zwar sehen wir jetzt Gefängnisse und Throne aus all dem Schutt sich wiedererheben: Das aber wird nicht dauern! Ihre Stärke Hat endlich doch die Menschheit wohl erkannt. —

Und hat auch Frankreich sich in Blut berauscht,

bis es

Greuel spie: Doch Freiheit!

Dein zeriss'neS Banner wallt

Wie Donnerwolke» gegen alle Winde, Und dein Trompetenruf ersterbend schallt, AlS ob sein Echo niemals wieder schwinde.

Dein Baum verlor die Blüten und di« Rinde, Bom Beil zerhackt, scheint rauh und welk zu sein; Jedoch der East lebt, und dm Samm finde

1 O Rom! Du meine Heimat! Stadt der Seele! BerwaisteS Herz, es kehre ein bei dir. Einsame Mutter toter Reich', und hehle

Beschämt sein Zwergenweh! — Was murren wir? Childe Harold IV, 78.

Da, wo der Freund deS Weisesten in Rom,

Der Freund deS Tullius fuhr gm Griechenland, Da fuhr auch ich ... .

Bergl.: Die Reaktion in Frankreich S. 193.

Childe Harold IV, 44.

Ich tief gesät bis in die Wüstenei'n, Und minder bittre Frucht bringt neuer Lenz dir ein.

Ich habe doch gelebt und nicht vergebens: Ob dieser Geist erlahmt, dies Herz versiegt. Ob dieser Leib zerbricht im Kampf des Lebens,

Eins ist in mir, was Zeit und Qual besiegt, Was atmen wird, wann dieser Hauch verfliegt;

Ein etwas, das ihr Ohr noch nie vernahm, Wie Nachhall der verstummten Harfe, wiegt Einst ihren Groll in Schlaf.

Childe Harold, III, 82; IV, 98, 136.

So verschmelzen in diesem schönen Gedichte die Grundstim­

mungen der Einsamkeit, der Melancholie und der Freiheitsliebe,

und so erweitert und vertieft, mit dem von Gesang zu Gesang

vorschreitenden Werke, und mehr.

das Seelenleben des Dichters sich mehr

Wordsworth hatte sein Ich in ein Organ Englands

verwandelt, Scott und Moore den Gefühlen Schottlands und Ir­ lands in ihren Gesängen Luft gemacht, Byron's Ich aber ist das

allgemein menschliche; dessen Sorgen und Hoffnungen sind die der

Menschheit.

Nachdem dies Ich voll männlicher Kraft sich

auf

sich selbst zurückgezogen und in sein einsames Leid vertieft hat,

erweitert sein Schmerz sich zur Trauer über den Jammer des Menschenlebens; die harte und egoistische Schale des Ichs wird

gesprengt, und die ttefe Freiheitsbegeisterung bricht sich Bahn, um die gesamte Mitwelt des Dichters zu umfassen und zu erheben?

1 In Martensen's „Christlicher Ethik" S. 228 heißt es von Byron, dessen

Sprache der hochwürdige Verfasser, der ihn stets deutsch zitiert, nicht mächtig

zu sein scheint:

„Nimmt man ihn jedoch in seiner Ganzheit, so darf man

wahrlich behaupten, daß sein Glaube an das politische Freiheitsideal bei weitem nicht so stark war, als seine Verachtung einer Welt, die so schlecht sei, daß kein

Freiheitsideal sich in ihr verwirklichen, kein wahrer Fortschritt in ihr zu stände kommen könnte," eine Behauptung, die sich weder rechtfertigen läßt, noch in der

betreffenden Schrift zu rechtfertigen versucht wird. Kategorie „Pessimismus" aufgehen.

Byron soll dort in der

In Grimur Thomsen's Dissertation über

Lord Byron, einer in äußerst spekulativem Stile abgefahren Arbeit, heißt es

Byron.

358

Die Vertiefung -es Ichs in sich selbst.

Und nun hält der Dichter seinen Gottesdienst, und seine Seele sammelt sich voll Andacht.

alle

Er verwirft

„Götzenhäuser",

goüsche Kirchen wie griechische Tempel, und gleichwie die alten

Perser ihre Altäre auf den höchsten, die Erde überschauenden Bergen errichteten, so beugt er das Haupt in der großen Kirche der Natur, in ihr, die aus Erde und Luft besteht? ungleich verständiger: der Bekanntschaft mit

Die jungen Dichter (Frankreichs) wurden erst mittels der Poesie Byrons sich des wahren Prinizipes der

Revolution, des freien Gedankens klar bewußt.

1

Vergleiche nur

Die Götzenhäuser, Griechen-, Gotenpracht, Mit Erd' und Lust, den Kirchen der Natur, Und heft' an Mauern nicht dein Flehn und deinen Schwur.

Childe Harold, III, 91.

XX. Nach einem Besuche des Schlachtfeldes von Waterloo reiste

Byron den Rhein hinauf nach der Schweiz, wo er am Genfer See seinen Aufenthalt nahm.

In einer der dorügen Pensionen traf

er mit dem um vier Jahre jüngeren Shelley zusammm.

Letzterer

hatte seinerzeit Byron Queen Mab zugesendet; allein der dem

Buche beigegebene Brief war verloren gegangen, und so hatte sich keine Korrespondenz daraus entsponnen.

Shelley war um vierzehn

Tage früher in Genf angekommen, wohin er sich mit Mary Godwin

und einer Stieffchwester derselben, Fräulein Jane Clairmont, be­

geben, welche schon in London ein leidenschaftliches Interesse für Byron gefaßt hatte.

Byron's natürliche Tochter Allegra ist die

Frucht der kurzwährenden Verbindung, die nun zwischen ihm und der jungen Dame entstand.

Im vertrauten Umgang mit Shelley empfing Byron's Geist einige der stärksten und tiefsten Eindrücke, für die er empfänglich

war. Der erste große Eindruck war der von Shelley's Persönlichkeit und Lebensanschauung. Byron

einem

Zum ersten Male in seinem Leben stand

vollkommen modernen,

vollkommen freien Geiste

gegenüber. Bei all seiner genialen Fähigkeit, sich das, was mit seiner Natur übereinstimmte, zu eigen zu machen, hatte er doch litterarisch

und philosophisch nur eine halbe Bildung erhalten und sich be­ ständig mehr von Sympathien als von Überzeugungen leiten lassen. Nun trat Shelley ihm entgegen, durchglüht von der Begeisterung

eines Apostels,

längst

über

Priester des Humanismus.

alle Zweifel

hinaus,

ein wahrer

Das zerstreuende Leben in Londons

wie der beklemmende Druck schwerer

Gesellschastssälen sowohl,

Schicksale hatten Byron zu sehr die Gemütsruhe geraubt, um ihn über die Grundfragm des Daseins und die Reform der Mensch­

heit sonderlich viel nachgrübeln zu lassen; er war allzusehr mit sich selbst beschäftigt gewesen.

Nun begegnete er eben an dem Punkte

seiner Dichterlaufbahn, in dem das Ich in ihm aufzuthauen be­

gann, dem Geiste, der ihm die Feuertaufe gab. schloß sich

Seine Seele er­

ganz dem neuen Einflüsse, und in einer Reihe nun

von ihm verfaßter Dichtungen ist derselbe deutlich zu verspüren.

Die vielen pantheistischen Ergüsse im dntten Gesang des Childe Harold sind ohne Zweifel samt und sonders die Frucht der Ge­ spräche mit Shelley, vor allem ist die schöne Stelle von der allmächtigen Liebe als dem Geiste der Natur (III, 100) ein Ausdruck

der Lehre Shelley's von Liebe und Schönheit als den geheimnis­ vollen, die Welt umspannmden Mächten. Ja, in einer seiner Tage­

buchaufzeichnungen geht Byron in jenen Tagen im Shelley'schen Pantheismus so weit, daß er die Stimmung, welche Clärens und

Meillerie, dm Schauplatz von Rousseau's „Heloise" umhaucht, als eine solche bezeichnet, die „von höherer, umfassenderer Art" sei als die Sympathie mit einer einzelnm Leidmschaft.

„Es ist", sagt er,

„das Gefühl der Existenz der Liebe im höchsten, weitesten Sinne des Wortes, wie unseres eigenen Anteils an ihren Gütem, ihrem Ruhm, es ist das große Prinzip des Weltalles, das hier ver­ dichteter als anderwärts zugegen ist.

obwohl

wir

uns

bewußt

sind,

In demselben verlierm wir,

daran teil zu haben,

unsere

Individualität, indem wir in der Schönheit des Ganzen auf­ gehen."

Ein weiterer Einfluß Shelley's läßt sich in den Geister­

szenen des „Manfred" und besonders in dem dntten Akte des Dramas nachweism, dessen Umarbeitung auf Shelley's Rat vor-

gmommm wurde.

Endlich hätte „Kain", selbst wenn Shelley,

wie er behauptet, keinen direkten Anteil an der Komposition dieser Dichtung hatte, unstreitig nie das Gepräge, welches das Werk

trägt, erhalten, wenn man sich Shelley aus dem Leben Byron's

hinwegdenken könnte.

Die beiden Dichter besuchten gemeinsam Chillon und die ganze

Gegend, und so empfing Byron den zweiten großen Eindruck, der befruchtend auf ihn wirken sollte, den Eindruck der Alpenkette.

Es war ein Labsal für ihn, der eben erst dm Qualm der mglischen Gesellschaftssäle eingeatmet, das Auge auf dem ewigen

Schnee ruhen zu lassen und, wolkenhoch über dem Menschen­

gewimmel, die schneebedeckten Spitzen der Alpen zu betrachten. Sein poetischer Vorgänger Chateaubriand verabscheute die Alpen, ihre

Größe wirkte niederdrückend auf seine Eitelkeit; Byron fühlte sich

unter ihnen heimisch. „Manfred",

dessen wahrer poetischer Wert darin liegt, eine

Alpenlandschaft,

eine Alpenlandschast sondergleichen zu sein, ist

direkt aus den Natureindrücken hervorgegangen.

Taine hat sich zu

dem starken Ausdruck hinreißen lassen, daß Byron's Alpengeister im Manfred bloße Theatergötter seien, allein Taine kannte, als er dies schrieb, nicht selbst die Schweiz. In keiner Umgebung liegt der Übergang zu einer Personi­

fizierung

der Natur

näher

als hier.

Reismde fühlt sich hierzu versucht.

Selbst der gewöhnliche

Ich erinnere mich, daß ich

eines Abends auf dem Rigi-Kulm stand und die schönen Seen

zu Füßen des Berges, sowie die kleinen Wölkchm betrachtete, die unten, dicht über dem Spiegel derselben, Hintrieben.

Da rollte mit

einem Male, vom Saume des Horizonts, ein kleiner weißer Klumpen

daher.

Als er eine Minute später den Pilatus, erreichte, war

er eine ungeheure Nebelmasse.

Mit reißender Schnelle breitete

sich diese über dm Himmel und ließ die Zipfel ihres Wolken-

mantels meilmweit nach beidm Seiten flattern.

Sie senkte sich

auf die Spiegelfläche der Seen, hüllte die Felsspitzen ein, ritt auf

den Bergrücken, vertiefte sich in die Klüfte, breitete dann nochmals

ihre Flanken aus, wirbelte wie Rauch gen Himmel, sank wie Blei auf die Städte, verlöschte alle Farben und zerrann zu Grau in Grau.

Die Weiße des Schnees, das Grün der Bäume, die tausend Lichter

und Farben des Abendhimmels warm in einem Nu überflutet und dahin.

Der Blick, der eben noch frei über die unermeßliche Fläche

schweifte, heftete sich, unwiderstehlich angezogen, einzig auf die un­

förmliche Masse, die, eiligen Fluges und gewaltig wie ein Welt­ körper im Urzustände, dem Beschauer entgegmschoß.

Es war, als

ob himmlische Heerscharm, als ob hunderttausende lustiger Reiter

in geschlossenm Reihm, auf beschwingten, lautlosen Rossen daher­ gesaust kämen, unwiderstehlicher als irgend ein irdisches Heer, spur­ los alles hinter sich verttlgmd, wie asiattsche Horden oder die

Hunnen Attila's.

Ein Nordländer mußte unwillkürlich an dm

Heerzug der Banen denken.

In dem Augmblicke, wo die Wolke

den Rand des Kulms erreichte, wurdm die Vordersten dem Auge mtrückt und immer mehr und mehre verschwandm in ihr, bis sie

mdlich, feucht und erstickend, einen jeden umschlang,

einem dm

Mund schloß und sich schwer auf die Bmst legte. Derartige Naturschauspiele waren es, die zu den Geistererscheinungm, welche Manfted überfallen, dm Stoff abgaben. Aus

dm Tagebüchem Byron's ist Abschnitt um Abschnitt in sein Ge­

dicht übergegangm, und nicht selten sind die Ausdrücke in ihrer

ersten flüchttgm Gestaltung fast noch ergreifender als im Gedichte. „Kam nach Grindelwald.

Ritt zu dem höhem Gletscher hinan —

er glich einem gefrorenen Orkan.

fJn Manfted steht, des Verses

halber, einem gefrorenen Sturm.]

Sternhell, schön, aber ein ver­

teufelter Weg.... etwas Blitz, aber der Tag im ganzen so schön

wie der Tag, an dem das Paradies geschaffm wurde.

Ging durch

ganze Wälder verdorrter Tannm, allesamt eingegangm, die Stämme

abgeschält, ohne Rinde, die Äste tot; dies das Werk eines einzigm

Winters — ihr Aussehen erinnerte mich an mich und die Meinigen."

Sijton.

Alle

363

Der revolutionäre Geist.

diese Ausdrücke kommen,

leicht umgeformt,

in dem Ge­

dichte vor. So reich

an Ausbeute

aber Byron's

und Shelley's ge­

meinschaftliche Ausflüge auch waren, sie wurden ihnen doch auf

mannigfache Weise vergällt.

Ihre reisenden Landsleute plagten

sie überall mit ihrer Neugierde und drangen sogar mit unglaub­ licher Frechheit in Byron's Behausung ein.

Verwehrte man ihnen

den Eintritt, so postierten sie sich mit ihren Ferngläsem an den Ufern und den Wegen, um ihre Beobachtungen anzustellen, guckten

über Gartenmauern und bestachen Gasthofskellner, wie später in Venedig Gondelführer, um Skandalgeschichten zu ergattern.

Daß

Byron und Shelley gemeinschaftlich mit zwei Schwestern lebten, war das erste Gerücht, das man in Umlauf setzte, und je mehr

die beiden Dichter sich im Munde der Leute zu leibhaften Teufeln

wandelten, ein desto widerlicheres Gepräge nahmen diese Gerüchte

an.

Kein Wunder also, daß eines Tages in Coppet, als Byron

das Wohnzimmer der Frau

von Stael

betrat,

eine

englische

Dame, die gottesfürchtige Romanschriftstellerin Frau Hervey, da

sie seinen Namen nennen hörte, in Ohnmacht fiel, als käme, sagt Byron, „Seine satanische Majestät"

selber vor ihren Augen an­

gestiegen. Wenn wir die Ursache dieses uns jetzt so lächerlich erscheinenden

Schauders vor Byron's Person recht begreifen wollen, so werden wir auf den furchtbaren Eindruck geführt,

den er noch zuletzt

während seines Aufenthaltes am Genfer See empfing, nämlich den einer in England über ihn ausgesprengten bestimmten Verleumdung, über deren Beschaffenheit und die weite Verbreitung, die sie ge­

funden, er sich jetzt erst klar wurde.

Es ist dieselbe, die Frau

Beecher-Stowe der Welt als eine vertrauliche Mitteilung kundthat, welche sie aus dem Munde Lady Byron's empfangm hübe,

„wobei himmlischer Glanz das ätherische Antlitz dieser Dame ver­ klärte," die Geschichte von dem verbrecherischm Verhältnisse Byron's

zu seiner Schwester Augusta Leigh.

Diese Geschichte war im

Laufe der Jahre bei Lady Byron so zur fixen Idee geworden, daß sie, wie eine 1869 herausgegebene Schrift nachweist, nicht einmal Anstand nahm, einer Tochter Augusta's, die sich in einer

Notlage an sie wmdete, mitzuteilen, sie, Medora, wäre keine Tochter des Obersten Leigh, sondem ein Kind Byron's und seiner Stief­

schwester.

Sie erklärte zugleich, daß sie stets für ihren Unterhalt

sorgen werde, was ihr jedoch später entfallen zu sein scheint.

Von dieser Beschuldigung hat Byron in dem Augenblicke, wo er England verließ, offenbar nichts oder so gut wie nichts gewußt. Er dürste kaum alle gegen ihn erschienenen Zeitungsartikel gelesen

haben.

Er sagt selbst: „Erst ziemlich lange nach meiner Abreise

wurde ich von dem ganzen Vorgehen und der Sprache meiner

Feinde unterrichtet.

Meine Freunde hätten mir vieles sagen sollen,

was sie mir verschwiegen."

Erst in der Schweiz erhielt er durch

einen Freund von allem Kunde.

Hierdurch werden auch erst die

aus der Schweiz an Augusta gerichteten Poesien völlig verständ­

lich.

So heißt es im Childe Harold, III, 55: Und eine sanfte Brust, wie ich erzählt.

War ihm verbunden durch ein stärkres Band, AIS es die Kirche schürzt.

Zwar unvermählt,

Doch rein war diese Liebe; sie bestand Die Prüfung tiefsten Hasses Hand in Hand,

Gestählt in tätlichster Gefahr, die mehr

Als alles Frauenherzen übermannt, Ihr Herz blieb fest, und wohl war seines schwer,

Als diesen Gruß er ihr heimsandte übers Meer.

Die Stanzen an Augusta enthaltm ähnliche Ausdrücke, und die Zeile „Du wurdest geschmäht und bliebest echt" (in dem zweiten

der Gedichte an sie) zeigt,

daß auch sie um diese schändlichm

Gerüchte wußte. Nun erst erklärt sich auch der in der Schweiz eingetretene

plötzliche Umschlag der Stimmung Byron's gegen Lady Byron.

Er, der in der ersten Zeit nach der Scheidung äußerte, er glaube

nicht, daß so leicht ein muntereres, besseres, liebenswürdigeres, an­

genehmeres Wesen als sie zu finden sei, und alle Schuld seiner

Heftigkeit und Unbesonnenheit beimaß, sieht nun mehr die Schattenseiten ihres Charakters, und unter dem überwältigenden Eindmcke

der eben geschilderten Entdeckung, beginnt er den häßlichm Krieg gegen ein Weib, der sonst so unwürdig erscheinen müßte, und

entwirft das harte Porträt von ihr als Donna Inez im ersten Gesänge des Don Juan.

Der zwingendste und in der That vernichtendste Beweis gegen

Lady Byron kam im Oktober 1869 in Quarterly-Beview zu Tage. Es wurden nämlich sieben Briefe und Billette abgedruckt, welche

Lady Byron nach dem Bruche mit ihrem Gatten an Mrs. Leigh ge­ schrieben hat und die von Zärtlichkeit und liebevollen Versicherungen überfließen.

Es sei ihr „ein großer Trost," heißt es darin, Mrs.

Leigh mit ihrem Gemahl beisammm zu wissen; sie müsse freilich

nun auf das Recht verzichtm, „ihre teuerste Augusta" Schwester zu nennen, dennoch hoffe sie, es werde dies dem herzlichen Wohl­

wollen, das Frau Leigh stets für sie gehegt, keinen Abbruch thun. „In diesem Punkte wenigstens (!)," schreibt sie, „bin ich die Wahrheit

selbst, wenn ich sage, in welche Lage ich auch kommen möge, giebt

es doch niemanden, dessen Umgang mir jemals teurer sein, mich

mehr beglücken könnte. ändern vermögen.

Nichts wird je diese meine Gefühle zu

Solltest Du mich vemrteilm, ich werde Dich

dämm nicht minder lieben."

So hat Lady Byron an diejenige

geschrieben, welche sie viele Jahre später als die Schuldige brand­ markte, die sie aus dem Hause ihres Gatten vertrieben habe.

Ja,

noch mehr, der freundschaftliche Briefwechsel zwischen Lady Byron

und Mrs. Leigh währte bis zum Tode Byron's. unvollendeter Brief beginnt mit den Worte:

Noch sein letzter „Liebste Augusta!

Bor wenigen Tagen erhielt ich Deinen und Lady Byron's Bericht über Ada's Befinden."

Und

nun

sollen

wir

glauben,

Lady

366

Byron.

Btt revolutionäre Leist.

Byron habe Augusta, die nach wie vor das versöhnende Mittel­

glied zwischen den Gatten bildete, ihr ganzes Leben als die un­ natürliche Verbrecherin betrachtet, welche die Hauptschuld an dem Unglück ihres Lebens

traf?

Welches

Chaos

von Lüge und

Wahnwitz!

Wahnwitz

ist

das

richtige Wort;

denn —

so

bemerkt

Quarterly-Review — wie Lady Byron gleich anfangs für die Handlungsweise ihres Gatten keine andere Erklärung als Irrsinn zu finden vermochte, so können wir uns heutigen Tages die ihre

nicht anders als durch Gemütskrankheit erklären. „Allein ein merk­ würdiger Unterschied waltet zwischen ihrer und seiner Krankheit ob.

Er übertrieb in krankhafter Weise seine Fehler, sie ihre

Tugenden.

Seine Monomanie bestand darin, ein unmöglicher

Sünder, die chrige darin, eine unmögliche Heilige sein zu wollen.

Er that in seinen wahnwitzigen Stimmungen alles Mögliche, um sich

bei der Welt anzuschwärzen, und sie nahm seine Selbst­

anklagen, die oft nur schlechte Witze und Mystifikationen waren,

für baren Ernst.

Ihre Halluzinationen hingegen gingen darauf

aus, Namen und Ruf derjenigen zn untergraben, die ihr am nächsten standen, und die ihr hätten am teuersten sein sollen.

Welche dieser

Geistesverirrungen war wohl hier die gefährlichste und unliebens­ würdigste?" 1

Byron's letzter Eindruck in der Schweiz war somit der Druck der furchtbaren Verleumdung, unter der er sich wand.

Seine Ge­

danken drehten sich selbstverständlich immer und immer wieder um dieselbe, und nach Künstlerart dichtete er sich tiefet und tiefer hin­

ein.

George Sand hat in einem Briefe an Sainte-Beuve an einer

Stelle ihre Natur und die Dichtematur überhaupt mit ein paar kecken Zügen geschildert.

Die Rede ist von dem Philosophen

Jouffroy, der sich ihr vorstellen zu lassen gewünscht hat, vor dem 1 Quarterly Review, Okt. 1869. Schrift: Lord Byron. S. 179.

Vergl. Karl Elze's ausgezeichnete

Nyron.

367

Der revolutionäre Seist.

sie jedoch einige Scheu empfindet, als vor einem allzu strengen Moralisten und allzu wenig geschmeidigen Geiste. Sie schreibt: „Ich

habe mir manchmal im Stillen gesagt: Wer weiß, ob man nicht Menschenfleisch essen darf?

Sie haben sich im Stillen gesagt:

Es mag Leute geben, die ihre Zweifel haben, ob man nicht Menschenfleisch essen dürfe.

Jouffroy hat sich gesagt: So eine

Idee ist noch keinem Menschen eingefallen u. s. to."

Tiefe Worte,

die an sich eine Definition von dem Wesen des Dichters im Gegen­

satze zu dem des Beobachters und des Moralisten enthalten.

Der starke Drang, seiner Einbildungskraft und seiner Reflexion

jedes Experiment zu gestatten, der Trieb, über das zu grübeln und zu phantasieren, was die Menschen im allgemeinen fürchten

und scheuen, war in hohem Grade bei Byron ausgeprägt.

Die

bekannte Anekdote, die so großes Entsetzen erregt hat, daß er ein­ mal, mit einem kleinen Messer in der Hand, ausrief: „Ich möchte

wissen, wie jemandem zu Mute ist, der einen Mord begangen!" hat keine andere Bedeutung.

Es lockte ihn, sich in das mit einer

verbrecherischen Liebe verbundene Schuldbewußtsein hereinzugrübeln,

nicht minder sich in jenes hineinzudichten, das einem Morde auf

dem Fuße folgt.

Seine frühestm Helden, wie der Giaur und

Lara, haben einen mysteriösen Mord begangen, und, wie männig-

lich bekannt, wurde Byron das Verbrechen dieser seiner Helden ohne weiteres aufgemutzt, ja selbst der alte Goethe ließ sich von

dem Gerede der Leute verleiten, bei seiner Besprechung des „Man­

fred" das Ammenmärchen, das er als höchst wahrscheinlich be­ zeichnet, wiederzugeben, Byron hätte sich in Florenz (wo er sich

komischer Weise einen einzigen Vormittag aufhielt) in einen Liebes­ handel mit einer jungen Frau eingelassen, deren Gatte sie tötete, worauf Byron, um ihren Tod zu rächen, seinerseits dem Mörder das Leben nahm.

Ganz wie man früher dm Beweis für seine

Mordchaten in Lara's tragischen Mienen zu finden glaubte, hat

man in unfern Tagen einen Beweis für seinen Inzest in Manfred's

Verzweiflung und in Kain's Ehe mit seiner Schwester erblicken

wollen.

Es kann nicht Wunder nehmen, daß Byron und Moore

einmal mit der Absicht umgingen, eine phantastische Biographie Lord Byron's zu »erfassen, derzufolge er so viele Mitglieder des einen Geschlechtes verführt und so viele des andem ermordet haben sollte,

daß man hoffen könnte, allen übrigen Anekdotensammlern durch Überbietung den Mund zu stopfen.

Sie gaben den Plan nur aus

Furcht auf, die Naivetät des Publikums könnte den Spaß für Ernst nehmen.

So manches Gespräch zwischen Byron und Shelley dürste

sich denn aus leicht begreiflichen Gründen um die Liebe zwischen Bruder und Schwester gedreht haben, umsomehr als dieselbe un-

fmchtbare Frage auch den jüngeren Dichter beschäftigte.

Byron

irritierte besonders der Umstand, daß die Frommen gar so sehr Zeter darüber schrien, während sie doch selbst dogmatisch lehrten,

daß die Menschheit, als von einem einzigen Paare stammend, fich durch Geschwisterpaarung gebildet habe.

Daher betont er im

„Kain", daß Kain und Adah Geschwister seien, und läßt Lucifer Adah erklären, daß ihre Liebe zu dem Bruder keine Sünde sei, daß dies aber bei den Nachkommen der Fall sein würde, worauf

Adah sehr logisch antwortet: WaS ist Sünde, die Nicht Sünd' an sich ist? Macht ein äußrer Umstand Sünd' oder Tugend?

Ans allen diesm eben angedeuteten seelischen Elementm gingen „Mansted" und „Kain" hervor.

Das erste von diesen beiden

Werken ist das minder bedeutende und verträgt wahrlich nicht den

Vergleich mit Goethe's Faust, zu dem es einladet, und den man so häufig angestellt hat.

Goethe selbst sagt, daß sich darüber eine

schöne Vorlesung halten ließe, doch ist nun diese ost genug ge-

halten worden, von niemand wohl mit größerer Originalität und Begabung als von Taine.

Nyron.

369

Der revolutionäre Geist.

Nur in einem einzigen Punkte erhebt sich Manfred über Faust. Dem Kritiker giebt nichts einen besseren Wertmesser für die ver­

schiedenen Partim eines Werkes ab, als der Umstand, was er nach Jahren noch davon in Erinnerung behalten hat, und ich weiß

bestimmt, daß, nachdem ich ein Jahrzehnt lang Manfred nicht gelesen hatte, das

einzige

mir im Gedächtnisse Gebliebene die

Szene war, wo er, der doch selbst so streng mit sich ins Ge­ richt geht, in seiner Todesstunde, nachdem er dm Abt und seine

Tröstungen zurückgewiesen, mit festem Stolz und tiefer Verachtung die bösen Geister fortsendet, mit welchen er nichts gemein hat, und denen er nie die geringste Macht über sich eingeräumt hat.

Der

Gegensatz zu Faust, der sich Mephistopheles verkauft und vor

dem Erdgeiste aufs Knie sinkt, ist hier schlagend.

Dem englischen

Dichter hat hier ein Ideal selbständiger Männlichkeit vorgeschwebt, zu dem der dmtsche Dichter sich nicht erhob, und sein Held ist

ebmso typisch Mann, wie Goethe's Held der Typus des Mmschen ist.

Einsam im Tode wie im Leben, steht er mit der Hölle nicht

im Bunde, noch irgmdwie zum Himmel in Beziehung. eigener Ankläger und sein eigener Richter. Moral Byron's liegt hierin.

Er ist sein

Die ganze männliche

Auf dm einsamen Höhen jenseits

der Schneegrenze, wo menschliche Schwäche und Weichlichkeit nicht mehr gedeihen, dort atmet seine Seele erst leicht, und die Alpen­ landschaft gestaltet sich naturgemäß zum Rahmen um die mit ihrer

strengen Wildheit verwandte Hauptperson. In

Manfted kommt jedoch

nur die selbstische Seite der

Dichterseele Byron's zum Vorschein.

Seine allgemein menschliche

Sympathie äußerte sich zum ersten Male ganz in dem dramatischm Gegmstück zu Manfted, in „Kain". Kain ist Byron's Glaubensbe-

kmntnis, d. h. das Bekenntnis aller seiner Zweifel und aller seiner Kritik.

Wmn man bedmkt, daß er weder wie Shelley und die

großen Dichter Dmtschlands sich mittelst philosophischer Studien eine freie humane Weltanschauung erkämpft hatte, noch wie die Brandes, Litteratur de» 19. Jahrh. IV.

24

Dichter unserer Tage wissenschaftliche Naturkunde und wissenschaft­ liche Kritik der biblischen Schriftdenkmäler als Voraussetzung für alle Grübeleien und Träumereien über die Lebensauffassung der

Vergangenheit und Gegmwart anzuwendm gelernt hatte, so muß

man staunmd die Energie und den Ernst bewundem, mit dem er

hier alle höchsten Lebensfragen aufgriff. Als private Persönlichkeit war Byron unstreitig ebenso un­

fertig in seiner Freidenkerei, wie er dilettantisch in seiner Politik

war.

Sein klarer Verstand empörte sich gegen den Glaubm an

das Vemunftwidrige, allein er war wie die meisten großen Männer zu Anfang des Jahrhunderts, d. h. vor der Entwicklung der Re-

ligions- und der Naturwissenschaft, zugleich Zweifler und aber­

gläubisch.

Schon als Kind war ihm die Religion verleidet worden.

Die Mutter schleppte ihn regelmäßig mit in die Kirche, und er rächte sich damit, sie mit Stecknadeln zu stechen, wenn er sich allzu­

sehr langweilte.

Als Jüngling wurde er über den starren Buch-

stabenglauben der anglikanischen Kirche mit ihren 39 Artikeln auf­ gebracht und schrieb in sein „Memorandum", daß es ebenso vergeb­

lich sei, der Vernunft das Forschen zu verbieten, wie einem Wachen

zuzurufen: Wache nicht, schlafe! Der Glaube an die ewigm Höllenstrafen war deshalb auch der Gegenstand seines ewigen Gespöttes.

Er schreibt 1822 an Moore: „Erinnern Sie sich nicht der Antwort

Friedrichs des Großm auf die Klage jener Bauerngemeinde, deren

Pastor gegen die Ewigkeit der Höllenqualm gepredigt hatte?

Sie

lautete folgendermaßm: Wenn meine lieben und getreuen Unter­ thanen in Schrausenhansen es vorziehen, ewig verdammt zu wer-

ben, so steht ihnen solches frei."1 Landslmtm Byron's,

Und schrecklich erschien es dm

in Don Juan „altm Rum und wahre

1 In Wirklichkeit handelte es sich um einem Pfarrer namens Petitpierre

im Kanton

Neuenburg.

Die Geistlichkeit Neuenburgs verklagte ihn beim

König als Hetzer in betreff der ewigen Höllenstrafen, und Friedrich gab die von Byron angeführte Antwort.

Religiosität" als die besten Beruhigungsmittel für erhitzte Gemüter angeführt zu sehen.

Er verabscheute die Pfaffen.

Trelawny führt von ihm die

Äußerung an: „Wann haben die Priester den Genius beschützt? Sobald einer von ihrer schwarzen Bande zu denken wagt, wird

er ausgepfiffen wie Sterne oder Swift," und Moore zitiert den

folgenden Zornesausbruch: „Diese Schurken von Pfaffen haben der Religion mehr Schaden zugefügt als alle Ungläubigen."

Doch

bei allen seinen Witzen und allen seinen Ausfällen schwankte er.

Er wagte nicht, dm Resultaten, zu welchen sich Shelley durch seine Folgerungm geführt sah, beizupflichten, und ließ sein un­

eheliches Töchterchm in einem Kloster erziehm, damit das Kind nicht durch die freidenkerischen Reden Shelley's und seiner Gattin

beeinflußt werde.

Ein schöner, bezeichnmder Brief Shelley's ist

ein unumstößlicher Beweis für Byron's Unentschiedenheit. Byron," schreibt er,

„Lord

„hat mir ein paar Briefe von Moore vor­

gelesen, worin sich dieser sehr freundlich über mich äußert, und ich kann mich durch den Beifall eines Mannes, dessen Über­

legenheit ich frmdig anerkenne, nur geschmeichelt fühlen.

Allein

Moore scheint meinen Einfluß auf Byron in religiöser Beziehung

zu fürchten und dm Ton, in dem Kain gehalten ist, einer Ein­

wirkung von meiner Seite zuzuschreiben .... Moore zu versichem,

Ich bitte Sie,

daß ich nicht den geringsten Einfluß in

dieser Hinsicht auf Byron besitze; besäße ich ihn, ich würde ihn

sicher dazu benützm, aus seiner Seele das Blendwerk des Christen­

tums zu tilgen, das, seiner Vernunft ungeachtet, stets wieder­ zukehren

und

für Stunden

der Krankheit

im Hinterhalte zu liegen scheint.

und

des

Unglücks

Kain war vor Bieten Jahren

konzipiert und begonnen worden, bevor ich Byron in Ravenna sah.

Wie glücklich wäre ich gewesen, wenn ich mir einen auch nur indirektm Anteil an diesem unsterblichen Werke hätte zuschreibm sönnen!"

Wir sehm also, daß Byron als Privatmann sich keineswegs zu einer prinzipienfesten Lebensanschauung emporgerungen hatte.

Allein mit um so größerem ©tarnten nimmt man wahr, wie in

seinen poetischen Schöpfungen sein Genie ihn mit sich fortreißt, ihn

groß

und

siegreich

in

seinem

Gedankengang

macht

und

ihn mit vollendeter Sicherheit die entscheidenden Punkte treffen

läßt.

Eine wahre Umwälzung vollzog sich in der europäischen

Poesie, die 1821 bis an den Hals int Bibelglauben und religiöser

Verdummung steckte, als Kain wie eine Aufruhrsbotschaft erschien; der Eindruck kann nur mit dem verglichen werden, den Strauß' „Leben Jesu" vierzehn Jahre später in der wissenschaftlichen Welt

hervorrief. Hellenismus

Die großen deutschen Dichter hattm in ihrem freien

den Offenbarungsglauben links liegen lassen.

Hier

erhob sich ein anderer minder freigeistiger Dichter, der in dem Dogmenkäfig eingezwängt saß, ihn aber wie ein Raubtier durch­ maß, an dm Stangen des Käfigs rüttelnd.

Kain ist nicht mit der Hast der Inspiration geschrieben; das Drama stürmt und donnert nicht. Byron hat hier zu vollbringen ver­ standen, was ungestümen Seelen das Schwierigste und der Inbegriff

aller Moral ist: seine Leidenschaft zu kanalisieren, d. h. ihren

blinden Strom fmchtbar zu machen. Das Stück ist die Schöpfung

eines Grüblers.

Es ist das Werk einer langsam bohrenden und.

höhlenden Erwägung, eines zersetzenden Scharfsinns, einer zer­ bröckelnden Denkkraft.

Nirgmds gilt wie hier von Byron, was

Goethe ihn als Euphorion im zweitm Teil des Faust sagen läßt: Das leicht (Errungene

Das widert mir; Nur das Erzwungene Ergötzt mich schier.

Allein die ganze hämmemde und zermalmende Maschinerie des

Geistes, die hier scheinbar so beherrscht wird, ist tion einer entstammten,

mächtig lodernden Einbildungskraft in Schwingung gesetzt, und im

Vyron.

Ser revolutionäre Seist.

tiefsten Jnnem schluchzt hier eine Seele.

373

Byron's Glaube ist ihm

hier ebenso zustatten gekommen, wie sein Unglaube.

Mit voller

poetischer Naivetät geht er auf die alttestamentarische Sage, wie

sie vorliegt, ein.

Er behandelt die Sagengestalten nicht als Sinn­

bilder, sondern als Wirklichkeiten, und er ist ehrlich, indem er so zu Werke geht.

sich

Es fällt ihm leicht; dmn sein Zweifel bewegt

auch in der Dichtung beständig auf dem Boden der Über­

lieferung und hat dieselbe zur Voraussetzung.

Dabei war er alt­

testamentarisch in seiner Geistesrichtung wie in seinem Seelenleben. In seinem Jnnem zitterten Klagemfe wie die Hiob's, als diesem

Trost und Zurechtweisung von feinett Freunden ward, in seinem Herzm scholl dumpf bei Tag und Nacht ein Racheschrei gleich

jenem Davids.

Die „Hebräischen Melodien" geben Zeugnis, wie

natürlich das jüdische Gewand für die Formm seines Gefühls

paßte. Indem

Byron

mit

voller

Treuherzigkeit

auf

die

Über-

liefemng eingeht und seine Vernunft vorläufig unter ihr Joch

bmgt, sehen wir in seinem Gedichte die menschliche Bemunst sich

unter diesem Joche winden, sich gegen dasselbe erheben, vom

Stachel gemartert werden und dawider tiefen.

Und was dies

Schauspiel noch anziehender macht, das ist, daß jene mmschliche Vemunft jung, neugeboren ist.

Auf den echtm Dichter wirkt

der Aufgang der Sonne so stark, als sähe er sie am ersten Schöpfungstage aufgehen; bei Byron hatten alle Zweifel und

Fragen eine solche Frische, daß sie dem ersten Frager und Zweifler in den Mund gelegt werden könnten.

Daß diese Zweifel, diese

Klagen sich bildm tonnten, hierzu bedurfte es nichts Geringeres als der gongen langen Kette der menschlichen Geschlechter, die

unter der Grausamkeit des Lebens und dem Aberwitz vererbter Sagm geseufzt und geschmachtet hatten.

Indem jedoch das auf-

gehäuste Leid der Jahrtausmde, die stets sich steigemde Qual, die freie Menschmvemunft auf die Folterbank des Glaubens geschraubt

zu sehen, hier dem ersten Empörer in den Mund gelegt ist, wird

alles von ihm so ursprünglich und naiv ausgesprochen, als wäre die Gedankenarbeit von Millionen schon von dem ersten denkenden

Gehirn vollbracht.

Dies der erste gewaltige Widerspruch, der an

dem Gedichte ergreift. Jene Partie

des Dramas,

in

welcher

teils alle inneren

Widersprüche der jüdisch-christlichen Überlieferung, teils deren Un­

vereinbarkeit mit der Vernunft bloßgelegt werden, die versteckt an­ greifende Partie darin, ist allerdings heute von ziemlich geringem

Interesse.

Die

Menschheit

hat

seit

1821

so

viele

Schritte

vorwärts gethan, daß all der Scharfsinn, der aufgeboten wird,

um die Theologie des ersten Buches Moses kritisch zu nichte zu machen, sich in unsern Augen ungefähr wie ein Zu-Feldeziehen

gegen den Glauben an Werwölfe ausnimmt.

In Wirklichkeit aber

ist diese Polemik ja nur scheinbar buchstäblich zu nehmen.

Byron

wollte selbstverständlich nicht gotteslästerlich schreiben, nicht ein Wesen verhöhnen, das er selbst als das höchste, allumfassende

betrachtete. Was Kain bekämpft, ist in Wirklichkeit nur der Glaube, daß die Ordnung der Natur ihrem Wesen nach sittlich sei, daß

das Gute, statt eines der Ziele des Menschenlebens zu sein, dessen Voraussetzung bilden sollte.

Man muß jedoch eingedenk bleiben,

daß die menschliche Sprache voller Worte ist, welche die Ver­

gangenheit gebildet hat und die Nachwelt zu gebrauchen genötigt ist, weil die Sprache keine anderen besitzt, ob wir ihnen auch

fort und fort eine andere Auslegung geben.

Solche Worte sind

z. B. Seele und Körper, Ewigkeit, Seligkeit, das Paradies, die erste Versuchung, der erste Fluch u. s. w., und Byron hat in seinem Gedichte alle Ausdrücke der Genesis beibehalten?

Eine

1 Renan bemerkt hierüber: Supposti meme que, pour nous philosophes, un autre mot fut präfärable, outre que les mots abstraits n’expriment pas assez clairement la reelle exiatence, il y aurait un immense inconv&rient L nous säparer par notre langage des simples, qui adorent si bien L

Weitere Wirkung seines Dramas beruht denn auf diesem zweiten, zum Nachdenken anregenden Widersprüche, daß alle die alten theo­ logischen und barbarischen Worte beibehalten sind, so daß ein unablässiger innerer Streit zwischen dem Geiste des Gedichtes und dessen Buchstaben besteht. Dieser zweite Widerspruch erschüttert die Leser, welche der erste aufgescheucht hat. Dem Nachweise der Flachheit des gewöhnlichen Theismus aber entspricht in diesem Drama das leidenschaftliche Aussprechen des unendlichen Jammers des menschlichen Daseins. Nicht Pessi­ mismus, Wie man mit einem schalen, nichtssagenden Worte es genannt hat, sondern das tiefe Gefühl des nicht wegzudisputieren­ den menschlichen Elendes liegt zu Grunde. Weit tiefer in Byron's Seele als die Bitterkeit gegen die Weltmacht, welche nur schafft, um zu zerstören, liegt das Gefühl der Naturnotwendigkeit des Mitleides aller mit allen, liegt das Mitgefühl mit all der Qual, der man zwar unmöglich abzuhelfm, aber sich doch auch unmöglich zu verschließen vermag. „Kain" ist eine Tragödie über das Grund­ tragische, daß der Mensch geboren wird, leidet, schuldig wird und stirbt. Byron begründet die biblische Legende: Adam ist gezähmt, Eva gebändigt, Abel ein sanfter, gehorsamer Knabe. Kain ist die junge Menschheit, die grübelt, fragt, ersehnt und fordert. Er soll am Dankgebete teilnehmen. Weshalb preisen und bauten? Für das Leben? Muß ich denn nicht sterben? Für das Leben? Bin ich leur manidre. Le mot Dien, 6taut en possession des respects de l’humanitä, ce mot ayant pour lui une longue präscription et ayant 6t6 employl dans des beiles podsies, ce serait renverser toutes les habitudes du langage que de Fabandonner. Dites aux simples de vivre d’aspirations k la värite, k la beautö, k la bontl morale, ces mots n’auront pour eux aucun sens. Dites leur d’aimer Dieu, de ne pas offenser Dieu, ils vous comprendront k merveille. Dieu, Providence, immortalitä, autant de bons vieux mots, un peu lourds peut-etre, que la Philosophie interprßtera dans des sens de plus en plus raffinSs, mais qu’elle ne remplacera jamais avec avantage.

Etudes d’histoire religieuse. S. 418.

376

Btjton.

Jet revolutionäre Keift.

denn noch im Gartm Eden? — Mit welchem Rechte leide ich? Für Adams Sünde?

Was geht mich Adams Sünde an?

halb wurde er versucht, sich zu vergehm?

Wes­

Aus welchem Grunde

wurde der Baum gepflanzt, wmn nicht um seinetwillen?

Weshalb

ward er als der schönste mitten in den Garten in seine Nähe ge­ setzt, weshalb die Unschuld dadurch versuchen, daß man ihre Neu­

gierde erweckt? War es gut, weil Gott es wollte? Ist das eine Antwort?

Kann der Gute das Böse schaffen, und was anders

schuf er?

Und wmn das Böse zum Gutm führt, weshalb dann

nicht gleich das Gute thun? In tausmdfachem Elend hat er sich

jetzt vervielfälttgt, und dmnoch ist er selig.

Wie kann man glück­

lich sein, wenn man's allein ist? selig, wenn man der Einzige ist,

der sich der Seligkeit erfreut?

Und allein ist er, der unfaßliche,

unverttlgbare Tyrann. Wir sind nichts ihm gegmüber.

Wohlan!

So

will ich

wenigstens nicht Zufriedenheit mit meinem Nichts erheucheln und

nicht froh meiner Qual erscheinm.

Krieg Aller wider Alle und

wider alle Dinge, und Tod für Alle, und Krankheit für die Meisten und Tortur und Bitterkeit, das sind die Früchte des

verbotmm Baumes.

Ist das Menschenlos sonach nicht elend?

Ein Gutes nur schmkte der Schicksalsapfel: Vemunft.

Doch wer

kann stolz sein auf eine Vemunft, die an knechüsch-grobm Stoff und an die kläglichen Bedürfnisse eines Wesens gekettet ist, dessen höchste Lust nur eine süße Selbstemiedrigung, ein entnervendes,

schmutziges Blendwerk ist?

Nicht das Paradies, der Tod ward

uns zum Erbe auf dieser jämmerlichen kleinen Erde, dem Sitz von

Geschöpfm, derm höchstes Glück darin hätte bestehen sollen, blind

im Eden der Unwiffmheit zu lebm, wo Erkmntnis wie Gift ver­ pönt wäre.

Und nun der Gedanke, daß all dies Elend sich fort«

pflanzen und vererben soll!

Die ersten Thränen zu schauen und

schaudemd zu begreifen, welches Meer von Thränen fließm wird!

Wär's da nicht beffer, das zarte Kind wider den Fels zu schlmdem

und gleich zu töten, um so den Quell des Jammers an seinem

Ursprung zu verstopfen? wäre nie geboren?

Wär's nicht unendlich besser, das Kind

Woher nimmt man den Mut, Kinder in solch'

eine Welt zu setzen?

Und für dies Dasein soll ich Dankgebete

zum Himmel emporsenden? Dies ist die Stimmung in der Seele Kains, als er zum Opfer zu schreiten gezwungen wird, und durch Lucifers Reden

ist sie in ihm entwickelt worden.

Denn Lucifer zieht die Marter

der Kriecherei mit Hymnen und Harfen vor. kein Teufel.

Dieser Lucifer ist

Er sagt selbst (Akt 2, Sz. 2):

Wer sucht die Bitterkeit des Böseil Um ihrer selber willen? — Niemand! Nichts! Es ist der Sauerteig für Sein und Nichtsein. Er ist auch kein Mephistopheles; bis auf etliche wenige leichte

Scherze ist er streng ernsthaft.

Nein, dieser Lucifer ist wirklich

der Lichtbringer, der Genius der Wissenschaft, der stolze, trotzige

Geist der Kritik, der beste Freund des Menschen, gestürzt, weil er nicht kriechen und tilgen wollte, aber unbeugsam, weil er ewig wie

sein Feind ist.

Er ist der Geist der Freiheit.

Doch seltsam!

Er ist nicht der klare offene Kampf für die Freiheit, sondern der

Kampf für die Freiheit, wie sie Verschworene beseelt, finster und

unheimlich, lautlos auf verbotenen Wegen wandelnd, ein Freiheits­ drang wie derjenige, der 1821 alle die jungen verzweifelnden Frei­

heitskämpfer Europas beseelte. In seinem Buche „Die Gerechtigkeit in der Religion und in

der Kirche" ruft Proudhon dem Erzbischof von Besan(vn zu: „Die Freiheit, das ist Euer Antichrist! O komm Satan, Du von

den Priestern und Königen Verleumdeter, laß Dich von mir um­ armen, Dich an meine Brust drücken!

Deine Werke, o Du Ge­

benedeiter meines Herzens, sind nicht immer schön und gut; Du

allein aber verleihst dem Weltall einen Sinn.

Gerechtigkeit ohne Dich?

Ein Instinkt!

Was wäre die

Die Vernunft?

Eine

Der Mensch? Ein Tier."

Gewohnheit.

Der so verstandene Satan

ist nichts anderes als die freie Kritik, und wäre Byron's Poesie

nach ihm benannt worden, sie hätte sich des Namens „die satanische" Durch Lucifer wird Kain ein Geister­

nicht zu schämen gebraucht.

drama; denn Lucifer durchmißt mit seinem Jünger die unermeß­ lichen Räume des Universums, zeigt ihm alle Welten mit ihren

Bewohnern, das Reich des Todes und die in den Nebeln der Zukunft ruhendm,

noch ungeborenen Geschlechter.

Bon

Kain

fordert er weder blinden Glauben, noch blinde Unterwerfung.

Er

„Zweifle an mir, und du versinkst — glaube, und

spricht nicht:

du wirst emporgetragen!"

Er macht nicht den Glauben an sich

znr Bedingung für die Rettung Kains und fordert weder Kniefall

noch Dank.

Er öffnet Kain die Augen.

Dann kehrt Kain zur Erde zurück, und der erste Empörer läßt den ersten Totschläger mit sich allein als Beute seiner ver­

zehrenden Zweifel. Altar wählen.

Es soll geopfert werden und Kain soll einen

Was sind ihm die Altäre?

Steine und Rasen.

Er, dem das Leiden ein Greuel ist, mag nicht unschuldige Tiere zu Ehren eines blutdürstigen Gottes schlachten, er legt Früchte

auf seinen Altar? Schnur.

Abel spricht sein, ftommes Gebet nach der

Auch er soll beten.

Was soll er sagen?

Wenn du beschwichtigt werden mußt durch Opfer,

So nimm das meine, Gott!

Liebst du das Blut,

So nimm das Opfer Abels ....

Er, welcher diesen Altar aufgerichtet, Er — ist wie du ihn machtest.

Nichts begehrt er,

Was man durch Knien gewinnt.

Da zuckt der Blitz auf Abels Opfer hernieder, und das himm­

lische Feuer leckt begierig das Blut dieses Altars, während der Kains vom Wirbelwind verächtlich umgestürzt wird.

Hat denn

Gott sich des Schmerzes der blökenden Mütter gefreut, als ihre

Lämmer ihnen entrissen und zur Schlachtbank geführt wurden? * Shelley'? Einfluß ist in diesem Punkte unverkennbar.

Weidete er sich an der Qual der armen Tiere unter dem frommen

Messer? Kains Blut kocht, er will jenen Altar stürzen, allein Abel

hindert ihn daran und hält ihn zurück. — Hüte dich, dein Gott liebt Blut!

und von seinem Ingrimm, seinen Qualen, seinem

Schicksal bethört, fällt Kain in die Schlinge, die ihm der Herr

gelegt hat, begeht den ersten Mord, ohne zu wissen, was das heißt, ein Mord, und bringt so selbst den Tod in die Menschenwelt,

dessen bloßer Name, als er der Menschheit geweissagt wurde, ihn mit Entsetzen erfüllt hatte.

Die That ist bereut, noch bevor sie

verübt worden; denn Kain, der alle Menschen liebt, liebt Abel innig.

Doch nun folgt der Fluch, die Strafe, die Austreibung

und das Kainsmal.

Dies Kainszeichen ist das ureigene der Menschheit, der Qual und der Unsterblichkeit Zeichen.

Byron's Drama schildert den

Kampf zwischen der leidenden, strebenden Menschheit auf der einen Seite, und jenem Gott des Blitzes, des Sturmes und der Heerschaaren auf der andern, dessen geschwächte Arme genötigt werden,

eine Welt fahren zu lassen, die seinem Griffe sich entwindet.

Um

diese Welt, die ihn verleugnet, zu vertilgen, mag er Ströme Blutes fließen und Scheiterhaufen zu Hunderten von seinen Priestern ent­ zünden lassen, unversehrt steigt Kain aus der Asche des Holzstoßes

empor und

geißelt diese Priester mit unsterblicher Verachtung.

Kam ist die denkende Menschheit, die eines schönen Tages die alte

Wölbung des Himmels sprengt und Millionen von Weltkörpem in Freiheit hoch über Jahvehs tosendem Donnerwagen rollen sieht.

Kain ist die arbeitende Menschheit, im Schweiße ihres Angesichtes

bestrebt, ein neues, besseres Eden, keines der Unwissenheit, sondem eines der Erkenntnis und der Harmonie hervorzubringen.

Wenn

längst schon Jahveh in sein Leichentuch genäht ist, wird er noch

leben und beit wiedergefundenen Abel an die Brust drücken?

1 Leconte de Liale: Poemes barbares — Ostin.

Kain wurde Walter Scott gewidmet, welcher der Ansicht war,

daß Byron's Muse noch nie einen so erhabenen Flug genommen habe, und den Dichter im voraus gegen Angriffe in Schutz nahm.

Allein die Herausgabe des Werkes wurde in England nichtsdesto­

weniger als ein förmliches National-Unglück betrachtet und aus-

geschrien. Gleich nach Empfang des Manuskriptes setzte Murray alle Hebel in Bewegung, um Ändemngen zu erwirken. Byron erwiderte: „Die beiden Stellen können nicht geändert werden, ich ließe denn

Lucifer wie den Bischof von Lincoln reden, was dem Charakter

Unmittelbar nach dem Er­

des erstgenannten nicht entspräche."

scheinen des Buches wurde es nachgedruckt, und Murray wmdete sich an Lord Eldon, um möglichst schnell den Schutz seines Ber-

lagsrechtes zu erlangen.

folgenden Ausdrücken:

Er

wurde abgewiesen und zwar mit

„Das Gericht erkennt in Übereinstimmung

mit allen anderm Gerichten hier zu Lande, daß Christlichkeit das

Fundammt aller englischen Gesetze sei.

Auch der Schutz des Eigen­

tumsrechtes der Buchhändler beruht auf diesem Grunde.

Das

vorliegmde Buch jedoch, welches dm Zweck verfolgt, jenen Teil der heiligen Schrift, dem es mtspricht, herabzusetzen, ist nicht von

der Art, daß dem Berleger irgmd ein Schadenersatz für den Nachdmck zugebilligt werdm

könnte."

Kain wurde also — gleich

Southey's „Wat Tyler" — für eine so verbrecherische Dichtung erachtet,

daß

ihr

gegmüber nicht einmal

das Eigmtumsrecht

Geltung hatte. Moore

aber

schrieb

an

Byron:

furchtbar, wird nie vergessen werden.

sich der Welt tief ins Herz senken."

Urteil bestätigt.

„Kain

ist

wundervoll,

Irre ich nicht, so wird er Die Geschichte hat dies

XXI.

Als im Spätsommer 1816 der Strom der reisenden Eng­

länder die Schweiz zu überschwemmen begann, vermochte es Byron nicht länger dort auszuhalten, und er machte sich mit dem Reise­

gefährten seiner Jugend, Hobhouse, nach Italien auf.

In Mailand

traf einer der feinsten, unbestechlichsten Beobachter jener Zeit, Henry

Beyle, mit Byron zusammen, und es ist ein starker Beweis des

außerordmtlichen Eindruckes, welchen seine Persönlichkeit machte, daß er sogar diesen Mann bezauberte, der stets auf seiner Hut

war, sich nicht zu unzeitiger Begeisterung hinreißm zu lassen, der auch rasch entdeckte, was an Byron's Haltung gezwungm war.

Er

sagt: „Ich traf mit Lord Byron im La Scala-Theater, in der Loge des Ministers Brkme zusammen.

Mir fielen feilte Augen

auf in dem Momente, als er das Sextett von Meyerbeer's Elena

anhörte.

Nie in meinem Leben habe ich etwas so Schönes und so

Ausdrucksvolles gesehen. Noch heutigen Tags zeigt sich mir plötzlich

dieser sublime Kopf, wenn ich daran denke, welchen Ausdruck ein

großer Maler dem Genie gebm müßte. geistemng überkam mich

Ein Augenblick der Be-

Nie werde ich den göttlichen Aus-

druck dieser Züge vergessm; es war das klare Bewußtsein von Macht und Genie."

Bon Mailand kam Byron nach Venedig, seiner Lieblingsstadt vor allen andern, die er im werten Gesang von Harolds Pilger­ fahrt, in „Marino Falieri", in dm „beidm Foscari", in der „Ode an Bmedig" und endlich in dem an Ort und Stelle geschriebenm

„Beppo" verherrlicht hat.

Noch nie war sein Gemüt so bedrückt

gewesen wie in diesem Augenblick, nie hatte er so sehr der Ver­

gessenheit bedurft.

Das entzückende Klima, die zauberische Luft

Italiens wehtm ihm zum ersten Male warm entgegen.

Er war

Mit seinen schönen Frauen, feinen

neunundzwanzig Jahre alt.

leichtfertigen Sitten, seinem ganzen südländischen Leben lud Venedig zu einem Taumel und Rausch der Sinne ein.

Ein heißer Drang

nach Glück und Gennß lag in seiner Natur, und sein Trotz war

aufs Äußerste entflammt. schweifung fähig.

Man hielt ihn ja doch jeder Aus­

Er konnte daher ebm so gut seinen reisendm

Landsleuten etwas nach Hause zu schreiben in der That Anlaß

geben, und dm alten Damen in Ohnmacht zu fallen Gelegenheit schaffen — geschah dies ja doch, wie er sich auch geberden mochte. Das erste in Venedig war für Byron, sich eine Gondel, einen

Gondoliere, eine Loge im Theater und eine Geliebte anzuschaffen. Die letztere fand er leicht; er hatte sich bei einem Kaufmann ein­

logiert, dessen junge, zweiundzwanzigjährige Gattin, Mariana Segati, als eine Antilope mit großm dunkeln Augen geschildert wird.

Sie

und Byron verliebtm sich so heftig ineinander, daß Byron Hobhouse

allein nckch Rom reisen ließ.

„Ich wäre mitgereist," schreibt er,

Die

„bin aber verliebt und muß wartm, bis es vorüber ist." junge Frau schleppte ihn zu allm Kamevalslustbarkeitm mit.

Er lebte ganz auf venezianische Art, durchschwärmte die Nächte,

beobachtete — aus Furcht beleibt zu werden — seine gewohnte Fastmdiät,

lebte

ausschließlich

von

Pflanzenkost

und

mußte

sein Lieblingsgetränk, Rum mit Wasser, in großm Qnantitäten trinkm, um die Lebensgeister rege zu erhalten.

Zeit vollendete er feinen Manfred.

Dmn zur selbm

Es giebt ein trauriges Bild

von der damaligm Zerfahrenheit seines Lebens, daß er, einzig um

wider die Zerstrmungm ein Gegengewicht zu haben und feinen Tagen einen Schwerpunkt zu verleihen, täglich einige Stunden da­

mit verbrachte, bei dm Mönchen im Kloster San Lazaro armmisch

zu lernen.

Er ließ seine Pferde nach Venedig bringen, und wie

die Vormittage dem Armenischen, so wurden die Abende körper­ lichen Übungen, namentlich dem Reiten gewidmet.

Mit Shelley

und andern Freunden ließ er sich in einer Gondel nach dem Lido übersetzen, wo man auf und ab ritt.

Eine

Erinnerung

an

Byron's

Gespräche

während

Spazierritte ist uns in Shelley's „Julian und Maddolo" bewahrt.

dieser auf­

Er und Shelley erblicken bei Sonnenuntergang auf einer

der Inseln einen fensterlosen, unförmlichen Turm, der sich im Relief dunkel von dem flammenden Himmel hinter ihm abhebt.

Sie hören von drüben die Glocke mit ihrer heiseren Erzzunge. „Was wir sehen," sagte Byron, „ist das Irrenhaus." Und dieses Läuten zum Gebete ruft Die Irren jetzt aus ihrer Zellengruft.

Dies ist ein Bild von unserm Erdenleben, Und wie ein Gleichnis ist es uns gegeben. Gleich jener schwarzen dumpfen Glocke dort

Muß unsre Seele rufen immerfort In ihrem Tnrm, umglänzt von Himmelsscheinen, Daß sich die Wünsche und Gedanken einen

Um das zerrissene Herz, und beten wie

Wahnwitzige — um was?

Das wiffen sie

Nicht eh'r, als bis der Tod, wie Finsternis

Die Farben jener Vision zerriß.

Uns die Erinnrung unsres Ichs entreißt.

Kein Gleichnis vermöchte Byron's Lebm zu diesem Zeitpunkte besser zu schildern.

Wahrlich, seine damaligen Wünsche und Be­

gierden glichen Wahnsinnigen, welche die Glocke des Narrenturmes nur einmal täglich zusammenläutete. Mit Mühe riß er sich, nachdem er in der ungesunden Luft

Venedigs sich ein hitziges Fieber zugezogen hatte, für so lange von Mariana Segati los, daß er auf einem kurzm Ausfluge Ferrara

und Rom besuchen konnte.

Nach seiner Rückkunft aber verschwand

die heftige Leidenschaft für sie, da Byron entdeckte, daß sie das Ge­

schmeide, welches er ihr gab, verkaufte und überhaupt ihr Verhältnis

mit ihm sich so einträglich als möglich zu machen suchte.

Während

seines ersten Aufenthaltes in Venedig hatte er vorzugsweise die gute Gesellschaft, welche sich besonders in dem Salon der litterarisch gebildetm Gräfin Albrizzi versammelte, aufgesucht; jetzt zog er sich völlig aus dem

Machtbereich des guten Tones zurück.

Er mietete für sich und seine

Menagerie einen prächtigen Palast an dem Canal grande.

Dieser

Palast verwandelte sich bald in einen Harem, und Lieblingssultanin

in demselbm ward ein Weib aus dem Volke, Margarita Cogni, die, als die Frau eines Bäckers, auf dem Kupferstiche, den sein

Verleger von ihr herstellen ließ, Byron's Fornarina genannt wurde.

Ihr Antlitz war vom schönsten venezianischen Schnitt, ihre Gestalt vielleicht etwas zu groß, doch dämm nicht wmiger schön und für die Nationaltracht wie geschaffen.

Sie besaß die ganze Naivetät

und Possierlichkeit der vmezianischen unterm Klasse, und da sie

weder

lesen noch

schreiben konnte,

mit Briefm zu behelligm.

vermochte sie Byron nicht

Sie war eifersüchtig, riß vomehmm

Damm die Maske vom Gesicht, wenn sie dieselben in Byron's

Gesellschaft sah, und kam zu ihm, wann es ihr beliebte, ohne sich um Zeit, Ort oder Personen zu kümmern.

In einem Briefe sagt

Byron von ihr: „Als ich ihre Bekanntschaft machte, stand ich mit einer vomehmm Dame in Verbindung, die unklug genug war, ihr zu drohen.

Die so von der Dame herausgeforderte Margarita

schlug ihr Kopftuch zurück und entgegnete in ihrer resoluten ve­

nezianischen Manier: nicht seine Frau.

liebte.

Ihr seid nicht seine Frau, und ich bin

Ihr seid seine Geliebte, und ich bin seine Ge­

Euer Mann ist ein Tropf, und mein Mann ist ein Tropf.

Ist es meine Schuld, daß er mich lieber mag? — Nachdem sie

dies Meisterstück von Beredsamkeit vom Stapel gelassen, ging sie ihrer Wege und überließ es der Dame, über ihre Worte anchzu-

denken."

Schließlich warf sie sich bei Byron förmlich zur obersten

Leiterin des Hauses auf, schränkte durch strenge Ordnung seine

Ausgabm auf die Hälfte ein und spazierte im Schleppkleide, auf

Brjtoti.

Komischer enb tragischer Kealtsmüs.

385

dem Kopfe einen Federhut — Prachtgegenstände, deren Erlangung das

höchste Ziel ihres Ehrgeizes gewesen — im Palaste umher,

prügelte die Mägde, öffnete Byron's Briefe und zerbrach sich dm

Kopf,

das Alphabet zu erlernen, um die Damenbriefe darunter

entdecken zu können.

Sie liebte ihn mit dem ganzm Ungestüm

ihres Wesens; ihre Freude, als sie ihn von einer gefährlichen Segelpartie heimkehren

sah,

glich

der einer Tigerin,

die

ihr

Junges wieder erhält, und als ihre stets zunehmende Unbändigkeit

Byron nötigte, sie zu entfernen, stürzte sie sich, nachdem sie ihn mit einem Messer zu verwunden gesucht hatte, in ihrem Groll

und ihrer Verzweiflung nachts in den Kanal.

Sie wurde recht­

zeitig aufgefischt und nach Hause gebracht, und Byron schrieb

Murray mit breiter Ausführlichkeit ihre Geschichte; er wußte, daß seine Briefe an den Verleger ganz wie Drucksachen oder öffentliche Urkundm von Hand zu Hand gingen, und das Vergnügen an

seinen Ausschweifungen wäre ihm nur ein halbes gewesm, hätte er sich nicht zugleich des Ärgernisses vergewissert, das er damit in England gab. Schon aus dem angeführten Briefe ist zu ersehen, daß er in

dem zügellosen vmezianischen Leben nicht aufging; er gewann ihm

eine komische, eine humoristische Seite ab.

Es war dmn auch für

seine Entwicklung in geistiger und dichterischer Hinsicht nicht verloren.

Während daheim seine Freunde trostlos waren, ihn so seine Würde

aufs Spiel setzm und sich um die bürgerliche Achtung bringen zu sehen, entsprang diesem wilden, luftigen Karnevalsleben inmitten von

Frauen aus dem Volke und unter der lachmdm Sonne Italiens

ein neuer, sich an die Wirklichkeit schmiegmder Stil in seiner Poesie.

In

seinen Jugenddichtungen

hatte

er

wehmütig

und

schmerzzerrissen die Ebbe des Lebens geschildert, in „Beppo" er­ hob sich plötzlich des Lebens Springflut.

Es war der Realismus

des Humors, die WiMchkeit des Lebens in Scherz und Lachen aufgelöst.

Seinem frühesten Pathos hätte etwas Eintöniges und

Brandes, Litteratur des 19. Jahrh. IV.

25

ein gut Teil Manieriertheit angehaftet.

Hier häutete sich sein

Genius, ein stetes Sichkreuzen mannigfacher Themata und Ton­ arten unterbrach die Einförmigkeit, und alle Manier war wie hin­

weggeblasen von herzlichem Lachen.

In seinen frühesten Satiren

hätte eine ziemliche Bissigkeit obgewaltet, Grazie und Laune hingegen

sich gar sehr vermissen lassen.

Nun, da sein eigenes Leben für

eine kurze Weite das Gepräge eines Fastnachtsspieles angenommen

hatte, schlang die Grazie von selbst ihrm Steigen durch seine

Strophen, während die Schellen des Humors den Takt dazu klingelten. „Beppo" ist der Kameval von Venedig selbst — jenes alte Thema, welches Byron, ein zweiter Paganini, auf seinem Wege

fand, auf die Spitze seines göttlichen Violinbogens hob und nun mit einer Überfülle von kecken und genialen Variationen, mit

Perlenstickereien

und

goldenen

Arabesken

in

verschwenderischer

Pracht ausstattete.

Gerade in jetten Tagen war ihm ein mglisches komisches Ge­ dicht von König Arthur und dm Rittern der Tafelrunde in die Hand gekommen, dessm Verfasser, der Diplomat John Frere, hier des

Italieners Bemi Umdichtung von Bojardos „Rasendem Roland", dem ersten Gedichte, in welchem Ottave Stinte angewendet sind, nach­

geahmt hatte. versuchen, und

Die Lust regte sich bei Byron, etwas ähnliches zu

aus der Nachahmung ging der obm erwähnte

künstlerische Scherz hervor, dessm vollendete Originalität jede Er-

innerung an ein Vorbild auslöscht. Hier hatte er die Form gefun­ den, die er brauchm konnte, die Waffe, die ihm handgerecht war: die Ottave Stinte mit ihrem dreifach gereimten Sextett, an deffm

Stamm der Endreim bald ein Fant, bald einen Scherz, bald eine sprachliche Ausgeläffmheit, bald einen schwirrenden Witzpfeil anfügt.

Wovvn das Gedicht handelt? Von ebensowenig wie Muffels

„Namouna" oder Paludan-Müller's „Tänzerin", die beide 16 Jähre später, 1833, in verwandtem Stile geschrieben wurden. Die Hand-

lung ist ein Nichts: Ein Benctianer, der sich auf eine weite Reise begeben, bleibt so lange aus, daß die zurückgelassene Gattin ihn

längst für todt gehalten hat und längst wieder so gut wie ver­

heiratet ist, als er, der als türkischer Sklave verkauft gewesen,

plötzlich heimkehrt und, als Türke gekleidet, sein Weib am Arme seines mehrjährigm Nachfolgers auf einem Maskenballe antrifft.

Er steht nach Bemdigung des Balles an der Pforte seines Hauses, als das Paar aus der Gondel steigt.

Nachdem alle drei sich von

der ersten Überraschung erholt habm, verlangen sie drei Tafsm

Kaffee, und nun entspinnt sich folgmdes Gespräch: O Himmel, wie dein Bart gewachsen ist!

Was fiel dir ein, daß du so lange bliebst?

Du ahnst wohl kaum, was du für Anstoß giebst? Und bist du Türke? ist es keine Fabel,

Und hast du einen Harem? Ist es wahr. Daß sie die Finger brauchen statt der Gabel? Gott, welch ein Shaw! — den krieg' ich, das ist klar! — Und Schweinefleisch kommt nie in euren Schnabel?

Das ist die ganze Erklärung, die der Mann fordert oder

erhält; er mtlehnt, da er in seinem Kostüm nicht ausgehen kann, vorläufig ein Paar Beinkleider von seinem Nachfolger, Laura's

Cavaliere servente, und die Geschichte endet in voller Harmonie.

Sie ist an und für srch von untergeordneter Bedeutung; allein sie war für Byron die Vorschule zu seinem Meisterwerke „Don Juan" — das einzige von Byron's Werken, das bett ganzen weiten Ozean

des Lebens, mit seinen Stürmen und seinem Sonnenschein, seiner

Ebbe und Flut, umspannt und in sich birgt. Byron's Freunde unternahmen einen Schritt nach dem anderen,

um ihn zur Rückkehr nach England zu bewegen und ihn so dem Leben, das er führte, zu entreißen.

Alles Zuredm war stuchtlos.

Statt heimzukehren, verkaufte er für 94,000 Pfund seinen Herrensitz

Newstead Abbey, dessen fich nie entäußem zu wollen er in seiner Jugend erklärt hatte, und so fest entschloffen war er, nie wieder 25*

in sein Vaterland zurückzukehren, daß er sogar mit Schrecken der

Möglichkeit gedachte, als Leiche nach England überführt zu werden.

Er schreibt: „Ich hoffe, niemand wird daran denken, mich zu kon­ servieren und einzubalsamieren, um mich nach der Heimat zurück­

zubringen. Meine Gebeine würden keine Ruhe finden in einem eng­ lischen Grabe, und mein Staub sich mit dem Staube des Landes

nicht vermischen können.

Der Gedanke, daß einer meiner Freunde

so schlecht sein könnte, meine Leiche in Euer Land überzuführen, könnte mich noch auf dem Totenbette rasend machen.

Nicht ein­

mal Euren Würmern will ich zum Futter dienen."

Da traf eine Begebenheit ein, die der polygamischen Existenz,

die Byron in Venedig führte, ein unvorhergesehenes Ende be­ reitete und entscheidende Bedeutung für sein Leben gewann.

Im

April 1819 wurde Byron in einer Gesellschaft der jugendlichen

sechzehnjährigen Gräfin Teresa Guiccioli, geborenen Gräfin Gamba, vorgestellt, die damals eben dem einige sechzig Jahre alten Grafen Guiccioli, der schon zweimal Witwer gewesen, angettaut wordm

war.

Die Vorstellung fand gegen beider Wunsch statt; die junge

Gräfin war müde und wünschte nach Hause zu kommen, Byron mochte nicht gerne neue Bekanntschaften machen; beide gaben aus Höflichkeit gegen die Hausfrau nach.

Doch von dem ersten Augen­

blicke an, wo sie miteinander sprachen, wurde ein Funke in beider Seelen geworfen, der nie wieder erlosch.

Die Gräfin sagt: „Seine

wunderbar schönen, edlen Züge» der Klang seiner (Stimme, sein

Wesen und der unbeschreibliche Zauber, der ihn umgab, machten ihn zu einer Erscheinung, die alles, was ich zuvor gesehen hatte,

überragte.

Bon dem Abende an sahen wir uns täglich während

meines Aufenthaltes, in Venedig."

Nach Verlauf von wenigen Wochen mußte Teresa mit ihrem

Gatten nach Hause zurückkehren.

Dieser Abschied erschütterte sie

dermaßen, daß sie den ersten Tag mehrmals in Ohnmacht und hierauf

in eine so heftige Krankheit fiel,

daß

sie halbtot in

Dyron.

Komischer und tragischer Realismus.

ihrem neuen Heim anlangte. Mutter.

389

Zur selben Zeit verlor sie ihre

Der Graf besaß verschiedene Landhäuser und Schlösser

zwischen Venedig und Ravenna, und von jeder dieser Raststellen richtete Teresa die leidenschaftlichsten Briefe an Byron, worin sie

ihrer Verzweiflung über die Trennung Ausdruck gab und ihn nach

Ravenna zu kommen beschwor. die sie nach

Anziehend ist die Schildemng,

der Ankunft von dem Umschwung in ihrem ganzen

Gefühlsleben giebt.

Während sie früher nur von Festen und

Bällen träumte, habe ihre Liebe, sagt sie, nun so ihr Wesen ver­ wandelt, daß sie, dem Wunsche Byron's folgend, alle Gesellschaften

meide und in tiefer Einsamkeit sich nur mit Lektüre, Musik, Reiten und häuslichen Verrichtungen beschäftige.

Sie wurde vor Sehn­

sucht und Gram gefährlich krank; ein schleichendes Fieber schien an ihrem Leben zu zehren, und Anzeichen der Schwindsucht stellten

sich ein.

So machte denn Byron sich auf den Weg.

Er fand

die Gräfin bettlägerig, hustend, Blut speiend und allem Anscheine

nach dem Tode nahe.

krank.

Er schreibt: „Ich fürchte sehr, sie ist brust­

So geht es mit jeder Sache, mit jeder Person, für die ich

wahre Hingebung empfinde.

Wenn aber ihr ein Unglück zustößt,

so ist es aus mit diesem Herzen — dies ist meine letzte Liebe. Die Ausschweifungen, denen ich mich ftüher hingab, und deren ich herzlich überdrüssig bin, haben wenigstens das eine Gute gehabt,

daß ich nun in des Wortes edlerer Bedeutung Liebe zu fühlen

vermag."

Das Benehmen des Grafen gegen den jungen Fremden

setzte jedermann in Erstaunen; er war äußerst höflich, holte ihn

täglich in einem Sechsspänner ab und fuhr mit ihm, wie Byron sich ausdrückt, „wie Whittington mit seiner Katze" umher.

Byron fühlte sich in der Nähe seiner Geliebten äußerst glücklich.

Das Gefühlsleben seiner frühen Jugend war ihm mit dieser seiner einzigen vollen und erwiderten Liebe zurückgekehrt.

Gedicht Stanzas on the Po,

Das reizende

das von tiefem und ritterlichem

Gefühle zeugt und mit dem inbrünstigen Wunsche, jung zu sterben,

endigt, war die erste Frucht seiner neuen Leidenschaft.

Wahrhaft,

von ganzem Herzen liebte er, liebte wie ein Jüngling, ohne im

geringsten außerhalb seines Gefühles zu stehen oder zu versuchen, sich über dasselbe zu erheben.

Als die Gräfin im August für

einige Zeit ihren Gemahl auf einem Ausfluge nach seinen Gutem

zu begleiten genötigt war, besuchte er täglich das Haus seiner Ge­

liebten, ließ sich ihre Zimmer öffnen, las in ihren Lieblingsbüchem und versah dieselben mit Randbemerkungen,

In einem Exemplare

von Corinne hat man folgende Worte gefunden: „Meine geliebte

Teresa — ich habe dies Buch in Deinem Garten gelesen — meine Geliebte, Du warst abwesend, sonst hätte ich es nicht lesen könnm.

Es ist eines Deiner Lieblingsbücher, und seine Verfasserin war meine Freundin. Du kannst diese englischen Worte nicht verstehen — auch andere werden sie nicht verstehen können — dies die Ursache,

weshalb ich sie nicht auf italienisch hingekritzelt habe.

Doch Du

wirst die Handschrift dessen erkennen, der Dich leidenschaftlich liebt,

wirst erraten, daß er, mit einem Deiner Bücher in der Hand, nur an Liebe denken konnte.

In diesem Worte, das in allen Sprachen

schön, doch am schönsten in der Deinen klingt — amor mio — ist mein Dasein für jetzt und für alle Zukunft beschlossen. ....

Denk zuweilen an mich, wenn die Alpm und das Meer uns trennen, doch das wird nie geschehen, es sei denn, Du wünschtest

es."

Mm braucht nicht erst diese Ausdrücke mit dem Abschieds­

briefe an Lady Lamb zu vergleichm, um zu fühlen, daß dies die Sprache einer wahren, innigen Liebe ist. Als im September der Graf in Geschäften nach Ravenna be-

rufett wurde, gestattete er seiner jungen Gemahlin und Byron, miteinander frei in Bologna zu verkehren und später zusammen

nach Venedig zu reifen, wo sie unter Einem Dache wohnten, indem die Gräfin Aufenthalt in Byron's Landhause La Mra nahm.

Sie schreibt nach Byron's Tode in einem Briefe an Moore von jenen Hagen:

„Doch ich kam nicht bei .diesen glücklichen Er-

innerungen verweilen — der Gegensatz von damals und jetzt ist

zu furchtbar.

Wenn ein seliger Geist aus dem vollen Genusse

himmlischer Glückseligkeit auf die Erde herabgeseudet würde, um

all ihr Elend zu erdulden, das Leid könnte nicht größer fein, als das, welches ich seit dem Augenblicke empfinde, da jenes schreckliche

Wort mein Ohr traf, und ich für immer der Hoffnung entsagen mußte, ihn wiederzusehen, von dem ein Blick mir mehr als alles

Glück der Erde war." Die junge Frau, der es die Welt verdankt, daß Byron

nicht in unwürdigen Zerstreuungen zu Grunde ging, hatte von dem Augenblicke an, wo sie Aufenthalt in seinem Landhause nahm, sich in den Augen ihrer Landsleute unwiderbringlich bloßgestellt.

Der Moralkodex der damaligen Zeit — vortrefflich dargestellt

in Stendhal's italienischen Erzählungen — gestattete der jungen Frau einen Freund (amico) zu haben, ja betrachtete sogar diesen als ihren eigentlichen Gatten, doch nur unter der Bedingung,

daß die, nun von ihr verletzten äußeren Formen gewahrt werden.

Es war nicht Leichtsinn, was sie bewog, sich dem Tadel der

öffentlichen Meinung auszusetzen; ihr Verhältnis zu Lord Byron erschien ihr in poetischem Lichte.

Sie betrachtete es als ihre

Lebensaufgabe, durch ihre Liebe einen edlen und hochbegabten Dichter

aus den Banden unedler Verhältnisse zu erlösen und chm dm Glauben an reine, aufopfernde Liebe wiederzugebm.

Sie hoffte

als eine Muse auf ihn zu wirken, war sie doch blutjung und un­ gewöhnlich schön.

Sie war hellblond, mit dunkeln Augen, klein,

aber herrlich gebaut.

Der amerikanische Maler West, der in der

Villa Rossa bei Pisa Byron malte, hat folgmdes Bild von ihr.

gegeben:

„Während ich ihn malte, verdunkelte sich plötzlich das

Fenster, durch welches das Licht hereindrang, und ich hörte eine Stimme rufen: E troppo bello!

Ich wendete mich um und er­

blickte ein reizend schönes Weib, welches sich niederbmgte, nm hereinzuschauen, da der Garten draußen in gleicher Höhe mit dem

Fenster war.

Ihr langes, goldenes Haar fiel über Gesicht und

Nacken, ihre Gestalt war vollendet schön, und ihr Lächeln vervollständigte den Liebreiz eines der romantischsten Köpfchen, das ich

je gesehen, besonders wie es hier sich zeigte, von einer Glorie von Sonnenschein umflossen."

Je mehr der Gräfin nun daran lag und

daran liegen mußte, nicht als eine der vielen Geliebten Byron's

angesehen zu werden, umso lebhafter wünschte sie, seine Poesie in

eine höhere, reinere Sphäre, als es die war, worin sie sich da­ mals bewegte, emporzuheben.

Eines Abends, als Byron in der Handschrift des „Don

Juan" blätterte, von welchem zwei Gesänge fertig Vorlagen, ehe sich die Bekanntschaft mit der Gräfin entsponnen hatte, trat diese hinter seinen Sessel, deutete auf die Stelle, die er eben überlas

und frug ihn, was dort stünde.

Es war gerade die 137. Strophe

des ersten Gesanges, und Byron erwiderte auf italienisch: „Dein „O Gott, er kommt," rief die Gräfin, erschrocken

Mann kommt."

znrückfahrmd; sie glaubte, er spräche von ihrem eigenen Manne.

Dieser Zufall weckte ihr Verlangen, „Don Juan" tarnen zu lernen, und als er ihr die beiden ersten Gesänge in französischer Übersetzung

vorgelesen hatte, beschwor sie Byron, weiblich über dm Cynismus

des Inhaltes mtsetzt, das Gedicht nicht fortzusetzen.

Er versprach

augenblicklich seiner Dictatrice alles, was sie begehrte.

Dies

war der erste unmittelbare Einfluß, den die Gräfin Giuccioli auf Byron's Produktion ausübte — keinen guten diesmal fürwahr —

sie nahm jedoch ihr Verbot alsbald zurück, wiewohl unter der

Bedingung,

daß

in dm weiteren noch

ungeschriebenen Teilm

nichts Schlüpfriges mehr voMme, und das Zusammmleben mit ihr

setzte sich in der nächstm Zeit eine Reihe der schönstm, unvergäng­ lichsten Dmkmäler in dm Werken, die fortan ans Byron's Feder

hervorgingen.

Die Art wie in „Don Juan" der Schleier von

allm Illusionen gerissen war, der schonungslose Spott, der mit der Empfindsamkeit

getrieben wurde,

verletzte die Gräfin als

Weib; denn ungern sieht das Weib die letzten Hüllen von den

Blendwerken gerissen, welche, so lange sie währen, das Leben verschönen. Strebte nun aber die Gräfin, Byron jener Art von Pro­

duktion,

welche den Glauben an die Menschen und den Wert

des Menschenlebens herabstimmt, abwendig zu machen, so bewog

sie mit ihrem romantischen Sinne für das Großartige und als leidenschaftliche Patriotin ihren Geliebten, Stoffe zu wählen, welche das Gemüt ihrer Landsleute zu erheben, in ihnen Begeisterung

für die Befreiung des Vaterlandes vom Joche der Fremdherrschaft

hervorzurufen vermochten.

Auf ihren Wunsch schrieb Byron die

„Weissagung Dante's" und übersetzte dessen berühmte Verse über

Francesca da Rimini's Liebe,

wie er auch die venetianischen

Dramen „Marino Falieri" und „Foscari" unter ihrem Einflüsse schuf, Dramen, die, obgleich in englischer Sprache geschriebm, durch

Stil und Stoff in Wirklichkeit weit eher der romanischen als der englischen Litteratur angehören, thatsächlich auch nicht der eng­

lischen, sondern der italienischen Bühne einverleibt sind.

Es sind

leidenschaftliche politische Tendenzstücke, deren Zweck es war, durch die stärksten Wirkungsmittel die in Stumpfsinn versunkenen italie­

nischen Patrioten anzufeuern, sich wie Ein Mann gegen die Unter­ drückung zu erheben.

Unter dem ersten Eindrücke seines Liebes­

verhältnisses zur Gräfin schrieb Byron überdies „Mazeppa", dessen Geliebte ihren Namen trug, und direkt ging endlich ihre Persön­

lichkeit in die beiden schönsten und besten Frauengestalten über, die Byron in diesem Zeitraume hervorbrachte: Adah in „Kain" und Myrrha in „Sardanapal". In der Gräfin Gniccioli fand Byron das weibliche Ideal

verwirklicht, welches ihm stets vorgeschwebt hatte, das ihm jedoch

in feinen ersten poetischen Erzählungen natürlich darzustellen nicht geglückt war.

Er hat selbst einmal Lady Blessington ein naives

Bekenntnis über die Schwierigkeiten, die sich ihm darboten, sowie

Über die Art und Weise, wie er seine Ideale gestalte, abgelegt. „Ich liebe," sagte er, „gar sehr die üppigen Frauen, allein diese

habm feiten so schöne, schlanke Finger, wie sie zum Ideal einer

Frau passen; ich mußte also, um meiner Phantasie Genüge zu thun, mir selbst Frauen und junge Mädchen schaffen, die alles in sich

Bereinigen, was sich sonst nicht beisammen findet. — Ich liebe ferner

nur einfache, natürliche Frauen, allein diese sind in der Regel nicht gebildet, noch mit den Formen des feinen Anstandes vertraut, und

die feinen und gebildeten sind wiederum nicht natürlich. Deshalb

bin ich auf die griechischen Mädchen verfallen, die mit unbewußter

Anmut und Naivetät zugleich die höchste angeborene Feinheit der

Gedanken und Gefühle vereinen."

Die so entstandene Mischung

war ebenso unmöglich als schön, trug so gut wie gar nicht den Stempel der Wirklichkeit an sich und entsprach insofern ganz dem Charakter der Helden, welche diese Frauen anbeten.

Alle erzählenden Dichtungen Byron's vom „Giaur" bis zur

„Belagerung von Korinth" sind romantisch, doch mit einem starten persönlichen Gepräge. Die Leidmschast wird bei beiden Geschlechtern

vergöttert.

Alle diese Helden sind, um einen Ausdruck des „Giaur"

zu gebrauchen, von der Leidmschast verheerte Wracks, die aber lieber von den Stürmm sich umherschleudern lassen, als dahin-

zulebm in träger Ruhe.

Sie

lieben

nicht

mit

jenem kalten

Blute,' wie es ein kaltes Klima zeugt, ihre Herzen speien „Lavaflammm."

Bon diesen jetzt so veralteten Byron'schm Heldm ist

die ausgeprägteste Gestalt der edle Seeräuber, der Korsar, der stolz, launenhaft und voll Hohn gegen die Menschheit, rachgierig bis zur

Grausamkeit, von Gewiffmsbissen gefoltert wird und so edel und hochherzig ist, daß er sich lieber den barbarischsten Foltem unter­

wirft, als daß er einen schlafenden Feind erschlüge.

Der inter­

essante Bandit mit den geheimnisvollen Gesichtszügen, dertheatraüschm Haltung und schrankenlosm Ritterlichkeit gegen Frauen ist

das

Byron'sche Seitmstück

zu

Schiller's „Karl Moor".

Zu

seinem Mannesideal paßte der König eines gesetzmäßig geordneten

Staates, umgeben von Hofregeln, nur schlecht; ein solcher er­ mangelt der romantischen Thaten, des freien Lebens an dm Küstm

und

auf dem Meere.

So nahm denn Byron einen Seeräuber­

häuptling und fügte den aus dessen Prosession sich ergebmden Eigenschaften die zartesten seiner eigenen Seele hinzu.

Der Korsar,

der gewohnt ist, in Blut zu waten, schaudert vor der jungen Sultanin, die ihn liebt, zurück, als er den Keinen Blutfleck auf ihrer «Stirn gewahrt — nicht, weil von einem Korsar ein Zurückschaudem vor einer solchen Kleinigkeit anzunehmen ist, sondem weil

Byron selbst Schauder vor solch einem Anblicke empfunden hätte.

Kurz, alle diese Jugendhelden und -Heldinnen des Dichters fanden

bei der Menge nur deshalb so großen Anklang, weil sie — wie tteffend von ihnen gesagt wordm — sich stets dort bewegm, wo

sie keine Gelmke haben.

Das Publikum war nicht entzückter über

die flammende Leidenschaft der lyrischen Partim und die losen (gewöhnlich

erst währmd

der

Korrektur)

eingesetzten

poeüschen

Perlm, als über das Unmögliche der Bewegungen, die außerhalb des Bereiches der menschlichen Natur tagen.

Es war eine Be-

wundemng nach Art der dem kühnm Akrobaten gezolltm, der

unter naturwidrigen Verrenkungen seines Körpers halsbrecherische

Kunststücke ausführt. Immerhin bringen diese Gestalten einzelne Anklänge an tiefere

Züge des Byron'schen Ideals, die nun zum Durchbmch kommen. Des Korsar's Standhaftigkeit inmitten von Leiden deutet bereits auf die Unbeugsamkeit Manfted's hin; er will so wenig das Knie

bmgm, wie Kain vor Lucifer oder Don Juan vor Gulbeyaz knien will.

Das Mitleid mit dem Niedrigergestelltm, das nie aus

Byron's Seele schwand, ist schon, wmn auch zumeist als „Haß

gegen die Herren" bei „Lara" lebendig, und die ^Begeisterung für die Befreiung Griechenlands bricht schon im „Giaur" wie in der

„Belagerung von Korinth" hervor.

Merkwürdigerweise beschloß

ja der Dichter selbst sein Leben als der Befehlshaber wilder

Männer vom Schlage derer, die er besungen hat. Das Wikingerblut in seinen Adern gönnte ihm nicht eher Ruhe, als bis er selbst

ein Wikingerkönig gleich jenen Normannen geworden war, von betten er abstammte.

Und sind auch alle diese Desperados (der

Renegat Alp, der die Türken gegen seine eigenen Landsleute fuhrt, nicht minder als Lara, der mit seinen eigenen Standesgenossen in Fehde liegt) von innen aus gestaltete Traumgebilde, Ein wirklich­

keitstreuer Zug geht doch durch alle diese Gestalten, derselbe, der

in allen den später sich anreihenden als der vorherrschende auftritt, der Realismus großgearteten Leidens.

Der Humor in Beppo ist

die Form, unter welcher die Naturtreue das Theatralische und Manierierte seiner früheren Werke überwindet.

Das Mitgefühl für

das menschliche Leid, das in Byron's ernster Dichtung allmählich

das Interesse für alles andere verschlingt, ist die Form, worin das Gefühl für die wirkliche Beschaffenheit des Lebens das Roman­

tische bei ihm durchbricht und vernichtet.

Dies Gefühl war nach dem Bruche mit England schneidender

und

wahrer

denn

je zuvor geworden.

„Der Gefangene von

Chillon" hatte die Qualm geschildert, welche der edle Bonnivard

litt, der, sechs volle Jahre an einem unterirdischen Pfeiler mit einer so kurzen Kette gefesselt, daß er sich nicht auf dm Boden strecken

konnte, seine an die nächsten Pfeiler in gleicher Weise geketteten Brüder sterben sah, ohne ihnen eine helfende Hand reichen zu

können.

Nun folgte in derselben Spur „Mazeppa", der Jüngling,

gebundm auf den Rücken des wildm Rosses, das mit triefender Mähne und dampfmdm Flanken durch Wälder und über Steppm

saust, während er selbst, Qual hinter sich und Grausen vor sich, von der Seite der Geliebtm gerissen, von Durst, von Wunden

und Schmach gepeinigt wird.

Bisher hatte Byron insbesondere

das für Fleisch und Blut Entsetzlichste ausgesucht; selbst wo das Leidm, wie bei Bonnivard, eine geistige Seite darbot und der Stoff

Gelegenheit zur Schilderung einer heldmmütigen Persönlichkeit gab,

hatte er mit Vorliebe die rein körperliche Qual geschildert.

Jetzt,

da in ihm Sympathie für die großen Männer Italiens geweckt

wurde, adelte sich seine Auffassung des Tragischen. In der „Weissagung Dante's"

schildert er das Dichterlos

mit diesen Worten: Gar mancher ist Poet, der nicht so heibt.

Denn was ist Dichten?

Böses oder Gutes

Erschaffen durch zuviel Gefühl und Geist;

Zum Himmel stimmen überird'schen Mutes, Neuer Prometheus neuen Menschen sein. Der Spender eines gottgeraubten Gutes,

Und dann zu spät entdecken, daß mit Pein

Die Welt belohnt die Bringer solcher Lust, Die so umsonst den hohen Schatz verleih'«.

Die Geier nagen an des Gebers Brust;

Einsam am Felsen hängt er überm Meer —

Und Byron läßt dm großen, gleich ihm selbst ungerecht ver­ bannten Dichter ausrufen: Dies ist's, was Geistern meines Ranges droht:

Im Leben Folter und endloses Ringen, Ein Herz, das sich verzehrt, einsamer Tod.

Schon früher hatte er „Taffo" behandelt. tiger Vergleich zwischen Goethe's „Taffo"

Selbst ein flüch­

und Byron's „Klage

Tasso's" zeigt, mit welcher Leidenschaft Byron's Phantasie das hoffnungslose Leid auffucht.

Goethe nimmt Taffo als Jüngling,

als liebend, als dichtmd, zum Vorwurf und stellt ihn an dem

Hof zu Ferrara in einen Kreis schöner Fraum, wo er glücklich­

unglücklich, bewundert und verletzt wird.

Byron's Vorwurf ist

der Taffo, der einsam, zerschmettert, in die Tollhauszelle gesperrt,

ohne irrsinnig zu sein, bin Opfer der Grausamkeit seines ehemaligm Wohlthäters ist:

Ich liebte Einsamkeit, doch ahnt' ich nie.

Mir würden, ach, wie viele Jahr' entrollen. Bon allem Dasein fern als dem der Tollen

Und ihrer Peiniger: — wär* ich wie sie, So wäre längst mein Geist vor dieser Frist Begraben und verwest, wie ihrer ist.

Wer aber sah je, daß ich zuckt' und schrie? Wir dulden mehr vielleicht in solcher Zelle,

Als der Verschlagne am öden Saum der Welle; Er hat die Welt noch vor sich — mein ist kaum

So groß wie einst für meinen Sarg der Raum.

Ob er erliegt, er kann gen Himmel schau'n.

Sein sterbend' Auge noch kann Gott verklagen —

Ich will mein Aug' im Zorn nicht austvärtS schlagen. Obwohl ein Kerker eS umwölkt mit Grau'n.

Goethe hatte aus dem Hofe von Ferrara, einem Hofe, an dem die Leidenschaftlichkeit und Grausamkeit der Renaissancezeit

üppig wucherte, ein kleindmtsches, in allen Punkten von der zartfühlendsten Humanität

des

achtzehnten Jahrhunderts

geleitetes

Weimar gemacht; Byron's Blick wird magnetisch von dem an­

gezogen,

was ihm als die empörende Barbarei

des

Ferrara-

Herzogs gilt, und sein Gedicht verwandelt sich in eine Anklage

gegen fürstliches Unrecht und Machthaber-Tyrannei. Einm noch ungestümer anklagendm, doch allzu überspannten

Charakter nahm endlich die Schilderung tragischer Selben in dem

Drama „Die beiden Foscari" an, wo der Vater genötigt ist, seinen Sohn, dm er liebt, zu allm Qualm der Tortur zu verurteilm,

und der Sohn, der Held des Dramas, die Folterbank, auf die er von der ersten bis zur letzten Szme des Stückes gespannt ist, nur

verläßt, um aus Gram und Leid über die Verbannung zu sterbm.

Diese Tragödie ist, gleich allen übrigen Byron's, in allzu nachlässigm Versen, und wie zum Trotz, ganz dm aristotelischm Regeln gemäß,

in der Manier der ftanzösischm Tragödie geschriebm.

Durch-

dmngen von der Überzeugung, daß dieser Weg der einzig richtige

sei, versteigt er sich sogar zu dem komischen Paradoxon, England

habe bisher kein Drama besessen.

Man hat sich sehr darüber gewundert, daß Byron, der ganz

wie alle die anderen englischen Dichter dieser Epoche ein aus­ gesprochener Naturalist war, d. h. den Wald dem Garten, den Naturmenschen dem Gesellschaftsmenschen und den ursprünglichen

Ausdruck der Leidenschaften ihrer angelernten Sprache vorzog, so stark für Pope und die kleine Gruppe von Dichtern, die, wie

Samuel Rogers oder Crabbe noch dem Klassizismus huldigtm, zu schwärmen vermochte, ja, diese Schwärmerei bis zur Nach­

ahmung des dramatischen Stiles der Vergangenheit trieb. Zuvörderst

Byron's.

liegt

die

Ursache

in

dem

Widerspruchsgeiste

Daß die Seeschule, die er verachtete, Pope stets in maß­

losen Ausdrücken herunterriß, war für ihn an und für sich Grund genug, Pope bis zu den Wolken zu erheben, ihn den ersten aller

Dichter Englands zu nennen, ja den Nationaldichter der Mensch­ heit, dem er gern im Dichterwinkel der Westminsterabtei, von welch

letzterer Pope als Katholik ausgeschlossen war, auf eigene Kosten ein Denkmal errichten würde.

Dazu kam die Anhänglichkeit, die

Byron sein Lebenlang für die Schuleindrücke von Harrow hegte,

und in Harrow war Pope stets als der Musterpoet aufgestellt worden, ferner die völlige Kritiklosigkeit Byron's, die ihn zu der­

selben Zeit Grillparzer's „Sappho" rühmen läßt, wo er Lady Blessington zu verstehen giebt, daß Shakespeare seiner niederen Her­

kunft die Hälfte seines Ruhmes verdanke — sodann der Umstand,

daß Pope verwachsen war, dessungeachtet aber einen schönen Kopf hatte, daß er ein Dissenter, daß er der Dichter der aristokratischen

Gesellschaft war, daß seine verwachsene Gestalt die Quelle einer satirischen Verstimmtheit für ihn war, lauter Dinge, mit boten Byron sympathisierte — und endlich der seiner normannischen Abstammung entspringende lebhafte Hang

Manier der romanischen Völker.

zur Rhetorik in der

Durch sein ästhetisches Verfechten

des Systems der Ver­

gangenheit, währmd er gleichzeitig in jeder anderen Hinsicht dem

Fortschritte anhing, weist Byron eine gewisse Ähnlichkeit mit Ar­ mand Carrel auf, der, in allm politischen und religiösen Fragen

durchaus freisinnig, sich in der Litteratur ebenfalls an dm ver-

altetm Klassizismus klammerte.

Da sie beide auf den meisten

dm Standpunkt Frankreichs

geistigen Gebieten

im achtzehntm

Jahrhundert einnahmen, lag es ihNm Nahe, sich ihm auch auf dem

einzigm Gebiete

ziehungen,

dem

anzuschließm,

Herkommm

wo

huldigte,

es,

auf

in

gewissen Be­

dem

litterarischen.

Indessen ist nicht zu bestreiten, daß diese theoretische Grille auf

Bhron's

italimische

Dramen

unvorteilhaft einwirkte.

Byron's

Genie gepaart mit der Vaterlandsliebe der Gräfin Giuccioli habm

nicht vermocht, ihnen mehr dmn einen allgemeinm poetischm Hauch

zu verleihen. Bei der Ausarbeitung von „Kain" und „Sardanapal" aber

ward die junge Gräfin in der That, wie sie gehofft hatte, eine

Muse für Byron. Im ganzm „Kain" ist Adah das beste.

Während Byron's

Männercharaktere, wie des öfteren bemerk worden, einander sämt­

lich gleichen, sind, wofür man kein so offenes Auge hatte, seine

Frauengestaltm von höchst verschiedener Art.

Ein weiblicher Kain

ist Adah nicht, obgleich sie die einzig für ihn passende Gattin ist.

Kains weibliches Gegmstück ist in der stolzen, ttotzigen Aholibamah in „Himmel und Erde" gegeben.

Doch wie Kain allmthalben die

Bemichtung, so sieht Adah das Wachstum, die Liebe, die Keim­ kraft, das Glück.

Die Zypresse, die ihr Laubdach über das Haupt

des Keinen Enoch breitet, ist für Kain ein Baum der Trauer, Adah sieht nur, daß er dem Kinde Schatten gewährt.

Als Kain

das trostlose Wort ausgesprochen hat, daß alles Unheil und alles Leid der Welt sich durch Enoch fortpflanzen sollen, spricht Adah:

O Kain, sieh ihn an!

Schau, wie voll Leben,

Boll Blüte, Kraft, voll Schönheit und voll Lust!

Wie ähnlich mir — und dir, sobald du gut bist!

So knapp ist die Zeichnung Adah's,

daß

alle ihre Reden

zusammengenommen nicht ein Oktavblatt füllen würben. zwischen Wissen und Liebe wählm soll, sagt sie:

Kain!"

„Wähle Liebe,

Als Kain Abel erschlagen hat und verflucht, als Mörder

gescheut allein dasteht, beantwortet sie seinen Ausruf: mich!"

Als Kain

mit den Worten:

„Verlaß

„Alle haben dich ja verlassen."

Und

diese Gestalt hat Byron geschaffen, fast ohne von den Bibelworten abzuweichen, nur indem er hier und da das von dem Einen Ge­

sagte einem Anderen in den Mund legte.

In der Gmesis sagt

Kain, als er vom Herrn verflucht wird: „Siehe, du treibst mich

heute aus dem Lande" u. s. w.

Bei Byron verstummt Kain, als

der Engel ihm den gräßlichen Fluch veMndet, doch Adah öffnet ihren Mund und spricht (Hl, 1): Die Straf' ist mehr, als er ertragen kann. Siehe, du treibst ihn heut' aus seinem Lande,

Und bergen muß er sich vor Gottes Antlitz. Unstet und flüchtig soll er sein auf Erden?

So wird's ihm geh'«, daß, wer ihn findet, ihn Totschlägen wird —

buchstäblich die Worte, welche die Bibel Kain in dm Mund

legt; allein Byron erschaute mit dem Blick des Gmius in dieser einen Gegmrede, in diesem alttestammtarischen Lehmklumpen, die

Konturen einer ganzen Menschmgestalt, und mit einem einfachm Druck seiner Hand formte er ihn zur Statuette des ersten liebenden Weibes.

Die zweite Gestalt, in der inan — und zwar noch stärker —

den Einfluß der jungen Gräfin verspürt, ist die der griechischen Sklavin Myrrha in „Sardanapal".

Bon dm historischen Tra­

gödien Byron's ist diese die beste. Mit sorgloser Menschen- und Weltverachtung hat der stolze Brande», Litteratur de» 19. Jahrh. IV.

26

Sardanapal sich

dem Lebmsgmusse ergeben.

Kriegsruhm

ver­

schmäht und verachtet er; er möchte nicht einen sogenannten großen

Namen um das

vergossene Blut lausender schuldloser Menschen

erkaufen; er wünscht nicht wie seine Borfahrm in dm Tempeln als Gottheit angebetet zu werden. bis zur Unklugheit.

Sein gleichgültiger Hochsinn geht

Als dem auftührerischen Hohepriester das

Schwert entwundm worden, giebt er es ihm mit dm Worten zurück (Sardanapal, M II, Sz. 1):

Inzwischen nimm dein Schwert zurück und wisse: Ich zieh' dein Kriegsamt deinem Priestertum Bei weitem vor und liebe keins von beiden. Seine Manneskraft scheint durch sein Genußleben geschwächt, als Myrrha, das griechische Mädchm, seine Lieblingssklavin, ihn zu retten beschließt; sie fleht ihn an, seinen Gleichmut abzulegm

und sich zur Verteidigung gegm seine Feinde zu wappnen.

Sie

leidet ebenso sehr unter ihrer Liebe zu ihm wie unter ihrem Ge­ schick als Sklavin:

Weswegen lieb' ick ihn? Rur Helden lieben Die Töchter meines Landes! — Meines Landes? Der Sllav' nennt nichts als Fesseln sein. Ich lieb' ihn — Das ist der schwerste Ring der langen Kette — Den liebe», dm man doch nicht achtet . . . .......................... Bor mir selber bin ich Gefallen, seit ich diesm Fremdling liebe. Und mehr fast lieb' ich ihn, seit ich gewahre, Daß ihn die eigenen Barbaren Haffen. Doch als zuletzt die Feinde sich der Königsburg nahm und Sardanapal, nachdem er das plumpe Schwert als zu unbequem

für seine Hand, den wuchtigm Helm als für sein Haupt zu be­

schwerlich verschmäht hat, sich barhaupt und leichtbewaffnet in die Schlacht stürzt und wie ein Held streitet, da triumphiert Myrrha,

als sei die Last der Schande von ihrer Bmst gewälzt: Es ist nicht Schande — nein, ES ist nicht Schande, den geliebt zu haben! .......................Alcides war entehrt,

Als er den Weiberrock der Omphale

Und ihre Kunkel trug — er aber, der Mit einem Mal ausspringt, ein Herkules,

Irr üppiger Weichlichkeit zum Mann erzogen, Und stürzt vom Schwelgermahl sich in die Schlacht,

Als toär'8 ein Bett der Liebe — er verdient

Ein griechisch Mädchen wohl zu seiner Buhle, Ein griechisch Lied zum Preis, ein griechisch Grab Zum Monument.

Prophetische Worte auf Byron selbst.

Und galt es nicht vom

Dichter wie von seinem Helden, daß er tausende von Frauen ge­ kannt habe, doch bis dahin kein einziges Frauenherz? Myrrha.

Du fragst nach dem, was du nie wissen kannst. Sardanapal.

Das wäre?

Myrrha. Eines Herzens wahren Wert,

Des Weiberherzens Wert. Sardanapal.

Ich kannte tausend — Tausend und aber lausend. Myrrha.

Herzen?

Sardanapal. Freilich.

Myrrha.

Nicht eins!

Vielleicht erfährst du's einst!

Gleich Myrrha wies die junge italienische Gräfin ihrem Ge­ liebten männlichere Ziele als den Lebensgenuß;

gleich Myrrha

hob sie ihn empor aus einem Dasein, das der Größe seines

Geistes nicht angemessen war. Wir verließen die Liebenden in dem Landhaufe La Mira bei

Venedig, wo Byron u. a. die Lebenserinnerungen aufzeichnete, die er Thomas Moore als Erbteil für dessen Söhnchen schenkte, und

die auf Betreiben der Familie Byron's aus nimmer zu recht­ fertigenden Gründen verbrannt wordm sind.

Doch der scheinbar 26*

friedlich geordnete Verkehr zwischen dm Liebmdm sollte nicht von

langer Dauer sein. dulden.

Der Graf wollte ihn plötzlich nicht länger

Teresa mochte Byron nicht aufgeben, und so kam es

zwischen den Ehegatten zu einer Trennung, bei welcher die Gräfin,

mit Gmehmigung ihrer Familie, auf Vermögen und gesellschaft­

liche Stellung Verzicht leistete.

Es wurde ihr nur ein unbedmten-

des Jahrgeld ausgesetzt, und es war eine der Scheidungsstipulationen, daß ihr dasselbe nur unter der Bedingung zustände, daß sie in dem Hause ihres Vaters wohnm bliebe.

Hier pftegte betttt Byron regelmäßig die Abendstunden bei ihr zuzubringm;

er

liebte es, sich von

ihr Mozart'sche oder

Rossinische Melodien vorspielen oder Vorsingen zu lassen.

Sein

Tagebuch vom Januar bis Februar 1821 besteht fast durchgehends aus den Wortm: „Ritt aus, schoß mit Pistolm — speiste zu Mittag — ging aus, hörte Musik und schwatzte Nonsms — kam heim — las."

Solange der Graf Giuccioli sich noch als drohmdes Schreck­

gespenst erhob, hatte Byron's Liebesverhältnis nicht jmes Elementes der Gefahr und Spannung, das ihm eine Würze des

Lebens war, entbehrt.

Die einzige Gewähr, auf fernen Ritten

nicht ermordet zu werdm, erblickte er darin, daß er stets Pistolm

im Halfter führte und als trefflicher Schütze bekannt und gefürchtet war, die einzige Gewähr, nicht daheim gemmchelt zu werdm, sah er in dem Geize des Grafen Giuccioli, der seiner Überzeugung nach

es ihm nicht erlauben würde, die zwanzig Scudi, die ein tüchtiger

Bravo kostete, zu verausgaben.

Run trat eine neue und edlere

Aufregung an die Stelle der anderen. Allenthalben auf der italimischen Halbinsel gärte es in der

Sülle heftig.

Nach dem Sturze der Napoleonischen Herrschaft

traten nämlich im Kirchenstaate und in Neapel die alten legitimen

Machthaber mit grmzmlosem Übermute auf.

Jede wohlthäüge

Spur des französischen Einflusses sollte getilgt und an Stelle der

französischen Reformen die ganze alte Mißwirtschaft wieder ein­ geführt werden.

Der unerträgliche Druck der von der heiligen

Allianz ausgehenden allgemeinen europäischen Reaktion trieb die

Italiener zur Organisation einer weitverzweigten Verschwörung, und so bildete sich nach dem Muster der Freimaurer der große

Geheimbund der Carbonari,

der sich alsbald über das ganze

Land erstreckte.

Durch seine Geliebte wurde Byron in den Kreis der Ver­ schworenen eingeführt.

Die ganze Familie Gamba gehörte dieser

geheimen Gesellschaft an, und der Bruder Teresas, Pietro, ein warmherziger Jüngling von zwanzig Jahren, der eine bewundemde Zuneigung für Byron gefaßt hatte und ihm später nach Griechen­

land folgte, war einer ihrer eifrigsten und bestunterrichteten Führer.

Der Carbonarismus erschien Byron als die Poesie der Politik. Das hölzerne parlamentarische Leben daheim in England hatte ihn abgeschreckt, in dieser Form aber sprach die Politik seine Einbil­

Er stieg zu einer sehr hohen Rangstufe unter den

dungskraft an.

Carbonari empor und wurde der Führer einer Abteilung namens

Americani.

Er lieferte den Verschworenen Waffen und bot der

konstitutionellen Regierung in Neapel 1000 Louisdors als seinen

Beitrag zum Kampfe gegen die heilige Allianz an.

Gegm die

österreichischen Gewalthaber legen seine Briefe eine wahre Wut an den Tag.

Wo er auch wohnte, war er der österreichischen

Polizei ein Dom im Auge, seine Briefe wurden geöffnet, die

italienische Übersetzung des

„Childe Harold"

in den italienisch­

österreichischen Landen verboten, und die Polizei versuchte, wie er

wohl wußte, zum Meuchelmorde gegen ihn aufzureizen.

Gleichwohl

untcmahm er Tag für Tag allein und ruhig seine Spazierritte. Seine Gefühle äußerten sich bei dieser Gelegmheit, wie auch bei sonstigen Anlässen, halb als stoischer Heldenmut, halb als knaben­ hafter Mutwille.

Es ist knabmhaft liebenswürdig, wenn er in

feinen Briefen mit großen Buchstaben obenauf hinschreibt:

„Die

österreichische Regierung — Halunken! Die österreichischm Polizeibeamtm — Flegel! Ich weiß, daß sie meine Briefe erbrechen und

dies leseit, deshalb schreibe ich es!"

Da die härtesten «strafen

denjenigen bedrohten, der in seinem Hause Waffen berge, ließ er die Waffen aller Verschworenen der Romagna in dem feinigen

anfhäufen, so daß es sich zu einem förmlichm Arsenal verwandelte. Seine Schränke und Laden warm mit ihren Proklamationen und

Eidformularm angefüllt.

Er dachte mit Recht, daß man eine

Haussuchung bei einem Peer von England vorzunehmm kaum wagm würde. Es war jedoch leichter, ihn zu vertreiben, als ihn zu verhaften. Ersteres geschah ganz einfach dadurch, daß die Grafm Gamba plötz­

lich Befehl erhielten, binnen 24 Stunden das Land zu verlaffen. Da die Scheidungsbestimmungen ausdrücklich festsetzten, daß die junge Gräfin, wofern sie das Haus ihres Vaters verließe, ge-

zwuugm »erben sollte, ins Kloster zu gehen, so war man so

ziemlich sicher, bei dieser Gelegmheit Byron los zu werden.

Der

Schluß von Teresas Brief an Byron, als sie Wesen Befehl erfuhr,

lautet: „Byron, ich verzweifle, wmn ich Dich verlassm soll, ohne zu wiffeu, wann wir einander wiedersehm — ist es Dein Wille,

daß ich so mtsetzlich leide, so bin ich mtschlossm zu bleiben.

Man

wird mich in ein Kloster sperren, und dann kannst Du mir nicht

mehr helfen ... Ich weiß nicht, was man zu mir redet.

Meine

Aufregung überwältigt mich — und weshalb? nicht um der Ge­ fahr willm, die mich bedroht, sondern — ich rufe den Himmel

zum Zmgm an — einzig, weil ich Dich verlassen soll/" 1 Das große Werk „Lord Byron jug£ par les tämoins de sa vie“,

das die Gräfin 1868 herausgab, bildet, wiewohl in ästhetischer und psychologischer

Beziehung wertlos, ein rührendes Zeugnis der Stärke und Tiefe ihrer Liebe. Die Lösung des Rätsels, das die Welt Byron nennt, ist für sie mit dem einen Wort gegeben: er war ein Engel, nicht mehr, nicht weniger, schön wie ein Engel,

gut wie ein Engel, ein Engel in allem und jedem. find in Kapitel nach seinen Tugenden eingeteilt.

Die 1100 Seilen des Buches

Sie weiht seiner Menschenliebe

Das große Vermögen, in dessen Besitz Byron durch seine Ehe gekommen war und

das

er — merkwürdigerweise — zu

behalten sich keine Skrupel machte, die Summen, die der Verkauf

von Newstead einbrachte, und die 20,000 Pfd., die ihm im Laufe der Jahre Murray an Honoraren ausbezahlte, hatten ihn in den Stand gesetzt, eine großartige Wohlthätigkeit zu entfalten.

Als es

ruchbar wurde, daß Byron Ravenna zu verlassen gedenke, reichten alle Armen der Gegend, denen seine Freigebigkeit zu Gute gekommen

war,

eine Bittschrift an den Kardinallegaten ein, daß ihm der

Aufenthalt gestattet werden möge.

Allein gerade in der Sym­

pathie der Bevölkerung für ihn lag ja die Gefahr für die Regie­ rung.

Er vertauschte nun Ravenna als Wohnort mit Pisa.

Da

indes die toskanische Regierung keine geringere Angst vor Byron

und den Gambas hatte, als die des Kirchenstaates, erfolgte bald eine

neuerliche Ausweisung, und so begab man sich denn nach Genua, der letzten Station Byrons vor dem Aufbruche nach Griechenland, ein Kapitel, ein anderes seiner Bescheidenheit u. s. w.

Fehler weist auf das klarste nach, daß er keine hatte.

ist das körperliche beigefügt.

Das Kapitel über seine Seinem geistigen Porträt

Die Schönheit seiner Stimme, seiner Nase, seiner

Lippen werden in besonderen Rubriken behandelt.

Unfaßbar ist es, wie sich

die schändliche Verleumdung verbreiten konnte, daß Lord Byron lahm oder sein Fuß ein Klumpfuß gewesen.

Das Gebrechen bei seinem Gang war so

geringfügig, daß sich unmöglich erkennen ließ, welcher Fuß der nicht normale sei. Und hier wird ein Zeugnis beigebracht von Seiner Herrlichkeit Schuhmacher,

der noch die Holzleisten besitzt, worüber in Newstead seine Schuhe geschlagen wurden, und aus dem Har hervorgeht, wie unbedeutend die Verunstaltung war.

Unfaßbar ist desgleichen, wie man der elenden Verleumdung Glauben schenken

konnte,

Lord

Byron wäre an den Schläfen

zuletzt etwas

kahl

geworden.

Allerdings war er dort von Haaren ein wenig entblößt, allein das rührte nur daher, weil er sich an der Stirne pflegte rasieren zu lasten.

Unbegreiflich ist

es, wie die alberne Unwahrheit behauptet werden konnte, seine Beine seien

zuletzt etwas dünn geworden.

Allerdings wurden sie etwas dünner, als sie

früher gewesen, aber war dies nicht natürlich bei einem Manne, der fast seine

ganze freie Zeit zu Pferde zubrachte? — Wenn man bedenkt, daß dieses Buch 44 Jahre nach Byron's Tode herausgegeben wurde, so kann man nicht leugnen, daß die Leidenschaft, die er einflößte, tief und dauernd war.

XXII. In dem Zeitraume von 1818—1823 arbeitete Byron den

„Don Juan" aus.

Kaum war der Anfang des Manuskriptes nach

England gelangt, so hagelte es von Schreckensrufen der Freunde

und Krittler, die Einsicht in dasselbe erhielten, von dringenden

Vorstellungen um Streichungen und Ausmerzungen bald hier, bald dort und von Ach und Weh über die Unsittlichkeit des Gedichtes.

Unsittlichkeit! Dies war die große Beschuldigung, welche Byron bei

jedem Schritte in seinem Leben hören mußte, und die ihn noch über den Tod hinaus verfolgte.

Unter dem Vorwande der Un-

siMchkeit wurden seine Memoiren verbrannt, unter dem Vorwande

der Unsittlichkeit seinem Standbilde die Westminsterabtei verschlossen.

Byron antwortete in einem Briefe an Murray: „Wenn Sie mir

gesagt hätten, die Poesie sei schlecht, so würde ich mich beruhigt haben, aber Sie sagen das Gegenteil und reden mir dann von

Moralität — es ist das erste Mal,, daß ich dies Wort von Leuten höre, die nicht Halunken sind und das Wort zu einem Zwecke

gebrauchen.

Ich behaupte, es ist das moralischste aller Gedichte;

wenn die Leute aber die Moral nicht sehen wollm» so ist es ihre

Schuld, nicht meine... Bon ihrem verdammten Beschneiden und

Kappen will ich nichts wiffen.

Wenn Sie wollm, können Sie das

Gedicht anonym herausgebm, das ist am Ende besser; aber ich

will meinen Weg gegen alle durchfechten wie ein Stachelschwein." Dieses Gedicht, das, eingeleitet mit einer Zueignung an den

Hofpoetm Southey, anonym, ja ohne auch nur den Namen eines

Verlegers auf dem Titelblatte zu tragen, erscheinen mußte, welches, wie Byron sagt, schwerer in eine englische Wohnstube kam, als ein Kamel durch ein Nadelöhr,

ist das einzige des neunzehnten

Jahrhunderts, das sich mit Goethe's „Faust" vergleichen läßt: dmn

dieses und nicht der verhältnismäßig unbedeutende „Manfred" ist

Als sein trotziges Motto trägt es nach­

Byron's Weltgedicht.

stehende Shakespeare'sche Replik: „Vermeinst du, weil du tugend­ haft seiest, solle es in der Welt keine Torten und keinen Wein

geben?

Das soll's,

bei Sankt

Annen, und

der Ingwer soll

auch noch im Munde brennen!" — ein Motto, das nichts als

Ärgernis und satirischen Scherz verheißt; nichtsdestoweniger war es berechtigter prophetischer Stolz, der Byron die Worte diktierte: „Wenn ihr ein modernes Epos verlangt, so habt ihr den Don

Juan; das ist so gut ein Epos für unsere Zeit, wie die Ilias für die Zeit Homer's."

Byron war es beschieden, das zu bieten,

was Chateaubriand sich einbildete, in den „Märtyrern" geboten zu haben, die modeme epische Dichtung, die sich weder auf christ­

lich-romantischer Grundlage, wie Chateaubriand wollte, noch auf der Basis eines einzelnen Volkslebens aufführen ließ, wie Scott versucht hatte.

Es gelang Byron, weil seine Grundfeste keine ge­

ringere als die fortgeschrittenste Kultur des Jahrhunderts war.

Sein Juan ist kein romantischer Held, er erhebt sich weder

durch Verstand, noch durch Charakter sonderlich hoch über das

Durchschnittsmaß, allein er ist ein Günstling des Glückes, ein selten

schöner, stolzer, kecker und äußerst erfolgreicher Mann, der weit mehr

von seinem Schicksal, als von Plan und Berechnung geleitet wird. So paßt er zum Helden eines Gedichtes, welches das Menschen­ leben umfassen soll, und wo es nicht anging, daß der Held sich ein besonderes Feld erwählte.

Denn dem Spielraum, der Trag­

weite des Werkes waren von vornherein keine Grenzen gesetzt. Das Gedicht steigt und fällt wie ein von sonnenbeglänzten und sturmgepeitschten Wellen getragenes Schiff, und wird von einem

Extrem zum andern geschlmdert.

Auf die feurige Liebesgeschichte

zwischen Juan und Julia folgt der Schiffbruch mit all seiner

Hungersnot und Todesqual, auf den Schiffbruch die prachtvollen

und schmelzenden Harmonien der jugendlichen Liebe Juan's und Haidi's, des Daseins höchste, freieste, süßeste Potenz als seliges

Lebm — eine nackte und schöne Gruppe wie die von Amor und

Psyche, doch beseelt — über ihnen das Mondlicht der griechischen Nächte, vor ihnen das weinfarbene Meer, dessen melodisches Plät­ schern ihre Liebesworte begleitet,

Klima Griechenlands, und

endlich

als Rahmen das zauberische

zu ihrm Füßen die ganze

asiatische Pracht des Ostens: hochroter Was, Gold, Krystall und

Marmor.

Und wie all dies auf die äußerste Lebensgefahr und

Ermattung folgt, so folgt auf das Fest in Haidi's Palast: für Haidi eine Qual, daß ihr das Herz bricht, für Juan ein zerhaumer Schädel, drückende Bande und Sklaverei.

Als Sklave

aber wird er an das Serail verkauft, und nun folgt seine possier­

liche Verkleidung als Mädchen, seine Einführung bei der FavoritSultanin und die schalkhafte Nachtszene im Serail mit all ihrem

Fmer und Dust, all ihrm mutwilligm und sinnlichm Scherzen. Unmittelbar von dort werdm wir zur Belagerung von Ismail

geführt, zur Menschenschlächterei im größten Stile und allen den Greueln eines sinnlosm Krieges und einer rohen Soldateska, die

in einem Umfange, mit einer Energie geschildert werden, wie es bis dahin in keines Landes Poesie noch je geschehen war.

Dann

reisen wir mit Juan an den Hof der Kaiserin Katharina von

Rußland unter die lackiertm Barbaren Ostmropas, die von einer genialm Messalina beherrscht werdm, von dort nach England, dem gelobtm Lande der Straßenräuberei, der Moral, der Pluto-

kratie und Aristokratie, der Ehe, der Tugend und der Heuchelei.

Dieser grobe Umriß giebt nur den Umfang des Gedichtes an.

Allein nicht nur, daß es mit solcher Vielseitigkeit die Grund­

gegensätze des Lebens umfaßt, jedes dieser Extreme ist wiederum

extrem aufgefaßt.

Der Dichter hat an jedem Punkte die Sonde

seiner Einbildungskraft bis tief auf den Grund der Situation hinabgesenkt,

Goethe's antikes Naturell bewog ihn, wo es möglich

Situation.

war,

sowohl der seelischen, wie der äußerlich wirklichen

die Mitte

einzuhalten,

und selbst im „Faust", wo er

mit furchtbarem Ernste das Menschenleben enthüllt, hebt er den

Schleier mit schonender Hand. hierdurch

Oftmals büßen jedoch seine Werke

die höchste Spannung des Lebens ein.

Den vollen

Spielraum zur Entfaltung ihrer Riesenschwingen finden die Genien des Lebens und des Todes selten bei ihm. Leser beruhigen, nie ihn schonen.

Byron will nie seinen

Er ist selbst nicht ruhig, bis er

alles, das letzte Wort in der Sache gesprochen hat;

er ist ein

Todfeind jedes Idealismus, der ausscheidet und dadurch verschönt,

seine ganze Kunst deutet nur auf die Wirklichkeit oder die Natur hin und ruft dem Leser zu: Erkenne sie!

Nehme man den ersten, besten Charakter, den Julia's z. B. Sie ist dreiundzwanzig Jahre alt, voll Liebreiz, ohne es zu wissen leise in Juan verliebt, mit ihrem fünhigjährigen Manne zuftieden, aber doch — ohne es zu wissen — leise den Wunsch hegend, er möchte sich in zwei von fünfundzwanzig teilest lassen.

Anfangs kämpft sie

wacker für ihre Tugend, dann ergiebt sie sich. Noch aber hat sie nichts Niedriges oder Komisches begangen.

Nun zeigt sie uns Byron in

einer höchst bedenklichen äußersten Situation, als der Mann das

Paar überrascht, und da entdecken wir plötzlich eine neue Schicht in ihrer Seele.

Sie lügt, sie betrügt, sie spielt Komödie mit einer

ganz überraschenden Zungenfertigkeit.

Sie war also nicht gut und

liebenswürdig, wie sie sich anfangs gezeigt? ihr geirrt? Keineswegs.

Wir haben uns in

Byron zeigt uns eine noch tiefere Schichte

ihrer Seele, als sie bett berühmten Abschiedsbrief an Juan schreibt,

einen warm empfundenen, echt weiblichen Brief, eine der Perlen

des Werkes.

Der Seelenkampf schließt somit nicht die Hingebung,

die Liebe nicht die Lüge, die Lüge nicht die höchste Seelenvor-

Und dieser

nehmheit und Schönheit in gewissen Momenten aus.

Brief nun, wo gerät er hin? — Juan liest ihn mit thränen­ feuchten Augm auf dem Schiffe — da wird der rührende Ver­ gleich zwischen der Art und Weise, wie Mann und Frau lieben,

von der Seekrankheit unterbrochen.

in der Hand übel —

arme Menschheit!

Juan wird es mit dem Briefe

armer Brief, arme Julia,

armer Juan,

Denn ist nicht das Menschenleben so?

nochmals armer Brief!

Und

Als nach dem Schiffbruche die Mann­

schaft im Boote, elend und verkommen, die letzte Station verzehrt

hat, als die Leute lange untereinander mit gierigen Augm ihre abgezehrten Gestalten betrachtet habm und man zu losen beschließt,

wer zuerst geschlachtet werdm soll, um dm anderm zur Speise zu bienen, siehe, da findet sich im Boote kein anderes Papier als

Julia's poetischer, liebeglühender Brief, und man mtwindet ihn

Juan, um ihn in kleine Vierecke zu zerschneiden und dieselben zu numerieren.

Dieser numerierten Vierecke eines ist es, das Pedrillo

den Tod bringt.

Giebt es denn wirklich am Firmamente einen

Weltball, wo die Schwärmerei der Liebe und Mmschmstesser-Jnstinkte sich dicht nebmeinander befinden, ja sich auf dem nämlichen Quadratzoll Papier begegnen?

Byron antwortet, er seltne einen

solchen: die Erde.

Unmittelbar darauf werden wir zu Haidi versetzt.

Im Ver­

gleiche zu ihr sind alle früherm Griechenmädchen Byron's nur

unreife, tastende Versuche.

Niemals war in modemer Poesie die

Liebe eines wilden Naturkindes schöner geschildert worden. Goethe's

herrlichste Jungstauen, Gretchm und Klärchen, sind kleine Bürger­ mädchen, und ihre Haltung trägt bei all ihrem Adel das klein­

bürgerliche Gepräge.

Man fühlt, daß ihr Dichter ein Frankfurter

Bürgersohn war, dem die Natur sich im niederm Bürgerstande, die Bildung

aber

im

kleindmtschm Hoflebm

offmbarte.

Byron's

schönste Frauengestaltm haben nichts Bürgerliches an sich.

ihre freie Natürlichkeit hat keine Bürgersitte getastet.

Au

Man fühlt,

Ayron.

Kulmination des Naturalismus.

413

wenn man von Juan und Haidi liest, daß Byron von Rousseau

stammt, zugleich aber auch, daß seine hohe, unabhängige soziale Stellung, im Verein mit seinen großen Schicksalen, ihm einen un­

gleich

freieren

Blick

für

die Menschennatur

verlieh,

als ihn

Rousseau besaß (II, 184, 185, 186, 190): Und so ergingen sie sich, Hand in Hand Über die blanken Stein' und Muschelschnecken,

Und glitten über festen, glatten Sand, Und in den wilden, hohlen Felsverstecken, Planvoll, so schien's, vom Sturme ausgespannt

Zu weilen Hallen mit Gebälk und Decken,

Da ruhten beide, Arm in Arm geschlungen, Bon Abends Purpurzauber sanft bezwungen. Sie sah'n zum Himmel, dessen flüssige Gluten Hinwallten wie ein ros'ger Ozean; Sie sah'n die Wogen, wie sie schimmernd ruhten, Und wie der Mond austaucht am Himmelsplan;

Sie hörten leise Wind' und müde Fluten, Und wenn sie dann sich Aug' in Auge sah'n.

Den dunkeln Blitz — dann flogen wie zwei Flammen Die Lippen fest in einen Kuß zusammen.

Ein langer, langer Kutz, ein Kuß der Wonnen, Der Lieb' und Schönheit, der in eine Glut Zusammenfaßt die Strahlen aller Sonnen . . .

Wer dacht' an Eid' und Skrupel? Nicht Haidi! Bon Ehepakten und Verlöbnis hatten Die Leut' ihr nie gesagt . . .

Welcher Leser berauscht sich hier nicht, zumal wenn er von

der erotischen Heuchelei der französischen Reaktionslitteratur kommt,

an dem frischen Strome jugendlicher Liebesglut, an des Dichters feuriger Begeisterung für den Adel der natürlichen Schönheit und

seinem tiefen, unergründlichen Spott über die Philistereien der Biedermannsmoral!

Giebt es denn eine Welt — eine regelrechte

Welt, in welcher zweimal zwei vier macht, eine tierische Welt, wo alle niedrigsten und abscheuerregendsten Triebe jeden Augenblick her-

vorbrechen können — in welcher zugleich blitzartig, minutenlang, tagelang, monatelang, in ewigen Augenblicken und Jahren, solche

Schönheitsoffenbarungen im Menschenleben vorkommen?

Ja, ant­

wortet Byron, eine solche giebt es, und die ist es, die vor uns

allen offen liegt.

Und nun flugs von hier zum Sklavenmarkt,

zum Serail, zur Schlacht, zur systematischen Metzelei und Notzucht und zu dem Spießen kleiner Kinder auf das Bajonett!

So große Gegensätze umfaßt dies Gedicht.

Doch ist es nicht

eine sinnliche, satirisch-humoristische Epopöe, wie die Ariost's, es ist ein leidenschaftlich-politisches Tendenzgedicht, voll Grimm, Hohn,

Drohungen und Weckmfen, mit wiederholten, langen, gellenden Stößen in das Kriegshom der Revolution? Byron schildert nicht blos die Schrecknisse, er versieht sie

mit Erläuterungen.

Als er, nach

der Einnahme Ismails, die

Siegesbotschaft des „Schlächters" Suworow an Katharina zitiert,

fügt er hinzu (VIII, 135):

Er schrieb dies Nordpollied, Text, Melodie Und auch Begleitung, Röcheln, Heulen, Schreien, Nicht sangbar, doch vergessen soll man's nie! Denn ich will pred'gen, bis die Steine schrei'n Und fluchen den Tyrannen. Soll das Knie Der Menschheit stets gekrümmt vor Thronen sein? Dann lern', o Nachwelt, lern' wie unsre Zeit war. Die wir geschildert, eh' die Welt befreit war!

Vergleicht man in diesem Punfte „Don Juan" mit „Faust",

der großen Dichtung der Jahrhundertscheide, so fühlt man, daß dem mächtigen, weltgeschichtlichen Odem in „Don Juan" vollauf

die Kraft des philosophischen Geistes innewohnt, die

beseelt.

„Faust"

Und stellt man „Don Juan" einen Augenblick in Gedanken

mit seinem russischen Abkömmling,

Puschkin's „Eugen Onegin",

1 But by and by 111 prattle Like Roland's hörn in Roncesvalles’ battle.

Don Juan, X, 87.

Lyron.

Kulmination des Naturalismus.

415

wie seinem dänischen Sproß, Paludan-Müller's „Adam Homo", zusammen, so fühlt man in dem englischen Gedichte den Meeres­ hauch der Natur und der Geschichte doppelt stark im Gegensatze

zu dem Weltton und dem politischen Unvermögen der russischen

Dichtung und zu dem beschränkten moralischen Standpunkte der so

talentvollen dänischen Epopöe.

In „Don Juan" herrschm Natur

und Geschichte, wie im „Faust" Natur und tiefsinnige Spekulation;

dort entfaltet sich das Menschenleben in seiner Breite, wie es int „Faust" in eine Personifikation zusammengedrängt ist, und das ganze Werk ist das Produkt einer Enttüstung, die hier allen Großen

der Zeit ihr Mene Tekel Upharsin! vor Augen schrieb. Erst in diesem Werke war Byron ganz er selbst.

Gründlich

erfahren kannte er den Weltlauf nur zu wohl, um nicht alle nnreife Leichtglänbigkeit abgestreift zu haben.

Er wußte jetzt, woraus

der Durchschnittsmensch bestehe, und wovon er sich im Leben leiten lasse.

Menschenfeindlich hat man ihn, infolge seines beißenden

Spottes hierüber, genannt;

er hat die richttge Antwort darauf

gegeben, wenn er (IX, 21) sagt: Mich nennt ihr Misanthrop?

Weshalb?

Weil ihr

Mich habt, ich ench nicht.

Wohl wahr, er ist hie und da cynisch, doch ist er es nur dort, wo die Natur selbst schamlos ist. Hat er etwa Unrecht, wenn er sagt (V, 48): Die Leute reden viel von Appellieren An Leidenschaft, an Herz und auch Verstand...

All diese Zaubermittel aber geh'n

Richt so direkt an's Herz den Millionen, Wie der gewalt'ge Klang, daS süße Locken, Das Seelensturmgelüut der Tafelglocken.

Hat er Unrecht, wenn er erbarmungslos darchut (IX, 73),

wie eitel und selbstsüchttg die Liebe ist? Oder geht er in seiner Bitterkeit und Saüre zu weit, toenn er (HI, 60), das Glück des

Familienlebens schildernd, meint:

Doch wird man Kinder für ein Glück erklären, (Nur nicht nach Tisch, da werden sie zu Plagern)

Wie schön, wenn Mütter ihre Kinder nähren! (Nur pflegen sie dabei sehr abzumagern.)

Ach, so lange alle schönen Dinge hier auf Erden ihre Kehr­ seite haben, fruchtet es wenig, dem Dichter verbieten zu wollen, sie zu zeigen, ob der Moralist noch so tief dabei seufze!

Und

es sind das unstreitig die ausgesprochen cynischsten Stellen des Gedichtes, wie überhaupt die herben Rousseau'schen Ausfälle gegen

die Civilisation, als deren Wonnen Krieg, Pestilenz, Despoten­ wirtschaft und die Geißel der Könige aufgezählt werden, stets

von glühendm Liebeserklärungen an die Natur begleitet werden (s. besonders VIII, 61—68).

Anonyme Artikel sagen von mir, ruft er aus (III, 104), ich hätte keine Religiosität. Mein Dom ist Meer, Gebirg' und Firmament, Alles, was von dem Urquell seinen Lauf nimmt,

Der unsre Seelen schuf und wieder aufnimmt.

Doch es versteht sich, mit dem theologischen Ritual stimmte

diese Naturreligiosität nicht überein. Harold"

Wie ein Refrain aus „Childe

kehrt die Verherrlichung der Denkfreiheit wieder.

Es

heißt (XI, 90): Ich geb', auch wenn ich einsam bin. Mein freies Denken nicht um Kronen hin.

Bald begegnen dem Leser die sarkastischsten Ausfälle gegen die Vorstellungen der Theologie über den Ursprung der Sünde,

bald eine beißende Satyre über die Rechtgläubigkeit und die gang­ bare Lehre, daß Krankheit und Mißgeschick fromm machen. der Sünde heißt es (IX, 19): „Der Himmel deckt," wie Cassio sagt, „uns alle;

Kommt, laßt uns beten!" Seien wir befliffen

Für unsrer Seelen Heil.

Seit Adams Falle

Wird alle Menschheit in das Grab gerissen, Samt allen Bestien. „Ob der Sperling falle.

Sei Fügung," sagt man, wenn wir auch nicht wissen.

Von

Was er verbrochen hat. Vermutlich saß Er auf dem Baum, von welchem Eva aß.

Man sieht, um wie viel freier und kühner der Ton seit

Kain gewordm ist.

Und von der Hospitalorthodoxie heißt es

(XI, 5, 6): Je mehr die Krankheit Angst macht und Beschwerde Die Folg' ist, daß ich orthodoxer werde.

Ein Stoß bewies mir Gottes Göttlichkeit, (Doch daran glaubt' ich schon, wie auch an Satan;)

Der zweite Stoß der Jungfrau Heiligkeit; Beim dritten nahm ich Adams Sündthat an; Beim vierten kam auch die Dreieinigkeit —

Mein Glaube wuchs zu einem solchen Grad an. Daß ich nur wünscht', es wären vier statt drei.

Weil dann noch etwas mehr zu glauben sei.

Byron war nun auf seiner Dichterlaufbahn dahin gelangt,

daß er nicht mehr wußte, wie er seine Arbeiten veröffentlichm sollte. Sein Verleger war ängstlich und zog sich allmählich ganz zurück. Für die ersten Gesänge des „Don Juan" fand sich ja nicht ein­ mal ein Buchhändler,

wagte.

der dieselben in Kommission zu nehmen

Er sagt selbst, indem er sein Schicksal dem Napoleon's

vergleicht (XI, 56): Doch war „Juan" mein Moskau, und „Faliero" Mein Leipzig, und mein Mont St. Jean scheint „Kain"; Die Belle-Alliance der Tröpfe kann nunmehro Viktoria ob dem toten Löwen schrei».

Wir habm bereits gesehm, was Southey in der Vorrede zu

seinem Speichelleckergedichte „Die Vision des Gerichtes" sich zu

sagen vermaß.

Er forderte als echter Denunziant dm Staat auf,

gegen dm Verkauf von Byron's Schriftm einzuschreiten; dmn daß der Angriff auf Byron gemünzt war, verhehlte er in seiner Antwort auf Byron's Entgegnung nicht.

Triumphierend ruft

er hier aus: „Ich habe die Mitglieder dieser Schule als Feinde

der Religion ihres Vaterlandes, der Gesellschaftsordnung und der häuslichen Moral dem öffmtlichen Abscheu preisgegeben. Brande», Litteratur der 19. Jahrh. IV.

27

Ich habe

ihr bat Namen der satanischen Schule beigelegt, ein Name,

der

Ich habe aus meiner

ihrem Gründer und Häuptling mtspricht.

Schleuder einen Stein geworfen, der ihren Goliath an der Stinte

traf.

Ich habe seinen Namen an den Galgen genagelt zur Schmach

und Schande für ihn, so lange dessen gedacht werden wird!" So schrieb der bestallte und besoldete Skribent, der, wie Byron sagt, sich zum Hofpoeten emporgelogen hatte? Byron antwortete mit

der bewunderungswürdigen Satyre: The Vision of Judgment Georg III. kommt hier wie bei Southey vor die Himmelspforte

und begehrt Einlaß.

Allein Sankt Peter ist keineswegs erbötig, Schloß und Schlüssel des Pfört­

seinem Wunsche zu willfahren.

ners sind verrostet; es giebt so wenig zu thun; seit 1789 wandern alle Menschen zur Hölle hinab.

Manne Platz

machen,

Die Cherubim wollen dem alten

berat die Engel sind allesammt Torys.

Allein der Satan tritt als Ankläger auf, und er und Michael

machen sich nun das Recht auf bett Toten streitig.

Jeder von ihnen

führt Zeugen an und unter diesen wird von Asmodeus Southey herbeigeholt, der nun seine Werke vorliest, und dies mit solch un­ erschütterlicher Beharrlichkeit,

daß

alle, Engel wie Teufel, die

Flucht ergreifen, der alte König aber in dem allgemeinen Tumult und Wirrwarr hineinschlüpft.

In seiner Berzweiflung über die

Vorlesung schlägt St. Peter Souchey den Schlüsselbund um bat Kopf, erst sinkt er tief — wie seine Schreibereien — dann taucht

er wieder — wie er selbst — empor. Denn was verfault ist, pflegt so leicht zu sein Wie Korkholz oder Jrrlichtlein im Moor.

Das ganze kleine Meisterwerk folgt Punkt für Punkt Sou-

they's Gedichte,

es parodierend.

Die Schwierigkeit aber war

nun, es zur Veröffentlichung zu bringen.

Murray wollte es nicht

nehmen, noch sonst ein Londoner Verleger. 1 Siehe die Ausfälle auf Southey in Don Juan I, 205, III, 80, 93,

IX, 35, X, 18.

Sijron. Kulmination drs Naturatismus.

419

In dieser Klemme beging Byron fernen unklugsten littera­ rischen Schritt, der ihm am meisten in den Augen der englischen Leserwelt schadete. Manne,

Einem talentvollen, aber nicht hervorragenden

dem radikalen Dichter Leigh Hunt,

welchen,

als er

wegen Beleidigung des Prinzregenten zu zweijähriger Kerkerhaft

verurteilt worden, Byron in der Jugend (um seine Gesinnung zu bethätigen) gemeinschaftlich mit Moore im Gefängnisse besucht

hatte, und der nun mit Shelley befreundet war, kam die Idee,

im Verein mit Shelley und Byron eine radikale Zeitschrift zu gründm.

Shelley

selbst

hielt

sich

aus Bescheidmheit zurück,

doch nicht sobald hatte er Hunt die etwaige Mitarbeiterschaft Byron's

in Aussicht gestellt,

als Hunt mit Weib und Kind

England verließ, alles aufgab, womit er sich bisher beschäftigt und ernährt hatte, und hilf- und mittellos in Jtalim erschien, wo Byron edelmütig ihm und seiner Familie im eigenen Hause Obdach

gab.

Jndessm stellte es sich bald heraus, daß persönliche Sym­

pathie zwischen diesen beidm, an Art und Wert so verschiedenen

Männern unmöglich war.

Byron fühlte sich durch Hunt's zu­

dringliche Vertraulichkeit verletzt, Hunt stieß sich an Byron's vor­

nehm ablehnender Haltung.

Allein das Hauptunglück war, daß

Byron durch die Allianz mit einem so viel geringeren Manne sich

bei dm Engländem völlig diskreditierte. Vergebms warnte ihn Thomas Moore, indem er es ablehnte,

der geplanten Zeitschrift Beiträge zu Kesern und schrieb:

„Allein

können Sie den Kampf gegen die Welt aufnehmen, was etwas heißen will, dmn die Welt ist, wie Briareus, ein Gentleman mit vielen Händm, doch um es zu können, müssm Sie allein stehen.

Bedenken Sie, daß die elmdm Häuser um die Peterskirche fast

gänzlich die Aussicht auf sie nehmen."

Byron hatte einmal sein

Wort gegeben, Hunt seine Unterstützung zu leihm, und wollte nun nicht zurücktreten.

Er konnte nicht ahnm, daß Leigh Hunt's

erste That nach seinem Tode darin bestehen würde, drei volle 27*

Bände zufammenzufchmierm, um sein Andmkm zu besudeln?

So

gab er denn Hunt „Die Vision des Gerichtes" und „Himmel und

Erde", das schöne Weltuntergangsgedicht, an welches in der dänischen Litteratur Paludan-Müller's „Ahasverus" ein wmig er­

innert.

Doch die Zeitschrift, die ursprünglich The Carbonaro

heißen sollte, der man jedoch aus Politik den matten Namen The Liberal gab,

rief ein solches

Entsetzen

und solchen Unwillen

hervor, daß sie ein kümmerliches Dasein fristete und schon nach

dem vierten Hefte einging.

So war Byron aus der Litteratur

so gut wie ausgeschloffen, und der Weg der That und des wirk­

lichen Kampfes für seine Ideen der einzige, der ihm noch offen stand. Vorher aber machte sein revolutionäres Pachos sich noch Luft in „Don Juan" und in dem „Ehernen Zeitalter".

Shelley

traute Byron dm Ehrgeiz und die Fähigkeit zu, „der Retter seines unterdrücktm Vaterlandes"

zu werden.

Mit Unrecht; bentt zu

dem zähen, langsamm Freiheitskampfe der englischen Opposition

taugte er nicht.

Was ihn ergriff und beschäftigte, war auch nicht

die politische Not Englands allein; er warf in seinem Unwillm über alle Unterdrückung und in seinem Haß gegm alle Hmchelei

sich zum Fürsprecher der leidmdm Mmschheit auf.

Sein Blut

kochte, wmn er an die Sklaverei in Amerika, an die Mißhandlung

der armm Bevölkemng Irlands, an das Martyrium der italimischm

1 Mit Recht vergleicht ihn ThomaS Moore mit dem Hunde» dem im Löwenkäfig zu wohnen gestattet worden: Though he roar’d pretty well — this the puppy allowa — It was all, he aaya, borrow’d — all second-hand roar; And he vastiy prefera hia own little bow-wows To the loftieat war-note the lion could pour.

Nay, fed as he waa (and thia makea it a dark caae) With aopa every day fron» the lion’a own pan, He lifta up hia leg at the noble dear’a earcaas And — doea all a dog, ao diminutive, can.

Patrioten dachte.

Seme Sympathim hatten stets der stanzösischen

Revolution gegolten. Er hatte anfangs Napoleon bewundert; als er aber sah. wie der Held der Zeit dazu herabsank, „ein König" zu werden, wie er „die erwachten Menschenrechte" wieder auslöschte „und mit gemeinen

Königen und Schmarotzern verkehrte", um endlich in Fontainebleau lieber dem Throne zu entsagen, als sich selbst den Tod zu gebm,

da griff er mit furchtbaren Hohnworten sein einstiges Ideal an. In dem Verhältnisse Byron's und Heine's zu Napoleon herrscht

viel Ähnlichkeit; denn beide verhöhnen dm sogenannten Freiheits­

kampf ihres Landes gegen ihn.

Die Ungleichheit aber liegt darin,

daß der unbeugsame Stolz und Freisinn des englischm Dichters

es ihm unmöglich machten, sich in die weibische Bewunderung zu

verlieren,

in welche der deutsche Dichter verfiel.

Der blutige

Kriegsruhm Napoleon's konnte nicht dem imponieren, der das

schöne Wort gesprochen hat, es sei ruhmvoller, eine einzige Thräne zu trocknen, als Meere von Blut zu vergießen („Don Juan"

VIII, 3), und der (einen anderen Krieger bewunderte, als den, der wie Leonidas und Washington für Freiheit kämpfte. Seit langem schwang er schon die Geißel über dem Haupte

des Prinzregenten und hatte sie gar manchmal auf dessen Dick­ wanst niedersausen lassen.

„Irland stirbt vor Hunger," heißt es,

„Georg wiegt 14 Liespfund", und in dem Epigramme, wo er ihn mit Karl II. und Heinrich VEH. („Karl ohne Kopf und Heinrich

ohne Herz") vergleicht, ruft er aus:

Dem Volk ein Karl, ein Heinrich seinem Weib, Die zwei Tyrannen ein- in einem Leib! Nun rückte Byron seinem Baterlande selbst auf den Leib. Er

griff alles Unwahre, alles Hassenswerte daselbst an, von der Tra­ dition der jungftäulichen Königin angefangm (unsere halbkeusche Elffabeth, heißt es in Don Juan IX, 81) bis herab auf die

modernstm Borschristm der guten Lebensart.

„Ich bin ein zu

guter Patriot," sagt er, „um nicht lieber zehn Lügen über die Franzosen zu erzählen, als ein wahres Wort über sie zu sagm — solche Wahrheiten sind Hochverrat" (VH, 22).

Er wagt, dm

Preußen einen großen Anteil an der Ehre des Sieges von Waterloo zuzuschreiben und Wellington (nach Beranger) Villain-ton zu nennen,

wie er es ihm auch zu verstehen giebt, daß trotz aller seiner Ordm und Pensionm er sich kein anderes Verdimst erworben habe, als

„die alte Krücke der Legimität zu flicken."

Er wagt endlich mit

ungleich tieferem Ernst als Thomas Moore in den satirischm Briefm England die Wahrheit zu sagen, wie verhaßt die Tory-

Politik es bei allen Völkern der Erde gemacht habe (X, 66—68): Ich habe wenig Grund, dies Stück der Welt, Das mir kaum mehr als Leben gab, zu lieben,

Und das den Stoff zum größten Volk enthält.

Doch ist mir Ehrfurcht, Schmerz ist mir geblieben

Für seinen alten Ruhm, der jetzt verfällt . . . O könnt' es doch recht klar und wahr erkennen.

Wie seinen großen Namen Haß verzehrt, Wie alle Völker auf die Stunde brennen,

Die seine Brust bloßlegen wird dem Schwert,

Wie alle Land' es Feind und Todfeind nennen,. Schlimmer als Feind, den Freund, den sie geehrt, Den falschen Freund, der Freiheit erst verheißt,

Und dann sie ketten möchte, Leib und Geist. Will der sich stolz mit seiner Freiheit bläh'n, Der nur der erste Sklav' ist?

Alles Land

Trägt Fesseln, doch den Schließer, was trifft den? Auch er ist an Verließ und Schloß gebannt.

DaS arme Recht, den Schlüffe! umzudrehn Im Kerker, ist das Freiheit?

Byron stand nun auf solcher Höhe, daß er von keiner konven­

tionellen Mcksichtsich Fesseln anlegen ließ; er verfolgte das Ministerium der Mittelmäßigkeiten, wie er es nannte, selbst über den Tod seiner

Mtglieder hinaus.

Er gönnte Castlereagh keine Ruhe im Grabe,

weil, wie er in einer der Borreden zu Don Juan sagt, das System der Unterdrückung und der Heuchelei, mit welchem sein Name

identisch war, noch weit über seinen Tod hinaus das herrschende

blieb.

Er verabscheut die Legitimität und die bis zum Überdruß

wiederholten Phrasen von der meerbeherrschenden Britannia, ihrem Dreizack und ihrer glücklichen Verfassung, von dm hohen Helden­ kaisem

und

dem frommen Russenvolke.

münzen — sagt er nach

Auf dm feinen Gold­

dem Sturz Napoleon's — stehen nun

wieder „Gesichter mit dem echt stupidm Gepräge."

Ihn ekelte die

mit dem rohestm Volke Europas getriebene Abgötterei, wurde man doch allerorten von dem dmtschen Abschiedsliede des empfindsamen

Kosaken an sein Mädchen verfolgt,

dessen Anfangsworte „Schöne

Minka, ich muß scheiden" noch hmte nicht vergessm sind.

Byron also ist es, der in Europa die radikale Opposition er­

öffnet, die Mitte der zwanziger Jahre gegen die politische Romantik und die heilige Allianz ausbricht, die ja nichts anderes als die in System gesetzte politische Hmchelei Europas war.

Er nannte die

heilige Allianz den politischen Affen der himmlischm Dreieinigkeit,

welcher darauf ausgehe, drei Narren zu einem Napoleon zusammmEr persiflierte den koketten Zar Alexander als den

zuschweißen. vortrefflichsten

„Walzer

und

Barbaren"

und

brandmarkte

die

hmchlerische Kongreßpolitik, mittelst welcher „die zwanzig Hans­ wurste in Laibach das Schicksal der Menschheit entscheiden wollten." Er singt (XIV, 82, 83):

O Wilberforce! Du Mann der schwarzen Ehre,' Den Lied und Rede nie genugsam preist, . . . ES giebt auf unserer alten Hemisphäre Noch allerlei zu thun für deine» Beist, Feg auch einmal den andern Erdteil rein; Der Schwarz' ist frei nun — sperr' die Weißen ein!

Sperr' ein den tahlm Raufbold Alexander! Verschiff' die „heil'gen Drei" gen Senegal, Und frag sie, wie es schmeckt, so miteinander Z« frohndm, und die Prügelsupp' als Mahl? Welche Sprache!

Welche Töne inmitten der Todesstille in

dem unterdrückten Europa! Gellmd durchschwirrtm sie die politische

Atmosphäre und widerhalllen weit und breit; fiel doch kein Wort Lord Byron's ungehört zu Boden, und die zahllosen Flüchtlinge

und Verfolgten, Unterdrückten und Verschworenen von ganz Europa hefteten ihre Augen auf diesen einen Mann, der inmitten des all­

gemeinen Sinkens der Intelligenzen und Charaktere auf ein niedriges

Niveau hochaufgerichtet dastand, schön wie ein Apollo, mutig wie ein Achill, stolzer als alle Könige Europas miteinander.

Er, der

überall unantastbare Peer von England, wurde das Organ der

stummen Erbitterung, die an den besten, freiheitsliebenden Geistern

Europas zehrte, indem er ungehindert und ungestraft seinen revo­ lutionären Zom in furchtbaren Ausbrüchen sich entladen ließ.

Er hatte selbst die Poesie als Leidenschaft definiert.1

Seine

eigene Dichtung wurde nun lauter beseelte Leidenschaft.

Man

höre den Donner, der jetzt über Europa hinrollte, als er von den Geschlechtern der Zukunst sprach: Wie eine Fabel wird es euch erscheinen,

Was ihr von Thronen lest, so fabelhaft Wie unS ein Mammuthtier, vor dess' Gebeinen

DaS heutige Geschlecht verwundert gafft,

Oder wie Schrift auf Hieroglyphensteinen, Das heitre Rätsel künst'ger Wissenschaft;

Gottlob, ein Rätsel wird dies einst hinieden

Wie uns der wahre Zweck der Pyramiden . . . Denkt, George der Vierte würde ausgegraben!

Ein solcher Zukunstsmensch begriffe nicht, Was wir der Kreatur zu ftessen gaben . . .

Genug!

Gott schütz' den Thron und alle Throne!

Wenn Er's nicht thut, die Menschen thun's nicht länger.

Ein kleiner Bogel singt mit Hellem Tone: „Das Volk bezwingt allmählich seine Dränger." Der trägste Gaul wird wild in seiner Frohne,

Wenn allzu tief ins wunde Fleisch die Sträng' er Einschneiden fühlt, nnd selbst der Pöbel hat

Da- Beispiel HiobS nachgerade satt.

1 Poetry, which is but passiern

Don Juan, IV, 106.

Erst knurrt er bloß; dann flucht er auch, und dann

Wie David, wirst er Kiesel nach dem Riesen;

Zuletzt greift er zu Waffen, welche man Nur aufrafft in verzweiflungsvollen Krisen,

Und dann giebts Krieg!

Noch einmal fängt.er an;

Es thut mir leid, ich hab' ihn nie gepriesen;

Nur leider, Revolution allein Kann von der Höllenfäulnis uns befrein . . . Krieg schwör' ich jedem (wenigstens in Reden,

Vielleicht in Thaten einst), der den Gedanken

Bekriegt, und jeden Sykophanten, jeden Despoten ford're ich in meine Schranken. Ich weiß es nicht, wer siegt in diesen Fehden, Doch wüßt' ich's auch, ich würde nimmer schwanken;

Nichts wird den tiefen, offnen Haß je ändern,

Haß aller Tyrallnei in allen Ländern. Don Juan, VIII, 137, IX, 39, VIII, 50, 51, IX, 24.

Er hatte die Revolution geweissagt, er hatte mit Trauer die Pläne der Carbonari scheitern sehen. Endlich war sie ausgebrochen,

diese Revolution; „von den Gipfeln der Anden bis zu des Athos Felsenspitze" wehte dasselbe Banner. Englands ausgestoßen. getrieben.

Er war aus der Litteratur

Er wurde in Italien von Stadt zu Stadt

Er hatte schon längst erklärt, ein Mann müsse mehr

für die Menschheit thun, als bloß Verse schreiben.

So manches Mal hatte er mit einer Geringschätzung wie Shakespeares Hotspur von der Kunst als von leerem Tand ge­ sprochen.

Nun vereinigte sich alles, ihn zum Handeln zu tteiben.

Einzig die Rücksicht auf die Gräfin Giuccioli hielt ihn noch zurück.

Er dachte daran, sich an dem Freiheitskriege der Kreolen zu be­

teiligen, erkundigte sich eifrig nach den Zuständen in Südamerika,

und schon seine „Ode an Venedig" hatte mit den Worten geschlossen: Besser da,

Wo einst Thermopylä dich fallen sah, Besiegt und frei, Lacedämonia,

Als hier versumpfen! — oder fliehn auf Bahnen Des Meers, ein neuer Strom den Ozeanen,

Ein Erbe mehr des Geistes unserer Ahnen, Ein Bürger mehr für dich, Amerika!

Allein die stärkste Anziehungskraft besaß doch für ihn das Land, das ihn zuerst zum Gesänge begeistert hatte.

Er riß sich

los von seiner Geliebten, die er den Gefahren und Strapazen eines

Feldzuges nicht auszusetzen wagte.

Das englische Komitee der Phil­

hellenen hatte ihn unter seine Mitglieder ausgenommen, und er brachte reiche Geldmittel von demselben mit. In Livorno empfing er noch am Tage der Abreise Goethe's ersten und letzten Gruß, das

bekannte Sonett des Altmeisters an Byron. Fünf volle Monate hielt Byron sich auf Kephalonia auf, damit beschäftigt, sich eingehend mit

dm griechischen Angelegenheiten vertraut zu machen, und von jedem

einzelnen der verschiedmm, sich gegenseitig in Parteileidenschast be­ fehdenden Häuptlinge bestürmt, sich ihm anzuschließen.

Die Ber­

teilung von Kriegsmaterial, Geschütz und Geld veranlaßte einm aus-

gedehntm Briefwechsel, dm er mit eisernem Fleiß bewältigte. End­ lich traf Byron seine Wahl unter den griechischm Anführem und

mtschloß sich, zu Maurocordato nach Mssolunghi zu gehm. Schon währmd seines Aufmthaltes auf Kephalonia warm die für seinen

Ehrgeiz schmeichelhaftesten Anerbietungm an ihn gerichtet wordm.

Die

Griechen

monarchischen

neigten

in

ihrer

Regiemngsform zu,

überwiegenden und

Mehrzahl

nach der

der

Überzeugung

Trewlany's, der die Verhältnisse kannte, würde der Kongreß von

Salona, wenn Byron dmselbm erlebt hätte, ihm nichts Geringeres als die griechische Krone angeboten habm. Als Byron in Missolunghi ans Land stieg, wurde er beinahe

wie ein Fürst empfangm.

Geschützsalvm und rauschende Musik

begrüßtm ihn, die ganze Bevölkemng war in Hellem Jubel am

Strande zusammmgeströmt, unb in dem für ihn eingerichteten

Hause erwartete ihn Maurocordato an der Spitze einer glänzenden Versammlung griechischer und ausländischer Offiziere. 5000 Mann lagen in der Stadt.

Byron nahm 500 Sulioten (Albanesen), die

durch Marco BvMri's Tod führerlos geworden, in feinen eigenen Sold.

Sich selbst erkor er den gefährlichsten Postm, gleich als

wünschte er den Tod herbei.

Er wollte den Befehl über die nach

Lepanto zu entsendenden Truppen übernehmen und hoffte durch

Mut und Thatkraft zu ersetzen, was ihm an militärischer Er­ fahrung abging.

Die eigentliche strategische Leitung sollte einem

Generalstab obliegen. Er hatte hier Gelegenheit, über die mächtige Wirkung zu staunen, die persönliche Unerschrockenheit und persönliche Vorzüge auf halbwilde Männer üben; durch nichts imponierte er

seinen Sulioten, die selbst schlechte Schützen waren, so sehr, wie durch seine Sicherheit im Schießm und seine Gleichgültigkeit gegen

Gefahren.

Er selbst war ein größerer Mensch geworden.

Wohl

konnte seine alte Schwermut sich seiner noch bemächtigen, doch die lichte Bahn des Ruhmes lag offen vor seinen Augen.

Ein Zeugnis

seiner Stimmung ist das herrliche Gedicht, das er an seinem sieben­

unddreißigsten Geburtstage verfaßte, das schönste vielleicht, das er je gedichtet. Vergleicht man es mit den trostlosen Zeilen, die er an dem

Tage niederschrieb, an dem er sein dreiunddreißigstes Lebensjahr

vollendete, so wird man sich des Unterschiedes recht inne. Es enchält die Ahnung seines nahm Todes und dm männlichstm Vorsatz: Nun ist es Zeil, daß endlich sich

Mein einsam Herz zur Ruh' begiebt; Doch muß ich lieben, ob auch mich Kein andrer liebt.

Das Laub wird gelb, der Winter kam, Der Liebe Blüt' und Frucht verdorrt,

Und nur der Wurm, der Krebs, der Gram,

Sind mein hinfort.

Nicht aber jetzt, nicht hier erdrückt, Erinnerungen, Herz und Hirn;

Nicht hier, wo Ruhm dem Helden schmückt

Sarg oder Stirn!

Banner und Schwert und Schlachtgefild Und Hellas schaun mir in's Gesicht — Der Sparter, tot auf seinem Schild,

War freier nicht.

Was ungesucht so mancher sand.

Ein kriegrisch Grab, das suche du! Schau denn in's Land, wähl' deinen Stand,

Und finde Ruh'!

Byron's allererster Gedanke war, wie sich von ihm erwarten

ließ, der Barbarei, mit welcher der Krieg geführt wurde, nach Kräften Einhalt zu chun.

Er schenkte einigen türkischen Offizieren

die Freiheit und sendete sie zu Jussuf Pascha mit

einem in

würdigen und schönen Ausdrücken abgefaßten Briefe, worin er ihn bittet, dafür auch wieder den griechischen Gefangenen Menschlich­

keit zu beweisen, sei doch das Elmd des Krieges ohnehin furcht­ bar genug.

Hierauf wmdete er mit aller Kraft seine Aufmerk­

samkeit der Aufgäbe zu, die er sich gestellt hatte, und hier zeigte sich nun klar sein praftischer Blick im Gegensatze zu den Träumereien seiner Umgebung.

Währmd die übrigen mglischen Komiteemitglieder in ihrer weltmtrücktm Schwärmerei für Ideen damit beginnen wolltm, durch

Gründung einer freien Presse, durch Journalartikel u. s. w. Griechen-

land zu civilisieren, war bei Byron der Carbonaro ganz dem

Politiker gewichen.

Mit Festigkeit und Kraft baute er überall nur

auf die wirklich vorliegendm Verhältnisse, zuvörderst auf den ge­

meinsamen Türkmhaß der Griechm.

Er glaubte, daß mit diesem zu

rechnm ficherer wäre, als seine Rechnung auf ihre Liebe zu Freiheit und

Republik zu gründen.

Stanhope wollte Schulen gründen, Byron

forderte und verteilte Kanonen.

Stanhope suchte, durch Missionäre

protestantisches Christmtum einzuführen.

Byron, der einsah, daß

diese Thorheit die ganze griechische Geistlichkeit dem Aufstande mtftemdm würde, wollte nur Gewehre und Geld einführen. End­

lich unterließ jetzt Byron jedm feindlichen Ausfall gegen die mropäischen Regierungen.

Er, der das klägliche Scheitem des

Carbonarismus an der organisierten Macht mit angesehm hatte, wollte vor allem dahin tonten, von Seiten der Großmächte die Anerkmnung Griechenlands zu erlangm.

Leider war seine Gesundheit seinen großen Plänen nicht ge­ wachsen.

Er unternahm in Missolunghi seine gewohnten Spazier­

ritte um die Wälle der Stadt und ließ sich, um auf die Phantasie der Einwohner zu wirken, wenn er ausritt, von einer Leibwache von 50 Sulioten zu Fuß begleiten.

Sie waren so vorzügliche

Läufer, daß sie mit geschultertem Gewehr neben seinem Pferde ein­

herliefen, selbst wenn er den schärfsten Trab ritt. Auf einem dieser

Ritte wurde er bis auf die Haut durchnäßt, wollte aber'dennoch nicht sofort nach Hause.

„Nähme ich solche Rücksichten," meinte er,

„so würde ich einen schlechten Soldaten abgeben."

Tags darauf

stellten sich heftige Krämpfe ein — drei Männer vermochten kaum ihn zu halten — wobei er so furchtbare Schmerzen litt, daß er

sagte: „Ich fürchte nicht dm Tod, aber diese Schmerzm kann ich

nicht ertragen."

Währmd des darauf folgmden ohnmachtähnlichen

Zustandes stürzte ein Tmpp aufrührerischer Sulioten in sein Gemach,

schwang die Säbel und verlangte Genugthuung für eine vermeint­ liche Zurücksetzung.

Byron richtete sich im Bette auf, und mit

einer gewaltigen Willmsanstrengung, um so ruhiger, je mehr sie

schrieen, beherrschte er sie durch Blick und Mienen und schickte sie fort.

Er hatte früher Moore geschrieben: „Sollte etwas wie Fieber,

Überanstrengung, Hunger oder dergleichen dem Leben Ihres Bmders in Apoll hier ein Ende machen, so dmkm Sie mein bei Wein

und Gesang.

Ich hoffe, daß die gute Sache siegen wird; eins

aber weiß ich, daß der Ehre Gebot von mir so streng eingehalten

werden wird, wie meine Milchdiät."

Dm 15. April mußte Byron

sich wieder zu Bette legen, und das Fieber verließ ihn nicht mehr. Der 18. April war der erste Osterfeiertag, dm die Griechen mit

Kanonmdonner und Gewehrsalvm auf dm Straßm zu feiern pflegtm. Aus Mcksicht auf ihrm Wohlchäter verhielt jedoch die Bevölkemng

sich ganz still. Lebens.

Der 19. April 1824 war der letzte Tag seines

Er lag im Delirium, glaubte zu kommandieren und rief:

Vorwärts, immer vorwärts, Mut! Als er wieder zu sich gekommen war, bat er seinen Kammerdiener seinen letzten Willen zu ver­

nehmen.

Er sagte: Gehe zu meiner Schwester und sage ihr.....

gehe zu Lady Byron und sage ihr

; allein seine Stimme

versagte, und man hörte nur einzelne Namen: Augusta — Ada — „nun habe ich Dir alles gesagt," schloß er.

„Ach, Mylord,"

entgegnete der Diener, „ich habe kein Wort von dem verstanden,

was mir Enre Herrlichkeit gesagt haben." „Mich nicht verstanden?"

versetzte Byron mit einem trostlosen Blick, „welches Unglück! Jetzt

ist es zu spät!" — Nur «och ein paar abgerissene Worte hörte man aus seinem Munde: Armes Griechenland!

Meine armen Dimer!

Arme Stadt!

Dann wandten sich seine Gedanken der

Geliebtm zu, berat er sagte italienisch: Io lascio qualque cosa di caro nel mondo.

Endlich gegen Abmd sagte er: „Nun will

ich schlafm" — und er war nicht mehr.

Byron's Tod traf ganz Griechenland wie ein Donnerschlag. Das Volk stand diesem Verluste wie einem Naturereignisse, dessm

Folgen sich nicht berechnen ließen, gegenüber.

Noch desselbigen

Tages erschien das folgende Manifest:

Die provisorische Regierung von Westgriechenland. Das heutige Osterfest hat sich aus einem Freudmfeste in einen Tag des Leides und der Trauer verwandelt.

Lord Noel

Byron hat heute um 6 Uhr Nachmittags nach zehntägigem Krankm-

lager zu leben aufgehört

Ich verordne hiermit:

1. Morgen bei Tagesanbruch sollen von der großen Batterie

37 Kanonenschüsie abgegeben werden, eine Zahl, die dm Lebms-

jahrm des großm Totm entspricht. 2. Alle öffentlichen Gebäude, einschließlich der Rathäuser, bleiben drei Tage geschlossen. 3. Alle Verkaufslädm, mit Ausnahme der Apotheken, bleibm

gleichfalls geschlossm, und es ist strenge darauf zu achten, daß

keinerlei Art von Fröhlichkeit, womit sonst das Osterfest be­ gangen wird, kundgegebm werde. 4. Allgemeine Landestrauer für 21 Tage. 5. In allen Kirchen sind Trauergottesdienste abzuhalten.

Gegeben zu Missolunghi, den 19. April 1824. A. Maurocordato.

Es bedarf keines andern Zeugnisses des Eindruckes, welchen die Botschaft von dem Tode Byron's auf alle, die ihm nahe

standen, machte.

Die griechische Bevölkerung lief wehklagend durch

die Straßen unter dem Rufe: Er ist tot, der große Mann ist tot! — Die Leiche wurde nach England gebracht, und die Geist­ lichkeit

verweigerte

Westminsterabtei.

ihr einen Platz in dem Dichterwinkel

der

Aber „hocherhaben über Englands Tadel und

Griechenlands Lob" schritt sein Andenken über die Erde dahin. In Rußlands und Polms, Spaniens und Italiens, Frank­

reichs und Deutschlands Geistesleben setzten die Keime, die er mit ver­

schwenderischer Hand ausgestreut hatte, Frucht an. Der Same ward zu Blumm, die Drachenzähne wurdm zu streitbaren Männern.

Die

slawischen Nationen, die unter einer brutalen Tyrannei senkten, beiten von Natur der Hang zur Schwermut eigen war, und bei

welchen die Geschichte aufrührerische Instinkte großgezogen hatte, eigneten sich Byron's Poesie leidenschaftlich an, und Puschkin's „Onegin", Lermontow's „Der Held unserer Zeit", Malczewski's

„Marya", Mickiewicz's „Konrad Wallenrod", Slowacki's „Lambro" und „Beniowski" zeigen, wie tief ihre Dichter sich ergriffen

fühlten. In den romanischen Ländern, beten schönes Klima und süße

Sündm er besungen hatte, und die sich eben jetzt zum Aufstande erhoben, wurdm seine Werke übersetzt und eifrig studiert.

Die

emigrierten spanischen und italienischen Dichter nahmm feinen Feld­ ruf auf, in Spanim selbst bildete sich die Myrtengesellschaft, in

Italien stand vor allem Giovanni Berchet unter dem Einflüsse

Byron's, und bei Leopard! und Giusti ist derselbe kaum weniger fühlbar.

Am bedeutendsten jedoch war der spontane Eindruck des Todes Byron's in Frankreich.

Nur wenige Wochen lagen zwischen dieser

Begebenheit und dem Übertritt Chateaubriand's zur Opposition,

und dessen erste That nach seinem Sturze war, dem griechischen Komitee als Mitglied beizutreten. Hugo's Les Orientales bedeuteten

keine Flucht ins Morgenland, wie sie die deutschen Dichter liebten; Hugo nahm den Weg über Griechenland und verweilte lange bei

den Helden des Freiheitskrieges.

Delavigne besang Byron in einem

schönen Gedichte, Lamartine fügte Childe Harold noch einen Ge­ sang hinzu, Mirimee ließ sich von dem Geiste wilder Urwüchsig­ keit in Byron's Dichtungen stimmen, Alfred de Müsset versuchte

das Erbe des großen Dichters anzutreten, und selbst Lammenais führte alsbald eine Sprache, in der so manches Wort und manche

Wendung an den Ton von Byron's Ausfällen gemahnte. Deutschland war politisch noch zu weit zurück, um Verbannte

und Ausgewanderte unter seinen Dichtergeistern zu zählm; allein mit stiller philologischer Begeisterung hatten seine Gelehrten in der

Erhebung Griechenlands die Wiederauferstehung des antiken Hellas erblickt; Dichter wie Wilhelm Müller und Alsted Meißner schrieben

schöne Gedichte zu Ehrens Byron's, und innerhalb der Grenzen

des Landes gab es hier in der Litteratur Geister,

die fich mit

Fug und Recht exiliert und geächtet fühlten, und bei denen Byron's

Poesie um so zündender wirkte: die Schriftsteller jüdischer Ab­

kunft, besonders Börne und Heine.

Heine's beste Poesie, vor

allem „Deutschland ein Wintermärchen," setzt Byron's Lebenswerk

fort.

Die Romantik

in Frankreich

und der Liberalismus in

Deutschland stammen beide in gerader Linie vom Naturalismus

in Byron's Dichtung ab.

Der Naturalismus in dem Geistesleben Englands beginnt hei

Wordsworth als ländliche Liebe zur äußeren Natur, als Aufsparung

Byron.

Kulmination de« Naturalismus.

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von Natureindrücken und als Pietät gegen das Tier, das Kind, den Bauern und die Herzenseinfältigen.

Er verirrt sich bei ihm

vorübergehend in eine Sackgasse, die der platten Naturnachahmung.

Er nähert sich bei Coleridge und noch mehr bei Southey der gleich­

zeitigen deutschen Romantik, folgt dieser in die Welt der Legende und des Aberglaubens, hält sich aber durch seine naturalistische

Behandlung des romantischen Stoffes, durch seinen offenen Sinn

für Land und Meer und alle Elemente der Wirklichkeit von ihrm schlimmsten Ausschreitungen frei.

Der Naturalismus wird völker­

psychologisch und historisch bei Scott und schildert mit lebhaften

Farben den Menschen als Kind einer Rasse und eines Zeitalters;

er erobert bei Keats die ganze Sinnenwelt und einen Augenblick

neutral zwischen

hält sich hier

dem Ruhen in der Natur­

betrachtung und dem Predigen eines Naturevangeliums und natür­ licher Rechte.

Er wird erotisch und liberal-politisch bei Moore,

den der Anblick der Leiden seiner Heimatinsel hinüber in das Lager der freisinnigen Ideen treibt.

Er gestaltet sich bei Camp­

bell zum Lobgesang auf England als der Königin des Meeres und zum Ausdruck für britischen Freisinn.

Er tritt bei Landor

als heidnischer Humanismus auf, doch zu abschreckend und stolz,

um Europa für sich einnehmen zu können.

Er verwandelt sich

bei Shelley zu einer pantheistischen Naturschwärmerei und einem poetischen Radikalismus, der über die erlesensten dichterischen Mittel gebietet; allein sein unkörperliches, kosmisches Gepräge im Verein

mit dem allzu großen Borsprung des Dichters vor seiner Zeit und sein früher Tod bewirken, daß der Gesang ungehört verhallt, ohne

daß Europa ahnt, welchen Dichter es in ihm besitzt und verliert.

Doch wie Achilleus sich erhebt, nachdem er des Patroklos Leiche verbrannt hat, mit so gewaltiger Kraft erhebt jetzt nach Shelley's Tode Byron seine Stimme.

Die europäische Poesie floß

wie ein stiller, träger Strom dahin, und wer an dessen Ufern

wandelte, fand wenig, worauf sein Auge hätte ruhen mögen.

Da

entstand im fortgesetzten Laufe des Stromes jene Poesie, welcher

so oft der Boden unter den Füßen wich, daß sie in Kaskaden sich von Fall zu Fall stürzte — und alle betrachten einen Fluß

an der Stelle, wo seine Wogen einen Wasserfall bilden.

Hier

bei Byron sah man die Flut schäumen und kochen, hörte sie melodisch rauschen und jauchzend ihren Hochgesang gm Himmel

senden.

Hier empörten sich die Wasser — schauerlich schön —

vom weißen Schaum der Wut bedeckt, drehten sich in Wirbeln, zersplitterten sich selbst und alles, was ihnen im Wege stand, ja höhltm allmählich selbst Felsen aus.

Und inmitten des Wasser­

falles wölbte sich, wie Byron in Harolds Pilgerfahrt es geschildert,

eine herrliche Iris, ein prachtvoll strahlender Regmbogrn, das

Zeichen der Harmonie, des Friedens und des Freiheitsglückes, vielen unbemerkbar, doch jedem sichtbar, welcher die Soime über sich hat und sich richtig stellt.

Er kündigte Europa bessere Tage an.