124 84 3MB
German Pages 340 [342] Year 2019
Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht 424 Herausgegeben vom
Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Direktoren: Holger Fleischer, Ralf Michaels und Reinhard Zimmermann
Adrian Hemler
Die Methodik der „Eingriffsnorm“ im modernen Kollisionsrecht Zugleich ein Beitrag zum Internationalen Öffentlichen Recht und zur Natur des ordre public
Mohr Siebeck
Adrian Hemler, geboren 1991; Studium der Rechtswissenschaft in Berlin; seit 2018 Rechtsreferendar am LG Baden-Baden (OLG-Bezirk Karlsruhe); 2019 Promotion am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privat- und Verfahrensrecht und Rechtsvergleichung der Universität Konstanz. orcid.org/0000-0001-7552-4042
ISBN 978-3-16-158316-2 / eISBN 978-3-16-158317-9 DOI 10.1628/978-3-16-158317-9 ISSN 0720-1141 / eISSN 2568-7441 (Studien zum ausländischen und internationalen Privatrecht) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.
Der europäischen Integration
Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand in den Jahren 2016–2018 während meiner Zeit als Doktorand am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privat- und Verfahrensrecht und Rechtsvergleichung der Universität Konstanz. Sie ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Reise, die ohne strenge thematische Grenzen genug Gelegenheit zu bewussten und fruchtbaren Umwegen ließ. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich die hierfür nötigen Freiheiten genießen durfte. Ermöglicht wurde dies zuvorderst von meinem Doktorvater Prof. Dr. Michael Stürner, M. Jur. (Oxford), welcher die Entstehung meiner Arbeit mit fruchtbarer Neugier, organisatorischem Beistand und genügend Gelegenheiten zum Austausch begleitete. Hierfür möchte ich ihm meinen tiefen Dank und meine Verbundenheit aussprechen. Mein Dank gilt ferner der Studienstiftung des deutschen Volkes, die durch ein Promotionsstipendium eine konzentrierte Verwirklichung meiner Dissertation ermöglichte. Ebenso bedanken möchte ich mich bei der Stiftung der Deutschen Wirtschaft für die Förderung als Promotionsstipendiat in der Frühphase meiner Doktorandenzeit. Für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens bedanke ich mich außerdem bei Prof. Dr. Astrid Stadler. Schließlich gilt mein Dank der Studienstiftung ius vivum, welche die Drucklegung dieser Arbeit mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss gefördert hat. Gesetzgebung, Literatur und Rechtsprechung konnten bis Mitte 2018 berücksichtigt werden. Den natürlichen Forschergeist, der jedem Kind innewohnt, verlieren leider allzu viele Menschen im Laufe ihres Lebens. Dass mir die Lust am „Warum“ geblieben ist, verdanke ich meinen liebevollen Eltern Julia Hemler und Dr. med. Jörg-Detlev Hemler, die mich während meines Studiums und meiner Promotionszeit in den unterschiedlichsten Formen unterstützt haben. Das Korrektorat einiger Kapitel der Arbeit nahmen dankenswerterweise meine Patentante Christiane Fasoli-Hemler sowie Anneke-Marie Buddensiek auf sich. Mein besonderer Dank für eine komplette Durchsicht gilt schließlich der „Frau mit dem Fehlersuch-Gen“ Angela Schick. Karlsruhe, Mai 2019
Adrian Hemler
Inhaltsübersicht Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsverzeichnis ........................................................................................ XI Abkürzungsverzeichnis .............................................................................XXI
Einführung ................................................................................................. 1 Kapitel 1: Die Geschichte der Durchsetzung forumseigenen und forumsfremden Rechts gegen die lex causae ............................ 6 A. Die Anerkennung der Fremdrechtsberücksichtigung als Prämisse des Durchbruchs dritten und forumseigenen Rechts ........................................ 6 B. Die Durchsetzung forumseigener Normen und Wertungen gegen anzuwendendes Fremdrecht im 19. Jahrhundert ........................................ 7 C. Eingriffsnormen und ordre public im 20. Jahrhundert bis zur Kollisionsrechtsvereinheitlichung ............................................................18 D. International zwingendes Recht im Europäischen Schuldvertragsübereinkommen ................................................................35 E. Eingriffsnorm und ordre public im unionalen Kollisionsrecht ..................41 F. Zusammenfassung ....................................................................................51
Kapitel 2: Die Erfassung des Eingriffsrechts durch die unionale IPR-Kompetenz ......................................................................54 A. Die Eingriffsnorm als „Internationales Privatrecht“ im Sinne der Unionskompetenz.....................................................................................55 B. Die Eingriffsnormklauseln als kompetenzielle Bereichsausnahmen für heimisches Eingriffsrecht? ..................................................................59
Kapitel 3: Die vermeintlichen Eigentümlichkeiten des Internationalen Öffentlichen Rechts als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts .................................................................61 A. Das Einseitigkeitsdogma des IÖR ............................................................62 B. Erosion des Einseitigkeitsdogmas in der Rechtswirklichkeit? ..................68
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Inhaltsübersicht
C. Die materiellrechtliche Berücksichtigung als Ausweg? ............................74 D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas ..............................................81 E. Eine Neubetrachtung des IÖR ................................................................141 F. Gesamtfazit zum 3. Kapitel ....................................................................152
Kapitel 4: Folgerungen für die Eingriffsnorm ...............................154 A. Die „apriorische“ Methodik der Eingriffsnorm ......................................154 B. Die „statutarische“ Methodik der Eingriffsnorm ....................................164 C. Die verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln ........................165 D. Die Herkunft der auf nationales Recht zeigenden SpezialKollisionsnormen im Anwendungsbereich des unionalen IPR ................191 E. Die europäische Kontrolldichte ..............................................................197 F. Zusammenfassung ..................................................................................199
Kapitel 5: Die Entwicklung ein- und allseitiger SpezialKollisionsnormen im Bereich vormaligen „Eingriffsrechts“ .....201 A. Der Weg zur Bildung spezieller Kollisionsnormen ................................201 B. Die Ausbildung einseitiger (heimseitiger) Kollisionsnormen .................209 C. Der Weg zur Allseitigkeit ......................................................................210 D. Die Eigenheiten der auf unionales Sachrecht zeigenden Kollisionsnormen ...................................................................................217 E. Das Binnenmarktkollisionsrecht als außerordentliche Bündelung ..........222 F. Die Fruchtbarmachung der Eingriffsnormdiskussion für die Ausbildung von Spezial-Kollisionsnormen ............................................231 G. Zusammenfassung .................................................................................238 H. Fazit ......................................................................................................239
Kapitel 6: Die Rolle des ordre public ..............................................241 A. Die herkömmliche Definition des ordre public ......................................242 B. Die Negativität des ordre public .............................................................249 C. Die kollisionsrechtliche Dimension der Motivebene des ordre public ....254 D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public ..............................260 E. Fazit .......................................................................................................281
Schlussbetrachtung ...............................................................................283 Literaturverzeichnis ....................................................................................287 Sachverzeichnis ..........................................................................................313
Inhaltsverzeichnis Vorwort ...................................................................................................... VII Inhaltsübersicht ........................................................................................... IX Abkürzungsverzeichnis .............................................................................XXI
Einführung ................................................................................................. 1 Kapitel 1: Die Geschichte der Durchsetzung forumseigenen und forumsfremden Rechts gegen die lex causae .................................... 6 A. Die Anerkennung der Fremdrechtsberücksichtigung als Prämisse des Durchbruchs dritten und forumseigenen Rechts ........................................ 6 B. Die Durchsetzung forumseigener Normen und Wertungen gegen anzuwendendes Fremdrecht im 19. Jahrhundert ....................................... 7 I. Die Durchsetzung zwingender Bestimmungen im deutschen Rechtskreis des 19. Jh. ................................................................................................. 8 II. „Ordre public“ und „ordine pubblico“ im romanischen Rechtskreis des 19. Jh. ................................................................................................11 III. Eingriffsrecht im common law des 19. Jh. ..............................................15 IV. Zwischenergebnis ...................................................................................15 V. Die Kritik Kahns am „ordre public“ und den „Prohibitivgesetzen“ ..........16 C. Eingriffsnormen und ordre public im 20. Jahrhundert bis zur Kollisionsrechtsvereinheitlichung ............................................................18 I. Ordre public, „zwingendes“ Recht und „Eingriffsnormen“ in Deutschland .............................................................................................18 1. Rezeption und Anwendung des Art. 30 EGBGB a.F. .............................18 2. Die Behandlung in- und ausländischer Eingriffe ins Wirtschaftsleben als Geburtsstunde der Eingriffsnorm .....................................................20
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Inhaltsverzeichnis
a) Die Anfänge der Sonderanknüpfung in- und ausländischen „zwingenden“ Rechts........................................................................21 b) Die beginnende Eigenständigkeit der Sonderanknüpfung „zwingenden“ Rechts und die Festigung des negativen ordre public .........................................................................................23 c) Bewertung.........................................................................................25 3. Die Eingriffsnorm als Gegenstand von Sondersystemen ........................26 4. Exkurs: Die US-amerikanischen Reformbemühungen und ihr Beitrag zur Isolation der Eingriffsnorm .............................................................28 5. Zusammenfassung .................................................................................30 II. Eingriffsrecht im romanischen Rechtskreis des 20. Jahrhunderts .............30 1. Die Unterscheidung zwischen lois d’ordre public und exception d’ordre public .......................................................................................30 2. Von den „lois d’ordre public“ zu den „lois d’application immédiate“ ...32 III. Eingriffsrecht im common law des 20. Jh. ..............................................33 D. International zwingendes Recht im Europäischen Schuldvertragsübereinkommen ................................................................35 I. Entwurfsgeschichte ...................................................................................35 II. Der deutsche Vorbehalt ............................................................................38 III. Rezeption ...............................................................................................39 IV. Rechtsvergleichende Nachlese................................................................40 E. Eingriffsnorm und ordre public im unionalen Kollisionsrecht ..................41 I. Art. 9 Rom I-VO .......................................................................................42 1. Entwurfsgeschichte ...............................................................................42 2. Der Definitionsversuch des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO .............................44 3. Die Behandlung schuldstatutszugehörigen Eingriffsrechts ....................45 4. Die Behandlung drittstaatlichen Eingriffsrechts ....................................46 a) Eine rechtspolitische Grundsatzentscheidung? ..................................46 b) Tatbestandliche Beschränkungen ......................................................47 c) Sperrwirkung? ..................................................................................47 d) Forum shopping ................................................................................49 II. Art. 16 Rom II-VO...................................................................................50 III. Eingriffsrecht im sonstigen europäischen Kollisionsrecht .......................50 IV. Der ordre public im europäischen Kollisionsrecht ..................................51 F. Zusammenfassung ....................................................................................51
Inhaltsverzeichnis
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Kapitel 2: Die Erfassung des Eingriffsrechts durch die unionale IPR-Kompetenz .......................................................................................54 A. Die Eingriffsnorm als „Internationales Privatrecht“ im Sinne der Unionskompetenz .....................................................................................55 I. Abgrenzung der Unionskompetenz durch Gleichsetzung der Reichweite von IPR und Zivilrecht .............................................................................56 1. Der Zivilrechtsbegriff des unionalen Verfassungsrechts ........................56 2. Schlussfolgerungen ...............................................................................57 II. Abgrenzung der Unionskompetenz durch sachrechtsunabhängiges Verständnis des IPR .................................................................................58 III. Zwischenergebnis ...................................................................................58 IV. Die hilfsweise Heranziehung der Annexkompetenz ................................59 B. Die Eingriffsnormklauseln als kompetenzielle Bereichsausnahmen für heimisches Eingriffsrecht? .......................................................................59
Kapitel 3: Die vermeintlichen Eigentümlichkeiten des Internationalen Öffentlichen Rechts als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts ..................................................................................61 A. Das Einseitigkeitsdogma des IÖR ............................................................62 I. Die Territorialität des Öffentlichen Rechts ................................................63 II. Der Grundsatz von der Nichtanwendbarkeit ausländischen Öffentlichen Rechts..................................................................................66 III. Zwischenergebnis ...................................................................................67 B. Erosion des Einseitigkeitsdogmas in der Rechtswirklichkeit? ...................68 I. Berücksichtigung statutszugehörigen ausländischen Öffentlichen Rechts im IPR......................................................................................................68 II. Anerkennung ausländischer Rechtslagen und Hoheitsakte als allseitiges IÖR? ........................................................................................70 III. Das europäische Herkunftslandprinzip als allseitige Kollisionsnorm des IÖR? ..................................................................................................71 IV. Einzelfälle ..............................................................................................72 V. Abgrenzung zur Vereinheitlichung einseitiger Kollisionsnormen ............74 VI. Zwischenergebnis ...................................................................................74 C. Die materiellrechtliche Berücksichtigung als Ausweg? ............................74
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Inhaltsverzeichnis
I. Die Parallele zur materiellrechtlichen Berücksichtigung drittstaatlichen Eingriffsrechts ..........................................................................................76 II. Die Unterlegenheit der materiellrechtlichen Berücksichtigung.................78 III. Funktionale Identität zwischen materiellrechtlicher und kollisionsrechtlicher Fremdrechtsberücksichtigung? ................................79 IV. Ergebnis .................................................................................................81 D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas ..............................................81 I. Staatsnähe und Staatsferne ........................................................................82 1. Import fremder Staatsmacht und Verlust öffentlich-rechtlicher Rechtsqualität durch kollisionsrechtliche Berufung ausländischen Öffentlichen Rechts? .............................................................................83 a) Das autonome Kollisionsrecht ...........................................................84 b) Die Veranschaulichung der Methodik des autonomen Kollisionsrechts mit besonderer Berücksichtigung der Gesamtnormverweisung ...................................................................84 c) Die Veranschaulichung der Methodik des Unilateralismus und des völkerrechtlichen Kollisionsrechts anhand der Rolle des imperativen Normelements ...............................................................91 d) Schlussfolgerungen und Überleitung ................................................94 e) Die These von der Vorstaatlichkeit des Privatrechts .........................95 aa) Die Zweifelhaftigkeit des historischen Ansatzes der Vorstaatlichkeitsthese ...................................................................96 bb) Wegfall der Vorstaatlichkeit in der Moderne ..............................98 cc) Der Irrtum von der Mitberufung des fremden Imperativs als stille Grundlage der Vorstaatlichkeitsthese ...........................100 f) Die These von der Untrennbarkeit des imperativen und rationalen Elements im Öffentlichen Recht .....................................................101 aa) Die Abtrennbarkeit der öffentlich-rechtlichen Ratio .................101 bb) Der zwingende Verlust der fremden Rechtsqualität infolge der Synthesewirkung des autonomen Kollisionsrechts................102 2. Zwischenergebnis ................................................................................106 3. Völkerrecht und Kollisionsrecht ..........................................................106 a) Die Berufung eigenen Rechts und das genuine link-Erfordernis ......106 b) Die Berufung fremden Rechts und ihre völkerrechtlichen Begrenzungen .................................................................................108 c) Der Schutz staatlicher Souveränität als verbindende Zielsetzung ....110 4. Exkurs: Die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Syntheseergebnisses ............................................................................110 5. „Wertneutralität“ und „Austauschbarkeit“ als Voraussetzung der Allseitigkeit?.......................................................................................111 a) Die „Austauschbarkeit“ des Zivilrechts ...........................................112
Inhaltsverzeichnis
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b) Die „Wertfreiheit“ des IPR .............................................................113 c) „Materialisierung“ und Gemeinwohlbezug als Hindernis der Allseitigkeit ....................................................................................115 6. Zwischenergebnis ................................................................................116 II. Fragestellung vom Gesetz vs. Fragestellung vom Sachverhalt ...............117 1. Die Verwandtschaft zur staatsfernen Privatrechtskonzeption ...............118 2. Zur Entbehrlichkeit der internationalen Verbreitung des Anknüpfungsgegenstands....................................................................119 3. Das Verhältnis der Fragestellungen „am Gesetz“ und „am Sachverhalt“ im schurigschen Bündelungsmodell ........................120 a) Der Sachnormbezug des Kollisionsrechts als Grundlage des Bündelungsmodells ........................................................................120 b) Die Austauschbarkeit der Fragestellungen im Bündelungsmodell ...121 c) Die Bündelschnürung anhand der kollisionsrechtlichen Interessenlage .................................................................................124 aa) Der Sachnormzweck im klassischen und modernen Kollisionsrecht ...........................................................................125 bb) Kein Ausschluss des Sachnormzwecks bei Betonung einer eigenständigen „kollisionsrechtlichen Gerechtigkeit“ .................128 cc) Stellungnahme ..........................................................................129 d) Der Qualifikationsvorgang als Zusammenfassung von ElementKollisionsnormen mit vergleichbarer Interessenlage .......................133 e) Außerordentliche Bündelungszustände ...........................................134 f) Der Ansatz „am Gesetz“ und der Ansatz „am Sachverhalt“ als Frage des Bündelungsumfangs .......................................................137 g) Zum Einseitigkeitsbegriff ...............................................................138 4. Der unilateralistische Irrtum im Falle des Ansatzes beim fremden Gesetz .............................................................................................138 III. Zusammenfassung ................................................................................140 E. Eine Neubetrachtung des IÖR ................................................................141 I. Die Möglichkeit allseitiger Bündelungszustände .....................................141 II. Die Unabhängigkeit der potentiell allseitigen Methode von den beteiligten Subjekten ..............................................................................142 1. Die potentielle Allseitigkeit der an Hoheitsträger gerichteten Kollisionsnormen ................................................................................143 2. Subjektrelativität als Frage der vertikalen Bündelung ..........................144 3. Die identische kollisionsrechtliche Struktur und Methodik sowie die terminologischen Folgen ...............................................................145 4. Die Folgen der strukturellen Identität ..................................................146 III. Einige Gründe für die weitergehende Einseitigkeit der Kollisionsnormen für materiell Öffentliches Recht ................................146
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1. Der weitgehende Gleichlauf mit der Internationalen Öffentlichen Zuständigkeit ......................................................................................147 2. Notwendige Einseitigkeit kraft Sachzusammenhang............................148 3. Geringere Mobilität hoheitlicher Akteure ............................................148 4. Verfassungsrechtliche Einschränkungen..............................................149 IV. Die Gelegenheit zur unbelasteten Kollisionsnormbildung ....................151 V. Fazit und Schlussfolgerungen ................................................................151 F. Gesamtfazit zum 3. Kapitel .....................................................................152
Kapitel 4: Folgerungen für die Eingriffsnorm ...............................154 A. Die „apriorische“ Methodik der Eingriffsnorm .....................................154 I. Zur Vorstellung der Kollisionsnormlosigkeit ..........................................154 II. Nicht-abstrahierte Kollisionsnormen („selbstgerechte Sachnormen“) als Beitrag zur Illusion des Apriorismus .................................................157 III. Apriorismus und Kollisionsnormentwicklung .......................................158 1. Die Kollisionsnormbildung durch Auslegung räumlich-persönlicher Tatbestandsmerkmale..........................................................................159 2. Die Kollisionsnormbildung durch Rechtsfortbildung ...........................160 IV. Schlussfolgerung: Der Spezialitätsgrundsatz als Fundament der Eingriffsnorm .........................................................................................162 B. Die „statutarische“ Methodik der Eingriffsnorm ................................... 164 C. Die verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln.........................165 I. Die Eingriffsnormklauseln als Durchbrechung der Vorrangigkeit des Unionsrechts? ........................................................................................166 II. Die Eingriffsnormklauseln als Durchbruch staatlicher Rechtsanwendungsinteressen? ................................................................167 III. Die Eingriffsnorm als Bereich entbehrlicher Kollisionsnormbildung? ..167 IV. Die Eingriffsnorm als Vorschrift mit hervorgehobenem Gemeinwohlbezug .................................................................................168 1. Die Öffentlichrechtlichkeit der Eingriffsnorm als Definitionsmerkmal? ...........................................................................171 2. Der Gemeinwohlbezug im modernen Rechtsstaat ................................173 a) Die Kollektivwirkung gesetzgeberischer Tätigkeit ..........................173 b) Schlussfolgerungen .........................................................................177 c) Die Rückführung auf allgemeine Rechtsmethodik nach Maßgabe der Interessenjurisprudenz ..............................................................179
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d) Die Integration des Gemeinwohlbezugs in den kollisionsrechtlichen Interessenkanon im Bereich bestehender Verweisungen .................................................................................181 3. Zusammenfassung und Fazit ...............................................................183 V. Der „internationale Anwendungswille“ ..................................................184 1. Der „internationale Anwendungswille“ als Rekurs auf die Spezialität bei der heimischen Eingriffsnorm .......................................................184 2. Der „internationale Anwendungswille“ bei der ausländischen Eingriffsnorm......................................................................................185 VI. Schlussfolgerung: Die Entbehrlichkeit der „Eingriffsnorm“ .................188 VII. Die verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln .....................190 D. Die Herkunft der auf nationales Recht zeigenden SpezialKollisionsnormen im Anwendungsbereich des unionalen IPR ................ 191 I. Nationale Herkunft der auf nationales Sachrecht zeigenden SpezialKollisionsnorm .......................................................................................191 II. Unionale Herkunft der auf nationales Sachrecht zeigenden SpezialKollisionsnormen ...................................................................................193 III. Die Rechtsquelle der auf unionales Sachrecht zeigenden Kollisionsnorm .......................................................................................196 IV. Zur Entbehrlichkeit der Eingriffsnormklauseln .....................................196 E. Die europäische Kontrolldichte ..............................................................197 F. Zusammenfassung .................................................................................. 199
Kapitel 5: Die Entwicklung ein- und allseitiger SpezialKollisionsnormen im Bereich vormaligen „Eingriffsrechts“ .....201 A. Der Weg zur Bildung spezieller Kollisionsnormen .................................201 I. Ermittlung der kollisionsrechtlichen Interessenlage ................................201 II. Ermittlung der Interessendivergenz ........................................................203 III. Durchsetzung der geschriebenen oder gebildeten Spezial-Kollisionsnorm nur bei ausreichender Interessendivergenz .......204 IV. Die Übertragbarkeit auf die Neubildung allgemeiner Kollisionsregeln .206 V. Die „dépeçage“ als natürliche Konsequenz plurinationaler Sachverhalte ...........................................................................................207 B. Die Ausbildung einseitiger (heimseitiger) Kollisionsnormen ..................209
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C. Der Weg zur Allseitigkeit .......................................................................210 I. Die zur Allseitigkeit notwendige kollisionsrechtliche Interessenlage ......211 II. Ausschließlich einseitige Berufung ........................................................215 III. Ausschließliche Berufung fremden Rechts ...........................................215 IV. Unvollkommen-allseitige Kollisionsnormen .........................................216 V. Zwischenergebnis ..................................................................................217 D. Die Eigenheiten der auf unionales Sachrecht zeigenden Kollisionsnormen ...................................................................................217 I. Die Rechtsquelle der auf unionales Sachrecht zeigenden Kollisionsnorm .......................................................................................217 II. Die Methode der Bildung von auf Unionsrecht zeigenden Kollisionsnormen ...................................................................................218 1. Die Ingmar-Rechtsprechung als Fall der rechtsfortbildenden Kollisionsnormbildung........................................................................219 2. Die häufigere Einseitigkeit der auf Unionsrecht zeigenden Kollisionsnormen ................................................................................222 E. Das Binnenmarktkollisionsrecht als außerordentliche Bündelung ..........222 I. Anwendungspflicht im Hinblick auf mitgliedstaatliche „Eingriffsnormen“? ................................................................................224 II. Das Herkunftslandprinzip ......................................................................227 III. Überschießende Umsetzungen ..............................................................227 IV. Durchsetzung der eigenen Richtlinientransformation gegen einen nicht oder mangelhaft umsetzenden Mitgliedstaat ..................................229 V. Zwischenergebnis ..................................................................................230 F. Die Fruchtbarmachung der Eingriffsnormdiskussion für die Ausbildung von Spezial-Kollisionsnormen .............................................231 I. Die Charakterisierung als „Eingriffsnorm“ als Ansatzpunkt der Bildung spezieller Kollisionsnormen ......................................................231 II. Die Vermutung häufiger Einseitigkeit im Bereich der „Eingriffsnormen“ ..................................................................................233 III. Die Übersetzung spezieller Festlegungen des Inlandsbezugs von „Eingriffsnormen“ als Anknüpfungsmoment ..........................................234 IV. Die Behandlung ausländischer „Eingriffsnormen“, insbesondere nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO .................................................................236 G. Zusammenfassung ..................................................................................238 H. Fazit ......................................................................................................239
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Kapitel 6: Die Rolle des ordre public ..............................................241 A. Die herkömmliche Definition des ordre public .......................................242 I. Die vom ordre public erfasste Normenmasse ..........................................242 II. Abgrenzungen anhand der eigenständigen Funktion des ordre public ....243 1. Der Schutz materieller Grundentscheidungen des Forums im konkreten Einzelfall ............................................................................244 2. Aposteriorismus und Relativität ..........................................................245 3. Negativität und Lückenfüllung „im Auslandsrecht“ ............................248 III. Zwischenergebnis .................................................................................249 B. Die Negativität des ordre public ............................................................249 I. Die ordre public-Wertung als Motiv oder berufener Gegenstand .............249 II. Die Kollisionsrechtlichkeit der Folgenebene des ordre public ................252 C. Die kollisionsrechtliche Dimension der Motivebene des ordre public .... 254 I. Die kollisionsrechtliche Berufung der übergeordneten Rechtssätze in abstracto .................................................................................................254 II. Die kollisionsrechtliche Berufung der übergeordneten Rechtssätze in concreto .................................................................................................255 1. Der Grundsatz: Subsumtion schafft kein neues Recht ..........................255 2. Die Ausnahme: Die Bildung von ad hoc-Sach- und Kollisionsnormen aus übergeordneten Wertungen ...........................................................256 III. Die Berufung fremden Ersatzrechts als Grenze der kollisionsrechtlichen Einordnung der Motivebene ..................................257 IV. Schlussfolgerungen ..............................................................................258 D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public ............................. 260 I. Bedeutung und Exemplifizierung ............................................................261 II. Verhältnis zum rangkollisionsrechtlichen Einfluss auf die kollisionsrechtliche Interessenlage .........................................................264 III. Hindernisse der rangkollisionsrechtlichen Lesart des ordre public ........264 IV. Vorteile ................................................................................................265 1. Die Verfassungskontrolle des Syntheseergebnisses als konsequente Fortführung der Verfassungskontrolle heimischen Kollisionsrechts ....266 2. Die faktische Verfassungskontrolle im Rahmen der herkömmlichen Dogmatik ............................................................................................269 3. Nachvollziehung der richterlichen und legislativen Verfassungsbindung ............................................................................270 a) Das Verhältnis zum Verfassungskollisionsrecht ..............................271
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b) Die Abgrenzung zur Berufung geschriebener oder geschaffener Konkretisierungen ranghöherer Wertungen ....................................274 4. Die Einordnung des rangkollisionsrechtlichen ordre public in das europäische Mehrebenensystem ..........................................................276 5. Die einzelfallunabhängige Ablehnung fremder Rationes .....................277 V. Die verbleibende Bedeutung der ordre public-Klauseln innerhalb der rangkollisionsrechtlichen Lesart .............................................................279 VI. Zusammenfassung ................................................................................280 E. Fazit .......................................................................................................281
Schlussbetrachtung ...............................................................................283 Literaturverzeichnis ....................................................................................287 Sachverzeichnis ..........................................................................................313
Abkürzungsverzeichnis a.A. a.a.O. a.E. a.F. abgedr. ABl. Abs. Abschn. abw. AcP AEUV AG ähnl. Am.L.Rev. Anm. Anwendungsb. Art. Aufl. ausf. ausl. BB Bd. BeckOGK BeckOK BerDGesVR BG BGB BGE BGH Bsp. BT.-Drs. BVerfG BVerfGE bzgl. bzw. C.A. C.M.L.Rev. CA CC
andere Ansicht am angegebenen Ort am Ende alte Fassung abgedruckt Amtsblatt Absatz Abschnitt abweichend Archiv für die civilistische Praxis Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Die Aktiengesellschaft ähnlich American Law Review Anmerkung Anwendungsbereich Artikel Auflage ausführlich ausländisch Betriebs-Berater Band Beck’scher Online-Großkommentar Beck’scher Online-Kommentar Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht Bundesgericht (Schweiz) Bürgerliches Gesetzbuch Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesgerichts (Schweiz) Bundesgerichtshof Beispiel Drucksache des deutschen Bundestags Bundesverfassungsgericht Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bezüglich beziehungsweise Appeal Cases (UK) Common Market Law Review Cour d’appel (Frankreich) Code Civil
XXII d. d.h. DBA dr. drittst. dt. DVBl. DZWir Ecolex Ed. EG EGBGB EGV Einf. Einfl. Eingriffsn. Einl. EL ELR EMRK EU EuErbVO EuGH EuGüVO EuGVÜ EuPartVO EuR EuUnthVO europ. EuZW EVÜ EWG EWiR EWS f./ff. FamRZ FG Fn. franz. FS GA gem. GG ggf. GPR grds.
Abkürzungsverzeichnis der/die/das/den/des das heißt Doppelbesteuerungsabkommen drei/dritter drittstaatlich deutsch Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht Ecolex: Fachzeitschrift für Wirtschaftsrecht Edition Europäische Gemeinschaft Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch EG-Vertrag Einführung Einfluss Eingriffsnorm Einleitung Ergänzungslieferung Erasmus Law Review Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention) Europäische Union Europäische Erbrechtsverordnung Europäischer Gerichtshof Europäische Güterrechtsverordnung Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen Europäische Verordnung über die güterrechtlichen Wirkungen eingetragener Partnerschaften Europarecht Europäische Unterhaltssachenverordnung europäisch Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäisches Schuldvertragsübereinkommen Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Entscheidungen zum Wirtschaftsrecht Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgende Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Festgabe Fußnote französisch(e) Festschrift Generalanwalt gemäß Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls Zeitschrift für das Privatrecht der Europäischen Union grundsätzlich
Abkürzungsverzeichnis GS h.M. Hastings Int. Comp. L. Rev. Hdb. Hervorh. i. Orig. HOAI Hrsg. i.d.R. i.d.S. i.E. i.e.S. i.F. i.R.d. i.S.v. i.Ü. i.V.m. i.w.S. ICLQ IHR IJPL IJVO ILO insb./insbes. IntRDipl IÖR IPR IPRax IZPR IZVR JDI (Clunet) Jh. JhJb JR Jura JZ KG Kollisionsrechtl. KOM LG lit. lt. m.w.N. MDR n.F. Nachw. nat.
XXIII
Gedächtnisschrift herrschende Meinung Hastings International and Comparative Law Review Handbuch Hervorhebung im Original Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen Herausgeber in der Regel in dem Sinne im Ergebnis im engeren Sinne im Folgenden im Rahmen der/des im Sinne von im Übrigen in Verbindung mit im weiteren Sinne International & Comparative Law Quarterly Internationales Handelsrecht International Journal of Procedural Law Jahreshefte der Internationalen Juristenvereinigung Osnabrück International Labour Organization insbesondere Internationales Recht und Diplomatie Internationales Öffentliches Recht Internationales Privatrecht Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts Internationales Zivilprozessrecht Internationales Zivilverfahrensrecht Journal du droit international, begründet von E. Clunet Jahrhundert Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristenzeitung Kammergericht Kollisionsrechtlich Kommission/Kommissionsdokument Landgericht littera (Buchstabe) laut mit weiteren Nachweisen Monatsschrift für deutsches Recht neue Fassung Nachweis(e) national
XXIV NILR NIPR NJB NJW NLCC NTIR NVwZ NZA NZBau o. OAG OLG ÖR priv. Probl. PWW R (als Suffix) R.D. RabelsZ räuml. RdA RDIP RdW Rec. d. Cours Reg.-Begr. Rev. crit. dr. int. pr. RG RGZ RIW Rn. Rs. Rspr. RVG Rz. S. SchwJbIntR Sf. sog. st. Rspr. StAZ str. U.Chi.L.Rev. u.U. Übers. v.a.
Abkürzungsverzeichnis Netherlands International Law Review Nederlands internationaal privaatrecht Nederlands juristenblad Neue Juristische Wochenschrift Le nuove leggi civili commentate Nederlands tijdschrift voor internationaal recht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht Neue Zeitschrift für Baurecht und Vergaberecht oben Oberappellationsgericht Oberlandesgericht Öffentliches Recht privat/private Problem Prütting, Hanns/Wegen, Gerhard/Weinreich, Gerd Recht Recueil Dalloz Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht räumlich Recht der Arbeit Rivista di diritto internazionale privato e processuale Das Recht der Wirtschaft (Österreich) Recueil des Cours de l'Académie de Droit International de la Haye Regierungsbegründung Revue critique de droit international privé Reichsgericht Amtliche Entscheidungssammlung des Reichsgerichts in Zivilsachen Recht der internationalen Wirtschaft Randnummer Rechtssache Rechtsprechung Rechtsanwaltsvergütungsgesetz Randziffer Seite, Satz Schweizerisches Jahrbuch für internationales Recht Seufferts Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten sogenannt(e) ständige Rechtsprechung Das Standesamt strittig The University of Chicago Law Review unter Umständen Übersetzung vor allem
Abkürzungsverzeichnis VersR vgl. VO VuR WM-WuB z.B. zahlr. ZAIP ZD ZEuP ZfA ZfRV ZGR ZHR Ziff. ZIP ZIPÖR ZIPS ZIR ZÖR Ztpkt. ZVertriebsR ZVglRWiss zw.
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Versicherungsrecht vergleiche Verordnung Verbraucher und Recht Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht (Wertpapier-Mitteilungen) zum Beispiel zahlreich(e) Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Zeitschrift für Datenschutz Zeitschrift für Europäisches Privatrecht Zeitschrift für Arbeitsrecht Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Unternehmens- und Gesellschaftsrecht Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Ziffer Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Zeitschrift für Internationales Privat- und Öffentliches Recht Zeitschrift für Internationales Privat- und Strafrecht Zeitschrift für internationales Recht Zeitschrift für öffentliches Recht Zeitpunkt Zeitschrift für Vertriebsrecht Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaft zwingend(e)
Einführung Mit dem Erlass der Rom I-VO1 definiert der europäische Gesetzgeber in Art. 9 Abs. 1 erstmals den Begriff der Eingriffsnorm: „Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen.“ 2
Ordnet man eine Bestimmung des Forums als Eingriffsnorm ein, so setzt sich diese nach Art. 9 Abs. 2 Rom I-VO auch dann durch, wenn die Kollisionsnormen der Rom I-VO forumsfremdes Recht berufen. Ein typischer Fall ist etwa die Durchsetzung heimischer Erwerbsbeschränkungen zulasten ausländischer Investoren beim Erwerb inländischer Unternehmen. 3 Von dieser ausgesprochen starken Position des inländischen Eingriffsrechts ist die Behandlung des forumsfremden Eingriffsrechts demgegenüber weit entfernt. Einen Teilbereich der Berücksichtigung fremder Eingriffsnormen regelt Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO. Demnach ist es eine Ermessensfrage, ob den am Erfüllungsort geltenden Eingriffsnormen Geltung verschafft werden soll. Zu Eingriffsnormen von Staaten, die weder den Erfüllungsort noch die lex fori stellen, äußert sich Art. 9 Rom I-VO nicht. Daher bleibt die alte Frage ungeklärt, ob eine reguläre Kollisionsnorm auch auf das Eingriffsrecht der lex causae verweist oder ob Eingriffsnormen generell statutsunabhängig zu behandeln sind. Ebenso unklar war bis zur kürzlichen Klärung durch den EuGH, ob 1 Verordnung (EG) Nr. 593/2008 vom 17. Juni 2008, ABl. (EG) L 177/6 vom 04.07.2008 (i.F.: Rom I-VO). 2 Diese Definition soll trotz ihres Standorts im Internationalen Schuldvertragsrecht verordnungsübergreifend gelten: Junker, IPRax 2000, 65, 73; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 62; ähnl. Wiese, Einfluß des EG-Rechts, 2005, S. 179 f.; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 20; Junker, RIW 2010, 257, 268; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 9; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 15; Nietner, Internationaler Entscheidungseinklang, 2016, S. 292 ff. – Allg. zur einheitlichen Auslegung von Rechtsbegriffen der europäischen IPR-Verordnungen sowie dem Zusammenhang zu Begriffen des europäischen IZPR: Bitter, IPRax 2008, 96 ff. Magnus, in: FS Kühne, 2009, S. 780; Leible, Rom I und Rom II, 2009, S. 43 ff.; Heinze, in: FS Kropholler, 2008, S. 107 ff.; Spickhoff, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 16 Rom II-VO, Rn. 2. 3 Weller, ZGR 2010, 679, 704.
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ausländisches Eingriffsrecht auch außerhalb des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO angewandt oder zumindest ohne kollisionsrechtliche Inbezugnahme materiell „berücksichtigt“ werden kann. Diese und viele weitere Probleme der Berücksichtigungsfähigkeit ausländischen Eingriffsrechts wurden in einem Umfang diskutiert, der in einem starken Widerspruch zur praktischen Relevanz der Thematik steht. 4 Die Faszination des Problems überrascht nicht: Wer Eingriffsnormen als staatliches Interventionsrecht versteht, 5 scheint sich bei der Anwendung forumsfremden Eingriffsrechts in einen Konflikt mit Gesichtspunkten fremder und eigener Souveränität zu begeben. Die Berücksichtigung forumseigenen Eingriffsrechts erscheint vielen Autoren demgegenüber als kaum betrachtungswürdige Selbstverständlichkeit, da die Gerichte ohnehin an die kollisionsrechtlichen Wertungen des eigenen Gesetzgebers gebunden sind. 6 Entsprechend vermindert ist die Aufmerksamkeit, die den heimischen Eingriffsnormen gewidmet wird. Mehr Mühe wird hingegen für die Frage der Definition des Eingriffsrechts aufgewandt. Wenngleich die vormaligen nationalen Differenzen mit der Beschreibung des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO überwunden zu sein scheinen, bestehen nämlich weiterhin zahlreiche Unklarheiten über Funktionen und Grenzen der Eingriffsnorm. Relativ trennscharf erscheint noch die Abgrenzung zum „intern“ oder „einfach“ zwingenden Recht, welches innerhalb der jeweiligen Rechtsordnung zwar der Parteidisposition entzogen ist, jedoch grundsätzlich zugunsten einer anderen Rechtsordnung abgewählt werden kann. 7 Das „international“ zwingende Eingriffsrecht dagegen setzt sich sowohl gegen eine Rechtswahl als auch gegen ein objektiv bestimmtes Statut durch.8 In den Worten Junkers: „Viele Vorschriften sind zwingend, aber einige Vorschriften sind zwingender“. 9 Die Eigenschaft als einfach zwingendes Recht ist damit eine 4
So auch: Mankowski, IPRax 2016, 485. Statt vieler: Behrens, in: Basedow u.a. (Hrsg.), 75 Jahre MPI, 2001, S. 385 f. 6 Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 10; Däubler, RIW 1987, 249, 255; Drobnig, RabelsZ 52 (1988), 1, 4; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 233; Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 285; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 18; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 317; EuGH, Urt. v. 18.10.2016 – C-135/15, ECLI:EU:C:2016:774 (Nikiforidis), Rn. 77. – Ein rechtsvergleichender Nachweis der europäischen Praxis findet sich bei Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 163. 7 Zur kollisionsrechtlichen Behandlung des intern zwingenden Recht siehe neben den in Fn. 8 Genannten auch: Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 327. 8 Reichelt, ZfRV 1988, 82, 86; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 9 f.; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 13; Grünbuch Rom I-VO, KOM(2002), 654 endg., S. 39 ff.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 87; Junker, in: FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 1210; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 22; Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 191; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom IVO, Rn. 1; Martiny, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 7 ff. 9 Junker, IPRax 1989, 69. 5
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notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung zur Qualifikation als Eingriffsrecht.10 Den Kern der Legaldefinition bildet demgegenüber das „besondere öffentliche Interesse“ an der international zwingenden Anwendung der Norm. Während dies bei Außenwirtschafts- und Devisenrecht noch naheliegend erscheinen mag, wird es insbesondere im Bereich sonderprivatrechtlicher Bestimmungen weniger eindeutig. Unter anderem im Bereich des Arbeits-, Verbraucherund Handelsvertreterrechts stellt sich die Frage, ob es ausreichend ist, wenn mit einer privatrechtlichen Vorschrift sowohl Ziele des individuellen Interessenausgleichs als auch Gemeinwohlbelange verfolgt werden. Der EuGH scheint mehr noch als die deutsche Gerichtsbarkeit zur Einordnung vorrangig individualschützender Normen als „Eingriffsnorm“ bereit zu sein, sodass sich freilich das Bedürfnis nach einer klaren Umgrenzung des Eingriffsnormbegriffs ergibt, wenn man die vereinheitlichten Kollisionsnormen vor einer Erosion schützen möchte. Nicht notwendig in einem Kontrast zu dem bei den Gemeinwohlzwecken ansetzenden, „materiellen“ Kriterium steht eine Identifikation des Eingriffsrechts anhand seines kollisionsrechtlichen Durchsetzungswillens. Dies wird zumeist mit der Annahme verbunden, dass sich die Eingriffsnorm durch ganz eigentümliche, im Kontrast zum „regulären“ IPR stehende Methoden und Strukturen auszeichnen soll: So soll bei der Eingriffsnorm die Rechtsanwendungsfrage nicht „vom Sachverhalt“, sondern „vom Gesetz her“ gestellt werden. Ihre kollisionsrechtliche Methode sei „statutarisch“, „unilateralistisch“ oder „zwingend einseitig“ und spiele sich daher in einem vom Regelkollisionsrecht zu unterscheidenden „Zweitsystem“ ab. Denn die Berücksichtigung des Eingriffsrechts widerspreche dem grundsätzlich „sachnormneutralen“ und allseitigen „Ordnungscharakter“ des Internationalen Privatrechts. All diese nicht abschließend genannten Aspekte stellen auf die häufig apodiktisch angenommene, besondere Natur der Eingriffsnorm ab, die wiederum einer ebenso eigenartigen, mit der Methode des Internationalen Privatrechts nicht in Einklang zu bringenden Behandlung bedürfe. Die Eingriffsnorm wird damit als Normkategorie begriffen, die schon aus Gründen der Systemlogik zu isolieren sei. Die Definitionsbemühungen in Art. 9 Rom I-VO sowie die jüngsten Urteile des EuGH scheinen etwas Ruhe in den „eher auf Dissonanzen gestimmten
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Spickhoff, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 9. Ähnl. Grünbuch Rom I-VO, KOM(2002), 654 endg., S. 54. – In Grenzbereichen dagegen: Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 192, Fn. 43, welcher etwa den § 244 BGB trotz dessen innerrechtlicher Dispositivität als international zwingend betrachten möchte, sofern der Zahlungsort in Deutschland liegt.
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Chor“11 der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Lehre zu diesem Thema gebracht zu haben. Dennoch bleiben zahlreiche Fragen offen, die auch in dieser Arbeit angesprochen werden sollen. Sie werden jedoch nicht den Schwerpunkt bilden. Stattdessen werden die dogmatischen Prämissen, welche hinter dem von vielen empfundenen Bedürfnis nach einer Isolation der Eingriffsnorm stehen, vorrangig betrachtet werden. Denn die Auseinandersetzung mit der Eingriffsnormenproblematik wird in der Regel mit einer bestimmten Vorstellung über die Grenzen der Methode und Aufgabe des IPR betrieben. Jene dogmatischen Fundamente werden zumeist ohne tiefergehende Reflexion übernommen, was angesichts der angestrebten Auseinandersetzung mit einer scheinbaren Spezialmaterie auch verständlich erscheint. Diese Arbeit möchte dagegen die Berechtigung herkömmlicher Prämissen über die Natur und Funktionsweise des Kollisionsrechts neu betrachten, um auf diesem Weg Erkenntnisse über das Wesen der Eingriffsnorm zu gewinnen. Die Eingriffsnorm soll sozusagen nicht als Patient, sondern als Symptom betrachtet werden. Hierfür bietet der bereits weit fortgeschrittene Prozess der europäischen Kollisionsrechtsvereinheitlichung eine besonders reizvolle Gelegenheit. Denn hinter Art. 9 Rom I-VO und seinem Vorgänger, Art. 7 EVÜ, stehen erstaunlich ähnliche, aber dennoch unterschiedliche Rechtsinstitute der drei großen europäischen Rechtstraditionen, die sich im Laufe der jahrhundertealten Evolutionsgeschichte des IPR herausgebildet haben. Das europäische IPR baut damit auf einem dogmatischen acquis commun auf, welcher einer ihm entsprechenden Perspektive bedarf. Im Rahmen dieses neuen Fundaments darf erst recht infrage gestellt werden, ob tradierte nationale Grundannahmen über den Gegenstand und die Funktionsweise des Kollisionsrechts weiterhin Bestand haben können. Daher beginnt die Untersuchung mit einer Analyse der Mechanismen, die vor der Kollisionsrechtsvereinheitlichung in den europäischen Staaten zur Durchsetzung forumseigenen und -fremden Rechts gegen eine Regelverweisung dienten. Hieran anschließend werden auch die Hintergründe des Art. 9 Rom I-VO und die Geschichte seiner Vorläufer näher betrachtet. Hierbei wird sich bald zeigen, dass die Mehrheit der behaupteten Alleinstellungsmerkmale der Eingriffsnorm ihren Ursprung in der Diskussion um die kollisionsrechtliche Behandlung öffentlichen Rechts hat. Daher wird im 3. Kapitel ausführlich untersucht, welche Unterschiede zwischen der Berufung öffentlich-rechtlicher und zivilrechtlicher Bestimmungen bestehen. Im 4. Kapitel wird sodann erörtert, wie sich die gewonnenen Erkenntnisse über das Fundament des Kollisionsrechts auf das Verständnis der Eingriffsnorm auswirken. Das Kapitel schließt mit der These, dass unter dem Dach der 11 Sonnenberger, in: FS Fikentscher, 1998, S. 283, welcher fortfährt: „Wenn es denn ein Chor überhaupt ist und nicht nur ein Durch- und Ineinander von Einzelstimmen.“
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Eingriffsnorm schlicht die interessengerichtete Bildung und Durchsetzung zumeist spezieller Kollisionsnormen betrieben wird. Hierauf aufbauend wird im 5. Kapitel dargelegt, nach welchen Maximen und Methoden insbesondere die richterliche Kollisionsnormfortbildung abläuft. Wie sich bereits im 1. Kapitel zeigen wird, hat sich die Durchsetzung forumseigener Normen als Eingriffsrecht in allen Rechtstraditionen aus dem ordre public entwickelt, weshalb im 6. Kapitel die Rolle des ordre public näher zu betrachten ist. Insofern sind die folgenden Untersuchungen weniger als Beitrag zum scheinbaren „Sonderproblem“ des Eingriffsrechts zu verstehen; vielmehr geht es um die Methoden und Grenzen des öffentlichen und privaten Kollisionsrechts im Allgemeinen. Die Eingriffsnorm dient damit nur als Anlass für eine umfassende Betrachtung der modernen Kollisionsrechtsmethodik.
Kapitel 1
Die Geschichte der Durchsetzung forumseigenen und forumsfremden Rechts gegen die lex causae Möchte man das Wesen der Eingriffsnorm im europäischen IPR verstehen, so muss man einen Blick auf die Begründungsmuster werfen, mit denen in der Vergangenheit eine ausnahmsweise Durchsetzung forumseigener und drittstaatlicher Bestimmungen gegen das eigentlich berufene Recht ermöglicht wurde. Hieraus bildet sich ein gemeineuropäischer dogmatischer Besitzstand, der die möglichen Prämissen hinter den unionalen Eingriffsnormklauseln beschreibt und beschränkt. Darauf aufbauend stellt sich die Frage, welches Eingriffsnormverständnis im Rahmen des Prozesses der europäischen Kollisionsrechtsvereinheitlichung bestimmend war. Daher ist auch die Genese und Rezeption der europäischen Eingriffsnormklauseln zu untersuchen.
A. Die Anerkennung der Fremdrechtsberücksichtigung als Prämisse des Durchbruchs dritten und forumseigenen Rechts A. Die Anerkennung der Fremdrechtsberücksichtigung
Die Frage der Durchsetzung forumseigenen und drittstaatlichen Rechts gegen ein fremdes Wirkungsstatut stellt sich freilich erst nach der grundsätzlichen Anerkennung der Berufbarkeit fremden Rechts. Daher sollen kurz die wesentlichen Entwicklungsschritte der Fremdrechtsanwendung in Erinnerung gerufen werden. Da ein Lebenssachverhalt nicht vor den territorialen oder personalen Begrenzungen eines Herrschaftsgebiets oder Volksstammes Halt macht, ist die Frage nach der Berücksichtigungsfähigkeit grenzüberschreitender Elemente bekanntlich eine äußerst alte. Eine richterliche Sonderbehandlung des Fremden sowie eine zumindest punktuelle Berücksichtigung seines Heimatrechts lässt sich daher seit dem römischen Recht nachweisen. 12 Im Rahmen des altgermanischen Personalitätsprinzips wurde ein Angehöriger eines fremden Stammes
12 So kamen im römischen Recht nur römische Bürger und die ihnen teilweise gleichgestellten Peregrinen (Nichtbürger) einschränkungslos in den Genuss des ius civile (bereits Wächter, AcP 24 (1841), 230, 242 f.; ähnl. v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 2, Rn. 2). – Auf das Verhältnis der nicht dergestalt privilegierten Peregrinen gegenüber den
B. Durchsetzung forumseigener Normen und Wertungen im 19. Jahrhundert
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jedenfalls im fränkischen Reich auch nach dessen Stammesrecht behandelt. 13 Auch die dreiteilige Statutenlehre ermöglichte eine Beurteilung nach dem Recht einer fremden Stadt, eines fremden Gewohnheitsrechts und schließlich eines fremden Staates. 14 Die niederländische Schule sowie deren prominentester Vertreter Ulricus Huber erlaubten bekanntlich die Berücksichtigung von in der Fremde erworbenen Rechten aus dem Grundsatz der „comitas“, also der freundlichen Rücksichtnahme gegenüber den Belangen anderer Staaten. 15 In der deutschen, romanischen und englischen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts war die Berücksichtigungsfähigkeit ausländischen Rechts sodann die selbstverständliche Grundlage der wissenschaftlichen Diskussion.16 Erörtert wurde nicht mehr das „Ob“, sondern das „Wie“ der Heranziehung fremden Rechts.
B. Die Durchsetzung forumseigener Normen und Wertungen gegen anzuwendendes Fremdrecht im 19. Jahrhundert B. Durchsetzung forumseigener Normen und Wertungen im 19. Jahrhundert
Wer anerkennt, dass ausländisches Recht im Inland anwendbar sein kann, beschäftigt sich unweigerlich mit den Ausnahmen. Vor dem 19. Jahrhundert waren derartige Ausnahmen zugunsten der lex fori besonders spärlich gesät, war doch die Fremdrechtsanwendung selbst ein absoluter Ausnahmefall. So meint Römern sowie der Peregrinen unter sich wurde grundsätzlich das ius gentium, teilweise jedoch wohl auch das Recht des Staates, dem der Peregrine angehörte, berücksichtigt (Wächter, AcP 24 (1841), 230, 243; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 2, Rn. 3 ff.). Wächter erwähnt die Begründung des Familienverhältnisses, das Erbe sowie einige Schuldverhältnisse zwischen Peregrinen desselben Staates. Von einer ausnahmslosen Anwendbarkeit des ius gentium gehen dagegen aus: Schweppe, Das römische Privatrecht, 4. Aufl. 1828, S. 44 f.; wohl auch Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 91. 13 Wächter, AcP 24 (1841), 230, 252; Schäffner, Entwicklung des IPR, 1841, S. 15; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 91; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 1 ff. 14 Schäffner, Entwicklung des IPR, 1841, S. 23; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 92; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 7 ff. Thoma, Europäisierung, 2007, S. 5 f. 15 Heini, SchwJbIntR 19 (1962), 31, 32; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 93; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 30 ff. Thoma, Europäisierung, 2007, S. 10. Die Anerkennung wohlerworbener Rechte wurde durch Story, Conflict of laws, 1846, S. 367 ff. sowie Dicey, Digest, 1908, S. XXXI für das common law rezipiert. Näher hierzu: v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 14 ff. 16 Dies wird etwa deutlich bei Schäffner, Entwicklung des IPR, 1841, S. 30. Siehe hierzu auch Heini, SchwJbIntR 19 (1962), 31, 32. Selbst späte Vertreter einer grundsätzlichen Anwendung der lex fori gestanden dem Fremden in Ausnahmefällen die Anwendung seines Heimatrechts zu (so etwa Maurenbrecher, Lehrbuch des gesammten heutigen gemeinen deutschen Privatrechts, 1840, S. 312).
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
etwa Wächter, bereits in der römischen Rechtspraxis die strikte Durchsetzung „absoluter Anordnungen“ und „Principien des Rechts“ gegen eigentlich anwendbares Peregrinenrecht beobachten zu können. 17 Auch die Glossatoren kannten gewisse Vorbehaltsinstrumente zugunsten des eigenen Rechts. 18 Des Weiteren lehnte Huber die freundliche Berücksichtigung fremden Rechts dann ab, wenn dies die Natur einer Bestimmung des Forums gebiete. 19 Im 19. Jahrhundert nahm mit der internationalen Verflechtung auch das Bedürfnis zur Berücksichtigung fremden Rechts zu. Dies führte zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Frage, wie gegenüber der immer noch seltenen Fremdrechtsanwendung ein Durchbruch der lex fori gerechtfertigt werden konnte. I. Die Durchsetzung zwingender Bestimmungen im deutschen Rechtskreis des 19. Jh. Im deutschen Rechtskreis formulierte bereits Eichhorn im Jahr 1823 einen Vorbehalt zugunsten von „Prohibitivgesetzen“. 20 Dieser wurde von Wächter verfeinert, indem er unter anderem anhand des Eherechts und der Unklagbarkeit von Spielschulden illustrierte, dass ein Richter ein Gesetz stets auf seine „Unbedingtheit“ untersuchen müsse. 21 Solche „Leges cogentes“ seien „theils auf politische und Staatspolizeiliche, theils auf sittliche und religiöse Bezie-
17 Wächter, AcP 24 (1841), 230, 245. Von einem ähnlichen Fall berichtet auch Savigny, System VIII, 1849, S. 78 unter Berufung auf Livius: So sei ein römisches Wuchergesetz auch gegen das eigentlich anzuwendende Peregrinenrecht durchgesetzt worden. – Dagegen v.Bar, Theorie und Praxis des IPR, 2. Aufl. 1889, S. 112, welcher davon ausgeht, dass im Altertum keinerlei Fremdrechtsanwendung stattfand und demzufolge auch keine Gegenausnahmen zugunsten des Forumsrechts möglich gewesen seien. 18 Thoma, Europäisierung, 2007, S. 6 ff. Dieser nennt etwa das Institut der „veritas“ in der kanonischen lex fori, durch die ein gewisser Gerechtigkeitsgehalt gegenüber fremdem Recht gesichert werden sollte (a.a.O. S. 6). Auch dem Instrument der „statuta odiosa“ bei Bartolus und Baldus wurde teilweise eine gewisse Ähnlichkeit zum negativen ordre public attestiert (a.a.O. S. 8; ebenso Berner, Kollisionsrecht im Spannungsfeld, 2017, S. 92 f.). 19 Huber, Praelectiones juris civilis, 1749, S. 538, Nr. 12 (de conflictu legum). 20 Eichhorn, Einleitung in das deutsche Privatrecht, 1823, S. 104. 21 Wächter, AcP 24 (1841), 230, 262 f.; Wächter, AcP 25 (1842), 1, 55; Wächter, AcP 25 (1842), 361, 364, 366.
B. Durchsetzung forumseigener Normen und Wertungen im 19. Jahrhundert
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hungen und Rücksichten“ zurückzuführen, weshalb der Richter sie ausnahmslos anwenden müsse. 22 Derartige positive „jura singularia“ seien zumeist öffentlich-rechtlich geprägt. 23 Während Wächter von der Existenz der „leges cogentes“ noch auf eine grundsätzliche Anknüpfung an die lex fori schloss,24 kehrte Savigny dieses Verhältnis um, indem er Gesetze von „streng positiver, zwingender Natur“ als Ausnahme zu seinem grundsätzlich allseitigen Anknüpfungsmodell betrachtete 25. Derartige Gesetze würden sich auf die „publica utilitas“ stützen, etwa aufgrund ihres polizeilichen, politischen oder volkswirtschaftlichen Charakters. 26 Hierzu zählte Savigny etwa das Polygamieverbot, die Hoferbenregelung, die Erwerbsbeschränkungen für Juden sowie Gesetze über Spielschulden. 27 Eine weitere Ausnahme seien Rechtsinstitute, die im Forumstaat überhaupt keine Anerkennung fänden, wie etwa die Rechtsunfähigkeit des Sklaven. 28 Diesen von Wächter und Savigny postulierten Grundsätzen folgte die deutsche Literatur weitgehend. 29 Eine prominente Gegenstimme war Carl Ludwig
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Wächter, AcP 24 (1841), 230, 266; Wächter, AcP 25 (1842), 161, 178; Wächter, AcP 25 (1842), 361, 397, 399, 401. Hierauf aufbauend wies Kori anhand besonderer Formerfordernisse für Darlehensgeschäfte mit Juden darauf hin, dass die Durchsetzungswilligkeit gegenüber Auslandsrecht stets genau untersucht werden müsse, da viele Normen nur bei Inlandssachverhalten zwingend wirken wollten (Kori, AcP 27 (1844), 309, 313). Ähnl. Thöl, Einleitung in das deutsche Privatrecht, 1851, S. 173, § 74; v.Bar, Theorie und Praxis des IPR, 2. Aufl. 1889, S. 127. 23 Wächter, AcP 25 (1842), 161, 181. Den „jura singularia“ stellte Wächter eine weitere, eher abwehrende Dimension zur Seite: Da etwa die Sklavenhaltung sowie privatrechtliche Sonderrechte von Adeligen und Kirchen in den deutschen Staaten als verwerflich betrachtet würden, dürfe ein hiergegen verstoßendes Auslandsrecht nicht angewandt werden (a.a.O. S. 172 ff.). 24 Wächter, AcP 25 (1842), 361, 393 f. Näher hierzu: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 126 ff. 25 Savigny, System VIII, 1849, S. 33. Ausf. hierzu: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 130 ff. Der Begriff der „absolut zwingenden Norm“ ist nicht mit der Eingriffsnorm gleichzusetzen, da er auch Fälle des heutigen ordre public erfasst (so jedoch Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 860). – Terminologisch war das „absolut zwingende Gesetz“ keine Neuigkeit. So tauchte der Begriff bereits 1839 in einem Urteil des OAG Lübeck auf, meint jedoch hier nur intern nichtdispositives Recht (OAG Lübeck, Urt. v. 30.12.1839, Sf. 1855, Bd. 8, Nr. 31). 26 Savigny, System VIII, 1849, S. 36, 183, 248, 269, 276. 27 Savigny, System VIII, 1849, S. 160 ff., 277, 307; Gutzwiller, Einfluss Savignys, 1923, S. 14. 28 Savigny, System VIII, 1849, S. 163. 29 Thöl, Einleitung in das deutsche Privatrecht, 1851, S. 173; Mommsen, AcP 61 (1878), 149, 150–151, 192–195; Böhm, Räumliche Herrschaft der Rechtsnormen, 1890, S. 5, 8; Stobbe, Handbuch des deutschen Privatrechts, 3. Aufl. 1893, S. 233. Siehe auch Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 3 m.w.N.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
von Bar, welcher die konturlose Weite der „streng positiven Gesetze“ bemängelte.30 Sein Gegenvorschlag war jedoch ähnlich unbestimmt: Demnach dürfe der Richter jedenfalls keine Rechtsverhältnisse realisieren, die die einheimische Rechtsordnung als „unsittlich“, „unbedingt verwerflich“ oder „nicht geduldet“ betrachte.31 Hervorzuheben ist dagegen die wohl erstmals durch von Bar in unmissverständlicher Weise durchgeführte Unterscheidung zwischen „absolut gebietenden Rechtssätzen“ und den „herrschenden sittlichen Grundsätzen“.32 Die Nähe zur heute geläufigen Trennung zwischen Eingriffsnorm und negativem ordre public ist offensichtlich. Auch die Rechtsprechung folgte dem Modell der „Prohibitivgesetze“. So setzte die deutsche Rechtsprechung auch vor der Errichtung des Reichsgerichts besondere Normen und Wertungen des Forums als „streng positive“ Gesetze gegen ein ausländisches Wirkungsstatut durch. 33 Das OAG Darmstadt ordnete etwa Bestimmungen über die „weinkäufliche Copulation“ 34 aufgrund ihres „öffentlich-rechtlichen“ und „sittlich-religiösen“ Charakters als „zwingende, streng positive“ Gesetze ein, die sich gegen das fremde Eheformstatut durchsetzen müssten. 35 Hierauf aufbauend betrachtete es das Reichsgericht schließlich als festen Grundsatz der deutschen Rechtsprechung, „absolut zwingende“
30 v.Bar, Das internationale Privat- und Strafrecht, 1862, S. 109. Ähnl. Mommsen, AcP 61 (1878), 149, 194. 31 v.Bar, Das internationale Privat- und Strafrecht, 1862, S. 110; v.Bar, Theorie und Praxis des IPR, 2. Aufl. 1889, S. 130 ff. Von Bar weist an anderer Stelle selbst darauf hin, dass es kaum gelungen sei, den Begriff der zwingenden Bestimmungen näher zu umschreiben (a.a.O. S. 127, 131). Auch Zitelmann hielt die Beschreibung einer „inhaltlichen Eigenthümlichkeit“ der zwingenden Rechtssätze letztendlich für ausgeschlossen (Zitelmann, IPR I, 1897, S. 368, 387). 32 v.Bar, Theorie und Praxis des IPR, 2. Aufl. 1889, S. 128–129; Näher hierzu: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 139 f. Die Unterscheidung findet sich etwas später auch bei Zitelmann, IPR I, 1897, S. 318 ff., welcher ihr jedoch keinen substantiellen Unterschied beimisst. Es handle sich nur um unterschiedliche Akzentuierungen, da Nichtanwendung des einen Rechtssatzes stets Anwendung einer anderen Bestimmung bedeute (a.a.O. S. 324 ff.). 33 OAG Celle, Urt. v. 16.09.1852, Mag. f. hannov. Recht 1852, Bd. 2, S. 445, 446; OAG Rostock, Urt. v. 17.12.1857, Sf. 1857, Bd. 19, Nr. 107; Obertribunal Berlin, Urt. v. 08.04.1875, Sf. 1875, Bd. 1 N.F., Nr. 194; OAG München, Urt. v. 07.06.1858 nach Böhm, Räumliche Herrschaft der Rechtsnormen, 1890, S. 8. Weitere Nachw. finden sich bei Gutzwiller, Einfluss Savignys, 1923, S. 89. 34 Hierbei handelte es sich um eine nur im Großherzogtum Hessen-Darmstadt existierende Vorschrift, wonach das Verlöbnis vor einem Pfarrer durchzuführen sei (Niebergall, Geschichte der evangelischen Trauung in Hessen, 1972, S. 154). 35 OAG Darmstadt, Urt. v. 01.12.1865, Sf. 1865, Bd. 19, Nr. 108.
B. Durchsetzung forumseigener Normen und Wertungen im 19. Jahrhundert
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Normen zum Schutz „höherer sozialer oder sittlicher Gründe“ auch gegen fremdes Recht durchzusetzen. 36 Bereits vor der legislativen Verankerung des ordre public im deutschen BGB fanden entsprechende Vorbehaltsklauseln auch Eingang in deutschsprachige Kodifikationen. Herausragend ist hierbei der § 19 des Sächsischen BGB aus dem Jahre 1863,37 welcher Pate für die Vorbehaltsklausel im ersten gebhardschen Entwurf stand 38. Zusammenfassend ist zu vermerken, dass die Existenz und Notwendigkeit absolut zwingender Normen anscheinend als selbstverständlich erachtet wurde. Eine grundsätzliche Kritik findet sich nur äußerst selten. 39 Die heute übliche Trennung zwischen einer das Auslandsrecht abwehrenden und das inländische Recht durchsetzenden Dimension fand praktisch nicht statt. 40 Vielmehr wurden beide Stoßrichtungen als Einheit verstanden; gleichsam als Schild und Schwert41 eines einzigen Instituts zum Schutz zentraler Normen und Wertentscheidungen des Forums. II. „Ordre public“ und „ordine pubblico“ im romanischen Rechtskreis des 19. Jh. Während der deutsche Rechtskreis einen recht bunten Strauß an Begrifflichkeiten für die Durchsetzung forumseigener Normen gegen eine ausländische lex causae aufwies, begünstigte das frühe normative Fundament des Code civile (i.F.: CC) die terminologische Einheit in Frankreich. So etablierte bereits 36 RG, Urt. v. 07.10.1884 – II 215/84, RGZ 12, 309, 311 f.; RG, Urt. v. 07.02.1899 – III 262/98, RGZ 43, 91, 92; RG, Urt. v. 08.07.1899 – I 178/99, RGZ 44, 52, 56. In der zweitgenannten Entscheidung scheint zudem ein aufkeimendes Bewusstsein für die Notwendigkeit eines Inlandsbezugs vorhanden gewesen zu sein, wenn dort betont wird, dass gerade dem Inländer die Durchführung der streitgegenständlichen Börsentermingeschäfte zu versagen sei. 37 § 19 des Sächs. BGB (1863) lautete: „Ausländische Gesetze sind nicht anzuwenden, wenn deren Anwendung durch inländische Gesetze nach der Vorschrift oder nach dem Zwecke derselben ausgeschlossen ist.“ (abgedr. bei Neumann, IPR in Form eines Gesetzentwurfs, 1896, S. 164, Nr. 73; außerdem abrufbar unter ). 38 Die Vorbehaltsklausel des ersten gebhardschen Entwurfs ist abgedr. bei Neumann, IPR in Form eines Gesetzentwurfs, 1896, S. 162, Nr. 64. 39 So meinte bspw. der Internationalist Meili, hinter den absolut bindenden Normen den „Geist der territorialen Beschränkung, gegen den mit aller Energie gekämpft“ werden müsse, zu erkennen (Meili, ZIPS 1890, 1, 167). 40 Die Unterscheidungen v.Bars und Zitelmanns (s.o.) sind eher als Ordnungsversuche ohne Anspruch auf systematische Trennschärfe zu verstehen. Ebenso zu Savigny: Berner, Kollisionsrecht im Spannungsfeld, 2017, S. 96. 41 Dasselbe Bild zum Verhältnis von positiver und negativer Funktion des ordre public verwendend: Willis, NILR 9 (1962), 389, 395. So auch Engel, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 26 Rom II-VO, Rn. 1; Thorn, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 31 zum Verhältnis von Eingriffsnorm und ordre public.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
Art. 6 CC in der Ursprungsfassung des Jahres 1804 den Begriff „ordre public“:42 „On ne peut déroger, par des conventions particulières, aux lois qui intéressent l'ordre public et les bonnes mœurs.“
Die Norm lässt nicht klar erkennen, ob sie nur innerhalb des französischen Sachrechts ein Abweichen von ordre public-Gesetzen verbieten möchte oder diese auch kollisionsrechtlich gegen fremdes Recht durchsetzen will. 43 Einen demgegenüber deutlich kollisionsrechtlicheren Klang hat der ebenfalls seit 1804 bestehende Art. 3 Abs. 1 CC, welcher häufig als Heimat des ordre public eingeordnet wird: 44 „Les lois de police et de sûreté obligent tous ceux qui habitent le territoire.“
Angesichts der wenig eindeutigen Fundierung im Code civile verwundert es kaum, dass der maßgebliche Entwicklungsimpuls für die kollisionsrechtliche Behandlung von ordre public-Gesetzen aus einer anderen Richtung kam. Erst in der Nationalitätslehre, welche für den gesamten romanischen Rechtskreis von überragender Bedeutung war, räumte dessen Begründer Mancini dem ordre public eine zentrale Rolle ein: Demnach seien Personen grundsätzlich nach dem Recht ihrer Staatsangehörigkeit zu beurteilen, sofern dem keine „lois d’ordre public et de police“ entgegenstünden. 45 Auch in diesem Modell findet sich keine Trennung zwischen einer das Fremdrecht abwehrenden und das Forumsrecht durchsetzenden Funktion.46 Indem Mancini die Personalität des Rechts zum Grundsatz und die Geltung des Forumsrechts zur Ausnahme erklärte, wurde das Regel-Ausnahme-Verhältnis der alten Statutenlehre umgedreht. 47 Da Mancini das IPR als überstaatliche Zuständigkeitsordnung begriff,
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Erstmalig soll der Begriff „ordre public” durch den französischen Staatsrat Boulay im Jahre 1802 verwandt worden sein (Schnitzer, Handbuch des IPR, 1937, S. 104). 43 Die französische Rechtslehre wird eher in die Richtung gedeutet, dass Art. 6 CC auch kollisionsrechtlicher Gehalt beigemessen werde: Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 365; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 245. Dagegen: Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 80. 44 Schnitzer, Handbuch des IPR, 1937, S. 104; Sonnenberger, Bedeutung des GG für das IPR, 1962, S. 132. 45 Mancini, Della Nazionalità, 1851, S. 11; Mancini, Diritto internazionale, 1873, S. 209; Mancini, JDI (Clunet) 1874, 221, 297. Die Nationalität setze sich zusammen aus der Volkszugehörigkeit und dem Nationalbewusstsein (Mancini, Della Nazionalità, 1851, S. 31, 39). Näher hierzu: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 156 ff. 46 Ähnl. Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 7; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 41, Fn. 4; Thoma, Europäisierung, 2007, S. 14. 47 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 44 ff. Siehe auch Nishitani, Mancini und die Parteiautonomie im internationalen Privatrecht, 2000, S. 138 ff. zum Verhältnis Mancinis zur Statutentheorie.
B. Durchsetzung forumseigener Normen und Wertungen im 19. Jahrhundert
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erscheint auch der Rekurs auf das völkerrechtliche Fundament der Gebiets- und Personalhoheit wenig überraschend.48
In der Praxis diente der ordre public als Begründung für die Anwendung weiter Teile des Forumsrechts, sodass dieser neben der personalen Anknüpfung nach Maßgabe der Staatsangehörigkeit die zweite Säule der romanischen Schule bildete.49 Die Lehre Mancinis erfreute sich bald einer weiten Verbreitung, 50 sodass sich auch zahlreiche Versuche einer näheren Umgrenzung des ordre public finden51. Diese blieben jedoch ähnlich vage wie die entsprechenden Versuche des deutschen Rechtskreises, die „absolut zwingenden Normen“ näher zu beschreiben.52 So meinte etwa Rolin, dass Normen des ordre public ein „generelles Interesse der Gesellschaft“ verfolgen würden. 53 Die Haager Konferenz sah all die Bestimmungen umfasst, die der Gesetzgeber nicht ändern könne, ohne seine Sozial- oder Verfassungsordnung zu zerstören. 54 Bustamente versuchte sich an
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Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 123; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 59 ff. Ausf. hierzu auch Nishitani, Mancini und die Parteiautonomie im internationalen Privatrecht, 2000, S. 68 ff. 49 So auch Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 66; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 154; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 35; Thoma, Europäisierung, 2007, S. 14. Der ordre public romanischer Prägung war damit häufig schlicht ein Begründungsersatz für die Bereiche, in denen dem Rechtsgefühl eine Anwendung des Forumsrechts notwendig erschien (Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 183; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 42). 50 Foelix, Traité, 1866, S. 235 f.; Laurent, Droit civil international V, 1880, S. 253, Nr. 126; Laurent, Droit civil international VIII, 1881, S. 152, Nr. 95; Esperson, JDI (Clunet) 1880, 245, 253 Nr. 11; Catellani, Il diritto internazionale privato, 1885, S. 179. Weitere Nachweise bei Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 126; Frankenstein, IPR, 1926, S. 286; Nishitani, Mancini und die Parteiautonomie im internationalen Privatrecht, 2000, S. 156 ff.. Kahn sah die „gesammte romanische Rechtswelt […] unter dem sicheren Banne Mancini’s und Laurent’s“ (Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 5). Der völkerrechtlichen Verortung des IPR schlossen sich insbesondere an: Demangeat, JDI (Clunet) 1874, 7; Pillet, JDI (Clunet) 1893, 318, 323; Zitelmann, IPR I, 1897, S. 72. 51 Näher hierzu: Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 50 ff.; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 154 ff. 52 Die diesbezügliche Beobachtung Schwanders ist so erheiternd wie richtig: „Bei der Lektüre der einschlägigen Werke wird man das Gefühl unterdrücken müssen, es gehe den romanischen Autoren mit ihrer offenkundigen Freude am Formulieren allzusehr nur um die literarische Bewältigung des Stoffes, um die Suche nach dem Zauberwort, welches das Geheimnis der lois d’ordre public offenbare“ (Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 155). 53 Rolin, Principes I, 1897, S. 309. 54 3. Kommissionsbericht, 2. Haager Konferenz, Actes II S. 52 nach Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 59 f.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
der Aufstellung eines Katalogs an Rechtssätzen, die dem ordre public angehören sollten.55 Brocher stellte demgegenüber in erster Linie auf den kollisionsrechtlichen Durchsetzungswillen ab: Die Normen des ordre public seien „tellement impératives qu'il doit en exiger l'observation absolue“ 56. Ähnlich wie zuvor Savigny sah auch Laurent in der Abgrenzung des ordre public die „difficulté capitale de notre science“57; er stellte hierbei fest, dass es zahlreiche Grenz- und Mischfälle gebe 58. Neben den dominierenden Versuchen, den ordre public anhand des Gemeinwohlkriteriums einzuhegen, etablierte sich trotz der uneindeutigen Stellungnahme des Code civile auch in der romanischen Schule die Unterscheidung zwischen intern und international zwingendem Recht. Die nur sachrechtlich nichtdispositiven Normen wurden alsbald unter dem Stichwort des „ordre public interne“ erörtert, wohingegen die kollisionsrechtliche Dimension unter dem Begriff „ordre public international“ diskutiert wurde.59 Angesichts der gewichtigen Stellung des ordre public als zweite Säule des IPR romanischer Prägung überrascht es nicht, dass er auch häufig kodifiziert wurde. So finden sich im ausgehenden 19. Jahrhundert zahlreiche ordre public-
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Siehe hierzu Marti, Vorbehalt, 1940, S. 86 m.w.N. Brocher, Cours de droit international privé I, 1882, S. 22 f.; ähnl. auch: Pescatore nach: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 161. 57 Laurent, Droit civil international V, 1880, S. 254. Ähnl. zuvor auch Savigny, System VIII, 1849, S. 32, wonach es sich bei der Feststellung der Grenzen der Gesetze von „streng positiver, zwingender Natur“ um die vielleicht schwierigste Aufgabe seiner Lehre handle. Laurents Einordnungsbemühungen sind auch heute noch ein mahnendes Beispiel dafür, wie bei einer ergebnisorientierten Betrachtung in jede Norm das zur Einordnung als ordre publicGesetz nötige Maß an Gemeinwohlerwägungen hineingelesen werden kann: So mag es etwa noch im Ansatz nachvollziehbar erscheinen, wenn Laurent die zivilrechtliche Pflicht zur Errichtung von Grenzmauern deshalb als Teil des ordre public einordnet, weil hiermit das übergeordnete Ziel der Verhinderung von Diebstählen verfolgt wird (Laurent, Droit civil international VII, 1880, S. 394, Nr. 324, 325). Die Begründung für den ordre public-Charakter der Miteigentümerstellung des Nachbarn gerät jedoch unfreiwillig komisch: So wäre der monetäre Verlust durch den Bau einer zweiten Grenzmauer (etwa zur Abstützung eines angrenzenden Gebäudes) „une perte pour moi, et toute perte que font les particuliers est une perte de richesse pour la société“ (Laurent, a.a.O.). 58 Laurent, Droit civil international V, 1880, S. 255, welcher etwa in der Ehe eine solche „mélange de lois qui dépendent du droit public et de lois qui dépendent du droit privé“ erkannte. 59 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 48 m.w.N.; Arminjon, Précis de dr. int. privé I, 3. Aufl. 1947, S. 219. Ebenfalls verbreitet waren die Bezeichnungen „ordre public absolu“ oder „ordre public général“ für den kollisionsrechtlich wirkenden ordre public. Die Bezeichnung als „ordre public international“ hat sich indessen heute durchgesetzt. 56
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Klauseln, welche in der Regel auf eine besondere Wertprägung der durchzusetzenden Bestimmung oder auf einen eklatanten Widerspruch des ausländischen Rechts zu Fundamentalwerten der eigenen Rechtsordnung abstellen. 60 III. Eingriffsrecht im common law des 19. Jh. Im common law war die Ansicht Storys vorherrschend, wonach fremdes Recht ohnehin nur aus „comity“ angewandt werde und daher keine Nation anstößige Verträge durchsetzen müsse.61 Daher wurde die Anwendung des fremden Ortsrechts dann abgelehnt, wenn dieses sich als „contrary to the public law of the state, as regarding the interests of religion, or morality, or the general well being of society“ erwies.62 IV. Zwischenergebnis Trotz der erheblichen Unterschiede zwischen den europäischen Kollisionsrechtssystemen 63 bestand weitgehende Einigkeit in der Vorstellung von der Notwendigkeit einer Vorbehaltsklausel zugunsten der eigenen öffentlichen Ordnung. „Public policy“, „ordre public“ und „Prohibitivgesetze“ waren nur in
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Der italienische Codice civile von 1865 ordnete in seinem Art. 12 an, dass die Anwendung ausländischen Rechts in keinem Fall die „leggi proibitive“ durchbrechen dürfe. Im Original: „Non ostante le disposizioni degli articoli precedenti, in nessun caso le leggi, gli atti e le sentenze di un paese straniero, e le private disposizioni e convenzioni potranno derogare alle leggi proibitive del regno […] riguardanti in qualsiasi modo l’ordine pubblico ed il buon costume” (abgedr. bei Neumann, IPR in Form eines Gesetzentwurfs, 1896, S. 163, Nr. 70). – Dem folgte Art. 11 des spanischen Código civil von 1889 fast wortwörtlich. Besonders augenfällig ist demgegenüber der Art. 14 des argentinischen Código civil von 1871, wonach fremde Gesetze nicht durchzusetzen sind, die im Widerspruch zum öffentlichen Recht stehen oder der Kultustoleranz, der Staatsreligion, der Moral, den guten Sitten, den Gesetzen der Natur oder dem Geist des Gesetzes selbst widersprechen (beides abgedr. bei Neumann, IPR in Form eines Gesetzentwurfs, 1896, S. 164, Nr. 74 & S. 160, Nr. 58. Siehe zur argentinischen Fassung auch Meili, ZIPS 1890, 1, 168). 61 Story, Conflict of laws, 1846, S. 370 ff. Siehe hierzu auch Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 19 m.w.N.; Thoma, Europäisierung, 2007, S. 11. 62 Story, Conflict of laws, 1846, S. 559. 63 Es sei kurz daran erinnert, dass Mancini das IPR als völkerrechtlich verbindliche Rechtsmaterie verorten wollte, wohingegen die Fremdrechtsanwendung im common law nur als freundlich-unverbindliche Zulassung nach dem Vorbild der huberschen „comitas“ begriffen wurde. Im deutschen Rechtskreis standen sich Internationalisten wie Savigny, die das IPR als völkerrechtliche Materie begreifen wollten, und „Nationalisten“ wie Kahn, die für eine Verortung im nationalen Recht plädierten, gegenüber. Näher hierzu: Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 121 ff.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 73 f. sowie die Ausführungen im 3. Kapitel unter D.I.1.
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der Reichweite, nicht aber im Kern verschieden. 64 Allen Instrumenten ging es darum, die kollisionsrechtliche Durchsetzung gewisser Normen und Wertungen des Forums mit dessen besonders fundamentalem Charakter zu begründen. Da das deutsche Anknüpfungssystem infolge des Einflusses von Savigny und seinen Mitstreitern einen vielfältigeren Strauß an Kollisionsnormen bereithielt als die grundsätzlich zweigleisige romanische Schule, war der deutsche Rechtsanwender allerdings deutlich seltener dazu gezwungen, Abweichungen von Kollisionsnormen mit dem Vorliegen eines „Prohibitivgesetzes“ zu begründen. Kahn beschrieb das Verhältnis der deutschen und romanischen Schule zu jener Zeit treffend mit dem folgenden Bild: „Mag er [der ordre public] offen […] den Thron einnehmen, oder mag er im Bettlergewand eines ‚Prohibitivgesetzes‘ […] durch die Straßen schleichen: ein Wort von ihm genügt, die scheinbar festest gegründete Kollisionsnorm zu stürzen.“65
Des Weiteren fand sich die heute gelehrte Trennung zwischen dem nur abwehrenden ordre public und der positiven Durchsetzung eigenen „Eingriffsrechts“ allenfalls in Ansätzen, ohne dass hiermit eine strenge methodische Trennlinie verbunden wurde. V. Die Kritik Kahns am „ordre public“ und den „Prohibitivgesetzen“ Eine auch heute noch sehr lesenswerte Kritik der französischen und deutschen Konzeptionen der Vorbehaltsklausel veröffentlichte Kahn in der Morgendämmerung des deutschen BGB.66 Er stellte zunächst fest, dass das Institut der Prohibitivgesetze in der Praxis häufig dazu verwandt wurde, das Regelstatut zu unterwandern. 67 Der Fokus auf die scheinbar außerordentlich starke soziale oder sittliche Prägung einer „zwingenden“ Rechtsnorm verstelle außerdem den Blick für die „platte Selbstverständlichkeit“, dass fremdes Recht nicht zur Anwendung gebracht werden dürfe, wenn die heimische Rechtsordnung dies dem Richter verbietet. 68 Sofern Gerichte die exklusive Anwendbarkeit einer Norm mit dem „ungewöhnlich hohen Gehalt an sozialem Oel“ 69 begründeten, stehe dahinter tatsächlich eine vom Regelstatut abweichende Verweisung auf das Inlandsrecht. 70 64
Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 36 ff., wonach die ganze romanische Lehre vom ordre public überhaupt eine Fortentwicklung des savignyschen Instituts der streng positiven Normen sei (a.a.O. S. 37, 39). Ähnl. Gutzwiller, Einfluss Savignys, 1923, S. 156 f. 65 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 6. An anderer Stelle spricht Kahn von den Prohibitivgesetzen als „verkleinertem Abbild“ der romanischen Lehre vom ordre public (a.a.O. S. 103). 66 Erschienen in drei Teilen: Kahn, JhJb 39 (1898), 1; Kahn, JhJb 40 (1898), 1; Kahn, JhJb 43 (1901), 299. Zusammengefasst in Kahn, Abhandlungen zum IPR, 1928. 67 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 10 f. 68 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 21 f. 69 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 27. 70 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 24 ff.
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Die Hervorhebung der öffentlichen Ordnung sei letztlich nichts anderes als die Heranziehung der „Rechtsidee“ einer Vorschrift, welche die besondere kollisionsrechtliche Behandlung nötig mache.71 Die als „Rechtsidee“ verstandene öffentliche Ordnung würde daher potentiell die gesamte Rechtsordnung erfassen, weshalb sie als einheitliches Band untauglich werde. 72 Übrig bliebe schließlich nur der selbstverständliche Satz, dass eine ausländische Vorschrift anzuwenden oder nicht anzuwenden sei, wenn die inländische Rechtsordnung dies nach ihrem „Sinn und Geist“ erfordere. 73 Der vermeintlich besonders hohe Gemeinwohlbezug einer Norm soll damit nach Kahn nur eine verlegene Begründung für die Bildung einer neuen, (zunächst) auf das Heimatrecht verweisenden Kollisionsnorm darstellen. Daraus ergebe sich auch, dass selbst im Bereich „zwingenden“ Rechts die Normanwendung niemals absolut, sondern relativ in örtlicher und zeitlicher Hinsicht sei – ganz egal, wie fundamental eine Norm auch sein möge. 74 Mit anderen Worten: Kahn forderte auch für den Bereich der fundamentalen, „zwingenden“ Rechtsnormen einen irgendwie gearteten Inlandsbezug, also die Festlegung eines Anknüpfungsmoments. Der Inlandsbezug könne hierbei auch aus der Zuständigkeit eines inländischen Gerichts folgen, was etwa bei Normen über die Unklagbarkeit von Spielschulden der Fall sei. 75 Gleiches gelte für die heimischen Vorschriften über die Ehescheidung: Auch diese seien nicht aufgrund ihres scheinbar besonders intensiven Bades in „sozialem Öl“ durchzusetzen, sondern aufgrund des inländischen Gerichtsorts. 76 Eine generelle Sonderanknüpfung „zwingenden“ Rechts aufgrund eines vermeintlich besonders überragenden Gemeinwohlbezugs sei ausgeschlossen, da der nötige Gemeinwohlbezug bei genügendem Begründungsaufwand überall feststellbar sei. 77 Daher seien im Rahmen von Spezialuntersuchungen die jeweils passenden Kollisionsnormen zu noch nicht angemessen erfassten Rechtsverhältnissen zu ermitteln. 78 Bei einer nur geringen Inlandsberührung könnten auch Gesetze von fundamentalster Bedeutung für das Staatsleben gleichwohl nicht angewandt werden; genauso würde bei einer starken Inlandsberührung auch ein Gesetz mit schwachem Gemeinwohlbezug gegen ein ausländisches Wirkungsstatut durchsetzbar sein. 79
71 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 74 ff. Siehe hierzu auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 129. 72 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 75, 103. 73 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 76; Kahn, ZIPÖR 12 (1903), 229, 309. 74 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 28. 75 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 34. 76 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 35; Kahn, JhJb 43 (1901), 299, 409 f. 77 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 61 ff.; dies bekräftigend in Kahn, ZIPÖR 12 (1903), 229, 310. 78 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 109 ff.; Kahn, JhJb 43 (1901), 299, 429 f. 79 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 73.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
Der ordre public sei insofern ein gefährlicher „passe-partout“ zur willkürlichen Durchsetzung eigenen Rechts. 80 Statt mit dem „sozialen Öl“ einer Vorschrift zu argumentieren, müsse man den noch verborgenen Kollisionsnormen die „Maske der sogenannten Prohibitivgesetze“ entreißen. 81
C. Eingriffsnormen und ordre public im 20. Jahrhundert bis zur Kollisionsrechtsvereinheitlichung C. Eingriffsnormen und ordre public im 20. Jahrhundert
Die Kriege und Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten vor allem in Frankreich und den deutschsprachigen Staaten zu einer starken Zunahme wirtschaftspolitischer Gesetzgebung. Feindstaatengesetze, Embargobestimmungen sowie Devisenvorschriften stellten auch das IPR vor neue Herausforderungen. Handelte es sich zunächst nur um makropolitisch ausgerichtetes Wirtschaftsinterventionsrecht, nahm in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die gesetzgeberische Tätigkeit im interindividuellen Bereich zu. I. Ordre public, „zwingendes“ Recht und „Eingriffsnormen“ in Deutschland 1. Rezeption und Anwendung des Art. 30 EGBGB a.F. Nach einer turbulenten Entwurfsgeschichte 82 war zunächst Art. 30 EGBGB a.F. der zentrale Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion in Deutschland. Die Norm hatte den folgenden Wortlaut: „Die Anwendung eines ausländischen Gesetzes ist ausgeschlossen, wenn die Anwendung gegen die guten Sitten oder gegen den Zweck eines deutschen Gesetzes verstoßen würde.“
Die deutsche Literatur war sich bald einig, dass eine Übernahme der romanischen Schule durch Art. 30 EGBGB a.F. nicht intendiert war, vielmehr sollten „Prohibitivgesetze“ weiterhin nur in Ausnahmefällen durchgesetzt werden. 83 Die Norm sei insofern nur das „verkleinerte Abbild“ der romanischen Lehre vom ordre public.84
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Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 108; Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 76. Kahn, ZIPÖR 12 (1903), 229, 330. 82 Näher zur Entwurfsgeschichte der deutschen Vorbehaltsklausel: Epe, Funktion des Ordre public, 1983, S. 112 ff. Allgemeiner: v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 75 ff. 83 Niedner, in Niedner-BGB, 2. Aufl. 1901, S. 85. 84 Niedner, in Niedner-BGB, 2. Aufl. 1901, S. 86; Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 103. Überhaupt wurde der Begriff „ordre public“ zu jener Zeit noch nicht für die deutsche Vorbehaltsklausel verwendet. – Auch die Saat für die Scheidung der negativen von der positiven Funktion des ordre public war bereits im Wortlaut der Norm angelegt, da diese zwischen den zu 81
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Wohl unter dem Eindruck der Ausführungen Kahns setzte sich teilweise die Ansicht durch, dass das Merkmal eines besonderen Gemeinwohlbezugs nicht tauglich sei, um die von Art. 30 EGBGB a.F. erfassten Gesetze zu beschreiben.85 Infolgedessen schlossen sich einige Autoren der kahnschen These an, wonach es lediglich um noch zu entdeckende Kollisionsnormen gehe. 86 Kahn selbst hielt den Art. 30 EGBGB a.F. für eine „völlig farblose“ Formulierung des Spezialitätsgrundsatzes. 87 Positiver äußerten sich Niemeyer und Habicht: Demnach handele es sich um ein „Sicherheitsventil“ in Form eines „Blankomandats“ der Rechtspflegeorgane, welches die Schaffung neuer Sonderkollisionsnormen ermögliche. 88 Die deutsche Rechtsprechung übertrug indessen ihr bisheriges Verständnis der „absolut zwingenden Gesetze“ auf den neuen Art 30 EGBGB a.F. Dementsprechend hielt sie weiterhin ein bestimmtes Maß an fundamentaler Wertprägung für notwendig, um eine Norm als Fall der Vorbehaltsklausel einzuordnen. So sei es zur Durchsetzung inländischer Bestimmungen gegen ein ausländisches Wirkungsstatut nötig, dass „der Unterschied zwischen den staatspolitischen oder sozialen Anschauungen […] so erheblich ist, daß die Anwendung des ausländischen Rechts direkt die Grundlagen des deutschen staatlichen oder
wahrenden „guten Sitten“ und dem Durchsetzung verlangenden „Zweck des Gesetzes“ unterschied (Habicht, IPR, 1907, S. 233; Raape, IPR, 5. Aufl. 1961, S. 93. Näher hierzu: Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 72; Epe, Funktion des Ordre public, 1983, S. 115). 85 So etwa Niedner, in Niedner-BGB, 2. Aufl. 1901, S. 86, welcher allein das Merkmal der Sittenwidrigkeit für näher bestimmbar hielt. Niemeyer, Das IPR des BGB, 1901, S. 96 f. berichtet davon, dass die Unbestimmtheit der Vorbehaltsklausel bereits in den Verhandlungen der Entwurfskommission bemängelt wurde. – Auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 36, und Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 517 betonen, dass Kahn ein Übergreifen des weiten französischen Verständnis des ordre public verhinderte. 86 Niedner, in Niedner-BGB, 2. Aufl. 1901, S. 86, 88; Niemeyer, Das IPR des BGB, 1901, S. 100 f.; Habicht, IPR, 1907, S. 235 f.; ähnl. auch Rabel, The conflict of laws, 2. Aufl. 1958, S. 98 f. 87 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 24; Kahn, JhJb 43 (1901), 299, 428. Ähnl. auch Zitelmann, IPR I, 1897, S. 371 f.; Frankenstein, IPR, 1926, S. 188. 88 Niemeyer, Das IPR des BGB, 1901, S. 96 f.; Habicht, IPR, 1907, S. 232 f.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
wirtschaftlichen Lebens angreifen würde“. 89 Da das Reichsgericht ein Eingreifen des ordre public nur in seltenen Ausnahmefällen bejahte, fand die befürchtete Aushöhlung der Regelverweisungen nicht statt. 90 2. Die Behandlung in- und ausländischer Eingriffe ins Wirtschaftsleben als Geburtsstunde der Eingriffsnorm Der nach dem Ersten Weltkrieg zunehmende Wirtschaftsinterventionismus der europäischen Staaten führte dazu, dass der ordre public im Internationalen Schuldvertragsrecht häufiger zur Durchsetzung heimischer Verbots- und Devisengesetze gegen die lex causae eingesetzt wurde.91 Die Notwendigkeit einer eigenständigen Behandlung dieser Fälle sahen die Autoren jener Zeit zunächst nicht: Ebenso wie die klassischen Fälle „(absolut) zwingenden“ Rechts im Familien- und Erbrecht wurden auch diese Bestimmungen als Unterfall der Vorbehaltsklausel begriffen. Dogmatisches Neuland stellte erst die Frage dar, inwiefern fremdes Wirtschaftseingriffsrecht zu beachten sei. Der Mitberücksichtigung statutszugehörigen Eingriffsrechts als scheinbar integralem Teil der lex causae stand man hierbei noch mit einigem Wohlwollen gegenüber.92 Deutlich skeptischer verhielt man sich jedoch bei der Frage, ob drittstaatliches Eingriffsrecht herangezogen werden könne. Die vermeintliche Förderung statutsfremder, staatspolitischer Interessen erschien zahlreichen Autoren weder dogmatisch möglich noch wünschenswert. Das Reichsgericht wies sogar ausdrücklich darauf hin, dass „nur das Verbot eines inländischen Gesetzes“ als maßgebendes gesetzliches Verbot gelten könne;93 möglich sei dagegen 89
RG, Urt. v. 21.03.1905 – II 387/04, RGZ 60, 296, 300; RG, Urt. v. 15.02.1906 – IV 392/05, RGZ 62, 400, 404; RG, Urt. v 03.03.1906 – V 372/05, RGZ 63, 18, 19; RG, Urt. v. 19.12.1922 – III 137/22, RGZ 106, 82, 84; Deike, Die deutsche Rechtsprechung auf dem Gebiete des internationalen Privatrechts im Jahre 1930, 1931, S. 50, Nr. 15. Weitgehend ähnl. das Schweizer Bundesgericht: BG, Urt. v. 26.02.1897, BGE 23 I 245, 250; BG, Urt. v. 12.07.1912, BGE 38 II 731, 733; BG, Urt. v. 25.02.1915, BGE 41 II 138, 141; BG, Urt. v. 18.09.1934, BGE 60 II 294, 310; BG, Urt. v. 11.06.1958, BGE 84 I 119, 122. Bemerkenswert ist des Weiteren, dass die Anwendung „zwingender“ Forumsbestimmungen in der frühen Rechtsprechung des BG noch nicht mit dessen besonders fundamentalem Charakter, sondern mit dem innerschweizerischen Klageort begründet wurde (BG, Urt. v. 14.10.1882, BGE 8 I 822, 825). 90 Siehe die in Fn. 89 genannten Urteile und Hedemann, Dt. Justiz 1939, 1516, 1523. Dagegen wollte Frankenstein, IPR, 1926, S. 187 auch in der deutschen Rspr. einen ausufernden Gebrauch der Prohibitivgesetze erkennen. 91 Schnitzer, Handbuch des IPR, 1937, S. 113 f. machte die Kollision autoritärer, liberaldemokratischer und kommunistischer Ideologien für die häufige Berufung des ordre public verantwortlich. Siehe zu den politischen Rahmenbedingungen auch Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 38 f.; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 9; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 1. 92 Siehe die Nachw. zur Schuldstatutstheorie in Fn. 350. 93 RG, Urt. v. 03.10.1923 – V 886/22, RGZ 108, 241, 243.
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allenfalls eine materiellrechtliche Berücksichtigung drittstaatlicher Verbotsgesetze über die heimische Sittenklausel des § 138 BGB 94. a) Die Anfänge der Sonderanknüpfung in- und ausländischen „zwingenden“ Rechts Der Linie des Reichsgerichts standen die ersten Vertreter einer Sonderanknüpfung in- und ausländischen Eingriffsrechts gegenüber. Die ersten Ansätze hierzu wurden durch den Vater des Internationalen Öffentlichen Rechts Karl Neumeyer gelegt. Dieser verstand „artfremde Eingriffe“ mit staatspolitischer Zielsetzung in privatrechtliche Rechtsverhältnisse als kollisionsrechtlich besonders zu behandelnde Normkategorie. 95 Die erste tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Berücksichtigungsfähigkeit fremder Staatseingriffe erfolgte hingegen durch Wilhelm Wengler.96 Dieser widmete seine Untersuchung zunächst dem inländischen Staatseingriffsrecht. Er betonte, dass auch dieses nur bei einem ausreichenden Inlandsbezug durchgesetzt werden dürfe.97 Nur „im Rahmen des ihrem Zweck entsprechenden örtlichen und persönlichen Geltungsbereichs“ würden derartige „lois d’ordre public“ kein abweichendes Fremdrecht dulden. 98 Der Richter müsse aus Sinn und Zweck der fraglichen Bestimmung den örtlichen Geltungsbereich ermitteln und in diesen Grenzen die zwingende Bestimmung unabhängig vom 94
RG, Urt. v. 28.06.1918 – II 69/18, RGZ 93, 182, 184; RG, Urt. v. 03.10.1923 – V 886/22, RGZ 108, 241, 243; RG, Urt. v. 17.06.1939 – II 19/39, RGZ 161, 296, 299. Weitere Nachweise bei: Mann, in: FS Beitzke, 1979, S. 608; Drobnig, in: FS Neumayer, 1985, S. 161; Kratz, Ausländische Eingriffsnorm, 1986, S. 24. Siehe zur Methode der „materiellrechtlichen“ Berücksichtigung ausf. im 3. Kapitel unter C. 95 Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 243 ff. Näher hierzu: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 199 ff.; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 7. Häufig wird daher Neumeyer zugeschrieben, den Begriff der „Eingriffsnorm“ geprägt zu haben (so etwa Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 7; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 25; Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 73). 96 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 171 ff. Hierbei ging es in erster Linie um drittstaatliche Devisengesetze und Goldklauselverbote (näher zu Goldklauselverboten: Ertl, Inflation, 1980, S. 71 ff.). – Ebenfalls hervorzuheben ist die Auseinandersetzung der deutschen Lehre mit fremden, aus Kriegsgründen erlassenen Verbotsgesetzen: Kegel/Rupp/Zweigert, Einwirkung des Krieges auf Verträge, 1941, S. 3 ff.; Lorenz, in: FS Jayme, 2004, S. 552. Sie mündete jedoch nicht in der Entwicklung eines eigenständigen theoretischen Ansatzes. 97 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 174 ff. 98 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 174. So sei der Geltungsbereich einer Zinssatzbeschränkung etwa in der Regel an seiner materiellen Zwecksetzung – nämlich dem Schutz des inländischen Schuldners – zu orientieren (a.a.O. S. 176). Bei anderen Normen könne die Betroffenheit des inländischen Markts, der Inlandswohnsitz oder der inländische Gewerbestandort maßgeblich für die Anwendung zwingenden inländischen Schuldrechts sein (a.a.O. S. 177 ff.).
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
Schuldstatut anwenden. 99 Dies sei schlichtweg eine Durchsetzung des Prinzips der Spezialisierung, was bei den besonderen Kollisionsnormen für die Geschäftsfähigkeit und Form bereits durchgeführt worden sei. 100 Neu war diese Forderung nicht: Sie entsprach weitgehend dem Postulat Kahns von der Bildung spezieller, auf forumseigenes Recht verweisender Kollisionsnormen unter dem Dach des ordre public. Das wesentliche Novum der wenglerschen Methode war indessen die hieran angelehnte Behandlung des Eingriffsrechts dritter Staaten: Sofern ausländisches Staatseingriffsrecht selbst angewandt sein wolle und nach Maßgabe des Forums eine ausreichend enge Beziehung zum Sachverhalt vorliege, sei es mittels einer speziellen Kollisionsnorm gesondert anzuknüpfen.101 Die wenglersche Sonderanknüpfungslehre wurde von Zweigert verfeinert.102 Auch dieser betonte im Hinblick auf heimisches Eingriffsrecht zunächst, dass in der Heranziehung des ordre public zu einem guten Teil die Anwendung noch zu formulierenden Kollisionsrechts zu sehen sei. 103 Ausländisches zwingendes Recht könne hingegen nur dann mithilfe einer Sonderanknüpfung berufen werden, wenn die ausländische Norm anwendungswillig sei, ihre Berufung einem internationaltypischen Interesse aller Staaten diene und der Erlassstaat eine enge Verbindung zum Sachverhalt aufweise. 104 So seien etwa ausländische Leistungsverbote dann anzuwenden, wenn sich die von dem Verbot betroffene Wertbewegung ganz oder teilweise im Verbotsland abspiele.105 Ähnlich äußerte sich auch Neumayer: Es komme im Hinblick auf eigenes Eingriffsrecht darauf an, die hinter der Berufung des ordre public verborgenen Kollisionsnormen zu ermitteln.106 Angesichts der vom Schuldstatut zu unterscheidenden, öffentlichen Zwecke des Eingriffsrechts sei dieses nach Maßgabe 99
Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 178, 211. Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 212. 101 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 211; Wengler, IntRDipl 1956, 191, 204 ff. Dazu trete noch die Kontrolle des sonderangeknüpften ausländischen Rechts durch den heimischen ordre public. So seien etwa wirtschaftliche Kampfmaßnahmen eines fremden Staates nicht durchsetzbar. – Der Ansatz am fremden Geltungswillen konfligiert freilich mit der Prämisse eines autonomen Kollisionsrechts. Es widerspräche diesem Modell, wenn man ausländisches Recht schlicht in dem Maße anwenden würde, wie es der jeweilige fremde Gesetzgeber vorgesehen hat, was Wengler letztendlich angesichts seiner intensiven Kontrolle durch autonom festgelegte Elemente auch nicht macht. Siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.II.4 sowie im 4. Kapitel unter C.V.2. 102 Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 286 ff. 103 Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 288 ff.; Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 127. 104 Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 288 ff. 105 Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 301. 106 Neumayer, Rev. crit. dr. int. pr. 1957, 579, 581; Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 36. Die auffällig häufige Bemühung des ordre public sei ein Anzeichen dafür, „daß noch 100
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der vom jeweiligen Gesetzgeber zu ordnenden „Sozialsphäre“ anzuknüpfen. 107 Da sich die vom Gesetzgeber angeschaute „Sozialsphäre“ wiederum in räumlichen, persönlichen und sachlichen Beziehungen zur Rechtsordnung ausdrückt, läuft auch der Ansatz Neumayers auf die Ermittlung des maßgeblichen Anknüpfungsmoments hinaus. So meint Neumayer später selbst, dass Eingriffsrecht eine einseitige Kollisionsnorm in sich tragen würde und das Anknüpfungsmoment hierbei variiere. 108 Ähnlich wie die romanische Schule würde die deutsche Literatur häufig diesen kollisionsrechtlichen Geltungsanspruch übersehen und irrtümlich die Vorbehaltsklausel zur Durchsetzung der jeweils verkörperten Wertentscheidungen bemühen. 109 Zusammenfassend ist festzustellen, dass die frühen Vertreter einer Sonderanknüpfung im Hinblick auf heimisches „zwingendes“ Recht ihre Nähe zum kahnschen Modell einer Entwicklung neuer Kollisionsnormen aus dem ordre public einte.110 Eine Trennung zwischen positiver und negativer Funktion des ordre public oder die systematische Isolation der „Eingriffsnorm“ wurde noch nicht angestrebt. Neu war indessen die vorgeschlagene Sonderanknüpfung drittstaatlichen Eingriffsrechts. b) Die beginnende Eigenständigkeit der Sonderanknüpfung „zwingenden“ Rechts und die Festigung des negativen ordre public Zu Beginn der 1960er-Jahre unterschied die deutsche Literatur zunehmend zwischen der positiven und negativen Dimension des ordre public. Von zuvor unbekannter Deutlichkeit sind die Differenzierungsbemühungen Gamillschegs: Demnach diene die negative Funktion allein zur Kontrolle der Anwendung ausländischen Rechts auf ihre Verträglichkeit mit den Grundwerten der lex fori.111 Der positive ordre public bezeichne dagegen die Eigenschaft einer Bestimmung, als „loi d’ordre public“ eine von der Regelanknüpfung abweichende kollisionsrechtliche Behandlung zu erheischen. 112 Sofern man die positive Funktion des ordre public bemühe, werde hiermit tatsächlich eine noch
manche Schleier zu lüften sind, hinter denen unentdeckte Kollisionsnormen ihrer Erkenntnis harren“. 107 Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 54; Neumayer, Rev. crit. dr. int. pr. 1958, 53, 73; Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 187, Fn. 27 und S. 193 f. 108 Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 189. 109 Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 196. 110 Siehe insb. die Nachw. in Fn. 98 und Fn. 103. 111 Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 63. Ähnliche Tendenzen lassen sich zuvor schon in der Schweizer Literatur beobachten: Schnitzer, Handbuch des IPR, 1937, S. 106; Marti, Vorbehalt, 1940, S. 46; ähnl. später auch Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 171. Auch Marti und Schnitzer identifizierten die positive Dimension vorrangig mit der Bildung spezieller, einseitiger Kollisionsnormen. 112 Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 63.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
unerkannte Kollisionsnorm angewandt. 113 Hierbei komme es nicht auf die Anstößigkeit des verdrängten Rechts an. 114 In einer späteren Abhandlung äußerte sich auch Neumayer entsprechend. So würden die absolut zwingenden Gesetze das ausländische Recht gar nicht erst „ausreden lassen“, sondern ihm aufgrund einer selbstständigen Anwendungsnorm „von vornherein ins Wort“ fallen. 115 Beim ordre public indessen werde erst das fremde Recht aufgrund seines Inhalts abgewiesen, um dann im Nachhinein Vorschriften des Heimatrechts zur Schließung der Lücke heranzuziehen.116 Bei den international zwingenden Normen würde der Richter lediglich unter den besonderen Anwendungsbefehl subsumieren, wohingegen der negative ordre public eine Überprüfung des fremden Rechtssatzes auf seine Verträglichkeit mit der eigenen Rechtsordnung erfordere. 117 Diesem Ansatz einer methodischen Unterscheidung zwischen der positiven und negativen Dimension des ordre public folgte die Mehrheit der deutschen Literatur.118 In terminologischer Hinsicht setzte sich neben der „international zwingenden“ Norm auch die heute geläufige Bezeichnung als „Eingriffsnorm“ durch.119 Die Tendenz zu einer funktional orientierten Trennung von positiver und negativer Dimension des ordre public wurde in der deutschen Rechtsprechung demgegenüber lange nicht nachvollzogen. Sie diskutierte ohne eine klare Trennung sowohl die Durchsetzung „international zwingender“ Rechtssätze unter dem Dach des Art. 30 EGBGB a.F. als auch die Abwehr ausländischen Rechts zum Schutz abstrakter, übergeordneter Wertungen. 120 Die Beschreibung des
113 Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 63, 67, welcher sich hierbei auf Kahn berief. 114 Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 63. 115 Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 190. 116 Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 190. Über die heute anerkannte Möglichkeit, die durch den ordre public entstandene Lücke innerhalb der lex causae oder mittels drittstaatlichen Rechts zu schließen, äußert er sich nicht (siehe hierzu ausf. im 6. Kapitel). 117 Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 191. 118 So auch Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 285, 295 ff. m.w.N. Weniger streng dagegen Raape, IPR, 5. Aufl. 1961, S. 93, wonach die Unterscheidung „flüssig“ sei. In beiden Fällen gehe es darum, den durch die IPR-Verweisung verursachten „Sprung ins Dunkle“ abzufedern (a.a.O. S. 90). 119 Wie bereits angemerkt, wird die Begriffsbildung häufig Neumeyer zugeschrieben. Der Begriff schien jedoch erst prominent zu werden, nachdem ihn Zweigert als Synonym für die von ihm und Wengler untersuchten Normen gebrauchte (Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 128). Zu Beginn der 1970er-Jahre hatte sich die Bezeichnung dann fest etabliert (siehe etwa Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 425; Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 19 ff., 73). 120 Zur Durchsetzung heimischer Normen mithilfe des ordre public: BGH, Urt. v. 30.01.1961 – VII ZR 180/60, NJW 1961, 1061, 1062; BGH, Urt. v. 20.12.1971 – II ZR
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ordre public orientierte sich dabei stark an der reichsgerichtlichen Definition: Der Vorbehalt greife ein, wenn „das Ergebnis der Anwendung des ausländischen Rechts zu den Grundgedanken der deutschen Regelung und der in ihnen liegenden Gerechtigkeitsvorstellungen in so starkem Widerspruch steht, daß es von uns für untragbar gehalten wird“. 121 c) Bewertung Diese Entwicklungen verlangen nach einer Einordnung. Woher kam das Bedürfnis nach einer Aussonderung der positiven Seite des ordre public? Warum schien das kahnsche Postulat der Bildung neuer Kollisionsnormen aus dem ordre public kaum noch eine Rolle zu spielen? Hierfür gibt es mehrere Gründe. Einerseits ging es bei der Behandlung „zwingenden“ Rechts auch um die Bedeutung der Parteiautonomie im Internationalen Schuldvertragsrecht, wobei nur selten klar zwischen intern und international zwingendem Recht unterschieden wurde.122 Von den Vertretern einer grundsätzlich einschränkungslosen Rechtswahlmöglichkeit wurde das „zwingende“ Schuldrecht als Begriff für den gesamten abwahlresistenten Teil der Rechtsordnung ins Feld gebracht. 123 Dies ist auch wenig verwunderlich: Je weiter den Parteien die Rechtswahl gestattet wird, desto größer ist das Bedürfnis, Normklassen zu formulieren, von denen nicht abgewichen werden darf. 124 Es ging somit nicht nur um die Behandlung heimischer Gesetze mit ordre public-Charakter, sondern auch um die Rolle der Rechtswahl und ihrer Begrenzungen. In einem unkodifizierten Internationalen Schuldvertragsrecht, 125 das zunächst fast ausschließlich an den Parteiwillen anknüpfte, ersetzte der Begriff des „zwingenden“ Rechts damit beinahe das gesamte objektive Vertragskollisionsrecht. 126 Das Phänomen des
156/69, BGHZ 58, 1 = NJW 1972, 382 (Deutscher Handelsvertreterausgleichsanspruch sowie §§ 762, 764 BGB a.F.). Zum Schutz heimischer Wertungen: BGH, Urt. v. 17.09.1968 – IV ZB 501/68, NJW 1969, 369, 370 (Abwehr einer italienischen Bestimmung, die die Legitimation eines im Ehebruch erzeugten Kindes durch nachfolgende Eheschließung der Eltern ausschloss). 121 Statt vieler: BGH, Urt. v. 17.09.1968 – IV ZB 501/68, NJW 1969, 369, 370. 122 So auch Raape, IPR, 5. Aufl. 1961, S. 97; Winter, NTIR 1964, 329, 330. 123 Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 41 f.; ähnl. Gamillscheg, AcP 157 (1958), 303, 306; Neumayer, Rev. crit. dr. int. pr. 1958, 53 ff.; Hecke, ZfRV 1966, 23 ff.; Winter, NTIR 1964, 329, 330. 124 So auch Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 190. 125 Das Internationale Schuldvertragsrecht wurde erst 1986 kodifiziert (Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Einl. Rom I-VO, Rn. 18). 126 Ausnahmen bildeten einige wenige gewohnheitsrechtlich anerkannte objektive Kollisionsnormen wie bspw. der Satz „locus regit actum“. – Ein Nebeneinander von objektiver und subjektiver Anknüpfung kollidierte zudem mit der Maxime des Einheitsstatuts, sodass sich einige Autoren dem Problem auch von dieser Seite aus näherten (So besonders deutlich
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zwingenden Rechts nahm daher mehrere unterschiedliche Probleme in sich auf und schien für die Autoren jener Zeit eine Reichweite zu haben, die über tradierte Vorstellungen von der Aufgabe des ordre public weit hinausging. Andererseits spielte es auch eine gewichtige Rolle, dass die Probleme fast ausschließlich in der Berücksichtigungsfähigkeit ausländischen Eingriffsrechts gesehen wurden. Der hierbei für nötig erachtete Ansatz beim Geltungswillen der fremden Eingriffsnorm erschien vielen als äußerst eigentümliche Methode, die mit dem Schutz heimischer Wertungen durch den ordre public wenig gemein hat. Nachdem sich der Eindruck festgesetzt hatte, dass bei ausländischen Eingriffsnormen deren selbstgesteckter Anwendungsbereich im Vordergrund stehen müsse, griff diese methodische Einordnung – ohne Not – auf die zuvor noch dem ordre public zugeordneten heimischen Eingriffsnormen über: Ihre Durchsetzung gegen die lex causae wurde nun nicht mehr mithilfe ihrer Zugehörigkeit zum heimischen ordre public, sondern vorrangig mittels ihres eigenen Durchsetzungswillens begründet. Der ordre public dagegen wurde zunehmend nur noch als der Regelverweisung nachgelagerte aposteriorische Ergebniskontrolle aufgefasst, während die Wirkungsweise der Eingriffsnorm als „apriorisch“, d.h. der Regelverweisung vorgelagert, empfunden wurde. Dieser scheinbare Kontrast in der Wirkungsweise von Eingriffsnorm und ordre public ist auch heute noch ein zentraler Grund für die Trennung der beiden Institute. 127 3. Die Eingriffsnorm als Gegenstand von Sondersystemen Die in den 1970er- und -80er-Jahren über den Atlantik kommenden Ideen der US-amerikanischen „conflicts revolution“ führten in Europa zu einer tieferen Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Funktionsbedingungen des europäischen Kollisionsrechts. In dieser Zeit erlangten auch die bereits einleitend erwähnten Grundannahmen über Natur und Gegenstand der Eingriffsnorm ihre heutige Dimension. Da diese ausführlich im dritten Kapitel betrachtet werden, soll hier nur schlagwortartig an sie erinnert werden: Die Rechtsanwendungsfrage werde „vom Gesetz her“ bzw. „statutarisch“ statt wie üblich „vom Sachverhalt her“ gestellt; die Eingriffsnorm zeichne sich durch eine hohe „Materialisierung“ im Gegensatz zum „wertneutralen“ IPR aus; Eingriffsrecht stehe als „Recht des Staates“ im Gegensatz zum „reinen“ Privatrecht als „Recht der Gesellschaft“.
Die Diskussionen über die kollisionsrechtliche Methodik der Eingriffsnorm führten schließlich dazu, dass neben dem „Apriorismus“ der Eingriffsnormen auch die Notwendigkeit ihrer Aussonderung aus dem IPR stärker betont wurde.
bei: Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 178). Siehe zur Verbreitung der Einheitsstatutslehre auch v.Hein, AG 2001, 213, 228. 127 Siehe hierzu ausf. im 6. Kapitel.
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Neu war diese Tendenz nicht: Bereits der BGH wollte ausländische Devisengesetze nicht dem IPR, sondern dem „Öffentlichen Kollisionsrecht“ unterstellen.128 Außerdem ordnete Kegel bereits in den 1950er-Jahren die Berufung von Enteignungs- und Devisengesetzen dem „Internationalen Verwaltungsrecht“ zu.129 Während die älteren Ansätze das Eingriffsrecht tendenziell dem öffentlichen Kollisionsrecht 130 zuordnen wollten, wurden nun jedoch auch Sondersysteme innerhalb des IPR errichtet: 131 So gelangten viele Autoren zu der Ansicht, dass das IPR notgedrungen „zweispurig“ bzw. „zweipolig“ sei: Neben dem „klassischen“ Teil, der sich durch die Anknüpfung von rein privatrechtlichen Sachverhalten an Rechtsordnungen auszeichne, stehe die „politisierte“ Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht. 132 Diese Annahme hat sich bis heute gehalten.133 Eine sehr ähnliche Vorstellung liegt zumeist auch der Vorstellung einer Zweiteilung zwischen IPR und „Wirtschaftskollisionsrecht“ zugrunde. 134 Bis heute ist daher auch der Begriff der „Sonderanknüpfung“ eng mit der Vorstellung einer methodischen Sonderbehandlung des Eingriffsrechts verknüpft. Häufiger werden die genannten systematisch-methodischen Eigenheiten der 128
Siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter A.II. Siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter B.II. 130 Dieses wird ebenfalls im 3. Kapitel ausf. besprochen. 131 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 50 ff. bezeichnet dies als „intrinsischen Systemdualismus“. Siehe hierzu auch: Schubert, RIW 1987, 729, 729; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 132 ff. 132 Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 107; Rehbinder, JZ 1973, 151, 156; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 42 m.w.N.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 40, 366; Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 3; Drobnig, in: FS Neumayer, 1985, S. 178; Martinek, Das internationale Kartellprivatrecht, 1987, S. 59; Drobnig, RabelsZ 52 (1988), 1, 5. 133 Sonnenberger, in: FS Fikentscher, 1998, S. 288; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 13, Fn. 46, 99, 104; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 23; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 3; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 12, Rn. 7. – Der Sache nach ebenfalls eine Mehrpoligkeit des IPR postuliert jüngst Berner, welcher zwischen Kollisionsnormen als „erste Säule“ und Hoheitsinteressen als „zweite Säule“ des IPR differenzieren möchte. Hinzu kämen die „wohlerworbenen Rechte“ als dritte Säule (Berner, Kollisionsrecht im Spannungsfeld, 2017, S. 131 ff.). Diese Arbeit wird zeigen, dass sowohl Hoheitsinteressen als auch das Interesse an der Anerkennung im Ausland geschaffener Rechtslagen in den kollisionsrechtlichen Interessenkanon integrierbar sind, ohne dass es hierfür der zusätzlichen Mystifikation des Kollisionsrechts durch die Errichtung kollisionsrechtsspezifischer Säulen bedarf. 134 Dies wird sichtbar bei: Schnyder, Wirtschaftskollisionsrecht, 1990, S. 9 ff.; Habermeier, Neue Wege, 1997, S. 247; v.Hein, AG 2001, 213, 220. Teilweise entsteht auch der Eindruck, dass das Wirtschaftskollisionsrecht weniger als Bestandteil des IPR betrachtet wird denn vielmehr als drittes Kollisionsrecht neben IPR und Internationalem Öffentlichen Recht. Dies ist wohl auf die Ansicht Neumayers zurückzuführen, wonach das „international zwingende Recht“ als „dritte Kategorie“ zwischen dem Privatrecht und dem Öffentlichen Recht stehe (Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 50). 129
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
Eingriffsnorm indessen schlicht ohne eine ausdrückliche Zuordnung zu einem vom IPR getrennten Sondersystem erörtert. 135 Wenngleich Vertreter einer irgendwie gearteten Systemwidrigkeit der Berufung von Eingriffsrecht auch heute noch in der Mehrheit sind, 136 blieb diese Vorstellung nie unwidersprochen. Betrachtet man die wenigen Monographien namhafter deutscher Autoren, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schwerpunktmäßig mit den dogmatischen Grundlagen des IPR auseinandersetzten, so ergibt sich ein interessantes Bild: Entgegen des akademischen Mainstream in der Aufsatz- und Kommentarliteratur wird eine Integrierbarkeit der Eingriffsnorm in System und Methode des IPR hier eher bejaht. 137 4. Exkurs: Die US-amerikanischen Reformbemühungen und ihr Beitrag zur Isolation der Eingriffsnorm Die Bemühungen zur Isolation des Eingriffsrechts waren eng verbunden mit der Abgrenzung des kontinentalen IPR zur „politischen“ Schule des US-amerikanischen IPR. Obwohl sich deren Ansätze in Europa kaum durchsetzen konnten, sind einige Autoren bis heute davon überzeugt, Parallelen der USamerikanischen Reformideen in der Behandlung des Eingriffsrechts zu erkennen.138 Daher lohnt sich ein kurzer Blick auf jene Ansätze. Bis in die 1950er-Jahre war auch das US-amerikanische IPR von festen Kollisionsregeln nach europäischem Vorbild geprägt. 139 Da die Einzelfallgerechtigkeit im common law traditionell deutlich stärker gewichtet wird als die Vorhersehbarkeit einer Entscheidung, ist es ebenso nachvollziehbar, dass die grobmaschige Natur herkömmlicher Kollisionsregeln ein Dorn im Auge der USamerikanischen Juristen war. Diese wollten daher direkt auf die im konkreten Fall in Frage kommenden Sachnormen abstellen und beurteilen, welchem staatlichen Interesse an der Rechtsanwendung der Vorrang zu geben sei. 140 Es ging also darum, die hinter den Sachnormen stehenden „policies“ bzw. 135 Das Postulat eines eigenständigen Sondersystems für Eingriffsnormen scheint jedoch konsequenter, wenn man schon die Position einnehmen möchte, dass das Eingriffsrecht eine derart außerordentliche methodische Stellung einnehme. 136 Entsprechende Nachweise finden sich insb. im 3. und 4. Kapitel. 137 So etwa Bucher, Grundfragen, 1975; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981; Voser, Lois d’application immédiate, 1993. Dagegen: Vogel, Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965; Schnyder, Wirtschaftskollisionsrecht, 1990. 138 So möchte etwa Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 132 in den Eingriffsnormen das „letzte Refugium“ der amerikanischen Schule sehen. Ähnl. auch Thoma, Europäisierung, 2007, S. 249 ff. 139 Zweigert, IPRax 1973, 435, 437. 140 Zweigert, IPRax 1973, 435, 440; Drobnig, in: FS Neumayer, 1985, S. 163 ff.; Kratz, Ausländische Eingriffsnorm, 1986, S. 67; v.Hein, AG 2001, 213, 228; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 88, jeweils m.w.N.
C. Eingriffsnormen und ordre public im 20. Jahrhundert
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„governmental interests“ gegeneinander abzuwägen.141 Der Blick auf die Anwendungsinteressen der in Frage kommenden Sachnormen war auch ein Kennzeichen des Ansatzes von Ehrenzweig: Sofern die lex fori keine Kollisionsnorm bereithalte, seien die in Frage kommenden Sachnormen nach Aussagen über ihren Geltungsbereich zu untersuchen; im Zweifel sei die lex fori anzuwenden.142 Trotz der lebhaften Diskussion der US-amerikanischen Reformideen wurde eine Übernahme nur selten vorgeschlagen. 143 Da die US-amerikanische Doktrin vor allem interstate conflicts vor Augen hatte, war deren Übertragbarkeit nämlich bereits deshalb zweifelhaft. 144 Das ausgeprägte kontinentale Bedürfnis nach Rechtssicherheit sowie Vorbehalte gegen eine allzu starke Stellung des Richters führten zu weiterer Skepsis. 145 Heute befürwortet die moderne Literatur selbst in den USA wieder die Schaffung gewisser abstrakter Grundregeln. 146 Inwiefern vermeintliche methodische Eigenheiten der US-amerikanischen Schule – etwa der Ansatz bei der Sachnorm oder die Gewichtung staatlicher Rechtsanwendungsinteressen – tatsächlich ein Fremdkörper im herkömmlichen Kollisionsrecht sind, wird im 3. Kapitel ausführlich erörtert. Jedenfalls erklären sich die Bemühungen zur Isolation der Eingriffsnorm auch durch den Eindruck, dass ihre scheinbar besonders politisch-sachnormbezogene Natur eine Reinkarnation der US-amerikanischen Ansätze darstelle und eine derartige „Amerikanisierung“ des heimischen IPR zu vermeiden sei. 147 141
Currie, U.Chi.L.Rev. 28 (1961), 258, 290; Heini, SchwJbIntR 19 (1962), 31, 39, 47 ff. Sofern das Abwägen der policies zu keinem Ergebnis führen sollte, sei nach Cavers ausnahmsweise das „bessere“ Recht anzuwenden (siehe hierzu etwa Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 28; Berner, Kollisionsrecht im Spannungsfeld, 2017, S. 110 ff.). Ähnl. äußerte sich auch Leflar, der beim Fehlen „rechtswahlbestimmender Faktoren“ die „better rule“ anwenden wollte (hierzu etwa Zweigert, IPRax 1973, 435, 441 m.w.N.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 38; ausf. Mühl, Lehre vom „besseren“ und „günstigeren“ Recht, 1982; Berner, Kollisionsrecht im Spannungsfeld, 2017, S. 114 ff.). 142 Heini, SchwJbIntR 19 (1962), 31, 61 ff.; Zweigert, IPRax 1973, 435, 439; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 32 f.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 89 f. Berner, Kollisionsrecht im Spannungsfeld, 2017, S. 119 ff. Die Lehre Ehrenzweigs wurde häufig als chauvinistische Überhöhung der lex fori missverstanden (siehe hierzu Jayme, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 35 ff.). 143 So wollte etwa Zweigert, IPRax 1973, 435, 451 den „better rule“ Ansatz als subsidiäre Regel etablieren (siehe hierzu auch v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 87). Auch Heini, SchwJbIntR 19 (1962), 31, 45 f. schlug eine Übertragung gewisser Bestandteile der US-amerikanischen Reformansätze vor, um einzelfallgerechtere und flexiblere Lösungen zu erreichen. 144 Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 458. 145 Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 458; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 91. 146 v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 91 m.w.N. 147 Besonders prägnant bei Mann, in: FS Beitzke, 1979, S. 620, welcher sich gegen den Import „amerikanischer Irrlehren“ aussprach.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
5. Zusammenfassung Die obigen Ergebnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Deutschland noch nicht klar zwischen der Durchsetzung forumseigenen Rechts und der Abwehr fremden Rechts unterschieden. Unter dem Eindruck Kahns verfestigte sich zunächst teilweise die Ansicht, dass hinter dem Schleier des ordre public schlicht neue Kollisionsnormen zu entdecken seien. Mit dem vermehrten Aufkommen staatlicher Wirtschaftseingriffe und der Frage der Berücksichtigungsfähigkeit ausländischer Eingriffsgesetze wurde die Durchsetzung heimischer Eingriffsnormen indessen zunehmend vom ordre public gelöst, welcher seinerseits auf eine negative Dimension reduziert wurde. Zur Abgrenzung wurde in erster Linie darauf verwiesen, dass der ordre public dem Verweisungsvorgang nachgelagert („aposteriorisch“) sei, wohingegen die Durchsetzung von Eingriffsrecht der Kollisionsnormanwendung („apriorisch“) vorgehe. Hieran anknüpfend und unter dem Eindruck der US-amerikanischen Reformbemühungen kamen bald weitere systematischmethodische Kriterien zur Beschreibung der Eingriffsnorm hinzu. All dies führte zu einer Isolation der Eingriffsnormdurchsetzung in Sondersysteme, welche bis heute anhält. II. Eingriffsrecht im romanischen Rechtskreis des 20. Jahrhunderts 1. Die Unterscheidung zwischen lois d’ordre public und exception d’ordre public Die französische Literatur der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war zunächst weiterhin von Versuchen geprägt, den ordre public zu konkretisieren. 148 Später setzte sich teilweise auch in Frankreich die Ansicht durch, dass der ordre public abstrakt unbegrenzbar sei und man daher die tieferen Gründe für die Durchsetzung des heimischen Rechts erforschen müsse.149 Infolgedessen betonte etwa Lewald, dass sich hinter der Berufung des ordre public häufig spezielle „règles de conflit d’ordre public“ verbergen würden, welche als einseitige Kollisionsnormen gegen die Regelanknüpfung durchzusetzen seien. 150 Auch Armin-
148 Eine Zusammenfassung findet sich bei Arminjon, Précis de dr. int. privé I, 3. Aufl. 1947, S. 219 ff. So stellte etwa Pillet auf die soziale Zweckrichtung („le but social“) einer Vorschrift und deren Bestimmung zur Errichtung einer unabdingbaren Ordnung ab (Pillet, Principes, 1903, S. 396). Hierbei wurde nicht zwischen abwehrenden und durchsetzenden Wirkungen des ordre public unterschieden (so auch Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 74). 149 Lewald, Règles générales, 1941, S. 121 ; Arminjon, Précis de dr. int. privé I, 3. Aufl. 1947, S. 219 ff. 150 Lewald, Règles générales, 1941, S. 121 ff. Ähnl. zur franz. Dogmatik auch Neumayer, welcher von einer „Mutation“ des ordre public zur einseitigen Kollisionsregel sprach
C. Eingriffsnormen und ordre public im 20. Jahrhundert
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jon verwies darauf, dass der Grund für eine besondere kollisionsrechtliche Behandlung bestimmter Normen schlicht in der Notwendigkeit von Detailregelungen und nicht etwa in deren vermeintlich fundamentaler Bedeutung liege. 151 Insbesondere die französische Rechtsprechung legte jedoch weiterhin den Fokus auf den Bezug zu fundamentalen Wertungen und setzte den ordre public so schlagwortartig wie extensiv ein. 152 Mitte des 20. Jahrhunderts festigte sich auch in der romanischen Lehre die Abgrenzung zwischen einer positiven und negativen Dimension des ordre public.153 Dies schlug sich in terminologischer Hinsicht nieder: So wurden fortan Einzelnormen mit ordre public-Charakter als „lois d’ordre public“ oder „lois de police“ bezeichnet, 154 die negative Funktion hingegen als „exception d’ordre public“155. Im Gegensatz zu den deutschen „zwingenden“ Gesetzen blieb jedoch bei den französischen „lois d’ordre public“ bereits in terminologischer Offensichtlichkeit der Bezug zur öffentlichen Ordnung erhalten. Neumayer beschrieb das Verhältnis der positiven und negativen Dimension des romanischen ordre public treffend mit dem folgendem Bild: Demnach möchte die romanische Schule den ordre public „nicht auf die Aufgabe des Zollwächters beschränken, der draußen an der Grenze fremde Konterbande zurückweist, sondern sie auch mit den Funktionen eines Verkehrspolizisten versehen, der im inneren Rechtsverkehr den Schienenfahrzeugen unserer Rechtsverkehrseinrichtungen den ihnen gebührenden Vortritt auch gegenüber ausländischen Gästen wahrt“.156
(Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 184). Die Abweisung des Auslandsrecht erfolge hier ohne das beim negativen ordre public nötige Werturteil (Neumayer, a.a.O. S. 185). 151 Arminjon, Précis de dr. int. privé I, 3. Aufl. 1947, S. 231. Dem Richter werde mit dem ordre public ein „blanc-seing du législateur“ erteilt, der diesen zur Rechtsfortbildung ermächtige (a.a.O S. 229). 152 Frankenstein, IPR, 1926, S. 210 ff.; Schnitzer, Handbuch des IPR, 1937, S. 113; Arminjon, Précis de dr. int. privé I, 3. Aufl. 1947, S. 219; Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 67; Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 126. 153 Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 186; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre publicVorbehalt, 2015, S. 66 ff. 154 Neumayer, Rev. crit. dr. int. pr. 1957, 579, 582; Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 63 ff.; Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 284; Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 184 f.; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 98. 155 Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 186; Siehr, RabelsZ 36 (1972), 93, 103; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 68 ff. 156 Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 180.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
2. Von den „lois d’ordre public“ zu den „lois d’application immédiate“ Einen neuen Systematisierungsversuch unternahm Francescakis mit seiner Theorie über die „lois d’application immédiate“. Der Begriff findet sich erstmals in seinem 1958 erschienenen Werk „La théorie du Renvoi“. 157 Demnach handele es sich bei den lois d’application immédiate um Normen des Forumsrechts, die sich auch bei einem Sachverhalt mit internationalen Bezügen stets durchsetzen.158 Trotz der Knappheit und randständigen Position der entsprechenden Ausführungen entwickelte der Begriff eine außerordentliche Prominenz, was auch Francescakis selbst zu verwundern schien. So betont er in einer präzisierenden Nachlese, dass es ihm gar nicht um die Schaffung eines neuen Begriffs gegangen sei. 159 Die Bezeichnung „lois d’application immédiate“ sei „improvisiert“ und „irreführend“. 160 Er habe lediglich all jene Normen zusammenfassen wollen, die zuvor unter den Begriffen „lois de police“ und „lois d’ordre public“ fungierten. 161 Methodisch würden sich die lois d’application immédiate dadurch auszeichnen, dass sie vor der Anwendung der Regelkollisionsregeln zur Anwendung kommen. 162 Der ordre public sei dagegen auf eine nachträglich-verdrängende Funktion bei der Verletzung fundamentaler Prinzipien des Forums beschränkt. 163 Des Weiteren zeichne die lois d’application immédiate aus, dass man von der Norm ausgehend danach frage, auf welchen Lebenssachverhalt diese anzuwenden seien. 164 Aufgrund des ohnehin bestehenden Durchsetzungswillens der lois d’application immédiate sei es ökonomischer, diese sowohl „unmittelbar“ als auch „außerhalb“ der savignyschen Kollisionsnormen heranzuziehen. 165 Dennoch hätten auch die lois d’application immédiate einen Anwendungsbereich.166 157
Francescakis, Théorie du Renvoi, 1958, S. 11 ff. Francescakis, Théorie du Renvoi, 1958, S. 12. 159 Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1. 160 Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 2, 9. 161 Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 3. Die Entwicklungslinie von den lois d’ordre public zu den lois d’application immédiate betonen ebenfalls: Gamillscheg, RabelsZ 37 (1973), 284, 304; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 65. 162 Francescakis, Théorie du Renvoi, 1958, S. 13 ff. 163 Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 2 f. Siehe zur Trennung des positiven und negativen ordre public bei Francescakis auch Bucher, Grundfragen, 1975, S. 114. 164 Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 5. Im Gegensatz zu späteren Vertretern des Ansatzes „beim Gesetz“, betonte Francescakis jedoch unter Verweis auf Savigny die Austauschbarkeit mit dem Ansatz „beim Sachverhalt“. Siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.II.3.b. 165 Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 8. Siehe hierzu auch v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 1, Rn. 28. 166 Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 9. Die Notwendigkeit der Festlegung eines Anwendungsbereichs ergebe sich aus dem Bedürfnis nach der Regelung des internationalen Rechtsverkehrs. 158
C. Eingriffsnormen und ordre public im 20. Jahrhundert
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Dieser sei daher nicht absolut, sondern abhängig von den Sachnormzwecken oder der „résidence des intéressés“. 167 Zur Definition der lois d’application immédiate äußert sich Francescakis nur knapp. Es handele sich um solche Normen, bei denen es um die Verfolgung von Gemeininteressen oder den Schutz der Staatsorganisation geht. 168 Diesen Kreis scheint Francescakis jedoch recht weit ziehen zu wollen, da er auch französische Mieterschutzvorschriften als lois d’application immédiate unmittelbar gegen ein ausländisches Mietstatut durchsetzen möchte.169 Infolge der präzisierenden Ausführungen Francescakis entwickelte die Figur der lois d’application immédiate eine umso größere Anziehungskraft und erfreute sich bald einer weitgehenden Übernahme in der romanischen Literatur.170 Später entwickelte sich der Begriff der „lois de police“ zu einem verbreiteten Synonym für die lois d’application immédiate.171 Die französische Rechtsprechung verwandte hingegen noch lange den Begriff der „lois d’ordre public“ und unterscheidet bis heute nur selten zwischen der positiven und negativen Dimension des ordre public. 172 III. Eingriffsrecht im common law des 20. Jh. Auch Dicey wollte fremdes Recht dann nicht durchsetzen, wenn dies der „policy“ bzw. den „moral rules“ des englischen Rechts widersprechen würde. 173 Cheshire stellte dann Mitte des 20. Jahrhunderts fest, dass es ein fest etabliertes
167 Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 9, 14. Siehe hierzu auch Bucher, Grundfragen, 1975, S. 98; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 20; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 8, Fn. 11 sowie S. 105, Fn. 9. 168 Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 13. 169 Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 7 f. 170 Siehe etwa Pocar, RDIP 1967, 734, 736 ff. Näher zur Verbreitung in Europa und der Rezeption in der Schweiz: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 194 ff.; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 24 ff. 171 Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 122 ff.; Loquin/Simon, JDI (Clunet) 2001, 97, 104; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 22; Niggemann, IPRax 2009, 444, 446 m.w.N.; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 96 ff.; Bureau/Muir Watt, Droit international privé I, 3. Aufl. 2014, S. 648 ff. Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 65 sieht ebenfalls keinen substantiellen Unterschied zwischen den lois d’application immédiate und den lois d’ordre public. 172 Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 91; Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 86 m.w.N.; Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 45; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 190, Rn. 22; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 82 f. Auf die schwierige Unterscheidung zwischen ordre public und lois de police weisen auch Bureau/Muir Watt, Droit international privé I, 3. Aufl. 2014, S. 547 hin. 173 Dicey, Digest, 1908, S. XXXI. Siehe auch Schnitzer, Handbuch des IPR, 1937, S. 106.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
Prinzip sei, ausländisches Recht anhand der englischen public policy zu überprüfen.174 Hartley beschrieb die public policy Ende des 20. Jahrhunderts wie folgt: „In a nutshell, the doctrine of public policy states that a normal choice-of-law rule may be overridden whenever sufficiently important policies of the forum are involved.”175
Auch die englische Rechtsprechung betonte regelmäßig die Notwendigkeit des Instruments der public policy, setzte sie jedoch nur selten tatsächlich ein. 176 Ein entsprechender Vorbehalt findet sich auch in den §§ 187, 188 des US-amerikanischen Restatement (2nd). 177 Eine strikte Trennung zwischen der Durchsetzung heimischen und der Abwehr fremden Rechts findet sich im Rahmen der public policy nicht.178 Zusammenfassend kann damit festgestellt werden, dass die public policy große Ähnlichkeiten mit dem deutschen und französischen ordre public aufweist. 179 Während die deutsche Literatur jedoch zwischen Eingriffsnormen und negativem ordre public eine scharfe systematische Trennlinie zog und die französische Dogmatik zumindest den Unterschied zwischen positiver und negativer Dimension betonte, hat das common law bis heute das geringste Bedürfnis nach einer Unterscheidung der beiden Funktionen. 180
174 Cheshire, Private international law, 3. Aufl. 1949, S. 174. Es bedürfe jedoch stets eines ausreichenden Inlandsbezugs zur Berufung der public policy (a.a.O. S. 187 ff.). Cheshire versuchte sich auch an einer Aufzählung der typischen Fälle, wobei es ihm vor allem auf den Schutz grundlegender Fundamente des englischen Rechts sowie der guten Beziehungen zu befreundeten Staaten ankam (a.a.O. S. 190 ff.). 175 Hartley, Rec. d. Cours (Haye) 1997, 341, 350. 176 Siehe etwa Dynamit AG v. Rio Tinto Co. Ltd. [1918] AC 292, 302. Ein häufiger Anwendungsfall ist bis heute der Ausschluss fremder Straf- und Steuergesetze: Heiz, Das fremde öffentliche Recht, 1959, S. 73 ff.; Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 285, 300 ff.; Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 54; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 76 f., 90 f.; Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 63; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 86. 177 Ausf. hierzu Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 1 ff. 178 Hartley, Rec. d. Cours (Haye) 1997, 341, 350 ff.; ähnl. Torremans/Fawcett/Grušić, Cheshire, North & Fawcett’s private international law, 15. Aufl. 2017, S. 748 f. Hartley verweist darauf, dass sich die positive public policy häufig auch als einseitige Kollisionsnorm äußere (a.a.O. S. 352). 179 So auch Cheshire, Private international law, 3. Aufl. 1949, S. 174; Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 285; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 79. Kegel, Probleme des internationalen Enteignungs- und Währungsrechts, 1956, S. 11 setzte gar ordre public und public policy gleich. 180 So auch Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 287; Harris, in: Ferrari (Hrsg.), Rome I regulation, 2009, S. 297 f.
D. International zwingendes Recht im EVÜ
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D. International zwingendes Recht im Europäischen Schuldvertragsübereinkommen D. International zwingendes Recht im EVÜ
Das Europäische Schuldvertragsübereinkommen stellte eine Zäsur im IPR der europäischen Staaten dar. Erstmals wurden zentrale Teile des Internationalen Schuldvertragsrechts nach einer gemeinsamen Vorlage gestaltet. Die Verwirklichung des alten Traums von der überstaatlichen Vereinheitlichung des gesamten IPR rückte damit ein Stück näher. 181 Hierbei wurde auch der Bereich der Eingriffsnormen bzw. lois d’application immédiate in Art. 7 EVÜ182 kodifiziert: „(1) Bei Anwendung des Rechts eines bestimmten Staates aufgrund dieses Übereinkommens kann den zwingenden Bestimmungen des Rechts eines anderen Staates, mit dem der Sachverhalt eine enge Verbindung aufweist, Wirkung verliehen werden, soweit diese Bestimmungen nach dem Recht des letztgenannten Staates ohne Rücksicht darauf anzuwenden sind, welchem Recht der Vertrag unterliegt. Bei der Entscheidung, ob diesen zwingenden Bestimmungen Wirkung zu verleihen ist, sind ihre Natur und ihr Gegenstand sowie die Folgen zu berücksichtigen, die sich aus ihrer Anwendung oder ihrer Nichtanwendung ergeben würden. (2) Dieses Übereinkommen berührt nicht die Anwendung der nach dem Recht des Staates des angerufenen Gerichtes geltenden Bestimmungen, die ohne Rücksicht auf das auf den Vertrag anzuwendende Recht den Sachverhalt zwingend regeln.“
Auffällig ist, dass Art. 7 Abs. 1 EVÜ grundsätzlich das „zwingende Recht“ aller Staaten erfassen möchte. Damit erlaubte die Norm auch die Berücksichtigung ausländischer Eingriffsnormen. Erst der Abs. 2 stellt klar, dass das zwingende Forumsrecht nicht von den Bestimmungen des EVÜ berührt wird. Da der heutige Art. 9 Rom I-VO in zentralen Teilen auf den Art. 7 EVÜ aufbaut, ist letzterer im Folgenden näher zu betrachten. I. Entwurfsgeschichte Inspiriert wurde der Art. 7 EVÜ durch Art. 13 Abs. 2 des Benelux-Abkommens von 1969.183 Die Vorschrift verbot es, bei einem „offenbaren Schwerpunkt“ in
181 Der Wunsch nach einer überstaatlichen Kodifikation des IPR abseits singulärer staatsvertraglicher Vereinheitlichung ist fast allen großen Lehrern des Kollisionsrechts gemein. Siehe nur Savigny, System VIII, 1849, S. 114, 129; Mancini, JDI (Clunet) 1874, 221, 225 ff.; Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 9 f., 46; Frankenstein, IPR, 1926, S. 26. 182 Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 19.06.1980, 80/934/EWG, ABl. (EWG) L 266/1 v. 09.10.1980 (i.F.: „EVÜ“). 183 Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 140 ff.; Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 210 ff.; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 116. Dies sei auf den Belgier Vander Elst zurückzuführen (Kleinschmidt, a.a.O.).
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
einem anderen Staat dessen zwingende Bestimmungen durch Rechtswahl auszuschließen.184 Das Vorbild des Art. 13 Abs. 2 des Benelux-Abkommen (1969) war wiederum die Alnati-Entscheidung185 des niederländischen Hoge Raad. Dieser befürwortete in einem obiter dictum die Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen im Falle einer ausreichend engen Verbindung. 186 In den Sitzungen der Regierungssachverständigen zum EVÜ wurde die Thematik unter dem Begriff der „lois d’application immédiate“ diskutiert. 187 Im zweiten188 Entwurf des EVÜ findet sich dann der erste diesbezügliche Regelungsvorschlag, welcher wie folgt lautet: „Weist der Vertrag auch Verbindungen mit einem anderen als dem Staat auf, dessen Recht nach den Artikeln 2, 4, 5, 6, 16, 17, 18 und 19 Abs. 3 anwendbar ist, und enthält das Recht dieses anderen Staates Vorschriften, die den Sachverhalt zwingend in einer Weise regeln, welche die Anwendung jeden anderen Rechts ausschließt, so werden diese Vorschriften insoweit berücksichtigt, als ihre Art und ihr besonderer Zweck diese Ausschließlichkeit rechtfertigen könnten.“189
Bemerkenswert ist, dass dieser Vorschlag drittstaatliches Eingriffsrecht nicht nur gegen gewähltes, sondern auch gegenüber einem durch objektive Kollisionsnormen ermittelten Recht durchsetzen wollte. 190 Dies stellt einen auffälligen Gegensatz zu Art. 13 Abs. 2 des Benelux-Abkommens (1969) dar. Des 184 Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 213; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 116. Ein Abdruck des Art. 13 findet sich bei Kleinschmidt, a.a.O. S. 328. 185 Van Nievelt, Goudriaan en Co’s Stoomvart Maatschappij N.V. vs. N.V. Hollandsche Assurantic Societeit, Urt. d. Hoge Raad v. 13.05.1966 nach Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 359. Im Alnati-Fall transportierte ein niederländisches Schifffahrtsunternehmen Kartoffeln von Antwerpen nach Rio de Janeiro. Diese kamen dort in einem schlechten Zustand an. Das gewählte belgische Recht sah die Beweislast für eine fehlerhafte Beladung des Schiffs beim Schifffahrtsunternehmen, das niederländische Recht dagegen beim klagenden Versicherer. Näher hierzu: Winter, NJB 37 (1966), 933, 933; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 359 ff.; Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 112 ff.; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 57. 186 Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 103 Nr. 45; Schultsz, RabelsZ 47 (1983), 267, 282; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 66 f. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass die niederländischen Gerichte nach der Alnati-Entscheidung die Anwendung drittstaatlichen Eingriffsrechts eher ablehnten (Schultsz, RabelsZ 47 (1983), 267, 282). 187 Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 210 m.w.N.; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 827. Die Verwandtschaft der endgültigen Fassung zu den „lois d’application immédiate“ betont auch Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 84, Nr. 8. 188 Der erste Entwurf des EVÜ enthielt noch keine Vorschrift zur Behandlung international zwingender Normen. 189 Abgedr. bei Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 220. 190 Ausf. Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 215 ff. m.w.N., welcher auch die Entwicklung jener Fassung detailliert nachzeichnet: So sei die Durchsetzung
D. International zwingendes Recht im EVÜ
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Weiteren handelt es sich auch um eine wesentliche Abweichung vom herkömmlichen Verständnis der lois d’application immédiate, wurden diese doch in erster Linie als Phänomen des Forumsrechts behandelt. Dagegen war die Anwendung drittstaatlicher Eingriffsnormen gegenüber einem objektiv ermittelten Vertragsstatut alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Die Durchsetzung drittstaatlicher Eingriffsnormen erfolgte in den Unterzeichnerstaaten in der Regel nur mithilfe materiellrechtlicher Generalklauseln (insb. über den Sittenwidrigkeitseinwand). Dies war gerade die Folge der Annahme, dass eine echte kollisionsrechtliche Berufung ausgeschlossen sei. Besonders häufig wurde auf diesem Weg das am Erfüllungsort geltende Eingriffsrecht berücksichtigt.191
Trotz dieser erheblichen Neuerungen im Entwurf zu Art. 7 EVÜ fand keine rechtspolitische Diskussion im Sachverständigenausschuss statt. 192 Nach Kritik der mitgliedstaatlichen Delegationen wurde der Entwurf in zwei Punkten geändert. Da eine Inflation des Kreises potentiell berücksichtigungsfähiger drittstaatlicher Normen befürchtet wurde, fügte man das Erfordernis einer „engen“ Verbindung hinzu. 193 Außerdem wurde der zweite Absatz aufgrund mutmaßlicher Unsicherheiten hinsichtlich der Behandlung inländischen Eingriffsrechts ergänzt. 194 Die meisten Delegationen waren jedoch der Ansicht, dass der Richter auch ohne eine solche Klarstellung frei darin gewesen wäre, gegenüber einem objektiven Vertragsstatut auf einen Vorschlag Rigauxs zurückzuführen; dieser Vorschlag hätte jedoch nur das Recht eines einzigen dritten Staates erfasst. Vander Elst ermöglichte durch seinen hierauf aufbauenden Formulierungsvorschlag dann die Berücksichtigung mehrerer Rechtsordnungen neben dem objektiv oder subjektiv bestimmten Vertragsstatut (a.a.O. S. 217 ff.). Giuliano bekräftigte diese Tendenz mit einem eigenen Vorschlag (a.a.O. S. 218). Siehe hierzu auch Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 68; Lorenz, RIW 1987, 569, 572; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 116 f. 191 Eine ausführliche rechtsvergleichende Umschau findet sich bei Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 76 ff., 155 ff. und Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 163. 192 Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 219. Die weitreichenden Änderungen seien vielmehr ein „Nebenprodukt verschiedener Formulierungsvorschläge“ (a.a.O. S. 318). Auch der Bericht von Giuliano/Lagarde geht hierauf nicht ein. Er verweist schlicht darauf, dass die Durchsetzung nicht-statutszugehörigen ausländischen Eingriffsrechts geltende Rechtslage in den Mitgliedstaaten sei (Bericht Giuliano/Lagarde (ABl. C 282/1 vom 31.10.1980), S. 26). Unerwähnt bleibt dabei jedoch, dass die europäischen Staaten drittstaatliches Eingriffsrecht einerseits zumeist nur auf materiellem Wege und andererseits häufig nur gegen ein gewähltes Statut berücksichtigten. Dies war gerade eine Folge der Ablehnung einer kollisionsrechtlichen Berücksichtigungsfähigkeit. 193 Bericht Giuliano/Lagarde (ABl. C 282/1 vom 31.10.1980), S. 27; Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 225 m.w.N.; Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 103 Nr. 44, dort auch zur noch restriktiveren britischen Position. 194 Bericht Giuliano/Lagarde (ABl. C 282/1 vom 31.10.1980), S. 28; Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 266 ff.; Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 172 ff., jeweils m.w.N.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
seine eigenen international zwingenden Normen entsprechend ihres selbstgesteckten Anwendungsbereichs durchzusetzen. 195 Diese Ansicht überrascht nicht, war das herkömmliche Verständnis der (forumseigenen) lois d’application immédiate doch davon geprägt, dass diese „unabhängig“ vom Kollisionsrecht durchzusetzen seien. Damit schienen diese auch nicht von der durch die EVÜ bezweckte Vereinheitlichung der „regulären“ Kollisionsnormen erfasst. II. Der deutsche Vorbehalt Der kontroverse Gegenstand des Art. 7 Abs. 1 EVÜ führte dazu, dass den Vertragsstaaten gem. Art. 22 Abs. 1 lit. a EVÜ die Möglichkeit eines Vorbehalts gegeben wurde.196 Der Bundesrat stimmte dem Gesetz nur unter der Bedingung zu, dass von jener Vorbehaltsmöglichkeit Gebrauch gemacht werde. 197 Dahinter stand die Befürchtung eines hohen Maßes an Rechtsunsicherheit und einer unzumutbaren Mehrbelastung der Gerichte. 198 Außerdem hielt der Bundesrat den Art. 7 Abs. 1 EVÜ für eine unzulässige Anerkennung eines ausländischen ordre public.199 Daher wurde nur der Art. 7 Abs. 2 EVÜ in Art. 34 EGBGB a.F. umgesetzt.200 Die Einwände des Bundesrats wurden in der Literatur indessen mehrheitlich abgelehnt. 201
195 Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 271; Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 329; Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 17 ff.; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 131, jeweils m.w.N. Ähnl. auch Bericht Giuliano/Lagarde (ABl. C 282/1 vom 31.10.1980), S. 28. 196 Boer, RabelsZ 54 (1990), 24, 58. 197 Siehe hierzu etwa Kreuzer, IPRax 1984, 293. 198 BT-Drs. 10/503 v. 20.10.1983, S. 83 (Anlage 2). 199 BT-Drs. 10/503 v. 20.10.1983, S. 83 (Anlage 2). Ebenso Mann, in: FS Beitzke, 1979, S. 617. 200 Näher zur Umsetzung: Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 342 ff.; Weber, in: FS Werner, 1984, S. 955 ff.; Kratz, Ausländische Eingriffsnorm, 1986, S. 92 ff. Martiny, IPRax 1987, 277, 279 spricht insofern von einer „gewollten Regelungslücke“. 201 Beitzke, RabelsZ 48 (1984), 623, 644; Kreuzer, IPRax 1984, 293 ff. Weber, in: FS Werner, 1984, S. 956; Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 188 f., 205 f.; Martiny, IPRax 1987, 277, 278; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 141 ff. Beitzke, Kreuzer und Mentzel weisen darauf hin, dass die vom Bundesrat befürchtete „Anerkennung eines ausländischen ordre public“ bereits seit langem durch die zahlreichen Fälle der gesetzlichen und richterrechtlichen Heranziehung ausländischen öffentlichen Rechts erfolge, etwa aufgrund des Abkommens von Bretton Woods oder im Falle der besonderen Anknüpfung des Arbeits- und Verbraucherrechts (Beitzke, a.a.O.; Kreuzer, a.a.O. S. 295, Mentzel, a.a.O. S. 143, Martiny, a.a.O.). Die bisherige Rechtsprechungspraxis billigte der Bundesrat aber paradoxerweise ausdrücklich (Mentzel, a.a.O. S. 143 m.w.N.). Mit Blick auf die vom Bundesrat befürchtete Rechtsunsicherheit wiesen Mentzel und Lehmann darauf hin, dass auch die momentane Behandlung ausländischen Eingriffsrechts im materiellen Recht wenig vorhersehbar sei (Mentzel, a.a.O. S. 141, Lehmann, a.a.O. S. 205).
D. International zwingendes Recht im EVÜ
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III. Rezeption Das EVÜ als solches wurde verbreitet positiv aufgenommen. 202 Im Kontrast hierzu stehen die Reaktionen zu Art. 7 EVÜ. Diese reichten von starker Ablehnung über Indifferenz zu vorsichtiger Zustimmung: Schurig sah in Art. 7 EVÜ ein „Monument gesetzgeberischer Hilflosigkeit“. 203 Junker hielt sie für eine „Wundertüte, aus der man alles Mögliche herausholen kann“. 204 De Boer erkannte in ihr einen abzulehnenden „hard-core Romanist approach, claiming unconditional priority for any forum rule in the ambit of public policy”. 205 Einige Stimmen wollten dem Art. 7 EVÜ auch nur deklaratorischen Gehalt zubilligen: Es handele sich schlicht um einen „Merkposten“, der an die Durchsetzbarkeit heimischer und fremder Eingriffsnormen erinnere. 206 Andere sahen in ihr eine „Generalklausel des positiven ordre public“. 207 Manche verwiesen auch darauf, dass Art. 7 EVÜ der Zweispurigkeit des Kollisionsrechts Rechnung trage, da hierdurch klargestellt werde, dass das Verweisungssystem des EVÜ für Eingriffsrecht nicht gelte. 208 Lobende Stimmen finden sich dagegen nur selten.209
202 v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 84 sprechen gar vom „Meisterstück des europäischen IPR“. 203 Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 75. 204 Junker, IPRax 2000, 65, 66. Ähnl. auch Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 17; Beitzke, RabelsZ 48 (1984), 623, 643; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 135. 205 Boer, RabelsZ 54 (1990), 24, 58. 206 Ähnl. Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 76; Mühl, in: FS Mühl, 1981, S. 459; Siehr, in: FS Drobnig, 1998, S. 448; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 825; Heiss, in: Czernich, EVÜKomm, 1999 Art. 7 EVÜ, Rn. 4; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 136. Ebenfalls indifferent Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 30, wonach die Vorschrift die Rechtslage weder verbessere noch verschlechtere, da die materiellrechtliche Berücksichtigung drittstaatlichen Eingriffsrechts ohnehin konzeptlos sei. Ähnl. auch Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 84, wonach es sich um eine „non-rule“ handele. Dies bekräftigend Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 29. 207 Hartley, Rec. d. Cours (Haye) 1997, 341, 353, 369; Sonnenberger, in: FS Fikentscher, 1998, S. 288 ff. Art. 7 EVÜ sei damit auch eine Befugnis der Vertragsstaaten, ohne Einhaltung des Revisionsverfahrens nach Art. 23, 26 EVÜ Sachnormen von übergeordnetem Interesse zu berufen (Sonnenberger, S. 292). Gegen die Einordnung als Ausprägung des positiven ordre public: Mühl, in: FS Mühl, 1981, S. 464. 208 Junker, IPRax 2000, 65, 66, 69; Felke, RIW 2001, 30, 31. Ähnl. Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 4, 11. 209 Erwähnenswert ist etwa der Beifall Wenglers, der in Art. 7 Abs. 1 EVÜ eine Kodifizierung seiner Sonderanknüpfungslehre erkannte (Wengler, JZ 1979, 175, 176). Die Verbindung zur Sonderanknüpfungslehre ebenfalls hervorhebend: Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 104; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 58.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
Einer der zentralen Gründe, weshalb der Art. 7 EVÜ verbreitet als wenig hilfreich erachtet wurde, war sicherlich auch das Fehlen einer Definition. 210 Hinzu kam, dass das EVÜ den Begriff des „zwingenden Rechts“ sowohl für innerrechtlich nichtdispositives als auch für international durchsetzungsfähiges Eingriffsrecht verwandte. 211 Es entzündete sich daher bald die Diskussion, welche Normen überhaupt als Eingriffsrecht eingeordnet werden könnten. Da die mitgliedstaatlichen Delegationen bei der Erörterung des Art. 7 EVÜ vor allem Normen zur Wahrung wirtschaftspolitischer Interessen vor Augen hatten, 212 wollten einige Stimmen auch nur derartige Normen erfasst wissen 213. Dies spiegelte sich freilich nicht im weitgefassten Wortlaut des Art. 7 EVÜ wider, weshalb manche Autoren auch Normen im Bereich der Individualgerechtigkeit und des Schwächerenschutzes als Eingriffsrecht einordnen wollten. 214 IV. Rechtsvergleichende Nachlese Nach dem Inkrafttreten des EVÜ untersuchten einige Autoren die Handhabung des Abkommens in den Vertragsstaaten. So wies Thoma nach, dass mit der Normierung des Eingriffsrechts in Art. 7 EVÜ in allen Vertragsstaaten eine unterschiedlich stark betonte Differenzierung zwischen positivem und negativem ordre public etabliert wurde. 215 Von besonderem Interesse ist des Weiteren, welche Normgruppen die Vertragsstaaten unter Art. 7 EVÜ einordneten. Hier zeigte Müller, dass Frankreich und Belgien nicht nur Normen im Staatsinteresse, sondern auch Vorschriften
210 Auch im Bericht von Giuliano/Lagarde findet sich kein Versuch einer näheren Beschreibung. 211 Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 82, wonach etwa Art. 3 Abs. 3 EVÜ sowie Art. 5, 6 EVÜ nur intern zwingendes Recht erfassen würden, wohingegen Art. 7 EVÜ international zwingendes Recht erfasse. Siehe auch: Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 346. 212 Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 278 m.w.N. 213 Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 345; Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 329; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 309. 214 Mann, in: FS Beitzke, 1979, S. 620; Philip, in: FS Lipstein, 1980, S. 242, 248 f.; Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 83, 105; Mühl, in: FS Mühl, 1981, S. 455 f.; Hahn, Die „europäischen“ Kollisionsnormen für Versicherungsverträge, 1992, S. 97; v.Wilmowsky, ZEuP 1995, 735, 754; Junker, IPRax 2000, 65, 67; ähnl. Roth, in: FS Immenga, 2004, S. 334. Auch die Bundesregierung wollte „sozialpolitische Vorschriften zum Schutze Einzelner“ erfassen, sofern nicht die Art. 5, 6 EVÜ vorrangig seien (BTDrs. 10/503 v. 20.10.1983, S. 28). Dagegen Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 329, wonach der Schwächerenschutz in Art. 5, 6 EVÜ ausgelagert sei und daher nicht von Art. 7 EVÜ erfasst sein könne. 215 Thoma, Europäisierung, 2007, S. 18.
E. Eingriffsnorm und ordre public im unionalen Kollisionsrecht
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mit interindividueller Zweckrichtung als lois d’application immédiate durchsetzten.216 In Italien sei der Fokus auf überindividuelle Normen zwar ausgeprägter, jedoch ebenfalls nicht hierauf beschränkt. 217 Auch im englischen Recht lasse sich eine Einordnung individualschützender Normen als mandatory rules im Sinne des Art. 7 EVÜ beobachten. 218 Zudem würden in allen Staaten geschriebene Eingriffsnormen existieren, die ebenfalls nicht immer im Bereich der überindividuellen Interessen anzusiedeln seien. 219
E. Eingriffsnorm und ordre public im unionalen Kollisionsrecht E. Eingriffsnorm und ordre public im unionalen Kollisionsrecht
Die letzte Stufe der Europäisierung des IPR wurde mit den Rom-VO erreicht. Diese ersetzten nationale Kollisionsnormen in zentralen Bereichen mit genuin unionsrechtlichem IPR. 220 Die auch heute noch fortdauernde, rege Gesetzgebungstätigkeit der Union auf dem Gebiet des Kollisionsrechts zeigt, dass hiermit der langsame Tod des rein nationalen IPR der europäischen Mitgliedstaaten begonnen hat. Hiervon zeugen auch die zerfledderten Art. 3 EGBGB ff. Der Europäisierungsprozess begann mit der Vereinheitlichung des Kollisionsrechts der vertraglichen und außervertraglichen Schuldverhältnisse in den Verordnungen Rom I und Rom-II221. Die Notwendigkeit der Vergemeinschaftung begründete die Kommission vor allem mit dem Auslegungszusammenhang zur Brüssel I-VO222 und den Vorteilen einer einheitlichen Auslegung durch den EuGH.223 Mittlerweile ist der Strauß unionsrechtlicher IPR-Kodifikationen beträchtlich angewachsen und erfasst nun auch weite Teile des Familien- und Erbrechts.
216
Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 34 ff. Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 32. 218 Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 39 ff. 219 Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 51. Siehe zu den ausdrücklichen Eingriffsnormen ausf. im 4. Kapitel unter A.II. 220 Roth, EWS 2011, 314, 314 spricht gar von einer „neuen Ära“. Remien meint, dass hiermit der alte Traum von der Kollisionsrechtsvereinheitlichung für die EU endgültig wahrgeworden sei (Remien, in: Kieninger (Hrsg.), Europ. Kollisionsrechtsvereinheitlichung, 2012, S. 185). 221 Verordnung (EG) Nr. 864/2007, ABl. (EG) L 199/40 vom 31.07.2007 (i.F.: Rom IIVO). 222 Verordnung (EG) Nr. 44/2001, ABl. (EG) L 12/1 vom 16.01.2001 (i.F.: „Brüssel IVO“). 223 Grünbuch Rom I-VO, KOM(2002), 654 endg., S. 18. 217
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
I. Art. 9 Rom I-VO Den überdeutlichen Schwerpunkt der Eingriffsnormdiskussion bildet bis heute die Auseinandersetzung mit Art. 9 Rom I-VO. Dies überrascht nicht, schließlich war das Internationale Schuldvertragsrecht schon immer der Schauplatz der Eingriffsnormproblematik; im außervertraglichen Schuldrecht spielt das Eingriffsrecht nach wie vor eine deutlich geringere Rolle. Zudem finden sich nur in Art. 9 Rom I-VO bemerkenswerte Neuerungen, während Art. 16 Rom IIVO nur heimisches Eingriffsrecht adressiert und weitgehend dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 2 EVÜ entspricht. Wie bereits einleitend erörtert wurde, versucht sich Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO nämlich erstmals an einer Definition der Eingriffsnorm. Ebenfalls ein Novum ist die Behandlung ausländischen Eingriffsrechts nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO. 1. Entwurfsgeschichte Es war ein erklärtes Ziel der Kommission, den Begriff des „zwingenden Rechts“ zu präzisieren. Daher setzte sich die Kommission im Grünbuch zur Rom I-VO ausführlich mit der Abgrenzung von intern und international zwingenden Bestimmungen auseinander.224 Im Zuge dessen schlug sie die Kodifikation einer Definition vor, die der EuGH im Fall „Arblade“ formuliert hatte. 225 Nach dieser ist eine Eingriffsnorm eine Bestimmung, „deren Einhaltung als so entscheidend für die Wahrung der politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation des betreffenden Mitgliedstaats angesehen wird, dass ihre Beachtung für alle Personen, die sich im nationalen Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befinden, und für jedes dort lokalisierte Rechtsverhältnis vorgeschrieben ist“. 226 Verbreitet wurde angenommen, dass der EuGH sich wiederum bei der Beschreibung der lois d’application immédiate durch Francescakis inspirieren
224
Grünbuch Rom I-VO, KOM(2002), 654 endg., S. 39 ff. Grünbuch Rom I-VO, KOM(2002), 654 endg., S. 41; KOM(2005), 650 endg. (Vorschlag Rom I), S. 8. Im Fall Unamar las der EuGH die Arblade-Definition auch in Art. 7 EVÜ hinein (EuGH, Urt. v. 17.10.2013 – C-184/12, ECLI:EU:C:2013:663 (Unamar), Rn. 47). 226 EuGH, Urt. v. 23.11.1999 – C-369/96 & C-376/96, Slg. 1999, I-8498, 8512 (Arblade), Rn. 30. 225
E. Eingriffsnorm und ordre public im unionalen Kollisionsrecht
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ließ.227 Diese dogmatische DNA ist somit auch im Rahmen der Rom-Verordnungen weiterhin bestimmend.228 Nach Ansicht der Kommission seien im Rahmen dieses Begriffsverständnisses rein privatschützende Bestimmungen nicht als Eingriffsnorm einzuordnen. 229 Die Kommission äußerte sich auch zum Anwendungsmodus des Eingriffsrechts. Dieser zeichne sich dadurch aus, dass Eingriffsnormen „von Amts wegen“ anzuwenden seien, „ohne zuvor anhand der nationalen Kollisionsnormen das anwendbare Recht zu bestimmen und zu prüfen, ob dessen Inhalt mit der im Gerichtsstaat geltenden Werteordnung unvereinbar ist“. 230 Schließlich wollte die Kommission auch den gesetzgeberischen Entscheidungen dritter Staaten Rechnung tragen und sprach sich daher für eine weitgehende Anwendbarkeit drittstaatlichen Eingriffsrechts aus. 231 Die entsprechende Entwurfsvorschrift des Art. 8 Abs. 3 Rom I-VOE erlaubte daher eine Heranziehung jeder ausländischen Eingriffsnorm beim Bestehen einer „engen Verbindung“. 232 Insofern entsprach die Behandlung ausländischen Eingriffsrecht weitgehend dem Art. 7 Abs. 1 EVÜ.233 Die extensive Fassung des Art. 8 Abs. 3 Rom I-VOE traf auf besonders heftigen Widerstand von britischer Seite. Man befürchtete, dass eine weitgehende Berücksichtigung drittstaatlichen Eingriffsrechts zu Rechtsunsicherheit und Nachteilen für den Finanzplatz London führen könnte. 234 Um Großbritannien zum opt-in zu bewegen, wurde die endgültige Fassung des Art. 9 Abs. 3 Rom IVO auf die Anwendung von Eingriffsnormen des Erfüllungsorts beschränkt. 235
227 Kunda, GPR 2007, 210, 216 f.; MPI, RabelsZ 71 (2007), 225, 314; Sonnenberger, in: FS Kropholler, 2008, S. 242; Leible/Lehmann, RIW 2008, 528, 542; Mankowski, IHR 2008, 133, 146 f.; Mauer/Stadtler, RIW 2008, 544, 547; Pfeiffer, EuZW 2008, 622, 628; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 5; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 6; Remien, in: PWW, 10. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 2; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 16. Mankowski, IHR 2008, 133, 146 nennt als weitere Inspirationsquelle den Mazzoleni-Fall (EuGH, Urt. v. 15.03.2001 – C-165/98, Slg. 2001, I2213). 228 Dass keine dogmatische Neuausrichtung des Instituts gewollt war, zeigt auch die Beibehaltung des Begriffs „norme di applicazione necessaria“ in der italienischen Fassung. 229 Grünbuch Rom I-VO, KOM(2002), 654 endg., S. 41. 230 Grünbuch Rom I-VO, KOM(2002), 654 endg., S. 40, ähnl. S. 53. 231 Grünbuch Rom I-VO, KOM(2002), 654 endg., S. 45. 232 KOM(2005), 650 endg. (Vorschlag Rom I), S. 19. Siehe hierzu auch Martiny, ZEuP 2008, 79, 107. 233 Mankowski, IPRax 2006, 101, 109; Kunda, GPR 2007, 210, 217. 234 Ministry of Justice, CP 05/08, S. 32, No. 77. Dagegen merkt Harris, in: Ferrari (Hrsg.), Rome I regulation, 2009, S. 298 ff. an, dass die zuvor herrschende Durchsetzung drittstaatlichen Eingriffsrechts mithilfe der public policy ebenso unvorhersehbar war. 235 Lando/Arnt Nielsen, C.M.L.Rev. 45 (2008), 1687, 1721; Leible/Lehmann, RIW 2008, 528, 542; Mankowski, IHR 2008, 133, 148; Martiny, ZEuP 2008, 79, 107; Roth, in: FS
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
Da hiermit nur der ohnehin anerkannte Grundsatz der englischen Ralli-Entscheidung236 wiedergegeben wurde, trat Großbritannien der Rom I-VO bei.237 2. Der Definitionsversuch des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO Ein Schwerpunkt der Rezeption in der europäischen Literatur ist die Frage, welche Normen unter Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO als Eingriffsrecht einzuordnen sind. Konnte man bezüglich Art. 7 EVÜ noch vertreten, dass sich Eingriffsrecht ausschließlich durch seinen „international zwingenden“ Durchsetzungswillen auszeichne, rückt der Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO endgültig die materielle Eingriffsnormdefinition in den Vordergrund. 238 Nach seinem Wortlaut erscheint die internationale Durchsetzungswilligkeit weniger als eigenständiges Kriterium denn als Folge der besonders fundamentalen Bedeutung einer Norm: Die Einhaltung der Eingriffsnorm müsse dem Staat „so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses“ erscheinen, dass er sie infolgedessen „ungeachtet des […] anzuwendenden Rechts“ heranziehen möchte.
Die Aufnahme des materiellen Kriteriums in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO wurde weitgehend begrüßt.239 Die alte Frage, inwiefern Normen mit gemischt indivi-
Kühne, 2009, S. 877; Harris, in: Ferrari (Hrsg.), Rome I regulation, 2009, S. 272 ff.; Roth, EWS 2011, 314, 323; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 62 ff.; Wagner, in: Kieninger (Hrsg.), Europ. Kollisionsrechtsvereinheitlichung, 2012, S. 71 f.; Freitag, in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rn. 5.11 236 Ralli Bros. v. Compania Naviera Sota y. Aznar, [1920] 2 K.B. 287 C.A. Näher zur Ralli-Entscheidung: Kegel/Rupp/Zweigert, Einwirkung des Krieges auf Verträge, 1941, S. 10; Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 299; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 358; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 45; Lorenz, in: FS Jayme, 2004, S. 555; Lando/Arnt Nielsen, C.M.L.Rev. 45 (2008), 1687, 1722. Die Ralli-Regel lässt sich wiederum auf Dicey zurückführen (Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 66 m.w.N.). 237 Ministry of Justice, CP 05/08, S. 32, No. 79 f.; Harris, in: Ferrari (Hrsg.), Rome I regulation, 2009, S. 270, 305 ff.; Freitag, IPRax 2009, 109, 110; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 229 ff.; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 66 f. Die britische Seite sprach zwar von einem „Kompromiss”, tatsächlich wurde aber schlicht die englische Rechtslage übernommen (so auch Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 79; Thorn, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl. 2016, Art. 9 Rom IVO, Rn. 2, 5). Die Ralli-Regel wurde insbesondere in den Fällen „Regazzoni v. Sethia“ und „Foster v. Driscoll“ geschärft (siehe hierzu Wengler, IntRDipl 1956, 191, 197; Großfeld, Praxis des internationalen Privat- und Wirtschaftsrechts, 1975, S. 98; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 23; Harris, in: Ferrari (Hrsg.), Rome I regulation, 2009, S. 298). 238 Damit erscheint es wohl zu weit gegriffen, dem europäischen Gesetzgeber eine Orientierung an der Sonderanknüpfungslehre zu unterstellen (so aber Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 130). Siehe zum Ansatz einer „formellen“ Beschreibung des Eingriffsrechts ausf. im 4. Kapitel unter C.V. 239 Bitterich, GPR 2006, 161, 167; Mankowski, IPRax 2006, 101, 109; MPI, RabelsZ 71 (2007), 225, 314; Mankowski, IHR 2008, 133, 147; Mauer/Stadtler, RIW 2008, 544, 547;
E. Eingriffsnorm und ordre public im unionalen Kollisionsrecht
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duell-überindividueller Zielsetzung Eingriffsrecht darstellen können, bleibt allerdings weiterhin ungeklärt. 240 Der starke Fokus der Legaldefinition auf die öffentliche Zweckrichtung wird jedoch verbreitet so verstanden, dass die Einordnung vorrangig individualschützender Normen zurückgedrängt werden soll.241 3. Die Behandlung schuldstatutszugehörigen Eingriffsrechts Ebenso wenig wie der Art. 7 EVÜ äußert sich auch Art. 9 Rom I-VO nicht zu der Frage, wie schuldstatutszugehöriges 242 Eingriffsrecht zu behandeln ist. 243 Dies ist wohl damit zu erklären, dass es der nicht-deutschsprachigen Literatur in der Regel eine kaum erwähnenswerte Selbstverständlichkeit ist, auch die Eingriffsnormen des Schuldstatuts zur Anwendung zu bringen. 244 Dies wird bestätigt durch den Schlussantrag des Generalanwalts Szpunar in der EuGHEntscheidung Nikiforidis, der die schuldstatutszugehörigen Eingriffsnormen als integralen und daher notwendigerweise mitzuberufenden Bestandteil des verwiesenen Rechtssystems versteht. 245 Wie bereits unter Art. 7 EVÜ möchten
Pfeiffer, EuZW 2008, 622, 628; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 29 f.; Freitag, in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rn. 5.17. 240 So auch Freitag, IPRax 2009, 109, 112. Die Kommission wollte Verbraucherschutzvorschriften als „,ordre-public‘-Vorschriften“ einordnen (Grünbuch Rom I-VO, KOM(2002), 654 endg., S. 34 ff.; dagegen Einsele, WM-WuB 2009, 289, 295). 241 Thorn, in: Ferrari (Hrsg.), Ein neues Internat. Vertragsrecht für Europa, 2007, S. 134; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 867 f.; Leible, Rom I und Rom II, 2009, S. 61; Martiny, ZEuP 2010, 747, 776; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 41; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 192, Rn. 25. 242 Da es sich bei der Eingriffsnorm um ein allgemeingültiges Konzept handeln soll, beschränkt sich dieser Problemkreis nicht nur auf Normen des Schuldstatuts; richtigerweise müsste man von der Frage der wirkungsstatutsabhängigen Berufung von Eingriffsnormen sprechen. Da die Diskussion bisher fast ausschließlich mit Blick auf das Internationale Schuldvertragsrecht geführt wurde und sich stark eingebürgert hat, soll die Terminologie jedoch beibehalten werden. 243 Bzgl. des Art. 7 EVÜ kritisierten dies bereits Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 106 Nr. 47; Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 281 ff. Das Fehlen einer entspr. Klarstellung im Rahmen des Art. 9 Rom I-VO bedauern: Mankowski, IPRax 2006, 101, 110; MPI, RabelsZ 71 (2007), 225, 313 f.; Leible/Lehmann, RIW 2008, 528, 543; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 870. 244 Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 72 f.; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 164; Lando/Arnt Nielsen, C.M.L.Rev. 45 (2008), 1687, 1719; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 872 f. m.w.N., welcher angesichts dessen, dass die Frage der Behandlung schuldstatutszugehöriger Eingriffsnormen für viele deutschsprachige Autoren „das Königsproblem des internationalen Handels- und Wirtschaftsverkehrs“ darstelle, das geringe Problembewusstsein bei den Verhandlungen über die Rom I-VO beklagt. 245 Schlussantrag GA Szpunar v. 20.04.2016, C‑135/15, ECLI:EU:C:2016:281, Rn. 75.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
daher die meisten Stimmen davon ausgehen, dass auch schuldstatutszugehöriges Eingriffsrecht heranzuziehen sei, während eigenes und drittstaatliches Eingriffsrecht einer Sonderanknüpfung unterliegen soll („Kumulationstheorie“).246 4. Die Behandlung drittstaatlichen Eingriffsrechts a) Eine rechtspolitische Grundsatzentscheidung? Hinter der Behandlung drittstaatlichen Eingriffsrechts nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO wird häufig eine rechtspolitische Grundsatzentscheidung vermutet: So soll die Beschränkung auf die Eingriffsnormen des Erfüllungsorts das neoliberale Ziel verfolgen, die Parteiautonomie möglichst frei von staatlichen Eingriffen zu halten.247 Im Rahmen dieser Grundhaltung sei nur die faktische Durchsetzungsmacht des Erfüllungsstaats stark genug, um nicht vollständig vom Forum ignoriert zu werden. 248 Damit soll es sich zugleich um eine Reinkarnation der kegelschen Machttheorie handeln. 249 Betrachtet man dagegen die Gesetzgebungsgeschichte des Art. 9 Rom I-VO, so erscheint es zweifelhaft, ob der europäische Gesetzgeber tatsächlich eine 246
Zu Art. 7 EVÜ: Bericht Giuliano/Lagarde (ABl. C 282/1 vom 31.10.1980), S. 26; Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 106 Nr. 48; Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 337, 349 ff.; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 65 ff.; Martiny, IPRax 1987, 277, 278; Schubert, RIW 1987, 729, 736; Kösters, Die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen, 1991, S. 121; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 99 f.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 121; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 117; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 870 f. – Zu Art. 9 Rom I-VO: Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 872 f.; Roth, in: FS Spellenberg, 2010, S. 324 ff.; Magnus, IPRax 2010, 27, 41; Roth, EWS 2011, 314, 314; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 44; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 197; Staudinger, in: Schulze-BGB, 8. Aufl. 2014, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 13; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 4. – Dagegen möchten einige Autoren schuldstatutszugehöriges und drittstaatliches Eingriffsrecht identisch behandeln: Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 281 ff.; Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 392; Thorn, in: Palandt, 76. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 15. 247 Mankowski, IHR 2008, 133, 148; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 209. Hierfür spricht auch, dass das britische Ministry of Justice im Hinblick auf den weitergehenden Vorentwurf des Art. 8 Abs. 3 Rom IVOE selbst zum Verzicht auf das Opt-in riet, um die Parteiautonomie zu schützen (Ministry of Justice, CP 05/08, S. 32, No. 77). 248 Mankowski, IHR 2008, 133, 148. 249 Freitag, IPRax 2009, 109, 116; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 209 f.; Mankowski, IPRax 2016, 485, 491; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 95; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 101. Siehe zur Kegelschen Machttheorie außerdem im 3. Kapitel unter B.II.
E. Eingriffsnorm und ordre public im unionalen Kollisionsrecht
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rechtspolitische Grundsatzentscheidung treffen wollte. 250 Denn wie besehen ging es bei der endgültigen Fassung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO zuvorderst darum, Großbritannien das opt-in schmackhaft zu machen. Das Fehlen einer rechtspolitischen Diskussion ist damit gerade die Schwäche des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO. b) Tatbestandliche Beschränkungen Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO beschränkt die in Betracht kommenden, drittstaatlichen Eingriffsnormen vor allem durch zwei Aspekte: Es muss sich um Normen des Erfüllungsorts handeln, welche die Erfüllung des Vertrags „unrechtmäßig“ werden lassen. Hierbei bestehen einige Unklarheiten. So ist bereits nicht ersichtlich, wie der Begriff des „Erfüllungsorts“ auszulegen ist; 251 insbesondere die Einordnung des Staats, von dem aus die Leistung erbracht wird, bleibt im Dunkeln. 252 Auch die Beschränkung auf Normen, die den Vertrag „unrechtmäßig“ werden lassen, ist im Hinblick auf nur vertragsmodifizierende Bestimmungen problematisch: So bleibt es etwa unklar, ob sich drittstaatliche Entgeltgrenzen sowie Befristungen und Ausschlüsse von Gestaltungsrechten mithilfe des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO durchsetzen lassen.253 Die tatbestandlichen Scheuklappen des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO lassen sich nicht nur mit der allgemeinen Restriktionstendenz der britischen Seite erklären, sondern auch dadurch, dass die englische Seite bei der Erörterung ausländischen Eingriffsrechts vor allem Handelsvertreterverträge und den Ralli-Fall vor Augen hatte 254. Eine Erörterung weiterer Fälle fand schlicht nicht statt. c) Sperrwirkung? Die tatbestandliche Beschränktheit des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO führt freilich zu der Frage, ob die Norm die Berücksichtigung drittstaatlichen Eingriffsrechts abschließend regeln möchte. Während etwa der Fall einer Leistungshandlung, die durch ein Ausfuhrverbot betroffen wird, noch durch eine weite Auslegung des Erfüllungsortbegriffs lösbar erscheint, gibt es zahlreiche Fälle, in denen die 250
So auch Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 878; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 210. 251 Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 875; Kindler, Einführung in das neue IPR, 2009, S. 69; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 80 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 212 ff.; Freitag, in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rn. 5.119 ff. Häufig wird auch ein Auslegungszusammenhang zu Art. 7 Brüssel Ia-VO (ex-Art. 5 Brüssel IVO) diskutiert. 252 Einsele, WM-WuB 2009, 289, 296. 253 Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 876; Freitag, IPRax 2009, 109, 112 f.; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 71 ff.; Ringe, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 33. 254 Ministry of Justice, CP 05/08, S. 31, No. 74.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
Berücksichtigung drittstaatlichen Rechts zwar sinnvoll wäre, aber mit dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO unvereinbar ist.255 Daher möchten einige Stimmen den Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO nur als Mindestkonsens verstehen, der auch eine darüberhinausgehende Berücksichtigung drittstaatlichen Eingriffsrechts ermöglicht. 256 Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO soll demnach nur den Charakter eines Regelbeispiels haben. 257 Ganz überwiegend wird jedoch angenommen, dass die Norm jede darüberhinausgehende Anwendung drittstaatlichen Eingriffsrechts ausschließe. 258 So wird zwar durchaus zugegeben, dass der Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO zu eng sei; jedoch könne nur bei der Annahme einer Sperrwirkung die gewollte Einschränkung der Anwendbarkeit drittstaatlichen Eingriffsrechts erreicht werden. 259 Zudem intendiere die Rom I-VO keine Mindestharmonisierung, weshalb eine über Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO hinausgehende Berücksichtigung das Vereinheitlichungsziel gefährde.260 Der Ausweg aus diesem Dilemma entspricht einem typischen Muster im Kollisionsrecht: Soweit eine kollisionsrechtliche Fremdrechtsberufung abgelehnt wird, wird eine materiellrechtliche „Berücksichtigung“ im Rahmen der lex causae vorgeschlagen. 261 So auch bei drittstaatlichem Eingriffsrecht, welches nicht von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO erfasst scheint: Dieses soll stattdessen als materiellrechtliches Datum berücksichtigungsfähig sein. 262 Dem folgte der 255 Sonnenberger, in: FS Kropholler, 2008, S. 243; Leible/Lehmann, RIW 2008, 528, 543. Ein solcher Fall ist etwa eine Fusionskontrollvorschrift eines von einer Transaktion betroffenen Staates, auf dessen Territorium keine Erfüllungshandlung im weiteren Sinn vorgenommen wird (Leible/Lehmann, RIW 2008, 528, 543). 256 Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 220; Köhler, GPR 2013, 176, 177; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 276; Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 20. Köhler verweist darauf, dass selbst das englische Recht über die „Ralli“-Regel hinaus drittstaatliches Eingriffsrecht anwendet. 257 Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 221. 258 Martiny, ZEuP 2010, 747, 779 f.; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 175; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 131; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 42; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 329; Staudinger, in: Schulze-BGB, 8. Aufl. 2014, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 12; Martiny, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 113; Mankowski, IPRax 2016, 485, 486 f.; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 123, (mit Ausn. zugunsten Art. 6 Abs. 3 lit. a Rom II-VO); Thorn, in: Palandt, 76. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 14; Spickhoff, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom IVO, Rn. 30. 259 Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 329; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 111 ff. 260 Freitag, IPRax 2009, 109, 115. 261 Siehe zur Berechtigung dieser Methode im 3. Kapitel unter C. 262 Einsele, WM-WuB 2009, 289, 296; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 175; Martiny, IPRax 2012, 559, 567; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 62, 65; Spickhoff, in: BeckOK-BGB,
E. Eingriffsnorm und ordre public im unionalen Kollisionsrecht
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EuGH jüngst in der Entscheidung Nikiforidis. Demnach schließe Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO zwar jede darüberhinausgehende Anwendung drittstaatlichen Eingriffsrechts aus; eine materiellrechtliche Berücksichtigung durch die nationalen Gerichte sei jedoch weiterhin möglich. 263 d) Forum shopping Schließlich wird häufig auch die Befürchtung vorgetragen, dass infolge der starken tatbestandlichen Einschränkungen des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO das forum shopping zunehmen werde. Denn in Verbindung mit der Möglichkeit einer Gerichtsstandsvereinbarung (Art. 25 Brüssel Ia-VO264) und der erleichterten Urteilsanerkennung im Binnenmarkt gem. Art. 36, 45 Brüssel Ia-VO entstehe die Gefahr, dass die Eingriffsnormen dritter Mitgliedstaaten mit berechtigten Regelungsinteressen unterlaufen werden. 265
43. Ed. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 30. Diese Linie fand auch in der unterinstanzlichen Rechtsprechung Widerhall. So weist Mankowski, RIW 2015, 405 f. auf ein Urteil des LG Hamburg hin, in welchem ein nicht von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO erfasstes US-Embargo mithilfe des § 313 BGB durchgesetzt wurde. Eine hiervon zu trennende Frage ist der Streit, ob Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO selbst eine materiellrechtliche „Berücksichtigung“ oder eine kollisionsrechtliche Fremdrechtsberufung anordnet. Für Letzteres spricht sich eine deutliche Mehrheit der Literatur aus: Pfeiffer, EuZW 2008, 622, 628; Freitag, IPRax 2009, 109, 114; Kindler, Einführung in das neue IPR, 2009, S. 69; Freitag, in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rn. 5.129 Auch der EuGH geht im Umkehrschluss von einer kollisionsrechtlichen Berufung drittstaatlichen Eingriffsrechts aus, wenn er in der Rs. Nikiforidis die Möglichkeit der materiellrechtlichen Berücksichtigung des nicht von Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO erfassten Eingriffsrechts hervorhebt (siehe hierzu Fn. 263). 263 EuGH, Urt. v. 18.10.2016 – C-135/15, ECLI:EU:C:2016:774 (Nikiforidis), Rn. 40 ff. Der EuGH argumentierte vor allem mit der Geschichte des Abs. 3 (Rn. 45) und der durch Eingriffsnormen drohenden Rechtsunsicherheit (Rn. 46 ff.). Der EuGH entschied hierbei entgegen des Vorschlags des GA Szpunar (Schlussantrag GA Szpunar v. 20.04.2016, C‑135/15, ECLI:EU:C:2016:281, Rn. 87 ff.). Eine solche Entscheidung prophezeite einige Jahre zuvor Freitag, IPRax 2009, 109, 116. Siehe hierzu außerdem: Siehr, RdA 2014, 206 ff. Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 123. Die Möglichkeit der materiellrechtlichen Berücksichtigung sei laut GA Szpunar auch deshalb offenzulassen, weil die unionale IPR-Kompetenz ohnehin nicht ins materielle Recht hineinreiche (Schlussantrag GA Szpunar v. 20.04.2016, C‑135/15, ECLI:EU:C:2016:281, Rn. 101 ff. So auch Mankowski, IPRax 2016, 485, 491). 264 Verordnung (EU) Nr. 1215/2012, ABl. (EU) L 351/1 vom 20.12.2012 (i.F.: „Brüssel Ia-VO“). 265 Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 878 f.; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 52. Dagegen Harris, in: Ferrari (Hrsg.), Rome I regulation, 2009, S. 280.
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
II. Art. 16 Rom II-VO Aufgrund der deutlich geringeren Bedeutung des Eingriffsrechts im außervertraglichen Schuldrecht beschränkt sich die Diskussion zumeist auf die Frage, inwiefern Probleme des Art. 9 Rom I-VO auch bei Art. 16 Rom II-VO auftreten. Auch hier liegt der Fokus auf der Berücksichtigungsfähigkeit ausländischen Eingriffsrechts. So war der erste Entwurf des Art. 16 Rom II-VO noch dem Art. 7 EVÜ nachgebildet; er sah also eine Anwendung drittstaatlichen Eingriffsrechts ohne mitgliedstaatliche Vorbehaltsmöglichkeit vor. 266 Nachdem der entsprechende Passus ohne ein erkennbares Motiv entfernt wurde, 267 stellt sich auch heute noch die Frage, ob drittstaatliches Eingriffsrecht unter der Rom II-VO dennoch herangezogen werden kann. Große Uneinigkeit besteht insbesondere bei der Frage, ob die bei Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO angenommene Sperrwirkung auch auf die Rom II-VO zu erstrecken sei.268 III. Eingriffsrecht im sonstigen europäischen Kollisionsrecht Auch die europäischen IPR-Verordnungen jüngeren Datums normieren teilweise die Durchsetzung von Eingriffsnormen. So finden sich zwar in der Rom III-VO269 sowie dem HUntProt, auf welches Art. 15 EuUnthVO 270 verweist, keine Eingriffsnormklauseln. Jedoch enthalten die Art. 30 EuGüVO271/EPartVO272 Bestimmungen, welche die Berücksichtigungsfähigkeit von Eingriffsnormen nach dem Vorbild der ersten zwei Absätze des Art. 9 266
Hamburg Group for Private International Law, RabelsZ 67 (2003), 1, 42; v.Hein, ZVglRWiss 102 (2003), 528, 550; Fuchs, GPR 2004, 100, 104; Leible/Engel, EuZW 2004, 7, 16; Engel, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 16 Rom II-VO, Rn. 10 f. 267 Siehe zur fehlenden rechtspolitischen Diskussion Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 61. 268 Eine Sperrwirkung annehmend: Maultzsch, RabelsZ 75 (2011), 60, 99 (mit Ausnahmen); Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom IVO, Rn. 42; Staudinger, in: Schulze-BGB, 8. Aufl. 2014, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 12. Dagegen: Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 198 ff. Wohl eine materielle Berücksichtigung empfehlend: v.Hein, RabelsZ 73 (2009), 461, 506; Junker, RIW 2010, 257, 268. Für eine ausschließliche Anwendung des schuldstatutszugehörigen Eingriffsrechts spricht sich aus: Remien, in: FS von Hoffmann, 2011, S. 342; Remien, in: PWW, 10. Aufl. 2015, Art. 16 Rom II-VO, Rn. 4. 269 Verordnung (EU) Nr. 1259/2010, ABl. (EU) L 343/10 vom 29.12.2010 (i.F.: „Rom IIIVO“). Auf die Einordnung des Art. 10 Rom III-VO wird im 6. Kapitel unter D.IV.5. eingegangen. 270 Verordnung (EG) Nr. 4/2009, ABl. (EU) L 7/1 vom 10.01.2009 (i.F.: „EuUnthVO“). 271 Verordnung (EU) 2016/1103, ABl. (EU) L 183/1 vom 08.07.2016 (gültig ab 29.01.2019, i.F.: „EuGüVO“). 272 Verordnung (EU) 2016/1104, ABl. (EU) L 183/1 vom 08.07.2016 (gültig ab 29.01.2019, i.F.: „EPartVO“).
F. Zusammenfassung
51
Rom I-VO statuieren.273 Erwägungsgrund Nr. 53 der EuGüVO nennt beispielhaft „Normen zum Schutz der Familienwohnung“ als typischen Fall einer relevanten Eingriffsnorm. 274 Dazwischen liegt die EuErbVO275. Dieser fehlt es zwar an einer allgemeinen Eingriffsnormklausel, jedoch erlaubt Art. 30 EuErbVO die Durchsetzung von Sondererbrechtsregimes des Belegenheitsstaates. 276 Teilweise wird angenommen, dass auch solche Bestimmungen „Eingriffsnormcharakter“ aufweisen. 277 IV. Der ordre public im europäischen Kollisionsrecht Ist die Durchsetzung von Eingriffsnormen damit noch nicht in allen europäischen IPR-Verordnungen anerkannt, findet sich dagegen in jedem Rechtsakt eine ordre public-Klausel.278 Obwohl dieser damit das etabliertere Instrument ist, wird er in der Praxis immer seltener angewandt. Stattdessen werden besonders wertgeprägte Bestimmungen des Forums vor allem als Eingriffsnorm durchgesetzt.279
F. Zusammenfassung F. Zusammenfassung
Hinsichtlich der Durchsetzung forumseigenen Rechts im 19. Jahrhundert werden insbesondere zwei Aspekte deutlich: So ging es dem romanischen „ordre public“, der „public policy“ des common law und den deutschen „Prohibitivgesetzen“ allesamt um den Schutz fundamentaler Wertungen und Normen des Forums. Wesentliche Unterschiede bestanden vor allem bei der Anwendungshäufigkeit und weniger bei der Zielrichtung dieser Institute. Dies überrascht, waren doch die kollisionsrechtlichen Systeme der drei großen europäischen Rechtstraditionen auf recht unterschiedlichen Fundamenten erbaut. 280 Die
273 Siehe hierzu auch Martiny, IPRax 2011, 437, 451 f. Eine Bestimmung zur Anwendung drittstaatlichen Eingriffsrechts findet sich in Art. 30 EuGüVO indessen nicht. 274 Siehe hierzu auch Martiny, IPRax 2011, 437, 451. 275 Verordnung (EU) Nr. 650/2012, ABl. (EU) L 201/107 vom 27.07.2012 (i.F.: „EuErbVO“). 276 Die Norm entspricht damit dem auch im deutschen IPR anerkannten Mechanismus des Art. 3a Abs. 2 EGBGB. 277 Schmidt, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 30 EuErbVO, Rn. 13 ff. 278 Im Einzelnen: Art. 21 Rom I-VO; Art. 26 Rom II-VO; Art. 12 Rom III-VO; Art. 15 EuUnthVO i.V.m. Art. 13 HUntProt; Art. 35 EuErbVO; Art. 31 EuGüVO. 279 Siehe zum Verhältnis zwischen der Durchsetzung konkreter Bestimmungen mit ordre public-Charakter und abstrakten Wertungen des ordre public ausf. im 6. Kapitel. 280 Siehe zur comitas als Geltungsgrund des IPR im common law die Nachweise unter B.III. sowie C.III. Zur völkerrechtlichen Fundierung des Modells Mancinis siehe unter B.II. sowie zum Streit zwischen deutschen Nationalisten und Internationalisten die Nachw. in
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1. Kapitel: Geschichtlicher Überblick
heute anerkannte Beschränkung des ordre public auf die Abwehr ausländischen Rechts und die Verselbstständigung der Durchsetzung heimischer, besonders wertgeprägter Bestimmungen im Instrument der Eingriffsnorm lässt sich im 19. Jahrhundert noch nicht nachweisen. Sofern die Unterscheidung zwischen positiven und negativen Effekten überhaupt gemacht wurde, hatte dies eher die Funktion einer ordnenden Zusammenstellung der Anwendungsfälle eines einheitlich verstandenen Instruments. Kahn und dessen Anhänger legten schließlich Ende des 19. Jahrhunderts die Unbegrenzbarkeit des ordre public dar und wiesen infolgedessen auf die Notwendigkeit der Bildung neuer Kollisionsnormen hin. Diese Auffassung fand in der Literatur zwar durchaus einigen Beifall, konnte sich jedoch im Ergebnis kaum durchsetzen. Die Krisen des 20. Jahrhunderts führten schließlich zu einer Wirtschaftspolitik, welche mit dem herkömmlichen ordre public nicht mehr bewältigt werden konnte. Denn es ging nicht mehr allein um die Durchsetzung inländischer Wirtschaftseingriffsgesetze, sondern auch um die Heranziehung drittstaatlichen Eingriffsrechts. Hinzu kamen Unklarheiten im Hinblick auf die Rolle der Parteiautonomie im Internationalen Schuldvertragsrecht sowie allgemeine Systemdiskussionen über die Aufgaben und Grenzen des Kollisionsrechts. Dies führte dazu, dass der ordre public zunehmend als aposteriorisch wirkende Ergebniskontrolle betrachtet wurde, wohingegen man die Eingriffsnorm in apriorischer Weise der Regelverweisung vorlagerte. Hinzu trat die Annahme, dass die Eingriffsnorm als methodisch eigentümliches und besonders sachnormgeprägtes Instrument aus dem System des IPR auszuschließen sei. Diese und damit verwandte Auffassungen begleiten seitdem das Institut der Eingriffsnorm und fanden einen besonders sichtbaren Niederschlag in der romanischen Lehre von den lois d’application immédiate. Letztere beeinflusste die Normierung des Art. 7 EVÜ deutlich. Auch dessen heutige Nachfahren – allen voran Art. 9 Rom I-VO – zeigen eine starke romanische Prägung. Nach wie vor große Uneinigkeit besteht über die Reichweite der materiellen Eingriffsnormdefinition. Das hiermit verbundene Problem ist offenkundig: Der große Ausfüllungsspielraum bedroht die Aussagekraft der Regelverweisungen und führt zu Rechtsunsicherheit. Auch die auf britisches Betreiben zurückgehende Beschränkung der Berücksichtigung ausländischen Eingriffsrechts sorgt für zahlreiche ungeklärte Fragen, die der EuGH bisher nur teilweise klären konnte.
Fn. 63. Die nahezu identischen Zweckrichtungen lassen sich wohl einerseits durch den paneuropäischen Austausch der europäischen Kollisionsrechtler des 19. Jahrhunderts erklären. Andererseits beschäftigten sich englische, romanische und deutschsprachige Vertreter gleichermaßen mit der Statutentheorie und der niederländischen Schule.
F. Zusammenfassung
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Mit dieser Einsicht in die Entwicklungsgeschichte der Eingriffsnorm ist nun ein Überblick über den europäischen acquis commun der Eingriffsnormdogmatik dargelegt. Auf dieser Grundlage ist in den folgenden Kapiteln die Natur der Eingriffsnorm näher zu untersuchen.
Kapitel 2
Die Erfassung des Eingriffsrechts durch die unionale IPR-Kompetenz Als Vorfrage ist zu erörtern, in wessen Kompetenz die Durchsetzung von Eingriffsnormen fällt. Zwar hat der europäische Gesetzgeber zweifelsohne einen Regelungswillen in diesem Bereich – ansonsten würden insbesondere die Vorgaben des Art. 9 Abs. 1, 3 Rom I-VO nicht dermaßen ins Detail gehen. Diese Bestimmungen entwickeln jedoch nur dann Verbindlichkeit, wenn die Eingriffsnormdurchsetzung einem unionalen Kompetenztitel zuzuordnen ist. 281 Als einschlägige Kompetenztitel kommen hierbei der Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV282 sowie dessen Vorgänger283 in Betracht. Hierfür müsste es sich bei der Eingriffsnorm freilich auch um ein kollisionsrechtliches Phänomen handeln. Zwar wird die Eingriffsnorm in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO materiell mithilfe des Gemeinwohlkriteriums beschrieben. Als Folge dieser Eigenschaft wird jedoch nur die besondere Durchsetzungskraft der Eingriffsnorm gegen das eigentlich anwendbare Recht genannt. Die Rechtsfolgenseite kennzeichnet somit weiterhin eine rechtsanwendungsrechtliche Auswahlentscheidung. Daher handelt es sich bei der Durchsetzung von Eingriffsrecht nach Art. 9 Rom I-VO um ein kollisionsrechtliches Phänomen.
281 Würde dieser fehlen, wäre jede unionale Eingriffsnormklausel ein ultra-vires-Rechtsakt, welcher nach der Rechtsprechung des BVerfG keine Wirksamkeit entfaltet (BVerfG, Urt. v. 12.10.1993 – 2 BvR 2134/92 u.a., BVerfGE 89, 155, 188, 209 f. (Maastricht); BVerfG, Urt. v. 30.06.2009 – 2 BvE 2/08 u.a., BVerfGE 123, 267, 353 (Lissabon)). – Roth, EWS 2011, 314, 316 spricht angesichts der ultra-vires-Rechtsprechung sogar von einem „unionsverfassungsrechtlichen Gebot“, die Kompetenzmäßigkeit jedes europäischen Rechtsakts zu überprüfen. 282 Siehe zu Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV als Kompetenzgrundlage der Kollisionsrechtsvereinheitlichung auch: Roth, EWS 2011, 314, 317; Leible, in: FS Martiny, 2014, S. 434. 283 Die Vorgängerbestimmungen sind für die Rom I- und Rom II-VO maßgeblich, da diese vor dem Vertrag von Lissabon erlassen wurden. Unter dem Vertrag von Amsterdam handelte es sich um den Art. 65 lit. b EGV. Siehe hierzu: Jayme/Kohler, IPRax 2000, 454 ff.; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 174; Roth, EWS 2011, 314, 316 f.; Thode, NZBau 2011, 449, 450.
A. Die Eingriffsnorm als IPR i.S.d. Unionskompetenz
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A. Die Eingriffsnorm als „Internationales Privatrecht“ im Sinne der Unionskompetenz A. Die Eingriffsnorm als IPR i.S.d. Unionskompetenz
Es ist nicht selbstverständlich, die unionale IPR-Kompetenz auch auf die Durchsetzung von Eingriffsrecht zu erstrecken. Da es sich bei Eingriffsrecht vorrangig um gemeinwohlorientierte Staatseingriffe in privatrechtliche Verhältnisse handeln soll, scheint die Eingriffsnorm nämlich ein hybrides Gewächs zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht zu sein. 284 Auch ihre Normierung in einer internationalprivatrechtlichen Kodifikation bedeutet nicht zwingend, dass es sich um ein Problem des Internationalen Privatrechts handelt. Als weitgehend unerforschter Antagonist des IPR stünde nämlich noch das Kollisionsrecht des Öffentlichen Rechts – also das Internationale Öffentliche Recht (IÖR)285 – zur Verfügung. Hiervon abzugrenzen ist die Bezeichnung besonderer Materien des Völkerrechts als „Internationales Öffentliches Recht“, etwa im Fall des „Internationalen Öffentlichen Seerechts“.286
Eine geschriebene Unionskompetenz für das IÖR besteht im europäischen Verfassungsrecht nicht, sodass infolge des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung im Grundsatz von einer fortdauernden Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auszugehen ist. 287
284 Ficker, Grundfragen, 1952, S. 67; Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 50; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 16 f.; Sperduti, JDI (Clunet) 1977, 5, 10; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 228; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 207. 285 Als Arbeitshypothese ist davon auszugehen, dass das IÖR in paralleler Ausgestaltung zum IPR über die Anwendbarkeit eigenen und fremden Öffentlichen Rechts entscheidet (so auch Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 37; Peine, in: FS Martiny, 2014, S. 950 ff.). Ob die von dieser Definition implizierte Möglichkeit der Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts besteht, wird im 3. Kapitel ausf. untersucht. 286 Siehe etwa Ipsen u. a., Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, S. 860 ff. Teilweise wird der Begriff auch als Binnenrecht internationaler Organisationen begriffen (Peine, in: FS Martiny, 2014, S. 950 ff.). Siehe zum unterschiedlichen Begriffsverständnis ausf. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 2 ff. 287 Für das grundsätzliche Fehlen einer Unionskompetenz im Bereich des IÖR spricht im Übrigen auch der Art. 1 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO, welcher „Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten“ aus dem Anwendungsbereich der Rom I-VO herausnehmen möchte (ähnl., aber zu weitgehend Gräf, ZfA 2012, 557, 564).
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2. Kapitel: Erfassung des Eingriffsrechts durch die Unionskompetenz
Für diese Arbeit stellt sich damit die Frage, ob die in Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV (ex-Art. 65 lit. b EGV) verliehene Unionskompetenz zur Vereinheitlichung des Internationalen Privatrechts288 auch die Durchsetzung von Eingriffsnormen erfassen kann. I. Abgrenzung der Unionskompetenz durch Gleichsetzung der Reichweite von IPR und Zivilrecht Die unionale IPR-Kompetenz könnte zunächst anhand der Zivilrechtlichkeit der von ihr in Bezug genommenen Sachnormen begrenzt werden. Somit wären nur solche Kollisionsnormen „Internationales Privatrecht“ im Sinne der Unionskompetenz, die eine Norm des materiellen Privatrechts berufen. Im Rahmen dieser zumeist impliziten Prämisse 289 erreichen zahlreiche Autoren selbst bei öffentlich-rechtlichen Eingriffsnormen eine Zuordnung zum IPR, indem die durch Brückenklauseln wie § 134 BGB realisierte Zivilrechtlichkeit der Rechtsfolgen betont wird. 290 1. Der Zivilrechtsbegriff des unionalen Verfassungsrechts Es handelt sich jedoch nur um eine Verlagerung des Definitionsproblems, wenn man den kompetenziellen IPR-Begriff mit dem materiellen Privatrechtsbegriff identifiziert. Hierauf aufbauend stellt sich nämlich die Folgefrage, was Zivilrecht im Sinne des Unionsverfassungsrechts ist und ob in diesem Rahmen eine zivilrechtliche Brückenklausel genügt, um Eingriffsnormen einen privatrechtlichen Charakter zu verleihen. In den Mitgliedstaaten selbst herrschen recht unterschiedliche Ansichten im Hinblick auf die Trennlinie zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht, 291 288 Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV spricht zwar selbst nur von „Kollisionsnormen“. Bereits die dortige Unterordnung der Kompetenz unter die „Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen“ zeigt jedoch, dass nur das IPR gemeint ist. So auch: Rossi, in: Calliess, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 81 AEUV, Rn. 22. 289 Ausdr. etwa Ficker, Grundfragen, 1952, S. 67; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 119 f. 290 Ähnl. bereits Wengler, IntRDipl 1956, 191, 200; Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 40; Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 175; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 25; Drobnig, in: FS Neumayer, 1985, S. 175; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 34 ff.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 56, wonach es sich hierbei um „privatrechtliches IÖR“ handele (Rn. 52); Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 113 f.; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 68; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 60; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 207; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 113. – Für eine Einordnung ins IÖR etwa Müller, C.M.L.Rev. 2014, 1564, 1564. Siehe hierzu auch Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 334. 291 So ist im common law die Unterscheidung lange völlig unbekannt gewesen und hat bis heute keine große Relevanz: Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936,
A. Die Eingriffsnorm als IPR i.S.d. Unionskompetenz
57
weshalb ein gemeineuropäischer Konsens ausscheidet. Indessen ist auf der Grundlage eines frühen Urteils des EuGH zum EuGVÜ 292 mittlerweile anerkannt, dass eine „Zivilsache“ im Sinne des Unionsrechts jede Rechtsstreitigkeit ist, deren Streitgegenstand nicht im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse steht. 293 Damit wird die Abgrenzung anhand der beteiligten Subjekte durchgeführt: Ist ein Hoheitsträger als solcher beteiligt, handelt es sich um Öffentliches Recht im Sinne des Unionsverfassungsrechts. Dies entspricht der auch in Deutschland herrschenden modifizierten Subjekttheorie. 294 Auf der Grundlage dieser unionalen Privatrechtsdefinition und der Annahme, dass das IPR als das Kollisionsrecht des materiellen Zivilrechts zu beschreiben ist, wäre das IPR im Sinne der Unionskompetenz als jenes Kollisionsrecht zu definieren, welches die Sachnormen beruft, die nicht einem Hoheitsträger als solchem hoheitliche Sonderrechte einräumen. 2. Schlussfolgerungen Selbst wenn eine öffentlich-rechtliche Eingriffsnorm erst in Verbindung mit einer Brückenklausel wie § 134 BGB zivilrechtliche Rechtswirkungen auslöst (etwa eine Embargovorschrift, die zur Nichtigkeit eines Importvertrags führt), würde es sich also um ein zivilrechtliches Problem im Sinne des Unionsrechts handeln. Sofern man die unionale IPR-Kompetenz anhand ihres materiellprivatrechtlichen Gegenstands beschreiben wollte, wäre damit die Durchsetzung von Eingriffsnormen erfasst.
S. 27 f.; Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 58; Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 70; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 140; v.Hein, AG 2001, 213, 221; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 23; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 54, insb. Fn. 252; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 132; Peine, in: FS Martiny, 2014, S. 957. – Dies zeigt, dass der im deutschen Rechtskreis vertretene, strenge Dualismus nicht zwingend ist (so auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 140. Ähnl. Mann, in: FS Wahl, 1973, S. 145; Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 328; Habermeier, Neue Wege, 1997, S. 103 ff., 303). 292 ABl. (EG) C 27/1 vom 26.01.1998 (i.F. „EuGVÜ“). 293 EuGH, Urt. v. 14.10.1976 – C-29/76, ECLI:EU:C:1976:137, 1551, Rn. 4 f. (LTU/Eurocontrol); Leible, in: Streinz, EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 81 AEUV, Rn. 10; Rossi, in: Calliess, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 81 AEUV, Rn. 8. Siehe zur Beibehaltung dieser Linie im Rahmen der EuGVVO auch Stürner, in: FS Coester-Waltjen, 2015, S. 848. 294 Diese ziehen auch folgende Autoren im Rahmen kollisionsrechtlicher Fragestellungen heran: Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 48; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 44; Zuleeg, in: FS Maurer, 2001, S. 1068; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 53; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 47 ff.
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2. Kapitel: Erfassung des Eingriffsrechts durch die Unionskompetenz
II. Abgrenzung der Unionskompetenz durch sachrechtsunabhängiges Verständnis des IPR Die Unionskompetenz nach Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV (ex-Art. 65 lit. b EGV) könnte jedoch auch sachrechtsunabhängig zu begreifen sein. Die materielle Einordnung eines Rechtssatzes würde in diesem Fall keine Rolle spielen. 295 Anders gewendet: Trotz der Bezeichnung als „Internationales Privatrecht“ würde dieses auch materielles Öffentliches Recht berufen können. 296 Die Zuordnung zum unionalen Kompetenztitel würde also durch eine extensive Auslegung erreicht werden. Auch bei diesem „IPR im weiteren Sinne“ bliebe indessen unklar, wo die Grenze zu nicht erfasstem IÖR zu ziehen wäre. Es bedürfte also wiederum einer näheren Umgrenzung. Hierbei könnte man das IPR als das Kollisionsrecht der Zivilgerichte begreifen. 297 Da die Zuständigkeit der Zivilgerichte nach Art. 1 Brüssel Ia-VO wiederum nach der Zivilrechtlichkeit des Streitgegenstands bestimmt wird, gelangt man jedoch letzten Endes auch hier zur Beschreibung des IPR anhand seines materiellrechtlichen Gegenstandes. Dies ist auch wenig verwunderlich: Der Charakter einer Kollisions- oder Zuständigkeitsnorm als der Hauptsache vorgeschalteter „Meta“-Rechtssatz298 nötigt beinahe dazu, auf den Gegenstand der materiellen Entscheidungsnorm zu blicken. Eine sachnormunabhängige Umgrenzung der unionalen IPR-Kompetenz bietet damit keinen Mehrwert. III. Zwischenergebnis Da keine Alternative zu einer Beschreibung des IPR anhand seines materiellprivatrechtlichen Gegenstands besteht, bleibt es bei dem obigen Ergebnis. Demnach genügt das Vorhandensein zivilrechtlicher Rechtsfolgen zur Bejahung der Zivilrechtlichkeit im Sinne der Unionskompetenz. Damit sind die
295 So etwa Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 41, welche Normen des öffentlichen Rechts mit zivilrechtlichen Reflexwirkungen („privatrechtliches IÖR“) dem „modernen“ IPR zuschlagen möchte. Ablehnend Benecke, IPRax 2001, 449, 452. 296 Hier drängen sich Parallelen zum Modell eines „Wirtschaftskollisionsrechts“ auf, welches häufig als ein dem IPR zugehöriges System beschrieben wurde, das zugleich auch Öffentliches Wirtschaftsrecht berufen könne (siehe hierzu die Nachw. in Fn. 134). Im Einzelnen hiervon nicht klar zu trennen sind die Versuche einer Errichtung von Teilsystemen für Eingriffsrecht, die nicht mehr zu einem solchen „IPR im weiteren Sinne“ gehören sollen. 297 So etwa Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 42 f. Die Beschreibung des IPR als das Kollisionsrecht der Zivilgerichte würde enger sein als die oben vorgenommene Gleichsetzung von materiellem Privatrecht und IPR, da Letztere auch eine Anwendung des IPR durch die Verwaltungs- und Strafgerichtsbarkeit ermöglicht. 298 Siehe zu dieser auf Vogel zurückgehenden Lesart der Kollisionsnorm knapp im 4. Kapitel unter D.II.3.c.cc.
B. Die Eingriffsnormklauseln als kompetenzielle Bereichsausnahmen?
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Eingriffsnormklauseln des europäischen Gesetzgebers kompetenzgemäß erlassen. IV. Die hilfsweise Heranziehung der Annexkompetenz Selbst wenn man die Erfassung der Eingriffsnorm durch die unionale IPRKompetenz des Art. 81 Abs. 2 lit. c AEUV (ex-Art. 65 lit. b EGV) ablehnen wollte, wäre die Unionskompetenz für die Durchsetzung des Eingriffsrechts dennoch in Form einer Annexkompetenz zu bejahen. Denn es ist gerade die Eigenart der Eingriffsnorm, dass sie im Rahmen eines Streits zwischen Privaten um kernzivilrechtliche Fragen wie die Gültigkeit eines Vertrages angewendet wird. Die Durchsetzbarkeit einer Eingriffsnorm im Kontext einer internationalprivatrechtlichen Untersuchung öffnet insofern den Weg zur unionalen Annexkompetenz. Allerdings ist die Figur der unionalen Annexkompetenz nicht unumstritten. 299 Aufgrund des Konflikts mit dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ist die unionsrechtliche Annexkompetenz nicht mit ihrer nationalstaatlichen Entsprechung vergleichbar. Zudem zwingt die Begründung der Annexkompetenz mit dem „kernzivilrechtlichen“ Kontext der Eingriffsnorm ein weiteres Mal zur Auseinandersetzung mit der materiellrechtlichen Privatrechtsdefinition des Unionsverfassungsrechts. Damit ist der Mehrwert dieses Ansatzes begrenzt.
B. Die Eingriffsnormklauseln als kompetenzielle Bereichsausnahmen für heimisches Eingriffsrecht? B. Die Eingriffsnormklauseln als kompetenzielle Bereichsausnahmen?
Das Bestehen einer Unionskompetenz bedeutet jedoch nicht, dass der Unionsgesetzgeber hiervon auch vollumfänglich Gebrauch machen muss. Nimmt er sich in einem grundsätzlich seiner Kompetenz unterfallenden Bereich zurück, so unterliegt dieser weiterhin der mitgliedstaatlichen Gestaltung. 300 Für eine solche kompetenzielle Bereichsausnahme könnte der Wortlaut der Eingriffsnormklauseln sprechen, wonach die vereinheitlichten Kollisionsnormen das heimische Eingriffsrecht nicht „berühren“. 301
299 Die unionsrechtliche Annexkompetenz ist vielmehr eine Fortsetzung der „implied powers“ bzw. des „effet utile“, weshalb eine ungleich stärkere Rückbindung an bereits bestehende Kompetenztitel nötig ist (Kadelbach, in: Groeben, EuropUnionsR, 7. Aufl. 2015, Art. 5 EUV, Rn. 11 m.w.N.). 300 Dies ist eine Folge der geteilten Zuständigkeit im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach Art. 4 Abs. 2 lit. j AEUV. 301 Dies hins. Art. 7 Abs. 2 EVÜ annehmend: Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 275. Dagegen bzgl. Art. 9 Rom I-VO: Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 8.
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2. Kapitel: Erfassung des Eingriffsrechts durch die Unionskompetenz
Die Annahme einer kompetenziellen Bereichsausnahme erscheint jedoch nicht stichhaltig. Denn der Wortlaut des Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO differenziert nicht zwischen in- und ausländischem Eingriffsrecht. Daher scheint der europäische Gesetzgeber das Phänomen der Eingriffsnorm unter Einschluss des heimischen Eingriffsrechts regeln zu wollen. 302 Der Wortlaut „berührt nicht“ soll insofern nur die Vorstellung ausdrücken, dass die Regelverweisungen die Durchsetzung von Eingriffsnormen nicht beschränken. 303
302 303
Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 120. So auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 118.
Kapitel 3
Die vermeintlichen Eigentümlichkeiten des Internationalen Öffentlichen Rechts als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts Wer die Rolle der Eingriffsnorm im europäischen IPR verstehen möchte, der muss sich zunächst mit den herrschenden Annahmen über die Funktionsweise des Internationalen Öffentlichen Rechts auseinandersetzen. Denn obwohl die Eingriffsnormdurchsetzung über den Weg ihrer zivilrechtlichen Rechtsfolgen dem IPR zugeschlagen werden kann, 304 entstammen die zentralen Annahmen über die Eigentümlichkeiten der Eingriffsnorm letztlich der Dogmatik des IÖR.305 Dies ist eine wenig überraschende Konsequenz der Annahme, dass sich die Eingriffsnorm im Graubereich zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht bewege. 306 Im Einzelnen geht es hierbei um die folgenden, im Verlauf dieses Kapitels ausführlich zu diskutierenden Aspekte: So soll die Rechtsanwendungsfrage bei Eingriffsrecht „vom Gesetz her“ gestellt werden, was als Gegensatz zur Fragestellung des IPR „vom Sachverhalt her“ aufgefasst wird. Damit zusammen hängt auch die vermeintlich apriorische oder auch „statutarische“ Methode der Eingriffsnormdurchsetzung. Außerdem soll die Eingriffsnorm aufgrund ihres außerordentlichen Grades an „Materialisierung“ zwingend einseitig sein. All dies wird als Widerspruch zum grundsätzlich „wertneutralen“ IPR begriffen. Den Rahmen um diese scheinbaren Besonderheiten des Eingriffsrechts bildet ein besonderes Privatrechtsverständnis: So handele es sich bei dem durch das IPR berufenen Privatrecht um das „Recht der Gesellschaft“, weshalb „Recht des Staates“ in Gestalt von Eingriffsnormen notwendig nicht erfasst sein könne. Da der überwiegende Teil jener Eigenheiten der Eingriffsnorm tatsächlich im IÖR wurzelt, stellt die Behandlung des Eingriffsrechts in vielerlei Hinsicht
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Siehe hierzu soeben im 2. Kapitel unter A.I. Ähnl. auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 140; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 93; Martinek, Das internationale Kartellprivatrecht, 1987, S. 33; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 46. Schurig nennt diesen Prämissentransfer auf die Eingriffsnorm „sekundäre Einseitigkeit“ (a.a.O. S. 155, 167). 306 Siehe hierzu im 2. Kapitel unter A., dort Fn. 284. 305
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
ein „kleines IÖR“ im IPR dar. Mit seltener Deutlichkeit diskutieren dies von Bar/Mankowski: Demnach gewinne beim Eingriffsrecht das „öffentlichrechtliche Einseitigkeitsprinzip die Oberhand […] über das privatrechtliche Kollisionsrecht“.307 Es handele sich daher bei der Eingriffsnorm um „privatrechtliches IÖR“. 308 Freilich können nur solche Grundsätze des IÖR einen Maßstab für die Behandlung der Eingriffsnorm darstellen, deren Bestand unzweifelhaft festgestellt wurde. Deshalb soll im Folgenden die Funktionsweise des IÖR ebenso wie dessen Verhältnis zum IPR untersucht werden. Dabei geht es vor allem um das sogenannte Einseitigkeitsdogma des IÖR. Es wird sich zeigen, dass dessen Fundamente weitgehend den behaupteten Eigenheiten der Eingriffsnorm entsprechen. Natürlich bietet das nur selten eingehend untersuchte IÖR auch den Reiz des Unerforschten. 309 Ein allgemeiner Blick auf die Folgen der gefundenen Ergebnisse soll daher auch nicht fehlen.
A. Das Einseitigkeitsdogma des IÖR A. Das Einseitigkeitsdogma des IÖR
Im Gegensatz zur langen Geschichte des IPR ist das IÖR noch äußerst jung: So setzte sich erst nach der Jahrhundertwende die Einsicht durch, dass das Problem konkurrierender Rechtsordnungen auch im Öffentlichen Recht eine Lösung durch Kollisionsregeln erfordert. 310 Die erste eingehende Untersuchung ist hierbei Neumeyer zu verdanken.311 Dieser stellte fest, dass auch das Internationale Verwaltungsrecht „Grenznormen“ aufweist, welche die jeweils maßgebliche örtliche Beziehung bestimmen. 312 Die „Grenznormen“ des IÖR
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v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 89. v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 52, 80 ff. Demgegenüber gehe es bei der Beteiligung eines öffentlich-rechtlichen Subjekts um „öffentlichrechtliches IÖR“. Ähnl. auch Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 38 f., die zwischen einer IÖR-Hauptund Vorfrage unterscheidet. 309 Zum geringen Entwicklungsgrad des IÖR siehe bereits Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 138. Zum Int. Verwaltungsrecht jüngst nur Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005. 310 Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 53; Fedozzi, Rec. d. Cours (Haye) 27 (1929), 145, 149; Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 99 ff. Davor wohl nur Eik, De algemeene beginselen van het Internationaal Policieregt, 1860, S. 7 ff. Siehe auch Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 1 ff. 311 Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 1, 19. 312 Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 47, 106. 308
A. Das Einseitigkeitsdogma des IÖR
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würden jedoch nur die Inlandswirksamkeit beschreiben. 313 Dies sei auch der entscheidende Unterschied zu den Kollisionsnormen des Privatrechts, welche aufgrund der „Unstaatlichkeit“ der geregelten Sachverhalte sowohl dem Inland als auch dem Ausland seinen Anwendungsbereich zuweisen könnten. 314 Damit sei auch die kollisionsrechtliche Rechtsfolge eine andere: Während es im IPR um die Frage der Berufung heimischen oder fremdem Rechts gehe, würde das IÖR nur über die Anwendung oder Unbeteiligtheit des Inlandsrechts entscheiden.315 Die Anwendung ausländischen Verwaltungsrechts sei daher ausgeschlossen. 316 Dieses Dogma von der strengen Einseitigkeit des IÖR erfuhr bald eine beachtliche Anhängerschaft 317 und wird bis heute von zahlreichen Stimmen vertreten318. I. Die Territorialität des Öffentlichen Rechts Eng verwandt mit dem Einseitigkeitsdogma ist die These von der „Territorialität“ des Öffentlichen Rechts. Bis heute wird das „Territorialitätsprinzip“ vor 313
Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 98, 115. Die Identifikation einseitiger Kollisionsnormen mit dem Begriff der „Grenznorm“ entsprach nicht dem ursprünglichen Verständnis Kahns, da dieser hierunter nur allseitige Kollisionsnormen fassen wollte (Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 2). 314 Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 115 f. 315 Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 120. Zustimmend: v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 58. 316 Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 119. 317 Ficker, Grundfragen, 1952, S. 70; Schmid, Kollisionsrechtliche Probleme, 1954, S. 95; Neumayer, Rev. crit. dr. int. pr. 1957, 579, 588; Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 53, Fn. 47; Heiz, Das fremde öffentliche Recht, 1959, S. 52; im Ansatz Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 88; Vogel, Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 237 ff. Siehe zur Verbreitung Mitte des 20. Jahrhunderts auch Marti, Vorbehalt, 1940, S. 120; Kegel, Probleme des internationalen Enteignungs- und Währungsrechts, 1956, S. 6. – Die Einseitigkeitsthese erfreut sich auch im Ausland großer Verbreitung: Bureau/Muir Watt, Droit international privé I, 3. Aufl. 2014, S. 135 f.; Torremans/Fawcett/Grušić, Cheshire, North & Fawcett’s private international law, 15. Aufl. 2017, S. 115 ff. Siehe auch die Nachw. bei Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 48; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 54. 318 Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 91 f., Nr. 25; Lipstein, in: FS Zajtay, 1982, S. 378 (mit Ausnahmen); Schiffer, Normen ausländischen „öffentlichen“ Rechts, 1990, S. 72; Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 122 f.; Göthel, IPRax 2001, 411, 416; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 34 ff. (mit Beschr. auf Hoheitsträger als Subjekt); v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 53 ff.; v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 39 Rn. 131; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 58 ff. (auf der Grundlage der mod. Subjekttheorie); Maultzsch, RabelsZ 75 (2011), 60, 89 f., 100 f. (ebenfalls auf der Grundlage der mod. Subjekttheorie); Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 271. Ausf. hierzu auch Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 33 ff.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
allem dann ins Feld geführt, wenn inländisches Öffentliches Recht oder heimische Eingriffsnormen gegen eine fremde lex causae durchgesetzt werden sollen.319 So begründete etwa das BAG die Anwendbarkeit des deutschen (öffentlich-rechtlichen) Schwerbehindertengesetzes mit dessen „Territorialität“. 320 Auch der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe verwies zur Durchsetzung der als „öffentliches Eingriffsrecht“ eingeordneten Arzneimittel-VO auf das Territorialitätsprinzip. 321 Im Vergleich zum Einseitigkeitsdogma ist das „Territorialitätsprinzip“ jedoch deutlich unschärfer: Während die Einseitigkeit des IÖR die Annahme beschreibt, dass nur zum eigenen Recht hinweisende Kollisionsnormen existieren können und eine Anwendung fremden öffentlichen Rechts auszuschließen sei, bietet der Territorialitätsbegriff einen Strauß unterschiedlicher Deutungsmöglichkeiten. 322 Zwar steht der Gedanke im Vordergrund, dass im eigenen Staatsgebiet nur eigenes Öffentliches Recht durchzusetzen sei. 323 Dieses Postulat ist jedoch nur auf den ersten Blick eindeutig.
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Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 830 f. m.w.N.; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 475. 320 BAG, Urt. v. 10.12.1964 – 2 AZR 369/63, BAGE 17, 1, 2, wobei es wohl tatsächlich auf den inländischen Arbeitsort ankam. – Nicht zu Unrecht wurde dieser Begründungslinie des BAG vorgeworfen, nur der Ersatz einer stichhaltigen Begründung zu sein: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 78 f.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 179; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 81; Schiffer, Normen ausländischen „öffentlichen“ Rechts, 1990, S. 81; ähnl. Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 41, 43; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 151; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 112. 321 Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschl. v. 22.08.2012, GmS-OGB 1/10, Rn. 17 f. 322 Siehr, IPR, 2001, S. 416, wonach der Territorialitätsbegriff „hoffnungslos mehrdeutig“ sei. 323 Zitelmann, IPR I, 1897, S. 329; Arminjon, Précis de dr. int. privé I, 3. Aufl. 1947, S. 236; ähnl. Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 73 f.; Großfeld, Praxis des internationalen Privat- und Wirtschaftsrechts, 1975, S. 95; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 75 f.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 179; Schack, Anknüpfung des Urheberrechts, 1979, S. 20; Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 23; Kegel/Seidl-Hohenveldern, Hastings Int. Comp. L. Rev. 5 (1982), 245, 249, 289; Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 2; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 82; Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 191; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 37; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 237; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 40; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 50 f.; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 67; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 269, Rn. 182; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 112.
A. Das Einseitigkeitsdogma des IÖR
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So könnte der geforderte „territoriale“ Kontakt mit dem heimischen Staatsgebiet zunächst als Gruppenbezeichnung für staatsgebietsbezogene Anknüpfungsmomente zu verstehen sein. 324 Eigenes Öffentliches Recht wäre demnach anwendbar, wenn irgendein Mindestkontakt zum Staatsgebiet bestünde. 325 Ohne eine nähere Konkretisierung bleibt jedoch im Dunkeln, wann ein ausreichender Bezug zum Staatsgebiet vorliegt: Bedarf es der inländischen Belegenheit eines Rechtsverhältnisses oder reicht irgendeine Auswirkung auf das Inland aus?326 Möchte der Territorialitätssatz inländisches Öffentliches Recht auf das eigene Territorium beschränken und demzufolge extraterritoriale Wirkungen ausschließen? 327 Erlaubt er gar eine Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts, wenn territoriale Anknüpfungsmomente zu einem fremden Staat erfüllt sind? 328 Im letztgenannten Fall stünde der Territorialitätsgrundsatz allerdings im Widerspruch zum Einseitigkeitsdogma! 329 Der Bezug auf die „Territorialität“ des Öffentlichen Rechts wirft damit mehr Fragen auf als er beantwortet. Mit einiger Sicherheit kann gesagt werden, dass die Maxime von der Territorialität des Öffentlichen Rechts im völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip wurzelt.330 So beschreiben auch einige Autoren die Territorialität des Öffentlichen Rechts damit, dass jeder Staat ausschließlich selbst dafür „zuständig“ sei, auf seinem Staatsgebiet hoheitliche Gewalt auszuüben. 331 Dies ist zwar richtig,
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Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 74; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 831; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 63 f. Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 112. 325 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 96. 326 Die Unbestimmtheit der „territorialen“ Anknüpfungsmomente ebenfalls hervorhebend: Bucher, Grundfragen, 1975, S. 97; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 831. 327 Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 51. Dagegen: Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 40. 328 Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 37 nennt dies „positive Territorialität“. Siehe auch v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 135 zum enteignungsrechtlichen Territorialitätsprinzip. Siehe auch zur Bindung ausländischer Truppen an das Recht des Gebietsstaats Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 69 ff. 329 Dies wäre eine Folge, die von den Vertretern des Territorialitätssatzes erkennbar nicht gewollt ist, denn in der Regel wird eine Verbindung zwischen Territorialität und Einseitigkeit hergestellt. 330 Siehe hierzu in diesem Kapitel unter D.I.1.b. 331 Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 50; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 96; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 79; Badura, in: FS Leisner, 1999, S. 403; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 40; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 44; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 112. – Von diesem Territorialitätsverständnis ausgehend wird auch heute noch das Internationale Steuerrecht beschrieben (Brähler/Engelhard, Internationales Steuerrecht, 8. Aufl. 2014, S. 1 ff.).
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
sagt jedoch nichts über die Möglichkeit der Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts aus. 332 Denn der Staat wäre gerade infolge seiner völkerrechtlichen Gebietshoheit frei darin, auch ausländisches Öffentliches Recht zur Anwendung zu bringen. 333 Nur wenn man das Kollisionsrecht als überstaatliche Kompetenzverteilungsordnung verstehen wollte, die den Staaten die Grenzen ihrer Rechtssetzung aufzeigt und sie zur Anwendung ausländischen (Öffentlichen) Rechts zwingt, wäre ein Konflikt mit der völkerrechtlichen Gebietshoheit denkbar. Auf diese Gedanken wird im Rahmen dieses Kapitels noch häufiger zurückzukommen sein. Hier muss zunächst der Hinweis ausreichen, dass ein völkerrechtliches Modell des Kollisionsrechts bis heute schlicht nie praktisch geworden ist. 334
Es ist somit festzustellen, dass die Aussage von der „Territorialität“ des Öffentlichen Rechts keinen Mehrwert bietet: Sofern hiermit beschrieben werden soll, dass ausschließlich heimisches Öffentliches Recht angewandt werden dürfe, wird schlicht das Einseitigkeitsprinzip wiedergegeben. Sofern mit der Territorialität ein irgendwie gearteter Bezug zum Staatsgebiet in den Vordergrund gestellt werden soll, ist dies ohne Konkretisierung wenig aussagekräftig. II. Der Grundsatz von der Nichtanwendbarkeit ausländischen Öffentlichen Rechts Während der Grundsatz von der „Territorialität“ des Öffentlichen Rechts den Fokus auf die Durchsetzung forumseigener Normen legt, dient die Lehre von der „Nichtanwendbarkeit ausländischen Öffentlichen Rechts“ der Abwehr öffentlich-rechtlicher Bestimmungen des Auslandsrechts. 335 Er kann somit als negative Kehrseite des Einseitigkeitsdogmas begriffen werden. Dessen Prominenz ist dem BGH zu verdanken: Dieser entschied in einem frühen Fall, dass bestimmte Normen des ausländischen öffentlichen Rechts grundsätzlich nicht von der internationalprivatrechtlichen Verweisung erfasst seien:336 So sei infolge des „dem öffentlichen Kollisionsrecht innewohnenden Grundsatzes der Territorialität“ eine sowjetzonale Devisenbeschränkung nur
332 Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 82; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 831. 333 Siehe hierzu ausf. unter D.I.3. 334 Siehe hierzu ausf. unter D.I.1.a. sowie D.I.6. 335 Marti, Vorbehalt, 1940, S. 59; Kegel/Rupp/Zweigert, Einwirkung des Krieges auf Verträge, 1941, S. 9; Wengler, IntRDipl 1956, 191, 192; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 37. Den Zusammenhang zwischen dem Nichtanwendbarkeits- und Einseitigkeitsdogma betont auch Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 34. 336 BGH, Urt. v. 17.12.1959 – VII ZR 198/58, BGHZ 31, 367 = NJW 1960, 1101, 1102. Siehe hierzu auch Heiz, Das fremde öffentliche Recht, 1959, S. 70; Mann, in: FS Wahl, 1973, S. 142; Drobnig, in: FS Neumayer, 1985, S. 167; Lorenz, in: FS Jayme, 2004, S. 533.
A. Das Einseitigkeitsdogma des IÖR
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innerhalb der Grenzen der sowjetischen Durchsetzungsmacht zu beachten. 337 Hieran hielt der BGH im Fall Nigerianische Masken fest; er ergänzte jedoch die Möglichkeit einer materiellrechtlichen Berücksichtigung ausländischen Öffentlichen Rechts. 338 Im Gegensatz zum Sowjetzonen-Fall spielte die öffentlich-rechtliche Natur der fremden Ausfuhrbestimmungen keine ausdrückliche Rolle im Fall Nigerianische Masken. Anders wiederum im Fall Solschenizyn, wo der BGH die Ablehnung sowjetischen Urheberrechts mithilfe der Nichtanwendbarkeit ausländischen Öffentlichen Rechts begründete. 339 Richtigerweise wurde eingewandt, dass das Nichtanwendungsdogma zumeist nur dann angeführt wurde, wenn es den politischen und ökonomischen Augenblicksinteressen des Forums entsprach. 340 In zahlreichen weiteren Fällen lässt sich schließlich auch gar nicht erkennen, ob der Nichtanwendungsgrundsatz oder eine Verletzung des (internationalprivatrechtlichen) ordre public zur Ablehnung des ausländischen öffentlichen Rechts führte.341
Heute wird das Nichtanwendbarkeitsdogma als solches kaum noch vertreten. 342 III. Zwischenergebnis Somit ist festzustellen, dass weder der Grundsatz von der Territorialität des Öffentlichen Rechts noch die Lehre von der Nichtanwendbarkeit ausländischen Öffentlichen Rechts substantiell über die Aussage des Einseitigkeitsdogmas hinausgehen. Damit ist es ausreichend, die folgenden Ausführungen auf die 337 BGH, Urt. v. 17.12.1959 – VII ZR 198/58, BGHZ 31, 367 = NJW 1960, 1101, 1102. Es entsteht der Eindruck, dass es dem BGH eher um die Abwehr eines über die Grenze des Erlassstaats hinausgehenden Durchsetzungsanspruchs ging und weniger um das Postulat einer strikten Einseitigkeit des Internationalen Öffentlichen Rechts. So hätte seinerzeit wohl auch Kegel als prominenter Vertreter einer partiellen Allseitigkeit des IÖR die sowjetzonale Verfügungsbeschränkung nicht angewandt, da sich der Sachverhalt außerhalb der sowjetischen Durchsetzungsmacht abspielte (siehe hierzu sogleich unter A.III.2.). – Siehe hierzu auch Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 318. 338 BGH, Urt. v. 22.06.1972 – II ZR 113/70, BGHZ 59, 82 = NJW 1972, 1575 ff. 339 BGH, Urt. v. 16.04.1975 – I ZR 40/73, BGHZ 64, 183. Siehe hierzu auch: Großfeld, Praxis des internationalen Privat- und Wirtschaftsrechts, 1975, S. 97; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 37. 340 Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 94; ähnl. Kratz, Ausländische Eingriffsnorm, 1986, S. 29 ff., die ein „Ost-West-Gefälle“ in der Neigung zur Berücksichtigung fremden Öffentlichen Rechts beobachtete. 341 Ficker, Grundfragen, 1952, S. 64; Wengler, IntRDipl 1956, 191, 192; Heiz, Das fremde öffentliche Recht, 1959, S. 70; Steindorff, in: Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch d. Völkerrechts III, 2. Aufl. 1962, S. 582; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 69; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 80 (dort auch zur Aufgabe des Nichtanwendungsdogmas in der Schweiz); Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 75. 342 Kunda, GPR 2007, 210, 212 f. m.w.N. Überzeugende Kritiken finden sich bei v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 83 f.; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 185; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 68.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Berechtigung der Lehre von der zwingenden Einseitigkeit des IÖR zu beschränken.
B. Erosion des Einseitigkeitsdogmas in der Rechtswirklichkeit? B. Erosion des Einseitigkeitsdogmas?
Die Beliebtheit der Einseitigkeitsthese überrascht nicht: Sie gibt dem Anschein, dass heimische Gerichte und Behörden in der Praxis nur eigenes Öffentliches Recht anwenden, ein theoretisches Fundament. Dennoch gab es bereits früh Widerspruch gegen die Absolutheit des Einseitigkeitsdogmas: Heute wie gestern begleitet das Einseitigkeitsdogma ein steter Widerspruch zahlreicher Stimmen, die auch im IÖR Fälle der Allseitigkeit und Fremdrechtsanwendung beobachten wollen.343 Die Anwendung ausländischen öffentlichen Rechts soll demnach kein Tabu sein, sondern nur eine Seltenheit.344 Die Gegner des Einseitigkeitsdogmas verweisen hierbei zumeist auf Erscheinungen der Rechtswirklichkeit, die den Eindruck allseitiger Kollisionsnormen des IÖR entstehen lassen. In welchen Fällen es sich hierbei tatsächlich um eine Berücksichtigung ausländischen Öffentlichen Rechts handelt, soll im Folgenden geklärt werden. Hierbei soll zunächst offenbleiben, ob es sich um eine materiellrechtliche Rücksicht im Rahmen der lex causae handelt oder um eine echte kollisionsrechtliche Berufung ausländischen Öffentlichen Rechts. Freilich scheint nur die letzte Alternative eine ernsthafte Gefahr für das Einseitigkeitsdogma zu sein. I. Berücksichtigung statutszugehörigen ausländischen Öffentlichen Rechts im IPR Eine offensichtliche Berücksichtigung ausländischen Öffentlichen Rechts findet dann statt, wenn die internationalprivatrechtliche Kollisionsnorm auch das
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Ficker, Grundfragen, 1952, S. 68; Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 89; Steindorff, in: Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch d. Völkerrechts III, 2. Aufl. 1962, S. 581; Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 129, 137; Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 92; Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 41 ff.; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 30 f., 125; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 369 ff.; Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 94 für das öffentliche Arbeitsrecht; Mayer, JDI (Clunet) 1981, 277, 344; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 144; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 359; Remien, RabelsZ 54 (1990), 431, 455 ff.; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 42; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 77 ff. (für den Bereich der Rechtsnormanerkennung im Binnenmarkt); Roth, EWS 2011, 314, 322. 344 Steindorff, in: Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch d. Völkerrechts III, 2. Aufl. 1962, S. 582.
B. Erosion des Einseitigkeitsdogmas?
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öffentliche Recht der lex causae mitberuft. 345 So soll etwa das mittels Art. 8 Rom I-VO ermittelte ausländische Arbeitsstatut auch das statutszugehörige öffentliche Arbeitsrecht erfassen. 346 Paradoxerweise halten selbst Vertreter einer strengen Einseitigkeit des Öffentlichen Rechts die Miterfassung statutszugehörigen, fremden Öffentlichen Rechts für möglich. 347 Das Bedürfnis nach einer möglichst umfassenden Abbildung der Rechtswirklichkeit des Wirkungsstatuts scheint hier größeres Gewicht zu haben als die Berührungsangst mit dem fremden Öffentlichen Recht. Natürlich geht es in dieser Fallgruppe nur darum, ausländisches Öffentliches Recht im Schlepptau einer internationalprivatrechtlichen Verweisung anzuwenden. Es ist demgegenüber etwas anderes, wenn der Anknüpfungsgegenstand selbst eine genuin öffentlich-rechtliche Hauptfrage unter Beteiligung eines hoheitlichen Subjekts ist. 348 Dennoch lässt die Einbeziehung ausländischen Öffentlichen Rechts in die internationalprivatrechtliche Fremdrechtsverweisung das Dogma von der absoluten Einseitigkeit des Öffentlichen Rechts brüchig erscheinen. 349 Dieselbe Ansicht findet sich im Übrigen auch bei der Eingriffsnorm. So möchten die Anhänger der „Schuldstatutstheorie“ nur solche ausländischen Eingriffsnormen anwenden, die Bestandteil der lex causae sind.350 345 Mann, in: FS Wahl, 1973, S. 146; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 66 ff., 88 ff.; Sperduti, JDI (Clunet) 1977, 5, 5; Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 88, Nr. 20; Lipstein, in: FS Zajtay, 1982, S. 377; Lipstein, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 53; Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 324; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 50; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 32 f.; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 270, Rn. 184. So komme es etwa für das Arbeitsrecht nur darauf an, ob eine Vorschrift Regelungen für das Arbeitsverhältnis trifft (a.a.O. S. 272, Rn. 185). – Gegenstimmen finden sich selten: Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 342; Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 36 ff. m.w.N.; Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 281. – Art. 13 S. 2 IPRGSchweiz stellt sogar ausdrücklich klar, dass die Öffentlichrechtlichkeit einer fremden Norm ihre Berufung nicht ausschließt (siehe hierzu auch Vischer, RabelsZ 53 (1989), 438, 439; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 152). 346 Dies speziell für das Arbeitsstatut bejahend: Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 9; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 284; Schlachter, in: ErfK, 16. Aufl. 2016 Art. 9 Rom I-VO, Rn. 27. 347 Hierauf weisen auch Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 2; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 837 hin. 348 Siehe zum Verhältnis zwischen der Möglichkeit der Fremdrechtsanwendung und den beteiligten Subjekten ausf. unter E. 349 Ähnl. auch Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 69; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 89 ff. 350 So in Ansätzen bereits Wächter, AcP 25 (1842), 361, 402; Haudek, Bedeutung des Parteiwillens, 1931, S. 45 ff.; Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 171; Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 126; Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 26 ff.; Coing, WM-WuB IV 1981, 810, 812; Mühl, in: FS Mühl, 1981, S. 456; Coester, ZVglRWiss
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
II. Anerkennung ausländischer Rechtslagen und Hoheitsakte als allseitiges IÖR? Es stellt sich des Weiteren die Frage, ob die Anerkennung ausländischer Rechtslagen und Hoheitsakte die Anwendung fremden Öffentlichen Rechts darstellt. Neben dem besonders relevanten Fall der Anerkennung ausländischer Administrativenteignungen finden sich Anerkennungsmechanismen auch in zahlreichen anderen Fällen, etwa bei ausländischen Studienabschlüssen, Führerscheinen oder gewerblichen Schutzrechten. 351 Vor allem ältere Stimmen wollten die Anerkennung eines ausländischen Hoheitsakts als echte Anwendung ausländischen Verwaltungsrechts verstehen. 352 Auch Kegel schien hiervon ausgegangen zu sein, denn er wollte fremde Enteignungen und Währungseingriffe dann anerkennen, wenn sich der Erlassstaat in den Grenzen seiner Macht bewegte. 353 Diese Regel bezeichnete er als „Satz des Internationalen Verwaltungsrechts“. 354
82 (1983), 1, 2; Weber, in: FS Werner, 1984, S. 956; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 78; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 35, 56; Schubert, RIW 1987, 729, 731; Vischer, RabelsZ 53 (1989), 438, 443 f.; Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 63; Kösters, Die Anwendung ausländischer Eingriffsnormen, 1991, S. 121; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 78 ff.; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 138; Heiss, in: Czernich, EVÜKomm, 1999, S. 30; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 19, 66 ff.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 119; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 317. Siehe zur Bedeutung der Schuldstatutstheorie im hier vertretenen Modell im 5. Kapitel unter F.IV. – Von der Schuldstatutstheorie zu unterscheiden ist die seltene Ansicht, dass das Schuldstatut selbst über die Reichweite der Anwendung drittstaatlichen Eingriffsrechts bestimme (siehe hierzu Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 332 m.w.N. und überzeugender Kritik). 351 Weitere Anerkennungsfälle finden sich bei Matscher, in: FS Beitzke, 1979, S. 647. 352 Heini, SchwJbIntR 19 (1962), 31, 33, Fn. 15; Steindorff, in: Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch d. Völkerrechts III, 2. Aufl. 1962, S. 582; Biscottini nach Matscher, in: FS Beitzke, 1979, S. 646 f.; Remien, RabelsZ 54 (1990), 431, 459; zögerlich v.Hein, AG 2001, 213, 222. 353 Kegel, Probleme des internationalen Enteignungs- und Währungsrechts, 1956, S. 9 ff., 37; Kegel/Seidl-Hohenveldern, Hastings Int. Comp. L. Rev. 5 (1982), 245, 289. Die zivilrechtlichen Folgen des hiernach anerkannten ausländischen Staatshandelns seien demgegenüber nach dem IPR zu beurteilen (Kegel, Probleme des internationalen Enteignungs- und Währungsrechts, 1956, S. 18). – Dagegen möchten v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 75 f. die Anerkennung ausländischer Enteignungen insgesamt als internationalprivatrechtliche Frage nach der Behandlung privatrechtlicher Enteignungswirkungen einordnen. 354 Kegel, Probleme des internationalen Enteignungs- und Währungsrechts, 1956, S. 7, 13, 37. Kegel schien auch nicht auf die materiellrechtliche Berücksichtigung i.R.d. lex causae ausweichen zu wollen (siehe hierzu sogleich unter C.), da er zuvor die Grenzen der materiellrechtlichen Methode erörtert (a.a.O. S. 9). Die Natur der Machttheorie als IÖRKollisionsregel betont ebenfalls: Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 311, 313. – Zur
B. Erosion des Einseitigkeitsdogmas?
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Modernere Ansichten wenden demgegenüber ein, dass es sich bei der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte nur um einen heimischen Verwaltungsakt handele, durch welchen die ausländische Rechtslage inländische Wirkung erhalte.355 Allerdings erscheint es zweifelhaft, ob zwischen der Berufung fremder Rechtssätze und der Anerkennung fremder Rechtslagen tatsächlich ein trennscharfer methodischer Unterschied besteht.356 In beiden Fällen erhält ein fremder Rechtsinhalt erst durch einen inländischen Verweisungssatz inländische Rechtswirkungen. So wird dann von einigen Autoren auch zugegeben, dass etwa die „Anerkennung“ ausländischer Gesellschaften schlicht der Anwendung einer auf fremdes Gesellschaftsrecht zeigenden Kollisionsnorm entspricht.357 Es würde die Grenzen dieser Arbeit sprengen, hierauf weiter einzugehen. 358 Festzustellen bleibt allein, dass eine gewisse Heranziehung ausländischer Rechtsinhalte des Öffentlichen Rechts auch im Falle der Anerkennung bewirkt wird. Auch dies lässt Skepsis am strengen Einseitigkeitsdogma aufkommen. III. Das europäische Herkunftslandprinzip als allseitige Kollisionsnorm des IÖR? Eine große Nähe zum Instrument der Anerkennung weist das europäische Herkunftslandprinzip auf. 359 Es erlaubt den Absatz einer Ware oder Dienstleistung
Verbreitung der Machttheorie: Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 60; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 115; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 86. 355 v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 71 f. 356 So auch Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1, 5, wonach es sich sowohl bei der Anerkennung als auch bei der kollisionsrechtlichen Verweisung um Fälle „extraterritorialer Wirkungserstreckung“ handele. 357 Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1, 14; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 72. Zur entsprechenden Judikatur des EuGH: Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 31, Rn. 6. 358 Ausf. hierzu Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 50 ff., welcher zwischen der Anerkennung eines fremden Verwaltungsakts als „Rechtstatsache“ und der unmittelbaren Bindung an diesen unterscheiden möchte. Nur im letzten Fall soll es sich um eine echte Anwendung fremden Rechts handeln. Ohler nennt diesbezüglich u.a. das genehmigungsfreie Führen eines im Ausland erworbenen Doktortitels sowie die Berechtigung zum Führen eines Kraftfahrzeugs im Inland kraft eines ausländischen Führerscheins. 359 Dies insbesondere für das vom EuGH entwickelte Internationale Gesellschaftsrecht bekräftigend: Roth, EWS 2011, 314, 324. Siehe hierzu ausf. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 63 ff.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
im gesamten Binnenmarkt, sofern diese den Anforderungen des Herkunftsstaates genügen. 360 So bedürfen etwa Banken nur einer Zulassung im Sitzstaat, um unionsweit tätig zu werden.361 Ebenso wie bei der Anerkennung ist es umstritten, auf welchem methodischen Weg das Herkunftslandprinzip verwirklicht wird. Teilweise wird angenommen, dass das (öffentliche) Recht des Herkunftsstaates mithilfe einer Binnenmarktkollisionsnorm362 zur Anwendung gebracht wird. 363 Basedow möchte den kollisionsrechtlichen Gehalt des Herkunftslandprinzips wie folgt formulieren: „Die Vermarktung von Waren und Dienstleistungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterliegt […] dem Recht des Herkunftslandes oder dem Recht des Bestimmungslandes, je nachdem welches für den Anbieter das günstigere ist.“ 364
Andere möchten das Herkunftslandprinzip hingegen nur als Pflicht zur materiellrechtlichen Berücksichtigung im Rahmen der lex causae verstehen, um nicht vom Einseitigkeitsdogma des IÖR abweichen zu müssen. 365 Teilweise wird auch angenommen, dass das Herkunftslandprinzip nur eine Kompetenzkonzentration auf einen Mitgliedstaat366 oder eine besondere Ausprägung der Erforderlichkeitsprüfung des unionalen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes darstellt367. Wie auch bei der Anerkennung ausländischer Hoheitsakte bleibt damit der konkrete Wirkmechanismus des Herkunftslandprinzips im Unklaren. Es ist allerdings festzustellen, dass auch in diesem Bereich eine gewisse Berücksichtigung ausländischen Öffentlichen Rechts nicht negiert werden kann. IV. Einzelfälle Des Weiteren gibt es auch einige Einzelfälle, bei denen es zu einer Berücksichtigung fremder öffentlich-rechtlicher Normen kommt. 368 360
Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 665. Damit handelt es sich um einen weiteren unionalen Integrationsmechanismus, der neben die Methode der Rechtsangleichung tritt (Basedow, in: FS Reichert-Facilides, 1995, S. 17 f.). 361 Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 665 mit weiteren Beispielen. 362 Siehe zum Binnenmarktkollisionsrecht ausf. im 5. Kapitel unter E. 363 Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1, 13; ähnl. Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 43 f., welcher insofern vom „positiven Herkunftslandprinzip“ sprechen möchte; Bitterich, Neuregelung des Internationalen Verbrauchervertragsrechts, 2003, S. 71 ff. 364 Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1, 25. 365 Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 663, 666 f.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 73; Roth, EWS 2011, 314, 324. 366 So teilw. Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 666. 367 Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 393. 368 Siehe zu weiteren Einzelfällen auch Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 5, 37 ff., 69 ff.
B. Erosion des Einseitigkeitsdogmas?
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So verpflichtet etwa Art. VIII Abschn. 2 lit. b des Abkommens von Bretton Woods die Vertragsstaaten zur Durchsetzung der Devisenkontrollbestimmungen anderer Vertragsstaaten, sofern deren Währung im konkreten Fall berührt wird.369 Hierbei soll es sich nach einer verbreiteten Ansicht um eine allseitige Kollisionsnorm des IÖR handeln. 370 Auch die Beurteilung der Staatsangehörigkeit nach dem Recht des Staates, dessen Angehörigkeit in Frage steht, wird teilweise als Fall der Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts erachtet. 371 Ebenso lässt sich in der grenzüberschreitenden Polizeikooperation ein Handeln unter fremdem Öffentlichen Recht beobachten, worauf Ohler hinweist: So erlaubt das Übereinkommen zur Durchführung des Schengen-Abkommens den inländischen Polizeibehörden in begrenzten Fällen ein Tätigwerden im Ausland, wobei diese an das Recht des Vertragsstaates gebunden sind, auf dessen Hoheitsgebiet sie tätig werden. 372 Des Weiteren kennt auch das Internationale Sozialrecht mit dem Instrument der Leistungsaushilfe einen Fall, in dem eine inländische Behörde etwa nach einem Wohnortwechsel auch nach ausländischem Sozialrecht Leistungen gewährt. 373
369 In dt. Übersetzung: „Aus Devisenkontrakten, die die Währung eines Mitglieds berühren und die in Gegensatz stehen zu den von dem Mitglied in Übereinstimmung mit diesem Abkommen aufrechterhaltenen oder eingeführten Devisenkontrollbestimmungen, kann in den Gebieten der Mitglieder nicht geklagt werden.“ (BGBl. II 1952 Nr. 13, S. 637 ff (Bretton Woods). Art. VIII auf S. 645). 370 Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 404; Philip, in: FS Lipstein, 1980, S. 243; Coing, WM-WuB IV 1981, 810, 813; Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 86 Nr. 15/16; Schubert, RIW 1987, 729, 744; Kegel, in: FS Seidl-Hohenveldern, 1988, S. 277; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 828; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 162 ff. 371 Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 50; ähnl. Mann, in: FS Wahl, 1973, S. 148; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 79; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 37. 372 Dies ergibt sich aus Art. 40 Abs. 3 lit. a, Art. 41 Abs. 5 lit. a des Abkommens (abgedr. in ABl. (EU), L 239/1 vom 22.09.2000, S. 19 ff.). Siehe hierzu Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 49; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 133, wonach es sich hierbei um einen partiellen Statutenwechsel vom Herkunftslandrecht zum Recht des Gebietsstaats handele. 373 So etwa im deutsch-schweizerischen Sozialversicherungsabkommen (abrufbar unter , siehe dort Art. 21, 22) oder in seltenen Fällen im europäischen Internationalen Sozialversicherungsrecht. Näher hierzu: Trutmann, in: FS Heini, 1995, S. 473.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
V. Abgrenzung zur Vereinheitlichung einseitiger Kollisionsnormen Nicht um eine Heranziehung ausländischen Öffentlichen Rechts handelt es sich indessen, wenn lediglich die staatsvertragliche Angleichung einseitiger Kollisionsnormen unternommen wird. Wird etwa in einem bilateralen Sozialversicherungsabkommen vereinbart, dass sich die Versicherungspflicht nach dem Ort der Erwerbstätigkeit richten soll, wird hiermit keine Verweisung auf ausländisches Sozialversicherungsrecht ausgesprochen.374 Vielmehr wird nur die Reichweite des eigenen Sozialversicherungsrechts angeglichen. 375 Gleiches gilt für Doppelbesteuerungsabkommen: Auch diese harmonisieren nur die einseitigen Kollisionsnormen der Vertragsstaaten, ohne allseitiges IÖR zu sein.376 Ebenso führen auch Abkommen zur Vermeidung einer Doppelbestrafung nur zur Angleichung der Reichweiten des eigenen Strafrechts; um eine Anwendung fremden Strafrechts geht es nicht. 377 VI. Zwischenergebnis Mithin lässt sich in zahlreichen Fällen eine Berücksichtigung ausländischen Öffentlichen Rechts beobachten. Das Dogma von der Einseitigkeit des IÖR ist daher nur dann haltbar, wenn die Berücksichtigung fremden Öffentlichen Rechts auch ohne die Anerkennung einer entsprechenden kollisionsrechtlichen Fremdrechtsberufung erklärbar ist. Dieser Frage ist im nächsten Abschnitt nachzugehen.
C. Die materiellrechtliche Berücksichtigung als Ausweg? C. Materiellrechtliche Berücksichtigung als Ausweg?
Zahlreiche Vertreter der strengen Einseitigkeit des IÖR möchten die soeben erörterten Fälle der Heranziehung ausländischer, öffentlich-rechtlicher Inhalte
374 So aber wohl Trutmann, in: FS Heini, 1995, S. 469 ff. zu einem Sozialversicherungsabkommen zwischen der Schweiz und Österreich. Außerdem auch Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 90. 375 Dieselbe Koordination der Reichweiten des mitgliedstaatlichen Sozialversicherungsrechts erfolgte auch in der EWG durch die Art. 13 ff. VO (EWG) 1408/17, ABl. (EG) L 149/1 vom 05.07.1971. Siehe hierzu auch Cornelissen, C.M.L.Rev. 1996, 439 ff.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 79. 376 So auch Brähler/Engelhard, Internationales Steuerrecht, 8. Aufl. 2014, S. 104. Die Allseitigkeit von Doppelbesteuerungsabkommen nehmen dagegen an: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 90; wohl auch Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 40, 106; Schubert, RIW 1987, 729, 745; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 162 ff. – Das bedeutet freilich nicht, dass eine Versteuerung nach ausländischem Steuerrecht unmöglich ist (so auch Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 360), sie ist bisher nur noch nicht Realität geworden. 377 So aber Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 90.
C. Materiellrechtliche Berücksichtigung als Ausweg?
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nämlich gar nicht als kollisionsrechtliche Fremdrechtsberufung, sondern nur als materielle „Berücksichtigung“ im Rahmen der lex causae einordnen.378 Demnach soll ausländisches Öffentliches Recht nur über Generalklauseln und offene Tatbestandsmerkmale des Wirkungsstatuts Beachtung finden. 379 Bei einer internationalprivatrechtlich ermittelten lex causae kann freilich auch ein entsprechendes materielles Institut des Wirkungsstatuts die nötige Einbruchstelle für die materielle „Berücksichtigung“ darstellen. So würde es etwa keinen Unterschied machen, ob es sich bei einem in Deutschland verhandelten Fall um ein deutsches oder französisches Arbeitsstatut handelte; eine (französische oder drittstaatliche) Arbeitsschutznorm des Öffentlichen Rechts wäre in beiden Fällen über eine Einbruchstelle des deutschen oder französischen Rechts heranzuziehen. Sofern dagegen die Hauptfrage selbst dem Öffentlichen Recht zuzuordnen wäre, könnte nach Maßgabe des Einseitigkeitsdogmas nur forumseigenes Öffentliches Recht die lex causae stellen, sodass ausländisches Öffentliches Recht nur über das heimische Recht zu „berücksichtigen“ wäre. Demnach könnte beispielsweise ein sozialversicherungsrechtlicher Leistungsanspruch vor einem deutschen Gericht nur nach heimischem Recht beurteilt werden; eine staatsvertraglich angeordnete Leistungsberechnung nach fremdem Öffentlichen Recht müsste über eine entsprechende Auslegung des eigenen Rechts erfolgen.
Die Aufnahme fremden Öffentlichen Rechts über Einbruchstellen des Wirkungsstatuts wirkt auf den ersten Blick wie ein eleganter Kompromiss. Denn man scheint dem in der Rechtswirklichkeit offensichtlich bestehenden Bedürfnis nach der Aufnahme fremder öffentlich-rechtlicher Rechtsinhalte Rechnung zu tragen, ohne den mit dogmatischen Tabus belasteten Weg ihrer kollisionsrechtlichen Berufung zu gehen. Das Einseitigkeitsdogma bleibt scheinbar unangetastet, da das fremde Recht erst auf der „zweiten Stufe“ 380 der materiellrechtlichen Berücksichtigung herangezogen wird. Diese Methode ist im europäischen Kollisionsrecht sogar Gesetz geworden. Der Respekt vor der häufig öffentlich-rechtlichen Natur von Sicherheits- und 378 Siehe nur die in Fn. 318 Genannten. Besonders plastisch bei: Göthel, IPRax 2001, 411, 416; Lipstein, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 54. – Für eine terminologische Beschränkung der „Berücksichtigung“ auf die materielle Methode sprechen sich auch aus: Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 284; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 38; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 285 f. – Der von Art. 7 EVÜ/Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO verwendete Begriff der „Berücksichtigung“ soll dagegen sowohl die kollisionsrechtliche „Anwendung“ als auch die materiellrechtliche „Berücksichtigung“ erfassen (Roth, in: FS Immenga, 2004, S. 349). 379 Als typische materielle Einfallstore des deutschen Rechts werden vor allem die §§ 138, 242, 275, 305, 323, 826 BGB genannt (Göthel, IPRax 2001, 411, 419). 380 Zur materiellrechtlichen Berücksichtigung von Auslandsbezügen als „zweite Stufe“ des Kollisionsrechts: Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 48 f.; Hentzen, RIW 1988, 508, 510; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 834; Looschelders, RabelsZ 65 (2001), 463, 472; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 306; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 116; Roth, in: FS Immenga, 2004, S. 336; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 121; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 37; Weller, ZGR 2010, 679, 694 f., 708.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Verhaltensregeln hat in Art. 17 Rom II-VO dazu geführt, dass jene am Ort des haftungsbegründenden Ereignisses geltenden Normen nur als „local data“ im Rahmen des Deliktsstatuts zu berücksichtigen sind. 381 Ob die Methode der materiellrechtlichen Berücksichtigung gegenüber einer kollisionsrechtlichen Fremdrechtsanwendung überzeugen kann, soll im Folgenden geklärt werden. I. Die Parallele zur materiellrechtlichen Berücksichtigung drittstaatlichen Eingriffsrechts Der Rückzug in das Instrument der „materiellrechtlichen“ Berücksichtigung ist nicht nur im Hinblick auf das ausländische Öffentliche Recht ein beliebter Ausweg. Auch für drittstaatliches Eingriffsrecht wird häufig eine materiellrechtliche „Berücksichtigung“ statt einer kollisionsrechtlichen Berufung vorgeschlagen.382 Ein frühes Beispiel hierfür sind ausländische Feindhandelsverbote wie der englische „Trading with the Enemy Act“, welche als Leistungsstörung im materiellen Recht berücksichtigt wurden. 383 Insbesondere die deutsche Rechtsprechung zog drittstaatliches Eingriffsrecht lange nur über materiellrechtliche Ge-
381 Siehe hierzu etwa Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 375; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 69 f. Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 17 Rom IIVO, Rn. 2 ff. – Die Norm lehnt sich damit an die ehrenzweigsche Datumtheorie an (Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 17 Rom II-VO, Rn. 4). – Näher zur Datumtheorie: Jayme, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 35 ff.; Mülbert, IPRax 1986, 140, 141; Martiny, IPRax 1987, 277, 279; Baum, RabelsZ 53 (1989), 146, 160; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 85; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 124 & § 6, Rn. 90.). – Es ist Schurig beizustimmen, wenn dieser anmerkt, dass die Datumtheorie nicht über die ohnehin anerkannte Möglichkeit der Berücksichtigung von Auslandsbezügen im Sachrecht hinausgeht (Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 241; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 179). 382 Wesenberg, JR 1951, 433, 434; Mann, in: FS Beitzke, 1979, S. 611 ff.; Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 172, 183; Vischer, RabelsZ 53 (1989), 438, 447 ff.; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 79 m.w.N. Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 349; Boer/Kotting, IPRax 1984, 108, 111 f.; Hessler, Sachrechtliche Generalklausel, 1985, S. 178; Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 335, 341, 345 ff.; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 57; Lorenz, RIW 1987, 569, 580 f.; Baum, RabelsZ 53 (1989), 146, 155; Busse, ZVglRWiss 95 (1996), 386, 417; Heiss, in: Czernich, EVÜKomm, 1999 Art. 7 EVÜ, Rn. 50; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 20; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 122 ff. – Siehe zu den Stimmen bzgl. Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO außerdem bereits im 1. Kapitel unter E.I.4.c. 383 Zitelmann, IPR I, 1897, S. 330; Haudek, Bedeutung des Parteiwillens, 1931, S. 99; Kegel/Rupp/Zweigert, Einwirkung des Krieges auf Verträge, 1941, S. 3 ff.; Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 202; Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 285, 302; Wengler, IntRDipl 1956, 191, 203.
C. Materiellrechtliche Berücksichtigung als Ausweg?
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neralklauseln heran. So erklärte der BGH unter Anknüpfung an die entsprechende Linie des Reichsgericht 384 im Fall Nigerianische Masken einen Versicherungsvertrag für sittenwidrig, da dieser die Ausfuhr von Kulturgut aus Nigeria unter Verstoß gegen ein nigerianisches Ausfuhrverbot zum Gegenstand hatte.385 Dieser Rechtsprechung blieb der BGH lange treu. 386 Ebenso lässt sich in der niederländischen, englischen, französischen und Schweizer Rechtsprechung ein Einbau drittstaatlichen Eingriffsrechts in materiellrechtliche Instrumente beobachten. 387 Eingriffsrecht der lex causae wurde demgegenüber zumeist ohnehin als Bestandteil der internationalprivatrechtlichen Regelverweisung erachtet, sodass hier eine materiellrechtliche Berücksichtigung entbehrlich erschien. 388 Eine ausschließlich materielle Berücksichtigung drittstaatlichen Eingriffsrechts lässt sich angesichts des Gehalts des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO heute nicht mehr vertreten. 389 Dennoch ist die Diskussion um die materiellrechtliche Berücksichtigung drittstaatlichen Eingriffsrechts auch im neuen europäischen Kollisionsrecht nicht verstummt. Wie bereits erörtert, möchten zahlreiche Literaturstimmen und der EuGH angesichts der vermeintlich unausweichlichen Sperrwirkung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO eine darüberhinausgehende Berücksichtigung drittstaatlicher Eingriffsnormen auf materiellem Wege erreichen. 390
384
Siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter C.I. BGH, Urt. v. 22.06.1972 – II ZR 113/70, BGHZ 59, 82 = NJW 1972, 1575, 1576. Der BGH stellte hierbei weniger auf die Verletzung des nigerianischen Rechts ab als auf das „allgemein zu achtende Interesse aller Völker an der Erhaltung von Kulturwerten an Ort und Stelle“. Dieser Gedanke ist näher an einem „internationalen ordre public“ als an der Anwendung drittstaatlichen Eingriffsrechts (siehe zur Figur eines „internationalen ordre public“ Stöcker, StAZ 1981, 16; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 7, Rn. 269). – Näher hierzu: Mann, in: FS Beitzke, 1979, S. 608; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 52. 386 BGH, Urt. v. 21.12.1960 – VIII ZR 1/60, BGHZ 34, 169 = NJW 1961, 822; BGH, Urt. v. 08.02.1984 – VIII ZR 254/82, NJW 1984, 1746; BGH, Urt. v. 08.05.1985 – IVa ZR 138/83, BGHZ 94, 268. – Näher zur Rspr. des BGH: Kratz, Ausländische Eingriffsnorm, 1986, S. 7 ff.; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 18, 32 f.; Baum, RabelsZ 53 (1989), 146, 152 ff.; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 101 ff.; Lorenz, in: FS Jayme, 2004, S. 533, 554. 387 Zum Alnati- und Sensor-Fall in den Niederlanden: Boer/Kotting, IPRax 1984, 108 ff. Im Sensor-Fall ging es um die Berücksichtigung eines amerikanischen Embargos gegen die Sowjetunion (a.a.O. S. 112). Siehe zum Alnati-Fall auch schon im 1. Kapitel unter D.I. – Zur französischen und Schweizer Rspr.: Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 47 m.w.N.; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 76. Zur englischen Rspr.: Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 63. 388 Siehe zur Schuldstatutstheorie bereits oben unter B.I. 389 Denn bei Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO ist eine echte kollisionsrechtliche Fremdrechtsberufung intendiert (siehe hierzu im 1. Kapitel in Fn. 262). 390 Siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter E.I.4.c. 385
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Die materiellrechtliche Methode wird damit zum Ausweg aus der beschränkten Reichweite des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO.391 II. Die Unterlegenheit der materiellrechtlichen Berücksichtigung Betrachtet man die materielle Fremdrechtsberücksichtigung einmal näher, so ergeben sich einige gravierende Nachteile gegenüber der kollisionsrechtlichen Berufung drittstaatlichen Rechts. Zunächst erfordert eine materiellrechtliche Berücksichtigung freilich das Vorhandensein einer Sachnorm innerhalb der lex causae, welche zur Aufnahme des zu berücksichtigenden drittstaatlichen Rechts in der Lage ist. Hierbei ist besonders der materiellrechtliche Einbau vertragsmodifizierender Normen problematisch, 392 denn zahlreiche Generalklauseln wie § 138 BGB haben lediglich die Nichtigkeit des Vertrags vor Augen, sodass diese auf vertragsinvalidierende Normen des Fremdrechts beschränkt sind. 393 Für die materielle Berücksichtigung vertragsmodifizierender Bestimmungen wie Entgeltgrenzen oder Befristungen fehlt es im Rahmen der lex causae hingegen häufig an einem passenden Instrument. 394 Die Beschränktheit materiellrechtlicher Instrumente tritt außerdem dann deutlich zutage, wenn die Leistung zwar gegen ein drittstaatliches Verbot verstößt, der Schuldner aber aufgrund einer geringen staatlichen Kontrolldichte dennoch erfüllen könnte. 395 Hier ist der Weg über die Unmöglichkeitsklauseln versperrt, obwohl ein Gericht selten das Bedürfnis verspüren wird, den Schuldner zu einer nach Fremdrecht illegalen Leistung zu verurteilen. 396 Freilich leidet auch die Rechtssicherheit, wenn die Berücksichtigung einer äußerst heterogenen Masse fremder Rechtssätze allein in den Händen von Generalklauseln liegt. 397 Dies wird besonders im Fall des ohnehin schwer begrenzbaren § 138 BGB sichtbar, bei dem im Rahmen der materiellen Berück-
391
So auch Mankowski, IPRax 2016, 485, 490 ff. Roth, in: FS Immenga, 2004, S. 335. 393 Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 87; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 59. 394 Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 876. Dies gilt erst recht für eine fremde lex causae (Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 241 ff. zu ausl. Eingriffsnormen; ähnl. Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 56 ff.). 395 Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 73 f. 396 Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 58. Die Annahme rechtlicher Unmöglichkeit würde gegen die eigene Prämisse verstoßen, dass ausl. Öffentliches Recht bzw. ausl. Eingriffsnormen gerade nicht als Normsatz heranziehbar seien. Aus dem gleichen Grund scheidet auch eine Heranziehung des ausl. Rechtssatzes über § 134 BGB aus (siehe hierzu Mankowski, IPRax 2016, 485, 490). 397 Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 143. 392
C. Materiellrechtliche Berücksichtigung als Ausweg?
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sichtigung fremden Öffentlichen Rechts zusätzlich auf den subjektiven Tatbestand verzichtet wird. 398 Die Sittenwidrigkeitsklausel mutiert hier endgültig zum Einfallstor richterlicher Beliebigkeit. Gleiches gilt für den Weg über so flexible wie weite Instrumente wie die Störung der Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB).399 Eine kollisionsrechtliche Berufung drittstaatlichen Rechts hat demgegenüber den Vorteil, dass sie die Anwendungsentscheidung anhand eines klar erkennbaren und damit rechtssicheren Anknüpfungsmoments trifft. So könnte der Fall Nigerianische Masken auch schlicht als Anwendung einer richterrechtlich geschaffenen Kollisionsnorm zu lesen sein, wonach das Kulturgüterschutzrecht des Ausfuhrstaates anzuwenden sei. 400 Diese Kollisionsnorm wäre einer nachträglichen Verfestigung durch den Gesetzgeber zugänglich. Damit ist die materiellrechtliche Berücksichtigung einer kollisionsrechtlichen Berufung fremden Rechts deutlich unterlegen. Daher kann bereits jetzt gesagt werden, dass allenfalls dann auf die materielle Fremdrechtsberücksichtigung zurückgegriffen werden sollte, wenn zwingende Gründe gegen eine kollisionsrechtliche Fremdrechtsberufung sprechen. III. Funktionale Identität zwischen materiellrechtlicher und kollisionsrechtlicher Fremdrechtsberücksichtigung? Des Weiteren stellt sich die Frage, inwiefern die Methode der materiellen Berücksichtigung überhaupt Unterschiede zur kollisionsrechtlichen Fremdrechtsberücksichtigung aufweist. Eine gewisse Nähe zwischen der kollisionsrechtlichen Berufung und der materiellrechtlichen Berücksichtigung ist nämlich nicht zu leugnen, scheinen doch beide Instrumente die Heranziehung fremder Rechtsinhalte zur Folge zu haben. 401 So wird dann auch teilweise angenommen, dass kein substantieller Unterschied zwischen den beiden Methoden existiert.402
398 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 243; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 60. 399 Hierauf berief sich der BGH im Fall „iranische Bierlieferung“ (BGH, Urt. v. 08.02.1984 – VIII ZR 254/82, NJW 1984, 1746). 400 In Ansätzen ähnl. Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 41; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 368. Siehe zum Ausbau zur Allseitigkeit ausf. im 5. Kapitel unter C. 401 So auch Schlussantrag GA Szpunar v. 20.04.2016, C‑135/15, ECLI:EU:C:2016:281, Rn. 101 ff.; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 17 Rom II-VO, Rn. 3. 402 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 226; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 24, 38 ff.; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 93, 364; ähnl. Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 54, 80; Baum, RabelsZ 53 (1989), 146, 156; ähnl. Zimmer, IPRax 1993, 65, 67 f.; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 44 ff.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Die Mehrheit der deutschen Literatur möchte jedoch zwischen „normativer“ und „faktischer“ Berücksichtigung unterscheiden: Sofern ein durch tatsächliche Zwänge ausgelöster Zustand innerhalb der drittstaatlichen Rechtsordnung im Vordergrund stehe, handele es sich tatsächlich nur um eine materielle Frage.403 Ein solcher rein faktischer Zustand könne etwa das Ausbleiben von Gehaltszahlungen dritter Staaten im Staatsnotstand (ohne entsprechendes Notstandsgesetz) sein. 404 Wenn indessen an den konkreten Regelungsgehalt einer fremden Norm (insbesondere die Verbotswirkung) angeknüpft wird, handele es sich um eine „normative“ Berücksichtigung, die einer kollisionsrechtlichen Fremdrechtsberufung entspreche. 405 In diesem Fall sollen materiellrechtliche Normen wie § 138 BGB tatsächlich die Funktion einer „versteckten“ Kollisionsnorm übernehmen. 406 Das eigentlich maßgebliche Anknüpfungsmoment – etwa die Anwendung des Kulturgüterschutzrechts des Ausfuhrstaates im Fall Nigerianische Masken – werde in diesem Fall im Sachrecht verborgen. 407 Die Differenzierung zwischen normativer Anwendung und faktischer Berücksichtigung überzeugt. Wenn sie auch in Grenzbereichen unscharf ist, 408 403
Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 357; Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 203; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 242; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 69 ff.; Freitag, IPRax 2009, 109, 115; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 201 f.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 186; Mankowski, IPRax 2016, 485, 490 f. 404 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 179; Weller, Grenze der Vertragstreue, 2013, S. 43 f. 405 Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 74; Schubert, RIW 1987, 729, 737 f.; Junker, JZ 1991, 699, 700; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 108; wohl auch Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 57; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 156; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 203 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 180. – Entscheidend sei hier der kollisionsrechtliche Abwägungsvorgang, mit dem das Für und Wider der Anwendung fremder Rechtsinhalte erwogen wird (Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 243; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 184 f.). 406 Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 200; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 243; Mankowski, RIW 1994, 688, 690 f.; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 107; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 54; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 204; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 184 f. – Dagegen v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 128 f., wonach § 138 BGB nur deutsche Rechtsgüter schütze. Sofern auf ein ausländisches Verbotsgesetz abgestellt werde, stehe demnach stets der Schutz eines „internationalisierten“ und damit auch deutschen Zwecks im Vordergrund. Eine größtenteils überzeugende Kritik dieser Ansicht findet sich bei Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 181 ff. 407 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 243; ähnl. Schiffer, Normen ausländischen „öffentlichen“ Rechts, 1990, S. 213. 408 So schafft ein nicht-norminduzierter, dauerhafter Zustand im Ausland ggf. selbst einen (gewohnheits-)rechtlichen Zustand (dies zeigt sich etwa am Institut der Selbstbindung der Verwaltung bei wiederholt vergleichbarem Ermessensgebrauch). Bereits Jellinek berichtet
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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lassen sich hierdurch funktional kollisionsrechtliche Erwägungen im Sachrecht zumeist praktikabel identifizieren. Sofern der Gehalt eines fremden Rechtssatzes im Rahmen eines materiellen Rechtsinstituts entscheidend ist, handelt es sich daher tatsächlich um eine kollisionsrechtliche Erwägung, welche durch das materiellrechtliche Gewand nicht verdeckt werden kann. Es wäre Selbstbetrug, einerseits die Berufung drittstaatlichen Öffentlichen Rechts aufgrund des Einseitigkeitsdogmas pauschal zu verdammen, um dann andererseits eine materiellrechtliche Heranziehung zu befürworten. Damit handelt es sich bei der materiellrechtlichen „Berücksichtigung“ nur in dem Fall nicht um funktional kollisionsrechtliche Erwägungen, wenn allein ein tatsächlicher Zustand im Ausland ausschlaggebend ist. IV. Ergebnis Damit können die oben erörterten Fälle der Heranziehung ausländischer öffentlich-rechtlicher Rechtsinhalte auch nicht allesamt als „materielle“ Berücksichtigung eingeordnet werden. Es handelt sich ganz im Gegenteil zumeist um die „Berücksichtigung“ des normativen Gehalts fremden Öffentlichen Rechts und damit um eine kollisionsrechtliche Operation. 409
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
Wenn also die „materielle“ Berücksichtigung ausländischen Öffentlichen Rechts im Regelfall eine kollisionsrechtliche Fremdrechtsberufung darstellt, kann bereits jetzt gesagt werden, dass das Einseitigkeitsdogma keinen Bestand mehr haben kann. Es würde keinen Sinn machen, im offenen Konflikt mit der Rechtswirklichkeit die Berufbarkeit fremden Öffentlichen Rechts abzulehnen.
von dieser „Normativen Kraft des Faktischen“ (Jellinek/Jellinek, Staatslehre, 3. Aufl. 1921, S. 337 ff.). Darüber hinaus schafft auch die Durchsetzung einer Norm einen faktischen Zustand (etwa wenn eine drittstaatliche Embargovorschrift zu einer tatsächlichen Behinderung der Ausfuhr durch den Zoll führt). Dies zeigt, dass der jellineksche Satz ebenso in seiner Umkehrung gilt: Auch dem Normativen wohnt eine faktische Kraft inne. Ein pauschaler Automatismus zwischen Faktizität und Normativität ist indessen abzulehnen (siehe hierzu ausf. Habermeier, Neue Wege, 1997, S. 301 ff.). 409 Die Einsicht in die Kollisionsrechtlichkeit jener Gedanken kann auch nicht mit dem Verweis angegriffen werden, es handele sich ausschließlich um materielle Festlegungen des räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs (siehe zu dieser Differenzierung im 4. Kapitel unter A.III.1. sowie ausf. zu dieser Frage Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 81 ff.).
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Eine Theorie muss als überholt gelten, wenn sie die Praxis nicht erklären kann. 410 Indessen ersetzt die reine Beobachtung der Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts nicht ihre solide dogmatische Fundierung. Denn es ist nur festgestellt, dass ausländisches Öffentliches Recht offensichtlich kollisionsrechtlich berufen wird. Warum ausländisches Öffentliches Recht berufbar ist und wann es berufen werden kann, ist weiterhin unklar. Die zentrale Frage ist also, aus welchem Grund das Einseitigkeitsdogma des IÖR anscheinend nicht (mehr?) tragfähig ist. Damit sind die einleitend erwähnten Grundannahmen über die Natur und Funktionsweise des IÖR näher zu betrachten, da diese das Fundament des Einseitigkeitsdogmas bilden. I. Staatsnähe und Staatsferne Die Grundlage des größten Teils jener Annahmen über die Natur des IÖR ist die Dichotomie von Staatsnähe und Staatsferne. 411 Im Kern geht es stets um die Vorstellung, dass sich das Öffentliche Recht durch seine intime Beziehung zur Sphäre des Staates auszeichne. Demgegenüber stehe das „klassische“ Privatrecht, welches den rein interindividuellen Interessenausgleich unabhängig von staatlicher Einwirkung regele. Im Rahmen dieser Vorstellungswelt werden Öffentliches Recht und Eingriffsnormen also als Recht des Staates eingeordnet, wohingegen Privatrecht das Recht der vom Staat zu trennenden Gesellschaft darstelle. Das Öffentliche Recht soll ferner als Recht des Staates „nicht austauschbar“ sein, weshalb eine Fremdrechtsberufung ausscheiden müsse. 412 Der Gedanke der besonderen Staatsnähe setzt sich auch in der Annahme fort, dass die Rechtsqualität des Öffentlichen Rechts als „verkörperte Staatsgewalt“ von seiner Anwendung durch den Erlassstaat abhängig und insofern eine Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts ausgeschlossen sei. Schließlich erklärt die Theorie von der besonderen Staatsnähe des Öffentlichen Rechts auch, weshalb Gesichtspunkte fremder und eigener Souveränität in diesem Kontext häufig besonders hervorgehoben werden. 410
So bereits Max Planck: „Der erste Anstoß zu einer Revision und Umbildung einer physikalischen Theorie geht fast immer aus von der Feststellung einer oder mehrerer Tatsachen, die in den bisherigen Rahmen der Theorie nicht hineinpassen. Die Tatsachen bilden stets den Archimedischen Punkt, von dem aus auch die gewichtigste Theorie aus den Angeln gehoben werden kann. Insofern ist für den Theoretiker nichts interessanter als eine Tatsache, die mit einer bisher allgemein anerkannten Theorie in direktem Widerspruch steht.“ (Planck, Wege zur physikalischen Erkenntnis, 2018, S. 48) – Ähnl. auch Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 48 ff.; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 133, welcher treffend bemerkt, dass an die Natur einer Sache anknüpfende, absolute Ansätze wie das Einseitigkeitsdogma stets Gefahr laufen, „in Konfrontation mit der Rechtswirklichkeit revidiert werden zu müssen“. 411 So auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 16 ff. 412 So auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 18.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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Im Folgenden soll es um diese zumeist stark miteinander verwobenen Ableitungen aus dem Gesichtspunkt der Staatsnähe des Öffentlichen Rechts gehen. Denn sie werden allesamt als Hindernisse für eine Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts ins Feld geführt und spielen schließlich in unterschiedlichen Ausformungen auch bei der Eingriffsnormdiskussion eine gewichtige Rolle. 1. Import fremder Staatsmacht und Verlust öffentlich-rechtlicher Rechtsqualität durch kollisionsrechtliche Berufung ausländischen Öffentlichen Rechts? Zunächst ist die Ansicht zu untersuchen, wonach die Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts bereits deshalb unmöglich sei, weil eine öffentlichrechtliche Bestimmung als „Verkörperung der Staatsgewalt“ nur bei der Anwendung durch den Erlassstaat ihre Eigenschaft als Öffentliches Recht wahren könne. 413 Ausführlich dargelegt wurde dieser Gedanke erstmals in der Habilitationsschrift von Klaus Vogel aus dem Jahre 1965: „Wenn deshalb gesagt wird, daß der Staat auf dem Gebiet des öffentlich-staatlichen Rechts nur jeweils sein „eigenes Recht“ anwende, so ist das nur ein anderer Ausdruck dafür, daß der Staat im Rahmen dieser öffentlich-rechtlichen Normen nur jeweils seine eigene Staatsgewalt zum Ausdruck zu bringen vermag und daß bei einer „Transplantation“ derartiger Normen auf einen anderen Staat auch der rechtliche Gehalt der betreffenden Normen notwendigerweise ein anderer werden muß, weil es eine andere Staatsgewalt ist, die sich im Rahmen dieser Normen nunmehr verwirklicht.“ 414
Damit geht es im Kern um die Annahme, dass die Berufung einer Norm des ausländischen Öffentlichen Rechts den Import fremder Staatsgewalt bedeuten soll, was wiederum als Konflikt mit dem völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip begriffen wird. Nach diesem herrscht nämlich auf dem heimischen Staatsgebiet nur die eigene Staatsgewalt 415, was das Wirken fremder Staatsgewalt ausschließt. Wer die Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts mit fremder Staatsgewalt gleichsetzt, muss damit zum Ergebnis kommen, dass fremdes Öffentliches Recht nicht anzuwenden ist. Sofern man – wie auch diese Arbeit – das Öffentliche Recht als Sonderrecht für Hoheitsträger begreift, erscheint die Gleichsetzung von Öffentlichem Recht
413 Vogel, Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 237; ähnl. Joerges, RabelsZ 43 (1979), 6, 36; Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte, 1992, S. 41; Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 122 f.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 6 & § 4, Rn. 57; ähnl. Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 58; Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 271; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 5, Rn. 42. Siehe hierzu auch: Peine, in: FS Martiny, 2014, S. 954. 414 Vogel, Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 237, Hervorhebung im Original. 415 Siehe hierzu die Nachw. unter D.I.1.b.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
und Staatsmacht im Ansatz noch durchaus nachvollziehbar. Es ist demgegenüber bei weitem kein zwingender Schluss, dass deshalb die Berufung ausländischen Öffentlichen Rechts den Import fremder Staatsmacht bedeutet. Diese Frage erfordert eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Wesen und der Rechtsfolge einer kollisionsrechtlichen Verweisung. a) Das autonome Kollisionsrecht Es entspricht der mittlerweile weitgehend herrschenden Ansicht, dass das Kollisionsrecht allein nach dem Willen des Forums gestaltet wird.416 Das Forum entscheidet selbst infolge freier Interessenabwägung oder frei gewählter Selbstbeschränkung 417 darüber, wann eigenes und wann fremdes Recht anzuwenden ist.418 Kahn als Vorreiter des Autonomismus fasste dies in prägnanter Weise zusammen: „Nicht ob die fremden Rechtsregeln herrschen wollen, haben wir zu untersuchen, sondern ob sie herrschen sollen.419
Fremdes Recht ist damit nicht aufgrund seines eigenen Anwendungswillens heranzuziehen, sondern infolge einer Kollisionsnorm des heimischen Gesetzgebers.420 Als Arbeitshypothese ist davon auszugehen, dass der Gesetzgeber erst recht im Bereich des scheinbar besonders souveränitätsschwangeren und „staatsnahen“ Öffentlichen Rechts das kollisionsrechtliche Letztentscheidungsrecht in der Hand behalten möchte. b) Die Veranschaulichung der Methodik des autonomen Kollisionsrechts mit besonderer Berücksichtigung der Gesamtnormverweisung Möchte man das Wesen des autonomen Kollisionsrechts näher erfassen, so lohnt es sich, eine Rechtsnorm in einen „imperativen“ und „rationalen“ Teil zu zerlegen.421 Das rationale Element beschreibt hierbei die zur sachgerechten
416
Für das heutige Bekenntnis zur Autonomie statt vieler: v. Hein, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Einl. IPR, Rn. 46 ff. 417 Hiermit ist etwa die staatsvertragliche Kollisionsrechtsvereinheitlichung oder die Anwendung unionalen Kollisionsrechts angesprochen. 418 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 289. 419 Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 129; ähnl. Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 22;. Bestätigend Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 91 ff., 129; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 78; Lorenz, RIW 1987, 569, 578; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 231; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 110. 420 Mankowski, RIW 1994, 688, 692; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 13; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 41. Die Gesamtnormverweisung wird sogleich ausf. problematisiert. 421 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 70 ff.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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Konfliktlösung erdachte „Rechtsidee“, 422 etwa das Schriftformerfordernis für bestimmte Verträge. Das imperative Element bezeichnet demgegenüber die staatliche Sollensanordnung, 423 also im obigen Beispiel den auf die Geltung des Schriftformerfordernisses bezogenen gesetzgeberischen Willen. Das imperative Element ist demnach der Wille zur Geltung einer Ratio gegenüber allen, die der Hoheitsgewalt des Erlassstaates unterworfen sind. 424 Erst die Kombination einer Ratio mit dem imperativen Element, d.h. der „Sollensvorstellung eines Souverän“, ergibt eine Rechtsnorm. 425 Daher sind im Rahmen dieses Rechtsnormbegriffs „transnationale“ Normen wie die lex mercatoria mangels eines imperativen Elements kein Recht. 426 Vielmehr handelt es sich um zunächst bezugslose Rationes. Dies ändert sich jedoch dann, wenn ein staatliches Gericht einen Schiedsspruch durchsetzt, welcher auf der Anwendung derartiger Rechtsnormen basiert. In diesem Moment werden die durchsetzungserheblichen Rationes des Schiedsspruchs mit einer Sollensanordnung für den Herrschaftsbereich des Forumstaates versehen.427 Da im Kollisionsrecht die Wahl und Berufung staatlichen Rechts deutlich im Vordergrund steht, 428 sollen die folgenden Erörterungen weitgehend hierauf beschränkt werden.
Der staatliche Wille zur Geltung des rationalen Elements – also der Imperativ – kann sich nur auf den Bereich beziehen, in dem der Staat Hoheitsmacht ausüben kann. 429 Damit ist das imperative Element auf den Geltungsbereich eines
422 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 134. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 70 definiert das rationale Element als die „aus Interessenbewertung hervorgegangene Wertung“. 423 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 70. 424 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 71. Es ist daher nicht zu verwechseln mit der „Imperativentheorie“, wonach jeder Rechtssatz als Verhaltensgebot oder -verbot lesbar sein soll (Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 74 ff.). 425 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 79 ff., 147 jeweils m.w.N. zur rechtstheoretischen Fundierung. – Dagegen Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 212 ff., welcher das Wesen des Rechts in seiner Bestimmung zur gerechten Regelung menschlichen Zusammenlebens sieht. Indessen kann auch eine an der gerechten Regelung menschlichen Zusammenlebens orientierte Bestimmung ihr Ziel nicht erreichen, wenn sie von einem organisierten Gemeinwesen (i.d.R. einem Staat) nicht für verbindlich und durchsetzbar erklärt wird. Die Tatsache, dass das fremde Recht im Geiste seiner Rechtsordnung ausgelegt werden müsse, führt zu keinem anderen Schluss (so aber Kropholler, a.a.O.), denn eine Auslegungsmaxime trifft keine Aussage über die Rechtsqualität der ausgelegten Bestimmung. 426 Zur strittigen Rechtsnatur der lex mercatoria: Martiny, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 3 Rom I-VO, Rn. 36 ff. 427 Ähnl. v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 2, Rn. 73 ff. Vorgreifend sei erwähnt, dass es sich hierbei um eine Synthese der transnationalen Rationes der lex mercatoria zu entsprechenden Rechtssätzen des Forums handelt (siehe zur damit angesprochenen Methode sogleich unter D.I.3.b.). 428 Siehe hierzu etwa Martiny, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 3 Rom I-VO, Rn. 28. 429 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 71; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 827.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Gesetzes bezogen. Dieser wird nach den anerkannten völkerrechtlichen Machtausübungsgrenzen als der Bereich beschrieben, in dem der Staat Gesetze als eigene erlässt (jurisdiction to prescribe), sie durch Gerichte anwendet (jurisdiction to adjudicate) und sie durch vollziehende Gewalt durchsetzt (jurisdiction to enforce).430 Demzufolge ist das imperative Element praktisch immer auf das Staatsgebiet beschränkt. 431 Im Rahmen dieser Rechtsnormstruktur ist das System des autonomen Kollisionsrechts wie folgt einzuordnen: Da wir selbst darüber entscheiden möchten, welche Rechtsnormen bei uns zur Anwendung kommen, beugen wir uns einem fremden Geltungswillen nicht. 432 Das Forum spricht vielmehr einen eigenen imperativen Befehl aus, der zum Gesolltsein der ausländischen Ratio im Forumsrecht führt. 433 Die Nichtbeachtlichkeit des fremden Imperativs ist insofern eine direkte Konsequenz der autonomen Kollisionsrechtsverfassung.434 Die bei uns zur Anwendung kommende ausländische Ratio ist daher von jeder Aussage über die Geltungsgrenzen fremder Hoheitsgewalt entkernt: Sie wird bei uns angewandt, was jedoch nicht zur Geltung der fremden Rechtsnorm als Fremdrecht führt.435 Mit anderen Worten: Wir ziehen nur die „Idee vom Gesollten“ und nicht ihr „rechtliches Gesolltsein“ heran. 436 Dies scheint durch die Gesamtnormverweisung in Frage gestellt zu werden. Da hier auch auf fremdes Kollisionsrecht verwiesen wird, entsteht der Eindruck, dass fremde Geltungsgrenzen im Sinne eines fremden Imperativs mitberufen werden. Bedeutet die Gesamtnormverweisung also doch die im autonomen System eigentlich ausgeschlossene Unterordnung unter einen fremden Geltungswillen? Bedeutet die Berücksichtigung fremder kollisionsrechtlicher Festlegungen ein Wirkenlassen fremder Staatsmacht? Dies erscheint bereits deshalb zweifelhaft, weil sich der Forumstaat auch im Falle der Gesamtnormverweisung unzweifelhaft eine Kontrolle anhand des ordre public oder eine Modifikation mithilfe der Anpassung vorbehält. Damit verbleibt auch hier das Letztentscheidungsrecht in den Händen des Forums. 437
430 Ipsen u. a., Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 5, Rn. 70; Lorenzmeier, Völkerrecht, 3. Auflage 2016, S. 67; v.Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, § 4, Rn. 346. 431 Ähnl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 72; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4 , Rn. 68, wonach nur hins. des Geltungsbereichs einer Norm der Territorialitätsbegriff seinen Platz habe (siehe zu diesem bereits unter A.I.). 432 Ähnl. Roth, in: FS Immenga, 2004, S. 342. 433 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 113. 434 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 71 f.; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 60. 435 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 71 f. sowie dort Fn. 103; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 185. Ähnl. Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 149 f. 436 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 136. 437 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 111.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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Außerdem wird das ausländische Recht auch bei der Gesamtnormverweisung nie in seinem vollen Umfang angewandt, vielmehr werden im Rahmen besonderer Anknüpfungen auch Rechtsinhalte anderer Rechtsordnungen herangezogen.438 Das fremde Kollisions- und Sachrecht gilt damit auch bei der Gesamtnormverweisung weiterhin nur in dem von uns gewollten, eingeschränkten Rahmen. Damit scheint der heimische Imperativ auch bei der Gesamtnormverweisung bestimmend zu bleiben. Dies kann durch eine weitergehende Sezierung des imperativen Elements erklärt werden. Denn es ist möglich, das imperative Element – d.h. die Aussage über den Geltungsbereich – gedanklich von der Aussage über den kollisionsrechtlichen Anwendungsbereich zu trennen. Dies lässt sich anhand des Falls der auslandsbezogenen Normsetzung illustrieren. Wenn ein Staat im Ausland belegene Sachverhalte durch eigenes Kollisionsrecht erfasst, führt dies nämlich nicht zu einer extraterritorialen Ausdehnung des Geltungsbereichs.439 Vielmehr wird hier nur der Anwendungsbereich auf Auslandstatbestände erstreckt, wohingegen der Geltungsbereich der Norm weiterhin dem eigenen Hoheitsgebiet entspricht. 440 Erfasst etwa deutsches Kartellrecht auch wettbewerbswidrige Absprachen in den USA, möchte der deutsche Staat hierdurch seine Hoheitsgewalt nicht auf US-amerikanisches Staatsgebiet ausdehnen. Die Folge einer intendierten Geltung deutschen Kartellrechts in den USA wäre absurd: Der deutsche Gesetzgeber würde sich anmaßen, dass nunmehr deutsches Recht als solches auf US-amerikanischem Boden vollzogen werden soll. Eine solche „Legalannexion“ wäre so undurchsetzbar wie völkerrechtswidrig, da hierdurch in fremde Gebietshoheit eingegriffen würde.441 Das eigene Recht gilt damit unabhängig von der Erfassung von Auslandssachverhalten weiterhin territorial, wohingegen nur der Anwendungsbereich über die Grenze geht. Sofern ein Staat mithilfe eines gebietsbezogenen („territorialen“) Anknüpfungsmoments die Reichweite eigenen Rechts auf das Inland beschränkt, mag dies als simultane Beschreibung 438
Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 111. – Die Entscheidung, überhaupt fremdes Kollisions- und Sachrecht anzuwenden, ist indessen kein Argument für die Autonomie des Kollisionsrechts, sondern für die Autonomie der Kollisionsgrundnormen (Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 73 ff., 91, Fn. 189). Siehe hierzu auch in Fn. 445. 439 Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 44 f.; Ipsen u. a., Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 5, Rn. 72. Ähnl. Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 74. 440 v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 68; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 44 f., 139 ff. m.w.N.; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 148 ff.; Behrens, in: Basedow u.a. (Hrsg.), 75 Jahre MPI, 2001, S. 392; Ipsen u. a., Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 5, Rn. 69 ff.; v.Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, § 4, Rn. 346; Stein/Buttlar/Kotzur, Völkerrecht, 14. Aufl. 2017, § 35, Rn. 601 ff. 441 Ähnl. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 45 f.; v.Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, § 4, Rn. 344; Stein/Buttlar/Kotzur, Völkerrecht, 14. Aufl. 2017, § 35, Rn. 601.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
des Geltungs- und Anwendungsbereichs einer Norm gelesen werden: 442 Wenn etwa nach Art. 43 Abs. 1 EGBGB festgelegt wird, dass heimisches Sachenrecht bei im Inland belegenen Sachen angewandt werden soll, entspricht dies zugleich dem auf das Inland beschränkten Geltungsbereich heimischen Sachenrechts.443 Dennoch sind auch hier der Anwendungsund Geltungsbereich funktional unterscheidbar.
Überträgt man dieses Modell auf die Gesamtnormverweisung, so lässt sich der Verweis auf das fremde Kollisionsrecht als Einbeziehung fremder Festlegungen über den Anwendungsbereich lesen. Sofern im Falle staatsgebietsbezogener Anknüpfungsmomente ein Gleichlauf zwischen Geltungsbereich und Anwendungsbereich bestehen sollte, wird nur die Aussage über den Anwendungsbereich berücksichtigt. Die durch den Geltungswillen verkörperte Inanspruchnahme staatlicher Regelungsmacht wird ignoriert. Dies zeigt das folgende Beispiel: Man nehme an, dass das Statut für eine in Ruritanien 444 belegene Sache ermittelt werden soll. Infolge des Art. 43 Abs. 1 i.V.m. Art. 4 Abs. 1 S.1 EGBGB wird hierzu im Wege der Gesamtnormverweisung auf ruritanisches Kollisions- und Sachrecht verwiesen. Wenn das ruritanische Kollisionsrecht nun die Verweisung annimmt, da es ebenfalls dem Grundsatz der lex rei sitae folgt, wird der Belegenheitssatz nur als Aussage über den Anwendungsbereich des ruritanischen Sachenrechts angewandt. Der hoheitliche Wille des ruritanischen Gesetzgebers, wonach in Ruritanien ruritanisches Sachenrecht gelten soll, tut nichts zur Sache. Der tiefere Grund, weshalb wir der ruritanischen Bestimmung über den Anwendungsbereich folgen, bleibt allein die autonome Inbezugnahme des ruritanischen Kollisions- und Sachrechts durch das deutsche IPR. Wir beugen uns nicht dem ruritanischen Geltungswillen, sondern entscheiden uns aus freien Stücken dazu, den ruritanischen Bestimmungen über den Anwendungsbereich des Sachenrechts zu folgen. Dies gilt ebenso bei einer Rück- und Weiterverweisung durch das fremde Kollisionsrecht. 445
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Ähnl. Ipsen u. a., Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 5, Rn. 71, welcher darauf verweist, dass Geltungs- und Anwendungsbereich zumeist kongruent sind. Ähnl., aber zu pauschal auch Trutmann, in: FS Heini, 1995, S. 472; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 112, 116, 135. – Ähnl. auch Mankowski, IPRax 1995, 230, 234, wonach Territorialität zunächst nur eine Kategorie des Geltungsbereichs ist und im Einzelnen aufgrund eines territorialen Anknüpfungsmoments auch eine Kategorie des Anwendungsbereichs sein kann. 443 Auch in diesem Fall bleiben Anwendungs- und Geltungsbereich jedoch funktional trennbar, s.u. 444 Das fiktive Königreich „Ruritanien“ geht auf mehrere Romane von Anthony Hope zurück. Im Rahmen kollisionsrechtlicher Erörterungen findet es sich u.a. bei Mann, in: FS Wahl, 1973, S. 139 ff. 445 Hier würde von der erstverwiesenen Rechtsordnung wiederum nur die von jeder Imperativität entkleidete Nichtanwendungs- und Weiterverweisungsaussage angewandt werden. Hierbei befindet man sich auf der Ebene der von Schurig entdeckten „Kollisionsgrundnormen“, die im autonomen System bei anerkannter Gesamtnormverweisung parallel zu den „eigentlichen“ Kollisionsnormen auch fremdes Kollisionsrecht berufen. Im Falle der Sach-
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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Der Grund für die Möglichkeit einer autonom-kollisionsrechtlichen Inbezugnahme eines fremden Anwendungsbereichs erklärt sich mit einer näheren Betrachtung der Unterschiede zwischen Ratio und Imperativ: Während die Ratio eine potentiell universelle „Rechtsidee“ ist, stellt erst das imperative Element den Bezug zu einem bestimmten Staat her. Der Imperativ ist damit nur relativ denkbar. Er trägt die Aussage in sich, dass eine Ratio innerhalb der Herrschaftsgrenzen eines bestimmten Staates gelten soll.446 Das rationale Element ist indessen unabhängig von einem bestimmten Staat formulierbar. 447 Diese universelle Formulierbarkeit ergibt sich bei näherem Hinsehen auch für die Bestimmungen des Anwendungsbereichs (d.h. der kollisionsrechtlichen Anknüpfungsmomente): Es geht um die Belegenheit, den gewöhnlichen Aufenthalt, die Staatsangehörigkeit usw. Ein kollisionsrechtliches Anknüpfungsmoment trägt damit keinen Bezug zu einem bestimmten Staat in sich. Dies gilt auch bei einseitigen Kollisionsnormen: Würde man etwa die sozialrechtliche Pflicht zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung einseitig für jede Beschäftigung in Deutschland anknüpfen, 448 besteht nur auf den ersten Blick ein Staatsbezug im Rahmen des rationalen Elements: Die Pflicht zur Beschäftigung behinderter Menschen für eine Tätigkeit im Inland ist ebenfalls ein universeller Rechtsgedanke, der grundsätzlich in jedem Gemeinwesen zur Geltungsverleihung mithilfe eines imperativen Elements geeignet ist. Freilich wird der Bezug auf das Inland bei der konkreten Anwendung der Kollisionsnorm durch den Bezug auf den Forumstaat oder der mittels Gesamtnormverweisung erfassten Rechtsordnung ersetzt: Bei der Anwendung einer forumseigenen Kollisionsnorm
normverweisung beruft dieses „Kollisionsrecht zweiter Potenz“ dagegen nur eigenes Kollisionsrecht (siehe hierzu Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 73; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 67; Schurig, in: FS Kegel, 1987, S. 562; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 50). Damit wird sichtbar, dass auch eine Kollisionsnorm in ein rationales und imperatives Element aufgespaltet werden kann. Die heimischen Kollisionsgrundnormen berufen das fremde Kollisionsrecht unter Ausschluss des fremden, imperativen Elements; ebenso wie auf der Ebene der regulären Kollisionsnormen das fremde Sachrecht unter Ausschluss des fremden, imperativen Elements berufen wird. 446 Ähnl. Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 147. 447 Freilich gibt es Rationes, die etwa aufgrund kultureller, wirtschaftlicher, geographischer oder politischer Eigenarten eines bestimmten Staates nur dort Sinn ergeben. Auch derartige Rationes bleiben jedoch als staatsunabhängiger Rechtsgedanke formulierbar, weshalb die Rezeption in einem anderen Gemeinwesen strukturell möglich bleibt, im Einzelfall jedoch sinnlos sein mag. Das imperative Element ist dagegen ohne den Bezug zu einem konkreten Staat schlicht nicht formulierbar. Verbietet etwa der US-Bundesstaat Wisconsin die Abgabe von Margarine an Gefängnisinsassen (Gesetz 97.18 (5) der Wisconsin Statutes, abrufbar unter ), so mag diese Ratio nur in Wisconsin Sinn ergeben. Sie bleibt jedoch als Rechtsidee auch durch einen fremden Staat rezipierbar. – Schließlich ergibt sich aufgrund der Universalität der Ratio und ihrer Unabhängigkeit von einem imperativen Element des Weiteren, dass grundsätzlich auch nichtstaatliches Recht wie die lex mercatoria ein berufbares rationales Element darstellt. Freilich kann sich das Forum gerade infolge der Autonomie auch dazu entscheiden, nur solche Rationes zu berufen, welche zuvor in Kombination mit dem Imperativ eines fremden Gemeinwesens als Auslandsrecht galten. 448 Siehe zur Anknüpfung dieses Falls als Eingriffsnorm: Deinert, RdA 2009, 144, 152.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
wird aus der inländischen Belegenheit die deutsche Belegenheit. Im Falle der Gesamtnormverweisung wird aus der inländischen Belegenheit die Belegenheit im verwiesenen Staat. Hier geht es jedoch um den Vorgang der Subsumtion – als ausfüllungsbedürftige Variable bleibt es bei der universellen Formulierbarkeit des inländischen Anknüpfungsmoments. Demgegenüber ist das imperative Element ohne konkreten Staatsbezug auch abstrakt nicht denkbar. Es hat keine universelle Form: Entweder ein Staat ordnet die Geltung einer Ratio in seinem Hoheitsgebiet an oder er tut es nicht. Hierdurch ergibt sich die Schlussfolgerung, dass der kollisionsrechtliche Anwendungsbereich aufgrund dessen potentieller Universalität dem rationalen Element angehört. Daher ist er durch das autonome Kollisionsrechtssystem berufbar. Zugleich wird umso deutlicher, weshalb auch die Berücksichtigung fremden Kollisionsrechts im Rahmen der Gesamtnormverweisung keine Erstreckung eines fremden Imperativs auf das Inland sein kann.
Damit bedeutet die autonome Gesamtnormverweisung nicht die Unterordnung unter eine fremde hoheitliche Machtäußerung, sondern schlicht die von jeder imperativen Aussage entkleidete, freiwillige Anwendung fremder Festlegungen über den Anwendungsbereich. Dies gilt freilich erst recht für die mittlerweile deutlich prominentere Sachnormverweisung, 449 da hier ohnehin nur der Sachnormteil der fremden Ratio ohne zugehörige kollisionsrechtliche Festsetzungen herangezogen wird. 450 Die Folge einer kollisionsrechtlichen Inbezugnahme fremder Rechtssätze ist damit der Verlust jeder fremden hoheitlichen Geltungsaussage. Dieses Ergebnis genügt für die mit dieser Arbeit verfolgten Zwecke. Dennoch sei darauf hingewiesen, dass man aufgrund der umfassenderen Wirkung der Gesamtnormverweisung mit gutem Grund an deren Vereinbarkeit mit dem deutschen Verfassungsrecht zweifeln kann. 451
449 Die Sachnormverweisung beruft fremdes Recht unter Ausschluss fremden Kollisionsrechts. Sie ist im europäischen IPR der Regelfall (siehe etwa Art. 20 Rom I-VO/24 Rom IIVO). Siehe hierzu auch Heinze, in: FS Kropholler, 2008, S. 115 ff.; Sonnenberger, in: FS Kropholler, 2008, S. 238; Leible, Rom I und Rom II, 2009, S. 52; v. Hein, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 3a EGBGB, Rn. 3 ff. 450 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 71 f.; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 60; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 113. 451 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 173 ff., 203, 215 ff., wonach die Gesamtnormverweisung bereits institutionell etwas völlig anderes sei als die Sachnormverweisung, da sie zu einer (verfassungswidrigen) Kompetenzdelegation auf einen fremden Souverän führe. Dieser Fall der „internationalen Organleihe“ sei jedoch auch nach Schinkels keine Hoheitsübertragung auf fremde Staaten (a.a.O. S. 215), sodass kein Widerspruch zur hier vertretenen Ansicht entsteht.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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c) Die Veranschaulichung der Methodik des Unilateralismus und des völkerrechtlichen Kollisionsrechts anhand der Rolle des imperativen Normelements Erst durch den Kontrast zu alternativen Kollisionsrechtssystemen wird deutlich, welche Bedeutung die Nichtberücksichtigung des imperativen Elements im autonomen Kollisionsrecht hat. Möchte man nämlich das Kollisionsrecht als völkerrechtliche Kompetenzzuweisungsordnung verstehen, ändert sich das Bild ganz erheblich. 452 In dem Fall würde den Staaten die Regelung des Geltungsbereichs komplett verwehrt, um diesen stattdessen auf überstaatlicher Ebene abzustecken. Eine über jene völkerrechtlichen Festlegungen hinausgehende Berufung eigenen und fremden Rechts durch nationales Kollisionsrecht wäre in diesem Modell ein unzulässiger Eingriff in eigene oder fremde Souveränität. 453 Die Regel von der lex rei sitae würde hierbei etwa auf völkerrechtlicher Ebene anordnen, dass sich der staatliche Geltungswille bezüglich eigenen Sachenrechts nur auf im Staatsgebiet belegene Sachen beziehen darf. Die Anwendung eigenen Familienrechts auf eigene Staatsangehörige wäre ein Ausfluss des völkerrechtlichen Personalitätsprinzips.454 Die Anwendung fremden Familienrechts auf im Inland befindliche ausländische Staatsangehörige wäre demgegenüber ein durch das völkerrechtliche Personalitätsprinzip gerechtfertigter Kniefall der eigenen Staatsmacht vor dem Geltungswillen eines fremden Staates. Das Kollisionsrecht wäre nichts anderes als besonderes Völkerrecht. Dieses Modell wird heute nicht mehr vertreten. 455 Es hat weder zu seiner Hochzeit im 19. Jahrhundert tatsächlich existiert noch ist es danach je praktisch geworden.456
452 Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 54 f. umschriebt dies als „Beurteilung aus der Vogelperspektive“. Siehe hierzu auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 122; Schubert, RIW 1987, 729, 739. 453 Dies wird besonders sichtbar bei Mancini, JDI (Clunet) 1874, 221, 228. Umgekehrt wird in diesem Modell die Nichtanwendung ausländischen Rechts trotz des Bestehens einer fremden „Kompetenz“ als unzulässig betrachtet (Struve, Ueber das positive Rechtsgesetz, 1834, S. 121, wonach die ausnahmslose Anwendung der lex fori sogar keine Rechtswirkungen haben soll). 454 Siehe zum völkerrechtlichen Personalitätsprinzip die Nachw. in Fn. 530. 455 So auch Schurig, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 58 m.w.N. Im neueren Schrifttum nur noch Bleckmann/Schmeinck/Schollmeier, Die völkerrechtlichen Grundlagen, 1992. 456 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 123; Siehr, in: FS Zajtay, 1982, S. 421; Schurig, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 58 m.w.N. Detaillierte Übersichten zum Streit zwischen „Nationalisten“ und Internationalisten finden sich bei: Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 96, 101, 106, 141; Niemeyer, Zur Methodik des IPR, 1894, S. 31; Habicht, IPR, 1907, S. 10; Beitzke, in: FS Smend, 1952, S. 9 f. – So wollte Savigny,
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Insbesondere die freie Bildung eigener kollisionsrechtlicher Kodifikationen im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts zeigt, dass die Staaten das Kollisionsrecht nicht als Wiederholung völkerrechtlich vorgegebener Leitprinzipien, sondern als selbstständig zu formulierende, nationale Rechtsmaterie betrachteten. Diese Ansicht wurde auch im Rahmen der 691. Sitzung der Ersten Kommission zum Allgemeinen Teil des BGB dokumentiert: „Die Annahme, daß die Materie einen Theil des Völkerrechts bilde oder doch in dasselbe eingreife und mit Rücksicht hierauf der Regelung durch den einzelnen Staat sich entziehe, sei nicht zu theilen.“457
Dennoch hält sich bis heute die Vorstellung, dass man trotz der nationalen Natur des Kollisionsrechts eigentlich eine überstaatlich-völkerrechtliche Aufgabe erfülle.458 Diese „kollisionsrechtliche Hierarchiepsychose“ 459 dringt an zahlreichen neuralgischen Punkten des Kollisionsrechts immer wieder hervor und stellt, wie sich zeigen wird, einen Hauptgrund für zahlreiche moderne Verwirrungen der Kollisionsrechtsdogmatik dar. Einen ähnlich indirekten Einfluss wie das völkerrechtliche Kollisionsrechtssystem übt bis heute der mit diesem verwandte und ebenfalls theoretisch gebliebene Unilateralismus aus. 460 Dieser betrachtet die Berufung fremden Rechts als unzulässigen Eingriff in fremde Souveränität, weshalb jeder Staat
System VIII, 1849, S. IV das IPR als „Gemeingut der gebildeten Nationen“, welche zueinander in einer „völkerrechtlichen Gemeinschaft“ stünden, verstehen (siehe auch a.a.O. S. 26 f.). Wie bereits erörtert, ordnete auch Mancini das Kollisionsrecht als Völkerrecht ein (siehe hierzu im 1. Kapitel unter B.II.). 457 Sitzung v. 09.09.1887, einl. Bemerkungen, abgedr. bei Hartwieg/Korkisch, Die geheimen Materialien zur Kodifikation des deutschen internationalen Privatrechts 1881–1896, 1973, S. 76. 458 Zu einiger Berühmtheit ist die diesbezügliche Aussage Wiethölters gelangt, wonach das IPR „national von Geblüt, international von Gemüt“ sei (Wiethölter, in: FS Kegel, 1977, S. 215). Ähnl. bereits Niemeyer, Das IPR des BGB, 1901, S. 50; Rabel, ZAIP 3 (1929), 752, 754; Burckhardt nach Zweigert, in: FS Raape, 1948, S. 40; ähnl. auch v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 1, Rn. 11 & § 3, Rn. 3 ff., wonach das IPR nach Völkerrecht „klinge“. Auch Mills möchte im IPR Elemente einer internationalen Zuständigkeitsordnung erkennen (Mills, The confluence of public and private international law, 2009, S. 298 ff.). – Siehe hierzu auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 66. 459 Siehr, in: FS Zajtay, 1982, S. 419. 460 Siehe zu den wenigen Vertretern des Unilateralismus: Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 322 ff. – Abzugrenzen vom Unilateralismus als System ist die in der englischen und französischen Sprache gebräuchliche Bezeichnung einer einseitigen Kollisionsnorm als „unilateralistisch“ (so etwa bei Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 90 Nr. 24; Hartley, Rec. d. Cours (Haye) 1997, 341, 347). Siehe hierzu auch Magnus/Mankowski, ZVglRWiss 103 (2004), 131, 133.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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nur einseitig festlegen dürfe, welchen Geltungsbereich er seinen Normen zubilligt.461 Die Anwendung fremden Rechts sei allenfalls nach den einseitigen Festlegungen des Fremdrechts vorzunehmen. 462 Da damit auch hier die Anwendung ausländischen Rechts mit dem Wirkenlassen fremder Staatsmacht identifiziert wird, rückt der Unilateralismus nah an das völkerrechtliche Kollisionsrecht heran.463 Auch der Unilateralismus ist nie in die Praxis umgesetzt worden.464 Damit zeigt sich, dass sowohl im unilateralistischen als auch im völkerrechtlichen System Kollisionsnormen generell mit einer Äußerung über den staatlichen Geltungsbereich gleichgesetzt werden. Die Anwendung eigenen und fremden Rechts wird mit dem Wirken eigener und fremder Staatsgewalt gleichgesetzt.465 Eine Unterscheidung zwischen Anwendungs- und Geltungsbereich kennen beide Systeme nicht. Dagegen bestimmt das autonome Kollisionsrecht nur den Anwendungsbereich eigenen Rechts und fremder Rationes 466. Es trifft keine Aussage zum eigenen oder fremden imperativen Element.467 Bei der Verweisung auf fremdes Recht wird der fremde Imperativ entweder gar nicht (bei der Sachnormverweisung) oder allenfalls als von jeder Geltungsanordnung entkleidete Aussage
461 Siehe hierzu Bucher, Grundfragen, 1975, S. 205 ff.; Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 9; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 109; v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 179; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 322 ff. 462 Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 102; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 29 ff.; ähnl. Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 45. Zur unilateralistischen Fremdrechtsberufung nach Maßgabe der fremden einseitigen Kollisionsnorm siehe auch die in Fn. 461 Genannten. Da der Unilateralismus nicht zwischen Geltungsbereich und Anwendungsbereich trennt, wäre die Anwendung ausländischen Rechts nach dessen einseitigen Festlegungen ein als zulässig erachtetes Wirkenlassen fremder Staatsmacht. – Auf der Ebene der „Kollisionsgrundnormen“ (siehe hierzu bereits Fn. 445) zeichnet sich ein unilateralistisches System durch eine „ungezielte“ Berufung fremder Kollisionsnormen jedes existierenden Staates aus, wohingegen die Kollisionsgrundnormen im autonomen System grundsätzlich parallel zur (Gesamtnorm-)Verweisung laufen (Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 76; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 67; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 51). 463 So auch Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 109; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 322 ff. 464 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 78. 465 In Ansätzen ähnl. v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 6, dies jedoch nur hinsichtlich der Anwendung von Privatrecht kritisierend. 466 Tatsächlich handelt es sich bei der Inbezugnahme fremder Rationes um die Synthese einer heimischen Rechtsnorm, siehe hierzu sogleich. 467 Wie besehen bleibt bei einer einseitigen Kollisionsnorm auch im Fall des oben erörterten Gleichlaufs von Anwendungs- und Geltungsbereich im Falle territorialer Anknüpfungsmomente die Aussage über den Anwendungsbereich stets isolierbar.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
über den fremden Anwendungsbereich herangezogen (bei der Gesamtnormverweisung). Hierdurch wird auch erkennbar, dass die Einordnung einer fremden Kollisionsnorm systemrelativ ist. Sofern sie nach der Vorstellung des fremden Staates eine Äußerung über den Geltungsbereich darstellen soll, verliert sie im Unilateralismus nicht ihren imperativen Charakter. Demgegenüber können fremde kollisionsrechtliche Festlegungen im autonomen System nur als Aussagen über den Anwendungsbereich herangezogen werden. Eine Berufung eines fremden Imperativs und die damit einhergehende Unterwerfung unter einen fremden Staatswillen ist damit nur im unilateralistischen System möglich, wohingegen dieselbe fremde Kollisionsnorm im autonomen System ausschließlich die freiwillige Befolgung einer fremden Festlegung des Anwendungsbereichs auslösen kann. Im völkerrechtlichen Modell sind nationale Äußerungen über den Geltungsbereich eigenen oder fremden Rechts schließlich schlicht ausgeschlossen. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass weder der Unilateralismus noch das völkerrechtliche Kollisionsrecht ernsthafte Alternativen zum Autonomismus darstellen. Abgesehen vom unangefochtenen status quo des autonomen Kollisionsrechtssystems sind beide Alternativmodelle von zahlreichen Nachteilen belastet, die andere Stimmen schon überzeugend dargetan haben. 468 d) Schlussfolgerungen und Überleitung Die nachgewiesene Nichtbeachtlichkeit des fremden imperativen Elements im heutigen Kollisionsrecht ermöglicht eine klare Sicht auf die Ausgangsfrage. Denn sie erlaubt eine genauere Einordnung der Behauptung, dass die kollisionsrechtliche Berufung ausländischen Öffentlichen Rechts den Import fremder Staatsmacht bzw. den Verlust öffentlich-rechtlicher Rechtsqualität zur Folge habe: Wer meint, dass die Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts zum Wirken fremder Staatsmacht im Inland führe, der geht offenbar davon aus, dass 468 Siehe zur fehlenden Überzeugungskraft des Unilateralismus ausf. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 288 ff. – Insbesondere zu den Gefahren des Normenmangels, der Normenhäufung und der fehlenden Praktikabilität des unilateralistischen Systems: Bucher, Grundfragen, 1975, S. 207; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 34; ausführlich Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 115 ff.; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 68; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 237; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 117 ff.; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 324; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 20; v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 179. – Zudem schränkt der Unilateralismus ohne Not die Bewegungsfreiheit ein, die ein autonomes System bietet (so auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 288 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 203 f. Ähnl. Schubert, RIW 1987, 729, 742). Insbesondere wird sich zeigen, dass Souveränitätsgesichtspunkte im autonomen System die Fremdrechtsberufung nicht berühren; damit fällt die entscheidende Prämisse des Unilateralismus weg (siehe hierzu sogleich unter 3.b.).
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das imperative Element im Falle der Fremdrechtsverweisung notwendig mitzuberufen sei. Auf der Grundlage der obigen Feststellungen wird indessen erkennbar, dass die Verknüpfung der Fremdrechtsberufung mit der Vorstellung des Imports fremder Staatsmacht im Widerspruch zur Systemlogik des autonomen Kollisionsrechts steht. Denn dieses möchte nie den imperativen Teil einer fremden Rechtsnorm einbeziehen. Nun könnte es aber so sein, dass das imperative Element im Falle des Öffentlichen Rechts so außerordentlich konstitutiv für dessen Rechtsqualität ist, dass die ausschließliche Heranziehung der fremden Ratio den fremden Rechtssatz dermaßen „zerreißt“, dass kein tauglicher Verweisungsgegenstand mehr vorliegt. Genau diese Vorstellung steht hinter der oben genannten These, wonach ausländisches Öffentliches Recht im Falle seiner Berufung die Rechtsqualität verliere. Es geht damit um die Annahme, dass das imperative Element einer öffentlich-rechtlichen Bestimmung nicht von seinem rationalen Element zu trennen und daher eine Fremdrechtsberufung ausgeschlossen sei. Hieraus erklärt sich auch das Bedürfnis vieler Autoren nach der Betonung der „Staatsferne“ bzw. „Vorstaatlichkeit“ des Privatrechts. Denn hiermit soll ausgesagt werden, dass nur das rationale Element des Privatrechts ohne die Verknüpfung mit dem Geltungswillen des Erlassstaates berufbar sei. Damit wird die Staatsferne zur Funktionsbedingung der Allseitigkeit. Ob dies zutreffend ist, wird im folgenden Abschnitt näher untersucht. e) Die These von der Vorstaatlichkeit des Privatrechts Es ist unschwer erkennbar, dass ein privatrechtliches rationales Element gedanklich von einem hierauf bezogenen Geltungswillen abtrennbar ist: So ist bspw. eine vertragliche Leistungspflicht oder eine Formschrift auch als reine „Rechtsidee“ ohne einen hierauf bezogenen Geltungswillen eines bestimmten Staates denkbar. Im Rahmen der oben skizzierten Normstruktur würde diese Ratio aber erst in Kombination mit ihrer staatlichen Gesolltheit Rechtsqualität erlangen, da hiernach erst der durch einen Staat geäußerte Wille zur Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit – also das imperative Element – einem rationalen Element seinen Rechtscharakter verleiht. Dies soll nun nach der Vorstaatlichkeitsthese anders sein: Demnach erhalte das Zivilrecht seine „eigentliche Legitimation“ durch die vom Staat unabhängige Gesellschaft. 469 Die staatliche Zivilgesetzgebung verschaffe dem Privatrecht nur einen weiteren Geltungsgrund. 470 Denn Zivilrecht sei kein Ausdruck 469 Vogel, Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 222 ff.; Wiethölter, in: Lauterbach (Hrsg.), Vorschläge und Gutachten zur Reform des dt. internat. Erbrechts, 1969, S. 142; Rehbinder, JZ 1973, 151, 153; Hoffmann, IPRax 1989, 261, 266; Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte, 1992, S. 25; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 6; Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 271. 470 Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 271.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
staatlicher Macht; vielmehr gehe es um „bloße Spielregeln“ der vom Staat emanzipierten Gesellschaft. 471 Erst die Vorstaatlichkeit des Privatrechts erlaube es, fremde Rechtsordnungen grundsätzlich als „gleichwertig“ zu betrachten, was wiederum die Funktionsbedingung der Allseitigkeit sei.472 Ebenso führe die Staatsferne des Privatrechts zu einem Desinteresse des Staates an den konkret zur Anwendung kommenden Normen, was ebenfalls der Grund für die Möglichkeit der Fremdrechtsanwendung sei.473 Damit baut die Vorstaatlichkeitsthese auf drei zentralen Säulen auf: Erstens soll das Zivilrecht auch ohne einen staatlichen Imperativ Rechtsqualität aufweisen. Zweitens soll erst diese staatsunabhängige Existenzfähigkeit privater Rechtssätze der Grund für die Möglichkeit der Fremdrechtsberufung schlechthin sein. Drittens soll im Umkehrschluss fremdes Öffentliches Recht deshalb nicht berufbar sein, weil dieses aufgrund seiner „Staatsnähe“ seinen Geltungsgrund nur aus dem staatlichen Imperativ ziehen könne und nicht aus einer etwaigen „vorstaatlichen“ Rechtsquelle. Die Berechtigung dieser Thesen ist im Folgenden näher zu betrachten. aa) Die Zweifelhaftigkeit des historischen Ansatzes der Vorstaatlichkeitsthese Die Vorstaatlichkeit des Privatrechts wird häufig damit begründet, dass Savigny das Zivilrecht einer vom Staat getrennten, „vorrechtlichen“ Sphäre zuordnen wolle. 474 Damit beruhe seine Privatrechtskonzeption zugleich auf der Vorstellung, dass dem Einzelnen eine vom Staat getrennte Freiheitssphäre einzuräumen sei, was das Zivilrecht wiederum von der staatlichen Rechtssetzung emanzipiere.475
471 Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 72. Ähnl. auch Vogel, Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 238, wonach der Staat nur im Öffentlichen Recht selbst „Partei“ sei. 472 Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 115; Wiethölter, in: Lauterbach (Hrsg.), Vorschläge und Gutachten zur Reform des dt. internat. Erbrechts, 1969, S. 142; Seif, RabelsZ 65 (2001), 492, 505; Pfeiffer, in: FS Geimer, 2002, S. 828; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 6 & § 4, Rn. 4; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 43. 473 Dies wird etwa bei Neumeyer sichtbar, wenn dieser die „Unstaatlichkeit“ des Privatrechts als Funktionsbedingung der Allseitigkeit bezeichnet (siehe bereits oben unter A.). Auch Vogel, Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 238 spricht von einer „Distanz“ des Staates zum Privatrecht aufgrund dessen „Vorstaatlichkeit“. Siehe hierzu auch Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 140. 474 Vogel, Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 217 ff.; Joerges, RabelsZ 36 (1972), 421, 467 f.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 67; ähnl. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 9. 475 Seif, RabelsZ 65 (2001), 492, 502 ff.; Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 71.
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Savigny selbst hat indessen nie explizit die Vorstaatlichkeit des Privatrechts behauptet.476 Es erscheint zwar plausibel, dass sein Privatrechtskonzept gewisse Anleihen bei den naturrechtlichen Begründungsansätzen der englischen Sozialphilosophie nimmt. 477 Ebenfalls zutreffend ist, dass Savigny das Dasein des Rechts im „gemeinsamen Volksgeist“ hervorhebt. 478 An anderer Stelle betont Savigny indessen gerade die Existenz von „Übergängen und Verwandtschaften“ zwischen dem Staats- und Privatrecht.479 Vor allem hebt er hervor, dass ein objektiver Bestand des Rechts nur im Staat möglich sei.480 Hierzu führt er in aller Klarheit aus: „Allein der Staat hat zugleich den mannichfaltigsten Einfluß auf das Privatrecht, und zwar zunächst auf die Realität des Daseins desselben. Denn in ihm zuerst erhält das Volk wahre Persönlichkeit, also die Fähigkeit zu handeln. Wenn wir also außer demselben dem Privatrecht nur ein unsichtbares Dasein, in übereinstimmenden Gefühlen, Gedanken und Sitten zuschreiben können, so erhält es im Staat, durch Aufstellung des Richteramtes, Leben und Wirklichkeit.“481
In auffälliger Parallele zur Unterscheidung zwischen dem imperativen und rationalen Element einer Rechtsnorm beschreibt Savigny hier die zentrale Rolle der staatlichen Inbezugnahme des ansonsten „unsichtbaren“ Daseins zivilrechtlicher Rechtsideen. Es fällt angesichts dessen schwer, von einer „Staatsferne“ der savignyschen Privatrechtskonzeption zu sprechen. Die These einer völlig vom Staat emanzipierten, quasi-naturrechtlichen Existenzfähigkeit des Privatrechts kann Savigny damit nicht unterstellt werden. 482
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So auch Bucher, Grundfragen, 1975, S. 11. Siehe hierzu Vogel, Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 219 f.; Joerges, RabelsZ 36 (1972), 421, 430 ff. m.w.N., wonach insbesondere Locke und Smith die naturrechtliche Herkunft des Schutzes der Marktbeziehungen betonten. Andererseits lasse das Privatrechtsverständnis Savignys auch Züge der kantschen Philosophie und des englischen Liberalismus erkennen, wonach die Marktgesellschaft von Staats wegen angestrebt werden soll (Joerges, a.a.O. S. 434). 478 Savigny, System I, 1840, S. 24. Siehe hierzu auch Zweigert, IPRax 1973, 435, 436; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 136; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 35. 479 Savigny, System I, 1840, S. 22. 480 Savigny, System I, 1840, S. 24. 481 Savigny, System I, 1840, S. 23. 482 So auch Bucher, Grundfragen, 1975, S. 11. Dagegen wohl Seif, RabelsZ 65 (2001), 492, 501. 477
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Zudem existierten bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert staatliche Eingriffe ins Wirtschaftsleben, etwa in Form von Vorschriften des Zoll-, Währungs- und Kartellrechts.483 Ein auf das Zivilrecht bezogener staatlicher Regelungswille war damit auch zu Savignys Zeiten nichts Unbekanntes. 484 Schließlich darf auch nicht vergessen werden, dass ein konservativer Aristokrat wie Savigny wohl kaum den liberalen Gedanken einer staatsfreien Individualsphäre ins Zentrum seiner Zivilrechtslehre stellen würde. 485 So mag zwar nach der gescheiterten deutschen Revolution die Vorstellung eines dem monarchischen Staat gegenüberstehenden Bürgertums zu jener Zeit einige Anziehungskraft gehabt haben. 486 Das savignysche Privatrechtsverständnis ist von einer „Staatsferne“ jedoch weit entfernt. bb) Wegfall der Vorstaatlichkeit in der Moderne Selbst wenn Savigny entgegen der obigen Feststellung von einem vorstaatlichen Privatrechtsverständnis ausgegangen sein sollte, wäre dies nur von historischer Bedeutung. 487 Der Verweis auf die angebliche Vorstaatlichkeit bei Savigny ersetzt noch nicht ihren Nachweis im modernen Privatrecht. 488 Gegen die Staatsferne des heutigen Zivilrechts sprechen jedoch einige gewichtige Argumente. Die Annahme eines „vorstaatlichen“ Privatrechts ist zunächst unvereinbar mit dem Prinzip der Volkssouveränität. Denn seitdem das Volk selbst die Staatsgewalt bildet, stellen Staat und Gesellschaft keine Antagonisten mehr dar.489 Vielmehr ist die staatliche Gewalt selbst auf die Gesellschaft (d.h. das Volk) zurückzuführen. 490
483 Joerges, RabelsZ 36 (1972), 421, 436; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 15 m.w.N. Weitere Einzelfälle staatlicher Eingriffstätigkeit zu jener Zeit diskutieren Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 1 (Börsengesetz und Versicherungsaufsicht) und v.Hein, AG 2001, 213, 221 (Gesellschaftsrecht). 484 Martinek, Das internationale Kartellprivatrecht, 1987, S. 35 spricht daher richtigerweise davon, dass es auch im 19. Jahrhundert bei der „Staatsferne“ des Privatrechts allenfalls um das Postulat eines idealisierten status negativus denn um die Beobachtung tatsächlicher Verhältnisse gehen konnte. 485 So auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 271 ff.; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 229; ähnl. Becker, Theorie und Praxis der Sonderanknüpfung, 1991, S. 62; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 60. 486 So auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 44, Fn. 206 m.w.N. 487 So auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 149. 488 Ähnl. Joerges, RabelsZ 36 (1972), 421, 424; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 202; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 90. 489 Rehbinder, JZ 1973, 151, 153 f.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 44. 490 Grzeszick, in: Maunz/Dürig-GG, 81. EL 2017, Art. 20 GG, Rn. 61 sowie Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, 81. EL 2017, Präambel, Rn. 41.
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Daneben ist es unübersehbar, dass der Gesetzgeber jedenfalls im heutigen Privatrecht nicht die Rolle eines „Nachtwächters“ 491 einnimmt, sondern sich als höchst aktiver Gestalter betätigt. 492 Dies wird nicht nur durch die Vielzahl einfachgesetzlicher Normen des Sonderprivatrechts deutlich, sondern auch durch die verfassungsrechtliche Kontrolle des Privatrechts 493. So zeigt insbesondere die grundrechtliche Kontrolle zivilrechtlicher Normen, dass dem Einzelnen keine vorpositivistisch-staatsfreie Freiheitssphäre gegeben ist, sondern dass der individuelle Freiheitsraum des Einzelnen selbst auf staatliche Gewolltheit zurückzuführen ist. 494 Nicht die Unterscheidung zwischen „staatsnahem“ Öffentlichen Recht oder „staatsfernem“ Privatrecht markiert damit die Trennlinie zwischen staatlicher Heteronomie und individueller Autonomie, sondern die durch Grundrechte verbürgten Freiheitsgrenzen. 495 Die Rückführbarkeit des bürgerlichen Freiheitsraums auf eine bewusste Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers zeigt damit plastisch, dass auch das Privatrecht nicht „staatsfern“ sein kann. Die Richtigkeit dieser Überlegung wird auch dadurch bezeugt, dass die verfassungsrechtliche Überprüfbarkeit des Kollisionsrechts in der Vergangenheit mit dem Verweis auf die „Unstaatlichkeit“ des IPR abgelehnt wurde. 496 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Vertreter der Vorstaatlichkeitsthese jene Normen, die einer Grundrechtsprüfung unterliegen, als „staatsnah“ betrachteten. Wer sich der heute völlig unbestrittenen Linie des BVerfG anschließen möchte, wonach das Privatrecht (und das IPR) wie jedes einfache Recht einer Verfassungsprüfung unterliegt, 497 müsste damit konsequenterweise auch die „Staatsnähe“ des Privatrechts anerkennen. Die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft hat damit mit der „Vergesellschaftung des Staates“ durch die Demokratie und der „Durchstaatlichung der Gesellschaft“498 durch die umfassende Verfassungskontrolle ihre Berechtigung verloren.
491 Der Begriff des Nachtwächterstaats beschreibt ein Modell, in dem der Staat nicht in das freie Spiel der Marktkräfte eingreift (Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 14; Müller/Sturm, Wirtschaftspolitik, 2010, S. 18, 26). 492 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 45 f.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 43. 493 Siehe hierzu ausf. im 6. Kapitel unter D.IV.1. 494 Ähnl. Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 37; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 44. Freilich mögen bei der Abfassung der Grundrechte auch vorpositivistisch-naturrechtliche Vorstellungen eine Rolle gespielt haben, ihr Geltungsgrund bleibt jedoch die Volkssouveränität und die hiervon abgeleitete staatliche Gewalt (Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, 81. EL 2017, Präambel, Rn. 41 ff.). 495 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 34. 496 Diese Ansicht diskutierte das BVerfG im Spanier-Fall: BVerfG, Urt. v. 04.05.1971 – 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58 = NJW 1971, 1509, 1510. 497 Siehe hierzu ausf. im 6. Kapitel unter D.IV.1. 498 Joerges, RabelsZ 36 (1972), 421, 467 f.
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Dennoch funktioniert die „savignysche“ Methode offensichtlich weiterhin ganz hervorragend,499 sodass die Vorstaatlichkeitsthese als Grundlage der Allseitigkeit auch durch die Rechtswirklichkeit widerlegt ist. cc) Der Irrtum von der Mitberufung des fremden Imperativs als stille Grundlage der Vorstaatlichkeitsthese Wie bereits erwähnt, möchte die Vorstaatlichkeitsthese die vermeintlich staatsunabhängige Existenzfähigkeit des Privatrechts als Grundlage der Fremdrechtsberufung schlechthin betrachten. Wenn damit die Vorstaatlichkeit zur Funktionsbedingung der Allseitigkeit gemacht wird, bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die Staatlichkeit des Rechts in diesem Modell die Fremdrechtsberufung ausschließen soll. Damit ist es die stille Grundlage der Vorstaatlichkeitsthese, dass die Berufung fremden „staatlichen“ Rechts zwangsläufig die Heranziehung des imperativen Elements, d.h. das Wirken fremder Staatsmacht, bedeute.500 Das Privatrecht hingegen soll seine Rechtsqualität nicht mit einem staatlichen Imperativ, sondern mithilfe eines quasi-naturrechtlichen, vorstaatlichen Imperativs erwerben.501 Da hierdurch das Privatrecht nicht als Emanation der Staatsgewalt verstanden wird, wird die Fremdrechtsanwendung auch nicht als vermeintlich souveränitätsrühriges Wirken fremder Staatsmacht aufgefasst. 502 Da die Vorstaatlichkeitsthese insofern nicht zwischen dem imperativen und rationalen Element trennt, bewegt sie sich in den Vorstellungswelten des unilateralistischen Systems, in welchem die Fremdrechtsberufung mit dem Import fremder Staatsmacht identifiziert wird. Wie bereits gezeigt wurde, ist diese Annahme in einem autonomen System jedoch fehl am Platz. 503 Hier wird das
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So auch Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 140; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 143 f. 500 Dies wird besonders bei den Vertretern der Vorstaatlichkeitsthese erkennbar, welche die völkerrechtliche Kontrolle auf das IÖR beschränken möchten: Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 346; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 65 f. 501 Da hiermit der Geltungswille des Rechts völlig von jedem organisierten Gemeinwesen abgekoppelt wird, ist die Perspektive der Vorstaatlichkeit äußerst zweifelhaft. Dieser Frage ist hier jedoch nicht weiter nachzugehen, denn der fremde staatliche Imperativ ist im autonomen System ohnehin kein Hindernis der Fremdrechtsberufung (siehe hierzu sogleich). 502 Dies wird besonders sichtbar bei v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 6, wonach sich das IPR infolge seiner Vorstaatlichkeit von den „Fesseln der Souveränität“ gelöst habe. Ähnl. Seif, RabelsZ 65 (2001), 492, 504, welcher betont, dass erst durch die Staatsferne des Zivilrechts eine Verletzung fremder Souveränität bei der „Bestimmung des Anwendungsbereichs“ fremden Rechts ausscheide. Siehe auch Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 9. 503 Siehe hierzu oben ausf. unter D.I.1.
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fremde imperative Element als solches bereits systembedingt ignoriert. 504 Damit bedarf es in einem autonomen System auch nicht der Behauptung der „Vorstaatlichkeit“ des Privatrechts, denn eine Einwirkung fremder Staatsmacht findet infolge der Nichtbeachtlichkeit des fremden Imperativs ohnehin nicht statt. Daneben finden sich in der Vorstaatlichkeitsthese auch Anleihen an ein völkerrechtliches Kollisionsrechtsverständnis: Wer Kollisionsrecht als überstaatliche Kompetenzverteilungsordnung versteht, der wird nur in der autonomen Berufung „vorstaatlichen“ Rechts keine unzulässige Anmaßung der Absteckung völkerrechtlicher Herrschaftsgrenzen sehen. Denn die Berufung „staatsnahen“ Rechts wäre in einem völkerrechtlichen IPR der unzulässige Versuch, einem fremden Staat seinen Geltungsbereich aufzuzeigen. Diese völkerrechtlichen und unilateralistischen Verknüpfungen der Vorstaatlichkeitsthese überraschen wenig, entstammt diese doch einer Zeit, in welcher der Streit zwischen Internationalisten und Nationalisten noch lange nicht ausgefochten war. 505 Wer sich aber mit der heute ganz herrschenden Meinung zum autonomen Kollisionsrecht bekennt, der bedarf der Vorstaatlichkeitsthese nicht mehr, da die Fremdrechtsanwendung hier ohnehin nicht das Wirken fremder Staatsmacht im Inland zur Folge hat. f) Die These von der Untrennbarkeit des imperativen und rationalen Elements im Öffentlichen Recht Wie besehen geht die Vorstaatlichkeitsthese von der Untrennbarkeit des imperativen und rationalen Elements des Öffentlichen Rechts aus: Das Element der Staatlichkeit soll hier im Gegensatz zum Privatrecht so bedeutsam sein, dass die Fremdrechtsberufung zum „Verlust der Rechtsqualität“ führe. Dies ist im Folgenden näher zu beleuchten. aa) Die Abtrennbarkeit der öffentlich-rechtlichen Ratio Ebenso wie im Falle des Zivilrechts ist auch ein öffentlich-rechtlicher Sollenssatz (die Ratio) unschwer von seiner staatlichen Geltungsanordnung (dem Imperativ) abtrennbar. So formuliert etwa eine Norm des Strafrechts Ge- und Verbote, welche als „Rechtsidee“ auch ohne ein hierauf bezogenes staatliches Gesolltsein denkbar sind. Es handelt sich hierbei ebenso um Verhaltensverbote zum Schutz bestimmter Rechtsgüter wie etwa die §§ 823 ff. BGB. Auch Genehmigungs- und Eingriffstatbestände des Verwaltungsrechts sind als unabhängige Sollenssätze unabhängig von einem hierauf bezogenen Imperativ 504
Wie ebenfalls oben gezeigt wurde, gilt dies auch im Fall der Gesamtverweisung, da hier nur die fremde Aussage über den Anwendungsbereich herangezogen wird (welche bei territorialen Anknüpfungsmomenten durchaus mit der Aussage des imperativen Elements gleichlaufen kann, jedoch weiterhin funktional trennbar bleibt). 505 Siehe hierzu bereits in Fn. 456.
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denkbar: So kann etwa die Genehmigungspflichtigkeit der Personenbeförderung mit Kraftfahrzeugen ebenso als abstrakte Rechtsidee formuliert werden wie eine Ratio des Zivilrechts. Indessen gilt auch hier, dass das rationale Element zunächst nur ein so unabhängiger wie unverbindlicher Gedanke ist. Erst der durch einen bestimmten Staat geäußerte Wille zur Verbindlichkeit und Durchsetzbarkeit – also das imperative Element – komplettiert ihn. 506 Auch dies ist jedoch keine Eigenheit des öffentlich-rechtlichen rationalen Elements: Rationes des Zivilrechts bilden gleichermaßen nur dann eine Rechtsnorm, wenn ein hierauf bezogener, staatlicher Geltungswille besteht. Denn auch das imperative Element des Zivilrechts zeichnet sich durch seine Staatlichkeit aus, da die Figur eines vorstaatlichen Imperativs wie besehen weder sinnvoll noch zur dogmatischen Begründung der Fremdrechtsverweisung nötig ist. 507 Eine Ratio des deutschen Zivilrechts weist damit ohne einen Geltungswillen des deutschen Gesetzgebers genauso wenig Rechtsqualität auf wie eine Ratio des deutschen Öffentlichen Rechts. Ebenso gestaltet sich die autonome Fremdrechtsverweisung: Auch hier wird die fremde Ratio isoliert herangezogen. Erst die Kombination mit einem heimischen Imperativ führt zur innerstaatlichen Geltung. Diese Methode ist wie besehen auch im Hinblick auf eine öffentlich-rechtliche Ratio zwanglos eröffnet. bb) Der zwingende Verlust der fremden Rechtsqualität infolge der Synthesewirkung des autonomen Kollisionsrechts Was bedeutet die isolierte Heranziehbarkeit einer fremden, öffentlich-rechtlichen Ratio nun für die Aussage, dass fremdes Öffentliches Recht durch die kollisionsrechtliche Berufung seine Rechtsqualität verlieren würde und hierdurch die Fremdrechtsverweisung ausgeschlossen sei? Die so kurze wie schockierende Antwort findet sich in der Habilitationsschrift von Schinkels: Eine ausländische Rechtsnorm verliert im autonomen System tatsächlich ihre Qualität als ausländisches Recht, da das fremde imperative Element in jedem Fall missachtet und durch den heimischen Geltungswillen ersetzt wird. Nur gilt dies nicht exklusiv für Öffentliches Recht, sondern gleichsam für jede – also auch zivilrechtliche – Norm des Fremdrechts, und zwar unabhängig von der Berufung mithilfe einer Sach- oder Gesamtnormverweisung. 508 Denn erst in Kom-
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Siehe hierzu bereits oben unter D.I.1.b. Siehe hierzu soeben unter D.I.2.c. 508 So auch Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 111, wonach bei der Gesamtnormverweisung im Gegensatz zur Sachnormverweisung zumindest eine kongruente Abbildung des Fremdrechts angestrebt wird, i.E. aber dennoch der heimische Anwendungsbefehl bestimmend bleibt. Ähnl., aber noch recht knapp auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 72. 507
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bination mit dem heimischen imperativen Element und der fremden Ratio entsteht ein verbindlicher Rechtssatz. Hierbei handelt es sich um eine Hybridnorm aus ausländischer Ratio 509 und heimischem Geltungswillen. Anders gewendet: Eine ausländische Rechtsnorm kann bei uns niemals als ausländische angewandt werden, denn ihr imperatives Element ist für uns unbeachtlich. Das Produkt der kollisionsrechtlichen Inbezugnahme existiert im Auslandsrecht nicht. 510 Die herrschende Vorstellung, dass ausländisches Recht „als Auslandsrecht“ anzuwenden sei, 511 ist damit inkompatibel mit der autonomen Methode. Es kann somit auch keine Voraussetzung der Fremdrechtsberufung sein, dass das fremde Recht seine Qualität als Auslandsrecht behält. Schinkels hebt infolgedessen mit so brutaler wie folgerichtiger Konsequenz hervor, dass ausländisches Recht aus Forumssicht gar kein Recht ist. 512 Diese Einsicht sollte nicht als nationaler Chauvinismus missverstanden werden. Eine abseits des Kollisionsrechts angesiedelte Anerkennung des Verbindlichkeitsanspruchs ausländischer Rechtsnormen in ihrem jeweiligen Geltungsbereich wird hierdurch freilich nicht ausgeschlossen; sie ist in einem modernen, international eingebundenen Staat vielmehr eine Selbstverständlichkeit. Der (potentielle) Gerechtigkeitsgehalt ausländischen Rechts wird im Übrigen ohnehin anerkannt, denn die Vermutung der Sachgerechtigkeit ausländischer Rationes ist gerade einer der Existenzgründe des Kollisionsrechts. 513 Die Aussage, dass ausländisches Recht aus heimischer Perspektive kein „Recht“ ist, sollte nur dahingehend verstanden werden, dass der Geltungsanspruch fremden Rechts bei uns als solcher keine Wirkung entfalten kann. Berücksichtigungsfähig ist nur die fremde Ratio, die allein in Kombination mit einem heimischen Imperativ Geltung erlangt.
Welcher Rechtsordnung gehört die aus fremder Ratio und heimischem Imperativ zusammengesetzte Hybridnorm nun an? Die Antwort ist klar: Wie oben gezeigt wurde, ist das rationale Element nämlich als potentiell universelle Rechtsidee ohne jeden Bezug zu einem bestimmten Staat denkbar. Erst die im
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Wozu nach dem unter D.I.1.b dargelegten Modell auch Bestimmungen des fremden Kollisionsrechts gehören. Denn diese sind angesichts ihrer potentiellen Universalität ebenfalls dem rationalen Element zuzuordnen. 510 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 112. 511 So bereits Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 27 f.; Rabel, The conflict of laws, 2. Aufl. 1958, S. 68 f. Siehe hierzu auch Heiz, Das fremde öffentliche Recht, 1959, S. 63; Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 341; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 26, 146 f.; Peine, in: FS Martiny, 2014, S. 955. Siehe auch Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 13 ff. m.w.N. Indessen ging es den Vertretern einer Rechtsanwendung „als ausländisches“ wohl ohnehin meist nicht um das hier vertretene, rechtsmethodische Modell, sondern zumeist um Qualifikationsperspektiven und Auslegungsgrundsätze. Die Maxime der Anwendung fremden Rechts im Geiste der Ursprungsrechtsordnung wird durch die Einsicht in die Nichtbeachtlichkeit des fremden Imperativs ohnehin nicht infrage gestellt. (siehe hierzu sogleich). 512 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 136. 513 Siehe hierzu außerdem unter D.II.3.c.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
imperativen Element verkörperte staatliche Gesolltheit der Ratio stellt den Bezug zu einem bestimmten Gemeinwesen her. Damit führt die Fremdrechtsverweisung einer heimischen Kollisionsnorm zwangsläufig zur Bildung neuer, auf fremden Rationes basierender Sachnormen des heimischen Rechts.514 Häufig wird die ausländische Ratio sogar zusätzlich noch inhaltlich modifiziert; etwa im Fall der Anpassung. 515 Bei mehreren in Bezug genommenen Rechtsordnungen entsteht des Weiteren allein durch diese Kumulation eine materielle Rechtsordnung, welche ein genuines Produkt des Forums darstellt. 516 Damit wird durch jede autonome Verweisung materielles Sonderrecht der lex fori geschaffen, was Schinkels treffend als Synthesefunktion der Fremdrechtsverweisung bezeichnet. 517 Auch die zivilprozessuale Sonderbehandlung fremden Rechts widerspricht nicht dem schinkelsschen Synthesemodell. So ist es zwar richtig, dass dem fremden Recht gem. § 293 ZPO die Sonderstellung einer dem Beweis zugänglichen Rechtsfrage eingeräumt wird.518 Sinn und Zweck dieser Regelung ist jedoch allein, die richterliche Verantwortung zur eigenständigen Rechtsermittlung dort einzuschränken, wo man eine Rechtskenntnis nicht mehr erwarten kann.519 Die Norm möchte nicht Stellung zu der Frage beziehen, in welcher Form fremdes Recht angewandt wird. 520 Die Einordnung der Fremdrechtsanwendung als Rechtsfrage erfolgt mit Blick auf die Abgrenzung zur Tatsache und der hiermit verbundenen beweisrechtlichen Sonderstellung; eine grundlegende Aussage zum Anwendungsmodus fremden Rechts gibt der Telos des § 293 ZPO dagegen nicht her. Mit anderen Worten: § 293 ZPO erlaubt es, Beweis über fremde Rationes zu erheben, ohne hierdurch die Synthesefunktion der Fremdrechtsverweisung in Frage zu stellen. 514 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 111 ff. In dessen Worten: „Maßgeblich ist also […] nicht die Herkunft der ratio – „Ordnungsfunktion“ – aus ausländischem Recht, sondern der diese aufnehmende Wille eines bestimmten Staates, weil erst die Vorstellung des Souveräns von der Gesolltheit der Ordnung die Rechtsnormqualität innerhalb der staatlichen Rechtsordnung konstituiert“. (a.a.O. S. 115) 515 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 137. Allg. zur Anpassung etwa Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 11, Rn. 26 ff. 516 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 111. 517 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 111. Der Gedanke, dass die kollisionsrechtliche Einbeziehung fremder Rechtssätze die Bildung forumseigenen Rechts zur Folge hat, findet sich bereits bei Dicey, Digest, 1908, S. 3 f. Letzterer schließt allerdings von der Rechtsanwendung durch englische Gerichte auf die Zugehörigkeit des Verweisungsergebnisses zum englischen Recht. – Welche Rechtsquelle das Syntheseergebnis einer durch europäisches Kollisionsrecht berufenen Ratio aufweist, wird im 6. Kapitel unter D.IV.4. angesprochen. 518 Prütting, in: MüKo-ZPO, 5. Aufl 2016, § 293 ZPO, Rn. 14. Die von einer Tatsachenfrage abweichende Behandlung zeigt sich insbesondere darin, dass ein non liquet im Bezug auf fremdes Recht nicht möglich ist; der Richter muss bei ausländischem Recht zu einer eindeutigen Rechtsauffassung gelangen (ausf. Prütting, a.a.O., Rn. 59 ff.). Zum rechtspraktischen Umgang mit § 293 ZPO: Stürner/Krauß, Ausländisches Recht in deutschen Zivilverfahren, 2018. 519 Prütting, in: MüKo-ZPO, 5. Aufl 2016, § 293 ZPO, Rn. 2 ff., 13. 520 Ebenfalls überzeugend mit dem anderen Telos argumentierend: Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 30 f.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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Ebenfalls kein Widerspruch zum Synthesemodell ist der Grundsatz von der Nichtrevisibilität fremden Rechts521. Gem. § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO ist eine Revision nur zuzulassen bei „grundsätzlicher Bedeutung“ (Nr. 1) oder wenn es „die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung“ (Nr. 2) erfordert. Hieraus ergibt sich das Prinzip, dass der BGH endgültig über ungeklärte Rechtsfragen entscheidet. 522 Dies ist im Falle unklarer Rechtsfragen des ausländischen Rechts aber ausgeschlossen. 523 Denn es kommt bei der Inbezugnahme fremder Rationes auf das „law in action“ an, nicht auf das „law in the books“524; die Fremdrechtsanwendung muss sich also nach der fremden Rechtswirklichkeit richten.525 Daher würden sich Instanzgerichte nicht auf die Rechtsansicht des BGH zur Auslegung fremder Rationes verlassen können, schließlich könnte sich die fremde Rechtslage jederzeit ändern. Die Nichtrevisibilität fremden Rechts erklärt sich also mit der nicht herbeiführbaren Endgültigkeit einer Entscheidung über fremde Rationes. Der Irrevisibilitätsgrundsatz gründet hingegen nicht nicht auf der gesetzgeberischen Vorstellung, fremdes Recht sei aufgrund seiner Anwendung „als ausländisches“ kein tauglicher Revisionsgegenstand. Ebensowenig stellt fremdes Recht infolge seiner Beweisbarkeit nach § 293 ZPO eine der Revision unzugängliche „Quasi-Tatsache“ dar.526 521
Obwohl die neue Fassung des § 545 ZPO die Revision nicht mehr ausdrücklich auf Bundes- oder Landesrecht beschränkt, gilt der Grundsatz von der Nichtrevisibilität ausländischen Rechts fort. Dies ergibt sich nicht nur aus dessen Telos, sondern auch aus der eindeutigen Gesetzgebungsgeschichte; außerdem wäre der § 560 ZPO ansonsten nutzlos, da es aufgrund der Revisibilität des gesamten inländischen Rechts keine nicht revisiblen Gesetze im Sinne dieser Norm gäbe (BGH, Urt. v. 04.07.2013 – V ZB 197/12, BGHZ 198, 14 = FGPrax 2013, 239, 240, Rn. 19 f.; Krüger, in: MüKo-ZPO, 5. Aufl 2016, § 545, Rn. 11; Roth, NJW 2014, 1224, 1225). 522 BGH, Urt. v. 04.07.2013 – V ZB 197/12, BGHZ 198, 14 = FGPrax 2013, 239, 241, Rn. 21. 523 BGH, Urt. v. 04.07.2013 – V ZB 197/12, BGHZ 198, 14 = FGPrax 2013, 239, 241, Rn. 21. 524 Die Begriffe entstammen einem Artikel von Pound, einem berühmten Vertreter des amerikanischen legal realism: Pound, Am.L.Rev. 44 (1910), 12. 525 Siehe zu dem Grundsatz der Anwendung im Geiste der fremden Rechtsordnung: v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 24; BGH, Urt. v. 04.07.2013 – V ZB 197/12, BGHZ 198, 14 = FGPrax 2013, 239, 241, Rn. 21. – Theoretisch möglich wäre im Synthesemodell auch eine Entnahme fremder Rationes ohne jede Berücksichtigung der ggf. vom Wortlaut der fremden Norm abweichenden Rechtswirklichkeit. In diesem Fall wäre die Revisibilität durchaus zu bejahen, da uns Änderungen der fremden Rechtspraxis nicht zu interessieren hätten. Die Verbindung des rationalen Elements zur Dynamik eines fremden Rechtssystems wäre gekappt, sodass der BGH endgültig über die Anwendung und Auslegung der synthetisierten Norm entscheiden könnte. Führt man jedoch das Kollisionsrecht auf die Annahme zurück, dass es in manchen Fällen schlicht gerechter ist, fremdes Recht anzuwenden (siehe zum Geltungsgrund des Kollisionsrechts ausf. in diesem Kapitel unter D.II.3.c.cc.), so kann diesem Auftrag nur durch eine möglichst vollständige Abbildung der fremden Rechtswirklichkeit in der übernommenen Ratio entsprochen werden. Es ist niemandem damit gedient, die fremde Rechtswirklichkeit weitergehend zu ignorieren, als dies ohnehin schon durch die Systemlogik des autonomen Kollisionsrechts vorgegeben wird. 526 Wie oben gezeigt wurde, geht es dem § 293 ZPO nicht um grundlegende Äußerungen zur Methode der Fremdrechtsanwendung, sondern allein um Einschränkungen des Grundsatzes „iura novit curia“.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Damit möchte auch der Grundsatz von der Irrevisibilität fremden Rechts keine Aussage zur Methode der Fremdrechtsanwendung treffen. Im Übrigen bleibt es auch im Synthesemodell dabei, dass fremdes Recht nicht revisibel ist. Die fremde Ratio ist aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer fremden Rechtswirklichkeit keiner endgültigen Entscheidung durch den BGH zugänglich, weshalb eine Revision des heimischen Syntheseergebnisses ausgeschlossen ist.
2. Zwischenergebnis Es wurde damit festgestellt, dass der Verlust der Rechtsqualität berufenen Fremdrechts infolge der Nichtbeachtlichkeit des fremden Imperativs eine so zwingende wie unproblematische Folge des autonomen Kollisionsrechtssystems ist. Da der im imperativen Element verkörperte Geltungswille eines fremden Staates ohnehin nie eine Rolle spielt, ist die Behauptung der „Vorstaatlichkeit“ des Zivilrechts zur Begründung der Allseitigkeit nicht notwendig. Die Vorstaatlichkeitsthese ist zudem historisch zweifelhaft und in einem demokratischen Staat unhaltbar. Da Rationes des Öffentlichen Rechts ebenso wie Rationes des Zivilrechts unabhängig von dem durch den fremden Imperativ verkörperten Geltungswillen eines bestimmten Staates herangezogen werden, kann die autonome Fremdrechtsberufung auch nicht zum Import fremder Staatsmacht führen. Wer die Fremdrechtsberufung als Wirkenlassen fremder Staatsmacht versteht, der trennt somit nicht zwischen Imperativ und Ratio und denkt demzufolge in überholten unilateralistisch-völkerrechtlichen Vorstellungswelten. 3. Völkerrecht und Kollisionsrecht War damit der Transfer völkerrechtlicher Perspektiven bisher stets als autonomiewidriger Irrweg abzulehnen, ist es von Interesse, inwiefern das Völkerrecht überhaupt durch die autonome Eigen- und Fremdrechtsanwendung berührt wird. a) Die Berufung eigenen Rechts und das genuine link-Erfordernis Zunächst sind die völkerrechtlichen Begrenzungen der Berufung eigenen Rechts zu untersuchen. Es wurde bereits gezeigt, dass die Erfassung auslandsbezogener Sachverhalte nur eine Erweiterung des Anwendungsbereichs darstellt, wohingegen der Geltungsbereich auf das Staatsgebiet beschränkt
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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bleibt.527 Da das Völkerrecht nicht auf die Regelung des Geltungsbereichs beschränkt ist, 528 kann freilich auch der Anwendungsbereich völkerrechtlichen Beschränkungen unterliegen. Als eine solche Begrenzung ist das völkerrechtliche Erfordernis eines Minimalkontakts zum Erlassstaat („genuine link“) zu lesen.529 Einen ausreichenden genuine link vermittelt etwa die Anknüpfung nach dem Personalitäts- oder (strittiger) Marktauswirkungsprinzip.530 Wenn etwa § 5 StGB für bestimmte im Ausland begangene Taten die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts für deutsche Staatsangehörige oder bei deutscher Marktbetroffenheit anordnet, ist dies also nur eine völkerrechtlich zulässige, „extraterritoriale“ Erstreckung des Anwendungsbereichs. Es geht nicht darum, durch eine Erstreckung des Geltungsbereichs eigenen Strafrechts die Ausübung staatlicher Strafgewalt im Ausland zu forcieren; vielmehr bleibt der Geltungsbereich auf das eigene Hoheitsgebiet beschränkt. Gleiches gilt im Zivilrecht, etwa
527 Siehe hierzu bereits unter D.I.1.b. Siehe auch Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 47. – Da infolge der Ablehnung der Vorstaatlichkeitsthese auch das Privatrecht von einem staatlichen Imperativ abhängt, entspricht auch der Geltungsbereich des Zivilrechts dem Hoheitsgebiet (Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 46; siehe zur Vorstaatlichkeitsthese bereits oben unter D.I.1.b.). 528 Vielmehr kann jegliches staatliches Handeln der Gegenstand des Völkerrechts sein (Schubert, RIW 1987, 729, 735; Kegel, in: FS Seidl-Hohenveldern, 1988, S. 277). 529 Dies wird deutlich bei Ipsen u. a., Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 5, Rn. 70 ff.; Stein/Buttlar/Kotzur, Völkerrecht, 14. Aufl. 2017, § 35, Rn. 604 ff. – Siehe zur kollisionsrechtlichen Diskussion des Lotus-Falls, anhand welchem die genuine link-Regel schwerpunktmäßig diskutiert wurde: Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 346; Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 105 ff.; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 112; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 236; Behrens, in: Basedow u.a. (Hrsg.), 75 Jahre MPI, 2001, S. 392. Der Lotus-Fall selbst formulierte nur die grundsätzliche Freiheit der Staaten, ihren Gesetzen auch einen extraterritorialen Anwendungsbereich beizumessen (v.Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, § 1, Rn. 40; Stein/Buttlar/Kotzur, Völkerrecht, 14. Aufl. 2017, § 35, Rn. 604 ff.). – Allg. zu den völkerrechtlichen Anknüpfungspunkten, welche einem „genuine link“ genügen sollen: Mankowski, IPRax 1995, 230, 234; Ipsen u. a., Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 5, Rn. 74; Stein/Buttlar/Kotzur, Völkerrecht, 14. Aufl. 2017, § 35, Rn. 606 ff. Dort auch zum Weltrechtsprinzip als Ausnahmetatbestand des genuine linkErfordernisses. – Fehlt es an einem „genuine link“, soll das Interventionsverbot verletzt sein (Ipsen, a.a.O.). Eine solche Rechtsfolge erfordert freilich, dass nicht nur die unzulässige Ausdehnung eigener Hoheitsgewalt auf fremde Staaten eine Verletzung des Interventionsverbots darstellen kann. Denn wenn darauf verwiesen wird, dass hierdurch gerade keine „extraterritoriale“ Erstreckung des Geltungsbereichs unternommen werden soll, stellt die auslandsbezogene Normsetzung auch keine Anmaßung eigener Hoheitsgewalt im Ausland dar. Daher ist die genuine link-Regel nur bei einem weitergehenden Verständnis des Interventionsbegriffs verständlich. 530 Zum Personalitätsprinzip: Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 44 f.; v.Arnauld, Völkerrecht, 3. Aufl. 2016, § 4, Rn. 347; Stein/Buttlar/Kotzur, Völkerrecht, 14. Aufl. 2017, § 35, Rn. 616 ff.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
wenn der deutsche Gesetzgeber mithilfe des Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB deutsches Eherecht für deutsche, im Ausland wohnhafte Staatsangehörige beruft. 531 Da territoriale Anknüpfungsmomente im Ergebnis erst recht einen genuine link zum normsetzenden Staat darstellen, 532 ist die Abgrenzung zwischen territorialen und nicht-territorialen Anknüpfungsmomenten für diese Frage nicht bedeutsam. Die Berufung eigenen Rechts in auslandsbezogenen Sachverhalten führt damit nicht zu einem Konflikt mit fremder Souveränität. Der Gegenstand der genuine link-Regel ist allein der vom staatlichen Geltungswillen zu unterscheidende, auslandsbezogene Anwendungsbereich. b) Die Berufung fremden Rechts und ihre völkerrechtlichen Begrenzungen Außerdem stellt sich die Frage, ob die autonome Fremdrechtsberufung völkerrechtlichen Begrenzungen unterliegt. Während sich im ausgehenden 19. Jahrhundert teilweise noch Stimmen fanden, welche auch die Berufung fremden Zivilrechts als Souveränitätsproblem auffassten, 533 werden derartige Bedenken heutzutage nur noch bei der Anwendung ausländischen Öffentlichen Rechts geäußert 534. Dieser Annahme kann
531
Fraglich ist, ob das genuine link-Erfordernis auch bei der auslandsbezogenen Erstreckung des Anwendungsbereichs zivilrechtlicher Normen eingreift. Einige Autoren möchten nämlich das genuine link-Kriterium auf das IÖR beschränken: Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 346; Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 105 ff.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 8 ff. & § 4, Rn. 65 f. Ähnl. Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 116 ff. (nur für lois d’application immédiate). Siehe auch Schurig, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 62; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 142. – Da wie besehen sowohl das Zivilrecht als auch das Öffentliche Recht von einem staatlichen Imperativ abhängt, ist eine Beschränkung des genuine link-Erfordernisses auf das IÖR jedenfalls nicht selbstverständlich. Sie ist indessen auch nicht ausgeschlossen, da auch das Völkerrecht die Differenzierung zwischen öffentlichem und privatem Handeln kennt. Da der genuine link ein äußerst vages Minimalerfordernis darstellt, wird es schließlich ohnehin nur selten relevant sein (so auch Stürner, NIPR 2011, 8, 11, Fn. 39). 532 Dies wird etwa erkennbar, wenn für die Enteignung von Mitgliedschaftsrechten an Gesellschaften der Gesellschaftssitz als ausreichender genuine link bezeichnet wird (Herdegen, ZGR 1991, 547, 570). 533 So etwa Schnell, ZIPS 5 (1895), 337, 340. v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 76 f. berichten davon, dass Bismarck das IPR als Völkerrecht einordnete und daher nicht dem BGB zuschlagen wollte. Die Erste Kommission zum Allgemeinen Teil des BGB teilte diese Ansicht nicht (siehe hierzu bereits oben unter D.I.1.c.). 534 Dies wird besonders deutlich bei Heiz, Das fremde öffentliche Recht, 1959, S. 52; Coing, WM-WuB IV 1981, 810, 813; Weber, in: FS Werner, 1984, S. 956; v.Hein, AG 2001, 213, 222; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 112. Die Verbindungslinie zwi-
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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entgegnet werden, dass die Berufung fremden Rechts infolge der Nichtbeachtlichkeit des fremden Imperativs jedenfalls nicht zu einem Wirken fremder Staatsmacht im Inland führen kann. 535 Ein Einräumen fremder Geltung auf heimischem Staatsgebiet wäre aus deutscher Perspektive zudem eine verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässige Übertragung von Hoheitsmacht auf einen fremden Souverän. 536 Die autonome Fremdrechtsverweisung erstreckt damit den Geltungsbereich der ausländischen Rechtsordnung nicht auf das heimische Staatsgebiet. Das Letztgenannte dürfte auch den Kern des Einwands von der „Territorialität“ Öffentlichen Rechts treffen, da hiermit zumeist im Sinne des völkerrechtlichen Territorialitätsprinzips die Beschränkung des (fremden) Geltungsbereichs auf das Staatsgebiet beschrieben werden soll.537 Infolge der falschen Annahme, die Fremdrechtsberufung würde ausländische Geltung bei uns zur Folge haben, wird die Fremdrechtsberufung als vermeintlicher Widerspruch zum völkerrechtlichen Territorialitätsprinzip abgelehnt. Damit wird fälschlicherweise von der (zutreffenden) Nichtdurchsetzbarkeit fremden Rechts als geltendes Auslandsrecht im Inland auf die Nichtanwendbarkeit ausländischer Rationes geschlossen. 538
Die Fremdrechtsverweisung nimmt nur die fremde Ratio in Bezug, weshalb keine Berührungspunkte zum fremden Imperativ – und damit der fremden Staatlichkeit – bestehen. Eine Verletzung eigener Souveränität ist somit bereits infolge des synthetisierenden Charakters des autonomen Kollisionsrechtssystems ausgeschlossen. Die Fremdrechtsverweisung verletzt schlussendlich auch keine fremde Souveränität. Es ist nämlich auch sichtbar geworden, dass die Berufung fremder Rationes keine Erstreckung eigener Staatsmacht auf fremdes Staatsgebiet bedeutet. Denn auch das heimische Syntheseergebnis soll nur innerhalb des eigenen Staatsgebiets Geltung erhalten. Damit ist auch der Imperativ der synthetisierten Rechtsnorm auf das eigene Hoheitsgebiet beschränkt. Ein Angriff auf fremde Souveränität ist also ein weiteres Mal mit dem Verweis auf die Systemlogik des Autonomismus abzulehnen. 539 schen der Anwendung fremden Öffentlichen Rechts und der Befürchtung von Souveränitätsverletzungen ist schließlich auch bei der Vorstaatlichkeitsthese bestimmend (siehe hierzu bereits oben unter D.I.1.e.). 535 Siehe hierzu bereits ausf. unter D.I.1. 536 Siehe hierzu ausf. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 141 ff. 537 Siehe hierzu bereits unter A.I sowie D.I.1.b. 538 Siehe hierzu etwa Schiffer, Normen ausländischen „öffentlichen“ Rechts, 1990, S. 75 f.; Mankowski, RIW 1994, 688, 691; Morscher, Staatliche Rechtssetzungsakte, 1992, S. 49. 539 Ähnl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 162; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 322; Stürner, NIPR 2011, 8, 9 f. – Nur in einem völkerrechtlichen oder unilateralistischen Kollisionsrechtssystem wäre die Anwendung fremden Rechts ein Souveränitätsproblem (so auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 91, Fn. 189 & S. 190, 289; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 114; Köhler, Eingriffsnormen, 2013,
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Damit ergibt sich, dass die Fremdrechtsverweisung nicht geeignet ist, eigene oder fremde Souveränität zu beeinträchtigen. 540 Auch darüber hinaus gibt es weder völkerrechtliche Pflichten noch besondere Schranken der Berufung fremden Rechts (im Gegensatz zur Eigenrechtsberufung, s.o.). 541 c) Der Schutz staatlicher Souveränität als verbindende Zielsetzung Mithin geht es sowohl bei der Eigen- als auch bei der Fremdrechtsberufung niemals um die Bestimmung eigener oder fremder Geltungsgrenzen. 542 Der Souveränitätsgrundsatz steht also nicht im Konflikt mit dem Kollisionsrecht. Dieses möchte sich nicht zum Richter unter Gleichen aufschwingen und die Grenzen staatlicher Hoheitsgewalt (d.h. des Geltungsbereichs) bestimmen. Ganz im Gegenteil: Der Souveränitätsgrundsatz ist kein Antagonist des Kollisionsrechts, sondern vielmehr dessen Grundlage; schließlich ist es gerade die Souveränität des Forums, welche die autonome Berufung ausländischer Rationes und die Absteckung des Anwendungsbereichs genuinen und synthetisierten Forumsrechts ermöglicht. 543 4. Exkurs: Die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Syntheseergebnisses Blicken wir zurück: Es wurde bereits gezeigt, dass im Falle der Eigenrechtsverweisung der heimische Anwendungsbereich durch einseitige Kollisionsnormen beschrieben wird. Schließlich wurde auch festgestellt, dass der Anwendungsbereich bei der Gesamtnormverweisung der fremden Ratio zu entnehmen ist.544 Damit bleibt allein die Frage offen, wie sich der Anwendungsbereich des Syntheseergebnisses im Falle der Sachnormverweisung bestimmt. Da hier gerade nicht auf das fremde Kollisionsrecht verwiesen wird, kann nur eine Quelle S. 203 f.). Es wurde bereits oben gezeigt, dass diese Systeme weder existieren noch sinnvoll sind. 540 So auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 190. 541 So auch: Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 76; Becker, Theorie und Praxis der Sonderanknüpfung, 1991, S. 56; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 113; ähnl. Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 77 f.; Stürner, NIPR 2011, 8, 10; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 258. – Insbesondere verpflichtet das Völkerrecht nicht dazu, ausländisches Recht bei einem bestehenden genuine link anzuwenden (so auch Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 70). 542 Der Gleichlauf eines territorialen Anknüpfungsmoments mit dem Geltungsbereich ändert wie besehen nichts an der funktionalen Trennbarkeit von Anwendungs- und Geltungsbereich (siehe hierzu unter D.I.1.c.). 543 Ähnl. Bucher, Grundfragen, 1975, S. 204; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 87; Stürner, NIPR 2011, 8, 10, Fn. 36; Ipsen u. a., Völkerrecht, 6. Aufl. 2014, § 5, Rn. 257. 544 Siehe zu beidem ausf. unter D.I.1.b.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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infrage kommen: Das Anknüpfungsmoment der heimischen Kollisionsnorm. Dieses beschreibt daher im Fall der Sachnormverweisung zugleich den Anwendungsbereich des Syntheseergebnisses. Im Fall der Gesamtnormverweisung indessen wird der Anwendungsbereich des Syntheseergebnisses wie besehen als Bestandteil der fremden Ratio mitberufen. Hierzu das folgende Beispiel: Man nehme an, dass vor einem deutschen Gericht zur Ermittlung des Arbeitsstatuts aufgrund eines in Kanada belegenen Arbeitsorts nach Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO kanadisches Arbeitsrecht im Wege einer Sachnormverweisung (vgl. Art. 20 Rom I-VO) berufen wird. Die synthetisierende Methode führt nun dazu, dass die von jedem kanadischen Imperativ entkleideten Rationes des gesamten545 kanadischen Arbeitsrechts exklusive der Bestimmungen über den Anwendungsbereich in Kombination mit einem deutschen imperativen Element zu materiellem deutschen (Sonder-)Arbeitsrecht zusammengefügt werden. Der Anwendungsbereich des Syntheseergebnisses wird schließlich durch das Anknüpfungsmoment des Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO festgelegt. Damit sind synthetisierte (deutsche) Rechtsnormen mit Rationes des kanadischen Arbeitsrechts – wenig überraschend – für kanadische Arbeitsorte anzuwenden. Würde es sich indessen bei den Verweisungen der Rom I-VO um Gesamtnormverweisungen handeln, wäre der Anwendungsbereich der synthetisierten Rechtsnorm als Teil der berufenen Ratio dem kanadischen Kollisionsrecht zu entnehmen. Schlussendlich sei nochmals wiederholt, dass das synthetisierte Recht seinen Geltungsbereich nur im deutschen Hoheitsgebiet hat. Das imperative Element wird hierbei nicht durch die heimische Verweisungsnorm bestimmt, sondern schlicht durch die Grenzen des deutschen Hoheitsgebiets.
5. „Wertneutralität“ und „Austauschbarkeit“ als Voraussetzung der Allseitigkeit? Eine weitere Ableitung aus dem Gesichtspunkt der Staatsferne des Zivilrechts ist die Vorstellung, dass die „Wertneutralität“ des Privatrechts zum staatlichen Desinteresse an dieser Materie führe, was wiederum erst die „Austauschbarkeit“ als Funktionsbedingung der Allseitigkeit bedinge. 546 Besonders „materialisiertes“ Recht wie Eingriffsnormen oder Öffentliches Recht sollen dieser Voraussetzung nicht genügen und seien daher von einer allseitigen Behandlung ausgenommen. Nun wurde die Vorstaatlichkeitsthese zwar schon abgelehnt; da die Vorstellung einer besonderen „Wertneutralität“ oder „Austauschbarkeit“ des Zivilrechts jedoch auch ohne Zusammenhang zur Vorstaatlichkeitsthese behauptet
545 An dieser Stelle darf schon vorweggenommen werden, dass die Berufung ausländischen Öffentlichen (Arbeits-)Rechts keine besonderen kollisionsrechtsmethodischen Probleme bereiten wird. Sofern Art. 8 Abs. 2 Rom I-VO nach seiner kollisionsrechtlichen Interessenlage auch Öffentliches Arbeitsrecht aufnehmen möchte, ist dies somit unproblematisch möglich. 546 Siehe hierzu bereits unter D.I.1.e. Diese Verbindungslinie hebt außerdem Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 18 f. hervor.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
wird, bedarf es dennoch eines kurzen Blicks auf die Bedeutung und Berechtigung dieser Annahmen. a) Die „Austauschbarkeit“ des Zivilrechts Sowohl von der Eingriffsnorm als auch von Öffentlichem Recht wird teilweise behauptet, dass eine allseitige Behandlung mangels „Austauschbarkeit“, „Fungibilität“ oder „Gleichwertigkeit“ nicht möglich sei. 547 So schlagwortartig wie der Gebrauch dieser Begrifflichkeiten ist, so vernebelt ist auch deren konkreter Bedeutungsgehalt. Um eine Austauschbarkeit der Rechtsanwendungsergebnisse kann es jedenfalls nicht gehen. Man kann wohl kaum von einer „Austauschbarkeit“ fremden und eigenen Zivilrechts sprechen, wenn eine eigene Sachnorm ein bestimmtes Verhalten verbietet und eine fremde Norm dasselbe Verhalten erlaubt.548 Wahrscheinlicher erscheint es, dass „Austauschbarkeit“ oder „Gleichwertigkeit“ häufig schlicht als Synonym der Allseitigkeit gebraucht wird. 549 Denn der Staat beruft im Falle vollkommener Allseitigkeit in- und ausländisches Recht nach einem identischen Anknüpfungsmoment. Diese kollisionsrechtliche Gleichbehandlung mag man mit „Gleichwertigkeit“, „Austauschbarkeit“ oder auch „Neutralität“ 550 beschreiben. Ein zusätzlicher Bedeutungsgehalt gegenüber der Allseitigkeit besteht bei diesem Begriffsverständnis jedoch nicht. Insbesondere ist nichts zu der hier interessierenden Frage gesagt, weshalb in „materialisierten“ Rechtsbereichen eine allseitige Behandlung ausgeschlossen sein soll. Möglicherweise soll der Aspekt der „Austauschbarkeit“ auch die Vorstellung ausdrücken, dass zivilrechtliche Normen unabhängig von ihrem Erlassstaat existenzfähig seien. Dies entspricht jedoch der Vorstaatlichkeitsthese, welche bereits zurückgewiesen wurde. Auch Rationes des Zivilrechts bedürfen zu ihrer Verbindlichkeit eines staatlichen Imperativs. 547 Bzgl. Eingriffsnormen: Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 170; Schubert, RIW 1987, 729, 730; Basedow, RabelsZ 52 (1988), 8, 37 f.; Drobnig, RabelsZ 52 (1988), 1, 1 ff.: Mankowski, RIW 1993, 453, 461; v.Hein, AG 2001, 213, 220; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 172. – Bzgl. Öffentlichen Rechts: Schubert, RIW 1987, 729, 743 m.w.N.; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 136; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 5, Rn. 42. – Ähnl. bzgl. „politischer“ Normen: Kropholler, RabelsZ 42 (1978), 634, 659; Epe, Funktion des Ordre public, 1983, S. 37 ff. 548 Ähnl. Schubert, RIW 1987, 729, 743; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 142. 549 So wohl bei Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 270; Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 170; wohl auch Kühne, in: FS Heldrich, 2005, S. 826; Weller, IPRax 2011, 429, 430; wohl auch Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 261. – Dies scheint auch Savigny gemeint zu haben, wenn er von der „gegenseitigen Gleichstellung in der Behandlung der Kollision“ spricht (Savigny, System VIII, 1849, S. 29). 550 So wohl Weller, IPRax 2011, 429, 430.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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In eine ähnliche Richtung geht die Annahme, dass Allseitigkeit nur bei international verbreiteten, normunabhängigen „Sachverhalten“ möglich sei. Dies entspricht der im nächsten Abschnitt ausführlich zu erörternden Vorstellung, wonach die „Fragestellung vom Sachverhalt“ die Funktionsbedingung der Allseitigkeit darstellen soll. 551 Des Weiteren könnte die „Austauschbarkeit“ die zutreffende Erkenntnis bezeichnen, dass das rationale Element des Zivilrechts eine potentiell universelle „Rechtsidee“ ist, welche theoretisch von jedem Staat der Welt mit einem Geltungswillen versehen werden kann. 552 Indessen wurde oben gezeigt, dass ebenso Rationes des Öffentlichen Rechts gedanklich von der staatlichen Gesolltheit abtrennbar sind. Damit ist die „Austauschbarkeit“ des rationalen Elements keine Besonderheit des Zivilrechts. Erst recht kann „Austauschbarkeit“ nicht bedeuten, dass es dem Staat schlicht egal sei, welche Zivilrechtsordnung herangezogen wird. 553 Die Existenz kollisionsrechtlicher Rechtssätze an sich ist nur eines von vielen, sogleich näher zu erörtenden Zeugnissen des gewichtigen staatlichen Interesses an einer Regelung des Anwendungsbereichs fremden und eigenen Zivilrechts. 554 Schurig hat daher Recht, wenn er die Austauschbarkeit des Privatrechts als „Schimäre“ bezeichnet. 555 b) Die „Wertfreiheit“ des IPR Auch die vermeintliche „Wertfreiheit“ des IPR wird häufig als Grundlage der Allseitigkeit behauptet. Sie führe dazu, dass besonders „wertdurchdrungene“ Normen wie Öffentliches Recht oder Eingriffsnormen nicht berufen werden könnten. 556 Auch hier ist aufgrund des schlagwortartigen Gebrauchs nicht sofort klar, welcher Gedanke gemeint ist und inwiefern eine starke „Wertprägung“ ein Hindernis für die Fremdrechtsberufung darstellen soll. 551
Siehe hierzu ausf. unter D.II.1. Siehe zur Universalität des rationalen Elements bereits unter D.I.1.b. 553 So auch Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 230; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 149; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 142. – Die Position eines dem Privatrecht gegenüber „indifferenten“ bzw. „desinteressierten“ Staats behaupten: Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte, 1992, S. 25 f.; Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 72. Ähnl. Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 37. 554 Die Ansicht vom „Desinteresse“ des Staates am berufenen Recht lässt sich daher nur durch ein quasi-völkerrechtliches Verständnis des Kollisionsrechts erklären, da hier der Staat gar nicht als zur Regelung des Kollisionsrechts berufen erachtet wird (so auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 190; siehe außerdem unter D.I.1.c.). 555 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 230, 247. Ähnl. schon Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 276. 556 Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 170; Rehbinder, JZ 1973, 151; Mann, in: FS Beitzke, 1979, S. 620. Siehe auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 62. 552
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Sofern es um ein Verständnis des IPR als „mechanisch-formalistische“ Zuständigkeitsordnung gehen soll, ist dies jedenfalls dann abzulehnen, wenn hiermit ein völkerrechtliches Kompetenzverteilungssystem („super law“ 557) gemeint ist.558 Sofern mit der „Wertneutralität“ umschrieben wird, dass die kollisionsrechtliche Entscheidung nicht durch eine freie Abwägung der im konkreten Einzelfall in Frage kommenden Sachnormzwecke erfolgt, 559 so ist dies völlig richtig. Die Anwendungsentscheidung wird nicht nach dem Vorbild US-amerikanischer Reformideen mittels eines einzelfallabhängigen „policy weighing“ getroffen, sondern mithilfe einzelfallunabhängiger Kollisionsnormen. Diese Einsicht in die abstrakt-generelle Natur des Kollisionsrechts trifft jedoch keine Aussage bezüglich der Berufbarkeit ausländischen (Öffentlichen) Rechts. Ebenfalls eine Folge des abstrakt-generellen Charakters des IPR ist dessen grundsätzliche Neutralität gegenüber dem konkreten materiellen Ergebnis der Fremdrechtsanwendung:560 Es ist richtig, dass es uns zunächst nicht interessiert, ob die berufene Rechtsnorm den konkreten Konflikt sachgerecht befriedigt.561 Diese Eigenschaft wird häufig auch als „Augenbinde Savignys“ beschrieben.562 Auch dies ist jedoch keine Eigenheit des IPR,563 sondern folgt schon aus dem rechtsanwendungsrechtlichen Charakter des Kollisionsrechts:
557 Der Begriff stammt von Ehrenzweig. Siehe hierzu Zweigert, IPRax 1973, 435, 439 m.w.N. 558 Siehe hierzu Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 417 m.w.N. Wie bereits unter D.I.1.c. gezeigt wurde, existiert ein Völkerrechts-IPR nicht. 559 Diese Verbindungslinie wird etwa bei Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 144 sichtbar. 560 So bereits Dölle, in: FS Raape, 1948, S. 152. Siehe auch Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 270; Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 77, wonach hierin die Wurzel der „gleichwertigen“ Behandlung aller Rechtsordnungen durch das IPR zu sehen sei sowie. ähnl. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 27 sowie Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 274, welcher diesen Aspekt gegenüber dem „policy weighing“ nach amerikanischem Vorbild abgrenzt. 561 Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 415; Rehbinder, JZ 1973, 151, 153. 562 Kropholler, RabelsZ 35 (1971), 337 weist darauf hin, dass die Bezeichnung durch den Niederländer Deelen in seinem Werk „De blinddoek van von Savigny“ geprägt wurde. Anders aber Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 274, wonach der Ausdruck bedeute, dass das IPR in seinen Verweisungen nicht auf die materielle Gerechtigkeit achte. Siehe zur „kollisionsrechtlichen“ Gerechtigkeit in Abgrenzung zur „materiellrechtlichen“ Gerechtigkeit ausf. unter D.II.3.b. Siehe hierzu außerdem unter D.II.3.a. sowie Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 22, 284. 563 So aber Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 71, wonach die Blindheit gegenüber den berufenen Sachnormen der liberalen Privatrechtsvorstellung des 19. Jahrhunderts entstamme. Siehe indessen oben zur Ablehnung der Vorstaatlichkeitsthese.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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Dieses beruft, entscheidet aber nicht. 564 Erst die berufenen Sachnormen formulieren eine materielle Lösung für den Einzelfall. 565 Eine Kontrolle des Anwendungsergebnisses würde nach der momentanen Kollisionsrechtsdogmatik schließlich erst durch den ordre public erfolgen. 566 Es ist daher nicht ohne weiteres erkennbar, weshalb nicht auch eine Kollisionsnorm des IÖR fremdes Recht zunächst ohne Ansehung des konkreten materiellen Anwendungsergebnisses berufen sollte. Somit ist die „Blindheit“ gegenüber den berufenen Sachnormen kein Hindernis eines allseitigen IÖR. Falls die „Wertneutralität“ des Weiteren die Annahme umschreiben soll, dass das IPR keinerlei übergeordnete Wertungen kenne, so trifft dies einen ähnlichen Punkt wie das behauptete „Desinteresse“ des Staates am Zivilrecht. Bereits die Ausrichtung des IPR an allgemeinen Maximen wie der Privatautonomie oder dem internationalen Entscheidungseinklang zeigt jedoch, dass auch das IPR übergeordnete Zweckrichtungen kennt. Auch hierauf wird im Verlauf dieses Kapitels noch näher eingegangen werden. c) „Materialisierung“ und Gemeinwohlbezug als Hindernis der Allseitigkeit Häufig zeigt sich auch, dass mithilfe des Gesichtspunkts der „Wertneutralität“ schlicht die vermeintliche Freiheit des IPR von staatlichen Zwecken beschrieben werden soll.567 „Materialisierte“ Normen mit starker staatlich-gemeinwohlorientierter Zwecksetzung sollen in dieser Vorstellungswelt einer allseitigen Behandlung unzugänglich sein. 568 Von einer „Wertneutralität“ kann hier freilich nicht mehr gesprochen werden; es handelt sich vielmehr um eine Beschränkung des berücksichtigungsfähigen Fremdrechts auf Normen im 564 Kegel, Probleme des internationalen Enteignungs- und Währungsrechts, 1956, S. 6; Rabel, The conflict of laws, 2. Aufl. 1958, S. 47 ff.; Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 153 ff.; Kegel, RabelsZ 30 (1966), 1, 5; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 40; Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 69; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 20, 97; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 55; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 360; Siehr, IPR, 2001, S. 398; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 53; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 15; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 103; v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 175. 565 Kegel, Probleme des internationalen Enteignungs- und Währungsrechts, 1956, S. 5; Rabel, The conflict of laws, 2. Aufl. 1958, S. 47 ff.; Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 69; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 361. 566 Siehe hierzu ausf. im 6. Kapitel, insb. unter A.II.2. 567 Dies wird etwa sichtbar bei Mann, in: FS Beitzke, 1979, S. 620. 568 So etwa Joerges, RabelsZ 36 (1972), 421, 475; ähnl. Rehbinder, JZ 1973, 151, 151; ähnl. auch Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 48 f.; Schwimann, in: Aicher, ABGB, 1983, vor § 1 IPRG, Rn. 2; Zimmer, in: Mélanges Fritz Sturm, 1999, S. 1716 ff.; Freitag/Leible, RIW 2001, 287, 291; Kühne, in: FS Heldrich, 2005, S. 825 f.; Maultzsch, RabelsZ 75 (2011), 60, 83; Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 257. – Siehe hierzu auch Erler, Grundprobleme, 1956, S. 32 ff.; Habermeier, Neue Wege, 1997, S. 219 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 52.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Bereich der Individualgerechtigkeit. Auch die „Materialisierung“ als Synonym für staatsnahe Zweckrichtungen ist eine irreführende Terminologie, da auch Zwecke der Individualgerechtigkeit im materiellen Recht zu finden sind.
Es ist nicht ersichtlich, weshalb staatlich-gemeinwohlorientierte Normen des Fremdrechts per se nicht berufbar sein sollen. Diese Annahme erschiene freilich dann verständlich, wenn man unter der Gleichsetzung von Gemeinwohlbezug und Staatlichkeit annähme, dass die Fremdrechtsberufung zum Import fremder Staatsmacht führt. Wie besehen, kann jedoch auch eine öffentlich-rechtliche Ratio unschwer als isolierte „Rechtsidee“ unter Nichtbeachtung des fremden imperativen Elements herangezogen werden. Damit wird die fremde Staatlichkeit ohnehin ignoriert. Möchte man also die Verfolgung von Gemeinwohlzwecken als Hindernis der Allseitigkeit betrachten, argumentiert man in den Bahnen der bereits widerlegten Ansicht, dass Öffentliches Recht aufgrund seiner „Staatsnähe“ nicht von seinem imperativen Element trennbar sei. 569 Auch die Verfolgung von Gemeinwohlzwecken innerhalb der fremden Ratio ändert nichts daran, dass diese im Rahmen der Synthese heimischen Rechts herangezogen werden kann. Würde man etwa den oben bereits angesprochenen Fall der sozialrechtlichen Leistungsaushilfe als kollisionsrechtliche Berufung fremden Sozialrechts verstehen, 570 so würde hierbei der ausländische Sozialleistungstatbestand als fremdes, durchaus gemeinwohlträchtiges, rationales Element in Bezug genommen. Gleiches gilt freilich für ausländisches Eingriffsrecht (etwa fremde Kartell- oder Ausfuhrverbote), deren kollisionsrechtliche Berufbarkeit sogar Gesetz geworden ist. 571 Damit können auch gemeinwohl- und staatsbezogene Rationes des Fremdrechts berufen werden. 6. Zwischenergebnis Mithin konnte festgestellt werden, dass die Dichotomie von Staatsnähe und Staatsferne kaum auf die Methodik des autonomen Kollisionsrechts ausstrahlt und daher auch kein Hindernis der Berufbarkeit fremden Öffentlichen Rechts darstellt. Denn nach einer tiefgehenden Analyse der autonomen Methode ist ersichtlich geworden, dass das Element fremder Staatlichkeit in Gestalt des imperativen Elements im Rahmen der Fremdrechtsberufung ohnehin keine Rolle spielt. Die herkömmlichen Bedenken gegenüber der Berufung fremden 569
Siehe hierzu bereits unter D.I.1.f. Siehe hierzu oben unter B.IV. 571 So erlaubt nicht nur die Eingriffsnormklausel des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO die Heranziehung ausl. Eingriffsrechts. Auch der Art. 6 Rom II-VO ermöglicht die Berufung fremden (zweifelsohne gemeinwohlbezogenen) ausl. Kartellrechts. Dass es sich bei Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO um eine echte kollisionsrechtliche Berufung handelt und nicht etwa um eine materielle „Berücksichtigung“, wurde bereits oben in Fn. 262 angesprochen. 570
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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Öffentlichen Rechts konnten in diesem Bereich häufig als systemwidrige Übertragungen völkerrechtlich-unilateralistischer Vorstellungswelten identifiziert werden. Da es damit im autonomen Kollisionsrecht nicht um die Absteckung staatlicher Hoheitsgewalt geht, ergeben sich auch keine völkerrechtlichen Grenzen bei der Heranziehung ausländischer Rationes. Somit liefert die konsequent autonome Kollisionsrechtsmethodik ein sinnvolles theoretisches Fundament der Berufung fremden Öffentlichen Rechts. Es sind hiermit jedoch noch nicht alle Säulen des Einseitigkeitsdogmas erschüttert. II. Fragestellung vom Gesetz vs. Fragestellung vom Sachverhalt Ein weiteres Hindernis für ein allseitiges IÖR soll nämlich auf der Ebene der kollisionsrechtlichen Fragestellung liegen. So ist seit langem anerkannt, dass man sich dem Kollisionsrecht entweder mit der Frage nähern kann, welche Sachverhalte vom Anwendungsbereich eines Gesetzes erfasst sein sollen, oder mit der Frage, welche Gesetze auf einen Sachverhalt anzuwenden sind.572 Zahlreiche Autoren sind hierbei bis heute der Ansicht, dass sich die kollisionsrechtliche Berufung von Öffentlichem Recht und Eingriffsnormen durch den „Ansatz bei der Sachnorm“ bzw. „beim Gesetz“ auszeichne, was wiederum zwingend zur Einseitigkeit führen müsse. 573 Denn bei dieser Methode werde den
572
Siehe hierzu etwa Bucher, Grundfragen, 1975, S. 4; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 240; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 29; Weller, IPRax 2011, 429, 431. 573 Für Öffentliches Recht: Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 45 ff., 117 (ohne pauschalen Ausschluss der Allseitigkeit des IÖR); Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 133; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 4; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 141, 150, (ebenfalls ohne völligen Ausschluss der Allseitigkeit); Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 5, Rn. 42. – Für Eingriffsnormen: Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 53, Fn. 47 (in Ansätzen); Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 116; Schnyder, Wirtschaftskollisionsrecht, 1990, S. 9 f. Rn. 9 f. Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 57 ff.; Junker, IPRax 2000, 65, 69 f.; Felke, RIW 2001, 30, 31; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 32; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 18 ff. (ohne pauschalen Ausschluss der Allseitigkeit); Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 75; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 5, Rn. 41. – Zum Ganzen auch Bucher, Grundfragen, 1975, S. 32; Weller, IPRax 2011, 429, 431.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
betreffenden Sachnormen selbst ihr Anwendungsbereich entnommen. 574 Dieser Ansatz wird in Anlehnung an die Statutenlehre häufig auch als „statutarisch“ bezeichnet. 575 Demgegenüber sollen die allseitigen Regelverweisungen des IPR „vom Sachverhalt her“ fragen. Hiermit gemeint sind der Tatsächlichkeit nahestehende „Lebensverhältnisse“ wie „die Ehe“ oder „das Erbe“. Hierdurch soll der kollisionsrechtliche Vorgang vom Anwendungsbereich der einzelnen Sachnorm abgelöst werden, was erst eine allseitige Formulierung ermögliche.576 Diesen Annahmen ist im Folgenden nachzugehen. 1. Die Verwandtschaft zur staatsfernen Privatrechtskonzeption Es zeigt sich, dass auch die Unterscheidung zwischen dem Ansatz „beim Gesetz“ und dem Ansatz „beim Sachverhalt“ häufig von der Vorstellung eines staatsfernen Privatrechts beeinflusst ist. 577 Teilweise wird nämlich „das Gesetz“ als potentiell souveränitätsrührige Emanation der Staatsgewalt begriffen, dem „der Sachverhalt“ als staatsfernes „Lebensverhältnis“ gegenüberstehe. 578 Sofern also der Ansatz am Sachverhalt mit dem Ansatz an einem „vorstaatlichen“ Zivilrecht identifiziert wird, kann dem mit einem knappen Verweis auf die obigen Ausführungen begegnet werden: Die Fremdrechtsberufung führt bereits aus Gründen der autonomen Systemlogik nicht zu einem Import fremder Staatsmacht, sodass die Betonung der (ohnehin abzulehnenden) „Vorstaatlichkeit“ des Zivilrechts weder notwendig noch sinnvoll ist. 579
574 Gamillscheg, AcP 157 (1958), 303, 307; Raape, IPR, 5. Aufl. 1961, S. 164; Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 140; Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 125, 142; Gamillscheg, RabelsZ 37 (1973), 284, 303 f.; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 240; Pfeiffer, in: FS Geimer, 2002, S. 824; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 41; Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 70; Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 131; Maultzsch, in: BeckOGKZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 2. Abweichend Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 407, wonach der „Ansatz beim Gesetz“ die Betrachtung der anwendbaren Sachnorm vor deren kollisionsrechtlicher Berufung bedeute. Dies kommt eher einem amerikanischen „policy weighing“ gleich (siehe hierzu bereits oben unter D.I.4.b.). 575 Beitzke, in: FS Smend, 1952, S. 4 ff.; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 10; Schnyder, Wirtschaftskollisionsrecht, 1990, S. 16, Rn. 17; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 19. 576 Siehe hierzu die in Fn. 573 Genannten. 577 Dies wird deutlich bei Joerges, RabelsZ 36 (1972), 421, 468; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 1, Rn. 12 & § 4, Rn. 4; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 41. 578 Dies wird deutlich bei Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 71. 579 Siehe hierzu ausf. unter D.I.1.
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2. Zur Entbehrlichkeit der internationalen Verbreitung des Anknüpfungsgegenstands Soweit es des Weiteren um die Annahme geht, wonach Allseitigkeit nur bei einer Anknüpfung an überall vorkommende, quasi-tatsächliche „Lebensverhältnisse“ möglich sei, 580 ist auch dies eine systemwidrige Vorstellung. Nur wenn das IPR als völkerrechtliche Kompetenzordnung Jurisdiktionen abstecken würde, bedürfte es zur internationalen Lesbarkeit eines solchen Systems Begriffe, die in jeder Rechtsordnung existieren. Dass das autonome Kollisionsrecht eine solche Funktion gerade nicht wahrnimmt, wurde oben ausführlich dargelegt.581 Infolge der autonomen Kollisionsrechtsverfassung entscheiden wir nach selbstgewählten Qualifikationskriterien, 582 ob ein fremdes Rechtsinstitut unseren Vorstellungen vom internationalprivatrechtlichen Begriff der „Ehe“ unterfällt. Ob auch das fremde Recht den verwendeten Systembegriff kennt oder eine Einordnung ebenso wie wir vornehmen würde, ist dabei unerheblich.583 Freilich erleichtert es die Qualifikation, wenn der verwendete Anknüpfungsgegenstand international verbreitet ist und die Qualifikationsmethode auch an rechtsvergleichenden Kriterien orientiert wird. 584 Die Betonung der Autonomie des Forums zur Wahl der Qualifikationsmethode darf auch nicht als ausschließliches Bekenntnis zur Qualifikation nach der lex fori missverstanden werden. Es ist gerade eine Folge des Autonomismus, dass das Forum die Qualifikation auch an der Teleologie des entsprechenden Rechtsinstituts im Fremdrecht ausrichten oder im Falle europäischen oder staatsvertraglichen Kollisionsrechts eine hieran angepasste („autonome“) Qualifikationsmethode wählen kann. 585 Der hier entscheidende Punkt ist allein, dass wir uns nicht daran binden müssen, ob das fremde Recht den bei uns verwendeten Systembegriff kennt, ob dieser international verbreitet ist oder ob das Fremdrecht eine Zuordnung ebenso vorgenommen hätte wie wir. So sind wir beispielsweise nicht daran gehindert, die islamische
580
So etwa v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 4, welcher die Unmöglichkeit eines allseitigen IÖR damit begründet, dass es keine „Vorschriften über den Erwerb der Staatsangehörigkeit schlechthin“ gebe, dafür aber überall Vorschriften über den Erwerb von Eigentum an Sachen. Ähnl. auch schon Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 115. 581 Siehe hierzu unter D.I.1. 582 Siehe zur Qualifikationsmethodik ausf. Lorenz, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Einl. IPR, Rn. 51 ff.; v. Hein, in: MüKo-BGB, 7. Aufl. 2018, Einl. IPR, Rn. 108 ff. 583 So bereits Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 70 ff. 584 Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 74 f.; Siehr, IPRax 1973, 466, 482; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 31 ff.; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 113; v. Hein, in: MüKo-BGB, 7. Aufl. 2018, Einl. IPR, Rn. 117. 585 Siehe zum funktional-teleologischen und autonomen Qualifikationsansatz: v. Hein, in: MüKo-BGB, 7. Aufl. 2018, Einl. IPR, Rn. 118 ff. Die zwingend autonome Qualifikation europäischen Kollisionsrechts ist wiederum eine Folge frei gewählter Selbstbeschränkung (hierzu bereits unter D.I.1.a.).
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Morgengabe trotz einer abweichenden Einordnung im Fremdrecht güterrechtlich zu qualifizieren.586 Ein als Anknüpfungsgegenstand verwendeter Systembegriff kann damit sogar ausschließlich im Forumsrecht bekannt sein und dennoch zur Berufung fremden Rechts führen.587
Es ist somit keine zwingende Voraussetzung der Allseitigkeit, dass der verwendete Systembegriff international anerkannt ist. 3. Das Verhältnis der Fragestellungen „am Gesetz“ und „am Sachverhalt“ im schurigschen Bündelungsmodell Sind damit einige potentielle Irrtümer ausgeräumt, ist weiter zu untersuchen, weshalb der „Ansatz am Gesetz“ nach Ansicht einiger Stimmen zwingend zur Einseitigkeit führen soll und welche Unterschiede hierbei zum „Ansatz beim Sachverhalt“ bestehen. Das Verhältnis der beiden Ansätze wird besonders plastisch im schurigschen Bündelungsmodell, 588 welches im Folgenden ausführlich betrachtet werden soll. Das Bündelungsmodell ist nicht weit verbreitet. Soweit ersichtlich, wurde es jedoch auch nie substantiell angezweifelt. Mankowski vermutet, dass das Bündelungsmodell insbesondere Nicht-Kollisionsrechtlern, denen das IPR ohnehin ein Buch mit sieben Siegeln ist, als „achtes Siegel“ erscheint. Zudem bestehe eine generelle „Müdigkeit gegenüber Großtheorien“.589 Des Weiteren scheint das Bündelungsmodell bei überfliegendem Studium nur ein ansprechendes Bild zur Konkretisierung der allseitigen Kollisionsnormen zu sein. Erst auf den zweiten Blick erschließt sich, dass es zahlreiche vermeintlich systemwidrige Phänomene zwanglos einordnen kann.
a) Der Sachnormbezug des Kollisionsrechts als Grundlage des Bündelungsmodells Die Grundlage des Bündelungsmodells ist die Erkenntnis, dass nicht nur Sachverhalte, sondern auch Gesetze den Gegenstand des Kollisionsrechts abbilden. Dies steht im Widerspruch zu einigen älteren Ansichten, welche nur Tatsachen oder „vorrechtlich“ verstandene „Lebens-“ oder „Rechtsverhältnisse“ vom IPR erfasst wissen wollten und bereits deshalb den Ansatz beim Gesetz völlig aus dem IPR aussperrten. 590 Demgegenüber zeigte bereits Kahn, dass selbst die
586
Siehe hierzu Coester, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 13 EGBGB, Rn. 84. Ebenso können auch im materiellen Inlandsrecht völlig unbekannte Anknüpfungsgegenstände gewählt werden. 588 Zusammenfassungen des Bündelungsmodells finden sich auch bei v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 5 f.; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 313 ff.; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 159 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 84 ff. 589 Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 170. 590 Siehe hierzu ausf. Kegel, in: FS Raape, 1948, S. 13 ff.; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 82 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 53 ff. Besonders deutlich 587
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vermeintlich simpelsten Systembegriffe des IPR nicht ohne rechtliche Färbung auskommen. 591 Diese normativen Vorprägungen der Anknüpfungsgegenstände sind gerade die Wurzeln des Qualifikationsproblems. 592 Allerdings wäre es auch nicht ausreichend, allein die in Bezug genommenen Sachnormen zum Gegenstand des Kollisionsrechts zu erklären. Denn ansonsten bliebe unklar, welcher tatsächliche Sachverhalt überhaupt die Anwendung der Kollisionsnormen auslöst.593 Aufbauend auf entsprechenden Ausführungen Kegels594 führte daher Schurig den Streit zu einem versöhnlichen Ende, indem er überzeugend darlegte, dass eine Kollisionsnorm sowohl Sachverhalte als auch Sachnormen zusammenfasst.595 b) Die Austauschbarkeit der Fragestellungen im Bündelungsmodell Da insofern auch Gesetze den Gegenstand des Kollisionsrechts darstellen, kann man sich mit Schurig dem Gehalt einer Kollisionsnorm sowohl von der Seite des Gesetzes als auch von der Seite des Sachverhalts nähern: „Wenn Spanier heiraten, wenden wir spanisches Eherecht an“ bedeutet dasselbe wie „Das spanische Eherecht wenden wir an, wenn die Heiratenden Spanier sind“. 596 Damit zielt sowohl der Ansatz beim Gesetz als auch der Ansatz beim Sachverhalt auf die Formulierung des richtigen Anknüpfungsmerkmals für ein in- oder ausländisches Gesetz.597 Eine Kollisionsnorm stellt damit eine Verbindung von subsumierbarem Sachverhalt und in- und ausländischen Sachnormen mithilfe von
lehnte v.Bar, Theorie und Praxis des IPR, 2. Aufl. 1889, S. 107 die Einbeziehung von Sachnormen in das Kollisionsrecht ab, da er nur „Tatsachen“ als den Gegenstand des IPR verstehen wollte. 591 Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 101, 108 ff. Siehe hierzu auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 56 ff. – Kahn beschreibt infolgedessen das savignysche Rechtsverhältnis als „subjektives Korrelat zu bestimmten Rechtsregeln im objektiven Sinn“ (a.a.O. S. 26). Er führt beispielhaft weiter an: „Dem Rechtsverhältnis der Handlungsfähigkeit entsprechen die Rechtsregeln über die Handlungsfähigkeit.“ Weniger kompliziert ausgedrückt: Es geht um alle vom Tatbestand her einschlägigen Rechtsnormen einer Rechtsordnung (Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 58). 592 Ähnl. auch Kegel, in: FS Raape, 1948, S. 23. 593 So auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 58. 594 Kegel, in: FS Raape, 1948, S. 19 ff. 595 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 85 ff.; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 230; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 146; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 104; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 314; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 59. 596 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 89. 597 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 91; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 61.
122
3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Anknüpfungsmomenten her. 598 Wie bereits Savigny betont daher auch Schurig, dass die beiden Ansätze lediglich zwei Seiten desselben Problems sind. 599 Die Gleichstellung der Fragestellungen findet sich bereits bei Savigny in aller Deutlichkeit, wenn dieser darauf hinweist, dass die Verbindung der Rechtsregeln mit den Rechtsverhältnissen „von der einen Seite betrachtet, als Herrschaft der Regeln über die Verhältnisse, von der anderen Seite als Unterwerfung der Verhältnisse unter die Regeln“ erscheint. 600 Noch deutlicher wird Savigny, wenn er fragt: „Auf welche Personen erstreckt jede gegebene Rechtsregel das Gebiet ihrer Herrschaft? Oder in umgekehrter Auffassung: Welches sind die Rechtsregeln, denen eine gegebene Person unterworfen oder angehörig ist?“. 601 So lehnte Savigny dann auch die Statutentheorie nicht wegen ihres „Ansatzes beim Gesetz“ ab, sondern aufgrund ihres nicht erfüllbaren Anspruchs, alle Normen in drei Klassen einzuteilen.602
Diese Einsicht ermöglicht es, eine allseitige Kollisionsnorm in ihre einseitigen Bestandteile zu zerlegen. Schurig verwendet zur Illustration den in Art. 25 EGBGB a.F normierten Satz: „Erbfälle sind nach dem Heimatrecht des Erblassers zu beurteilen.“ Diesen Satz spaltete er wie folgt auf: „Chinesisches (polnisches, spanisches …) Erbrecht ist anzuwenden, wenn der Erblasser Chinese (Pole, Spanier …) war.“ 603
Eine auf eine konkrete in- oder ausländische Bestimmung zeigende Sachnorm nennt Schurig „Element-Kollisionsnorm“. 604 Diese Elementarteile werden in
598
Schurig, in: FS Kegel, 1987, S. 560. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 92, 274 ff.; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 61. – Auch Raape berichtet von der Gleichbedeutung der Fragestellungen: „Ob ich frage: an welche Rechtsordnung ist das Rechtsverhältnis, die Forderung aus einem Delikt zu knüpfen? Oder: wann sind die Deliktsnormen dieses und nicht jenes Staates anzuwenden? – ist gänzlich gleich“ (Raape, IPR, 5. Aufl. 1961, S. 167). Ebenso schon Zitelmann, IPR II, 1912, S. 12 sowie Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 240 ff.). 600 Savigny, System VIII, 1849, S. 3. 601 Savigny, System VIII, 1849, S. 10. 602 Savigny, System VIII, 1849, S. 123. Die Gleichstellung der Fragestellungen bei Savigny heben ebenfalls hervor: Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 181; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 15 ff., 107; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 29; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 144; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 861; Berner, Kollisionsrecht im Spannungsfeld, 2017, S. 17. Es erscheint daher wenig plausibel, Savigny eine „kopernikanische Wende“ vom Ansatz beim Gesetz zum Ansatz beim Sachverhalt zu unterstellen (ebenso Berner, a.a.O., S. 18 ff. nach einer ausf. Analyse der historischen Vertreter der Statutentheorie). Dagegen aber Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 94; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 19; Seif, RabelsZ 65 (2001), 492, 500; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 53 ff. Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 70; Weller, IPRax 2011, 429, 431. 603 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 92. 604 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 93. Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 68 nannte diese Elementarteile „Individual-Kollisionsnormen“. 599
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
123
einer allseitigen Kollisionsnorm nach Sachbereichen „gebündelt“. 605 Die Zusammenfassung mehrerer auf eine Rechtsordnung bezogener Element-Kollisionsnormen bezeichnet Schurig als „vertikale“ bzw. „sachliche“ Bündelung. 606 So werden beispielsweise mehrere auf französische Erbrechtsnormen zeigende, durch das Forum festgelegte Element-Kollisionsnormen „vertikal“ zum französischen Erbstatut gebündelt. 607 Die „horizontale“ bzw. „internationale“ Bündelung bewirkt dagegen eine Zusammenfassung der Element-Kollisionsnormen, die auf die Sachnormen unterschiedlicher Rechtsordnungen zeigen.608 So ergeben beispielsweise die Element-Kollisionsnormen „Der französische, polnische, chinesische … Pflichtteilsanspruch ist anzuwenden, wenn der Erblasser Franzose, Pole, Chinese … war“ eine horizontale Bündelung in der Form: „Der Pflichtteilsanspruch unterliegt dem Recht des Staates, dem der Erblasser angehört.“ Horizontale und vertikale Bündelung bilden schließlich gemeinsam die in Art. 25 EGBGB a.F. gebündelte, allseitige Kollisionsnorm: „Die Rechtsnachfolge von Todes wegen unterliegt dem Recht des Staates, dem der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes angehörte.“ 609 Dies soll im Folgenden anhand der Anknüpfung des Erbrechts nach Art. 21 Abs. 1 EuErbVO veranschaulicht werden:
605
Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 93; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 61 ff.; Schurig, in: FS Kegel, 1987, S. 561. 606 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 102; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 231. Ein ähnlicher Ansatz der Zusammenfassung einseitiger Kollisionsnormen zu „Gruppenbegrenzungen“ findet sich im Übrigen bereits bei Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 100. 607 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 105. 608 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 105; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 231. 609 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 105.
124
3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Bündelungszustand
Eigenrechtsverweisung = Einseitigkeit
Element-Kollisionsnorm
Das deutsche PflichtteilsDas französische Noterbrecht611 recht des Abkömmlings ist des Abkömmlings ist anzuwenanzuwenden, wenn der den, wenn der Erblasser im Erblasser im Ztpkt. seines Ztpkt. seines Todes seinen geTodes seinen gewöhnl. wöhnl. Aufenthalt in Frankreich Aufenthalt in Deutschland hatte. hatte. Das deutsche Erbrecht ist Das französische Erbrecht ist anzuwenden, wenn der anzuwenden, wenn der ErblasErblasser im Ztpkt. seines ser im Ztpkt. seines Todes seiTodes seinen gewöhnl. nen gewöhnl. Aufenthalt in Aufenthalt in Deutschland Frankreich hatte. hatte. Das Pflichtteilsrecht unterliegt dem Recht des Staates, in dem der Erblasser im Ztpkt. seines Todes seinen gewöhnl. Aufenthalt hatte.
Vertikale Bündelung
Horizontal gebündelte Element-Kollisionsnormen Horizontale und vertikale Bündelung (= Allseitigkeit)
Fremdrechtsverweisung = Fremdseitigkeit610
Das Erbrecht unterliegt dem Recht des Staates, in dem der Erblasser im Ztpkt. seines Todes seinen gewöhnl. Aufenthalt hatte (vgl. Art. 21 Abs. 1 EuErbVO).
c) Die Bündelschnürung anhand der kollisionsrechtlichen Interessenlage Hierauf aufbauend ist zu untersuchen, anhand welcher Kriterien eine Bündelung geschnürt wird. Dabei geht es um die Frage, welche kollisionsrechtlichen Interessen hinter der Formulierung und Reichweite einer Kollisionsnorm stehen.612 Bereits an den Ausweichklauseln erkennt man, dass die Maxime der „engen Verbindung“ ein dominierendes kollisionsrechtliches Interesse ist. 613 Auch hinter der oben sezierten Anknüpfung des Erbrechts an die Rechtsordnung des gewöhnlichen Aufenthalts steht unter anderem der Gedanke, dass der Erblasser 610 Fremdseitigkeit bezeichnet zum fremden Recht zeigende (heimische) Kollisionsnormen. Siehe sogleich unter D.II.3.d. näher zur Terminologie. 611 Das französische Noterbrecht nach Art. 912 ff. CC entspricht funktional weitgehend dem deutschen Pflichtteilsrecht und ist daher i.E. erbrechtlich zu qualifizieren (siehe hierzu ausf. Lauck, in: Burandt/Rojan, 2. Aufl. 2014, IV-120. Länderbericht Frankreich, Rn. 58 ff.). 612 Auch dies geht maßgeblich auf Kegel und Schurig zurück, siehe hierzu die Nachw. in den folgenden Unterabschnitten. 613 So auch Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 9, 142 in Abgrenzung zum ordre public.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
125
zu jener Rechtsordnung eher einen engen Bezug aufweisen wird als zur Rechtsordnung des Staates, dessen Staatsangehörigkeit er innehat. 614 Nun sind vor allem einige ältere Autoren der Meinung, dass nur eine an solchen klassischen kollisionsrechtlichen Interessen wie der „engsten Verbindung“ ausgerichtete Kollisionsnorm allseitig sein könne. Im Gegensatz hierzu soll der „Ansatz am Gesetz“ notwendig zur Dominanz der jeweiligen Sachnormzwecke der betrachteten Rechtsnormen führen. Dies soll wiederum zur zwingenden Einseitigkeit der ermittelten Kollisionsnormen führen. 615 Dahinter scheint häufig auch ein Schluss von der (zutreffenden) Blindheit des Kollisionsrechts für das konkrete materielle Ergebnis616 auf eine generelle Blindheit allseitiger Kollisionsnormen gegenüber jeder „sachrechtlichen“ Wertung zu stehen.
Zwar erscheint es schon zweifelhaft, weshalb nicht auch die Berufung von inund ausländischem Öffentlichen Recht aufgrund klassischer kollisionsrechtlicher Maximen wie der „engsten Verbindung“ möglich sein könnte. 617 Jedoch besteht die Vermutung, dass materielle Wertungen sowohl im IÖR als auch bei der Eingriffsnorm stärker vertreten sind als im „klassischen“ IPR. Daher ist genauer zu untersuchen, welche Rolle die Sachnormzwecke im Kollisionsrecht einnehmen. aa) Der Sachnormzweck im klassischen und modernen Kollisionsrecht Bereits ein kurzer Blick in die ältere und jüngere Rechtswirklichkeit zeigt, dass sachrechtliche Wertungen im Kollisionsrecht sowohl im Rahmen der Methodik als auch innerhalb herkömmlicher Kollisionsnormen eine tragende Rolle spielen. So dient etwa die Wahl einer kumulativen oder alternativen Anknüpfungstechnik der Begünstigung bestimmter materieller Ergebnisse. 618 Auch im Rahmen der Qualifikation und allgemeiner Instrumente wie der Anpassung, der
614 Siehe auch Erwägungsgrund Nr. 23 EuErbVO. Zu weiteren kollisionsrechtlichen Interessen hinter der Erbrechtsanknüpfung wird sogleich Stellung bezogen. 615 Siehe hierzu die in Fn. 573 Genannten. 616 Siehe hierzu bereits oben unter D.I.4.b. 617 Wenn etwa ausländisches Devisenkontrollrecht nach dem Abkommen von BrettonWoods im Fall einer „Berührung“ der entsprechenden Fremdwährung durch heimische Behörden oder Gerichte angewandt werden soll, dann steht auch hier der Gedanke einer engen Verbindung deutlich im Vordergrund. Eine pauschale Gleichsetzung der Kollisionsnormbildung für Öffentliches Recht oder Eingriffsnormen mit dem vermeintlich zwingend zur Einseitigkeit führenden, „materialisierten“ Ansatz „am Gesetz“ erscheint daher nicht stichhaltig. 618 Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 145; Kühne, in: FS Heldrich, 2005, S. 829; Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 132. – Die alternative Anknüpfung möchte das „günstigere“ Recht berufen und die Wirksamkeit befördern (Zimmer, in: Mélanges Fritz Sturm, 1999, S. 1716 ff.; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 189; Rauscher, IPR, 4. Aufl. 2012, § 3,
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Vorfrage sowie der Umgehung werden Sachnormzwecke berücksichtigt. 619 Des Weiteren dient die Gestaltung zahlreicher Kollisionsnormen der Beförderung bestimmter materieller Tendenzen. So steht etwa hinter der Anknüpfung des Sachenrechts an die lex rei sitae unter anderem der Gesichtspunkt des Verkehrsschutzes. 620 Auch das klassische Feld des Internationalen Familien- und Erbrechts ist durchsetzt mit Wertungen zur Beförderung bestimmter materieller Ergebnisse.621 Die starke Präsenz materieller Zwecke findet sich erst recht im modernen Kollisionsrecht. So ist etwa der Schwächerenschutz ein tragendes Interesse hinter den besonderen Anknüpfungen der Rom I-VO.622 Ebenso richtet sich das Internationale Deliktsrecht durch die Erfolgsortanknüpfung maßgeblich am Opferschutz aus.623 Die Liste lässt sich fortführen. 624 Auf die Rolle des ordre public wird noch zurückzukommen sein. 625
Rn. 316; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 241). Die kumulative Anknüpfung will eine Partei vor aus rechtsvergleichender Sicht unbekannten Ansprüchen schützen (Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 189). 619 Siehr, IPRax 1973, 466, 472 f.; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 99, 214 ff. 620 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 71. 621 Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 273; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 44.; Flessner, Interessenjurisprudenz im IPR, 1990, S. 15 ff.; Zimmer, in: Mélanges Fritz Sturm, 1999, S. 1716 ff.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 94; Straube, IPRax 2007, 395, 397; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 167. 622 Gamillscheg, AcP 157 (1958), 303, 338 (zum Arbeitsrecht); Siehr, IPRax 1973, 466, 472; Rehbinder, JZ 1973, 151, 154; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 151; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 94; Straube, IPRax 2007, 395, 397; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 63; Roth, EWS 2011, 314, 322; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 167; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 5, Rn. 37 f. – Siehe zum Verbraucherschutz als dominante Zwecksetzung der Rom I-VO auch: KOM(2005), 650 endg. (Vorschlag Rom I), S. 6. Der Schwächerenschutz ist in der Rom IVO ein dermaßen bestimmender Faktor, dass er mittlerweile eher ein Prinzip als eine Ausnahme darstellt (so auch Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten, 2003, S. 148; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 326; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 82 ff.). 623 Junker, in: FS Schurig, 2012, S. 83. Besonders präsent ist der Einfluss materieller Wertungen auch im Kartelldeliktsrecht (Straube, IPRax 2007, 395, 397; Roth, EWS 2011, 314, 322), welches häufig gerade deshalb als Eingriffsnorm eingeordnet wird. Hierbei entsteht freilich ein Konflikt zur allseitigen Kollisionsnorm des Art. 6 Rom II-VO, worauf an anderer Stelle eingegangen wird. 624 Siehe auch Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 186; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 63 (zum Minderjährigenschutz durch die Anknüpfung der Geschäftsfähigkeit). 625 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 214 ff. führt diesen als weiteres Bsp. materiellrechtlicher Prägung an. Ähnl. auch schon Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 277 f.; Zweigert, IPRax 1973, 435, 443; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 30.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
127
Blickt man etwas weiter zurück, so lässt sich bereits bei Wächter, Savigny und Kahn eine Berücksichtigung von Sachnormzwecken im Kollisionsrecht beobachten. Bezüglich Wächter ist es angesichts seines lex fori-Ansatzes wenig überraschend, dass dieser sich schwerpunktmäßig an den Sachnormzwecken des eigenen Rechts orientierte. 626 Sofern des Weiteren mit dem Begriff der „Augenbinde Savignys“ die Vorstellung ausgedrückt werden soll, dass Savigny bei der Kollisionsnormbildung nicht auf die Sachnormzwecke geblickt habe, so steht dies im Widerspruch zu dessen erkennbar sachnormgeprägter Argumentation.627 Auch Kahn stellte fest, dass jede Sachnorm ihren „privatinternationalen Schatten“ werfe und insofern ein „Zusammenhang höchster Intimität“ zwischen Sach- und Kollisionsrecht bestehe.628 Man würde einen „Kirchthurm in die leere Luft“ stellen, wenn man ein IPR ohne materielle Grundlage errichten wollte. 629
Damit zeigt sich, dass neben den traditionellen kollisionsrechtlichen Rechtsanwendungsinteressen (insbesondere der Maxime der engen Verbindung) stets auch der hinter den betreffenden Sachnormen stehende soziale Konflikt auf das Kollisionsrecht einwirkt. 630
626
Wächter, AcP 25 (1842), 161, 185 ff., wonach seine Theorie der grundsätzlichen lex fori-Anknüpfung auch dadurch zu begründen sei, dass „unser Staat z.B. Polygamie oder eine nach seinen Gesetzen unbedingt nichtige blutschänderische Ehe […]“ vermeiden wolle. Siehe hierzu auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 73 f. 627 Siehe insb. Savigny, System VIII, 1849, S. 326, 330 bzgl. der Ehe. Auch das Deliktsrecht knüpft Savigny aufgrund dessen sachrechtlicher Zwecksetzung einseitig an (Savigny, System VIII, 1849, S. 278 f.). – Siehe hierzu auch Rehbinder, JZ 1973, 151, 154; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 14; Wiethölter, in: FS Kegel, 1977, S. 235; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 149; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 861 f.; Roth, EWS 2011, 314, 322; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 73 f. Bucher verweist des Weiteren auf die savignysche Behandlung der Nachfolge in Lehen, des Güterrechts der Ehegatten und der Veräußerung der Pupillengüter. Mäsch führt Savignys Begründung für die Anknüpfung an das Personalstatut des Erblassers an. Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 8 f. schlussfolgert deshalb richtigerweise, dass Savigny die ihm angedichtete Augenbinde nie getragen hat. 628 Zunächst noch implizit: Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 130. Später ausdr.: Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 48 ff. Hieran anschließend Zitelmann, IPR II, 1912, S. 12. 629 Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 56. Die Kollisionsnorm schöpfe ihren Inhalt jedoch nicht nur aus der Sachnorm, sondern darüber hinaus auch aus nicht-materiellen Zwecken wie dem internationalen Entscheidungseinklang und dem Gedanken der Reziprozität (Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 66). Sofern die Kollisionsnormbildung anhand der Sachnormzwecke und allgemeiner IPR-Maximen scheitere, sei auf die Rechtsvergleichung zurückzugreifen (a.a.O. S. 75). 630 Frankenstein, IPR, 1926, S. 190; Ficker, Grundfragen, 1952, S. 64; Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 107; Zweigert, IPRax 1973, 435, 443; Rehbinder, JZ 1973, 151, 155; Siehr, IPRax 1973, 466, 481; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 5, 459; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 55 f.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 48; Kropholler, RabelsZ 42 (1978), 634, 660; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 102, 108, 186, 210 ff.; Siehr, in: FS Zajtay, 1982, S. 432; v.Bar/Mankowski,
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
bb) Kein Ausschluss des Sachnormzwecks bei Betonung einer eigenständigen „kollisionsrechtlichen Gerechtigkeit“ Die Sachnormzwecke möchten auch diejenigen nicht verbannen, die mit Kegel aufgrund der rechtsanwendungsrechtlichen Aufgabe des Kollisionsrechts hervorheben möchten, dass das Kollisionsrecht lediglich die Bestimmung des „räumlich besten“ Rechts zum Gegenstand habe. 631 Zwar soll das Kollisionsrecht hiernach einer eigenständigen „kollisionsrechtlichen Gerechtigkeit“ dienen.632 Kegel selbst weist jedoch darauf hin, dass die kollisionsrechtlichen Interessen mit den Sachnormen verbunden blieben. Denn die hinter den Sachnormen stehenden Interessen seien für die Kollisionsnormbildung weiterhin relevant.633 Eine Beschränkung des IPR auf genuin kollisionsrechtliche Interessen
IPR I, 2. Aufl. 2003, § 2, Rn. 98; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 30; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 189; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 864; Roth, EWS 2011, 314, 322; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 100, 240; Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 133. 631 Die Differenzierung zwischen dem „räumlich besten“ und „materiell besten“ Recht stammt von Kegel (Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 77; Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 270). – Ähnl. zur Vorstellung eigenständiger IPR-Entscheidungsmaximen aufgrund der rechtsanwendungsrechtlichen Aufgabe des Kollisionsrechts zuvor schon: Haudek, Bedeutung des Parteiwillens, 1931, S. 17; Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 99; Wengler, ZÖR 23 (1944), 473; Arminjon, Précis de dr. int. privé I, 3. Aufl. 1947, S. 230.; Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 291 ff.; Zweigert, in: FS Raape, 1948, S. 51. Auch Rabel gründete seine Theorie von der rechtsvergleichend-autonomen Qualifikation auf der Eigenständigkeit des Kollisionsrechts gegenüber dem Sachrecht (Rabel, ZAIP 3 (1929), 752, 755; Rabel, ZAIP 5 (1931), 241, 252 ff., 283; Rabel, The conflict of laws, 2. Aufl. 1958, S. 102). – Siehe hierzu auch: Hessler, Sachrechtliche Generalklausel, 1985, S. 75; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 132; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 131 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 66 ff. 632 Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 268 ff.; ähnl. Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 168. Siehe hierzu auch Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 144; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 82. 633 Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 268 f. Siehe hierzu auch Bucher, Grundfragen, 1975, S. 29; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 131; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 78 ff.; Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 12. – Ähnl. auch Rabel, wonach „national policies“ nicht direkt ins IPR übernommen werden dürften, „policy“-Erwägungen aber auch dort nicht ausgeschlossen seien (Rabel, The conflict of laws, 2. Aufl. 1958, S. 97). – Nur wenige Stimmen möchten das Kollisionsrecht ausschließlich eigenständigen kollisionsrechtlichen Maximen unterwerfen: Mann, in: FS Beitzke, 1979, S. 620; Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 8; Zimmer, in: Mélanges Fritz Sturm, 1999, S. 1716 ff.; ähnl. auch v.Hein, AG 2001, 213, 228. Dies widerspricht der Rechtswirklichkeit (s.o.) und ist zudem aus weiteren, sogleich zu erörternden Gründen abzulehnen.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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lehnt Kegel sogar ausdrücklich als begriffsjurisprudentisch geprägte Fehlvorstellung ab.634 Sein interessenjurisprudentischer Ansatz solle gerade das Tor zur Beachtung materiellrechtlicher Aspekte aufstoßen. 635 Folgerichtig betont Kegel, dass die Interessen an einer „örtlich richtigen Entscheidung“ zugunsten der Interessen an einer „sachlich richtigen Entscheidung“ zurückgedrängt werden könnten. 636 cc) Stellungnahme Es ist zwar nicht schädlich, zwischen sachnormimplizierten und genuin kollisionsrechtlichen Interessen zu unterscheiden. 637 Maßgeblich ist jedoch die Einsicht, dass auch der Sachnormzweck des jeweiligen Anknüpfungsgegenstands stets auf die Gestaltung der Kollisionsnorm einwirkt. Diese Erkenntnis ist weder revolutionär, noch „US-amerikanisch“, noch ist sie eine neue Entwicklung des europäischen IPR; die Berücksichtigung der Sachnormzwecke prägt das Kollisionsrecht wie besehen schon lange. 638 So wird es kaum eine Kollisionsnorm geben, in der das Verhältnis zwischen genuin kollisionsrechtlichen und sachnormimplizierten Interessen nicht komplementär ist. Dies zeigt schon ein kurzer Überblick über die widerstreitenden kollisionsrechtlichen Interessen im Falle der Erbrechtsanknüpfung: Hier kann das genuin kollisionsrechtliche Ziel der „engen Verbindung“ gemeinsam mit dem sachnormimplizierten Interesse an einem Schutz des Erblassers sowie dem überge-
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Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 287; treffend auch Siehr, in: FS Zajtay, 1982, S. 426, wonach die Überbetonung des Unterschieds zwischen materiellem Recht und Kollisionsrecht zu einer „übermäßigen Kultivierung der Begriffs- und Methodenautonomie des IPR“ geführt habe. 635 Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 287. Es gehe außerdem darum, die „unscharfen Bilder vom Sitz, vom Schwerpunkt, von der Natur der Sache“ abzulösen“ und – ganz auf Kahns Spuren – „unerbittlich“ die Frage zu stellen, warum eigenes und fremdes Recht anzuwenden ist (a.a.O. S. 279). Siehe hierzu auch: Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 145; Berner, Kollisionsrecht im Spannungsfeld, 2017, S. 57 f. – Damit entkräftete Kegel zugleich den von amerikanischer Seite vorgebrachten Vorwurf des „begriffsjurisprudentischen Formalismus“ (Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 19 f., 130 ff.). 636 Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 278. Dies sei etwa der Fall bei einer Bevorzugung eigenen Scheidungsrechts zum Schutz deutscher Frauen. 637 So auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 71, 83. 638 So auch Heini, SchwJbIntR 19 (1962), 31, 54 f.; Kegel, RabelsZ 30 (1966), 1, 11; siehe auch die Nachw. in Fn. 630. – Von einer Renaissance der „regulativen Funktion des Kollisionsrechts“ im europäischen IPR kann daher kaum gesprochen werden (so aber: Roth, EWS 2011, 314, 321; ähnl. Junker, in: FS Schurig, 2012, S. 81). Umgekehrt kann dem unionalen Kollisionsrecht auch kein ausschließlich sachnormbezogener „approach“ vorgeworfen werden, auch dieses verfolgt klassische kollisionsrechtliche Ideale (Roth, EWS 2011, 314, 321).
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
ordneten Prinzip der Rechtssicherheit eine Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit des Erblassers gebieten. 639 Möchte das Forum dagegen die Mobilität des Erblassers stärker gewichten, kann es sich zulasten der Vorhersehbarkeit des anzuwendenden Rechts auch für eine Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt entscheiden. 640 Der letztgenannte Gedanke zeigt auch, dass die Unterscheidung zwischen genuin kollisionsrechtlichen und materiellrechtlichen Interessen häufig nur schwer zu treffen sein wird: Ist der Aspekt der Mobilität des Erblassers nun als sachrechtliches oder als kollisionsrechtliches Interesse einzuordnen? Hieran wird auch deutlich, dass zwischen den kollisionsrechtlichen und materiellrechtlichen Prinzipien zahlreiche Verwandtschaften, Analogien und gemeinsame Wurzeln bestehen: 641 So korreliert etwa die Parteiautonomie, welche häufig als kollisionsrechtliches Interesse eingeordnet wird, 642 mit der Privatautonomie. 643 Es erscheint durchaus plausibel, den internationalen Entscheidungseinklang sowie die Maxime der engen Verbindung auf ein verfassungsrechtliches Gebot zur Einordnung in die Staatengemeinschaft zurückzuführen.644 Derartige Verbindungslinien zwischen genuin kollisionsrechtlichen Interessen und materiellrechtlichen Prinzipien lassen sich auch an anderen Stellen stricken.645 Damit sind die genuin kollisionsrechtlichen Interessen nichts anderes als besondere, rechtsgebietsspezifische Zwecksetzungen, welche aus dem Faktor Auslandsbezug und der rechtsanwendungsrechtlichen Aufgabe des Kollisionsrechts erwachsen. Insofern bestehen keine erkennbaren methodischen Unterschiede zu besonderen Gebieten des Sachrechts: Es bestehen keine fundamentalen Unterschiede, wenn etwa die besondere Aufgabe des sozialen Mietrechts Modifikationen am allgemeinen Prinzip der Vertragsfreiheit nach sich zieht oder die besondere Aufgabe des Kollisionsrechts zur angemessenen Entschei-
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Dies war der Fall in Art. 25 Abs. 1 EGBGB a.F. Dies ist etwa der Fall in Art. 21 Abs. 2 EuErbVO. 641 Im Ansatz schon Beitzke, in: FS Smend, 1952, S. 20; Siehr, IPRax 1973, 466, 478; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 455; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 96; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 516; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 34, welcher von einem Verhältnis der „Analogie und Parallelität“ zwischen Sach- und Kollisionsnormen spricht. 642 So etwa Mankowski, RIW 1993, 453, 461. 643 So auch Bucher, Grundfragen, 1975, S. 33; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 455. 644 Siehe hierzu Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 207 ff. 645 Wenn etwa die Vermeidung der Gesetzesumgehung als kollisionsrechtliches Interesse eingeordnet wird (so etwa Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 163), ist dieser Gedanke freilich auch an vielen Stellen des Sachrechts präsent. Gleiches gilt für den kollisionsrechtlichen Grundsatz des Schutzes „wohlerworbener Rechte“ (Neuhaus, S. 170), welcher die kollisionsrechtliche Parallele zum Prinzip des Vertrauensschutzes darstellt. 640
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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dung von Auslandssachverhalten zur Veränderung des inländischen Arbeitnehmerschutzniveaus führt. In beiden Fällen geht es um die methodische Binsenweisheit, dass jedes Rechtsgebiet eigene Ziele verfolgt, welche erweiternd und beschränkend auf andere, zumeist allgemeinere Rechtsprinzipien einwirken. 646 Man erweist dem ohnehin als „Geheimwissenschaft“ 647 verschrienen IPR einen Bärendienst, diese Selbstverständlichkeit als „kollisionsrechtliche Gerechtigkeit“ zu verklären. Dem Begriff wohnt außerdem die Gefahr inne, das IPR in andere „Gerechtigkeitssphären“ zu verlagern und hierdurch Anklänge an ein völkerrechtliches IPR zu vertiefen. 648 Die dem Kollisionsrecht zugewiesene Aufgabe der Berücksichtigung von Auslandsbezügen dient insofern nicht einer isolierten „kollisionsrechtlichen Gerechtigkeit“, sondern schlicht der Gerechtigkeit.649 Das Kollisionsrecht ist insofern eine Folge der Einsicht, dass das eigene Recht zumeist interne Sachverhalte vor Augen hat und daher dessen ausnahmslose und unbeschränkte Anwendung auf Auslandssachverhalte häufig nicht sachgerecht ist. 650 Mithin erscheint es sogar plausibel, den Geltungsgrund des Kollisionsrechts selbst auf die „materielle“ Maxime des „suum cuique“ und das hiermit korrespondierende Recht auf Ungleichbehandlung zurückzuführen – wenngleich der Streit um den Existenzgrund des Kollisionsrechts hier nicht entschieden werden soll.651
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In Ansätzen ähnl. Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 41 f.; Siehr, IPRax 1973, 466, 474. 647 Siehe hierzu Siehr, in: FS Zajtay, 1982, S. 437. Zu einiger Berühmtheit hat es auch der Ausspruch Prossers zur Unzugänglichkeit des IPR gebracht: „The realm of the conflict of laws is a dismal swamp, […] inhabited by learned but eccentric professors who theorize about mysterious matters in a strange and incomprehensible jargon“ (Prosser nach Heini, SchwJbIntR 19 (1962), 31, 36). Ähnl. auch Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 412, welcher das „esoterische“ Vokabular des IPR beklagt. 648 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 78. Ähnl. bereits Siehr, IPRax 1973, 466, 474. Siehe zum Völkerrechts-IPR bereits ausf. oben unter D.I.1.c. 649 So auch Bucher, Grundfragen, 1975, S. 27 f.; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 450; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 42; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 190, 320; Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 8; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 1, Rn. 9 f. § 6 Rn. 94; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 185 ff. Ähnl. schon Maurenbrecher, Lehrbuch des gesammten heutigen gemeinen deutschen Privatrechts, 1840, S. 312, wonach das Gerechtigkeitsprinzip das leitende Ideal des IPR sei. 650 Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 456. Ähnl. Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 186; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 66, welche die „Relativität des Gerechtigkeitsgehalt“ eigener Sachnormen als Fundament des Kollisionsrechts bezeichnen. 651 Für eine Rückführung des IPR auf den Gleichbehandlungsgrundsatz bzw. suum cuique: Lorenz, Zur Struktur des IPR, 1977, S. 60 (unter Verweis auf einen entsprechenden Ansatz Wenglers); Looschelders, RabelsZ 65 (2001), 463, 470; zustimmend Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 39. Siehe hierzu auch Schubert, RIW
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Gegen den Gleichheitssatz als Geltungsgrund des Kollisionsrechts spricht sich insbesondere Schurig aus; stattdessen existiere das Kollisionsrecht aufgrund der Koexistenz verschiedener Staaten und der Anerkennung ausländischen Rechts als „Recht“. Der Gleichheitssatz erfordere nur, Ungleiches gerecht zu behandeln, weshalb Auslandssachverhalte nicht zwingend mit Kollisionsrecht, sondern auch mit IPR-Sachnormen gelöst werden könnten. 652 Dem ist jedoch zu entgegnen, dass die Synthesewirkung der Fremdrechtsverweisung ohnehin de facto IPR-Sachnormen produziert, sodass die durch Schurig vorgebrachte methodische Wahlmöglichkeit fortfällt. Damit erscheint es weiterhin möglich, den Gleichheitssatz als Geltungsgrund des Kollisionsrechts zu betrachten. Vogel begründet schließlich die Notwendigkeit von Rechtsanwendungsnormen mit der Übertragung der Grundsätze der logischen Semantik in die Rechtswissenschaft. Demnach ergebe sich aus der Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache auch die Notwendigkeit der Existenz und Differenzierung zwischen Sachnormen („Objektrechtsnormen“) und Kollisionsnormen („Metarechtsnormen“). 653
Außerdem wäre eine zwingende Beschränkung auf genuin kollisionsrechtliche Interessen auch nicht mit der im 6. Kapitel noch ausführlich zu diskutierenden Verfassungskontrolle des Kollisionsrechts vereinbar. 654 Diese führt dazu, dass das Kollisionsrecht wie jeder andere einfachgesetzliche Rechtssatz vollumfänglich der Verwirklichung grundrechtlicher Gewährleistungen dienen muss.655 Eine Beschränkung auf ausschließlich kollisionsrechtliche oder private Rechtsanwendungsinteressen würde dieser umfassenden verfassungs-
1987, 729, 740 f. – Eine weitere, auf Savigny zurückgehende Ansicht möchte den Geltungsgrund des Kollisionsrechts auf die comitas zurückführen: Savigny, System VIII, 1849, S. 28; Beitzke, in: FS Smend, 1952, S. 2; Seif, RabelsZ 65 (2001), 492, 508; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 28. Siehe hierzu auch Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 114. Zur Verbreitung dieser Ansicht im common law siehe bereits im 1. Kapitel unter B.III. – v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 24; v.Bar, in: BerDGesVR 33, 1994, S. 196 bezeichnen es als ungeklärt, was der Geltungsgrund des Kollisionsrechts sei; es gebe schlicht keine funktionstüchtige Alternative. 652 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 52 ff.; ebenso Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 95 f. Dagegen Schubert, RIW 1987, 729, 739. 653 Vogel, Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm, 1965, S. 241 ff., insb. S. 253 ff.. Eine Zusammenfassung dieses Ansatzes findet sich bei Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 98 ff. 654 Siehe hierzu im 6. Kapitel unter D.IV.1. – Gleiches gilt, wenn man die kollisionsrechtlichen Interessen auf private Rechtsanwendungsinteressen beschränken möchte (so etwa v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 97, welche mit der oben ohnehin abgelehnten Trennung von Staat und Gesellschaft argumentieren. Auf den Zusammenhang der Beschränkung des kollisionsrechtlichen Interessenkanons mit der Vorstaatlichkeitsthese weist auch Pfeiffer, in: FS Geimer, 2002, S. 828 hin). 655 BVerfG, Urt. v. 04.05.1971 – 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58 = NJW 1971, 1509. Siehe zum Spanier-Beschluss ebenfalls im 6. Kapitel unter D.IV.1.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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rechtlichen Indienststellung des Kollisionsrechts nicht genügen. Die verfassungsrechtliche Überprüfbarkeit des Kollisionsrechts gebietet damit ein Eindringen „materieller“, insbesondere staatlicher Zwecke.656 Auf dem Weg zur gerechtesten Anknüpfung kann das Forum somit frei aus genuin kollisionsrechtlichen, staatlichen, privaten und sonstigen Interessen schöpfen.657 Ein Ausschluss bestimmter Zweckrichtungen würde mit der interessenjurisprudentischen Rechtsmethodik kollidieren 658 und der intrakonstitutionellen Geltung des Kollisionsrechts widersprechen. Insbesondere die kollisionsrechtliche Maxime der „engsten Verbindung“ verkörpert deshalb kein von der materiellen Gerechtigkeit zu unterscheidendes Gerechtigkeitsideal, sondern allein die Vermutung, dass die Anwendung des Rechts mit den meisten Verbindungspunkten zum Sachverhalt auch am gerechtesten ist. 659 Damit ist es ein zu vermeidender „Kurzschluss“, wenn von der Blindheit gegenüber dem konkret berufenen Rechtssatz auf eine generelle Blindheit des kollisionsrechtlichen Interessenkanons gegenüber jeder sachrechtlichen Wertung geschlossen wird. Auf das Bündelungsmodell übertragen bedeutet diese Erkenntnis, dass die die Bündelung zusammenhaltende kollisionsrechtliche Interessenlage unter anderem auch durch Sachnormzwecke impliziert sein kann. 660 d) Der Qualifikationsvorgang als Zusammenfassung von ElementKollisionsnormen mit vergleichbarer Interessenlage Die Frage, ob die kollisionsrechtlichen Interessen an der Anwendung einer bestimmten in- oder ausländischen Norm einer bestehenden Bündelung zugeordnet werden können, entspricht dem Qualifikationsvorgang. 661 Kommt das Fo-
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So bereits bei Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 214 ff. Ähnl. Siehr, IPRax 1973, 466, 483; Juenger, NJW 1973, 1521, 1525; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 351; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 58; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 196; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 18. 658 So auch Bucher, Grundfragen, 1975, S. 26. 659 Ähnl. v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 15 & § 6, Rn. 94; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 186 ff.; ähnl. auch Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 17. Freilich hat die Maxime der engsten Verbindung weiterhin eine hervorgehobene Stellung, bauen doch auch die Ausweichklauseln auf ihr auf (siehe hierzu bereits Fn. 613). 660 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 103 ff.; Schurig, in: FS Kegel, 1987, S. 561; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 223, 231; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 161. Die dem Sachrecht entnommenen Systembegriffe seien daher nur äußere Kennzeichen, die aufgrund der Eigenständigkeit der kollisionsrechtlichen Interessenlagen auch selbstständige kollisionsrechtliche Bedeutungen erlangen könnten. 661 So auch Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 231; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 161. In den Worten Schurigs: „Diese „atomare“ Struktur der allseitigen Anknüpfungsnormen bleibt im Normalfall im Hintergrund; wenn wir aber beispielsweise qualifizieren, tun 657
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
rum etwa zu dem Ergebnis, dass die Interessen an der Anwendung eines heimischen oder fremden Ehegattenerbrechts der Interessenlage der allgemeinen Erbrechts-Kollisionsnorm entsprechen, so erfolgt eine Zuordnung zu ebendiesem schon existierenden Bündel. Stellt das Forum indessen fest, dass die kollisionsrechtliche Interessenlage einer in- oder ausländischen Sachnorm keinem bestehenden Bündel zugeordnet werden kann, wird eine gesonderte Anknüpfung nötig. Sofern eine spezielle Kollisionsnorm nicht normiert ist, kann hierbei auch eine auslegende oder rechtsfortbildende Ermittlung nötig werden. Im Übrigen erscheint die Bündelung nach der Interessenlage bei näherem Hinsehen als Kind allgemeiner Rechtsmethodik: Man würde auch im Sachrecht nicht auf die Idee kommen, Rechtssätze mit unterschiedlichen Zwecksetzungen in einer Norm zu vereinigen. Vertragliche und außervertragliche Schadensersatzansprüche sind aus gutem Grund getrennt voneinander geregelt. Dagegen macht es zumeist keinen interessenmäßigen Unterschied, ob ein Minderjähriger nun einen Kauf- oder einen Werkvertrag abschließen möchte, weshalb die Geschäftsfähigkeit in den §§ 104 ff. BGB „gebündelt“ ist. Ebenso fassen wir im Kollisionsrecht nur das zusammen, was zusammenpasst.
e) Außerordentliche Bündelungszustände Neben den oben bereits erörterten, „ordentlichen“ (also ein- und allseitigen) Bündelungszuständen lassen sich auch zahlreiche außerordentliche, insbesondere „unvollkommen-allseitige“ Bündelungen beobachten, deren Einordnung ins Bündelungsmodell an dieser Stelle kurz angesprochen werden soll. Hierauf wird an anderer Stelle nochmals tiefer einzugehen sein. 662 Um einen Fall der unvollkommenen Allseitigkeit handelt es sich dann, wenn eigenes Recht abweichend vom Auslandsrecht berufen wird. 663 Sofern das Forum eigene Bestimmungen mithilfe eines weitergehenden Anknüpfungsmoments beruft, wird dies häufig als „Exklusivnorm“ bezeichnet. 664 Falls das Forum überhaupt keine ausdrückliche Aussage zur Berufung einer bestimmten wir nichts anderes, als die „Bündelung“ versuchsweise „aufzuschnüren“ und zu testen, ob die Anknüpfung der fraglichen Norm nach der Interessenstruktur dort hineinpaßt.“ – Der Qualifikationsvorgang unterscheidet sich nicht fundamental von anderen rechtlichen Einordnungsvorgängen, indessen ist bei jenen des Sachrechts klar, dass auch die sachrechtlichen Auslegungsmaßstäbe heranzuziehen sind, wohingegen im IPR auch andere Auslegungsmaßstäbe neben jener der lex fori zur Verfügung stehen (Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 162). 662 Siehe hierzu im 5. Kapitel unter C.IV. 663 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 106; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 301 ff. Schurig bezeichnet nur dies als „unvollkommene“ oder „partielle“ Allseitigkeit. 664 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 112; ähnl. zu den lois d’application immédiate Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 299; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 101; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 169, 209; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 364; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 303. Die Terminologie ist jedoch uneindeutig. Häufig werden Exklusivnormen auch schlicht mit Eingriffsnormen identifiziert
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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ausländischen Norm(-gruppe) trifft und ausschließlich auf eigenes Recht verweist, sei vorgreifend erwähnt, dass man sich hier häufig im Bereich der Eingriffsnormen befinden wird. 665 Des Weiteren ist auch die abweichende oder ausschließliche Berufung bestimmter Einzelnormen oder Normgruppen des Auslandsrechts denkbar. 666 Schließlich kann theoretisch sogar die Berufung des Rechts bestimmter Staaten gezielt ausgeschlossen werden. 667 Damit zeigt sich bereits jetzt, dass die Möglichkeit einer allseitigen Bündelung schlicht von der konkreten kollisionsrechtlichen Interessenlage abhängt. Damit ist Allseitigkeit im Grundsatz stets denkbar, sodass insofern von „potentieller Allseitigkeit“ gesprochen werden kann. 668 Neben diesen unvollkommen-allseitigen Bündelungszuständen kann die erfasste Normenmasse im Rahmen der vertikalen oder horizontalen Bündelung freilich in unterschiedlichen Abstrahierungsgraden erfasst werden. So können im Rahmen der vertikalen Bündelung einige wenige Element-Kollisionsnormen (etwa jene des Handelsvertreterrechts) bis hin zu einem ganzen Sachgebiet (etwa alle (Element-)Kollisionsnormen des Erbrechts) zusammengefasst werden. Genauso kann im Rahmen der horizontalen Bündelung graduell unterschieden werden: Die autonom gebildeten Verweisungen hinsichtlich fremder und eigener Rechtssätze können in beliebiger Anzahl zusammengefasst werden, sodass diese nur die Normen einer einzigen, mehrerer oder aller Rechtsordnungen erfassen. Einige dieser außerordentlichen Bündelungszustände sollen im Folgenden exemplifiziert werden:
(siehe hierzu im 5. Kapitel unter C.IV.). – Den Fall der Exklusivnorm erwähnte bereits Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 51; Kahn, ZIPÖR 12 (1903), 229, 330 f.: Der Gesetzgeber gebe „bei der internationalen Vertheilung jedem Mann ein Ei, sich selbst aber, dem braven Schweppermann, zwei“. 665 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 106. Siehe hierzu ausf. im 5. Kapitel. 666 Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 70. Siehe hierzu außerdem im 5. Kapitel unter C.III. 667 Dies wäre ein politisch und verfassungsrechtlich problematischer, jedoch kollisionsrechtsmethodisch grundsätzlich erlaubter Vorgang. Vor allem problematisch ist die Rechtfertigungsbedürftigkeit eines gezielten Ausschlusses vor dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz. 668 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 231; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 147.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Außerordentliche Bündelungszustände Unvollk.-allseitig, unter Herausnahme eines bestimmten Auslandsrechts
(1) Das Erbrecht unterliegt … (regelm. Anknüpfung) (2) Das ruritanische Erbrecht wird nicht angewandt.
Unvollk.-allseitig, unter modifizierter Berufung eines bestimmten Auslandsrechts
(1) Das Erbrecht unterliegt … (regelm. Anknüpfung) (2) Das ruritanische Erbrecht wird abweichend hiervon nur berufen, wenn der Erblasser ruritanischer Staatsangehöriger ist und seinen gewöhnlichen Aufenthalt zum Ztpkt. seines Todes in Ruritanien hatte.
Unvollk.-allseitig, unter weitergehender Berufung des eigenen Rechts („Exklusivnorm“)
(1) Das Erbrecht eines fremden Staates ist nur anzuwenden, wenn der Erblasser dessen Staatsangehörigkeit innehatte und im Ztpkt. seines Todes dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte (2) Deutsches Erbrecht ist anzuwenden, wenn der Erblasser die dt. Staatsangehörigkeit innehatte oder im Ztpkt. seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Dt. hatte Deutsche Vorschriften über die Beschränkung des Erwerbs inländischer Unternehmen durch ausländische Investoren sind anzuwenden, wenn ein in Deutschland ansässiges Unternehmen durch ausl. Investoren erworben werden soll. 669
Einseitige, vertikal gebündelte Kollisionsnorm ohne Berufung fremden Rechts (häufig: inländ. Eingriffsnorm) Unvollk.-allseitig, unter abweichender Berufung fremden Rechts (häufig: ausl. Eingriffsnorm)
(1) Fremde Gesetze, die aufgrund eines Staatsnotstands Verträge modifizieren, sind nur dann anzuwenden, wenn der fremde Staat den Erfüllungsort stellt (nach Nikiforidis670). (2) Deutsches Staatsnotstandsrecht ist anzuwenden, wenn…671
Damit zeigt sich schon jetzt, dass im Bündelungsmodell zahlreiche vermeintlich systemwidrige Sonderfälle unschwer als unterschiedliche Bündelungszustände eingeordnet werden können. 672
669 Sofern die Kollisionsnorm nur auf eine bestimmte Erwerbsbeschränkung hinweisen würde, würde es sich nur um eine Element-Kollisionsnorm handeln. 670 Nachw. s.o. in Fn. 263. 671 Eine ausdrückliche Kollisionsnorm für deutsches Staatsnotstandsrecht gibt es nicht. Es würde nach der herrschenden Dogmatik wohl als Eingriffsnorm durchgesetzt werden. 672 So auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 62.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
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f) Der Ansatz „am Gesetz“ und der Ansatz „am Sachverhalt“ als Frage des Bündelungsumfangs Auch der vermeintliche Kontrast zwischen dem Ansatz „am Gesetz“ und jenem „am Sachverhalt“ erscheint durch die Einsicht in die Bündelungsstruktur des Kollisionsrechts in neuem Licht. So entpuppt es sich schlicht als Frage des Bündelungsumfangs, ob ein einzelnes Gesetz oder ein „Sachverhalt“ durch heimische Kollisionsnormen angeknüpft wird: 673 Je weniger Sachnormen einer Rechtsordnung im Rahmen der vertikalen Bündelung zusammengefasst sind, umso präsenter erscheint eine einzelne Vorschrift. Bei der Element-Kollisionsnorm ist die jeweils berufene Sachnorm freilich am dominantesten, da sich diese auf eine einzelne Sachnorm bezieht. 674 Dennoch bedarf es auch bei der Element-Kollisionsnorm stets einer eigenständigen kollisionsrechtlichen Wertung,675 worauf im 5. Kapitel noch tiefer einzugehen sein wird. Mit der Anzahl der vertikal gebündelten Element-Kollisionsnormen sinkt die Sichtbarkeit der einzelnen, berufenen Sachnormen. Eine „klassische“ Kollisionsnorm des IPR fasst schließlich so viele Element-Kollisionsnormen zusammen, dass der Anknüpfungsgegenstand durch seine abstrakte Systembezeichnung („die Ehe“) als von der Rechtsnorm zu unterscheidender „Lebenssachverhalt“ erscheint. Dieser Eindruck trügt, handelt es sich doch weiterhin nur um eine Zusammenfassung zahlreicher Element-Kollisionsnormen des Forums, welche auf fremde und eigene Sachnormen zeigen. Das Verhältnis zwischen tatsächlichen und rechtlichen Elementen ändert sich durch den Grad der Bündelung nicht, genauso wie das Verhältnis zwischen Sauerstoff- und Wasserstoffatomen stets gleich bleibt, egal ob es sich um einen Wassertropfen oder einen Wasserkanister handelt. Schurig spricht nicht umsonst von der „atomaren Struktur“ des Kollisionsrechts. 676 Wer vom Ansatz „beim Sachverhalt“ spricht, führt somit in die Irre, da hierdurch das Element der Tatsächlichkeit überbetont wird. Mit der Möglichkeit der Allseitigkeit hat der „Ansatz am Sachverhalt“ schließlich ebenso wenig zu tun, denn auch ausschließlich auf deutsches Recht zeigende (also einseitige) Element-Kollisionsnormen können vertikal dermaßen zusammengefasst werden, dass der Eindruck einer Anknüpfung an einen
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Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 114, 147 spricht von einer „Akzentverschiebung“ zwischen dem Ansatz beim Gesetz und dem Ansatz beim Sachverhalt. 674 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 199; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 294; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 37; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 85 ff.; ähnl. bereits Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 291 f.; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 29. 675 So auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 100. 676 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 231.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
„Sachverhalt“ entsteht: „Auf die Ehe ist deutsches Recht anzuwenden, wenn…“677 Damit stellt die auf eine bestimmte heimische oder ausländische Sachnorm zeigende Element-Kollisionsnorm den Grundstock jeder Bündelung – und damit allen Kollisionsrechts – dar. Die Einseitigkeit ist die wichtigste kollisionsrechtliche Urform und nicht etwa eine zu verketzernde Systemwidrigkeit. 678 Obwohl die Kollisionsnormen des EGBGB ursprünglich selbst allesamt einseitig waren, 679 scheint diese Einsicht teilweise verlorengegangen zu sein. Ein beredtes Zeugnis hierfür ist die häufig völlig unreflektierte Gleichsetzung des IPR mit Allseitigkeit. 680 g) Zum Einseitigkeitsbegriff In terminologischer Hinsicht müssten die Erkenntnisse aus dem Bündelungsmodell eigentlich zu einer Neuorientierung des Einseitigkeitsbegriffs führen, denn „Einseitigkeit“ könnte auch als Berufung einer bestimmten fremden Rechtsnorm oder Rechtsordnung verstanden werden. 681 Da sich jedoch die Gleichsetzung von Einseitigkeit und Forumsseitigkeit eingebürgert hat, soll diese Terminologie beibehalten werden. Auf einzelne Rechtsnormen oder Rechtsordnungen des Auslandsrechts zeigende Kollisionsnormen sind im Gegensatz hierzu als „fremdseitig“ zu bezeichnen. 4. Der unilateralistische Irrtum im Falle des Ansatzes beim fremden Gesetz Blicken wir zurück: Es wurde bereits ausführlich dargelegt, dass das fremde imperative Element im autonomen System sowohl bei der Sach- als auch bei der Gesamtnormverweisung ignoriert wird. 682 Die Verweisung auf eine fremde
677
Ob auf der anderen Seite Allseitigkeit bereits bei der Kollisionsnormbildung anhand einer einzelnen Sachnorm möglich ist, wird im 5. Kapitel unter B. erörtert. 678 Dagegen jüngst Berner, Kollisionsrecht im Spannungsfeld, 2017, S. 55 f. 679 Siehe hierzu Siehr, IPRax 1973, 466, 475; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 168; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 361; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 71, 75 ff. Die initiale Einseitigkeit des EGBGB beruhte auf der politischen Überlegung, dass ausländisches Recht nur bei einer entsprechenden Verbürgung der Gegenseitigkeit in der fremden Rechtsordnung angewandt werden sollte (Siehr, a.a.O.). Die Allseitigkeit wurde zudem als völkerrechtliches Problem empfunden, weshalb der ursprünglich allseitige gebhardsche Entwurf „einseitig verstümmelt“ wurde (siehe die Nachw. in Fn. 533). 680 Dies wird besonders sichtbar bei Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 116. Siehe hierzu auch Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 237; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 193; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 69. 681 So auch Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 105. 682 Siehe hierzu ausf. oben unter D.I.1.
D. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas
139
Einzelnorm oder Normgruppe erstreckt sich nur auf das fremde rationale Element, was zur Synthese einer materiellen Sondernorm des heimischen Rechts führt. Dem widerspricht die teilweise vertretene Annahme, wonach der Ansatz beim fremden Gesetz zur Übernahme fremder Festlegungen des Geltungsbereichs führen soll. 683 Der Ansatz beim (fremden) Gesetz wird insofern mit der unilateralistischen Methode identifiziert. 684 Trennt man jedoch zwischen Anwendungs- und Geltungsbereich, so wird erkennbar, dass auch bei der Kollisionsnormbildung am fremden Gesetz allenfalls eine Festlegung des fremden Anwendungsbereichs als Bestandteil der fremden Ratio übernommen wird – und dies nur dann, wenn es um eine Gesamtnormverweisung geht. 685 Im Rahmen einer Sachnormverweisung wird dagegen nur die ausländische Ratio exklusive der fremden Bestimmungen über den Anwendungsbereich berufen, sodass uns ein etwaiger Anwendungs- oder Nichtanwendungswille im Fremdrecht nicht interessieren muss. 686 Jedoch wird die autonome kollisionsrechtliche Interessenabwägung auch hier häufig zum Ergebnis führen, dass die Heranziehung nicht-anwendungswilliger fremder Normen widersinnig wäre.687 Der fremde Nichtanwendungswille kann damit auch im Rahmen der Sachnormverweisung nach eigenem Ermessen des Forums gewürdigt werden.688
683 So ausdrücklich Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 58, 228, wonach die „unilateralistische“ Herangehensweise dem fremden Eingriffsstaat die Entscheidung über die Anwendbarkeit von Eingriffsnormen überlassen würde. Siehe auch Habermeier, Neue Wege, 1997, S. 191 ff., 305. 684 Dies wird sichtbar bei Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 102; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 70; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 58 ff.; v.Hein, AG 2001, 213, 232; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 19; Berner, Kollisionsrecht im Spannungsfeld, 2017, S. 151 (beschränkt auf die Eingriffsnorm). – Gegen die Gleichsetzung des Unilateralismus mit dem Ansatz „beim Gesetz“ auch: Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 90, 193, 352; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 106; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 109 f.; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 113; Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 6. 685 So auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 283; ähnl. Siehr, RabelsZ 52 (1988), 41, 72; Schiffer, Normen ausländischen „öffentlichen“ Rechts, 1990, S. 160. Siehe hierzu außerdem bereits oben unter D.I.1.b. 686 So auch Beitzke, RabelsZ 48 (1984), 623, 646. Dagegen Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 343; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 310. 687 So auch Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 95; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 105 ff. 688 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 212; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 329; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 127. – So wird der fremde kollisionsrechtliche Nichtanwendungswille häufig auch eine entsprechende sachrechtliche Einschränkung nach sich ziehen, die ebenfalls zur Nichtanwendung der fremden Sachnorm führen kann (Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 238; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 217 f. Siehe außerdem im 4. Kapitel unter A.III.). Sofern es
140
3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
Der Geltungsbereich hingegen bleibt in jedem Fall auf das Hoheitsgebiet beschränkt. 689 Fremde Festlegungen des Geltungsbereichs werden durch das Kollisionsrecht weder in Bezug genommen noch befolgt. Dies wird im Bündelungsmodell hinsichtlich der Berufung eigener und fremder Einzelnormen besonders sichtbar.690 Es bedarf daher keines „unilateralistischen Teilsystems“, um den Ansatz am Gesetz zu verwirklichen. 691 Wir beugen uns keinen fremden Festlegungen des Geltungswillens. Die Berücksichtigung eines fremden Anwendungs- oder Nichtanwendungswillens ist im autonomen System unschwer möglich; dies stellt auch keine Eigenheit des Ansatzes „am fremden Gesetz“ dar, sondern ist in Gestalt der Gesamtnormverweisung auch für „am Sachverhalt“ ansetzende, allseitige Kollisionsnormen anerkannt. III. Zusammenfassung Die Ergebnisse dieses Abschnitts sind wie folgt zusammenzufassen: 1. Auf der Grundlage eines autonomen Kollisionsrechts stellt die Fremdrechtsanwendung keinen Import fremder Staatsgewalt dar, da sie nur zur Berufung des fremden rationalen Elements führt. 2. Die Vorstaatlichkeitsthese ist heute wie gestern abzulehnen. Auch das rationale Element des Privatrechts erhält seine Rechtsnormqualität nur in Kombination mit einer staatlichen Geltungsaussage (dem imperativen Element). 3. Der Verlust der Rechtsqualität fremden Öffentlichen Rechts ist keine Eigenheit des IÖR, sondern tritt bei jeder Fremdrechtsberufung ein. Dies hindert die Fremdrechtsberufung jedoch nicht, da fremdes Recht ohnehin nicht „als ausländisches“ angewandt wird. Vielmehr wird im Anschluss an Schinkels bei jeder Fremdrechtsverweisung ein Rechtssatz des deutschen Rechts, welcher die fremde Ratio in sich aufnimmt, synthetisiert.
sich ausnahmsweise um eine rein kollisionsrechtliche Beschränkung des Anwendungsbereichs der fremden Norm handele, bringt der fremde Staat hiermit zum Ausdruck, dass er seine eigenen Interessen nicht berührt sieht, was in der autonomen kollisionsrechtlichen Interessenabwägung des Forums ebenfalls berücksichtigt werden muss (Köhler, a.a.O. S. 218). Damit wird im Ergebnis nichtanwendungswilliges Auslandsrecht auch im Rahmen der Sachnormverweisung normalerweise nicht herangezogen (Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 71), jedoch eben nicht infolge einer Unterwerfung unter den fremden Imperativ oder einer Heranziehung der fremden kollisionsrechtlichen Festlegungen. 689 Siehe hierzu ausf. unter D.I. 690 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 95 ff., 193 ff. 691 Siehe zu den Nachteilen des Unilateralismus außerdem bereits unter Fn. 468. Häufig wird auch ein unilateralistischer Ansatz behauptet, tatsächlich aber nur der fremde Anwendungswille als erster Ansatzpunkt herangezogen (siehe hierzu ausf. im 4. Kapitel unter C.V.2.
E. Eine Neubetrachtung des IÖR
141
4. Die Fremdrechtsberufung betrifft eigene und fremde Souveränität nicht, weshalb das Völkerrecht keine diesbezüglichen Schranken aufstellt. 5. Auch die Sachnorm ist der Gegenstand des Kollisionsrechts. Sachrechtliche Zwecke werden genauso beachtet wie genuin kollisionsrechtliche Zwecke. Dieser Zweckpluralismus ist keine Eigentümlichkeit des Kollisionsrechts oder gar eine Folge einer isolierten „kollisionsrechtlichen Gerechtigkeit“, sondern die Verwirklichung rechtsgebietsspezifischer Interessenjurisprudenz. 6. Im schurigschen Bündelungsmodell wird deutlich, dass der Ansatz „am Gesetz“ nur einen geringen vertikalen Bündelungszustand beschreibt, wohingegen sich der Ansatz „am Sachverhalt“ durch eine breite vertikale Bündelung auszeichnet. Ein „Methodenpluralismus“ 692 ist insofern nicht nötig. 7. Der Ansatz am fremden Gesetz ist nicht unilateralistisch, sondern im Bündelungsmodell als Bildung einer auf fremdes Recht zeigenden Element-Kollisionsnorm erklärbar. Damit sind die schwerpunktmäßig vorgebrachten Bedenken gegen die Möglichkeit der Berufung fremden Öffentlichen Rechts widerlegt. Die Fundamente des Einseitigkeitsdogmas haben sich als nicht tragfähig erwiesen. Hiermit ist zugleich auch ein Großteil der vermeintlichen Eigentümlichkeiten der Eingriffsnorm entkräftet.
E. Eine Neubetrachtung des IÖR E. Eine Neubetrachtung des IÖR
Bevor die gefundenen Ergebnisse auf die Eingriffsnormenproblematik anzuwenden sind, lohnt sich ein kurzer Blick auf das Internationale Öffentliche Recht. Denn mit dem Wegfall der Prämissen des Einseitigkeitsdogmas ist das Fundament für ein potentiell allseitiges IÖR gelegt. 693 Welche Besonderheiten bei der Berufung öffentlich-rechtlicher Normen verbleiben, ist im Folgenden zu betrachten. I. Die Möglichkeit allseitiger Bündelungszustände Es wurde bereits dargelegt, dass die Berufung fremder Rechtssätze des Öffentlichen Rechts bereits ein Teil der modernen Rechtswirklichkeit ist. Dass auch das IÖR allseitige Bündelungen aufweisen kann, lässt sich besonders plastisch anhand Art. 17 Rom II-VO darlegen: Demnach sollen Sicherheits- und Verhaltensregeln des Unfallorts als „local data“ materiellrechtlich berücksichtigt wer-
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Siehe zu diesem Begriff Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 45 ff., sowie zu dessen Ablehnung a.a.O. auf S. 338. 693 Ähnl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 176.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
den. Wie bereits oben eingehend erörtert wurde, kann die Methode der materiellen „Berücksichtigung“ normativer ausländischer Rechtsinhalte ihre funktional kollisionsrechtliche Natur jedoch nicht verbergen. 694 Dies gilt auch für Art. 17 Rom II-VO, welcher offenbar von der abzulehnenden Annahme ausgeht, man könne dem vermeintlichen Minenfeld der Berufung fremden Öffentlichen Rechts durch die Flucht ins Materielle ausweichen. Dass es sich bei Art. 17 Rom II-VO tatsächlich um eine spezielle, allseitige Anknüpfung von Sicherheits- und Verhaltensregeln jedweder – also auch öffentlich-rechtlicher – Rechtsnatur handelt, 695 zeigt ein Aufschnüren der Bündelung. So würde die einseitig-vertikale Bündelung lauten: „Deutsche Sicherheits- und Verhaltensregeln sind anzuwenden, wenn der Unfallort in Deutschland liegt“. Die fremdseitig-vertikalen Bündelungen wären wie folgt zu formulieren: „Französische, spanische, englische… Sicherheits- und Verhaltensregeln sind anzuwenden, wenn der Unfallort in Frankreich, Spanien, England… liegt“. Die einseitigen Element-Kollisionsnormen würden sich auf bestimmte Sicherheits- und Verhaltensnormen beziehen, etwa in der folgenden Form: „Das Rechtsfahrgebot gem. § 2 Abs. 2 StVO ist anzuwenden, wenn der Unfallort in Deutschland liegt“. Eine fremdseitige Element-Kollisionsnorm könnte ferner lauten: „Das österreichische Rechtsfahrgebot (§ 7 Abs. 1 öst.StVO) ist anzuwenden, wenn der Unfallort in Österreich liegt“. Damit zeigt sich, dass heimische Element-Kollisionsnormen in gleicher Weise auf eigenes oder fremdes Öffentliches Recht zeigen können wie dies bei in- und ausländischen Normen des Privatrechts der Fall ist. Die allseitige Bündelung ist damit im IÖR und IPR strukturell identisch aufgebaut. 696 II. Die Unabhängigkeit der potentiell allseitigen Methode von den beteiligten Subjekten Nun könnte man etwa bzgl. des Art. 17 Rom II-VO einwenden, dass es sich hierbei um eine Anwendung öffentlich-rechtlicher Rechtssätze im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen privaten Subjekten handelt und daher ihre zivilrechtlichen Rechtsfolgen im Vordergrund stehen. Im Folgenden ist daher nachzuweisen, dass auch an Hoheitsträger gerichtete Kollisionsnormen potentiell allseitig sind.
694
Siehe hierzu ausf. unter B. Eine ähnliche Richtung schlägt auch Sonnenberger, in: FS Kropholler, 2008, S. 242 ein, welcher Art. 17 Rom II-VO als Teilbereich des Eingriffsrechts bezeichnet. Ähnl. außerdem bereits Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 47, welcher die Möglichkeit allseitiger Anknüpfungen im Straßenverkehr befürwortet. 696 Ähnl. Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 193. 695
E. Eine Neubetrachtung des IÖR
143
1. Die potentielle Allseitigkeit der an Hoheitsträger gerichteten Kollisionsnormen Anhand der bereits besprochenen Fälle zeigt sich schnell, dass allseitige Bündelungszustände auch unter Beteiligung eines Hoheitsträgers denkbar sind: So ist die Berufung fremden Sozialrechts durch heimische Behörden im Rahmen der Leistungsaushilfe ein solcher Fall. Hier handelt es sich indessen um einen Fall der unvollkommen-allseitigen Bündelung, da die geregelte Anknüpfung fremdes Sozialrecht ausschließlich in einem isolierten Teilbereich betrifft. 697 Das heimische Sozialrecht wird hingegen grundsätzlich für alle Inlandssachverhalte angewandt. 698 Jedoch zeigen sich im Bereich der europäischen Verwaltungskooperation bereits Ansätze einer vollkommen-allseitigen Bündelung. 699 Wie bereits gezeigt wurde, erlaubt etwa der Art. 40 Abs. 3 lit. a SDÜ700 die polizeiliche Observation einer Person auch auf fremdem Staatsgebiet, er bindet die Polizeikräfte hierbei jedoch an das Recht des fremden Vertragsstaates. Dies kann zunächst in eine fremdseitige Kollisionsnorm umgedeutet werden: „Bei der Observation im Ausland ist das Recht des (fremden) Staates anzuwenden, auf dessen Staatsgebiet die Observation stattfindet.“ Da hiermit derselbe territoriale Anknüpfungsmoment ausschlaggebend sein dürfte wie im Falle der Berufung entsprechenden Inlandsrechts, ist auch eine allseitige Kollisionsnorm formulierbar: „Auf die Observation ist das Recht des Staates anzuwenden, auf dessen Staatsgebiet die Observation stattfindet“. Hierbei handelt es sich freilich um eine vertikale Bündelung von recht geringem Umfang, da nur das polizeiliche Instrument der Observation erfasst ist. Eine umfangreichere vertikale Bündelung würde sich nach heutigem Stand nicht zur Anwendbarkeit fremden Polizeirechts äußern: „Heimisches Polizeirecht ist anzuwenden, wenn eigene Polizeibehörden im Inland tätig werden“. 701 Hieran sieht man, dass eine einseitige Kollisionsnorm des IÖR die Fremdrechtsberufung häufig nicht ausschließt, sondern nur einer diesbezüglichen Aussage entbehrt. So könnte man sich im Rahmen einer weitergehenden Verwaltungskooperation durchaus zu einer allseitigen Kollisionsnorm der folgenden Form entschließen: „Das Polizeirecht des Staates ist anzuwenden, auf dessen Staatsgebiet die Polizeibehörde tätig
697
Siehe hierzu bereits oben unter B.IV. Näher hierzu Seewald, in: KasselerKomm, 96. EL 2017, Vorbemerkungn, Rn. 27 ff. 699 Siehe hierzu auch Peine, in: FS Martiny, 2014, S. 956. 700 Siehe hierzu bereits die Nachw. in Fn. 372. 701 Ähnl. Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 3. Insofern könnte die allseitige Observationskollisionsnorm als allseitige lex specialis eingeordnet werden. 698
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
wird“. 702 Somit führt selbst die Beteiligung eines Hoheitsträgers nicht zum pauschalen Ausschluss der Allseitigkeit; 703 jedoch wird es in diesem Fall aus sogleich zu erörternden Gründen deutlich häufiger bei der Einseitigkeit bleiben. Während damit vollkommen-allseitige Bündelungszustände im Öffentlichen Rechtsanwendungsrecht bis jetzt vor allem eine Domäne der Theorie sind, dürften unvollkommen-allseitige Kollisionsnormen in diesem Bereich häufiger vorkommen. Denn in der Regel wird der Gesetzgeber eine Anwendung fremden Öffentlichen Rechts durch Hoheitsträger zunächst nur in beschränkten Teilbereichen und mithilfe einer gegenüber dem eigenen Recht deutlich zurückhaltenderen Anknüpfung zulassen. 2. Subjektrelativität als Frage der vertikalen Bündelung Angesichts der festgestellten Zurückhaltung des Gesetzgebers in hoheitlichen Verhältnissen und der weitergehenden Anwendungsbereitschaft in zivilrechtlichen Streitigkeiten wird erkennbar, dass die Ausgestaltung einer Kollisionsnorm auch von den beteiligten Subjekten abhängt. Insbesondere kann sich eine Kollisionsnorm ausschließlich an Hoheitsträger oder ausschließlich an Private richten. Sie kann jedoch auch Gültigkeit für beide Verhältnisse beanspruchen, wenn die kollisionsrechtliche Interessenlage keine Unterscheidung zwischen Hoheitsträgern und Privaten gebietet. Die Differenzierung nach Subjekten ist hierbei schlicht ein weiteres Kriterium der Bündelschnürung. Die jeweilige Rechtsordnung kann schließlich auch zwischen weiteren Subjekten unterscheiden: So erscheinen auch unterschiedliche Kollisionsnormen für natürliche oder juristische Personen durchaus möglich. Hiermit ist nicht das Gesellschafts- oder Personalstatut selbst gemeint, sondern eine unterschiedliche Berufung derselben Rechtsnormen in Abhängigkeit von der Beteiligung einer natürlichen oder juristischen Person. Es ist nicht einzusehen, weshalb die Existenz unterschiedlicher Subjekte im Sachrecht nicht auch kollisionsrechtlich widergespiegelt werden könnte.
Die Eingriffsnorm indessen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass ihre einseitige Kollisionsnorm häufig gleichermaßen an Private und an Hoheitsträger gerichtet ist. Dies lässt sich am Beispiel eines Ausfuhrverbots illustrieren. Wenn etwa die Ausfuhr eines bestimmten Guts untersagt wird, erfordert die kollisionsrechtliche Interessenlage keine Differenzierung zwischen hoheitlichen und privaten Subjekten: Sowohl im privaten als auch im hoheitlichen Verhältnis ist das Ausfuhrrecht bei einer Ausfuhr aus dem Inland anzuwenden. 704 702 Eine solche Kollisionsnorm wäre sicherlich zunächst nur innerhalb des Binnenmarkts denkbar. Siehe zum Binnenmarktkollisionsrecht ausf. im 5. Kapitel unter E. 703 Ähnl. auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 337 f. 704 Unterschiedlich sind freilich die Rechtsfolgen: Die Anwendbarkeit des Ausfuhrverbots führt entweder zur behördlichen Untersagung der Ausfuhr oder zur Nichtigkeit eines Vertrags (etwa i.V.m. § 134 BGB). Siehe zur kollisionsrechtlichen Behandlung des Außenwirtschaftsrechts außerdem im 5. Kapitel unter C., dort Fn. 996.
E. Eine Neubetrachtung des IÖR
145
Damit muss man öffentlich-rechtliche Eingriffsnormen auch nicht mehr zwingend mithilfe zivilrechtlicher Brückenklauseln ins Privatrecht ziehen, um eine Zuordnung zum IPR zu erreichen. Die öffentlich-rechtliche oder zivilrechtliche Natur ist für die Berufbarkeit in einem privaten Rechtsstreit nicht mehr relevant, vielmehr kommt es allein darauf an, ob sich die jeweilige Kollisionsnorm auch an Private richtet. 705 3. Die identische kollisionsrechtliche Struktur und Methodik sowie die terminologischen Folgen Damit hat sich herausgestellt, dass die kollisionsrechtliche Methode und Struktur stets dieselbe bleibt: Egal ob eigenes oder fremdes Recht, ob „am Gesetz“ oder „am Sachverhalt“, ob privates oder öffentliches Recht, ob mit oder ohne Hoheitsträgerbeteiligung – stets erfolgt die kollisionsrechtliche Verweisung nach derselben Methode und Struktur. 706 In allen Fällen geht es um die Bündelung von Element-Kollisionsnormen nach Maßgabe der kollisionsrechtlichen Interessenlage. In allen Fällen besteht die Kollisionsnorm aus Anknüpfungsgegenstand und Anknüpfungsmoment. 707 Es gibt damit keinen fundamentalen Unterschied zwischen IÖR und IPR. 708
705 Ähnl. Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 42 f.; Lipstein, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 41. Siehe außerdem bereits oben unter E.II. 706 Ähnl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 155; Habermeier, Neue Wege, 1997, S. 306. Im Ansatz auch Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 1. – Bzgl. Eingriffsnormen: Bucher, Grundfragen, 1975, S. 109; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 244; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 129; Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 7. 707 Jeweils nur in Teilbereichen: Ficker, Grundfragen, 1952, S. 67; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 109, 203; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 244; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 160, 165, 355; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 71; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 43, 129; Trutmann, in: FS Heini, 1995, S. 468; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 139; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 148; Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 200; Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 7. 708 Dagegen Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 131 ff., welcher vor allem mit den unterschiedlichen Interessen argumentiert. Es ist zwar richtig, dass das IÖR teilweise andere Interessen verfolgt als das IPR und teilweise auch anderen verfassungsrechtlichen Anforderungen unterliegt (siehe hierzu sogleich); ein Interesse lässt sich jedoch nicht pauschal an eine bestimmte gesetzgeberische Handlungsform koppeln, sodass auch eine pauschale Beschreibung der Interessen des IÖR und IPR ausscheidet.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
4. Die Folgen der strukturellen Identität Mithin können die Bezeichnungen „IÖR“ und „IPR“ allenfalls für den an Hoheitsträger oder Private gerichteten Teil des Kollisionsrechts verwendet werden; um unterschiedliche kollisionsrechtliche Methoden oder Strukturen kann es hierbei nicht gehen. 709 Eine wesentliche Bedeutung hat die Trennung zwischen IPR und IÖR damit nur noch für die Begrenzung der unionalen IPR-Kompetenz: Diese erlaubt der EU nur den Erlass von Kollisionsnormen, die an Private gerichtet sind. 710 Ob die unionalen Kollisionsnormen öffentlichrechtliche oder privatrechtliche Sachnormen berufen, ist dagegen unerheblich.
Da die Begriffe „Internationales Privatrecht“ und „Internationales Öffentliches Recht“ außerdem den irreführenden Eindruck eines transnationalen Sachrechts erwecken711 und stark mit den oben abgelehnten Systemprämissen belastet sind, erschiene ein völliger Verzicht auf jene Begriffe zwar durchaus vorteilhaft, angesichts ihrer Etablierung aber undurchsetzbar. Überzeugender wäre die einheitliche Bezeichnung als „allgemeines Rechtsanwendungsrecht“ oder „Internationales Kollisionsrecht“, da hierbei kein Risiko besteht, anhand der berufenen Rechtsmaterie unterscheiden zu wollen. 712 Sofern im Zuge dessen der Subjektbezug einer Kollisionsnorm hervorgehoben werden soll, könnte von „privatem“ oder „öffentlichem“ Rechtsanwendungsoder Kollisionsrecht gesprochen werden. III. Einige Gründe für die weitergehende Einseitigkeit der Kollisionsnormen für materiell Öffentliches Recht Im Folgenden soll knapp darauf eingegangen werden, warum insbesondere das an Hoheitsträger gerichtete Kollisionsrecht (d.h. das öffentliche Rechtsanwendungsrecht) häufig einseitig ausgestaltet ist. 709 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 279. Ähnl. Peine, in: FS Martiny, 2014, S. 959, 963. 710 Die unionale IPR-Kompetenz würde dann sowohl die ausschließlich an Private als auch die sowohl an Private als auch an Hoheitsträger gerichteten Kollisionsnormen erfassen. 711 Siehe zur Kritik an den Begrifflichkeiten etwa Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 4; Siehr, in: FS Zajtay, 1982, S. 409 (der Name sei eine „Narrenkappe“); v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 9; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 1, Rn. 9 f. Siehe zu den verwirrenden Überschneidungen mit völkerrechtlichen Terminologien außerdem im 2. Kapitel unter A. 712 Zum Überbegriff „(Internationales) Kollisionsrecht“: Heiz, Das fremde öffentliche Recht, 1959, S. 11 ff.; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 102; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 56; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 28. Ähnl. auch Schnorr von Carolsfeld, in: FS Beitzke, 1979, S. 697, welcher den Begriff des „allgemeinen Normengrenzrechts“ einführt; außerdem Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 130 ff. Freilich erweckt der Begriff des „Kollisionsrechts“ den falschen Eindruck der Kollision staatlicher Machtansprüche. Er ist dennoch aufgrund seiner Etablierung weiter zu verwenden.
E. Eine Neubetrachtung des IÖR
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1. Der weitgehende Gleichlauf mit der Internationalen Öffentlichen Zuständigkeit Der wohl zentrale Grund ist die beschränkte Internationale Öffentliche Zuständigkeit713 von Behörden und Gerichten. Da diese in der Regel nur für Inlandssachverhalte zuständig sind, wird die Frage der Fremdrechtsberufung mangels einer Zuständigkeit für Auslandssachverhalte häufig gar nicht relevant. Es begegnet uns im öffentlichen Rechtsanwendungsrecht also ein weitgehender Gleichlauf von forum und ius.714 Im Falle privater Akteure fallen dagegen das Ortsrecht des Gerichts und das anwendbare Recht regelmäßig auseinander, wenngleich auch das IPR durch einen vermehrten Gleichlauf mit der Zuständigkeit an Relevanz verliert. 715 Die Regeln des Internationalen Öffentlichen Zuständigkeitsrechts verbergen sich zumeist selbst in einseitigen Kollisionsnormen oder im materiellen Öffentlichen Recht. 716 Wenn etwa angeordnet wird, dass die Einfuhr von Kernbrennstoffen genehmigungspflichtig ist, so kann mittels Auslegung717 auf eine einseitige Kollisionsnorm geschlossen werden, nach welcher der § 3 AtomG bei der Einfuhr von Kernbrennstoffen nach Deutschland anzuwenden ist. Da es eine nicht normierungsbedürftige Selbstverständlichkeit ist, dass das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle nicht für Einfuhren in andere Staaten zuständig ist, stellt sich die Frage nach der Anwendung fremden Ausfuhrrechts nicht. Daher bedarf es auch nicht der Ausbildung allseitiger Kollisionsnormen. Dies ändert jedoch nichts an der strukturellen Möglichkeit zur Allseitigkeit. So könnte man sich bspw. dafür entscheiden, für alle Einfuhren von Kernbrennstoffen in die EU die Zuständigkeit in Frankreich zu konzentrieren, ohne zugleich das Einfuhrrecht zu harmonisieren. In dem Fall wären die Grenzen der französischen Zuständigkeit weiter gefasst als der Anwendungsbereich des französischen Atomrechts. Hier bedürfte es dann einer binnenmarktallseitigen Kollisionsnorm im französischen Recht, welche die folgende Form
713 Siehe hierzu Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 46 sowie ausf. zur Internationalen Zuständigkeit für den Verwaltungsvollzug Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 353 ff. 714 Ähnl. Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 94; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 155 ff.; Siehr, RabelsZ 52 (1988), 41, 89; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 834; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 232; Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1, 14 f.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 66; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 1094; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 141. 715 Siehe zum Bedeutungsverlust des IPR infolge des Gleichlaufs von forum und ius Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 402; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 65. 716 v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 66. Häufig kann auch aus dem Bezug der Rechtsfolge auf den Erlassstaat auf die Einseitigkeit der Kollisionsnorm geschlossen werden (v.Bar/Mankowski, a.a.O. Rn. 60). 717 Siehe zur auslegenden Gewinnung von Kollisionsnormen und der Abgrenzung zur Rechtsfortbildung im 4. Kapitel unter A.II./III.
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3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
haben könnte: „Die Genehmigung zur Einfuhr von Kernbrennstoffen ist nach dem Recht des Mitgliedstaates zu erteilen, in das der Kernbrennstoff eingeführt werden soll“.
Auch im Bereich nicht-territorialer Anknüpfungsmomente erübrigt sich die Allseitigkeit zumeist durch die beschränkte inländische Zuständigkeit. So wird etwa in Form einer einseitigen Kollisionsnorm angeordnet, dass die Wehrpflicht auf alle männlichen deutschen Staatsangehörigen anzuwenden ist. 718 Nun stellen deutsche Behörden bekanntlich nicht fest, ob ein Ausländer nach seinem Heimatrecht wehrpflichtig ist. Auch dies liegt darin begründet, dass deutsche Behörden nur für die Feststellung der Wehrpflicht nach deutschem Recht zuständig sind. Daher besteht schlicht keine Notwendigkeit einer allseitigen Kollisionsnorm, was nichts an deren theoretischer Formulierbarkeit ändert: „Die Wehrpflicht bestimmt sich nach dem Recht des Staates, dessen Staatsangehörigkeit der Wehrpflichtige besitzt“. Eine solche Kollisionsnorm könnte infolge eines zwischenstaatlichen Abkommens notwendig werden, etwa wenn sich der deutsche Staat dazu verpflichten würde, auch die Wehrpflichtigkeit von in Deutschland befindlichen israelischen Staatsbürgern nach israelischem Recht festzustellen.
2. Notwendige Einseitigkeit kraft Sachzusammenhang Außerdem kann ein Sachgebiet dermaßen eng mit einem bestimmten Staat verbunden sein, dass eine Allseitigkeit kraft Natur der Sache sinnlos ist. Dies betrifft insbesondere staatliche Organisations- und Kompetenznormen sowie Beamtenrecht.719 Eine derartige Einseitigkeit kraft Natur der Sache sollte jedoch nicht zu schnell angenommen werden. Das in diesem Kapitel widerlegte Einseitigkeitsdogma des Öffentlichen Rechts darf als mahnendes Beispiel im Hinblick auf pauschale Ausschlüsse der Einseitigkeit gelten. 3. Geringere Mobilität hoheitlicher Akteure Des Weiteren sind private Akteure deutlich mobiler als hoheitliche Akteure, sodass die Wahrscheinlichkeit eines Auslandsbezugs stark vermindert ist. Es wird daher in der Regel nur der Bürger als Adressat einer hoheitlichen Maßnahme sein, der den grenzüberschreitenden Bezug auslöst, nicht die handelnde Behörde selbst. Dies wird in den obigen Beispielen hinsichtlich der Wehrpflicht und der grenzüberschreitenden Observation besonders sichtbar. 720
718 Dies hat seine Grundlage in § 1 Abs. 1 WPflG i.V.m. Art. 12a GG (Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 359). Dies gilt trotz der Aussetzung der Wehrpflicht, da diese sowohl im GG als auch im WPflG weiterbesteht (Schmidt-Radefeldt, in: BeckOK-GG, 35. Ed. 2017, Art. 12a GG, Rn. 7). 719 Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 95. 720 Denn es ist jeweils der sich im Inland aufhaltende wehrpflichtige Ausländer oder der die Grenze überschreitende Störer, der den Auslandsbezug auslöst.
E. Eine Neubetrachtung des IÖR
149
Hinzu kommt auch, dass die zwischen Privaten bestehende Möglichkeit der Rechtswahl im Bürger-Staat-Verhältnis bisher nicht besteht. 721 4. Verfassungsrechtliche Einschränkungen Schließlich führt in einigen Bereichen auch das Verfassungsrecht zu einer eingeschränkten Möglichkeit allseitigen öffentlichen Rechtsanwendungsrechts. 722 So erfordert Art. 20 Abs. 3 GG für jedes hoheitliche Eingreifen eine gesetzliche Grundlage.723 Diesen Anforderungen muss auch eine durch öffentliches Rechtsanwendungsrecht berufene Ratio des Fremdrechts genügen. Zwar bestehen keine Probleme im Hinblick auf den Vorbehalt eines deutschen Gesetzes, weil das Syntheseergebnis ohnehin dem deutschen Recht entspringt. 724 Da bei der Fremdrechtsberufung die heranzuziehende Ratio nicht von vorneherein feststeht, sondern je nach anwendbarem Recht variiert, ergibt sich jedoch ein Problem hinsichtlich der Bestimmtheit der Eingriffsgrundlage. 725 Da die fremde Ratio nicht vom deutschen Gesetzgeber sanktioniert wurde, entstehen außerdem Reibungspunkte mit der Notwendigkeit der demokratischen Legitimation der Eingriffsgrundlage. 726 Indessen hat das BVerfG ein verfassungsrechtliches „Optimierungsgebot“ zur Einfügung in die Staatengemeinschaft entwickelt, das bei auslandsbezoge-
721
Eine Rechtswahl im Bürger-Staat-Verhältnis erscheint jedoch nicht per se ausgeschlossen. So könnte etwa ein grenzüberschreitendes Bauprojekt in Abstimmung mit der fremden Baubehörde und den beteiligten Bauunternehmen infolge einer Rechtswahl auch im Zuständigkeitsbereich der heimischen Baubehörde nach fremdem Baurecht genehmigt werden. 722 Siehe ausf. zu den verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen der Berufung fremden Öffentlichen Rechts Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 90 ff. (allerdings unter Rückgriff auf Gleichwertigkeitsvorstellungen, welche wie besehen in einem autonomen Kollisionsrecht kaum ergiebig sind). 723 Huster/Rux, in: BeckOK-GG, 35. Ed. 2017, Art. 20 GG, Rn. 138 ff. – Speziell im Hinblick auf das IÖR: v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 60; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 137; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 56. 724 Nach Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 42 f. soll bereits eine geschriebene Kollisionsnorm des IÖR den Anforderungen des Art. 20 Abs. 3 GG genügen. 725 Zum Bestimmtheitsgebot etwa Huster/Rux, in: BeckOK-GG, 35. Ed. 2017, Art. 20 GG, Rn. 182 ff. 726 Ähnl. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 107 ff.; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 139; Grzeszick, in: Maunz/Dürig-GG, 81. EL 2017, Art. 20 GG, Rn. 75 ff.
150
3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
nen Sachverhalten durchaus Modifikationen an Verfassungsprinzipien ermöglicht.727 Auf dieser Grundlage können im Falle der Verweisung auf fremdes Öffentliches Recht durchaus Abstriche hinsichtlich der demokratischen Legitimation der Eingriffsgrundlage hinzunehmen sein. 728 Schließlich sieht sich insbesondere die für den europäischen Rechtsraum vorgeschlagene Anwendung ausländischen Strafrechts 729 auch mit dem besonderen Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG konfrontiert.730 Auch hier erscheint eine Anpassung aufgrund des Verfassungsgebots zur Einpassung in die Staatengemeinschaft jedoch nicht völlig ausgeschlossen. Diese knappe und unvollständige 731 Umschau genügt für die Zwecke dieser Arbeit. Sie lässt erkennen, dass die potentielle Allseitigkeit des öffentlichen
727 Siehe hierzu ausf. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 96 ff.; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 214, 246 sowie im 6. Kapitel unter D.IV.3.b. 728 Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 139. Ein tragfähiger Grund für die Hinnahme dieser Einschränkungen der demokratischen Legitimation ist neben den regelmäßigen verfassungsrechtlichen Rechtfertigungstatbeständen auch das Erfordernis internationaler Zusammenarbeit (Ohler, a.a.O. S. 140). 729 D. Magnus, in: FS Magnus, 2014, S. 704. Eine Anwendung ausländischen Strafrechts mithilfe allseitiger Kollisionsnormen des IÖR diskutierte bereits Wengler, JZ 1965, 100, 102. 730 v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 60. Eine Allseitigkeit ohne Betonung des Art. 130 Abs. 2 GG ausschließend: Raape, IPR, 5. Aufl. 1961, S. 8; Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 42. – Das Internationale Strafrecht besteht nach dem jetzigen Stand ausschließlich aus einseitigen Kollisionsnormen (v.Hoffmann, in: FS Henrich, 2000, S. 286; so auch im common law; siehe hierzu im 1. Kapitel unter C.III., dort Fn. 176). Es zeichnet sich durch einen verhältnismäßig hohen Grad an Differenzierung mithilfe gebietsbezogener und personaler Anknüpfungsmomente aus. – Nicht gegen ein allseitiges Internat. Strafrecht ins Feld geführt werden kann, dass der BGH eine strafschärfende Berücksichtigung der Ausländereigenschaft aufgrund des Gleichheitssatzes verboten hat (so aber v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 60, verweisend auf BGH, Urt. v. 28.07.1972 – 2 StR 330/72, NJW 1972, 2191). Die Ausländereigenschaft darf nur bei einer bereits erfolgten kollisionsrechtlichen Berufung des deutschen Rechts nicht zusätzlich strafschärfend berücksichtigt werden. In diesem Fall hat ein Satz des Internationalen Strafrechts gerade in Erfüllung des Prinzips suum cuique eine Auswahlentscheidung zugunsten des nach deutscher Vorstellung für diesen Fall angemessenen deutsc hen Strafrechts getroffen. Der deutsche Gesetzgeber könnte jedoch ebenso angesichts des Rechts des Ausländers auf Ungleichbehandlung anordnen, dass in bestimmten Fällen ausländisches Strafrecht anzuwenden wäre. Es wäre damit kein Widerspruch zum Gleichheitsgrundsatz, sondern gerade dessen Erfüllung, wenn ein Ausländer nach seinem Heimatstrafrecht beurteilt werden würde. 731 So wurde etwa nicht angesprochen, inwiefern Verwaltungsrichter und Behörden im Gegensatz zum Zivilrichter in der Möglichkeit der Rechtsfortbildung beschränkt sind (siehe hierzu Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 115 f.).
E. Eine Neubetrachtung des IÖR
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Rechtsanwendungsrechts zwar durch verfassungsrechtliche Prinzipien beschränkt, aber nicht vollständig verhindert wird. IV. Die Gelegenheit zur unbelasteten Kollisionsnormbildung Da die kollisionsrechtliche Berufung fremden Öffentlichen Rechts damit nicht pauschal ausgeschlossen werden kann, eröffnet sich die Gelegenheit zur unbelasteten Bildung von auf Öffentliches Recht zeigenden, subjektspezifischen Kollisionsnormen. 732 Auch hierbei hilft der Territorialitätsbegriff nicht weiter. Denn mit dem Verweis auf die „Territorialität“ des Öffentlichen Rechts ist allenfalls dessen inländische Geltung beschrieben; es bedeutet indessen nicht, dass auch der Anknüpfungsmoment zwangsläufig staatsgebietsbezogen sein muss. 733 Damit geht es auch im öffentlichen Rechtsanwendungsrecht um die Ermittlung der maßgeblichen kollisionsrechtlichen Interessenlage, 734 welche häufig zu personalen oder gebietsbezogenen Anknüpfungsmomenten führen wird. Hierbei steht man angesichts des nur äußersten rudimentären kollisionsrechtlichen Besitzstands noch ganz am Anfang. 735 Die so entstandenen Kollisionsnormen werden zumeist einseitig sein und aufgrund der oben erwähnten Gründe häufig auch in diesem Zustand verbleiben – wenngleich die Tür zur Allseitigkeit aus dogmatischer Perspektive stets offen steht. V. Fazit und Schlussfolgerungen Die obigen Ergebnisse können folgendermaßen zusammengefasst werden: 1. Das gesamte Rechtsanwendungsrecht arbeitet unabhängig von der Rechtsnatur der berufenen Normen oder der Rolle der beteiligten Subjekte stets nach derselben, potentiell allseitigen Struktur. Stets geht es um die interessengerichtete Kollisionsnormbildung und -bündelung. 2. Das öffentliche Rechtsanwendungsinteresse bildet nach heutigem Stand nur selten allseitige oder unvollkommen-allseitige Kollisionsnormen aus. Dies hat jedoch nur statistische, nicht strukturelle Bedeutung; 736 der Unterschied ist 732 So auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 156; ähnl. Peine, in: FS Martiny, 2014, S. 956 f. 733 Ähnl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 317. 734 Hierbei mag auch die Fremdrechtsberufung selbst durch besondere Interessen des öffentlichen Rechtsanwendungsrechts geboten sein (Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 96 ff., etwa zum Gebot der Vermeidung von Doppelbelastungen). 735 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 160; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 33. 736 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 151 f.; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 148; ähnl. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 37 ff. m.w.N., welcher die Seltenheit von „Kollisionslagen“ für die häufige Einseitigkeit
152
3. Kapitel: Das IÖR als Ursprung der Isolation des Eingriffsrechts
quantitativ, nicht qualitativ. Offensichtlich besteht bisher kaum das kollisionsrechtliche Interesse, Hoheitsträger nach fremdem Recht handeln zu lassen. Häufig wird auch die Harmonisierung der Internationalen Öffentlichen Zuständigkeit sowie der einseitigen Kollisionsnormen (etwa durch Doppelbesteuerungsabkommen) völlig ausreichen. 737 3. Die Seltenheit allseitiger Kollisionsnormen im Rechtsanwendungsrecht der Hoheitsträger machte es erst möglich, dass sich Einseitigkeits- und Territorialitätsdogmen bis heute halten konnten. Während das Einseitigkeitsdogma aufgrund der zumeist auf Inlandsfälle beschränkten Zuständigkeit heimischer Behörden im IÖR wenig Schaden anrichten konnte, führte dessen unbesehene Übertragung auf die Eingriffsnormenproblematik zu zahlreichen Missverständnissen. Hierauf wird im nächsten Kapitel ausführlich einzugehen sein.
F. Gesamtfazit zum 3. Kapitel F. Gesamtfazit zum 3. Kapitel
Die Ergebnisse dieses Kapitels sind wie folgt zusammenzufassen: 1. Das Einseitigkeitsdogma des IÖR ist eng verwandt mit der These von der Territorialität des Öffentlichen Rechts und der Nichtanwendbarkeit ausländischen Öffentlichen Rechts. 2. Es existieren bereits zahlreiche Fälle, in denen es zu einer Berücksichtigung ausländischen öffentlichen Rechts kommt. Hierdurch wird das Einseitigkeitsdogma infrage gestellt. 3. Das Instrument der materiellrechtlichen Berücksichtigung entspricht im Falle der Heranziehung normativer Inhalte des Fremdrechts funktional ihrer kollisionsrechtlichen Berufung. Die „Flucht ins Materielle“ kann daher die Berücksichtigung ausländischer, öffentlich-rechtlicher Norminhalte nicht erklären, ohne zugleich deren kollisionsrechtliche Berufung anzuerkennen. 4. Die besondere „Staatsnähe“ des Öffentlichen Rechts hindert die kollisionsrechtliche Berufung fremden Öffentlichen Rechts nicht, denn die Fremdrechtsverweisung führt bereits aus Gründen der autonomen Systemlogik nicht zu einem Import fremder Staatsgewalt. Vielmehr wird das Element der fremden Staatlichkeit in Gestalt des imperativen Elements bereits systembedingt ignoriert. Der dogmatische Schlüssel zu einer nicht souveränitätsrührigen Berufung fremder Rechtssätze jedweder Rechtsnatur liegt damit nicht in Vorstaatlichkeitsmythen, sondern in der von Kahn begründeten und insbesondere von Kegel, Schurig und Schinkels fortentwickelten autonomen Verfassung des gesamten Rechtsanwendungsrechts: Demnach führt die Fremdrechtsverweisung des IÖR verantwortlich macht; im Gegensatz hierzu soll im IPR stets eine potentielle „Kollisionslage“ vorliegen. 737 Siehe zur Fallgruppe der Harmonisierung der einseitigen Anwendungsbereiche bereits oben unter B.IV.
F. Gesamtfazit zum 3. Kapitel
153
lediglich zur Entnahme des fremden rationalen Elements, welches mithilfe eines heimischen Imperativs zu einer heimischen Rechtsnorm synthetisiert wird. 5. Der Verlust der fremden Rechtsqualität ist damit infolge der synthetisierenden Wirkung der Fremdrechtsverweisung keine Besonderheit des Öffentlichen Rechts, sondern die selbstverständliche Folge jeder autonomen Fremdrechtsverweisung. 6. Da das Kollisionsrecht den Geltungsbereich eigenen und fremden Rechts nicht betrifft, unterliegt es kaum der völkerrechtlichen Kontrolle. Ausschließlich die auslandsbezogene Ausdehnung des Anwendungsbereichs eigenen Rechts unterliegt dem genuine link-Erfordernis. 7. Die Berücksichtigung von Sachnormzwecken im Rahmen der kollisionsrechtlichen Interessenlage ist ein Gebot der Interessenjurisprudenz. 8. Die Fragestellung „vom Gesetz“ ist kein methodischer Gegensatz zum Ansatz „beim Sachverhalt“, sondern beschreibt nur einen unterschiedlichen vertikalen Bündelungsumfang. Die Fragestellung beim fremden Gesetz ist damit auch nicht unilateralistisch; sie führt vielmehr zu einer autonomen, auf fremde Rechtssätze bezogenen Kollisionsnormbildung. 9. Auch das Internationale Öffentliche Recht (besser: das öffentliche Rechtsanwendungsrecht) bedient sich der potentiell allseitigen Methode der Bündelung von Element-Kollisionsnormen anhand der kollisionsrechtlichen Interessenlage. Es gibt damit keine fundamentalen Unterschiede zwischen IÖR und IPR. Die weitgehende Einseitigkeit des Kollisionsrechts für Hoheitsträger erklärt sich vor allem mit dem Gleichlauf von Internationaler Zuständigkeit und anwendbarem Recht.
Kapitel 4
Folgerungen für die Eingriffsnorm Im Folgenden ist zu untersuchen, welche Rolle der Eingriffsnorm im autonomen Kollisionsrecht angesichts der Ergebnisse des letzten Kapitels noch zukommen kann.
A. Die „apriorische“ Methodik der Eingriffsnorm A. Die „apriorische“ Methodik der Eingriffsnorm
Zunächst ist die Vorstellung von der „apriorischen“ Methodik der Eingriffsnorm näher einzuordnen. Wir erinnern uns: Sie bezeichnet die fast ausschließlich bei heimischen Eingriffsnormen geäußerte Annahme, dass diese vor der Anwendung der Regelkollisionsnormen zu berufen seien („apriorisch“). Hierdurch sollen sie sich insbesondere vom ordre public unterscheiden, welcher erst nach der Befragung der Regelverweisungen einzuschalten sei („aposteriorisch“).738 I. Zur Vorstellung der Kollisionsnormlosigkeit Die Annahme einer apriorischen Methodik wird besonders plastisch bei den Autoren, die vor allem im Hinblick auf die lois d’application immédiate von einer „unmittelbaren“ Anwendung ohne jede kollisionsrechtliche Vermittlung ausgehen.739 Francescakis als Vater der lois d’application immédiate positioniert sich überraschenderweise nicht eindeutig. Er betont zwar die „unmittelbare“ Anwendung außerhalb des
738 Siehe hierzu insb. im 1. Kapitel unter C.I. sowie zum ordre public im 6. Kapitel unter A.II.2. 739 Siehr, IPRax 1973, 466, 469; ähnl. Coing, WM-WuB IV 1981, 810, 811 f.; Mayer, JDI (Clunet) 1981, 277, 345; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 93; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 89 f.; ähnl. zuvor schon Rabel, ZAIP 5 (1931), 241, 248. – Moderne Vertreter der Kollisionsnormlosigkeit finden sich kaum (so etwa in Ansätzen Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 121; Felke, RIW 2001, 30, 36; ausdr. Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 262). Die Einordnung wird dadurch erschwert, dass viele Autoren auf der Grundlage der – abzulehnenden – Gleichsetzung von IPR und Allseitigkeit (siehe hierzu im 3. Kapitel unter D.II.3.f., dort Fn. 680) häufig tatsächlich nur die Einseitigkeit der lois d’application immédiate als „Kollisionsnormlosigkeit“ umschreiben.
A. Die „apriorische“ Methodik der Eingriffsnorm
155
„savignyschen Systems“.740 Diese Annahme muss aber nicht zwingend die Kollisionsnormlosigkeit nach sich ziehen. Wahrscheinlicher ist vielmehr, dass Francescakis wie viele Autoren seiner Zeit Allseitigkeit und savignysches IPR (fälschlicherweise) pauschal gleichsetzte,741 die Notwendigkeit einer rechtsanwendungsrechtlichen Begrenzung der lois d’application immédiate jedoch nicht anzweifelt. Hierfür spricht, dass Francescakis auch hinsichtlich der lois d’application immédiate anerkennt, dass diese einen durch die „résidence des intéressés“ bestimmten Anwendungsbereich haben müssen. 742
Die Vorstellung einer kollisionsnormlosen Rechtsanwendung kann nicht richtig sein. Wer auf der Grundlage der Koexistenz verschiedener Staaten die Relativität des Gerechtigkeitsgehalts eigenen Sachrechts anerkennt, der muss auch seinen Anwendungsbereich beschreiben. 743 Nur wenn man fremde Rationes im Sinne eines „juristischen Solipsismus“ pauschal für unfähig halten würde, einen sozialen Konflikt sachgerecht zu lösen, wäre Kollisionsrecht völlig entbehrlich. 744 Eine solche Perspektive nehmen offensichtlich weder die EU noch die Mitgliedstaaten ein.745 Damit gibt es keine „Kollisionsnormlosigkeit“. Selbst im reinen Inlandssachverhalt umschreibt eine einseitige, gegebenenfalls gebündelte Element-
740
Francescakis, Rev. crit. dr. int. pr. 1966, 1, 8. Siehe hierzu im 3. Kapitel unter D.II.3.f., dort Fn. 680. 742 Siehe hierzu im 1. Kapitel unter C.II.2. 743 In Ansätzen schon Struve, Ueber das positive Rechtsgesetz, 1834, S. 7 ff.; ähnl. Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 28 f.; Niemeyer, Das IPR des BGB, 1901, S. 10; Matscher, in: FS Beitzke, 1979; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 52 ff.; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 60; Siehr, RabelsZ 52 (1988), 41, 87; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 230 ff.; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 131; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 1 ff. Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 5; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 3; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 145; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 62; Schulze, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 3 EGBGB, Rn. 6/6.2. Siehe zum Gleichheitssatz und anderen diskutierten Geltungsgründen des Kollisionsrechts im 3. Kapitel unter D.II.3.c.cc. 744 So auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 52 f. Ähnl. bereits Habicht, IPR, 1907, S. 9. v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 1, Rn. 13 sprechen davon, dass nur ein „monströser Unrechtsstaat“ immer sein eigenes Recht anwenden würde. Ob ein völliger Ausschluss der Fremdrechtsberufung tatsächlich völkerrechtswidrig wäre, sei an dieser Stelle dahingestellt (so aber Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 52; ähnl. Niemeyer, Das IPR des BGB, 1901, S. 11). 745 Ähnl. auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 6, Fn. 4 sowie S. 105, welcher richtigerweise weiter ausführt, dass dies auch für den Bereich der Eingriffsnorm gilt. – Die Perspektive eines „juristischen Solipsismus“ ist im Übrigen nicht zu verwechseln mit der richtigen Beobachtung, dass die fremde Rechtsqualität infolge der Synthesewirkung der Fremdrechtsverweisung verloren geht. Denn hierbei wird der fremden Ratio nicht ihre Fähigkeit zur Konfliktlösung abgesprochen; die Existenz der Fremdrechtsverweisung bestätigt vielmehr gerade, dass der Kollisionsrechtsgesetzgeber auch in fremden Rationes sachgerechte Lösungen vermutet. 741
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
Kollisionsnorm den heimischen Anwendungsbereich – auch bezüglich des Öffentlichen Rechts. 746 Dies bestätigt im Übrigen auch das bereits im 3. Kapitel gefundene Ergebnis, wonach erst eine kollisionsrechtliche Festsetzung das rationale Element komplettiert. 747 Denn eine Rechtsidee ist wenig wert, wenn ihr Anwendungsbereich im Dunkeln bleibt.
Genauso wie die Eingriffsnormen weisen daher auch die lois d’application immédiate einen festlegbaren, in der Regel zunächst einseitigen kollisionsrechtlichen Anwendungsbereich auf. 748 Eine Sachnorm kann nicht „aus sich heraus“ angewandt werden, vielmehr bedarf es stets einer kollisionsrechtlichen Berufung. 749 Die Vorstellung der „unmittelbaren“ bzw. kollisionsnormlosen Anwendung ist eine methodische Übertreibung, die zur Betonung der scheinbar besonders vorrangigen und systemfremden Heranziehung der lois d’application immédiate diente.750
746
Nach den Ausführungen im dritten Kapitel ist klar, dass dies für das gesamte – also auch öffentliche – Rechtsanwendungsrecht gelten muss. Zur Omnipräsenz des Kollisionsrechts im Öffentlichen Recht siehe auch: Fedozzi, Rec. d. Cours (Haye) 27 (1929), 145; Rabel, ZAIP 5 (1931), 241, 248; Neumeyer, Internationales Verwaltungsrecht IV, 1936, S. 98 ff.; Ficker, Grundfragen, 1952, S. 18; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 69; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 23; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 54; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 90 ff.; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 91; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 4; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 6; ähnl. Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 110; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 165 (anhand des Bündelungsmodells); Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 6 Fn. 6. – Dass die kollisionsrechtliche Anwendungsentscheidung häufig unbewusst erfolgt, ändert nichts daran, dass sie stattfindet (Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 54; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 91; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 7). 747 Ähnl. Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 238. Siehe zur Zugehörigkeit des kollisionsrechtlichen Anwendungsbereichs zum rationalen Element bereits im 3. Kapitel unter D.I.1. 748 Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 405; Siehr, IPRax 1973, 466, 469 f.; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 105; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 284, 306 ff.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 105 f.; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 63 f.; Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 289; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 90 f.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 12; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 99; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 166; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 6, Rn. 20. 749 Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 166. 750 Ähnl. Bucher, Grundfragen, 1975, S. 100 ff.; Schwimann, in: Aicher, ABGB, 1983, § 6 IPRG, Rn. 6; Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 194; Trutmann, in: FS Heini, 1995, S. 469.
A. Die „apriorische“ Methodik der Eingriffsnorm
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II. Nicht-abstrahierte Kollisionsnormen („selbstgerechte Sachnormen“) als Beitrag zur Illusion des Apriorismus Der Hauptgrund für die Vorstellung einer „kollisionsnormlosen“ oder zumindest „apriorischen“ Heranziehung der Eingriffsnorm liegt wiederum in der mangelnden Einsicht in die Kollisionsnormstruktur. So wird gerade auf der Grundlage des Bündelungsmodells deutlich, dass Element-Kollisionsnormen nicht nur in einer allseitigen, ob ihrer Grobheit scheinbar „am Sachverhalt“ ansetzenden und im IPR ausgesonderten Kollisionsnorm zusammengefasst sein können. Vielmehr kann eine Element-Kollisionsnorm auch innerhalb einer vorrangig sachrechtlichen Kodifikation vorkommen. Wenn etwa § 32b Nr. 2 UrhG anordnet, dass Bestimmungen über die Vergütung und Beteiligung des Urhebers auch anzuwenden sind, „soweit Gegenstand des Vertrages maßgebliche Nutzungshandlungen im räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes [d.h. in Deutschland] sind“, so wird hierdurch eine von den Regelanknüpfungen der Rom I-VO abweichende, einseitige Kollisionsnorm festgelegt. 751 Diese erweckt durch ihre Verortung im UrhG und ihren geringen vertikalen Bündelungszustand den irreführenden Eindruck einer außergewöhnlichen Sachnormnähe. 752 Die im Falle des § 32b UrhG nur vertikal gebündelten Element-Kollisionsnormen sind jedoch strukturell mit jenen einer allseitigen, im IPR abstrahierten Bündelung identisch. Es ist daher nicht nötig, den Fall der textlichen oder systematischen Nähe sach- und kollisionsrechtlicher Bestimmungen als Sonderkategorie zu verklären.753 Die rechtsanwendungsrechtliche Komponente bleibt selbst bei einer textlichen Zusammenführung mit der Sachnorm weiterhin klar vom sachlichen Inhalt abgrenzbar.754 Es ergeben sich somit keine funktionalen Unterschiede zu dem Fall, dass die kollisionsrechtliche Aussage in einen „allgemeinen Teil“ wie dem IPR ausgelagert ist. 755 Es ist damit auch kein Paradigmenwechsel, 751
Siehe zur Einordnung des § 32b UrhG als „Eingriffsnorm“: Martiny, in: FS Heldrich, 2005, S. 914; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 30. 752 Ähnl. Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 51. Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.II.3.f. 753 So auch Kegel, RabelsZ 30 (1966), 1, 5; Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 70; ähnl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 246 f. Kegel fasste dies in dem vielzitierten Ausspruch zusammen, dass die „selbstgerechte Sachnorm […] in einen materiellrechtlichen und in einen kollisionsrechtlichen Bestandteil zerlegt werden kann und daher bloß im Phänotyp, nicht im Genotyp neu ist“. 754 So auch Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 137; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 7; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 163 ff., im Rahmen des Bündelungsmodells. Ähnl. Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 27. – Daher geht es erst recht nicht um eine dritte Regelungstechnik zwischen Sachund Kollisionsnorm (so auch v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 12). 755 Ähnl. bereits Siehr, IPRax 1973, 466, 475.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
wenn in Kodifikationen des Unionsprivatrechts häufiger einseitige, sachgebietsspezifische Anknüpfungen formuliert werden. 756 Bei im Sachrecht verorteten Kollisionsnormen wie dem § 32b Nr. 2 UrhG zeigt sich nur eine einzige Besonderheit recht häufig: Solche Kollisionsnormen gebieten angesichts der von der Regelverweisung abweichenden kollisionsrechtlichen Interessenlage in der Regel eine Durchsetzung als lex specialis. 757 Um dieses Phänomen hat sich ein regelrechtes Begriffswirrwarr gebildet: Die Rede ist von „autolimitierten“, „autonomen“, „selbstgerechten“, „selbstbeschränkenden“ oder „Selbstfahr-“ Sachnormen. 758 Eine pauschale Identifikation mit Eingriffsnormen ist indessen nicht möglich,759 da die Regelungstechnik der textlich-systematischen Nähe von Kollisions- und Sachrecht potentiell überall möglich ist, wohingegen die Eingriffsnorm sich gerade durch einen besonderen Gemeinwohlbezug abheben soll (siehe hierzu sogleich).
III. Apriorismus und Kollisionsnormentwicklung Im Gegensatz zu den soeben erörterten, ausdrücklichen Kollisionsnormen im Sachrecht scheint der Eindruck einer „unmittelbaren“ bzw. „apriorischen“ Durchsetzung bestimmter Sachnormen zumindest verständlicher, wenn es an ausdrücklichen kollisionsrechtlichen Festlegungen mangelt. Wenn der Richter bestimmte, als Eingriffsnorm charakterisierte Rechtssätze trotz des Fehlens einer ausdrücklichen kollisionsrechtlichen Bestimmung durchsetzt, scheint es, als würde diesen selbst eine besondere Kraft zur „unmittelbaren“ Durchsetzung innewohnen. Dies kollidiert jedoch mit der obigen Feststellung, wonach jeder Rechtssatz eine rechtsanwendungsrechtliche Komponente aufweisen muss. Es kann daher nur geschlussfolgert werden, dass der Richter auch in diesen Fällen eine noch unerkannte Kollisionsnorm anwendet. Unklar ist jedoch, woher diese stammt
756 Siehe etwa zu entspr. Bestimmungen in der Entsende-RL: Deinert, in: FS Martiny, 2014, S. 289 ff. 757 Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 62 ff., 86; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 375; Siehr, in: FS Drobnig, 1998, S. 449; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 11; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 164. – Ebenfalls möglich ist, dass es sich nicht um eine spezielle Verweisung handelt, sondern um eine abweichende Regelverweisung (siehe zu dieser Differenzierung im 5. Kapitel unter A.IV.). 758 Siehe hierzu ausf. Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 51; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 11; Lorenz, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Einl. zum IPR, Rn. 47. Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 165 bezeichnet diese Begriffe richtigerweise als irreführend, da das kollisionsrechtliche Element verdunkelt wird. 759 So aber Kleinschmidt, Anwendbarkeit zwingenden Rechts, 1985, S. 195; Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 3 f.; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 11 ff.; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 45; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 79.
A. Die „apriorische“ Methodik der Eingriffsnorm
159
und wie diese gebildet wird. Da die Eingriffsnormklauseln hierauf keine Antwort geben,760 stehen dem Richter die allgemeinen Methoden der auslegenden und rechtsfortbildenden Kollisionsnormentwicklung zur Verfügung. 1. Die Kollisionsnormbildung durch Auslegung räumlich-persönlicher Tatbestandsmerkmale Um einen Fall der Auslegung handelt es sich, wenn die ermittelte Kollisionsnorm zumindest auf einer textlichen Andeutung des Anwendungsbereichs einer Sachnorm basiert. In dem Fall ist zu ermitteln, ob bereits vorhandene, in der Regel räumlich-personale Tatbestandsmerkmale als einseitige kollisionsrechtliche Festlegung ausgelegt werden können oder ob es sich um eine nur intern wirkende Umgrenzung des Anwendungsbereichs handelt.761 Hierfür hat sich der schurigsche „Alternativentest“ bewährt: Steht für den Fall der Nichterfüllung eines räumlich-personalen Merkmals eine weitere, inländische Sachnorm bereit, handelt es sich um ein nur intern wirkendes Tatbestandsmerkmal. Nur wenn die Alternative bei Nichterfüllung des räumlich-personalen Merkmals die Anwendung der Sachnorm einer fremden Rechtsordnung ist, geht es um eine kollisionsrechtliche Festlegung. 762 So ist etwa die Geschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften auf 50 km/h begrenzt; außerhalb geschlossener Ortschaften gelten jedoch weiterhin andere Geschwindigkeitsbegrenzungen des deutschen Rechts. 763 Damit stellt das Merkmal „innerhalb geschlossener Ortschaften“ nur ein intern wirkendes, räumliches Tatbestandsmerkmal dar. Indessen möchte bspw. der § 1 HOAI die Honorarordnung für Architekten und Ingenieure auf alle vom Inland aus erbrachten Grundleistungen anwenden. Für eine vom Ausland aus erbrachte Grundleistung stehen keine Sachnormen des deutschen Rechts bereit, sodass es sich um eine einseitige kollisionsrechtliche Festlegung handelt. 764
760 So auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 8. Siehe zu möglichen Funktionen der Eingriffsnormklauseln sogleich. 761 Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 29 ff., 50; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 290 ff.; Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 69; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 374 ff.; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 213; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 10 ff. 762 Siehe zum Alternativentest: Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 61, 106, 247, 319; ähnl. auch Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 362 ff.; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 65; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 108 ff.; Mankowski, IPRax 1995, 230, 231; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 57; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 14 f. Sofern der Alternativentest zu keinem Ergebnis führt, ist freilich auch auf den Telos der Sachnorm abzustellen (so auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 15). Im Zweifel soll das Vorliegen eines kollisionsrechtlichen Gehalts verneint werden (Lorenz, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Einl. zum IPR, Rn. 48). 763 Beispiel nach Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 58. 764 Siehe ausf. zur Methode der Ermittlung spezieller Kollisionsnormen im 5. Kapitel unter A.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
Eine durch Auslegung ermittelte Kollisionsnorm wird häufig auch als „versteckte Kollisionsnorm“ bezeichnet. 765 Es sei des Weiteren angemerkt, dass auch die Inbezugnahme des Inlandsfalls im Tatbestand einer Sachnorm nicht zwingend als Kollisionsnorm auszulegen ist. 766 Der Gesetzgeber kann nämlich auch für den Auslandsfall eine Sachnorm des eigenen Rechts bereithalten, was gerade die Konsequenz der bereits erörterten Möglichkeit zur Erfassung von Auslandssachverhalten durch heimisches Sachrecht ist 767.
2. Die Kollisionsnormbildung durch Rechtsfortbildung Um einen Fall der Rechtsfortbildung geht es, wenn im Sachrecht keinerlei Anhaltspunkte für den kollisionsrechtlichen Anwendungsbereich bestehen.768 Diese Methode ist die Regel, da es zumeist an ausdrücklichen kollisionsrechtlichen Festlegungen und entsprechend auslegbaren Tatbestandsmerkmalen im Sachrecht fehlt. 769 Diese Fallgruppe erörterte bereits Kahn: So kann etwa die Kollisionsnorm „Die Handlungsfähigkeit bestimmt sich nach dem Recht des Domicils“ nicht aus dem materiellen Satz „[Die] Handlungsfähigkeit tritt mit Volljährigkeit ein“ abgeleitet werden. 770 Der Grund hierfür liegt in den unterschiedlichen
765 Siehr, IPRax 1973, 466, 470; Schack, Anknüpfung des Urheberrechts, 1979, S. 18; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 58; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 361 ff.; Schubert, RIW 1987, 729, 733; Roth, RIW 1994, 275, 277; Freitag/Leible, RIW 2001, 287, 289; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 39 f.; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 54; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 7; Ringe, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 17. 766 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 63 f. anhand § 244 Abs. 1 BGB. Ähnl. Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 366 ff.: So würden etwa „Sachnormen ratione personae“ teilweise zwischen In- und Ausländern unterscheiden, ohne für Ausländer ein fremdes Recht anwenden zu wollen. Auch „Sachnormen ratione spatii“ würden innerhalb der deutschen Rechtsordnung auf die größere Entfernung ausländischer Orte Rücksicht nehmen, wie etwa die Fristverlängerung für die Erbenausschlagung bei letztem Wohnsitz des Erblassers im Ausland. Stets werde aber das räumliche oder persönliche Tatbestandsmerkmal nicht zum kollisionsrechtlichen Anknüpfungsmoment. 767 Siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.I.1.b. sowie D.I.3.a. 768 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 247; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 10 ff., 39, Fn. 77. 769 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 176; Rabel, The conflict of laws, 2. Aufl. 1958, S. 102 f.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 1, Rn. 9. Denn Sachnormen werden zumeist nur mit Blick auf Inlandssachverhalte verfasst, weshalb sie keine Anhaltspunkte für die Ausgestaltung eines entsprechenden kollisionsrechtlichen Satzes bieten: Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 30; Rabel, The conflict of laws, 2. Aufl. 1958, S. 103 (Sachnormen seien „simply neutral“); Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 78; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 100; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 13; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 18 ff. 770 Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 30.
A. Die „apriorische“ Methodik der Eingriffsnorm
161
Funktionen von Sach- und Kollisionsrecht,771 nicht aber in Wertneutralitätsund Überstaatlichkeitsvorstellungen. Insofern ist es methodenehrlicher, die Bildung von Kollisionsrecht ohne jegliche Anhaltspunkte im Sachrecht als Rechtsfortbildung zu verstehen. 772 Im Zentrum dieses Prozesses steht wiederum die jeweilige kollisionsrechtliche Interessenlage, welche freilich durch die Zwecke der betroffenen Sachnormen maßgeblich impliziert wird. 773 In gleicher Weise spielen jedoch auch weitere, teilweise genuin kollisionsrechtliche Maximen in die Kollisionsnormbildung hinein; hierauf wird im 5. Kapitel noch ausführlicher einzugehen sein. Die rechtsfortbildende Schaffung neuer Kollisionsnormen soll im Folgenden am Beispiel des § 661a BGB, welcher häufig als Eingriffsnorm eingeordnet wird, 774 illustriert werden. Die Vorschrift verpflichtet Unternehmer dazu, im Falle einer Gewinnzusage an einen Verbraucher den versprochenen Preis zu leisten. Die Bestimmung als solche enthält keinerlei kollisionsrechtlich relevante Andeutungen hinsichtlich ihres räumlich-persönlichen Anwendungsbereichs. Ihr kann damit auch durch Auslegung keine Kollisionsnorm entnommen werden, weshalb eine Element-Kollisionsnorm im Wege der Rechtsfortbildung zu entwickeln ist. Das kollisionsrechtliche Interesse an einer möglichst einheitlichen Anknüpfung 775 und die deliktische Komponente des § 661a BGB könnten freilich für eine Zuordnung („Qualifikation“) zur Bündelung des allgemeinen Deliktsstatuts sprechen. 776 Andererseits könnte der Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes auch für eine Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Verbrauchers in Deutschland streiten. Diese Interessen sind abzuwägen und schließlich in die Form einer zunächst einseitigen Kollisionsnorm zu gießen, welche entweder einer bestehenden Kollisionsnorm zugeordnet werden kann oder – bei abweichender Interessenlage – als lex specialis durchzusetzen ist (siehe hierzu ebenfalls ausf. im 5. Kapitel). 771 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 19, welcher außerdem treffend darauf hinweist, dass etwa im intertemporalen Kollisionsrecht niemand auf die Idee kommen würde, ohne konkrete Anhaltspunkte einen intertemporalen Satz aus der Sachnorm zu schöpfen. 772 So auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 20, wonach unter dem Gesichtspunkt der „versteckten Kollisionsnorm“ häufig tatsächlich Rechtsfortbildung betrieben wird. – Das Eingeständnis, dass es sich um Rechtsfortbildung handelt, hebt auch den Konflikt mit der Gewaltenteilung und die hieraus resultierende Pflicht des Gesetzgebers zur Schaffung spezieller Anknüpfungen hervor (Bucher, Grundfragen, 1975, S. 160, 247). 773 Zur sachnormimplizierten Kollisionsnormbildung bzgl. Eingriffsnormen: Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 234; Schurig, in: FS Jayme, 2004, S. 842; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 21, 135. Siehe außerdem ausf. im 5. Kapitel. 774 Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 23; BGH, Urt. v. 01.12.2005 – III ZR 191/03, BGHZ 165, 172 = NJW 2006, 230 ff. Lorenz, NJW 2006, 472, 474; Martiny, ZEuP 2008, 79, 106; Martiny, ZEuP 2010, 747, 777; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 178; Kotzian-Marggraf, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, § 661a BGB, Rn. 9. 775 Siehe hierzu ausf. im 5. Kapitel unter A.III. 776 So etwa LG Freiburg, Urt. v. 22.03.2002 – 6 O 147/01, BeckRS 2002, 12396, Rn. 22. Möchte man auf dieser Grundlage den Ort des Schadenseintritts mit dem Ort, an dem die Gewinnzusage empfangen wurde, gleichsetzen, so wäre § 661a BGB nach Art. 4 Abs. 1 Rom II-VO dann anzuwenden, wenn der Verbraucher die Gewinnzusage in Deutschland empfangen hat.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
Damit konnte gezeigt werden, dass auch beim Fehlen kollisionsrechtlicher Anhaltspunkte im Sachrecht eine „unmittelbare“ Durchsetzung einer Norm unmöglich ist.777 Vielmehr handelt es sich auch in diesem Fall um die Anwendung einer Kollisionsnorm, welche mangels entsprechender Anhaltspunkte im Sachrecht rechtsfortbildend zu ermitteln ist. IV. Schlussfolgerung: Der Spezialitätsgrundsatz als Fundament der Eingriffsnorm Damit kann es keine kollisionsnormlose Berufung von Eingriffsnormen geben.778 Sofern eine Kollisionsnorm nicht ausdrücklich im Sachrecht normiert wurde, ist sie durch Auslegung und Rechtsfortbildung herauszubilden. Es macht hierbei keinen methodischen Unterschied, ob eine (Element-)Kollisionsnorm in einer allseitigen Kollisionsnorm des IPR ausgelagert ist oder mittels Auslegung bzw. Rechtsfortbildung im Rahmen einer sachrechtlichen Kodifikation entwickelt wurde. Eine „apriorische“ Kollisionsnormanwendung kann damit allenfalls die vorrangige Berücksichtigung existierender oder gebildeter Kollisionsnormen nach der Maßgabe des Spezialitätsgrundsatzes bezeichnen. Das Bewusstsein um die Spezialität jener Kollisionsnormen führt freilich dazu, dass der Richter bei manchen Normen weiß, dass diese unabhängig vom Ergebnis einer Regelverweisung angewandt werden. Dies mag man eine „aprioristische Perspektive“ nennen, sie führt jedoch nicht zu einer „aprioristischen“ Methodik. Die Spezialität kollisionsrechtlicher Rechtssätze unterscheidet sich nicht von der Spezialität im Sachrecht: Wenn der Richter etwa den werkvertraglichen Charakter eines Vertrags ohne weiteres erkennt, wird er ebenso „unmittelbar“ die spezielleren Normen des Werkvertragsrechts anwenden und nicht zunächst das Ergebnis nach allgemeinem Schuldrecht ermitteln. Dies ist schlicht ein Gebot der richterlichen Prüfungsökonomie; zur Systemfremdheit des spezielleren Rechtssatzes führt dies nicht. Es gibt auch im autonomen Kollisionsrecht keinen Grund, diese Logik der Spezialität als methodische Eigentümlichkeit zu verketzern. 779
777
Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 100. So auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 207. 779 Die Tendenzen zur Isolation der Spezialität erklären sich freilich durch zahlreiche, im letzten Kapitel abgelehnte Verbindungslinien zum völkerrechtlichen IPR-Verständnis: Wer einen Sachverhalt aus überstaatlicher Perspektive einheitlich der „Kompetenz“ eines Staates zuweisen möchte, dem wird die besondere Durchsetzung einzelner Normen eigentümlich und systemfremd vorkommen. In einem autonom-gebündelten Kollisionsrecht sind diese Annahmen jedoch wie besehen fehl am Platze. 778
A. Die „apriorische“ Methodik der Eingriffsnorm
163
Mithin wird im Bereich der Eingriffsnormen schlicht der „allgemeine Teil“ des Kollisionsrechts, welcher insbesondere in den herkömmlich-allseitigen Kollisionsnormen des IPR kodifiziert ist, durch besondere Teile konkretisiert und modifiziert.780 Dass die allgemeinen Kollisionsnormen häufig durch gegebenenfalls neugebildetes, spezielles Kollisionsrecht durchbrochen werden, ist nichts Neues. Bereits Kahn stellte fest, dass allgemeine Kollisionsnormen insofern subsidiär sind, als „innerhalb ihres Herrschaftsgebiets der Bildung abweichender, spezieller Normen nichts im Wege steht“. 781 Die besonders ausgeprägte Subsidiarität des allgemeinen Kollisionsrechts ist hierbei in der äußerst groben Unterteilung der allgemeinen Kollisionsnormen nach übergeordneten Sachgebieten begründet. 782 Wer meint, ein gesamtes Rechtsgebiet einer einzigen Anknüpfungsregel unterwerfen zu können, der muss sich besonders häufig Konkretisierungen und Abweichungen von dieser Grundregel gefallen lassen. 783 Damit kann bereits jetzt die Vorstellung, wonach alle Eingriffsnormen mithilfe einer einzigen „Eingriffskollisionsnorm“ anzuknüpfen seien, abgelehnt werden. 784 Jedenfalls die heute als „Eingriffsnorm“ verstandenen Bestimmungen sind eine äußerst heterogene Normenmasse, welche einer einheitlichen Anknüpfung nicht zugänglich sind. 785 Anders gewendet: Eine vertikale Bündelung aller auf Eingriffsnormen zeigenden Element-Kollisionsnormen ist nicht möglich. Plastisch wird dies an den oben erörterten §§ 32b Nr. 2 UrhG, 661a BGB,
780
So auch Siehr, IPRax 1973, 466, 476. Da die kodifizierten Kollisionsnormen des IPR aufgrund ihrer Grobheit zumeist nur den allgemeinen Teil abbilden, spricht auch deren Existenz nicht gegen die Bildung spezieller Anknüpfungen (so aber Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 166, welcher aufgrund des Bestehens des IPR schlussfolgert, dass im Sachrecht nur ausdrücklich aufgeführte Kollisionsnormen existieren könnten). 781 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 110. 782 Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 51. Ähnl. auch Siehr, IPRax 1973, 466, 482. 783 Siehr, IPRax 1973, 466, 476. Dies illustriert des Weiteren Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 140 bildhaft, wenn er die Treffergenauigkeit der allgemeinen Verweisungen mit der einer Schrotflinte bezeichnet, wohingegen erst Spezial-Kollisionsnormen das „Gewehr mit Zielfernrohr“ seien (mit ähnl. Bild auch Kegel, RabelsZ 30 (1966), 1, 13, wonach das IPR grds. „flächenschieße“). 784 Eine solche Ansicht wird (zumeist implizit) sichtbar bei: Ficker, Grundfragen, 1952, S. 56; Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 117, 208; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 23, 123 f.; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 106; Freitag/Leible, RIW 2001, 287, 288; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 151 f., 168; Nietner, Internationaler Entscheidungseinklang, 2016, S. 274 f. – Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 110 weist richtigerweise darauf hin, dass es häufig auch unklar bleibt, ob Eingriffsnormen als einheitlich anzuknüpfende Normengruppe verstanden werden. 785 Ebenfalls eine einheitliche „Eingriffskollisionsnorm“ angesichts der Heterogenität ablehnend: Mühl, in: FS Mühl, 1981, S. 456; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 831; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 156; Thoma, Europäisierung, 2007, S. 243. I.E. auch schon Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 109, wenngleich dieser sich auf den ordre public bezieht.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
welche herkömmlich als Eingriffsnorm eingeordnet werden und wie besehen mithilfe unterschiedlicher Kollisionsnormen zu berufen sind. Zudem wird auch von den wenigen Vertretern einer einheitlichen Eingriffskollisionsnorm fast ausnahmslos die Feststellung eines hinreichenden Inlandsbezugs gefordert. Hierdurch werden de facto konkrete Anknüpfungsmomente durch die Hintertür festgelegt, was – wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird – funktional weitgehend der Bildung von Kollisionsnormen entspricht. 786 Es ist daher davon auszugehen, dass Eingriffsnormen aufgrund ihrer Heterogenität unterschiedliche kollisionsrechtliche Interessen implizieren und es daher zur Bildung verschiedengestaltiger Kollisionsnormen kommen muss. 787
Diese grundlegende Erkenntnis vom Wirken des Spezialitätsgrundsatzes im Kollisionsrecht gilt freilich nicht nur für die auf Eingriffsrecht zeigenden Verweisungen, handelt es sich doch um ein allgemeines rechtsmethodisches Prinzip. Indessen wird die Bildung spezieller Kollisionsnormen im Bereich der Eingriffsnorm in besonderer Weise maskiert. Denn es entsteht der Anschein, als wäre die kollisionsrechtliche Operation mit der Einordnung einer Norm als Eingriffsnorm abgeschlossen. Hierdurch tritt die maßgebliche kollisionsrechtliche Interessenabwägung und infolgedessen das entscheidende Anknüpfungsmoment nicht mehr zutage, was den falschen Eindruck einer unmittelbaren Durchsetzung „aus der Sachnorm heraus“ vertieft.
B. Die „statutarische“ Methodik der Eingriffsnorm B. Die „statutarische“ Methodik der Eingriffsnorm
Möchte man des Weiteren einwenden, dass die Durchsetzung von Eingriffsnormen einen „statutarischen“ Ansatz „am Gesetz“ verfolge, 788 welcher sich vom regulären „Ansatz am Sachverhalt“ in methodischer Hinsicht abhebe, so kann dem mit den Ergebnissen des letzten Kapitels begegnet werden: Der Ansatz „am Gesetz“ beschreibt nur einen geringeren Bündelungsumfang. Je gröber die Bündelung, desto eher erscheint der Anknüpfungsgegenstand als „Sachverhalt“, 789 was jedoch nichts an der Struktur der Kollisionsnorm ändert.
786
Siehe hierzu im 5. Kapitel unter F.III. Das Bedürfnis nach einer einheitlichen Eingriffskollisionsnorm lässt sich zum einen dadurch erklären, dass vor allem frühere Autoren nach dem Vorbild der herkömmlichen Regelverweisungen ein „Eingriffsstatut“ ermitteln wollten. Schließlich führte auch der bereits erwähnte Transfer des vermeintlich einseitig-territorial anknüpfenden Öffentlichen Rechts zu der Annahme, alle Eingriffsnormen seien als funktional Öffentliches Recht ebenso „en bloc“ zu behandeln wie dies scheinbar im IÖR der Fall sei. 788 Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.II., dort Fn. 573. Dieselbe Annahme findet sich auch bei den lois d’application immédiate (siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter C.II.2.). 789 Siehe hierzu bereits ausf. im 3. Kapitel unter D.II.3.f. 787
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
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In jedem Bündelungszustand sind es die auf eigenes oder fremdes Recht zeigenden (Element-)Kollisionsnormen, welche die Anknüpfungsarbeit erledigen. Sofern die besondere Dominanz des einzelnen Sachnormzwecks als systemwidrige Eigenheit des Ansatzes „beim Gesetz“ begriffen wird,790 kann auch diese Annahme mithilfe der Ergebnisse des letzten Kapitels entkräftet werden.791 Die Berücksichtigung jedweden – auch „materiellen“ – Zwecks ist gerade eine notwendige Fortführung der Interessenjurisprudenz.792
C. Die verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
Somit ist erkennbar geworden, dass jedenfalls die Methode der heimischen Eingriffsnorm auf die Durchsetzung ausdrücklicher oder neu zu bildender Spezial-Kollisionsnormen zurückgeführt werden kann. 793 Von einem methodischen Fremdkörper im kollisionsrechtlichen System kann insofern nicht die Rede sein.794 Es wäre jedoch verfrüht, die Eingriffsnorm allein deshalb ausschließlich als deklaratorische Wiedergabe der systemimmanenten Möglichkeit zur interessengerichteten Durchsetzung und Bildung spezieller Kollisionsnormen zu verstehen.795 Denn sowohl der europäische als auch die nationalen Gesetzgeber dokumentieren mit den Eingriffsnormklauseln die auch in der Literatur weit verbreitete Vorstellung, dass die Bedeutung der Eingriffsnorm über die Hervorhebung allgemeiner Rechtsmethodik hinausreichen soll. Insbesondere geht
790
So etwa Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 33; Philip, in: FS Lipstein, 1980, S. 248; Drobnig, in: FS Neumayer, 1985, S. 159; Kratz, Ausländische Eingriffsnorm, 1986, S. 61; Junker, IPRax 2000, 65, 70; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 50, 56. Siehe auch Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 43. 791 Denn deren höhere Sichtbarkeit ist allein eine Folge der ausgeprägteren Sichtbarkeit der einzeln berufenen Sachnorm bei geringen vertikalen Bündelungszuständen (siehe hierzu bereits ausf. im 3. Kapitel unter D.II.3.f. 792 Siehe hierzu bereits ausf. im 3. Kapitel unter D.II.3.c. 793 Auf die Einordnung der ausländischen Eingriffsnorm wird sogleich eingegangen. 794 Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 63; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 173. 795 Es handelt sich um eine systemimmanente Struktur, weil es gerade das Kennzeichen der Interessenjurisprudenz ist, dass eine dem Wortlaut nach eigentlich passende Rechtsnorm (wie eine allgemeine Kollisionsnorm) auf eine bestimmte Sachnorm des Heimat- oder Fremdrechts nicht angewandt wird, wenn die konkrete Interessenlage dies nicht gebietet. Ebenso Folge dieser Maximen ist es, dass man angemessene Lösungen durch Auslegung oder Rechtsfortbildung sucht. Schlicht Rechtsbeugung wäre es, wenn eine ausdrückliche Spezial-Kollisionsnorm nicht befolgt werden würde (Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 285; ähnl. Roth, RIW 1994, 275, 277).
166
4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
die herrschende Ansicht davon aus, dass die Eingriffsnorm anhand ihres besonderen Gemeinwohlbezugs begrenzbar sei. Daher stellt sich die Frage, welche eigenständige Funktion die Eingriffsnormklauseln abseits der bereits abgelehnten apriorischen und statutarischen Irrtümer noch aufweisen könnten. I. Die Eingriffsnormklauseln als Durchbrechung der Vorrangigkeit des Unionsrechts? So könnten die Eingriffsnormklauseln auch die Durchsetzung ausdrücklicher oder neugebildeter nationaler (Spezial-)Kollisionsnormen gegen das unionale IPR ermöglichen. In dem Fall würde der Rangkollisionskonflikt 796 entgegen dem Grundsatz vom normhierarchischen Vorrang des Europarechts ausnahmsweise zugunsten nationaler, auf Eingriffsnormen zeigender Kollisionsnormen entschieden werden. Diese Vorstellung scheint häufig auch hinter dem Verständnis der Eingriffsnormklauseln als „Öffnungstor“ oder „Blocker“ zugunsten nationalen Eingriffskollisionsrechts zu stehen. 797 Eine rein rangkollisionsrechtliche Funktion der Eingriffsnormklauseln würde jedoch die nationalen Eingriffsnormklauseln nicht erklären können, da hier ein normhierarchischer Konflikt zwischen der Eingriffskollisionsnorm und der Regelverweisung entfällt. Eine rangkollisionsrechtliche Funktion der Eingriffsnormklauseln würde zudem voraussetzen, dass die auf Eingriffsnormen zeigenden (Element-)Kollisionsnormen dem nationalen Recht entstammen, was nicht nur für europäische, sondern auch für nationale Eingriffsnormen keinesfalls zwingend ist. 798 Eine ausschließlich rangkollisionsrechtliche Funktion der Eingriffsnormklauseln erscheint damit nicht plausibel; gleichwohl wird der normhierarchische Konflikt zwischen nationalen Eingriffsnormen und unionalem Kollisionsrecht in diesem Kapitel noch zu betrachten sein. 796
Siehe zum Begriff des Rangkollisionsrechts ausf. im 6. Kapitel unter D. An dieser Stelle genügt die Erläuterung, dass die Rangkollision den normhierarchischen Konflikt meint. 797 Mankowski, RIW 1996, 8, 10; ähnl. Sonnenberger, in: FS Fikentscher, 1998, S. 288; Staudinger, NJW 2001, 1974, 1975; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 112; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 86; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 60; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 10; Straube, IPRax 2007, 395, 398; Sonnenberger, in: FS Kropholler, 2008, S. 242; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012 Art. 9 Rom I-VO, Rn. 1; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 45 f.; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 319; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 3; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 12; Schönbohm, in: BeckOK-ArbR, 39. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 9.1; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 7 ff. Spickhoff, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 1. 798 Siehe hierzu ausf. in diesem Kapitel unter D.
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
167
II. Die Eingriffsnormklauseln als Durchbruch staatlicher Rechtsanwendungsinteressen? Die Einordnung der Eingriffsnormklauseln als „Öffnungstor“ wird häufig mit der Behauptung verknüpft, dass die Kollisionsnormbildung für Eingriffsrecht auf staatliche Rechtsanwendungsinteressen beschränkt sei, wohingegen das „normale“ IPR vorrangig privaten Rechtsanwendungsinteressen diene. 799 Auch diese Vorstellung ist abzulehnen. Denn es wurde bereits gezeigt, dass derartige Tendenzen zur Beschränkung des internationalprivatrechtlichen Interessenkanons mit der interessenjurisprudentischen Methode des Kollisionsrechts nicht in Einklang zu bringen sind. 800 Vielmehr können auch staatliche Rechtsanwendungsinteressen Berücksichtigung finden, da sich die Beschränkung des IPR auf private Rechtsanwendungsinteressen im modernen Kollisionsrecht als unhaltbar herausgestellt hat. Die Ansicht, dass staatliche Rechtsanwendungsinteressen erst durch besondere Öffnungstore wie die Eingriffsnormklauseln Einzug ins IPR halten können, ist somit unrichtig. III. Die Eingriffsnorm als Bereich entbehrlicher Kollisionsnormbildung? Durchaus denkbar wäre es jedoch, dass die Eingriffsnormklauseln einen Sachnormbereich bezeichnen sollen, in dem die Bildung noch nicht formulierter Kollisionsnormen entbehrlich ist. Die Eingriffsnormklauseln würden demnach eine Durchsetzung eigenen Eingriffsrechts im „Schnellverfahren“ ohne den umständlichen Umweg der ausführlichen Kollisionsnormbildung ermöglichen. Die maßgeblichen Anknüpfungsmomente würden offenbleiben, ohne dass ihre Existenz nach dem Modell einer „kollisionsnormlosen“ Anwendung verleugnet werden würde. Dies scheint auch der ursprünglichen Konzeption der lois
799 Deutlich bei: Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 338; Mankowski, RIW 1993, 453, 461; Mankowski, RIW 1996, 8, 9; Mankowski, DZWir 1996, 273, 274 ff.; Sonnenberger, in: FS Fikentscher, 1998, S. 293; Heiss, in: Czernich, EVÜKomm, 1999 Art. 7 EVÜ, Rn. 1; Felke, RIW 2001, 30, 33; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 29; Pfeiffer, in: FS Geimer, 2002, S. 822; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 179; Straube, IPRax 2007, 395, 395; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 169. – Zwar sollen auch private Kollisionsnormen staatliche Zwecksetzungen verfolgen können, jedoch stünden diese bei der Eingriffsnorm in einem ausreichenden Maß im Vordergrund (Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 90; Mankowski, RIW 1996, 8, 10; Mankowski, DZWir 1996, 273, 280; Mankowski, RabelsZ 61 (1997), 750, 755; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 92, 96; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 29 f.; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 58 ff. Ähnl. bereits Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 187, Fn. 27 sowie S. 194.). 800 Siehe hierzu bereits ausf. im 3. Kapitel unter D.II.3.c.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
d’application immédiate am nächsten zu kommen. 801 Wenngleich ein solches Modell dogmatisch wenig befriedigend und der Rechtssicherheit abträglich wäre, könnte hierin durchaus ein eigenständiger Bedeutungsgehalt der Eingriffsnormklauseln liegen. In jedem Fall müssten die Grenzen eines solchen kollisionsrechtlichen non liquet näher beschrieben werden. Damit stellt sich die Frage einer Definition des Eingriffsrechts, worauf im nächsten Abschnitt einzugehen ist. IV. Die Eingriffsnorm als Vorschrift mit hervorgehobenem Gemeinwohlbezug Nach Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO soll sich eine Eingriffsnorm dadurch auszeichnen, dass ein Staat diese als „entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation“ erachtet.802 Sowohl bei dieser an Francescakis angelehnten Definition803 als auch bei anderen Umschreibungen geht es im Kern stets um einen besonderen Staats- und Gemeinwohlbezug. 804 So halten das BAG und der BGH einen „öffentlichen Gemeinwohlzweck“ für entscheidend. 805 Andere heben die „Makrofunktion“ der Eingriffsnorm hervor, welche im Gegensatz 801 So auch Siehr, in: FS Drobnig, 1998, S. 448. Denn auch Francescakis betonte die Notwendigkeit eines Anwendungsbereichs der lois d’application immédiate (siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter C.II.2.). Es schien ihm vielmehr darum zu gehen, den mühsamen Weg der Kollisionsnormbildung in Bereichen mit scheinbar ohnehin klarer kollisionsrechtlicher Interessenlage zu vermeiden. 802 Siehe hierzu bereits in der Einführung, dort auch zur verordnungsübergreifenden Geltung dieser Definition. 803 Siehe zur Definition der lois d’application immédiate durch Francescakis und ihrer Übernahme durch den EuGH bereits im 1. Kapitel unter C.II.2. sowie E.I.1. 804 So besonders sichtbar bei Winter, NTIR 1964, 329, 331; Hecke, ZfRV 1966, 23, 26 ff.; ähnl. North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 89; Schnyder, Wirtschaftskollisionsrecht, 1990, S. 10, Rn. 10; ähnl. Junker, IPRax 2000, 65, 70, 73; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 177; Junker, in: FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 1211 m.w.N. aus der arbeitsgerichtlichen Rspr. Kühne, in: FS Heldrich, 2005, S. 830; Kindler, Einführung in das neue IPR, 2009, S. 66; Remien, in: FS von Hoffmann, 2011, S. 336; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 182; Hohloch, in: Erman-BGB, 14. Aufl. 2014, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 1; Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 273; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 11; Remien, in: PWW, 10. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 22; Kreuzer/Wagner/Reder, in: Dauses (Hrsg.), Hdb. EU-Wirtschaftsrecht, 40. EL 2016, Kap. R. Europ. IPR, Rn. 160; Schönbohm, in: BeckOK-ArbR, 39. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 5. 805 BAG, Urt. v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, BAGE 71, 297 = AP Internat. Privatrecht, Arbeitsrecht Nr. 31; BAG, Urt. v. 03.05.1995 – 5 AZR 15/94, NZA 1995, 1191, 1192; BAG, Urt. v. 12.12.2001 – 5 AZR 255/00, BAGE 100, 130 = AP EGBGB n. F. Art. 10 Nr. 10; BAG, Urt. v. 12.01.2005 – 5 AZR 617/01, BAGE 113, 149 = NZA 2005, 627, 629; BAG, Urt. v. 13.11.2007 – 9 AZR 134/07, BAGE 125, 24 = NZA 2008, 761; BAG, Urt. v. 18. 4. 2012 – 10 AZR 200/11, BAGE 141, 129 = NZA 2012, 1152. Näher zur Rspr. des BAG:
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
169
zur „Mikrofunktion“ des IPR stehe. 806 Teilweise wird auch auf das Staatsinteresse 807, eine besondere „Ordnungsfunktion“ 808 oder den Schutz der „Säulen der staatlichen und sozialen Ordnung“809 abgestellt. Häufiger ist auch die Definition anhand eines „überwiegenden öffentlichen Interesses“ 810 oder einer „überindividuellen Zweckrichtung“ 811.
In der praktischen Anwendung des Gemeinwohlkriteriums ergeben sich erhebliche Begründungsschwierigkeiten: So schützt etwa das Verbraucherrecht die schwächere Partei nicht nur aus Gründen des interindividuellen Ausgleichs,
Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 106; Junker, in: FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 1211; Straube, IPRax 2007, 395 ff., jeweils m.w.N. – Ebenso der BGH: BGH, Urt. v. 13.12.2005 – XI ZR 82/05, BGHZ 165, 248 = NJW 2006, 762 ff.; BGH, Urt. v. 01.12.2005 – III ZR 191/03, BGHZ 165, 172 = NJW 2006, 230, 233. 806 Schnyder, Wirtschaftskollisionsrecht, 1990, S. 12, Rn. 13; Mankowski, RIW 1993, 453, 463; Mankowski, RabelsZ 61 (1997), 750, 755; Junker, IPRax 2000, 65, 70. 807 Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 45 f.; Drobnig, in: FS Neumayer, 1985, S. 178; Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 328; Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 90; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 29. 808 Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 106. 809 Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 345; ähnl. Hartley, Rec. d. Cours (Haye) 1997, 341, 354. 810 Schubert, RIW 1987, 729, 731; Magnus, IPRax 1991, 382, 385; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 13 f.; Mankowski, RIW 1993, 453, 461; Roth, in: Reichert-Facilides/Basedow (Hrsg.), Aspekte des internationalen Versicherungsvertragsrechts, 1994, S. 36; Freitag/Leible, ZIP 1999, 1296, 1299; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 23, 498 ff.; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 27 ff.; Martiny, ZEuP 2008, 79, 105; Deinert, RdA 2009, 144, 150 ff.; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 190, Rn. 22; Staudinger, in: Schulze-BGB, 8. Aufl. 2014, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 4; Spickhoff, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 11 ff. 811 Mankowski, RIW 1993, 453, 461; Mankowski, RIW 1994, 688, 692; Mankowski, IPRax 1995, 230, 231, 233; OLG Frankfurt a.M. NJW-RR 2000 1367, 1369 (zu § 49b BRAO); v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 91; Franzen, IPRax 2003, 239, 242; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 46; Bitterich, GPR 2006, 161, 164; Mankowski, IPRax 2006, 101, 110; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 151 f.; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 50 f.; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 8; Hohloch, in: Erman-BGB, 14. Aufl. 2014, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 12; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 14; Ringe, in: jurisPK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 13; Looschelders, in: MüKo-VVG, 2. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 169; Thorn, in: Palandt, 76. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 5.
170
4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
sondern auch zur Vermeidung eines gesamtwirtschaftlichen Ungleichgewichts.812 Gleiches gilt im Arbeitsrecht, wo der Schutz des Arbeitnehmers zugleich eine sozialpolitische Zielsetzung ist.813 Auch das Wohnraummietrecht verfolgt den Mieterschutz unter anderem deshalb, um Wohnungsnot zu vermeiden. 814 Die Liste lässt sich fortsetzen. 815 Selbst die Reform des Schuldnerverzugs wurde mit dem gesamtgesellschaftlichen Ziel der Vermeidung von Liquiditätsschwierigkeiten in der Bauwirtschaft begründet. 816 Auch das Familien- und Erbrecht als klassischer Gegenstand des IPR nimmt zahlreiche sozialpolitische Vorstellungen in sich auf. 817 Diese Verwebung von Individual- und Gemeinwohlinteressen hat dazu geführt, dass zahlreiche Autoren auch jene Normen als Eingriffsnormen einordnen möchten, bei denen der Gemeinwohlbezug lediglich der vordergründige
812
Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 138; Maultzsch, RabelsZ 75 (2011), 60, 83; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 10; Remien, in: PWW, 10. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 3. Allg. zum Schwächerenschutz als Ausdruck wirtschafts- und sozialpolitischer Grundentscheidungen: Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 52; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 26 f. 813 Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 129, 136; Schlachter, NZA 2000, 57, 62 (am Beispiel des Mindesturlaubsanspruchs und des Schwerbehindertengesetzes); Benecke, IPRax 2001, 449, 451; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 18; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 164 f. 814 Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 45 ff. (wonach die Linderung der Wohnungsnot sogar den Schwerpunkt darstelle); Busse, ZVglRWiss 95 (1996), 386, 414 f. Siehe auch Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 139 f., welcher die Weite des Gemeinwohlbezug-Kriteriums durch den Nachweis illustriert, dass einige Autoren jeweils zu unterschiedlichen Ergebnissen im Hinblick auf die „Menge“ des im Wohnraummietrecht verkörperten Gemeinwohlzwecks gekommen sind. 815 Häufiger genannt wird auch das Haustürwiderrufsrecht (Felke, RIW 2001, 30, 32 ff.) oder das Urheberrecht (Thorn, in: Ferrari (Hrsg.), Ein neues Internat. Vertragsrecht für Europa, 2007, S. 134). Zahlr. weitere Fallgruppen finden sich neben „klassischem“ Wirtschaftseingriffsrecht auch bei Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 17. 816 Kühne, in: FS Heldrich, 2005, S. 823 f. mit weiteren Beispielen. 817 Vischer, RabelsZ 53 (1989), 438, 439; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 229; ähnl. Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 141 f.; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 143.
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
171
Zweck ist.818 Freilich kann auf dem Boden dieses Verständnisses bei ergebnisorientierter Argumentation praktisch jede Norm als Eingriffsnorm eingeordnet werden.819 1. Die Öffentlichrechtlichkeit der Eingriffsnorm als Definitionsmerkmal? Angesichts der soeben dargelegten Einordnungsprobleme könnte man versucht sein, Eingriffsrecht schlicht mit dem im Privatrecht relevanten Öffentliche Recht zu identifizieren. 820 Die Mehrheit der Stimmen lehnt eine solche Gleichsetzung jedoch ab:821 Eine Eingriffsnorm soll demnach sowohl dem Privatrecht 818
Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 85; Däubler, RIW 1987, 249, 255; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 821; Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 93 ff.; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 38; Heiss, in: Czernich, EVÜKomm, 1999 Art. 7 EVÜ, Rn. 23 f.; Junker, IPRax 2000, 65, 68; v.Hein, AG 2001, 213, 221; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 26; Pfeiffer, in: FS Geimer, 2002, S. 823; Roth, in: FS Immenga, 2004, S. 341; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 30; Kunda, GPR 2007, 210, 218; Thorn, in: Ferrari (Hrsg.), Ein neues Internat. Vertragsrecht für Europa, 2007, S. 133 f.; Thorn, in: FS Schmidt, 2009, S. 1577; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9, Rn. 21; Martiny, ZEuP 2013, 838, 857 f.; Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 147; Staudinger, in: Schulze-BGB, 8. Aufl. 2014, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 7; Thorn, in: Palandt, 76. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 8. – Dagegen, unter Befürwortung stärkerer Restriktion: Mankowski, RIW 1993, 453, 463; Mankowski, RIW 1994, 688, 692; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 28 ff.; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 107 f.; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 33. – Für einen Verzicht auf das Gemeinwohlkriterium plädierend: Jayme, IPRax 2001, 190, 191; Jayme, in: Reichelt/Rechberger (Hrsg.), Europ. Kollisionsrecht, 2004, S. 10. Rechtsvergleichend hierzu: Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 31 ff. zusammenfassend auf S. 52; zu Frankreich: Junker, IPRax 2000, 65, 68. 819 Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 29; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 40; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 24 ff. – Dies zeigt sich besonders plastisch, wenn französische Gerichte regelmäßig Bestimmungen als Eingriffsnormen einordnen, bei denen die deutsche Rechtsprechung dies gerade verneint (siehe hierzu Martiny, ZEuP 2010, 747, 777; Maultzsch, RabelsZ 75 (2011), 60, 89; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 193, 272 f., jeweils m.w.N.). 820 Hierfür plädieren etwa: Philip, in: FS Lipstein, 1980, S. 248; Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 95; Schäfer, in: FG Sandrock, 1995, S. 45; wohl auch Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 31; ähnl. v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 469, wonach für Eingriffsnormen die Kollisionsnormen des Internationalen Verwaltungsrechts maßgeblich seien. 821 Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 24; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 178; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 27 ff.; Deinert, RdA 2009, 144, 150; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 182, Rn. 7 & S. 187, Rn. 15; Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 200; Schönbohm, in: BeckOK-ArbR, 39. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 4; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 50; Ringe, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 15.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
als auch dem Öffentlichen Recht entspringen können; 822 die Öffentlichrechtlichkeit habe dabei allenfalls indizielle Bedeutung 823. Auf eine Indizwirkung der öffentlich-rechtlichen Natur laufen auch die Ansichten hinaus, die eine Strafbewehrung 824 oder die Möglichkeit der behördlichen Durchsetzung 825 als Anhaltspunkte zur Ermittlung einer Eingriffsnorm begreifen. 826 Leider bleibt es zumeist unklar, nach welcher Abgrenzungslehre die Öffentlichrechtlichkeit als umgrenzendes Merkmal der Eingriffsnorm diskutiert wird. Eine solche eindeutige Positionierung wäre jedoch bitter nötig. Denn obwohl die Öffentlichrechtlichkeit als Kriterium der Eingriffsnorm zumeist abgelehnt wird, bedient man sich mit dem Gemeinwohlkriterium paradoxerweise des entscheidenden Merkmals der ulpianschen Interessenlehre zur Beschreibung des Öffentlichen Rechts. 827 Sofern man also die Öffentlichrechtlichkeit im Sinne Ulpians mit dem Gemeinwohlbezug einer Norm beschreibt, ist mit der Gleichsetzung von Öffent-
822
Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 71 f.; Mühl, in: FS Mühl, 1981, S. 455; Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 84, 105 Nr. 46; Lorenz, RIW 1987, 569, 580; Anderegg/Berg, RabelsZ 52 (1988), 256, 257; Drobnig, RabelsZ 52 (1988), 1, 3; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 14; Becker, RabelsZ 60 (1996), 691, 694; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 8 ff.; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 32; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 105; Wiese, Einfluß des EGRechts, 2005, S. 181 ff.; Kunda, GPR 2007, 210, 212. 823 Junker, in: FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 1214; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 191, Rn. 23; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 317; ähnl. Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 25 ff. 824 Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 36; Wengler, JZ 1979, 175, 176; Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 130; Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 346; Schlachter, NZA 2000, 57, 61; Franzen, IPRax 2003, 239, 242; Gräf, ZfA 2012, 557, 610. Dagegen v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 95. 825 Wengler, JZ 1979, 175, 176; Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 346; Junker, in: FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 1213; Maultzsch, RabelsZ 75 (2011), 60, 89 ff.; Schönbohm, in: BeckOKArbR, 39. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 6; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 51. Dagegen: Däubler, RIW 1987, 249, 255; Benecke, IPRax 2001, 449, 452; Schlachter, in: ErfK, 16. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 21. 826 Ähnl. Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 286 ff. 827 So auch Felke, RIW 2001, 30, 32; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 26; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 61; Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 268 f.; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 478. Ähnl. Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 36. – v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 54 weisen richtigerweise darauf hin, dass damit die Abgrenzung im Kollisionsrecht hinter dem sachrechtlichen Stand (namentlich der mod. Subjekttheorie) zurückbleibt. – Die Interessenlehre Ulpians im Original: „publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat, privatum quod ad singulorum utilitatem“ (Ulpian nach Mann, in: FS Wahl, 1973, S. 147, Fn. 33).
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
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lichem Recht und Eingriffsnorm nichts gewonnen. Freilich gerät das Gemeinwohlkriterium unter besonderen Rechtfertigungsdruck, gilt es doch im Sachrecht als Merkmal des Öffentlichen Rechts längst als überholt. 828 Die Öffentlichrechtlichkeit im Sinne der modifizierten Subjekttheorie kann schließlich auch kein Alleinstellungsmerkmal der Eingriffsnorm sein. Dies würde einen nicht erklärbaren Konflikt mit der Rechtswirklichkeit provozieren; denn wie besehen werden auch zahlreiche Normen, die ausschließlich an private Subjekte gerichtet sind, als Eingriffsnorm eingeordnet. 2. Der Gemeinwohlbezug im modernen Rechtsstaat Kann damit auch die Trennlinie zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht nicht weiterhelfen, stellt sich die Frage, ob die Dichotomie zwischen Individual- und Gemeinwohlzwecken noch zur Unterscheidung zwischen Eingriffsnormen und „normalen“ Privatrechtsnormen tauglich ist.829 a) Die Kollektivwirkung gesetzgeberischer Tätigkeit Gegen die Begrenzungskraft des Gemeinwohlkriteriums ist zunächst einzuwenden, dass abstrakt-generelle Gesetzgebung bereits als solche die Vermutung der Repräsentation von Kollektivinteressen beinhaltet. Freilich können Rechtsnormen auch Partikular- oder Individualinteressen in den Blick nehmen oder den Anspruch erheben, ausschließlich einen „interindividuellen“ Ordnungsrahmen festzulegen. Selbst bei derartigen Zielsetzungen muss ein verantwortungsvoller Gesetzgeber jedoch neben der interindividuellen Gerechtigkeit auch die gesamtgesellschaftlichen Folgen beachten, die sich schon aus der allgemeinen Gültigkeit einer Rechtsnorm ergeben. 830 Wenngleich etwa ein zivil-
828 Statt vieler: Reimer, in: BeckOK-VwGO, 43. Ed. 2017, § 40 VwGO, Rn. 45.1 m.w.N., wonach „vielfach ein öffentliches Interesse an privatem Wohlergehen“ bestehe und andererseits „sowohl Staat als auch Private Gemeinwohlaufgaben mit den Mitteln des Privatrechts erfüllen“ können. Siehe zu dieser wechselseitigen Durchdringung der Zweckrichtungen sogleich ausführlich. – Dies gilt umso mehr, als das IPR eben kein staatsfernes, wertneutrales Überrecht ist und daher eine interessen- und wertungsmäßige Kohärenz zwischen Sach- und Kollisionsrecht entstehen muss (siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.). 829 Dies kann auch nicht mit dem Verweis darauf bejaht werden, dass der europäische Gesetzgeber den Gemeinwohlbezug in Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO zum Kriterium gemacht hat (so aber wohl Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 169). Es wäre blinde Begriffsjurisprudenz, allein von der gesetzgeberischen Verwendung eines Begriffs auf dessen Tauglichkeit zu schließen. 830 Ähnl. Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 27. So führe das Gleichgewicht der Vertragsparteien auch zu einem Gleichgewicht der Wirtschaftskräfte. Noch weitergehender bereits Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 104, wonach der Gesetzgeber ohne die Berührung öffentlicher Interessen „die Klinke der Gesetzgebung gar nicht in Bewegung“ setze.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
rechtliches Formerfordernis vor allem die Individualzwecke des Übereilungsschutzes und der Beweisfunktion verfolgen mag, so ergeben sich doch bereits aus der generellen Gültigkeit eines solchen Rechtssatzes gewisse Kollektivfolgen: So ist das gesamtgesellschaftliche Produkt der Allgemeinverbindlichkeit gewisser Schriftformerfordernisse eine Erhöhung der Kollektivgüter der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens. 831 Die Verantwortung zur Berücksichtigung der überindividuellen Folgen eines vorrangig interindividuellen Rechtssatzes verdichtet sich zur Pflicht in einem Staat, dessen verfassungsgebende Gewalt der Volkswille selbst ist. Denn wenn das Volk selbst den Staat bildet, muss demokratische Gesetzgebung zugleich die Volksinteressen repräsentieren. Dies soll nicht als die Annahme missverstanden werden, dass allein demokratische Verfahren zur Herstellung von Gemeinwohl führen. 832 Es geht allein darum, dass die Entscheidung für eine demokratische Staatsverfassung zugleich dazu führen muss, dass das Gemeinwohl die „ideologische Rechtfertigung“ des Staates wird. 833 Ohne in die rechtsphilosophischen Tiefen des Gemeinwohlbegriffs eintauchen zu wollen, darf daher vermutet werden, dass eine auf dem Volkswillen gründende Gesetzgebung zugleich die weitgehende Vermutung omnipräsenter Gemeinwohlzwecke impliziert. Diese Einsicht ist ausreichend zur Darlegung der fehlenden Abgrenzungskraft des Gemeinwohlkriteriums der „Eingriffsnorm“.
Schließlich bestätigt auch hier die verfassungsmäßige Überprüfbarkeit des Zivilrechts die gesellschaftsgestaltende Funktion privatrechtlicher Rechtsnormen.834 Denn es sind gerade die zweifelsohne gemeinwohlorientierten Verbürgungen einer Verfassung, die das Verhältnis zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl bestimmen. Das Privatrecht ist als der Verfassung unterliegendes Recht daher auch dazu verpflichtet, dem Gemeinwohl zu dienen. Aufgrund der verfassungsrechtlichen Überprüfbarkeit des gesamten Zivilrechts kann die Eingriffsnorm auch nicht dadurch identifiziert werden, dass sie verfassungsrechtliche Wertungen verwirklicht.835 Denn die intrakonstitutionelle Geltung des Zivilrechts führt gerade dazu, dass jeder Zivilrechtssatz eine Verwirklichung verfassungsrechtlicher Garantien darstellen kann.
Somit führt die demokratische Staatsverfassung nicht nur zur bereits im 3. Kapitel erörterten Ablehnung der Trennung zwischen Staat und Gesellschaft, 836 831
Ähnl. auch Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 27: Das Gleichgewicht der Vertragsparteien führe zu einem Gleichgewicht der Wirtschaftskräfte. 832 Siehe hierzu Anderheiden, Gemeinwohl, 2006, S. 3 ff. 833 Siehe hierzu Haverkate, Verfassungslehre, 1992, S. 6. 834 Siehe zur Verfassungsbindung des Privatrechts ausf. im 6. Kapitel unter D.IV.1. 835 So aber Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 296 ff. Für eine indizielle Wirkung: Schönbohm, in: BeckOK-ArbR, 39. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 6. Siehe hierzu auch Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 39.1. 836 Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.I.1.e.bb.
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
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sondern auch zur Omnipräsenz gemeinwohlorientierter Zwecksetzungen 837. Es kann damit keinen Bereich demokratischer Normsetzung geben, der „reine Individualinteressen“ in den Blick nimmt: 838 Jedes Gesetz dient zugleich dem Allgemeinwohl. 839 Es kann somit nicht um das „Ob“, sondern nur um das „Wieviel“ der in einer Rechtsnorm verkörperten Gemeinwohlinteressen gehen. Damit kann auch die Trennlinie zwischen Öffentlichem Recht und Zivilrecht nicht im Sinne der ulpianschen Interessenlehre durch das Gemeinwohlkriterium beschrieben werden, sodass deren etablierte Ablehnung im Sachrecht hier nochmals bestätigt werden kann. Individual- und Gemeinwohlzwecke finden sich nämlich gleichermaßen sowohl im Öffentlichen Recht als auch im Zivilrecht:840 So nimmt etwa die Leistungsverwaltung auch das Individuum schwerpunktmäßig in den Blick – freilich aufgrund übergeordneter sozialpolitischer Ziele.841 Umgekehrt verfolgt auch das Privatrecht wie besehen gesamtgesellschaftliche Zwecke.842 Die Verwirklichung von Individual- oder Gemeinwohlzwecken ist damit nicht an eine konkrete, gesetzgeberische Handlungsform gebunden. 843 So kann etwa das Problem irreführender Gewinnzusagen sowohl mithilfe des Zivilrechts (vgl. § 661a BGB) als auch mithilfe des Gewerberechts angegangen werden. 844 Häufig wird eine einheitliche Zwecksetzung auch zugleich mit öffentlich-rechtlichen und zivilrechtlichen Mitteln verfolgt, etwa im Fall des §
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Ähnl. mit rechtsvergleichender Perspektive auch Häberle, Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht, 2009, S. 95 ff. 838 Ähnl. Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 39: Der richtige Ausgleich von Individualinteressen durch den Gesetzgeber ergibt damit das Gemeinwohl. Ähnl. auch Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 328; Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 652; Behrens, in: Basedow u.a. (Hrsg.), 75 Jahre MPI, 2001, S. 387. 839 So bereits Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 61. Außerdem Rehbinder, JZ 1973, 151, 154; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 230; wohl auch v.Hein, AG 2001, 213, 221; Felke, RIW 2001, 30, 33; ähnl. Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 28; Kühne, in: FS Heldrich, 2005, S. 823; Maultzsch, RabelsZ 75 (2011), 60, 89; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 23; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 274 f. (speziell für das Arbeitsrecht); Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 35. 840 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 47 ff., 228; Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 93; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 149; Schwimann, in: Aicher, ABGB, 1983, vor § 1 IPRG, Rn. 20; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 31 ff.; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 36 ff. In Ansätzen bereits Wesenberg, JR 1951, 433, 435. – Ähnl. auch Mills, The confluence of public and private international law, 2009, S. 212, welcher angesichts der zutreffenden Annahme, dass sich sowohl im Privatrecht als auch im IPR teilweise öffentliche Zwecke finden, die hier abgelehnte Schlussfolgerung zieht, dass das IPR tatsächlich Aufgaben einer internationalen Zuständigkeitsordnung erfülle (a.a.O., S. 298 ff.). Siehe zu dieser Frage ausf. im 3. Kapitel unter D.I.1.c. 841 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 47. 842 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 47. 843 Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 23; Roth, EWS 2011, 314, 322; Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 206; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 36. 844 Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 36.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
618 BGB.845 Individual- oder Gemeinwohlzwecke sind daher nicht an die Handlungsformen des Privat- oder Öffentlichen Rechts gekoppelt.
Geht es insofern nur um das „Wieviel“ des Gemeinwohlbezugs, wird die Handhabbarkeit als Trennlinie zwischen Eingriffsrecht und Nicht-Eingriffsrecht stark erschwert. Denn ein Verweis auf das Bestehen von Gemeinwohlinteressen kann aufgrund deren Omnipräsenz nicht mehr ausreichend sein – die Frage nach dem Bestehen von Gemeinwohlzwecken kann nicht mit „Nein“ beantwortet werden. Es kann damit allenfalls um die Frage gehen, wann der prinzipiell stets vorhandene Gemeinwohlzweck ein ausreichendes Maß zur Einordnung als Eingriffsnorm erreicht. Dies ist ein dogmatisches Déjà-vu: Man ist bei dem Punkt angelangt, an welchem sich insbesondere die romanische Lehre vom ordre public bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert abmühte. 846 Wieder geht es um die Frage, wann eine Norm das zur Durchsetzung ausreichende Maß an „sozialem Öl“ in sich vereint.847 Demnach würde man bei einer gemeinwohlorientierten Beschreibung des Eingriffsrechts tatsächlich nichts anderes tun, als bestimmte Normen als „ordre public“-Gesetz einzuordnen.848 Dies ist auch nicht verwunderlich, 845
Der § 618 BGB verfolgt den Schutz des Dienstberechtigten nämlich sowohl mit öffentlich-rechtlichen Schutzpflichten als auch mit zivilrechtlichen Nebenpflichten des Dienstherrn (so auch Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 283). 846 Siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter B.II. 847 So auch Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 276 ff.; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 276. 848 So möchten dann auch zahlreiche Autoren die Anwendung von „Eingriffsnormen“ als positiven ordre public verstanden wissen: Marti, Vorbehalt, 1940, S. 7; Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 66 ff.; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 248; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 67, 114; Schwimann, in: Aicher, ABGB, 1983, § 6 IPRG, Rn. 6; Reichelt, ZfRV 1988, 82, 84; Jayme, Methoden der Konkretisierung des Ordre public, 1989, S. 28; Kohte, EuZW 1990, 150, 153; Freitag/Leible, ZIP 1999, 1296, 1299; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 91; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 128; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 516; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 80; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 245; v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 270 ähnl. Thoma, Europäisierung, 2007, S. 254; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 55; Deinert, RdA 2009, 144, 150; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 47 ff.; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 182; Berends, NILR 2014, 69, 103; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 190 f., 474; Rentsch, in: Bauerschmidt u.a. (Hrsg.), Konstitutionalisierung, 2015, S. 260; Hausmann, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht II, 16. Aufl. 2016, Art. 21 Rom I-VO, Rn. 2; Baetge, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 13; Thorn, in: Palandt, 76. Aufl. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 3; Lorenz, in: BeckOKBGB, 43. Ed. 2017, Einl. zum IPR, Rn. 49; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 66, 174. – Auch das BAG setzt Normen des ordre public mit Eingriffsrecht gleich (BAG, Urt. v. 29.10.1992 – 2 AZR 267/92, BAGE 71, 297 = AP Internat. Privatrecht, Arbeitsrecht Nr. 31). – Der Zusammenhang zwischen Eingriffsnorm und ordre
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
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ist die europäische Eingriffsnormdefinition doch in erster Linie am Konzept der lois d’application immédiate orientiert, welche Francescakis selbst als Oberbegriff für die „lois d’ordre public“ verstand. 849 b) Schlussfolgerungen Angesichts der allenfalls quantitativen Natur des Gemeinwohlkriteriums ergeben sich zwei mögliche Konsequenzen. Man könnte hieraus folgern, dass die Eingriffsnorm eben äußerst restriktiv und nur im Bereich besonders phänomenal herausragender Gemeinwohlzwecke einzusetzen sei. 850 Derartige Restriktionsdogmen und Superlative treffen zwar durchaus auf Zustimmung, 851 sie zeigen in der europäischen Praxis jedoch kaum Wirkungen. Dies ist auch wenig überraschend: Das richterliche Streben nach einer sachgerechten Lösung wird sich stets einen Weg bahnen. Wie der elektrische Strom wird auch der Richter hierbei den Weg des geringsten Widerstands wählen. Da jede Norm ein gewisses Maß an Gemeinwohlzwecken verfolgt, ist das Gemeinwohl-Kriterium ein so gefälliges wie flexibles Einfallstor des richterlichen Rechtsgefühls: 852 Wem das Rechtsgefühl einflüstert, dass eine gewisse Norm des Heimatrechts durchgesetzt werden sollte, der wird
public ist in der französischen Dogmatik noch deutlich präsenter (siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter C.II.; siehe auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 37; Siehr, in: FS Drobnig, 1998, S. 447 f.). 849 Siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter C.II.2. Die Verknüpfung von Eingriffsnorm und ordre public hebt auch GA Szpunar angesichts des Erwägungsgrunds Nr. 37 der Rom IVO hervor (Schlussantrag GA Szpunar v. 20.04.2016, C‑135/15, ECLI:EU:C:2016:281, 68) sowie Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 318; Morscher, Staatliche Rechtssetzungsakte, 1992, S. 52 f. – Butler hält Unterscheidungsbemühungen zwischen ordre public und Eingriffsnorm gar für eine „slightly academic discussion“ (Butler, in: DiMatteo u.a., Internat. sales law, 2016, S. 1057, Rn. 89). 850 So etwa die in Fn. 818 Genannten. 851 Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 290; Freitag, in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rn. 5.17 f. Schönbohm, in: BeckOK-ArbR, 39. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 1; Thorn, in: Palandt, 76. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 5; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 3. Ähnl. auch schon Zitelmann, IPR II, 1912, S. 481. – Siehe auch die legislative Verortung des Grds. der engen Auslegung in Erwägungsgrund Nr. 53 EuGüVO. Auch der EuGH betont den Ausnahmecharakter der Eingriffsnorm: EuGH, Urt. v. 17.10.2013 – C-184/12, ECLI:EU:C:2013:663 (Unamar), Rn. 49; EuGH, Urt. v. 18.10.2016 – C-135/15, ECLI:EU:C:2016:774 (Nikiforidis), Rn. 44. 852 Dies betonten zum (zunächst seinerzeit auch positiv verstandenen) ordre public bereits: Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 104; Marti, Vorbehalt, 1940, S. 3 ff.; ähnl. Heiz, Das fremde öffentliche Recht, 1959, S. 81 ff.; Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 287; Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 179.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
schließlich auch ein ausreichendes Maß an „sozialem Öl“ entdecken können. 853 Dem entgeht man im Übrigen auch nicht dadurch, dass man nicht materielle Gemeinwohlzwecke, sondern „kollisionsrechtliche Gemeininteressen“ zum entscheidenden Kriterium der Eingriffsnorm erklärt. Den letztgenannten Versuch unternahm jüngst Köhler.854 Zwar ist es richtig, dass eine im Kollisionsrecht bestehende Lücke nur nach kollisionsrechtlichen Kriterien gefüllt werden kann, weshalb eine Beschreibung der Eingriffsnorm anhand ihrer kollisionsrechtlichen Interessenlage zumindest konsequenter ist. Kommt man jedoch mit der hier vertretenen Ansicht zum Ergebnis, dass der Gemeinwohlbezug im materiellen Recht omnipräsent ist, muss dies auch für die durch das Sachrecht implizierten kollisionsrechtlichen Gemeininteressen gelten. Es ist daher nichts gewonnen, wenn man den Gemeinwohlbezug in Gestalt kollisionsrechtlicher Gemeininteressen zum Abgrenzungskriterium macht. Eine Abwägung „kollisionsrechtlicher“ Gemein- und Parteiinteressen verspricht damit keinen Gewinn an Schärfe gegenüber dem materiellen Recht. Es kann auch hier allenfalls um Akzentverschiebungen gehen. Indessen ist Köhler zugute zu halten, dass er neben Sachnormen, die kollisionsrechtliche Gemeininteressen implizieren („Eingriffsnormen“), ausdrücklich anerkennt, dass eine abweichende kollisionsrechtliche Behandlung auch aufgrund anderer (nicht-gemeinwohlorientierter) materieller Interessen möglich sei. 855 So bildet er etwa eine besondere Anknüpfung zugunsten des sozialen Mietrechts nach dem Vorbild der Art. 6/8 Rom I-VO, ohne hierbei eine Einordnung als „Eingriffsnorm“ vorzunehmen. 856 Der Unterschied zur Kollisionsnormbildung im Rahmen der Eingriffsnormklauseln sei hierbei nur terminologisch, nicht konstitutiv.857 Damit erlaubt auch Köhler i.E. die umfassende, interessengerichtete Rechtsfortbildung, welche auch in dieser Arbeit vertreten wird.
Die fehlende Begrenzungskraft des Gemeinwohlkriteriums zeigt sich schließlich besonders im Rahmen des Unionsprivatrechts, ist dieses doch deutlich an „überindividuellen“ Unionszielen wie der Verwirklichung des Binnenmarkts orientiert.858 Es ist damit geradezu in die DNA des EuGH eingefräst, überall Gemeinwohlorientierungen herauszuarbeiten.
853 So bereits Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 104. Ähnl. Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 276; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 140; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 28; Schwarz, ZVglRWiss 101 (2002), 45, 74; ähnl. Thoma, Europäisierung, 2007, S. 224; ähnl. auch Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 206. 854 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 94 ff. 855 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 97, 211. 856 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 145 ff. 857 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 97 ff. 858 Roth, IPRax 1994, 165, 173; Basedow, in: FS Reichert-Facilides, 1995, S. 16; Roth, EWS 2011, 314, 321; Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 206; Schilling, ZEuP 2014, 843, 846.; ähnl. Weller, IPRax 2011, 429, 435 f. – Dies wird auch dadurch plastisch, dass teilweise vertreten wird, Unionsprivatrecht sei bereits aufgrund dessen Herkunft pauschal als Eingriffsnorm einzuordnen (hierzu Mankowski, RIW 1993, 453, 462; Kindler, BB 2001, 10, 12 m.w.N.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 102; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9, Rn. 15).
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
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Schlussendlich wird das Gemeinwohlkriterium im Bereich ausdrücklicher Eingriffsnormen ohnehin nicht konsequent durchgehalten. Denn im Gegensatz zum Richter wird dem Gesetzgeber zumeist völlige oder weitgehende Freiheit bei der Entscheidung zugebilligt, bestimmte Sachnormen mittels ausdrücklicher, einseitiger Spezial-Kollisionsnormen „als Eingriffsrecht“ durchzusetzen.859 Die Durchsetzungskraft der Eingriffsnorm liege hier nicht im Gemeinwohlbezug, sondern in der „dezisionistischen Entscheidung der Gesetzgebungsorgane“. 860 Im Gegensatz dazu sei bei der richterlichen Ermittlung von Eingriffsrecht – d.h. der auslegenden oder rechtsfortbildenden Kollisionsnormbildung – das Gemeinwohlkriterium vollumfänglich anzuwenden.861 Diese Wertungsunterschiede sind nicht erklärbar. c) Die Rückführung auf allgemeine Rechtsmethodik nach Maßgabe der Interessenjurisprudenz Daher erscheint eine andere Konsequenz stichhaltiger: Man fragt sich – ganz auf Kahns Spuren862 – was der wahre Grund für die Einordnung einer Bestimmung als „Eingriffsnorm“ ist. Diese Gründe wird man nicht in einem besonders
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Pfeiffer, in: FS Geimer, 2002, S. 829; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 17; Roth, in: FS Immenga, 2004, S. 340; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 18, 53 ff. (rechtsvergleichend). – Ähnl. auch die Vertreter, die eine besonders weite gesetzgeberische Entscheidungsprärogative hervorheben: Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 20 f.; Thorn, in: FS Schmidt, 2009, S. 1577; Schlussantrag GA Wahl vom 15.05.2013, C‑184/12, ECLI:EU:C:2013:301, Rn. 31; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 319; Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 147; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 5 ff. Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 66 ff. Schlussantrag GA Szpunar v. 20.04.2016, C‑135/15, ECLI:EU:C:2016:281, Rn. 72; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom IVO, Rn. 24, 56. – Dagegen v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 99, wonach der Gesetzgeber nicht „par ordre du mufti“ individuelle Interessen in überindividuelle Interessen umdeuten könne. Möchte man der Prämisse folgen, dass die Eingriffsnorm sich generell durch einen besonderen Gemeinwohlbezug auszeichne, so ist es zumindest konsequenter, dies auch für ausdrückliche gesetzgeberische Festlegungen zu fordern. Dagegen auch Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 868; Martiny, ZEuP 2010, 747, 776 angesichts des neugefassten Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO. 860 Pfeiffer, in: FS Geimer, 2002, S. 836; ähnl. v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 95; ähnl. Kindler, Einführung in das neue IPR, 2009, S. 65; Leible, in: FS Martiny, 2014, S. 437. Dezisionismus meint hier den Ansatz, dass es nicht auf den Inhalt, sondern auf das Vorliegen der gesetzgeberischen Entscheidung als solche ankomme. 861 Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 55. Skeptisch Roth, in: FS Immenga, 2004, S. 340; Bitterich, GPR 2006, 161, 164. 862 Siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter B.V.
180
4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
intensiven Bad in „sozialem Öl“ finden, sondern in der von der Regelverweisung abweichenden kollisionsrechtlichen Interessenlage der geschriebenen oder der zu bildenden (Spezial-)Kollisionsnorm. 863 Die abweichende kollisionsrechtliche Interessenlage wird ihrerseits stark durch die materiellen Zwecke der speziell anzuknüpfenden Sachnorm bestimmt,864 was Kahn noch etwas kryptisch als die „Rechtsidee“ der durchzusetzenden Bestimmung bezeichnete 865. Die interessenmäßige Divergenz zwischen der auf „Eingriffsnormen“ zeigenden (Element-)Kollisionsnorm und der Regelverweisung mag hierbei durchaus des Öfteren in einer stärkeren staatlich-politischen Sachnormprägung der „Eingriffsnormen“ begründet sein, da hierdurch auch entsprechend abweichende Rechtsanwendungsinteressen impliziert werden. 866 So geht es etwa zweifelsohne vorrangig um staatliche und wirtschaftspolitische Rechtsanwendungsinteressen, wenn heimische Beschränkungen für den Erwerb inländischer Unternehmen durch ausländische Investoren mithilfe einer speziellen Kollisionsnorm durchgesetzt werden. Der Gemeinwohlbezug kann indessen nicht als trennscharfes Alleinstellungsmerkmal einer speziell anzuknüpfenden Normgruppe herangezogen werden.867 Ebenso wie im Sachrecht stellt der Gemeinwohlzweck nämlich auch im 863 Ähnl. bereits Kahn, Wengler und Zweigert (siehe hierzu im 1. Kapitel unter B.V und C.I). Außerdem Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 292 ff.; Lorenz, RIW 1987, 569, 578; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 247 f.; Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 287; i.E. auch Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 224 ff.; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 178; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 24; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 864. 864 Siehe zur Sachnormprägung des Kollisionsrechts bereits ausf. im 3. Kapitel unter D.II.3.; zur sachnormimplizierten Kollisionsnormbildung außerdem bereits oben unter A.III.2 sowie ausf. im 5. Kapitel unter A. 865 Siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter B.V. 866 Ähnl. bereits Kahn, ZIPÖR 15 (1905), 125, 193 (anhand der bes. Anknüpfung des kath. Scheidungsrechts). Außerdem Bucher, Grundfragen, 1975, S. 53; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 103; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 65; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 247; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 105, 112; Schurig, in: FS Jayme, 2004, S. 840; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 153; Wiese, Einfluß des EG-Rechts, 2005, S. 184 ff.; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 38 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 90, siehe dort auch Fn. 439; Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 15. 867 Zur Untauglichkeit des Gemeinwohlkriteriums auch: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 283, 313; Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 14; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 63; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 228; Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 289; Hahn, Die „europäischen“ Kollisionsnormen für Versicherungsverträge, 1992, S. 97; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 142; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 4; Schurig, in: FS Jayme, 2004, S. 841; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 39; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 285; Köhler, Eingriffsnormen,
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
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kollisionsrechtlichen Interessenkanon nur einen von vielen denkbaren Gesichtspunkten dar. 868 Die spezielle Durchsetzung geschriebener oder gebildeter Kollisionsnormen kann daher aufgrund jeder Interessendivergenz erfolgen. 869 Man mag allenfalls in einem heuristischen Sinn davon sprechen, dass besonders gemeinwohlorientierte Sachnormen häufig eine abweichende Anknüpfung implizieren. 870 d) Die Integration des Gemeinwohlbezugs in den kollisionsrechtlichen Interessenkanon im Bereich bestehender Verweisungen Die Integration gemeinwohlorientierter Rechtsanwendungsinteressen in das Kollisionsrecht ist damit keine bei der Eingriffsnorm abzuladende Systemunverträglichkeit, sondern der Regelfall: Da der Gemeinwohlbezug im Sachrecht omnipräsent ist, wird man auch im Kollisionsrecht keine Norm finden, die ohne jedes gemeinwohlimplizierte Interesse auskommt. 871 Dass auch solche Rechtsanwendungsinteressen unschwer in das Kollisionsrecht integrierbar sind, zeigt sich besonders bei jenen Normen, die früher als Eingriffsnormen eingeordnet wurden, nun aber ohne viel Aufhebens in die Form allseitiger Verweisungen gegossen wurden: Diskutierte man etwa Ende des 20. Jahrhunderts noch eine Sonderanknüpfung des Verbraucher- und Arbeitnehmerschutzrechts als dem staatspolitischen Ziel des Schwächerenschutzes dienliches Eingriffsrecht, finden sich heute in den Art. 6, 8 Rom I-VO allseitige Kollisionsnormen in jenen
2013, S. 16, Fn. 61. Ähnl. auch Teile der französischen Literatur zu den „lois de police“ (Thoma, Europäisierung, 2007, S. 224 m.w.N.). 868 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 24 ff., 138 ff. Siehe außerdem bereits im 3. Kapitel unter D.II.3.c. zur Ablehnung der Annahme, dass das Kollisionsrecht auf rein kollisionsrechtliche Interessen zu beschränken sei sowie oben unter C.II. zur Ablehnung der Einschränkung auf private Rechtsanwendungsinteressen. Des Weiteren ist auch nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber das Wirkenlassen der allgemeinen Prinzipien von Spezialität und Rechtsfortbildung im Kollisionsrecht auf gemeinwohlorientierte Rechtsanwendungsinteressen beschränken möchte (zumal auch eine solche Einschränkung angesichts der allenfalls quantitativen Beschreibbarkeit des Gemeinwohlzwecks nicht handhabbar wäre). 869 In Ansätzen ähnl. Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 111; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 303; Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 140; ähnl. auch Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 40, wonach die Eingriffsnorm eine unabhängig vom verfolgten Zweck offenstehende Regelungstechnik ist. 870 Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 283; ähnl. Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 70; ähnl. Lorenz, RIW 1987, 569, 579; Pfeiffer, in: FS Geimer, 2002, S. 824; ähnl. Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 95 f., 126, 211. 871 Hier sei auf die im 3. Kapitel unter D.II.3.c.aa. erörterten Beispiele der Sachnormprägung des Kollisionsrechts verwiesen. Ein gewichtiger Teil der dort erörterten Sachnormzwecke lässt sich unschwer als Gemeinwohlzweck lesen (bspw. der Opferschutz im Deliktsrecht und der Minderjährigenschutz hins. der Anknüpfung der Geschäftsfähigkeit).
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
Sachnormbereichen. 872 Mag man hier noch einwenden, dass es sich eben um „auch-gemeinwohlbezogenes“ Recht handele, welches ohnehin nicht als Eingriffsnorm zu qualifizieren sei, 873 kann dies im Bereich des Kartellrechts nicht gelten: Das stets als klassisches Eingriffsrecht diskutierte Kartelldeliktsrecht wird heute nämlich mithilfe des Art. 6 Rom II-VO allseitig nach dem Marktauswirkungsprinzip angeknüpft. 874 Die angebliche Unmöglichkeit der Integration des Gemeinwohlzwecks scheint keine Rolle mehr zu spielen, sobald die Anknüpfung im gewohnt allseitigen Gewand durch den Gesetzgeber festgelegt wird.875 Damit ist die bereits theoretisch dargelegte Möglichkeit der Integration gemeinwohlorientierter Zwecksetzungen in das kollisionsrechtliche System auch durch die Rechtswirklichkeit nachgewiesen.
872 Hierauf weisen auch Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 126; Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 392; Thoma, Europäisierung, 2007, S. 245 hin. So plädierte etwa v.Wilmowsky, ZEuP 1995, 735, 755 noch für die Einordnung des Widerrufsrechts als Eingriffsnorm. Ähnl. auch Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 169 bzgl. des Versicherungsvertragsrechts, welches heute eine besondere allseitige Normierung in Art. 7 Rom I-VO erfahren hat. Im Arbeitsrecht fand ein allseitiger Ausbau der auf „Eingriffsnormen“ zeigenden einseitigen Kollisionsnormen schon recht früh statt (Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 40). 873 So wohl Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 111 sowie die oben unter C.IV.2.b. genannten Stimmen, die sich für eine besonders restriktive Lesart der Eingriffsnorm aussprechen. 874 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 207. Einen allseitigen Ausbau des § 130 Abs. 2 GWB a.F. diskutieren: Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 126. Bzgl. der Vorgängervorschrift des § 98 Abs. 2 a.F. GWB bereits: Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 133 f.; Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 75. – Zur Einordnung des § 130 Abs. 2 GWB a.F. als „Eingriffsnorm“: v.Hein, AG 2001, 213, 220; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 180; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 31 f. Rauscher, IPR, 4. Aufl. 2012, § 10, Rn. 1274. Ebenso zu § 98 Abs. 2 GWB a.F.: Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 56 (allg. zu Kartellgesetzen); Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 69; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 825; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 361; Roth, in: Reichert-Facilides/Basedow (Hrsg.), Aspekte des internationalen Versicherungsvertragsrechts, 1994, S. 33; BAG, Urt. v. 03.05.1995 – 5 AZR 15/94, NZA 1995, 1191, 1192. 875 Ähnl. Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 874 f.; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 51; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 211; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 123; Spickhoff, in: BeckOKBGB, 43. Ed. 2017, Art. 16 Rom II-VO, Rn. 4, welche zumeist den Schwerpunkt auf den merkwürdigen Kontrast zwischen der allseitigen Anknüpfung des Art. 6 Rom II-VO und der restriktiven Haltung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO gegenüber ausländischen Eingriffsnormen legen. Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 211; Roth, EWS 2011, 314, 323 weisen richtigerweise darauf hin, dass hierdurch unerklärbare Wertungsunterschiede zwischen der Rom I- und Rom II-VO entstehen.
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
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3. Zusammenfassung und Fazit Zunächst hat sich gezeigt, dass die gemeinwohlbezogene Beschreibung der Eingriffsnorm auf der überholten Grundlage der ulpianschen Interessenlehre basiert. Hinzu kommt die Omnipräsenz des Gemeinwohlbezugs in den Gesetzen eines demokratischen Verfassungsstaats. Da es damit nicht um das „Ob“, sondern nur um das „Wieviel“ der verankerten Gemeinwohlzwecke gehen kann, ist eine hieran orientierte Eingriffsnormdefinition kaum handhabbar. Man kann daher trotz Restriktionsdogmen nicht verhindern, dass die Eingriffsnorm als dankbares Öffnungstor für das richterliche Rechtsgefühl dient. Hierbei ist das Problem nicht das richterliche Streben nach der speziellen Durchsetzung bestimmter Normen, sondern der irreführende Eindruck, die kollisionsrechtliche Operation sei mit der Einordnung einer Vorschrift als „Eingriffsnorm“ getan876. Insofern wird man durch die „Augenbinde Francescakis“877 bzw. den „humanitären Glanz“ 878 einer Sachnorm blind für das jeweils maßgebliche Anknüpfungsmoment. Dies behindert die weitergehende Rechtsentwicklung, da nur eine eindeutig formulierte Kollisionsnorm mit klar ermittelter kollisionsrechtlicher Interessenlage weitergehend vertikal oder horizontal gebündelt werden kann. Ohne Zweifel kann eine abweichende Anknüpfung auch durch die kollisionsrechtlichen Implikationen eines besonderen Gemeinwohlzwecks im Sachrecht ausgelöst werden; die Methode der speziellen Durchsetzung ist jedoch nicht auf gemeinwohlbezogenes Sachrecht begrenzt. 879 Der wohl teilweise entstandene Eindruck, wonach ausschließlich über das Instrument der Eingriffsnorm die Durchsetzung ausdrücklicher oder gebildeter Spezial-Kollisionsnormen möglich sei, ist ebenfalls abzulehnen. Eine solche Annahme hätte entweder eine Überdehnung der „Eingriffsnorm“ ins Uferlose zur Folge, um (maskierte) Rechtsfortbildung auch im Bereich wenig präsenter Gemeinwohlzwecke – und damit im Ergebnis überall – zu betreiben. Oder man würde eine eigentlich interessenmäßig nötige, abweichende Anknüpfung in einem Bereich unterlassen, den man nicht von der „Eingriffsnorm“ erfasst sieht. Beide Konsequenzen wären unerfreulich: Die Erste stünde im Widerspruch zur offensichtlich gewollten Begrenzbarkeit der Eingriffsnorm, während die Zweite entgegen der Maxime der Interessenjurisprudenz die Statik eines ohnehin bereits außergewöhnlich groben und unfertigen Rechtssystems nur weiter vertiefen würde.
876
Ähnl. bereits Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 297. Prägnant Schurig, in: FS Jayme, 2004, S. 840, der von einem Griff in die „Trickkiste“ der juristischen Methodik spricht: Man gebe dem Problem einen Namen („Eingriffsnorm“) und behandele es fortan als gelöst. 877 Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 34 f. 878 Jayme nach Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 415 in einem Vortrag im März 2017. 879 Welche Sachnormen die zur Bildung einer abweichenden Kollisionsnorm ausreichende kollisionsrechtliche Interessenlage implizieren, kann damit nicht von vorneherein beschrieben werden (Schurig, in: FS Jayme, 2004, S. 842).
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
V. Der „internationale Anwendungswille“ Damit stellt sich die Frage, ob es weitere Eigenschaften gibt, welche der Eingriffsnorm Konturen verleihen könnten. Als ein solches Kriterium wird häufig der „internationale Anwendungswille“ genannt. 880 1. Der „internationale Anwendungswille“ als Rekurs auf die Spezialität bei der heimischen Eingriffsnorm Sofern es um heimische Eingriffsnormen geht, ist das Kriterium des „internationalen Anwendungswillens“ so harmlos wie nichtssagend. Da der „Wille“ zur international zwingenden Anwendung im Fall heimischen Rechts einer einseitigen Kollisionsnorm entspricht, betont diese Ansicht nämlich schlicht das ohnehin unentbehrliche Vorhandensein einer Kollisionsnorm. 881 Sofern außerdem vertreten wird, dass der internationale Anwendungswille gerade den Willen zur Durchsetzung der Eingriffsnorm gegen das Regelstatut verkörpern müsse, 882 so wird hierdurch nur die Spezialität der einseitigen Kollisionsnorm betont.
880
Siehe hierzu Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 249; Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 14; Anderegg, Ausländische Eingriffsnormen, 1989, S. 3 f.; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 122; Kunda, GPR 2007, 210, 219 („overriding character“); Pfeiffer, in: FS Geimer, 2002, S. 822; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 5; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 107; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 19; ähnl. Bitterich, GPR 2006, 161, 164; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 40; Mankowski, IPRax 2006, 101, 109; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 30; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 12 ff.; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 867; Harris, in: Ferrari (Hrsg.), Rome I regulation, 2009, S. 295; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 47; ähnl. Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 316; Thorn, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 8 f.; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 17; Ringe, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 16; Spickhoff, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom IVO, Rn. 8 ff. – In Ansätzen auch schon Savigny, System VIII, 1849, S. 34, welcher den Willen des Gesetzgebers zur Einordnung einer Bestimmung als „positiv-zwingend“ zum wesentlichen Kriterium erklärt. – Auch die Rechtsprechung hebt es häufig als besonderes Merkmal der Eingriffsnorm hervor, dass diese nach ihrem „Geltungswillen“ in das Vertragsstatut hineinwirkt: BGH, Urt. v. 23.04.1998 – III ZR 194–96, NJW 1998, 2452, 2453; BAG, Urt. v. 12.12.2001 – 5 AZR 255/00, BAGE 100, 130 = AP EGBGB n. F. Art. 10 Nr. 10; BGH, Urt. v. 27.02.2003 – VII ZR 169/02, BGHZ 154, 110 = NJW 2003, 2020, 2021; LAG Hessen, Urt. v. 16.11.1999 – 4 Sa 463/99, NZA-RR 2000, 401, 405. – Insbesondere der Art. 7 EVÜ konnte noch so verstanden werden, dass ausschließlich auf den Willen zur „international zwingenden“ Durchsetzung abgestellt wurde (Schurig, in: FS Jayme, 2004, S. 844). Für die Eingriffsnormklauseln des neuen europäischen IPR kann dies angesichts des durch Art. 9 Rom I-VO deutlich hervorgehobenen Gemeinwohlbezugs nicht mehr gelten. 881 Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 331; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 127. 882 Schlachter, NZA 2000, 57, 61; Felke, RIW 2001, 30, 32; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 303.
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
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Da insofern der „internationale Anwendungswille“ und die spezielle, einseitige Kollisionsnorm gleichzusetzen sind, beschreibt dieses Kriterium nur das Ergebnis der kollisionsrechtlichen Untersuchung. 883 Es beantwortet nicht die zentrale Frage, warum eine zu bildende oder ausdrückliche Spezial-Kollisionsnorm gegen die Regelverweisung durchzusetzen ist. 2. Der „internationale Anwendungswille“ bei der ausländischen Eingriffsnorm Sofern im Hinblick auf fremde Eingriffsnormen mit dem Ansatz beim „international zwingenden Anwendungswillen“ ausgesagt werden soll, dass man sich einem fremden Geltungswillen unterordnen müsse, unterliegt man hierdurch dem bereits ausführlich diskutierten unilateralistischen Irrtum. 884 Denn im autonomen Kollisionsrecht ist eine Unterordnung unter einen fremden Geltungswillen bereits systembedingt ausgeschlossen. 885 Es ist auch nicht notwendig, für ausländische Eingriffsnormen ein „unilateralistisches Teilsystem“ zu errichten. 886 Die Bildung fremdseitiger ElementKollisionsnormen ist im autonomen System unschwer hinsichtlich jeder fremden Norm möglich – seien diese nun öffentlich-rechtlich, privatrechtlich oder besonders gemeinwohlgetränkt. 887 Auch eine besondere „Staatsnähe“ des fremden Eingriffsrechts steht dem wie besehen nicht entgegen, weil die Abhängigkeit von einem staatlichen Imperativ ohnehin jeden Rechtssatz betrifft, was die kollisionsrechtliche Fremdrechtsberufung angesichts der Synthesewirkung des Kollisionsrechts aber nicht hindert. 888 Auch die Kollisionsnormbildung „am fremden Gesetz“ entspricht nicht etwa einer unilateralistischen Methodik, sondern stellt die Formulierung autonomen Kollisionsrechts unter Berücksichtigung fremder Sachnormzwecke dar. Das Kollisionsrecht ist damit strukturell unschwer zur Berufung fremden Eingriffsrechts in der Lage. Ein unilateralistisches Teilsystem für ausländisches Eingriffsrecht ist außerdem nicht nur unnötig, sondern auch nachteilhaft: Es würde zu der absurden
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Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 824; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 228; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 143; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 4; Becker, RabelsZ 60 (1996), 691, 695; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 24; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 14; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 28. 884 Siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.II.4. 885 Siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.I.1. 886 Ein solches lehnen auch Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 10; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 75; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 201 ff. ab. 887 Siehe zur rechtsnaturunabhängigen Funktionsweise des Kollisionsrechts ausf. im 3. Kapitel unter D. und E. 888 Siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.I.1.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
Konsequenz führen, dass der Richter alle fremden Rechtsordnungen nach anwendungswilligen Eingriffsnormen absuchen müsste und ohne Not jede Entscheidungsgewalt über das anzuwendende Recht verlieren würde. 889 Schlussendlich ordnet auch weder der Art. 7 Abs. 1 EVÜ noch der Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO eine unilateralistische Methodik im Hinblick auf die Berufung fremden Eingriffsrechts an. Denn selbst wenn man diese Vorschriften so deuten möchte, dass die Berufung fremden Eingriffsrechts auch vom Anwendungswillen des fremden Erlassstaats abhängig zu machen ist, 890 würde es sich auch in diesem Fall nicht um eine unilateralistische Methode handeln 891. Wie bereits gezeigt wurde, ist die Rücksichtnahme auf einen fremden (Nicht-)Anwendungswillen nämlich auch im autonomen System unschwer möglich. 892 Daneben möchten auch die Vertreter eines Ansatzes am fremden Anwendungswillen ohnehin durch zahlreiche autonome Merkmale korrigieren. 893
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Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 116; Harris, in: Ferrari (Hrsg.), Rome I regulation, 2009, S. 295. Siehe zu weiteren Nachteilen des Unilateralismus im 3. Kapitel unter D.I.1.c., dort Fn. 468. 890 So etwa Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 115; Coing, WM-WuB IV 1981, 810, 812; Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 8; Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 335; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 7; Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 180; Kratz, Ausländische Eingriffsnorm, 1986, S. 109, 113; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 10, 90; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 105; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 100. 891 So aber Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 4; Weber, in: FS Werner, 1984, S. 957; Mankowski, RIW 1993, 453, 461; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 126 ff. 892 Siehe hierzu bereits ausf. im 3. Kapitel unter D.II.4. 893 Dies war bereits bei Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 181 ff. und Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 285 der Fall: Sofern der ausländische Staat seinem zwingenden Recht einen Geltungswillen beifügen möchte, der die „Höchstgrenzen für den örtlichen Anwendungsbereich“ (Wengler, a.a.O. S. 185) der lex fori überschreitet, handele der fremde Gesetzgeber vom Standpunkt des Forums „ultra vires“ (Wengler, a.a.O. S. 187), weshalb das ausländische zwingende Recht unbeachtlich sei. Wengler illustriert dies anhand der amerikanischen Goldklauselgesetzgebung: So wolle diese zwar auf jede Schuld in Dollar angewandt werden, sie sei aber erst dann berücksichtigungsfähig, wenn noch weitere Bezugspunkte zu den USA hinzutreten würden, wie etwa ein dortiger Geschäftssitz von Schuldner und Gläubiger (Wengler, a.a.O. S. 181 ff.). – Siehe außerdem Philip, in: FS Lipstein, 1980, S. 249; Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 9; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 105 ff., 187; Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 330 f.; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 827; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 58 f.; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 97; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 20, 93 ff. – Indessen möchte Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 75 im Schweizer Modell der Berufung fremden Eingriffsrechts nach Art. 19 IPRG (Schweiz) einen echten Unilateralismus erkennen. Dagegen jedoch Vischer, RabelsZ 53 (1989), 438, 451, welcher auch hier eine autonome Interessenabwägung für maßgeblich erachtet.
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
187
Häufig genannt wird etwa das Erfordernis einer engen Verbindung, 894 der fremden „Gesetzgebungszuständigkeit“, 895 der fremden Durchsetzungsmacht 896 oder – denkbar offen – der Kompatibilität mit den Interessen des Forums 897. Der Ansatz am fremden Anwendungswillen verblasst damit aufgrund der zahlreichen objektiven Einschränkungen. 898 Es lassen sich auch keine Stimmen finden, die fremdes Eingriffsrecht ausschließlich aufgrund seines Anwendungswillens berufen möchten. 899 Damit ist die Rücksichtnahme auf den Anwendungswillen einer ausländischen Eingriffsnorm nur ein Tatbestandsmerkmal im Rahmen der autonomen
894 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 181 ff.; Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 117; Schiffer, Normen ausländischen „öffentlichen“ Rechts, 1990, S. 159; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 108; Göthel, IPRax 2001, 411, 418. 895 Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 115; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 95 ff.; Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 335; Kratz, Ausländische Eingriffsnorm, 1986, S. 111 f.; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 90 ff.; ähnl. Harris, in: Ferrari (Hrsg.), Rome I regulation, 2009, S. 297. Dieses Merkmal ist problematisch, da es Anleihen an einem völkerrechtlichen IPR-Verständnis macht. 896 v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 106. Gegen das Kriterium der Durchsetzungsmacht: Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 86 ff.; Wiese, Einfluß des EG-Rechts, 2005, S. 190; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 211 f. Dieses Kriterium baut auf der Machttheorie Kegels auf (siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter B.II.). 897 Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 336; Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 167 ff.; Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 163 f.; Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 392; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 105; Freitag, in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rn. 5.125; Ringe, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 37. – Für eine Förderung der Forumsinteressen durch die Anwendung der fremden Eingriffsnorm sprechen sich aus: Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 90; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 97; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 107. I.E. – Ähnl. auch das Kriterium eines „shared value“ (so Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 188) sowie der „Sympathieprüfung“ (Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 214). – Krit. zum Ganzen Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 124 ff., welcher darauf hinweist, dass im Rahmen des Kriteriums der Interessenidentität zumeist tatsächlich das Bestehen einer engen Verbindung ausschlaggebend sei. 898 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 325 f.; ähnl. Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 92 f. – Jene autonom festgelegten Merkmale bilden zugleich eine Vorauswahl der zu betrachtenden Rechtsordnungen, sodass es auch nicht darum geht, alle Rechtsordnungen nach „anwendungswilligen“ Normen abzusuchen (dies befürchtet aber u.a. Beitzke, RabelsZ 48 (1984), 623, 644). 899 So auch Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 121.
188
4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
Rechtsanwendungsentscheidung; um ein Bekenntnis zu einem unilateralistischen Teilsystem geht es nicht. 900 Auch hier begegnet uns im Übrigen derselbe Mechanismus wie bei der autonomen Gesamtnormverweisung, denn wir berücksichtigen fremde kollisionsrechtliche Festlegungen als Bestandteil des fremden rationalen Elements, ohne dass wir uns hierdurch einem fremden Imperativ beugen würden.901
Man mag daher den Ausgangspunkt am Anwendungswillen einer fremden Eingriffsnorm als „unilateralistisch“ bezeichnen;902 der methodische Werkzeugkoffer bleibt dagegen autonom, solange man sich die Beschränkung des Kreises der berücksichtigungsfähigen Normen des Fremdrechts vorbehält. Dies führt im Übrigen auch dazu, dass die „Abwehr“ einer fremden Norm mit einem weit ins Ausland reichenden Anwendungsbereich mithilfe eines „blocking statutes“ in der Regel sowohl kollisionsrechtlich als auch völkerrechtlich ohne Belang ist. 903 Denn fremde kollisionsrechtliche Festlegungen binden uns ohnehin nicht. Insofern wiederholen blocking statutes nur die Systemlogik des Autonomismus. Da es bei der auslandsbezogenen Normsetzung nur um eine „extraterritoriale“ Erstreckung des Anwendungsbereichs geht (und damit nicht um ein abzuwehrendes Übergreifen fremder Staatsmacht im Sinne einer versuchten Erweiterung des Geltungsbereichs), wird der fremde Staat auch nur durch die völkerrechtlichen Grenzen des genuine link-Kriteriums gebunden. Es kann also bei „blocking statutes“ in der Regel auch nicht um die Behauptung eigener Souveränität gegenüber einer versuchten „Legalannexion“ gehen. 904
VI. Schlussfolgerung: Die Entbehrlichkeit der „Eingriffsnorm“ Blicken wir zurück: Der Gemeinwohlbezug ist als omnipräsentes Merkmal allen Rechts ein untaugliches Kriterium, denn bei ergebnisorientierter Argumentation lässt er sich bei jeder Norm in ausreichendem Maß feststellen. Der „in-
900 Schubert, RIW 1987, 729, 735; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 54; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 151; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 107 f. 901 Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.I.1. Neben der Gesamtverweisung wird auch im Rahmen der Art. 3a Abs. 2 EGBGB und Art. 30 EuErbVO ein fremder (Nicht-)Anwendungswille berücksichtigt (siehe hierzu auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 261). 902 So etwa Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 197; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 66; Mankowski, RIW 1996, 8, 9. 903 Ähnl. Schubert, RIW 1987, 729, 746. Dagegen indessen v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 113; wohl auch Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 187; Mankowski, IPRax 2016, 485, 493, welche blocking statutes als notwendiges Mittel zur Abwehr weitgehender fremder Anwendungsansprüche verstehen. 904 Denn es ist davon auszugehen, dass die Staaten sich völkerrechtskonform verhalten möchten und daher ihren Geltungsbereich nicht über die Grenzen ihres Staatsgebiets erstrecken, sondern nur den Anwendungsbereich eigenen Rechts entsprechend ausdehnen möchten. Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.I.1.b.
C. Verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln
189
ternationale Anwendungswille“ wiederholt für heimisches Recht nur die Notwendigkeit eines einseitigen kollisionsrechtlichen Anwendungsbefehls; für fremdes Recht ist er als Verweis auf die im autonomen System unschwer mögliche Berücksichtigung des fremden Anwendungswillens zu lesen – ein unilateralistisches Teilsystem soll hierdurch nicht errichtet werden. Daher ist festzustellen, dass sich das Institut der Eingriffsnorm nicht trennscharf beschreiben lässt. Das ist jedoch kein Grund zur Trauer, da unter dem Dach der Eingriffsnorm ohnehin nur allgemeine Rechtsmethodik betrieben wird. Es geht schlicht um die Durchsetzung geschriebener oder gebildeter (Spezial-)Kollisionsnormen nach Maßgabe der Interessenjurisprudenz.905 Es macht keinen strukturellen, methodischen oder interessenmäßigen Unterschied, ob dieser Vorgang innerhalb oder außerhalb der Eingriffsnormklauseln erfolgt.906 Mit der Unbegrenzbarkeit der Eingriffsnorm ist damit nichts verloren. Die herrschende Eingriffsnormdogmatik verschleiert und behindert jedoch das Wirksamwerden methodischer Grundprinzipien. 907 Ging es bereits Kegel darum, mithilfe der Interessenjurisprudenz im IPR die unscharfen Bilder vom „Sitz“ oder der „Natur der Sache“ abzulösen,908 ist dasselbe somit auch für die Eingriffsnorm zu fordern. Das nichtssagende Kriterium des „Gemeinwohlbezugs“ ist aufzugeben, stattdessen muss auch im Bereich der „Eingriffsnorm“ die interessengerichtete Bildung und Durchsetzung spezieller Kollisionsnormen betrieben werden. Diese allgemeinen methodischen Prinzipien sind nicht auf den Bereich der „Eingriffsnorm“ beschränkt, sondern jedem Rechtssystem immanent 909. Damit ist nicht nur der Bereich der
905 Ähnl. Schurig, in: FS Jayme, 2004, S. 840, 847 sowie Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 20, Fn. 78, wonach Art. 9 schlicht aussagt: „Unabhängig vom Vertragsstatut anzuwenden sind die Normen, die so wichtig sind, dass sie unabhängig vom Vertragsstatut anzuwenden sind.“ Daher sei die Norm i.E. substanzlos. 906 So lehnt etwa v.Hoffmann, in: FS Henrich, 2000, S. 296 im Internationalen Deliktsrecht gewisse Sonderanknüpfungen als Eingriffsrecht ab, befürwortet dann aber „deliktstypische Konkretisierungen“. Ähnl. auch Krebber, ZVglRWiss 97 (1998), 124 ff., welcher das Sonderprivatrecht mittels spezieller Kollisionsnormen berufen möchte statt es als „Eingriffsnorm“ einzuordnen. 907 In Ansätzen ähnl. bereits Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 405; Rehbinder, JZ 1973, 151, 156. – Dies gilt im Übrigen auch für einen extensiven Gebrauch von Ausweichklauseln: Bei einem allzu häufigen Einsatz muss auch hier untersucht werden, ob es sich um eine korrekturbedürftige Fehlverweisung handelt (ähnl. Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 199). 908 Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.II.3.c.bb. 909 So auch Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 234.
190
4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
Eingriffsnorm, 910 sondern das gesamte Kollisionsrecht wie jeder andere Sachnormbereich insofern stets „unfertig“, als es infolge des Bekenntnisses zur Interessenjurisprudenz fortwährend offen für Verfeinerungen ist. 911 Damit ist in aller Deutlichkeit festzuhalten: Die „Eingriffsnorm“ existiert nicht.912 Ihre vermeintlichen Eigenheiten sind mal unhaltbar, mal nicht weiterführend und mal nicht begrenzbar. Ihre Methodik erschöpft sich in allgemeinen Prinzipien. Sie ist ein hinderliches Relikt vergangener Systemdiskussionen und überholter Dogmen. VII. Die verbleibende Bedeutung der Eingriffsnormklauseln Welche Bedeutung verbleibt angesichts dessen den Eingriffsnormklauseln? Infolge der Unbegrenzbarkeit der „Eingriffsnorm“ ist jedenfalls die oben angeführte Vorstellung abzulehnen, wonach im Hinblick auf „Eingriffsrecht“ eine ausführliche Kollisionsnormbildung ausnahmsweise entbehrlich sei. Angesichts der Omnipräsenz des Gemeinwohlbezugs könnte ansonsten potentiell jede Spezialisierung im „Schnellverfahren“ ohne den Umweg der ausführlichen Kollisionsnormbildung entwickelt werden. Eine solch umfassende Umgehung der richterlichen Begründungspflicht kann nicht gewollt sein.
Auch um eine deklaratorische Hervorhebung der Möglichkeit zur fortdauernden Ausdifferenzierung kann es nicht gehen, 913 denn der Wortlaut der Eingriffsnormklauseln zielt hierauf schlicht nicht ab. Es soll ja gerade um den als begrenzbar erachteten Gegenstand der „Eingriffsnorm“ gehen; diese Zielsetzung kann nicht in eine Bestätigung der Fortbildungsfähigkeit des Kollisionsrechts umgedeutet werden. Indessen scheint nach wie vor ein erörterungsbedürftiger Rangkonflikt zwischen der speziellen Durchsetzung nationaler „Eingriffsnormen“ gegen unionale Regelverweisungen zu bestehen. Daher ist im Folgenden zu untersuchen, 910
So zwar Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 93, jedoch anerkennt dieser auch in anderen Bereichen die Möglichkeit der Bildung und Durchsetzung spezieller Kollisionsnormen (siehe hierzu bereits oben unter C.IV.2.b.). Die Bezeichnung der „Eingriffsnormen“ als „unfertigen Teil“ des IPR übernimmt Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 4, Rn. 42. 911 In Ansätzen ähnl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 175; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 317; Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 206; Straube, IPRax 2007, 395, 397, 399. Bereits Savigny, System VIII, 1849, S. III bezeichnete das IPR als „unfertig“. – Diese Offenheit für Differenzierungsbemühungen gilt für das Kollisionsrecht aufgrund seines so geringen wie äußerst groben Kodifizierungsgrads in besonderem Maße (siehe bereits unter A.IV. sowie Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 114; Siehr, IPRax 1973, 466, 471; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 338 f.; ähnl. Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 196; Straube, IPRax 2007, 395, 398). 912 Ähnl. auch Schurig, in: FS Jayme, 2004, S. 840, 847: „International zwingende Normen gibt es nicht.“ 913 Zur Überflüssigkeit der Normierung einer solchen systemimmanenten Struktur auch Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 234.
D. Herkunft der auf nat. Recht zeigenden Spezial-Kollisionsnormen
191
ob zumindest die Eingriffsnormklauseln des unionalen IPR auch als Normierung einer rangkollisionsrechtlichen Ausnahme zugunsten nationaler SpezialKollisionsnormen verstanden werden können. 914
D. Die Herkunft der auf nationales Recht zeigenden SpezialKollisionsnormen im Anwendungsbereich des unionalen IPR D. Herkunft der auf nat. Recht zeigenden Spezial-Kollisionsnormen
Dass unionsrechtliche Kollisionsnormen in ihrem Anwendungsbereich grundsätzlich Vorrang vor nationalen Kollisionsnormen haben, ergibt sich nicht nur aus dem Vorrangprinzip, sondern auch aus zahlreichen weiteren Festlegungen des nationalen und unionalen Kollisionsrechts, allen voran Art. 3 EGBGB. 915 Es hängt damit entscheidend von der Herkunft der auf nationales Recht zeigenden Spezial-Kollisionsnormen ab, ob ein Konflikt mit dem Vorrang des Unionsrechts ausgelöst wird. Nur wenn nationales Sachrecht auch durch nationale (Spezial-)Kollisionsnormen zu berufen wäre, würde ein Rangkonflikt gegenüber unionalen Kollisionsnormen bestehen. Gerade die Existenz des unionsrechtlichen IPR zeigt jedoch, dass eine Parallelität der Rechtsquellen von Sach- und Kollisionsrecht nicht zwingend ist.916 Die auf nationales Recht zeigenden (Spezial-)Kollisionsnormen könnten daher ebenfalls dem Unionsrecht unterfallen. In dem Fall würde ein Rangkonflikt entfallen. I. Nationale Herkunft der auf nationales Sachrecht zeigenden SpezialKollisionsnorm Die momentan wohl herrschende Ansicht geht zumeist implizit davon aus, dass auf „Eingriffsnormen“ zeigende (Element-)Kollisionsnormen selbst im Anwendungsbereich des europäischen IPR dem nationalen Recht entstammen. 917 914
Siehe hierzu bereits unter C.I. Außerdem regelt etwa der Art. 23 EVÜ, dass eine nationale Abweichung von den vereinheitlichten Kollisionsnormen nur nach einem besonderen Verfahren zulässig ist (siehe auch Bericht Giuliano/Lagarde (ABl. C 282/1 vom 31.10.1980), S. 40). Art. 32 EVÜ i.V.m. dem Prot. des Übereinkommens vom 29. 11. 1996 (ABl. 1997 Nr. C 15 S. 10) erlaubte die Beibehaltung von Altkollisionsrecht nur mit besonderer Erlaubnis. Siehe hierzu auch Mankowski, IPRax 1995, 230, 231 f. – Ein Rangkollisionskonflikt entfällt freilich in den nicht von der unionalen Kollisionsrechtsvereinheitlichung erfassten Sachgebieten, d.h. insbesondere im öffentlichen Rechtsanwendungsrecht. 916 Dies ist zudem eine Folge der eigenständigen, rechtsanwendungsrechtlichen Aufgabe des Kollisionsrechts. 917 So etwa Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 66; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 189. Siehe hierzu ausf. Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 106 m.w.N. Ähnl. bereits Marti, Vorbehalt, 1940, S. 45. 915
192
4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
Dies erscheint wenig überraschend angesichts der so verbreiteten wie unhaltbaren Annahme, dass die kollisionsrechtliche Aussage der „Eingriffsnorm“ in unzertrennbarer Weise mit ihrem sachrechtlichen Gehalt verknüpft sei.918 Wer meint, dass sich die Eingriffsnorm „aus sich selbst heraus“ durchsetzt, der wird nicht auf die Idee kommen, die kollisionsrechtliche und sachrechtliche Aussage der „Eingriffsnorm“ unterschiedlichen Rechtsquellen zu entnehmen. 919 Da die Eingriffsnorm jedoch nicht als begrenzbare Normkategorie existiert und jede Sachnorm in strukturell identischer Weise durch funktional trennbare (Element-)Kollisionsnormen berufen wird, muss auch die Rechtsquelle der Kollisionsnorm grundsätzlich getrennt von jener des Sachrechts betrachtet werden. Der Wortlaut der Eingriffsnormklauseln spricht freilich dafür, dass die auf „Eingriffsnormen“ zeigenden Kollisionsnormen dem nationalen Recht zu entnehmen sind:920 Insbesondere möchte der Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO mit der Formulierung „deren Einhaltung durch einen Staat“ das nationale Ermessen zur Festlegung und Durchsetzung einer „Eingriffsnorm“ hervorheben. 921 Würde man demnach also die auf „Eingriffsnormen“ zeigenden SpezialKollisionsnormen im nationalen Recht verorten wollen, so wäre hiermit zugleich eine rangkollisionsrechtliche Ausnahme vom Vorrang des Unionsrechts zu verknüpfen. Nur so könnte die offenbar gewollte Durchsetzung nationaler Verweisungen auf „Eingriffsnormen“ gegenüber unionalem Kollisionsrecht gesichert werden. 922 Indessen ist jener Deutungsvariante der Bezugspunkt abhandengekommen, denn die „Eingriffsnorm“ hat sich im Rahmen der gemeinwohlorientierten Definition als konturlos erwiesen. 923 Die in den Eingriffsnormklauseln verkörperte Vorstellung einer Nationalität der Spezial-Kollisionsnorm kann auch nicht auf die allgemeine Rechtsfortbildung übertragen werden, schließlich würde es erkennbar dem Willen des europäischen Gesetzgebers widersprechen,
918
Siehe zur Ablehnung dieser Ansicht oben unter A. Siehe hierzu auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 114 f. 920 Siehe hierzu ausf. Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 116 m.w.N. Siehe auch Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 13 f. unter Bezugnahme auf versch. Sprachfassungen. Ein solches Argument kann auch nicht allein mit dem Verweis auf die Trennbarkeit von Kollisions- und Sachnorm entkräftet werden (so aber Köhler, a.a.O. S. 116), da mit der Eingriffsnorm gerade die Vorstellung verbunden wird, dass der Gesetzgeber mit dem Erlass einer „Eingriffsnorm“ zugleich auch deren kollisionsrechtliche Durchsetzbarkeit regelt. 921 Eine solche mitgliedstaatliche Einschätzungsprärogative nehmen auch die in Fn. 859 Genannten an. 922 Denn hinter den Eingriffsnormklauseln verbirgt sich das gesetzgeberische Ziel, dass ein gezieltes Unterlaufen der allgemeinen unionalen Kollisionsnormen durch nationale „Eingriffsnormen“ erlaubt sein soll. 923 Siehe hierzu oben unter C.IV.2. 919
D. Herkunft der auf nat. Recht zeigenden Spezial-Kollisionsnormen
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wenn in jedem Bereich des unionalen IPR neugebildete oder bestehende Spezial-Kollisionsnormen des nationalen Rechts Vorrang vor unionalem IPR erheischen könnten. Das harmonisierte europäische Kollisionsrecht wäre schnell durch zahlreiche nationale Abweichungen durchlöchert. 924 Zum Schutz des Vereinheitlichungseffekts müsste daher die in den Eingriffsnormklauseln vorgesehene, rangkollisionsrechtliche Ausnahme wiederum begrenzt werden. Die Eingriffsnormklauseln bieten zur Umgrenzung jedoch wie besehen nur das untaugliche Gemeinwohlkriterium an. Wir befänden uns in einem Teufelskreis: Sofern man den Eingriffsnormklauseln einen Willen zur nationalen Herkunft der auf nationales Sachrecht zeigenden Spezial-Kollisionsnormen entnehmen wollte, müsste man dies zum Schutz des Vereinheitlichungsziels zwingend mit einem Restriktionsdogma verknüpfen, welches angesichts der Unbegrenzbarkeit der Eingriffsnormklauseln aber nicht formulierbar ist. Damit kann den Eingriffsnormklauseln weder eine Aussage hinsichtlich der Herkunft der auf nationales Recht zeigenden Spezial-Kollisionsnormen entnommen werden, noch beinhalten diese eine verwertbare rangkollisionsrechtliche Aussage. II. Unionale Herkunft der auf nationales Sachrecht zeigenden SpezialKollisionsnormen Somit ist die naheliegendere Option zu untersuchen, nämlich eine Zuordnung der lex specialis zur Rechtsquelle der lex generalis. Im Anwendungsbereich einer unionalen Regelverweisung würden insofern neugebildete spezielle Kollisionsnormen ebenfalls dem Unionsrecht zu entnehmen sein. Die Argumente für eine europäische Verortung des Anwendungsbefehls für „Eingriffsnormen“ hat erst kürzlich Köhler überzeugend dargetan. Seine Argumentation ist erst recht gültig für die Bildung von Spezial-Kollisionsnormen im Anwendungsbereich des europäischen IPR. So widerspricht die nationale Verortung einer Spezial-Kollisionsnorm zunächst der europäischen Kontrolldichte: Zur Wahrung der Kohärenz des europäischen Anknüpfungssystems bedürfte es nämlich selbst bei einer Nationalität der Spezial-Kollisionsnorm einer umfassenden europäischen „Rahmenkontrolle“.925 Auch die maßgeblichen kollisionsrechtlichen Interessen wären hier-
924 Freilich könnte eine weitgehende europäische „Rahmenkontrolle“ der nationalen Abweichungen eine Durchlöcherung des europäischen Kollisionsrechts teilweise verhindern. Wie sogleich zu erörtern sein wird, steht eine weitgehende europäische Kontrolle jedoch im Widerspruch zur Prämisse der Nationalität der Spezial-Kollisionsnorm. 925 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 108, 122. Dies betrifft insbesondere das Merkmal des Inlandsbezugs, welches seinerseits aus der europäisch dominierten kollisionsrechtlichen Interessenlage zu gewinnen ist (a.a.O. S. 121). Siehe zu Vertretern dieser europäischen
194
4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
bei zu einem gewichtigen Teil dem europäischen Kollisionsrecht zu entnehmen.926 Damit müsste ohnehin jedes Mal untersucht werden, ob eine nationale Spezial-Kollisionsnorm nicht einer bestehenden Bündelung des unionalen IPR unterfällt.927 Köhler schlussfolgert daher, dass hierdurch sowohl das „Ob“ als auch das „Wie“ der kollisionsrechtlichen Behandlung dem europäischen Kollisionsrecht entnommen wird, was ein klarer Widerspruch zur herrschenden These der nationalen Verortung einer auf „Eingriffsrecht“ zeigenden Kollisionsnorm sei. 928 Zwar führt eine hohe europäische Kontrolldichte freilich noch nicht zwingend zur europäischen Rechtsnatur einer Bestimmung. 929 Dennoch ist es überzeugend, Spezial-Kollisionsnormen im Anwendungsbereich des unionalen IPR ebenfalls im Unionsrecht zu verorten. 930 Denn das Auseinanderfallen der Rechtsquellen von allgemeiner und spezieller Norm ist gerade der begründungsbedürftige Ausnahmefall, während deren Zusammenfallen dem Grundsatz entspricht. Mit dem Wegfall der diesbezüglichen Aussagekraft des Art. 9 Rom I-VO (s.o.) verliert das als Ausnahmefall zu verstehende Modell einer nationalen Verortung des Anwendungsbefehls der „Eingriffsnorm“ im Bereich europäischen Kollisionsrechts seine Berechtigung. Wer jedoch das Instrument der Eingriffsnorm entgegen der hier vertretenen Ansicht weiterhin für begrenzbar erachtet, der sieht sich freilich mit dem Wortlaut der Eingriffsnormklauseln konfrontiert, welcher wie besehen für eine (wenig überzeugende) nationale Verortung des auf „Eingriffsnormen“ zeigenden Anwendungsbefehls spricht. 931
„Rahmenkontrolle“ sogleich unter E. – Im Gegensatz hierzu besteht angesichts der umfassenden Europäisierung des Kollisionsrechts im nationalen Recht auch schlicht kein System mehr, innerhalb dem die Rechtsfortbildung erfolgen könnte (Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 110). 926 Dies schließt freilich nicht die Berücksichtigung (einzel-)staatlicher Interessen im Rahmen der europäischen Kollisionsnormbildung aus (Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 249). 927 Ähnl. Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 112 anhand des Verhältnisses von Art. 6 Rom II-VO und Spezial-Kollisionsnormen („Eingriffsnormen“) bzgl. eigenen Kartell- und Lauterkeitsrechts. Köhler nennt diesen Blick auf die Einschlägigkeit einer bestehenden Sachnorm „Disqualifikation“ (a.a.O. S. 121). 928 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 112, wonach es sich um einen „Etikettenschwindel“ handele; Köhler, GPR 2013, 176, 177. 929 Insbesondere im Bereich vollharmonisierender Richtlinien ändert die europäische Determinierung des materiellen Inhalts nichts daran, dass das Richtlinientransformationsrecht weiterhin formell nationales Recht darstellt. 930 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 122. 931 So etwa Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 328 f. gegen die Ansicht Köhlers.
D. Herkunft der auf nat. Recht zeigenden Spezial-Kollisionsnormen
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Außerdem besteht im Falle einer unionalen Verortung der Spezial-Kollisionsnorm der Vorteil einer leichter erzielbaren europäische Kohärenz des Kollisionsrechts. Hierdurch wird forum shopping vermieden und der internationale Entscheidungseinklang befördert. 932 Das Modell der europäischen Verortung spezieller Kollisionsnormen kann ferner auch auf bereits im nationalen Recht ausdrücklich formulierte Kollisionsnormen (insbesondere sogenannte „selbstgerechte Sachnormen“) 933 angewandt werden: Eine nationale Kollisionsnorm würde in diesem Fall durch eine bestehende oder rechtsfortbildend ermittelte Spezial-Kollisionsnorm des Unionsrechts verdrängt werden. 934 Ein Novum ist das nicht: Es ist gerade die Konsequenz des Vorrangs europäischen Rechts, dass nationales Recht im Anwendungsbereich kompetenzgemäß erlassenen europäischen Rechts überschrieben wird.935 Die Bildung einer Kollisionsnorm innerhalb des Unionsrechts würde freilich nichts am weiter bestehenden Sachnormbezug ändern, sodass die europäische Anknüpfung häufig der unanwendbaren nationalen Anknüpfung ähneln wird. Ein weitgehender Gleichlauf von unionaler und nationaler Kollisionsnorm zeigt sich etwa anhand der Anknüpfung des Kartelldeliktsrecht nach dem Marktauswirkungsprinzip, welches sich sowohl in § 130 Abs. 2 GWB a.F. als auch in Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO findet.936 Würde der deutsche Gesetzgeber nationale Kollisionsnormen im Bereich europäischen Kollisionsrechts nicht entfernen (wie auch bei § 130 Abs. 2 GWB a.F. geschehen), würde sich infolge des Vorrangprinzips dennoch europäisches Kollisionsrecht durchsetzen. Wenn man dagegen einmal annehmen würde, dass der europäische Gesetzgeber trotz der bestehenden Kompetenz im Bereich des Internationalen Deliktsrecht keine Vorschrift nach dem Vorbild des Art. 6 Abs. 3 Rom II-VO erlassen hätte, so würde hierfür im Grundsatz die deliktische Regelanknüpfung der Rom II-VO greifen. Da diese die besondere Interessenlage des Kartelldeliktsrechts nicht erfassen kann, wäre eine europäische Spezial-Kollisionsnorm zu bilden, da man sich weiterhin im Anwendungsbereich des europäischen Kollisionsrechts befindet. Da das europäische Kollisionsrecht offenbar die kollisionsrechtliche Interessenlage des Kartelldeliktsrechts ebenso einschätzt wie das deutsche Kollisionsrecht, würde diese neugebildete Kollisionsnorm ebenfalls nach dem Marktauswirkungsprinzip anknüpfen, weshalb sie im Ergebnis mit der nationalen Kollisionsnorm des § 130 Abs. 2 GWB a.F. weitgehend gleichliefe. Dies ist jedoch das Ergebnis einer autonomen europäischen Bewertung der jeweiligen Sachnormzwecke; eine Transposition nationalen Kollisionsrechts findet nicht statt.
Im Anwendungsbereich des unionalen Kollisionsrechts entstammt daher eine neu zu bildende (Spezial-)Kollisionsnorm ebenfalls dem Unionsrecht. Mit an-
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Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 277. Siehe hierzu bereits oben unter A.II. 934 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 127 f. Ähnl. bereits Mankowski, IPRax 1995, 230, 231 am Beispiel von einseitigen Kollisionsnormen im Bereich der Art. 27–37 EGBGB a.F. 935 Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 868. 936 Beispiel nach Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 127 f. 933
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
deren Worten: Neu zu bildendes Kollisionsrecht hat seinen Ursprung im Unionsrecht, wenn der Unionsgesetzgeber von seiner kollisionsrechtlichen Kompetenz937 Gebrauch gemacht hat. III. Die Rechtsquelle der auf unionales Sachrecht zeigenden Kollisionsnorm Im Falle einer geschriebenen Spezial-Kollisionsnorm des Unionsrechts bestehen freilich keine Anhaltspunkte für einen Rangkonflikt, sodass sich solche Kollisionsnormen schlicht infolge des Spezialitätsprinzips durchsetzen. Die Art. 23 Rom I-VO und Art. 27 Rom II-VO sind insofern deklaratorisch, da das Spezialitätsprinzip eine systemimmanente Struktur ist. 938 Aufgrund dieser Bestimmungen ist auch nationales Richtlinientransformationsrecht mit kollisionsrechtlichem Gehalt als „funktionales“ Unionsrecht zu verstehen, obwohl es sich formell um nationales Recht handelt. 939
Indessen ist es auch hier nicht zwingend, dass die Kollisionsnorm die Rechtsquelle der Sachnorm teilt: Sofern die EU für einen bestimmten Sachbereich nicht zugleich auch die kollisionsrechtliche Kompetenz aufweist oder von dieser noch keinen Gebrauch gemacht hat, entstammt die auf materielles Unionsrecht zeigende Spezial-Kollisionsnorm dem nationalen Recht. Hierbei ist jedoch nicht zu vergessen, dass im Bereich unionaler Sachrechtssetzung auch eine Annexkompetenz zur Regelung der zusammenhängenden kollisionsrechtlichen Fragen begründbar erscheint. 940 Eine auf unionales Sachrecht zeigende, nationale Kollisionsnorm wird daher den Ausnahmefall bilden. IV. Zur Entbehrlichkeit der Eingriffsnormklauseln Was bedeuten die obigen Ergebnisse nun für die Eingriffsnormklauseln? Nachdem gezeigt wurde, dass sie angesichts ihrer irreführenden Prämissen auch
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Wie besehen wird die unionale IPR-Kompetenz nicht anhand der betroffenen Interessen, sondern mittels der beteiligten Subjekte bestimmt, sodass auch ein besonderer Gemeinwohlbezug eines (auch) an Private gerichteten Rechtssatzes nichts an der unionalen Rechtsnatur neu gebildeter Spezial-Kollisionsnormen im Bereich des europäischen Kollisionsrechts ändert (siehe hierzu im 2. Kapitel sowie im 3. Kapitel unter E.II.). 938 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 133. Das Vorbild des Art. 23 Rom I-VO ist der Art. 20 EVÜ (Leible/Lehmann, RIW 2008, 528, 531). Einen wesentlichen Bereich jener unionalen Spezial-Kollisionsnormen bilden die in Art. 46b EGBGB genannten Verbraucherrichtlinien ab (Schulze, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 23 Rom I-VO, Rn. 22 ff.). 939 Basedow, in: FS Reichert-Facilides, 1995, S. 31; implizit auch Leible/Lehmann, RIW 2008, 528, 531; Remien, in: FS von Hoffmann, 2011, S. 339; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 134 m.w.N., siehe auch S. 155. Hierbei ergibt sich freilich das Problem, wie außerhalb der Vollharmonisierung mit divergierendem nationalen Transformationsrecht umzugehen ist (so auch Schinkels, in: Stürner (Hrsg.), Vollharmonisierung im Europ. Verbraucherrecht, 2010, S. 116). 940 Siehe hierzu bereits im 2. Kapitel unter A.IV.
E. Die europäische Kontrolldichte
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nicht die Nationalität bestimmter Spezial-Kollisionsnormen im Anwendungsbereich des unionalen IPR anordnen und daher eine Lesart als rangkollisionsrechtliche Ausnahme ausscheidet, bleibt festzustellen: Die Eingriffsnormklauseln sind völlig entbehrlich. 941 De lege ferenda sollte ganz auf sie verzichtet werden. Die Eingriffsnormklauseln können in der jetzigen Form auch nicht als deklaratorische Hinweise auf die Möglichkeit der interessengerichteten Fortbildung und Ausdifferenzierung des Kollisionsrechts verstanden werden, 942 denn der Wortlaut ist unmissverständlich von der hier abgelehnten Vorstellung einer Begrenzbarkeit der „Eingriffsnorm“ geprägt. Nicht ausgeschlossen wäre freilich ein deklaratorischer Verweis auf die Offenheit des europäischen Kollisionsrechts für die Methode der Ausbildung neuer, insbesondere spezieller Kollisionsnormen nach der Maxime der Interessenjurisprudenz; dies könnte außerdem mit einem Hinweis auf die (sogleich zu erörternde) Kontrolle durch den EuGH verbunden werden.
E. Die europäische Kontrolldichte E. Die europäische Kontrolldichte
Verortet man im Anwendungsbereich des europäischen IPR gebildete (Spezial-)Kollisionsnormen richtigerweise ebenfalls im Unionsrecht, so entscheidet der EuGH letztverbindlich über ihre Ausgestaltung und Anwendung. 943 Sie unterliegen als Teil des Unionsrechts ebenso seiner Jurisdiktion wie die geschriebenen Regelverweisungen des europäischen IPR. Hierbei wird es seltener um die Schaffung eigener Kollisionsnormen durch den EuGH gehen, als vielmehr um die letztverbindliche Überprüfung der durch nationale Gerichte ermittelten, unionalen Kollisionsnormen.944 Damit erhalten die von den nationalen Gerichten ermittelten (Spezial-)Kollisionsnormen des Unions-
941 Ähnl. Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 20. Im Rahmen der hier vertretenen Ansicht einer völligen Unbegrenzbarkeit der Eingriffsnorm können die Eingriffsnormklauseln jedoch auch keine deklaratorische Bedeutung mehr innehaben. 942 So aber Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 124. Da Köhler die Eingriffsnorm zumindest auf kollisionsrechtlicher Seite anhand „kollisionsrechtlicher Gemeininteressen“ für begrenzbar hält (siehe hiergegen unter C.IV.2.b.), bleibt eine deklaratorische Funktion in dessen Modell auch möglich. 943 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 32. 944 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 325 ff. Da das nationale Gericht als „funktionales“ Unionsgericht fungiert (Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, 2. Aufl 1995, S. 44; Wegener, in: Calliess, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 267 AEUV, Rn. 1), muss der nationale Richter nicht nur zur Auslegung, sondern auch zur Rechtsfortbildung des Unionsrechts befugt sein – zumal beides häufig gar nicht sauber zu trennen ist. Ebenso wie bei der Auslegung des Unionsrechts entscheidet schließlich der EuGH auch über fortbildend ermittelte Kollisionsnormen letztverbindlich.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
rechts den Charakter eines Vorschlags, der vom EuGH angenommen oder verworfen werden kann. Durch dieses Vorgehen wird die Kohärenz der unionalen Spezial- und Regelverweisungen gesichert. 945 Freilich bleibt auch der EuGH an die nationalen Sachnormzwecke gebunden, welche ihrerseits die kollisionsrechtliche Interessenlage präjudizieren. 946 Damit entsteht im Falle nationaler Sachnormen ein kooperatives Verhältnis zwischen EuGH und nationalen Gerichten: Den nationalen Gerichten obliegt die letztverbindliche Auslegung der Sachnormzwecke, 947 wohingegen der EuGH über die kollisionsrechtlichen Implikationen der national determinierten Sachnormzwecke entscheidet. Handelt es sich indessen um eine unionale Sachnorm, ist der EuGH auch zur Auslegung der maßgeblichen Sachnormzwecke berechtigt. Möchte man dagegen mit der herrschenden Ansicht den kollisionsrechtlichen Anwendungsbefehl für „Eingriffsnormen“ dem nationalen Recht entnehmen, muss man freilich das vereinheitlichte europäische Kollisionsrecht gegen eine allzu große Durchlöcherung durch abweichende nationale Regelungen abschirmen. Daher sprechen sich zahlreiche Autoren wie besehen für eine weitgehende europäische „Rahmenkontrolle“ aus.948 Häufig wird hierbei eine Parallele zur Krombach-Rechtsprechung des EuGH949 vorgeschlagen, welche einen unionsrechtlichen Rahmen um den mitgliedstaatlichen ordre public etabliert hat. 950
945
So auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 328. Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 327, welcher richtigerweise darauf hinweist, dass der EuGH damit auch an die nationale Auslegung der Sachnormzwecke gebunden ist. 947 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 327. 948 Heß, IPRax 2001, 301, 301; Remien, in: FS von Hoffmann, 2011, S. 335; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 134; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 7; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 57 ff. Siehe außerdem schon in Fn. 925. Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 21 spricht von einer „Missbrauchskontrolle“ und greift hiermit einen durch Kahn geprägten Begriff wieder auf (Kahn, ZIPÖR 12 (1903), 229, 310 f.). Gegen diese Terminologie überzeugend Köhler, GPR 2013, 176, 177. 949 EuGH, Urt. v. 28.03.2000 – C-7/98, ECLI:EU:C:2000:164 (Krombach); bestätigend in EuGH, Urt. v. 16.07.2015 – C-681/13, ECLI:EU:C:2015:471 (Diageo Brands), Rn. 42. 950 Siehe hierzu Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 175; Thoma, Europäisierung, 2007, S. 163 ff.; Thorn, in: Ferrari (Hrsg.), Ein neues Internat. Vertragsrecht für Europa, 2007, S. 136; Maultzsch, RabelsZ 75 (2011), 60, 93; Block, Die kollisionsrechtliche Anknüpfung von Individualarbeitsverträgen, 2012, S. 129; Schulze, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 21 Rom I-VO, Rn. 3; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 13 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 322 ff.; Thorn, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 21. 946
F. Zusammenfassung
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F. Zusammenfassung F. Zusammenfassung
Damit sind die wesentlichen Ergebnisse dieses Kapitels wie folgt zusammenzufassen: 1. Kollisionsnormlose Rechtsanwendung gibt es nicht, weshalb auch „Eingriffsnormen“ durch Kollisionsrecht berufen werden. Die Vorstellung einer „apriorischen“ Eingriffsnormanwendung überbetont die Spezialität geschriebenen oder noch zu entwickelnden Kollisionsrechts für „Eingriffsnormen“. 2. Die Eingriffsnormklauseln gehen mit dem Kriterium des Gemeinwohlbezugs von einem Merkmal aus, welches „Eingriffsnormen“ als öffentliches Recht im Sinne der ulpianschen Interessenlehre beschreibt. Das Gemeinwohlkriterium ist jedoch untauglich, da insbesondere demokratische Rechtssetzung stets gemeinwohlbezogen ist. Damit kann es nicht um das „Ob“, sondern allenfalls um das „Wieviel“ des „sozialen Öls“ einer Vorschrift gehen. Dies führt dazu, dass die Eingriffsnorm zum gefälligen Einfallstor des richterlichen Rechtsgefühls mutiert, da sie infolge der Omnipräsenz des Gemeinwohlzwecks potentiell jedem Rechtssatz zum Durchbruch verhelfen kann. 3. Damit ist es sinnvoller, nach dem Vorbild Kahns die Bildung spezieller Kollisionsnormen zu betreiben. Hiernach ist eine geschriebene oder neu gebildete Kollisionsnorm als lex specialis gegen die Regelverweisung durchzusetzen, wenn die kollisionsrechtlichen Interessenlagen divergieren. Dabei kann auch ein besonderer Gemeinwohlbezug im Sachrecht der Ansatzpunkt einer von der Regelverweisung abweichenden kollisionsrechtlichen Interessenlage sein; es genügt aber jede Art Interessendivergenz. Die Möglichkeit zur Differenzierung und Fortbildung ist als allgemeines methodisches Grundprinzip nicht auf den Bereich der „Eingriffsnorm“ beschränkt, sondern hinsichtlich aller Normen und Interessen eröffnet. Das Institut der Eingriffsnorm behindert den Prozess der interessengerichteten Bildung von Spezial-Kollisionsnormen, indem es den Eindruck erweckt, die kollisionsrechtliche Operation sei im Bereich der „Eingriffsnormen“ durch die Feststellung eines ausreichenden Gemeinwohlbezugs beendet. 4. Das Kriterium des „internationalen Anwendungswillen“ wiederholt nur die Notwendigkeit einer einseitigen Berufung heimischen Rechts. Im Hinblick auf ausländisches Recht wird hiermit lediglich die auch im autonomen System gegebene Möglichkeit der Berücksichtigung des fremden (Nicht-)Anwendungswillen hervorgehoben. 5. Damit ist die Eingriffsnorm ein so entbehrliches wie irreführendes Institut. De lege ferenda sollte auf Eingriffsnormklauseln verzichtet und die Verfeinerung des Kollisionsrechts allein mithilfe der interessenorientierten Durchsetzung geschriebener oder rechtsfortbildend ermittelter Spezial-Kollisionsnormen geleistet werden.
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4. Kapitel: Folgerungen für die Eingriffsnorm
6. Im Anwendungsbereich des europäischen Kollisionsrechts wird ein Rangkollisionskonflikt bzgl. geschriebener oder rechtsfortbildend ermittelter Spezial-Kollisionsnormen vermieden, indem man diese dem Unionsrecht entnimmt. Für die Nationalität des Anwendungsbefehls einer „Eingriffsnorm“ spricht zwar der Wortlaut der Eingriffsnormklauseln; letztere sind jedoch an die widerlegte Annahme der Begrenzbarkeit anhand des Gemeinwohlzwecks gekoppelt, weshalb sie keine Aussagekraft mehr entfalten. Daher ist auf den allgemeinen Grundsatz zurückzugreifen, wonach die spezielle Norm die Rechtsquelle der allgemeinen Vorschrift teilt.
Kapitel 5
Die Entwicklung ein- und allseitiger SpezialKollisionsnormen im Bereich vormaligen „Eingriffsrechts“ Im Folgenden soll dargelegt werden, wie die interessengerichtete Durchsetzung und Bildung spezieller Kollisionsnormen abläuft. Hierbei ist auch zu zeigen, dass jeder Bereich der Durchsetzung in- oder ausländischen „Eingriffsrechts“ als ordentlicher oder außerordentlicher Bündelungszustand 951 übersetzt werden kann. Schließlich ist auch ein Blick auf die Besonderheiten des europäischen Binnenmarktkollisionsrechts zu werfen.
A. Der Weg zur Bildung spezieller Kollisionsnormen A. Der Weg zur Bildung spezieller Kollisionsnormen
Möchte man die Bildung spezieller Kollisionsnormen näher untersuchen, so lohnt es sich, diesen Prozess in drei Prüfungsschritte zu unterteilen: 1. Ermittlung der kollisionsrechtlichen Interessenlage 2. Ermittlung der Interessendivergenz zur Regelverweisung 3a. Bei nicht ausreichender Interessendivergenz: Einordnung in die bestehende Bündelung der Regelverweisung 3b. Bei ausreichender Interessendivergenz: Berufung als (ggf. auslegend oder rechtsfortbildend ermittelte) Spezial-Kollisionsnorm I. Ermittlung der kollisionsrechtlichen Interessenlage Zunächst ist zu untersuchen, wie die kollisionsrechtliche Interessenlage einer (Element-)Kollisionsnorm zu ermitteln ist. In einem ersten Schritt sind hierbei die sachrechtlichen Interessen zu betrachten. So lässt sich etwa oftmals feststellen, dass bestimmte Schutzgedanken im Sachrecht verfolgt werden. Dies zeigt sich beispielsweise bei berufsspezifischen Preis- und Gebührengesetzen (etwa die an Architekten gerichtete
951
Siehe hierzu im 3. Kapitel unter D.II.3.e.
202
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
HOAI oder das RVG), welche unter anderem den inländischen Markt vor Dumpingpreisen schützen, dem einzelnen Berufsträger eine faire Vergütung zugestehen und die Qualität der Dienstleistungen sichern möchten. 952 Diese materiellen Schutzaspekte implizieren zugleich bestimmte Anknüpfungsmomente: So scheidet eine Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt des Dienstleistungsempfängers oder -erbringers aus, da das Preisrecht beide Parteien gleichermaßen schützen will. Betrachtet man nur den materiellen Schutzzweck, so könnte dieser freilich durch eine Anwendung des Preisrechts auf jede Dienstleistung mit minimalem Inlandskontakt angewandt werden. Hieran wird deutlich, dass eine ausschließlich sachrechtliche Orientierung d es Anknüpfungsmoments häufig auch zu einem außerordentlich weiten Anwendungsbereich führen wird. Aufgrund der rechtsanwendungsrechtlichen Aufgabe des Kollisionsrechts treten nun aber genuin kollisionsrechtliche Interessen hinzu, die einer allzu extensiven Anwendung des eigenen Rechts häufig im Weg stehen werden. 953 Eine stark ausgedehnte Anwendung des eigenen Rechts würde nämlich in vielen Fällen den relativen Gerechtigkeitsgehalt eigener Rechtssätze ignorieren. 954 Extensive Anknüpfungsmomente behindern außerdem die Möglichkeit eines allseitigen Ausbaus, da es ansonsten zu unerwünschten Normenhäufungen kommen würde: Würde man etwa das Preisrecht jedes nur schwach berührten Staates anwenden, würden schnell mehrere Preisrechte miteinander in Konflikt stehen. Die Vermeidung von Normenhäufungen ist freilich nur eines von vielen Maximen, die aus der speziellen rechtsanwendungsrechtlichen Aufgabe des Kollisionsrechts erwachsen. Ein weiteres, genuin kollisionsrechtliches Interesse ist insbesondere der internationale Entscheidungseinklang.955 Die genuin kollisionsrechtlichen Interessen sind grundsätzlich frei mit den sachnormimplizierten Interessen abzuwägen. 956 Dieses Wechselspiel erörterte
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Aufgrund dieser Sachnormzwecke wird den Regelungen der HOAI häufig Eingriffsnormcharakter zugebilligt: BGH, Urt. v. 27.02.2003 – VII ZR 169/02, BGHZ 154, 110 = NJW 2003, 2020 ff. ausf. und krit. hierzu Kilian, IPRax 2003, 436 ff., wonach das Gebührenrecht im Allgemeinen nicht als Eingriffsnorm durchgesetzt werden könne, da die Art. 27 ff. EGBGB a.F. ausreichend seien. Zustimmend Martiny, in: FS Heldrich, 2005, S. 918 ff. Siehe hierzu auch Thode, NZBau 2011, 449, 456; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 27. 953 Die korrigierende Natur der genuin kollisionsrechtlichen Interessen hebt auch Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 31 hervor. 954 Siehe zu letzterem bereits im 4. Kapitel unter A.I. 955 Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 68 f.; Beitzke, in: FS Smend, 1952, S. 17 ff.; Kegel, in: FS Lewald, 1953, S. 276 f.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 164; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 36 ff. 956 Ähnl. Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 285. Freilich ist das Abwägungsergebnis häufig durch höherrangiges Recht oder das völkerrechtliche genuine link-Erfordernis beeinflusst.
A. Der Weg zur Bildung spezieller Kollisionsnormen
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bereits Kahn, indem er ideale Kollisionsnormen als solche beschreibt, „bei welchen unter Aufgabe des Minimums von nationalen Rechtszwecken ein Maximum von internationaler Gesetzesharmonie erreicht wird“. 957 Die Summe der sachnormimplizierten und genuin kollisionsrechtlichen Interessen ist schließlich die kollisionsrechtliche Interessenlage. Diese mag im Beispiel des berufsspezifischen Preisrechts für Dienstleistungen etwa für eine Anknüpfung an den Ort der Dienstleistung streiten, da hierdurch der Schutz des Leistungsempfängers und -erbringers gleichermaßen häufig realisiert werden kann, ohne hiermit zugleich die Perspektive der Allseitigkeit durch eine allzu extensive Ausdehnung des Anknüpfungsmoments zu verbauen. II. Ermittlung der Interessendivergenz Die in Rede stehende (Element-)Kollisionsnorm ist einer Regelverweisung zuzuordnen, sofern sich die kollisionsrechtlichen Interessenlagen ähneln. 958 Dies gilt auch für geschriebene oder auslegend ermittelte (Spezial-)Kollisionsnormen; in dem Fall handelt es sich um deklaratorische Wiederholungen der in der Regelverweisung zu bündelnden Element-Kollisionsnormen. 959 Dies ist die kollisionsrechtliche Übersetzung des allgemeinen Grundsatzes, wonach eine Bildung spezieller Normen nicht notwendig ist, wenn die allgemeine Norm ausreicht. Die Neubildung einer (Element-)Kollisionsnorm scheidet in diesem Fall also aus, da es an der hierfür nötigen Regelungslücke mangelt. 960 Hierdurch wird zugleich sichtbar, dass man auch im Falle geschriebener oder auslegend ermittelter (Spezial-)Kollisionsnormen nicht von der Bestimmung der kollisionsrechtlichen Interessenlage entbunden ist. Denn nicht allein
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Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 87. Ähnl. zur Eingriffsnorm: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 341 f.; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 224; Roth, RIW 1994, 275, 278; Wiese, Einfluß des EGRechts, 2005, S. 184 ff.; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 865; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 319. – Daher ist es im Ansatz richtig, wenn die Eingriffsnorm als subsidiär gegenüber geschriebenen, besonderen Anknüpfungen bezeichnet wird (so etwa BGH NJW 1994 262; Roth, IPRax 1994, 165, 277; Mankowski, RIW 1996, 8, 9). Denn die Bildung spezieller Kollisionsnormen wird nur nötig, wenn die kollisionsrechtliche Interessenlage nicht bereits durch andere Normen aufgefangen wird. – Das häufig ausführlich diskutierte Konkurrenzverhältnis zwischen den Eingriffsnormklauseln und geschriebenen, besonderen Anknüpfungen erübrigt sich daher in dem in dieser Arbeit vertretenen Modell (siehe zur Diskussion der Konkurrenzen nach der herkömmlichen Ansicht ausf. Freitag, in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rn. 5.25 ff.). 959 In gesetzgebungstechnischer Hinsicht sollten derartige rein deklaratorische Wiederholungen vermieden werden. Ihr Vorkommen ist jedoch unvermeidlich, sofern ein Gesetz ohne einen ganzheitlichen Blick auf das Kollisionsrecht entworfen wird (ähnl. Siehr, in: FS Drobnig, 1998, S. 449). 960 Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 206. 958
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5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
der Wortlaut des Anknüpfungsmoments entscheidet über die kollisionsrechtliche Interessenlage, sondern in erster Linie die hinter der Norm stehenden Interessen. Alles andere wäre begriffsjurisprudentisch. So ist es durchaus denkbar, dass ein geschriebenes oder auslegend ermitteltes Anknüpfungsmoment zwar dem Wortlaut nach von einer Regelverweisung abweicht, im Hinblick auf die kollisionsrechtliche Interessenlage jedoch der Bündelung der Regelverweisung entspricht. Hier kann – im Rahmen der Wortlautgrenzen – mithilfe der Methoden der teleologischen Restriktion oder Extension eine Zuordnung zur Regelverweisung erfolgen. Eine richtige Qualifikation kann somit häufig die Bildung einer Spezial-Kollisionsnorm vermeiden: Betrachtet man vorrangig die hinter einer Sachnorm stehenden kollisionsrechtlichen Interessen, wird häufig eine Zuordnung zu bereits bestehenden Bündelungen möglich sein. 961 Dies gilt besonders für Sachnormen des Fremdrechts, erwecken diese aufgrund ihrer Andersartigkeit doch besonders häufig den Eindruck einer abweichenden kollisionsrechtlichen Interessenlage.962
III. Durchsetzung der geschriebenen oder gebildeten Spezial-Kollisionsnorm nur bei ausreichender Interessendivergenz Falls die kollisionsrechtliche Interessenlage indessen von der Regelverweisung abweicht, ist zu untersuchen, ob diese Abweichung zur Durchsetzung einer geschriebenen oder gebildeten Spezial-Kollisionsnorm ausreicht. Denn einer Regelverweisung wohnt eine gewollte Statik inne, die es zugunsten der Rechtssicherheit zu respektieren gilt. 963 Zugleich ist es der praktischen Handhabbarkeit des Kollisionsrechts zuträglich, wenn dieses auf möglichst wenige Rechtsordnungen verweist und schwächere Verbindungen zu anderen Rechtsordnungen ignoriert.964 Schließlich spricht im Falle geschriebener Regelverweisungen auch die Gewaltenteilung für eine restriktive Handhabe des Instruments der richterrechtlichen Kollisionsnormbildung. Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich nach Schurig ein kollisionsrechtliches „Trägheitsprinzip“: Demnach rechtfertigen nur leichte Abweichungen von der kollisionsrechtlichen Interessenlage der Regelverweisung noch keine
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Ähnl. bereits Marti, Vorbehalt, 1940, S. 49; Habermeier, Neue Wege, 1997, S. 304. Siehe zur Ungebundenheit durch die fremde Einordnung bereits im 3. Kapitel unter D.II.2. 963 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 202 ff.; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 318; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 212. – Dies liegt darin begründet, dass jeder abstrakt-generelle Rechtssatz eine gewisse Generalisierung erfordert und daher gewillkürt zulasten der Einzelfallgerechtigkeit geht (Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 111 f., 167; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 198; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 111 ff.; Weller, IPRax 2011, 429, 432). 964 Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 161. Dies soll aber nicht als Plädoyer für die Lehre vom Einheitsstatut missverstanden werden. Siehe hierzu sogleich. 962
A. Der Weg zur Bildung spezieller Kollisionsnormen
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Durchsetzung einer (Element-)Kollisionsnorm als lex specialis.965 Je ausdifferenzierter das Kollisionsrecht ist, desto seltener wird sich das Bedürfnis zur Bildung spezieller Kollisionsnormen ergeben. 966 Sofern die Abweichung der kollisionsrechtlichen Interessenlage ein ausreichendes Maß erreicht hat, ist die betreffende (Element-)Kollisionsnorm aus der allgemeinen Bündelung auszusondern und als lex specialis durchzusetzen.967 Im obigen Beispiel des Preis- und Gebührenrechts ist etwa festzustellen, dass die in Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I-VO normierte Regelverweisung für Dienstleistungsverträge der besonderen Interessenlage des Preis- und Gebührenrechts nicht gerecht wird. Denn die Regelanknüpfung knüpft an den gewöhnlichen Aufenthalt des Dienstleisters an und folgt insofern dem Prinzip der „charakteristischen Leistung“; das Preis- und Gebührenrecht möchte jedoch beide Parteien und den inländischen Markt schützen. Die sachnormimplizierten Schutzgedanken spiegeln sich damit nicht in der Regelverweisung wider, sodass eine Interessendivergenz besteht. Eine Zuordnung der Anknüpfung des Preis- und Gebührenrechts zur Regelverweisung des Art. 4 Abs. 1 lit. b Rom I-VO ist daher nicht möglich. Daher muss eine abweichende Spezial-Kollisionsnorm auslegend oder rechtsfortbildend ermittelt und gegen die Regelverweisung durchgesetzt werden. Diese könnte wie besehen das Preis- und Gebührenrecht an den Ort der Dienstleistung anknüpfen. 968
Es ist ferner davon auszugehen, dass ein durch Rechtswahl bestimmtes Statut deutlich häufiger durch (rechtswahlfeste) Spezial-Kollisionsnormen durchbrochen wird als eine objektive Regelverweisung. 969 Diese Beobachtung wird auch durch die Rom I-VO bestätigt: So ermöglichen die Art. 3 Abs. 3, 4, Art. 6 Abs. 2 S. 2, Art. 8 Abs. 1 S. 2 Rom I-VO eine weitgehende Durchbrechung des subjektiven Vertragsstatuts. Dies ist sinnvoll, da das kollisionsrechtliche Trägheitsprinzip als Ausprägung der Rechtssicherheit seiner Natur nach nur im Bereich objektiver Verweisungen wirken kann.
965 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 197 ff. Ähnl. Kegel, in: GS Ehrenzweig, 1976, S. 73: „Differenziert, aber werft nicht den Wagen um!“ 966 Angesichts der groben Allgemeinheit der Regelverweisungen kann jedoch zumindest beim momentanen Entwicklungsstand des Kollisionsrechts kein Bereich von vorneherein als abschließend geregelt betrachtet werden (ähnl. Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 32; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 318; ähnl. auch Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 194). 967 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 224 f. Ebenso Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 232, welcher bei der Feststellung einer ausreichenden Interessendivergenz von „Disqualifikation“ spricht. Schurig spricht diesbezüglich von einer „Negativfeststellung“ (a.a.O. S. 320). 968 Auch eine auslegende Kollisionsnormermittlung wurde in diesem Bereich bereits am Beispiel des § 1 HOAI im 4. Kapitel unter A.III.1. durchgeführt. Auch hier wurde i.E. an den Ort der Dienstleistung angeknüpft. 969 Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 206 f.
206
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
An dieser Stelle sei schließlich nochmals daran erinnert, dass allein die Verfolgung von Gemeinwohlzwecken im Sachrecht noch nicht per se zu einer abweichenden kollisionsrechtlichen Interessenlage führt, wenngleich dies die Wahrscheinlichkeit erhöhen mag. 970 Nicht relevant ist des Weiteren, ob das nach der Regelverweisung berufene Fremdrecht im konkreten Anwendungsfall einen dem Heimatrecht vergleichbaren Schutz bietet.971 Die Ausbildung einer Spezial-Kollisionsnorm erfolgt, weil die kollisionsrechtliche Interessenlage abstrakt von jener der Regelverweisung abweicht; um eine Anstößigkeit des Ergebnisses der kollisionsrechtlichen Berufung geht es nicht. 972 IV. Die Übertragbarkeit auf die Neubildung allgemeiner Kollisionsregeln Die bisherige Perspektive war bewusst auf die Bildung von Spezial-Kollisionsnormen verengt, denn im Bereich der „Eingriffsnorm“ geht es soweit ersichtlich fast immer um die abweichende Anknüpfung besonderer Teilfragen und Einzelnormen im Rahmen einer Regelverweisung des IPR. So stellt insbesondere die Durchsetzung heimischer und fremder Verbotsgesetze stets eine spezielle Anknüpfung im Rahmen der schuldvertraglichen Regelverweisung dar. Daher soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die soeben beschriebene Methodik auch für die Neubildung von Regelverweisungen gilt. Denn zumindest im (auch) privaten Rechtsanwendungsrecht dürfte es kaum einen Bereich mehr geben, in dem die kollisionsrechtliche Interessenlage der untersuchten Kollisionsnorm so eigentümlich und neuartig ist, dass keine Abgrenzung von der Interessenlage einer bereits bestehenden Regelverweisung nötig wird. Selbst in den wenigen denkbaren Fällen, in denen eine Abgrenzung zu einer bestehenden Kollisionsnorm nicht notwendig sein dürfte, muss dennoch die kollisionsrechtliche Interessenlage zur Ermöglichung der Bündelschnürung ermittelt werden. 973
970 Siehe zur heuristischen Bedeutung des Gemeinwohlkriteriums bereits im 4. Kapitel unter C.IV.2.c. 971 So aber Mankowski, DZWir 1996, 273, 280. 972 Freilich wird in der Regel erst ein konkreter Anwendungsfall die mangelnde Sachgerechtigkeit der Regelanknüpfung zutage treten lassen – die ermittelte Spezial-Kollisionsnorm weist jedoch wiederum abstrakt-generellen Charakter auf. Zur Methode der Einzelfallkontrolle durch den ordre public wird ausführlich im 6. Kapitel Stellung genommen. 973 Insbesondere im kaum kodifizierten öffentlichen Rechtsanwendungsrecht erscheint es denkbar, dass die ermittelte kollisionsrechtliche Interessenlage nicht von jener einer bestehenden Verweisung abzugrenzen ist.
A. Der Weg zur Bildung spezieller Kollisionsnormen
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Somit macht es keinen methodischen Unterschied, ob die zu entwickelnde Kollisionsnorm weiterhin den Anwendungsbereich einer allgemeinen Verweisung berührt oder aber ein neues „Statut“ bildet. V. Die „dépeçage“ als natürliche Konsequenz plurinationaler Sachverhalte Bei zahlreichen besonderen Verweisungen auf unterschiedliche Rechtsordnungen kann freilich ein „rechtlicher Potpourri“ entstehen, welcher – zumeist negativ konnotiert – als „dépeçage“ bezeichnet wird.974 Sofern hiermit die Vorstellung ausgedrückt werden soll, dass ein Sachverhalt immer nur einer einzigen Rechtsordnung zu unterliegen habe („Einheitsstatut“), 975 ist dies mit der Realität plurinationaler Sachverhalte und der auch im herkömmlichen Kollisionsrecht seit alters her anerkannten Anknüpfung gesonderter „Teilfragen“ nicht zu vereinbaren976. Es darf angesichts der so uralten wie weltweiten Etablierung des besonderen Verweises auf die Ortsform (locus regit actum) durchaus als fernliegend bezeichnet werden, wenn jene sogar gewohnheitsrechtlich anerkannte Anknüpfung nunmehr eine „spezielle Eingriffsnorm“ sein soll.977
Würde man einem Sachverhalt einen „Sitz“ in ausschließlich einer Rechtsordnung zuweisen, würde man etwaige zentrale Berührungspunkte zu anderen Rechtsordnungen ignorieren. 978 Das Kollisionsrecht kann daher seine Aufgabe nur dann sachgerecht erfüllen, wenn es alle wesentlichen Bezüge zu würdigen vermag. Ein apodiktischer Ausschluss jeder „dépeçage“ ist damit abzulehnen; 974 Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 191 Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 53; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 109; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 11, Rn. 45. 975 Zur Maxime des Einheitsstatuts: Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 344; Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 84; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 171. 976 Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 318; Siehr, RabelsZ 52 (1988), 41, 69; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 220; v.Hoffmann, in: FS Henrich, 2000, S. 284; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 171; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 119 ff. Ähnl. auch schon Wengler (siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter C.I.2.a. 977 So aber Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom IVO, Rn. 22. Ähnl. Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 173. 978 Ähnl. Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 326, 340; Lehmann, Zwingendes Recht dritter Staaten, 1986, S. 209; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 61; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 122 f. – Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 23 weist richtigerweise darauf hin, dass Berührungspunkte zu dritten Rechtsordnungen von Vertretern der Einheitsstatutslehre zumeist im Rahmen des materiellen Rechts gewürdigt werden. Dass es sich hierbei in der Regel um eine versteckte kollisionsrechtliche Berufung handelt, wurde bereits im 3. Kapitel unter C. gezeigt.
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5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
sie ist vielmehr als natürliche Folge der Plurinationalität hinzunehmen. 979 Bei näherem Hinsehen scheinen einheitsstatutarische Vorstellungen wiederum der abzulehnenden Annahme zu entspringen, wonach das IPR einen Sachverhalt „en bloc“ einer bestimmten Jurisdiktion zuweise. Das IPR ist jedoch keine völkerrechtliche Zuständigkeitsordnung und sollte sich auch nicht so verhalten. 980 Die Berufung der Normgruppen mehrerer Rechtsordnungen führt freilich zu besonderen Herausforderungen, da die Kohärenz eines einheitlichen Statuts hier nicht mehr gewährleistet ist; insbesondere Normwidersprüche sind dabei zu befürchten. 981 Das Kollisionsrecht hat aber das methodische Rüstzeug, um hiermit fertig zu werden: So lassen sich Normenkonflikte etwa mit dem Instrument der Anpassung lösen.982 Infolge der Synthesewirkung der autonomen Fremdrechtsberufung stellt es auch kein Souveränitätsproblem dar, wenn Konflikte zwischen unterschiedlichen berufenen Rechtsordnungen durch den heimischen Richter aufgelöst werden; vielmehr werden hier schlicht Widersprüche zwischen heimischen Rechtssätzen aufgelöst. 983
Freilich ist einzuwerfen, dass gerade plurinationale Sachverhalte die Notwendigkeit einer Sachrechtsvereinheitlichung besonders deutlich werden lassen. 984 Das Kollisionsrecht, das seiner Natur nach Lebenssachverhalte mit Rechtsordnungen und -normen verknüpfen möchte, gelangt hier zwar nicht an die Grenzen seiner Methodik, sehr wohl jedoch an die Grenzen der Praktikabilität. 985
979 Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 149; Jayme, in: FS Kegel, 1987, S. 268 („Mut zur „dépeçage“); Basedow, in: FS Stoll, 2001, S. 411; Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 59 f. 980 Siehe zum völkerrechtlichen IPR-Modell bereits ausf. im 3. Kapitel unter D.I.1.c. 981 So auch v.Hein, AG 2001, 213, 222, allerdings unter dem zu vermeidenden Begriff des „Kompetenzkonflikts“. Derartige terminologische Anleihen beim abzulehnenden völkerrechtlichen IPR-Modell sind zu vermeiden. 982 So bereits Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 129 ff.; Mühl, in: FS Mühl, 1981, S. 465, 469; ähnl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 205 ff.; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 225; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 145. 983 Ähnl. Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 137. 984 Basedow, in: FS Stoll, 2001, S. 412. Allgemein zur Sachrechtsvereinheitlichung: v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 2, Rn. 20 ff. Siehe hierzu nochmals in diesem Kapitel unter E.V. 985 Wenngleich das Kollisionsrecht nämlich strukturell und methodisch in der Lage wäre, eine unbegrenzte Zahl von Normen aus unterschiedlichen Rechtsordnungen zur Lösung eines plurinationalen Falls zu berufen, wird hier der Aufwand zunehmend unverhältnismäßig, da der Richter in hohem Maße damit beschäftigt wäre, aus den berufenen Versatzstücken einen sinnvollen Entscheidungsrahmen zu basteln.
B. Die Ausbildung einseitiger Kollisionsnormen
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B. Die Ausbildung einseitiger (heimseitiger) Kollisionsnormen B. Die Ausbildung einseitiger Kollisionsnormen
Die Erfahrung lehrt, dass spezielle Durchbrechungen der Regelverweisung zumeist in einseitiger Form erfolgen. Dies ist auch wenig überraschend: Selbst wenn man sich von den mit der Eingriffsnorm verknüpften Einseitigkeitsdogmen freimacht, ist es für den nur im heimischen Recht geschulten Richter deutlich augenfälliger, wenn eine Sachnorm des Heimatrechts entgegen seines Rechtsgefühls nicht angewandt wird. Des Weiteren führt der Blick auf bestimmte heimische Sachnormen freilich zu einer stärkeren Präsenz der von diesen implizierten kollisionsrechtlichen Interessen. 986 Dies befördert nicht nur die Neigung, ausschließlich den kollisionsrechtlichen Anwendungsbereich der heimischen Sachnorm zu beschreiben; wie besehen wird hierdurch auch die Tendenz zu einer besonders extensiven Fassung der einseitigen Kollisionsnorm verstärkt. Es ist häufig erst das Gegensteuern mit genuin kollisionsrechtlichen Interessen, welches die einseitige Kollisionsnorm auf ein zur Allseitigkeit fähiges Maß verkürzt. Des Weiteren führt im Falle richterlicher Rechtsfortbildung der Auftrag zur Entscheidung eines Einzelfalls und das aus der Gewaltenteilung fließende Gebot zur zurückhaltenden Formulierung von Richterrecht dazu, dass gebildete Kollisionsnormen sich auf das Nötigste – also häufig einseitige – Maß beschränken. 987 Auch der Gesetzgeber beschränkt sich häufig zunächst auf die einseitige Regelung spezieller Kollisionsnormen, wie an den wenigen Beispielen ausdrücklicher kollisionsrechtlicher Festlegungen im Sachrecht deutlich wird. Diese Tendenz ist bei speziellen Kollisionsnormen des Unionsprivatrechts umso deutlicher.988 Freilich ist zu hoffen, dass der Mut zur unmittelbar allseitigen Formulierung zunimmt, wenn man sich einmal den Fortfall des öffentlich-rechtlichen Einseitigkeitsdogmas, die strukturelle Identität all- und einseitiger Kollisionsnormen sowie die Offenheit des Kollisionsrechts für interessenjurisprudentische Fortentwicklung klarmacht. Die Möglichkeit zur unmittelbar allseitigen Kollisionsnormbildung ist nicht nur für den Gesetzgeber, sondern auch für den Richter eröffnet. 989 Der Richter würde in diesem Fall jedoch 986
Siehe oben unter A.I. Zur initialen Einseitigkeit auch (wenngleich pauschaler): Bucher, Grundfragen, 1975, S. 109; Junker, Internationales Arbeitsrecht, 1992, S. 49; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 110, 153; Weller, IPRax 2011, 429, 431. 988 Jayme/Kohler, IPRax 2000, 454, 455. Freilich stellt sich im Unionsrecht auch die Frage, ob die Formulierung allseitigen Kollisionsrechts in einem nicht von der IPR-Kompetenz erfassten Sachbereich überhaupt kompetenzgemäß ist (siehe hierzu sogleich unter D.II.2.). 989 Dagegen wollte bereits Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 30 eine Ableitung allseitiger Kollisionsnormen beim Ansatz „beim Gesetz“ ausschließen. Macht man sich jedoch bewusst, dass 987
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5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
überobligatorisch handeln, sodass eine unmittelbar allseitige richterliche Formulierung als obiter dictum einzuordnen wäre.
C. Der Weg zur Allseitigkeit C. Der Weg zur Allseitigkeit
Einer einseitigen Kollisionsnorm wohnt wie besehen immer die strukturelle Fähigkeit inne, zur allseitigen Kollisionsnorm ausgebaut zu werden. 990 Denn das zunächst nur auf das Heimatrecht zeigende Anknüpfungsmoment kann stets so umgeformt werden, dass auch fremdes Recht nach derselben Maßgabe anzuwenden ist.991 Im Bereich der „Eingriffsnormen“ zeigt sich dies etwa an der allseitigen Anknüpfung des Kartelldeliktsrechts in Art. 6 Abs. 3 Rom I-VO, welche zuvor einseitig in § 130 Abs. 2 GWB a.F. geregelt war. 992 Wurde zuvor das deutsche Kartellrecht bei Auswirkungen auf den deutschen Markt einseitig angeknüpft, wird nun auch fremdes Kartellrecht bei Betroffenheit des fremden Marktes angewandt. In gleicher Weise könnte auch der bereits angesprochene § 32b Nr. 2 UrhG allseitig verbreitert werden: 993 Während die Norm momentan nur deutsche Bestimmungen über die Vergütung und Beteiligung des Urhebers bei Nutzungshandlungen in Deutschland kumulativ zum Regelstatut beruft, kann auch dieses Anknüpfungsmoment dergestalt allseitig verbreitert werden, dass auch
selbst im Fall des Ansatzes „beim Gesetz“ der kollisionsrechtliche Teil funktional von der sachrechtlichen Aussage abtrennbar bleibt (siehe hierzu ausf. im 4. Kapitel unter A.II.), spricht nichts dagegen, den kollisionsrechtlichen Teil auch unmittelbar allseitig zu formulieren. 990 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 321. Siehe zur potentiellen Allseitigkeit bereits im 3. Kapitel unter D.II.3. – Die allseitige Ausbaubarkeit der „Eingriffsnorm“ betonen auch: Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 122; Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 190; Philip, in: North (Hrsg.), Contract conflicts, 1982, S. 90 Nr. 24; Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 11; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 137. Ebenso zu den lois d’application immédiate: Bucher, Grundfragen, 1975, S. 111, 198 m.w.N.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 106; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 288. – Die allseitige Ausbaubarkeit wird auch dadurch illustriert, dass selbst die allseitigen Kollisionsnormen des EGBGB in ihrer Urfassung größtenteils einseitig waren (Raape, IPR, 5. Aufl. 1961, S. 34; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 361; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 137. Siehe außerdem Fn. 679). 991 Ähnl. Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 116; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 299. 992 Eine allseitige Verbreiterung des § 130 Abs. 2 GWB diskutierten zuvor schon Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 46; Martinek, Das internationale Kartellprivatrecht, 1987, S. 94; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 41 ff. Siehe hierzu auch im 4. Kapitel unter C.IV.2.d. 993 Siehe hierzu im 4. Kapitel unter A.II.
C. Der Weg zur Allseitigkeit
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urheberrechtliche Vergütungs- und Beteiligungsvorschriften eines fremden Staates anzuwenden sind, wenn in dessen Staatsgebiet die Nutzungshandlungen durchgeführt wurden. Die einseitige Kollisionsnorm ist damit keine systemfremde Sackgasse, sondern die wichtigste Keimzelle der Allseitigkeit. 994 Anders formuliert: Einseitige Kollisionsnormen sind allseitige Kollisionsnormen „in statu crescendi“. 995 Die Möglichkeit zum allseitigen Ausbau steht insbesondere auch einseitigen Kollisionsnormen offen, die auf „Eingriffsnormen“ zielen. 996 Ebenso möglich, jedoch deutlich seltener, ist die allseitige Verbreiterung einer zunächst nur auf fremdes Recht zeigenden Kollisionsnorm. 997 Die strukturell stets eröffnete Möglichkeit des allseitigen Ausbaus bedeutet jedoch nicht, dass dieser Weg auch immer sinnvoll ist. Welche Bedingungen in der Regel für einen allseitigen Ausbau erfüllt sein müssen, soll daher im Folgenden betrachtet werden. I. Die zur Allseitigkeit notwendige kollisionsrechtliche Interessenlage Eine häufig genannte Voraussetzung der Allseitigkeit ist die „Interessengleichheit“. 998 Der Begriff wird uneinheitlich verwendet.
994 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 169; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 113; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 99. Ähnl. und einprägsam auch Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 295, wonach die Anwendung einer Rechtsnorm innerhalb ihres selbst festgelegten räumlichen Anwendungsbereichs ursprünglich, die Verwendung von abgekoppelten Kollisionsnormen dagegen künstlich sei. 995 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 196; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 113. 996 So bündelt etwa Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 137, 157 die auf § 3 Abs. 1 AtomG zeigenden Element-Kollisionsnormen sehr anschaulich bis hin zum allseitigen Satz „Die Ausfuhr von Gütern unterliegt dem Außenwirtschaftsrecht des Ausfuhrstaates“. Ebenso bzgl. der Einfuhr von Gütern: „Die Einfuhr von Gütern unterliegt dem Außenwirtschaftsrecht des Einfuhrstaates“ (Zeppenfeld, a.a.O. S. 160). – Auch Schubert, RIW 1987, 729, 744 betont die Möglichkeit zum allseitigen Ausbau von „Eingriffsnormen“. 997 Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 324 f. Dagegen scheinen manche Autoren die einseitige (heimseitige) Kollisionsnorm als notwendige erste Ausbaustufe anzusehen (besonders deutlich bei Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 115; wohl auch Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 153). 998 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 203; Kegel, in: FS Seidl-Hohenveldern, 1988, S. 250, 277 f.; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 16 ff. Bereits Savigny, System VIII, 1849, S. 26 f. wies darauf hin, dass eine „gemeinsame Gesittung“ zur allseitigen Behandlung führen müsse.
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5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
So geht es hierbei teilweise um die Vorstellung, dass der Anknüpfungsgegenstand international etabliert bzw. „fungibel“ sein müsse.999 Sofern hiermit gemeint ist, dass Allseitigkeit nur bei überall vorkommenden „(Lebens-)Sachverhalten“ möglich sei, 1000 ist dem unter Verweis auf die obigen Erörterungen entgegenzutreten. So wurde bereits gezeigt, dass in einem autonomen Kollisionsrecht nach selbstgewählten Qualifikationskriterien entschieden wird, ob ein fremdes Rechtsinstitut einem Anknüpfungsgegenstand zugeordnet wird. 1001 Daher ist es für die Möglichkeit der Fremdrechtsberufung keine zwingende 1002 Voraussetzung, dass der verwendete Anknüpfungsgegenstand international etabliert ist. Konsequenterweise ist das Forum daher sogar frei darin, eine Verweisung auf ein ausschließlich im Heimatrecht vorkommendes Rechtsinstitut allseitig zu formulieren. Sofern sich im fremden Recht dann erwartungsgemäß keine entsprechend qualifizierbaren Normen finden, geht der allseitige Verweis schlicht in die Leere. Er mag damit nicht sinnvoll sein, bleibt aber infolge des Autonomismus möglich. Die internationale Etablierung einer Regelung erhöht freilich die „Trefferquote“ einer allseitigen Kollisionsnorm, da hierdurch die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass das fremde Rechtsinstitut erfolgreich unter den Anknüpfungsgegenstand qualifiziert werden kann.1003 Wenngleich es dem Forum unbenommen ist, auch solches Fremdrecht von seinen Verweisungen erfasst zu sehen, das der fremde Staat unter keinen Umständen unter den verwendeten Systembegriff unterordnen würde, 1004 werden sich nämlich die durch den fremden Staat und das Forum ermittelten kollisionsrechtlichen Interessen häufig decken.
Sofern mit dem Kriterium der „Interessengleichheit“ hingegen ausgedrückt werden soll, dass eine fremde Sachnorm nur berufen wird, wenn sie aus der Perspektive des Forums dieselben kollisionsrechtlichen Interessen impliziert wie die heimische Sachnorm,1005 ist dem zuzustimmen. Eine forumsseitig er-
999 So etwa deutlich Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 40. – Sofern ferner die „Austauschbarkeit“ des Rechts als Vorbedingung der Allseitigkeit gemeint sein soll, ist diese Vorstellung aus den im 3. Kapitel unter D.I.5.a. genannten Gründen abzulehnen. 1000 So wohl Ringe, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 37, wonach der Normzweck „von der internat. Rechtsgemeinschaft geteilt“ werden müsse. 1001 Siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.II.2. 1002 Hiermit ist angesprochen, dass im Rahmen der autonomen Entscheidungsmacht des Forums durchaus auch das Kriterium einer internationalen Verbreitung herangezogen werden könnte. 1003 Dies gilt im Bereich der „Eingriffsnormen“ mittlerweile etwa für den Kulturgüterschutz, den Artenschutz, die Volksgesundheit und den Umweltschutz (Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 83). Siehe zum Gesichtspunkt der internationalen Etablierung des Anknüpfungsgegenstands außerdem bereits im 3. Kapitel unter D.II.2. 1004 Siehe hierzu ebenfalls bereits im 3. Kapitel unter D.II.2. 1005 Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 239 f.; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 157; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 221. In Ansätzen: Bucher, Grundfragen, 1975, S. 56.
C. Der Weg zur Allseitigkeit
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mittelte Interessengleichheit ermöglicht erst eine Zusammenfassung der auf eigenes und fremdes Recht zeigenden (Element-)Kollisionsnormen in einer horizontalen Bündelung. Wie bereits gezeigt wurde, handelt es sich bei der interessengerichteten Zuordnung („Bündelschnürung“) der auf eigenes und fremdes Recht zeigenden Kollisionsnormen gerade um die Essenz des Qualifikationsvorgangs. 1006
Hängt die Allseitigkeit damit allein von einer durch das Forum ermittelten Ähnlichkeit 1007 der kollisionsrechtlichen Interessenlagen fremd- und einseitiger (Element-)Kollisionsnormen ab, kann auch nicht apriorisch beschrieben werden, wann ein allseitiger Ausbau geleistet werden sollte. Denn er ist zwar theoretisch immer möglich und häufig auch vorteilhaft; ob er in einem bestimmten Sachgebiet durchzuführen ist, obliegt dagegen der Einschätzung des Forums.1008 Es lassen sich allenfalls grobe Leitlinien und Vermutungen formulieren: So wird die faktisch bestehende Durchsetzungsmacht eines fremden Staates etwa häufig für das Bestehen einer ausreichend starken Verbindung zur Formulierung einer fremdseitigen Kollisionsnorm sprechen. 1009 Jedenfalls keinen Platz hat eine skeptische Haltung gegenüber „Eingriffsnormen“ des Fremdrechts aufgrund der Annahme, man würde durch ihre Heranziehung „interventionsfreudige“ Rechtsordnungen belohnen. 1010 Eine sich in extensiven Anwendungsansprüchen äußernde „Interventionsfreudigkeit“ eines fremden Staates interessiert uns nicht, da wir uns fremden Geltungsansprüchen
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Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.II.3.d. Eine völlige Identität ist nicht zu fordern. Denn wie das kollisionsrechtliche Trägheitsprinzip die spezielle Anknüpfung bei nur leichter Interessenabweichung verbietet, so führt eine leichte Abweichung der kollisionsrechtlichen Interessenlage der fremd- oder einseitigen Kollisionsnorm auch nicht sofort zum Aufbruch des allseitigen Verbunds. 1008 Einige möchten auch ein Gebot zum allseitigen Ausbau formulieren: Kahn, JhJb 40 (1898), 1, 82. Zu den Vorteilen der Allseitigkeit siehe auch Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 134; Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 414; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 133; Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 167. 1009 Ausf. erörterte dies bereits Kegel, Probleme des internationalen Enteignungs- und Währungsrechts, 1956, S. 14 (siehe zu dessen Machttheorie bereits im 3. Kapitel unter B.II.). Siehe hierzu auch Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 88; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 156; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 69 ff. Der Gesichtspunkt der Durchsetzungsmacht findet sich im Übrigen schon bei Wächter, AcP 25 (1842), 361, 364, Fn. 347. – Auch das RG stellt im „Rubelfall“ auf Machtgesichtspunkte ab. Hier wollte es ein russisches Verbot der Darlehensrückzahlung in ausländischen Devisen nicht berücksichtigen, weil sich der Sachverhalt infolge des deutschen Erfüllungsorts außerhalb des russischen Machtbereichs abspielte (RG, Urt. v. 03.10.1923 – V 886/22, RGZ 108, 241). 1010 So aber v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 110. 1007
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5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
ohnehin nicht beugen und fremde Festlegungen des Anwendungsbereichs nur aufgrund eigener Entscheidungen berücksichtigen. 1011 Ebenso wenig nehmen wir durch die Berufung fremden Rechts ausländische Gemeinwohlinteressen wahr. 1012 Infolge der Erkenntnis des beschränkten Gerechtigkeitsanspruchs der heimischen Rechtsordnung berufen wir fremdes Recht zur Realisierung eigener Gerechtigkeitsvorstellungen. Dies äußert sich in besonderer Weise darin, dass das Ergebnis der Fremdrechtsberufung synthetisiertes deutsches Recht ist. Wir importieren keine fremden Machtäußerungen oder Politiken, weshalb es uns auch nicht interessiert, ob der fremde Staat die Inbezugnahme der von ihm formulierten Ratio wohlwollend als Förderung seines Gemeinwohls zur Kenntnis nimmt. Wenngleich damit gerade aufgrund der autonomen Methode des Kollisionsrechts keine generellen Bedenken gegen allseitige Bündelungszustände bestehen, ist es ebenso eine Folge des Autonomismus, dass man es theoretisch auch bei ausschließlich einseitigen Kollisionsnormen unter Ausschluss jeder Fremdrechtsberufung belassen könnte. 1013 Ein „savignyscher Imperativ“, wonach jeder Staat eigenes Recht nur in dem Rahmen berufen sollte, den er auch fremden Staaten zubilligt, mag zwar durchaus eine attraktive Leitschnur sein; 1014 um eine Rechtspflicht handelt es sich nicht 1015. Angesichts dieser weitgehenden Freiheit kann eigenes Recht auch ausschließlich oder in einem weiteren Umfang berufen werden als entsprechendes Fremdrecht. Schließlich kann auch frei nach Subjekten, Staaten oder anderen Kriterien differenziert werden. Einige jener möglichen Bündelungszustände sollen im Folgenden näher betrachtet werden.
1011
Siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.I.1. Deutlich etwa bei: Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 45. Wohl auch Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 113. 1013 Inwiefern eine ausschließliche Berufung der lex fori gegen Völkerrecht oder heimisches Verfassungsrecht verstößt, bleibt im Rahmen dieser Arbeit dahingestellt (siehe hierzu bereits knapp im 4. Kapitel unter A.I.). 1014 Es überrascht angesichts der internationalistischen Perspektive Savignys und dessen Prägung durch die Philosophie Kants nicht, dass dieser bei jeder Kollisionsnorm stets überprüfen wollte, „ob eine solche Regel wohl geeignet seyn dürfte, um in jenes allen Nationen gemeinsame Gesetz aufgenommen zu werden“ (Savigny, System VIII, 1849, S. 115). Siehe zu diesem Gedanken auch Junker, IPRax 2000, 65, 73; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 6, Rn. 58. 1015 Ob die in Fn. 1008 genannten Autoren ihr Gebot zum allseitigen Ausbau als echte Pflicht verstehen und worin eine solche Pflicht begründet sein soll, bleibt indessen unklar. – Eine aus dem jeweiligen Verfassungsrecht fließende Pflicht zur Bereitstellung von Fremdrechtsverweisungen ist hiermit freilich nicht ausgeschlossen. Ein ähnlicher Fall ist auch die Verpflichtung zur Fremdrechtsberufung aus dem Unionsrecht (siehe hierzu sogleich). 1012
C. Der Weg zur Allseitigkeit
215
II. Ausschließlich einseitige Berufung Ein möglicher Fall einer ausschließlich einseitigen Berufung unter Ausschluss jeglicher Fremdrechtsanwendung ist etwa die exklusive Anwendung eigener Embargos.1016 Eine ausschließlich einseitige Berufung sollte jedoch nur dann angenommen werden, wenn die kollisionsrechtliche Interessenlage unzweifelhaft hierfür spricht. Häufig wird der Grund einer bisher einseitigen Berufung nämlich darin liegen, dass es bisher schlicht noch keine Veranlassung zum allseitigen Ausbau gab. Denn wie bereits gezeigt wurde, können insbesondere im öffentlichen Rechtsanwendungsrecht Regelungen der internationalen Zuständigkeit oder die geringere Mobilität hoheitlicher Rechtsverhältnisse nur zur Entbehrlichkeit der Ausbildung allseitiger Kollisionsnormen führen. 1017 Sofern die Frage der Fremdrechtsberufung innerhalb jener bisher einseitigen Kollisionsnormen nun doch relevant werden sollte, handelt es sich schlicht um eine Regelungslücke, die durch einen allseitigen Ausbau geschlossen werden kann. 1018 Es ist zu vermuten, dass ein gewichtiger Teil der „Eingriffsnormen“ dem letztgenannten Fall zuzuschlagen ist. III. Ausschließliche Berufung fremden Rechts Der umgekehrte Fall ist die ausschließliche Berufung fremden Rechts, ohne zugleich eine entsprechende Aussage bezüglich eigenen Rechts zu treffen. Dies ist theoretisch möglich, praktisch jedoch unwahrscheinlich. 1019 Diese Möglichkeit zeigt vor allem, dass Allseitigkeit und Fremdrechtsberufung keine Synonyme sind. 1020 Ebenso wird deutlich, dass das oben skizzierte
1016
Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 146. Ähnl. Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 35. Genauso kann sich das Forum grundsätzlich frei dazu entscheiden, die Embargos eines bestimmten, mehrerer oder aller Staaten bei der Erfüllung irgendeines Anknüpfungsmoments anzuordnen oder dies nur für bestimmte (etwa nur private) Subjekte zu befehlen. 1017 Siehe hierzu im 3. Kapitel unter E.III. 1018 Dies wird besonders häufig dann der Fall sein, wenn im öffentlichen Rechtsanwendungsrecht aufgrund von Zuständigkeitsregeln eine einseitige Fassung ausreicht, im (auch) privaten Rechtsanwendungsrecht indessen eine allseitige Fassung nötig wird. Siehe zur entsprechenden Differenzierung ausf. im 3. Kapitel unter E.II. 1019 Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 70 f.; wohl auch Schubert, RIW 1987, 729, 744; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 324. Zwar ist es richtig, dass es kaum einen Bereich geben dürfte, in dem der Verweisung auf fremdes Recht nicht eine (ggf. noch ungeschriebene) Verweisung auf entsprechendes Heimatrecht gegenübersteht. Im Fall eines im Inland völlig unbekannten Anknüpfungsgegenstands ist es jedoch nicht ausgeschlossen, dass fremdes Recht etwa infolge einer bilateralen Einigung ausschließlich fremdseitig berufen wird. 1020 Siehe bereits in Fn. 997 zur gegenläufigen Ansicht, dass allseitige Kollisionsnormen notwendig auf entsprechenden einseitigen Verweisungen fußen müssten.
216
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
Kriterium der Interessengleichheit nur eine Voraussetzung der Allseitigkeit ist, nicht hingegen der Fremdrechtsberufung als solcher. IV. Unvollkommen-allseitige Kollisionsnormen Im Falle der unvollkommenen Allseitigkeit wird das eigene Recht weitergehend oder abweichend gegenüber entsprechendem Fremdrecht berufen. Auch dies ist als Konsequenz der autonomen Kollisionsrechtsverfassung hinzunehmen, wenngleich die Notwendigkeit einer Überdehnung oder abweichenden Behandlung des heimischen Anwendungsbereichs stets genau zu untersuchen ist.1021 Die besondere Behandlung des Heimatrechts ist kollisionsrechtsmethodisch auf zwei Wegen erreichbar: Entweder man konstruiert eine Spezial-Kollisionsnorm zugunsten des Heimatrechts, die sich gegenüber einer allseitigen Regelverweisung durchsetzt. Oder man differenziert zwischen einem ausschließlich das Fremdrecht berufenden und einem einseitigen, auf das Heimatrecht verweisenden Teil. Es ist im Ergebnis nicht relevant, auf welchem Weg man diese Fallgruppe konstruiert. 1022 Relevant ist vielmehr die Erkenntnis, dass im Bereich der unvollkommenen Allseitigkeit die Fremdrechtsberufung nicht völlig ausgeschlossen ist, sondern nur in restriktiveren Grenzen (im Verhältnis zum eigenen Recht) akzeptiert wird.
Möchte man weiter unterteilen, so befindet man sich im Bereich der Ausdehnung des heimischen Anwendungsbereichs zumeist bei den bereits angesprochenen „Exklusivnormen“. 1023 Dem kann eine zweite Fallgruppe gegenübergestellt werden, die nicht notwendigerweise zur Ausdehnung des heimischen Anwendungsbereichs führt, sondern lediglich eine abweichende kollisionsrechtliche Behandlung des eigenen Rechts bewirkt. Freilich sind die Übergänge zwischen Abweichung und Ausdehnung fließend – eine genaue Abgrenzung ist angesichts der identischen kollisionsrechtlichen Methodik aber auch nicht nötig, geht es doch in beiden Fällen nur um Variationen des Anknüpfungsmoments. Entgegen mancher Stimmen können „Eingriffsnormen“ auch nicht pauschal mit unvollkommen-allseitigen „Exklusivnormen“ gleichgesetzt werden. 1024 Denn zumeist geht es bei „Eingriffsrecht“ um nur einseitige Spezial-Kollisionsnormen; an einer Aussage zur Berufung entsprechenden Fremdrechts fehlt 1021
Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 50; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 311 f.; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 303, 522. 1022 Indessen erscheint die Auftrennung in einen einseitigen und das Fremdrecht berufenden Teil überzeugender. Die erste Variante ist insofern umständlich, als sie künstlich eine allseitige Regelverweisung schaffen muss, die praktisch aufgrund der Überwirkung der speziellen, auf das Heimatrecht zeigenden Norm ohnehin nie zur Gänze wirksam wird. 1023 Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.II.3.e. 1024 So etwa Thorn, in: Ferrari (Hrsg.), Ein neues Internat. Vertragsrecht für Europa, 2007, S. 144. Dagegen Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 522, welche die Exklusivnorm als Fall einer „speziellen Vorbehaltsklausel“ betrachten möchten (siehe zur Einordnung des ordre public ausf. im 6. Kapitel).
D. Eigenheiten der auf Unionsrecht zeigenden Kollisionsnormen
217
es in der Regel. Wo bereits keine Fremdrechtsverweisung existiert, kann auch der heimische Anwendungsbereich nicht überdehnt oder abweichend angeknüpft werden. V. Zwischenergebnis Ein allseitiger Bündelungszustand erfordert also grundsätzlich die Vergleichbarkeit der forumsseitig bestimmten kollisionsrechtlichen Interessen, welche hinter den ein- und fremdseitigen Kollisionsnormen stehen. Eine internationale Verbreitung des Anknüpfungsgegenstands ist nur hilfreich, aber nicht notwendig. Das Forum kann in kosmopolitischer Einsicht in die Relativität des Gerechtigkeitsgehalts eigenen Rechts eine weitgehende Fremdrechtsberufung zulassen oder aufgrund egoistisch-chauvinistischer oder anderer missbilligenswerter Zwecke die Fremdrechtsberufung weitgehend ausschließen. Damit soll natürlich nicht negiert werden, dass die kollisionsrechtliche Ausgestaltung häufig durch verfassungsrechtliche Sätze oder eine staatsvertragliche Vereinheitlichung determiniert sein wird.1025
D. Die Eigenheiten der auf unionales Sachrecht zeigenden Kollisionsnormen D. Eigenheiten der auf Unionsrecht zeigenden Kollisionsnormen
Im Folgenden ist zu untersuchen, welche Besonderheiten insbesondere im Rahmen der Bildung einer auf unionales Sachrecht verweisenden Kollisionsnorm bestehen. I. Die Rechtsquelle der auf unionales Sachrecht zeigenden Kollisionsnorm Blicken wir auf einige Ergebnisse des letzten Kapitels zurück: Es wurde bereits festgestellt, dass die Rechtsquelle der Kollisionsnorm grundsätzlich unabhängig von der Herkunft der Sachnorm ist. Genauso wie im Falle der Berufung nationalen Rechts kann eine auf materielles Unionsrecht zeigende Kollisionsnorm daher prinzipiell sowohl dem nationalen Recht als auch dem Unionsrecht entstammen. Hierbei wird die Rechtsquelle einer Kollisionsnorm in der Regel danach bestimmt, ob man sich im Anwendungsbereich kompetenzgemäß erlassener Regelverweisungen des unionalen oder nationalen Kollisionsrechts befindet. Sofern der EU nicht ohnehin die kollisionsrechtliche Kompetenz ausdrücklich zugesprochen wird, wird sie im Falle einer Kompetenz zur Sachrechtsvereinheitlichung zudem häufig als Annexkompetenz bestehen.
1025 Siehe zur gewillkürten Selbstbeschränkung als Folge der Autonomie bereits im 3. Kapitel unter D.I.1.a.; zu verfassungsrechtlichen Beschränkungen im nächsten Kapitel.
218
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
Daher ist im Zuge der folgenden Erörterungen davon auszugehen, dass der Anwendungsbereich einer unionalen Sachnorm auch von einer unionalen (Spezial-)Kollisionsnorm beschrieben wird. 1026 II. Die Methode der Bildung von auf Unionsrecht zeigenden Kollisionsnormen Insbesondere das unionale Sonderprivatrecht ist mittlerweile durchsetzt von einseitigen kollisionsrechtlichen Bestimmungen. 1027 Sofern sich keine ausdrücklichen oder auslegbaren Festlegungen finden lassen, ist nach den erörterten allgemeinen Maximen eine entsprechende Kollisionsnorm auszubilden.1028 Hierbei ist wie besehen davon auszugehen, dass unionales Sachrecht auch durch unionale Kollisionsnormen berufen wird. Methodisch-strukturelle Besonderheiten bestehen hierbei nicht. 1029
1026
Siehe zum Ganzen bereits ausf. im 4. Kapitel unter D. Eine Übersicht findet sich bei Pfeiffer, in: FS Geimer, 2002, S. 830 ff.; Hoffmann, EWS 2009, 254, 259; Schinkels, in: Stürner (Hrsg.), Vollharmonisierung im Europ. Verbraucherrecht, 2010, S. 114; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9, Rn. 14; Staudinger, in: Schulze-BGB, 8. Aufl. 2014, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 6; Remien, in: PWW, 10. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 27 ff.; Engel, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 16 Rom II-VO, Rn. 8. Zu Einzelfällen: Zur Klausel-Richtlinie (93/13/EWG): Kindler, BB 2001, 10, 12; Staudinger, NJW 2001, 1974, 1976. Zur EntsendeRichtlinie (RL 96/71/EG): Deinert, in: FS Martiny, 2014, S. 289 ff.; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 38. Zur Produkthaftungs-Richtlinie (RL 85/374/EWG): Staudinger, NJW 2001, 1974, 1977 f. Zur E-Commerce-Richtlinie (RL 2000/31/EG): Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 114. Zum europ. Gesellschaftsrecht: Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 629; Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 1994, S. 195, Rn. 385 und S. 199, Rn. 394. 1028 Besonderer Öffnungsklauseln bedarf es auch hier nicht, da Rechtsfortbildung und Spezialität systemimmanente Instrumente darstellen (so anscheinend aber Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 142). – Dies gilt nicht nur für Sekundär-, sondern auch für Primärrecht. Denn auch bzgl. primärrechtlicher Bestimmungen wie dem Kartellverbot des Art. 101 AEUV kann die kollisionsrechtliche Interessenlage die Bildung einer auch normhierarchisch vorrangigen Spezial-Kollisionsnorm gebieten. Ähnl. Remien, in: PWW, 10. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 27, welcher den Art. 101 AEUV als „Eingriffsnorm“ einordnen will. 1029 Der unionsrechtliche Ursprung einer Sachnorm kann jedoch auch besondere kollisionsrechtliche Interessen implizieren, was zu einer abweichenden Behandlung im Hinblick auf ähnliche Sachnormen des nationalen Rechts führen kann, etwa durch eine Anknüpfung an einen bestimmten Bezug zum Unionsgebiet (siehe hierzu sogleich). – Eine hier nicht zu erörternde Ausnahme könnten erste Ansätze für eine echte unilateralistische, d.h. ausschließlich nach dem fremden Anwendungswillen erfolgende, Fremdrechtsberufung mitgliedstaatlichen Gesellschaftsrechts sein (ausf. Schurig, in: Liber amicorum Kegel, 2002, S. 199 ff.; siehe auch v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 42 ff.; Schurig, in: FS Jayme, 2004, S. 837; Schurig, in: Mansel (Hrsg.), IPR im 20. Jh., 2014, S. 22; ähnl. Basedow, in: FS Martiny, 2014, S. 253). 1027
D. Eigenheiten der auf Unionsrecht zeigenden Kollisionsnormen
219
Die Spezialität besonderer Kollisionsnormen des Unionsrechts ist im allgemeinen europäischen Kollisionsrecht sogar in den Art. 23 Rom I-VO sowie Art. 27 Rom II-VO hervorgehoben. 1030 1. Die Ingmar-Rechtsprechung als Fall der rechtsfortbildenden Kollisionsnormbildung Ein prominentes Beispiel für die Bildung unionaler Kollisionsnormen für europäisches Sachrecht ist die Ingmar-Rechtsprechung des EuGH: Demnach ist der Ausgleichsanspruch des Handelsvertreters gegen die Wahl nicht-mitgliedstaatlichen Rechts durchzusetzen, sofern dieser seine Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt hat. 1031 Damit schuf der EuGH – wenngleich mit wenig
1030
Wie bereits erörtert wurde, ist die Spezialität besonderer gegenüber allgemeiner Bestimmungen eine systemimmanente Struktur, weshalb die entsprechenden Klauseln deklaratorisch sind (siehe hierzu bereits im 4. Kapitel unter D.III.). Damit ist i.E. den Stimmen recht zu geben, die unionale „Eingriffsnormen“ mithilfe des Art. 23 Rom I-VO als spezielles Kollisionsrecht durchsetzen möchten: v.Hein, ZVglRWiss 102 (2003), 528, 551; Roth, in: FS Spellenberg, 2010, S. 319 f.; Roth, EWS 2011, 314, 327; wohl auch Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 41; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 151 ff.; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 329; Martiny, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 27 f. Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 71. – Für eine Durchsetzung unionalen Eingriffsrechts mithilfe des Art. 9 Rom I-VO dagegen: Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 143; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 60; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 107; Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 148; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom IVO, Rn. 17; Remien, in: PWW, 10. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 7. – Staudinger möchte zwischen Richtlinien und unmittelbar anwendbarem Unionsrecht differenzieren (Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 12 f.; Staudinger, in: Schulze-BGB, 8. Aufl. 2014, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 6). Remien, in: FS von Hoffmann, 2011, S. 338 hält die Frage für unerheblich. 1031 EuGH, Urt. v. 09.11.2000 – C-381/98, Slg. 2000, I-9325, 9332 ff. (Ingmar), insb. Rn. 25 f. Der Handelsvertreter-Ausgleichsanspruch findet sich in Art. 17 ff. der Richtlinie 86/653/EWG v. 18.12.1986, ABl. (EWG) L 382/17 v. 31.12.1986. – Auch der BGH bezeichnet in einer älteren Entscheidung den Tätigkeitsort als Schwerpunkt des Vertragsverhältnisses des Handelsvertreters (BGH, Urt. v. 16.03.1970 – VII ZR 125/68, BGHZ 53, 332 = NJW 1970, 1002).
220
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
überzeugender Begründung 1032 – eine rechtswahlfeste, einseitige Kollisionsnorm1033 zugunsten des unionalen Handelsvertreterausgleichsanspruchs. 1034 Die Rechtswahlfestigkeit unionaler Bestimmungen findet sich mittlerweile an vielen Stellen des Unionsrechts; neben zahlreichen einzelnen Bestimmungen sind hierbei vor allem die Art. 3 Abs. 3, 4 Rom I-VO zu nennen.1035 Jedoch kann mit Recht davon ausgegangen werden, dass die Ingmar-Regel auch gegenüber einem objektiv ermittelten Vertragsstatut Bestand hat. 1036
1032 Der EuGH argumentierte in erster Linie mit dem Schutz des Binnenmarkts, der Niederlassungsfreiheit und dem intern zwingenden Charakter des Handelsvertreterausgleichsanspruchs (EuGH, Urt. v. 09.11.2000 – C-381/98, Slg. 2000, I-9325, 9334 (Ingmar), Rn. 22 ff.). Dem größtenteils zustimmend: Jayme, IPRax 2001, 190, 191; Kindler, BB 2001, 10, 12; Staudinger, NJW 2001, 1974, 1975. Soweit nicht auf vermeintliche Eigenheiten der „Eingriffsnorm“ abgestellt wird, kritisieren die Begründung des EuGH überzeugend: Freitag/Leible, RIW 2001, 287, 291 ff.; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 304 ff.; Schurig, in: FS Jayme, 2004, S. 844 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 157. 1033 Zur Einordnung von Rechtswahlbeschränkungen als Kollisionsnorm: Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 199. 1034 Ähnl. bereits v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 101 ff. Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 112; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 161; ähnl. Martiny, in: MüKoBGB, 6. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 29. Siehe auch die in Fn. 1038 Genannten. Hierbei handelte es sich um Rechtsfortbildung, da die Handelsvertreter-Richtlinie ihren Anwendungsbereich auch nicht andeutungsweise regelt (so auch Freitag/Leible, RIW 2001, 287, 288. Siehe zur Methode der auslegenden Kollisionsnormbildung bereits im 4. Kapitel unter A.III.1.). 1035 Indessen kann Ingmar nicht selbst als Fall des Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO bezeichnet werden (so aber Schmidt, Jura 2011, 117, 119; ansatzweise Schilling, ZEuP 2014, 843, 855 f.; v.Hein. in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 3 EGBGB, Rn. 85). Denn Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO setzt einen reinen Binnenmarktsachverhalt voraus; der Ingmar-Satz geht darüber hinaus und lässt einen irgendwie gewichtigen Bezug zum Unionsgebiet zur rechtswahlfesten Berufung ausreichen. 1036 Nemeth/Rudisch, ZfRV 2001, 179, 183; offenlassend Reich, EuZW 2001, 50, 52. Ein weiteres Mal ist es schlicht eine Frage der kollisionsrechtlichen Interessenlage, ob sich eine speziellere Anknüpfung nur gegenüber einem subjektiven oder auch gegenüber einem objektiven Statut durchsetzt (siehe hierzu auch: Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 220; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 88).
D. Eigenheiten der auf Unionsrecht zeigenden Kollisionsnormen
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Viele Stimmen ordnen die Ingmar-Rechtsprechung als Fall einer „Eingriffsnorm“ ein, 1037 obwohl sich der EuGH hierzu gar nicht äußert 1038. Er scheint jedenfalls die Möglichkeit der kollisionsrechtlichen Ausdifferenzierung nicht auf einen bestimmten „gemeinwohlbezogenen“ Sachnormbereich beschränken zu wollen. Wie im 4. Kapitel gezeigt wurde, ist dies auch weder möglich noch nötig. Damit ist der Ingmar-Entscheidung insofern zuzustimmen, als sie die hier vertretene Methode der Bildung spezieller Kollisionsnormen im Wege der Rechtsfortbildung exemplifiziert. 1039 Aus den bereits erörterten Gründen abzulehnen ist indessen die in anderen Urteilen des EuGH sichtbar werdende Vorstellung, es handele sich bei dem Instrument der „Eingriffsnorm“ um ein notwendiges und begrenzbares Institut. 1040
1037 Freitag/Leible, RIW 2001, 287, 288; Kindler, BB 2001, 10, 12; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 303; Reich, EuZW 2001, 50, 51; Staudinger, NJW 2001, 1974, 1975; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 41; Thorn, in: Ferrari (Hrsg.), Ein neues Internat. Vertragsrecht für Europa, 2007, S. 133; Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 77; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 138; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9, Rn. 16; Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 144; Remien, in: PWW, 10. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 18; v.Hein. in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 3 EGBGB, Rn. 84 ff. Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Einl. Rom I-VO, Rn. 39; Thorn, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 19; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 203 ff. Spickhoff, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 15. Ähnl. bereits vor der Ingmar-Entscheidung Basedow, in: FS Reichert-Facilides, 1995, S. 29 ff. 1038 Hierauf weisen auch hin: Nemeth/Rudisch, ZfRV 2001, 179, 181 f.; Ofner, ecolex 2001, 715, 716; Staudinger, NJW 2001, 1974, 1976; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 307, 310; Bitterich, VuR 2002, 155, 161; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 106; Kunda, GPR 2007, 210, 216; MPI, RabelsZ 71 (2007), 225, 315 f.; Hoffmann, EWS 2009, 254, 259; Roth, in: FS Spellenberg, 2010, S. 328. – Im Urteil selbst finden sich keinerlei Indizien für eine Einordnung als „Eingriffsnorm“, vielmehr steht das Kriterium eines ausreichenden Gemeinschaftsbezugs (also eines Anknüpfungsmoments) im Vordergrund (EuGH, Urt. v. 09.11.2000 – C-381/98, Slg. 2000, I-9325, 9335 (Ingmar), Rn. 25 f.). Im Schlussantrag des Generalanwalts wird deutlich, dass der „territoriale“ Bezug zur Gemeinschaft bzw. deren „Zuständigkeit“ im Vordergrund steht (Schlussantrag GA Léger v. 11.05.2000, C-381/98, Slg. 2000, I-9307, 9313 ff.). Richtigerweise argumentiert der Generalanwalt jedoch auch mit den Zielen des Handelsvertreterausgleichsanspruchs (a.a.O. S. 9319). Den aus intertemporalen Gründen nicht anwendbaren Art. 7 Abs. 2 EVÜ hält er lediglich für „vergleichbar“ (a.a.O. S. 9323; siehe zur Nichtanwendbarkeit des EVÜ auch Kindler, BB 2001, 10, 11; Nemeth/Rudisch, ZfRV 2001, 179, 181). 1039 In Ansätzen ähnl. Freitag/Leible, RIW 2001, 287, 295; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 304; Bitterich, VuR 2002, 155, 160. 1040 EuGH, Urt. v. 23.11.1999 – C-369/96 & C-376/96, Slg. 1999, I-8498 (Arblade); EuGH, Urt. v. 17.10.2013 – C-184/12, ECLI:EU:C:2013:663 (Unamar); EuGH, Urt. v. 18.10.2016 – C-135/15, ECLI:EU:C:2016:774 (Nikiforidis).
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5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
2. Die häufigere Einseitigkeit der auf Unionsrecht zeigenden Kollisionsnormen Das häufigere Vorkommen einseitiger Kollisionsnormen ist kein Ausdruck einer „US-amerikanischen“ Gesinnung des unionalen Kollisionsrechts, 1041 sondern eine Folge der durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung besonders eingeschränkten Gestaltungsreichweite des Unionsgesetzgebers 1042. Würde sich der Unionsgesetzgeber allein aufgrund des Bestehens einer sektoralen Kompetenz zur Sachrechtsvereinheitlichung anmaßen, neben dem Anwendungsbereich des Unionsrechts zugleich auch die Fremdrechtsberufung zu regeln, würde ihm sicherlich eine Kompetenzübertretung vorgeworfen werden. Im Bereich der IPR-Verordnungen zeigt sich indessen, dass sich der europäische Gesetzgeber ebenso dem Ideal der Allseitigkeit verpflichtet fühlt wie die Mitgliedstaaten. 1043
E. Das Binnenmarktkollisionsrecht als außerordentliche Bündelung E. Das Binnenmarktkollisionsrecht
Es wurde bereits gezeigt, dass die Möglichkeit unterschiedlicher Bündelungszustände ebenso unbeschränkt ist wie die kollisionsrechtliche Interessenlage selbst.1044 Ein solcher Fall ist auch das sogenannte Binnenmarktkollisionsrecht, welches besondere Anknüpfungen für die Mitgliedstaaten der EU festlegt. 1045 Damit stehen also nicht die soeben besprochenen Besonderheiten des Kollisionsrechts für unionale Sachnormen im Vordergrund („unionsrechtsbezogenes
1041
So aber Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 311. Im Ansatz ähnl. Magnus/Mankowski, ZVglRWiss 103 (2004), 131, 133. 1043 Von dogmatischen Verkrustungen und Einseitigkeitsdogmen weitaus weniger belastet, scheut er sich sogar nicht, etwa in Gestalt des Art. 6 Rom II-VO auch herkömmliches „Eingriffsrecht“ allseitig zu regeln (siehe hierzu bereits ausf. im 4. Kapitel unter C.IV.2.d.) 1044 So wurde etwa ausf. dargelegt, dass das Forum ein- oder allseitige Bündelungszustände auch auf bestimmte Subjekte (insbesondere öffentliche oder private) beschränken kann. Gleichermaßen möglich ist es, allseitige Bündelungen auf bestimmte Staaten zu begrenzen oder bezüglich einzelner Staaten eine weitergehende oder restriktivere Fremdrechtsanwendung anzuordnen (siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel). 1045 Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 1994, S. 451, Rn. 1071; Jayme, IPRax 2000, 562, 562; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 307; Leible, Rom I und Rom II, 2009, S. 9; Roth, EWS 2011, 314, 326; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 149 ff.; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 327; Schilling, ZEuP 2014, 843, 851. Siehe zum „Scheinbinnenmarktgeschäft“ auch Basedow, in: FS Reichert-Facilides, 1995, S. 32. – Auch Mankowski, in: FS Schurig, 2012, S. 168 betont die Fähigkeit des Bündelungsmodells, mit der unionalen und nationalen Ebene des Kollisionsrechts zurecht zu kommen. 1042
E. Das Binnenmarktkollisionsrecht
223
Kollisionsrecht“), 1046 sondern die Eigenheiten der Berufung eigenen und unionalen Sachrechts zwischen den Mitgliedstaaten.1047 Das Kennzeichen des Binnenmarktkollisionsrechts ist die besondere Beeinflussung der kollisionsrechtlichen Interessenlage durch Unionszwecke wie dem Binnenmarktziel. 1048 Ein prominentes Beispiel für eine Norm des Binnenmarktkollisionsrechts ist der bereits genannte Art. 3 Abs. 4 Rom I-VO. 1049 Des Weiteren lassen sich auch im besonderen Sekundärrecht einige Fälle nachweisen. 1050 Schließlich ist auch die einheitliche Berufung desselben Sachrechts in vollharmonisierten Bereichen eine Frage des Binnenmarktkollisionsrechts. 1051 Im Folgenden sind einige weitere Einzelfragen des Binnenmarktkollisionsrechts näher zu betrachten.
1046 Unionsrechtsbezogenes Kollisionsrecht gilt schließlich auch gegenüber Drittstaaten; Binnenmarktkollisionsrecht dagegen nur zwischen den Mitgliedstaaten. 1047 Diese Abgrenzung hebt auch hervor: Freitag/Leible, RIW 2001, 287, 295. 1048 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 149 ff. 1049 Siehe hierzu auch Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 307; Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 31. 1050 So verhalf etwa der Art. 6 der VO Nr. 3118/93 den Transportrechtsbestimmungen des Aufnahmestaats zum Durchbruch gegen das Recht des Herkunftslands (siehe hierzu Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 13; Staudinger, IPRax 2001, 183, 184; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 112, welche dies als Fall einer „Eingriffsnorm“ einordnen). Auch die Behandlung des Internationalen Gesellschaftsrechts durch den EuGH ist als Binnenmarktkollisionsrecht einzuordnen (siehe hierzu ausf. Weller, ZGR 2010, 679, 697). Zu weiteren Fällen: Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 133; Roth, EWS 2011, 314, 325. 1051 Siehe zur Entbehrlichkeit der kollisionsrechtlichen Entscheidung im Falle harmonisierten Sachrechts: Zweigert/Drobnig, RabelsZ 29 (1965), 146, 148; Langen, NJW 1969, 358, 358; Neuhaus, RabelsZ 35 (1971), 401, 408; Gamillscheg, RabelsZ 37 (1973), 284, 296; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 51 (unter dem Gesichtspunkt eines Welteinheitsrechts); Siehr, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 105, 125 (zur lex mercatoria); Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 92; Peine, in: FS Martiny, 2014, S. 958; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 2, Rn. 55, 88 ff.; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 5; Schinkels, in: Stürner (Hrsg.), Vollharmonisierung im Europ. Verbraucherrecht, 2010, S. 122; Stürner, in: Stürner (Hrsg.), Vollharmonisierung im Europ. Verbraucherrecht, 2010, S. 17. – Ähnl. mit Blick auf „Eingriffsnormen“: Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 1994, S. 340, Rn. 727; Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 397; Schlussantrag GA Wahl vom 15.05.2013, C-184/12 Slg. I-2013, 301 = ECLI:EU:C:2013:301, Rn. 42; Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 150.
224
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
I. Anwendungspflicht im Hinblick auf mitgliedstaatliche „Eingriffsnormen“? Dass das Recht fremder Mitgliedstaaten anders zu behandeln ist als Drittstaatenrecht, zeigt sich besonders plastisch an der Diskussion, ob „Eingriffsnormen“ betroffener Drittmitgliedstaaten durch das (mitgliedstaatliche) Forum generell anzuwenden sind.1052 Exkurs: So befürworten einige Autoren eine Pflicht zur Anwendung der Eingriffsnormen dritter Mitgliedstaaten aus dem Grundsatz der Unionstreue. 1053 Die Gegner einer Anwendungspflicht kraft Unionsstreue führen zumeist an, dass diese nur akzessorisch zu Unionszielen Wirksamkeit entfalten könne oder aber gar nicht horizontal zwischen den Mitgliedstaaten wirke.1054 Einige Stimmen möchten daher auf der Grundlage der Akzessorietät der Unionstreue erst in Verbindung mit der aus den Grundfreiheiten fließenden Pflicht zur Ermöglichung des Marktzugangs die Anwendung mitgliedstaatlicher „Eingriffsnormen“ ermöglichen.1055 Schließlich wird häufig auch mit der europäischen Verfahrens- und Zuständigkeitskonzentration argumentiert, welche zur Gewährleistung der Anerkennungsfähigkeit eines Urteils die Berücksichtigung aller berührten mitgliedstaatlichen „Eingriffsnormen“ erfordere.1056 Der EuGH hat hingegen in der Entscheidung Nikiforidis eine Anwendungspflicht aus der Unionstreue abgelehnt, da ansonsten der abschließende Charakter des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO umgangen werde. 1057 Jedoch erscheint der Verweis des EuGH auf die Abschließ-
1052
Ein entsprechender Formulierungsvorschlag findet sich bei Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 191. 1053 Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 100; Anderegg/Berg, RabelsZ 52 (1988), 256, 267; v.Wilmowsky, Europäisches Kreditsicherungsrecht, 1996, S. 73; SchmidtKessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 64. Auch der öst.OGH sympathisiert mit dem Gedanken einer Anwendung mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen aufgrund der Unionstreue (öst.OGH, Urt. v. 08.03.2012 – 2Ob122/11x, JBl 2013, 362, Rn. 5). 1054 v.Wilmowsky, Europäisches Kreditsicherungsrecht, 1996, S. 71; Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 397; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 117 f.; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 62; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 332 f.; Martiny, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 32; Mankowski, IPRax 2016, 485, 488; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 138 ff. Siehe zur Anerkennung einer horizontalen Wirkung der Unionstreue: Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 112; Roth, EWS 2011, 314, 326. 1055 Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 321, 397 f.; ähnl. Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 114; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 137. Hiergegen überzeugend Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 300 ff. 1056 Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 398; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 114; Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 184; Roth, in: FS Immenga, 2004, S. 346; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 140 ff. Dagegen Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 142. 1057 EuGH, Urt. v. 18.10.2016 – C-135/15, ECLI:EU:C:2016:774 (Nikiforidis), Rn. 54; auf der Grundlage des Schlussantrags GA Szpunar v. 20.04.2016, C‑135/15, ECLI:EU:C:2016:281, Rn. 114 ff. Ähnl. auch Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 112; Martiny, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 32. Siehe hierzu auch Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 328.
E. Das Binnenmarktkollisionsrecht
225
lichkeit des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO wenig tragfähig, ist die Unionstreue doch als primärrechtliches und damit ranghöheres Leitprinzip durchaus dazu in der Lage, Sekundärrecht zu korrigieren.1058
Freilich scheitert dieser Streit im hier vertretenen Modell bereits an der Tauglichkeit des Gegenstands der „Eingriffsnorm“. Er weist jedoch auf eine besondere europäische Teleologie hin: Die Abschaffung des Exequaturverfahrens und die Solidaritätspflichten zwischen den Mitgliedstaaten führen zu einer besonderen kollisionsrechtlichen Interessenlage im Binnenmarktfall, die zur Notwendigkeit einer besonderen Berücksichtigung des Rechts aller berührten Mitgliedstaaten führen kann. 1059 Einer primärrechtlichen Herleitung einer solchen Anwendungspflicht bedarf es im Bereich des unionalen Kollisionsrechts nicht. Denn nach der hier fortgeführten Ansicht Köhlers ist im Anwendungsbereich des europäischen Kollisionsrechts eine Fortentwicklung und Ausdifferenzierung ausschließlich mit unionalen (Spezial-)Kollisionsnormen durchzuführen. Da damit das europäische Kollisionsrecht selbst die kollisionsrechtliche Verweisung ausspricht, sind alle Mitgliedstaaten hieran gebunden. 1060 Dies führt dazu, dass auch Bestimmungen dritter Mitgliedstaaten im Bereich des europäischen Kollisionsrechts angewandt werden, sofern eine europäische (Spezial-)Kollisionsnorm hierauf zeigt. Dies zeigt das folgende Beispiel: Man nehme an, ein Architekt erbringt in Frankreich eine Planungsleistung für ein Gebäude in Deutschland. Infolge einer Rechtswahl stellt das niederländische Recht die lex causae. Käme man nach einer Abwägung der kollisionsrechtlichen Interessen nun zu dem vertretbaren Ergebnis, dass das Preis- und Gebührenrecht als rechtswahlfeste europäische Spezial-Kollisionsnorm jedenfalls innerhalb des Binnenmarkts nach dem Ort der Dienstleistung anzuknüpfen sei, so wäre bei niederländischer lex causae das „drittstaatliche“ französische Gebührenrecht anzuwenden. Dies ist schlicht die Folge der sekundärrechtlichen Verortung der ermittelten Spezial-Kollisionsnorm; einer Bemühung der Unionstreue bedarf es nicht.
Die Lösung einer unionalen Verortung der ermittelten (Spezial-)Kollisionsnorm steht freilich im Bereich einer fortbestehenden nationalen Kollisionsrechtskompetenz nicht zur Verfügung. Hier stellt sich weiterhin die Frage, ob das Recht dritter Mitgliedstaaten allein aufgrund unionsverfassungsrechtlicher Prinzipien zu berücksichtigen ist. Mit anderen Worten: Ob die Mitgliedstaaten
1058 Ähnl. bereits Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 114. Sofern man den Eingriffsnormklauseln entgegen der hier vertretenen Ansicht Aussagekraft und dem Art. 9 Abs. 3 Rom IVO insofern eine Sperrwirkung zukommen lassen möchte, wäre dies in jedem Fall durch die übergeordneten Verfassungssätze des Primärrechts zu kontrollieren. Hierbei erscheint es nicht fernliegend, eine Sperrwirkung gegenüber mitgliedstaatlichen „Eingriffsnormen“ als Verstoß gegen die Unionstreue i.V.m. den Grundfreiheiten zu betrachten (so auch Roth, EWS 2011, 314, 326; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 329 ff.; sympathisierend Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 123). 1059 Ähnl. Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 314 ff. 1060 Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 311 ff.
226
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
eine generelle Pflicht zur Formulierung von Fremdrechtsverweisungen zugunsten des Rechts betroffener Drittmitgliedstaaten trifft. Eine solche Pflicht erschiene angesichts der europäischen Solidaritätspflichten und des Verzichts auf das Exequaturverfahrens durchaus sinnvoll. Zudem wird die Fremdrechtsberufung in einem einheitlichen Rechtsraum wie der EU deutlich erleichtert, da zwischen den Mitgliedstaaten ein gewisses Vertrauen in die Sachgerechtigkeit mitgliedstaatlicher Rechtsinstitute entsteht. 1061 Der „Sprung ins Dunkle“ findet nicht mehr statt, 1062 weshalb der synthetisierte Rechtssatz auch einfacher in die eigene Rechtsordnung integrierbar ist. Man muss nur noch in seltenen Fällen damit rechnen, dass die in Bezug genommene Ratio des mitgliedstaatlichen Fremdrechts einen Verstoß gegen den ordre public erregt.1063 Zudem werden die mitgliedstaatlichen Rechtssätze aufgrund der europäischen Rechtsgemeinschaft häufig stark vergleichbare kollisionsrechtliche Interessen implizieren, sodass neben dem erhöhten Vertrauen in die Sachgerechtigkeit des erlassenen Rechts auch die Aufnahme in eine allseitige Bündelung erleichtert wird.1064 Obwohl die erleichterte Berufung des Rechts dritter Mitgliedstaaten damit in vielen Fällen durchaus sinnvoll erscheint, ist der Grundsatz der Unionstreue insgesamt zu wenig fassbar zur Etablierung konkreter Anwendungspflichten.1065 Es bliebe völlig unklar, in welchem Umfang eine Anwendung drittmitgliedstaatlicher Bestimmungen zu fordern wäre. Man kann kein Binnenmarktkollisionsrecht aus einer so generellen Maxime entwickeln. 1061
Ähnl. bereits Vischer, in: FG Gerwig, 1960, S. 181; Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 67; ähnl. auch Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 828; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 40; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 143; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 293 f.; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 15. – Zur EU als einheitlicher Rechtsraum siehe auch Kohte, EuZW 1990, 150 f.; Michaels/Kamann, JZ 1997, 601, 603; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 307; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 46; ähnl. die Kommission, in: KOM(2005), 650 endg. (Vorschlag Rom I), S. 8. – Eine interessante historische Parallele weist Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 61 nach: Aufgrund der engen wirtschaftlichen, sprachlichen und kulturellen Verflechtung zwischen den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts ließ sich demnach auch hier eine deutlich weitergehende Anwendung fremden Rechts beobachten. 1062 Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 237 ff., 396. 1063 Dies zeigt sich auch darin, dass in Binnenmarktsachverhalten zunehmend eine Rücknahme, eine nur antragsweise Berufung oder ein völliger Verzicht auf den ordre public gefordert wird: Heinze, in: FS Kropholler, 2008, S. 126; Leible, Rom I und Rom II, 2009, S. 68. Skeptisch Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 227 f. Dies antizipierte bereits: Schnitzer, Handbuch des IPR, 1937, S. 109; Steindorff, EuR 1981, 426, 440. Siehe zur Rolle des ordre public sogleich im 6. Kapitel. 1064 Ähnl. Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 879. 1065 Ähnl. Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 309.
E. Das Binnenmarktkollisionsrecht
227
Im Rahmen der nationalen Kollisionsrechtskompetenz besteht damit keine allgemeine Pflicht zur Berufung drittmitgliedstaatlichen Rechts. Damit ist jedoch nichts zu etwaigen Berufungspflichten aus sonstigem Primärrecht gesagt, etwa infolge grundfreiheitlicher Gebote oder sachbereichsspezifischer Prinzipien.1066 Ein solches grundfreiheitlich untermauertes Gebot zur Anwendung mitgliedstaatlichen Rechts ist etwa das Herkunftslandprinzip, welches im nächsten Abschnitt näher betrachtet wird. II. Das Herkunftslandprinzip Es sei daran erinnert, dass sich das auf Waren und Dienstleistungen bezogene Herkunftslandprinzip im Anschluss an Basedow auch als Kollisionsnorm formulieren lässt: „Die Vermarktung von Waren und Dienstleistungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterliegt […] dem Recht des Herkunftslandes oder dem Recht des Bestimmungslandes, je nachdem welches für den Anbieter das günstigere ist.“ 1067
Damit entpuppt sich das Herkunftslandprinzip bei näherem Hinsehen als Binnenmarktkollisionsnorm. Auch wenn man den Fokus weniger auf die Anwendung des Rechts des Herkunftslandes als auf die Nichtanwendung eigener, strengerer Vorschriften legen möchte, stellt dies die Kollisionsrechtlichkeit dieser Überlegungen nicht infrage. 1068 III. Überschießende Umsetzungen Ebenfalls als binnenmarktkollisionsrechtliche Frage einzuordnen ist die Diskussion, ob ein Mitgliedstaat richtlinienbasiertes nationales Recht umsetzen darf, welches über den in der Richtlinie normierten Mindeststandard hinausgeht.
1066
Auf die Einwirkung höherrangigen Rechts auf die Kollisionsnormbildung ist im nächsten Kapitel ausführlich einzugehen. 1067 Basedow, RabelsZ 59 (1995), 1, 25. Dies ist auf verwandte sekundärrechtliche Ausformungen des Herkunftslandprinzips übertragbar; siehe diesbezüglich etwa zur E-Commerce-RL sowie zur Kulturgüterschutz-RL: Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 115 f. – Der kollisionsrechtliche Charakter des Herkunftslandprinzips kann wie besehen auch durch eine „sachrechtliche Berücksichtigung“ nicht infrage gestellt werden (so jedoch Bitterich, Neuregelung des Internationalen Verbrauchervertragsrechts, 2003, S. 76 ff.), da insofern stets auf den normativen Gehalt der Vorschriften des Herkunftslandes abgestellt wird. Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter C. 1068 In dieser Tendenz etwa Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 136. Insbesondere beim ordre public wird sich zeigen, dass die Negierung einer Bestimmung notwendig mit der Berufung einer Ersatznorm einhergeht (siehe hierzu sogleich im 6. Kapitel).
228
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
So wurde im Rahmen der Eingriffsnormdiskussion teilweise vertreten, dass nur der Richtlinienstandard selbst durchgesetzt werden dürfe. 1069 Indessen erlaubte der EuGH in der Entscheidung Unamar eine Durchsetzung der „überschießenden“ nationalen Umsetzung als Eingriffsnorm, sofern dies aus der Perspektive des Forums unerlässlich ist. 1070 Übersetzt man die Eingriffsnormdiskussion richtigerweise als interessengerichtete Bildung spezieller Kollisionsnormen, so ist der Unamar-Entscheidung zuzustimmen. Mit der Wahl der Mindestangleichung beschränkt sich der europäische Gesetzgeber auf einen Mindeststandard, sodass darüber hinaus gehendes, mitgliedstaatliches Recht grundsätzlich nicht vom europäischen Regelungswillen erfasst ist. Daher muss den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet bleiben, die Schutzzwecke der Richtlinie auch mit kollisionsrechtlichen Mitteln stärker zu betonen. Im Falle gewichtiger Abweichungen vom Richtlinienstandard im nationalen Recht ist daher nicht auszuschließen, dass die kollisionsrechtliche Interessenlage auch im Binnenmarktsachverhalt dermaßen von den Implikationen der Richtlinie abweicht, dass eine eigene Norm auch gegenüber anderen Mitgliedstaaten mithilfe einer (Spezial-)Kollisionsnorm durchsetzbar erscheint.1071
1069
Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 108; Remien, in: FS von Hoffmann, 2011, S. 340. 1070 EuGH, Urt. v. 17.10.2013 – C-184/12, ECLI:EU:C:2013:663 (Unamar), Rn. 52; Schlussantrag GA Wahl vom 15.05.2013, C‑184/12, ECLI:EU:C:2013:301, Rn. 41. Siehe auch Lüttringhaus, IPRax 2014, 146, 150; Schilling, ZEuP 2014, 843, 849 f.; ähnl. wohl auch Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 18; Martiny, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 29a. 1071 I.E. wohl auch Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 153, wenngleich noch restriktiver. Die Notwendigkeit einer gewichtigen Abweichung des überschießenden Teils von der kollisionsrechtlichen Regelbehandlung ist zugleich eine Folge des kollisionsrechtlichen Trägheitsprinzips (siehe hierzu oben unter A.III). – Eine hier nicht zu vertiefende Frage ist die kollisionsrechtsmethodische Struktur dieser Fallgruppe. Denn infolge des Bestehens der Unionskompetenz im jeweiligen Bereich der Mindestangleichung wird hier im Regelfall auch die kollisionsrechtliche Kompetenz bei der Union liegen (siehe hierzu ausf. im 4. Kapitel unter D.). Daher könnte die Unamar-Entscheidung als kompetenzielle Bereichsausnahme zugunsten nationaler, auf überschießende Bestimmungen zeigender Kollisionsnormen verstanden werden. Oder man bejaht das Bestehen einer Unionskompetenz auch hinsichtlich des überschießenden Teils und versteht den Unamar-Satz demzufolge als rangkollisionsrechtliche Ausnahme zugunsten des nationalen Rechts. Schließlich könnte auch das Bestehen einer Unionskompetenz im Bereich des „überschießenden“ Teils von vorneherein abgelehnt werden.
E. Das Binnenmarktkollisionsrecht
229
IV. Durchsetzung der eigenen Richtlinientransformation gegen einen nicht oder mangelhaft umsetzenden Mitgliedstaat Ein ebenfalls dem Binnenmarktkollisionsrecht zuzuordnendes Problem ist die Frage, ob Richtlinientransformationsrecht gegen einen Mitgliedstaat durchgesetzt werden kann, welcher dieselbe Richtlinie nicht oder nur mangelhaft umgesetzt hat. Mit anderen Worten: Kann sich ein Mitgliedstaat zum Wächter über die Umsetzung unionaler Vorgaben aufschwingen? Dieses Problem wurde erstmals in den Gran Canaria-Fällen relevant. Hierbei ging es infolge der nicht rechtzeitigen Umsetzung von Verbraucherschutzrichtlinien durch Spanien um die Frage, ob ein mitgliedstaatliches Forum sein Transformationsrecht gegen eine spanische lex causae durchsetzen könne.1072 Einige Stimmen wollten im Zuge dessen deutsches Verbraucherschutzrecht als „Eingriffsnorm“ heranziehen. 1073 Teilweise wurde das spanische Recht auch als ordre public-widrig abgewiesen 1074 oder die Wahl spanischen Rechts als Fall der Gesetzesumgehung eingeordnet 1075. Nachdem Spanien die Verbraucherschutzrichtlinie umgesetzt hatte, setzte sich das Problem in den Isle of Man-Fällen fort.1076 Ein neuer Ansatz war hierbei die Durchsetzung der Gedanken des Haustürwiderrufsrechts mithilfe der Einordnung des § 138 BGB als „Eingriffsnorm“. 1077
1072
Ausf. zum Sachverhalt Kohte, EuZW 1990, 150, 151 f. Eine Übersicht der Lösungsansätze findet sich bei: Stürner, in: FS von Hoffmann, 2011, S. 467 f. 1073 So etwa Kohte, EuZW 1990, 150, 153 f. Dagegen Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 1994, S. 409 f. – Generell die Berufung des ordre public bei Nichtumsetzung oder mangelhafter Umsetzung befürwortend: Schulze, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 21 Rom I-VO, Rn. 4. 1074 Siehe hierzu Mäsch, Rechtswahlfreiheit und Verbraucherschutz, 1993, S. 121; Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 1994, S. 415, 429 ff.; ähnl. Pfeiffer, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 36. 1075 Kohte, EuZW 1990, 150, 151. 1076 Siehe hierzu: Rauscher, EuZW 1996, 650 ff. Ebke, IPRax 1998, 263 ff. Rauscher, IPR, 4. Aufl. 2012, § 10, Rn. 1231. 1077 LG Berlin , Urt. v. 09.11.1994 – 22 O 319/94, NJW-RR 1995, 754, 755; Rauscher, EuZW 1996, 650, 652 m.w.N.; Ebke, IPRax 1998, 263, 266. Dieser Versuch lässt sich mit der Beschränkung der „Eingriffsnorm“ auf gemeinwohlorientierte Zwecksetzungen erklären, weshalb viele Autoren das Haustürwiderrufsgesetz nicht als „Eingriffsnorm“ einordnen wollten. – Gegen diesen Ansatz: Mankowski, RIW 1996, 8 ff.; Rauscher, EuZW 1996, 650, 652 f.; Rauscher, IPR, 4. Aufl. 2012, § 10, Rn. 1271; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 147. Auch der BGH lehnte schließlich eine Einordnung des § 138 BGB als „Eingriffsnorm“ ab: BGH, Urt. v. 19.03.1997 – VIII ZR 316/96, BGHZ 135, 124 = NJW 1997, 1697; ausf. hierzu Ebke, IPRax 1998, 263, 266 ff.
230
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
Zwar haben sich die Gran Canaria- und Isle of Man-Fälle heute infolge legislativer Korrekturen erledigt; 1078 die Situation einer nicht erfolgten oder mangelhaften Richtlinienumsetzung innerhalb der lex causae bleibt indessen nach wie vor regelungsbedürftig. Es ist bedauerlich, dass dies in den Rom-VO nicht in Angriff genommen wurde. 1079 Da eine nicht oder mangelhaft umgesetzte Richtlinie infolge des Verbots einer horizontalen Drittwirkung nur einen Staatshaftungsanspruch bewirkt, ist eine Durchsetzbarkeit einer eigenen Richtlinientransformation gegen eine nicht umsetzende lex causae abzulehnen. 1080 Das Verbot der horizontalen Drittwirkung möchte einen solchen mitgliedstaatlichen Übergriff in die Wächterfunktion der Kommission und des EuGH gerade verhindern. Eine Durchsetzung eigenen Rechts allein aufgrund einer mangelhaften oder nicht erfolgten Richtlinientransformation innerhalb der lex causae ist daher abzulehnen. 1081 V. Zwischenergebnis Damit gibt es im Binnenmarktsachverhalt keine generelle, primärrechtliche Pflicht zur Anwendung des Rechts eines berührten Mitgliedstaates. Besondere unionsrechtliche Zielsetzungen sowie das Bestehen eines einheitlichen europäischen Rechtsraums werden jedoch häufig zu einer erleichterten Formulierung von Fremdrechtsverweisungen und allseitigen Kollisionsnormen führen. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist das Herkunftslandprinzip.
1078
Siehe hierzu v.Wilmowsky, ZEuP 1995, 735, 761; Rauscher, IPR, 4. Aufl. 2012, § 10, Rn. 1231. 1079 So auch Schinkels, in: Stürner (Hrsg.), Vollharmonisierung im Europ. Verbraucherrecht, 2010, S. 121. 1080 So auch Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 1994, S. 435; Michaels/Kamann, JZ 1997, 601, 606 f.; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 252; Stürner, in: FS von Hoffmann, 2011, S. 468; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 152 f.; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 37, Rn. 19.; Martiny, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 30; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 212. – Dagegen Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 35; Ebke, IPRax 1998, 263, 265; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 308; Nemeth/Rudisch, ZfRV 2001, 179, 183; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 158 ff. – Siehe zum unionsrechtlichen Verbot der horizontalen Drittwirkung etwa Mörsdorf, EuR 2009, 219 ff. 1081 Möglich bleibt freilich eine Kontrolle durch den ordre public; siehe hierzu sogleich im 6. Kapitel.
F. Die Fruchtbarmachung der Eingriffsnormdiskussion
231
F. Die Fruchtbarmachung der Eingriffsnormdiskussion für die Ausbildung von Spezial-Kollisionsnormen F. Die Fruchtbarmachung der Eingriffsnormdiskussion
Die obigen Ergebnisse konnten bereits illustrieren, dass verschiedene Aspekte der Diskussion um die „Eingriffsnorm“ – trotz ihrer fehlenden Begrenzbarkeit – für die Fortbildung des Kollisionsrechts nutzbar gemacht werden konnten: So dokumentiert der Ingmar-Fall anschaulich die Möglichkeit der rechtsfortbildenden Entwicklung einer unionalen Spezial-Kollisionsnorm. Zentrale Elemente des „Binnenmarktkollisionsrechts“ wurden sogar schwerpunktmäßig aus der Eingriffsnormdiskussion gewonnen. Die Früchte der Eingriffsnormdiskussion stellen insofern einen Rohstoff für die Fortentwicklung des Kollisionsrechts dar. Dieser Gedanke ist im Folgenden weiter zu verfolgen. I. Die Charakterisierung als „Eingriffsnorm“ als Ansatzpunkt der Bildung spezieller Kollisionsnormen So ist die Charakterisierung einer Bestimmung als „Eingriffsnorm“ zunächst als Sachnormbereich zu begreifen, in welchem das Rechtsgefühl eine von der Regelverweisung abweichende Behandlung für nötig erachtet. Dies kann auf eine gewichtige Abweichung der kollisionsrechtlichen Interessenlage hindeuten, sodass bisherigen Einordnungen als „Eingriffsnorm“ 1082 eine Signalfunktion zukommt.
1082
Ausführliche Überblicke bzgl. „Eingriffsnormen“ des dt. Rechts finden sich u.a. bei: Freitag, in: Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht, 8. Aufl. 2015, Rn. 5.60 ff. Martiny, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 58 ff.; Thorn, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 34 ff.; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 221 ff.; Spickhoff, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 18 ff. Speziell zum Internat. Deliktsrecht: Engel, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 16 Rom II-VO, Rn. 9. Zu ausl. „Eingriffsnormen“: Kratz, Ausländische Eingriffsnorm, 1986, S. 153 ff.
232
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
Im nationalen Recht wurde eine Durchsetzung als „Eingriffsrecht“ zuvorderst in den folgenden Bereichen angenommen: Im Schwächerenschutz,1083 im Handelsvertreterrecht1084, im Arbeitnehmerentsenderecht,1085 im Preis- und Gebührenrecht,1086 im Außenwirtschaftsrecht,1087 in weiten Teilen des Arbeitsrechts,1088 im Teilzeitwohnrecht,1089 im Währungs- und
1083
Weite Teile des Schwächerenschutzes sind mittlerweile in den besonderen Anknüpfungen der Rom I-VO niedergelegt und exemplifizieren hierdurch zugleich die Integrierbarkeit ehemaligen „Eingriffsrechts“ als allseitige Spezial-Kollisionsnorm des IPR (siehe bereits im 4. Kapitel unter C.IV.2.d. Diskutiert wird eine Einordnung als „Eingriffsnorm“ noch im Wohnraummietrecht: Roth, in: Reichert-Facilides/Basedow (Hrsg.), Aspekte des internationalen Versicherungsvertragsrechts, 1994, S. 33; Roth, RIW 1994, 275, 278; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 26; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 144 ff.; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 155. – Auch die Diskussion um die Durchsetzung des AGBRechts als „Eingriffsnorm“ hat sich durch die besondere Anknüpfung des Verbrauchervertrags weitgehend erledigt. Siehe hierzu etwa im Hinblick auf § 12 AGBGB a.F.: Mühl, in: FS Mühl, 1981, S. 451; Grundmann, IPRax 1992, 1, 2; Roth, RIW 1994, 275, 277; Benecke, IPRax 2001, 449, 451. Zum allseitigen Ausbau des § 12 AGBGB a.F.: Coester, ZVglRWiss 82 (1983), 1, 11; Epe, Funktion des Ordre public, 1983, S. 180. 1084 Siehe hierzu bereits oben unter D.II.1. 1085 Junker, IPRax 2000, 65, 67 m.w.N.; Benecke, IPRax 2001, 449, 451; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 176; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 54; Deinert, RdA 2009, 144, 152. – Zu § 2 AEntG: Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 14; Rauscher, IPR, 4. Aufl. 2012, § 10, Rn. 1274; Schlachter, in: ErfK, 16. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 21. 1086 Martiny, in: FS Heldrich, 2005, S. 917; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 54; von Obergfell, in: FS Martiny, 2014, S. 486. Siehe außerdem die Erörterungen in diesem Kapitel unter A. sowie im 4. Kapitel unter A.III.1. 1087 Roth, in: Reichert-Facilides/Basedow (Hrsg.), Aspekte des internationalen Versicherungsvertragsrechts, 1994, S. 33; Kindler, Einführung in das neue IPR, 2009, S. 66; Weller, ZGR 2010, 679, 704; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 28; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 183 ff.; Mankowski, IPRax 2016, 485. 1088 Roth, in: Reichert-Facilides/Basedow (Hrsg.), Aspekte des internationalen Versicherungsvertragsrechts, 1994, S. 33; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 265 ff. Zum Kündigungsschutzrecht: Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 181 ff.; Deinert, RdA 2009, 144, 152. Zu § 613a BGB: Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 186 ff.; dagegen Deinert, RdA 2009, 144, 152. Zum Entgeltfortzahlungs- und Mutterschutzrecht: Franzen, IPRax 2003, 239, 242; Deinert, RdA 2009, 144, 152; Gussen, in: BeckOK-ArbR, 39. Aufl. 2016, § 2 AEntG, Rn. 12. Zum Teilzeitbefristungsrecht: Schneider, NZA 2010, 1380, 1382. Zu Arbeitsbedingungen in Tarifverträgen: Deinert, in: FS Martiny, 2014, S. 301. 1089 Benecke, IPRax 2001, 449, 451; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 54.
F. Die Fruchtbarmachung der Eingriffsnormdiskussion
233
Devisenrecht,1090 im Kulturgüter- und Denkmalschutzrecht1091 und im Datenschutzrecht1092. Häufiger genannte Einzelnormen sind auch die sozialrechtliche Pflicht zur Beschäftigung behinderter Menschen,1093 die Vererbung nach der Höfeordnung, 1094 das Erfolgshonorarverbot1095 sowie Regelungen des Staatsnotstands1096.
In diesen Sachnormbereichen ist damit davon auszugehen, dass die kollisionsrechtliche Interessenlage der entsprechenden (Element-)Kollisionsnorm eine spezielle Durchsetzung gegen die Regelverweisung gebietet. Indessen sei daran erinnert, dass ein bloßer Rückzug auf vermeintlich besonders dominante Gemeinwohlzwecke nicht ausreicht; vielmehr bedarf es einer umfassenden Ermittlung der kollisionsrechtlichen Interessenlage und einer hierauf aufbauenden Formulierung eines passenden Anknüpfungsmoments. II. Die Vermutung häufiger Einseitigkeit im Bereich der „Eingriffsnormen“ Zwar musste der „besondere Gemeinwohlbezug“ als definierendes Merkmal der Eingriffsnorm wie besehen abgelehnt werden. Indessen ist zu vermuten, dass staats-, wirtschafts- oder sozialpolitische Normen besonders häufig einseitige, unvollkommen-allseitige oder fremdseitige Kollisionsnormen implizieren. Denn es ist anzunehmen, dass derartige Zweckrichtungen seltener in vergleichbarer Form auch bei fremden Sachnormen festgestellt werden können; es wird daher häufig an der zur Allseitigkeit notwendigen Übereinstim-
1090
Ebke, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Anh. zu Art. 9 Rom IVO, Rn. 2; Bunte/Lwowski/Schimansky, Bankrechts-Hdb. I, 4. Aufl. 2011 Rn. 173. 1091 Martiny, IPRax 2012, 559, 562 ff. 1092 VG Schleswig Urt. v. 14.02.2013 – 8 B 61/12, BeckRS 2013, 46930. Andere Autoren betrachten das auf deutsches Datenschutzrecht zeigende Kollisionsrecht schlicht als lex specialis gegenüber dem allgemeinen Kollisionsrecht (Voigt, ZD 2014, 15, 16; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 51 ff.). Dies exemplifiziert den hier vertretenen Ansatz der Rückführung des „Eingriffsrechts“ auf Spezial-Kollisionsnormen ein weiteres Mal. 1093 Deinert, RdA 2009, 144, 152. 1094 Siehr, IPRax 1973, 466, 470; Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 375; v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 183, Rn. 19; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 82; ähnl. v.Mohrenfels, in: FS Martiny, 2014, S. 597. Auf eine spezielle Durchsetzung von Sondererbfolgen wie der Höfeordnung zielt auch Art. 3a EGBGB sowie Art. 30 EuErbVO ab. 1095 Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 160. 1096 Pfeiffer, ZVglRWiss 102 (2003), 141, 175 ff.; FS Nobbe, 2009, S. 510 ff.; Weller, Grenze der Vertragstreue, 2013, S. 42.
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5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
mung der (autonom ermittelten) kollisionsrechtlichen Interessenlagen mangeln1097. Es sei indessen nochmals betont, dass eine Übereinstimmung der Interessenlagen nur die Allseitigkeit bedingt, nicht jedoch die Fremdrechtsberufung als solche. 1098 Innerhalb eines Staaten(ver)bunds wie der EU sind die staats-, wirtschaftsund sozialpolitischen Zielsetzungen indessen zumeist harmonisiert oder vergleichbar. Daher ist in diesem Fall auch im Bereich solcher Zweckrichtungen häufiger von der Möglichkeit allseitiger Bündelungszustände auszugehen. 1099 III. Die Übersetzung spezieller Festlegungen des Inlandsbezugs von „Eingriffsnormen“ als Anknüpfungsmoment Das Kriterium eines ausreichenden Inlandsbezugs, welches mit großer Einhelligkeit für die Durchsetzung in- und ausländischer „Eingriffsnormen“ verlangt wird,1100 kann ebenfalls für die Kollisionsnormbildung fruchtbar gemacht werden. Das Kriterium eines Inlandsbezugs ist als solches zwar wenig wert, wiederholt es doch nur die zentrale kollisionsrechtliche Maxime der engen Verbindung sowie das für einseitige Kollisionsnormen zu beachtende Erfordernis eines „genuine link“.1101 Abstrakt ist damit also nichts gewonnen. Der im Ein-
1097
Siehe hierzu oben unter C.I. Siehe hierzu oben unter C.III. 1099 Ähnl. Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 828 ff. 1100 Wengler, ZVglRWiss 54 (1941), 168, 170; Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 67; Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 189; Hentzen, RIW 1988, 508, 510; Becker, Theorie und Praxis der Sonderanknüpfung, 1991, S. 212; BGH, Urt. v. 19.03.1997 – VIII ZR 316/96, BGHZ 135, 124 = NJW 1997, 1697, 1699; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 303; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 70, 315; Franzen, IPRax 2003, 239, 242; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 106; Junker, in: FS 50 Jahre BAG, 2004, S. 1214; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 61; Deinert, RdA 2009, 144, 150; Magnus, IPRax 2010, 27, 41; Martiny, IPRax 2012, 559, 564; Gräf, ZfA 2012, 557, 606; Block, Die kollisionsrechtliche Anknüpfung von Individualarbeitsverträgen, 2012, S. 130 ff.; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 107; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 320; Ferrari, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 36 f.; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 82; Thorn, in: Rauscher, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl. 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 15 ff.; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 75 ff.; Spickhoff, in: BeckOKBGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 16; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 81 ff. 1101 Ähnl. auch Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 124. Siehe zum genuine link-Erfordernis bereits im 3. Kapitel unter D.I.3.a. 1098
F. Die Fruchtbarmachung der Eingriffsnormdiskussion
235
zelfall für maßgeblich erklärte Inlandsbezug gleicht jedoch einem Anknüpfungsmoment, 1102 was im Prozess der Bildung spezieller Kollisionsnormen hilfreich sein kann. 1103 So wird bereits bei Zweigert erkennbar, dass der konkret entscheidende Inlandsbezug im Rahmen der Durchsetzung in- und ausländischen Devisenrechts die (monetäre) Wertbewegung im Gebiet des Erlassstaates ist. 1104 Ebenso plastisch wird die Übersetzbarkeit des Inlandsbezugs als Anknüpfungsmoment bei Gräfe, welcher hinsichtlich „Eingriffsnormen“ des internationalen Seearbeitsrechts den Inlandsbezug durch den Flaggenstaat ausfüllt. 1105 Hieran wird schließlich auch sichtbar, dass unter dem Deckmantel des „Inlandsbezugs“ de facto bereits die Bildung von Kollisionsnormen für „Eingriffsrecht“ betrieben wird. Es wäre freilich vorteilhafter, wenn diese offen erfolgen würde. 1106 Schließlich sei nochmals darauf hingewiesen, dass die „enge Verbindung“ nur eine kollisionsrechtliche Leitschnur darstellt, die von anderen Interessen verdrängt werden kann. 1107 Das Kriterium des „Inlandsbezugs“ beschränkt insofern den kollisionsrechtlichen Interessenkanon ohne Not auf einen Teilbereich. Im Rahmen der Bildung spezieller Kollisionsnormen sind dagegen alle kollisionsrechtlichen Interessen zu beachten, also auch jene, die durch Sachnormen impliziert werden. Ein Schluss vom konkret maßgeblichen „Inlandsbezug“ der in Rede stehenden Eingriffsnorm auf das einschlägige Anknüpfungsmoment einer Spezial-Kollisionsnorm ist daher unzulässig.
1102 Schubert, RIW 1987, 729, 735. Dies wird auch sichtbar in einer Übersicht von Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 27 f. 1103 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 325. 1104 Zweigert, RabelsZ 14 (1942), 283, 293 f.; Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 127. An anderer Stelle rückt Zweigert den inländischen Anleiheort als „eigentlichen Grund für die Betätigung des Ordre-public-Ventils“ in den Vordergrund (RabelsZ 1942, S. 298). Zustimmend Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 54. 1105 Gräf, ZfA 2012, 557, 606. 1106 Siehe hierzu insb. im 4. Kapitel unter C.IV.2. 1107 Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.II.3.c.cc.
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5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
IV. Die Behandlung ausländischer „Eingriffsnormen“, insbesondere nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO Schlussendlich sind auf der Grundlage des hier vertretenen Modells auch jegliche Theorien über die schuldstatutsabhängige 1108 oder schuldstatutsunabhängige 1109 Berufung ausländischen Eingriffsrechts abzulehnen. Da die „Eingriffsnorm“ bereits als unbegrenzbar zurückgewiesen wurde, ist eine Auseinandersetzung mit der Folgefrage ihrer schuldstatutsakzessorischen Berufung unmöglich. Auch die „Kumulationstheorie“, welche Eingriffsnormen der lex causae automatisch von der Regelverweisung erfasst sehen möchte und drittstaatliches
1108 Siehe zur Schuldstatutstheorie bereits im 3. Kapitel unter A.I. Die Durchsetzung forumseigenen Eingriffsrechts möchten die Vertreter der Schuldstatutslehre im Falle des Auseinanderfallens von lex fori und lex causae zumeist mit dem „positiven“ ordre public begründen. Siehe hierzu Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 330; Schubert, RIW 1987, 729, 731; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 67; Sonnenberger, IPRax 2003, 104, 107; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 152. – Im Rahmen der in dieser Arbeit abgelehnten Prämisse einer Begrenzbarkeit der „Eingriffsnorm“ kritisieren die Schuldstatutstheorie überzeugend: Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 48; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 81; Schultsz, RabelsZ 47 (1983), 267, 276; Sonnenberger, in: FS Rebmann, 1989, S. 827; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 53; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 70; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 120; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 155; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 117 f.; Remien, in: PWW, 10. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 30. – Speziell gegen die Ungleichbehandlung in- und ausländischen „Eingriffsrechts“ durch die Schuldstatutstheorie: Schurig, in: Holl/Klinke (Hrsg.), Symposium IPR, internat. Wirtschaftsrecht, 1985, S. 73; Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 236; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 54; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 82, 102. – Diese Kritik der Schuldstatutstheorie muss sich freilich auch auf das schuldstatutarische Element der bereits angesprochenen Kumulationslösung (siehe hierzu im 1. Kapitel unter E.I.3.) erstrecken: Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 100; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 121; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 117. 1109 Vertreter einer schuldstatutsunabhängigen Sonderanknüpfung in- und ausländischen Eingriffsrechts sind u.a.: Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 192; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 210 ff.; Kreuzer, IPRax 1984, 293, 64; Radtke, ZVglRWiss 84 (1985), 325, 334; Kreuzer, Ausländisches Wirtschaftsrecht, 1986, S. 59, 96; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 83; Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 183; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 117; Roth, in: FS Kühne, 2009, S. 871; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 194, Rn. 31; Roth, in: FS Dauses, 2014, S. 318. – Zwar ist der Sonderanknüpfungslehre in ihrer Tendenz zur eigenständigen Behandlung des „Eingriffsrechts“ insofern zuzustimmen, als hierdurch eher Kollisionsnormbildung betrieben wird. Sie geht jedoch weiterhin von der Begrenzbarkeit ihres Gegenstands („Eingriffsnormen“) aus und versteckt den Normbildungsprozess in Kriterien wie dem „Inlandsbezug“ (s.o. unter F.III.).
F. Die Fruchtbarmachung der Eingriffsnormdiskussion
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Eingriffsrecht mithilfe einer „Sonderanknüpfung“ 1110 berufen will, verliert damit ihre Aussagekraft. Bedauerlich ist das nicht, denn die Frage einer abweichenden Anknüpfung bestimmter in- und ausländischer Sachnormen lässt sich allein anhand der autonom ermittelten Interessendivergenz zwischen der kollisionsrechtlichen Interessenlage der Regelverweisung und jener der betroffenen (heimischen oder fremden) Sachnorm beantworten. 1111 Es ist damit eine Frage des Einzelfalls, ob die ermittelte kollisionsrechtliche Interessenlage einer bestehenden Bündelung zugeordnet werden kann oder nicht. Somit kann auch nicht apriorisch beantwortet werden, wann ein bestimmter ausländischer Sachnormbereich der schuldvertraglichen Regelverweisung zuzuordnen ist; eine pauschale Aussage im Sinne der „Schuldstatutstheorie“ ist daher unmöglich. Es geht damit bei der Frage, ob ausländisches, gemeinwohlbezogenes Recht der Regelverweisung zuzuordnen ist, schlicht um ein Qualifikationsproblem. Sofern der betreffende Sachnormbereich vergleichbare kollisionsrechtliche Interessen impliziert, ist eine Zuordnung zur Regelverweisung möglich; wenn nicht, mag eine Zuordnung zu einer anderen Bündelung geboten sein oder aber es ist eine neue, häufig spezielle Kollisionsnorm zu bilden. 1112 Auch der Behandlung ausländischen Eingriffsrechts nach Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO muss aufgrund der Unbegrenzbarkeit ihres Gegenstandes mit Skepsis begegnet werden. Indessen weist diese Vorschrift eine Besonderheit auf. Während zwar ihr „Anknüpfungsgegenstand“ – die ausländische „Eingriffsnorm“ – nicht trennscharf beschreibbar ist,1113 ist zumindest ihr Anknüpfungsmoment von einer gewissen Klarheit: Es geht um „Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind“. 1114 Damit kann dem Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO in Anlehnung an
1110 Der Begriff der „Sonderanknüpfung“ ist eng mit der Vorstellung verbunden, dass das „Eingriffsrecht“ einem methodisch vom regulären IPR zu isolierenden Zweitsystem zugeordnet werden müsse (ähnl. Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 189 ff.). Daher sollte auf ihn verzichtet werden. 1111 Siehe insb. oben unter A. 1112 So auch Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 248; Köhler, in: Binder/Eichel (Hrsg.), Internationale Dimensionen des Wirtschaftsrechts, 2013, S. 205; Köhler, Eingriffsnormen, 2013, S. 234. Ähnl. Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 296. – Hierbei kann es freilich auch vorkommen, dass eine neugebildete Kollisionsnorm mithilfe eines abweichenden Anknüpfungsmoments auf dieselbe Rechtsordnung verweist wie die Regelverweisung. Dies ist dann aber ein Zufallstreffer, der sich durch eine Vielzahl von Beziehungen im konkreten Fall zur lex causae erklärt (so auch Schurig, RabelsZ 54 (1990), 217, 245). 1113 Siehe zur Unbegrenzbarkeit der Eingriffsnorm insb. im 4. Kapitel unter C. 1114 Dies ist auf die englische Ralli-Regel zurückzuführen, welche für schuldvertragliche Verbotsgesetze entwickelt wurde (siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter E.I.1.
238
5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
den Inhalt der Ralli-Regel1115 zumindest entnommen werden, dass der europäische Gesetzgeber die Berufung vertragsinvalidierender Verbote am Erfüllungsort als sinnvoll erachtet. Freilich beruht dies auch auf der Überlegung, dass der Erfüllungsort-Staat häufig eine nicht auszublendende Durchsetzungsmacht innehat,1116 sodass man ebenso von der Wiederholung einer ohnehin anerkannten kollisionsrechtlichen Maxime sprechen könnte. Schließlich verliert auch der Streit um die „Sperrwirkung“ des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO an Aussagekraft. 1117 Denn angesichts der Unbegrenzbarkeit der „Eingriffsnorm“ könnte die „Sperrwirkung“ allenfalls als allumfassendes Fortentwicklungsverbot im Bereich der Fremdrechtsanwendung gelesen werden, was dem europäischen Gesetzgeber erkennbar nicht unterstellt werden kann. 1118
G. Zusammenfassung G. Zusammenfassung
Die obigen Ergebnisse sind wie folgt zusammenzufassen: 1. Am Anfang der Bildung einer neuen Kollisionsnorm steht die Ermittlung der kollisionsrechtlichen Interessenlage. Diese wird einerseits durch die Interessen der zu berufenden Sachnorm impliziert, andererseits wird sie jedoch auch durch genuin rechtsanwendungsrechtliche Interessen, welche aus der Teleologie des Kollisionsrechts erwachsen, bestimmt. Die kollisionsrechtliche Interessenlage ist in einem zweiten Schritt von jener der bereits bestehenden Verweisungen abzugrenzen. Bei einer ausreichenden Interessendivergenz ist eine existierende oder gebildete Kollisionsnorm als lex specialis durchzusetzen. 2. Neugebildete Kollisionsnormen sind infolge der häufigen Ausrichtung an einer bestimmten Sachnorm des Heimatrechts und der auf die Lösung eines Einzelfalls beschränkten Aufgabe des Richters häufig einseitig. Dies ist jedoch nicht zwingend, vielmehr ist auch eine unmittelbar allseitige Formulierung möglich. 1115
Wie ebenfalls im 1. Kapitel unter E.I.1. dargelegt wurde, stellt der Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO in erster Linie eine Kodifikation der britischen Ralli-Regel dar. Dagegen möchte Schacherreiter, in: Verschraegen (Hrsg.), Rechtswahl, 2010, S. 79 f. hinter Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO vor allem konkludente oder hypothetische Parteiinteressen sehen. 1116 Siehe zum Gesichtspunkt der Durchsetzungsmacht bereits oben unter C.I. 1117 Siehe zur Kumulationstheorie und dem Disput um die Sperrwirkung des Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO bereits im 1. Kapitel unter E.I.3. sowie E.I.4.c. 1118 Während die nationale Abweichungsmöglichkeit durch den Fortfall einer Vorschrift nach dem Vorbild des Art. 23 EVÜ wohl durchaus eingeschränkt werden sollte, kann jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass der europäische Gesetzgeber einer Fortentwicklung durch europäische Kollisionsnormen ablehnend gegenübersteht. Dies zeigt gerade der Art. 23 Rom I-VO, welcher eine Durchsetzung besonderer europäischer Kollisionsnormen erlaubt.
H. Fazit
239
3. Allseitige Kollisionsnormen erfordern die Vergleichbarkeit der hinter den ein- und fremdseitigen Kollisionsnormen stehenden, forumsseitig bestimmten kollisionsrechtlichen Interessen. Eine internationale Verbreitung des Anknüpfungsgegenstands ist hilfreich, aber nicht notwendig. Das Forum ist des Weiteren grundsätzlich frei darin, eine Verweisung ausschließlich auf eigenes oder fremdes Recht zu beschränken; ebenso möglich ist es, eigenes Recht weitergehend zu berufen als entsprechendes Fremdrecht. 4. Die Methode der Bildung von Kollisionsnormen, welche auf unionales Sachrecht zeigen, weist keine methodischen Besonderheiten auf. Der IngmarFall ist hierfür ein anschauliches Beispiel. Die häufigere Einseitigkeit des auf unionales Sachrecht zeigenden Kollisionsrechts resultiert nicht aus einer fundamental anderen Gesinnung des europäischen Gesetzgebers, sondern aus dessen begrenzter Regelungskompetenz. 5. Das Binnenmarktkollisionsrecht spricht besondere Anknüpfungen für die Mitgliedstaaten der EU aus. Es ist bisher vor allem im Herkunftslandprinzip praktisch bedeutsam geworden. Eine generelle Pflicht zur Berufung des Rechts berührter Drittmitgliedstaaten gibt es indessen nicht, wenngleich Allseitigkeit und Fremdrechtsberufung in der EU erheblich erleichtert sind. Eine über einen Richtlinienstandard hinausgehende Umsetzung kann in seltenen Fällen auch gegenüber einem anderen Mitgliedstaat durchgesetzt werden. Die Durchsetzung eigenen Richtlinientransformationsrechts gegenüber einem Mitgliedstaat, der eine Richtlinie nicht oder mangelhaft umgesetzt hat, wird indessen grundsätzlich durch das Verbot der horizontalen Drittwirkung zwischen Privaten ausgeschlossen. 6. Während ein gewichtiger Teil der Eingriffsnormdiskussion aufgrund der Unbegrenzbarkeit ihres Gegenstands unverwertbar ist, kann sie durchaus in manchen Teilen für die Bildung von (Spezial-)Kollisionsnormen fruchtbar gemacht werden. So kommt der Charakterisierung einer Bestimmung als „Eingriffsnorm“ eine Funktion zur Kennzeichnung etwaiger Regelungslücken zu. Konkrete Ausfüllungen des „Inlandsbezug“-Kriteriums können häufig bei der Ermittlung eines Anknüpfungsmoments hilfreich sein. Auch der Art. 9 Abs. 3 Rom I-VO gibt einen Hinweis darauf, dass der europäische Gesetzgeber die Anwendung vertragsinvalidierender Gesetze des Erfüllungsorts für sinnvoll erachtet.
H. Fazit H. Fazit
Unterschiedliche Interessen ergeben unterschiedliche Bündelungszustände – so mag man die Ergebnisse dieses Kapitels in aller Knappheit zusammenfassen. Die Bündelungen mögen hierbei einseitig, allseitig, unvollkommen-allseitig oder binnenmarktallseitig sein. Im 3. Kapitel konnte zudem gezeigt werden,
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5. Kapitel: Entwicklung ein- und allseitiger Spezial-Kollisionsnormen
dass Bündelungszustände auch nach Subjekten unterschieden werden können.1119 Damit wurde die Kernaussage des Autonomismus durchweg bestätigt: Wir wenden fremde und eigene Rechtssätze an, wenn und wie wir es wollen. Dies stellte bereits Kahn fest: „Entkleidet von allen […] völlig nichtssagenden und überflüssigen Schnörkeln und Verzierungen, wiederholt uns der verbesserte Prohibitivgedanke lediglich das erste und oberste Prinzip allen internationalen Privatrechts: Fremdes Recht ist anzuwenden, wenn dies dem Geist und Sinn unserer Rechtsordnung entspricht; es ist nicht anzuwenden, wenn seine Anwendung dem Sinn und Geist unserer Rechtsordnung widerstreitet. […] Man braucht nicht von Prohibitivgesetzen zu reden, wenn man uns nur diesen allgemeingültigen Grundsatz ins Gedächtnis zurückrufen will.“ 1120
Wann der „Sinn und Geist“ unserer Rechtsordnung nach der Berufung eigenen und fremden Rechts verlangt und nach welchen Kriterien die vertikale und horizontale Bündelung erfolgt, bleibt die Grundfrage des Kollisionsrechts. 1121 In der Form der geschriebenen Kollisionsnormen ist sie teilweise schon geklärt, sie erfordert jedoch eine stetige Reevaluation und Ausdifferenzierung, die so dynamisch ist wie die Interessen, die das Kollisions- und Sachrecht regieren. Der Bündelungsversuch anhand des Gemeinwohlkriteriums sollte jedoch nach den Ausführungen des 4. Kapitels der Vergangenheit angehören. 1122
1119
Siehe ebenda unter E.II.2. Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 22. Siehe auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 129 m.w.N. 1121 So in Teilen auch Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 131. 1122 Denn eine derartige Bündelschnürung erfasst – ebenfalls im Anschluss an Kahn – potentiell die gesamte Rechtsordnung und ist daher wertlos (siehe hierzu ausf. im 4. Kapitel unter C.IV.2.c. 1120
Kapitel 6
Die Rolle des ordre public Wenngleich die Behandlung der „Eingriffsnorm“ den Schwerpunkt dieser Arbeit bildet, bedarf es auch eines ausführlichen Blicks auf das Institut des ordre public. Dies gebietet bereits die Genese der „Eingriffsnorm“ aus dessen positiver Dimension. 1123 Des Weiteren wurde gezeigt, dass auch heute noch nach der materiellen, gemeinwohlorientierten Eingriffsnormdefinition im Ergebnis Normen des ordre public beschrieben werden. 1124 Angesichts dessen scheint vom ordre public eine nicht unerhebliche Gefahr für die Verwirklichung des Auftrags zur interessengerichteten Fortbildung und Ausdifferenzierung des Kollisionsrechts auszugehen: Wenn eine forumseigene Norm über die hinter ihr stehenden Wertungen mithilfe des ordre public durchgesetzt werden könnte, wäre so mancher Richter versucht, statt der mühevollen Analyse der kollisionsrechtlichen Interessenlage schlicht den ordre public zur Durchsetzung eigenen Rechts zu bemühen. Die ältere romanische Literatur und Rechtsprechung ist hierfür ein abschreckendes Beispiel. 1125 Dass eine solche Umgehung der Ausbildung neuen Kollisionsrechts durch den ordre public bisher nur eine geringe Rolle spielte, erklärt sich vor allem durch die Dominanz der „Eingriffsnorm“. 1126 Da die Erkenntnisse der letzten Kapitel zu einer regelrechten Auflösung des Instruments der „Eingriffsnorm“ führten, könnte die Durchsetzung eigenen Rechts über den ordre public eine zu vermeidende Renaissance erleben. Es muss daher geklärt werden, ob der ordre public in einer Form einzugrenzen ist, die ein Unterlaufen des Auftrags zur interessengerichteten Kollisionsnormbildung vermeiden kann. Im Zentrum steht daher die Frage, was den ordre public von der (gegebenenfalls speziellen) kollisionsrechtlichen Berufung bestimmter Sätze des heimischen Rechts unterscheidet. In aller Knappheit: ob und wo Unterschiede zwischen Kollisionsrecht und ordre public bestehen.
1123
Siehe hierzu ausf. im 1. Kapitel. Siehe hierzu im 4. Kapitel unter C.IV.2.a. 1125 Wie bereits ausf. im 1. Kapitel unter B.II. gezeigt wurde, wurden in der älteren romanischen Dogmatik jegliche Abweichungen von der personalen Anknüpfung mithilfe des ordre public begründet. 1126 Siehe hierzu auch Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 66. 1124
242
6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
A. Die herkömmliche Definition des ordre public A. Die herkömmliche Definition des ordre public
Ordre public-Klauseln sind sowohl im europäischen Kollisionsrecht als auch international weit verbreitet. 1127 Prototypisch ist der Art. 21 Rom I-VO, welcher eine Abwehr des berufenen Fremdrechts erlaubt, wenn dieses mit der „öffentlichen Ordnung“ des Forums „offensichtlich unvereinbar“ ist. Welche Annahmen über die Funktion und den Gegenstand des ordre public hinter diesen Klauseln stehen, soll im Folgenden knapp dargelegt werden. I. Die vom ordre public erfasste Normenmasse Die vom ordre public erfasste Normenmasse wird gerne bildgewaltig beschrieben: Es soll sich um „überpositive“ 1128, „naturrechtliche“ 1129 oder „außerrechtliche“1130 Grundsätze handeln, die als „grundlegende Rechtsprinzipien“ 1131 den „Kernbestand der Rechtsordnung“ 1132 abbilden. Dabei komme gerade Wertungen des nationalen Verfassungsrechts eine besondere, wenn auch nicht ausschließliche Rolle zu. 1133 Ebenso sollen auch Grundsätze des Unionsrechts in den ordre public einfließen. 1134 Die große Nähe zur gemeinwohlorientierten Beschreibung der „Eingriffsnorm“ nach Art. 9 Abs. 1 Rom I-VO ist hierbei offensichtlich. Dieser Zusammenhang ist angesichts des Ursprungs jener Eingriffsnormdefinition bei den
1127 Siehe zur internat. Verbreitung der ordre public-Klauseln: Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 147; Thoma, Europäisierung, 2007, S. 17; Stürner, NIPR 2011, 8, 11; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 32 ff.; Lorenz, in: BeckOKBGB, 43. Ed. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 1. Zur Verbreitung innerhalb des europäischen IPR siehe bereits im 1. Kapitel unter E.IV. 1128 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 123; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 51. Hiermit verbunden ist zugleich die seltener gewordene Ansicht, wonach sich der ordre public durch die fehlende Positivierung der von ihm verkörperten Forumswertungen auszeichne (so etwa Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 206 ff.; ähnl. Wengler, JZ 1979, 175, 176; im Ansatz wohl auch Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 297 f. Siehe hierzu auch: Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 293). Dies kollidiert mit der Rechtswirklichkeit, denn auch heute noch werden konkrete Einzelnormen mithilfe des ordre public durchgesetzt (siehe hierzu sogleich unten). 1129 Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 40. 1130 Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 206. 1131 Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 2. 1132 Hausmann, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht II, 16. Aufl. 2016, Art. 21 Rom I-VO, Rn. 18; Lorenz, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 14. Ähnl. BGH, Urt. v. 11.10.2006 – XII ZR 79/04, NJW-RR 2007, 145, 148, Rn. 37. 1133 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 183; Ludwig, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 35 EuErbVO, Rn. 9. Siehe zur Rolle des Verfassungsrechts sogleich. 1134 Siehe hierzu insb. die Nachw. in Fn. 1233.
A. Die herkömmliche Definition des ordre public
243
lois d’application immédiate, welche ihrerseits im Wesentlichen nur eine Fortsetzung der „lois d’ordre public“ darstellen, auch wenig überraschend. 1135 Dem hiermit entstehenden Abgrenzungsproblem wird teilweise durch die Betonung der besonderen „ethischen Wertigkeit“ des ordre public begegnet. 1136 Demgegenüber liege die Durchgriffsschwelle bei der „Eingriffsnorm“ niedriger.1137 Indessen konnte bereits ausführlich gezeigt werden, dass das von einer Norm verfolgte Maß an „Gemeinwohlzwecken“ angesichts seiner Omnipräsenz in einem demokratischen Rechtsstaat ein denkbar ungeeignetes Kriterium ist.1138 Die Möglichkeit argumentativer Beliebigkeit im Rahmen des Gemeinwohlkriteriums wird auch nicht dadurch beseitigt, indem man mithilfe blumiger Superlative den ganz außerordentlichen Tauchgang des ordre public in „sozialem Öl“ im Gegensatz zum nur mitteltiefen Bad der Eingriffsnorm betont. Eine Beschreibung des ordre public allein anhand der Verfolgung ganz besonders fundamentaler Gemeinwohlzwecke würde damit ebenso wenig wie bei der „Eingriffsnorm“ zu einer trennscharfen Abgrenzung führen. 1139 II. Abgrenzungen anhand der eigenständigen Funktion des ordre public Angesichts der abstrakten Unbegrenzbarkeit der vom ordre public umfassten Normen und Wertungen überrascht es wenig, dass dieser zumeist funktional beschrieben wird: Es soll sich um den „Riegel“ handeln, der das ins Ausland führende Tor der Fremdrechtsverweisung wieder verschließt. 1140 Der ordre
1135
Siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter C.II., D.I., E.I.1. Mankowski, RIW 1996, 8, 11; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 31; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 51, 55. 1137 Mankowski, RIW 1996, 8, 11; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 129; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 200. 1138 Siehe hierzu ausf. im 4. Kapitel unter C.IV. Ähnl. insofern auch Marti, Vorbehalt, 1940, S. 13, 82 ff., wonach jeder Umgrenzungsversuch in der Tautologie endet. Die Behauptung einer abstrakten Begrenzbarkeit des ordre public findet sich ohnehin selten (so behauptet etwa Mann, in: FS Beitzke, 1979, S. 618, der ordre public habe einen „eindeutig umrissenen Charakter und Umfang“). 1139 Ähnl. Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 37; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 369. – Ähnl. zur fehlenden Abgrenzbarkeit von ordre public und Eingriffsnorm im Rahmen eines Ansatzes am Gemeinwohlkriterium auch Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 479. 1140 Raape, IPR, 5. Aufl. 1961, S. 92. Der ordre public sei daher das „enfant terrible“ des Kollisionsrechts. 1136
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
public sei die „Notbremse“, 1141 das „Überdruckventil“ 1142 oder auch das „Sicherheitsnetz“ 1143 gegenüber „schlechthin untragbaren“ Ergebnissen 1144. Weniger freundlich wird der ordre public teilweise auch als „Sisyphusstein“ 1145, als „very unruly horse“ 1146 und als „Tod allen Verweisungsrechts“1147 beschrieben. Es finden sich daher auch zahlreiche Aufrufe zu einem restriktiven Einsatz. 1148 Welche Funktionen des ordre public im Einzelnen mit diesen Bildern gemeint sind, ist im Folgenden näher zu betrachten. 1. Der Schutz materieller Grundentscheidungen des Forums im konkreten Einzelfall Dem ordre public soll die Aufgabe zukommen, die politisch-materiellen Grundentscheidungen des Forums gegenüber dem Fremdrecht zu wahren. 1149 Hiermit verbunden ist die Annahme, dass das IPR die Gerechtigkeitsentscheidung in fremde Hände gebe, weshalb erst der ordre public den fundamentalen Gerechtigkeitsvorstellungen des Forums Durchsetzung verschaffen könne. 1150 Zumeist geht es hierbei um die zutreffende Einsicht, dass das Kollisionsrecht infolge seiner rechtsanwendungsrechtlichen Aufgabe „blind“ für das konkrete materiellrechtliche Ergebnis ist. 1151 Dies ist darauf zurückzuführen, dass
1141
Siehr, RabelsZ 36 (1972), 93, 99. v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 7, Rn. 258. 1143 Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 2, dort auch zu zahlreichen weiteren Umschreibungen. 1144 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 250. 1145 Kahn, JhJb 39 (1898), 1, 8. 1146 v.Hein, RabelsZ 73 (2009), 461, 503 (zur public policy). 1147 v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 7, Rn. 258. Noch dramatischer bereits Frankenstein, IPR, 1926, S. 181: Demnach sei der ordre public die „Auflehnung des alten Staatsund Machtgedankens gegen die tiefere Einsicht in das Wesen des Rechts, des Polizeigeistes, der alles beherrschen und regeln will, der Engherzigkeit, der alles Eigene unantastbar, alles Fremde eine Gefährdung heimischer Ordnung und Sitte ist.“ 1148 Siehe nur Siehr, RabelsZ 36 (1972), 93, 100 ff.; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 115; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 372; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 76; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 247; Kühne, in: FS Schurig, 2012, S. 145; Ludwig, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 35 EuErbVO, Rn. 9. 1149 Marti, Vorbehalt, 1940, S. 64; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 37 ff., 50; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 74; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 12, Rn. 2. 1150 Marti, Vorbehalt, 1940, S. 69; ähnl. Kegel, Probleme des internationalen Enteignungs- und Währungsrechts, 1956, S. 15; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 247; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 49. Siehe auch Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 518 ff. 1151 Sofern es hierbei um die Vorstellung gehen sollte, dass das Kollisionsrecht keine Sachnormzwecke kennt, ist auf die entsprechenden Ausführungen im 3. Kapitel unter D.I.5. 1142
A. Die herkömmliche Definition des ordre public
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das Kollisionsrecht nur beruft, nicht aber selbst entscheidet. 1152 Wenngleich wir auf der abstrakten Ebene der Kollisionsnormbildung und -auslegung jeden – auch sachnormgeprägten – Zweck einfließen lassen und hierdurch bestimmte Ergebnistendenzen befördern können, haben wir die Ausgestaltung einer im konkreten Einzelfall berufenen, fremden Ratio nicht in der Hand. Man mag daher aufgrund einer misstrauischen Einstellung gegenüber der Sachgerechtigkeit des Fremdrechts eine Fremdrechtsberufung ausschließen oder auf bestimmte Staaten beschränken. 1153 Trotz dieser abstrakten kollisionsrechtlichen Vorsorge kann es dazu kommen, dass die berufene fremde Ratio im Einzelfall den streitgegenständlichen Konflikt nicht in einer Weise löst, die unseren Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht. Hier soll nun der ordre public eingreifen, um den heimischen Gerechtigkeitsvorstellungen Durchsetzung zu verschaffen. Denn die Kollisionsnormen sind als abstrakt-generelle Rechtsanwendungsnormen nicht in der Lage, eine im Einzelfall anstößig erscheinende fremde Ratio mit unseren Wertvorstellungen in Einklang zu bringen. 1154 Umgekehrt soll der ordre public auch auf den Einzelfall begrenzt bleiben: Ausländisches Recht soll nicht im Wege einer „abstrakten Normenkontrolle“ unabhängig von seiner konkreten Anwendung durch den ordre public überprüfbar sein.1155 Indessen werden hier seit neuestem auch Ausnahmen für möglich gehalten. 1156 2. Aposteriorismus und Relativität Eine logische Folge des Bezugs auf das Einzelfallergebnis ist freilich, dass der ordre public erst nach der kollisionsrechtlichen Berufung des Fremdrechts sowie D.II.3.c. zu verweisen: Eine Kollisionsnorm darf und muss sowohl genuin kollisionsrechtliche als auch sachnormimplizierte („materielle“) Zweckrichtungen in sich aufnehmen (ähnl. zum ordre public auch Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 5). – Ebenso abzulehnen ist die Annahme, der ordre public sei eine Konzession an das Nationale in einem ansonsten überstaatlichen oder zumindest überstaatlich denkenden IPR (siehe zur Ablehnung dieser Vorstellungen und ihrer Derivate ausf. im 3. Kapitel unter D.). 1152 Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.II.5.b. 1153 Siehe zu dieser Konsequenz des Autonomismus bereits im 3. Kapitel unter D.II.3.e. 1154 Ähnl. zur Abgrenzung des ordre public gegenüber „Eingriffsnormen”: v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 7, Rn. 275; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 36. 1155 Marti, Vorbehalt, 1940, S. 83 ff.; Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 287; Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 312; Looschelders, RabelsZ 65 (2001), 463, 477; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 7, Rn. 265 ff. Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 526; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 49; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 275; Lorenz, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 10; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 12, Rn. 15. 1156 Lorenz, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 11; Greeske, Kollisionsnormen der neuen EU-Erbrechtsverordnung, 2014, S. 195. Siehe insbesondere zu Art 10 Rom III-VO sogleich unter D.IV.5.
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
(„aposteriorisch“) zum Einsatz kommt. 1157 Ohne die Anwendung der Regelkollisionsnormen gibt es kein korrigierbares Ergebnis. Eng verbunden mit der aposteriorischen Perspektive ist die Relativität des ordre public: Demnach soll die Durchsetzung der Forumswertungen insbesondere von der Schwere des konkreten Verstoßes und der Ausprägung des Inlandsbezugs im Einzelfall abhängen. 1158 Je schwerer der konkrete Verstoß gegen die heimische Werteordnung, desto geringer soll der nötige Inlandsbezug sein.1159 Bei der Verletzung grundlegender Menschenrechte wird hierbei häufig
1157 Dölle, in: FS Raape, 1948, S. 152; Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 190; Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 50; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 43, 454; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 43; Hessler, Sachrechtliche Generalklausel, 1985, S. 77; Jayme, Methoden der Konkretisierung des Ordre public, 1989, S. 30; Voser, Lois d’application immédiate, 1993, S. 290; Mankowski, RIW 1996, 8, 11; Freitag/Leible, ZIP 1999, 1296, 1298; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 245; v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 268; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 183; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 47 ff.; Schulze, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012 Art. 21 Rom I-VO, Rn. 1; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 316; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 275. – Teilweise wird der „Aposteriorismus“ des ordre public auch als Abgrenzungskriterium gegenüber dem vermeintlichen „Apriorismus“ der „Eingriffsnorm“ ins Feld geführt: Junker, IPRax 1989, 69, 75; Mankowski, RIW 1996, 8, 11; Junker, IPRax 2000, 65, 66; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 50. Wie besehen, gibt es jedenfalls keine „apriorische“ kollisionsrechtliche Berufung im Sinne einer kollisionsnormunabhängigen Durchsetzung, lediglich eine ggf. vorgehende Berufung nach dem Spezialitätsprinzip (siehe hierzu im 4. Kapitel unter A.). Indessen scheint der ordre public nicht nur den „Eingriffsnormen“, sondern auch den Regelkollisionsnormen nachgelagert zu sein, sodass der „Aposteriorismus“ des ordre public jedenfalls nicht am Wegfall des „Apriorismus“ der Eingriffsnorm scheitert. 1158 Habicht, IPR, 1907, S. 234; Schnitzer, Handbuch des IPR, 1937, S. 108; Marti, Vorbehalt, 1940, S. 30, 94; Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 65; Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 296; Raape, IPR, 5. Aufl. 1961, S. 93 f.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 367 ff.; Jayme, Methoden der Konkretisierung des Ordre public, 1989, S. 33 ff.; Mentzel, Sonderanknüpfung von Eingriffsrecht, 1993, S. 152; Looschelders, RabelsZ 65 (2001), 463, 482 ff.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 7, Rn. 263 ff. Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 51; Hausmann, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht II, 16. Aufl. 2016, Art. 21 Rom I-VO, Rn. 15, 19 ff.; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 260 ff.; Lorenz, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 10,16. – Speziell zum Inlandsbezug: Bucher, Grundfragen, 1975, S. 129; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 367 ff.; Jayme, Methoden der Konkretisierung des Ordre public, 1989, S. 33 ff.; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 523; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 51; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 246; v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 247 f.; Schulze, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 21 Rom I-VO, Rn. 9; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 263 ff. 1159 Schulze, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 21 Rom IVO, Rn. 9.
A. Die herkömmliche Definition des ordre public
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schon der durch die Gerichtszuständigkeit vermittelte Inlandsbezug für ausreichend erachtet.1160 Als Gegensatz hierzu wird teilweise die einzelfallunabhängige Methode der kollisionsrechtlichen Eigen- und Fremdrechtsberufung hervorgehoben: 1161 Eine auf heimisches Recht zeigende Spezial-Kollisionsnorm wird nämlich auch dann durchgesetzt, wenn die lex causae dieselbe Regelung aufweist; auf eine Anstößigkeit des fremden Wirkungsstatuts kommt es nicht an. 1162
1160 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 258 ff. sowie Fn. 233; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 527; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 325. Stürner weist darauf hin, dass die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte ohnehin das Bestehen einer Inlandsbeziehung erfordert, sodass es praktisch selten vorkommen dürfte, dass der Inlandsbezug allein durch die Gerichtszuständigkeit vermittelt wird (Stürner, in: FS Coester-Waltjen, 2015, S. 852 f.). 1161 Dies wird in erster Linie anhand der „Eingriffsnorm“ diskutiert, da hier das größte Abgrenzungsbedürfnis zum ordre public besteht. Die entsprechenden Aussagen können aber auf die kollisionsrechtliche Berufung schlechthin übertragen werden, da sie nicht von der fehlerhaften Prämisse eines besonderen Gemeinwohlbezugs abhängen. – Revolutionär ist dieser Gedanke im Übrigen nicht: Die Unfähigkeit einer Norm zur Berücksichtigung des Einzelfalls ist schlicht eine Folge ihrer abstrakt-generellen Verbindlichkeit. 1162 Ähnl. Gamillscheg, Internationales Arbeitsrecht, 1959, S. 63; ähnl. auch Mankowski, RIW 1993, 453, 462 (die Einordnung als „Eingriffsnorm“ sei absolut, nicht relativ); Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 50; differenzierend Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 78 ff.; v.Mohrenfels, in: FS Martiny, 2014, S. 596; Schlussantrag GA Szpunar v. 20.04.2016, C‑135/15, ECLI:EU:C:2016:281, Rn. 69 f.; Hausmann, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht II, 16. Aufl. 2016, Art. 21 Rom I-VO, Rn. 2. Dagegen indessen Kohte, EuZW 1990, 150, 153; Michaels/Kamann, EWS 2001, 301, 310; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 93; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 62; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 11; Magnus, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht I, 2016, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 85; Spickhoff, in: BeckOKBGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 16 f., welche auch die Durchsetzung von „Eingriffsnormen“ von einem Vergleich zur lex causae bzw. dem konkreten Inlandsbezug abhängig machen wollen. – Die letztgenannte Ansicht ist im hier vertretenen Modell nicht überzeugend. Sie kollidiert mit ihrer Prämisse, wonach jede Berufung einer eigenen Sachnorm durch eine eigene Kollisionsnorm erfolgt. Da es sich um Rechtsnormen handelt, müssen diese notwendig abstrakt-generell sein. Den Vergleich zur lex causae, den jene Autoren vor Augen haben, stellt tatsächlich den (abstrakten) Vergleich der Interessenlagen der auf die lex causae zeigenden Regelverweisung und der auf Inlandsrecht zeigenden Spezial-Kollisionsnorm dar. Die Interessenabwägung bleibt hierbei abstrakt-generell, ebenso wie die hieraus entlassene Kollisionsnorm. Der konkrete Sachverhalt ist nur Anlass und Beispiel der Interessenabwägung.
248
6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
3. Negativität und Lückenfüllung „im Auslandsrecht“ Außerdem soll sich der ordre public nur auf die „negative“ Abwehr fremden Rechts beschränken. 1163 Die „positive“ Durchsetzung heimischen Rechts wird wie besehen der „Eingriffsnorm“ zugeschlagen. 1164 Die Negativität des ordre public wird außerdem im Gebot zur „Lückenfüllung im Auslandsrecht“ fortgesetzt.1165 Hiernach soll der Platz des als ordre public-widrig abgelehnten Fremdrechts zuvorderst mit einer anderen Bestimmung der lex causae aufgefüllt werden. Sofern dies nicht möglich ist, soll die durch den ordre public gerissene Lücke durch näherliegendes Drittstaatenrecht oder die lex fori geschlossen werden. Hiermit möchte man einem insbesondere im romanischen Rechtskreis vertretenen Automatismus zwischen der Fremdrechtsablehnung und der ersatzweisen Berufung der lex fori entgegentreten. 1166
1163
Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 38, 242; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 34; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 73 f.; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 48; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 60; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 55; Deinert, RdA 2009, 144, 150; Staudinger, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012 Art. 9 Rom I-VO, Rn. 1; Gräf, ZfA 2012, 557, 611; Rauscher, IPR, 4. Aufl. 2012, § 6, Rn. 598; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 185, Rn. 12; Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 200; Baetge, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 12; Engel, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 16 Rom II-VO, Rn. 3; Spickhoff, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 3; Lorenz, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 3; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 12, Rn. 7. – Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 174 spricht von einer „kassatorischen“ Funktion des ordre public. Ähnl. Maultzsch, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 4.1. – Zur Entwicklung der ausschließlich negativen Lesart des ordre public ausf. im 1. Kapitel unter A.-C. 1164 Siehe hierzu die Nachw. im 4. Kapitel unter C.IV.2.a. 1165 Marti, Vorbehalt, 1940, S. 69, 104 ff.; Raape, IPR, 5. Aufl. 1961, S. 99; Niederer, Einführung, 3. Aufl. 1961, S. 291; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 43 f.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 378; Schwung, RabelsZ 49 (1985), 407, 411 ff.; Siehr, IPR, 2001, S. 491; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 74; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 254 f.; v.Hoffmann/Thorn/Firsching, IPR, 9. Aufl. 2007, S. 275; Schulze, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 21 Rom I-VO, Rn. 6; Stürner, GPR 2014, 317, 324; Stürner, IJPL 2014, 350, 371; Stürner, in: FS Coester-Waltjen, 2015, S. 853; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 317; Antomo, NJW 2016, 3558, 3560 (im Hinblick auf einen entspr. Beschl. d. OLG Bamberg); Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 277 & Art. 21 Rom I-VO, Rn. 40; Thorn, in: Palandt, 76. Aufl. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 13; Lorenz, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 17 f. 1166 Zur entsprechenden Handhabung in der romanischen Literatur und Rspr.: Schwung, RabelsZ 49 (1985), 407, 409 ff.; Thoma, Europäisierung, 2007, S. 17; Bureau/Muir Watt, Droit international privé I, 3. Aufl. 2014, S. 534; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 317.
B. Die Negativität des ordre public
249
In der Praxis ist die Anwendung des Forumsrechts als „Ersatzrecht“ jedoch auch hierzulande der Regelfall. 1167 III. Zwischenergebnis Musste damit der Versuch einer gemeinwohlbezogenen Beschreibung auch im Bereich des ordre public abgelehnt werden, bleiben nur noch funktionale Merkmale: Demnach soll sich der ordre public als negative und relative Kontrolle des Ergebnisses der kollisionsrechtlichen Berufung im Einzelfall auszeichnen. Diese funktionalen Eigenheiten sind im Folgenden näher zu betrachten.
B. Die Negativität des ordre public B. Die Negativität des ordre public
Da es im Kollisionsrecht um die „positive“ Berufung eigener und fremder Rechtssätze geht, scheint die rein abwehrende, „negative“ Funktion des ordre public auf den ersten Blick ein überzeugendes Abgrenzungsmerkmal zu sein. Daher ist im Folgenden zu untersuchen, ob die Vorstellung einer ausschließlich negativen Wirkungsweise des ordre public haltbar ist. I. Die ordre public-Wertung als Motiv oder berufener Gegenstand Die Betrachtung wird erleichtert, wenn man die zwei möglichen Rollen einer ordre public-Wertung unterscheidet: Sie kann nämlich einerseits selbst in Gestalt normativer Konkretisierungen kollisionsrechtlich berufen werden oder aber nur als bewegendes Motiv die Berufung eigenen oder fremden Rechts gebieten, ohne selbst in der herangezogenen Norm verkörpert zu sein 1168. Nun mag es im Bereich des forumseigenen Ersatzrechts noch als zusammengehöriger Vorgang erscheinen, wenn man etwa im Falle eines gleichberechtigungswidrigen fremden Scheidungsstatuts anstößiges Fremdrecht ablehnt und infolgedessen eigenes, den Gleichberechtigungsgrundsatz verkörperndes Scheidungsrecht heranzieht. Die ordre public-Wertung ist hier gleichermaßen das Motiv des Einsatzes des ordre public wie auch der im forumseigenen Ersatzrecht verkörperte Gegenstand. Insbesondere in einem kollisionsrechtlichen Umfeld ohne „Eingriffsnorm“ ist eine derartige Durchsetzung heimischer, die ordre public-Wertung verkörpernder Einzelnormen gang und
1167
Schulze, in: Ferrari u.a., Internationales Vertragsrecht, 2. Aufl. 2012, Art. 21 Rom IVO, Rn. 17 m.w.N. 1168 Zur Motivebene ähnl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 257.
250
6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
gäbe: So werden zahlreiche Vorschriften des Familien- und Erbrechts wie etwa das Vieleheverbot (§ 1306 BGB) mithilfe des ordre public durchgesetzt. 1169 Wird indessen in einer kollisionsrechtlichen Kodifikation das Instrument der „Eingriffsnorm“ eingeführt, übernimmt dieses in der Regel die Durchsetzung konkreter Vorschriften gegen das Regelstatut. 1170 Im Übrigen wird auch der verfahrensrechtliche ordre public zur Durchsetzung von „Eingriffsnormen“ eingesetzt.1171
Bei fremdem Ersatzrecht 1172 gilt jenes flüssige Verhältnis zwischen der ordre public-Wertung als Motiv und Gegenstand nicht mehr. Hier nimmt die heimische ordre public-Wertung nur die Funktion eines Motivs ein, sie ist jedoch nicht als solche im fremden Ersatzrecht verkörpert. 1173 Ersatzrecht der lex causae oder dritter Staaten kann nämlich nicht als Emanation heimischer ordre public-Wertungen begriffen werden. 1174 Die ersatzweise herangezogene fremde Ratio entspringt einem fremden Rechtssystem und kann daher nur fremde ordre public-Wertungen verkörpern. Im obigen Beispiel bedeutet dies etwa, dass der heimische Gleichberechtigungssatz im Falle der ersatzweisen Berufung fremden Scheidungsrechts nur das Motiv der Ersatzrechtsberufung ist. Denn drittstaatliches Scheidungsrecht ist keine Emanation des heimischen Gleichberechtigungsgrundsatzes. 1169 Zu § 1306 BGB: Spickhoff, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 6. Zum Unterhaltsrecht: Ludwig, in: juris-PK BGB, 8. Aufl. 2017, Art. 13 HUntProt., Rn. 6 f. Zu § 14 HeimG: Greeske, Kollisionsnormen der neuen EU-Erbrechtsverordnung, 2014, S. 195. Siehe aus der Rspr. etwa OLG Zweibrücken NJW-RR 2002 581, 582 zur ersatzweisen Anwendung deutschen Ehescheidungsrechts. Siehe außerdem Rauscher, IPR, 4. Aufl. 2012, § 6, Rn. 591. 1170 Dies wird besonders erkennbar im Fall des Erfolgshonorarverbots, welches früher mithilfe des („positiven“) ordre public und heute mithilfe der „Eingriffsnorm“ durchgesetzt wird (Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 69 f.). Auch klassisches „Eingriffsrecht“ wie Einfuhrverbote oder Devisengesetze wurde früher noch mithilfe des ordre public durchgesetzt (siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter C.I.2. sowie die ausf. Darstellung bei Schulte, Anknüpfung von Eingriffsnormen, 1975, S. 51 m.w.N.). – Siehe zum Ganzen auch Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 190, welcher richtigerweise eine „funktionale Äquivalenz“ zwischen Eingriffsnorm und ordre public feststellt. 1171 Antomo, IHR 2013, 225, 226 ff. 1172 Siehe hierzu oben unter A.II.3. 1173 Siehe zu gewissen Besonderheiten bei der Lückenfüllung „innerhalb der lex causae“ sogleich. 1174 Dies setzt die Prämisse voraus, dass die vom ordre public erfassten Wertungen trotz ihrer teilweise naturrechtlich-universellen Konnotation nationales Recht bleiben. Diese kaum bestrittene Annahme überzeugt, ist doch ein Staat frei darin, bestimmte Wertungen zum Teil seines ordre public zu machen. Würde man ordre public-Wertungen dagegen als echtes universelles „Recht“ verstehen, könnte auch forumsfremdes Ersatzrecht als Verkörperung solch universeller Wertungen verstanden werden. Es ist evident, dass ein derartiger Gedanke echter überstaatlicher Geltung mit dem hier vertretenen rechtstheoretischen Modell der grundsätzlichen Staatlichkeit des Rechts (siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.I.1.) in Konflikt stünde.
B. Die Negativität des ordre public
251
An dieser Stelle sei außerdem kurz auf die Methodik der „Lückenfüllung im Rahmen der lex causae“ eingegangen. Hierbei handelt es sich bei näherem Hinsehen nämlich nicht um eine reguläre Verweisung auf Ersatz-Rationes der lex causae, sondern um die Bildung einer (forumseigenen) Sachnorm, welche sich um eine nah an die lex causae angelehnte, gleichsam ordre public-konforme Lösung bemüht. 1175 So kann etwa bei einer als ordre public-widrig abgelehnten Ehefähigkeit von 12 Jahren eine ad hoc-Sachnorm des Forums gebildet werden, die unter Wahrung der größtmöglichen Nähe zur lex causae einerseits und dem Mindestmaß an ordre public-Konformität andererseits die Ehefähigkeit auf 14 Jahre festlegt. Dennoch wird auch in diesem Fall zumindest teilweise auf eine fremde Rechtsidee (im obigen Beispiel jene eines niedrigen Ehefähigkeitsalters) zurückgegriffen, sodass auch hier die gebildete ad hoc-Sachnorm kein vollwertiges Produkt der heimischen ordre public-Wertung ist. Die als Motiv fungierende ordre public-Wertung ist hier also nur teilweise der Gegenstand der ersatzweise angewandten Sachnorm.
Auch die Notwendigkeit der ordre public-Konformität des fremden Ersatzrechts (bzw. des die fremde Ratio aufnehmenden Syntheseergebnisses) ändert im Übrigen nichts daran, dass das Ersatzrecht nicht als Verkörperung einer heimischen ordre public-Wertung begriffen werden kann. Eine Kontrolle fremder Rechtsgedanken anhand eigener ordre public-Wertungen ist etwas völlig anderes als die genuine Verkörperung eigener Fundamentalwertungen durch heimische Rechtssätze. Das fremde Ersatzrecht wird aufgrund seiner ordre publicKonformität nicht zur Ausprägung des eigenen ordre public. Heimische übergeordnete Wertungen können nur im heimischen Recht widergespiegelt werden, weshalb eine in Bezug genommene, fremde Ratio trotz ihrer Kontrolle anhand des heimischen ordre public das Produkt fremder Wertentscheidungen bleibt. 1175 Bucher, Grundfragen, 1975, S. 127 f.; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 255; Epe, Funktion des Ordre public, 1983, S. 147; ähnl. Schwung, RabelsZ 49 (1985), 407, 417 ff.; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 539; teilw. auch Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 318. – Abzulehnen ist indessen die Vorstellung, man wende weiterhin Rationes der lex causae an. Die vom Wirkungsstatut vorgeschlagene Lösung wurde ja gerade als ordre public-widrig abgelehnt, weshalb man sich ohnehin außerhalb der Ratio befindet, die die lex causae für den konkreten Fall vorgesehen hat (so auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 255). Daher ist die „Lückenfüllung im Auslandsrecht“ richtigerweise als Anpassung bzw. Bildung einer „IPR-Sachnorm“ zu verstehen, welche mit dem Ziel einer größtmöglichen Nähe zu Vorstellungen der lex causae durchgeführt wird (ähnl. Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 285. Zum Begriff der IPR-Sachnorm: Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 42 ff., 232 ff., 331). Angst vor einer Verzerrung des Auslandsrechts muss man aufgrund der autonomen, synthetisierenden Wirkung der Fremdrechtsberufung nicht haben, da die autonome Fremdrechtsverweisung ohnehin schon strukturell auf eine Veränderung ausländischer Rationes angelegt ist (siehe hierzu auch Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 129 ff. sowie ausf. im 3. Kapitel unter D.I.1. Um „freie Rechtsfindung“ handelt es sich bei der ad hoc-Sachnormbildung anhand der lex causae nicht, da diese dennoch anhand der Ziele des Wirkungsstatuts durchzuführen ist. Einer völlig freien Bildung von ad hoc-Lösungen wäre dieser Vorwurf indessen richtigerweise zu machen (so auch Stürner, a.a.O. Rn. 289).
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
II. Die Kollisionsrechtlichkeit der Folgenebene des ordre public Anhand der obigen Erläuterungen wird ein weiterer Aspekt deutlich: Es gibt keinen Fall, in dem es nicht zur Heranziehung eigenen oder fremden Ersatzrechts kommt. Die gerissene Lücke wird nicht offengelassen, sondern mit Ersatzrecht der lex causae, einer dritten Rechtsordnung oder der lex fori aufgefüllt. Dies gilt auch in den wenigen Fällen, in denen scheinbar allein der Ausschluss eines ordre public-widrigen Rechtsinstitut ausreicht, greift man hier doch auf entsprechende Erlaubnissätze des Heimat- oder Fremdrechts zurück.1176
Der „negative“ Ausschluss des ordre public-widrigen Fremdrechts zieht daher auch stets die „positive“ Berufung eines ordre public-konformen Ersatzrechts nach sich. 1177 Dies gilt auch in seiner Umkehrung: Wer den Schwerpunkt auf die „positive“ Durchsetzung einer bestimmten, heimischen Rechtsnorm legt, der negiert hierdurch automatisch jedes weitere in Betracht kommende Fremdrecht.1178 Kurz gesagt: Wer etwas negiert, der bejaht das Gegenteil. 1179
1176 Bedient man sich eines subsidiären Erlaubnissatzes der lex causae (welcher durch das zurückgewiesene Verbot eingeschränkt wurde), so handelt es sich – wie oben gezeigt wurde – tatsächlich um die Berufung einer ad hoc gebildeten Sachnorm des Forums. Denn auch die Berufung eines subsidiären Satzes der lex causae entspricht nicht der Rechtsidee, die das Wirkungsstatut selbst für den konkreten Fall vorgesehen hat. – Siehe hierzu auch v.Hein, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 6 EGBGB, Rn. 211, welcher den Weg über die Berufung eines Erlaubnissatzes als „gekünstelt“ bezeichnet. Will man jedoch den ordre public nicht weiterhin als Instrument sui generis verstehen und seine Wirkungsweise nachvollziehen, so kommt man nicht umhin, in der Praxis sicherlich nicht erkennbar werdende Vorgänge auch einmal „künstlich“ zu zergliedern. 1177 So bereits Zitelmann (siehe im 1. Kapitel unter B.I., dort Fn. 32); Marti, Vorbehalt, 1940, S. 66.; Lewald, Règles générales, 1941, S. 121; Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 207; Siehr, RabelsZ 36 (1972), 93, 104; Siehr, IPRax 1973, 466, 476; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 116 ff.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 364; Kronke, Rechtstatsachen, 1980, S. 73; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 252; Erne, Vertragsgültigkeit und drittstaatliche Eingriffsnormen, 1985, S. 89; Ungeheuer, Beachtung von Eingriffsnormen, 1996, S. 115; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 519 f.; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 80; Thoma, Europäisierung, 2007, S. 18; vorsichtiger Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 185, Rn. 12. – Der positive Reflex des ordre public in Gestalt der Ersatzrechtsberufung wird auch nicht durch die Möglichkeit der „modifizierten Anwendung der fremden lex causae“ infrage gestellt (so aber Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 12, Rn. 6). Wie oben gezeigt wurde, wird bei der „Lückenfüllung im Rahmen der lex causae“ nämlich tatsächlich eine ad hoc gebildete Sachnorm des Forumsrechts berufen. 1178 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 251. 1179 Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 8; Siehr, IPR, 2001, S. 487; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 518. Ähnl. Larenz/Canaris, Methodenlehre, 3. Aufl. 1995, S. 80, wonach ein einschränkender Rechtssatz als „negative Geltungsanordnung“ stets einer korrelierenden „positiven Geltungsanordnung“ bedürfe.
B. Die Negativität des ordre public
253
Die „Negativität“ des ordre public kann somit allenfalls als perspektivischer Schwerpunkt auf die abwehrende Funktion des ordre public verstanden werden;1180 die mit der Fremdrechtsablehnung verbundene Durchsetzung eigenen oder fremden Ersatzrechts kann jedoch nicht hinwegdiskutiert werden. Da es bei der Heranziehung von Ersatzrecht um die Frage der Anwendung eines bestimmten eigenen oder fremden Norminhalts geht, handelt es sich hierbei um eine kollisionsrechtliche Operation.1181 Insofern kann eine kollisionsrechtliche Komponente des ordre public nicht geleugnet werden. 1182 Dieses Ergebnis ist unvorteilhaft, soll doch der ordre public gerade gegenüber dem Kollisionsrecht und der Kollisionsnormbildung abgegrenzt werden. Allerdings bewegen wir uns im Falle der Ersatzrechtsberufung nur auf der Ebene der Folgen des ordre public; das Kollisionsrecht ist hier nur das Mittel zur Verwirklichung des Anwendungsergebnisses der ordre public-Wertungen. Es ist daher nicht möglich, allein von der Kollisionsrechtlichkeit der Folgenebene auf eine kollisionsrechtliche Einordnung des ordre public insgesamt zu schließen. Dessen kollisionsrechtliche Methode auf der Folgenebene bedeutet noch nicht, dass dieser insgesamt dem Kollisionsrecht angehört. 1183 Bisher ungeklärt ist nämlich die Einordnung der bereits angesprochenen Motivebene des ordre public.
1180
Die Negativität des ordre public ebenfalls als Frage der Perspektive einordnend: Dölle, ZAIP 17 (1952), 161, 182; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 518 ff.; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 109; Torremans/Fawcett/Grušić, Cheshire, North & Fawcett’s private international law, 15. Aufl. 2017, S. 749. 1181 Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter C.III. Dies gilt auch für die Lückenfüllung im Rahmen der lex causae (siehe zur entspr. Methode bereits oben). Denn auch die Bildung einer ad hoc-Sachnorm hängt hier von der (kollisionsrechtlichen) Berufung bestimmter Rationes der lex causae ab. 1182 Ähnl. Bucher, Grundfragen, 1975, S. 189. 1183 So aber die folgenden Autoren, welche teilweise infolge der (zutreffenden) Einsicht in das komplementäre Verhältnis von Fremdrechtsablehnung und Ersatzrechtsberufung auf die Kollisionsrechtlichkeit des ordre public insgesamt schließen: Siehr, RabelsZ 36 (1972), 93, 108; Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 252; Epe, Funktion des Ordre public, 1983, S. 140 ff.; Mankowski, RIW 1996, 8, 10; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 7, Rn. 275; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 521. – Siehe hierzu auch Bucher, Grundfragen, 1975, S. 130. – Siehe außerdem Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 25; Hausmann, in: Staudinger, Internationales Vertragsrecht II, 16. Aufl. 2016, Art. 21 Rom I-VO, Rn. 2, welche den ordre public als „unselbstständige Anknüpfung“ einordnen möchten.
254
6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
C. Die kollisionsrechtliche Dimension der Motivebene des ordre public C. Die kollisionsrechtliche Dimension der Motivebene
Bezüglich der Motivebene des ordre public scheint eine kollisionsrechtliche Einordnung weitaus fernliegender zu sein als im Hinblick auf die soeben besprochene Folgenebene. Denn das Motiv ist nichts anderes als die im Einzelfall festgestellte ordre public-Widrigkeit des Anwendungsergebnisses. Dies scheint sich auf den ersten Blick tatsächlich stark von der abstrakt-generellen Natur des Kollisionsrechts abzuheben. Die Motivebene scheint insofern das größere Potential für eine erfolgreiche Abgrenzung des ordre public aufzuweisen. Im Folgenden soll deshalb untersucht werden, ob die Motivebene allein mit kollisionsrechtlichen Mitteln fassbar erscheint. I. Die kollisionsrechtliche Berufung der übergeordneten Rechtssätze in abstracto Es wurde bereits festgestellt, dass jeder Rechtssatz einer kollisionsrechtlichen Berufung bedarf.1184 Daher müssen auch die heimischen ordre public-Wertungen, welche lediglich als Motiv hinter der Abweisung des Fremdrechts und der Berufung des Ersatzrechts stehen, kollisionsrechtlich berufen werden. Nicht überzeugend ist jedoch die Vorstellung, dass es die Aufgabe des ordre public sei, alle übergeordneten Wertungen „en bloc“ im Sinne eines einheitlichen Anknüpfungsgegenstands zu berufen. 1185 Der Wortlaut der ordre publicKlauseln bietet für eine derartige Ansicht keine Anhaltspunkte. Zudem erscheint eine einheitliche Anknüpfung aufgrund der Heterogenität der in Betracht kommenden Wertprinzipien auch kaum möglich. Überzeugender erscheint es daher, unterschiedliche ordre public-Prinzipien auch nach unterschiedlichen Anknüpfungsmomenten zu behandeln. In diese Richtung scheint Schurig zu gehen, wenn er den ordre public als „das (unartikulierte) kumulative Kollisionsrecht der elementaren Wertprinzipien einer Rechtsordnung“ bezeichnet.1186 Eine solche Lesart ist jedoch kaum mit den herrschenden Vorstellungen von der Aufgabe des ordre public in Einklang zu bringen. Denn dieser setzt als einzelfallbezogene Ergebniskontrolle die abstrakte Anwendbarkeit der übergeordneten Wertungen voraus, ohne eigene diesbezügliche Vorgaben machen zu 1184
Siehe hierzu im 4. Kapitel unter A.I. Dies wird soweit ersichtlich auch nicht vertreten. Die in Fn. 1077 angesprochene Ansicht, wonach der § 138 BGB als „Eingriffsnorm“ anzuknüpfen sei, kommt einer solchen Berufung aller ordre public-Wertungen „en bloc“ jedoch recht nahe. 1186 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 252, 259, 267; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 524. Ähnl. wohl auch Michaels, in: FS Schurig, 2012, S. 192. In Ansätzen bereits Bucher, Grundfragen, 1975, S. 126. 1185
C. Die kollisionsrechtliche Dimension der Motivebene
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wollen. Im obigen Beispiel gesprochen: Der ordre public möchte nicht festlegen, in welchen Grenzen der Gleichberechtigungsgrundsatz in abstracto anzuwenden ist; vielmehr geht es ihm um die konkreten Folgen, welche aus dessen abstrakter Gültigkeit erwachsen. Der ordre public möchte also kein „Verfassungskollisionsrecht“ errichten. 1187 Es würde die herkömmlichen Vorstellungen im Hinblick auf die Aufgabe des ordre public überdehnen, wenn man diesen zur Bildung eines Kollisionsrechts für abstrakte ordre public-Wertungen einspannen würde. 1188 II. Die kollisionsrechtliche Berufung der übergeordneten Rechtssätze in concreto Der Einzelfallbezug des ordre public spricht dafür, dass auch eine kollisionsrechtliche Einordnung allenfalls dann gelingen kann, wenn man auf der Ebene der konkreten Auswirkungen der in abstracto als anwendbar vorausgesetzten ordre public-Wertungen ansetzt. Daher stellt sich die Frage, ob die einzelfallbezogene Anwendung jener Fundamentalwertungen als kollisionsrechtlicher Vorgang begriffen werden kann. Dies hängt entscheidend davon ab, ob die konkrete Anwendung eines Wertprinzips eine kollisionsrechtlich fassbare Rechtsnorm aus sich entlässt. 1189 1. Der Grundsatz: Subsumtion schafft kein neues Recht Der Vorgang der Auslegung und Anwendung eines Rechtssatzes auf den Einzelfall führt grundsätzlich nicht zur Schaffung neuen Rechts. Wenn etwa in einem konkreten Fall einem Verkäufer infolge der Anwendung des § 433 Abs. 2 BGB der Kaufpreis zugesprochen wird, entsteht hierdurch kein neuer Rechtssatz. Es ist jedoch fraglich, ob dieser Grundsatz bei Prinzipiennormen wie einer Wertung des ordre public durchgehalten werden kann.
1187 Indessen möchte Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 267 unter dem Dach des ordre public ein besonderes „Grundrechts-Kollisionsrecht“ herausbilden. Siehe zum Verfassungskollisionsrecht sogleich unter D.IV.3.a. 1188 Dies ändert freilich nichts daran, dass es ein Kollisionsrecht für ordre public-Wertungen gibt. Es ist nur nicht die Aufgabe des ordre public, ein solches zu begründen oder weiterzuentwickeln. 1189 Den Schwerpunkt auf die Konkretisierung der übergeordneten Norm legen auch Siehr, RabelsZ 36 (1972), 93, 107; ähnl. Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 522; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 319.
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
2. Die Ausnahme: Die Bildung von ad hoc-Sach- und Kollisionsnormen aus übergeordneten Wertungen Prinzipiennormen haben keine feste „Wenn-Dann“-Struktur.1190 Erst der Konkretisierungsvorgang erfüllt ein allgemeines Wertprinzip mit Leben, sodass dessen Anwendung stets zu einem einzigartigen Abwägungsergebnis führt. 1191 Dies führt zu der Besonderheit, dass das Anwendungsergebnis einer ordre public-Wertung als ad hoc gebildete Sachnorm abstrahiert werden kann. 1192 Besonders augenfällig ist dies in einem reinen Inlandssachverhalt: So kann die fallbezogene Konkretisierung einer Verfassungsnorm wie etwa der allgemeinen Handlungsfreiheit auch als eine Sachnorm abstrahiert werden, die beispielsweise das Reiten im Wald unter bestimmten Bedingungen erlaubt. 1193 Dies gilt freilich nicht nur für ordre public-Wertungen. Vielmehr kann jede einzelfallbezogene Anwendung einer ausreichend generellen Bestimmung als ad hoc-Sachnorm abstrahiert werden; dies wird etwa bei den anerkannten Fallgruppen des § 138 BGB erkennbar. Auch in Fällen mit internationalen Bezügen kann die konkrete Anwendung von ordre public-Wertungen als Bildung einer ad hoc-Sachnorm gelesen werden: Wenn wir etwa in einem konkreten Fall einen nach fremdem Erbrecht in Abhängigkeit von der Religionsverschiedenheit angeordneten Erbausschluss infolge der heimischen Wertung der Religionsfreiheit zurückweisen, 1194 so ist auch dies als Anwendung einer ad hoc-Sachnorm des Heimatrechts lesbar. Diese würde lauten: „Der Erbausschluss aufgrund Religionsverschiedenheit ist verboten“. Jene ad hoc-Sachnorm wäre mithilfe einer ebenfalls neugebildeten (Spezial-)Kollisionsnorm gegen die diskriminierende lex causae durchzusetzen.1195
1190
Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte, 1992, S. 314. Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 189. Im Ansatz auch Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 533. 1192 So auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 260, welcher die übergeordneten Rechtssätze des ordre public zunächst als abstrakten Rechtssatz berufen möchte, um dann zusätzlich konkretisierende ad hoc-Sachnormen zu bilden, welche ihrerseits durch neu zu bildendes Kollisionsrecht zu berufen sind. Ähnl. Siehr, RabelsZ 46 (1982), 357, 372. 1193 In Anlehnung an BVerfG, Urt. v. 06.06.1989 – 1 BvR 921/85, BVerfGE 80, 137. 1194 Siehe zu dieser Fallgruppe Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 409. 1195 Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 249, 260. Ähnlich wie bereits im Bereich der „Eingriffsnormen“ wird auch das „Inlandsbezug“-Kriterium des ordre public häufig als Anknüpfungsmoment einer Kollisionsnorm der Folgenebene dienen können (ähnl. Bucher, Grundfragen, 1975, S. 130; ähnl. auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 253; Epe, Funktion des Ordre public, 1983, S. 143). 1191
C. Die kollisionsrechtliche Dimension der Motivebene
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Eine Abstrahierung des Anwendungsergebnisses einer ordre public-Wertung als ad hoc-Sachnorm ist freilich dann entbehrlich, wenn eine konkretisierende Sachnorm bereits im Heimatrecht besteht. 1196 Existiert bereits eine solche Abstrahierung des jeweiligen Anwendungsergebnisses der ordre publicWertung, wäre nur noch eine Spezial-Kollisionsnorm zu bilden, die eine Berufung im nötigen Umfang vorsieht. 1197 Eine solche bereits existierende Ausprägung einer ordre public-Wertung ist etwa das oben angesprochene Vieleheverbot.1198 In einer kollisionsrechtlichen Kodifikation, die das Institut der „Eingriffsnorm“ kennt, würden solche geschriebenen oder ad hoc gebildeten Konkretisierungen von ordre public-Wertungen wohl als „Eingriffsnorm“ eingeordnet werden. 1199
Somit konnte gezeigt werden, dass auch die Motivebene des ordre public kollisionsrechtlich lesbar ist, sofern die durchzusetzende ordre public-Wertung in einer speziell anzuknüpfenden (gebildeten oder geschriebenen) Sachnorm des Forums verkörpert ist. Damit bestätigt sich zugleich die eingangs geäußerte Vermutung, dass im Falle der Berufung forumseigenen Ersatzrechts Motiv- und Folgenebene des ordre public verschmelzen: Eine geschriebene oder ad hoc aus ordre publicWertungen gebildete Sachnorm des Forumsrechts impliziert aufgrund ihrer besonderen, durch ordre public-Wertungen geprägten Interessenlage (Motivebene) eine abweichende kollisionsrechtliche Behandlung (Folgenebene), welche zur Durchsetzung gegenüber der lex causae führt. III. Die Berufung fremden Ersatzrechts als Grenze der kollisionsrechtlichen Einordnung der Motivebene An dieser Stelle ist ein kurzer Rückblick hilfreich: Nachdem festgestellt wurde, dass die Folgenebene des ordre public vollständig kollisionsrechtlich einzuordnen ist, war die Natur der Motivebene näher zu untersuchen. Zunächst hat sich hierbei herausgestellt, dass der ordre public die Anwendbarkeit fundamentaler Rechtssätze voraussetzt, ohne selbst eine Aussage zu
1196
Mit der Zunahme der Regelungsdichte ist zu vermuten, dass dies mittlerweile der Regelfall ist. Es ist dagegen auch nicht völlig ausgeschlossen, dass es weiterhin Bereiche gibt, in denen existierendes Forumsrecht noch nicht als Ausprägung eines konkreten Gebots übergeordneter Wertungen ausgelegt werden kann. 1197 Ebenso wie bei der „Eingriffsnorm“ gilt auch hier, dass das Anknüpfungsmoment klar zu formulieren ist. Sofern man die Durchsetzung einer Bestimmung für besonders dringlich erachtet, könnte sich hierfür eine Anknüpfung an den Gerichtsort anbieten. 1198 Siehe hierzu unter B.I. 1199 Dies bestätigt ein weiteres Mal, dass die gemeinwohlorientiert definierte Eingriffsnorm lediglich die positive Seite des ordre public zu beschreiben versucht (siehe hierzu bereits im 4. Kapitel unter C.IV.2.a.
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
deren abstrakter Berufung zu treffen. Es konnte also nur darum gehen, die konkrete Einzelanwendung der als anwendbar vorausgesetzten ordre public-Wertungen kollisionsrechtlich einzuordnen. Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass jede Anwendung genereller Prinzipiennormen auch als ad hoc-Sachnorm formulierbar ist. Daher konnte jedes Wirkenlassen heimischer ordre public-Wertungen auf der Motivebene zugleich als spezielle kollisionsrechtliche Durchsetzung einer geschriebenen oder ad hoc gebildeten Sachnorm des eigenen Rechts begriffen werden. Soweit man sich im Bereich des heimischen Ersatzrechts befindet, kann daher eine eigene Norm gleichzeitig sowohl die auf der Motivebene entscheidende Emanation einer ordre public-Wertung als auch die auf der Folgenebene als Ersatzrecht herangezogene Bestimmung sein. Damit kann auch die Motivebene im Fall des heimischen Ersatzrechts vollständig kollisionsrechtlich gelesen werden. Zu einem anderen Ergebnis muss man jedoch gelangen, wenn das Ersatzrecht anhand der lex causae gebildet wird oder drittstaatliches Recht darstellt. Hier kann die Motivebene des ordre public nicht mehr zugleich als spezielle Berufung geschriebener oder ad hoc gebildeter Sachnormen gelesen werden. Denn fremdes Ersatzrecht (bzw. eine fremde Ratio) kann wie besehen nicht mehr als Verkörperung eigener ordre public-Wertungen begriffen werden. Das Wirksamwerden der ordre public-Wertung auf der Motivebene fällt also im Gegensatz zum heimischen Ersatzrecht nicht mit der Durchsetzung der fremden Ersatzrechtsnorm auf der Folgenebene zusammen. Es sei kurz daran erinnert, dass die Berufung fremden Ersatzrechts nach dem Synthesemodell zwar in jedem Fall die Bildung einer heimischen Sachnorm zur Folge hat; dies führt jedoch nicht dazu, dass die synthetisierte (heimische) Rechtsnorm auch eine konkretisierende Verkörperung eigener ordre public-Wertungen ist. Denn die ersatzweise herangezogene Ratio des Fremdrechts entspringt nicht dem eigenen, sondern einem fremden ordre public. Auch die ordre public-Kontrolle des Syntheseergebnisses ändert hieran nichts (siehe hierzu ausf. oben unter B.I.).
Die kollisionsrechtliche Lesart der Motivebene des ordre public ist damit nur bei eigenem Ersatzrecht möglich, da nur dieses eine konkretisierende Emanation eigener ordre public-Wertungen darstellen kann. Eine kollisionsrechtliche Einordnung der Motivebene des ordre public versagt dagegen bei der Berufung fremden Ersatzrechts. IV. Schlussfolgerungen Daher muss die Abgrenzung des ordre public vom Kollisionsrecht im Bereich des heimischen Ersatzrechts als gescheitert betrachtet werden, kann dieser Fall doch auch als spezielle kollisionsrechtliche Durchsetzung einer geschriebenen oder ad hoc gebildeten heimischen Sachnorm mit ordre public-Gehalt gelesen werden.
C. Die kollisionsrechtliche Dimension der Motivebene
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Trotz dieses Ergebnisses ist die eingangs erwähnte Gefahr, wonach der Auftrag zur Kollisionsnormbildung durch den ordre public unterlaufen werden könnte, jedenfalls in der Theorie weitgehend gebannt. Denn auch im Bereich des heimischen Ersatzrechts setzen sich weder die übergeordneten Wertungen in abstracto noch die existierenden oder ad hoc geschaffenen Ersatznormen des Heimatrechts allein aufgrund ihres Fundamentalcharakters „unmittelbar“ durch. Wie gezeigt werden konnte, bedürfen nämlich auch die Ersatznormen des Heimatrechts einer ihrer Interessenlage entsprechenden (Element-)Kollisionsnorm. Es käme auch im Rahmen einer rein kollisionsrechtlichen Lesart des ordre public im Bereich heimischen Ersatzrechts darauf an, diese noch verborgenen Kollisionsnormen zu formulieren. Diese Parallelen zwischen der Eingriffsnorm und dem heimischen ordre public-Ersatzrecht sind nicht zufällig, versucht die herrschende Lehre doch wie besehen auch im Falle der Eingriffsnorm, Normen allein aufgrund deren fundamental-gemeinwohlbezogener Prägung „unmittelbar“ durchzusetzen.1200 Daher ist es wenig überraschend, dass beide Instrumente auf die Bildung spezieller Kollisionsnormen zurückgeführt werden können. Im Gegensatz zur Eingriffsnorm bedarf es jedoch bei der Berufung heimischen ordre public-Ersatzrechts nicht nur der Bildung einer Spezial-Kollisionsnorm, sondern häufig auch der Bildung einer die ordre public-Wertung konkretisierenden ad hoc-Sachnorm. Man schafft sich seine „Eingriffsnorm“ sozusagen selbst.
Ebenso wie im Bereich der „Eingriffsnormen“ ist damit im Rahmen des heimischen ordre public-Ersatzrechts ein Unterlaufen des Auftrags zur Kollisionsnormbildung nicht zu befürchten, ist hier doch nach derselben Methode die interessengerichtete Bildung (spezieller) Kollisionsnormen durchzuführen. Gleichwohl wäre es unbefriedigend, eine weitere Untersuchung zu unterlassen. Denn der Fall der Berufung fremden Ersatzrechts zeigt, dass das Kollisionsrecht allein offenbar ungenügend ist, um das Wesen des ordre public lückenlos zu erklären.1201 Außerdem ist die kollisionsrechtliche Lesart des ordre public selbst im Bereich heimischen Ersatzrechts angreifbar, da sie mit dem teilweise universellen Anspruch zahlreicher ordre public-Wertungen in Konflikt steht. 1202 So werden fundamentale Menschen- und Grund-
1200
Siehe hierzu im 4. Kapitel unter C.IV.2.a. Nicht in Betracht kann eine Beschränkung des ordre public auf den Fall der Berufung heimischen Ersatzrechts kommen. Es besteht offensichtlich ein praktisches Bedürfnis nach der Berufung fremden Ersatzrechts, wenngleich die reflexartige Anwendung des heimischen Ersatzrechts vor allem im internationalen Vergleich zugegebenermaßen der Regelfall ist. Der Ausnahmecharakter der Berufung fremden Ersatzrechts rechtfertigt jedoch kein Zurechtstutzen der Theorie auf den Regelfall. Eine Theorie muss sich gerade auch im Bereich der Ausnahmen beweisen, sodass auch der Fall der Anwendung fremden Ersatzrechts nach einer überzeugenden theoretischen Fundierung verlangt. 1202 Ähnl. Habermeier, Neue Wege, 1997, S. 87; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 307. Näher zu einem universalistischen Grundrechtsverständnis: Mahlmann, EuR 2011, 469 ff. 1201
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
rechte im Ergebnis immer herangezogen, wenn der durch die Zuständigkeit heimischer Gerichte oder Behörden vermittelte Inlandsbezug vorliegt.1203 Möchte man heimische Fundamentalwertungen in dieser Form praktisch ausnahmslos berufen, so wendet man sich von dem prinzipiellen Relativismus ab, welcher dem Kollisionsrecht zugrunde liegt. Begreift man den ordre public insofern als Tribut an absolut gedachte Fundamentalwertungen des Forums im relativistischen Kollisionsrecht, erscheint eine vollständig kollisionsrechtliche Lesart des ordre public ebenfalls wenig überzeugend.
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
Wenn damit der ordre public nicht einmal mithilfe größerer gedanklicher Verrenkungen vollständig kollisionsrechtlich eingeordnet werden kann, stellt sich die Frage nach Alternativen. So findet sich teilweise die Ansicht, dass der ordre public schlicht ein materieller Vorbehalt zugunsten fundamentaler Forumswertungen sei. 1204 Dies ist indessen nur schwer mit der kollisionsnormbildenden Kraft des ordre public in Einklang zu bringen, welche sich auf der Folgenebene des ordre public beobachten lässt: Infolge des Wirkens der ordre public-Wertungen als Motiv wird bestehendes oder ad hoc gebildetes Ersatzrecht nämlich kollisionsrechtlich berufen. Der ordre public ist daher zu kollisionsrechtlich für das materielle Recht und zu materiellrechtlich für das Kollisionsrecht. Muss man ihn daher als Instrument „sui generis“ begreifen, welches größtenteils kollisionsrechtlich eingeordnet werden kann, im Bereich des fremden Ersatzrechts jedoch eigene Wege geht? Eine solche Lösung ist zu vermeiden, wird das Kollisionsrecht doch ohnehin schon als Geheimwissenschaft verschrien 1205. An dieser Stelle soll daher im Geiste der vorherigen Kapitel versucht werden, den ordre public in eine bereits existierende, methodische Struktur einzupassen.
1203 Siehe hierzu bereits oben unter A.II.2. Während die praktisch ausnahmslose Anwendung fundamentaler Grund- und Menschenrechte durch eine Anknüpfung an den Gerichtsort noch eine Domäne der Literatur ist, ist eine lückenlose Anwendung von Normen des Völkerstrafrechts mit § 1 VStGB sogar Gesetz geworden (siehe hierzu D. Magnus, in: FS Magnus, 2014, S. 693). 1204 Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 50; Hirse, Ausweichklausel, 2006, S. 75; Benzenberg, Behandlung ausländischer Eingriffsnormen, 2008, S. 153 ff. Ähnl. schon Lewald, Règles générales, 1941, S. 121. – Ähnl. auch die Ansichten, die den ordre public als Auslegungsregel verstehen möchten, welche bei jeder Kollisionsnorm mitgelesen werden muss: Marti, Vorbehalt, 1940, S. 67 ff.; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 40; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 128. 1205 Siehe hierzu die Nachw. im 3. Kapitel unter D.II.3.c.cc.
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
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Auf der Grundlage der insbesondere im 3. Kapitel dargelegten Kollisionsrechtsmethodik erscheint es nämlich möglich, den ordre public auch als Verweis auf den internen Rangkollisionskonflikt zu verstehen.1206 Zur Terminologie: Der Begriff des Rangkollisionsrechts wird nicht einheitlich verwendet. Manche Autoren möchten hierunter nur das Rangverhältnis von Normen unterschiedlicher Rechtsquellen verstehen, weshalb Bestimmungen, die das verfassungsrechtliche Rangverhältnis oder das Verhältnis gleichrangiger konkurrierender Normen regeln, als „Konkurrenzoder Konfliktsnormen“ einzuordnen seien. 1207 Da es sich jedoch eingebürgert hat, auch im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Normhierarchie vom „Rang“ eines Rechtssatzes zu sprechen, erscheint es natürlicher, zumindest diesen Fall auch als „Rangkollision“ zu begreifen. Dem Rangkollisionsrecht steht das „internationale Kollisionsrecht“ gegenüber. Dieses beantwortet die Frage, wann eigene und fremde Rechtssätze bei Auslandsbezügen anzuwenden sind; es geht also um das IPR und IÖR.
Bei einer rangkollisionsrechtlichen Lesart des ordre public wäre dieser also ein Vorbehalt zugunsten derjenigen Vorschriften, die nach der Verfassung des Forums über der normhierarchischen Stufe des international-kollisionsrechtlich berufenen Rechts stehen.1208 Der ordre public würde damit im Gegensatz zum herkömmlichen, internationalen Kollisionsrecht den innerstaatlichen, vertikalen1209 Normkonflikt betreffen. 1210 I. Bedeutung und Exemplifizierung Im Rahmen einer rangkollisionsrechtlichen Lesart ist der ordre public schlicht die Fortsetzung der Überprüfbarkeit des konkreten Entscheidungsergebnisses und seiner normativen Grundlagen anhand übergeordneter (Verfassungs-) Wertungen: Lehnt etwa ein deutsches Gericht die Folgen eines fremden, subsidiären Fiskuserbrechts im Einzelfall als ordre public-widrig ab,1211 so steht dahinter ein Verstoß des Anwendungsergebnisses oder seiner Grundlagen gegen Art. 14 GG. 1206 In Ansätzen ähnl. Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 190; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 180 ff., insb. S. 183. Dagegen möchte Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 183 der normhierarchischen Überordnung lediglich Indizcharakter beimessen. 1207 Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 107 sowie Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 46 f. 1208 Ähnl. Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 191. 1209 So Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 190, 205 f. Dies ist freilich nicht mit der vertikalen Bündelung von Kollisionsnormen zu verwechseln (siehe hierzu ausf. im 3. Kapitel unter D.II.3.). 1210 Es ist daher ungenau, das Kollisionsrecht schlechthin mit dem internationalen Kollisionsrecht zu identifizieren. 1211 Siehe zur ordre public-Widrigkeit des „Heimfallrechts“: Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 332; Wendehorst, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 43 EGBGB, Rn. 118.
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
Insofern hat die Motivebene im rangkollisionsrechtlichen Modell nichts international-kollisionsrechtliches an sich – und zwar unabhängig von der Berufung eigenen oder fremden Ersatzrechts. Anders auf der Folgenebene: Da der Richter eine mit höherrangigem Recht verträgliche Lösung zu entwickeln hat, muss er auch im rangkollisionsrechtlichen Modell das Ersatzrecht kollisionsrechtlich berufen. Daher können die obigen Ergebnisse zur Kollisionsrechtlichkeit der Folgenebene übertragen werden: Infolge der rangkollisionsrechtlichen Ablehnung des Anwendungsergebnisses auf der Motivebene kann demnach auf der Folgenebene die Bildung eines Verweises auf drittstaatliches Ersatzrecht oder die lex fori geboten sein. Im Falle der Lückenfüllung innerhalb des Wirkungsstatuts fließen die ranghöheren Wertungen nicht nur in die Bildung einer Kollisionsnorm, sondern zugleich in die Bildung der forumseigenen, lex causae-nahen Sachnorm ein. 1212 In jedem Fall ist die kollisionsrechtliche Interessenlage der ersatzrechtsberufenden Verweisung maßgeblich davon bestimmt, einen weiteren Verstoß gegen die ranghöheren Wertungen zu vermeiden. Der Rangkollisionskonflikt als Motiv wirkt damit auf der Ebene der Folgen fort. Auf der Folgenebene ändert sich auch nichts daran, dass die ranghöheren Wertungen im Falle der Berufung eigenen (ggf. ad hoc gebildeten) Ersatzrechts nicht nur als Motiv, sondern auch als im Ersatzrecht verkörperter Gegenstand auftreten.1213 So wäre etwa ein diskriminierendes Scheidungsstatut auf der Motivebene aufgrund eines rangkollisionsrechtlichen Verstoßes gegen Art. 3 GG abzulehnen und heimisches Scheidungsrecht ersatzweise auf der Folgenebene als Emanation ebendieser ranghöheren Gewährleistungen zu berufen. Fehlt es schließlich im Falle der forumseigenen Ersatzrechtsberufung an einer geschriebenen Konkretisierung, so ist diese auch hier ad hoc auszubilden. Der maßgebliche Unterschied zur rein kollisionsrechtlichen Lesart des ordre public liegt also nur in der rangkollisionsrechtlichen Einordnung der Motivebene des ordre public.1214 Der Werkzeugkoffer der „Folgenebene“ bleibt international-kollisionsrechtlich. Revolutionär ist das nicht: Auch in internen Fällen kann ein Konflikt mit ranghöheren Wertungen zur Ablehnung oder zur verfassungskonformen Veränderung und Neubildung einfachen Rechts führen; das übergeordnete Recht ist schließlich ein entscheidender Motor der Rechtsentwicklung. 1215 1212
Siehe zu dieser Methode bereits oben unter B.II. Beispiele hierfür finden sich oben unter B.I. 1214 Zur international-kollisionsrechtlichen Berufung ranghöheren Rechts wird sogleich Stellung genommen. Wie besehen, setzt der ordre public aber deren Anwendbarkeit voraus, sodass die Frage eines „Verfassungskollisionsrechts“ nichts mit der Natur des ordre public zu tun hat. 1215 Ähnl. Siehr, RabelsZ 36 (1972), 93, 111 ff., welcher die Bildung einseitiger Kollisionsnormen aufgrund der Rangkollision hervorhebt. – I.E. auch die Ansichten, welche die Bildung neuer Kollisionsnormen aus dem ordre public betonen: Kegel, in: FS Lewald, 1953, 1213
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
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Dadurch ergibt sich ein zweistufiges Anwendungsprogramm: Auf der Motivebene wird das Ergebnis der Fremdrechtsanwendung als Verstoß gegen höherrangiges Recht abgelehnt. Auf der Folgenebene sind Kollisions- und Sachnormen auszubilden, welche die gerissene Lücke auffüllen. Die methodischen Unterschiede zwischen Motiv- und Folgenebene sollten nicht als Renaissance des Negativitätsdogmas missverstanden werden: Die rangkollisionsrechtliche Ablehnung auf der Motivebene ist auch in diesem Modell untrennbar mit der Lückenfüllung auf der Folgenebene verbunden.
Im Rahmen der Ersatzrechtsberufung auf der Folgenebene wird es schwerpunktmäßig um die folgenden Konstellationen gehen: 1. Var.: Entwicklung einer lex-causae-nahen (forumseigenen) Sachnorm mit entsprechender Kollisionsnorm 2. Var.: Entwicklung einer Kollisionsnorm, die drittstaatliches Ersatzrecht beruft 3. Var.: Entwicklung einer Kollisionsnorm, die forumseigenes Ersatzrecht beruft 4. Var.: Entwicklung ad hoc gebildeten (forumseigenen) Ersatzrechts mit entsprechender Kollisionsnorm Welche Variante im Einzelnen heranzuziehen ist, ist eine Frage des Einzelfalls. Auch weitere Lösungen sind nicht auszuschließen, kann sich das Forum doch grundsätzlich frei dazu entscheiden, in welcher Form es dem rangkollisionsrechtlichen Auftrag der Motivebene gerecht wird. So ist es infolge der autonomen Kollisionsrechtsverfassung durchaus auch denkbar, dass das Forum bei rangkollisionsrechtlicher Unvereinbarkeit (d.h. ordre public-Widrigkeit) des Anwendungsergebnisses ausschließlich forumseigenes Ersatzrecht beruft. 1216 Ebenso möglich ist es, dass die ranghöheren Wertungen eine ersatzweise Anwendung des Forumsrechts sogar verbieten. 1217 Schlussendlich ist auch nicht ausgeschlossen, dass ranghöhere Wertungen gerade die richterliche Bildung einer Fremdrechtsverweisung untersagen, etwa im Bereich der formellen Anforderungen des Art. 14 GG. 1218 S. 269; Kegel, Probleme des internationalen Enteignungs- und Währungsrechts, 1956, S. 14; Neumayer, in: FS Dölle II, 1963, S. 197 („Brutglocke werdender Rechtsideen“); ähnl. Bucher, Grundfragen, 1975, S. 138 f.; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 57; Jayme, Methoden der Konkretisierung des Ordre public, 1989, S. 19 ff.; Vischer, RabelsZ 53 (1989), 438, 457; Kegel/Schurig, IPR, 9. Aufl. 2004, S. 147 ff. Speziell zur Bildung von Kollisionsnormen aufgrund ranghöheren Unionsrechts: Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 637 f., 647 ff.; Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 441. 1216 So etwa die romanischen Staaten, siehe hierzu die Nachw. in Fn. 1166. 1217 Ähnl. Schulze, Das öffentliche Recht im IPR, 1972, S. 179; Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 53. 1218 v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 125.
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
II. Verhältnis zum rangkollisionsrechtlichen Einfluss auf die kollisionsrechtliche Interessenlage Der Einfluss übergeordneter Wertungen auf die kollisionsrechtliche Interessenlage ist keine Eigenheit der Folgenebene des ordre public. Vielmehr stellt eine Prägung des Kollisionsrechts durch ranghöhere Wertungen den modernen Regelfall dar.1219 Weite Bereiche der in den vorherigen Kapiteln diskutierten Interessen sind in irgendeiner Weise auf ranghöhere Wertungen zurückführbar. Möchte eine kumulative Anknüpfung im Internationalen Familienrecht etwa das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs befördern, so ist die kollisionsrechtliche Interessenlage stark von der Wertung des Art. 6 GG geprägt. Die Prägung der Folgenebene des ordre public durch ranghöhere Wertungen ist damit kein Alleinstellungsmerkmal. III. Hindernisse der rangkollisionsrechtlichen Lesart des ordre public Nun mag man einwenden, dass es sich bei der rangkollisionsrechtlichen Lesart des ordre public um eine unzulässige Verfassungskontrolle ausländischen Rechts bzw. ausländischer Hoheitsgewalt handle. 1220 Dem ist zu entgegnen, dass fremdes Recht gar nicht „als ausländisches“ angewandt wird, denn jede Fremdrechtsberufung führt infolge der Nichtbeachtung des fremden Imperativs zur Synthese eines heimischen Rechtssatzes. 1221 Der Gegenstand der rangkollisionsrechtlichen Kontrolle ist nämlich das ohnehin dem heimischen Recht zugehörige Syntheseergebnis. Es handelt sich daher um die Kontrolle formal eigenen Rechts anhand eigener, übergeordneter Wertungen. Das Verdikt der Verfassungswidrigkeit richtet sich somit nicht gegen fremdes Recht, sondern nur gegen fremde Rationes. Es ist nicht einzusehen, weshalb eine solche verfassungsrechtlich unterfütterte Ablehnung fremder, in heimische Gewänder gekleideter Rechtsgedanken ausgeschlossen sein sollte.1222
1219 Ähnl. Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 334 ff., 479 ff.; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 5. Dem europäischen Gesetzgeber ist eine Prägung durch ranghöhere Wertungen bereits eine Selbstverständlichkeit, wie etwa anhand Erwägungsgrund Nr. 30 Rom III-VO sichtbar wird („Diese Verordnung wahrt die Grundrechte und achtet die Grundsätze, die mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.“; es folgt eine Aufzählung einzelner Grundrechte). 1220 Ähnl. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 161 f., wonach es sich bei der Anwendung fremden Rechts nicht um deutsche Hoheitsgewalt handele. Möglich bleibe aber eine „mittelbare“ Verfassungsprüfung, da Gerichte und Behörden auch bei der Anwendung ausländischen Rechts deutsche Staatsgewalt ausüben würden. 1221 Siehe hierzu bereits ausf. im 3. Kapitel unter D.I.1.f.bb. 1222 Formal richtet sich das Verdikt der Verfassungswidrigkeit hier sogar nicht einmal gegen einen bestimmten Staat, da die Ratio als Rechtsidee potentiell universell ist (siehe hierzu im 3. Kapitel unter D.I.1.b.
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
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Die verfassungsmäßige Überprüfung des heimischen Syntheseergebnisses ist zudem nicht nur möglich, sondern auch geboten, muss doch dessen inländische Rechtsnatur auch zur intrakonstitutionellen Geltung führen. 1223 In den Worten Schinkels‘: „Wenn der Gesetzgeber fremde Rechtsideen […] über eine eigene Rechtsnorm zum verbindlich abstrakt generell Gesollten macht, so hat er für die Verfassungsgemäßheit der Problemlösung […] einzustehen.“1224
Schließlich baut die Angst vor einer „Verfassungskontrolle ausländischen Rechts“ auch maßgeblich auf der im IPR so geläufigen wie abzulehnenden Übertragung völkerrechtlicher Denkmuster auf. 1225 Das Kollisionsrecht ist keine völkerrechtliche Zuständigkeitsordnung, weshalb eine Kontrolle fremder Rechtsgedanken anhand eigener Verfassungswertungen auch kein Souveränitätsproblem ist. 1226 Eine rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public steht auch nicht im Konflikt mit der weiten Verbreitung der ordre public-Klauseln. Denn die Vorstellung einer innerstaatlichen Normhierarchie ist auch international durchaus verbreitet – freilich in höchst unterschiedlichen Ausprägungen und Kodifikationsgraden.1227 Es ist daher zu vermuten, dass eine rangkollisionsrechtliche Einordnung des ordre public grundsätzlich auch auf fremde Kollisionsrechtssysteme übertragbar ist. IV. Vorteile Im Folgenden ist zu zeigen, dass sich eine rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public überraschend gut in die deutsche Rechtswirklichkeit einfügt und manchen Stolperstein der ordre public-Dogmatik zwanglos überwinden kann.
1223 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 116, 134 ff., 187; Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 150. 1224 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 134. Dagegen Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 137 f., wonach nur im IÖR die Grundrechtskontrolle bereits bei der Frage der Fremdrechtsverweisung beginne, wohingegen im IPR der Grundrechtsschutz beim ordre public angesiedelt sei. Begreift man das Ergebnis der Fremdrechtsverweisung jedoch richtigerweise als heimische, synthetisierte Rechtsnorm, so kommt es auch bei zivilrechtlichen Rationes bereits im Stadium der Fremdrechtsverweisung zur Verfassungskontrolle. 1225 Siehe hierzu bereits ausf. im 3. Kapitel unter D.I.1. 1226 Ähnl. Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 190. 1227 Sie wird zwar am Beispiel der deutschen Vorliebe für Normpyramiden besonders plastisch. Insbesondere ungeschriebene übergeordnete Prinzipien, Leitsätze und Maximen lassen sich indessen in zahlreichen Rechtsordnungen beobachteten (eine Umschau findet sich bei Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, S. 49 ff.).
266
6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
1. Die Verfassungskontrolle des Syntheseergebnisses als konsequente Fortführung der Verfassungskontrolle heimischen Kollisionsrechts Durch ein rangkollisionsrechtliches Modell wird auf der Seite der Berufung und Anwendung fremden Rechts nachvollzogen, was im Bereich abstrakter Kollisionsnormen und genuin eigener Sachnormen längst eine Selbstverständlichkeit ist. Während die verfassungsmäßige Überprüfbarkeit eigener zivilrechtlicher Normen und deren konkreter Anwendung in der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit bereits seit der Lüth-Entscheidung 1228 anerkannt ist, erstreckte das BVerfG die Verfassungskontrolle erst 1971 auch auf Kollisionsnormen: Im Spanier-Beschluss erklärte es die Mannesrechtsanknüpfung im Internationalen Familienrecht für gleichberechtigungswidrig. 1229 Damit wurde jenen Ansichten eine Absage erteilt, die die verfassungsmäßige Überprüfbarkeit des Kollisionsrechts ausschließen oder beschränken wollten. 1230 1228 BVerfG, Urt. v. 15.01.1958 – 1 BvR 400/51, BVerfGE 7, 198. Siehe hierzu auch Maultzsch, RabelsZ 75 (2011), 60, 83. Siehe zur Bindung des Zivilrichters an die Grundrechte mittels der Lehre von der mittelbaren Drittwirkung auch Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff. Armbrüster, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, §134 BGB, Rn. 34. 1229 BVerfG, Urt. v. 04.05.1971 – 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58 = NJW 1971, 1509 ff.: Der Vorrang der Verfassung erfasse auch das IPR, weshalb dieses vollumfänglich an den Grundrechten zu messen sei (a.a.O. S. 1510). Zudem könne der Gesetzgeber die Reichweite der Verfassung nicht durch einfaches (Kollisions-)Recht bestimmen (a.a.O. S. 1511). Näher hierzu Guradze, NJW 1971, 2121, 2121; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 179 ff.; v.Bar, NJW 1983, 1929 ff. Beitzke, IPRax 1985, 268 ff.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 41 ff. Siehe außerdem BVerfG, Urt. v. 08.01.1985 – 1 BvR 830/83, NJW 1985, 1282, 1282 für die Mannesrechtsanknüpfung i.R.d. Art. 17 EGBGB a.F. sowie BGH, Urt. v. 08.12.1982 – IVb ZR 334/81, NJW 1983, 1259, 1259 f. zur Übernahme des Spanier-Beschlusses durch den BGH. – Die Mannesrechtsanknüpfung lässt sich i.Ü. auf Savigny, System VIII, 1849, S. 325 zurückführen. Seine Begründung illustriert nicht nur die Durchdringung des Kollisionsrechts mit materiellen Gedanken, sie regt aus heutiger Perspektive auch zum Schmunzeln an: „Ueber den wahren Sitz des ehelichen Verhältnisses ist kein Zweifel; er ist anzunehmen am Wohnsitz des Ehemannes, der nach den Rechten aller Völker und aller Zeiten als das Haupt der Familie anerkannt werden muß.“ Die universelle Gültigkeit dieses Satzes bezweifelte bereits Kahn, JhJb 30 (1891), 1, 112. 1230 So vertraten einige Autoren die Ansicht, das IPR weise den Grundrechten selbst ihren Anwendungsbereich zu (siehe hierzu Wengler, JZ 1965, 100, 101; Gamillscheg, ZfA 1983, 307, 314 f., Fn. 16 m.w.N.). Der BGH wollte vor dem Spanier-Beschluss eigene Kollisionsnormen nur mithilfe der Vorbehaltsklausel und im Bereich des Wesensgehalts des Grundrechts durch die Verfassung kontrollieren (BGH, Urt. v. 12.02.1964 – IV AR (VZ) 39/63, BGHZ 41, 136 = NJW 1964, 976, 979; BGH, Urt. v. 29.04.1964 – IV ZR 93/63, NJW 1964, 2013, 2014). Indessen sprachen sich bereits Sonnenberger, Bedeutung des GG für das IPR, 1962, S. 114, 179; Wengler, JZ 1965, 100, 101 für eine vollumfängliche verfassungsmäßige Überprüfbarkeit des Kollisionsrechts aus. Siehe zu weiteren Stimmen vor und nach dem Spanier-Beschluss auch Kreuzer, in: FS Benda, 1995, S. 160 ff. Im Ergebnis befürworten auch diejenigen Autoren eine Verfassungskontrolle der eigenen Kollisionsnormen, welche
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
267
Wer das IPR als völkerrechtliches Kompetenzverteilungsrecht betrachten möchte, der sieht es natürlich nur äußerst ungern, wenn ein nationales (Verfassungs-)Gericht über die Ausgestaltung der Kollisionsnormen judiziert. Hierdurch mag sich die Abwehrhaltung zahlreicher Autoren zu Zeiten des Spanier-Beschlusses erklären.
Heute wird die verfassungsmäßige Überprüfbarkeit des Kollisionsrechts nicht mehr angezweifelt. 1231 Sie ist zur Selbstverständlichkeit geworden. 1232 Gleiches gilt für den Einfluss des Unionsverfassungsrechts auf das nationale und unionale Kollisionsrecht. 1233 den ordre public auch zur Korrektur eigenen Kollisionsrechts einsetzen wollen (siehe hierzu Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 52). 1231 Siehr, IPRax 1973, 466, 474 f.; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 169; Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte, 1992, S. 23; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 40; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 27 m.w.N. 1232 Dies illustrieren die folgenden Beispiele: So diskutieren etwa v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 4, Rn. 45 ff. die Verfassungsmäßigkeit der Art. 5, 25 Abs. 2 EGBGB sowie die Verhältnismäßigkeit der Sitztheorie im Hinblick auf die Art. 2, 12, 14 GG. Rauscher, IPR, 4. Aufl. 2012, § 3, Rn. 197 hält angesichts verfassungsrechtlicher Wertungen eine Abkehr vom Staatsangehörigkeitsprinzip für geboten (dagegen: v.Hein. in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 5 EGBGB, Rn. 52). 1233 Brödermann/Iversen, Europäisches Gemeinschaftsrecht und IPR, 1994, S. 212 ff., 252, Rn. 524; Roth, in: Reichert-Facilides/Basedow (Hrsg.), Aspekte des internationalen Versicherungsvertragsrechts, 1994, S. 41; Mankowski, RabelsZ 61 (1997), 750, 756; Krebber, ZVglRWiss 97 (1998), 124, 160; ausf. Fetsch, Eingriffsnormen und EG-Vertrag, 2002, S. 87 ff.; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 38 ff.; Beulker, Eingriffsnormenproblematik, 2005, S. 129; Coester-Waltjen, in: Kieninger (Hrsg.), Europ. Kollisionsrechtsvereinheitlichung, 2012, S. 78; Deinert, Internationales Arbeitsrecht, 2013, S. 39, Rn. 23; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 195 ff. Infolgedessen wird häufig auch die unionsrechtliche Anreicherung des ordre public besonders hervorgehoben: Samtleben, IPRax 1981, 218, 245; Kreuzer, IPRax 1984, 293, 295; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 3, Rn. 46, § 7, Rn. 271 f. Freitag, in: Leible (Hrsg.), Grünbuch zum Internat. Vertragsrecht, 2004, S. 190; Heinze, in: FS Kropholler, 2008, S. 121 ff.; Stürner, GPR 2014, 317, 322; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 178. – Auch der EuGH betont i.E. die Notwendigkeit eines unionsrechtskonformen Kollisionsrechts, wenn er die Bindung der Eingriffsnormdurchsetzung an das Unionsverfassungsrecht hervorhebt: EuGH, Urt. v. 23.11.1999 – C-369/96 & C-376/96, Slg. 1999, I-8498 (Arblade), Rn. 31; EuGH, Urt. v. 17.10.2013 – C-184/12, ECLI:EU:C:2013:663 (Unamar), Rn. 46; Schlussantrag GA Wahl vom 15.05.2013, C‑184/12, ECLI:EU:C:2013:301, Rn. 37. Siehe zur Notwendigkeit der Unionsrechtskonformität der Eingriffsnormdurchsetzung auch: Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 660; Grundmann, IPRax 1992, 1, 4; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 29; Fallon, Rev. crit. dr. int. pr. 2000, 710; Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten, 2003, S. 212; Günther, Anwendbarkeit ausländischer Eingriffsnormen, 2011, S. 117; Staudinger, in: Schulze-BGB, 8. Aufl. 2014, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 4; Schmidt-Kessel, in: Ferrari, Rome I pocket commentary, 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 28 ff. Remien, in: PWW, 10. Aufl. 2015, Art. 9 Rom I-VO, Rn. 47; v.Hein. in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 3 EGBGB, Rn. 88. – Als maßgebliche Schranken des Unionsrechts werden vor allem
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
Hat man nun einmal erkannt, dass die Fremdrechtsverweisung lediglich zur Synthese einer ebenfalls dem heimischen Recht zugehörigen Einzelnorm führt, ist es schlicht ein Gebot der Kohärenz, nicht nur eigenes Kollisionsrecht, sondern auch das intrakonstitutionell geltende Syntheseergebnis einer Verfassungskontrolle zu unterziehen. 1234 Ebenso wie hinsichtlich heimischen Sachrechts ist hierbei das Syntheseergebnis selbst und seine konkrete Anwendung Gegenstand einer Kontrolle anhand ranghöherer Sätze. Daher kann ein synthetisierter Rechtssatz mit bereits abstrakt in jeder Auslegungsvariante gleichberechtigungswidriger Ratio als verfassungswidrig zurückgewiesen werden. 1235 Ebenso kann sich ein Konflikt mit höherrangigen Wertungen auch erst nach der Anwendung eines Syntheseergebnisses mit abstrakt nicht anstößiger Ratio ergeben. Eine bereits abstrakte Zurückweisung des synthetisierten Rechtssatzes wird im Bereich klassischer „Eingriffsnormen“ des Fremdrechts den Regelfall darstellen, da hier nur eine einzelne fremde Ratio (etwa ein fremdes Einreiseverbot) zu einem heimischen Rechtssatz synthetisiert wird. Verstößt der synthetisierte Rechtssatz gegen höherrangiges Recht – etwa weil gleichberechtigungswidrig nur bestimmte Personen oder Volksgruppen ohne sachlichen Grund von einem Einreiseverbot erfasst sind – kann der Rechtssatz bereits abstrakt als verfassungswidrig zurückgewiesen werden. Wird dagegen ein ganzes fremdes Normensystem in Bezug genommen (etwa aufgrund eines fremden Vertragsstatuts), wird der Konflikt mit ranghöherem Recht erst in der konkreten Anwendung sichtbar. Dies kann darin begründet sein, dass erst infolge der konkreten Anwendung eine bereits abstrakt verfassungswidrige Ratio des Fremdrechts entdeckt wird oder dass tatsächlich erst die konkrete Anwendung einer abstrakt verfassungskonformen Ratio zu anstößigen Ergebnissen führt. Die Verfassungskontrolle des Syntheseergebnisses widerspricht dem bereits besprochenen Grundsatz von der Nichtrevisibilität fremder Rationes nicht. 1236 Denn die einfachgesetzliche Frage der Nichtrevisibilität fremden Rechts kann keine Auswirkungen auf den Umfang der verfassungsrechtlichen Kontrolle haben.1237 Hinzu kommt, dass der Nichtrevisibilitätsgrundsatz nur deshalb aufrechterhalten wurde, weil der BGH bei ungeklärten Fragen im Hinblick auf die Anwendung und Auslegung fremder Rationes keine endgültige Klärung herbeiführen kann. Die Verfassungskontrolle stellt dagegen bekanntlich keine Superrevision dar, vielmehr
das Diskriminierungsverbot und die Grundfreiheiten hervorgehoben: Roth, RabelsZ 55 (1991), 623, 640 ff.; Heiss, in: Czernich, EVÜKomm, 1999 Art. 7 EVÜ, Rn. 5; Sonnenberger, ZVglRWiss 95 (1996), 3, 15 ff.; Stoll, Eingriffsnormen, 2002, S. 74 ff.; Kuckein, „Berücksichtigung“ von Eingriffsnormen, 2008, S. 62. Zur EuGrCh: Callsen, Eingriffsnormen und Ordre public-Vorbehalt, 2015, S. 480 ff. 1234 Siehe hierzu bereits oben unter D.III. 1235 Siehe hierzu anhand des Art. 10 Rom III-VO sogleich. 1236 Siehe hierzu im 3. Kapitel unter D.I.1.f.bb. 1237 So auch Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 30.
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
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handelt es sich um eine Überprüfung auf spezifische Verfassungsverletzungen. Es geht nicht um ungeklärte Rechtsfragen hinsichtlich der ausländischen Ratio, sondern um die Frage, ob das Syntheseergebnis bzw. dessen Anwendung mit der Verfassung vereinbar ist. Es interessiert insbesondere nicht, ob die fremde Ratio nach ihrem Sinn und Zweck „richtig“ angewandt wurde, sondern nur, ob deren Anwendung den Verfassungswertungen genügt. Hierüber kann endgültig entschieden werden. Mithin greift der Kerngedanke, der zum Ausschluss der Revision fremder Rationes führte, nicht hinsichtlich der Verfassungskontrolle.
2. Die faktische Verfassungskontrolle im Rahmen der herkömmlichen Dogmatik Zudem wird unter dem Dach des ordre public auch heute schon de facto eine verfassungsrechtliche Überprüfung des Ergebnisses der Fremdrechtsanwendung durchgeführt. 1238 So hebt nicht nur der Art. 6 S. 2 EGBGB die Rolle der Grundrechte besonders hervor, 1239 auch die Methodik des ordre public entspricht einer Abwägung zwischen verfassungsrechtlichen Gütern. 1240 Vermeintliche Eigenheiten des ordre public entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als verfassungsrechtlich untermauerte Prinzipien: So ist etwa der Fokus des ordre public auf das Ergebnis im Einzelfall gerade das Fundament der Verfassungsbeschwerde gegen einen Einzelakt. Des Weiteren ist es ein anerkannter verfassungsrechtlicher Grundsatz, dass die Besonderheiten eines Auslandssachverhalts auch auf der Verfassungsebene zu berücksichtigen sind; insbesondere im Falle eines Auslandsbezugs ist ein niedrigeres grundrechtliches Schutzniveau durchaus hinzunehmen. 1241 Damit ist selbst im Hinblick auf die Grundrechte ein gewisser Relativismus zu beobachten. Dies korreliert mit der Frage eines Verfassungskollisionsrechts, worauf sogleich näher einzugehen ist.
Auch bezüglich der ordre public-Wertungen als solchen kann mit gutem Grund vermutet werden, dass diese in der Regel auf ranghöheres Recht zurückführbar
1238
Ähnl. Ohler, in: Leible/Ruffert (Hrsg.), Völkerrecht und IPR, 2006, S. 135. Siehe zur Geschichte des Art. 6 S. 2 EGBGB Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte, 1992, S. 24. 1240 So bereits Marti, Vorbehalt, 1940, S. 83. Die Verwandtschaft der ordre public-Kontrolle mit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ebenfalls herausstellend: Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 367; Kreuzer, in: FS Benda, 1995, S. 167; Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994, S. 127 ff.; Looschelders, RabelsZ 65 (2001), 463, 481. Besonders sichtbar bei: Wasmuth, in: Liber amicorum Kegel, 2002, S. 247 ff.; hinsichtlich der Grundfreiheiten auch bei Hauser, Eingriffsnormen, 2012, S. 15. – Dies gilt auch für die faktische Kontrolle durch Unionsverfassungsrecht. 1241 So gebietet die Einordnung in die Staatengemeinschaft, dass bei einer Auslieferung nur die Verletzung der unabdingbaren Grundsätze der verfassungsrechtlichen Ordnung zu prüfen ist: BVerfG, Urt. v. 24.06.2003 – 2 BvR 685/03, NWwZ 2003, 1499; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 66. 1239
270
6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
sind.1242 So kann etwa der Grundsatz der Verjährung auf die verfassungsrechtlich untermauerten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens zurückgeführt werden. 1243 Sofern ein im Rahmen des ordre public durchgesetztes Wertprinzip einmal keine Ausprägung eines bestehenden Grundsatzes des Verfassungsrechts darstellt, kann sich dahinter auch ein Prinzip des Verfassungsgewohnheitsrecht 1244 verbergen. Dies mag im deutschen Grundgesetz anhand der hohen Kodifikationsdichte selten sein; 1245 in anderen Rechtsordnungen wird dies häufiger vorkommen. Je geringer die Anzahl geschriebener, ranghöherer Prinzipien ist, desto häufiger wird der Richter auch erst im Rahmen des ordre public überhaupt die Gelegenheit haben, über das Bestehen eines rangkollisionsrechtlich übergeordneten, gegebenenfalls verfassungsgewohnheitsrechtlichen Prinzips zu reflektieren. Schließlich ist insbesondere in den Bereichen ohne das Instrument der „Eingriffsnorm“ festzustellen, dass der ordre public teilweise auch schlicht als Schleier der Kollisionsnormbildung fungiert. In dem Fall verbirgt sich hinter der Berufung auf einen „fundamentalen“ Wert häufig nur ein abweichendes kollisionsrechtliches Interesse, welches nach dem bereits ausführlich besprochenen Schema eine spezielle Anknüpfung bestimmter Sachnormen gebietet. Wenn etwa ein niederländisches Gericht heimische Preisvorschriften für den Import von Blumenkohl mithilfe des ordre public gegen eine fremde lex causae durchsetzt,1246 so stellen jedenfalls die durchgesetzten Bestimmungen vermutlich keine Konkretisierungen ranghöherer Wertungen dar. Hier geht es ebenso wie bei der „Eingriffsnorm“ schlicht darum, dass Preisvorschriften abweichende kollisionsrechtliche Interessen implizieren und daher speziell anzuknüpfen sind. 1247 3. Nachvollziehung der richterlichen und legislativen Verfassungsbindung Eine Rechtsordnung, die ihren normhierarchisch übergeordneten Prinzipien praktische Wirksamkeit verschaffen möchte, muss ihre Staatsgewalt hieran 1242
Dagegen Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 180, wonach der Maßstab des ordre public weiter sei als die Verfassung. 1243 Siehe außerdem auch Remien, Zwingendes Vertragsrecht und Grundfreiheiten, 2003, S. 162 ff. zur Rückführung der Privat- und Parteiautonomie auf die allgemeine Handlungsfreiheit. 1244 Siehe hierzu Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, 81. EL 2017, Art. 79 GG, Rn. 30. 1245 So auch Herdegen, in: Maunz/Dürig-GG, 81. EL 2017, Art. 79 GG, Rn. 30. 1246 So in Rechtbank‘s-Hertogenbosch v. 22.12.1950, N.J. 1952, 547 nach Winter, NTIR 1964, 329, 332 f. 1247 Die Übergänge zwischen den Fällen, in denen ranghöhere Interessen im Sinne der Motivebene dominieren, und jenen, in welchen diese allenfalls als eine von vielen kollisionsrechtlichen Interessen wirken, sind freilich fließend (siehe hierzu bereits oben unter D.II.).
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
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binden. Dies ist für das deutsche Verfassungsrecht im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 GG und der Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG realisiert.1248 Damit zeigt sich der eigentümliche Geltungsgrund der übergeordneten Wertungen: Sowohl der Richter als auch der Gesetzgeber sind bereits aufgrund der Ausübung von Staatsgewalt an die ranghöheren Wertungen gebunden – und zwar grundsätzlich unabhängig vom Bestehen eines Auslandssachverhalts. 1249 Eine rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public erscheint insofern als zwanglose Fortsetzung der ohnehin bestehenden Bindung der Staatsorgane an übergeordnete Wertungen. Damit ist im Übrigen auch ein weiterer Grund für die verfassungsmäßige Überprüfbarkeit des Syntheseergebnisses einer Fremdrechtsverweisung gefunden: Nicht nur dessen inländische Rechtsnatur verpflichtet hierzu, 1250 sondern auch die Verfassungsbindung der Staatsgewalt1251.
a) Das Verhältnis zum Verfassungskollisionsrecht Die grundsätzlich lückenlose Bindung der Staatsgewalt an ranghöhere Wertungen schließt jedoch nicht aus, dass übergeordnete (Verfassungs-)Normen auch international-kollisionsrechtlich berufen werden. Möchte man nämlich nicht von der Ansicht abweichen, wonach jeder Rechtssatz einer Beschreibung seines Anwendungsbereichs bedarf, so muss es auch ein solches „Verfassungskollisionsrecht“ geben. 1252 Die Frage, ob man ein Verfassungskollisionsrecht für notwendig erachtet, hängt eng mit der Frage des Geltungsgrunds des Kollisionsrechts zusammen. 1253 Würde man das Kollisionsrecht allein auf die Prämisse der Relativität des Gerechtigkeitsgehalts eigener Rechtssätze 1248 Ähnl. für die Grundrechte Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 186 ff. m.w.N. zur Rspr. des BVerfG. Siehe zur internationalen Verbreitung des Rechtsstaatsbegriffs Huster/Rux, in: BeckOK-GG, 35. Ed. 2017, Art. 20 GG, Rn. 148. Zu Art. 1 Abs. 3 GG: Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994, S. 13. 1249 So für die Grundrechte auch Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994, S. 23; Looschelders, RabelsZ 65 (2001), 463, 475 ff., welcher dies am Fall Caroline von Monaco illustriert. Im Ansatz ähnl. Schinkels, wonach es für die Berufung der Wertungen des ordre public nicht nur auf den Inlandsbezug ankomme, sondern auch auf die Betroffenheit durch deutsche Staatsgewalt (Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 184 ff.). Siehe auch Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 286 ff. 1250 Siehe hierzu bereits oben unter D.III. 1251 So bereits BVerfG, Urt. v. 04.05.1971 – 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58 = NJW 1971, 1509, 1511. Die Betonung der rangkollisionsrechtlichen Bindung durch das BVerfG ist umso bemerkenswerter, als dieses die herrschende Prämisse einer Anwendung fremden Rechts „als ausländisches“ nicht infrage zu stellen scheint. 1252 Im Ansatz ähnl. Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte, 1992, S. 34; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 251 ff. Dagegen meint Callsen, Eingriffsnormen und Ordre publicVorbehalt, 2015, S. 479, dass die Inlandsbeziehung eines Grundrechts abstrakt nicht bestimmt werden könne. 1253 Siehe hierzu bereits im 3. Kapitel unter D.II.3.c.cc.
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
zurückführen, so könnte man im Hinblick auf die umfassende Bindung der Staatsgewalt an das Verfassungsrecht durchaus vertreten, dass hier die relativistische Grundhaltung als Vorbedingung des Kollisionsrechts wegfällt. Es wird sich aber zeigen, dass auch die Existenz eines Verfassungskollisionsrecht mit der umfassenden Bindung der Staatsgewalt versöhnt werden kann, sodass es hier nicht auf eine Stellungnahme ankommt.
Es wurde außerdem bereits festgestellt, dass die Frage der international-kollisionsrechtlichen Anwendbarkeit übergeordneter Forumswertungen jedenfalls nicht die Aufgabe des ordre public sein kann, denn dieser setzt deren Anwendbarkeit stillschweigend voraus. 1254 Im Gegensatz zum einfachgesetzlichen Kollisionsrecht ist das Ergebnis der international-kollisionsrechtlichen Berufung ranghöherer Rechtssätze schon durch die aus dem Rechtsstaatsprinzip fließende Bindung des Richters und Gesetzgebers vorgezeichnet: Das „Verfassungskollisionsrecht“ muss die lückenlose Bindung an die eigene Verfassung nach der Maßgabe des Rechtsstaatsprinzips gewährleisten, sofern nicht eine andere (Verfassungs-)Norm den international-kollisionsrechtlichen Anwendungsbereich des Verfassungsrechts zurücknimmt. Ist damit der Regelfall der lückenlosen Verfassungsbindung durch das Rechtsstaatsprinzip vorgezeichnet, wird auch erkennbar, weshalb ein „Verfassungskollisionsrecht“ nie praktisch relevant geworden ist: Wir müssen den kollisionsrechtlichen Anwendungsbereich der Verfassung nicht bestimmen, wenn uns das Rechtsstaatsprinzip schon das Ergebnis vorgibt. 1255 Freilich könnten räumlich-persönliche Festlegungen des Schutzbereichs (etwa die Beschränkung eines Grundrechts auf Deutsche) auch als international-kollisionsrechtliche Ausnahmen vom Prinzip der umfassenden Verfassungsbindung verstanden werden. 1256 Sie könnten gleichermaßen auch als rein sachrechtlich wirkende Beschreibungen des Anwendungsbereichs verstanden
1254
Siehe oben unter D.I. Ähnl. Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 189. Dagegen Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 264 ff. Siehe hierzu auch Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte, 1992, S. 34. – Hofmann sieht den Grund für das Fehlen eines ausdifferenzierten Grundrechtskollisionsrechts in der Abstraktheit der Grundrechte (Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994, S. 28 ff., 346). Dies ist insofern richtig, als abstrakte Prinzipiennormen wie die Grundrechte zumeist erst in der Konkretisierung als Anknüpfungsgegenstand relevant werden (siehe zur Bedeutung der Konkretisierung sogleich sowie bereits oben unter C.). Ein auf abstrakter Ebene angesiedeltes Verfassungskollisionsrecht wird hierdurch jedoch nicht ausgeschlossen. 1256 Ähnl. Garcke, Anwendungsbereich des öffentlichen Aussenwirtschaftsrechts, 1973, S. 3 am Beispiel der Beschränkung des Art. 19 Abs. 3 GG auf inländische juristische Personen. 1255
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
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werden, welche deren international-kollisionsrechtliche Berufung nicht berühren.1257 Die gleiche Frage ergibt sich für Schutzbereichserweiterungen. 1258 Eine Entscheidung der Frage, ob Schutzbereichsbeschreibungen kollisionsrechtlichen oder sachrechtlichen Gehalt aufweisen, ist jedoch so lange entbehrlich, wie der Gesetzgeber den Willen erkennen lässt, ausschließlich eigenes Verfassungsrecht anzuwenden. Noch ist dies der Fall. Es erscheint natürlich nicht ausgeschlossen, dass der Verfassungsgesetzgeber eines Tages für bestimmte Teilbereiche der deutschen Staatsgewalt die Bindung an fremdes Verfassungsrecht anordnet.1259 Sofern aber noch eine ausnahmslose Einseitigkeit des Verfassungskollisionsrechts1260 angeordnet ist, muss nicht entschieden werden, ob es sich bei räumlich-persönlichen Schutzbereichsbeschreibungen um einseitige Beschränkungen des Verfassungskollisionsrechts oder nur sachrechtlich wirkende Tatbestandsmerkmale handelt. Damit ist festzustellen, dass Schurig durchaus richtig mit der These liegt, wonach ranghöheres Recht kumulativ zur (einfachgesetzlichen) Regelverweisung auch international-kollisionsrechtlich berufen wird; 1261 indessen müssen wir die entscheidenden Anknüpfungsmomente so lange nicht ermitteln, wie wir durch das Rechtsstaatsprinzip ohnehin zur lückenlosen Anwendung verpflichtet sind. Die obigen Ergebnisse schließen es jedoch nicht aus, dass der Richter die Heranziehung einer fremden Ratio aufgrund eines Verstoßes gegen die fremde Verfassung ablehnt.1262
1257 Siehe zur Differenzierung zwischen kollisionsrechtlich und sachrechtlich wirkender räumlich-persönlicher Anwendungsbeschränkung bereits im 4. Kapitel unter A.III.1. 1258 Siehe hierzu Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 279 ff. 1259 Diese Möglichkeit hob bereits Zweigert, in: FS 50 Jahre Int. Recht Kiel, 1965, S. 140 hervor, um Ausländern verfassungsrechtliche Verbürgungen ihrer Heimatverfassung im Bereich der Berufsfreiheit zukommen zu lassen. Das BVerfG hat dies bekanntlich über die allgemeine Handlungsfreiheit gelöst (siehe hierzu Ruffert, in: BeckOK-GG, 35. Ed. 2017, Art. 12 GG, Rn. 34 m.w.N.). Auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 262, 269 hält die allseitige Anknüpfung von Wertprinzipien des ordre public für möglich. – Da die Einseitigkeit des Verfassungskollisionsrechts ein Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips ist und dieses zur Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG gehört, ergeben sich jedoch besondere Hürden für die Berufung fremden Verfassungsrechts. Ob das Rechtsstaatsprinzip tatsächlich so auslegbar ist, dass diesem auch die Bindung des Staatshandelns an fremde Grundrechte genügt, erscheint jedenfalls zweifelhaft (so etwa Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte, 1992, S. 318). 1260 So i.E. auch Elbing, Anwendbarkeit der Grundrechte, 1992, S. 41 f., allerdings unter der (abzulehnenden) Übertragung des vogelschen Einseitigkeitsdogmas (siehe hierzu im 3. Kapitel unter A.). 1261 So etwa Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 264 ff.; siehe hierzu außerdem bereits oben unter C.I. 1262 Ähnl. auch Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 338; Kropholler, IPR, 6. Aufl. 2006, S. 214. – Der Frage einer Berücksichtigungsfähigkeit fremder Verfassungs-
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
Zwar fehlt es momentan noch an einer international-kollisionsrechtlichen Berufung fremden Verfassungsrechts, sodass man versucht sein könnte, die Berücksichtigungsfähigkeit fremden, ranghöheren Rechts pauschal abzulehnen. Wie bereits erörtert wurde, ist der Richter jedoch zur möglichst wirklichkeitsgetreuen Heranziehung einer fremden Ratio verpflichtet.1263 Diese Pflicht würde er verletzen, wenn er den fremden Rangkollisionskonflikt nicht beachten würde.1264
b) Die Abgrenzung zur Berufung geschriebener oder geschaffener Konkretisierungen ranghöherer Wertungen Tatsächlich geht es bei den wenigen Stellungnahmen zur auslandsbezogenen Anwendbarkeit des Grund- und Verfassungsrechts bei näherem Hinsehen gar nicht um die abstrakte, verfassungskollisionsrechtliche Berufung ranghöherer Rechtssätze, sondern vielmehr um die Anwendung eines ranghöheren Prinzips in einem konkreten Anwendungsfall. Wenn gefordert wird, man müsse die Reichweite der Grundrechte aus diesen selbst entwickeln oder ihren notwendigen Inlandsbezug ermitteln, 1265 so verbirgt sich dahinter zumeist die Frage, inwiefern sich im Rahmen der konkreten Anwendung eines Grundrechts ein Auslandsbezug auswirkt. Dies lässt sich anschaulich anhand der Ansicht illustrieren, wonach im Bereich fundamentaler Grund- und Menschenrechte auch schwache Verbindungen zum Forum zur Durchsetzung über den ordre public ausreichen sollen.1266 Tatsächlich geht es hierbei um die zutreffende Annahme, dass bei der konkreten Anwendung abstrakt ohnehin berufener, fundamentaler Grund- und Menschenrechte selbst dann kein Raum für eine Relativierung – insbesondere einer Abschwächung des Schutzniveaus – besteht, wenn der Bezug zum Forum nur über den inländischen Gerichtsort vermittelt wird. Freilich könnte man die durch die Verfassung wertungen entspricht im hier vertretenen Modell die Diskussion um die Berücksichtigungsfähigkeit eines fremden ordre public. Es ist daher auch nicht relevant, ob das Forum eine Gesamt- oder Sachnormverweisung ausspricht (so aber Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 387; Junker, IPR, 2. Aufl. 2017, § 12, Rn. 44 f.). Denn bei einer rangkollisionsrechtlichen Lesart des ordre public kann die Berücksichtigung fremden Kollisionsrechts (bzw. fremder Festlegungen des Anwendungsbereichs als Teil des rationalen Elements) nicht die Frage beantworten, ob fremdes Verfassungsrecht zu berufen ist. 1263 Siehe hierzu im 3. Kapitel unter D.I.1.f.bb. 1264 Hierbei handelt es sich nicht um eine international-kollisionsrechtliche Berufung fremder, ranghöherer Rechtssätze „durch die Hintertür“. Eine unter Berücksichtigung fremden Verfassungsrechts herangezogene Ratio wird in Gestalt des heimischen Syntheseergebnisses weiterhin durch heimisches, ranghöheres Recht kontrolliert. Demgegenüber würde eine international-kollisionsrechtliche Berufung fremden Verfassungsrechts dieses selbst zum Maßstab der Überprüfung des Syntheseergebnisses machen. 1265 BVerfG, Urt. v. 04.05.1971 – 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58 = NJW 1971, 1509, 1512; ähnl. Siehr, RabelsZ 36 (1972), 93, 111; Bucher, Grundfragen, 1975, S. 182; v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 7, Rn. 261; Lorenz, in: BeckOK-BGB, 43. Ed. 2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 15; Stürner, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 196. 1266 Siehe hierzu bereits oben unter C.III.
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
275
geforderte, ausnahmslose Anwendbarkeit bestimmter Grund- und Menschenrechte vor einem heimischen Gericht auch durch eine abstrakte, verfassungskollisionsrechtliche Anknüpfung an den Gerichtsort erreichen. Die Formulierung eines solchen Satzes ist wie besehen jedoch entbehrlich, da das Ergebnis – nämlich die bereits durch das Rechtsstaatsprinzip geforderte lückenlose Anwendbarkeit – ohnehin nicht infrage gestellt werden kann. 1267 Die Formulierung einer Verfassungskollisionsnorm ist hier also ein unnötiger Umweg. 1268 Durchaus tauglich mag die Gerichtsort-Anknüpfung indessen auf der Folgenebene sein: So kann eine bestehende oder ad hoc gebildete Konkretisierung eines aufgrund des Rechtsstaatsprinzips anwendbaren, ranghöheren Grund- und Menschenrechts – etwa Ausprägungen des Sklavereiverbots – durchaus auf der Folgenebene mithilfe der Gerichtsort-Anknüpfung zu berufen sein.
Hält man also die abstrakte, infolge des Rechtsstaatsprinzips prinzipiell1269 ausnahmslose Berufung ranghöherer Wertungen und die sich hieraus ergebenden, gegebenenfalls in Form einer Kollisionsnorm der Folgenebene gegossenen, konkreten Auswirkungen auseinander, 1270 so wird die Sicht klarer: Erst auf der Ebene der konkreten Anwendung kann ein Auslandsbezug zu Modifikationen am inländischen Schutzstandard führen. 1271 Solche verfassungsrechtlichen „Optimierungsgebote“1272 für auslandsbezogene Sachverhalte gibt es mittlerweile einige: Nach dem BVerfG geht das GG von einer „Eingliederung des von ihm verfaßten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengesellschaft“ aus,1273 weshalb im Falle der Anwendung eines Grundrechts „eine bestimmte 1267 Eine solche Norm des Verfassungskollisionsrechts könnte zudem angesichts der Anknüpfung an den Gerichtsort nicht die ebenfalls geforderte Verfassungsbindung der Legislative und Exekutive verwirklichen. Sie impliziert außerdem, dass im Bereich „nicht-fundamentaler“ Verfassungswertungen schwächere Anknüpfungen zur abstrakten Berufung ausreichen sollen, was jedoch der umfassenden Verfassungsbindung nicht genügen würde. 1268 Die Parallelen zur Argumentation von Francescakis sind nicht zufällig (siehe hierzu bereits im 1. Kapitel unter C.II.2). Sofern ein Normbereich zwingend einseitig anzuknüpfen ist, kann nämlich tatsächlich davon abgesehen werden, Kollisionsnormen zu formulieren, was jedoch nichts an ihrer Existenz ändert. Indessen muss ein solcher Normbereich klar begrenzbar sein, was das Kriterium des Gemeinwohlbezugs der „lois d’application immédiate“ bzw. der „Eingriffsnormen“ wie besehen nicht leisten konnte. Das Kriterium der rangkollisionsrechtlichen Überordnung nach der innerstaatlichen Verfassung kann den einer Fremdrechtsanwendung (noch) unzugänglichen Bereich dagegen anhand ihrer Zugehörigkeit zu einem normhierarchischen übergeordneten (Verfassungs-)Kanon identifizieren. 1269 Vorbehaltlich der oben angesprochenen, jedoch nicht entscheidungsbedürftigen Möglichkeit, Schutzbereichsbeschränkungen als verfassungskollisionsrechtliche Ausnahmesätze zu lesen. 1270 Die Trennung zwischen abstrakter Anwendbarkeit und konkreten Auswirkungen hebt auch Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 191 hervor. In Ansätzen bereits v.Bar/Mankowski, IPR I, 2. Aufl. 2003, § 7, Rn. 264. 1271 Ähnl. Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 162 ff.; Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 187. 1272 Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 214. 1273 BVerfG, 22.03.1983 – 2 BvR 475/78, BVerfGE 63, 343 = NJW 1983, 2757, 2761. Ähnl. zuvor schon BVerfG, Urt. v. 04.05.1971 – 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58 = NJW
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
Beziehung zur Lebensordnung im Geltungsbereich der Verfassung“ vorliegen müsse.1274 Eine kompromisslose Durchsetzung eines Grundrechts ohne Rücksicht auf einen überwiegenden Auslandsbezug könne daher den Sinn des Grundrechtsschutzes verfehlen. 1275 Trotz der lückenlosen Verfassungsbindung in abstracto ist damit die Relativität des Gerechtigkeitsgehalts ein auch verfassungsrechtlich anerkannter Gedanke.1276 Daher muss die konkrete Anwendung von Verfassungsprinzipien auch auf Berührungspunkte zu fremden Rechtsordnungen Rücksicht nehmen.1277 Kommt der Richter etwa zum Ergebnis, dass ein Grundrecht aufgrund des konkreten Auslandsbezugs keine oder deutlich verminderte Auswirkungen hat, so ändert dies nichts an der fortbestehenden, rangkollisionsrechtlich motivierten Bindung des Richters. 1278 Das konkrete Abwägungsergebnis ändert damit nichts am Umfang der international-kollisionsrechtlichen Berufung eines Grundrechts, sehr wohl mag das Ergebnis seiner Anwendung aber nach der oben beschriebenen Methode als ggf. ad hoc gebildete Sach- und Kollisionsnorm übersetzt werden. 4. Die Einordnung des rangkollisionsrechtlichen ordre public in das europäische Mehrebenensystem Das Modell einer rangkollisionsrechtlichen Lesart des ordre public wurde bisher nur am Beispiel nationalen Verfassungsrechts illustriert. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass eine rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public auch in das europäische Mehrebenensystem integrierbar ist. Hierfür muss zunächst die bisher nicht näher erörterte Prämisse hervorgehoben werden, wonach auch bei einer Fremdrechtsverweisung des unionalen IPR das Syntheseergebnis dem Recht des Forums entspringt. Infolge der nati-
1971, 1509, 1512. Siehe auch BVerfG, Urt. v. 24.06.2003 – 2 BvR 685/03, NWwZ 2003, 1499; Müller, International zwingende Normen des deutschen Arbeitsrechts, 2005, S. 64; Ohler, Kollisionsordnung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, 2005, S. 289. 1274 BVerfG, Urt. v. 04.05.1971 – 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58 = NJW 1971, 1509, 1512. 1275 BVerfG, Urt. v. 04.05.1971 – 1 BvR 636/68, BVerfGE 31, 58 = NJW 1971, 1509, 1512. Ähnl. bereits Wengler, JZ 1965, 100, 101. 1276 Ähnl. Hofmann, Grundrechte und grenzüberschreitende Sachverhalte, 1994, S. 345. Hierfür spricht freilich auch, dass die Eltern des Grundgesetzes bei dessen Proklamierung nur an das Inland gedacht hatten (Wengler, JZ 1965, 100, 102; Neuhaus, Grundbegriffe des IPR, 2. Aufl. 1976, S. 379; Looschelders, RabelsZ 65 (2001), 463, 474). 1277 Dieser Fall ist von der bereits abgelehnten Methode der materiellrechtlichen „Berücksichtigung“ zu unterscheiden, geht es doch bei der Rücksichtnahme auf im Einzelfall bestehende Auslandsbezüge nicht um eine verdeckte Berufung fremder Rechtsideen. 1278 So auch Schinkels, Normsatzstruktur, 2007, S. 191.
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
277
onalen Rechtsnatur des Syntheseergebnisses wäre demzufolge nicht nur nationales Verfassungsrecht, sondern auch jegliches Unionsrecht als ranghöheres Recht durchzusetzen. Dies widerspricht jedoch der herkömmlichen Vorstellung, wonach es sich beim ordre public um eine Zusammenfassung „fundamentaler“ Rechtssätze handeln soll. So lässt dann auch der EuGH im Fall Krombach erkennen, dass er nur „wesentliche Rechtsgrundsätze“ zum ordre public zählt. 1279 Hierzu gehört zweifelsohne das Unionsverfassungsrecht, also die innerhalb des Unionsrechts als ranghöheres Recht durchzusetzenden Grundwertungen. Hierbei handelt es sich in erster Linie um die Verbürgungen der europäischen Verträge (insbesondere der Grundfreiheiten), die Europäische Grundrechtecharta sowie die durch den EuGH entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze. 1280 Das Sekundärrecht als unionsrechtliches Äquivalent zum einfachen Recht ist indessen nicht erfasst. Sofern man also an der Prämisse der Nationalität des Syntheseergebnisses festhalten wollte, wäre die rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public insofern zu konkretisieren, als neben dem nationalen Verfassungsrecht nur das Unionsverfassungsrecht erfasst wäre. Dasselbe Ergebnis würde man erreichen, wenn man im Falle einer unionalen Kollisionsnorm das Syntheseergebnis dem Sekundärrecht zuordnen würde. Denn in diesem Fall würde nur das Primärrecht ranghöheres Recht darstellen. Da bereits dem Wortlaut der europäischen ordre public-Klauseln zu entnehmen ist, dass auch die fundamentalen Wertungen der Mitgliedstaaten weiterhin durchsetzbar sein sollen,1281 wäre zusätzlich eine rangkollisionsrechtliche Ausnahme für mitgliedstaatliches Verfassungsrecht zu postulieren. Da beide Ansätze das Sekundärrecht aus der Rangkollisionskontrolle herausnehmen wollen, muss die Frage nach der Herkunft des Syntheseergebnisses im Falle einer unionsrechtlichen Fremdrechtsverweisung nicht geklärt werden. 5. Die einzelfallunabhängige Ablehnung fremder Rationes Eine rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public bietet des Weiteren den Vorteil, abstrakte Festlegungen der ordre public-Widrigkeit besser einordnen zu können. Ein solcher Fall findet sich etwa in Art. 10 Rom III-VO:1282 „Sieht das nach Artikel 5 oder Artikel 8 anzuwendende Recht eine Ehescheidung nicht vor oder gewährt es einem der Ehegatten aufgrund seiner Geschlechtszugehörigkeit keinen gleichberechtigten Zugang zur Ehescheidung oder Trennung ohne Auflösung des Ehebandes, so ist das Recht des Staates des angerufenen Gerichts anzuwenden.“
1279
EuGH, Urt. v. 28.03.2000 – C-7/98, ECLI:EU:C:2000:164 (Krombach), Rn. 37. Ruffert, in: Calliess, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 1 AEUV, Rn. 8 ff. 1281 Dasselbe ergibt sich aus der Krombach-Rechtsprechung (Nachw. in Fn. 1279). 1282 Siehe hierzu v.Mohrenfels, in: FS Martiny, 2014, S. 596 ff.; Stürner, in: BeckOGKZR, Ed. 01.02.2017, Art. 6 EGBGB, Rn. 71, 87; Gössl, in: BeckOGK-ZR, Ed. 01.02.2017 Art. 10 Rom III-VO, Rn. 3. 1280
278
6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
Diese Normen lassen sich nur schwer in die herkömmliche Dogmatik des ordre public integrieren, scheint man doch vom Erfordernis des Einzelfallbezugs abzuweichen.1283 Versteht man den ordre public dagegen als Verweis auf die Überprüfbarkeit der Fremdrechtsanwendung durch höherrangiges Recht, so ist eine Einordnung von Normen nach dem Vorbild des Art. 10 Rom III-VO unschwer möglich. Es macht im Rahmen der rangkollisionsrechtlichen Lesart nämlich keinen Unterschied, ob der Verstoß gegen höherrangige (Verfassungs-)Wertungen an der konkreten Anwendung einer fremden Ratio oder an ihrer anwendungsunabhängigen Anstößigkeit festgemacht wird. Die Differenzierung zwischen der Verfassungswidrigkeit der Entscheidungsgrundlage einerseits und ihrer Anwendung andererseits entspricht schließlich gerade der tradierten Unterscheidung zwischen der verfassungsrechtlichen Überprüfbarkeit eines Gesetzes oder eines Einzelakts. Was bedeutet das nun für die Einordnung von Normen wie Art. 10 Rom IIIVO? Betrachtet man diesen etwas näher, so ergeben sich zwei trennbare Bestandteile: Einerseits handelt es sich um eine abstrakt-generelle, materiellrechtliche Ablehnung gleichberechtigungswidriger oder scheidungsablehnender Rationes des Fremdrechts. Andererseits wird für den Fall einer dementsprechenden Ablehnung fremden Rechts eine kollisionsrechtliche Konsequenz ausgesprochen, nämlich die Berufung der lex fori. Sofern die materiellrechtliche Aussage als Ausprägung ranghöherer Wertungen eingeordnet werden kann, ist eine Einpassung in die hier entwickelte, rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public möglich. Dies erscheint im Hinblick auf Art. 10 Rom III-VO durchaus denkbar: Während der Gleichberechtigungsgrundsatz zweifellos ein Teil des Unionsverfassungsrechts ist, 1284 kann bezüglich des Rechts auf Scheidung mittlerweile wohl von einem ungeschriebenen Rechtsgrundsatz gesprochen werden 1285. In dem Fall würde Art. 10 Rom III-VO jene ranghöheren Wertungen in deklaratorischer Weise wiederholen.1286
1283 Hierauf weisen auch Wurmnest, in: Leible/Unberath (Hrsg.), Brauchen wir eine Rom0-Verordnung?, 2013, S. 466; v.Mohrenfels, in: FS Martiny, 2014, S. 599; v.Mohrenfels, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, Art. 10 Rom III-VO, Rn. 1 ff. 1284 Siehe nur Art. 2 EUV, Art. 23 EuGrCh, Art. 6 Abs. 3 EUV i.V.m. Art. 14 EMRK. 1285 Denn bekanntlich hat Malta im Jahr 2011 als letzter EU-Mitgliedstaat das Recht auf Scheidung eingeführt. 1286 Wie besehen, ist bei der rangkollisionsrechtlichen Lesart des ordre public nur das Unionsverfassungsrecht gemeint, sodass der Art. 10 Rom III-VO als sekundärrechtliche Festlegung gegenüber einem dem nationalen Recht zugehörigen Syntheseergebnis nicht mithilfe des ordre public durchgesetzt werden könnte (siehe hierzu oben unter D.IV.4.).
D. Die rangkollisionsrechtliche Lesart
279
Der kollisionsrechtliche Bestandteil des Art. 10 Rom III-VO wäre demgegenüber eine Festlegung der „Folgenebene“ für den Fall der (rangkollisionsrechtlichen) Ablehnung eines gleichberechtigungswidrigen oder scheidungsausschließenden Syntheseergebnisses: Es wäre demnach direkt forumseigenes Ersatzrecht zu berufen; die normalerweise eröffneten Wege der Entwicklung eines gleichberechtigungskonformen Ergebnisses innerhalb der lex causae oder der Berufung drittstaatlichen Rechts wären versperrt. Sofern man hinter Normen wie Art. 10 Rom III-VO dagegen keine Ausprägungen ranghöherer Forumswertungen verstehen wollte, würde es sich schlicht um eine sekundärrechtliche (materielle) Verbotsvorschrift handeln, deren Erfüllung die Berufung des Forumsrechts nach sich zieht. V. Die verbleibende Bedeutung der ordre public-Klauseln innerhalb der rangkollisionsrechtlichen Lesart Da der ordre public im Rahmen der rangkollisionsrechtlichen Lesart im Wesentlichen auf die systemimmanente Methode der Überprüfbarkeit heimischen (bzw. synthetisierten) Rechts anhand ranghöherer Wertungen zurückzuführen ist, ist er weitgehend deklaratorisch. 1287 Im Rahmen dieser Arbeit offenbleiben muss die Frage, ob dem ordre public noch die Funktion verbleiben könnte, eine unmittelbare Drittwirkung ranghöherer Wertungen – insb. der Grundrechte – im Rahmen der Anwendung eines synthetisierten Rechtssatzes des Zivilrechts zu ermöglichen. Denn während das Syntheseergebnis als solches wie jeder andere Rechtssatz einer Verfassungskontrolle unterliegt, können ranghöhere Wertungen im Stadium der konkreten Anwendung keine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten zeitigen. Stattdessen fließen sie im heimischen Recht insbesondere über Generalklauseln ein. 1288 Wenn es nun im Rahmen der (abstrakt verfassungskonformen) Syntheseergebnisse keine solchen Einfallstore gibt, könnte der ordre public eine solche Öffnungsklausel für übergeordnete Wertungen darstellen.
Der weitgehend deklaratorische Charakter des rangkollisionsrechtlichen ordre public ist vorteilhaft, kann der Rechtsanwender doch auf eine ihm vertraute Methode zurückgreifen; eine eigentümliche ordre public-Dogmatik bleibt ihm erspart. Ob Syntheseergebnis oder heimischer Rechtssatz – in beiden Fällen erfolgt sowohl die abstrakte als auch die einzelfallbezogene Verfassungskontrolle nach derselben, etablierten Prüfungsstruktur.
1287 I.E. auch Schurig, Kollisionsnorm und Sachrecht, 1981, S. 269, 340 f. Die bisherigen Fälle einer ordre public-Berufung wären ebenso wie bei der „Eingriffsnorm“ als Indikatoren eines Rangkollisionskonflikts brauchbar (in Ansätzen ähnl. Neumayer, in: BerDGesVR 2, 1958, S. 36; Zeppenfeld, Die allseitige Anknüpfung von Eingriffsnormen, 2001, S. 167). 1288 Sonnenberger, Bedeutung des GG für das IPR, 1962, S. 54; Canaris, AcP 184 (1984), 201 ff. Armbrüster, in: MüKo-BGB, 6. Aufl. 2015, §134 BGB, Rn. 34
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6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
Der Rückgriff auf die zugegeben nicht ganz unkomplizierten Differenzierungen zwischen der ausnahmslosen Anwendbarkeit ranghöherer Wertungen in abstracto und der Übersetzung ihrer konkreten Anwendung als gegebenenfalls ad hoc gebildete Sach- oder Kollisionsnorm ist im Übrigen in der praktischen Anwendung nicht nötig. Derartige Deduktionen sind vor allem von dogmatischem Interesse, da sie illustrieren, dass der ordre public in einen rangkollisionsrechtlichen und international-kollisionsrechtlichen Bestandteil aufgespalten werden kann und daher kein eigentümliches Geschöpf mit ganz außergewöhnlicher Rechtsnatur darstellt; er ist vielmehr mit herkömmlichen Methoden erfassbar.
VI. Zusammenfassung Begreift man den ordre public rangkollisionsrechtlich, so betrifft dessen Motivebene den internen Rangkollisionskonflikt zwischen dem einfachgesetzlichen Syntheseergebnis der Fremdrechtsverweisung und den normhierarchisch übergeordneten Rechtssätzen des Forums. Die Folgenebene bleibt international-kollisionsrechtlich. Die rangkollisionsrechtliche Lesart führt hierbei nicht zu einer „Verfassungskontrolle ausländischen Rechts“, da ihr Gegenstand infolge der Synthesewirkung der Fremdrechtsverweisung eine heimische Rechtsnorm ist. Die heimische Rechtsnatur des Syntheseergebnisses erhebt die Kontrolle anhand ranghöherer Wertungen sogar zum Gebot der Rechtsstaatlichkeit. Auch die nicht offensichtlich dem Verfassungsrecht entstammenden Wertungen lassen sich größtenteils als Emanation heimischer Verfassungswertungen begreifen, sodass eine rangkollisionsrechtliche Lesart die auch heute schon de facto unter dem Dach des ordre public stattfindende Kontrolle anhand ranghöheren Rechts lediglich nachvollzieht. Die Ausbildung eines Verfassungskollisionsrechts ist nach dem heutigen Stand entbehrlich, da das Rechtsstaatsprinzip ohnehin eine lückenlose Verfassungsbindung in abstracto erfordert. Die Berücksichtigung eines konkreten Auslandsbezugs im Rahmen der Anwendung eines ranghöheren Prinzips hat schließlich erst auf der Folgenebene ihren Platz; dort kann sie als gegebenenfalls ad hoc gebildete Sach- und Kollisionsnorm übersetzt werden. Das rangkollisionsrechtliche Modell ist in der folgenden Skizze veranschaulicht:
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E. Fazit
Motivebene
Folgenebene
Rangkollisionsrechtlich
international-kollisionsrechtlich
Ranghöheres Recht ist aufgrund des Rechtsstaats-prinzips für prinzipiell jedes Staatshandeln anwendbar. Die international-kollisionsrechtliche Berufung ranghöheren Rechts richtet sich grundsätzlich an der Verfassungsbindung eigener Staatsgewalt aus, weshalb eine Formulierung entsprechender Kollisionsnormen entbehrlich ist.
führt zu
Bildung von Ersatzrecht Var.1: Anhand der Zwecke der lex causae Var. 2: Als Konkretisierung ranghöherer Wertungen der lex fori
Bildung von Kollisionsrecht Var. 1: Zur Berufung der gebildeten lex-causae-nahen Ersatznorm (s.o.) Var. 2: Zur Berufung drittstaatlichen Ersatzrechts Var. 3: Zur Berufung gebildeter Konkretisierungen der lex fori (s.o.) Var. 4: Zur Berufung existierender Konkretisierungen der lex fori
E. Fazit E. Fazit
Unabhängig von einer rein kollisionsrechtlichen oder (auch) rangkollisionsrechtlichen Einordnung des ordre public hat sich damit gezeigt, dass ein Unterlaufen des Auftrags zur Kollisionsnormbildung nicht zu befürchten ist. Denn in beiden Modellen kommt es auf der Folgenebene letzten Endes ebenso wie bei der „Eingriffsnorm“ auf die Bildung einzelner Kollisionsnormen nach der kollisionsrechtlichen Interessenlage an. Wenngleich damit das schwerpunktmäßige Anliegen dieser Arbeit – namentlich die Rückführung der „Eingriffsnorm“ auf systemimmanente Rechtsfortbildung – durch den ordre public nicht gefährdet erscheint, soll dennoch das hier nur knapp umrissene Modell einer rangkollisionsrechtlichen Lesart des ordre public zur Diskussion vorgeschlagen werden. Denn dieses kann die Wir-
282
6. Kapitel: Die Rolle des ordre public
kungsweise der Motivebene insbesondere im Bereich der Berufung drittstaatlichen Ersatzrechts überzeugend einordnen, wohingegen die rein kollisionsrechtliche Einordnung des ordre public an diesem Punkt scheitert. Gegenüber dem herrschenden Verständnis vom ordre public als eigentümlichem Fremdkörper im Kollisionsrecht hat die rangkollisionsrechtliche Lesart den Vorteil, den ordre public von einem weiteren Mysterium des Kollisionsrechts in das etablierte Instrument der Rangkollision zu überführen. Dies wird freilich erst durch die Einsicht in die Synthesewirkung der Fremdrechtsverweisung möglich, sodass die rangkollisionsrechtliche Einordnung zugleich als konsequente Fortführung der schinkelsschen Kollisionsrechtsdogmatik erscheint. Schließlich konnte durch die Beschäftigung mit der Einwirkung ranghöheren Rechts auf das Kollisionsrecht auch etwas mehr Klarheit zur wohl wichtigsten Quelle der kollisionsrechtlichen Interessenlage gewonnen werden: Was Kahn noch etwas kryptisch als „Sinn und Geist“ 1289 der Rechtsordnung bezeichnet und Schurig vorrangig auf die Implikationen des berufenen Sachrechts zurückführt, entspricht in einem modernen Rechtsstaat zu einem gewichtigen Teil den Implikationen ranghöheren Rechts. Denn diese sind sowohl im Kollisions- als auch im Sachrecht ein kräftiger Motor der Rechtsbildung und Interessenbewertung.
1289
Siehe der Nachw. im 5. Kapitel unter H., dort Fn. 1120.
Schlussbetrachtung Vor rund 25 Jahren beschrieb Basedow den Zustand des IPR in so treffender wie erheiternder Weise mit der folgenden Karikatur des „IPR-Gebäudes“: „Dieses Gebäude ist eine herrschaftliche Villa des fin de siècle; in ihrem Salon plaudert man angeregt über Vorfrage, Renvoi und Qualifikation und bedient sich gern lateinischer Floskeln. Zum Salon zugelassen werden nur Kollisionsnormen, deren unbefleckt allseitiges Gewand vom Butler des Hauses, regelmäßig einem Lehrbuchautor des IPR, beim Betreten der Halle mit Wohlgefallen begutachtet worden ist. Andere, einseitige und sonst ungewöhnliche Kollisionsnormen, die Einlaß in den Salon begehren, werden vom Butler mißbilligend in kleinere Nebenräume geführt und dort sich selbst überlassen, man möchte eine Störung der kultivierten Runde vermeiden. Die Entwicklung der letzten Jahrzehnte hat es mit sich gebracht, daß sich die Besucher in den Nebenräumen drängen, während man im Salon weiterhin den aufgeräumten Ton einer zivilisierten Konversation pflegt, der nur gelegentlich unterbrochen wird von abfälligen Bemerkungen über die schlechten Manieren der Gäste nebenan.“1290
Diese Arbeit hat gezeigt, dass keine bedrohlichen Verwerfungen zu befürchten sind, wenn man „einseitige und sonst ungewöhnliche Kollisionsnormen“ in den Salon des IPR einlässt. Die maßgeblichen Gründe hierfür sollen im Folgenden nochmals in Erinnerung gerufen werden: 1. Da die zentralen Eigenheiten der „Eingriffsnorm“ dem Internationalen Öffentlichen Recht entnommen sind, wurde zunächst dessen Einseitigkeitsdogma näher untersucht. Zunächst wurde festgestellt, dass die in der Rechtswirklichkeit stattfindende Berücksichtigung normativer Inhalte des fremden Öffentlichen Rechts nicht erklärt werden kann, ohne eine kollisionsrechtliche Berufung derselben anzuerkennen. Nach einer tiefgehenden Untersuchung des autonomen Kollisionsrechtssystems konnte außerdem gezeigt werden, dass die hinter dem Einseitigkeitsdogma stehende Befürchtung des Imports fremder Staatsgewalt bereits aus Gründen der Systemlogik ausgeschlossen ist. Denn im Rahmen der autonomen Fremdrechtsverweisung wird das fremde imperative Element ohnehin nicht herangezogen, vielmehr wird nur die von der fremden Staatlichkeit entkleidete, fremde „Rechtsidee“ – das rationale Element – zu einem eigenen Rechtssatz synthetisiert. Infolgedessen ist der Verlust der fremden Rechtsqualität auch ein Strukturmerkmal jeder autonomen Fremdrechtsberufung, sodass auch dies kein Hindernis des Verweises auf fremdes Öffentliches Recht darstellt. 1290
Basedow, in: FS Reichert-Facilides, 1995, S. 12.
284
Schlussbetrachtung
2. Ein konsequenter Autonomismus führt schließlich auch zur Ablehnung völkerrechtlicher Beschränkungen der Berufung fremden Öffentlichen Rechts. Das Kollisionsrecht ist kein „Völkerrecht im Geiste“, insbesondere hat es nichts mit staatlichen Geltungsansprüchen zu tun. Es beschäftigt sich auch nicht mit „vorstaatlichen“ Lebensverhältnissen. 3. Führt man sich des Weiteren die Bündelungsstruktur der allseitigen Kollisionsnorm und ihre interessenjurisprudentische – also auch sachnormbezogene – Methode vor Augen, so ist auch der im Internationalen Öffentlichen Recht und bei der Eingriffsnorm besonders dominante „Ansatz am Gesetz“ als geringer vertikaler Bündelungszustand einzuordnen; eine Isolation als „unilateralistisches“ Sondersystem ist damit ebenfalls nicht nötig. 4. Die weitgehende Einseitigkeit des öffentlichen Rechtsanwendungsrechts ist schließlich auch keine systembedingte Notwendigkeit. Die Gründe für die häufigere Einseitigkeit des öffentlichen Rechtsanwendungsrechts sind vielmehr in den unterschiedlichen Interessenlagen und den Regeln des Internationalen Öffentlichen Zuständigkeitsrechts zu suchen. Im Ergebnis sind IÖR und IPR daher strukturell identisch. 5. Aufgrund der ermittelten Einblicke in die Methode des autonomen Kollisionsrechts konnte gezeigt werden, dass die bei den „Eingriffsnormen“ herrschende Vorstellung einer quasi-kollisionsnormlosen „apriorischen“ Durchsetzung unhaltbar ist. Es wurde auch gezeigt, dass es keine systemwidrige Besonderheit ist, wenn spezielle Kollisionsnormen in textlich-systematischer Einheit mit einer sachrechtlichen Kodifikation verbunden sind. 1291 Von allen vermeintlichen Eigentümlichkeiten entkleidet konnte die Methode der „Eingriffsnorm“ daher auf die interessengerichtete Durchsetzung geschriebener oder noch zu ermittelnder Spezial-Kollisionsnormen zurückgeführt werden. Diese Methoden sind systemimmanent und nicht auf „Eingriffsnormen“ beschränkbar. Des Weiteren ist der Ansatz zur Umschreibung der „Eingriffsnorm“ anhand ihres Gemeinwohlbezugs ohnehin nicht als trennscharfes Kriterium verwertbar, da Gemeinwohlinteressen im modernen, demokratischen Rechtsstaat omnipräsent sind. Das Institut der Eingriffsnormklausel behindert damit den Prozess der interessengerichteten Bildung spezieller Kollisionsnormen, da es den Eindruck erweckt, die kollisionsrechtliche Operation sei allein durch die Feststellung einer ausreichenden Menge „sozialen Öls“ abgeschlossen. De lege ferenda sind Eingriffsnormklauseln somit verzichtbar. 6. Spezielle Kollisionsnormen sind im Bereich unionalen Kollisionsrechts ebenfalls dem Unionsrecht zu entnehmen. Der auf die Nationalität der Spezial-
1291 Ähnl. auch Schwander, Lois d’application immédiate, 1975, S. 241, wonach die Lehre von der Eingriffsnorm der Wissenschaft erspart geblieben wäre, „hätte die traditionelle Lehre nicht so absolut die methodische Mitberücksichtigung des Anwendungsbereichs der [materiellen] Rechtssätze verketzert.“
Schlussbetrachtung
285
Kollisionsnorm hindeutende Wortlaut der Eingriffsnormklauseln ist angesichts der Unbegrenzbarkeit ihres Gegenstandes nicht verwertbar. 7. Der Prozess der Bildung spezieller Kollisionsnormen erfordert die Ermittlung der kollisionsrechtlichen Interessenlage, welche sowohl durch die in Rede stehenden Sachnormzwecke als auch durch genuin rechtsanwendungsrechtliche Interessen impliziert wird. Allseitige Kollisionsnormen erfordern hierbei die Vergleichbarkeit der hinter den ein- und fremdseitigen Kollisionsnormen stehenden, forumsseitig bestimmten kollisionsrechtlichen Interessen, wobei eine internationale Verbreitung des Anknüpfungsgegenstands zwar hilfreich, aber nicht notwendig ist. Dieselbe Methodik gilt für das Binnenmarktkollisionsrecht (d.h. solchen Kollisionsnormen, die auf unionales Sachrecht zeigen oder besondere Anknüpfungen für die Mitgliedstaaten der EU aussprechen). 8. Da der ordre public auf der Folgenebene letzten Endes ebenfalls eine interessengerichtete Bildung spezieller Kollisionsnormen erfordert, ist ein Unterlaufen des Auftrags zur Kollisionsnormbildung im Bereich der „Eingriffsnormen“ zumindest theoretisch nicht zu befürchten. Überzeugender ist dennoch eine rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public, welche dessen Motivebene auf den internen Rangkollisionskonflikt zwischen dem einfachgesetzlichen Syntheseergebnis und den ranghöheren (Verfassungs-)Normen des Forums zurückführt. Stark verdichtet lässt sich daher sagen, dass die „Eingriffsnorm“ auf den Grundsatz „lex specialis derogat legi generali“ und der ordre public auf das Axiom „lex superior derogat legi inferiori“ zurückzuführen ist. Das Wirksamwerden dieser beiden Prinzipien erfordert im nur grob kodifizierten Kollisionsrecht ein gehöriges Maß an interessengerichteter Rechtsfortbildung. Da die Gesichtspunkte der Spezialität, Interessenanalyse und Normenhierarchie wahrlich keine Sondermethoden des Kollisionsrechts sind, büßt dieses insgesamt viel von seiner vermeintlichen Exotik ein. Eine herausragende Sonderstellung nimmt jedoch die außergewöhnliche Maskierung oder sogar Leugnung jener allgemeinen Prinzipien im Kollisionsrecht ein. Es ist an der Zeit, diesem Versteckspiel ein Ende zu bereiten.
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Sachverzeichnis ad hoc-Sachnorm 256 ff. Allseitigkeit 112 ff., 211 ff. – des Internationalen Öffentlichen Rechts 141 ff. – potentielle 117 ff., 143 ff. – Subjektunabhängigkeit 142 Alnati-Entscheidung, 36 Alternativentest 159 ff. Anerkennung 70 f. Anknüpfungstechnik 125 Annexkompetenz, unionale 59 Ansatz am Gesetz 117 ff. Anwendung/Anwendungsbereich 85 ff., 111 ff. Anwendungspflicht mitgliedstaatlicher Eingriffsnormen 224 ff. Anwendungswille, internationaler 185 ff. Aposteriorismus 154 ff., 245 ff. Apriorismus 154 ff. Arbeitnehmerentsenderecht 232 Arbeitsrecht 232 Augenbinde Savignys 114 Außenwirtschaftsrecht 232 Austauschbarkeit 112 f. Autonomismus 84 ff. Bereichsausnahme, kompetenzielle 59 f. Berücksichtigung – materielle 74 ff. – normative/faktische 79 ff. Binnenmarktkollisionsrecht 222 ff. Blindheit des Kollisionsrechts 114 Bretton-Woods, Abkommen von 73 Brückenklausel 145 Bündelung, außerordentliche 134 ff. Bündelungsmodell 120 ff. comitas 7
comity 15 Datenschutzrecht 233 Denkmalschutzrecht 233 dépeçage 207 f. Devisenbeschränkung, sowjetische siehe Sowjetzonen-Entscheidung Devisenrecht 233 Doppelbesteuerungsabkommen 74 Doppelbestrafung 74 Drittwirkung, horizontale 230 Eingriffsnormklauseln 191 ff. Einreiseverbot, fremdes 268 Erfolgshonorarverbot 233 Erfüllungsort 47 Ersatzrecht 259 ff. Europäisches Schuldvertragsübereinkommen, 35 ff. EVÜ, siehe Europäisches Schuldvertragsübereinkommen exception d’ordre public, siehe ordre public Exklusivnorm 134 forum shopping 49 Gebührenrecht 233 Geltung/Geltungsbereich 84 ff. Geltungsgrund des Kollisionsrechts 131 Gemeinwohlbezug 168 ff. genuine link 107 f. Gerechtigkeit, kollisionsrechtliche 128 ff. Gesamtnormverweisung 84 ff. Geschäftsgrundlage, Störung der 79 Gesetzesvorbehalt 150 f. Gleichwertigkeit 111 ff. Gran Canaria-Fälle 230 ff.
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Sachregister
Handelsvertreterausgleichsanspruch siehe Ingmar-Entscheidung Herkunftslandprinzip 71 f. Höfeordnung 233 Imperativ/imperatives Element 84 ff. Ingmar-Entscheidung 220 ff. Interessenjurisprudenz 129 f., 181 ff. Irrevisibilität fremden Rechts 104 f., 268 Isle of Man-Fälle siehe Gran CanariaFälle Kartelldeliktsrecht 182 Kollisionsnormbildung 160 ff., 191 ff., 201 ff. Kollisionsnormlosigkeit siehe lois d’application immédiate Kollisionsrecht, autonomes siehe Autonomismus Kompetenz, unionale 54 ff. Krombach-Entscheidung 198 Kulturgüterschutzrecht 233 Kumulationstheorie 236
Optimierungsgebot für Auslandssachverhalte 149 ordre public – Dogmatik 242 ff. – Folgenebene 260 ff. – Geschichte 11 ff. – Klauseln 279 f. – lois d’ordre public 31 ff. – Motivebene 254 ff. – negativer 23 ff., 249 f. Öffentliches Recht – Abtrennbarkeit der Ratio 101 ff. – als Definition der Eingriffsnorm 171 ff. – Internationales 141 ff. – Nichtanwendbarkeit siehe Nichtanwendbarkeitsdogma Politische Schule 28 ff. Polizeikooperation 73 Preisrecht 232 f. Prohibitivgesetze 7 ff., 16 ff. public policy 33 f. Qualifikation 133 f., 201 ff.
Lebensverhältnis 119 lex mercatoria 85 f. lois d’application immédiate 32 f., 36, 42, 154 ff. lois d’ordre public, siehe ordre public lois de police, siehe ordre public Lückenfüllung im Auslandsrecht 249 ff. Lüth-Entscheidung 266 Machttheorie 46, 70 Mannesrechtsanknüpfung 266 Materialisierung 115 ff., siehe auch Sachnormzweck Nachtwächterstaat 99 Nationalitätslehre 12 ff. Nichtanwendbarkeitsdogma 66 ff. Nichtrevisibilitätsgrundsatz siehe Irrevisibilität fremden Rechts Nigerianische-Masken-Entscheidung 67, 77, 79 Nikiforidis-Entscheidung 45
Ralli-Entscheidung 47, 238 rangkollisionsrechtliche Lesart des ordre public 260 ff. Ratio/rationales Element 85 ff. Rechtsfortbildung 160 ff., 191 ff., 201 ff. Rechtsidee siehe Ratio/rationales Element Rechtsqualität 82 ff. Relativität des Imperativs 89 ff. Rom I-VO 41 ff. Rom III-VO 50, 277 ff. Romanische Schule 16, 23, 30 ff. Sachnorm, selbstgerechte 157 ff. Sachnormzweck 125 ff. Schuldrecht, zwingendes 25 f. Schuldstatutstheorie 69, 236 ff. Seearbeitsrecht 235 Sittenwidrigkeit 79 Sollensanordnung, staatliche siehe Imperativ Solschenizyn-Entscheidung 67
Sachregister Sonderanknüpfungslehre 21 ff. Souveränität 99, 106 ff. Sowjetzonen-Entscheidung 66 Sozialrecht, Internationales 73 Spanier-Entscheidung 267 Sperrwirkung der Eingriffsnormklauseln 47 ff., 78, 238 Staatsferne/Staatsnähe 82 ff. Statutarismus siehe Ansatz am Gesetz Strafrecht, Internationales 150 Subjekttheorie, modifizierte 57 suum cuique 131 Synthesemodell 102 ff. Teilzeitwohnrecht 232 Territorialität – der Anknüpfungsmomente 65 – des Öffentlichen Rechts 63 ff. Territorialitätsprinzip siehe Territorialität
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Überschießende Richtlinienumsetzung 228 ff. Überstaatlichkeit 66 Unamar-Entscheidung 228 Unilateralismus 91 ff., 138 ff. Unionstreue 224 ff. Universalität der Ratio 89 ff. Verbraucherschutzrichtlinie 229 f. Verfassungsbindung 276 Verfassungskollisionsrecht 272 ff. Verfassungskontrolle 266 ff. Verwaltungsrecht, Internationales siehe Öffentliches Recht, Internationales Vorstaatlichkeit des Zivilrechts 96 ff. Wertneutralität/Wertfreiheit 111 ff. Wirtschaftskollisionsrecht 27 Zivilrechtsbegriff 56 f.